jfij 4.sr.
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Physiologische und klinische Untersuchungen
über das
GEHIRN.
Gesammelte Abhandlungen
von
Dr. Eduard Hitzig,
Gell. Med.-liutli, o. Piolessor dei Modichi an dei- Uiiivoj-sität Halle
TheJl I: Untersuchungen über das Gehirn.
Theil II: Alte und neue Untersuchungen über das Gehirn.
M\t 1 Tafel Hvä .120 Abbildungen im Tecct.
Berlin 1904.
Verlag von August liirsch wald.
NW. Unter den Linden 68.
qq<^
I. THEIL.
UntersLichungeii
über das
Gehirn.
Abhandlungen
physiologischen und pathologischen Inhalts
II. vermehrte Auflag-e
von
Di. Eduard Hitzig.
Vorwort.
V on den in diesem Buche gesammelten Abhandlungen ist die Mehrzahl
der den ersten Theil zusammensetzenden Arbeiten im Jahre 1874 in
erster Auflage veröffentlicht worden. Ihnen habe ich, als ich mich auf
den seit Jahren geäusserten Wnnscli des Herrn Verlegers zur Veran-
staltung einer zweiten Auflage entschloss, einige der inzwischen von
mir publizirten Aufsätze über die Physiologie und Pathologie des Ge-
hirns angereiht. Dieses Material habe ich so angeordnet, dass die Loca-
lisationsfragen gewidmeten Arbeiten mit den Abhandlungen II — XII
den Anfang machen; an sie schliessen sich drei stotilich nahe verwandte
Arbeiten aus dem Gebiete der Hirnchirurgie; ihnen folgen zwei kleinere
Aufsätze, deren Inhalt theils in physiologischer, theils in klinischer
Beziehung mehr das Grosshirn angeht; die Abhandlungen XVIII und
XIX beschäftigen sich mit den Organen des Gleichgewichts, während
die den Schluss dieses Theiles bildenden Abhandinngen XX und XXI
rein klinische Fragen behandeln.
Einzelne dieser Arbeiten, vornehmlich die der Localisation im Gross-
hirn gewidmeten, aber nicht sie allein, haben im Laufe der Jahre die
Production einer gewaltigen Literatur angeregt. Kein Mensch wäre im
Stande, die Richtigkeit der in ihr wiedergegebenen experimentellen
Untersuchungen nachzuprüfen. Aber auch die rein referirende Wieder-
gabe der sich an meine Arbeiten unmittelbar anschliessenden Unter-
suchungen wäre mit der Reproduction meiner selbstständigen Arbeiten
aus verschiedenen Gründen gänzlich unvereinbar gewesen. So habe ich
mich denn darauf beschränken müssen, einige wenige Punkte, über die
ich nicht glaubte schweigend hinweggehen zu dürfen, in einigen, den
einzelnen Abhandlungen angehängten Anmerkungen kurz zu erwähnen.
Der Titel des zweiten Theiles dieser in den Jahren 1901 — 1903
zuerst im Archiv für Psychiafcie und Nervenkrankheiten veröffentlichten
— VIII —
Arbeiten bedarf einer Erläuterung. Es sollte damals damit nicht gesagt
werden, dass neue Untersuchungen neben der Reproduction älterer
Arbeiten zur Veröffentlichung kämen; vielmehr handelte es sich um
die Wiedergabe einer langen Reihe von Untersuchungen, welche sich
über viele Jahre hinziehen, vielfach unterbrochen worden sind und
nunmehr ihren Abschluss finden sollten. Begonnen wurden diese Ver-
suche nach Vollendung der Reorganisation der Provinzialirrenanstalt
Nietleben bereits im Jahre 1883. Sie fanden dann eine erste Unter-
brechung durch die Gründung der provisorischen Klinik in Halle im
Jahre 1885, der bald weitere Unterbrechungen durch die mit der Grün-
dung und Organisation der definitiven Klinik verbundenen Arbeiten und
die Aufgaben folgten, die mir von einer Anzahl von zeitraubenden
Gelegenheitsschriften 1) gestellt wurden. Inzwischen war ein Theil der
Resultate jener früher angestellten Versuche bereits Anfangs der 90 er
Jahre zu Papier gebracht, ja grösstentheils bereits zum Druck fertig-
gestellt worden, während ich an ihrer Beendigung bis nach Abschluss
jener anderen Arbeiten behindert war. Erst im Jahre 1899 gelang es
mir, meine Experimentaluntersuchungen wieder aufzunehmen. Unge-
achtet der zahllosen inzwischen auf diesem Gebiete publicirten Arbeiten
liess es sich doch, wenn auch nicht ohne eine gewisse Selbstbeschrän-
kung ermöglichen, das früher Niedergeschriebene unter Vornahme
einiger Aenderungen, Umstellungen und Zusätze zu benutzen.
Der Stoff im Ganzen behandelt wieder Localisationsfragen. Die
eine von diesen Fragen hatte ich vor Decennien selbst aufgeworfen:
es handelt sich um den Eintritt von Motilitätsstörungen nach Eingriffen
in die sogenannte Sehsphäre. Diese Frage musste in jedem Falle, nament-
lich aber mit Rücksicht auf die widersprechenden Angaben der Autoren,
endlich einmal aus der Welt geschafft werden. Ich hoffe, es ist mir
gelungen.
Eine andere nicht minder wichtige, ja noch wichtigere Frage betrifft
im Gegensatz hierzu den Eintritt, das Verhalten und den Verlauf von
Sehstörungen nach Eingriffen in die motorische Zone, ferner die Prü-
fung der viel umstrittenen Lehre Munk's von der Function des Occi-
pitalhirns durch umfassende Versuchsreihen sowie die Einfügung der
auf diesem Gebiete gefundenen experimentellen Erfahrungen in unsere
theoretischen Anschauungen von der Gehirnmechanik. Mehrere und zwar
die umfangreichsten Abhandlungen sind diesen letzteren Aufgaben gewidmet.
1) üeber traumatische Tabes. Berlin 1894. lieber den (Juerujantenwahn-
sinn. Leipzig 1895. Die Kostordnung der Psychiatrischen und Nervenkliuik.
Jena 1897. Der Schwindel. Wien 1898.
- IX —
Dabei galt es unter anderem sich auch mit der oxporinusn teilen xMetliudilv
zu beschäftigen, welche von jeher mancherlei Angriffen ausgesetzt gewesen
ist, Angriffen, welche noch vor Kurzem durch einen Forscher, Herrn
Loeb, dahin zugespitzt wurden, dass er die gesammten Differenzen,
welclie zwischen der Schule von Goltz und den Anhängern der Loca-
lisationslehre bestehen, auf die Nichtbeachtung von Fehlern und Diffe-
renzen in der Methodik zurückführen wollte. Mir schien es, dass jede
Einigung über diese Streitpunkte von der grössten Tragweite solange
ausgeschlossen bleiben musste, bis man sich nicht über den Werth der
complicirten Bedingungen, unter denen man am Grosshirn operirt und
die operativen Resultate feststellt, geeinigt iiatte. —
Ich benutze diese Gelegenheit, um meinem bisherigen Assistenten
Herrn Dr. K alberiah nochmals für seine mir bei meinen jüngsten
Arbeiten geleistete Hülfe, sowie Fräulein Dr. Irma Klausner zu Berlin
dafür meinen aufrichtigen Dank auszusprechen, dass sie fast die sämmt-
lichen Correcturen dieses Buches gelesen hat.
Als ein gütiges Geschick mich im Jahre 1870 die Entdeckung der
elektrischen Erregbarkeit des Grosshirns machen Hess, versprach ich
mir selbst, meinen Dank durch gewissenhafte Arbeit an dem Auibau
der Physiologie und Pathologie des Gehirns abzutragen. Wie man sieht,
bin ich diesem Versprechen nicht untreu geworden. Aber doch hat
sich der Verlauf der Dinge ganz anders gestaltet, als ich ihn mir vor-
stellte. Einmal wurden meine Kräfte durch den Krieg, durch die
mannigfaltigsten und manchmal unerfreulichsten Berufsgeschäfte, und,
wie gesagt, durch andere wissenschaftliche Aufgaben derart absorbirt, dass
diese Untersuchungen überhaupt zurücktreten mussten. Dann aber wurde
ich einerseits durch den Widerspruch, den die Localisationsfrage erfuhr,
andererseits durch die Ausdehnung und Anwendung, die ihr im Gegen-
satz zu meinen eigenen Erfahrungen gegeben wurde, in Bahnen ge-
drängt, die meinen Absichten und Neigungen fern lagen. An sich ist
der Kampf der Findung der wissenschaftlichen Wahrheit förderlich,
ja unentbehrlich. Das ist eine alte Wahrheit, deren Richtigkeit
sich auch auf unserem Gebiete wieder bewährt hat. Ich habe aus
diesem Grunde den Gegner niemals mit der Sache verwechselt, die ich
bekämpfen musste; viele meiner Mitarbeiter auf diesem Gebiete sind
denn auch, selbst wenn unsere Ansichten mehr oder weniger divergirten,
meine Freunde geworden.
Jedoch nicht immer hatte ich den Kampf lediglich um die Fin-
dung der wissenschaftlichen Wahrheit zu führen; anders geartete
Tendenzen galt es von Zeit zu Zeit zu bekämpfen. Ganz besonders ist
— X —
mir die reine Freude an der Arbeit durch die Erfahrung verdorben
worden, dass ein Forscher unter der Maske der Anerkennung meine
eigenen Resultate und Betrachtungen zurückdrängte, um sie unter ver-
ändertem Namen und mit anderen äusserlichen Veränderungen, die er
nicht einmal zu begründen für gut fand, als Erzeugnisse seiner höheren
Einsicht vorzutragen 3^) ; und ferner dadurch, dass derselbe Forscher seine
Lehre über die Art der Localisation des Sehens im Occipitalhirn in
einer Weise aufrecht erhalten und vertheidigt hat, die die Beibringung
eines sehr umfassenden casuistischen Materials erforderlich machte. In-
dessen schien mir nur auf diese Weise die Widerlegung jener in alle Lehr-
bücher und in die Vorstellungskreise der Meisten eingedrungenen Theo-
rien möglich, Theorien, deren Festhaltung jeden Fortschritt in der Er-
kenntniss der Hirnmechanik verhinderten. Auf diese Weise wurde mir
ein ungeheurer und mir unersetzlicher Aufwand an Zeit und Mühe nicht
nur nach der experimentellen, sondern auch nach der redactionellen
Seite hin verursacht. Durch alle diese und manche andere, hier nicht
zu erwähnende Momente ist es gekommen, dass ich mein Arbeitspro-
gramm theils in anderer als der geplanten Weise, theils überhaupt nicht
zur Ausführung bringen konnte.
Unbesiegt von meinen Gegnern, besiegt von dem allgewaltigen
Schicksal, das mich der Sehkraft bereits fast gänzlich beraubte, lege ich
jetzt das Messer, die Feder und das Schwert aus der Hand, in der
Absicht, sie nicht wieder aufzunehmen. Jedermann wird es begreiflich
finden, dass ich zu einer solchen Fortsetzung meiner literarischen Thä-
tigkeit, welche lediglich im Federkampf, ohne Beibringung neuen Mate-
rials bestehen könnte, nicht geneigt bin. Wenn ich also ferner schweigen
werde, so liegt darin der Grund, sollte ich aber wider Willen reden
müssen, so würde dies unter dem Zwange einer Art der Polemik ge-
schehen, wie ich sie nach meinen bisherigen Erfahrungen allerdings
nicht für unmöglich halten muss. Unter meinem Schweigen wird die
Sache nicht zu leiden haben. Weder die Beurtheilung des Werthes
meiner eigenen Arbeiten, noch die endliche Findung der Wahrheit hängt
von dem Willen des Einzelnen ab; diese Untersuchungen werden wie-
derholt werden und das Endergebniss ist mir nicht zweifelhaft.
Halle, im September 1903.
Der Verfasser.
Inhalt des I. Theiles.
Seite
Vorwort ^^^
I. Ehileitiiiig ^
IL Ueber die elektrische Erregbarkeit des (^rosshirns 8
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedruckt in
Reichert's und du Bois-Reymond's Archiv. 1870.
H. 3).
III. IJiitersuclmiigen zur Physiologie des Grosshiriis 36-62
1. Polare Einflüsse 36
2. Einflüsse des Aethers und Morphiums . . 39
3. Einfluss der Apnoe 42
4. Augenmuskeln und Facialis . ." 45
5. Umfang und erregbare Verbindungen der
Centren 4<
6. Reflexionen ^3
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedruckt in
Reichert's und du Bois-Reymond's Archiv. 1873.
H. 3 u. 4.)
IV. Ueber Productioii von Epilepsie durch experi-
mentelle Verletzung der Hirnrinde ...... 63
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedruckt in
„Untersuchungen über das Gehirn". 1. Aufl.)
V. Lähmungsversuche am Grosshirn • ^^
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedruckt in Rei-
chert's und du Bois-Reymond's Archiv. 1874. H.4.)
VI. Kritische und experimentelle Untersuchungen
zur Physiologie des Orosshirns im Anschluss
an die Untersuchungen des Herrn Professor
D. Ferrier in London 114—158
Vorbemerkungen
A, Die Methode Ferrier's 1^^
XII Inhalt des I. Theiles.
Soite
B. Die Resultate Ferrier's:
1. Allgemeine Differenzen zwischen den Reiz-
effecten Ferrier's und den meinigen .... 122
2. Spezielle Differenzen zwischen den Reizeffecten
Ferrier's und den meinigen 124
1. Versuche an Hunden 124
a) Unerregbare Zone 125
b) Erregbare Zone 132
2. Versuche an Katzen 140
a) ün erregbare Zone 141
b) Erregbare Zone ....... 144
3. Versuche an Meerschweinchen .... 147
C. Die Schlüsse Ferrier's 153
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedruckt in
„üntersuchungenüber das Gehirn". I. Autl.)
VII. Ueber einen interessanten Abscess der Hirnrinde 159
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedruckt im
Arch.f.Psychiatr. u. Nervenkrankh. Bd. III. H.2,)
VIII. Ueber äqnivalente Regionen am (jehirn des
Hnndes, des Aifen und des Menschen 170
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedruckt in
„Untersuchungen über das Gehirn". 1. Aufl.)
IX. Kritische und experimentelle Untersuchungen
zur Physiologie des Orosshirns, im Anschluss
an die Untersucliungen der Herren L, Hermann,
H. Braun, (1. Carville und H. Duret 193
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedruckt in
Reichert's und du Bois-Reymond's Archiv. 1875.
H. 4.)
X. Ueber die Einwände des Herrn Prof. Goltz . . 214
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedrückt in Rei-
chert's und du Bois-Reymond'sArchiv. 1876. II.6.)
XL Zur Physiologie des (jrosshirns . 230
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedruckt im
x\rch. f. Psych, u. Nervenkrankh. Bd. XV. H. 1.)
XII. Ueber die Functionen des (jrosshirns .... 238
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedruckt in
der Berl. klin. Wochenschr. 1886. No. 40.
XIII. Ein Beitrag zur Hirnchirurgie I '247
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedruckt in der
Berl. klin. Wochenschr. 1892. No. 29.)
XIV. Ein Beitrag zur Hirucliirurgie II. Ueber hirn-
chirurgische Missert'olge 264
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedruckt in der
Therapeut. Wochenschr. No. 19 u. 20.)
Inhalt des L Tliciles. ' Xlll
.Soito
XV. Rill H«itraft- zur Hiriicliirurj^ie NF. 294
(Diese Abliandlunj>' wni'de zuerst j^'edruclvt in den
Mittheilungen aus den Grenzgeb. der Medizin und
Chirurgie. 189S.)
XVI. Ein Kiuesiüsthesiometer nebst einigen Henier-
knn2,en über den Muskelsinn ;^li
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedruckt im
neurologischen Centralblatt. 188S.)
XVTl. üeber den Ort der extraventricularen Cerebral-
flüssigkeit 328
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedruckt in Rei-
chert's und du Bois-Reymond's Archiv. 1874. H..3.)
XVIIT. lieber die beim Galvanisiren des Kopfes ent-
stehenden Störnngen der Muskelinnervation und
der Vorstellungen vom Verhalten im Räume . 3.3^—385
I. Literatur 33G
IL üeber die beim Galvanisiren des Kopfes
eintretenden Erscheinungen von Schwindel 339
III. Ueber die beim Galvanisiren des Kopfes
eintretenden Augenbewegungen 347
IV. Ueber die Art der Einwirkung des Galva-
nismus 352
V. Ueber das Verhältniss der beim Galvani-
sieren des Kopfes eintretenden Reizer-
scheinungen zu einander 355
VL Schluss 373
1. Ueber den Ort der Einwirkung des Galvanismus 374
2. Ueber das Verhältniss des Drehschwindels zu
zu den galvanischen Reizeflfecten . . . . ; 377
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedruckt in
Reichert's und du Bois-Reymond's Archiv. 1871.
H. 5 u. 6.)
XIX. Untersuchungen zur Physiologie des Kleinhirns 386
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedruckt in
„Untersuchungen über das Gehirn". I. Aufl.)
XX. Ueber die Auffassung einiger Anomalien der
3Iuskelinnervation 1 394
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedruckt im
Arch. für Psych, u. Nervenkr. Bd. III. H. 2.)
Anmerkung 35: Ueber das Wesen und die Ent-
stehung der hemiplegischen Contraktur.
XXI. Ueber die Auffassung einiger Anomalien der
Muskelinnervation II 409
(Diese Abhandlung wurde zuerst gedruckt im
Arch. für Psych, u. Nervenkr. Bd. III. H. 3.)
Inhalt des 11. Theiles.
I. lieber die nach Verletzung des Hinterliirns
eintretenden Störungen der Bewegung und
Empfindung 1
II. Der Versuch Loeb's 23
III. Historisches, Kritisches und Experimentelles
über Methoden und Theorien der Grosshirn-
forschung 37—154
T. Ueber Operationsmethoden. Princip der Lo-
calisation und Gründe für den Streit um dieses
Princip S. 38. Secundäre Erweichungen und Blu-
tungen S. 41. LähmuKgsversuche S. 44. Die Me-
thoden von Goltz S. 46. Die Methoden von Loeb
S. 53. Die Methoden von Luciani S. 63. Die Me-
thoden von Tonnini S. 67 38
II, Untersuchungsmethoden. Die elektrische
Untersuchung S. 68. Die Untersuchung der Be-
wegung und Empfindung S. 75. Die Untersuchung
der Reflexe S. 97 68
III. Theorien. A. Theorien des corticalen Sehens und
der corticalen Sehstörung S. 102. B. Theorien der
Gehirnmechanik S. 111. Munk S. 112. Die
italienische Schule S. 115. Goltz S. 116. Loeb
S. 127 102
IV. Schlussbetrachtungen 151
IV. Ueber die Beziehungen der Rinde und der
subcorticaleu Grauglien zum Sehact des Hundes 155
I. Die Beziehungen einzelner Regionen der
Hirnrinde zur Hervorbringung von Seh-
störungen.
A. Einfache Preilegung der Pia. a) Versuche
am Gyrus sigmoides S. 162. b) Versuche im
Inhalt des II. Theiles. XV
Seite
Bereiche des Hinterlappens S. 168. c) Versuche
in der mittleren Region S. 172. Zusammen-
fassung S. 174 . 158
IL Welcher Art sind die durch corticale Lä-
sioaen hervorgebrachten Sehstörungen,
sind sie hemianopischer Natur oder nicht,
insbesondere entsprechen sie den Lehren
Munk's?
Abschnitt I: Frontale Läsionen.
a) A. Gyrus sigmoides .S. 183. B. Anätzungen
S. 183. C. Unterschneidungen. a) Einseitige
Operationen S. 185. ß) Operationen der zweiten
Seiten S. 189. D. Scarificationen S. 192. E. Ex-
stirpationen. «) Einseitige Operationen S. 195.
ß) Operationen der zweiten Seite S. 205. F.
Doppelseitige frontale Durchtrennung des vorderen
Schenkels des Gyrus sygmoides S. 210. 1. Seh-
störungen, aa) Reaktion gegen Fleisch S. 212.
bb) R,eaction gegen Licht S. 213. 2. Optische
Reflexe S. 218. 3. Das Verhältniss der Seh-
störungen zu den optischen Reflexen S. 219.
4. Störungen des Nasenlidreflexes S. 220. 5. Der
ursächliche Zusammenhang zwischen den Stö-
rungen des Sehactes und der durch den Opticus
und den Trigeminus angeregten Reflexthätigkeit
5. 222. 6. Motilitätsstörungen S. 223. 7. Sec-
tionsbefunde S. 223 181
b) Laterale Nachbarwindungen des Gyrus
sigmoides S. 224. A; Versuche ohne motorische
Folgen S. 229. 1. Sehstörungen S. 240. 2. Op-
tische Reflexe S. 241. 3. Nasenlidreflex S. 241.
4. Motilitätsstörungen S. 241. 5. Operationen
und Sectionen S. 242. 6. Das Verhältniss der
Symptome zu dem Ort der Verletzung S. 243.
B. Versuche mit motorischen Folgen S. 249.
1. Sehstörungen S. 265. 2. Optische Reflexe
5. 267. 3. Nasenlidreflex S. 268. 4. Das gegen-
seitige Verhältniss der Sehstörung, der optischen
Reflexe und des Nasenlidreflexes S. 268.
5. Schlussfolgerungen S. 274 224
Abschnitt II: Occipetale Läsionen.
1. Historisches und Kritisches 278
IL Operationsmethoden 296
IIL Untersuch ungsmethoden 299
XVI • Inhalt des IL Theiles.
Seite
21. Casuistik.
Vorbemerkungen 304
a) Centrale Läsionen S. 305. A. Typische
Operationen S.306. «) Primäroperationen S.306.
Zusammenfassung. 1 . Sehstörangen. aa) Reaction
gegen Fleisch S. 332. bb) Reaction gegen Licht
S. 334. 2. Optische Reflexe S. 335. 3. Nasen-
lidreflex S. 336. ß) Secundäroperationen. Zu-
sammenfassung. 1. Sehstörungen, aa) Reaction
gegen Fleisch S. 355. bb) Reaction gegen Licht
S. 355. 2. Optische Reflexe S. 355. 3. Nasen-
lidreflex S. 356. B. Atypische Operationen
S. 357. Zusammenfassung. Sehstörungen, aa)
Reaction gegen Fleisch S. 387. bb) Reaction
gegen Licht S. 392. 2. Optische Reflexe S. 393.
3. Nasenlidreflex S. 393. 4. Das Verhältniss
der Läsionen zur Sehstörung S. 393 305
b) Laterale Läsionen S. 395. A. Atypische
Operationen S. 396. Zusammenfassung. 1. Seh-
störungen S. 400. 2. Optische Reflexe S. 401.
3. Nasenlidreflex S. 401. B. Typische Ope-
rationen, a) Laterales Drittel S. 401. Zu-
sammenfassung. 1. Sehstörungen S. 418. 2. Op-
tische Reflexe S. 420. ß) Laterale Hälfte S. 421.
Zusammenfassung. 1. Sehstörungen, aa) Reac-
tion gegen Fleisch S. 432. bb) Reaction gegen
Licht S. 433. 2. Optische Reflexe S. 433.
3. Nasenlidreflex S. 433. 4. Die Projektions-
frage S. 433 395
c) Mediale Läsionen S. 434. Zusammenfassung.
1. Sehstörungen, aa) Reaction gegen Fleisch
S. 444. bb) Reaction gegen Licht S. 445.
2. Optische Reflexe S. 445. 3. Nasenlidreflex
S. 445. 4. Die Projectionsfrage S. 445.
d) Caudale Läsionen S. 445. A. Typische
Operationen S. 446. Zusammenfassung. 1. Seh-
störungen, aa) Reaction gegen Fleisch S. 457.
bb) Reaction gegen Licht S. 458. 2. Optische
Reflexe S. 458. B. Atypische Operationen S. 459.
Zusammenfassung. 1. Sehstörungen, aa) Reac-
tion gegen Fleisch S. 474. bb) Reaction gegen
Licht S. 476. 2. Optische Reflexe S. 476.
3. Nasenlidreflex S. 476 434
e) Orale Läsionen S. 476. A. Typische Ope-
perationen S. 477. B. Atypische Operationen
Inhalt des II. Theiles. XVIT
.Soitf
S. 5ü(). Zusammenfassung. 1. Sehstörungen,
aa) Reaction gegen Fleisch S. 536. bb) Reaction
gegen Licht S. 539. 2. Optische Rellexe S. 539.
3. Nasenlidreflex S. 542 476
33. Ergebnisse.
1. Die Rindenblindheit und die Projec-
tions lehre •
2. Die Seelenblindheit und die Beschaffen-
heit der corticalen Sehstörung 566
m. Der Mechanismus des Sehens, der Seh-
störung und der Restitution
IV. Rückblicke und Schlüsse auf die Entstehung
der optischen Apperception
Anmerkung 36 aus: Ueber die Funktion der
motorischen Region des Hundehirns und über die
Polemik des Herrn H. Munk ö09
542
584
596
I. Einleitung.
Der in dem vorliegenden Buche behandelte Stoff hätte eine Ein-
theilung nach verschiedenen Priucipien zugelassen. Ich hielt die Ver-
wandtschaft des Inhalts für das Wichtigste. Deshalb ist in der Reihen-
folge dieser, zu einem Theile reproducirten Abhandlungen das chrono-
logische Princip nur nebenher in Anwendung gebracht, und von einer,
überdies ja nur künstlichen Trennung zwischen den physiologischen und
pathologischen Untersuchungen ganz abgesehen worden.
So umfasst die erste Abtheilung die Abhandlangen I — V, in denen
die, bis vor Kurzem unbestimmten Vorstellungen von der Localisation
im Grosshirn eine greifbarere Gestalt erhalten; in der zweiten Abthei-
lung, bestehend aus den Nummern VI- VIII, habe ich die Aufmerksam-
keit auf eine bisher viel zu wenig berücksichtigte Form der krank-
haften Muskelthätigkeit, die abnormen Mitbewegungen zu richten ge-
sucht; die dritte Gruppe IX— XI beschäftigt sich mit den Organen des
Gleichgewichts. Der die einzelnen Theile des Werkes zusammenhal-
tende Kitt besteht in ihrer gemeinsamen Beziehung zu der centralen
Innervation des Muskelsystems.
Der zwölfte Aufsatz gehört sachlich zur ersten Abtheilung. Er
nimmt die letzte Stelle ein, weil ich mich erst spät, nach langem
Schwanken zu seiner Publication entschloss. Nicht dass mir sein In-
halt an und für sich das leiseste Bedenken bereitet hätte. Aber ich
wünschte die Fülle der aus diesen Beobachtungen fast von selbst er-
wachsenden Consequenzen durch eigene Arbeit in die mir vorschwebende
Form zu bringen. Nun ich sehe, dass ich durch Obliegenheiten, deren
Abwälzung mir nicht gelingen will, daran vielleicht auf lange gehindert
sein werde, halte ich mich nicht für berechtigt, diese Gelegenheit zur
Publication vorübergehen zu lassen*).
*) In der IL Auflage hat sich die Anordnung des Stoffes aus verschie-
denen Gründen anders gestaltet.
Hitzig, Gesammelte Abiiandl. I. Theil. 1
— 2 —
Wie die Eintheilung, konnte aucli die anderweitige Behandlung
der äusseren Form in Frage kommen. Die mitgetheilten Untersuchungen
haben sich in mancher Beziehung auf neue Wege begeben. Selbst-
verständlich können diese nur Schritt für Schritt durchmessen werden;
jede einzelne Aufgabe entspricht einem Theile des Weges, aber nicht
einem Abschnitte; sie hat ihre Verbindungen nach vor- und rückwärts;
das Ende entzieht sich dem Blicke. So gewinnt die Lösung jeder Auf-
gabe in der Form nicht den, als Endziel erstrebenswerthen Charakter
der Abgeschlossenheit. Doch wird dieser Maugel meinen Bestrebungen
von selbstständigen Forschern am Wenigsten zum Vorwurf gemacht
werden. Denn nichts ist wohlfeiler und vielleicht auch mehr äusseren
Gewinn bringend als die Unterdrückung der Zweifel, so dass das Bild
für die grosse Menge bis auf Weiteres das Ansehen der Vollendung
erhält.
Hierin liegen die Gründe, welche mich dazu bestimmten, die ein-
zelnen Capitel in der Form der Abhandlung zu belassen, anstatt sie
unter Herbeiziehung fremder Untersuchungen über die Verrichtungen
des Gehirns zu einem, die Gestalt eines Lehrbuches annehmenden
Werke zu verarbeiten. Für ein Solches scheint mir die Zeit weder be-
reits gekommen noch sobald zu erwarten. Und doch war es geboten,
die Zugänglichkeit, mindestens des physiologischen Theiles dieser Ab-
handlungen, ohne Verzug zu vergrössern.
Man wird aus der dritten Abhandlung ersehen, wie leicht es einem
Forscher durch Berufung auf unsere Untersuchungen geworden ist, Re-
sultate in die Wissenschaft einzuführen, welche durch ganz fehlerhafte
Anwendung ähnlicher Methoden gewonnen waren. Der Gedanke lag zu
nahe, dass mancher Nacharbeiter nur den späteren Autor einsehen
würde, da dieser ja die Annahme für sich hatte, auf Grund des früher
Geleisteten Vollkommeneres in Methode und Resultaten zu bieten. Richtig
ist diese fragmentarische Benutzung der Literatur freilich nicht, aber
dafür um so häufiger, und aus dieser Erwägung ging die Wahl des
Zeitpunktes für die, wie man begreifen wird, stets beabsichtigte Zu-
sammenstellung meiner Untersuchungen hervor.
Wie wenig [ich mich mit jener Befürchtung und der Berechnung
freilich ebenso naheliegender Consequenzen getäuscht hatte, lehren zwei
französische Publicationen, für die mein kleines Werk doch nicht schnell
genug gedruckt werden konnte. Beide haben das gemeinschaftlich,
dass ihre Autoren unsere früheren Arbeiten nicht gelesen haben. Nichts-
destoweniger trägt die eine derselben den Titel Critique experimentale
des travaux de MM. Fritsch, Hitzig, Ferrier. Sie ist von den
Herren Carville und Duret in den Verhandlungen der Societe de
— 3 —
Biologie (Gazette medicale, 1874, No. 2) publicirt, und soll beweisen,
dass sich der elektrische Strom in der Masse des Gehirns verbreitet.
Der Leser wird schon aus der ersten, noch mehr aber ans der
dritten Abhandlung ersehen, dass diese Bemühungen, was uns angeht,
an eine falsche Adresse gerichtet sind. Da das Gehirn ein feuchter
Leiter ist, so haben wir von vornherein geschlossen, dass es sich ebenso
verhalten würde, wie alle anderen feuchten Leiter, und nach dieser
Voraussetzung unsere Versuche und unsere Schlussfolgerungen einge-
gerichtet. Wenn also die Herren Carville und Duret den Gegen-
stand ihrer Kritik zunächst hätten lesen wollen, so würden sie das End-
resultat ihrer Untersuchungen überall als Prämisse benutzt gefunden
haben.
Die andere, den Inhalt einer These ausmachende Arbeit will unsere
Untersuchungen wiederholen und deren Schlussfolgerungen widerlegen.
Wenn die erste Absicht in irgend einem Punkte ausgeführt wäre, so
würde sich über das Gelingen der zweiten discutiren lassen. Bis dahin
halte ich aber jede Discussion für nutzlos.
Das Thema des ersten Theiles dieser Untersuchungen ist nicht nur
wegen seiner Beziehungen zu allen Zweigen der theoretischen und prak-
tischen Medizin von jeher Gegenstand allgemeineren Interesses gewesen.
Vielmehr wurde ziemlich allseitig zugegeben, dass die Erkenntniss der
Eigenschaften der Hirnrinde eigentlich wohl das unterste Fundament
auch der Psychologie ausmachen solle, und in der That hat diese
Wissenschaft nur ungern auf einen so erheblichen Theil des physiolo-
gischen Materiales verzichtet. Wie gross aber das allgemein mensch-
liche Bedürfniss nach einem Einblick in diese Vorgänge ist, das be-
weisen wohl am Besten die erstaunlichen äusseren Erfolge, welche die
Phrenologie, trotz ihrer unwissenschaftlichen Methode, in weiten Kreisen
gefeiert hat.
Ich habe deshalb einige Veranlassung darauf zu rechnen, dass die
Discussion über den Sinn der mitgetheilten Thatsachen sich auf mancherlei
Kreise erstrecken wird, ohne dass grade jeder Theilnehmer sich vorher
die Mühe nahm, meinem Gedankengang überall nachzugehen; ohne dass
mancher Andere geneigt wäre, die von mir, in dem Bestreben, mit der
Deutung den Thatsachen nicht voranzueilen, gelassenen Lücken, in einer
meinen eigenen Ideen homogenen W^eise zu ergänzen. Vielleicht in Folge
unausgesetzter Beschäftigung mit diesen Dingen ist es gekommen, dass
ich eine bestimmte Auffassung für selbstverständlich genug hielt, um
einer besonderen Auseinandersetzung entbehren zu können. Glücklicher-
1*
weise überzeuge ich mich noch rechtzeitig, dass ich mich getäuscht
habe, und kann so meinen Fehler durch einige einleitende, besonders
den beiden ersten Abhandlungen geltende Worte wieder gut machen.
Meine Untersuchungen haben sich in einen principiellen Gegensatz
zu der früher ziemlich allgemein acceptirten Fl ourens'schen Lehre
gesetzt, dass die Hirnlappen mit ihrer ganzen Masse für die unge-
schmälerte Ausübung ihrer Functionen einti-eten, und' dass es keinen
gesonderten Sitz weder für die verschiedenen Fähigkeiten noch für
die verschiedeneu Wahrnehmungen gäbe. Daraus ist wohl bei Manchen
die Meinung entstanden, als ob ich — ausgehend von den elektrisch
reizbaren „Centren" — eine ähnliche Art von circumscripten Fähig-
keitsheerden, wie die der Fhrenologen in die Wissenschaft einführen
wollte. Nichts kann irrthümlicher sein.
Grade die Art der elektrischen Reaction der Hirnrinde würde mich
nie zu einer solchen Idee haben kommen lassen. Wenn ich die Strom-
stärke des wirklichen Zuckungsminimums aufsuche, reagirt nur die Stelle,
wo meine Stecknadelkopf grosse Anode sitzt. Bei der geringsten Orts-
veränderung verschwindet die Reaction. Könnte ich dieser Anode nun
die Kleinheit einer Ganglienzelle geben, so würde das Verhältniss sich
wohl kaum ändern. Dann wäre also diese Ganglienzelle das wahre
Centrum! Gegen die Widersinnigkeit, welche dieser Schluss herbei-
führen würde, bedarf es keiner Beweise.
Man kann sich die ganze Rinde des grossen Gehirns in eine Zahl
gleich grosser Felder zerlegt, und diese Felder sowohl unter sich als
mit den Zusammenfassungen der grossen Ganglien durch Leitungen
verbunden denken. Ihr Areal würde das materielle Substrat für alle
die Kräfte bilden, deren Erscheinungsweise uns unter dem Namen
psychische Functionen bekannt ist. Bis hierher geht die Ansicht
Flourens' mit der meinigen, welche in dieser Form wohl zuerst von
Meynert ausgesprochen wurde, zusammen, von hier ab weichen die
Ansichten auseinander.
Nach Flourens tritt die Gesammtheit des Grosshirns für alle
Functionen ein, gesonderte Functionsherde existiren nicht; wir würden
also jedes einzelne Feld als ein kleines Grosshirn für sich zu betrachten
haben. Wir würden mit jedem einzelnen Felde alle Sinneswahrneh-
mungen verrichten, alle Vorstellungen herleiten und alle Willensimpulse
produciren können, und die complicirte, Solches vollbringende, jedem
kleinsten Theile innewohnende Kraft würde etwas Specifisches, eine be-
sondere Grosshirnkraft sein.
Nach meiner Auffassung ist die Einführung dieses Factors, mit dem
sich schwer würde weiter rechnen lassen, nicht erforderlich. Ich nehme
an, dass eine grössere oder geringere, vorläufig noch nicht abzugren-
zende Zahl von Feldern, mit unter sich ähnlichen Fähigkeiten aus-
gestattet, zur Vollbringung des gleichen Zweckes zusammenwirkt, und
lasse eine unbestimmte Zahl verschiedenen Zwecken dienender Com-
plexe existiren.
Sehen wir nun zu, wie sich jede Einzelne dieser beiden Ansichten
mit dem, was wir über die Lebensäusserungen des Grosshirns wissen,
vereinigen lässt, so finden wir, dass die zuerst erläuterte doch nur
einen geringen Theil der Erscheinungen deckt, während der anderen
nichts widerspricht. Gehen wir von den einfachsten Verhältnissen, dem
elektrischen Reizversuche aus, so reagirt das Substrat jeuer hypothe-
tischen Grosshirnkraft an den verschiedensten Stellen des Gehirns ver-
schieden, hier bewegt sich ein Arm, dort ein Bein, dort nichts. Nach
jener Annahme müsste sich aber überall Alles oder nichts bewegen.
Ebenso entstehen zweifellos Paresen in Folge von Desorganisationen
einzelner Felder der Rinde, während andere Felder ohne erkennbare
motorische Symptome zu Grunde gehen. Dasselbe Resultat ergeben
Lähmungsversuche, wegen deren ich den Leser noch besonders auf die
höchst interessanten, in Virchow 's Archiv vorgetragenen Untersuchungen
Nothnagel's verweise. Nach jener Annahme müssten Paresen bei
Verletzung jedes einzelnen oder keines Feldes entstehen.
Trotz Allem, was man dagegen vorgebracht hat und vorbringt, ge-
bührt endlich den Erfahrungen über Aphasie ein hervorragender Platz
in dieser Beweisführung. Es ist durch eine jetzt kaum noch zu über-
sehende Casuistik festgestellt, dass dieses Symptom durch die Ver-
letzung eines bestimmten Rindenbezirkes producirt wird. Wenn man
nun gegen diese Erfahrungen anführt, dass auch die Verletzung anderer
Hirntheile ähnliche oder gleiche Erscheinungen bedingt hat, so würde
dies nur dann als ein Beweis gegen die Localisation im Grosshirn benutzt
werden können, wenn man die Sprache als etwas Einfaches dargestellt
hätte, und dieses Einfache, nach Analogie der Phrenologen, auf einem
kleinen Bezirke alle Existenzbedingungen finden Hesse. Aber selbst
dann würden diese Erfahrungen noch gegen die Theorie von Flou-
rens sprechen. Man würde mit ihnen doch nur zu dem Niemand er-
wünschten Schlüsse kommen, dass die fragliche Fähigkeit bei neunzig
Menschen in der dritten Stirnwindung und bei zehn vom Hundert an
einer anderen Stelle ihren Sitz habe, nicht aber dass sie auf jedem
einzelnen Felde erwüchse.
Nimmt man aber an, dass die Wortbildung etwas Complicirtes,
auf regelrechtes Zusammenwirken mehrerer Complexe von Feldern An-
gewiesenes sei, so werden die Ausnahmen neben der Regel verstand-
— 6 —
lieh. In diesem Falle würde die Trennung sämmtlicher oder der
wesentlichen Verbindungen zwischen je zwei Complexen analoge Er-
scheinungen bedingen können, wie die Vernichtung des Einen von ihnen,
oder was dasselbe sagen will, wie die Abtrennung seiner Bahnen nach
der Peripherie^).
In ganz ähnlicher Weise lässt man auch die Entstehung willkür-
licher Bewegungen oder besser Handlungen vor sich gehen.
Jede Handlung, auch die fast automatische, kann auf frühere und
gegenwärtige Sinneseindrücke zurückgeführt werden. Aus der Summe
der durch die ursprüngliche Thätigkeit der Sinnesorgane im weitereu
Sinne gebildeten Vorstellungen erwächst der die Bewegung zur Fulge
habende Trieb. Die Bewegungen wurzeln insofern in den eigentlichen
Feldern der Sinnesfläche, und ich könnte mir demnach vorstellen, dass
ein Beweguugscentrum selbst intact und doch durch Isolirung von den
zusammenwirkenden Factoren ausser Function gesetzt ist. Ja ich
würde es nicht erstaunlich finden, wenn namentlich an psychisch nie-
deren Thieren nachgewiesen würde, dass die Zerstörung einer als reine
Sinnesfläche erkannten Region eine Bewegungsstörung mit herbeizieht,
ohne dass je die Reizung derselben Stelle zu einer Bewegung geführt
hätte.
Am einfachsten zu erklären ist endlich der Umstand, dass be-
stimmte Stellen auf Eingriffe reizender oder lähmender Art leichter
antworten als andere. Was auch immer auf der Hirnrinde geschehen
möge, es muss centrifugale und centripetale Bahnen zur Verfügung
haben. Knotenpunkte dieser Bahnen werden die Folgen des Eingriffes
leichter, alle anderen Partieen schwerer in die Erscheinung treten
lassen. —
Mit diesen und meinen früheren Ausführungen wünsche ich mich
weder in das Lager der Materialisten noch in das der Spiritualisten
zu begeben. Man kann so sehr Spiritualist sein als man will, immer
bleiben Orgaue, in welchen die scheinbar über Allem schwebende Seele
arbeitet, eine Forderung der Vernunft. Unserer Beschäftigung mit den
nächsten körperlichen Verrichtungen dieser Organe, wolle der Leser
seine wohlwollende Theilnahme schenken. Betrachtungen, ob das darüber
Schwebende die unsterbliche Seele oder eine, auch anderer Erschei-
nungsweisen fähige Naturkraft sei, überlassen wir Anderen.
Anmerkung.
1) Diese Stelle wurde vor der Publikation der bahnbrechenden Arbeit
Wernicke's, Ueber den aphasischen Symptomenkomplex, Breslau 1874 nie-
— 7 —
dergesclirieben. Wie man siebt, geht sie rein theoretisch und aprioristiscii
von denselben fundamentalen Anschauungen aus, zu denen Wernici^e auf
Grund seiner klinischen Beobachtungen gelangt ist. Es ist vielleicht nicht
ohne Interesse, dasjenige zu lesen, was dieser Autor in einem Nachtrage zu
seiner citirten Arbeit über diesen Punkt selbst sagt: ,,In der Vorrede von
Hitzig' s gesammelten Abhandlungen, die während des Druckes der hier vor-
liegenden Arbeit erschienen sind, finde ich zu meiner Ueberraschung über die
Bedeutung der Grosshirnoberiläche und sogar über die Aphasie Ansichten aus-
gesprochen, welche mit den meinigen fast vollkommen identisch sind. Es mag
daher nicht überflüssig erscheinen zu constatiren, dass ich meine Theorie der
Aphasie schon im November vorigen Jahres vor einer Anzahl von Collegen,
welchen ich einzelne Abschnitte der Gehirnanatomie demonstrirte, vorgetragen
habe. Diese Uebereinstimmung unserer Ansichten erfüllt mich übrigens mit
um so grösserer Genugthuung, als wir auf gänzlich verschiedenen Wegen dazu
gelangt sind, und als sie beweist, dass die Anatomie und das physiologische
Experiment in ihrer Bedeutung für die Kenntniss des Gehirns sich mindestens
ebenbürtig gegenüberstehen."
II. lieber die elektrische Erregbarkeit des Orosshirns*).
Die Physiologie vindicirt allen Nerven als eine nothwendige Be-
dingung des Begriffes die Eigenschaft der Erregbarkeit, d. h. die Fähig-
keit, mit ihrer specifischen Energie auf alle Einflüsse zu antworten,
durch welche ihr Zustand in einer gewissen Geschwindigkeit geändert
wird. Nur für die Centraltheile des Nervensystems herrschen andere,
freilich nur in wenigen Punkten allgemein acceptirte Ansichten. Es
würde zu weit führen und au3h dem speciellen Zweck der gegenwärtigen
Arbeit nicht dienen, wenn wir aus der ungeheuren einschlägigen Literatur
auch nur die uns zuverlässig scheinenden Resultate anführen wollten,
welche durch die Reizversuche an allen einzelnen Theilen des Central-
nervensystems gewonnen sind. Während jedoch rücksiclitlich der Erreg-
barkeit der den Hirnstock zusammensetzenden Organe durch andere als
die organischen Reize die grösste Meinungsverschiedenheit besteht, wäh-
rend in neuester Zeit ein heftiger Streit über die Erregbarkeit des
Rückenmarkes entbrannt ist, hat seit dem Anfang des Jahrhunderts die
Ueberzeugung ganz allgemein Platz gegriffen, dass die Hemisphären
des grossen Gehirns durch alle den Physiologen geläufigen
Reize absolut unerregbar seien.
Haller und Zinn**) freilich wollten bei Verletzung der Mark-
substanz des Grosshirns convulsivische Bewegungen gesehen haben.
Indessen war man zu jener Zeit an eine strenge Begrenzung der ange-
wandten Reize, welche freilich am Gehirn fast unüberwindlichen Hinder-
nissen begegnet, zu wenig gewöhnt, als dass diese Angaben später Glauben
gefunden hätten. Vielmehr ist es, wie schon Longe t bemerkt, wahr-
*) Die in dieser Abhandlung erwähnten Versuche wurden gemeinschaft-
lich mit Herrn Dr. G. Fritsch, Privatdocenten an der hiesigen Universität,
angestellt und publicirt.
**) Hall er und Zinn, M^moires sur la nature sensible et irritable du
Corps animal. Lausanne 1756. t. I. p. 201 et suiv.
scheinlicli, dass jene Experimentatoien mit ihren Instrumenten bis zur
Medulla oblougata vorgedruugen waren.
Longet*) selbst aber spricht sich hierüber folgendermasseii aus:
„Sur des chiens et des lapins, sur quelques chevreaux, nous avons
„irrite avec le scalpel la substance blanche des lobes cerebraux; nous
„l'avons cauterisee avec la potasse, l'acide azotique etc., nous y avons
„fait passer des courants galvauiques en tout seus, sans
„parvenir ä mettre en jeu la contractilite musculaire in-
„volontaire, ä developper des secousses convulsives: meme resultat
„negatif, en dirigeant les memes agents sur la substance grise ou
„corticale."
Zu den gleichen Resultaten führten die Vivisectionen von Ma-
gendie**).
Auf die übrigens ziemlich gleichlautenden Schlüsse von Flourens,
welche sich auf die Ergebnisse von Durchschneidungen und Abtragungen
stützten, werden wir in der Folge einzugehen haben.
Auch Matteucci***) fand das grosse imd kleine Gehirn des Ka-
ninchens gegen elektrische Reize vollkommen unerregbar.
Van Deeuf), mit dessen Namen man in neuerer Zeit die Lehre
von der Unerregbarkeit der Cerebrospinalcentra verknüpft hat, ging in
seinen Schlüssen noch beträchtlich weiter als alle Experimentatoren vor
ihm und die meisten nach ihm. Während man früher neben dem
Rückenmarke wenigstens einigen basalen Hirntheilen die Eigenschaft
der Erregbarkeit gelassen hatte, sprach er dieselbe dem ganzen Central-
nerveusystem auf Grund seiner, für das Kaninchen übrigens höchst
mangelhaft beschriebenen Versuche, gänzlich ab.
Desgleichen sah Eduard Weberff) bei Experimenten mit dem
Rotationsapparate am Grosshirn der Frösche keine Muskelzuckungen
eintreten.
Budgefff), der auch selbst eine äusserst grosse Zahl von Säugern
*) Longet, Anatomie et physiologie du Systeme nerveux de l'homme et
des animaux vertebres. Paris ]842. t. I. p. 644 u. a. and. 0.
**) Magen die, Legons sur les fonctions et les maladies du Systeme
nerveux. Paris 1839. t. L p. 175 u. a. and. 0.
***) Matteucci, Traite des phenomenes electrophysiologiques des ani-
maux. Paris 1843. p. 242.
f) Van Deen, Moleschott's Untersuchungen etc. Bd. VII. H. IV.
8. 381.
ff) Eduard Weber, R. Wagner's Handwörterb. d. Physiol. Bd. III.
Abthl. IL S. 16.
fff) Budge, Untersuchungen über das Nervensystem. Frankf. a, M. 1842.
H. IL S. 84.
- 10 —
opferte, spricht sich, abgesehen von vielen anderen ähnlich lau.tenclen
Stellen, folgendermassen aus:
„Wenn man nach dem jetzigen Standpunkte der Wissenschaft
„schliessen darf, dass in einem Nerventheile, in welchem nach einer
„Reizung keine Zuckungen eintreten, die Bewegungsfasern fehlen, so
„kann man mit der grössten Bestimmtheit behaupten, dass nicht eine
,.einzige Faser solcher Nerven, die zu willkürlichen Muskeln hingehen,
„in den Hemisphären des grossen Gehirns verlaufe. Nicht ein einziger
„Beobachter sah Bewegung solcher Muskeln nach Reizung der genannten
„Centraltheile."
Endlich führen wir noch die Meinimg Schiffs*), eines der er-
fahrensten Vivisectoren, an:
„Üass die Reizung der Hirnlappen, der Streifenhügel und des
„kleinen Gehirns keine Spur von Zuckung in allen freien Körpermuskeln
„hervorruft, kann ich nach der Angabe Adeler Forscher bestätigen. Auch
„die Eingeweide blieben bei der Reizung dieser Theile ruhig, wenn
„ich — wie dies bei solchen Versuchen unumgänglich nöthig ist — die
„Circulation erhalten hatte."
Man sieht, auch in einer anderen Wissenschaft als der Physiologie
dürfte es kaum eine Frage geben, über die die Ansichten so überein-
stimmend lauteten, die so vollkommen abgeschlossen schien, als die
Frage von der Erregbarkeit der Grosshirnhemisphären. Uebrigens wäre
es ein Leichtes, noch mehr gleichlautende Citate zu häufen, wenn dies
irgend einen Nutzen verspräche.
Nur ein Autor neben Hai 1er und Zinn hat, so viel uns bekannt
geworden, etwas Abweichendes gesehen, und dessen Angabe erregte bei
Eckhard**), der die Thatsache citirt, so wenig Glauben, dass er Namen
und Quelle verschweigt. Die betreffende Stelle lautet: „Bei scheiben-
„ weiser Abtragung der vorderen Gehirnlappen giebt man au, lebhafte
„Bewegungen in den Vorderbeinen gesehen zu haben." An und für
sich ist dies freilich nicht viel; denn man kann daraus nicht ersehen,
wie der Versuch angestellt ist. Wäre er indessen mit den nöthigen
Cautelen angestellt, so würde er ein wichtiges Princip beweisen, das
Princip, dass man durch irgend einen Reiz, sei es der des Scalpells,
oder der des Sauerstoffs, oder der des Blutes, von den Vorderlappen
aus Bewegungen willkürlicher Muskeln hervorbringen kann. Jedenfalls
*) Schiff, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Lahr 1858—59.
Bd. I. 8. 362.
**) Eckhard, Experimentalphysiologie des Nervensystems. Giessen 1867.
S. 157.
— 11 —
scheint dieser vereinzelten Beobachtung von keiner Seite weitere Folge
gegeben zu sein; denn jene Stelle bei Kckhard ist die einzige von ihr
hinterlassene Spur.
Ehe wir nun zu unseren eigenen Versuclien übergehen, ist es er-
forderlich, diejenige Ansicht über die motorischen Vorgänge in den
Centralorganen darzulegen, welche sich in Folge der oben erwähnten
Versuche und der berühmten Hirnabtragungen von Flourens*) heran-
gebildet hatte.
Diesem geistreichen und glücklichen Forscher gelang es, durch
Anwendung wenigstens möglichst reiner Methoden zu Resultaten zu ge-
langen, die als Basis für fast alle hierher gehörigen später gewonnenen
Kenntnisse betrachtet zu werden verdienen.
Nach zahlreichen Abtragungen des Grosshirns, die meist an Vögeln,
doch auch an Säugethieren vorgenommen waren, sah Flourens alle
Zeichen des Willens und des Bewusstwerdens der Empfindungen ver-
löschen; während gleichwohl durch von Aussen eindringende Reize nun
ganz maschinenmässig gewordene Bewegungen in allen Körpermuskeln
ausgelöst werden konnten. Solche Thiere halten sich sehr wohl auf
ihren Füssen, sie laufen, wenn man sie anstösst, Vögel fliegen, wenn
man sie in die Luft wirft, sie wehren sich, wenn mau sie neckt, sie
verschlucken in den Mund gebrachte Gegenstände und auch die Iris
contrahirt sich auf den Lichtreiz. Niemals aber treten solche Bewe-
gungen ohne Einwirkung eines äusseren Reizes ein. Des Grosshirns be-
raubte Thiere sitzen stets wie in sich versunken, wie schlafend da, und
man ändert nichts an diesem Zustande, setzte man sie auch dem Ver-
hungern nahe auf einen Berg von Nahrungsmitteln.
Flourens schloss hieraus, dass die Grosshirnhemisphären nicht
der Sitz des unmittelbaren Princips (principe immediat) der Muskel-
bewegungen, aber der einzige Sitz des Willens und der Empfindungen
seien**).
So befriedigend diese Versuchsreihe und die aus ihr gezogenen
Schlüsse nun auch scheinen, so wenig lassen sich die gleich anzufüh-
renden ferneren Resultate und Schlüsse Flourens mit auf anderen
Wegen gewonnenen Erfahrungen vereinigen.
Wenn Flourens Thieren nur eine Hemisphäre abtrug, so wurden
sie zwar auf dem Auge der gegenüber liegenden Seite blind, sie be-
hielten aber ihre volle Willensherrschaft über sämmtliche willkürliche
*) Flourens, Recherches experimentales sur les proprietes et les fonc-
tions du Systeme nerveux dans les animaux vertebres. 2® edit. Paris 1842.
**) A. a. 0. S. 35.
— 12 —
Muskeln und nach Ueberwindung einer nicht einmal immer auftretenden
Schwäche der gegenüberliegenden Körperhälfte unterschieden sie sich
in nichts von nicht verstümmelten Thieren. Wenn er ferner anderen
Thieren das Grosshirn scheibenweise, sei es von vorn nach hinten oder
von hinten nach vorn, sei es von oben nach unten oder von aussen
nach innen, abtrug, so bemerkte er unter allen diesen Bedingungen
eine gleichmässige, allmählige Abnahme der sinnlichen Wahrnehmungen
und des Willens. Ueberschritt er aber eine gewisse Grenze, so waren
plötzlich alle diese der Seele zugeschriebenen Eigenschaften auf einmal
erloschen und das Thier versank in den geschilderten traumhaften
Zustand.
Ja noch mehr, wenn er mit der Abtragung an jener Grenze inne-
hielt, so erlangte das Thier innerhalb weniger Tage die schon verlorenen
Fähigkeiten wieder und konnte dann noch lange mit denselben seelischen
Eigenschaften fortexistiren, als wenn es nichts von seiner Gehirnsubstanz
eingebüsst hätte. Flourens schloss hieraus*), dass die Hirnlappen
mit ihrer ganzen Masse für die ungeschmälerte Ausübung
ihrer Functionen eintreten, und dass es keinen gesonderten
Sitz, weder für die verschiedenen Fähigkeiten', noch für die
verschiedenen Wahrnehmungen gäbe. Er schloss ferner, dieses
im Widerspruch mit dem ersten Schlüsse, dass ein zurückgelassener
Theil der Hemisphären den vollen Gebrauch sämmtlicher
Functionen wiedererlangen könne.
Am auffallendsten unter allen angeführten Versuchen ist jedenfalls
der' a. a. 0. S. 101 unter II. beschriebene. Hier hatte Flourens einer
Taube offenbar die ganze erreichbare Rinde des Grosshirns beider
Seiten, also den gangliösen Theil abgetragen, den Theil, welchen man
noch immer als den wesentlichen, als den die ersten Werkzeuge der
Seele bergenden zu betrachten gewohnt war. Nichtsdestoweniger be-
gann diese Taube schon vom 3. Tage an ihre seelischen Functionen
wieder auszuüben, und am 6. Tage hatte sie Alles wiedererlangt, was
ihr durch die Operation gänzlich genommen schien. — Gleichwohl hat
man diese Versuche oder ihre Anwendbarkeit auf höhere Thiere noch
wenig oder nicht angegriffen, und noch Schiff**) referirt darüber in
demselben Sinne; wenn auch dieser Forscher wohl auf zu Tage liegende
Verschiedenheiten in Bau und Function zwischen Thier- und Menschen-
hirn aufmerksam macht.
Es hatte sich also nach diesen und späteren, nur ausbauenden
*) A. a. 0. S. 99 u. 101.
**) A. a. 0. S. 336.
— 13 —
Forschungen etwa folgende Ansicht über die centralen Stätten der
Muskelbewegung gebildet:
In den meisten Theilen des Hirnstammes, dann auch hinab bis
in das Rückenmark giebt es eine Anzahl von vorgebildeten Mechanis-
men, die einer normalen Erregung in ihrem Ganzen auf zwei Bahnen
fähig sind. Die Eine verläuft von der Peripherie aus — die Bahn des
Reflexes; die Andere strahlt vom Centrum her ein — die Bahn des
"Willens, der seelischen Impulse. Dieses Centrum liegt vermuth-
lich in der gangliösen Substanz der Grosshirnhemisphären,
ohne dass jedoch die einzelnen Theile des psychischen auf
die einzelnen Theile des organischen Centrums localisirt
wären. Aber seine Erforschung, die Erforschung des wahr-
scheinlichen Sitzes, oder doch der nächsten Werkzeuge der
Seele bleibt uns zunächst verschlossen, da das Substrat auf
die uns geläufigen Reize mit keiner in die Erscheinung tre-
tenden Reaction antwortet*). — Was gegen diese Anschauungen
von Seiten der klinischen Beobachtung etwa eingewendet werden konnte,
wurde mit dem vielfach nicht ungerechten Hinweis auf die Mangel-
haftigkeit und Vieldeutigkeit der Sectionen und auf die Einfachheit und
Durchsichtigkeit jener Vivisectionen bald abgefertigt. Man führte end-
lich Fälle von angeborenem oder erworbenem Defect einzelner Hirn-
partieen ohne entsprechende Störung cerebraler Functionen zum Beweise
an, wie unwesentlich doch das Hirn zum Leben sei.
Diese Anschauungen wurden selbst durch eine Reihe wohl con-
statirter, andere Verhältnisse voraussetzender Thatsachen nur in be-
schränkten Kreisen allmählig modificirt. Seit lange (1825) war durch
Bouillaud bekannt, dass der jetzt Aphasie benannte Symptomen-
complex durch Zerstörung einer kleinen excentrischen Grosshirnpartie
bedingt werden kann. In neuerer Zeit haben zahlreiche Autoren zur
näheren Definirung dieses Satzes beigetragen. — Es existirt ferner eine
nicht geringe Zahl von Fällen in der Literatur, die im Leben Lähmung
eines Armes, auch wohl eines Beines, bei der Section kleine Des-
organisationen des Grosshirns zeigten. Leider ist aus den durch An-
dral**) von seiner bekannten Zusammenstellung gezogeneu Summen nicht
zu ersehen, wie viel derartige Fälle auf das Grosshiru selbst und wie
*) Vgl. hierzu die neuesten Lehrbücher der Physiologie, z. B. Ranke,
Grundzüge u. s. w. S. 750 ff. — L. Hermann, Grundriss u. s. w. 3. (übri-
gens auch 4.) Aufl. 1870. S. 426 u. 436 f. u. s. w.
**) Andral, Clinique medicale. Paris 1834. T. V, p. 357 et suiv.
— 14 —
viele auf seine grossen Ganglien kommen. Indessen muss man sich
vollkomraen dem anschliessen, was er am Ende dieser Betrachtung sagt:
„De ces faits comment ne pas conclure, que dans l'etat actuel de
„la science on ne peut encore assigner dans le cerveau un siege distinct
„aux mouvements des membres superieur et inferieur? Sans doute ce
„siege distinct existe, puisque chacun de ces membres peut se paralyser
„isolement, mais nous ne !e connaissons point encore."
Dem wäre nur noch hinzuzufügen, dass man von den das Corp.
striat. und den Thalam. optic. betreibenden Fällen abzusehen hat, sobald
man diese Statistik zur Bestimmung des ersten Entstehungsortes der
ausgefallenen Bewegung verwenden will, da in diesen beiden grossen
Ganglien bereits Leitungsbahnen von den Hemisphären zur Peripherie
gelagert sind. — Solche Tlia1;sachen wiesen allerdings darauf hin, dass
der Ursprung wenigstens einzelner seelischer Functionen an umschriebene
Hirntheile geknüpft ist. Zu dem gleichen Schluss kam auch Goltz
dadurch, dass er bei Fröschen, denen er das Grosshirn exstirpirt hatte,
noch einen an die Lobi optici gebundenen Rest von Intelligenz nachwies.
Ebenso nahmen auch einzelne Anatomen, unter denen besonders
Meynert genannt zu werden verdient, auf Grund morphologischer Unter-
suchungen einen von der herrschenden Meinung durchaus abweichenden,
aber ganz entschiedenen Standpunkt ein. Nach Meynert zerfällt aller-
dings die als Heerd der Vorstellungen zu betrachtende Grosshirnrinde
in viele mehr weniger umschriebene Gebiete, deren Bedeutung für die
einzelnen Arten der Vorstellungen durch die in ihre Ganglienzellen
einmündenden Nervenfasern seines sogenannten Projectionssystems be-
dingt wird.
Inzwischen werden durch die Resultate unserer eigenen Unter-
suchungen die Prämissen für viele auf die Grundeigenschaften des
Grosshirns zu ziehende Schlüsse nicht wenig verändert.
Den Ausgangspunkt für diese Untersuchungen bildeten Beobach-
tungen, welche ich am Menschen zu machen Gelegenheit hatte*), und
die die ersten durch directe Reizung der Centralorgane am Menschen
hervorgebrachten und beobachteten Bewegungen willkürlicher Muskeln
betreffen 2). Ich fand nämlich, dass man bei Durchleitung constan-
ter galvanischer Ströme durch den hinteren Theil des Kopfes mit
*) Vgl. meine Abhandlung: Ueber die beim Galvanisiren des Kopfes
entstehenden Störungen der Muskelinnervation und der Vorstellungen vom Ver-
halten im Räume,
— 15 —
Leichtigkeit Bewegungen der Augen erhält, die ihrer Natur nach
nur durch directe Reizung cerebraler Centren ausgelöst sein können.
Insoweit nun diese Bewegungen nur bei Galvanisirung jener Kopfgegend
auftreten, konnte man sie als bedingt durch Reizung der Vierhügel,
worauf Manches hinwies, oder benachbarter Tlieile betrachten. Da in-
dessen bei Anwendung gewisser, die Erregbarkeit erhöhender Kunst-
griffe sich solche Augenbewegungen auch bei Galvanisirung durch die
Schläfengegeud zeigten, entstand die Frage, ob bei der letzteren Me-
thode bis zur Basis vordringende Stromschleifen die Veranlassung der
Augenbewegungen seien, oder ob das Grosshirn im Widerspruch
mit der allgemeinen Ansicht doch elektrische Erregbarkeit
besässe.
Nachdem mir ein vorläufiger Versuch ein rücksichtlich des Kanin-
chens generell positives Resultat ergeben hatte, schlug ich in Gemein-
schaft mit Herrn Fritsch, zur definitiven Lösung der letzteren Frage,
den folgenden Weg ein.
Den bei den ersten Versuchen nicht narkotisirten, später aber nar-
kotisirten Thieren, Hunden, wurde durch eine Trepankrone der Schädel
an einer möglichst planen Stelle eröffnet. Dann wurde mit einer schnei-
denden, vorn gerundeten Knochenzange entweder die eine ganze Hälfte
des Schädeldachs oder nur dessen den Vorderlappen bedeckender Theil
entfernt. In den meisten Fällen wurde nach Benutzung der einen Hemi-
sphäre mit der anderen Hälfte des Schädeldachs in genau derselben
Weise verfahren. In allen diesen Fällen Hessen wir jedoch, nachdem
uns einmal ein Hund aus einer leichten Verletzung des Sin. longitud.
verblutet war, eine diesen Blutleiter schützende mediane Knochenbrücke
vollkommen intact. Nun wurde die bis dahin unversehrte Dura leicht
incidirt, mit der Piucette erfasst und bis zu den Knochenrändern voll-
ständig abgetragen. Hierbei schon äussern die Hunde durch Schreien
und charakteristische Reflexbewegungen lebhaften Schmerz. Später aber,
wenn der Luftreiz erst längere Zeit eingewirkt hat, werden die Reste
der harten Hirnhaut noch bei Weitem empfindlicher, ein Umstand, der
bei Anordnung der Reizversuche auf das Sorgfältigste in Betracht ge-
zogen werden musste. Die Pia konnten wir jedoch durch mechanische
oder irgend welche andere Reize in jedem Grade beleidigen, ohne dass
das Thier ein Zeichen von Empfindung von sich gab.
Die elektrischen Reizvorrichtungen waren in folgender Weise an-
geordnet: die Pole einer Kette von 10 Daniell gingen über einen Commu-
tator nach zwei Klemmschrauben einer Pohl'schen Wippe, aus der das
Kreuz entfernt war. An den beiden gegenüberliegenden Klemmschrauben
mündeten die den Strom einer secundären luductionsspirale zuführenden
— 16 —
Leitungsdrähte. Von dem mittleren Klemmschraubenpaar führten zwei
Drähte zu einem als Nebenschliessung eingeschalteten Rheostaten von
0 — 2100 S. E. Widerstand. Die Hauptschliessung setzte sich über einen
du Bois'schen Schlüssel zu zwei kleinen, isolirten, walzenförmigen
Klemmschrauben fort, die andererseits die Elektroden in Gestalt von
sehr feinen, vorn mit einem ganz kleinen Knöpfchen versehenen Platin-
drähten trugen. Diese Platindrähte liefen durch zwei Korkstückchen,
vermittelst deren man die Entfernung der Knöpfchen von einander
schnell ändern konnte. In der Regel betrug diese Entfernung etwa
2 — 3 Mm. Es war nothw endig, den Platindrähten einen imr geringen
mechanischen Widerstand und die Knöpfchen zu geben, da sonst jede
Unsicherheit der Hand, ja selbst die Respirationsbewegungen des Ge-
hirnes sofort zu Verletzung-en der weichen Masse des Centralorganes
geführt hätten.
Die benutzte Kette bestand aus Siemens- Halske'schen Papp-
elementen, die nach einer früher angestellten Untersuchung nicht die
volle elektromotorische Kraft eines Daniell und je einen Widerstand von
etwa 5 S. E. hatten. In der Regel war der Widerstand der Neben-
schliessung nur niedrig, nämlich auf 30—40 S. E. bemessen. Die Strom-
stärke war dabei so gering, dass metallische Schliessung nur eben eine
Gefühlssensation auf der mit den Knöpfeben berührten Zunge hervor-
rief. Beträchtlich höhere Stromstärken, sowie die Ausschaltung der
Nebenschliessung wurden nur zu Controlversuchen benutzt. — Bei den
übrigens viel seltener vorgenommenen Reizversuchen mit dem Induc-
tionsstrome hing der Widerstand der Nebenschliessung natürlich von
der jedesmaligen Spiralenstelluüg ab. Wir benutzten zu den meisten
Versuchen ebenfalls einen Strom, der gerade eine Gefühlssensation auf
der Zunge hervorbrachte.
Unter Anwendung dieser Methode gelangten wir zu folgenden Re-
sultaten, die wir als Ergebniss einer sehr grossen Zahl für das Gehirn
des Huades grösstentheils bis in die kleinsten Einzelheiten überein-
stimmender Versuche vortragen, ohne alle Versuchsprotocolle selbst
abzudrucken. Bei der gegebenen genauen Beschreibung der Methode
und bei Berücksichtigung der noch im Folgenden zu erwähnenden Mo-
mente ist die Wiederholung unserer Versuche ohnedies so leicht, dass
Bestätigungen nicht lange werden auf sich warten lassen.
Ein Theil der Couvexität des grossen Gehirnes des Hundes
ist motorisch (diesen Ausdruck im Sinne von Schiff gebraucht), ein
anderer Theil ist nicht motorisch.
Der motorische Theil liegt, allgemein ausgedrückt, mehr
nach vorn, der nicht motorische liegt nach hinten. — Durch
— 17 —
elektrische Reizung des motorischen Tlieiles erhält man
combinirte Muskelcontractioncn der gegenüberliegenden
Körperhälfte.
Diese Muskelcontractioncn lassen sich bei Anwendung
ganz schwacher Ströme auf bestimmte, engbegrenzte Muskel-
gruppen localisiren. Auf stärkere Ströme betheiligen sich
bei Reizung der gleichen oder sehr benachbarter Stellen
sofort andere Muskeln und zwar auch Muskeln der corre-
spondirenden Körperhälfte. Die Möglichkeit isolirter Er-
regung einer begrenzten Muskelgruppe ist indessen bei An-
wendung ganz schwacher Ströme auf sehr kleine Stellen, die
wir der Kürze wegen Centra nennen wollen, beschränkt. Ganz ge-
ringe Verschiebung der Elektroden setzt zwar in der Regel noch die
gleiche Extremität in Bewegung; wenn indessen zuerst z. B. Streckung
erfolgte, so ergiebt die Verschiebung Beugung oder Rotation. Die
zwischen den von uns so bezeichneten Centren liegenden Theile der
Hirnoberfläche fanden wir zwar bei der beschriebenen Reizmethode und
bei Verwendung der minimalen Stromstärke unerregbar. Wenn wir
indessen entweder die Entfernung der beiden Elektroden von einander
oder die Stromstärke vergrösserten, so Messen sich dennoch Zuckungen
hervorbringen; aber diese Muskelcontractioncn crgrifl^en den ganzen
Körper derart, dass sich nicht einmal wohl unterscheiden Hess, ob sie
einseitig oder doppelseitig waren.
Beim Hunde ist die Ocrtlichkcit der bald näher zu bezeichnenden
Centra sehr constant. Die genaue Constatirimg dieser Thatsache unter-
lag zuerst einigen Schwierigkeiten. Wir haben dieselben indessen da-
durch beseitigt, dass wir zuerst diejenige Stelle aufsuchten, die bei der
geringsten noch erregenden Stromstärke die stärkste Zuckung der be-
treffenden Gruppe ergab. Dann senkten wir eine Stecknadel zwischen
den beiden Elektroden in das Gehirn des noch lebenden Thieres ein
imd verglichen nach Herausnahme des Gehirns die einzelnen so mar-
kirten Punkte mit denen der Spirituspräparate früherer Versuche. Wie
constant die gleichen Centra gelagert sind, ergiebt sich am besten aus
der Thatsache, dass es uns zu wiederholten Malen gelungen ist, das
gewollte Centrum ohne anderweite Eröffnung des Schädels im Mittel-
punkt einer einzelnen aufgesetzten Trepankrone zu finden. Nach Ab-
tragung der Dura zuckten die von dort abhängigen Muskeln mit der-
selben Sicherheit, als wenn die ganze Hemisphäre freigelegt gewesen
wäre. Im Anfang freilich hatten wir auch bei ganz freiem Operations-
felde grössere Schwierigkeiten. Denn wenn auch wie bekannt, die
Hitzig, Gesammelte Abhandl. I. Tlieil. 2
— 18 —
einzelnen Hirnwindungen ganz constant sind 3), so zeigt doch ihre
Entwickelung in ihren einzelnen Theilen und ihre Lagerung zu einander
bedeutende Verschiedenheiten. Es findet sich sogar eher als Regel, wie
als Ausnahme, dass die correspondirenden Gyri der beiden Hemisphären
desselben Thieres in einzelnen Theilen verschieden gebildet sind. Ausser-
dem ist einmal die mittlere Partie der Convexität mehr entwickelt, ein
anderesmal sind es die nach vorn oder nach hinten gelagerten Theile*).
Rechnet man dazu die Nöthigung, dem Gehirn in nicht geringer
Ausdehnung seine Hüllen zu lassen, ferner die Verdunkelung des Bildes
durch die jedesmal andere, aber die Gyri manchmal sehr undeutlich
machende Gefässvertheilung, so wird man sich, wenn es nun leicht geht,
über die anfänglich von uns gefundenen Schwierigkeiten gerade nicht
wundern.
Um die Wiederholung unserer Versuche ferner zu erleichtern, geben
wir nachstehende genauere Daten über die Oertlichkeit der einzelnen
motorischen Centra, wobei wir uns der Nomenclatur von Owen**) an-
schliessen.
Das Centrum für die Nackenmuskeln (s. /\ Fig. 1) liegt im late-
ralen Theile des praefrontalen Gyrus, dort wo die Oberfläche dieser
Windung den steilen Abfall nach unten nimmt. Das äusserste Ende
des postfrontalen Gyrus birgt in der Gegend des lateralen Endes der
frontalen Fissur (s. -f* Fig. 1) das Centrum für die Extensoren und
Adductoren des Vorderbeines. Etwas nach rückwäi'ts davon und mehr
der Coronalfissur genähert (s. -|- Fig. 1) liegen die der Beugung und
Rotation des Gliedes vorstehenden Centralgebiete. Die Stelle für das
Hinterbein (s. :^ B'ig. 1) befindet sich ebenfalls im postfrontalen Gyrus,
aber medianwärts von der für das Vorderbein und etwas mehr nach
hinten. Der Facialis (s. 0 Fig. 1) wird von dem mittleren Theile der
II. ürwindung innervirt. Die betreffende Stelle übertrifft häufig an
Ausdehnung 0,5 cm und erstreckt sich von der Hauptknickung oberhalb
der sylvischen Furche aus nach vor- und abwärts.
Wir müssen hinzufügen, dass es nicht in allen Fällen gelang, von
der erstgenannten Stelle aus die Nackenmuskeln in Bewegung zu setzen.
Die Rücken-, Schwanz- und Bauchmuskeln haben wir zwar oft genug
von den zwischen den bezeichneten Punkten liegenden Partieen ans zur
Contraction gebracht, indessen Hess sich eine circumscripte Stelle, von
der aus sie isolirt zu reizen waren, nicht mit Bestimmtheit feststellen.
*) Vgl, hierzu auch Reichert, Der Bau des menschlichen Gehirns.
Leipzig 1861. AbtM. IL S. 77.
**) Owen, On the anatomy of vertebrates. Vol. 111. London 1868. p. 118.
— 19 —
Die ganze nacli rückwärts von dem Faci;i,lis-C(!nirum liegende Partie
der Convexität*) fanden wir aucli gegen ganz unverliältnissmässige Strom-
Figur 1.
Intensitäten absolut unerregbar. Selbst bei Ausschaltung der Neben-
schliessung, also bei Einwirkung eines Stromes von 10 Daniell erfolgte
keine Muskelzuckuug.
Der Charakter der durch Reizung dieser motorischen Ceutren
hervorgebrachten Zuckungen ist je nach Art der Reizung ein verschie-
dener. Die Reizung durch einfache metallische Schliessung des
K.ettenstromes giebt nur eine einfache, ziemlich schnell vorübei'-
gehende Zuckung. Wenn man, anstatt' die Kette in ihrem metallischen
Theile zu schliessen, dies durch Aufsetzen der Elektroden thut, so be-
darf man zur Erzielung des gleichen Effectes grösserer Stromstärken.
Also auch hier gilt das Gesetz von du Bois-Reymond. Die metal-
lische Wendung ergiebt stets einen ceteris paribus grösseren Reizeffect
als die blosse Schliessung, ohne dass jedoch dabei zwei Zuckungen (die
zweite für die Oeffnung) einträten. Nicht selten zeigte sich aber bei
dieser Art der Reizung auch Tetanus der betreffenden Muskelgruppe,
*) Wir vermeiden absichtlich die Bezeichnung nach Lappen, da beim
Hunde weder eine deutliche Lappenbildung existirt, noch auch das, was man
etwa dafür ansehen kann, den menschlichen Hirnlappen der Lagerung nach
entspricht, endlich auch, weil man bisher so gut wie gar nicht weiss, welche
Theile beim Hunde als bestimmten Theilen des Menschen adaequat zu be-
trachten sind.
2*
— 20 —
namentlich wenn es sich um die Zehenbeuger handelte, obwohl weitere
Reizmomente nicht Platz griffen. — Hatte zuerst die eine Elektrode,
sei es auch nur- kurze Zeit, eingewirkt, so brachte gleich darauf die
andere an derselben Stelle einen grösseren Reizeffect hervor, als sie
vorher und bald darauf vermochte.
Während nun dies ganz übereinstimmt mit dem, was man von den
Eigenschaften peripherischer Nerven weiss, können wir aus einem gleich
zu nennenden Grunde nicht unterlassen, auf ein hiervon abweichendes,
übrigens physiologisch höchst interessantes Reizmoment kurz aufmerksam
zu machen. Es handelt sich um ein durchaus constantes Vorwiegen
der Anode. Ja es scheint so als ob innerhalb der minimalen
Stromstärken nur die Anode Zuckungen auslöst. Wir haben zur
Feststellung dieses Punktes, zunächst weil seine Kenntniss zur Erleich-
terung der Untersuchung sehr nothwendig ist, folgende Versuche ge-
macht und oft wiederholt.
1) Bei der gewöhnlichen Entfernung der Elektroden von einander
wurde diejenige Stelle aufgesucht, von der aus man mit der minimalen
Stromstärke Zuckungen auslöste, und um ganz sicher zu gehen, wurde
erst mehrmals metallisch geschlossen. Alsdann wurde bei offener Kette
der Strom gewendet, ohne dass die Elektroden ihren Platz veränderten
und von Neuem geschlossen. Nun blieb die Zuckung aus. Wurde nun
wieder geöffnet, gewendet, geschlossen, so war der Reizeffect etwas
grösser als bei den ersten Schliessungen. Dies Hess sich beliebig oft
wiederholen. Wenn nun die eine oder die andere der Elektroden unter
wiederholten Kettenschliessungen ihren Platz verliess, so konnte dies
die Kathode sein, ohne dem Reizeffect Abbruch zu thun. Die Anode
dürfte sich aber nicht weit von dem Reizpunkt entfernen, ohne dass
entweder Ruhe oder Zuckungen in anderen Muskelgruppen auftraten.
2) Die Anode ruhte auf dem Streckcentrum, die Kathode auf dem
Beugecentrum für die vordere Extremität. Schliessung gab Streckung,
Wendung — (bei geschlossener Kette) Beugung, Wendung — Streckung,
Wendung — Beugung und so fort. Es wurde also jedesmal das der
Anode entsprechende Centrum erregt.
Wir ziehen vor, uns der Betrachtungen über den Zusammenhang
der zuletzt angeführten Erscheinungen für jetzt zu enthalten. Die neuen
Thatsachen, welche sich uns bei dieser Untersuchung zeigten, sind so
mannigfaltig, und ihre Consequenzen erstrecken sich nach so vielen
Richtungen hin, dass es für die Sache wohl von geringem Vortheil
wäre, alle diese einer genauen Durchforschung bedürfenden Pfade auf
einmal wandeln zu wollen^).
Hier müssen wir indessen noch anfügen, dass bei etwas längerer
— 21 —
Kettenschliessimg die stärker erregende Wirkung des Wechsels der
p]lektrodeii sich auch in folgender Art äussert. Hatten wir eine Zuckung
hervorgebracht, dadurch dass die Anode sich auf einem Centrum, die
Kathode auf einer, bei der benutzten Stromstärke indifferenten Stelle
befand, und Hessen wir die Kette etwas länger geschlossen, so löste
manchmal nach vorgängiger Oeffnung die Schliessung des gewendeten
Stromes eine einzehie, sehr selten eine einmal wiederholte Zuckung aus.
Dass heisst nach etwas längerer Einwirkung der Anode reagirt die cen-
trale Nervensubstanz eine kurze Zeit lang selbst bei minimalen Strömen
auch auf die Kathode. Man muss für diesen Versuch aus mehreren
Gründen nur ganz schwache Ströme verwenden, namentlich auch weil
stärkere Ströme durch Elektrolyse die Substanz sofort zerstören. —
Bei der Reizung mit tetanisirenden Inductionsströmen*)
sind die Reizeff'ecte ihrer Art nach nicht ganz so constant. Häufig
treten tonische. Contractionen der betreffenden Muskelmassen ein, die
erst nach längerer Zeit in ihrer Intensität nachlassen. Häufig ist ein
anfängliches Contractionsmaximum vorhanden, dem schon nach secunden-
langer Dauer des Stromes ein so beträchtlicher Nachlass folgt, dass
man die Contraction für ganz erloschen halten könnte, wenn nicht im
Momente der Oeffnung noch eine geringe Bewegung im Sinne der nach-
lassenden Contraction erfolgte. Zu diesen Verschiedenheiten, sowie zu
einigen gleich zu erwähnenden Erscheinungen scheint die Individualität
des Versuchsthieres — seine grössere oder geringere Reizbarkeit in ur-
sächlichem Verhältniss zu stehen.
Bei anhaltender Verwendung stärkerer Ströme nämlich treten wohl
Symptome der Erschöpfung auf, — die Erforderniss stärkerer Ströme
zur Erzielung desselben Effectes, auch wohl gänzliches Ausbleiben der
Zuckungen. Sehr oft kommt es dabei zu blutigen Suffusionen der Rindeu-
substanz. Häufiger jedoch beobachtet man namentlich auch nach
schwachen Strömen eine Reihe von Erscheinungen, denen der entgegen-
gesetzte Sinn miterlegt werden muss.
Eduard Weber**) hatte bereits angegeben, dass nach Oeffnung
eines das Froschrückenmark tetanisirenden Stromes Nachbeweguugen in
*) Der folgende Passus, den ich übrigens ganz unverändert abdrucke,
hat mehrfach zu Missverstäudnissen Veranlassung gegeben. Ich bemerke des-
halb schon hier, dass die in demselben enthaltene Schilderung sich selbst-
verständlich nur auf die von uns für beweisende Versuche benutzte Methode,
Reizung mit der Stomstärke des Zuckungsminimums bezieht.
**) Eduard Weber, K. Wagner's Handwörterbuch der Physiologie.
Bd. III. Abthl. II. S. 15.
— 22 —
allen Körpermuskeln eintreten. Diese Thatsaclie scheint ganz in Ver-
gessenheit gerathen zu sein. Wenigstens sollten wir meinen, hätte sie
sonst von den Vertheidigern der Erregbarkeit des Rückenmarks wohl
als ein Argument benutzt werden können.
Etwas ganz Aehnliches findet sich nun nach Tetanisiren der Hirn-
substanz. Schon nach einer Reizung von wenig Secunden Dauer treten
Nachbewegungen in der abhängigen Musculatur ein, die im Gebiet des
Facialis einen deutlich zitternden Charakter tragen. Die Extremitäten
zeigen mehr das Bild klonischer Krampfbewegungen — Unterschiede,
die jedenfalls, von der verschiedenen Art der Muskelanheftung ab-
hängig sind. Diese localen Krampfanfälle können sich, auch wenn man
dem Gehirn Ruhe lässt, mehrfach wiederholen. In einzelnen Fällen
traten sie auch nach Misshandlung der Hirnsubstauz mit Schliessungen
des Kettenstromes auf. In der Regel wurden sie aber nach Reizung
mit diesen Strömen nicht beobachtet. Bei zweien unserer Ver-
suchsthiere bildeten sich aus diesen Nachbewegungen wohl-
charakterisirte epileptische Anfälle heraus. Der Anfall be-
gann halbseitig mit Zuckungen in der vorher gereizten Musculatur,
breitete sich aber dann auf alle Körpermuskeln aus, so dass es zu einem
vollständigen Strecktetanus kam. Die Pupillen waren dabei ad maxi-
mum erweitert. Eins von den Thieren hatte zwei, das andere drei
solcher Anfälle. Man könnte einwenden, dass die Hunde schon früher
epileptisch gewesen seien. Der eine Hund hatte sich aber bereits
6 Jahre lang bei derselben Herrin befunden, ohne je an Krämpfen ge-
litten zu haben. Die Antecedentien des anderen blieben unbekannt. —
Wir gehen nun zur Widerlegung der Einwände über, die man gegen
unsere Versuche erheben könnte.
Der erste Einwand, der bei elektrischen Reizversuchen immer von
Sachverständigen*) und Nicht-Sachverständigen vorgebracht wird, stützt
sich auf die Stromschleifen, welche zu entfernteren Theilen gelangeii
können. Dieser Einwand ist, wenn wir von der Frage absehen, ob
Rinden- oder Marksubstanz des Grosshirns erregbar sei leichter als
irgend ein anderer zu beseitigen. Einmal waren die von uns zu den
beweisenden Experimenten verwandten Ströme überhaupt nur schwach.
Da aber die Substanz des Gehirns einen sehr grossen Widerstand be-
*') Üebrigens dürfte es für den einen oder den anderen Leser nicht über-
llüssig sein, zu bemerken, dass unter den vielen Aerzten, denen wir unsere
Versuche demonstrirt haben, sich auch mehrere gerade in dieser Beziehung
sehr competente Fachgelehrte befanden. z.B. die Herren Prof.Nasse (Marburg)
und Munk (Berlin).
— 23 —
sitzt, da ferner andere, leitende Thcile nicht in der Nähe lagen, da endlicli
die Entfernung der Elektroden von einander nur gering war, so konnte
nach den Gesetzen der Stromvertheilung in uiclit prismatischen Leitern
die Strom dichte schon in sehr geringer Entfernung von den Einströ-
mungsstelleu nur eine minimale sein. Dies würde schon a priori den
fraglichen Einwand widerlegen. Indessen haben wir noch eine grosse
Reihe directer Beweise für uns. Sollten die Stromschleifen erstens zu
den peripherischen Nerven gelangen, so lagen ihnen immer die Nerven
der gleichnamigen Seite näher, und sie hatten nicht den entferntesten
Grund sich ausschliesslich zu der anderen Seite zu begeben. Ferner
lagen ihnen noch sehr viel näher als irgend welche andere in Frage
kommenden Nerven, die motorischen Augennerven derselben Seite. Der
so bewegliche, so im labilen Gleichgewicht balancirte Bulbus bildet
ohne Präparation zu erfordern das vorzüglichste physiologische Rheo-
skop, er würde sich auch bei minimalen Stromschleifen viel eher be-
wegen, als eine Vorderextremität, von den Hinterextremitäten gar nicht
zu reden. Es giebt aber an der ganzen Convexität, so weit man sie
freilegen kann, nicht eine einzige Stelle, von der aus man selbst mit
stärkeren, als den von uns gewöhnlich benutzten Strömen, irgend eine
Bulbusbewegung erzielen kann. Hiermit wäre auch ein Theil der-
jenigen Frage, welche mich zur Aufnahme dieser Untersuchungen ver-
anlasste, erledigt*).
Endlich führen wir noch eine Thatsache von hohem physiologischen
und pathologischen Interesse an. Es ist die, dass mit der Verblu-
tung die Erregbarkeit des Gehirns ungemein schnell sinkt,
um schon vor dem Tode fast ganz zu erlöschen. Un-
mittelbar nach dem Tode ist sie auch gegen die stärksten
Ströme sofort ganz verloren, während Muskeln und Nerven
vortrefflich reagiren. Dies scheint uns zu erfordern, dass Versuche
über die Erregbarkeit der Centralorgane bei ungestörter Circulation
vorgenommen werden. —
Man könnte zweitens meinen, wenn auch nicht peripherische Nerven
oder das Rückenmark, von dem genau dasselbe zu sagen wäre, wie von
jenen, so würden doch andere. Hirnprovinzen als die grossen Hemi-
sphären von Stromschleifen getroffen. Wenn sich dies so verhielte, so
würde auch der Nachweis der elektrischen Erregbarkeit anderer Hirn-
provinzen ein wichtiger Fund sein. Denn auch von den Meisten unter
ihnen wird ja gegenwärtig allgemein behauptet, dass sie der directen
*) Rücksichtlich des Centrums für die graden Augenmuskeln verweise
ich auf die folgende Abhandlung.
— 24 —
Erregung unzugängig seien. Indessen verhält es sich, wie selbst für
die elektrische Reizung bewiesen werden kann, eben nicht so. Die-
jenigen Theile, denen überhaupt, wenn auch von wenigen Forschern,
directe Erregbarkeit vindicirt worden war, sind hinterer Theil (Cauda)
des Nucleus caudatus, Thalam. optic, Hirnschenkel, Vierhügel, Brücke.
Sehen wir einmal vom Nucleus caudatus ab, so liegen die sämmtlichen
übrigen eben angeführten morphologischen Bestandtheile des Gehirns so
weit nach hinten, dass sie alle bei Frontalschnitten erst getroffen wer-
den, wenn man nach rückwärts bei den nicht mehr reagirenden Theil en
des Grosshirns anlangt. Einzig ausgenommen ist der Nucleus caudatus,
dessen Cauda gleichwohl auch schon im Bereich der unerregbaren *)
Zone liegt. Es wäre also möglich, dass gerade der vordere oder mitt-
lere Theil dieses Ganglions,, der Theil, welcher unerregbar sein sollte,
erregbar und die Ursprungsstätte unserer Reizeffecte wäre. Von vorn-
herein war Letzteres schon darum unwahrscheinlich, weil bei gleicher
Stromstärke die Zuckungen schon aufhörten, sobald die Elektroden um
wenige Millimeter ihren Ort veränderten.
Nicht zufrieden mit diesen, wenn auch schlagenden aprioristischen
Beweisen, betraten wir auch den Weg des directen Beweises. Zu diesem
Zwecke gaben wir Karlsbader Insectennadehi eine dichte isolirende Hülle
dadurch, dass wir sie wiederholt in eine Lösung von Gutta percha in
Chloroform tauchten. Nur die Spitze und der Kopf wurde leitend er-
halten. Senkten wir diese Nadeln nun in den nach rückwärts ge-
legenen Theil des Grosshirns ein, so erhielten wir selbst bei unendlich
viel stärkeren Strömen keine Spur einer Zuckung, bis die dann meh-
rere Centimeter tief eingedrungenen Rheophoren die Hirnschenkel be-
rührten. Dann aber bekam das Thier unter einem heftigen Sprunge
allgemeine Muskelerschütterungen. Anders wenn in gleicher Weise die
vordere Hälfte des Hirns erregt wurde. Hätte man anzunehmen, dass
bis zum Nucleus caudatus gelangende Stromschleifen die bei oberfläch-
licher Reizung auftretenden Zuckungen auslösten, so müssten die letz-
teren beim Eindringen der Elektroden sich einfach allmählich ver-
stärken. Dies war indessen nicht der Fall, sondern die Zuckungen ver-
breiteten sich vielmehr auf andere Muskeln und zeigten überhaupt ein
anderes Verhalten, welches noch einer besonderen Untersuchung bedarf s).
Folglich lässt sich mit Bestimmtheit annehmen, dass weder das ge-
nannte Ganglion noch die den Hirnstock zusammensetzenden Gebilde
an den von der Convexität aus erregten Zuckungen einen Antheil hatten.
*) Unerregbar nennen wir hier ohne Präjudiz alle diejenigen Gebiete,
von denen aus keine Zuckungen hervorzubringen sind.
-^ 25 —
Ein anderer Einwand, der erliotxii werden kcinntc^ und (!(!(• gegen
alle früheren erfolgreichen Reizversuche an den Centralorganen (Rücken-
mark, Hirnstock) erhoben worden ist, würde; sich auf rcflectorisches Zu-
standekommen der Contractionen stützen. Auch dieser Einwand lässt
sich durch schlagende Beweise entkräften.
Reflexe könnten ausgelöst werden durch die Nerven der Dura und
die der Pia mater, denn vor Erregungen benachbarter Nerven der
Schädelbedeckungen waren wir durch ausgiebige Freilegung der Hirn-
oberfläche geschützt. Ausserdem lagen an dem einen Wundrande die
theilweise abgelösten temporalen Muskelmassen. Diese ihre Erregbar-
keit wohl bewahrenden Gebilde hätten uns schon schwache Strom-
schleifen sofort verrathen müssen. Sensible Fasejn im Grosshirn selbst
sind aber noch nicht nachgewiesen oder überhaupt angenommen
worden*). Auch giebt die gänzliche ünempfindlichkeit seiner Substanz
nicht den geringsten Anhaltspunkt für eine solche Annahme.
Was nun die Dura angeht, so haben wir schon oben (in Ueberein-
stiramung mit Longet u. A.) angeführt, dass ihr eine gewisse Empfind-
lichkeit schon im physiologischen Zustande innewohnt, dass dieselbe
sich aber nach Eröffnung der Schädelkapsel sehr schnell steigert. Es
empfiehlt sich deshalb auch, hurtig zu operiren, weil anderenfalls das
Versuchsthier, selbst wenn es festgebunden ist, durch die gewaltigsten
Sprünge die Schonung der Hirnsubstanz bei Abtragung dieser Membran
sehr erschwert. Hat man sie aber einmal bis zu den Knochenrändern
abgetragen, so ist man vor Reflexen von ihren Nerven aus hinreichend
geschützt. Wir versicherten uns dessen auf verschiedene Weise. Erstens
lösten wir bei unseren Reizversuchen ja gekreuzte Zuckungen aus,
während Reflexe immer zuerst auf derselben Seite auftreten (Pflueger).
Zweitens hörten die Zuckungen bei geringer Orts Veränderung aber bei
gleicher Entfernung von den Resten der Dura auf. Drittens hörten sie
selbst dann auf, wenn wir der Dura näher rückten, vorausgesetzt, dass
wir nicht gerade motorische Centra trafen. Ja wir erhielten, immer
/ *) Der zweite Theil dieses Satzes ist nicht mehr richtig. Schiff glaubt
seither auf Grund unserer, von ihm bestätigter, sowie sehr mannichfach variirter
eigener Versuche das Vorhandensein von sensiblen Muskelnerven im Grosshirn
annehmen zu sollen. Er fasst danach unsere Reizeffecte als Reflexe auf,
welche durch Reizung jener sensiblen Muskelnerven ausgelöst würden. Ich
meinerseits habe die thatsächliche Uebereinstimmung zwischen einzelnen Ver-
suchen Schiffs und meinen eigenen Parallelversuchen noch nicht herbei-
führen können. Unter diesen Umständen halte ich es für besser die Discussion
über die Deutung auf die Zeit zu verschieben, zu der über ihre nothwendige
Basis kein Zweifel mehr bestehen kann.
— 26 —
unter der zuletzt genannten Voraussetzung, niclit einmal Zuckungen,
wenn die Elektroden dicht an der Dura aber noch auf der Hirnsubstanz
standen. Berührten wir jedoch viertens die Dura selbst, so traten in
vielen Fällen, auch wenn kein Strom sie durchfloss, auf den elektrischen
Reiz aber immer die heftigsten Reflexbewegungen in einer höchst
charakteristischen Form auf. Diese sahen aber ganz anders aus, wie
unsere anderweiten Reizeffecte. Zunächst trugen sie immer das Bild
der Zweckmässigkeit: Zurückwerfen des Kopfes, Contractionen der
Rückeurauskeln, Geschrei und Winseln selbst in der Morphium-Narkose,
selten Bewegungen der F]xtr emitäten. Ganz anders das Bild unserer
Reizversuche. Hier liegen häufig selbst nicht narkotisirte Thiere unbe-
weglich, gleichgültig da, während wir bald eine vordere, bald eine
hintere Extremität durch den elektrischen Reiz in Bewegung setzen.
Die Pia kann man freilich nicht in gleicher Weise zurückpräpa-
riren; im Gegentheil muss man mit ihr so schonend wie möglich um-
gehen. Denn die Verletzung eines einzigen ihrer zahllosen, strotzenden
Gefässe überströmt das Operationsfeld mit Blut und kann den ganzen
Versuch scheitern, das Thier nutzlos geopfert sein lassen. Indessen
hindert dies nicht den Beweis ihrer Unwesentlichkeit für das Zustande-
kommen unserer Reizeffecte. Abgesehen von allen den Gründen, die
wir schon gelegentlich der Besprechung der Dura anführten, ist Fol-
gendes mehr als genügend. Wir fanden die Pia (wie auch Longe t
u. A.) unempfindlich. Wir umschnitten sie über einem motorischen
Centrum mit Schonung der grösseren Gefässe, ohne dass der Reizeffect
sich änderte. Wir trugen sie an einer solchen Stelle ab ■ — die Zuckungen
blieben nie aus. Wir stachen isolirte Nadeln in die Hirnsubstanz ein,
auch dann noch zuckten die Muskeln , wenn es im Bereich der motori-
schen Sphäre geschah, sie zuckten unter keiner von allen diesen Be-
dingungen, wenn wir die hintere Grenze dieser Sphäre überschritten.
Es dürfte übrigens von Interesse sein, an dieser Stelle einzuschalten,
dass weder die Morphium- noch die Aether-Narkose einen wesent-
lichen Einfluss auf das Gelingen der Versuche hat.
Endlich wird man fragen, wie es denn kam, dass so viele frühere
Forscher, darunter die glänzendsten Namen, zu entgegengesetzten Re-
sultaten gelangten. Hierauf haben wir nur eine Antwort: „Die Methode
schafft die Resultate." Es ist unmöglich, dass unsere Vorgänger die
ganze Convexität freigelegt haben, denn sonst hätten sie Zuckungen er-
halten müssen. Die hintere seitliche Wand des Schädeldachs des
Hundes, unter der allerdings keine motorischen Theile liegen, empfiehlt
sich durch ihre Formation für das Aufsetzen der ersten Trepankrone.
Hier begann man wahrscheinlich die Operation und versäumte nach
— 27 —
vorn aufzubrechen, indem man von der irrigen Ansicht ausging, dass
die einzelnen Felder der Oberfläche gleichwerthig seien. Man fusste
auf der Eingangs entwickelten, noch heut weit verbreiteten Annahme von
der Allgegenwärtigkeit aller seelischen Functionen in allen Theilen der
Grosshirnrinde. Hätte man an eine Localisation der seelischen Func-
tionen auch nur gedacht, so würde man die scheinbare Unerregbarkeit
einzelner Theile des Substrats als etwas Selbstverständliches betrachtet
und keinen seiner Theile ununtersucht gelassen haben. Denn dass wir
mit unsereu Reizen Vorstellungen zu erwecken oder doch etwa erweckte
am vivisecirten Thiere zur Anschauung zu bringen vermöchten, hat wohl
keiner der bisherigen Forscher vorausgesetzt.
Dies führt uns zur Besprechung einer Frage, die wiewohl unberech-
tigter Weise an uns gerichtet werden könnte. Man könnte die Erklärung
der Beobachtungen von uns verlangen, die in hinreichender Zahl über
chirurgische Verletzungen des Gehirns ohne Störung irgend welcher
Functionen vorliegen*). Es wäre zunächst gar nicht unsere Sache,
diesen anscheinenden Widerspruch zu lösen. Denn ehe diese Verpflich-
tung uns obläge, müsste maiT uns nachweisen, dass gerade die Partieen,
von denen wir reden, verletzt oder verloren waren — ein etwas schwie-
riges Unternehmen. Von anderen Theilen der CouA-exität wissen aber
weder wir noch Andere etwas Genaueres; ausgenommen etwa das, was
man von der dritten Stirnwindung weiss, und das spricht gerade für
uns. Wie gesagt, der Widerspruch ist nur ein scheinbarer, die Theile
des Grosshirns sind nicht gleichwerthig.
Es scheint uns weiterhin sehr am Platze, an folgende diesen Punkt
vollkommen treffende Bemerkung Griesinger's**) zu erinnern.
„Gegen die meisten dieser Beobachtungen Hessen sich mancherlei
„Bedenken erheben. In fast allen- Fällen ist nur die Intelligenz im
„engeren Sinne beachtet, die Gemüthsbeschaffenheit und der Willeus-
*) Auch ich habe einen solchen Fall während meiner Thätigkeit als diri-
girender Arzt am allgemeinen Garnisonlazareth zu Berlin im Jahre 1866 beob-
achtet. Einem Soldaten (Angelmeier) war ein Granatsplitter genau in die
Glabella gedrungen und hatte dort ein dreieckiges Loch gemacht. Aus diesem
Loche entleerte sich während wenigstens 14 Tagen immerwährend Gehirnsub-
stanz. Schliesslich heilte die Wunde von selbst zu. Sehr geistreich war dieser
Kranke nicht, im Gegentheil schien er trägen Verstandes. Da man ihn in-
dessen vorher nicht gekannt hatte, so war nicht zu entscheiden, ob er nicht
von Natur geistig arm war. Grobe motorische oder sensible Störungen bot er
jedenfalls nicht dar.
**) Griesinger, Die Pathologie und Therapie der psychischen Krank-
heiten. 2. Aufl. Stuttgart 1861. S. 4.
— 28 —
„zustand ganz unbeaclitct geblieben . und auch an die Intelligenz wur-
„den gewöhnlich nur die geringsten Anforderungen gemacht, z. B. die
„Beantwortung einfacher, ärztlicher Fragen, um sie für unverletzt zu
„erklären. In keiner dieser Beobachtungen ist die Intelligenz in ihrem
„ganzen Un;fange geprüft worden, und in vielen derselben, nämlich in
„allen Hospitalbeobachtungen war eine Vergleichung des Geisteszustan-
„des nach der Erkrankung oder dem Substanz Verluste mit dem früheren
„schlechterdings unmöglich u. s. w."
Griesinger hat hier, wie es seine Materie erheischt, lediglich den
psychischen Zustand im Auge. Genau das, was er von der Erforschung
des Zustandes der Seele verlangt, können wir mit noch grösserem Recht
rücksichtlich somatischer Functionen fordern. Wo sind die Untersuchun-
gen über Muskeleigenschaften oder die Qualitäten der Empfindung, die
gerade hier mehr am Platze wären, als an manchen anderen Orten, an
denen sie einen sachlichen Zweck kaum erkennen lassen! Wie wohl
begründet diese unsere Forderung ist, das werden einige Versuche
lehren, von denen im Folgenden noch die Rede sein wird.
Blicken wir nun auf die bisherigen Resultate unserer Untersuchungen
zurück und fragen wir uns, was durch dieselben an Kenntniss der Eigen-
schaften des Centralorgans gewonnen ist, so liegt uns die Pflicht ob zu
unterscheiden zwischen dem, was mit Recht als sicher gefolgert werden
darf, und dem was nur wahrscheinlich gemacht worden ist.
Als einen sicheren Erwerb können wir die zweifellos be-
wiesene, in jedem Augenblick zu reproducirende Thatsache
bezeichnen, dass auch centrale Nervengebilde zunächst auf
einen unserer Reize mit einer in die Erscheinung tretenden
Reaction antworten. Dies allein hätte schon eine nicht geringe
principielle Bedeutung für die Physiologie insofern damit der Widerspruch
in der Definition beseitigt wird, auf den neuerdings Fick mit Recht
hingewiesen hat und an den der Anfang dieser Arbeit anknüpft.
Ebenso sichergestellt ist die Thatsache, dass ein beträcht-
licher Theil der die grossen Hemisphären zusammensetzen-
den Nervenmassen, man kann sagen fast ihre eine Hälfte,
in unmittelbarer Beziehung zur Muskelbewegung steht, wäh-
rend ein anderer Theil offenbar wenigstens direct nichts da-
mit zu schaffen hat. So einfach, so selbstverständlich dies nun
scheinen mag, so wenig war man bisher hierüber in's Klare gekommen.
Wir beziehen uns zu diesem Zwecke auf das gelegentlich des histori-
schen Ueberblickes Gesagte. Sprach man von solchen Centren im Ge-
hirn, so wurden noch in neuester Zeit nur basale Theile, Pons, Tha-
— 29 —
lami etc. angeführt*), und bei der Erklärung jener Hcctionsbefuiido hielt
man sich vorsichtig in möglichst allgemeinen Ausdrücken. Nur wenige
Gehirnanatomen, unter denen namentlich Meynert zu nennen, hatten
sich bisher, allerdings in anderer Weise als Gall, für eine strenge
Localisation der einzelnen psychischen Facultäten ausgesprochen.
Werfen wir jedoch die Frage auf, ob die von uns ausgelösten Reiz-
effecte durch directe Einwirkung auf diejenigen Centren der grauen
Rinde, in denen der motorische Willensimpuls entsteht, hervorgebracht
werden, oder ob man an Reizung der Markfaserung zu denken hat, oder
ob noch ein Drittes möglich ist, so muss unsere Antwort bei Weitem
reservirter gehalten werden.
Nehmen wir selbst an, der Beweis für Auslösung der fraglichen
Bewegungserscheinungen durch die gangliöse Substanz sei geliefert —
und er ist es nicht — so wäre damit noch nicht bewiesen, dass nun bei
denjenigen Bewegungserscheinungen, die durch inneres Geschehen frei
werden, gerade dieser Theil der Rinde das Substrat abgiebt für das
erste nach aussen gerichtete Glied in der Kette, welche beginnt
mit dem ersten Entstehen eines sinnlichen Eindruckes, und ihr vor-
läufiges Ende findet mit dem als Muskelbewegung erscheinenden Aus-
druck des Wollens.
Es ist vielmehr nicht undenkbar, und kann namentlich durch das,
was wir in anatomischer Beziehung über den anastomosirenden Bau
dieser Theile wissen, nicht ausgeschlossen werden, dass der Hirntheil,
welcher die Geburtsstätte des Wollens der Bewegung einschliesst,
noch ein anderer oder vielleicht ein vielfacher ist, dass die von uns
Centra genannten Gebiete nur Vermittler abgeben, Sammelplätze, auf
denen ähnliche aber zweckmässigere Anordnungen der Muskelbewe-
gungen geschehen, als in der grauen Substanz des Rückenmarks und
der Hirnbasis. In wie weit sogar eine gewisse physiologische Berech-
tigung, dieser Anschauung einen Platz zu lassen, von uns aufgedeckt
ist, werden wir bald sehen.
Nachdem wir in dieser Zurückhaltung den rein psychologischen
Möglichkeiten den weitesten Spielraum gegönnt haben, und wir
heben dies ausdrücklich hervor, wenden wir uns zu der Erörterung der
Frage nach dem Werthe der grauen und der weissen Substanz für das
Zustandekommen der von uns beschriebenen Reizeffecte. Wird die
Frage in dieser Form gestellt, so dürfte es zu einem Theil bereits
*) Vgl. z. B. Griesinger a, a. 0. S. 4 und viele andere Autoren, doch
auch derselbe S. 23.
— 30 —
jetzt möglich sein sie befriedigend zu beantworten. Wollte man aber
statt der allgemeineren Begriffe graue und weisse Substanz die Worte
Fasern und Zellen sich, einander gegenüberstellen, so Hesse sich auch
die Möglichkeit einer Lösung bisher nicht absehen. Denn da sich in
der grauen Substanz Fasern und Zellen untrennbar mischen, ist eine
isolirte Untersuchung der einzelnen morphologischen ßestandtheile un-
ausführbar. Selbst wenn also der directe Beweis der Erregbarkeit auch
für die graue Substanz geführt worden wäre, würde man immer noch
einwenden können, dass nicht die Ganglienzellen, sondern die zwischen
ihnen verlaufenden Nervenfasern dieser Substanz den eigentlich erregten
Theil abgäben. — Für den Augenblick steht die Frage so, dass wir
durch die oben angeführten Versuche über das Einstechen isolirter
Nadeln die Erregbarkeit der Marksubstanz hinlänglich bewiesen haben.
Da nun die wesentlichen nervösen ßestandtheile der Marksubstanz —
die Nervenfasen — sich mit den gleichen anatomischen Eigenschaften
in die Rindensubstanz fortsetzen, liegt kein Grund vor eine wesent-
liche Aenderung ihrer physiologischen Eigenschaften eher anzunehmen
als ihre anatomische Continuität durch neue Gebilde unterbrochen wird.
Aus diesem Grunde lässt sich die Erregbarkeit eines Theiles der Fasern,
auch der Rinde, mit Recht voraussetzen. Ob dieselben nun allein oder
ob auch die Zellen erregbar sind, das ist, wie gesagt, mit den bis-
herigen Mitteln nicht hinlänglich sicher zu entscheiden.
Gleichwohl lässt sich auf indirecteni Wege ein einigermaassen
wahrscheinlicher Schluss auf die Function, wenn auch nicht auf die
Erregbarkeit des zelligen Theiles der Rinde ziehen. Wir sahen bei
Beschreibung unserer Experimente, dass auf die minimale Stromstärke
Muskelcontractionen nur eintreten, wenn die Elektroden sich auf ganz
bestimmten Stellen befinden und dass sie aufhören oder in anderen
Muskeln erscheinen, wenn die Elektroden sich von den gedachten
Stellen auch nur um ein Geringes entfernen. Dies Verhalten lässt nur
zwei Möglichkeiten zu. Entweder der Reiz wird durch die in unmittel-
barer Nähe der Elektroden liegenden Ganglienzellen selbst aufgenommen
und durch sie in Muskelbewegung umgesetzt, oder gerade an diesen
Stellen treten reizbare Markfasern besonders nahe an die Oberfläche,
so dass sie für die Erregung besonders günstig gelagert sind. Da nun
kein anderer Grund zu erkeimen ist, wegen dessen die fraglichen
Markfasern sich gerade hier den Ganglienzellen am Meisten nähern
sollten, als um ihrem Schicksale, in jene einzutreten, entgegenzugehen,
so kann man allerdings annehmen, dass gerade jene Ganglienmassen
zur Production organischer Reize für gerade jene Nervenfasern be-
stimmt sind,
— 31 —
Ob nun eine gewisse gewöhnlich zusammenwirkende Summe dieser
organischen Reize genau dieselbe Bewegungsäusserung hervorbringt wie
unser elektrischer Reiz, das lässt sich durch die bisher angewendeten
Methoden ganz und gar nicht entscheiden. Denn die einfache Lehre
von den specifischen Energieen genügt hier nicht, wir müssen vielmehr
für die gefundenen neuen Thatsachen einen neuen Gesichtspunkt ent-
wickeln. Wir haben hier nicht Nervenfasern, die geraden Weges zum
Endorgan verlaufen, sondern ehe von der centralsten Stelle des Gross-
hirns entspringende Fasern dorthin gelangen können, haben sie erst
eine Anzahl von mehr und mehr peripher gelegenen Stationen zu
passiren, in deren jeder ihre frei gewordenen Spannkräfte in einer be-
stimmten, nicht genauer bekannten Weise umgesetzt werden, damit da-
raus das werde, was wir eine zweckmässige Bewegung nennen. Es ist
nun selbstverständlich, dass wir durch einen, auf irgend einem Punkte
dieser Bahn angebrachten Reiz höchstens nur das zur Anschauung
bringen können, was auf der mehr peripher gelegenen Strecke und den
mehr peripher gelegenen Stationen vor sich zu gehen pflegt, während
die Functionen der centraleren Stationen sich der Beobachtung entziehen.
Ja selbst dies lässt sich nur mit einer gewissen Beschränkung aus-
sprechen, insofern als zur Hervorbringung einer bestimmten Bewegungs-
modalität die Erregung einer grösseren Summe von Fasern erforder-
lich ist, die gleichwohl in den Centralorganen nicht so bequem bei-
sammen liegen, als im Stamm eines peripheren Nerven. Indessen giebt
es einen anderen Weg, die Frage nach der Bedeutung der einzelnen
Theile der Rinde experimentell zu lösen: es ist die Exstirpation
circumscripter und genau bekannter Theile derselben. Auch
diesen langwiei'igen Weg haben wir in folgender Weise zu betreten be-
gonnen.
Zwei Hunden wurde, nachdem die Weichtheile zurückpräparirt
waren, der Schädel durch eine Trepankrone an der Stelle eröffnet, wo
wir das Centrum für die rechte vordere Extremität vermutheten. Wir
wählten das Centrum für eine Extremität, weil an einer solchen etwaige
motorische Erscheinungen am deutlichsten hervorti-eten mussten, und
wir wählten nicht das Centrum für die hintere Extremität, weil dessen
Lage uns möglicherweise der Eröffnung des Sin. longitudin. ausgesetzt
hätte. Alsdann wurde die Dura der freigelegten Stelle entfernt, es
wurde durch elektrische Reizung festgestellt, dass wir die gewollte
Stelle getroffen hatten, die Pia wurde soweit als erforderlich um-
schnitten und nun mit einem feinen Scalpellstiel ein wenig von der
Rindensubstanz herausgehoben. In dem einen Falle war das entfernte
Stück etwa so gross wie eine kleine Linse, in dem anderen Falle etwas
— 32 —
grösser. Dann wurde die Hautwunde diu'ch Knoi)fnähte vereinigt. In
dem ersten Falle hatte das Thier bei der ganzen Operation nur einige
Tropfen Blut verloren, in dem anderen Falle war die Blutung nicht
unbeträchtlich. Der erste Fall heilte per primam, der andere Fall nicht.
Beide Versuchsthiere boten nur dem Grade nach verschiedene Symptome
dar. Der Art nach war ihr Krankheitsbild rücksichtlich der motorischen
Störungen so conform als möglich. Diese vollkommene Uebereinstim-
mung dei' Resultate beider Versuche und deren Wichtigkeit für sämmt-
liche aus unsern anderen Versuchen entspringenden Anschauungen ver-
anlasst uns, ihrer hier schon Erwähnung zu thun, obwohl wir vor
irgend einer Publication gern noch mehr gleichlautende Erfahrungen
gesammelt hätten. Die Nothwendigkeit, dieser Arbeit einen vorläufigen
Abschluss zu geben, verhinderte uns bisher daran, und im Uebrigen
wird mau sehen, dass für die von uns ad hoc zu ziehenden Schlüsse
schon ein einziger gelungener Versuch genügt.
Beide Versuchsthiere zeigten nun unmittelbar nach der in der Mor-
phium-Narkose vorgenommenen Operation etwas allgemeine Schwäche,
die bald vorüberging. Dann aber beobachtete man in Kurzem Fol-
gendes:
I. Beim Laufen setzten die Thiere die rechte Vorderpfote unzweck-
mässig auf, bald mehr nach innen, bald mehr nach aussen als die
andere, und rutschten mit dieser Pfote, nie mit der anderen, leicht nach
aussen davon, so dass sie zur Erde fielen. Keine Bewegung fiel ganz
aus, indessen wurde das rechte Bein etwas schwächer angezogen.
II. Beim Stehen ganz ähnliche Erscheinungen. Ausserdem kommt
es vor, dass die Vorderpfote mit dem Dorsum statt mit der Sohle auf-
gesetzt wird, ohne dass der Hund etwas davon merkt.
III. Beim Sitzen auf dem Hintertheil, wenn beide Vorderpfoten auf
der Erde stehen, rutscht das rechte Vorderbein allmählig nach Aussen
davon, bis der Hund ganz auf der rechten Seite liegt.
Unter allen Umständen kann er sich aber sofort wieder aufrichten.
Die Hautsensibilität und die Sensibilität auf tiefen Druck zeigt an der
rechten Vorderpfote keine nachweisbaren Abweichungen.
Am schlagendsten fiel bei dem ersten Hunde*) noch zu einer Zeit,
als die Wunde längst geheilt, alle Reaction vorbei war, am 15. und
sogar noch am 28. Tage nach der Operation folgender Versuch aus.
Man setzte dem Hunde, während er stand, die rechte Vorderpfote
auf ihren vorderen, oberen Rand so nach innen und hinten, dass sie
*) Der zweite wird bei diesem Versuche nicht erwähnt, da er aus ex-
perimentellen Gründen nur dreibeinig war 6).
— 33 —
zwischen den anderen drei Beinen stand. Verhinderte man niui durch
Streicheln den Hund, Ortsbewegungen vorzunehmen, so liess er die Pfote
beliebig lange in dieser unbequemen Stellung. Kam aber irgend ein
Bewegungsimpuls über ihn, so lief er davon, sein krankes Bein last
ebenso munter bewegend, wie die anderen drei. Derselbe Versuch war
mit dem linken Beine gar nicht zu machen, da das Thierchen dieses
Glied immer schon wieder zurückzog und in seine frühere bequeme
Stellung brachte, ehe man damit in die gewollte Stellung kommen
konnte. —
Wir ersparen uns auch hier alle weiteren Schlüsse und Betrach-
tungen, namentlich gewisse Vergleiche mit der menschlichen Pathologie
für eine andere Gelegenheit, und constatiren nur Folgendes als wesent-
lich für die vorliegende Arbeit. Die beiden Versuchstliiere hatten durch
Exstirpation eines Theils des von uns sogenannten Ceutrums für die
Vorderextremität die Möglichkeit, die letztere zu bewegen, nur unvoll-
kommen verloren, und an der Sensibilität w^ahrscheinlich gar nichts
eingebüsst. Aber sie hatten offenbar nur ein mangelhaftes Bewusst-
sein von den Zuständen dieses Gliedes, die Fähigkeit, sich voll-
kommene Vorstellungen über dasselbe zu bilden, war ihnen ab-
handen gekommen; sie litten also an einem Symptome, welches in einer
sehr ähnlichen Weise bei einer Form der Krankheitsgruppe Tabes vor-
kommt, nur dass Verletzung einer sensiblen Leitungsbahn hier sicher
nicht vorlag. Man könnte sich, um diesen Zustand näher zu bezeich-
nen, vielleicht so ausdrücken: Es bestand noch irgend eine moto-
rische Leitung von der Seele zum Muskel, während in der Leitung vom
Muskel zur Seele irgendwo eine Unterbrechung vorhanden war. Mög-
licherweise betraf diese Unterbrechung die Endstation der hypothetischen
Bahn für den Muskelsinn, jedenfalls hatte sie aber ihren Sitz an Stelle
des von uns verletzten Centrums.
Wie dem nun auch sei, es ist gewiss, dass eine Verletzung dieses
Centrums die willkürliche Bewegung des von ihm sicher in einer ge-
wissen Abhängigkeit stehenden Gliedes nur alterirt, nicht aufhebt, dass
also irgend einem motorischen Impulse noch andere Stätten und Bahnen
offen stehen, um geboren zu wei'den und um zu den Muskeln jenes
Beines zu eilen, dass unsere Reservation (siehe oben S. 31) vollkom-
men am Platze war. Es ist aber ferner ebenso sicher, dass eine
solche Verletzung, obwohl ihre Erheblichkeit gegen die Abtragungen
von Flourens, Hertwig u. A. A'erschwindet, sehr deutlich wahr-
nehmbare Symptome hervorbringt, wenn man nur den rechten Ort
trifft; und zwar sind die Symptome gerade an demjenigen Gliede wahr-
Hitzig, Gesammelte Abhandl. I. Theil. 3
— 34 —
nehmbar, dessen Muskeln sich vorher auf elektrische Reizung der mm
zerstörten Massen contrahirten.
Hieraus geht zur Evidenz hervor, dass bei den früheren colossalen
Verstümmelungen des Hirns entweder andere Theile gewählt worden
sind, oder dass den feineren Verrichtungen der Bewegungsmechanismen
nicht die nöthige Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Es geht ferner
aus der Summe aller unserer Versuche hervor, dass keineswegs, wie
Flourens und die Meisten nach ihm meinten, die Seele eine Art Ge-
sammtfunction der Gesammtbeit des Grosshirns ist, deren Ausdruck man
wohl im Ganzen, aber nicht in seinen einzelnen Theilen durch mecha-
nische Mittel aufzuheben vermag, sondern dass vielmehr sicher
einzelne seelische Functionen, wahrscheinlich alle, zu ihrem
Eintritt in die Materie joder zur Entstehung aus derselben auf
circumscripte Centra der Grosshirnrinde angewiesen sind. —
Anmerkungen.
2) In der Folge hat sich gezeigt, dass der Schluss, welcher mich zur
Anstellung dieser Versuche anregte, unrichtig war. Die fraglichen Augen-
bewegungen werden nicht durch directe Reizung des Gehirns, sondern indirect
durch Elektrotonisirung der Nervi vestibuläres hervorgebracht. Es ist nicht das
erste oder einzige Mal, dass eine falsche Prämisse zur Aufdeckung richtiger
Thatsachen führte. Meinen gegenwärtigen Standpunkt in dieser Frage habe
ich in meiner Arbeit über den Schwindel in Nothnagel's Specieller Patho-
logie und Therapie, Bd. XII. 2. dargelegt.
3) Ich habe mich später überzeugt, dass es Ausnahmen von der Regel
giebt. In der Regel findet man vier Windungsbogen, die sich um die Fossa
Sylvii lagern; der hintere Schenkel der einen oder der anderen von ihnen
gabelt sich gewöhnlich. Es kommt aber vor, dass man, sei es vor, sei es hin-
ter der Sylvischen Grube nur 3 Bogen auseinanderhalten kann. Diese That-
sache hat eine über die Morphologie hinausreichende Wichtigkeit.
4) Diese Beobachtungen haben, soviel ich sehe, nur durch Paul Ger-
ber, welcher unter Leitung L. Hermann 's arbeitete, eine Nachprüfung er-
fahren. (Beiträge zur Lehre von der elektrischen Reizung des Grosshirns.
Pflüger's Archiv. Bd. 39. S. 397 ff. 1886.) Er fand zunächst, „dass in
den meisten Versuchen in scheinbar regelloser Weise bald die Anode, bald die
Kathode in der Wirkung überwog. Allein allmählich wurde bemerkt, dass in
ganz frischem Zustande der eben blossgelegten Hirnoberfläche in der Regel
die Kathodenseite die niedrigere Reizschwelle hatte, während längere Zeit
nach der Blosslegung und nach dem Beginn der Reizungen in der Regel das
von Hitzig angegebene Verhalten stattfand". „In einigen Fällen gelang es,
das üeberwiegen der Kathode künstlich dadurch zu beseitigen, dass die Rinde
— 35 —
der betreffenden Seite (es wurde doppelseitig das Centrurn für den Lidschluss
untersucht) mit Kreosot angeätzt wurde." Wurde die geätzte und die un-
geätzte Seite durch unpolarisirbare Elektroden mit den Hydrorollcn einer
Spiegelbussole verbunden, so erwies sich die geätzte Stolle stark negativ gegen
die ungeätzte.
Auf die Veränderungen, denen das blossgelegte Hirn ausgesetzt ist, hatte
ich bereits (S. unten S. 37) aufmerksam gemaciit.
5) Das „andere Verhalten", von dem hier die Rede ist, besteht in einer
Verkürzung der Latenzzeit gegenüber der bei Reizung der unversehrten Rinde
zu beobachtenden Latenzzeit. Auch der 'Ablauf der Zuckungen erschien in
beiden Fällen nicht gleichartig. Diese Erscheinungen Hessen sich mit blossem
Auge rein qualitativ sehr wohl erkennen. Ihre weitere Verfolgung, die nur
auf dem graphischen Wege geschehen konnte, musste ich mir aber versagen,
da in dem damaligen physiologischen Institute an Warmblütern nicht operirt
werden durfte und ich somit mit diesen Versuchen auf meine Privatwohnung
und meine eigenen Hülfsmittel angewiesen war. Später haben Bubnoff und
Heidenhain, sowie Prangois-Prank und Pitres den Gegenstand in der
bezeichneten Weise bekanntlich weiter verfolgt. Vgl. übrigens die folgende
Abhandlung S. 54.
6) Goltz hat später Versuche angestellt, bei denen er einem Hunde
das eine gesunde Bein an dem Halsband befestigte, um zu constatiren, dass
ein im Gyrus sigmoides operirter Hund auch auf drei Beinen laufen könne.
Uns war dies schon damals nicht unbekannt. Ja, bei dem erwähnten Hunde
war sogar das Hinterbein der gleichen Seite durch eine Gontractur, die das-
selbe gegen den Rumpf zog, zum Gebrauch untüchtig geworden. Gleichwohl
konnte er laufen.
III. Untersuchungen zur Physiologie des Orosshirns.
Die vorliegenden Untersuchungen schliessen sich unmittelbar dem
Inhalte der vorstehenden Arbeit an. Die in jener mitgetheilten Ver-
suche mussten sich insofern sie ein ganz neues Gebiet eröffneten, natür-
lich nur auf eine mehr allgemeine Bearbeitung der wichtigsten Fragen
beschränken. Dass das Detailstudium jeder Einzelnen derselben wieder
das Object besonderer Arbeit würde sein müssen, war vorauszusehen.
Nachdem sich nun der Fortsetzung der von Fritsch und mir zum
ersten Male mit nachgewiesenem Erfolg am Grosshirn ausgeführten
Lähmungsversuche ein anderer Forscher mit vielem Glücke zugewendet
hat, werde, ich mich vorerst auf die Mittheilung von Reizversuchen be-
schränken. Ich begann dieselben bereits im Jahre 1870, konnte sie je-
doch erst mit Beginn des Jahres 1873 wieder aufnehmen. Auch mit
ihnen beanspruche ich nicht etwas Abgeschlossenes, sondern lediglich
die Resultate einer längeren Arbeitsperiode zu geben.
1. Polare Einflüsse.
Wir hatten in jener Abhandlung bereits ein constantes Vorwiegen
der Anode erwähnt. Wir fanden, dass innerhalb der minimalen Strom-
stärke nur die Anode, nicht aber die Kathode eine Zuckung auslöst,
ferner dass durch eine vorgängige Wendung die Erregbarkeit gegen
beide Elektroden erhöht wird.
Da die beiden Elektroden sich hier ganz anders verhalten, wie an
peripheren Nerven, so war es unerlässlich, wenigstens die Kenntniss von
den Thatsachen so weit als möglich zu befestigen und zu vervollstän-
digen, wenn sich auch eine Erklärung derselben vielleicht noch nicht
geben liess. Den hierauf gerichteten Bemühungen standen grosse ex-
perimentelle Schwierigkeiten entgegen, die sich bei einem Theile der
später anzuführenden Versuche wiederholten und die ich deshalb hier
ein für alle Mal erwähne. Das Eintreten oder Ausbleiben eines Reiz-
effectes ist immer abhängig einmal von dem eigenen Verhalten des zu
— 37 —
reizenden Organcs, dann von der Art und Grösse der erzielten elektri-
schen Dichtigkeitsschwankungen. Mit Sicherheit vergleichbare Resultate
lassen sich nur erreichen, wenn der eine Factor wenigstens constant er-
halten werden kann. Die Reizversuche am Grosshirn haben aber den
Uebelstand, dass beide Factoren unbeabsichtigten Veränderungen unter-
worfen sind.
Die Veränderungen am Gehirn selbst beginnen, namentlich wenn
das Versuchsthier nicht narkotisirt ist, mit und durch die vorbereitende
Operation. Ist das Gehirn freigelegt, so beginnt es zu erkalten und zu
betrocknen, allmählich auch zu collabiren. Diese letzteren Verände-
rungen gehen indessen mit einer gewissen Stetigkeit und Langsamkeit
vor sich, so dass man sie allenfalls controliren kann. Der plötzlichen
üeberfluthung des Versuchsfeldes durch Cerebrospinalflüssigkeit lässt
sich begegnen, wenn man einen kleinen von Zeit zu Zeit zu erneuern-
den Schwamm an einer basalwärts gelegenen Stelle zwischen Hirn und
M. temporalis anbringt. Unberechenbar sind jedoch die in jedem
Augenblicke wechselnden Veränderungen, durch welche die reizenden
Stromstösse in ihrem absoluten Reizwerthe beeinflusst werden. Ein zu
untersuchender Nerv liegt den Elektroden gleichmässig an; das Gehirn
aber befindet sich in fortwährender Bewegung sowohl durch die Respi-
ration als durch die arterielle Pulsation. (Die durch letztere bewirkten
Bewegungen lassen sich in der Apnoe, als die Gesammtmasse des Ge-
hirns verschiebend, vortrefflich beobachten.) Da man mit der Strom-
stärke des Zuckungsminimums zu untersuchen hat, so kommt dieser
Umstand wesentlich in Betracht.
Ferner machen die Thiere nicht selten mit dem ganzen Körper un-
vermuthete Bewegungen. Wenn man nun auch durch grosse Aufmerk-
samkeit das Eindringen der Elektroden in's Gehirn und die dadurch
gesetzte Vereitelung des Versuches vermeiden kann, so muss man sich
doch nach jeder willkürlichen Bewegung die eben inne gehabte Stelle
von Neuem aufsuchen imd damit den Versuch von Neuem beginnen.
Endlich gewinnt auch die zum Halten des Elektrodenpaares unentbehr-
liche menschliche Hand nicht annähernd die gleichmässige Sicherheit
einer mechanischen Vorrichtung.
Unter diesen Umständen ist die am Nerven immer zu erzielende
Gleichmässigkeit der Erscheinungen am Hirn um so weniger zu er-
reichen, als, wie wir sehen werden, durch jeden Reizversuch selbst er-
hebliche Veränderungen der Erregbarkeit entstehen. Wahrscheinlich
spielen obenein die Lebeusvorgänge innerhalb des Organes eine Rolle,
von der wir uns keine Vorstellung machen können.
So musste ich denn zufrieden sein, wenn ich durch häufige Wieder-
~ 38 —
boliing derselben Versuche dahin kam, die eintretenden Zufälligkeiten
auf ihren wahren Werth zurückzuführen.
Die Anordnung der Versuche war ähnlich der in der vorstehenden
Abhandlung beschriebenen. Nur benutzte ich diesmal eine 10 gliederige
Kette von kleinen Meidingern, die einen etwas schwächeren Strom
gaben als die Pappelemente, ferner konnte der Widei'stand der Neben-
schliessung um einzelne S. EE. verändert werden, endlich war die
Leitung überall durch Schrauben oder Quecksilber vermittelt. Die Ver-
suche wurden an Hunden ausgeführt. —
Wenn man die Reaction eines beliebigen Centrums von den
schwächsten Strömen ausgehend untersucht, so findet man regelmässig,
dass bei zunehmender Stromintensität die erste Zuckung durch die
Stromwendung hervorgebracht wird, und zwar wenn dabei die Anode
auf das Cen,trum kommt. Dann fängt die einfache Anoden-Schliessung
au, wirksam zu werden, dann die Wendung auf die Kathode, endlich
die Kathoden-Schliessung.
Untersucht man mit jeder der beiden Elektroden einzeln, ohne
Wendungen dazwischen zu schieben, so findet man Folgendes: Bei der
niedrigsten überhaupt erregenden Stromintensität löst nur die erste
Anoden-Schliessung eine Zuckung aus, die folgenden erzielen Ruhe.
Wächst die Stromstärke genügend, so steigt die Zahl der aufeinander-
folgenden Zuckungen, aber so, dass die erste immer am stärksten aus-
fällt und die Ausgiebigkeit der späteren gleichmässig abnimmt, bis sie
endlich ganz ausbleiben. Schliesslich erreicht man eine Stromstärke,
bei der die Zuckungen überhaupt nicht mehr ausbleiben, mögen auch
noch so viele Erregungen mit der gleichen Elektrode auf einander folgen.
Gleichwohl kann man dabei noch die mit der Zahl der auf einander-
folgenden Zuckungen Hand in Hand gehende Abnahme ihrer Intensität
erkennen.
Die Kathode verhält sich ganz ähnlich, nur dass das Zuckungs-
minimum stets viel höher liegt und die Zahl der bei gleicher Stfom-
intensität auftretenden Zuckungen immer hinter der durch die Anode
hervorgebrachten zurückbleibt.
Schiebt man eine Wendung dazwischen, so steigt bei beiden Elek-
troden das Zuckungsminiraum sofort auf eine sehr viel niedrigere Strom-
stärke herab.
Namentlich dieser Umstand ist es, der den Gedanken an einen be-
stimmenden Einfluss der Polarisation sofort wachruft. Unpolarisirbare
Elektroden Hessen sich nicht anwenden, so wurden denn während einer
Reihe von Versuchen die Platinknöpf chen nach jeder Reizung abge-
wischt, bei einer anderen Reihe auch die gereizte Stelle mit einem
— 39 —
feuchten Schwämme überstrichen, ohne dass (huhircli alj(;r die eigen-
thüniliche Folge der Reizeffecte geändert worden wäre. Es änderte
auch nichts, wenn ich zwischen je zwei Reizungen einen Zeitraum von
2 Minuten verstreichen liess. Hingegen trat häufig Aenderung ein,
wenn ich auf eine Anzahl wirkungsloser Reizungen eine solche mit
einem um Vieles stärkeren, zuckungserregenden Strome, natürlich mit
derselben Elektrode folgen liess. Dann ging das Zuckungsminimum
gegen den Reiz der gleichen Elektrode nicht selten sehr erheblich herab.
Alles dieses spricht wohl nicht für einen bestimmenden Einfluss der
Polarisation.
Die Anode wirkt also durchgehends stärker als die Ka-
thode; eine noch so kurze Schliessung der Kette setzt inner-
halb schwacher und mittlerer Stromstärken die Erregbarkeit
gegen dieselbe Elektrode herab und erhöht sie gegen die
andere. Das letztere Verhalten lässt sich aber einem analogen Ver-
halten der motorischen Nerven wegen der Kürze der erforderlichen
Stromdauer und wegen der enormen Abschwächung des Reizeffectes
durchaus nicht parallel setzen.
Wenn man sich auf der Hirnrinde orientiren will, so muss man
diese Thatsachen durchaus kennen und in Rechnung ziehen.
Einige der hierher gehörigen Versuche waren ohne jede Narkose
angestellt worden. Indessen ist dies wegen der willkürlichen Bewegungen
und der stossweisen unregelmässigen Respiration der Hunde ausser-
ordentlich beschwerlich. Ich untersuchte deshalb zuvörderst dasselbe
Thier unmittelbar nach einander ohne und mit Morphium-Narkose.
Nachdem sich die hierbei etwa vorhandenen Differenzen als durchaus
in der Breite der Fehlerquellen liegend gezeigt hatten, wurden alle
ferneren Versuche in der Morphium-Narkose angestellt.
2. Einfluss des Aethers und des Morphiums.
Wir hatten a. a. 0. beiläufig erwähnt, dass weder die Aether-
noch die Morphium-Narkose einen wesentlichen Einfluss auf das Ge-
lingen der Versuche hat, und dieser Satz ist allerdings in der ihm ge-
gebenen beschränkenden Fassung richtig. Indessen hatte ich bereits im
Jahre 1870 gefunden, und dies auch auf der Naturforscherversammluug
in Leipzig ausgesprochen*), dass man durch sehr grosse Gaben Aether
die Zuckungen zum Schweigen bringen kann**). Genaueres Studium
*) S. das Tageblatt S. 75.
**) Am 27. April 1873 erhielt ich von Hrn. Professor Schiff einen
Bogen (S.529 — 544) aus einem noch nicht publicirten, in italienischer Sprache
— 40 —
ergab einen, nicht nur wegen der ferneren darauf zu basirenden
Schlüsse, sondern auch an und für sich sehr interessanten Sacli-
verhalt.
Wenn man ein Thier so tief ätherisirt, dass jede Spur
von Reflexen aufgehört hat, so findet man die elektrische
Erregbarkeit des Gehirns theils erhalten, theils verloren.
Ich untersuchte den Zustand der Reflexerregbarkeit stets von der Con-
junctiva aus, und wandte ausserdem noch irgend eine intensive sensible
Reizung an, Zerrung au den Resten der Dura, Application eines sehr
starken Inductionsstromes innerhalb der Nase oder an einer kleinen
Hautwunde zwischen den Zehen einer Hinterpfote. Wenn nirgends mehr
Reflexe auftraten, und das Thier mit Ausnahme der respiratorischen
Bewegungen absolut ruhig lag, so reagirte das Grosshirn au der einen
oder der anderen Stelle auch auf die stärksten Ströme nicht, während
irgend eine andere Stelle sofort mit einer Reaction antwortete. Gab
ich nun noch mehr Aether, so gelang es für kurze Zeit, aber in der
That nur für ganz kurze Zeit, jede Reaction aufzuheben. Sobald aber
mit der weiteren Zufuhr von Aether nachgelassen wurde, dauerte es nur
Secunden, bis wieder Zuckungen zu erregen waren.
Von dem geschilderten Verfahren habe ich nie auch nur eine ein-
zige Ausnahme beobachtet. Es liegt aber auf der Hand, dass man,
wie es geschehen ist, zu irrthümlichen Ansichten von den Wirkungen
der Aether-Narkose gelangen kann, wenn man den Schädel nur mittelst
geschriebenen Buche. An dieser Stelle ist von ähnlichen Versuchen die Rede,
wie die, von denen ich in diesem und dem nächsten Capitel berichten werde.
Schiff kam aber zu ganz anderen Resultaten und Schlüssen. Ich bemerke,
dass ich am 26. April 1873 32 Vivisectionen, von denen beinahe jede mehrere
Versuchsreihen umfasst, bereits angestellt hatte, und 35 fernere noch anstellte,
und sage Herrn Professor Schiff für die gehabte Aufmerksamkeit meinen
Dank, —
Nachträglicher Zusatz: Das fragliche Werk ist mir inzwischen zu-
gegangen; es ist die zweite Auflage von Schiffs Lezioni di Fisiologia speri-
mentale sul sistema nervoso encefalico. Ich hege keinen Zweifel, dass Schiff
zu denselben Resultaten wie ich kommen wird, wenn er die gleichen Versuchs-
bedingungen herstellt. Uebrigens hat derselbe unsere Bemerkungen über die
Wirkung der Inductionsströme nicht aufmerksam gelesen. Er citirt dieselben
so, als hätten wir das Vorkommen tetanischer Contractionen bei Reizung mit
Strömen der äusseren Spirale in Abrede gestellt. Man wolle sich auf S. 21
überzeugen, dass wir dasselbe vielmehr ausdrücklich und zwar an der Spitze
jenes Passus erwähnt haben. Damit würden auch die Schlüsse hinfällig
werden, welche auf ein solches, lediglich vorausgesetztes Verhalten basirt sind.
— 41 —
einer einfaclien Trepankrone eröfl'net, und damit zulallig auf eine un-
erregbar gewordene Stelle geräth.
Von der Anwendung des Chloroforms habe ich abgesehen, nachdem
mir mehrere Hunde hintereinander bereits bei Beginn der Inhalation
todt geblieben waren.
Das Morphium verhält sich in jeder Beziehung ganz anders wie
der Aether. Man hat in neuerer Zeit den Satz aufgestellt, das Mor-
phium erhöhe die Reflexerregbarkeit. Dieser Satz ist in dieser allge-
meinen Fassung nicht genau, wie überhaupt durch die Beschreibungen
die wirklich vorhandenen Symptome der Morphium-Narkose nicht er-
schöpft werden. Hierbei spielt die Dosirung und die Dauer der Ver-
giftung eine wichtige Rolle. Ich selbst bringe nur das für die gegen-
wärtige Untersuchung zu wissen Nothwendige bei, indem ich mich auf
die Schilderung eines bestimmten Stadiums der Vergiftung beschränke
und mir nähere Angaben vorbehalte. Schmerzhafte Eingriffe werden
von einem gut durch Morphium narkotisirten Thiere selten mit Schreien
und Versuchen sich loszureissen beantwortet, auch die plötzlichen Rucke
mit Kopf und Körper, welche sonst schon bei geringen Beleidigungen
der Dura eintreten, fehlen bei diesen. Insbesondere beantworten die
Thiere den von der Operationswunde herrührenden contiuuirlichen
heftigen Reiz nicht in der angeführten Art. Hingegen ist der reflec-
torische Lidschluss stets ungestört, die Extremitäten werden auf schmerz-
hafte Eingriffe in der Regel zurückgezogen, und auf heftige Insultirung
der Nase folgt in der Regel eine Wischbewegung mit der Vorder-
extremität.
Mit mittleren Gaben Morphium betäubte Hunde verhalten sich
also gegen Reflexreize ähnlich, wie Thiere, denen man das Grosshirn
genommen hat. Reflexversuche und Reizversuche an ätherisirten
Thieren lassen andererseits den sicheren Schluss auf eine vorüber-
gehende Lähmung einer sich durch das ganze Gehirn und Rückenmark
hindurchziehenden Organenkette zu.
Ebenso verschieden gestaltet sich die Reaction des Grosshirns auf
den elektrischen Reiz. Man kann den Hunden verhältnissmässig
grosse Dosen Morphium, sei es subcutan, sei es durch die
Venen, beibringen, ohne dass die Reaction je aufhörte. Im
Gegentheil scheinen die Reizeffecte schwacher Ströme bei mittelstarken
Vergiftungen regelmässiger einzutreten, insofern als die die Erregbarkeit
für die gleiche Elektrode herabsetzende Wirkung des Stromes nicht
ganz so bedeutend ist.
Wenn man sich der jetzt wohl allgemein acceptirten Ansicht, dass
die Hirnrinde das Feld der Vorstellungen sei, anschliessen will, so
— 42 —
stimmen diese Reizversuche mit den am Menschen gesammelten Erfah-
rungen über den Eiufluss dieser beiden Mittel auf das Fortbestehen der
Vorstellungen gut überein. Der Aetherschlaf führt eine absolute Pause
in den psychischen Thätigkeiten herbei. Die Morphium-Narkose kann
hingegen A^on Träumen belebt sein, die eine hinreichende Intensität ge-
winnen, um Erinnerungsbilder zurückzulassen.
3. Einfluss der Apnoe.
Aus aprioristischen Gründen glaubte ich einen Einfluss der Apnoe
auf die elektrische Erregbarkeit des Grosshirns annehmen zu sollen.
Für diesesmal beschränkten sich meine Versuche darauf, den Zustand
der Reflexerregbarkeit während der Apnoe und das gleichzeitige Vor-
handensein oder Nichtvorhandensein der elektrischen Erregbarkeit zu
constatiren, während ich auf die genauere Feststellung gradueller
Difl^erenzen Verzicht leisten musste.
Rosenthal*) hatte ursprünglich die Reflexe auch in der Apnoe
fortbestehen sehen. Später wollte jedoch üspensky**) ihr Ausbleiben
beobachtet haben.
Den von mir untersuchten Thieren wurde nach dem Schlage eines
Metronoms durch einen ziemlich grossen und gut schliessenden Blase-
balg Luft verschieden lange Zeit eingeblasen. Unmittelbar vor der
gläsernen in der Trachea befestigten Canüle befand sich in dem Kaut-
schuckschlauche ein viereckiges Loch, dessen zwei senkrecht auf die
Längsaxe des Rohres stehende Seiten durch Einschnitte verlängert waren.
Auf diese Weise war neben dem Loche ein federndes Ventil vorhanden,
das bei der häufig angewendeten Steigerung des Druckes doch ein über-
mässiges Anschwellen desselben verhinderte.
Die Respirationsfrequenz der Thiere wurde vor Beginn der Luft-
einblasung beobachtet***), dann mit einer um etwas höher liegenden
Zahl von Stössen begonnen und innerhalb der ersten 3 — 5 Minuten auf
120 — 150 Stösse gestiegen. Alsdann wurde der Druck allmählich ge-
steigert.
*) J. Rosenthal, Die Athembewegungen und ihre Beziehungen zum
Nervus vagus. Berlin 1862. S. 152.
**) üspensky, Der Einfluss der künstlichen Respiration auf die Reflexe.
Archiv für Anatomie und Physiologie 1869. S. 401.
***) Dabei sah ich, dass man den schnellen oberflächlichen Respirations-
rhythmus geängstigter Thiere durch Ansatz eines verschieden langen Rohres
nach Belieben verlangsamen, meist auch regelmässig machen kann. Bei
manchen physiologischen Versuchen dürfte sich dies mit Vortheil verwerthen
lassen.
— 43 —
Waren nun die Tliierc niolit narkotisirt, so niiichten .sie während
der Ventilation, nicht selten schon während der Periode des niedrigen
Druckes und sowohl bei geringer als bei grosser l'^-equenz der Ein-
blasungen, fast regelmässig aber während des höheren Druckes willkür-
liche Respirationsbewegungen, die im letzteren Falle beim Pausiren des
Blasebalges mit einer tiefen Exspiration endigten. Ausserdem suchten
sie sich wohl mit aller Kraft loszureissen. Wenn man nun unmittelbar
nach diesen willkürlichen Actionen die hinreichend lange fortgesetzte
Ventilation unterbrach, so war gleichwohl Apnoe vorhanden. Dass
unter diesen Umständen die Reflexerregbarkeit unversehrt war, bedarf
keiner Erwähnung.
Waren aber dieselben Thiere durch Morphium betäubt, so lagen
sie still und die Apnoe dauerte länger — bis zu 6 Minuten. Nichts-
destoweniger zeigte die Reflexthätigkeit keine erhebliche Veränderung.
Höchstens trat auf Berührung der Wimpern kein Lidscliluss ein, wenn
man die Lider sanft mit den Fingern fixirte. Liess man jedoch die
Finger fort, oder berührte die Conjunctiva, so war der Lidschluss so-
fort da.
Ich gebe auf der folgenden Seite das Protokoll eines derartigen
Parallelversuches. Nachdem das in demselben erwähnte Thier 29 Mi-
nuten lang ohne gleichzeitige Narkose ventilirt worden war, trat eine
unvollständige Apnoe von 90 Secunden ein, während eine Ventilation
von nur 16 Minuten das narkotisirte Thier in eine Apnoe von 205
Secunden, die während 140 Secunden vollständig war, versetzte.
Die Erklärung für das fragliche Verhalten liegt auf der Hand.
Furcht und Schmerz, hier hervorgerufen durch die Reizung der Nerv,
laryng. inferr., vermehren das Respirationsbedürfniss namentlich kleinerer
Thiere bekanntlich ganz enorm, durch das Morphium aber wird das
Zustandekommen dieser Affecte verhindert.
Ich brauche wohl kaum hinzuzusetzen, dass ich mich durch Con-
trolversuche überzeugte, dass nicht etwa die Wiederholung der künst-
lichen Respiration als solche, sondern in der That das Narkoticum den
erwähnten Einfluss ausübte.
Wenn man nun ein Thier zur künstlichen Respiration vorbereitet,
es alsdann in tiefe Aether-Narkose versetzt und endlich die künstliche
Respiration einleitet, so verhält es sich so lange die Aetherwirkung
dauert, nämlich 5 — 10 Minuten lang wie ein narkotisirtes, alsdann aber
wie ein nichtnarkotisirtes Thier, d. h. die Apnoe kommt schwer und
unvollkommen zu Stande — die Reflexe hören nur während der tiefen
Narkose gänzlich, nachher ganz und gar nicht auf.
Man mag aber ein Thier auf welche Weise man will
— 44 —
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— 45 —
apnoisch machen, niemals ist während der Apnoe ein Auf-
hören oder deutliches Nachlassen der elektrischen Erreg-
barkeit des Grosshirns zu beobachten. Geringere Schwankungen
der Erregbarkeit, sowohl positive als negative, habe ich allerdings ge-
funden. "Wie viel auf diese jedoch zu geben ist, lehren die ad 1 er-
wähnten Verhältnisse.
Die bisher angeführten Versuche wurden hauptsächlich in der Ab-
sicht angestellt, das Material zu vermehren, auf Grund dessen man sich
ein genaueres und mehr motivirtes Urtheil wird bilden können über die
Art, wie die von uns beschriebenen cerebralen Zuckungen zu Stande
kommen.
4. Augenmuskeln und Facialis.
F ritsch und ich hatten früher vergeblich nach einem Centrum
für die Augenmuskeln gesucht. Gleichwohl schien mir ein Centrum
auch für diese Muskeln im Grosshirn existiren zu müssen. Man kennt
zwar bereits verschiedene Hirnprovinzen, deren Reizung die Bulbi in
Bewegung setzt. Da diese Bewegungen aber sämmtlich combinirte
beider Augen sind, so durfte man wohl annehmen, wie ich dies ander-
weitig*) bereits ausgesprochen habe, dass sie nicht von Vorstellungs-,
sondern vielmehr von Reflex- oder Coordinationsorganen abhingen. Es
musste also der Analogie nach noch irgendwo, vermuthlich in der
Grosshirnrinde, ein Organ für isolirte Augenbewegungeu mit ähnlicher
Dignität, wie die übrigen von uns gefundenen Centren, existiren.
Meine Voraussetzung fand sich durch die Wirklichkeit auf das
Vollständigste gerechtfertigt. Nachdem ich der Sache auf die Spur ge-
kommen war, sah ich auch sogleich, warum wir früher weniger glück-
lich gewesen waren. Das Ceutrum für die Augenmuskeln fällt nämlich
mit einem Theile des Facialis-Centrums zusammen s. Fig. 2 Q, Wir
wurden also durch den Lidschluss, und bei Verhinderung desselben
durch die dennoch stattfindende Contraction des Orbicularis palpebrarum
gestört. Ausserdem sind die Excursionen des Bulbus bei dieser Form
des Versuches manchmal selbst auf starke Ströme nur gering.
Zur Beseitigung dieser Hindernisse machte ich, als ich sie erst
einmal kannte, den Versuchsthieren die Neurotomie des Facialis und
stach ausserdem eine Carlsbader Nadel, an deren Kopf eine senkrechte
Papierfahue befestigt war, als Fühlhebel durch das Centrum der Cornea
in den Glaskörper.
Als ich nun die Centren so hergerichteter Thiere reizte, mächte
*) Reichert's und du Bois-Reymond's Archiv 1871. S. 756.
— 46 —
der Fühlhebel synchronisch eine Bewegung in der Regel nach einer
Richtung, manchmal aber auch zwei ausserordentlich schnell aufein-
ander folgende Bewegungen nach entgegengesetzten Richtungen, so dass
der zweite Theil der ersten Bewegung von der zweiten gleichsam ver-
schlungen wurde. Ferner war sehr auffallend, dass man bei der einen
Reihe von 'Versuchen immer dieselbe Muskel- und zwar mit Vorliebe
Superior- Wirkung bekam und keine andere, und dass dann bei einer
anderen Reihe ein anderer Muskel, insbesondere der Abducens an die
Stelle des Superior trat.
Die Erwägung der eben angeführten Umstände Hess mich den
Fig. 2.
Schluss ziehen, dass die Innervation der Augenmuskeln ebenso um
einen relativ kleinen Herd gruppirt sei, wie wir das von den einzelnen
Muskelmechanismen der Extremitäten nachgewiesen haben, und wie ich
es gelegentlich der vorliegenden Arbeit noch mehr im Detail studirte.
Wenn dieser Schluss richtig war, so erklärte sich das Zustandekommen
der zuerst angeführten Doppelbewegung daraus, dass der Verlauf der
Stromcurve in dem Centrum für den einen Augenmuskel ein um etwas
anderer war, als in dem Gebiete des Antagonisten. Das sodann ange-
führte gänzliche Ausbleiben der Bewegung nach drei von den vier
Seiten hin war andererseits dadurch zu erklären, dass Lagerungs und
tveitungsverhältnisse im gegebenen F'alle auch bei Verschiebung der
— 47 —
Elektroden für das nach der vierten Seite hin (h-ehende Centrum so
besonders günstig blieben, dass in Folge stärkerer Erregung dieses
Centrums die Erregung der anderen Centren latent blieb. Mit der Vor-
aussetzung gemeinschaftlicher Erregung sämmtJicher Centren war auch
die Geringfügigkeit der Excursionen überhaupt leicht verständlich.
Der Nachweis für die Richtigkeit meiner Annahme war leicht zu
führen. Ich durchschnitt einfach den einen der Augenmuskeln nach
dem anderen, je nach der Reihenfolge, in der ihr Reizeffect zu Tage
trat, und hielt den Bulbus an einem durch die Conjunctiva gezogenen
Faden in der Mittelstellung. So gelang es mir, die Wirkung der vier
graden Augenmuskeln nach einander zur Anschauung zu bringen, mit
den schiefen habe ich mich nicht beschäftigt. Der Index des Auges
der gleichen Seite blieb inzwischen, wie ich noch hervorhebe, stets in
Ruhe.
Diese Thatsachen sind in verschiedener Beziehung von Interesse.
Erstens erkennen wir dort ein Organ, von dem aus man in der That
einseitige Bewegungen jedes Auges hervorbringen kann, also Bewegungen,
die wesentlich unterschieden sind von den Reizeffecten anderer Central-
gebiete der Augenmuskeln.
Zweitens erklärt sich aus dem Ineinandergreifen der Innervations-
gebiete des Facialis und der Augenmuskeln rein anatomisch der längst
bekannte Consensus zwischen Lid- und Bnlbusbewegungen, der nun bei
undurchschnittenem Facialis von dem elektrischen Reize nachgeahmt,
reproducirt wird. Wir müssen bekanntlich bei Hebung oder Senkung
der Blickebene das obere Lid zwangsmässig ebenfalls heben oder senken,
während andererseits eine kräftige Innervirung des Sphincter palpebra-
rum den Bulbus in die Höhe steigen lässt.
Diese Thatsache gewinnt aber drittens an Gewicht, wenn ich hin-
zufüge, dass von dem angeführten Innervationscomplexe aus, was den
Facialis angeht, auch nur die um das Auge gelagerten Muskeln ver-
sorgt werden. Die Muskeln der unteren Gesichtshälfte lassen sich hin-
gegen von einer mehr lateral und basalwärts gelegenen Partie aus reizen.
Man kann deswegen diesen eben in Frage kommenden Heerd, unbe-
kümmert um den Verlauf der von ihm abhängigen peripheren Bahnen,
als ein für die Bewegung und den Schutz der Augen bestimmtes Cen-
ti'um auffassen.
5. Umfang und erregbare Verbindungen der Centren.
Aus dem, was unter 1. über die herabstimmende Wirkung der
Pole gesagt worden ist, erhellt, dass die i'äumliche Ausdehnung der
von uns sogenannten Centren, sowie ihre erregbaren Verbindungen und
— 48 —
Verbindungsbahnen mit einiger Sicherheit nur durch metallische Strom-
wendungen erforscht werden können. Ich benutzte zu diesem Zwecke
die Po hl 'sehe Wippe. Die sonst ja so viel bequemeren tetanisirenden
Inductionsströme darf man nicht anwenden, da schon ganz schwache
Ströme zu Nachbewegungen und epileptiformen Anfällen führen. Jeder
epileptiforme Anfall lässt das Gehirn in einem für diese Versuche un-
brauchbaren Zustande zurück.
Für eine richtige Beurtheilung der von der Convexität aus hervor-
gebrachten Reizeffecte müssen die Blutgefässe der Pia in Rechnung ge-
zogen werden. Wenn überhaupt keine Blutgefässe vorhanden wären,
sondern das Reizobject eine gleichmässig feuchte Masse ausmachte, so
könnte man sich das bei schwachen Strömen von wirksamen Schleifen
durchzogene Gebiet etwa in der Form einer Halbkugel vorstellen, deren
Schnittfläche auf der Convexität läge. Dass die Radien dieser Halb-
kugel nur klein sind, geht aus dem bei geringer Verschiebung der Elek-
troden vorhandenen Aufhören der Reizeffecte und aus anderen in der
Folge anzuführenden Umständen hervor. Sobald aber ein Blutgefäss
der Pia jene imaginäre Schnittfläche kreuzt, blendet es als gutleitende
Nebenschliessung alle sonst jenseits seiner Bahn fallenden Strom-
schleifen ab.
Der Gyrus d der Fig. 3 (vorderer Schenkel des Gyrus sigmoides) ist
in einem lateralen Tlieile motorisch, in den übrigen Theilen ist er nicht
motorisch. Die ihn bedeckende Pia enthält eine kleine Vene, welche sich
an der Grenze des lateralen Viertels dieses Gyrus in den von der Fissura
frontalis (Sulcus cruciatus) aufgenommenen Stamm ergiesst. (Entsprechend
der medialen Grenze der Schraffirung Fig. 2 u. 3.) Dieser Ast liegt in
seltenen Fällen mehr lateralwärts, so dass er eine fast gradlinige Fort-
setzung des Stammes zu bilden scheint. Befindet sich dieser Ast an der
gewöhnlichen Stelle, und placirt man die Elektroden selbst unmittel-
bar neben seinen medialen Rand, so kann man mit unverhältnissmässig
starken Strömen reizen, ohne dass ein Roizeffect eintritt. Befindet sich
der Ast aber an der ungewöhnlichen Stelle, so führt bei Wahl der gleichen
Einströmungsstellen schon eine massige Verstärkung des Stromes über
den Werth des Zuckungsminiraums zu Muskelcontractionen. Man wird
also annehmen dürfen, dass die erregbare Zone mit dem lateralen Viertel
des durch d Fig. 3 bezeichneten Gyrus abschneidet. Nach der gleichen
Methode wurde die hintere Grenze der erregbaren Zone bestimmt.
Eine wesentliche Erleichterung für das Auffinden der erregbarsten
Stellen bietet der Umstand, dass diese immer in einem Räume liegen,
welcher von kleinsten, für das blosse Auge sichtbaren Gefässen freige-
blieben, ringsum durch die Verästelungen mehrerer Gefässzweige ein-
— 49 —
gefasst wird. Wäre mir dieses, namentlich im supersylvischen Gyriis
(Owen) deutliche Verhalten früher bekannt gewesen, so würde mir
viele Mühe erspart worden sein.
Da der Verbreituugsbezirk wirksamer Stromschleifen, wie schon
angeführt, bei schwachen Strömen klein ist, so kann man den Schluss
ziehen, dass Reizeffecte, welche auftreten, nachdem man sich um etwas
von dem eigentlichen Centrum entfernt, und den Strom um ein Ge-
ringes über den Werth des Zuckungsminimums verstärkt hat, von solchen
Gebilden abhängig sind, die nicht tief unter der Oberfläche und zwar
der jedesmal erforderlichen Stromverstärkung entsprechend tief unter
ihr gelagert sind. Freilich ist es in jedem einzelnen Falle nöthig, diese
Annahme dadurch zu controliren, dass man die Elektroden bei gleicher
Fiff. 3.
5 Possa Sylvii. 14 Pissura frontal. (Owen), cruciata (Leuret). 12 Piss.
coron. (Owen), a-d Stirnwindungen, e-h Scheitelwindungen, m-o Hinter-
hauptswindungen, i-l Schläfenwindungen.
Stromstärke gleichweit in anderer Richtung von den Centren, welche
durch Schleifen gereizt sein könnten, nach einem nicht von grösseren
Gefässen durchzogenen Terrain dislocirt. Wegen der mit Sicherheit
nicht berechenbaren Gefässeinflüsse haben derartige Schlüsse jedoch
immer nur den Werth der Wahrscheinlichkeit, nicht den der
Sicherheit.
Auf Grund dieser Anschauungen und Methoden wurden die auf der
Figur 2 und 3 markirten Grenzen gezeichnet. Am Weitesten nach
Hinten liegt das Centrum für Facialis und Augenmuskeln. Die doppelt
geschwänzten Punkte fassen den von mir sogenannten Heerd für Be-
wegung und Schutz des Auges ein. Die durchkreuzten Punkte be-
Hitzig, GesammeJte AbliaTidl. I. Theil. a
— 50 —
zeichnen einen Heerd für die untere Hälfte des Gesichtsnerven.*) Die
zwischen beiden liegenden einfachen Pnnkte begrenzen ein Gebiet,
welches weniger erregbar als die eben genannten, aber erregbarer als
die nach vorn liegenden iSlachbargebiete ist und zum Facialis in Be-
ziehung steht.
Im üebrigen sollen die Zeichen die Mittelijunkte der erregbarsten
Stellen, und die Stärke der sie umgebenden Schraffirung den Grad der
Erregbarkeit von der Oberfläche aus andeuten. In Folge der variablen
Form der Gyri wird man die einzelnen Centren gelegentlich etwas ver-
schoben finden. Der Strich im Gyrus e (hinterer Schenkel des Gyrus
sigmoides) Fig. 2 (vgl. Fig. 3) bedeutfet einen Punkt, welcher gleich-
zeitige Innervation der beiden rechten Extremitäten setzt. Zwischen ihm
und dem Centram -j- liegt .wieder eine weniger erregbare Strecke.
Bei /\ bedarf man überhaupt etwas stärkerer Ströme. Je nach
der gewählten Stromintensität und je nach geringen Ortsveränderungen
bewegen sich bei Reizung dieser Stelle nur Nacken- oder Hals- oder
Rumpfmuskeln gemeinschaftlich. Wenn man durch Zurück präparirung
der Haut die oberflächlichen Nackenmuskeln entblösst, so kann man
sich ferner durch das Gesicht und durch Zufühlen überzeugen, dass
sich bald einmal diese, bald wieder die tiefen Schichten contrahiren.
Ausserdem sieht man aber, dass die Zusammenziehung bald einseitig
bald doppelseitig und zwar mit gleicher Stärke, oder auch bald einmal
rechts bald einmal links stärker, ferner mit einer gewissen Langsamkeit
vor sich geht. Ebenso contrahiren sich die sämmtlichen Muskeln des
Rumpfes bei einseitiger Reizung doppelseitig.
Wenn man mit einem Lanzeurheophor**) am lateralen Ende der Furche
14 (Sulcus cruciatus) bei o bis zu einer Tiefe von 9 — 12 — 18 mm einsticht
imd dann reizt, so erhält man 1) doppelseitige starke Contractionen sämmt-
licher Stammmuskeln, 2) ausgedehnte und starke Contractionen an
beiden gegenüberliegenden Extremitäten, 3) beschränktere aber kräftige
Contractionen der hinteren gleichseitigen Extremität, 4) schwache und
beschränkte Contractionen der gleichseitigen Vorderextremität. Geht
man noch tiefer und bis auf die Basis ein, so hören selbst bei viel
stärkeren Strömen die Zuckungen wieder gänzlich auf. Auch dies
spricht dafür, dass der Leitungswiderstand der Hirnsubstanz gross, der
*) Ergänzende Untersuchungen über diese Aggregate des Facialis finden
sich in einer späteren Abhandlung.
**) So nenne ich ein Instrument, welches aus einer starken, durchbohrten,
stählernen Lanzennadel besteht, die in der Bohrung einen isolirten PJatin-
iiht führt. Nadel und Draht sind mit je einem Pole verbunden. Aeussere
i^S^ Mü^^iftic der Lanze ist nicht erforderlich.
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— 51 —
Verbreitungsbezirk wirksamer Stromschleifeii bei schwachen Strömen
klein ist.
Meine Untersuchungen über Reizung mit dem Lanzenrheophor sind
nicht weit genug gediehen, um detaillirte Angaben machen zu können.
Es sei jedoch erwähnt, dass man bei Einstichen innerhalb der erreg-
baren Zone gleichzeitige Zusammenziehungen einer meist grösseren An-
zahl von Muskeln erhält, welche je nach der Oertlichkeit und Tiefe des
Einstiches, sowie je nach der Stärke des Stromes sehr verschieden
gruppirt sind. Aehnliche Resultate erliält man bei Anwendung starker
Ströme von der Couvexität aus. Andererseits gelingt es dort auch
durch vorsichtige Abstufung des Stromes bei geringer Verschiebung der
Elektroden einzelne Muskeln und selbst Theile von Muskeln in Be-
wegung zu setzen. Doch scheint mir die Aufzählung der zahlreichen
nach beiden Richtungen gemachten Beobachtungen von geringem Inter-
esse. Im Allgemeinen kommt es, wie früher erwähnt, leichter zu com-
binirten Actionen. Es gelingt so auch im vorderen Theile der erreg-
baren Zone ähnlich wie im supersyl vischen Gyrus eine Gruppirung von
in der Peripherie benachbarten Muskelmechanismen um einen centralen
Punkt zu erkennen.
Aus den anderweitigen Reizefl'ecten, wie ich sie geschildert und
gezeichnet habe, geht hervor, dass diese centralen Gebiete noch inner-
halb der erregbaren Zone mannichfaltige Verbindungen unter einander
eingehen, bis sie sich im Linsenkern zu einem grossen gemeinsamen
Innervationscomplexe vereinigen.'') Wenn nun von dieser Stelle aus
doppelseitige Erregungen gesetzt werden, so entspricht dies, insbesondere
die Vertheilung der Erregungen in einer überaus schönen Weise ander-
weitig gewonnenen Erfahrungen und Voraussetzungen.
Henle hat seit Jahren wiederholt darauf aufmerksam gemacht,
dass die Kreuzung der Fasern nur dann einen Sinn habe, wenn dadurch
Vertheilung der Faserung an beide Hemisphären bewirkt werde.*) Den
angeführten Thatsachen entsprechend giebt ferner Schiff an, dass
dauernde cerebrale Hemiplegie bei Thieren nicht, wohl aber Lähmung
der gleichnamigen hinteren Extremität häufiger als beim Menschen vor-
komme. In der That drohte ja schon das, wenngleich ausserordentlich
seltene Vorkommen uugekreuzter Lähmung beim Menschen die grösste
Verwirrung der Anschauungen hervorzubringen.
Andererseits sehen wir, dass in der gewöhnlichen Form der Hemi-
plegie des Menschen die Stammmuskeln frei bleiben, oder sich bald
*) Vgl. auch die Lähmungsversuche Nothnagel's. Experimentelle Unter-
suchungen über die Functionen des Gehirns. Virchow's Archiv. Bd. 57.
— 52 —
erholen, insbesondere auch nie von secundären centralen Contracturen
befallen werden. Ich habe an einem anderen Orte*) bereits nachge-
wiesen, wie die Häufigkeit und Stärke dieser Contracturen in gradem
Verhältnisse steht zu der Complicirtheit der motorischen Verrichtungen,
welche jedem Körpertheil zufallen, so dass eben Thiere und diejenigen
menschlichen Mechanismen, welche denen der Thiere in nichts über-
legen sind, von dieser Affection verschont bleiben.
Wenn wir nun erkennen, dass beim Hunde doppelseitige centrale
Innervation im umgekehrten Verhältuiss zur Complicirtheit der Auf-
gaben, aber in gradem Verhältniss zu der vorhandenen Zwangsmässig-
keit des Zusammenwirkens der Motoren präformirt ist, so wird es ge-
stattet sein, einen inneren Zusammenhang der angeführten Erscheinungen
anzunehmen. Ebenso wird man in diesen mehr oder weniger doppelten
Innervationsheerden niedere, sich mehr und mehr an den Rückenmarks-
typus anlehnende Organisationen suchen dürfen. —
Meine Absicht war ferner, den Innervationsbezirk jedes einzelneu
Körpertheils in jeder einzelnen Hemisphäre festzustellen. Ich machte
deshalb Versuche an curarisirten Hunden, denen vor der Vergiftung ein
Haupt-Arterienstamm verschlossen war. Leider war in wenigen Minuten
die fragliche Extremität durch collaterale Verbindungen mit vergiftet,
so dass diese Bemühungen vor der Hand scheiterten. Denn wenn man
die anderen Körpertheile von der Reizwirkung nicht ausschliesst, so be-
reiten die in ihnen entstehenden Muskelzusammenziehungen der Beob-
achtung allerlei Schwierigkeiten. —
Nachträglicher Zusatz: Fast sämmtliche dieser zuletzt ange-
führten Versuche wurden mit Unterbindung der rechten Subclavia un-
mittelbar an der Theilungsstelle der Anonyma begonnen, nachdem die
Trachea bereits vorher freigelegt worden war. Wenn nun auch die Zeit
bis zur Mitvergiftung der rechten Vorderextremität für die Erreichung
des eigentlichen Versuchszweckes zu kurz war, so konnten doch einige
anderweite, der Erwähnung werthe Beobachtungen gemacht werden.
Zunächst war das Aussehen des freigelegten Gehirns höchst auf-
fallend. Sowohl die Pia als die Hirnsubstanz erschienen absolut blass,
weiss; die Gefässe der Pia waren stark collabirt, enthielten sehr wenig
Blut und zwar Avar dessen Farbe sowohl in den Venen, als in den Arterien
mehr als hellroth geworden, eigentlich richtiger als rosa zu bezeichnen.
*) Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. Bd. III. Aus einem
Citat Ferrier's ersehe ich zu meiner Freude, dass Dr. Broadbent auf an-
derem Wege als ich zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen ist. Med.
chir. Review. April 1866.
— 53 —
Bei hinreichend starker Vergiftung ging die Erregbarkeit des
Gehirns selbst schnell verloren, schneller als die der intramusculären
Nervenendigungen der rechten Vorderextremität. Der Erregbarkeitsver-
lust schritt in centrifugaler Richtung fort. Wenn nämlich Reizung der
Rinde mit beliebig starken Strömen keine Zuckungen in der rechten
Vorderextremität mehr auslöste, erhielt man solche noch durch Reizung
mit dem tief in die Hirnmasse eingesenkten Lanzenrheophor mit galva-
nischen Strömen, während der Inductionsstrom gelegentlich auch schon
den Dienst versagte.
Endlich benutzte ich diese Gelegenheit um eine sehr interessante
Angabe von Paul Bert*) zu prüfen. Bert hatte an einem curarisirten
Hunde, dessen Leben er 10 Stunden lang unterhielt, gefunden, dass
während dieser ganzen Zeit durch Reizung, nicht nur der sensiblen
Spinalnerven (Ischiadicus, Medianus) sondern auch des Infraorbitalis
Coutractionen der Harnblase auszulösen waren, so dass sich bei
jeder Reizung eine geringe Menge Urin entleerte. Dem entsprechend
konnte Budge**) durch directe Reizung des Rückenmarks und des
Hirnstammes bis hinauf zu den Hirnschenkeln ähnliche, übrigens sehr
eingehend studirte Phänomene produciren. Da die reflectorische Urin-
entleerung von Bert nur an einem Thiere geprüft war, so untersuchte
ich nebenher einige Hunde auf diesen Punkt und fand in der That
Bert 's Angaben vollständig richtig. "Während Reizung der Nerven-
stämme an den nicht aus dem Kreislaufe ausgeschlossenen Extremitäten
bei drei Hunden nicht mit Zuckungen der abhängigen Muskeln beant-
wortet wurde, entleerte sich jedesmal etwas Urin. Derselbe Erfolg trat
ein bei Reizung der Schwimmhäute, der Bauchhaut, der Gesichtshaut,
des Infraorbitalis, nicht aber der Conjunctiva. Bei einem dieser drei
Hunde erfolgte übrigens auch etwas Kothentleerung. Da bei dem
Stande der Vergiftung von einer Wirkung der Bauchpresse nicht die
Rede war, so ist diese reflectorische Defäcation wohl auf peristaltische
Bewegungen zu beziehen. Meinen anderweitigen Untersuchungen lag
diese Frage aber zu fern, um eine weitere Verfolgung zu rechtfertigen.
6. Reflexionen.
Fechner sagt irgendwo: „Die Sicherstellung, Fruchtbarkeit und
Tiefe einer allgemeinen Ansicht hängt überhaupt nicht am Allgemeinen,
sondern am Elementaren. Entsprechend wird es gelten, Elementar-
*) Paul Bert, Observations faites sur un chien curare. Arch. de Phy-
siolog. Bd. II. (1869) 650-51.
**) Budge, P flu eg er 's Archiv 1869. S. 511 ff.
— 54 —
gesetze zwischen Körper und Geisteswelt zu finden, um statt einer all-
gemeinen Ansicht eine haltbare und entwickelte Lehre davon zu ge-
winnen; jene aber werden hier wie dort nu.r auf elementare Thatsachen
begründet werden können." Damit ■ sind die Gründe A^ollkommen an-
gegeben, welche mich abhielten, schon jetzt Folgerungen von grösserer
Tragweite aus den von mir über Veränderung der Reaction angestellten
und oben beschriebenen Versuchen zu ziehen, obschon ich glaube, dass
gerade sie einen Theil, aber allerdings nur einen Theil der elementaren
Thatsachen enthalten, die für eins jener Elementargesetze erfordert
werden. Speculationen über Gehirn- und Geistesthätigkeiten sind mit
Recht in so grossen Misscredit gekommen, dass man in der That auch
mit einem Uebermaass von Vorsicht noch richtig handeln würde.
Wenn wir uns nun von- Anfang an trotz der Versuchung, welche
nicht nur in der Materie an und für sich, sondern auch in der Natur
der von uns gefundenen überraschenden Thatsachen lag, in den vor-
sichtigsten Ausdrücken bewegten und fern von Verallgemeinerungen
hielten, so hofften wir, dass dadurch nach keiner von beiden Seiten hin
Anlass zu irrthümlichen Auffassungen würde gegeben werden. Im
Gegentheil setzten wir voraus, dass das von uns eingeschlagene Ver-
fahren von den nach uns Arbeitenden, wie es gemeint war, aufgefasst
und als zweckmässig adoptirt werden würde. Hätten wir es für nütz-
lich gehalten Consequenzen zu ziehen, so würde uns das um Vieles
leichter geworden sein, als das Aufsuchen der bezüglichen Thatsachen.
Um so weniger erwarteten wir, die unmittelbar aus den Versuchen
resultir'enden Folgerungen angefochten zu sehen. Diese Hoffnungen sind
nicht überall in Erfüllung gegangen, so dass es nöthig wdrd, den früher
gefundenen Thatsachen sowohl als den neu gefundenen einige Erläute-
rungen hinzuzufügen. —
Wir sind in den vorgetragenen Studien sehr wesentlichen Diffe-
renzen zwischen der centi-alen und peripheren motorischen Reaction be-
gegnet. Die beiden Pole wirken hier ganz und gar anders wie dort,
und ebenso ist, wie ich hier wiederhole, der Verlauf der Zuckungen
ein anderer. Sie sind lang hingezogen, etwa wie die eines dem Nerven-
einflusse entzogenen Muskels. Wir hatten schon früher vermieden, eine
bestimmte Meinung darüber auszusprechen, ob wir Zellen oder Fasern,
Endstationen oder Zwischenstationen der psychomotorischen Kette reizten,
und wir enthalten uns dessen noch jetzt. Dagegen hatten wir nachge-
wiesen, dass der Reiz bekannte reflectorische Bahnen nicht beschritte.
Wenn nun jemand den Schluss ziehen wollte, die ursprünglich gereizten
Theile seien wegen jener Differenzen keine centralen Ausbreitungen
der motorischen Nerven, so ist es klar, dass ihm zu einem solchen
— 55 —
Schlüsse jede Basis fehlen würde. Denn es ist durch nichts erwiesen,
dass centrale Fasern oder wenn man will Zellen, die iin Zusammen-
.hange mit peripheren stehen, ebenso reagiren müsseji, wie diese. Es
ist im Gegentheil nach Allem, was wir wissen, wahrscheinlich, dass sie
anders reagiren. Endlich haben die geschilderten Vorgänge überhaupt
keine Analogie in der Peripherie. Man wird sich also zunächst wohl
jnit der Annahme begnügen müssen, dass ihre ßesonderheit auf beson-
deren Eigenschaften des Centralorgans beruht. —
Das ätherisirte Gehirn zeigt ferner eine gewisse oberflächliche
Aehnlichkeit in seinem Verhalten gegen elektrische und gegen Reflex-
reize, während periphere motorische Nerven durch die Einverleibung
des Aethers bekanntlich nicht afficirt werden. Wenn man nun deshalb
annehmen wollte, der Reizeffect käme auf dem Wege eines unbe-
kannten hypothetischen Reflexbogens zu Stande, so wäre das nicht
minder falsch, selbst wenn vollkommen gleiches Verhalten des ätheri-
sirten Gehirns gegen den elektrischen und den Reflexreiz bestände, w-as
keineswegs der Fall ist, wie ich oben ausführlich nachgewiesen habe.
Das Aufhören der Reflexbew'egung bedeutet einfach Ausfallen des-
jenigen centralen Mechanismus, dessen der äussere Reiz zur Ueber-
tragung bedarf. Ein ähnlicher Sinn, nur für ein anderes Organ, ist
dem Aufhören der elektrischen Erregbarkeit der Centren unterzulegen.
Nun sehen wir, dass die einzelnen Centralapparate durch die verschie-
denen Narkotica selten sämmtlich gleichzeitig oder in gleichem Grade,
sondern in den verschiedensten Gruppirungen ausser Thätigkeit gesetzt
werden. Das Athmungscentrum z. B. functionirt in vielen Fällen bis
zuletzt. In anderen Fällen wird es dagegen gleich zu Anfang afficirt,
wie im Menschen bei Verunreinigung des Chloroforms. An Hunden zu-
mal ist Chloroformtod gleich bei Beginn der Inhalation sehr gewöhn-
lich. Grade die Centralapparate der bewussten, willkürlichen Bewegung
pflegen aber bei der Chloroformirung und Aetherisirung schon vor den
Reflexapparaten ihre Function einzustellen. Es würde also schon des-
halb Nichts bewiesen sein, wenn schliesslich beide auch gegen den
elektrischen Reiz gleichmässig unempfindlich gefunden würden. Nun
habe ich aber nachgewiesen, dass die Grosshirncentra schwerer und
ungleichmässiger, jedenfalls also in anderer Weise unempfindlich werden,,
als die eigentlichen Reflexcentra, soweit man überhaupt die ange-
wendeten Reizmethoden nebeneinander stellen kann. Alles in Allem
bedeuten also die vorhandenen Erscheinungen nach der einen wie nach
der anderen Seite hin nichts Anderes als zeitweise Eliminirung einer
Anzahl von Centralapparaten, die wir selbst durch das Experiment nur
höchst unvollkommen abgrenzen können. Damit glaube ich hinreichend
— 56 -
bewiesen zu haben, dass man vorläufig und bis neue unzweideutige
Thatsachen beigebracht sein werden, mit der Deutung vorsichtiger Weise
nicht weiter gehen kann, als wir gegangen sind, während die Mit-
wirlfung von reflectorischen Vorgängen schon durch das, was wir wissen,
ausgeschlossen scheint. —
In unserer mehrfach citirten Abhandlung (S. 32, 33) hatten wir
die Resultate zweier an Hunden ausgeführten, streng localisirten Ex-
stirpationsversuche beschrieben. Die Verletzung war in dem von uns
sogenannten Centrum für die rechte Vorderextremität angebracht worden.
Der Erfolg war, dass die Thiere die genannte Extremität zwar noch
gebrauchten, dass sie dieselbe aber unzweckmässig aufsetzten und, wie
sich aus allerlei Versuchen schliessen liess, nur noch ein mangelhaftes
Bewusstsein von ihren Zuständen besassen. Ich selbst habe diese Ver-
suche bereits im Jahre 1870 mit ähnlichem Erfolge vervielfältigt und
variirt.
Nothnagel*) hat in neuester Zeit von einer gleichen Idee aus-
gehend, aber nach einer anderen Methode, fast das gesammte Grosshirn
localisirten Verletzungen unterworfen und ist damit zu einer Reihe
interessanter Resultate gelangt. In der ersten Abtheilung seiner Arbeit
beschreibt er nun auch die Erfolge von Läsionen der von uns gewählten
Region. Ich constatire mit Freuden, dass die Schilderung NothnageTs
der unsrigen auf das Haar gleicht. Die einzigen scheinbaren Differenzen
bestehen darin, dass die von uns hervorgebrachten Krankheitssymptome
länger anhielten, und dass Nothnagel andererseits auch die gleich-
namige Hinterextremität mit . betroffen fand. Der erste Punkt erklärt
sich einfach aus der in Folge der Trepanation bei uns grösseren Er-
heblichkeit der Verletzung. Mitbetheiligung der hinteren Extremität
habe ich allerdings ebenfalls, indessen nicht constant und sehr vorüber-
gehend beobachtet. Wenn man die von mir in der vorliegenden Ab-
handlung S. 50 angeführten Thatsachen berücksichtigt, so wird man
das begreiflich finden.
Ungeachtet dieser so gut wie vollständigen üebereiustimmung der
Versuchsergebnisse und ungeachtet dessen, dass Nothnagel unsere
Auffassung des gesetzten pathologischen Zustandes vollkommen adoptirt,
bestehen aber Meinungsverschiedenheiten in der Deutung zwischen
Nothnagel und uns, die auf Missverständnissen beruhen und die ich
lebhaft bedauere.
Wir hatten nicht ohne Absicht gerade an den Schluss unserer
Arbeit folgenden Satz gestellt: „Es geht ferner aus der Summe aller
*) A. a. 0.
— 57 —
unserer Versuche hervor, dass keineswegs, wie Flourens und die
Meisten nach ilini meinten, die Seele eine Art Gesammtfunction der
Gesammtheit des Grosshirns ist, deren Ausdruck man wohl im Ganzen
aber nicht in seinen einzelnen Theilen durch mechanische Mittel aufzu-
heben vermag, sondern dass vielmehr sicher einzelne seelische
Functionen, wahrscheinlich alle, zu ihrem Eintritt in die
Materie oder zur Entstehung aus derselben auf circumscripte
Centra der Grosshirnrinde angewiesen sind." Denn in der
That folgt die Wahrheit dieses Satzes mit aller wünschenswerthen
logischen Schärfe aus unseren Versuchen und wir betrachteten diese
Wahrheit als die werthvoUste Errungenschaft unserer Arbeit.
Wenn Reizung bestimmter Stelleu bestimmte Muskeln in Bewegung
setzt, und Zerstörung dieser Stellen die Innervation derselben Muskehi
alterirt, wenn Reizung und Zerstörung anderer Stellen ganz und gar
keinen Einfiuss auf die Muskelinnervation ausübt, so scheint mir das
hinreichend beweisend zu sein für den Satz, dass die einzelnen Theile
des Grosshirns nicht gleichwerthig sind; nnd diesen Satz wollten wir
beweisen.
Nothnagel wendet sich hingegen wieder der alten Ansicht zu,
obwohl seine Versuche gerade unsere Ansicht durch Vervollständigung
des Beweismaterials unterstützen. Er kommt zu dem Schlüsse, „dass
eine strenge Localisation der geistigen Functionen auf be-
stimmte Ceutren der Grosshirnrinde nicht vorhanden ist."
Ich setze den Fall, Nothnagel hätte neue Beweise für diesen Satz
beigebracht, so würde ich ihm dennoch nicht zustimmen können, son-
dern irgendwo einen Irrthum vermuthen und nicht ruhen, bis ich den-
selben gefunden hätte. Denn die Ansicht Flourens' ist a priori un-
möglich, wenn unsere sonstigen Anschauungen von den Functionen
dieser und besser bekannter Theile des Nervensystems richtig sein
sollen. Sie setzt voraus, dass wir heute Ganglien und Fasermassen
zum Gehen gebrauchen können, die uns gestern nicht zum Gehen, son-
dern vielleicht zum Hören oder Riechen, jedenfalls zu anderen Zwecken,
gedient haben. Sie setzt voraus, dass die centralen Endorgane eines
Nerven, z. B. des Hörnerven, plötzlich zum Theil ihrer ursprünglichen
Function entfremdet und zu etwas Anderem, z. B. zur Muskelbewegung,
verwendet werden könnten. Und was w^ürde inzwischen aus dem Hören?
Oder aber, um uns eines ganz abstracten Ausdruckes zu bedienen, sie
setzt voraus, dass das materielle Substrat für sämmtliche nach Innen
und sämmtliche nach Aussen gerichtete Functionen, sowie für etwaige
Zwischenfunctionen ein einheitliches sei, obwohl schon die morpholo-
gische Betrachtung lehrte, dass jenes Substrat als ein Complex von
— 58 —
Endorgauen peiüpherer Mechanismen verschiedenen Werthes aufzu-
fassen ist.
Indem wir den exacten Beweis führten, dass die VorsteHung, die
man sich von vornherein bilden muss, der Wirklichkeit entspricht,
glauben wir einen Schritt vorwärts gethan zu haben. Durch seine Ver-
suche thut JSIothnagel diesen Schritt mit uns, durch seinen Schluss
würde er ihn rückwärts thun, wenn er diesen bewiesen oder ihn in
dem Sinne Flourens' gezogen hätte.
Der einzige von Nothnagel erbrachte Beweis besteht aber in dem
mir freilich schon damals bekannten Umstände, dass die gesetzten
Krankheitssymptome sich allmählich verlieren.*) Daraus lässt sich aber
nicht das Geringste schliossen, denn der sich eröffnenden Möglichkeiten
sind zu viele. Eine sehr einfache Annahme ist z. B. die, dass man
durch den Eingriff nicht das ganze Centrum (nehmen wir an, es sei ein
Centrum), sondern nur einen Theil zerstört hat, und dass der Rest
nach geschehener Heilung zur Ausfüllung der Function hinreicht. Wenn
man in Rechnung zieht, dass Nothnagel durch kleinere Läsionen drei-
tägige, und vi'ir durch etwas grössere Läsionen achtundzwanzig Tage
und länger dauernde Störungen producirten, so drängt sich dieser Ge-
danke allerdings um so mehr auf, als eben durch den Eingriff zweifel-
los die Nachbarregionen des Heerdes in geringerem, also leichter heil-
barem Grade alterirt werden. Dennoch bin ich weit entfernt, ihn für
den einzig richtigen auszugeben.
Ferner scheint Nothnagel das Flourens'sche Werk nicht im
Original auf diesen Punkt hin eingesehen zu haben, denn ich glaube
doch nicht, dass er dasselbe meint wie Flourens. Das Missverständ-
niss ist wahrscheinlich aus einer verschiedenen Auffassung des W^ortes
„circumscript" hervorgegangen. Wir haben dasselbe im weitesten Sinne
gefasst**), während Nothnagel ihm einen sehr engen Sinn unterlegt.
Wir haben nicht daran gedacht, in dieser Beziehung irgend welche
Grenzen für irgend ein Ceutrum anzugeben, noch die Möglichkeit zu
behaupten oder auszuschliessen, dass ein Solches doppelt vorkäme,
*) S. auch die Abhandlung: üeber die Auffassung einiger Anomalien
der Muskelinnervation. I.
**) Man vergleiche dazu den Text unserer Abhandlung an anderen
Stellen, z. B. S. 17 u. 29. Der mit allem Vorbehalt gebrauchte Ausdruck
,, Centrum" hat nur zur Bezeichnung der erregbarsten Stelleu gedient. Dass
die zwischen diesen Centren liegenden weniger erregbaren Theile ebenfalls in
Beziehung zur Muskelbewegung ständen, haben wir zwar als selbstverständ-
lich angenommen (S. 28), haben aber ans Mangel an einem directen Beweise
.nicht ausführlicher darüber gehandelt.
— 59 —
sondern wir haben nur den Satz aufstellen wollen und wir erhalten ihn
aufrecht, dass die einzelnen in Frage stehenden Hirnfunctionen sieh
bestimmter, irgendwo aber wohlbegrenzter Hirnorgane als centraler
Eudorgane peripherer Nervenausbreitungen bedienen, sowie dass diese
Organe nur für jene und keine anderen Functionen tauglich sind und
bleiben.
Auf eine ähnliche Weise erledigt sich auch der Zweifel Noth-
nagel's, ob wir eine directe motorische Lähmung annehmen oder
nicht? Wir hatten nämlich nach einer detaillirten Beschreibung der
vorhandenen Bewegungsstörung gesagt: „Das Thier hatte die Möglich-
keit, die Vorderextremität zu bewegen nur unvollkommen verloren."
Allerdings war ihm die Möglichkeit sein Bein normal zu bewegen aus
den angeführten Gründen verloren gegangen. Ob indessen die grobe
Kraft eine Einbusse erlitten hatte, darüber haben wir uns überhaupt
nicht auslassen wollen. Denn es schien uns zweifelhaft und ohne
weitergehende Deductionen kaum zu entscheiden, ob die nachweisbare
und von uns angeführte geringe Schwächung einzelner Functionen ledig-
lich von der Beeinträchtigung der Vorstellungen über die Zustände
dieses Beines abhinge, oder ein selbstständiges Symptom sei.
Freilich hatten wir hieran einen Satz geknüpft, der mit dem, was
von uns auf Seite 13 der Abhandlung recapitulirend über die centralen
Stätten der Muskelbewegung gesagt war*), wohl einen Schluss auf
unsere Ansicht über den Zusammenhang der Erscheinungen gestattete,
und wie mir scheint unter einer bestimmten Voraussetzung auch
eine bis zu einer gewissen Grenze unanfechtbare Erklärung in sich
schliesst. Dieser Satz lautet: „Es bestand noch irgend eine motorische
Leitung von der Seele zum Muskel, während in der Leitung vom Muskel
zur Seele irgendwo eine Unterbrechung vorhanden war. Möglicherweise
betraf diese Unterbrechung die Endstation der hypothetischen Bahn für
den Muskelsinn."
Die erwähnte Voraussetzung war für uns damals aber noch nicht
hinreichend durch den Versuch erwiesen, sie besteht in dem exacteu
und durch den Lihalt der vorliegenden Abhandlung gelieferten Nach-
weise, dass die Erregung jener basalen Mechanismen auch von der
gleichnamigen Hirnhälfte aus geschehen könne. In Ermangelung dieses
*) In den meisten Theilen des Hirnstammes, dann auch hinab bis in das
Rückenmark giebt es eine Anzahl vorgebildeter Mechanismen, die einer nor-
malen Erregung in ihrem Ganzen auf zwei Bahnen fähig sind. Die Eine ver-
läuft von der Peripherie aus — die Bahn des Reflexes; die Andere strahlt
vom Centrum her ein — die Bahn des Willens, der seelischen Impulse.
— 60 —
Nachweises gebot die Vorsicht, unserer Meinung jene abstracto Form zu
geben. Und dennoch bedauere ich noch, damals das Wort „Muskel-
siun" gebraucht zu haben, insofern dasselbe von jeher zu allerlei Miss-
verständnissen Veranlassung gegeben hat. Nothnagel hat indessen in
weit bestimmterer Form die fraglichen Symptome als Störungen des
„Muskelsinnes" bezeichnet. Dies bestimmt mich, meine eigene Auf-
fassung derselben näher zu präcisiren, obwohl ich aus der bisher inne
gehaltenen Reserve nur ungern, selbst um wenige Schritte heraustrete.
Denn in jede Rechnung mit diesen uns mehr und mehr bekannt werden-
den Factoren, drängt sich eine unbekannte und kaum zu eliminirende
Grösse — der Wille — ein. Ihm gegenüber stehen wir, wie zu den
Elementarkräften, wir kennen nur seine Erscheinungsweisen, nicht sein
Wesen und seine innere Begrenzung.
Wir hatten den Zustand unserer Versuchsthiere folgendermaassen
charakterisirt: „sie hatten offenbar imr ein mangelhaftes Bewusstsein
von den Zuständen dieses Gliedes, die Fähigkeit sich vollkommene
Vorstellungen über dasselbe zu bilden, war ihnen abhanden ge-
kommen," und wir konnten dies mit Sicherheit schliessen aus der Ana-
lyse der Bewegungsstörungen, die nach Zertrümmerung derjenigen
Rindenstelle entstanden, deren Reizung die nun gestörten Muskeln in
Bewegung setzte. Die nun zu beantwortende Frage lässt sich sehr ein-
fach folgendermaassen präcisiren: Ist das ausgeschlossene Centrum
dasjenige Organ, welches die fragliche Muskelbewegung
allein beherrscht, oder giebt es noch neben dem allgemeinen
Willensorgane — ein solches vorausgesetzt — ein anderes
centrales motorisches Organ innerhalb derselben Auslösungs-
kette?
Wir können, indem wir uns übrigens der äussersten Kürze*) be-
fleissigen, auf bekannte Erfahrungen über massige Bewegungen mit
nicht ermüdeten Muskeln zurückgehen. Man weiss, dass die durch die
Muskelaction in unserem Bewusstsein entworfenen Bewegungsbilder
ausserordentlich scharf sind. Ein geschickter Maler würde z. B. eine
von ihm selbst bei geschlossenen Augen eingenommene Positur genau
wiederzugeben im Stande sein. Dennoch weiss das Bewusstsein von
den bewegenden Factoren Nichts; auch die durch unmittelbare An-
schauung oder anderweites Studium gewonnenen Vorstellungen fallen so
sehr in ein anderes Gebiet hinein, dass sie zur Erkennung der jedesmal
*) Vgl. hierzu meine Abhandlungen: üeber die Auffassung einiger Ano-
malien der Muskelinnervation. I. und: Ueber die beim Galvanisiren des
Kopfes u. s. w.
— 61 —
in der Peripherie wirkenden Bewegungskräfte wenig genug beitragen.
Diese sind für die einzelnen Bewegungsformen bisher noch nicht einmal
hinreichend bekannt und müssen jedesmal erst durch Induction ge-
funden werden. Dazu hilft z. B. das Zufühlen mit dem Finger weit
mehr, als die noch so oftmalige Wiederholung der Bewegung.
Gleichwohl ist es klar, dass sehr genaue Vorstellungen über die
Zustände der Muskeln entstehen müssen — das lehren uns eben jene
genauen Bewegungsbilder, — und gleicherweise ist es klar, dass diese
Bewegungsbilder vorwiegend auf die Perception der Muskelzustände
weniger also auf Gelenke, Haut u. dgl. zurückzuführen sind — das lehren
uns die bekannten Bewegungstäuschungen bei den Augenmuskellähmungeu.
Wenn nun unsere Vorstellungen über die Muskelzustände des eigenen
Körpers dennoch nicht die Schwelle des klaren Bewusstseins über-
schreiten und uns hierdurch den Einblick in das wahre Wesen der Vor-
gänge gestatten, so ist dies auf ein allgemein gültiges Gesetz zurück-
zuführen. Wir vermögen ganz allgemein von Innen heraus die Zustände
der einzelnen Organe nur insoweit zu erkennen, als es für die Benutzung
derselben zur Erhaltung des gleichmässigen Flusses der von ihnen ab-
hängenden Reihe von Lebenserscheinungen erforderlich und ausreichend ist.
Innerhalb der damit gezogenen Grenze bildet aber die Uebermitt-
lung von solchen, grossentheils unbewussten Vorstellungen über jede
einzelne Bewegungsphase eine der nothwendigen Vorbedingungen für
den normalen Ablauf der ihr folgenden Phase, und man hat hiernach,
wenn man auch die scheinbare Muskelruhe als eine Bewegungsphase
auffasst, ganz allgemein in den Muskelzuständeu eine der verschiedener],
Ursachen zu erkennen, welche den Organismus zu den willkürlichen
Bewegungen veranlassen und diese selbst reguliren. Nehmen wir an,
es gäbe keine anderen Sinnesreize und Wahrnehmungen, und wir hätten
es Aäelmehr mit einer einfachen, mit dem Impulse versehenen Bewegungs-
maschine der gedachten Art zu thun, so können wir uns auf Grund
des eben Entwickelten sehr wohl vorstellen, dass eine solche zur Aus-
führung zw^eckmässiger Bewegungen ausreicht.
Da wir nun in den von uns bezeichneten Rindentheileu ein Organ
erkennen, welches mit seiner Function den geschilderten Theil des psy-
chischen Vorganges deckt, so sehe ich nicht die Nothwendigkeit,
dass der Wille als Solcher noch ein besonderes und anderes motorisches
Organ in sich schliesse. Wenn in Folge des Zusammenwirkens einer
Anzahl neu anlangender oder aufbewahrter Sinneseindrücke die Forde-
rung einer Bewegung entsteht, so gewinnt diese Forderung niemals ihre
Gestalt etwa in dem Antriebe: innervire Muskel a, &, c, damit Arm n
den Winkel x mache, sondern es heisst „nimm", „schreibe", „sprich"
— 62 —
u. s. w. Die Organe, welche wir mm kemien, scheinen mir zu ge-
nügen, um das normale Vonstattengehen der so einmal in Fluss ge-
brachten Bewegung im Allgemeinen zu begreifen. Im Einzelnen bestehen
freilich noch Unklarheiten genug.
Brüc-ke^) hat vor Kurzem die von uns erzielten Bewegungsstörun-
gen in bündiger Weise der Aphasie an die Seite gestellt. Wenn man
den Ablauf des Redens und seine Störung durch jene einzige noch ver-
folgbare Rindenerkrankung sich vergegenwärtigen will, so braucht mau
in der That nur die entsprechenden Begriffe in die eben vorgetragene
Erwägung einzufügen. 9)
Die in der vorstehenden Arbeit beschriebenen Untersuchungen wur-
den zum grössten Theile in dem Zimmer der Assistenten des anatomi-
schen Instituts zu Berlin angestellt. Ich sage diesen Herren, insbe-
sondere Hrn. Fritsch, sowie dem Dirigenten des Instituts Hrn. Geh.
Rath Reichert für die mir auf lange Zeit bereitwillig gewährte Ueber-
lassung dieses Arbeitsraumes meinen verbindlichen Dank. Ebenso kann
ich nicht unterlassen Herrn Dr. Fischer, derzeit klinischem Assistenten
in Erlangen und Hrn. stud. Prawitz, welche theils im Winter-, theils
im Sommersemester 1872-73 diesen Untersuchungen mit grosser Auf-
opferung an Zeit und Mühe assistirten, auch an dieser Stelle meinen
Dank auszusprechen.
Anmerkungen.
7) Ich beziehe diese combinirten Reizeffecte nicht mehr auf den Linsen-
kern, sondern auf die innere Kapsel.
8) ,,Es haben- diese Versuche einigermassen einen Schlüssel zu einer
anderen räthselhaften Erscheinung gegeben, die man vor längerer Zeit beob-
achtet hat, nämlich der Erscheinung der Aphasie." ,,Wenn man das
in derselben Weise betrachtet, wie diese Bewegungserscheinungen, so kann
man sich sagen: Die Zunge des Menschen ist nicht gelähmt, er hat auch im
Allgemeinen noch seinen Verstand, aber es fehlen ihm die Mittelglieder
zwischen seinen Vorstellungen und zwischen den Sprachbewegungen. Er kann
die mit seinen Vorstellungen verknüpften Impulse nicht auf diejenigen Nerven-
bahnen übertragen, welche eben die Zunge in die entsprechenden Bewegungen
versetzen können, und darin ist dieser an und für sich so räthselhafte und
seltsame Zustand der Aphasie begründet." Ernst Brücke, Vorlesungen über
Physiologie, Bd. II S. 56, 57. 1873.
9) Die Schicksale, welche meine Deutung der hier besprochenen Er-
scheinungen erfahren haben, haben mir Veranlassung zur Einschiebung eines
später folgenden Aufsatzes gegeben.
IV. lieber Production von Epilepsie durch experimentelle
Verletzung" der Hirnrinde.
Die epileptiformen Anfälle, von denen einige Versuchstliiere der
ersten Reihe dieser Untersuchungen nach localisirter elektrischer Rei-
zung der Hirnrinde befallen wurden, regten eine interessante Frage an.
Durch die Versuche von Sir Astley Cooper, Kussmaul und Tenner,
Nothnagel u. A., sowie durch klinische Forschungen, unter denen
namentlich die von Schröder van der Kolk hervorzuheben sind, hat
die Ansicht, dass der epileptische Insult als ein von der Medulla ob-
longata aufsteigender Gefässkvampf zu deuten sei, eine genügende und
für eine grosse Zahl von Fällen befriedigende Basis gefunden.
Für eine andere zur Epilepsie gehörende Gruppe befriedigt jene
Erklärung aber nicht. Das experimentelle Material, welches ich zur
Aufklärung dieser Fragen bringen kann, ist zu klein, um ein genaueres
Eingehen auf Einzelheiten zu rechtfertigen. Ich beschränke mich des-
halb darauf, an diejenigen Krampf formen anzuknüpfen, welche unter
einem, den experimentell hervorgerufenen Krämpfen ähnlichen Bilde
auftreten.
Eine Klasse von Epileptikern hat schon vor Zeiten die besondere
Aufmerksamkeit der Beobachter erregt: ich meine diejenige, bei denen
locale Krämpfe in einem Gliede erst die Krankheit, später als moto-
rische Aura den Anfall ankündigen. Von höchstem Interesse schien
mir stets ein von Romberg*) citirter Fall Odier's**). In Folge eines
Säbelhiebes auf das linke Scheitelbein hatten sich, wie es scheint,
Osteophyten der Tabula vitrea und eine Apfelgrosse Geschwulst in den
äusseren Schichten dieser Theile des Ceutralorganes entwickelt. Bei
Lebzeiten bestanden krampfhafte Zusammenziehungen der Muskeln des
kleineu Fingers der rechten Hand, die sich allmählich auf die übrigen
*) Romberg, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 3. Aufl. S. 691.
**) Odier, Medicine pratique p. 181.
— 64 —
Muskeln des Gliedes ausdehnten und endlich die jedesmalige Einleitung
zu einem epileptischen Anfalle machten. In neuerer Zeit hat Hugh-
lings Jackson*) mit Vorliebe dieses Thema bearbeitet und eine
ziemlich reichhaltige Zusammenstellung von eigener und fremder
Casuistik, die ich der Aufmerksamkeit empfehle, gegeben. Wenn bei
derselben auch leider meist der Sectionsbefund fehlt, so ist doch überall
soviel klar, dass die von ihm beschriebenen Anfälle localisirter Natur,
ähnlich wie die Odier's, nicht direct etwas mit dem verlängerten
Marke zu thun haben können. Vielmehr wird man zu der Annahme
gedrängt, dass sie auf Läsionen des Grosshirns, wahrscheinlich der
Rinde zurückgeführt werden müssen.
Vergleichen wir damit nun auch die von Wem her und mir publi-
cirten Fälle,**) berücksichtigen wir die Entwickelung jedes einzelnen
durch Elektrisirung der Rinde hervorgerufenen Anfalles, ferner die Art
und Weise wie sich die Epilepsie nicht selten mit dem Irresein com-
plicirt, so fragte es sich, ob man nicht durch künstliche Pro-
duction von Krankheitsprocessen auf der Hirnrinde spon-
tane, vielleicht habituelle Epilepsie würde hervorbringen
können.
Denn unsere Krankheitsfälle, insbesondere der Meinige, zeigten
schon mancherlei Symptome, welche stark an die Epilepsie erinnerten.
Ich verweise namentlich auf die in dieser Abhandlung ausführlich ge-
schilderten vasomotorischen Erscheinungen. — Bei der Elektrisirung
der Hirnrinde begann jeder einzelne Anfall mit Zuckungen in den vor-
her künstlich innervirten Muskeln, um sich von ihnen aus auf das
übrige System auszubreiten, wie es von Odier, Hughlings Jackson
und Anderen geschildert wird. — Für einzelne Formen des epileptischen
Irreseins endlich kann man sich nicht mit einer Auffassung begnügen,
welche dem grossen Gehirne in der Aufeinanderfolge der Erscheinungen
die zweite Stelle anweist.
In vielen Fällen mag freilich der vom verlängerten Mark her auf-
steigende Anfall so mächtige Erschütterungen in den psychischen Or-
ganen hervorbringen, dass deren Gefüge der Reibenfolge von Insulten
*) Hughlings Jackson, A study of convulsions. Separatabdr. aus
Transactions of the St. Andrews Medic. Grad. Associat. Vol. IIL 1870. Ferner
The West Riding lunatic Asyl. Medic. Reports. Vol. III. 1873 und an anderen
Orten. (Vgl. auch meine Lecture: Hughlings Jackson und die motorischen
Rindencentren im Lichte physiologischer Forschung. Berlin 1901 und Brain,
Winter Number, 1900.)
**) Vgl. die unten folgende Abhandlung: Ueber äquivalente Regionen
am Gehirn des Hundes, des Affen und des Menschen.
— 65 —
nicht widersteht. Aber diejenigen Fälle, bei denen die psychische Er-
krankung der epileptischen, psychische Alterationen den einzelnen An-
fällen vorhergehen, machen es wahrscheinlich, dass auch der umge-
kehrte Weg, der vom Grosshirn nach der Medulla obh)ngata beschritten
werden kann.
Allerdings weist alles darauf hin, dass auch bei dieser Reihenfolge
der Erscheinungen das eigentliche Wesen des Anfalles im vasomotori-
schen Krämpfe besteht. War es aber möglich, die auslösende Kraft auf
einen chronischen Reiz im Grosshirn experimentell zurückzuführen?
Auf diese Frage werden die nachstehenden Versuche Antwort geben.
Versuch I. Einem Ideinen, schwarzen, weiblichen Pinscher wurde am
2. IV. 70 in der Morphiumnarkose nach Aufsetzung einer Trepankrone ein
linsengrosses Stück des Centrums für die rechte Vorderextremität ex-
stirpirt und die Hautwunde alsdann durch Knopfnähte vereinigt. Nach be-
endigter Operation wurden die früher beschriebenen Störungen des Muskel-
bewusstseins der rechten Vorderpfote beobachtet. Die Nase war den Tag über
kalt, Schwanz eingeklemmt.
3. IV. Nase warm. Puls 140, unregelmässig, Respiration sehr tief, 18.
Frostschauder, Schwanz zwischen den Beinen; frisst jedoch etwas.
4. IV. Hat noch Fieber, frisst und säuft jedoch, die Wunde per primam
geschlossen. Die Anomalieen der Bewegungen der rechten Vorderpfote sind
noch mehr ausgesprochen als an den vorigen Tagen.
5. IV. Kein Fieber mehr, leiser Druck auf die etwas geschwollene Ope-
rationsstelle sehr empfindlich und von Zuckungen in der rechten Vor-
derextremität gefolgt, nachher liegt der Hund eine Weile apathisch da.
6. IV. Die Störungen des Muskelbewusstseins beginnen etwas zurückzu-
treten.
16. IV. Scheinbar ganz gesund und trächtig; nur die auf Seite 32, 33
erwähnten Störungen des Muskelbewusstseins noch vorhanden.
Wirft im Mai drei Junge.
Am 26. VI. nachdem er sich bis dahin ganz wohl befunden hat, ein
me-hrere Stunden dauernder, epileptischer Anfall; nachher ist er
sehr verstört, schreckhaft und frisst nicht. Derartige Anfälle wiederholen sich
von da an täglich oder mindestens alle zwei Tage, manchmal treten sogar
mehrere Anfälle an einem Tage auf. Ausserdem nahm ein, bereits seit Mitte
Juni bemerkter Räudeähnlicher Ausschlag immer mehr zu, so dass der Hund
am 8. Juli getödtet wurde.
Section : An Stelle des heraus trepanirten Knochenstücks eine sehr derbe
bindegewebige Masse die der Haut, den Rändern des Knochens und der Dura,
sowie dem Gehirne fest adhärirte; darunter ein bräunlicher Erweichungsheerd
von einer weissen, erweichten fast Haselnussgrossen Partie umgeben. Ander-
weitige Veränderungen, insbesondere an den Häuten fehlen.
Versuch IL Einem kleinen Hunde wurde am 30. VIR 71 das durch
Hitzig, Gesammelte Abhandl. I. Tlieil. F.
— 66 —
Trepanation frei gelegte Centrum für die rechte Vord erextremität
kauterisirt,*) ohne dass die Pia vorher abgetragen worden wäre; sodann
wurde die Wunde mit xiusnahme des unteren Wundwinlcels zugenäht. Un-
mittelbar nach der Operation zeigt das Thierchen auf dem rechten Vorder-
beine die gewöhnlichen Störungen des Muslcelbewusstseins, ausserordentlich
stark ausgeprägt. Ausserdem werden etwa Y2 Stunde lang absatzweise,
tonische Extensionsbewegungen der Extremität beobachtet. Die
hintere Extremität zeigt geringe Störungen des Muskelbewusstseins.
31. VIT. Kein Fieber, Fresslust, das Secret hat freien Abfluss.
2. VIII. Das Hinterbein zeigt nichts Abnormes mehr, das Vorderbein wie
früher.
3. VIII. Vorderbein wird schon nicht mehr so ungeschickt aufgesetzt,
die Wunde ist heute zum Theil aufgebrochen.
18. VIII. Nach längerer Eiterung die Wunde allmählich geheilt, die
Störungen des Muskelbewusstseins auch in der vorderen Extremität ziemlich
geschwunden. Nur ist dieselbe immer etwas mehr nach innen rotirt, so dass
das Kniegelenk mehr nach aussen vom Rumpfe absteht, ausserdem rutscht das
Thier stets mit dem rechten Beine nach aussen und vorn davon, wenn es,
durch die Leine zurückgehalten, nach der Speise drängt. Plötzlich ein
wohlcharakterisirter, circa eine Viertelstunde dauernder epi-
leptischer Anfall. Nach Beendigung desselben stundenlang
Krämpfe in der rechten Vorderextremität.
In den nächsten Tagen ist der Hund ausserordentlich schwach, hält die
Vorderextremität meist gegen den Leib gezogen und verweigert die Nahrung
gänzlich.
21. Vm. Tod.
Section 22. VHI. : Dura und Pia der Convexität links sehr injicirt,
Schädelhaut an der Operationsstelle durch eine bindegewebige Masse mit dem
Gehirne verwachsen. Andere Verwachsungen, Auflagerungen oder Ergüsse
fehlen. An der Operationsstelle weisse Erweichung, in der Mitte keilförmiger
brauner Heerd.
Versuch III. Einem kleinen braunen Hunde wurde am 13. IX. 71 ein
Theil des durch Trepanation freigelegten Centrums für die rechte Vor-
derextremität exstirpirt und die Wunde durch die Naht vereinigt.
14. IX. Aeusserst heftige Krämpfe, an denen sich immer alle
Muskeln der rechten Körperhälfte, die Kau- und Pvespirations-
muskeln und die Augenmuskeln beider Seiten betheiligen, so dass
ein nach unten gerichteter Nystagmus entsteht. Die Muskeln der linken
Körperhälfte betheiligen sich ausnahmsweise. Die Anfälle werden durch kurzes
Geschrei und Bellen eino-eleitet und unterbrochen, während derselben Schaum
*) Ueber die von mir angewandte Methode der chemischen und mecha-
nischen Reizung, sowie deren Resultate werde ich an einem anderen Orte aus-
führlicher berichten. ^^)
— 67 —
vor der Schnauze. Auf die Pupillen wurde nicht geachtet. Tod an demselben
Tage um 2 Uhr Mittags.
Section um 3 Uhr. Etwas aber sehr wenig blutig-wässerige Flüssigkeit
zwischen Schädel und Haut, so dass nicht einmal eine Anschwellung der
Stelle äusserlich wahrzunehmen war. Die Schädelwunde durch einen geringen
Prolapsus cerebri ausgefüllt.
Im Gehirn selbst und an den Häuten mit Ausnahme einer Ideinen rothen Er-
Aveichung an der Operationsstelle absolut nichts, nicht einmal stärkere Injection.
Versuch IV. Einem etwa 5 Monate alten kleinen Hunde wurde am 30.
IV. 73 ein Theil des durch Trepanation freigelegten Centrums für die
Hinterextremität exstirpirt und die Wunde durch die Naht vereinigt.
Störungen des Muskelbewusstseins sind nach der Operation sehr unbedeutend,
übrigens in der Vorderextremität noch eher deutlich als an der hinteren Ex-
tremität.
Die Wunde heilt unter Eiterung langsam.
16. V. Anfall von wohlcharakterisirten , epileptischen Kräm-
pfen, der sich am 17. und von da an bis zum 18. Morgens, wo der
Tod erfolgte, fast unaufhörlich wiederholte.
Section: 18. V. Hautwunde fast vernarbt. An der Stelle des Knochen-
defects noch weiches Granulationsgewebe. Die Dura der rechten Schädel-
hälfte nirgends adhärent und auch sonst durchaus normal. Die Dura der
linken Schädelhälfte überall, besonders nach hinten zu weisslich getrübt,
erheblich verdickt, an der Innenfläche mit sehr zahlreichen kleineren und
grösseren Blutextravasaten und Gefässramificationen bedeckt, jedoch der Pia
nicht adhärent. Beim Anschneiden der Merabr. atlanto-occip. fliesst eine
nicht erhebliche Menge Cerebrospinalflüssigkeit und etwas Blut ab. Ueber
dem linken Kleinhirn dicht am Tentorium und der Mittellinie ein etwa 2,5 cm
langes, 3 mm breites Coagulum. Die Pia der Basis ebenfalls getrübt, um die
grösseren Gefässe herum etwas serös infiltrirt.
Entsprechend der Trepanationsstelle gelbliche Färbung der Rinde und
im Centrum derselben ein braunröthlicher 4 — 5 mm in die Tiefe reichender
Infarct. In den Ventrikeln keine Flüssigkeit, deren Ependym rein weiss.
Bei drei von diesen vier Versuch stilleren liegen die Verhältnisse
so klar und uncomplicirt wie möglich. Der Heerd in der Rinde zog
nach kürzerer oder längerer Zeit den epüeptiformen Anfall nach sich,
die Section ergab makroskopisch keine anderen Resultate, welche das
Krankheitsbild hätten erklären können. In dem vierten Falle fand sich
freilich eine frische hämorrhagische Meningitis, indessen geht aus dem
Befunde der drei anderen Sectionen hervor, dass die Entzündung der
Häute nicht den nothwendigen Factor ausmacht, sondern als accidentell
zu betrachten ist.
Ich glaube, dass die Resultate dieser Versuche in der That dazu
ausreichen, die gestellte Frage bejahend zu beantworten: Verletzung
5*
— 68 —
der Hiruriade kann Epilepsie nach sich ziehen. Aber hiermit
ist der Gegenstand nicht erschöpft, sondern erst augeregt. Welche
Theile der Rinde reagiren in dieser Weise? Welches sind die Bahnen
der secundären Degeneration? Führen diese, wie nach Meynert zu
erwarten wäre, durch das Ammonshorn? Lässt sich der Weg anato-
misch in die Medulla oblongata verfolgen? Das sind die nächsten
Fragen von brennendstem Interesse, welche sich aufdrängen. Ich hoffte
ihre Lösung wenigstens zum Theil selbst unternehmen zu können. Da
die Aussicht hierauf indessen gering wird, begnüge ich mich mit dem
bescheideneren Verdienste, sie anzuregen.
-Anmerkungen.
10) Ich bin auf diese Frage nur noch einmal in meinem Vortrage vom
9. Dezember 1876: „Ueber den heutigen Stand der Frage von der Localisation
im Grosshirn", R. Volkmann 's Sammlung klinischer Vorträge, No. 112,
1877, zurückgekommen. Es heisst daselbst S. 969f. : „Ferner gelingt es
gleichfalls in Ausnahmefällen, wiederholte tonische und klonische Zuckungen
in der Vorderextremität hervorzubringen, wenn man auf der frisch verletzten
Stelle ein Stück Feuerschwamm eintrocknen lässt." — ■ — ■ —
„Aehuliche Reizetfecte gewahrt man, wenn man Essigsäure und dann Liq.
ferri sesquichlor. vorsichtig vermittelst kleiner Schwammstückchen auf die Pia
applicirt."
Im zweiten Theile dieses Buches habe ich dann noch ähnliche, in Folge
von Aetzung mit ö^^/giger Carbolsäure auftretende Reizeffecte erwähnt.
11) Die vorstehende Arbeit und die in der von Fritsch und mir ge-
meinschaftlich publicirten Abhandlung enthaltenen Befunde über corticale Er-
regung von Epilepsie haben zu zahllosen Arbeiten über diesen Gegenstand
geführt. Es ist dabei manchmal sonderbar zugegangen. Ich will darauf nicht
näher eingehen: indessen halte ich es doch nicht für überflüssig meinen nach-
stehenden Aufsatz der Vergessenheit zu entreissen.
Zur Geschichte der Epilepsie.
Auf dem jüngst zu Berlin abgehaltenen XV. Congress für innere Medicin
hat eine Meinungsverschiedenheit zwischen Herrn Prof. ünverricht und mir
über meinen Antheil an der Aufklärung der Pathogenese der Epilepsie ihren
Ausdruck gefunden. Herr Ünverricht hatte ein Referat über die Epilepsie
übernommen und seine Aufgabe derart gelöst, dass er im Wesentlichen nur
über seine eigenen, seit dem Jahre 1883 unternommenen Arbeiten und die-
jenigen seiner Schüler referirte. Dabei ergab es sich, dass er meiner Betheili-
gung bei der Lösung der einschlägigen Fragen nicht nur überhaupt nicht ge-
dachte, wogegen ich nichts einzuwenden gehabt hätte, sondern dass er auch
die Behauptung aufstellte, dass erst durch seine und seiner Schüler
Arbeiten die corticale Entstehung der Epilepsie nachgewiesen sei.
— 69 —
Eine Erwiderung hierauf war mir an sich nicht sympathisch und ich
glaubte auch, um so eher darauf verzichten zu l<önnen, als der Vortragende
durch die Herren Binswanger und Jolly hinreichend deutlich darauf hin-
gewiesen worden war, dass er mich eigentlich doch wohl hätte nennen sollen.
Ich schwieg also zunächst. Nachdem Herr Unverricht aber in seinem
Schlussworte die ihm gemachten Vorhaltungen zurückgewiesen und ausdrück-
lich die Berechtigung seines Anspruches aufrecht erhalten, den oben ange-
führten Satz wiederholt und hinzugefügt hatte, er glaube gegen die historische
Gerechtigkeit nicht Verstössen zu haben, so sah ich mich wohl oder übel ge-
nöthigt, doch noch auf die Sache zurückzukommen, und ich that dies anläss-
licli der Discussion über den Vortrag des Herrn Richard Ewald. Aus diesem
Theile der Discussion will ich nur hervorheben, dass ich ausdrücklich erklärte,
ich hielte das Verlangen, dass jeder Aator bei jeder Gelegenheit, zumal bei
einem Vortrage, genannt werde, für gänzlich unberechtigt, und so würde ich
auch im vorliegenden Falle nichts dagegen einzuwenden gefunden haben, wenn
Herr Unverricht mich einfach nicht genannt hätte, ebenso wenig, wie ich
etwas dagegen zu erinnern hatte, dass dies auch von Seiten des Herrn Ewald
unterlassen worden sei. Herr Unverricht habe aber sich selbst die Fest-
stellung von Thatsachen zugeschrieben, die in Wirklichkeit theils von mir
allein, theils von mir im Verein mit Herrn Fritsch festgestellt worden waren.
Hiermit sei er weiter gegangen, als er hätte gehen dürfen, und dagegen müsse
ich mich verwahren. Nun hat Herr Unverricht sich auch damit nicht zu-
frieden gegeben, sondern seine Ansprüche weiter aufrecht erhalten, so dass ich
den Schluss ziehen muss, er werde dies auch bei seinen ferneren Publicationen
thun, und dies nöthigt mich, sehr gegen meinen Willen, den Sachverhalt in
Kürze klarzulegen.
Hughlings Jackson*) hatte bekanntlich schon früher auf Grund klini-
scher Beobachtungen die Ansicht ausgesprochen, dass sich in der Hirnrinde
motorische Centren befinden möchten, und dass deren krankhafte Entladung
zu der später nach ihm benannten sogenannten Rindenepilepsie führe. Er
suchte dieselben in der Gegend des Corpus striatum oder der Arteria fossae
Sylvii. Indessen war weder durch diese noch durch andere klinische oder ex-
perimentelle Untersuchungen bis zu dem Jahre 1870 auch nur der geringste,
überzeugende Beweis für die Auslösung epileptischer Krämpfe durch die Hirn-
rinde geliefert worden.
Im Frühjahre dieses Jahres erschien die von mir gemeinschaftlich mit
Herrn Fritsch publicirte Arbeit „über die elektrische Erregbarkeit des Gross-
hirns"**), aus der ich die nachstehenden Sätze citire.
*) Hughlings Jackson, A study of convulsions. Separatabdruck
aus Transactions of the St. Andrews Medic. Grad. Associat. Vol. 111. 1870.
Clinical and physiological researches on the nervous system. Repr. from
„The Lanzet". 1873.
**) Fritsch und Hitzig, Reichert's und du Bois-Reymond's
Archiv 1870. H. 3.
_ 70 —
„Schon nach einer Reizung (mit tetanisirenden Strömen) von wenig*
Secunden Dauer treten Nachbewegungen in der abhängigen Muskulatur
ein, die im Gebiet des Facialis einen deutlich zitternden Charakter tragen. Die
Extremitäten zeigen mehr das Bild klonischer Krampfbewegungen — Unter-
schiede, die jedenfalls von der verschiedenen Art der Muskelanheftung ab-
hängig sind. Diese localen Krampfanfälle können sich, auch wenn man dem
Gehirn Ruhe lässt, mehrfach wiederholen. Bei zweien unserer
Versuch sthiere bildeten sich aus diesen Nachbewegungen wohl-
charakterisirte epileptische Anfälle heraus*). Der Anfall begann
halbseitig mit Zuckungen in der vorher gereizten Muskulatur, breitete sich
aber dann auf alle Körpermuskeln aus, so dass es zu einem vollständigen
Strecktetanus kam. Die Pupillen waren dabei ad maximum erweitert. Eins
von den Thieren hatte zwei, das andere drei solcher Anfälle".
Es geht hieraus unbestreitbar hervor, dass wir bereits im Jahre 1870
nachgewiesen hatten,
1. dass epileptiforme Anfälle durch elektrische Reizung der Hirnrinde
erzeugt werden können;
2. dass diese Anfälle in der gereizten Muskulatur beginnen;
3. dass sie alsdann die gleichnamige Seite befallen;
4. dass sie sich weiter auf die gesammte Körpermuskulatur ausbreiten
können ;
5. dass die Erscheinungen der sogenannten Jackson'schen Epilepsie
einer kurzdauernden Rindenreizung, als sich mehrfach wieder-
holende Nachbewegungen folgen können;
6. dass diese künstlich erzeugten Jackson'schen Anfälle sich zu voll-
ständigen und sich mehrfach wiederholenden, epileptiformen
einfallen entwickeln können.
Jackson ist übrigens der Erste gewesen, welcher die Bedeutung dieser
neuen Thatsachen für die von ihm vertretene Lehre in einer mir und Ferrier
gewidmeten, oben citirten Abhandlung in vollem Maasse anerkannt hat.
So viel von den Resultaten der elektrischen Reizmethode. Ich will nur
kurz hinzufügen, dass ich den eben angeführten Beobachtungen analoge,
später noch in zahllosen Fällen gemacht habe, wie z. B. aus S. 71/72 meines
Buches**) hervorgeht. Indessen kann man aus Reizversuchen, auf die, so viel
ich sehe, sich die wissenschaftlichen Ansprüche des Herrn ün verriebt allein
stützen, wohl etwas über den Ursprung, die Verbreitungsweise und die Natur
des epileptischen Anfalls, aber nichts über die Epilepsie beweisen.
Mit dieser Frage beschäftigt sich eine kleine, unter dem Titel: „Ueber
Production von Epilepsie durch experimentelle Verletzung der Hinrinde" in
dem angeführten Buche (S. 271/76), also im Jahre 1874 publicirte Abhand-
lung. Ich hebe aus derselben das Nachstehende hervor: Den Ausgangspunkt
für die Fragestellung bildete die Gegenüberstellung der für die medulläre
*) Im Original gesperrt.
**) E. Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. Berlin 1874,
— 71 —
Theorie sprechenden Errahriingen und der soeben erörterten llcizversuohe,
welche ebenso wie eineAnzalil von klinischen Beobachtungen (Odier, liugli-
lings Jackson, Hitzig, Wernher) für die corticale Entstellung gewisser
Formen von Epilepsie sprachen. Es heisst dann: „Berücksichtigen wir die
Entwicklung jedes einzelnen durch Elektrisiren der liinde hervorgerufenen An-
falles, ferner die Art und Weise, wie sich die Epilepsie nicht selten mit dem
Irresein complicirt, so fragte es sich, ob man nicht durch künstliche
Production von Kran kheitsprocessen auf der Hirnrinde spontane,
vielleicht habituelle Epilepsie würde hervorbringen können"*).
,,Bei der Elektrisirung der Hirnrinde begann jeder einzelne Anfall mit
Zuckungen in den vorher künstlich innervirten Muskeln, um sich von ihnen
aus auf das übrige S3'Stem auszubreiten, wie es von Odier, Hughlings
Jackson und Anderen geschildert wird. — Für einzelne Formen des epilep-
tischen Irreseins kann man sich nicht mit einer Auffassung begnügen, welche
d^m grossen Gehirne in der Aufeinanderfolge der Erscheinungen die zweite
Stelle anweist. Diejenigen Fälle, bei denen die psychische Erkran-
kung der epileptischen, psychische Alterationen den einzelnen Anfällen vor-
hergehen, machen es wahrscheinlich, dass auch der umgekehrte Weg, der vom
Grosshirn nach der MeduUa oblongata, beschritten werden kann".
Die gestellte Frage wurde dann durch vier Versuche beantwortet, bei
denen dreimal eine Exstirpation, einmal eine Cauterisation im Bereiche der
Centren für die Extremitäten vorgenommen war. Alle vier Hunde wurden epi-
leptisch, bei zweien von ihnen trat der Tod im Status epilepticus ein. Ich
schloss daraus: ,,Ich glaube, dass die Resultate dieser Versuche in der That
ausreichen, die gestellte Frage bejahend zu beantworten: Verletzung der
Hirnrinde kann Epilepsie nach sich ziehen*). Aber hiermit ist der
Gegenstand nicht erschöpft, sondern erst angeregt. Welche Theile der Rinde
reagiren in dieser Weise? Welches sind die Bahnen der secundären Degenera-
tion? Führen diese, wie nach Meynert zu erwarten wäre, durch das Ammons-
horn? Lässt sich der Weg anatomisch in die Medulla oblongata verfolgen? Das
sind die nächsten Fragen von brennendstem Interesse, welche sich aufdrängen".
Man sieht, ich bin weit davon entfernt gewesen, den Gegenstand durch
meine eigenen Untersuchungen für abgeschlossen zu halten, und so bin ich
auch heute gern bereit, die Arbeiten meiner Nachfolger, unter ihnen auch die
des Herrn Unverricht, zu schätzen und anzuerkennen. Indessen ist es mir
nach allem Diesem ganz unverständlich, wie dieser Autor das Verdienst, die
corticale Entstehung der Epilepsie nachgewiesen zu haben, für sich
und seine Schüler in Anspruch nehmen konnte; es ist mir um so unver-
ständlicher, als er in seiner 1883, also dreizehn Jahre nach unserer ersten Ar-
beit publicirten Habilitationsschrift**) die Resultate unserer vorgedachten
Untersuchungen angeführt hat.
*) Im Original gesperrt.
**) Unverricht, Experimentelle und klinische Untersuchungen über die
Epilepsie. Archiv f. Psychiatrie u. Nervenkrankheiten Bd. XIV.
— 72 —
Ich hatte in meiner zuletzt erwähnten Abhandlung die corticale Ent-
stehung der Epilepsie nur für eine bestimmte Gruppe von Krankheitsfällen
in Anspruch genommen und auch für diese Gruppe die Vermuthung ausge-
sprochen, dass dabei Gefässkrämpfe eine wesentliche Rolle spielten. Beiläufig
gesagt, verwies ich in dieser Abhandlung, was mit Bezug auf die von Unver-
richt constatirte vasomotorische Epilepsie nicht ohne Interesse ist, auf
S. 116/117 meines Buches, an welcher Stelle sehr auffällige und bis dahin
meines Wissens nicht beschriebene Erscheinungen von vasomotorischem Krampf
bei einem Fall von Rindenepilepsie angeführt worden sind. Wenn Herr ün-
verricht sich also mit der Behauptung begnügt hätte, er habe nachgewiesen,
dass nicht nur eine Gruppe, sondern alle Fälle von Epilepsie ihren Aus-
gangspunkt von der Rinde nähmen, so würde es sich lediglich um eine sach-
liche Meinungsverschiedenheit handeln. Er ist aber weiter gegangen und dazu
hatte er kein Recht.
Herr Unverricht hat sich damit zu entschuldigen versucht, dass meine
Untersuchungen so bekannt wären, dass er sie auf dem Congress für innere
Medicin nicht erst anzuführen brauche. Ich wünschte, er hätte Recht. Aber
wenn dies auch zuträfe, so würde ihm doch nicht erlaubt sein, sich selbst die
Entdeckung von Thatsachen zuzuschreiben, welche ich gefunden habe. Er hat
aber leider nur insofern Recht, als er etwa die Entdeckung der elektrischen
Erregbarkeit des Grosshirns meint. In meinem mehrfach citirten Buche stehen
aber sonst noch recht viele neue Thatsachen, die ich mir gern als mein
Eigenthum bewahren möchte, deren Entdeckung aber von Deutschen und Aus-
ländern bald Diesem, bald Jenem zugeschrieben wird. Vor Kurzem erst habe
ich auf einen solchen Irrthum v. Bergmann's aufmerksam gemacht. Das
jüngst in deutscher Uebersetzung erschienene Buch von Fere*) könnte mir
zu ähnlichen Einwendungen Veranlassung geben, wenn ich überhaupt die Ab-
sicht hätte, solche ,, Verstösse gegen die historische Gerechtigkeit" regelmässig
zu verfolgen. Mir genügt es, bei gegebenem Anlass die Thatsache zu consta-
tiren; soll ich aber sonst in eigener Sache das Wort ergreifen, so bedarf es
schon so besonderer Umstände, wie sie z. B. die Beharrlichkeit, mit der Herr
Unverricht seinen unbegründeten Anspruch aufrecht erhielt, kennzeichnen.
*) Fere, Die Epilepsie. Uebersetzt von Paul Ebers. 1896.
V. Lälimimg'sversiiche am Grrosshirii.
Die erste Reihe dieser Untersuchungen beschäftigte sich, insoweit
die Erforschung des Grossbinis angestrebt wurde, vornehmlich mit Reiz-
versuchen. Wenn mir auch die vielfachen Lücken und Unvollkommen-
heiten jener Arbeiten nicht entgehen, so glaube ich doch, dass in den-
selben der Stoff zu einem gewissen Abschlüsse gebracht und einem
Punkte zugeführt worden ist, bei Avelcheni die Herbeiziehung anderer
Methoden anfängt, dringender zu werden als die gleichwohl nothwendige
Fortführung der bisher geübten.
Bereits in der mit Hrn. Fritsch gemeinschaftlich publicirten Ab-
handlung waren die Resultate von zwei localisirten Lähmungsversuchen
berichtet. Aus einer Zahl später nach derselben Methode angestellter
Versuche habe ich ferner in dem erwähnten Buche einige Fälle mit-
getheilt, bei denen ähnliche Verletzungen im Laufe der Zeit epilepti-
forme Anfälle herbeigezogen hatten. Bei allen diesen Thieren hatten
sich im unmittelbaren Gefolge der Hirnverletzung Anomalien der Be-
wegung gezeigt, welche ich mit dem Namen „Störung des Muskel-
bewusstseins" bezeichnete, und welche seither so vielfach besprochen
worden sind, dass ich mich an dieser Stelle auf ihre Erwähnung be-
schränken darf. Später werden wir ihrer noch eingehender zu gedenken
haben. Ausgehend von diesen Versuchen hatte ich unter Benutzung
der Reizversuche den Schluss gezogen, dass die ziemlich allgemein ver-
breitete, ursprünglich von Flourens herrührende Ansicht von dem Ver-
hältniss der Substanz des Grosshirnes zu den ihm zugeschriebenen
Functionen irrig sei. Ich behauptete, dass die Hirnlappen nicht, wie
Flourens wollte, mit ihrer ganzen Masse für .die ungeschmälerte Aus-
übung ihrer Functionen einträten, ohne dass es gesonderte Gebiete
für die verschiedenen Fähigkeiten, oder für die verschiedenen Wahr-
nehmungen gäbe; ich schloss vielmehr, „dass sicher einzelne seelische
Functionen, wahrscheinlich alle, zu ihrem Eintritt in die Materie, oder
— 74 —
zur Entstehung aus derselben, auf circumscripte Centra der Grosshirn-
rinde angewiesen seien".
Insovveit dieser Scliliiss sich lediglich auf meine eigenen Versiiche
stützte, konnte man ihm eine Lücke in der Beweisführung vorwerfen.
Sämmtliche Versuche waren im Gyrus e meiner Figuren (Gyr. postfront.
Owen, hinterer Schenkel des Gyrus sigmoides) ausgeführt worden.
Wenn nun durch dieselben auch die Reaction einer bestimmten Stelle
gegen lähmende Einflüsse festgestellt schien, so fehlten doch die Parallel-
versuche au den übrigen Theilen der Hirnrinde, und es wäre immerhin
möglich gewesen, dass von dort aus dieselben Erscheinungen hätten
hervorgebracht werden können. War doch den früheren Beobachtern
jene Störung des Muskelbewusstseins, als Folge von Hirnverletzungen,
überhaupt entgangen. Man konnte also nicht wissen, ob sie das Vorder-
hirn nur nicht untersucht, oder ob sie an die Aufsuchung der fraglichen
Anomalie überhaupt nicht gedacht hatten. Dieser Einwand gewann
unstreitig an Gewicht durch den Umstand, dass in neuester Zeit wenn
auch unberechtigte Zweifel gegen die von mir behauptete Auslösung
der Reizphänomene von den excentrischen Partien des Grosshirns vor-
gebracht worden sind.
Freilich hat Nothnagel in seinen experimentellen Untersuchungen
über die Functionen des Gehirns*) Lähmungsversuche an den ver-
schiedensten Stellen der Rinde vorgenommen, indem er dort Chrom-
säureherde von Hirsekorngrösse schuf. Lidessen scheinen mir diese an
und für sich sehr werthvollen Versuche die aufgeworfene Frage zwar
wesentlich zu fördern, aber nicht gänzlich zu erledigen. Nothnagel
erhielt zunächst an Kaninchen und dann auch an einigen Hunden die-
selben Störungen des Muskelbewusstseins, welche wir beschrieben hatten.
Bei den Hunden war es in der That die gleiche, bei den Kaninchen,
wenigstens scheinbar, eine analoge Stelle, welche so reagirte. Aber
Nothnagel fügt seiner Schilderung folgenden Passus hinzu: „Ich habe
„selbstverständlich die verschiedenartigsten Punkte der Hirnoberfläche
„untersucht — , aber von keinem aus, jenen beschriebenen ausgenommen,
„habe ich etwas Analoges beobachtet. Sehr oft sieht man allerdings,
„namentlich wenn man sich in der Nähe unseres Herdes befindet, die
„Störung eintreten; aber sie ist nur transitorisch, in den ersten Stunden
„nach der Operation vorhanden. Längerdauernd erscheint sie
„allein bei der Verletzung jener begrenzten Hirnpartio**)".
Hieraus ist nicht deutlich zu ersehen, ob jene Störung nicht auch bei
'^) Nothnagel, Virchow's Archiv. Bd. 57.
**) A. a. 0. S. 13 d. Sep.-Abd.
— 75 —
Verletzung' entfernter ilirni):u"tien erscheint, und ferner ist nicht uus-
gesprochen, welcher ursächliche Zusummenhaiig zwischen derartigen
vorühergehenden Störungen und Verletzungen irgend welcher anderer
Kindenbezirke anzunehmen sei.
Insbesondere vermisse ich hier die ausdrückliche Erwähimng des
ümstandes, ob alle vier Extremitäten, oder nur eine Körperseite be-
troffen war, denn wenn etwa jener eigenthiim liehe Zustand von Stupor,
in Avelchem sich soeben operirte Thiere, wahrscheinlich vorzugsweise
in Folge , der eben bestandenen deprimirenden Affecte, gelegentlich be-
finden, die Ursache gewesen wäre, so konnte die Störung der normalen
Bewegung unmöglich nur in einem Beine oder nur in einer Körperseite
Platz greifen. Im anderen Falle aber hätte diese scheinbar neben-
sächliche Bemerkung N othnagel's mancherlei zu denken gegeben und
erforderte jedenfalls eine weitere Aufklärung.
Ich habe an dieser Stelle auch noch die Bemerkung einzuschalten,
dass die Ansichten Nothnagel's über den Werth der Symptome mit
Rücksicht auf die Periode des Krankheitsverlaufes mindestens für die
von mir angewendete Methode nicht zutreffen. Nothnagel legt einen
sehr geringen Werth auf das, was man gleich nach vollbrachter Operation
sieht. Dem gegenüber habe ich geglaubt, mir die grösste Mühe geben zu
.sollen, gerade das unmittelbare Resultat der Verletzung festzuhalten.
Natürlich werden Störungen in dem allgemeinen Verhalten des
Versuchsthieres nicht auf den localen Insult bezogen werden dürfen.
Es wird nichts beweisen, wenn ein auf's Aeusserste deprimirtes Geschöpf
mit allen seineu Gliedern geduldig allerlei Ungewöhnliches vornehmen
lässt oder selbst vornimmt. Wenn aber locale Veränderungen der
Muskelwirkung in Theilen der gegenüberliegenden Körperhälfte auf-
treten, so werde ich diese mit grösserem Rechte dann auf die verletzte
Region selbst beziehen, wenn sie sofort nachzuweisen sind, als wenn
sie erst nach Verlauf irgend einer Zeit in die Erscheinung treten.
Eigentlich bedarf es hierfür keines Beweises. Wer aber nach solchen
dennoch begierig ist, der wird eine Fülle derselben in den unten
folgenden Beobachtungen finden. Ich wenigstens war und bin von
dieser Ueberzeugung so durchdrungen, dass ich lediglich ihretwegen
von der Anwendung der Narkotica fast durchgehends absah, obwohl
dadurch mein Werk viel mühsamer und langwieriger wurde, und ob-
wohl ich den Hunden gern ihre Qual erspart hätte.
Erschien die Fortführung dieser Lähmungsversuche nun schon durch
die angeführten Erwägungen geboten, so war ja offenbar die Möglichkeit
fernerer Erkenntniss der besonderen Eigenschaften der Hirnrinde durch
die Auffindung unseres Herdes für das Muskelbewusstsein und desjenigen
— 76 —
Herdes, welcher Nothnagel mit eigentlichen Lähmungen antwortete*),
nicht erschöpft. Es fragte sich vielmehr, ob man nicht noch andere
Störungen im Verhalten der Tliiere durch Verletzungen der Grosshirn-
rinde würde hervorbringen können. Die Muskelbewegungen, welche der
einzige äusserlich wahrnehmbare Ausdruck des inneren Geschehens sind,
erscheinen freilich und nicht nur den ganz oberflächlichen Beobachtern
als etwas relativ Einfaches. Sobald man sich jedoch in die Details der
pathologischen Bilder vertieft, ahnt man, wie complicirt, wie mannich-
faltig die Bedingungen sind, welche sich zur Auslösung der Action
gruppiren, welche sie bei ihrem Verlaufe begleiten. Ein Theil der
organischen Unterlagen jener Bedingungen liegt gewiss im Grosshirn.
Würde es gelingen, noch etwas von denselben zu erkennen? Wenn
Nothnagel bei der von ihm benutzten Methode nichts Weiteres fand,
so konnte dies theils eben an jener Methode theils an der Individualität
des gewählten Versuchsthieres liegen; denn dieser Forscher untersuchte
fast ausschliesslich Kaninchen.
Ich entschloss mi^h, die früher eingeschlagene Methode der
Trepanation und Exstirpation kleinerer oder grösserer Hirnabschnitte
vor der Hand beizubehalten, und ebenso bediente ich mich desselben
Versuchsthieres, des Hundes. Nothnagel hat im Eingange seiner
ersten Abhandlung die Vorzüge seiner eigenen, gegenüber den älteren
Methoden abgewogen. Allerdings ist für bestimmte Zwecke, nämlich
für die Erforschung tiefer gelegener Theile, die interstitielle In-
jection unersetzlich, und gerade Nothnagel's Versuche beweisen, wie
fruchtbar sie werden kann. Für eine ausgiebige Erforschung der ober-
flächlichen Schichten hingegen scheint mir die von mir angewendete
Methode, oder eine ähnliche, mit herangezogen werden zu müssen.
Wenn auf die Zerstörung sehr kleiner Stellen irgend eine wohl
charakterisirte Anomalie folgt, so hat man freilich einen grossen Schritt
relativ schnell vorwärts gethan. Wenn das Resultat aber ein negatives
ist, so mtiss immer der Einwand erhoben werden, dasS' die Zerstörung
zu klein war, um nennenswerthe Gebiete irgend welcher Functionsherde
auszuschalten. Ich hätte deshalb an und für sich vorgezogen, erst
grössere Gebiete der Rinde zu zerstören und dann nachzusehen, ob
sich die erlangten Resultate mit der feineren Methode genauer localisiren
Hessen. Es würde sich nur fragen, ob die von Alters her gegen die
Sicherheit meiner Methode erhobenen Einwürfe in der That wesentlich
sind, ob wirklich mit derselben das Versuchsergebniss alterirende Fehler
eingeführt werden. Ich muss dies bestreiten.
*) A. a. 0. S. 18.
— 77 —
Man hat den Blutverlust, die Erkältung der Gehirnoberttäche und
die Veränderung der Druckverhältnisse innerhalb der Schädelkapsel
angeführt. iJie Menge Blutes, welche ein Hund bei der Eröffnung des
Schädeldaches verlieren wird, ist freilich vorher nicht zu bestimmen,
ihre Grösse hängt neben der Uebung des Experimentators von Zufällig-
keiten ab. Muss man zu Anfang der Trepanation ein grosses Knochen-
gefäss durchschneiden, so kann der Blutverlust allerdings ganz enorm
sein. Der Hund ist dann nach Beendigung der Operation sehr schwach,
die Schleimhäute sind blass, und in diesem Falle sind irgend welche
sichere Wahrnehmungen während des ersten Tages von ihm nicht zu
gewinnen; dann aber erholt er sich wieder und bietet ein brauchbares
Beobachtungsobject dar, sobald nicht noch andere Umstände dazu treten.
So erhebliche Blutungen sind aber eben nur seltene Unfälle, wie sie
wohl bei allen Thierversuchen vorkommen. In der Regel lässt sich der
Blutverlust auf ein Maass beschränken, welches bei der relativen Grösse
der Versuchsthiere nicht in Betracht kommt. — Die Erkältung der
Gehirnoberfläche und das Abfliessen der Cerebralflüssigkeit sind hin-
gegen für Versuche am Grosshirn gänzlich indifferent. Davon habe
ich mich durch eine lange Reihe von Vivisectionen mit negativem
Resultate überzeugt. Solche Versuchsthiere springen, auch wenn sie
eine ziemliche Quantität Blut dazu verloren haben, mit vollkommener
Sicherheit vom Tisch und benehmen sich überhaupt, als wenn sie ge-
sund wären. Im höchsten Grade störend kann jedoch der deprimirende
Affect sein, welchen die Erduldung der Fesselung und des Schmerzes
hervorbringt, wenn er, wie das in einzelnen Fällen vorkommt, das ge-
wöhnliche Maass weit übersteigt. Es ereignet sich, dass so erschreckte,
misstrauisch gewordene Thiere sich noch am zweiten oder dritten Tage
nach der Operation bei jeder Annäherung des Beobachtenden nieder-
kauern, nicht zum Stehen oder Sitzen zu bewegen sind und in
ihrer Angst allerlei Dinge gediddig mit sich vornehmen lassen, gegen
die ein gesunder Hund reagirt. Ich muss dahingestellt sein lassen,
ob dieser Uebelstand bei der einfachen Durchbohrung des Schädels
fortfällt.
Im Uebrigen wird die Eröft'uung des Schädels und die Fortnahme
selbst grosser Theile des Gehirns von den Hunden vortrefi'lich ertragen,
sobald man dem Wundsecret freien Abfluss lässt. Letzteres ist indessen
unbedingt nöthig. Ich habe mehrere Thiere deshalb verloren, weil die
Hautwunde primär verklebte. Einige andere Thiere wurden von einer
halbseitigen, fibrinösen, fibrösen, manchmal auch hämorrhagischen
Pachymeningitis befallen, welche als nebensächliches Sectionsergebniss
zu notiren war. Bald verlief diese Krankheit ohne äussere Symptome,
bnld trat ähnlich wie beim Menschen allgemeine Hyperästhesie deutlich
hervor^2^.
Wenn nun auch die erwähnten Einwände unwesentlich erscheinen,
so existiren doch andere umstände, welche diese Methode und die Ver-
wendung von Hunden überhaupt statt der Kaninchen höchst beschwer-
lich machen. Ich will nicht von der Kostspieligkeit der Beschaffung
und Erhaltung des Materiales reden. Aber die Ausführung jeder
einzelnen Operation, die Sorge für Beobachtung und Pflege einer schnell
anwachsenden Hundeklinik, ferner die Ausführung der häufig recht
mühsamen Section sind unsäglich viel zeitraubender, als wenn man
sich an die Kaninchen hielte. Ich konnte endlich kaum 10 Hunde auf
einmal unterbringen, und doch ist ihre Zahl nicht selten bis auf 15
gestiegen. So bestimmte mich denn nur die Rücksicht auf die höhere
Organisation des Versuchsthieres zum Ausharren bei diesem.
Sämmtlicbe Operationen, bei denen nicht ausdrücklich etwas Anderes
gesagt ist, beziehen sich auf die linke Hemisphäre und folgerecht die
entstehenden Symptome auf die Extremitäten der rechten Seite. Es ist
wohl selbstverständlich, dass auch die Extremitäten der anderen Seite,
ebenso wie auch der Zustand der Pupillen und des Sehorgans über-
haupt mit untersucht wurden. Der grösseren üebersichtlichkeit wegen
habe ich aber die Einzelberichte über negative Befunde, ebenso wie die
durch vorstehende Bemerkung unnöthig gewordene Bezeichnung der
Körperhälften möglichst imterdrückt. Wenn ich so durch Weglasse«
alles irgend Entbehrlichen die grösste Kürze anstrebte, so hielt ich
doch die Wiedergabe meiner Beobachtungsprotocolle diesmal für er-
forderlich, und ich darf hoffen, dass der Leser nach Kenntnissnahme
derselben mir zustimmen wird.
Einige andere die Operation selbst und die Wundheilung betreffende
Details schicke ich voraus. Die Pia wurde in der früher beschriebenen
Weise frei gelegt imd sodann das zu entfernende Stück Hirn mit dem
Kystotom des Daviel'schen Löffels umschnitten. Eine kleine Siegel-
lackmarke diente dazu, die Innehaltung der beabsichtigten Tiefe zu
sichern. Grössere Venen wurden möglichst geschont, und deimoch ent-
stehende stärkere Blutungen, wenn es anging, zuvörderst gestillt. Dann
wurde, wenn ausgedehntere Flächen ausgeschaltet werden sollten, ein
etwas grösserer Staarlöffel in die Hirnwunde eingeführt, und auf diesem
mit dem kleineren Daviel'schen Löffel das umschnittene Stück ent-
fernt. So gelingt es leichter, das Herauszerren der Marksubstanz zu
vermeiden und die Wunde auf die gewollte Region zu begrenzen.
Manchmal jedoch machten erhebliche Blutungen die Verwendung des
zweiten Staarlöff'els unmöjrlich. Blutete die Hirnwunde nachher noch
— 79 —
nennenswerth, so drückte ich einige Streifchen Feuerschwamm auf und
liess dieselben gewöhnlich so hinge liegen, bis sie durch (h'c Eiterung
oder die Schwellung der Hirnmasse an das Niveau der Hautwunde be-
fördert waren. Meistens erscheint in den nächsten Tagen ein mehr
oder weniger grosser Prolaps in der Wunde, der sich in gleichem
Schritte mit der Heilung der Hautwunde mit Granulationen bedeckt,
verkleinert und endlich in der Knochenlücke eine bindegewebige, stellen-
weise gallertige, bräunlich -gelbliche Masse zurücklässt. Diese iiängt
einerseits mit der Hautnarbe, andererseits mit der Hirnsubstanz und an
ihren Rändern mit den Hirnhäuten zusammen. Manchmal erscheint
aber auch kein Prolaps und bei der Sectiou nur eine sehr unbedeutende
Adhäsion. In einem Falle war die Knochenlücke durch neugebiideten
Knorpel und Knochen vollständig ausgefüllt.
Ich habe schon früher darauf hingewiesen, dass es im höchsten
Grade interessant sein würde, nachzusehen, ob und nach welchen Theilen
hin sich secundäre Degenerationen im Gefolge excentrischer Verletzungen
entwickeln. Reichte auch für dieses Mal meine Zeit zur gleichzeitigen
Lösung dieser Aufgabe nicht aus, so wünschte ich doch, dass das einmal
vorhandene Material hierfür verwerthet v^'ürde. Deshalb hielt ich denn
viele meiner Hunde, nachdem sie längst gesundet waren, bis zum Schlüsse
des Semesters am Leben und übergab dann ihre Gehirüe Hrn. Fritsch,
der sich zur mikroskopischen Untersuchung derselben gern bereit er-
klärte. Hr. Fritsch wohnte zu diesem Endzwecke den betreffenden
Sectionen bei, unterstützte mich bei denselben und fertigte die Zeichnungen
zu den Gehirnen an, welche unmittelbar in seinen Besitz übergingen.
Dies gilt rücksichtlich der vorliegenden Arbeit von den Figg. 1, 3, 4,
5, 8. Hierfür bin ich ihm zu Danke verpflichtet. Hoffentlich werden
auch die von mir berichteten Resultate durch die seinerseits zu er-
wartende genauere Beschreibung der Präparate an Beweiskraft noch
gewinnen. Bei den anderen Versuchen fixirte ich die Verletzung durch
Eintragungen in gedruckte Schemata, wozu mir die Figg. 1 und 10
meines Buches gute Dienste leisteten. Einen Theil der nach dem
1. August gewonnenen Gehirne habe ich mir selbst zur mikroskopischen
Untersuchung aufbewahrt.
L Gruppe, Verletzungen der Gyri a. b. c.
Bei den hier in Frage stehenden Operationen wird man in der
Regel entweder die Stirnhöhle eröffnen, oder ein Stück des Gyi'us d
mit aufdecken müssen. Allerdings lässt sich Beides durch Verwendung
einer sehr kleinen, unmittelbar neben der Mittellinie aufzusetzenden
Trephine vermeiden. Indessen ist dieses Verfahren nicht gerade
— 80 —
empfehleuswerth. Wenn die Schädelknochen einigermaasseu dick sind,
lässt sich von einer so kleinen Lücke aus schlecht weiter arbeiten,
zudem riskirt man entweder den Sin. longit. zu verletzen oder doch
in die Stirnhöhle zu gerathen. Diese üebelstände fallen um so mehr
in's Gewicht, als die Eröffnung der Stirnhöhle, auch wenn sie vereitert,
ganz gut ertragen wird, und die Aufdeckung des medialen Endes des
Gyrus d das Resultat nicht complicirt. Eine Trephine von 11 mm
Durchmesser hat sich mir als zweckmässig erwiesen.
Zur Orientirung bei allen das Vorderhirn betreffenden Operationen
niuss man sich an den Process. zygom. ossis frontis halten. Die Grösse
des Hundehirns steht durchaus nicht in gradem Yerhältniss zur Grösse
des Kopfes; sondern die Volumzunahme des Kopfes grosser Hunde wird
hauptsächlich durch zunehmende Entwicklung der Stirnhöhlen gedeckt,
so dass man sich ohne einen festen Anhaltspunkt .ganz erstaunlich ver-
irren kann. Als solcher dient am Besten der Process. zygom. mit dem
zwischen ihm und dem rudimentären Process. frontal, des Jochbogens
befestigten Augenbogenbaude. Letzteres tritt beim Hunde an die Stelle
des Process. front, ossis zygom. hominis und ist wie eine scharfe Leiste
durch die Bedeckungen durchzufühlen. Das mediale Ende des Sulc.
cruciatus trifft man nun bei kleinen und mittelgrossen Hunden ziemlich
genau, wenn man 13 — 15 mm nach hinten von. der Verbindungslinie
der frontalen Lisertion beider Augenbogenbänder abmisst. Von diesem
Punkte aus lässt sich unter Zuhülfenahme eines Spiritusgehirns der
jedesmalige Ort für die Trepanation unschwer berechnen.
Versuch I. Oberflächliche Verletzung des Gyrus a. Keine
Anomalien der Motilität. Fibrinöse Pachymeningitis.
Fio-. 4.
F. S. Fossa Sylvii. S. c. Sulcus cruciatus. 1. Reizpunkt für das Hinterbein.
2; Ungefähre Lage der Reizpunkte für das Vorderbein. 3. Reizpunkt für Be-
wegung und Schluss des Auges. 4. Reizpunkt für Fressbewegungen. Schraf-
firte Stelle hinter S. c. erregbare Zone. N. Narbe.
— 81 —
Einer mittelgrossen, sclivvarzgelbeii Hündin wurde :im 1. Juni ].s74:
unter geringem Blutverlust eine oberfliichliche Verletzung in der Aus-
dehnung von 1/4 des Lumens einer 14 mm Trephine an der hinteren
Grenze des Gyrus a dicht an d beigebracht. Nach der Operation ist
der Hund sehr lebhaft, wenn auch etwas eingeschüchtert, springt leicht
vom Tische und zeigt keinerlei Störung.
2. Juni. Sehr munter, etwas furchtsam. Wunde durch einen braun-
schwarzen, leicht blutenden Prolaps ausgefüllt. Linksseitige eitrige
Conjunctivitis, sonst keine Störung.
3. Juli. Status idem, ausserdem bei jeder Berührung Geschrei.
Die Heilung der Wunde verlief in der gewöhnlichen Weise. — Die
Empfindlichkeit gegen jede Berührung dauerte noch mehrere Wochen
an, während die Conjunctivitis bald heilte. Anderweitige Störungen
zeigten sich nicht.
22. Juli. Der Hund ist sehr munter, zeigt keinerlei Anomalien,
insbesondere nicht in der Motilität und am Auge. Vergiftung durch
Cyankalium.
Section. Schädellücke durch eine sehr derbe, bindegewebige,
zum Theii sehr blutreiche, gelbbraun gefärbte und mit der äusseren
Haut verwachsene Masse verschlossen, 12 mm in sagittaler, 13 mm in
frontaler Richtung im Durchmesser haltend. Die bindegewebige Auf-
lagerung hat 8 mm in sagittaler und 10 mm in frontaler Richtung im
Durchmesser und reicht genau bis an die Medianspalte. Die Dura zeigt
an ihrer Innenfläche über der linken Convexität eine dünne, weiche,
gelbliche, fibrinöse Auflagerung und adhärirt durch dieselbe locker der
Pia; rechte Convexität normal. Die Markstrahlung unterhalb des Hirn-
defects, sowie die Rindenschicht der Umgebung, besonders die der
medialen Fläche sehr atrophisch. Namentlich auch ist der Einschnitt,
welchen die vordere Verlängerung des Sulcus calloso-marginalis macht,
kaum angedeutet. Die lateralwärts von dem Hirndefect liegende Rinden-
substanz ist durchscheinend, verwaschen, weniger grau als auf der
anderen Seite. In der weissen Masse finden sich punktförmige, linear
angeordnete, etwas deprimirte, ziemlich weit in die Substanz hinein-
reichende, rothbraune Stelleu. An der Exstirpationsstelle selbst ist die
Stelle der Hirnsubstanz auf ca. 4 mm tief von einer derben, bräun-
lichen mit einigen Blutpunkten durchsetzten Masse eingenommen. Das
sonst normale Corpus striatum ist deutlich nach oben dislocirt.
Hitzig, Gesammelte Ahhandl. I. Theil.
— 82 —
Versuch IL Oberflächliclie Verletzung des Gyrus a. Keine
Anomalien der Motilität. Ophthalmie des rechten, Con-
junctivitis des linken Auges. Eczeme. Fibrinöse Meningitis.
Ficr. 5.
Einem kleinen, gelbweissen Hunde wurde am 22. Mai 1874 mit
der 14 mm Trephine ein Theil des Vorderlappens und des Sinus frontalis
aufgedeckt. Exstirpatiou eines keilförmigen Stückes des Gyrus a in der
Tiefe von etwa 4 mm. Blutung massig. Unmittelbar nachher zeigt
der Hund keine Anomalien.
23. Mai. Keine Spur von Störung des Muskelbewusstseins, weder
in der Vorder- noch in der Hinterextremität.
24. — 27. Mai wurde der Hund wegen einer Reise nicht beobachtet.
28. Mai. Wunde verklebt; nach Entfernung des Schorfes erscheint
eine massige Quantität gelben Eiters; darunter geringer Prolaps. All-
gemeine Depression, der Kopf hängt herab. Der Hund sitzt regungslos,
sehr tiefe, langsame Respiration. Beide Lidspalten verklebt, die Bulbi
mit dickem, gelbem Eiter bedeckt, nach Aasspülung desselben erscheint
die linke Cornea leicht sammtartig, die rechte fast ganz undurchsichtig,
grau, in ihrem Centrum ein fast linsengrosser Herd mit einer kleinen
Perforation, die Iris, wie durch die noch durchsichtige Randzone zu
bemerken, leicht verfärbt. Nach Ausspülung der Lidspalten läuft der
Hund in der Stube herum, ohne andere Motilitätsstörungen zu zeigen,
als etwas allgemeine Schwäche. Auf dem rechten Hinterkopf quillt
zwischen den Haaren dicker gelber Eiter hervor, bei der Reinigung
dieser Stelle gehen sämmtliche Haare aus, so dass eine kreisrunde,
zweigroschengrosse granulireude, leicht blutende Wunde zurückbleibt.
30. Mai. Hat seit gestern nicht gefressen, Wunde verklebt, grosse
Schwäche, mühsamer Husten. Auf der rechten Hinterbacke ein groschen-
grosser, auf der linken ein thalergrosser, auf dem Os sacrum ein acht-
groschengrosser Hautdefect mit den oben beschriebenen Eigenschaften,
nur fehlt die Eiterung und die Wunden sehen blass aus. Die Perforation
— 83 —
der rechten Cornea hat sich vergrössert, etwas Prolaps, die Cornea ist
abgeplattet und sehr weich, die Conjunctiva nur massig injicirt; das
linke Auge ist fast normal, nm* leicht verklebt. Hauttemperatur für
die zufühlende Hand sehr kühl. Das Thier wird getödtet.
Sectio n: Schädelknochen auf etwa 1 cm hinter der Trepanations-
stelle aussen etwas missfarbig, innen rauh und vascularisirt. Dura
beiderseits, mehr noch rechts mit starken fleckweisen Vascularisirungen,
Falx sehr verdickt, von gelblicher Farbe mit zahlreichen Gefässen durch-
setzt. Die Wurzeln des Trigeminus rechts vielleicht weicher als links.
Am Ganglion Gasseri und seiner Umhüllung keine Anomalien. Pia
rechts normal, links von einer dünnen, leicht abziehbaren, fibrinösen
Auflagerung bedeckt, am Pons leicht gelblich gefärbt, ohne Substanz-
verlust abziehbar. Die Zerstörung des Hirns ist relativ gering, hat
kaum die Rinde durchdrungen, keinen Keil hinterlassen. An der medialen
Fläche des Vorderlappens im Zusammenhange mit dem Herd erscheint
die Pia trüb, gelblich gefärbt, mit vielen Gefässen versehen. Im mittleren
Lappen der linken Lunge haselnussgrosse, schiefergraue Hepatisation, in
beiden oberen Lappen auf beiden Seiten, hauptsächlich an den Rändern
zahlreiche über Linsengrosse uüd kleinere, frische subpleurale Ekchymosen.
Versuch HL Tiefgreifende Auslöffelung der Gyri a. b. c.
.Spurweise Alteration der Bewegung in der Vorderpfote vom
4. bis 6. Tage.
Pij?. 6.
Dislocation des Sulc. cruc. und seiner Nachbarwindungen. Wucherung der
Auflafferung; über die aufgedeckte Zone hinaus.
Einer mittelgrossen, graugelben, etwas räudigen Hündin wurde am
5. Juni 1874 Gyrus a und ein Stück von d freigelegt, die Knochenwunde
mit der Zange über a etwas erweitert und dieser Gyrus, soweit man
dazu kommen konnte, tief exstirpirt. Nach der Operation keine Anomalien.
6*
— 84 —
6. Juni. Sehr scheu, frisst und säuft nicht; heisse Haut; das
rechte Auge secernirt eine ziemlich dünne, schleimig-eitrige Flüssigkeit.
Sonst keinerlei Anomalie.
7. Juni. Status idem.
8. Juni. Immer noch sehr scheu, beginnender Prolaps, lässt die
rechten Extremitäten spurweise nach hinten verschieben, was er linker-
seits nicht leidet.
11. Juni. Sehr grosser Prolaps. Keine Störungen der Bewegung
mehr nachweisbar.
18. Juni. Die Wunde beginnt zu vernarben.
1. Juli. Wunde ganz vernarbt, die Räude nimmt zu, dabei ist der
Hund sehr munter.
22. Juli. Räude über den ganzen Körper, sonst keinerlei Anomalien.
Vergiftung mit Cyankalium.
Section. Hautwunde fest vernarbt, Defect der äusseren Tafel in
sagittaler Richtung 13, in frontaler Richtung 15 mm im Durchmesser,
von einer sehr derben, nur hier und da etwas sulzigen und an diesen
Stellen gelb gefärbten und blutreichen, bindegewebigen Masse ausgefüllt.
Dura und Pia beiderseits normal, nur an der Umgebung der Hirnnarbe
adhärent. Die bindegewebige Auflagerung reicht A^on dem Gyrus a
über d hinaus nach e zu, hat in frontaler Richtung 13 mm, in sagittaler
Richtung 7 mm im grössten Durchmesser. Ihre allgemeine Gestalt ist
dreieckig, mit der Medianlinie zugewendeter Spitze. Der Sulcus cruciatus
ist linkerseits um stark 3 mm nach vorn dislocirt. Die ganze, den
Defect umgebende Hirnpartie erscheint gegen die andere Seite leicht
abgeflacht. Der Gyrus a hat rechts eine durchschnittliche Breite von 8,
links von 4 und 3 mm, ausserdem erscheint dieser Gyrus links be-
trächtlich verkürzt. Eine genaue Messung ist wegen der Verwischung
seiner hinteren Grenze nicht ausführbar. Die Hirnnarbe zieht sich strang-
förmig nach dem Vorderhorn zu. Dieses, wie auch die Ganglien nach
vorn dislocirt. Das Ependym normal.
Versuch IV. Tiefgreifende Auslöffelung der Gyri a. b. c.
Keine Anomalien der Bewegung.
Einem mittelgrossen jungen Hunde einer grossen Race wurde am
6. Juli 1874 zunächst eine Trepankrone von 11 mm dicht neben der
Mittellinie und vorn aufgesetzt. Da hiermit nur die Stirnhöhle eröffnet
war, so wurden Gyri a, b mit der Knochenzange freigelegt und die-
selben sodann mit einem grossen Staarlöffel, soweit sie überhaupt zu
erreichen waren, tief exstirpirt. Blutung massig. Nachher zeigt der
Hund keinerlei Anomalien.
— 85
7. Juli. Hat gefressen und läuft, wenn auch niisstrauisch, in der
Stube herum. Keine Störung der Bewegung.
18. Juli. Wunde geheilt. Etwas Husten, sonst sehr munter.
24: Juli. Viel Husten, sonst sehr munter. Vergiftung durch Cyankalium.
Section. Nach Abtragung des Pericranium erscheint an dem
vorderen Ende des Schädeldachs, etwas auf die rechte Seite hinüber-
greifend, eine etwa zweigroschengrosse, tiefe Depression, welche durch
eine weisse, feste Masse von theils knorpeliger, theils knochiger Con-
sistenz ausgefüllt ist. Diese wird in ihrer knöchernen Umgebung in
einem Stück zur näheren Untersuchung abgetragen und von der Dura
gelöst. Nach Zurückschlagung der sonst durchaus normalen, nur an
einer ganz kleinen Stelle mit der Pia verwachsenen Dura sieht man
unter der Pia an ihrer der Falx zugekehrten Seite im Bereiche des
vorderen Drittels der Hemisphäre ein dunkelrothes, frisches, confluirendes
Extravasat. Aehnliche submeningeale Extravasate finden sich in grosser
Menge an der Basis, besonders am Pons und bis in den Wirbelkanal
hinein. Die Gyri a, &, c sind ausserordentlich atrophisch. Links be-
trägt der kleinste Durchmesser in der Horizontalebene 4, rechts 8 mm,
der grösste links knapp 7, rechts 15 mm; beim Aufgiessen von Wasser
löst sich ein Stück Falx, welches mit der medialen Fläche des Rand^
Wulstes verwachsen war, ab und gewährt so den Einblick in eine den
Vorderlappen einnehmende, von bräunlich gefärbten, fetzigen Wänden
— 86 —
umgebene Höhle. Der Sulciis cruciatus links etwas nach vorn dislocirt
und der Gyrus d etwas verschmälert.
Versuch V. Tiefgreifende Auslöffelung der Gyri a. b. c.
Allgemeine Krämpfe am 5. und 6. Tage. Ausserdem keine
Anomalien der Bewegung.
Einem mittelgrossen, schwarzen Hunde wurde am 26. September 1874
mit einem Trepan von 11 mm Durchmesser der Sinus frontalis eröffnet
und von hier aus die Dura über Gyrus a aufgedeckt. Bei Incision der-
selben entsteht eine beträchtliche, nicht zu stillende Blutung aus einer
verletzten Vene. Auslöffelung der Gyri a, b, c, soweit sie zu erreichen
waren, dabei starke Blutung. Tamponade der Hirnwunde mit zwei
Schwammstreifen. Nach der Operation springt der Hund vom Tische,
ist sehr munter und zeigt keinerlei Anomalien.
27. September. Die Wunde fast ganz verklebt, ein Schwamm-
streifen wird entfernt. Durchaus keine Anomalien.
28. September. Die Wunde klafft, leichter braunschwarzer Prolaps;
der Rest des Feuerschwamm es wird entfernt, keinerlei Anomalien.
29. September. Status idem.
30. September. Bei der Untersuchung war der Hund durchaus
normal, hatte einen ziemlich grossen Prolaps. Während er nachher in
der Stube umherlief, trat plötzlich ein kurzdauernder Anfall von
Krämpfen ein, durch die der Hund nach links gegen die Wand ge-
schleudert wurde. Die Pupillen waren beide dilatirt und beide Bulbi
nach rechts gedreht. Die Dauer des Anfalles war so kurz gewesen,
dass über die sonst betheiligten Muskeln nichts Sicheres beobachtet
werden konnte. Nach demselben trat Erbrechen einer flüssigen, grün-
lichen Masse und starkes Speicheln ein, auch war der Hund, wie sich
aus seinem taumelnden Gange schliessen liess, offenbar schwindlig.
Nochmalige genaue Untersuchung wies die Abwesenheit anderweitiger
Anomalien nach.
1. October. Schwindlig, stark speichelnd, soll auch wieder ge-
brochen haben, so dass wahrscheinlich wieder ein Krampfanfall da-
gewesen ist. Sonst keinerlei Anomalien.
2. October. Verhält sich wieder normal.
7. October. Wunde beginnt zu vernarben.
10. October. Wunde vernarbt.
18. October. Der Hund hat sich bisher ganz normal verhalten.
Der Obductionsbericht über ihn wird gegeben werden, wenn von den
doppelseitigen Exstirpationen die Rede sein wird.
— 87 —
Betrachten wir das Resultat der vorstehenden fünf Versuche, so
ergiebt sich zunächst ganz übereinstimmend und ohne die geringste
Abweichung, mochte nun die experimentelle Verletzung des Gehirns
ganz oberflächlich sein, oder mochte sie den Hirntheil in seiner ganzen
Tiefe betreffen, dass niemals irgend eine Functionsstörung
erschien, welche auf die Hirnwunde selbst hätte bezogen
werden dürfen. Dieses Resultat ist im höchsten Grade bemerkens-
werth und wichtig. Durch dasselbe ist der letzte und nicht mehr an-
zufechtende Beweis für die Localisation im Grosshirn gegeben. Wir
werden später noch sehen wie ausserordentlich gut sich Hunde zum
Studium von Motilitätsstörungen eignen, und wie schön man jede, den
normalen Complex ihrer Bewegungseigenthümlichkeiten alterirende
Nuance zur Anschauung bringen kann. Wenn nun in den vorstehenden
Versuchen keine primäre Alteration der Motilität in die Erscheinung
trat, und wenn andererseits unendlich viel kleinere Läsionen anderer
cei'ebraler Provinzen unfehlbar zu wohlcharakterisirten Defecten der
Motilität führen, so ist zuvörderst und im Allgemeinen der Schluss
gerechtfertigt, dass es im grossen Gehirne Organgruppen giebt, welche
in directer Beziehung zu den Körperbewegungen stehen, und dass es
ferner andere Organgruppen giebt, welche nicht in directer Beziehung
zu den Körperbewegungen stehen. Das ist der Fundamentalsatz, auf
dessen Feststellung schon unsere ersten Versuche zielten, der durch
Nothnagel's Versuche weiter gekräftigt wurde, und der durch die
Versuche dieser Gruppe wohl gegen jeden Zw-eifel gesichert sein dürfte.
Längst schon geht das Bestreben der normalen und pathologischen
Physiologie dahin, Vorstellungen in ihr Lehrgebäude einzufügen, welche
auf sinnlich wahrnehmbare, einfache und unveränderliche Dinge zurück-
greifen. So roh vorläufig unsere Abgrenzungen auch sein mögen, sie
eröffnen doch die Hoffnung, dass sich das übrige Material mit der Zeit
in ihnen und urn sie gruppiren werde, während man noch vor Kurzem
das grosse Gehirn kaum als ein Object für die Forschung anerkennen
wollte.
Im Besonderen dienen diese Versuche zur Bestätigung meiner
Reizversuche, welche ihrerseits ebenfalls Reactionslosigkeit dieser Theile
ergaben, während Ferrier*) auch von hier aus allerlei Bewegungen
hervorgerufen hatte.
*) The fourth Volume of the West Riding Lunatic Asylum Medical Re-
ports, which has just been published, contains (under Nr. 1) a paper by Dr.
William B. Carpenter, entitled ,^0n the Physiological Import of Dr. Fer-
rier's experimental Investigations into the Functions of the Brain." Dr. Car-
Bei einem einzigen dieser Hunde (Versuch 3) zeigte sich am 4. Tage
eine leichte Motilitätsstörung, welche einer nicht ganz genauen Be-
obachtung entgangen wäre, und der wir in ausgeprägterer Form bei
anderen Versuchen wieder begegnen werden. Der Hund Hess die Ex-
tremitäten der linken Seite am 4. — 6. Tage spurweise dislociren. Gleich-
zeitig wurde durch das Entstehen eines erheblichen Prolapsus cerebri
eine entzündliche Schwellung der Umgebung der Hirnwunde bezeichnet,
und die endliche Section wies nach, (S. den Sitz der bindegewebigen
Auflagerung in Fig. 6), dass sich ihre hintere Begrenzung in die ge-
setzte Lücke hineingelegt hatte. Unter diesen Umständen, namentlich
da während der ersten 3 Tage absolut nichts davon wahrzunehmen ge-
wesen war, ist jene geringe und vorübergehende Abschwächung der
Function sicherlich nicht apf die verletzte, sondern um so mehr auf
«ine benachbarte Hirnpartie zu beziehen, als Verletzungen der letzteren
von der gleichen Störung unmittelbar und in viel höherem Grade ge-
folgt werden.
Die eben erwähnte Dislocation der benachbarten Gyri wurde auch
bei den späteren Versuchen immer dann beobachtet, wenn grössere
Mengen der Substanz direct oder vermöge des Prolapses entfernt worden
w^aren. Im Allgemeinen scheint der durch die Exstirpation entstehende
■Raum von Bindegewebe eingenommen zu werden. Auf diese beiden
Momente, nämlich das sich Einlegen der benachbarten Hirnmasse und
die Neubildung von Bindegewebe zur Ausfüllung von Lücken sind denn
auch wohl die unerwarteten autoptischen Bilder zu beziehen, wie z. B.
Fig. 3 eins bietet, bei denen die Auflagerung noch ganz andere Theile
als die verletzten bedeckt und selbst über die blosgelegten hinausreicht.
Besondere Störungen scheinen durch die Bindegewebswucherung an
und für sich nicht bedingt zu werden. Dafür spricht von den vor-
stehenden Versuchen grade auch der mehrerwähnte Versuch 3. Hier
erstreckt sich die bindegewebige Auflagerung weit üa den Gyrus e
hinein, ohne dass nennenswerthe Störungen des Muskelbewusstseins zu
Tage getreten wären. Schnitte durch diese Regionen lehren übrigens,
dass die Pia nicht verdickt ist, und die graue Substanz für das un-
bewaffnete Auge unverändert sein kann. Von den Functionsstörungen,
welche dennoch in den benachbarten Gebieten entstehen und von ihren
penter here, as well as on previous occasions, commits the slight mistake to
use Dr. Perrier's name where he should say Fritsch and Hitzig. In order
to assist him in avoiding similar errors, which ought to be most unpleasant to
himself, I write this remark in his own language, and I shall take the liberty
of forwarding him a copy of this paper.
— 89 —
Ursachen werden wir in der Folge noch zu sprechen haben. Ebenso
werden wir auch secundär erscheinenden atrophischen Zuständen wieder
begegnen. Hier habe ich nur noch hinzuzufügen, dass die auch später
vielfach beobachteten frischen Extravasate in und zwischen die Hirn-
häute mit dem pathologischen Vorgange direct weiter nichts zu thun
haben, sondern von der Vergiftung abhängig sind. Denn Thiere, welche
durch Abtrennung des Herzens von den grossen Gefässen getödtet
wurden, hatten keine frischen Blutergüsse.
2. Gruppe. Verletzungen des Gyrus d. (Vorderer Schenkel des
Gyrus sigmoides.)
Die von mir an dem Gyrus d früher angestellten Reizversuche
hatten im Allgemeinen ein negatives Resultat ergeben. Nur von seinem
lateralen Theile aus waren bei Anwendung stärkerer Ströme Bewegungen
des Kopfes, Zusammenziehungen der Nackenmuskeln hervorzubringen
gewesen, und auf sehr starke Ströme contrahirten sich auch die Heber
der oberen Lider beider Augen, während sich gleichzeitig die Pupille
der gegenüberliegenden Seite erweiterte. Die zuletzt angeführten Reiz-
effecte konnten wegen der grossen, zu ihrer Sichtbarmachung erforder-
lichen Stromiutensität auf die oberflächlichen Schichten überhaupt nicht
bezogen werden, sondern es war von vornherein klar, dass sie ihren
Ursprung dem Umstände verdankten, dass die Bahn wirksamer Strom-
schleifen sich bis zu tiefer gelegenen Theilen verbreitert hatte. Doch
konnte ich mich, wie schon früher erwähnt, selbst rücksichtlich des
Reizpunktes für die Nackenmuskeln nicht von allen Zweifeln frei machen.
Neue Versuche nach veränderten Methoden haben nur dazu beigetragen
die Bedenken, welche ich gegen das Vorhandensein eines Functions-
herdes für diese Muskeln in den oberflächlichen Schichten gefasst hatte,
zu vermehren, ohne dass ich mich jedoch über diese Frage schon jetzt
mit Bestimmtheit äussern möchte.
Wenn sich nun die Sachlage in diesem Sinne gestaltete, so würde
der ganze Gyrus d incl. seiner lateralen Ecke gleichfalls in keiner
directen Beziehung zu den Muskelbewegungen stehen, und so fragte es
sich bei Vornahme der Lähmungsversuche nicht nur, ob und in wie
weit durch dieselben das Resultat der Reizversuche im Allgemeinen
auch hier bestätigt werden würde, sondern auch, ob sich für diesen
besonderen Punkt vielleicht einige Anhaltspunkte würden gewinnen
lassen.
— 90 —
Versuch VI. Oberflächliche Zerstörung im medialen Drittel
des Gyrus d. Spur^Yeiser Defect der Willensenergie vom
3. bis 13. Tage. Keine Störung des Muskelbewusstseins.
Fio-. 8.
Einem mittelgrossen grauen Pinscher wurde am 6. Juni 1874 mit
Aufdeckung von a ein Theil des medialen Drittels des Gyrus d 4 mm
tief exstirpirt. Nachher zeigt der Hund absolut nichts Abnormes.
8. Juni. Linksseitiger Conjunctivalkatarrh. Passiven Bewegungen
des rechten Vorderbeins w'ird ein etwas geringerer Widerstand ent-
gegengesetzt*), keine Störung des Muskelbewusstseins.
18. Juni. Wunde in der Heilung, das rechte Vorderbein zeigt
noch eine Spur der erwähnten Anomalie.
19. Juni. Normal bis auf geringen linksseitigen Conjunctivalkatarrh.
1. Juli. Conjunctivalkatarrh seit einigen Tagen verschwunden.
Thier sehr munter.
24. Juli. Feste Vernarbung, vollkommenes W^ohlbefinden. Ver-
giftung durch Cyankalium.
Sectio n. Unregelmässiger Schädeldefect in der Richtung von der
Mitte des Arcus superciliaris nach der Medianlinie zu 15 mm, in der
darauf senkrechten Richtung 10 mm messend. Die dem Hirn auf-
sitzende, bindegewebige Masse hat in sagittaler Richtung 10, in fron-
taler 8 mm und reicht über d weit hinaus in das Gebiet von a hinein.
Die Gyri a. h, c sind stark abgeflacht, das linke Corpus striatum ist
etwas nach oben verschoben.
Versuch VII. Oberflächliche Zerstörung im medialen Drittel
des Gyrus d. Keinerlei Anomalien.
Einem mittelgrossen schwarzen Hunde wurde am 12. October 1874
die Dura über dem medialen Drittel des Gyrus d in dem Winkel
*) Ich werde dieses Symptom in der Folge mit dem Ausdrucke „Defect
der Willensenergie" bezeichnen.
— 91 —
zwischen Sulcus cruciat. und grosser Längsspalte mit einer 8 mm
Trephine freigelegt, wegen der Kleinheit der Oeffnung Dura und Pia
mit spitzem Scaipelle in Einem umschnitten und die Hirnmasse auf
etwa 3 mm ausgelöffelt. Unmittelbar nachher springt der Hund vorn
Tische und zeigt keinerlei Anomalien.
13. 14. October. Status idem.
16. October. Vollkommene Trübung der rechten Cornea, leichter
doppelseitiger Conjunctivalkatarrh, sonst keinerlei Anomalien.
17. October. Status idem. Wird getödtet.
Section: In der Umgebung der Schädellücke ist das Pericranium
in eine dicke, leicht gelblich gefärbte, von zahlreichen kleinen Blut-
Fiff. 9.
extravasaten durchsetzte Schwarte verwandelt. Aeusserst wenig Cerebral-
und Spinalflüssigkeit. Dura und Pia normal. Ein braunrother, kreis-
runder Prolaps (P. Fig. 9) füllt eben die Schädellücke aus, sitzt sehr
genau an der oben bezeichneten Stelle. Auf dem Durchschnitt erscheint
ein Jbrauurother Herd, der mit zwei im Ganzen 5 mm langen Zipfeln
in die weisse Substanz hineinreicht. Die Zerstörung des Hirns hat eine
trichterförmige Gestalt, so dass in der Tiefe zwischen Sulc. cruciat. und
Herd noch etwas, wenn auch verfärbte Substanz erhalten ist. Nur an
der Oberfläche reicht der Defect bis an die Furche.
Versuch Vni. Oberflächliche Zerstörung im mittleren Drittel
des Gyrus d. Keinerlei Anomalien. Ekzeme an den Beinen.
Tod an Pneumonie.
Kleiner, schwarzer Hund mit Ophthalmie auf dem rechten, Katarrh
auf dem linken Auge, rechts eine der Perforation nahe Stelle. 15. Juni
1874. Trepanation nahe der Mittellinie mit einer Trephine von 11 mm
Durchmesser. Exstirpation einige mm tief im mittleren Drittel des
Gyrus d. Nachher nichts Abnormes.
16., 17. Juni. Nichts Abnormes.
— 92 —
18. Juni. Zutraulich, Augen etwas besser, hingegen entstehen an
der Innenfläche beider Kniegelenke längliche, oberflächliche Hautdefecte
ohne Eiterung.
25. Juni. Ist in den letzten Tagen allmählich schwächer ge-
worden, vermag sich schlecht auf den Beinen zu halten, dennoch lässt
sich die Abwesenheit von Störung des Muskelbewusstseins noch con-
statiren; auch die Augen sind schlechter geworden. Die Wunde zeigt
keine Tendenz zur Heilung und ist mit dünnem, spärlichem Secret be-
deckt. Haut sehr kühl.
26. Juni. Tod.
Section. Schädelknochen nach vorn imd hinten von der Lücke,
aussen etwas missfarbig, porös, innen mit vielen kleinen Rauhigkeiten
Piff. 10.
besetzt. Diploe sehr dick und blutreich. Zwischen Dura und Pia
linkerseits über dem Scheitellappen kartenblattdickes, schwarzes Extra-
vasat von syrupähnlicher Consistenz; Pia beiderseits massig vascularisirt.
Sinus strotzend von halb geronnenem Blut. Hirnsubstanz sehr weich,
der Defect nimmt das mittlere und ein Stück des lateralen Drittels des
Gyrus d ein, zwischen ihm und Sulcus cruciatus sieht man noch etwas
normale Substanz. Auf dem Durchschnitt erscheint ein Keil, der mit
rotheu, linearen Zipfeln nur wenige mm tief in die weisse Substanz
hineinreicht. Die unteren Lappen der rechten Lunge roth, der linken
schiefrig hepatisirt.
— 93 —
Versuch IX. Oberflächliche Zerstörung der zwei lateralen
Drittel des Gyrus d. In den ersten 3 Tagen nach der Ope-
ration keine Anomalien. Am 4. und 5. Tage deutliche Stö-
rung des Muskelbewusstseins. Pachymeningitis sinistra.
Leichte gelbliche Verfärbung im Gyrus e.
Fig. 11.
Einem kleinen schwarzen Hunde wurde am 10. Juni 1874 eine
Trepankrone von 14 mm Durchmesser mit Eröffimng der Stirnhöhle
über Gyrus d aufgesetzt und derselbe in ziemlich grosser Ausdehnung
in der Tiefe von etwa 4 mm zerstört. Unmittelbar nachher zeigt der
Hund keine Anomalien.
11., 12. Juni. Sehr munter. Reine Anomalien.
13. Juni. Erheblicher Prolaps, deutlich ausgesprochene Störung
des Muskelbewusstseins in der rechten Vorderpfote; diese lässt sich in
allerlei abnorme Stellungen bringen, ohne daraus entfernt zu werden.
Hingegen setzt der Hund bei activen Bewegungen das Bein nicht
abnorm. Das Hinterbein ist normal.
14. Juni. Störung des Muskelbewusstseins in der Vorderextremität
weniger ausgesprochen, im Hinterbein vielleicht spur weise vorhanden,
insofern er letzteres ein wenig nach vorn und innen bringen lässt.
15. Juni. Störung des Muskelbewusstseins ganz verschwunden.
18. Juni. • Wunde in der Verheilung.
25. Juni. Wunde vernarbt; Thier sehr munter.
27. Juli. Der Hund hat sich inzwischen vollkommen normal ver-
halten. Vergiftung mit Cyankalium.
Section. Schädeldefect misst schräg von vorn aussen nach hinten
innen 16 mm, in der darauf senkrechten Richtung 15 mm. Die Knochen-
lücke durch eine bindegewebig-gallertige, gelblich gefärbte Masse aus-
gefüllt. Die Dura der linken Convexität und die der Basis der mittleren
Schädelgrube in eine sehr dicke, knorpel artige Membran A^erwandelt,
von deren Innenfläche sich noch eine weiche, gelbliche, fibrinöse, zu-
— 94 —
sammenliäugende Auflagerung abtrennen lässt. Die Dura der vorderen
Schädelgrube ist von dieser Veränderung frei geblieben; zwischen den
Lamellen der krankhaft veränderten Dura der mittleren Schädelgrube
finden sich an der Couvexität einige kleine, bis linsengrosse, alte
Extravasate. Ein sehr grosses, ganz frisches Extravasat an der Basis.
Adhäsionen zwischen Dura und Pia finden sich nur an den Rändern
der Hirunarbe. Diese nimmt sehr genau den lateralen Theil des Gyrus d
ein, die bindegewebige Auflagerung zieht sich um etwas in das laterale
Ende des Gyrus e hinein. Ebenso erstreckt sich, wie ein hinter der
Narbe geführter Schnitt zeigt, eine leichte, gelbliche Verfärbung der
Rindensubstanz über den Sulcus cruciatus hinaus nach der Mitte des
Gyrus e zu. Die Gyri a, b, c erscheinen kaum abgeflacht.
Versuch X. Oberflächliche Zerstörung des lateralen Drittels
des Gyrus d. In den ersten 4 Tagen keine Anomalien. Massige
Störung des Muskelbewusstseins in der Vorderpfote am 5.,
geringe am 6. Tage.
Fiff. 12.
Einer kleinen, schwarzen Hündin wird am 9. Septbr. 1874 in der
Morphiumnarkose die Stirnhöhle mit der 11 mm Trephine eröflnet,
von hier aus das laterale Ende des Gyrus d freigelegt und in dem-
selben eine Zerstörung von etwa 4 mm Tiefe angerichtet. Beträchtliche
Blutung aus dem Knochen. Unmittelbar nach der Operation schläft
der Hund; 3 Stunden später ist er immer noch betäubt.
10. September. Kauert sich sofort nieder, so dass nichts be-
obachtet werden kann. Wunde trucken.
11. September. Keinerlei Anomalien. Wunde trocken.
12. September. Nicht die Spur irgend welcher Bewegungsstörung.
Massiger granitfarbiger Prolaps.
13. September. Massige aber deutliche Störung des Muskelbewusst-
seins in der Vorderpfote. Diese lässt sich nach mehreren vergeblichen
— 95 —
Versuchen mit dem Dorsum der Zehen und des Kusses aufsetzen und
bleibt dann längere Zeit in dieser Stellung, ebenso lässt sie sich nach
hinten innen — nicht nach aussen — dislociren. üeber den Tischrand
lässt der Hund das Glied nicht herabhängen, sondern hält sich an dem-
selben fest. Keine Störung in der Hinterpfote. Prolaps bräunlich blutig.
14. September. Kaum noch Störung des Muskelbewusstseins. Nur
nach vielen vergeblichen Versuchen lässt er einmal auf kurze Zeit die
Pfote mit dem Dorsum aufgestellt und nach hinten dislocirt. Sonst
keinerlei Anomalien.
15. September. Keine Störung des Muskelbewusstseins mehr nach-
zuweisen. Möglicherweise sträubt er sich gegen Dislocationsversuche
mit der rechten Vorderpfote etwas weniger als mit der linken.
16. September. Wunde in der Heilung.
25. September. Verhielt sich bisher normal, indessen sträubt er
sich vielleicht noch jetzt etwas weniger gegen Dislocationsversuche der
rechten Vorderpfote. Wunde vernarbt, nur im unteren vorderen Wund-
winkel noch ein wenig Eiter. Wird getödtet.
Section: Die noch eiternde Stelle führt in den am Boden mit
dickem grünen Eiter bedeckten Sin. frontal. Die Schädelwunde durch
eine halb bindegewebige, halb sulzige Masse erfüllt. Dura cerebr. et
spin. beiderseits durchgehends stark weisslich getrübt, nirgends adhärent,
kaum in der Gegend der Narbe. Die Hirnnarbe sitzt am lateralen Ende
des Gyrus d^ reicht soeben mit der Spitze bis an den Sulc. cruc. Auf
einem durch ihre Mitte gelegten Frontalschnitte zeigt sich, dass sie
hinten die Rinde kaum halb durchsetzt, vorn etwa 5 mm in die Tiefe
reicht. Dort befindet sich eine senkrechte fast lineare Continuitäts-
trennung, umgeben von kleinen, röthlichen Punkten; auf der hinteren
Schnittfläche ein ebenso langer, röthlicher, punktirter Streifen.
Versuch XI. Oberflächliche Exstirpation im lateralen Drittel
des Gyrus d mit partieller Aufdeckung des Gyrus e. Un-
mittelbar nach der Operation keine Anomalien. Häufige
Insultirung der Wunde — hochgradige und anhaltende Stö-
rung des Muskelbewusstseins. Hämorrhagische Zertrümme-
rung fast des ganzen Gyrus e und eines grossen Theiles von d.
Einem mittelgrossen, ausgewachsenen, aber noch jungen schwarzen
Hunde wurde am 11. September 1874 der laterale Theil des Gyrus cl
und ein Stück von e mit Eröffnung der Stirnhöhle aufgedeckt. Durch
den freigelegten Theil liefen zwei grosse Venen in annähernd frontaler
Richtung, welche geschont werden sollten. So wurde nur ein drei-
eckiges, nach vorn gelegenes Stück des Gyrus d in der Tiefe von 4 mm
— 96
und zwar fast ohne Blutung entfernt. Unmittelbar nach der Operation
springt der Hund behend vom Tisch und zeigt nicht die geringsten Spuren
von Störung des Muskelbewusstseins, noch ein verschiedenes Verhalten der
Extremitäten bei Dislocationsversuchen, noch eine Deviation der Beine beim
Emporheben an der Rückenhaut. Eine halbe Stunde später Status idem.
12. September. Die Wunde ist grösstentheils offen, secernirt kaum.
Der Hund läuft auf dem Fussboden, abgesehen davon, dass er mit dem
rechten Vorderbeine bei schnellen Wendungen leicht ausrutscht, ganz
normal, kann sich aber auf dem Tisclie nicht aufrecht halten, sondern
fällt sofort auf die rechte Seite und macht dann keinerlei Anstrengungen,
sich wieder aufzurichten, noch versucht er, vom Tische zu springen.
An der Rückenhaut in die Höhe gehoben, streckt er das linke Vorder-
Fiff. 13.
bein in senkrechter Richtung von sich, das rechte hingegen hält er
mehr gegen den Leib gezogen und in der Richtung von aussen nach
innen. Lässt man ihn dann auf den Tisch herab, so. behält das Bein
die angegebene Stellung bei, und daher rührt das Umfallen. Das rechte
Hinterbein hingegen deviirt beim Aufheben nach aussen, und rutscht
beim Herablassen in dieser Richtung davon. Beide Extremitäten der
rechten Seite können widerstandslos in beliebige abnorme Stellungen
gebracht werden und nehmen nur bei allgemeinen Bewegungsintentionen
andere Stellungen ein. Hierbei wird die rechte Vorderpfote häufig mit
dem Dorsum der Zehen aufgesetzt.
13. September. Allgemeinbefinden gut, noch kein Prolaps sichtbar.
Der Hund kann heute auf dem Tische gut stehen. An der Rückenhaut
in die Höhe gehoben, deviirt nur die Hinterpfote nach aussen, die
— 97 —
Vorderpfote verhält sich in dieser ßezieliung iiornuil. Die Störung des
Muskelbewusstseins ist in derselben schwerer nachweisbar. Der Dis-
location wird bei den ersten Versuchen Widerstand entgegengesetzt,
dann gelingt sie, und nun bleibt das Glied in abnormen Stellungen.
Es wird auch spontan unzweckmässig, insbesonden; ])ronii-t aufgesetzt.
Auch lässt der Hund dieses Bein beliebig lange über den Tischrand
herabhängen und setzt es spontan in's Leere, so dass er vom Tische
stürzen würde, wenn man ihn nicht unterstützte. Die Hinterpfote lässt
sich hingegen beliebig dislocii'en und mit dem Dorsum der Zeheu auf-
setzen, ohne dass sie repouirt würde.
14. September. Der Hund soll seit gestern sehr oft gefallen sein
und sich dabei die Schädelwunde gestossen haben; auch heute wird
dies mehrfach beobachtet. Es ist ein sehr grosser Prolaps erschienen,
der obere Wundrand etwas geschwollen. Allgemeine Empfindlichkeit.
Beim Laufen in der Stube fällt er, oder rutscht wenigstens mit dem
rechten Vorderbein aus, überhaupt ist die Störung des Muskelbewusst-
seins in demselben erheblich grösser als gestern. Beim Aufheben
deviiren beide Vorderbeine stark nach Ihiks, das rechte Hinterbein
nach aussen.
16. September. Status idem. Der Prolaps ist noch grösser ge-
worden und wird durch häufiges Fallen immerwährend verletzt.
25. September. Sehr grosser Prolaps. Störung des Muskelbewusst-
seins in der Hinterpfote verschwunden, in der Vorderpfote erheblich
geringer, nur nach vielen vergeblichen Versuchen kann man sie mit
der Spitze des Dorsum der Zehen aufsetzen, sie wird aber sehr bald
reponirt. Der bei diesem Versuche geleistete Widerstand ist nicht
schwächer, als links. Hingegen lässt der Hund die Pfote beliebig
lange über den Tischrand herabhängen und tritt mit derselben wieder-
holt in's Leere. An der Rückenhaut in die Höhe gehoben, deviirt das
rechte Vorderbein äusserst stark nach innen, das linke massig nach
aussen, das rechte Hinterbein ziemlich stark nach hinten aussen.
28. September. Bisher Status idem. Heute ist der Prolaps wieder
wmidgestossen und die Störung des Muskelbewusstseins in der rechten
Vorderpfote wieder deutlicher.
30. September. Prolaps sehr gross. Störung des Muskelbewusst-
seins in der Vorderpfote sehr hochgradig, in der Hinterpfote nicht vor-
handen. Dauernd allgemeine Empfindlichkeit.
2. October. Prolaps im Abschwellen. Störung des Muskelbewusst-
seins in der Abnahme.
3. October. Wie gestern. Stösst sich nach der Untersuchung den
Hitzig, Gesammelte Abhandl. I. Theil. '7
Prolaps wieder blutig — sofort wieder stärkere Störung des Muskel-
bewusstseins.
14. October. Prolaps ziemlich klein geworden. Störung des
Muskelbewusstseins in beiden Extremitäten noch deutlich.
17. October. Wunde fast geschlossen, blasige Narbe. Vorn immer
noch sehr deutliche Störung des Muskelbewusstseins und kein Wider-
stand bei Dislocationsversucheu, hinten nur das letztere Symptom. Ob
beim Aufheben an der Rückenhaut noch Deviation besteht, lässt sich
nicht entscheiden, da der Hund in Folge seiner allgemeinen Hyper-
ästhesie Abwehrbewegungen macht.
20. October. In der Hinterpfote keine, in der Vorderpfote massige
Störung des Muskelbewusstseins.
21. October. Der Hund^ setzt die dislocirten Extremitäten sofort
wieder in die vorher eingenommene Stellung zurück, indessen setzt er
der Dislocation selbst keinen Widerstand entgegen. Dieses letztere
Symptom besteht auch in der linken Vorderpfote und wird daselbst
auch noch in den nächsten Tagen beobachtet, wie es denn auch schon
früher bemerkt war, ohne dass jedoch sein erstes Auftreten notirt
worden wäre. Fasst man den auf dem Tische stehenden Hund mit
einer Hand unter dem Kopfe und hebt auf diese Weise den Vorder-
körper sanft in die Höhe, so dreht sich das rechte Vorderbein mit
einer leichten Pronationsbewegung derart nach innen, dass es mit dem
linken Beine convergirt, und bleibt auch beim Niederlassen des Thieres
in dieser Stellung. Ferner lässt der Hund beide linke Extremitäten
noch über den Tischrand herabhängen.
23. October. Ganz unverändert. Vergiftung mit Cyankalium.
Section. Die Schädellücke durch eine die äussere Haut über-
ragende, weissliche, scheinbar blasige Narbe geschlossen. Dura fleck-
weise weisslich, sehnig verdickt, links der Pia locker (durch kleine Ge-
fässe?) anhaftend. Pia normal, nur an der Basis des Pons und der
Medulla obl. zahlreiche, ganz frische Extravasate in ihr Gewebe. Die
Auflagerung sitzt der Hirnmasse wie ein Champagnerkork auf, so dass
sie ihre Verbindung mit der letzteren ringsum, namentlich aber am
vorderen Rande beträchtlich überragt, ohne dass diese aufliegende Masse
mit der Pia verwachsen wäre. Der Durchschnitt lehrt, dass ihre scheinbar
blasige Bedeckung durch eine knorpelartige, wie eine Kappe aufliegende
Membran gebildet wird. Auf einem Frontalschnitte unmittelbar vor dem
lateralen Ende des Sulc. cruc. erscheint ein derber, streifiger, roth-
brauner, stellenweise gelblicher, mit kleinen Höhlen durchsetzter, keil-
förmiger Herd, der hier 7 mm unter das Niveau der Pia reicht, und
auf einem Sagittalschnitte durch den hinteren Abschnitt mehrere die
— 99 —
Decke des Seitenventrikels berührende Zipfel zeigt. An dieser Stelle,
wie auch an der benachbarten den Nucleus caudatus bedeckenden Stelle
ist das Ependym hellbräunlich gefärbt. Die ganze Hirnhälfte erscheint
schmaler, weisse wie graue Substanz haben einen Stich in's Bräunliche,
Grenze zwischen ihnen undeutlich. Die weisse Substanz ist namentlich
gegen die andere Seite viel spärlicher vorhanden und leicht zernagt,
Nucleus caudatus selbst schmaler und blasser.
Versuch XII. Oberflächliche Exstirpation des mittleren
Drittels des Gyrus d mit Aufdeckung des Gyrus e. Sofort
äusserste Unsicherheit, hauptsächlich auf Störung des
Muskelbewusstseins in der Hinterpfote beruhend. Tod am
8. Tage. Erweichungsherde.
Fig. 14.
Einem kleinen, schwarzen Hunde wurde am 20. Mai 1874 eine
Trepankrone von 14 mm Durchmesser so aufgesetzt, dass die Gyri d e
in der Umgebung des Sulcus cruciatus frei lagen. Blutung gering.
Exstirpation des mittleren Drittels des Gyrus d (S. E. Fig. 14) bis zum
Sulcus cruciatus in der Tiefe von 4 mm. Nach der Operation befindet
sich der Hund äusserst deprimirt, will oder kann nicht stehen und fällt
fortwährend, selbst aus der sitzenden Stellung nach rechts herüber,
ohne dass wegen der grossen Depression etwas Sicheres über die Ur-
sache des Umfallens zu eruiren wäre.
21. Mai. Der Hund kann sich mit seinen Extremitäten ausser-
ordentlich schlecht Orientiren, namentlich zeigt sich dies, wenn er auf
den glatteren Tisch gesetzt wird, jedoch auch schon auf dem Fuss-
7*
— 100 —
bodeii. Er wirft danu die Extremitäten regellos durcheinander und
fällt nach der rechten Seite herüber. Beide rechten Extremitäten lassen
sich, wenn man das Thier zurecht gestellt hat, in abnorme Stellungen
bringen, jedoch ist die Unsicherheit so gross, dass der Hund schon bei
geringen Verschiebungen der Glieder hinstürzt. Dabei besteht noch
grosse Depression, der Kopf hängt nach vorn, und der Puls ist in
eigenthümlicher Weise uuregelmässig, es folgen drei Schläge in langen
und vier in kurzen Pausen.
22. Mai. Depression hat sich ziemlich verloren. Nun zeigt sich,
dass die bisher beobachtete Motilitätsstörung fast ganz auf Rechnung
des Hinterbeines kommt. Dieses rutscht zwischen den drei anderen
Beinen nach vorn davon, bis es vor den Vorderbeinen angekommen ist
und bis zur Schnauze reicht. Weil er sich dieses Beines schlecht be-
dienen kann, stürzt der Hund bei jeder plötzlichen Veränderung der
Stellung nach rechts herüber, das Bein kann auch passiv in beliebige
andere Stellungen gebracht werden, ohne dass es zurückgezogen würde.
Das Vorderbein hingegen ist nur sehr wenig alterirt.
23. Mai. Status idem, aber sehr reichliche, chocoladenfarbige
Eiterung.
27. Mai. Tod, nachdem der Hund seit dem 23. wegen einer Reise
nicht beobachtet worden war.
Section. 29. Mai. Hautwunde nicht verklebt. Schädelwunde
durch einen Prolaps von brauner Farbe ausgefüllt. Dura über beiden
Hemisphären leicht weisslich getrübt, nicht adhärent. Pia über beiden
Hinterlappen leicht fleckweise injicirt. Der Prolaps besteht an der
Oberfläche aus einer trockenen, lederartigen Masse (Coagulum), von
dieser aus geht ein rothbrauner Erweichuugsherd aus, der sich mit
einer keilförmigen Spitze vor dem Sulcus cruciatus her bis in das
Epeudym des Vorderhorns des Seitenventrikels erstreckt, das dort kleine
bräunliche Herde zeigt, im üebrigen normal ist. Diese Spitze zieht
dann median- und vorwärts vom Kopf des Nucleus caudatus nach der
Basis und vorn zu, der Nucleus caudatus selbst ist intact. Kleine frische,
submeningeale Blutung in die vordere Verlängerung der Sylvischen Grube,
dicht an ihrem medialen Ende. Dort ist die Spitze des Vorderlappens
in der Rinde (Gyri &, c.) roth erweicht.
Versuch XIH. Tiefe Exstirpation im mittleren Drittel des
Gyrus d mit partieller Aufdeckung des Gyrus e. Unmittelbar
nach der Operation deutliche Störung des Muskelbewusst-
seins in der Hinterpfote, in der Vorderpfote am 2. Tage, am
101
7. Tage normal. Rrweichungshorde im Gyrus e. Beginnende
Pneumonie. Hämorrliagischo Tnfarcte der Lunge.
Einer mittelgrossen gelben Hündin wurde am 2. October 1874 mit
der 11 mm - Trephine das laterale Drittel von Gyrus d und ein
schmaler Streifen derselben Gegend von Gyrus e aufgedeckt, die
Knochenwunde an ihrer vorderen und medialen Peripherie mit der
Zange etwas erweitert, die Pia an der letztgenannten Stelle (S. E. Fig. 15)
umschnitten und die umschnittene Partie, welche unmittelbar vor der
Mitte des Sulc. cruciat. liegen muss, auf die Tiefe von 20 mm mit dem
Staarlöffel entfernt. Blutung ganz gering.. Unmittelbar nach der Ope-
ration zeigt die Vorderpfote weder Störungen des Musicelbewusstseins
noch einen geringeren Widerstand gegen Disiocationsversuche. Die
Hinterpfote lässt sich hingegen widerstandslos nach hinten dislociren
und mit dem Dorsum aufsetzen, ohne dass sie reponirt würde, während
der Hund Dislocirung derselben nach vorn innen zwar zulässt, aber
durch eine Bewegung mit der anderen Seite sofort wieder ausgleicht.
Er lässt die Hinterpfote kurze Zeit über den Tischrand herunterhängen
ohne sie zurückzuziehen, die Vorderpfote verhält sich auch in dieser
Beziehung normal. Rechte Pupille auf kurze Zeit etwas, aber deutlich
verengert, jedoch bei Lichtwechsel sowohl vereugeruugs- als erweiterungs-
fähig. Pupillendifferenz 1/2 Stunde später verschwunden. Ob Seh
Störung, fraglich.
3. October. Sehr depriniirt. Der Prolaps erfüllt die Wunde,
Störung des Muskelbewusstseins in beiden rechten Extremitäten sehr
— 102 —
deutlich, ohne maximal zu sein. Die über den Tischraud herab-
hängenden Pfoten zieht der Hund bald zurück. Beim Emporheben an
der Rückenhaut deviireu alle vier Extremitäten nach links. Rechte
Pupille etwas erweitert, reagirt zwar, verengert sich aber nicht in dem
Grade als die linke.
5. October. Status idem. Beim Aufheben an der Rückenhaut
wird das rechte Vorderbein mehr angezogen und deviirt stark nach
innen, das linke schwach nach aussen, beide Hinterbeine schwach nach
links.
6. October. Das rechte Vorderbein deviirt stark nach innen, das
linke grade, beide Hinterbeine schwach nach links. Störung des Muskel-
bewusstseins und Defect der Willensenergie in der Abnahme.
7. (Jetober. Störung des JVluskelbewusstseins und Defect der Willens-
energie im Vorderbein nur noch spurweise, im Hinterbeine besser nach-
weisbar. Der Dislocation des Vorderbeins setzt er bei den ersten Ver-
suchen schon Widerstand entgegen. Keine Deviation mehr.
8. October. Störung des Muskelbewusstseins und Defect der Willens-
energie verschwunden. Keine Deviation. Prolaps eingesunken. Etwas
Husten.
14. October. Bisher normal. Wunde fast vernarbt, hingegen viel
mühsamer Husten.
18. October. Sehr viel in Anfällen auftretender mühsamer Husten,
zunehmende Abmagenmg, sonst keine Anomalien, Wunde vernarbt.
Wird getödtet.
Section. Die Umgebung der SchädeJlücke etwas deprimirt, diese
selbst von einer an den Rändern knorpligen, in der Mitte bindegewebig-
gallertigen Masse ausgefüllt. Knochen in der Umgebung au der Innen-
fläche rauh, porös, Diploe durch gehends sehr reichlich, Dura und Pia
bis auf allgemeine weissliche Trübung der ersteren normal. Die binde-
gewebige Auflagerung nimmt genau den Gyrus d ein, von ihr aus reicht
aber (S. H. Fig. 15) eine violette, weiche, eingesunkene Stelle über den
Sulc. cruc. hinaus nach Gyrus e hinein. Eine ähnliche violette, ein-
gesunkene Stelle findet sich auch an der die Auflagerung medianwärts
begrenzenden Partie des Randwulstes. Auf einem unmittelbar vor dem
Sulc. cruc. geführten Frontalschnitte erscheint ein keilförmiger, rother
Herd, dessen Spitze nach hinten bis dicht an das Ependym reicht.
Dieses ist jedoch rein weiss. Weiter nach hinten überragt der Herd
den Sulc. cruc. nur in der Rinde und auch hier verschwindet er gegen
das laterale Ende der Furche hin. Ein Sagittalschnitt durch den
vorderen Abschnitt des Hirns zeigt, dass der Staarlöffel unmittelbar
vor dem Vorderhorne 20 mm weit in die Tiefe gedrungen ist, und hier
— 103 —
eiue von altem Extravasat erfüllte Furche zurückgelassen hat. Nament-
lich auf der vorderen Schnittfläche des Frontalschnittes bemerkt man
eine sehr deutliche allgemeine Atrophie der Substanz, insbesondere
auch der grauen Rinde der medialen Fläche. Der linke Nucleus
caudatus ist reichlich 3,5 mm höher als der rechte, so dass der Seiten-
ventrikel erweitert, aber dennoch durch das Ganglion ganz ausgefüllt
erscheint. — Beide untere Lappen der Lungen dunkler gefärbt, derber,
aber noch lufthaltig. In den oberen Lappen beiderseits zahlreiche
hämorrhagische Infarcte, im Centnun ein schwarzrothes Coagulnm, in
der Peripherie hellrothere Färbung zeigend, mehrere mm in die Tiefe
reichend. Ursache für dieselbe wurde nicht aufgefunden. An dem
Peritonealüberzuge der Leber reichliche fleck- und strichweise Injection.
Versuch XIV. Tiefe Exstirpation des ganzen Gyrus d. Un-
mittelbar nach der Operation erheblicher Defect der Willens-
energie in der Vorderpfote. Am 2. und 3. Tage Störung des
Muskelbewusstseins in beiden Extremitäten. Quetschung
des Prolapses: dauernde Störung des Muskelbewusstseins.
Fiff. 16.
Mittelgrosser, schwarzweisser, junger Hund einer grossen Race.
S.Juli 1874 Trepanation mit einer Krone von 11 mm Durchmesser über
dem mittleren Theile des Gyrus ä, so dass Gyrus e nur ganz wenig
aufgedeckt wird. Erweiterung der Knochenlücke in frontaler Richtung
nach beiden Seiten, Umschneidung fast des ganzen Gyrus cl bis fast auf
die Basis, das Loch ist 25 mm tief. Auslöffelung der umschnittenen
Partie. Blutverlust bei der ganzen Operation massig. Unmittelbar
nachher bestehen keine Störungen des Muskelbewusstseins, hingegen
ist der Widerstand, welchen der Hund dem Aufsetzen der Vorderpfote
mit dem Dorsum entgegenbringt, beträchtlich geringer, als auf der
anderen Seite. Wird das Glied aber losgelassen, so setzt er es sofort
in die Normalstellung zurück. Die Hinterpfote verhält sich normal,
ebenso ist der Gang ganz ungestört.
— 104 —
4. Juli. Störung des Muskelbewusstseins in beiden rechten Ex-
tremitäten deutlich ausgesprochen, ohne jedoch das Maximum zu er-
reichen.
6. Juli. Störung des Muskelbewusstseins ganz verschwunden,
Hinterbein überhaupt normal, Vorderextremität lässl ^.r widerstandslos
dislociren, bringt sie aber, wenn losgelassen, sofort wieder zurück.
Durch eine Unvorsichtigkeit quetsche ich den bis dahin sehr geringen
Prolaps heftig, dieser wird gleich nachher bedeutend grösser und die
Störung des Muskelbewusstseins sehr ausgesprochen.
7. Juli. Es entleert sich fortdauernd Hirnmasse. Störung des Muskel-
bewusstseins äusserst hochgradig, derar\;, dass der Hund auf dem Tische
mit beiden rechten Beinen um sich wirft und nach rechts umfällt, sobald
die Sicherheit seiner Stellung nur im Geringsten beeinträchtigt wird;
überhaupt kann er auf dem Tische nur dann stehen, wenn ihm die
rechten Extremitäten passiv in ein zwecki Rassiges Yerhältniss zu den
linksseitigen gebracht werden. Auf wenig,,^r glattem Boden kann er
mit den gewöhnlichen Störungen laufen. *
8. Juli. Status idem.
10. Juli. Hält sich etwas besser auf den Beinen.
18. Juli. Störung des Muskelbewusstseins hat weiter abgenommen,
ist aber noch immer sehr hochgradig. Wunde in der Vernarbung.
20. Juli. Störung des Muskelbewusstseins viel geringer, aber immer
noch sehr deutlich. Wunde vernarbt.
30. Juli. Der Hund ist sehr lebhaft, das Hinterbein verhält sich
normal, das Vorderbein hat sich seit dem 20. Juli nicht verändert.
Wenn er am Strick nach der Nahrung drängt, rutscht die Vorderpfote
aus; man kann dieselbe noch immer in allerlei abnorme Stellungen
bi-ingen, supiniren, mit dem Dorsum aufsetzen und dergl. Allerdings
bleibt sie nur kurze Zeit in hochgradigen Verdrehungen, bei der activen
Reposition geräth sie aber fast regelmässig mit dem Dorsum der Zehen
auf den Tisch und wird erst normal aufgesetzt, wenn ein neuer Be-
wegungsimpuls eintritt. Dies ist derselbe Zustand, wie er seit dem
20. Juli unverändert bestanden hat. Vergiftung mit Cyankalium.
Section. Der Schädeldefect durch eine gelbliche, sehr blutreiche,
bindegewebige Masse ausgefüllt. Die Dura der linken Convexität über
dem Hiuterlappen in netzförmiger Zeichnung stark verdickt, mit kleinen
Extravasaten verschiedenen Datums durchsetzt und der Pia vielfach
adhärent. Die Dura der rechten Hirnhälfte und die Pia sonst zeigt
keine Anomalien. Die bindegewebige Auflagerung begreift den Gyrus d.
mit Ausnahme seines lateralen M^inkels und einen Theil von e in sich.
Beim Herauspräpariren trennt sie sich an ihrer hinteren Grenze von
— 105 —
der Hirnsubstanz. Ein durch diese iStello schräg "nach vorn gelegter
Frontalschnitt deckt eine grosse, von maschigem Gewebe und Coaguiis
verschiedenen Alters erfüllte Höhle auf. Der Seiten Ventrikel ist in die
Höhe gezogen; der Kopf des Nucleus caudatas nach oben dislocirt, hin-
gegen die Ganglien an der Durchschnittsstelle in ihrer Substanz nicht
verändert. Die ganze vordere Hirnpartie erscheint auf dem Durch-
schnitt stark atrophisch. Ausserdem ist der linke Tractus olfactorius
in seiner lateralen Hälfte durchschnitten und die Schnittenden durch
eine bräunliche Masse verklebt.
Durch die vorstehenden 9 Versuche wird die Frage, ob
der Gyrus d in directer Beziehung zur Muskelbewegung der
Extremitäten steht oder nicht, in negativem Sinne beant-
wortet und hierdurch das Resultat der Reizversuche eben-
falls bestätigtes).
Bei den drei ersten dieser Hunde (Versuch 6, 7 u. 8) kam es
überhaupt nicht zu Störungen des Muskelbewusstseins. Die Objecte der
Versuche 9, 10, 11 und 14 zeigten das Symptom unmittelbar nach der
Verletzung nicht, es trat jedoch später auf kürzere oder längere Zeit
ein. Bei dem Versuche 13 war das Hinterbein sofort afficirt, während
das Vorderbein erst am 2. Tage Spuren der Erkrankung zeigte. An
dem Versuchsthiere 12 war aber eine hochgradige Störung des Muskel-
bewusstseins, und zwar anscheinend in beiden Extremitäten unmittelbar
nach der Operation zu constatiren.
Analysiren wir diese anscheinend gruppenweise divergirenden Re-
sultate mit Rücksicht auf den Ort und die Art der Verletzung einer-
seits und den Verlauf der wahrnehmbaren Störung andererseits, so er-
giebt sich eine vollkommene und sehr lehrreiche Harmonie der Versuche
untereinander sowohl, als auch mit den Reizversucheu. Die drei Ver-
suche, welche in dieser Beziehung symptomlos verliefen, entsprechen
mit der Summe der bei ihnen zerstörten Flächen ziemlich der ganzen
Oberfläche des Gyrus d^ nur war jedesmal zwischen der Wunde und
dem Sulc. cruc. noch etwas Substanz erhalten worden, auch hatte ich
niemals soviel Hirnmasse oder Knochen entfernt, dass eine nennens-
wertlie Dislocation des benachbarten Gyrus hätte eintreten können. Wir
werden uns noch bei vielen anderen Versuchen überzeugen und es
leuchtet auch ganz von selbst ein, dass die unmittelbare Umgebung
zerstörter Stellen durch secundäre Processe — Prolaps, rothe, hämor-
rhagische Erweichung — ebenfalls zur Function untauglich gemacht
wird. Deshalb würde man die schmale, ursprünglich intact gelassene
Grenzzone des Sulc. cruc. überhaupt wohl nicht weiter in Betracht
— 106 —
ziehen wollen. Ausserdem ist aber das bei Versuch 6 verschont ge-
bliebene in Versuch 7, und die erhaltene Brücke von Versuch 8 bei
Versuch 9 direct zerstört worden, ohne dass primäre Erscheinimgen
auftraten. Die näheren Resultate der anatomischen Untersuchung für
Versuch 6 steheii noch zu erwarten: das Gehirn des 8. Hundes ist bei
der Erhärtung zu Grunde gegangen; die Section des 7. Versuchsthieres
bewies, dass die Rinde bis an die Furche vernichtet war. Es geht bei
Berücksichtigung aller angeführten Momente demnach schon aus diesen
Versuchen hervor, dass die Production derjenigen Fähigkeit, welche ich
Muskelbewusstsein nenne, eine Function der Oberfläche dieses Gyrus
nicht ist. —
Drei andere Thiere zeigten geringe und vorübergehende Symptome.
Versuchsobject 9 war am 4. und 5., Versuchsobject 10 am 5. und 6. Tage
auf dem Vorderbeine, endlich Versuchsobject 13 auf dem Hinterbeine
vom 1. und auf dem Vorderbeine vom 2. — 6. Tage mehr weniger un-
sicher. Ich habe schon Eingangs (S. 75) darauf aufmerksam gemacht,
wie wichtig die Auffassung grade des unmittelbaren — primären Re-
sultates der Operation gegenüber den später eintretenden Störungen ist,
und ich meine die eben in Frage stehenden drei Versuche geben wohl
die beste Hlustration für die Richtigkeit meiner Ansicht. Bei Versuch 9
reicht die Verletzung mit ihrem hinteren Ende eben bis au den Gyrus e,
während der Sulc. cruc. selbst noch durch eine schmale Brücke Substanz
geschützt bleibt. Das in e zunächst bedrohte Centrum versieht die Be-
wegungen des Vorderbeins, und in der That erscheint die charakteristische
Störung gerade in diesem Gliede, jedoch erst am 4. Tage deutlich aus-
gesprochen, während gleichzeitig der vordrängende Prolapsus eine ent-
zündliche Schwellung der Umgebung andeutet. Dem entsprechend wies
auch die Section die Spuren einer Encephalitis im Gyrus e nach. Das
Centrum für das Hinterbein war durch seine Lage vor den Folgen der
Verletzung ziemlich geschützt, und so war eine am 5. Tage an dieser
Extremität beobachtete Anomalie denn auch so unbedeutend, dass man
über ihr Vorhandensein oder Fehlen hätte streiten können.
Dem Versuch so bjecte 10 war eine der Lage nach ähnliche aber
kleinere und den Gyrus e noch weniger bedrohende Verletzung bei-
gebracht worden. Hier war das Muskelbewusstsein überhaupt nur wenig
gestört, das Symptom erschien einen Tag später, als bei dem vorigen
Versuche und als der Hirnvorfall, die Hinterpfote verhielt sich normal,
und am folgenden Tage war aacli die Vorderpfote fast in integrum
restituirt.
Anders, wie der Ort und die Art, war auch das Bild des 13. Ver-
suches. Zunächst war ein schmaler Streifen von e mit aufgedeckt
— 107 —
wordoMi, sodann reichte die Zerstörung last durcli die ganze Höhe des
Gehirns hindurch, endlich war hier in erster l^inie das Ccntrum für
das Hinterbein bedroht. Unmittelljar nach der Operation erschien eine
zwar nicht maximale, aber docli vollkommen deutliche Störung des
Muskelbewusstseins iu diesem Gliede und erst am nächsten Tage war
das Vorderbein in ähnlicher Weise afficirt. ' Eine bei der Section nach-
gewiesene rothe Erweichung der Rinde von e gab die Erklärung hierfür
ab. Interessant ist, dass die Störung im Hinterbein ebenso später ab-
nahm, wie sie früher aufgetreten war. Uebrigens muss darauf auf-
merksam gemacht werden, dass bei diesem, die Markstrahlung stärker
zerstörenden Versuche eine so sehr starke Deviation der Beine beim
Aufheben an der Rückenhaut nachzuweisen war, während eine andere,
fast regelmässige Theilerscheinung des Krankheitsbildes, das reactions-
lose Herabhängenlassen der Pfoten über den Tischrand, sehr in den
Hintergrund trat. Die Krankheitserscheinungen hielteji sämmtlich, ent-
sprechend der grösseren Erheblichkeit der primären und der secundären
Läsion länger an, aber doch war der Hund am 7. Tage wieder normal.
Die Versuche 9 und 10, übrigens auch 11, bestätigen also lediglich
das Ergebniss der Versuche 6, 7 und 8; denn auch bei ihnen hatte die
ursprüngliche Verletzung keinerlei Bewegungsstörungen zur Folge,
Diese erschienen erst am 4. und 5. Tage. —
Versuch 12, welchen ich zu der dritten Reihe dieser 9 Versuche
rechne, schliesst sich uumittelbar dem eben besprochenen Versuch 13
an, und bildet eine Ergänzung für ihn. Die Zerstörung betrifft hier
mehr die Oberfläche, diese aber in grösserer Ausdehnung, sie erstreckt
sich ferner fast auf dieselbe Region wie bei S und 9, und doch sind
die Symptome so ausserordentlich verschieden. Bei jenen beiden Fällen
war fast nichts Abnormes zu bemerken, hier aber konnte sich der
Hund schon gleich nach der Operation nur mühsam auf den Füssen
erhalten. Suchen wir den Grund hierfür, so zeigt sich, dass bei diesem
Versuche, wie bei 13, die sonst gelassene, den Sulc. cruc. schützende
Brücke fehlt, und dass ausserdem der Gyrus e durch seine ausgedehnte
Freilegung allen Schädlichkeiten ausgesetzt war.
Die beiden eben in Rede stehenden Versuche (12 und 13) reichen
natürlich nicht aus, um die Rolle festzustellen, welche der Sulc. cruc.
gegenüber den in die Erscheinung tretenden Symptomen spielen kann^
und welche ihm wahrscheinlich mit den anderen Furchen mutatis
mutandis gemeinsam ist. Berücksichtigt man aber den Umstand, dass
die Furchen Ernährungswege für ihre Nachbarwindungen bilden, dass
in ihren Spalten eine Menge grösserer Gefässe liegen, so Vv'ird man es
jedenfalls nicht auffallend finden, wenn die durch den Eingriff hervor-
— 108 —
gebrachten Erscheinungen A^on dem Augenblicke an zu variiren be-
ginnen, in dem man sich ihrem Zuge zu sehr nähert. Etwas mehr oder
weniger Zerrung oder Druck, ein Seitenast des Hauptgefässes, welcher
zufällig von dem Löffel gefasst wird, oder andererseits die glückliche
Vermeidung dieser und anderer Schädlichkeiten, das sind Bedingungen,
die des entscheidendsten Einflusses auf die Integrität des benachbarten
Gyrus geniessen müssen.
Einen Beweis für diese Anschauung enthält Versuch 14. Hier war
mit einem scharfen, spitzen Messerchen fast der ganze Gyrus d., also
das Gebiet der vorigen Versuche und noch viel mehr, umschnitten und
entfernt worden, und dennoch gab es gleich nach der Operation zwar
einen erheblichen Defect der ^^'^illensenergie, aber durchaus keine Störung
des Muskelbewusstseins. Fr-eilich war eine solche am nächsten Tage
deutlich genug zu erkennen; indessen haben wir diese secundären
Symptome und ihren Werth ja durch das oben Angeführte hinlänglich
gewürdigt, und ich war über das Auftreten der Störung durchaus nicht,
sondern nur über ihre Geringfügigkeit erstaunt. Durch die absichtslose,
dem Prolapsus zugefügte Verletzung tritt dieser Hund, ebenso wie der
des 11. Versuches, mit in eine dritte, später zu behandelnde und directe
Zerstörungen des Gyrus e umfassende Gruppe.
Der Hund 11 war ausserordentlich lebhaften Temperaments und
erfreute sich namentlich eines sehr regen Geschlechtstriebes, so dass es
zu unaufhörlichen Balgereien mit seinen Genossen und daraus resultirenden
wiederholten Quetschungen des Prolapsus kam. In Folge dessen trat
der eigen thümlicbe Fall ein, dass ein ursprünglich kein Symptom er-
zeugender Eingriff allmählich die grössten Dimensionen sowohl mit
Rücksicht auf die Intensität und Dauer der Erscheinungen, als des
autoptischen Befundes annahm. Dieses Thier war, als ich es 6 Wochen
nach der Operation tödtete, noch nicht genesen und sein dem 14. Ver-
suche sehr ähnliches Verhalten im Leben, wie auch der gleiche Sections-
befund machen es ziemlich wahrscheinlich, dass sich auch bei längerer
Lebensdauer nicht mehr viel geändert haben würde. —
Bevor ich weitergehe möchte ich auf einen schon mehrfach be-
rührten Punkt wegen seiner besonderen Wichtigkeit noch einmal zurück-
kommen. Es ist nur zu sehr bekannt, dass die Autopsien von Menschen,
welche bei Lebzeiten an cerebralen Symptomen litten, geradezu ver-
wirrende Resultate ergeben. Das Gehirn findet sich häufig an denjenigen
Stellen mindestens scheinbar intact, welche man nach den voran-
gegangenen Symptomen erkrankt zu finden erwartete. Ebenso oft be-
gegnet man immensen Läsionen, wo man sie wahrlich nicht gesucht
hätte. Ich muss mich bestimmt das:es;en verwahren, dass etwas Aehn-
— 109 —
liches aus den Resultaten der bisher angeführten Yivisectionen heraus-
gedeutet wird. Wenn man bei Versuchen an diesen Hirntheilen die
gleichen Bedingungen herstellt, so erzielt man mit mathematischer
Sicherheit die gleichen Erfolge, und die Verschiedenheiten in meinen
Krankengeschichten sind dui'ch Verschiedenheiten des Eingriffes leicht
und ungezwungen zu verstehen. Hauptsächlich damit diese Thatsache
ganz durchsichtig hervorträte, und damit sie nicht durch oberflächliche
Wiederholungen so leicht verdunkelt würde, habe ich die Versuchs-
protokolle mit abgedruckt und sie durch die Zeichnungen noch näher
erläutert. Aber freilich die Versuchsbedingungen müssen identisch sein.
Gelegentlich der Reizversuche habe ich die Erfahrung machen müssen,
dass eine Anzahl von Nacharbeitern es für ausreichend erachtete, über-
haupt am grossen Gehirne zu elektrisiren, auf das Wie kam es ihnen
nicht eben an. So entstehen unvergleichbare Grössen, gegen deren
bedingungslose Verrechnung ich sowohl für die Vergangenheit, als für
die Zukunft höchst entschieden protestire. Bei Wiederholung der heute
der Discussiou anheim gegebenen Versuche wird man zu berücksichtigen
und anzuführen haben nicht nur was man zerstört und was man sieht,
sondern auch wie man zerstört und wann mau sieht. Von der grössten
Wichtigkeit für den Krankheitsverlauf und seine Deutung ist die gleich-
zeitige Aufdeckung benachbarter, wenn auch nicht direct verletzter
Regionen, die Annäherung an den Sulcus cruciatus, die absolute Grösse
des Defectes im Hiru und im Schädel, endlich der Zeitpunkt, während
dessen Krankheitszeichen in die Erscheinung treten.
Hiermit sind die bei den Autopsien des Menschen gemachten Er-
fahrungen zwar nicht erklärt, aber bis dahin erstreckt sich meine Auf-
gabe nicht. Der physiologische Versuch schafft absichtlich die ein-
fachsten Bedingungen, uie pathologische Beobachtung muss die compli-
cirtesten Verhältnisse in den Kauf nehmen. So ist die herrschende
Dissonanz leicht verständlich, die Zeit wird auch sie wohl zur Harmonie
auflösen. —
Im Laufe der vorstehenden Besprechung der bisher mitgetheilten
14 Versuche habe ich mich auf die einfache Erwähnung des merk-
würdigen, von mir als Störung des Muskelbewusstseins bezeichneten
Krankheitszustaudes und auf seine Localisirung beschränkt. Inzwischen
wird aber denjenigen Lesern, welche meine Untersuchungen mit Auf-
merksamkeit auch in den vorstehenden Protokollen verfolgten, nicht
entgangen sein, dass das schon jetzt sich abzeichnende Krankheitsbild
von der früher in Umrissen gegebenen Schilderung nicht mehr ge-
deckt wird.
In der That setzt sich die aus schwereren Verletzungen des Gyrus e
— 110 -
resultireiide Alteration der Bewegung aus einer beträchtlichen Zahl von
Factoren zusammen, von denen wir denjenigen, welcher die eigenthüm-
liche Färbung des Bildes bedingt, und welcher in den Extremitäten
einzig und allein bei Verletzungen des Gyrus e erscheint, auch fernerhin
als Störung des Muskelbewusstseins bezeichnen wollen. Dieser erste
Factor ist damit abzugrenzen, dass der Hund seine Pfote passiv in
xinbequeme Stellungen bringen lässt, ohne sie zu reponiren, dass er
zweitens bei activen Bewegungen die afficirten Pfoten ungeschickt ge-
braucht. Insbesondere rutscht er mit ihnen, zumal auf glatterem Boden
und wenn er sich schüttelt oder an der Leine nach dem Futter drängt,
•davon, er setzt sie gelegentlich iiiit dem Dorsum statt mit der Sohle
auf, er rotirt sie in den Schultergelenken gewöhnlich mehr nach Innen,
.selten mehr nach Aussen,' als dies auf der anderen Seite und von ge-
.sunden Kameraden überhaupt geschieht.
Ein anderes Symptom, welches ich in meinen Protokollen Defect
der Willensenergie nannte, treffen wir neben diesem Krankheits-
Tiustande^^). Seinen Namen wolle der Leser als einen rein conventioneilen
Ausdruck, nicht aber im Sinne einer Definition auffassen. Versucht man
einem, durch Zureden oder Streicheln oder ähnliche Mittel ruhig ge-
haltenen Hunde eine Extremität aus der einmal eingenommenen Stellung
au dislociren, so wehrt er sich. Bald fühlt man einen continuirlichen
Widerstand in der gefassten Pfote, bald ruckweise Contractionen, welche
auch Wühl in allgemeines Sträuben übergehen. Hat das Thier aber
■einen „Defect der Willensenergie" erlitten, so lässt es die Dislocation
einer oder beider Pfoten einer Körperhälfte widerstandslos über sich
■ergehen, sobald es jedoch die Extremität wieder frei fühlt, nimmt es
mit maschinenähnlicher Sicherheit die vorher innegehabte Stellung
wieder ein. Die Extremitäten werden also niemals in abnormen, ihnen
passiv mitgetheilten Stellungen belassen, noch werden sie activ in solche
Stellungen gebracht. Darin besteht der Unterschied von der früher be-
.schriebenen Krankheit.
Während nun die Störung des Muskelbewusstseins nur durch un-
mittelbare oder mittelbare Läsiouen des Gyrus e zu erzeugen ist, sahen
wir den Defect der Willenseuergie auch anlässlich des 6 und 14, im
Gyrus ä ausgeführten Versuches auftreten. Ich darf und muss dem
Gange meiner Darstellung hier insofern vorgreifen, als ich hinzufüge,
■dass grössere Verletzungen des Hiuterhirns den gleichen Effect haben.
Andererseits ist dieser gänzliche Mangel an Widerstand am deutlichsten
wiederum schon bei ganz kleinen Verletzungen des Gyrus c neben
den anderen Erscheinungen zu beobachten. Schlüsse möchte ich vor
■xler Hand aus diesen Thatsachen nicht ziehen, aber es sei mir. unter
— 111 —
gleichzeitiger Verweisung auf die Einleitung zu meinem Buche erlaubt,
dem Leser einen Satz in's Gedächtniss zurückzurufen, welchen ich schon
bei der ersten Entdeckung jener Centren glaubte aussprechen zu sollen.
„Es ist nicht undenkbar, und kann namentlich durch das, was wir in
anatomischer Beziehung über den anastomosirenden Bau dieser Theile
wissen, nicht ausgeschlossen werden, dass der Hirntheil, welcher die
Geburtsstätte des Wollens der Bewegung einschliesst, noch ein anderer
oder vielleicht ein vielfacher ist; dass die von uns Centra genannten
Gebiete nur Vermittler abgeben, Sammelplätze, auf denen ähnliche
aber zweckmässigere Anordnungen der Muskelbewegungen geschehen,
als in der grauen Substanz des Rückenmarks und des Hirnstammes." —
Ein dritter, gelegentlich der Versuche 11 und 13 notirter Zug
unseres Krankheitsbildes besteht darin, dass die Beine der operirten
Tliiere eine ganz veränderte Stellung zu einander und zu dem Rumpfe
einnehmen, sobald das Versuchsobject in die Höhe gehoben wird. Man
sieht dies sowohl dann, wenn zwei Stellen der Rückenhaut erfasst und
alle Viere vom Boden entfernt werden, als auch dann, wenn nur durch
Anziehen des Kopfes der Vorderkörper etwas erhoben wird. Ist nun
die daneben vorhandene Störung des Muskelbewusstseins erheblich, so
verharren die deviirten Beine beim Herablassen zuvörderst in ihren
abnormen Stellungen, sie werden dann beim Berühren des Bodens unter
vergeblichen Bemühungen, den Schwerpunkt richtig zu unterstützen,
wild durcheinander geworfen, das Thier fällt auf die gelähmte Seite
und oft gelingt es ihm, weder allein noch wenn ihm die Beine zurecht
gesetzt werden, wieder festen Fuss zu fassen. Auf den Grund dieses
Verhaltens bin ich erst relativ spät aufmerksam geworden, habe mich
aber bereits überzeugt, dass dabei eine Menge von Details, die wie es
scheint in einem gewissen Turnus auftreten, zu studiren sind. Ob und
in welchem Zusammenhange das Symptom mit der Deviation steht,
welche von Nothnagel an dem sich auf seinen Beinen befindenden
Kaninchen beobachtet wurde, vermag ich bis jetzt nicht zu entscheiden.
Von allen den angeführten Beobachtungen ist aber diejenige bei
weitem die merkwürdigste, welche im Versuchsprotokoll 11 zuerst er-
wähnt ist, der wir aber später noch oft begegnen werden. Auch hier
handelt es sich um das Uebergreifen einer Läsion des Gyrus d in die
Nachbarwindung. Der fragliche Hund litt an einer hochgradigen Störung
des Muskelbewusstseins, hatte aber sein Sehvermögen durchaus nicht
eingebüsst. Nichtsdestoweniger benahm er sich mit seiner rechten
Vorderpfote so, als ob für dieses Glied das Sehvermögen nicht existire,
oder als ob die Gesichtseindrücke nicht zur Bildung von Vorstellungen
für dasselbe verwerthet würden. Er setzte die Pfote blindlings über
— 112 —
den Tischraud in's Leere, und würde unendlich oft kopfüber vom Tische
gestürzt sein, wenn ich ihn nicht davor behütet hätte.
Hier habe ich nun wenig mehr als eine Aufzählung von allerdings
höchst interessanten Symptomen gegeben. Wir werden auf alle diese
Dinge später noch genauer einzugehen haben; bisher hatten wir sie
eigentlich nur accidentell, als Folge von Nebenverletzungen zu be-
rücksichtigen, so dass die angewendete Beschränkung schon aus diesem
Grunde erforderlich schien.
Diese Untersuchungen wurden in einem, mir für diesen Zweck von
Hrn. Geh. Rath Reichert in liberalster Weise überlassenen Arbeits-
raume der königl. Anatomie ausgeführt.
Berlin, im October 1874.
Nachträgliche Bemerkung.
Bereits auf S. 2 f. der Vorrede zu diesem Buche musste ich mein
Bedauern darüber aussprechen, dass die HH. Carville und Duret in
Paris es nicht für zweckmässig gehalten hatten, meine Arbeiten zu-
nächst zu lesen, als sie eine experimentelle Kritik derselben unter-
nahmen. Diesem Bedauern muss ich heute erneuten Ausdruck geben.
Die genannten Autoren veröffentlichen nämlich in der Gaz. med. de
Paris Nr. 43 vom 24. Octbr. in einem sehr ausführlichen Sitzuugs-
protocolle der Soc. de biol. vom 10. Octbr. d. J. eine Arbeit, welche
als wesentlichen Bestandtheil eine Beschreibung derjenigen Beobachtungen
enthält, die sie an einem im Gyrus e verletzten Hunde machen konnten.
Nun sind diese Beobachtungen sehr genau, fast bis auf die Worte
identisch mit den von mir in Gemeinschaft mit Hrn. Fritsch bereits
im Jahre 1870 publicirten, in meinem Buche reproducirten und ver-
mehrten Thatsachen. Es handelt sich auch wiederum um dieselbe Ab-
handlung, über welche die HH. Carville und Duret eine Kritik ge-
schrieben zu haben glauben. Nichtsdestoweniger wird die ganze Sache
als neu vorgetragen, ohne dass die ursprünglichen Entdecker mit einer
Silbe erwähnt würden. Derselbe Tribut des Schweigens wird uns nun-
mehr auch rücksichtlich der Reizversuche gezollt; hier kommt nur
Hr. Ferrier in Frage, obwohl derselbe rücksichtlich sämmtiicher, von
den HH. Carville und Duret diesmal angeführter Thatsachen nur die
Rolle des Wiederholers gespielt hat. Unter diesen Umständen muss
ich annehmen, dass den beiden Herren, seitdem sie ihre sogenannte
Kritik schrieben, unser Antheil an diesen Untersuchungen überhaupt
aus dem Gedächtniss entschwunden ist, und es mag gerechtfertigt er-
scheinen, wenn ich sie an denselben erinnere.
Berlin, 9. Novbr. 1874. Dr. Eduard Hitzig.
— 113 —
Anmerkungen.
12) Zu jener Zeit war die aseptisclie Wundbehandlung niclil bci<annt und
die antiseptische Wundbehandlung mir wenigstens nicht geläufig. Auch die
anderen, damals arbeitenden Experimentatoren haben nicht aseptisch oder anti-
septisch operirt. Es mag sein, dass eine Anzahl der von mir bei jenen Ver-
suchen beobachteten Meningitiden auf die Wundbehandlung zurückzuführen
ist; bei allen trifft dies jedenfalls nicht zu, denn man beobachtet, wie mich
die Erfahrung gelehrt hat, auch bei aseptischer Operation und primärer Heilung
nicht ganz selten solche Krankheitsvorgänge.
Immerhin würde ich Beobachtungen, die unter Eiterung heilten oder
solche, die bei der Autopsie meningitische Erscheinungen erkennen Hessen,
nicht reproduziren, wenn es sich bei diesen Beobachtungen nicht der Haupt-
sache nach darum handelte, den Nachweis zu führen, dass eine bestimmte
Reihe von Symptomen bei Angriffen auf bestimmte Hirnprovinzen
fehlt. Dieses negatives Resultat kann durch das Vorkommen von Eiterung oder
von Meningitis in seinem Werthe nicht beeinträchtigt werden. —
Die von mir in diesem Aufsatze erwähnten Symptome von allgemeiner
Hyperästhesie, von Ekzemen und von Ophthalmie hat Goltz später gleichfalls
beschrieben. Letztere bezieht er auf Empfindungslosigkeit des Auges (also
wohl neuroparalytische Ophthalmie). Es mag sich bei den Goltz'schen
Hunden wohl darum gehandelt haben. Indessen beobachtet man bei Hunden
gar nicht selten Cornealalfectionen, die sicherlich nichts mit der Empfindungs-
losigkeit der Cornea zu thun haben; ob sie etwas mit der Hirnverletzung zu
thun haben, weiss ich nicht.
13) Munk hat später andere und zwar zu verschiedenen Zeiten ver-
schiedene Ansichten über die Function des vorderen Schenkels des Gyrus sig-
moides ausgesprochen. Auf Seite 5 u. 6 der ersten Abhandlung des II. Theiles
dieses Buches habe ich angeführt, welche Wandlungen sich in dieser Beziehung
in den Ansichten Munk's vollzogen haben, ohne dass er je darüber eine Er-
klärung abgegeben, oder auch nur mitgetheilt hätte, welche Versuche ihn zu
seiner ursprünglichen oder zu seinen späteren Ansichten geführt haben. Meiner
Auffassung nach war er dazu um so mehr verpflichtet, als er mit seinen Be-
hauptungen von der motorischen Natur dieses Rindenabschnittes meinen vor-
stehenden um vieles älteren und durch Versuche gestütz^ten Angaben über ihre
nichtmotorische Natur direct entgegen trat, ohne dies jedoch auch nur
zu erwähnen. Dieses Verfahren hat wesentlich dazu beigetragen, die Streitig-
keiten über die Functionen der Hirnrinde zu verlängern. Ich habe in der vor-
stehenden Abhandlung gezeigt, wie leicht man zu irrthümlichen Anschauungen
nach der angedeuteten Richtung gelangen kann und habe deshalb um so
weniger Veranlassung, meine Ueberzeugung aufzugeben.
14) Meine jetzige Auffassung über die Bedeutung dieses Symptoms habe
ich in dem ersten Kapitel der ersten Abhandlung des IL Theiles dieses Buches
„üeber die nach Verletzungen des Hinterhirns auftretenden Störungen der Be-
wegung und Empfindung" dargelegt.
Hitzig, Gesammelte Abhandl. I. Tlieil.
Tl. Kritische und experimentelle Untersuchungen zur Phy-
siologie des Grosshirns im Anschluss an die Untersuchungen
des Herrn Professor D. Ferrier in London i^).
Vo r b e m e r k un g e n.
Anfang Oktober 1873 ging mir eine Abhandlung von D. Ferrier*)
in London zu, welche grösstentheils auf eine Wiederholung der von
Fritsch und mir veröffentlichten Versuche**) basirt ist. Ferrier
äussert sich über unsere Arbeit in folgenden Worten: „ — — sie ver-
suchten, die Centren für solche Muskelbewegungen auf gewisse be-
stimmte Punkte zu localisiren. Ihre Versuche wurden nach dieser Rich-
tung nicht gerade weit ausgedehnt, noch setzen sie, wie ich denke, die
Natur und die Bedeutung des Resultates, zu dem sie gelangten, klar
auseinander. — — — Inductionsströme wandten sie in irgend einer
Ausdehnung nicht an, und ihre durch diese Methode erzielten Resultate
ergaben ihnen mit Rücksicht auf die Localisation der Functionen nichts
gerade Bestimmtes oder Genügendes. — — Bei meinen eigenen Ver-
suchen habe ich die Faradisation ausschliesslich angewendet und es
mit dieser Methode möglich gefunden, sowohl localisirte Reizung ver-
schiedener Hirntheile mit der äussersten Exactheit hervorzubringen, als
auch allgemeine Reizung der ganzen Hemisphäre herbeizuführen***).
*) Experimental Researches in cerebral physiology and pathology by
David Ferrier etc. etc. etc. The West Riding lunatic asylum Medical Reports
Vol. III. 1873.
**) Die Abhandlung II dieses Buches.
***) Their researches in this direction were not carried very far, nor do
they, I think, clearly dehne the natm'e and signification of the results at Avhich
they arrived. They adduce ample evidence for regarding the movemeuts that
took place as dependent on irritation of the hemispheres themselves, and they
also observed that irritation proceeded principally, if not exclusively, from the
anode. Induction currents they did not employ to any extent, and their results
— 115 —
Ein Leser, dem unsere Arbeit nicht im Original bekannt ist, muss
nach diesem Referate Ferrier's den Eindruck mit hinwegnehmen, dass
wir nur generell die Erregbarkeit des Grosshirus durch Bestimmung des
eiueii oder des anderen Centrums nachgewiesen hätten und zu genauerer
Localisation, sowie zu anderweiten Resultaten nicht gekommen wären,
weil wir theils den Inductionsstrom nicht durchgehends anwendeten,
theils die Wichtigkeit unserer Entdeckung nicht erkannten*). Es wäre
erst Ferrier vorbehalten gewesen, durch die Anwendung inducirter
Ströme und grösserer Lucidität diese Thatsachen für die Physiologie
und Pathologie nutzbar zu machen. In wie weit der englische
Autor durch Beibringung neuer und zweifelsfreier That-
sachen seinerseits die Sache gefördert hat, in wie weit also
auch die Ansprüche gerechtfertigt sind, mit denen er seine Arbeit
unseren Bemühungen entgegensetzt, das werden wir auf den folgenden
Blättern untersuchen.
Zuvor aber muss ich darauf aufmerksam machen, dass es für Ferrier
by this method did not give them anything very deflnite er satisfactory as re-
gards localisation of function. In my own experiments I have employed fara-
disation exciusively, and have found it possible by this method to produce
localised irritation of various parts of the brain with the utmost exactitude,
as well as to induce diifused irritation of the whole of the hemispheres. A. a.
0. S. 32.
*) Inzwischen hat sich Prof. Ferrier in einem in der British Medical
xissociation gehaltenen Vortrage in dieser Beziehung noch deutlicher ausge-
drückt. Er sagt dort ausdrücklich: Wir hätten wohl die Bedeutung der von
uns gefundenen Thatsachen nicht recht gewürdigt, hätten auch unsere Unter-
suchungen nicht fortgesetzt. Es hat uns zwar sehr leid gethan, dass Professor
Ferrier unsere Zurückhaltung bei der praktischen Ausbeutung der von uns
gefundenen Thatsachen für die Pathologie so falsch auffasste. Doch wurden wir
beim Durchlesen jenes Vortrages wieder beruhigt. Wir sahen dort, dass der
•Gedankengang, mit dem wir unsere Entdeckungen einleiteten gerade um ihre
Bedeutung in das rechte Licht zu setzen, den Beifall des Hrn. Prof. Ferrier
in dem Grade gefunden hat, dass er für seine eigene Einleitung einen Besseren
nicht glaubte verwenden zu sollen.
S. The Times Sept. 22: About three years ago two German physiologists,
Fritsch and Hitzig, by passing galvanic currents through parts of the brains
of dogs obtained various movements of the limbs, such as adduction, flexion
and extension. They thus discovered an important method of research, but
they did not pursue their experiments to the extent that they might have
done and perhaps did not exactly appreciate the significance of the facts at
which they had arrived. — Ich würde übrigens ein politisches Blatt nicht ci-
tiren, wenn der Vortrag nicht offenbar stenographisch nachgeschrieben, und
die betreffende Stelle wörtlich citirt wäre.
8*
— 116 —
um so mehr ein Leichtes gewesen wäre, sich von Fortsetzungen jener
Arbeit mindestens durch Einsehen des nächsten Bandes des Archivs für
Anatomie und Physiologie Kenntniss zu verschaffen, als in der von ihm
citirten Arbeit*) eine Fortsetzung bereits angekündigt war. Dennoch
will ich zu seiner Entschuldigung annehmen, dass er diese Kenntniss
nicht gehabt hat. Anders steht es mit einer Anzahl von Ergebnissen,
welche bereits in jener ersten Arbeit ausführlich mitgetheilt waren.
Ferrier hat sich dieselben ohne Weiteres augeeignet, indem er unsere
Untersuchungen mit keinem Worte erwähnt, obwohl er dieselben kannte.
Wir hatten nachgewiesen, dass durch Tetanisiren des Hirns Nachbe-
wegungen und epileptiforme Anfälle entstehen können**). Ferrier
behandelt diesen Gegenstand höchst ausführlich, jedoch so, als rühre
diese Entdeckung von ihm ' her. Aehnlich verhält es sich mit dem
Nachweise, dass der Blutverlust die Erregbarkeit des Hirns aufhebt***) ^0),
endlich mit Allem, was nicht in dem englischen Citat auf S. 114, 115
erwähnt ist. Ueberhaupt werden unsere Untersuchungen von Ferrier
nur noch zweimal angeführt: erstens bemerkt er gelegentlich f): wir
hätten durch unsere Exstirpationsversuche Lähmungen erzeugt, was wir
keineswegs behauptet hatten; zweitens beruft er sich auf unsere An-
gaben über das Centrum für die Nackenrauskeln, insofern er selbst ein
Solches nur bei einem Versuche auffinden konnte. Dennoch kommt
Ferrier vielfach zu anderen Resultaten rücksichtlich der Localisation
der Centren und der Begrenzung der erregbaren Zone. Er führt aber
in keinem einzigen Falle an, dass er mit ims übereinstimmt oder nicht
übereinstimmt; noch controlirt er dort, wo er andere Angaben macht
als wir, seine eigenen Befunde.
Indem ich in meines Herrn Mitarbeiters und in meinem eigenen
Namen auf das Entschiedenste, gegen ein solches Verfahren protestire,
bedauern wir von Hrn. Prof. Ferrier hiermit unser Eigenthum zurück-
fordern zu müssen.
A. Die Methode Ferrier's.
Ferrier hat Versuche, die sich rücksichtlich der Methode den
unseren parallel setzen Hessen, wie wir sehen werden, überhaupt gar
nicht angestellt. Reizversuche am Grosshirn des Hundes nach seiner
Art nahm er aber im Ganzen zweimal vor. Der eine von diesen zwei
*) A. a. 0. S. 308.
**) Siehe oben S. 22.
***) Siehe oben S. 23.
j-) Ferrier, Experimental Researches etc. S. 77.
— 117 —
Versuchen ist vollständig durciigerülirt, der Andere unvollständig. Beide
wurden von vielen epileptiformen Anfällen unterbrochen.
Bei dem zweiten, unvollständig durchgeführten Versuche wurden
die Effecte der Reizung von acht Punkten notirt. Sechs von diesen
Reizversuchen gaben andere Resultate als die Parallelversuche der ersten
Vivisection. Der siebente gab beide Male kein Resultat, der achte
erzielte aber beide Mal Schluss des Auges*). Da durch die eine Vivi-
section die linke und durch die andere Vivisection die rechte Hirnhälfte
freigelegt war, so hält sich Ferrier auf Grund der angeführten Reiz-
effecte für berechtigt, vollkommene Symmetrie und Bestätigung des
einen Versuches durch den anderen anzunehmen**). Ich würde auf
Grund dieses Beweismateriales die entgegengesetzen Schlüsse gezogen
haben.
Dies eine Beispiel würde genügen um zu zeigen, wie breit die ex-
perimentelle Basis ist, welche Ferrier für die Begründung seiner
eigenen und die Erschütterung fremder Angaben genügt. Indessen ist
sein Versuchsmaterial in diesem Theile der Abhandlung überall nicht
grösser. Nur für das Studium des Grosshirns der Katze hat er drei
Thiere geopfert, von denen zwei ebenfalls nicht vollständig untersucht
wurden. Für seine Angaben über das Grosshirn des Kaninchens ge-
nügen ihm wiederum zwei Vivisectionen, und eine neue Behauptung von
äusserster Tragweite gründet sich auf die Untersuchung eines einzigen
Meerschweinchens.
Wäre Ferrier der Entdecker der von uns gefundenen Thatsachen,
so würde eine vorläufige Mittheilung auf Grund eines so dürftigen
Materials immerhin ihr Bedenkliches gehabt haben, aber verzeihlich ge-
wesen sein. Was soll man aber dazu sagen, nachdem unsere ausführliche
Arbeit schon seit mehr als drei Jahren publicirt war?
Ferrier (und nach ihm bereits mehrere andere englische Autoren)
führen an, wir hätten den Inductionsstrom in irgend einer Ausdehnung
nicht angewendet und übrigens mit demselben rücksichtlich der Loca-
*) A. B.
1) Schluss des Auges. Drehung des Kopfes.
2) Geschrei. Drehung des Kopfes.
3) Beginn eines Anfalls dabei
Drehung des Kopfes. Drehung des Kopfes.
4) Vacat. Erhebung des Lides.
5) Kein Reizeffect. Bewegung des Ohrs.
6) Kein Reizeffect. Bewegung des Ohrs.
**) Das übrigens selbstverständliche Vorhandensein symmetrischer An-
ordnung dieser Centren hatten wir schon nachgewiesen.
— 118 —
lisation der Functionen keine befriedigenden Resultate erzielt. Er selbst,
fährt er fort, habe nur den Inductionsstrom angewendet und mit dem-
selben die Function der einzelnen Hirntheile mit der äussersten Exact-
heit localisiren können. Zunächst muss ich bemerken, dass von dem,
was Ferrier uns sagen lässt, in der fraglichen Abhandlung auch nicht
ein einziges Wort steht. (S. oben S. 21')
Wir haben allerdings angeführt, dass wir den Inductionsstrom viel
seltener als den galvanischen anwandten, und wir durften voraussetzen,
dass die gewöhnlichen Leser des Archiv's die Gründe dafür aus der
hinterher folgenden Schilderung der dem Inductionsstrome eigenthümlichen
Reizeffecte sofort erkennen würden. Aber wenn wir ihn auch seltener
als den galvanischen Strom anwendeten, seltener als Ferrier wandten
wir ihn nicht an, und woher will dieser Autor überhaupt wissen, in
welcher Ausdehnung wir uns dieses Reizmittels bedienten? Von der Un-
möglichkeit mit demselben localisirte Reizeffecte hervorzubringen, haben
wir nun ganz und gar nichts erwähnt, sondern die Schilderung beginnt
mit dem das Gegentheil besagenden Satze: „Häufig treten tonische Be-
wegungen der betreffenden Muskelmassen ein, die erst nach längerer
Zeit in ihrer Intensität nachlassen." In der That fanden wir den In-
ductionsstrom für die Controle und überhaupt als Hülfsmittel der Unter-
suchung ausserordentlich bequem: denn durch den Schliessungsschlag
der Kette wird nur eine einzelne Zuckung ausgelöst, deren Auffassung
die angespannteste Aufmerksamkeit verlangt, während der Muskeltetanus
natürlich sehr leicht zu beobachten ist. Nichtsdestoweniger wird man
sich für die eigentlich beweisenden Versuche doch des unbeque-
meren Kettenstromes bedienen müssen, wie ich ausführlich darlegen will.
Wenn Ferrier aber wirklich die von uns nicht ausgesprochene,
aber von ihm angeführte Ansicht aus unserer Abhandlung herausge-
lesen hätte, so lag ihm doch die Pflicht ob, erst einmal diese Ansicht
durch vergleichende Versuche zu prüfen, ehe er sie ohne Weiteres bei
Seite schob. Dann würden ihm vermuthlich selbst einige Bedenken
gegen die Exactheit seiner bis dahin erzielten Localisationseffecte ge-
kommen sein.
Wir hatten in der mehrfach angeführten Abhandlung rücksichtlich
der Methode, vermittelst deren wir unsere Centren localisirten, ange-
geben, dass wir zunächst die Stelle aufsuchten, welche bei der ge-
ringsten, überhaupt noch erregenden Stromstärke die stärkste Zuckung
auslöste, und dann eine Stecknadel zwischen den beiden Elektroden in
das Gehirn des noch lebenden Thieres einsenkten. Nachdem wir nach-
gewiesen hatten, dass auf stärkere Ströme nicht nur die von uns soge-
nannten Centren, sondern auch die zwischen ihnen liegenden Theile des
— 119 —
Hinis mit einer motorischen J;eistun^' antworteten, erschien jede andere
Reizmethode als die, welche sich in der gedachten Weise der Strom-
stärke des Zuckungsminimums bediente, des Zweckes und Interesses bar.
Unsere und auch Ferrier's ausgesprochene Absicht war ja zu locali-
siren. Aus den angeführten Thatsachen geht aber ohne Weiteres her-
vor, dass bei Anwendung stärkerer Ströme tiefer gelegene, sowie ober-
flächliche Nachbartheile mit in den Bereich der wirksamen Reizung ge-
zogen werden. Da man nun weiss, dass die Markstrahlung von vorne
nach hinten zieht, und da wir insbesondere noch durcli Einstechen iso-
lirter Elektroden die Erregbarkeit dieser Markstrahlung nachgewiesen
hatten, so musste sich jedem einsichtigen Experimentator sofort der Ge-
danke aufdrängen, dass die Reizeffecte stärkerer Ströme einfach durch
die Bethätigung der nach den Ganglien ziehenden, vielleicht sogar der
in denselben verlaufenden Faserung zu erklären seien. Selbstverständ-
lich hat der Nachweis derartiger Leitungsbahnen mit der Localisation
centraler Zusammenfassungen nur dann etwas zu thun und überhaupt
nur dann einen Sinn, wenn es entweder gelingt die Annäherung der
Markstrahlung an die grauen Massen nachzuweisen, oder, was noch
Wünschenswerther wäre, den ganzen Verlauf derselben zu verfolgen.
Auf den letzteren Zweck liefen meine Versuche an curarisii'ten Thieren
hinaus.
Ueber diese Erwägungen hat Ferrier sich einfach hinweggesetzt.
Er hat von der Anwendung der Stromstärke des Zuckungsminimums
Überali abgesehen und einfach in der Mehrzahl seiner Versuche die
secundäre Spirale der primären bei Anwendung eines Zinkkohlenele-
mentes bis auf 8 cm genähert. Hierbei war der Strom so stark, dass
er auf der Zunge „without great discomfort" zu ertragen war. Wir
hatten nachgewiesen, dass schon ein Strom, der auf der Zunge eben
empfunden wird, zu Reizeffecten führen kann. Aber nicht zufrieden
mit den so erzielten Bewegungen nähert Ferrier die Spiralen bis auf
6, ja sogar bis auf 4- cm, indem er das Ausbleiben der Zuckung bei
der ursprünglich benutzten enormen Stromstärke in keinem Falle aus
Mangel motorischer Elemente in den benachbarten Hirnpartieen, sondern
sobald ihm ein stärkerer Strom auch nur in einem einzigen Falle
Muskelleistungen ergiebt, auf Erschöpfung, auf Blutverlust oder andere
Versuchsfehler schiebt. Er versäumt, die Richtigkeit dieser Annahmen
durch neue Versuche oder, was ja so einfach war, durch Controle an
als irritabel bekannten Feldern zu bestätigen. Natürlicherweise ist es
sehr leicht auf diese Art allerlei Reizeffecte zu erzielen, indessen wird
doch Niemand denselben irgend eine Wichtigkeit beimessen wollen,
ehe sie nicht in etwas vorsichtis;erer W^eise verificirt worden sind.
— 120 —
Ist die Anwendung so starker Ströme überhaupt schon bedenklich,
so wird sie es doppelt, wenn es sich um Inductionsströme handelt. Die
hohe Spannung des Inductionsstromes lässt die Möglichkeit unipolarer
Reizung, weiter Verbreitung wirksamer Schleifen durch die Hirnsubstanz
selbst und durch Vermittlung der Cerebrospinalflüssigkeit zu. Man
kann sich leicht überzeugen, dass die Anwesenheit einer Brücke von
Flüssigkeit zwischen den auf dem Hinterhirn ruhenden Elektroden und
dem zurückgeschlagenen Temporaiis genügt, um entweder den genannten
Muskel selbst, oder beliebige grosse Gruppen von Motoren in Bewegung
zu setzen. Tupft man die Flüssigkeit fort, so verschwinden sämmtliche
Reizeffecte. Ebenso leicht gelangen Schleifen zu der Dura und führen
zu Reflexbewegungen aller erdenklichen Art.
Ferrier hat indessen -offenbar ohne jede Kenntniss der Gesetze
der Strom verth eilung in nicht prismatischen feuchten Leitern gearbeitet;
das beweisen insbesondere die von ihm zur Erregung epileptiformer
Anfälle an der Katze angestellten Versuche. Die Spiralen waren bei
diesen Versuchen auf 5 cm genähert. Bei einer von fünf Reizungen
lag die ganze Hirnfläche, bei einer andern zwei Drittel derselben der
Länge nach zwischen den Elektroden, bei den drei anderen Reizver-
suchen wurden die Elektroden in transversaler Richtung aufgesetzt, so
jedoch, dass mindestens immer ein Sulcus zwischen denselben lag.
Hieran schliesst Ferrier folgende Bemerkung: „Die Reizung war gänz-
lich auf die Oberfläche der Hemisphären begrenzt, da die Elektroden
einfach angelegt wurden, ohne irgend eine mechanische oder tiefere
Läsion in irgend einem Falle zu verursachen"*). Dies mag genügen,
um die physikalische Vorbildung, mit der Ferrier an so überaus diffi-
cile Versuche ging, darzulegen.
Es bleibt mir noch übrig nachzuweisen, weshalb die Anwendung
des Inductionsstromes als einzigen üntersuchungsmittels zu verwerfen ist.
Der Hauptgrund liegt in der bereits hervorgehobenen Thatsache, dass
die Stromstärke des Zuckungsminimums keine recht gleichmässigen
Resultate giebt. Nimmt man dann stärkere Ströme, so setzt man sich
den angeführten und anderen Fehlerquellen aus. Namentlich sind die
epileptiformen Anfälle im höchsten Grade störend. Während derselben
quillt das Gehirn aus der Trepanationswunde heraus und gewinnt ein
glasiges Ansehen. Nachher ist seine Erregbarkeit enorm herabgesetzt,
*) The irritation was entively confined to the surface of the hemispheres,
the electrodes being simply applied without causing mechanical or deep seated
lesion in any case. A. a. 0. S. 39.
— 121 —
so dass auf längere Zeit nur Ströme, deren Verbreitungsbezirk durch
die Hirnmassen gar nicht zu berechnen ist, noch Zuckung auslösen.
Macht man au einem Gehirne, welches einen epileptit'ormen Anfall über-
standen hat, Durchschnitte, so findet man regelmässig Extravasate von
Hirsekorn- bis Erbsengrösse, die am häufigsten ihren Sitz an der Grenz-
schicht der Rinde haben, sich aber gelegentlich auch bis an das Epen-
dym der Ventrikel verfolgen lassen. Es ist ziemlich sicher, dass ein
Theil dieser Extravasate durch den Anfall selbst entsteht, indessen be-
obachtet man aber oberflächlichere Blutergüsse, auch wenn kein Anfall
vorhergegangen ist. Ausserdem bemerke ich noch beiläufig, dass man
regelmässig an Gehirnen, die einen epileptiformen Anfall durchgemacht
haben, bei der Section eine sehr deutliche Injection der kleinsten Ge-
fässe der Pia an der medialen Fläche des A' orderen Drittels beider
Hemisphären vorfindet. Dies scheint mir zu beweisen, dass bei diesen
durch Faradisirung hervorgebrachten Anfällen sich, wie allerdings zu
vermuthen war, die Gefässerregung auf das ganze Gehirn ausbreitet.
Zwischenstufen scheinen mir jene localen Anfälle zu sein, von denen
wir schon a. a. 0. gehandelt haben.
Wie dem nun auch sein möge, das ist wohl unbestreitbar, dass
eine Reizmethode, welche in allen Fällen so grobe Zerstörungen der
Substanz setzt und ausserdem noch anderer, weniger leicht übersehbarer,
wichtiger Veränderungen verdächtig ist, dass eine solche Reizmethode als
einziges Untersuchungsmittel verworfen werden muss, sobald noch
irgend eine andere Methode existirt.
Höchst störend sind ferner die Nachbewegungen, welche selbst bei
Anwendung ganz schwacher Ströme aufzutreten pflegen. Dieselben
sehen manchmal genau so aus wie die ursprünglich durch den Reiz
hervorgebrachten Zuckungen und sie können um so eher zu Täuschungen
führen, als bei Anwendung schwacher Inductionsströme manchmal
mehrere Secunden vergehen, bevor der Reizeffect sichtbar wird. Wem
wird es überhaupt einfallen eine Reizmethode, die auch zu Reizeffecten
führt, wenn nicht gereizt wird, ausschliesslich anzuwenden? — ''^)
Endlich bedarf die Art der von Ferrier angewendeten Narkose
noch einer Erwähnung. Abgesehen von Rücksichten der Menschlichkeit
will Ferrier dieselbe benutzt haben, um Reflex- und willkürliche Be-
wegungen auszuschliessen. Es geht aber aus seinen eigenen Versuchs-
protokollen hervor, dass er diesen Zweck jedenfalls höchst unvoll-
kommen erreicht hat. Seine Versuchsthiere machen nicht nur dennoch
Reflexbewegungen, sondern sie schreien und beissen auch, sie nagen
ihre eigenen Pfoten, sie wedeln mit dem Schwanz, sie sperren die
— 122 —
Schnauze auf und zu und stecken die Zunge abwechselnd heraus und
ziehen sie wieder ein. Dass in einer solchen Narkose die vonFerrier
gesuchte Garantie nicht liegt, bedarf wohl keines Beweises.
Blicken wir nun auf das bisher Angeführte zurück, so dürfen wir
wohl sagen, dass selten jemals Untersuchungen über eines der wich-
tigsten Capitel der Nervenphysiologie auf Grund eines so überaus
winzigen Materiales, mit Hülfe so geringer physikalischer Vorbereitung,
unter so gänzlicher Vernachlässigung aller unbedingt zu verlangenden
Vorsicht angestellt worden sind.
B. Die Resultate Ferrier's.
I. Allgemeine Differenzen zwischen den Reizeffecten Ferrier's
und den meinigen.
Zwischen den Resultaten Ferrier's und den meinigen existiren
zwei principielle Differenzen: Erstens ist nach Ferrier fast das ganze
Grosshirn erregbar, insbesondere die Gyri a, &, c, cl (Stirntheil) und
der grössei'O Theil der von mir als Hinterhaupts- und Schläfenlappen
angesprochenen Zonen, während schon durch F ritsch und mich die
Oberflächen der letztgenannten Theile als unerregbar bezeichnet waren,
und ich in der vorgedruckten Abhandlung den eigentlichen Stirntheil
incl. des grösseren Theiles des Gyrus d als unerregbar bezeichne. Man
sieht sofort ein, dass wenn die Ferrier'schen Angaben richtig wären,
man sich ein ganz anderes Bild von dem anatomischen und physiolo-
gischen Verhalten des Centralorgans würde machen müssen, als wenn
es bei den unsrigen sein Bewenden hätte.
Wir hatten als eins unserer wesentlichsten Resultate durch den
Druck und die Stellung des Satzes noch besonders hervorgehoben die
Thatsache, dass ein beträchtlicher Theil der die grossen Hemisphären
zusammensetzenden Nervenmassen in unmittelbarer Beziehung zur Muskel-
bewegung steht, während ein anderer Theil offenbar wenigstens direct
nichts damit zu schaffen hat. Wenn dem so war und ist, so musste
man sich folgerecht vorstellen, dass ähnlich diesen motorischen Projec-
tionsfeldern auch gesonderte sensible, und sensuelle bestünden. Wären
aber die Ferrier'schen Untersuchungen richtig, so würde diese An-
nahme fast zur Unmöglichkeit; denn für die Katze wenigstens ist es
ihm gelangen, Erregbarkeit fast des ganzen Grosshirns nachzuweisen.
Beim Hunde freilich fand er einige Stellen von etwas grösserem Um-
fange unerregbar. Nach diesen Ergebnissen würde man also zu der
— 123 —
Annahme gedrängt, dass die nach hinen und nach Auss(!n gericlitetcn
seelischen Vorgänge, sowie die dazwischen liegenden Verbiiulungsglioder
ihr materielles Substrat nicht in gesonderten Hirnabschnitten, sondern
durch einander gemischt besässen. An und für sich wäre ein solches
Verhalten ja nicht unmöglich. Es würde sich in der That mehr der
Flourens'scheu neuerdings wieder von Brown-Sequard vertretenen
Anschauung nähern. Aber ob es so ist oder nicht ist, das festzu-
stellen ist eine der wichtigsten Aufgaben, die sowohl in den praktischen
als ideellen Wissenschalten, deren Object das Gehirn oder die Seele
ist, je aufgeworfen wurden. Ferrier will durch seine Versuche diese
Aufgabe nicht etwa im Sinne jener beiden Forscher, sondern in unserem
Sinne lösen.
Die zweite principi eile Differenz besteht darin, dass Ferrier
für die gleichen Muskelgruppen mehrere, gelegentlich weit auseinander-
liegende Centren angiebt, andererseits aber von ein- und derselben
Stelle aus verschiedene Muskelgruppen in Bewegung setzt, während wir
nur diejenigen Stellen als Centren betrachteten, von denen aus man bei
einer ganz geringen Stromintensität localisirte Muskelinnervation ver-
mitteln kann. Solcher Centren fanden wir aber für jede Muskelgruppe
nur eins.
Beide Differenzen erklären sich in einfacher Weise aus der ver-
schiedenen Stärke der von uns angewendeten Ströme. Jeder, auch der
ungeübteste Experimentator wird dies bei einer Wiederholung der Ver-
suche ohne Weiteres herausfinden, üebrigens stehen die Ferrier'schen
Reizeifecte nicht nur mit den unsrigen, sondern auch unter einander in
dem erdenklichsten Widerspruche. Einen Theil dieser Widersprüche
haben wir oben S. 117 bereits angeführt, einige andei'e lasse ich folgen.
An der Stelle, wo beim Hunde das Schwanzcentrum (9) Fig. 17,
S. 127) liegt, ist das Hirn der Katze (3) (Fig. 19 u. 20, S. 142) uner-
regbar, wo die Katze (4) die Brauen runzelt und das Ohr bewegt, ist
das Hirn des Hundes (10) unerregbar. Reizung des Schläfenlappens
giebt bei der Katze Schliessung und Oeffnung der Kiefer und Hervor-
strecken der Zunge, beim Hunde nichts. Hingegen lässt Reizung der
Stelle, welche dem Hunde (19) die Kiefer schliesst, die Katze (6) mit
der Pfote schlagen und die Klauen hervorstrecken. Bewegungen der
Augäpfel werden bei der Katze von den bei mir mit /', «, und g be-
zeichneten Gyris ausgelöst. Drehung des Kopfes nach der entgegen-
gesetzten Seite erfolgt auf Reizung fast des ganzen Hinterhirns u. s. w.
u. s. w. — Das Hirn der Katze unterscheidet sich von dem des Hundes
nur wenig. Der wesentlichste Unterschied besteht darin, dass das Katzen-
hirn sehr viel kleiner ist. Unter diesen Umständen wäre die erhebliche
— 124 —
Differenz, \Yelche Ferrier"s Versuche zwischen den correspondirenden
Regionen beider Thiere, wenn auch nicht für ihn, so doch für mich
ergeben, schon an und für sich geeignet, die ernstesten Bedenken gegen
die richtige Localisation seiner Reizeffecte wachzurufen.
Ich habe zum üeberfluss jede einzelne seiner Angaben
in soweit sie das Grosshirn des Hundes, der Katze und des
Meerschweinchens betreffen, in der eingehendsten Weise
experimentell geprüft und ich werde in Folgendem die Er-
gebnisse dieser vergleichenden Untersuchungen, soweit es
erforderlich ist, im Detail vortragen^?).
Ausser diesen Untersuchungen über das Grosshirn publicirt Fer-
rier in demselben Aufsatze noch nach den gleichen Grundsätzen ange-
stellte Untersuchungen über, den Streifenhügel, den Sehhügel, die Cor-
pora quadrigemina und das Kleinhirn. Bei allen diesen Untersuchungen
ist die Literatur so gut wie gar nicht berücksichtigt, namentlich werden
die Einwände, welche früher gegen derartige, wenig vorsichtige Methoden
erhoben worden sind, nirgends in Betracht gezogen. Ich habe immer
geglaubt, dass so umfangreiche Untersuchungen eine über Jahre ausge-
dehnte Thätigkeit erforderten, und ich bin deswegen für jetzt ausser
Stande experimentelle Thatsachen neueren Datums über die Function
auch dieser Hirnprovinzen beizubringen. Indessen verweise ich, was
das Kleinhirn betrifft auf zwei unten folgende, von mir bereits im An-
fang des Jahres 1872 in Reichert's und du Bois-Reymond's Archiv
zuerst publicirte Abhandlungen. Ausserdem erinnere ich unter Hinweis
auf S. 15, dass ich meine eigenen Untersuchungen mit dem generellen
Nachweise der Erregbarkeit des Kaninchenhirns begonnen habe. Wegen
der Kleinheit der Theile ist hier eine Isolirung der Reize noch schwerer
zu beweisen als beim Katzengehirn. Es scheint mir deshalb zwecklos
vor der Hand auf Versuche, welche Ferrier auch an diesem Thiere
angestellt hat, überhaupt einzugehend^).
II. Specielle Differenzen zwischen den Beizeffecten Ferrier's
und den nieinigen.
1. Versuche an Hunden.
Die Mehrzahl meiner, hier in Frage stehenden Versuche wurde
an Hunden angestellt, da die Katze, wie wir später sehen werden, sich
für dieselben weniger eignet. Ich opferte im Ganzen diesem Zwecke
17 Thiere, von denen eines in Folge von Anämie, zwei andere in Folge
der angewendeten Narkotica unbrauchbar wurden oder zu Grunde
gingen. Es bleiben also 14 brauchbare Vivisectionen.
— 125 —
Die Operation wurde bei dieser Reihe von Versuchen fast immer
ohne Narkose angeümgen und, wenn es möglich war, auch beendet.
Waren die Thiere hingegen nach Freilegung des Hirns entweder zu un-
ruhig oder bekamen sie, was in diesem Stadium sehr häufig der Fall
ist, allgemeines Zittern, so wurde ihnen eine subcutane Morphium-Injec-
tion von 0,02 bis 0,04 g Morphium muriaticum gemacht, in Folge
deren die angeführten Erscheinungen sich soweit verloren, dass die
Untersuchung fortgeführt werden konnte. Vor der Injection wurde je-
doch das Zuckungsminimum für den Orbicularis palpebrarum, womög-
lich auch für die Vorderextremität festgestellt und nach der Injection
von Zeit zu Zeit controlirt, ob die Erregbarkeit erheblich gesunken Avar
oder nicht. Ich überzeugte mich A'^on Neuem, dass das Morphium unter den
gegebenen Verhältnissen einen Einfluss auf die Erregbarkeit nicht hat.
Zur Blutstillung pflege ich kleine Streifen Feuerschwamm zu be-
nutzen, welche theils in die blutenden Emissarien eingeführt, theils auf
die durchschnittenen Knochenflächen aufgedrückt werden. Den Thieren
wurde regelmässig die Tracheotomie gemacht, um dem Schreien vorzu-
beugen. Der Inductionsapparat wurde durch ein sehr schwaches Ele-
ment nach Leclanche getrieben. Im Uebrigen verweise ich wegen
der Methode auf die Angaben der beiden vorstehenden Abhandlungen.
a) Unerregbare Zone.
In der von mir als unerregbar bezeichneten Zone fand Ferrier
zunächst eine Reihe von Hirnpartieen erregbar, welche nach hinten an
die von mir als erregbar bezeichneten Theile grenzen. Der erste
Punkt*) (9) liegt im Gyrus m. Ferrier hat von ihm aus bei dem
einen seiner Versuche am Hunde Schwanzbewegungen hervorgebracht,
bei dem zweiten Versuche wurde dieser Punkt nicht berücksichtigt.
Dieses eine Resultat genügt Ferrier, um die betreffende Partie nicht
nur als Centrum für die Schwanzbewegungeu zu bezeichnen, sondern
auch mit Rücksicht auf die Ausdehnimg dieser Stelle weittragende
Schlüsse zu ziehen, von denen später die Rede sein wird^o). Ich selbst
fand die fragliche Stelle bei der Stromstärke des Zuckungsmiuimums
und beträchtlich höheren Stromstärken stets unerregbar. Bei einzelnen
Versuchen konnte man sogar mit 10 Elementen ohne Nebenschliessung
und mit beliebig starken Inductionsströmen reizen, ohne dass Zuckungen
eintraten. Bei anderen Versuchen hingegen bewegte sich unter diesen
Umständen allerdings der Schwanz. Dann nahm die Stärke der Con-
tractionen aber stets zu, sobald die Elektroden nach vorne in die er-
*) Die sämmtlichen Punkte sind auf Fig. 17 S. 127 reproducirt.
— 127
nahmen, sobald ich mich mit den Elektroden dem von uns als Centrum
für diesen Muskel bezeichneten Punkt (5) näherte.
Ich kann deshalb nur den Schluss ziehen, dass auch hier die Reiz-
effecte Ferrier's durch Stromschleifen, welche zu dem bezeichneten
Punkte (5) gelangten, bedingt sind.
Der dritte Punkt, welcher die erregbare Zone nach hinten begrenzt
(16), liegt in dem Gyrus o. Bei dem ersten seiner zwei Versuche fand
Ferrier denselben nicht erregbar, bei dem zweiten Versuche wurde
das Ohr nach unten und hinten gezogen. Ich fand bei meinen Ver-
suchen die fragliche Stelle unerregbar.
Fiff. 17.
Fiü-. 18.
L. f.: Stirnregion. L. c: Hinterhaupts-
region. F. S. : Fossa Sylvii. S. c. und
14: Sulcus cruciatus (Leuret), front.
(Owen), e-h Scheitelwindungen, m-o
Hinterhauptswindungen, i vordere
Schläfenwindung, a-d Stirnwindungen
(die Buchstaben a-c stehen vor den durch
sie bezeichneten Theilen).
Die Buchstaben- wie auf Fig. 17. /X
Reizpunkt für Rumpfmuskeln; 4-°
und -j- für vordere Extremität;
4J: für Hinterextremität; : für
Schwanz; j für beide Extremitäten;
(') für Bewegung und Schutz des
Auges; 0 für Zunge; "für Kiefer-
öffnung; unmittelbar dahinter zwei
durch eine Linie verbundene Punkte
für Schluss der Kiefer, Retraction
der Mundwinkel und Retraction der
Zunge; .j.*^ X für Ohrbewegungen.
Der vierte Punkt (20) liegt an der Stelle, wo Gyrus h und i zu-
sammen laufen. Durch Reiztmg desselben rief Ferrier keine Bewe-
gungen hervor; auch mir gelang dies nicht; auf die Schlüsse, die Fer-
rier zieht, kommen wir zurück.
Wir betrachten die Punkte (11), (12), (16), und (17) Ferrier's,
wie den dazwischen gelegenen Raum mit Ferrier gemeinschaftlich.
Der in Frage stehende Raum umfasst den ganzen Hinterhauptlappen
bis zur Grenze des Schläfenlappens, abgesehen von der äusseren Fläche
des Randwulstes. Bei dem ersten von Ferrier's Versuchen ergab
— 126 —
regbare Zone rückten. Jedoch reagirte auch diese Stelle auf die Strom-
stärke des Zuckungsminimums und die nächst höheren Stromstärken
nicht mit Schwanzbewegungen, während man unter den letztangeführten
Bedingungen deutliche Zuckungen von dem Centrum für die hintere
Extremität aus auch in der Schwanzmuskulatur hervorrief. Wir hatten •
bereits in der ersten Abhandlung angegeben, dass wir nicht nur diese
Muskeln, sondern auch die des Rumpfes von der erregbaren Zone aus
hätten in Bewegung setzen können, dass uns jedoch ihre Isolirung nicht
gelungen sei. Gelegentlich der in der zweiten Abhandlung angeführten
Versuche hatte ich auf Isolirung der Schwanzmuskeln wiederum viele
Mühe verwendet. In der That war es mir denn auch bei einigen Ver-
suchen gelungen den Schwanz von der oben bezeichneten Stelle, dicht
lateralwärts neben dem Centrum für die hintere Extremität aus isolirt
in Bewegung zu setzen. Da jedoch dieses Resultat nicht constant her-
vorzubringen war, so glaubte ich auf die Wiedergabe desselben ver-
zichten zu sollen*). Die neuerdings angestellten Versuche haben in dem
damals erreichten Zahlenverhältniss so wenig geändert, dass ich auch
jetzt noch Anstand nehme, die betreffenden Theile als der oberfläch-
lichen Rinde angehörig zu betrachten. Des Centrums für das Hinter-
bein war bei Ferrier merkwürdiger Weise nur in einer Anmerkung
gedacht, auch ist die Stelle nicht mit einer Zahl, wie die Uebrigen be-
zeichnet. Ferrier schliesst sich mit seiner Angabe der unsrigen an.
macht aber von dort aus hervorzurufender Schwanzbewegungen keine
Erwähnung.
Nach diesem muss ich schliessen, dass die Reizeffecte, welche
Ferrier bei Faradisirung des Punktes (9) sah, auf zu anderen Theilen
gelangende Stromschleifen zurückzuführen sind.
Der Punkt (11) Ferrier's liegt unmittelbar hinter dem Centrum
für den Orbicularis palpebrarum. Bei dem ersten von Ferrier's Ver-
suchen bewirkte dessen Reizung Schluss des Auges, bei dem zweiten
Drehung des Kopfes nach der anderen Seite. Reizte er bei dem zweiten
Versuche zwischen (11) und (5) (Centrum für Orbicularis palpebrarum),
so hob sich die Augenbraue; also drei verschiedene Reizeffecte! Bei
meinen eigenen Versuchen fand ich diese Gegend auf die Stromstärke
des Zuckungsminimums und die nächst höheren Stromstärken niemals
mit einem Reizeffecte antwortend. Bei beträchtlich stärkeren Strömen
traten Zuckungen im Orbicularis palpebrarum ein, die an Intensität zu-
*) Doch habe ich auf der Kupfertafel Fig. 1. a. a. 0. 1873 diese Stelle
durch eine punktirte Linie angedeutet und dieses Zeichen auch auf den
Fig. 2 I. Auflage und Fig. 18 reproducirt.
— 128 —
Reizung dieser Region keine Bewegungen, nur, wie sclion angeführt,
traten auf Reizung von (11) Contractionen im Orbicularis palpebrarum
ein und bei Reizung von (12) (Roilenabstand 4 cm!) eine Bewegung
des Kopfes nach der anderen Seite, durch welche ein epileptiformer
Anfall eingeleitet wurde. Bei dem zweiten Versuche trat auf Reizung
von (11), (12) und des zwischen (11) und (17) liegenden Raumes
Drehung des Kopfes nach der anderen Seite ein; (16) ergab, wie schon
angeführt, eine Ohrbewegung und (17) wurde nicht gereizt. Ferrier
zieht hieraus den Schluss, dass diese ganze Gegend die von ihm, ich
weiss nicht aus welchem Grunde zusammengeworfenen, seitlichen Be-
wegungen des Kopfes und Ohres vermittle.
Die Reizung von (17) hat ihm in keinem Falle von seinen zweien
ein Resultat ergeben. Ich, begreife danach nicht, mit welchem Recht
er auch diese Stelle hier glaubt namhaft machen zu dürfen. Ebenso
ergab (11) bei dem einen Versuche Schluss des Auges und nur beim
zweiten Drehung des Kopfes. Nur (12) hätte in beiden Fällen wirklich
Drehung des Kopfes ergeben, und (16) in dem einen Falle die Ohrbe-
wegung; dazu war die Drehung des Kopfes bei (12) in dem einen
Falle noch die Einleitung zu einem epileptiformen Anfalle.
Bei meinen eigenen Versuchen fand ich, dass man in' der grossen
Mehrzahl der Fälle fast die ganze, nicht, unmittelbar an die erregbare
Zone grenzende Partie mit Strömen jeder Intensität reizen kann, ohne
dass weder Bewegungen des Kopfes noch des Ohres eintreten. In spär-
lichen Fällen beobachtete ich jedoch allerdings Drehung des Kopfes
nach der anderen Seite, sowie Rückwärtsbewegung des Ohres bei An-
wendung sehr starker Ströme. Auch bei mir bildete die erstere Be-
wegung einmal die Einleitung zu einem epileptiformen Anfalle, während
ich, wie später gezeigt werden wird, Ohrbewegungen mit schwächeren
Strömen, aber nur in einer kleinen Zahl von Fällen, von einer mehr
nach vorn gelegenen Stelle aus hervorbringen konnte. Die Stromstärke
des Zuckungsminimums, sowie beträchtlich stärkere Ströme ergaben
aber von den jetzt in Rede stehenden Punkten aus in keinem Falle
eine Zuckung. Es handelt sich also bei jenen ausnahmsweise eintreten-
den Reizeffecten zweifelsohne um nach der Basis zu vordringende Strom-
schleifen. Die fraglichen Partieen selbst sind auf Grund der anderen
Versuche mit Bestimmtheit als unerregbar anzusprechen. Ich bemerke
zur Stütze dessen ausdrücklich, dass bei meinen Untersuchungen das
etwaige Vorhandensein eines Erschöpfungsstadiums nicht in Frage
kommen konnte; denn bei jedem einzelnen Versuche wurde von Zeit
zu Zeit der Erregbarkeitszustand der genau bekannten Centren contro-
lirt und dann mit dem Erregbarkeitszustande zweifelhafter Theile ver-
— 121) —
glichen. Sobald ein iieiiiicuswoi-thes Absinken der Krregbnrkeit zu con-
statiren war, wurde der Versuch Entweder ohne Weiteres aufgegeben,
oder die erhaltenen Resultate nur unter Reserve notirt.
Soviel von den nach hinten gelegenen Partieen. Nach vorwärts
von den durch mich bezeichneten Grenzen fand Ferrier den ganzen
Rest des Hirns erregbar. Die mediale Partie des Gyrus d^ sowie dessen
Vereinigungsstelle mit dem Gyrus a. resp. der senkrecht abfallende
Theil des Gyrus ä., (4) und (15) ergaben, in dem einen Versuche Er-
hebung des oberen Lides, bei dem anderen Versuche wurden diese
Punkte nicht gereizt. Ich mache darauf aufmerksam, dass bei jenem
Versuche ein Punkt in dem hinteren Theile der unerregbaren Zone
mit Erhebung des oberen Lides geantwortet hatte, welcher bei dem
ersten Versuche seinerseits nicht reagirte. Dieses schiebt Ferrier
darauf, dass er den rechten Punkt nicht getroffen habe. Es gäbe also
zwei weit auseinanderliegende Centralstellen für diese Function.
Bei meinen eigenen Versuchen konnte ich in der Regel die frag-
lichen Stellen sowohl mit Inductions-, als auch galvanischen Strömen
jeder Intensität reizen, ohne dass die entsprechende oder eine andere
Reaction eintrat. In einigen Versuchen erfolgte allerdings eine, jedoch
doppelseitige Erhebung des oberen Lides, die zweifelsohne auf eine
Innervation des Levator palpebrae superioris und nicht etwa des Fron-
talis zu beziehen war. Indessen auch hierzu war ein unverhältniss-
mässig starker Strom erforderlich: Das Zuckungsminimum trat nämlich
im Orbicularis palpebrarum bei 15 S. EE. Widerstand der Neben-
schliessung ein, während die fragliche Stelle erst auf 100 Wendung
deutlich reagirte, 80 Wendung ergab noch nicht die Spur einer Zuckung.
Die Stromstärke für das Zuckungsminimum auf Reizung mit dem In-
ductionsstrome war an dieser Stelle 80 Rollenabstand. Rückte man
nun mit den Pjlektroden mehr und mehr lateralvvärts , so nahm bei
gleicher Stromstärke die Intensität der Muskelcontraction mehr und
mehr zu, auch wurde eine anfangs undeutliche Pupillendilatation deut-
licher. Die Reaction war am stärksten und das Zuckungsminimum
lag am Niedrigsten in der Gegend von /\ Figg. 1. 2. 18. Auch dort
waren aber immer 70 S. EE. Wendung erforderlich um überhaupt eine
minimale Bewegung zu erzielen.
Es kann sich also auch bei diesem Reizeffecte nur um Vordringen
von Stromschleifen nach tieferen Theilen zu handeln, und grade dieser
wie die zuletzt angeführten Versuche würden auf's Deutlichste beweisen,
wenn es eines besonderen Beweises bedürfte, nicht nur wie ausserordent-
lich vorsichtig man mit seinen Schlüssen bei dieser Materie sein muss,
sondern auch wie dieselben niemals allein auf solche Versuche basirt
Hitzig, Gesammelte Abhandl. I. Tlieil. g
— 130 —
werden dürfen, bei denen erheblich grössere Stromintensitäteu als die
des Zuckuugsminimums zur Anwendung kommen.
Die Untersuchung des Vorderlappens unterliegt wegen der Kleinheit
der Theile besonderen Schwierigkeiten. Ausserdem sammelt sich in
dieser Gegend mit Vorliebe Cerebrospinalflüssigkeit an, so dass die
Untersuchung dieses Hirntheiles mit doppelter Vorsicht, und die Schluss-
folgerungen, soweit positive Reizeffecte erscheinen, mit doppelter Re-
serve in die Hand genommen werden müssen.
Ferrier fand bei dem einen seiner beiden Versuche, (23) bei dem
die Spiralen bis auf 4 cm genähert waren, ein plötzliches Zurückziehen
des Kopfes gegen die Brust; bei dem zweiten Versuche wurde auch
dieser Punkt nicht gereizt.
Bei meinen eigenen Versuchen sah ich ausserordentlich häufig auf
Anwendung stärkerer Ströme Bewegungen aller Art eintreten, und zwar
Hessen sich unterscheiden einfache Reflexbewegungen und solche, die
durch Stromschleifen zu anderen Theilen bedingt waren. Reflexbewe-
gungen kommen hier sehr leicht wegen der Nähe der Dura zu Stande
und sie trugen hier wie überall den Charakter zweckmässiger Flucht-
bewegungen. Andererseits traten manchmal doppelseitige Contractionen
der zwischen Sternum und Zungenbein, Kiefer und Zunge verlaufenden
Muskeln ein, welche an Intensität zunahmen, sobald man etwas mehr
nach hinten ging, als man in eine Gegend kam, welche wie Avir sehen
werden, mit diesen Bewegungen directer etwas zn thun hat. Ausser-
dem habe ich durch starke Ströme von derselben Gegend aus schüttelnde
Bewegungen mit dem Kopfe, Verziehung der Nase nach der rechten
Seite und andere Bewegungen hervorgebracht. Auf die Stromstärke des
Zuckungsminimums und die nächst höher liegenden Stromstärken rea-
girte der Stirnlappen nie. Hingegen gelang es sogar in einzelnen
Fällen, bei denen die Präparatiou diesen Theil in grösserer Ausdehnung
gänzlich von flüssigen und festen Umgebungen isoliren konnte, ausser-
ordentlich starke Ströme anzuwenden, ohne dass Zuckungen eintraten.
Zu gleicher Zeit reagirten die übrigen Centren in der gewohnten Weise.
Wenn man aber bei Strömen mittlerer Intensität die Elektroden in die
sich am Schädelgrunde ansammelnde Flüssigkeit tauchte, so traten un-
fehlbar Zuckungen ein.
Die Pimkte (21) und (22) Ferrier's liegen nach der Beschreibung
und soweit diese verständlich ist, auch nach der Zeichnung im Gyrus c
und an der Grenze des Gyrus a gegen den letzteren. Ferrier sagt
Folgendes über die hier erzielten Reizeffecte: „Punkt (21): Zurück-
ziehen des Kopfes und Oeffnen des Mundes. Das Thier macht
einen schwachen Versuch zu einem Schrei oder Kiuirren. Das Thier war
— 131 -
zu (licsoiii Z(!it[)Uiiklt' üussorordoiitlicli cnschrtplt. Wicdcirlioltc A|)|)li<^;i-
tiou der Elektroden an diesem Punkte und seintsr Niicliharscliaft ver-
ursachten winselnde und knurrende Geräusche, wie sie ein träumender
Hund macht. Diese Laute wurden bei Application der F)lektrüdcn auf
andere Theile des Gehirns zu dieser Zeit nicht ausgestossen." (Ich bin
überzeugt, wenn Ferrier die Elektroden zu gleicher Zeit liätte auf
andere Theile der Dura appliciren wollen, so würde er gleiche Laute
zu hören bekommen haben.) „Punkt (22) Spiralen auf 4 cm (!) da, die
Erregbarkeit des Gehirns herabgesetzt ist; das Thier öffnet den
Mund, zieht die Oberlippen zurück und macht eine Art von
schnüffelndem oder brummendem Geräusch."
Bei dem zweiten Versuche wurden auch diese Punkte nicht unter-
sucht, und dennoch genügen jene einmal an einem „ausserordentlich
erschöpften Thiere" bei einer Annäherung der Spiralen auf 4 cm er-
reichten Reizeffecte Ferrier zu seinen Schlussfolgerungen. Er fasst
diese Punkte mit den in zwei anderen Gyris liegenden Punkten (13),
(14), (18). (19) und (probabl}' 20)") zusammen, um ihrer Gesammtheit
alle einseitigen und doppelseitigen Bewegungen des Mundes, der Zunge,
des Kiefers und einige Nackenbewegungen zuzutheilen.
Ich werde auf die fraglichen Bewegungen an einer anderen Stelle
einzugehen haben und darf mich hier wohl mit der Bemerkung be-
gnügen, dass massig starke Ströme auch von den Punkten (21) und
(22) Ferrier' s aus nicht mit Zuckungen beantwortet werden. Dennoch
mache ich noch ausdrücklich darauf aufmerksam, dass man an diesen
Stellen sehr leicht mit dem ersten und zweiten Aste des Quintus in
CoUision geräth. Namentlich der Supraorbitalis liegt hier dicht neben
den Elektroden. Ich habe Gelegenheit genommen mich von seiner
directen Betheiligung bei den Reizeffecteu Ferrier's zu überzeugen.
Andererseits hat Ferrier möglicherweise die Reizeffecte einer etwas
mehr nach hinten gelegenen Fläche irrthümlich an diese Stellen loca-
lisirt und sie an richtigen Stellen beobachtet. Wenn man nur einen
Versuch macht, sind derartige Irrungen natürlich unvermeidlich.
Auf Grund dieser Untersuchung halte ich nach wie vor auch
den Stirntheil des Hundehirns für unerregbar und die Reizeffecte
Ferrier's für Täuschungen durch Stromschleifen ^i).
Resumiren wir diesen Theil der Untersuchung, so finden wir,
*) „Probably" weil (20) das eine Mal nicht gereizt worden war und das
andere Mal keinen Reizeffect gegeben hatte. Bei der Katze trat an der ent-
sprechenden Stelle Drehung des Kopfes ein. Punkt (20) liegt aber an der Syl-
vischen Grube, darum muss er wohl zu der Articulation in Beziehung stehen!"
9*
- 132 —
dass der vordere Theil der früher von mir als unerregbar bezeichneten
Zone, welcher also die Grenze der erregbaren Zone nach hinten bildet,
auf schwache Ströme nie mit Muskelcontractionen antwortet; dass er
auf stärkere Ströme manchmal, aber nicht immer reagirt, dass diese
Reaction stärker wird, wenn man bei gleicher Reizgrösse auf von uns
bezeichnete Centren zurückt: dass Application der Elektroden auf den
noch weiter nach hinten liegenden Theil entweder überhaupt keine
Bewegungen, oder nur dann solche auslöst, wenn Ströme von enormer
Intensität zur Anwendung kommen. Dasselbe finden wir rücksicbtlich
der vorderen, von mir früher als unerregbar bezeichneten Zone.
Es gelang mir bei einer Anzahl dieser ausnahmsweise auftreten-
den Reizeffecte den Hergang der Täuschung zu verfolgen. Bei diesen
lagen die Einströmungsstelleu meist an den Rändern der freigelegten
Hirnfläche. Der Mechanismus einer anderen Zahl ausnahmsweiser Reiz-
effecte Hess sich nicht verfolgen. Hier lagen die Einströmungsstellen
mehr nach der Mitte der freigelegten Hirnflächen hin. Von beiden
Species werden wir im Folgenden fernere Beispiele kennen lernen und
alsdann Gelegenheit nehmen, einige Worte über dieselben zu sagen.
Eine Förderung ist der Sache durch die bisher geprüften Versuche
Ferrier's nicht geworden, insofern die von ihm publicirten Reizeffecte
Producte unzulässiger Methoden sind und ausserdem inconstant auftreten.
b) Erregbare Zone''^).
Die Versuche Ferrier's über Reizmig der von Fritsch und mir
bezeichneten Stellen gaben im Allgemeinen dieselben Resultate, welche
wir publicirt hatten. Nur sind die seinigen mehr complicirter Natur
als die unsrigen. Er bekommt z. B. gleichzeitig Schliessung des Auges,
doppelseitige Augenbewegungen, Pupillendilatation und Drehung des
Kopfes nach der anderen Seite von unserem Facialis-Centrum, Punkt (5)
aus. Andererseits bekommt er dieselben Bewegungen von einer ganz
anderen Stelle, nämlich von unserem Nackenmuskelcentrum, Punkt (3)
aus. Dies ist bei der enormen von ihm angewendeten Strom Intensität
leicht verständlich. Wir wollen darauf nicht noch einmal eingehen.
Reizung seines Punktes (1) ergab ihm dieselben Resultate wie uns.
Die Stelle für das Hinterbein hatte er bei den hier in Frage kommen-
*) Sämmtliche in diesem Abschnitte angeführten Zeichen beziehen sich
auf Fig. 18, die Zahlen auf Fig. 17 S. 127. Diejenigen Theile, welche Fer-
rier als erregbar anspricht, sind auf Fig. 17, und diejenigen, welche ich für
erregbar halte, auf Fig. 18 durch die Schraffirung bezeichnet. Man vergleiche
7,ur ürientinmg die SchrafJinme' der Fio'g. 2 u, o.
— 138 —
den Untersuchungen, wie es scheint, zu elektrisiren vergessen. Ausser-
dem liegen in der erregbaren Zone noch seine Punkte (6), (7), (19),
(18), (14), (13) und ein Theil der Region (8).
Die Punkte (6), (7) und (8) ergaben ihm denselben Reizeffect wie
(5), nämlich Schluss des Auges, was sich durch ihre Nachbarschaft er-
klärt. Nur bleibt eben bei schwächeren Strömen die fragliche Reaction aus.
Bei Reizung der Punkte (13), (14), (18) und (19) trat Verziehung
eines oder beider Mundwinkel ein, bei (14) gleichzeitig eine Ohrbe-
wegung, bei (18) gleichzeitig eine Nackenbewegiing und bei (19) gleich-
zeitig Kieferschluss. In allen Fällen waren die Spiralen einander bis
auf 6 cm e;enähert.
Fi2-. 17.
Fig. 18.
L. f. : Stirnregion. L. o. : Hinterhaupts-
region. F. S.: Fossa Sylvii. S. c. und
Sulcus cruciatus (Leuret), front.
14
(Owen). e-Ti Scheitelwindungen, m-o
Hinterhauptswindungen, i vordere
Schläfenwindung, a-d Stirnwindungen
(die Buchstaben a-c stehen vor den durch
sie bezeichneten Theilen).
Die Buchstaben wie auf Fig. 17. A
Reizpunkt für Rumpfmuskeln ; +'
und -j- für vordere Extremität;
^ für Hinterextremität ; : für
Schwanz; j für beide Extremitäten;
(") für Bewegung und Schutz des
Auges; 0 für Zunge; •• für Kiefer-
öffnung; unmittelbar dahinter zwei
durch eine Linie verbundene Funkte
für Schluss der Kiefer, Retraction
der Mundwinkel und Retraction der
Zunge; ^*^ X für Ohrbewegungen.
In der mit Herrn Fritsch gemeinschaftlich publicirten Abhandlung
war über Reizung dieser Theile nichts gesagt worden, da wir sie nicht
untersucht hatten. In der vorstehenden Abhandlung sind nur Reizeffecte
des Punktes (19) erwähnt. Die übrigen hier in Frage kommenden
Punkte hatte ich bei dieser Gelegenheit freilich untersucht, indessen aus
später zu erwähnenden Gründen von der Erwähnung des damals Ge-
sehenen Abstand genommen. Bei der jetzigen Serie von Experimenten
wurde dieser Ree;ion um deshalb die grösste Aufmerksamkeit zuge-
— 134 —
wendet, weil die von dort aus zu producirenden Reizeffecte, nachdem
sie einmal zur Sprache gebracht sind, neue Elemente in die Discussion
einführen werden, übrigens auch wegen gewisser Beziehungen zur
Pathologie ein besonderes Interesse beanspruchen.
Dieser ganzen Region kommt eine Eigenschaft zu, welche die Unter-
suchung nicht nur, sondern auch die Beurtheilung der erhaltenen Reiz-
effecte auf das Aeusserste erschwert, so dass ich trotz aller Mühe mir
in mancher Beziehung ein definitives Urtheil auch jetzt noch nicht habe
bilden können und mir dasselbe bis nach Vornahme neuer Untersuchungen
nach modificirten Methoden vorbehalte. Man erhält nämlich von
dem Gyrus g und von der nach vorn gelegenen, den Gyris /',
g und li gemeinschaftlichen Partie aus in einer Zahl von
Fällen schon bei Strömen, welche den \Verth des Zuckungs-
minimums nicht erheblich überschreiten, gut localisirte
Zuckungen, während in anderen Fällen unter seh einbar ganz
gleichen Umständen, und nachdem die vorbereitende Operation
tadellos vollbracht war, zur Erzielung derselben Reizeffecte
ausserordentlich viel grössere Stromintensitäten erforder-
lich sind. Eine Ausnahme macht der mit 0 Fig. 18 bezeichnete
Punkt, welcher auf den Werth des Zuckungsminimums regelmässig
mit einer doppelseitigen Zungenbewegung, bei stärkeren Inductions-
strömen mit Herausstecken der Zunge antwortet. Diese Bewegungen
werden auf die gleiche, höhere Stromintensität auch von der ganzen,
den Gyris /', g und h gemeinschaftlichen Partie aus hervorgerufen.
Ausserdem treten bei Reizung der letztgenannten Stelle Kieferbewe-
gungen und zwar sowohl Oeffhung als Schluss der Kiefer, endlich Be-
wegungen der Mundwinkel, mit einem Worte also Fressbewegungen ein.
Etwas nach oben und nach der Mittellinie zu von dem ebenerwähnten
Reizpunkt für die eigentlichen Zungeumuskeln lassen sich die Sterno-
hyoidei und thyreoidei erregen.
Die Stelle für Oelfnung der Kiefer ist, auch wenn man zur An-
wendung stärkerer Ströme schreiten muss, immer gut zu localisiren.
Sie liegt unmittelbar über dem Punkt für die Zunge und die von dort
aus mit dem Inductionsstrome erzielte Bewegung ist sehr charakteristisch.
Man kann den Hund die Kiefer so weit aufreissen lassen, wie er es
willkürlich nie thut. Man sieht, dass diese Stelle nicht weit von
Ferrier's Punkt (22) liegt, bei deren Reizung der Hund schrie, winselte
und das Maul aufsperrte. Es ist also möglich, dass Ferrier's Reiz-
effecte zum Theil auf Stromschleifen beruhten, welche nach jenen leichter
. reizbaren Theilen gelangten und nur zum Theil auf gleichzeitige Reizung
— 135 —
der Dura zAirückzuführen sind. Die Stelle ist auf Fig. Ift mit zwei bei
einanderliegeiiden Punkten bezeichnet.
Weniger sicher zu localisiren ist die Schliessung der Kiefer. In
der Mehrzahl der Fälle lässt sich dieselbe von der unmittelbaren Nach-
barschaft der letztgenannten Stelle aus, etwas nach hinten in der
Richtung auf den Gyrus g zu hervorbringen. Bei einer anderen kleineren
Reihe von Fällen braucht man aber hier stärkere Ströme als bei dem
Punkte (19)*) Ferrier's (zwei durch eine Linie verbundene Punkte),
so dass derselbe, was diese Fälle angeht, mit seiner Angabe Recht
hätte. Ebenso ist es richtig, dass von dem vorderen Theil des Gyrus (/,
den Punkten (14) und (18) aus Verziehung der Mundwinkel, übrigens
auch gleichzeitige Depression der Unteriippen (beiderseits) hervorzu-
bringen ist. Aber abgesehen davon, dass wie erwähnt die erforder-
lichen Stromintensitäten variabel sind, fallen auch alle von hier, näm-
lich vom Gyrus g und der den Gyris /", g und li gemeinschaftlichen
Partie aus resultirenden Bewegungen, selbst auf die für diese Theile
geltende Stromstärke des Zuckungsminimums doppelseitig aus. Die
Contractionen sind dabei auf beiden Seiten gleich stark. Eine Aus-
nahme von dieser Regel machen die Zygomatici, insofern als dieselben
manchmal sogar auf der Seite der Reizung viel stärker iiniervirt werden.
Der Mund wird also dann, wenn z. B. links gereizt wurde, sehr stark
nach links und schwach oder auch gar nicht nach rechts verzogen.
Endlich muss ich noch eine Restriction der von mir früher bezüg-
lich der Reizeffecte des Punktes (19) gemachten Angaben aussprechen.
Ich* hatte in der Abhandlung III S. 49, 50 diesen Punkt als einen
solchen bezeichnet, von dem aus die unteren Aggregate des Facialis
mit der Stromstärke des Zuckungsminimums zu innerviren wären. Die
zwischen ihm und (5) liegenden durch Punkte eingeschlossenen Theile
besässen geringere Erregbarkeit, aber grössere als die mehr nach vorn
gelegenen Partieen. Diese Resultate waren dadurch gewonnen worden,
dass die erstgenannten Stellen bei mehreren übereinstimmenden Ver-
suchen mit der Stromstärke des Zuckungsminimums und die nachher
markirten Grenzen mit einer um etwas höher liegenden Stromstärke
nach der auf S. 17 f and 48 beschriebenen Methode bezeichnet wurden.
Gelegentlich der jetzigen, viel eingehenderen Untersuchung, bei
der insbesondere die Graduirung der Nebenschliessung um einzelne Ein-
*) Punkt (19) ist um etwa 2 mm zu weit nach hinten gezeichnet. Wegen
der auf Fig. 17 und 18 angewendeten perspectivischen Verkürzung scheint
dieser Fehler noch erheblicher. Die Stelle ist bei g Fig. 3 S. 49 zu suchen.
^ 136 —
heiten viel häufiger statt hatte, zeigte sich nun erstens von Neuem,
class der Reizpunkt für das obere jener beiden Centren, (ebenso übrigens
auch für die Centren der Extremitäten), sobakl wirklicli die niedrigste
überhaupt erregende Stromstärke in Anwendung kommt, nicht grösser
als ein Stecknadelkopf ist. Es zeigte sich ferner, dass in der grösseren
Zahl von Fällen der Punkt (19) nicht auf die Stromstärke reagirt,
welche den Effect der Mundwinkelerhebung entweder von dem letztge-
dachten Punkte (') oder von einem um ein Geringes nach vorne liegen-
den Punkte aus hat. Diejenigen Fälle, in denen die Erhebung des
Mundwinkels von dem Punkt (19) aus leichter eintritt, als von jener
Region sind vielmehr seltener und ich muss es demnach als einen Zu-
fall betrachten, dass mir damals mehrere Versuche hintereinander das
entgegengesetzte Resultat ergaben.
Insofern als die in Frage stehenden Muskeln — Emporzieher der
Wange — ebenfalls Schutz des Auges bezwecken, wird meine Auf-
fassung jenes Innervationsgebietes als eines Heerdes für Bewegung
und Schutz des Auges durch die eben gegebene Berichtigung nicht
alterirt.
Wenn ich also das Resultat der über die einzelnen Aggregate des
Facialis angestellten Reizversuche resumiren soll, so stellt sich heraus,
dass auf den Werth des Zuckungsminimums regelmässig Contractionen
nur an der zuerst von uns bezeichneten Stelle (5) eintreten; dieselben
betreffen den Orbicularis palpebrarum und meistens auch die Muskehi,
welche die Backe und den Mundwinkel gegen das Auge emporziehen.
Manchmal liegt der Reizpunkt für die letztangeführten Muskeln um
wenige Millimeter weiter nach vor- und abwärts, aber in demselben
Gyrus. Manchmal jedoch liegt er im Gyrus (7, entsprechend dem Punkte
(19) Ferrier's und den durchkreuzten Punkten auf Fig. 2 und 3. Diese
Bewegungen treten nur gekreuzt auf. Die mehr nach vorn gelegenen
Theile des Gyrus g antworten hingegen mit doppelseitiger Breitziehung
des Mundes (Zygomatici), welche nicht selten auf der gleichnamigen
Seite stärker ausfällt und in der Regel nur durch Ströme, die den
Werth des Zuckungsminimums um ein Beträchtliches übersteigen, aus-
gelöst wird.
Was nun die noch nicht besprochenen Ohrmuskeln angeht, so zeigt
sich rücksichtlich derselben etwas in einer gewissen Beziehung Analoges.
Ferrier hatte in dem einen seiner beiden Versuche eine Rückwärts-
bewegung des Ohres von seinem Punkt (16) aus hervorbringen können.
Bei dem anderen Versuche waren an dieser Stelle überhaupt keine Be-
wegungen aufgetreten. Obwohl ein grosser Theil der von ihm berich-
— 137 —
teteu Resultate sich lediglich aul" nachher aii diesem Tliiere hervorge-
rufene Reizeffecte stützt, so schiebt er dieses negative Ergebniss doch
auf die Erschöpfung seines Versuchsobjectes und hält durch den anderen
Versuch für erwiesen, dass Punkt (16) die Centralstelle für die Ohrbe-
wegungen berge. Ich habe schon früher angegeben, dass Ohrbewegungen
von diesem Punkte aus auch bei Anwendung der stärksten Ströme nur
ausnahmsweise hervorzubringen waren, während derselbe auf einiger-
massen schwächere Ströme überhaupt niemals reagirt. Nun giebt es
aber mehrere andere Punkte, deren Reizung gelegentlich auch bei
schwächeren Strömen mit Zuckung beantwortet wird, während in anderen
Fällen wieder sehr viel stärkere Ströme erfolglos bleiben. Ausser
diesen existirt ein Punkt, er liegt unmittelbar hinter der Syl vi sehen
Grube und ist mit einem X bezeichnet, welcher bei Ausschaltung der
Nebenschliessung, nicht aber bei 100 S. E. E. Wendung, mit einer Rück-
wärtsbewegung des Ohres antwortete. Die ersterwähnten Punkte liegen
in den Gyris g und /*, und sind mit .^*.. bezeichnet. Das am meisten
nach vorn liegende Sternchen markirt eine Stelle, welche bei einem
Versuche auf die Stromstärke des Zuckungsminimums (15 S. E. E.
Wendung) mit Vorwärtsbewegung des Ohres, combinirt mit Contraction
des Orbicularis oder auch Emporziehen der Backe antwortete. Tsolirt
war die Ohrbewegung an dieser Stelle nicht hervorzubringen; ging man nun
aber in demselben Gyrus nach rückwärts bis zu dem zweiten Sternchen,
so hörten zwar bei niedrigeren Stromstärken die Zuckungen gänzlich
auf, von 50 S. EE. Wendung an indessen trat dieselbe Ohrbewegung,
aber nun isolirt auf. Es war ganz merkwürdig zu sehen, wie bei jeder
Schliessung das Ohr der gegenüberliegenden Seite isolirt nach vorn
zuckte in einer Art und Intensität, wie es willkürlich und einseitig
wohl kaum ausgeführt werden könnte.
Mir schien von grossem Interesse nachzusehen, ob ähnliche incon-
stante Reizeffecte neben den schon beschriebenen auch noch von anderen
Stellen aus zu produciren sein würden, und es gelang mir auch noch
mehreren gleichartigen Erscheinungen auf die Spur zu kommen. So
erzielt man bei Reizung des Punktes (19) gelegentlich schon auf sehr
schwache Ströme, abgesehen von den früher erwähnten Kiefer- und
Mundwinkelbewegungen, auch noch Contractionen der Nacken-, Hais-
und der übrigen Gesichtsmuskeln. Endlich reagirt auch der Gyrus A,
welcher sonst ziemlich starke Ströme ohne Reaction erträgt, manchmal
mit mehr weniger verbreiteten Muskelzusammenziehungen.
Durch die Ergebnisse der zuletzt vorgetragenen Untersuchungen
wird der bis dahin scheinbar einfache Sachverhalt bei Weitem compli-
_ 138 —
cirter. Wenn nur auf stärkere Ströme inconstante und doppelseitige
Bewegungen einträten, so würde auf Grund meiner früheren Unter-
suchungen die Erklärung nahe liegen, dass Stromschleifen zu den mit
doppelseitigen Bewegungen reagirenden Basalganglien (Linsenkern) vor-
drängen. Schon das Verhalten des von uns sogenannten Centrums für
die Nackenmuskeln hatte mich in dieser Beziehung misstrauisch ge-
macht, denn wir hatten in der ersten Abhandlung anführen müssen,
dass wir dasselbe nicht immer auffinden konnten, und in der zweiten
war erwähnt worden, dass ich gelegentlich den Reizeffect nur mit
stärkeren Strömen hätte sichtbar machen können.
Es liess sich aber für diese Erscheinungsweisen noch ein anderer
Weg zur Erklärung denken. Die Mehrzahl der hier in Frage stehen-
den Bewegungen setzen einen grösseren Kraftaufwand voraus, als die
Bewegungen des Orbicularis palpebrarum, des Bulbus, der Vorderextre-
mität und der hinteren Extremität. Da nun schon bei Reizung der
den letztgenannten Muskelgruppen entsprechenden Centralgebiete sich
eine, wenn auch geringe und der Masse des zu bewegenden Organes
proportionale Verstärkung der für das Zuckungsminimum des Orbicu-
laris palpebrarum erforderlichen Stromintensität als nothwendig ergab,
so durfte man annehmen, dass auch bei den anderen Körpertheilen der
Strom um so stärker würde sein müssen, je schwerer die zu bewegende
Last, der zu überwindende Widerstand war. Aus diesem Grunde habe
ich, sobald ich von der Stromstärke des Zuckungsminimums spreche,
die beschränkende Wendung „und die nächst höher liegenden Strom-
stärken" gebraucht.
Um diese Frage zu entscheiden, deckte ich schon anlässlich meiner
Beschäftigung mit den Nackeumuskeln dieselben auf. Denn wenn auch
der Kopf bei den schwächsten Strömen nicht in Bewegung gesetzt
wurde, so lag doch kein Grund vor — die Richtigkeit der früheren
Voraussetzungen angenommen — dass sich nicht die einzelnen jedesmal
in den Bereich der Reizung gezogenen Muskeln contrahiren sollten. Ich
habe bereits auf S. 50 als Resultat der damaligen Untersuchung auge-
geben, dass diese Vermuthung zutraf. Man sieht, wie ich dies auch
neuerdings bestätigt habe, dass sich wirklich auf die Stromstärke des
Zuckungsminimums einzelne Muskeln oder auch Theile von Muskeln in
Bewegung setzen.
Weder die gleiche Untersuchungsmethode noch das gleiche Raison-
nement liess sich auf die Production der Fressbewegungen und der
Ohrbewegungen anwenden. Die Fressbewegungen entziehen sich, inso-
weit es Kieferbewegungen sind, dieser controlirenden Untersuchungs-
— 139 —
methode, weil die Thiere zu häufig äusserst kräfti}>;e willkürlicho Kiefer-
bewegungeu ausführen-, narkotisirt man sie aber so tief, dass die wiJl-
kürlichen Bewegungen aufhören, so hebt das Absinken der Erregbar-
keit die Wirkung scbwaciier Ströme an und für sich auf. Ich liabe
mir in dieser Beziehung durch Blosslegung der Muskehi und Anbringung
von Fühlhebehi die erdenklichste Mühe erfolglos gegeben, hoffe aber
der Sache in anderer Art noch auf die Spur zu kommen.
Dass, sich das gleiche Raisonnement auf die Verziehung des Mundes
und des Ohres nicht anwenden lässt, ist ja klar; denn diese Theile
sind gewiss leichter in Bewegung zu setzen als selbst die Zehen einer
Vorderpfote. Ausserdem treten noch als eine besondere Schwierigkeit
jene inconstant, aber selbst durch schwache Ströme zu erzielenden Be-
wegungen dazu. Es wäre naöglich, dass deren Auftreten einer Reizung
von Leitungsbahnen entspräche, welche bei der immerhin variablen
Form der Gyri in diesem oder jenem Falle mehr oder weniger ober-
flächlich gelagert sein könnten. Ich bin aber principiell immer mehr
geneigt, derartige Verhältnisse auf Varianten der Leitung, als auf Vari-
anten der Organisation zurückzuführen, denn dass die ersteren existiren,
wissen wir, während die letzteren vorläufig doch rein hypothetischer
Natur sind. Wenn zu irgend einem Punkte in der Tiefe einmal ein
etwas dickeres Gefäss hinabsteigt, so kann seine Umgebung leicht von
dichteren Schleifen getroffen werden, als es in der Regel der Fall ist.
Liegt dort ein motorischer Theil, so v^ird er ausnahmsweise reagiren.
Dies wäre eine Möglichkeit der Erklärung, ich kann aber nicht sagen,
dass sie mich bis zum Aufgeben der Sache befriedigte: Mit einem Worte
halte ich den Modus und den Ort der Production der Fressbewegungen
nicht für hinlänglich aufgeklärt, sondern fernerer Untersuchungen für
bedürftig, während die Ohrbewegungen sowie die übrigen ausnahms-
weise auftretenden Reizeffecte wohl sicher auf irgend welche zu-
fällige Leitungsanomalien zurückzuführen sind. Wir werden auf diese
Fragen in einer der nachstehenden Abhandlungen noch einmal zurück-
kommen.
Blicken wir auf die in dem letzten Abschnitte besprochenen Unter-
suchungen zurück, so finden wir, dass dieselben neue Thatsachen zu
Tage gefördert haben. Hierher sind die von Ferrier an dem
medialen Theile der Convexität erzielten Reizeffecte nicht
zu rechnen. Wir hatten bereits vor vier Jahren ausführlich be-
schrieben, von welchen Punkten aus man isolirte Muskelcontractionen
erzielt, und dass die von jenen eingefassten Gebiete auf stärkere Ströme
mit weiter und weiter verbreiteten Bewegungen antworten. Ferrier 's
— 140 —
Untersuchungen haben zu diesen Thatsachen weder etwas hinzugefügt
noch etwas davon hinweggenommen*).
Indessen hat der englische Autor, soweit es durch einen
einzelnen Versuch geschehen kann, unabhängig nachge-
wiesen, dass von seinem Punkte (19) aus Schliessbewegungen
des Unterkiefers und von dem vorderen Theile des Gyrus g
aus Verziehung der Mundwinkel zu erzielen sind. Ausserdem
hat er angegeben, dass der vordere und basale Theil des Gehirns
Oeffnung der Schnauze vermittle. Wenngleich die Art seiner auf den
letzteren Punkt bezüglichen Notizen so wenig Vertrauen erweckend als
möglich ist, so möchte ich ihm doch auch dieses Verdienst nicht
schmälern. Wundt**) hat in neuester Zeit rücksichtlich der Kau-
muskeln eine ähnliche, ebenfalls unabhängig gewonnene Angabe gemacht.
2. Versuche an Katzen.
Katzen eignen sieb zu den fraglichen Versuchen ausserordentlich
schlecht. Die Blutung bei Eröffnung der Schädelhöhle ist viel stärker,
als sie in der Regel bei Hunden von gleicher Grösse zu sein pflegt.
Die Katze hat Emissarien von relativ grösserem Lumen als der Hund.
Ausserdem trägt auch die Wuth, in welche diese Thiere durch die
Operation versetzt werden, zur Erhaltung der Blutung bei. Aber nicht
allein, dass die Thiere stärker bluten, so ertragen sie auch den Blut-
verlust schlechter als Hunde. Die Erregbarkeit des Gehirns nimmt
äusserst schnell ab. Dies ist auch, wenngleich in geringerem Grade
dann der Fall, wenn der Blutverlust kein übermässiger war.
Das Gehirn der Katze ist ferner sehr viel kleiner, als das des
*) Gegenüber den Angaben Ferrier's rücksichtlich der Augenmuskeln
befinde ich mich in derselben Lage, wie ich sie schon bei Besprechung seiner
das Hinterbein und die Fressbewegungen betreffenden Notizen geschildert habe.
Ferrier konnte zur Zeit der Pablication seiner Arbeit meine hierher gehörigen,
in der Abhandlung III enthaltenen Untersuchungen noch nicht kennen. Seine
Angaben sind also als ihm eigenthümliche zu betrachten. Sie befinden sich in
zwei Anmerkungen, beziehen sich auf spätere Versuche und besagen, dass bei
Pv-eizung unseres Nackenmuskelcentrums doppelseitige Internus-Contraction und
bei Reizung meines Augenmuskelcentrums doppelseitige Drehung nach aussen
und unten eintrat. Ein Theil der letzten Angabe entspricht dem wirklichen
Sachverhalte zu einem Theile. Der Rest ist ebenso zu beurtheilen, wie die
übrigen Reizeffecte Ferrier's.
**) Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie. Leipzig 1873.
S. 168. Anm. 2. Das Buch ging mir während des Druckes zu.
— 141 —
Hundes und eignet sich ' schon aus diesem Grunde weniger zu Ver-
suchen, bei denen die Möglichkeit der Isolirung lediglich auf der Grösse
des räumlichen Abstandes der Theile von einander beruht. Mindestens
wird deshalb die Noth wendigkeit mit der Stromstärke des Zuckungs-
miniraums zu untersuchen und die Elektroden einander möglichst zu
nähern, nur um so dringender.
Katzen scheinen durch Morphium schwer narkotisirt zu werden.
Den Aether vertragen sie schlechter als Hunde, während sie das Chlo-
roform gut ertragen. Die Vornahme der Operation hat also, wenn man
sich des Chloroforms bedienen will, und die Blutung massig ist, keine
besonderen Schwierigkeiten, wohl aber die Untersuchung derjenigen
Theile, welche den Mund, die Kiefer und die Zunge bewegen. Man
muss zu diesem Endzwecke die Schnauze losbinden und das Thier er-
wachen lassen. Danu aber beisst die Katze mit solcher Wuth um sich,
dass die Fortsetzung der Operation sowohl für Operateur als Assistenten
geradezu gefährlich wird, jedenfalls ungetheilte Aufmerksamkeit nicht
zulässt.
Unter diesen Umständen und da die Aehnlichkeit in der Formation
des Hunde- und Katzengehirns, wie oben angeführt, sehr gross ist, be-
gnügte ich mich damit, die aprioristisch anzunehmende Gleichheit in
der Lagerung der Centren, sowie die Begrenzung der erregbaren Zone
nothdürftig zu constatiren, indem ich das Detailstudium den später fort-
gesetzten Versuchen an Hunden vorbehielt. Hierzu waren im Ganzen
genommen 7 Versuche erforderlich. Drei von diesen Vivisectionen
missglückten, da die Thiere theils an Blutung, theils in Folge der ange-
wendeten Narkotica zu Grunde gingen. Es bleiben also 4 Versuche,
deren Resultate mich übrigens innerhalb der erforderlichen Grenzen
vollständig überzeugten.
a) Unerregbare Zone*).
Die von mir beim Hunde als unerregbar bezeichnete Zone, deren
Unerregbarkeit bei der Katze aus aprioristischen Gründen anzunehmen
w^ar, fand Ferrier bei diesem Thiere in noch grösserer Ausdehnung
erregbar, als dies beim Hunde der Fall gewesen war.
Der Punkt (3) ergab Ferrier bei seinem einen Hunde versuche,
wie erinnerlich, Bewegungen des Schwanzes; an der Katze kein Resultat.
*) Die in diesem Abschnitte angeführten Zeichen, Buchstaben und Zahlen
beziehen sich auf Fig. 19 und 20 S. 142. Diejenigen Theile, welche ich für
erregbar halte, sind auf Fig. 19 durch die Schraffirung bezeichnet. Nach Fer-
rier ist bis auf Punkt (3) und (5) die ganze sichtbare Fläche erregbar.
— 142 —
Punkt (8) unmittelbar hinter dem Centrum für Bewegung und Schutz
des Auges ergab ihm Schluss des Auges, Zurückziehen des Ohres, Her-
aufziehen der linken Backe und Nasenhälfte, sowie Bewegung der Bulbi.
Bei einem zweiten Versuche trat nur Schluss des Auges ein. Bei einem
dritten Versuche erhielt er ähnliche Reizeffecte wie beim ersten.
Meine eigenen Versuche ergaben ünerregbarkeit dieses, sowie des
vorigen Punktes, sobald mit den Stromstärken des Zuckungsmiuimums
oder den nächst höheren Stromstärken gereizt wurde. Bei Anwendung
sehr starker Ströme traten Reizeffecte ähnlicher Art wie Ferrier sie
beschreibt, ein. Dieselben nahmen zu, wenn sich die Elektroden der
erregbaren Zone näherten. Ich halte dieselben deswegen für das Pro-
duct von Stromschleifen.
Fio-. 19.
Fig. 20.
L. f. Stirnregion. L. o. Hinterhauptsregion. F. S. Fossa Sylvii. S. c. Sulcus
cruciatus. -j- Reizpunkt für Vorderextremität und Rumpfmuskeln; (2) für vordere
:^ für hintere Extremität: ■;') für Bewegung und Schutz des Auges. (19),
(20) d Stirnwindungen, e-h Scheitelwindungen, m-o Hinterhaupts Windungen.
Der Punkt (4) Ferrier's liegt weiter nach hinten und würde der
Lage nach, Ferrier 's Untersuchungen am Hunde folgend, theils dem
Centrum für die Schwanzmuskeln entsprechen, theils unerregbar sein.
Reizung bei der Katze ergab bei dem einen Versuche Runzeln der
Augenbraue und Ohrbewegungen. Wiederholt wurde der Versuch nicht.
Die Punkte (9), (10), (11), (12), (13), (14) und (16), welche fast
den ganzen Hinterlappeu, den oberen Theil des Schläfenlappens und
den unmittelbar vor der Sylvischen Grube gelegenen Theil des Gyrus h
einnehmen, ergaben Drehung des Kopfes nach der anderen Seite. Sie
liegen in vier verschiedenen Gyris. Punkt (9) und (10) ergaben ausser-
dem noch Augenbewegungen, Punkt (13) Ohrbewegungen, Punkt (14)
Ohr- und Lidbewegungen, Punkt (16) endlich Schluss des Auges und
Zurückziehen des Mundwinkels. Punkt (13) und (14) wurden bei dem
— 143 —
zweiten Versuclie und, wie es sclieint, riuc.li Ixii (lein drittcin V(!rsiicbe
mit ähniicliem Erfolge gereizt. Die linderen Punkte wurden keiner
wiederholten Untersuchung unterworfen.
Bei meinen eigenen Untersuchungen traten auf Reizung mit der
Stromstärke des Zuckungsminimums, wie den nächst höher gelegenen
Stromstärken niemals Zuckungen irgend welcher Muskeln auf Reizung
der genannten Theile ein. In einem Falle ergab sogar die Reizung mit
Ausschaltung der Nebenschliessung, sowie 6 cm Rollenabstand von sämmt-
lichen angeführten Punkten aus keine Drehung des Kopfes. Die Gegend
des Punktes (4) und ihre Nachbarregionen antwortete allerdings bei
100 Wendung mit Facialis-, insbesondere Ohrbewegungen. Wurde mit
der gleichen Stromstärke am lateralen Hirnrande gereizt, so zuckte
regelmässig der zurückpräparirte M. temporalis. Wurde aber am vorderen
Rande gereizt, so zuckte der Facialis der gleichen Seite, sobald zwischen
dem Hirn und seinen Bedeckungen sich eine Brücke Flüssigkeit befand.
Dies beweist, wenn es überhaupt eines Beweises bedürfte, wie gross der
Verbreitungsbezirk so starker Ströme ist. Wurde die Flüssigkeit weg-
getupft, so hörten alle Zuckungen auf. Ich kann deswegen, und da
Ströme von erlaubter Intensität ohne jeden sichtbaren Erfolg blieben,
die sämmtlichen eben angeführten Reizeffecte nur als Producte von
Stromschleifen auffassen, welche zu tiefer gelegenen Theilen vordrangen.
Eine Ausnahme macht nur der Punkt (16), von dem aus ich. auf ver-
hältnissmässig niedrige Stromstärken (20 Wendung) Zusammenklappen
der Kiefer gleichzeitig mit Contractionen fast der ganzen Muskulatur
jedoch nur bei einem Versuche erhielt*). Bei einem zweiten Versuche
ergab Reizung derselben Stelle nichts. Die Protocolle der anderen beiden
Versuche enthalten über diesen Punkt keine Angaben. Da beim Hunde
die Partie unerregbar ist, der eine von meinen beiden Versuchen mir
mit grosser Sicherheit dasselbe Resultat ergeben hatte, da endlich der
Mantel an dieser Stelle eine nur dünne Decke über dem Stammlappen
bildet, so halte ich gleichwohl jene Stelle für unerregbar und betrachte
die fraglichen Reizeffecte um so mehr als Producte einer durch Zufälle
bedingten Fortleitung von Stromschleifen, als sie wie oben augeführt,
fast die gesammte Muskulatur betrafen**).
Punkt (15) am basalen Theile des Schläfenlappens gelegen, in einer
beim Hunde nach Ferrier unerregbaren Stelle ergab ihm in zwei Ver-
*) Ferrier sah von dort aus Drehung des Kopfes, Schluss des Auges
und Verziehung des Mundwinkels, also ebenfalls complicirte und ausserdem
andere Bewegungen.
**) Vergi. hierzu das auf S. 136 ff. Ausgeführte,
— 144 -
suchen Schliessuug der Kiefer (Spiralen auf 4 cm genähert, da 8 cm Rollen-
abstand ohne Erfolg blieb!). Bei dem dritten Versuche wird dieser
Punkt nicht erwähnt. (S. unten S. 145.)
Bei meinen eigenen Versuchen trat nie eine Zuckung in irgend
einem Muskel ein, wenn sich nicht eine Verbindung zwischen den Elek-
troden und der Cerebrospinalflüssigkeit nachweisen Hess. Dann freilich
kam es zu allerlei Bewegungen, deren Aufzählung einen Werth nicht be-
anspruchen kann.
ünerregbar fand Ferrier abgesehen von Punkt (3) nur den
hintersten Theil des Gyrus m. Der ganze Rest der äusseren Mantel-
fläche steht also nach ihm in Beziehung zur Muskelbewegung. Nach
meiner Ueberzeugung entspricht die erregbare Zone des Katzengehirns
sehr genau der des Hundehirns, und ist übrigens durch die, bei der
Katze viel constantere Formen zeigende Furchenbildung noch besser
begrenzt. Die Furche 11 gabelt sich bei der Katze vorn so, dass die
beiden Zinken dieser Gabel die hintere und mediale Grenze der erreg-
baren Zone abgeben. Die hintere und laterale Grenze wird sehr ge-
nau durch die Furche 8' gebildet, welche bei der Katze regelmässig,
wie beim Hunde ausnahmsweise, ohne in Continuität mit dem occipi-
talen Theile derselben Furche zu treten, sich lateralwärts halbmondförmig
nach vorn krümmt.
Die Erregbarkeit des medialen Theiles des Gyrus d hat Ferrier
nicht ausdrücklich behauptet. Auch ich fand denselben unerregbar.
Die Basis des Stirnlappens gab bei Ferrier auf Reizung mit 6 cm
Rollenabstand Zurückwerfen des Kopfes, bei noch stärkerer Reizung Be-
wegungen des Hinterbeines und Schwanzwedeln — Bewegungen, die
sieh, wie schon am Hunde nachgewiesen, so zweifellos als Reflexbe-
wegungen manifestiren, dass ich kaum nöthig habe anzuführen, dass die
Erregung des Vorderlappens mir ebenso wie beim Hunde ein negatives
Resultat ergab.
Das Resume dieses Abschnittes fällt dahin aus, dass
sämmtliche Angaben Ferrier's nur für unzulässige Methoden,
und auch dann nur ausnahmsweise dem Sachverhalte ent-
sprechen.
b) Erregbare Zone.
Die Resultate meiner eigenen Versuche stimmen hier im Groben
mit denen Ferrier's überein. Nur hat Ferrier auch an der Katze das
Centrum für das Hinterbein nicht isolirt, der Reizpunkt für Bewegung
und Schutz des Auges liegt weder an der Stelle (7), noch bei (8) wie
Ferrier angiebt, sondern genau zwischen beiden Punkten, seine Reiz-
— 145 —
eft'ecte sind iininer, gerade wie behn Hunde, aus dei- Wirkung mehrerer
Muskelgruppen zusammengesetzt; endlich zählt er bei Reizung ver-
schiedener Punkte analoge Effecte auf. Dies ist leicht verständlich,
wenn man die von ihm angewendete Stromintensität berücksichtigt.
Anstatt der hier gebotenen grösseren Vorsicht hat Ferrier im Gegen-
theil noch stärkere Ströme als beim Hunde benutzt. Wir finden mit
Vorliebe den Rollenabstand 4, 5 und 6 cm bei dem ersten und zweiten
Versuche notirt; bei dem dritten Versuche fehlen Angaben über die
Rollenabstände.
Fio-. 19.
Fiff. 20.
L. f. Stirnregion. L. o. Hinterhauptsregion. F. S. Fossa Sylvii. S. c. Sulcus
cruciatus. -j- Reizpunkt fürVorderextremität und Rumpfmuskeln; (2) für vordere
# für hintere Extremität; (") für Bewegung und Schutz des Auges. (19),
(20) d Stirnwindungen, e-h Scheitelwindungen, m-o Hinterhauptswindungen.
Ich hebe wieder ausdrücklich hervor, dass Ferrier bei allen drei
Versuchen neu anführt, dass durch Reizung basalwärts und vorwärts
gelegener Theile Oeffnung des Kiefers und Bewegungen der Zunge ein-
traten. Allerdings sind diese Angaben auch wieder nicht hinlänglich
kritisch geprüft, noch sind die fraglichen Stellen ganz genau localisirt.
Die drei Punkte (17), (18) und (20) sollen nach den Versuchsproto-
eollen in Beziehung zu jenen Functionen stehen. Der letztere Punkt
wird bei dem Rückblicke aber nicht erwähnt, auch ist ein Irrthum auf
der Zeichnung vorhanden, so dass von demselben um so mehr abge-
sehen werden kann, als er mit den Mund- und Zungenbewegungen nichts
zu thun hat. Die Punkte (17) und (18) sind hingegen die einzigen von
Ferrier gelegentlich dieser Arbeit einigermaasseu genügend unter-
suchten, und ich möchte dies um so mehr anerkennend erwähnen, als
dadurch in der That eine der Wirklichkeit entsprechende
Thatsache neu aufgedeckt worden ist. Ich verzichte deshalb
auch willig auf die Einwürfe, welche gegen mancherlei Nebeubedingungen
Hitzig, Gesammelte Abhancll. X. Theil. ]^Q
— 146 —
zu erheben ^Yären. Denn ich wünsche selbst den Schein zu vermeiden,
;ils ob die zaMreichen Einwände, die ich gegen Ferrier's Methode der
Untersuchung und der Darstellung erheben muss, mich gegen eine wirk-
liche Förderung des Wissens ungerecht gemacht hätten.
Bei meinen eigenen Untersuchungen, soweit sie reichen, fand ich
Verhältnisse, die denen am Hundehirn ähnlich sind. Indessen würde
ich auf diese Versuche, wenn sie nicht ein Correlat an den Hundever-
suchen hätten, überhaupt nichts geben. Einmal machen die Thiere in
ihrer Wuth so viele willkürliche Kieferbewegungen, dass die Aufsuchung
des Zuckungsminimuras besondere Schwierigkeiten findet*). Dann aber
hat man dazu gar nicht lange Zeit. Denn wenn man den Bulbus exstir-
pirt und das Hirn freigelegt hat, vermindert sich die Erregbarkeit des
Hirns ziemlich schnell, und dann ist es, wie mehrfach auseinanderge-
setzt, mit aller Isolirung vorbei. Ueberhaupt ist diese bei der Klein-
heit der Theile sehr bedenklich. Ich erinnere an das, was ich oben
(S. 143) über die Reizung des Punktes (16) gesagt habe.
Die Stelle, von der aus ich sehr charakteristisches Aufsperren der
Kiefer, Retraction der Mundwinkel und Zungenbewegungen produciren
konnte, entspricht der Lage nach ziemlich genau dem Punkte (17)
Ferrier's und dem ebenso antwortenden Centrum des Hundes. Ich
habe den Eindruck gewonnen, als ob auch hier stärkere Ströme, als an
den übrigen Centren erforderlich wären, möchte aber Angesichts der
vorhandenen Schwierigkeiten und meines geringen Versuchsmateriales
mir ein Urtheil nicht erlauben.
Gesichts- und Augenbewegungen erzielte ich von (") aus, einem
Punkte, welcher zwischen den Ferrier'schen Centren (7) und (8) liegt,
und dem gleichnamigen Centrum des Hundehirus der Lage nach ganz
genau entspricht. Die beiden angeführten Reizpunkte Ferrier's waren
bei der Stromstärke des Zuckungsminimums unerregbar; auf etwas
stärkere Ströme reagirten sie in der gedachten und von ihm erwähnten
Weise.
Die Pfoten Hessen sich von dem mit -f.* , (2) und 4f= bezeichneten
Stellen aus in mannichfacher Art in Bewegung setzen. Diese Punkte
entsprechen der Lage nach den äquivalenten Regionen des Hundehirns;
*) Ferrier führt als Reizeffect des PunMes (15) hinter der Sylvischen
Grube abwechselnde Schliessung und Oeffnung der Kiefer und abwechselndes
Herausstecken und Zurückziehen der Zunge an. Diese Bewegungen werden
von den gequälten Thieren minutenlang gemacht, ohne dass überhaupt irgend-
wo gereizt wird. Es ist ganz unbegreiflich, wie so charakteristische Aeusse-
i'ungen der VerzAveiflung verkannt werden konnten,
— 147 —
das Gleiche gilt von den uiif den Ahbildinif^cii iiiciit i-(;])i-<Hliicii'teii
Centren | und /\.
Die Untersuchungen des letzten Abschnittes lehren uns zunäcl)st,
dass in fuuctioneller Beziehung die grösste Uebereinstiraiuung zwischen
den gleich gelagerten Regionen des Hunde- und Katzengehirns existirt.
Auf die Stromstärke des Zackungsrainimums reagirt jeder einzelne Punkt
mit denselben wohl abgegrenzten Muskelcontractionen. Solche Diffe-
renzen wie Ferrier sie in seinen Versuchsprotocollen, keineswegs aber
bei seinen Schlüssen anführt, existiren in der Wirklichkeit nicht. Seine
Angaben sind hier ebenso ungenau, wie an den bereits besprochenen
Stellen seiner Arbeit.
Hingegen hat Ferrier auch an der Katze durch Elektri-
sirung des Vorderhirns Fressbewegungen hervorgerufen,
und es ist sein Verdienst diesen Befund zuerst publicirt zu haben.
3. Versuche an Meerscbweinohen.
Der Schädel des Meerschweinchens ist im Verhältniss zur Grösse
. des Thieres dick und hart; die Dura liegt ihm sehr dicht an und ist
zart; die Menge der Cerebrospinalflüssigkeit ist gering. Unter diesen
Umständen bedarf es grosser Sorgfalt und Uebung, wenn bei Eröffnung
der Schädelkapsel Verletzungen der Hirnrinde vermieden werden sollen.
Die Möglichkeit, dass die mit dem Durchkneifeu des Knochens noth-
wendig verknüpften Erschütterungen, sowie etwaiger Druck der Knochen-
zange Innervatiousstörungen hervorbringen können, ist bei der grossen
Vulnerabilität des Thieres nicht auszuschliessen. Aus den angeführten
Gründen ist auf nervöse Reiz- und Lähmungserscheinungeu, welche in
Folge der Freilegung der Hirnoberfläche auftreten, nur bedingungsweise
etwas zu geben.
Ferrier*) führt eiuen (1 !) Versuch an einem Meerschweinchen
an, dem in der Chloroform-Narkose die linke Schädelhälfte freigelegt
war. Dieses Thier krümmte sich nach dem Erwachen so nach rechts,
dass die rechte Seite des Kopfes den Schwanz berührte. Ferrier schloss
aus diesem eineu Versuche: „dass die durch die Freilegung der
Hemisphäre hervorgebrachte vitale Reizung auf die Muskeln
der entgegengesetzten Körperhälfte durch das Corp. striat.
hindurchwirkend tetanischen Krampf und Pleurothotonus
hervorgebracht hätte."
Ich brauche nicht zu sagen, dass ein solcher Versuch überhaupt
nichts beweist, am wenigsten aber dann, wenn das Versuchsobject ein
^) Ferrier, A. a. 0. S. 34f.
10*
— 148 —
Meerschweinchen war. Es wäre aber möglich, dass der Versuch zu-
fällig fehlerfrei gewesen v/äre, und dann war der Nachweis der Erreg-
barkeit des Hirns durch den Luftreiz so wichtig, dass die Angabe Fer-
rier's allerdings eine Prüfung erforderte. Ausserdem hatte . ich selbst
bereits im Jahre 1870 einige Beobachtungen gemacht, welche zu dem
Glauben an eine durch Muskelcontractionen in die Erscheinung tretende
Wirkung der Luft auf die Hirnrinde hätten verleiten können. Bei einem
Versuche ^erieth nämlich eine als Index in den Glaskörper gesteckte
Nadel in zitternde Bewegungen, nachdem die Pia freigelegt war. Bei
einer Anzahl von fernereu Versuchen am Kaninchen trat Nystagmus
ein, sobald ich die Schädeldecke des kleinen Gehirns abgetragen hatte.
Die erstangeführte Beobachtung Hess sich aber nicht reproduciren; auf
die letzteren kommen wir -an einem anderen Orte zurück.
Immerhin musste in Rechnung gezogen werden, dass der Luftreiz
nicht direct auf die Hirnsubstanz, sondei'n znnächst auf die, mindestens
bei grösseren Thiereu ziemlich dicke Pia einwirkt. Bei Meerschwein-
chen freilich ist die Pia sehr zart, und vielleicht machte dieser Um-
stand gerade dieses Thier trotz seiner vorhin angeführten Eigenschaften,
zu einem besonders günstigen Versuchsobjecte. Ich stellte deswegen
acht Versuche an Meerschweinchen an, denen in der Aether-Narkose die
linke Hirnhälfte freigelegt war.
Versuch I. 2 Uhr Beginn der Aether-Narkose. Vor Beginn der Ope-
ration, während das Thier schon ziemlich betäubt ist, plötzlich Kratzbewegung
mit der rechten Hinterpfote nach der rechten Gesichtshälfte und epileptiformer
Anfall. Der Anfall wiederholt sich während der Operation sehr häufig, und
zM'ar bald einmal linksseitig, bald einmal rechtsseitig beginnend. In der ab-
soluten Narkose keine Anfälle. Operation beendigt 2 Uhr 15 Min. Die Rinde
zeigt viele oberflächliche Verletzungen.
2 Uhr 15 Min. bis 2 Uhr 20 Min. Thier vollständig erwacht, hat wohl-
charakterisirte Anfälle von Opisthotonus, bei denen der Kopf genau in der
Mittellinie bleibt.
. 2 Uhr 25 Min. bis 30 Min. 3 bis 4 kurzdauernde Anfälle von rechtsseiti-
gem Pleurothotonus. Darauf sitzt das Thier mit dem Kopf in der Mittellinie
still da und hat alle 2 bis 3 Sek. einen Frostschauder,
Versuch II. 2 Uhr 8 Min. Operation beendigt. Mehrfache Verletzung
der liinde im hinteren und mittleren Theil.
2 Uhr 12 Min. Thier liegt auf dem Bauche, das linke Ohr nach unten,
das rechte nach oben. 2 Uhr 15 Min. Anfall von Opisthotonus von 3 Sek.
Dauer. Nachher versucht es sich aufzurichten und zu gehen und
dreht sich dabei stets nach rechts. Die rechte Vorderpfote wird
nämlich nicht mitbewegt, derart, dass sie bei dem ersten Geh-
versuche unter die linke Pfote geräth. Bei diesen der Manege ähnlichen
— 149 —
Bewegungen nUIt das Tliior vom Tische und bekommt sofort einen .'5 Minuten
dauernden epiieptil'ormen Anfall, der mit rechtsseitigen Körperbewegungen und
Nystagmus beginnt, in Opisthotonus übergeht und mit Emprosthotonus endigt;
kein PleuroLhotonus. Nachdem das Hirn in der Aethor-Narlcose noch etwas
weiter freigelegt , war, neues Manegelaufen unter densell)en Erscheinungen,
wobei das Thier immer etwas nach rechts liinübersinkt.
2 Uhr 55 Min. Scarificirung der Rinde, Blutung sehr gering; liegt etwa
2 Minuten lang auf der rechten Seite. Sitzt dann in der Mittelstellung. Man
kann das rechte Vorderbein in beliebige Stellungen bringen,
ohne dass es zurückgezogen wird. Die übrigen drei Extremitäten wer-
den zurückgezogen.
Versuch III. 1 Uhr 19 Min. Operation beendigt. Das Gehirn nicht
verletzt, jedoch mit dem Schwamm ein grosses Stück Pia an dem medialen
und vorderen Theile obeiflachlich abgestreift.
1 Uhr 20 Min. Thier noch nicht ganz zu sich gekommen, dreht sich plötz-
lich nach rechts, unmittelbar darauf ein mehrere Minuten dauernder Anfall von
tonischenOpisthotonus-Bewegungen, darauf ein Anfall von klonischem Trismus,
alsdann einige Emprosthotonus-Bewegungen, endlich klonische Krämpfe in den
verschiedensten Muskelgruppirungen, unter anderen auch (1 Uhr 27 Min.) ein
Anfall, während dessen das Thier eine halbe Minute lang mit der linken
Seite der Schnauze die linke Hinterbacke berührt.
1 Uhr 30 Min. bis 1 Uhr 45 Min. Frostsohauder: Manegebewegungen
nach rechts; der Körper etwas nach rechts geneigt; das rechte
Kniegelenk h öher als das linke; das rechte Hinterbein mehr ab-
ducirt, das rechte Vorderbein geräth wie bei Versuch II unter
das linke. Wenn das Thier still sitzt, bildet Kopf und Rumpf
eine gerade Linie; wird es zum Gehen gereizt, so wendet es sich
nach rechts. Reaction auf passive Bewegungen nicht notirt.
Versuch IV. 3 Uhr 25 Min. Operation beendigt; Pia an einer ganz
kleinen Stelle ganz vorn verletzt.
3 Uhr 29 Min. Thier noch nicht ganz erwacht, dreht das linke Ohr
nach unten.
3 Uhr 33 Min. Thier noch nicht ganz erwacht, dreht den Kopf einmal
kurz nach hinten.
3 Uhr 35 Min. Frostschauder, sich später in kurzen Pausen wieder-
holend.
3 Uhr 42 Min. Dreht den Kopf schraubenförmig so nach links, dass der
Scheitel auf den Tisch kommt.
3 Uhr 45 Min. Hat sich nun soweit herumgedreht, dass es auf den
Rücken fällt, während die rechte Seite der Schnauze einen Augenblick die
rechte Hinterbacke berührt. Dann sitzt es gerade, nur die linke Seite des
Kopfes etwas herabhängend.
6 Uhr. Das Thier hat bisher ganz still den Kopf in der Mittellinie hal-
— 150 —
tend gesessen. An der verletzten Stelle ein steclmadelkopfgrosses und vier
punktförmige Extravasate.
Versuch V. 1 Uhr 15 Min. Operation beendigt. Minimale Verletzung
der Pia im vorderen Viertel.
1 Uhr 16 Min. Thier bereits erwacht, dreht sich plötzlich so nach rechts
herüber, dass die rechte Kopfhälfte den rechten Oberschenkel berührt, lässt
sich leicht in die Mittelstellung zurückbringen, dreht aber losgelassen den
Kopf sofort wieder nach rechts. Die bogenförmige Krümmung des
Körpers wird dadurch hervorgebracht, dass das rechte Vorder-
bein sofort unter das linke geräth, und die beiden hinteren Ex-
tremitäten nicht mit bewegt werden.
1 Uhr 20 Min. Thier verharrt in der Mittellage, Frostschauder. Rechte
Vorderextremität kann in beliebige Stellungen gebracht werden. Dasselbe
Verhalten an der hinteren Extremität undeutlich.
1 Uhr 25 Min. Abstreifen der Pia mit dem Schwamm.
1 Uhr 45 Min. Mehrere epileptiforme Anfälle.
Versuch VI. Während des Hautschnittes dreht sich das Thier
so nach rechts, dass der Scheitel den Tisch berührt. Gleich dar-
auf Kratzbewegung und epileptiformer Anfall.
2 Uhr. Operation beendigt. Keine Verletzung des Hirns. Muskelbewusst-
sein in der rechten Vorderextremität im höchsten Grade, in der rechten Hinter-
extremität undeutlich gestört, hat eine Neigung nach rechts hinüber zu sinken.
Frostschauder. Lässt sich auf beide Seiten legen, ohne sich aufzurichten; sitzt
im Uebrigen still da, den Kopf in der Mittellinie.
2 Uhr 20 Min. Abwischen der Pia unter Geschrei, nachher Manegebewe-
gungen nach rechts in der mehr beschriebenen Weise.
Versuch VlI. 1 Uhr 45 Min. Operation beendigt. Keine Verletzung der
Pia. Störung des Muskelbewusstseins in beiden rechten Extremitäten schnell
undeutlich werdend, aber nachweisbar.
Keine abnormen Bewegungen oder Körperstellungen.
2 Uhr 5 Min. Muskelbewusstsein wieder vorhanden: Abwischen der Pia:
Muskelbewusstsein gänzlich verloren.
Versuch VHI. Chloroform-Narkose. Nachdem die linke Schädelhälfte
freigelegt war, aber vor ihrer Verletzung, wurde das Thier losgebunden und
abgewartet, bis es erwacht war. Sobald es anfing zu erwachen, drehte es den
Kopf so nach links, dass der Scheitel auf den Tisch kam, darauf
suchte es nach rechts zu entweichen, wobei die Hinterbeine wie in frü-
heren Versuchen regungslos blieben, das rechte Vorderbein aber nichts
Abnormes zeigte. Neue Narkose, Eröffnung der Schädelhöhle mit Schonung
der Dura. Entfernung der Dura ohne Verletzung der Pia. Das zu sich gekom-
mene Thier sitzt eine Zeit lang in der Mittelstellung still, alsdann wendet es
den Kopf nach links und sucht nach links zu entweichen, was wegen der
Immobilität der Hinterbeine zu einer bogenförmigen Krümmung nach
— 151 —
links führt, ohne dass das linke Vorderbein unter das recJito geriethc; sitzt
dann lange in der Mittelstellung. Keine deutliche Störung des Muskelbowusst-
seins, doch ist die rechte Vorderpfote etwas mehr supinirt, mehr mit der Planta
aufgesetzt, auch die Zehen mehr gespreizt. Eine halbe Stunde nach Eröffnung
der Schädelhöhle die mehri'ach er\¥ähntcn Schüttelfröste. Eine halbe Stunde
später Abwischen der Pia des Vorderhirns mit den:i Schwamm. Sofort äusserste
Störung des Muskelbewusstseins der rechten Vorderpfote.
Bei den acht soeben referirten Versuchen bilden allerdings Krämpfe
den am meisten iu's Auge fallenden Tlieil der Erscheinungen. Fragen
wir indessen, ob dieselben auf eine Reizung der Hirnrinde durch die
Luft bezogen werden dürfen, so muss die Antwort entschieden verneinend
ausfallen.
Vor Allem muss der Umstand, dass mehrere der Versuchsthiere all-
gemeine oder mehr localisirte Krampfanfälle bekamen, bevor der Schädel
oder selbst die Haut verletzt war, zur grössten Vorsicht in der Deutung
mahnen. Unter solchen Umständen gewinnen sonst tadellose Versuche
mit negativem Resultat doppelt an Gewicht. -Wir sahen, dass mehrere
Versuchsthiere entweder überhaupt keine Erscheinungen von abnorm
starker Innervation zeigten oder dass diese lediglich in gewissen Be-
wegungsstörungen bestanden, welche auch ohne Eröffnung der Schädel-
höhle auftraten (Rotation des Kopfes), oder dass eine Art von Manege-
Bewegung eintrat, über deren Mechanismus wir noch zu reden haben
werden.
Wenn nun auch ohne Weiteres einleuchtet, dass bei einer Anzahl
der Versuchsthiere Krampferscheinungen unabhängig von der Freilegnng
des Gehirns eintraten, so muss doch auf der anderen Seite zugestanden
werden, dass durch die Operation Krämpfe und andere Anomalien der
Muskelinnervation hervorgebracht wurden. Was zunächst die Krämpfe
angeht, so sehen wir aber, dass dieselben keineswegs immer oder be-
sonders häufig in rechtsseitigem Pleurothotonus bestanden, obwohl eine
bogenförmige Krümmung als Resultat von Gehversuchen in der Regel
beobachtet wurde. Wir sehen im Gegentheil, dass allgemeine lang-
dauernde, epileptiforme Krämpfe, Opisthotonus, Emprosthotonus, partielle
Krämpfe abwechseln, eigentlicher Pleurothotonus hingegen, d. h. eine
krampfhafte bogenförmige Drehung, in welche das Thier nach passiver
Aenderung seiner Stellung zurückschnellt, nicht vorkommt. Wir sehen
ferner, dass alle diese krampfhaften Erscheinungen überhaupt aus-
bleiben können oder dort, wo sie nicht als unabhängig von der
Operation betrachtet werden mussten, mit mehr weniger erheblichen
Quetschungen des Gehirns durch die Zange verknüpft waren.
— 152 —
Wenn wir nun dazu berücksichtigen, dass, wie Westphal gezeigt
hat, ein eiufaclier Schlag auf den Kopf genügt, um Meerschweinchen
epileptisch zu machen, dass in anderen Fällen Sturz von dem Tische,
vielleicht auch die Respiration der Narkotica zur Erzeugung epilepti-
former Anfälle bei diesem Thiere ausreicht, so dürfen wir auf Grund
der angeführten Thatsachen mit Bestimmtheit annehmen, dass die nach
Entblössung der Hirufläche eintretenden Krämijfe, insoweit es überhaupt
Krämpfe sind, mit der Entblössung nicht das Mindeste zu thiui haben,
sondern theils das Resultat von Nebenverletzungen, theils accidenteller
Natur sind. Als solche Nebenverletzungen sind zu betrachten Druck
und selbst oberflächliche Zertrümmerung des Gehirns durch die Zange,
dann aber besonders auch Zerrungen an der Dura, wenn dieselbe von
der Zange mitgefasst wurde. Diese Zerrung kann ja natürlich auf sehr
entfernt gelegene Hirntheile wirken, und wird es nach Lage der Sache
wahrscheinlicher Weise auch gethan haben.
Das andere bei diesen Versuchen hauptsächlich in's Auge fallende
Symptom war die von den Thieren in der Richtung nach rechts aus-
geführte Manege-Bewegung, welche nicht selten mit einer bogenförmigen
Krümmung endigte, so dass die rechte Seite der Schnauze die rechte
Hinterbacke berührte. Diese Stellung des Thieres ist eigentlich das
Wesentliche ,des von Ferrier Beobachteten und von ihm irrthümlich
als Pleurothotonus gedeutet. Es geht aus den voranstehenden Versuchen
mit aller wünschenswerthen Sicherheit hervor, ^dass diese Erscheinung
überhaupt kein Reizungs-, sondern ein Lähmungssymptom, und übrigens
unabhängig von der Entblössung der Pia, aber abhängig von deren
Verletzung oder von der Quetschung der Hirnsubstauz ist. Denn die
Thiere, welche die gedachte Stellung einnehmen, setzen der Reduction
des Körpers in die Mittelstellung entweder keinen oder nur geringen
Widerstand entgegen und sie verharren kürzere oder längere Zeit, sogar
stundenlang in dieser ihnen natürlichen Haltung. Reizt mau sie aber
zu Gehbewegungen, dann drehen sie sich wieder nach rechts. Diese
sämmtlichen Manegebewegungen erklären sich aus den einzelnen Mo-
menten der Vivisectionen in der einfachsten Weise. Die Thiere haben
in Folge der ihnen zugefügten Hirnquetschung oder in Folge
des Abstreifens der Pia das Muskelbewusstsein ihrer rechten
Vorderextremität verloren. Man kann dieselbe in beliebige
Stellungen bringen, ohne dass das Meerschweinchen sich dagegen wehrt
oder nach Entfernung der Hand diese Stellung ändert. Dabei ist die
Sensibilität intact und willkürliche Bewegungen können ausgeführt wer-
den, wie sich sofort zeigt, wenn man das Tliier z. B. auf den Rücken
legt. Will es aber gehen, so tritt in Folge des von links her ein-
— 153 —
wirkenden Reizes der Operationswunde zunüclist überhaupt eine Ten-
denz zur Bewegung nach rechts ein, gelegentlich entweicht ein Thier
aber auch einmal uacli linl<s. Bei derselben geräth nun wegen der
mangelhaften Innervation der rechten Vorderextremität dieses Glied
unter die gleichnamige linke Extremität. Dies geschieht manchmal so
stark, dass das rechte Beinchen auf der Aussenseite des linken ganz
und gar hervorsieht.
Nach der früher von Schiff gelegentlich seiner Versuche über
Durcbschneidung des Hirnschenkels aufgestellten Erklärung würde nun
dieses Verhältniss zu der einfachen Manege-Bewegung führen. Indessen
kommt es hierzu keineswegs immer, sondern viel häufiger zu der be-
schriebenen bogenförmigen Krümmung wegen der eigenthümlichen Im-
mobilität, in der die Hinterbeine verharren. Auch dieses Symptom ist,
wie aus den angeführten Versuchen, insbesondere auch aus dem letzten
derselben ei'hellt, als lediglich accidenteller Natur aufzufassen. Denn
in diesen wie auch in früheren Fällen w'ar die Motilität der Hinterbeine
gestört, ehe überhaupt etwas mit dem Schädel des Thieres geschehen
war. Die fragliche Motilitätsstörung dürfte also wohl einfach als Effect
der ümschnürung der Beine und ihrer Zerrung aufzufassen sein.
Wir kommen also zu dem Endresultate, dass die Annahme
Ferrier's, nach welcher der auf die Hemisphäre (die Pia)
wirkende Luftreiz die Muskeln der entgegengesetzten Seite
zur Contraction anrege, irrig sei; dass die von ihm in seinem
einzigen Versuche beobachtete bogenförmige Drehung des Körpers nicht
als eine Reizungs-, sondern als eine Lähmungserscheinung
aufzufassen ist; endlich, dass durch grobe Verletzungen des Gehirns
allerdings Krämpfe hervorgebracht werden können, ohne dass diese je-
doch immer oder vorwiegend einen halbseitigen Charakter hätten, oder
sich überhaupt auf das Grosshirn localisiren Hessen.
C. Die Schlüsse Ferrier's.
Ehe wir zu der Beleuchtung der von Ferrier gezogenen Schluss-
folgerungen übergehen, müssen wir noch einen Augenblick bei der
Art verweilen, wie er ganz systematisch die Reizeffecte der einzelnen
Versuche zusammenstellt, tun sie nachher für seine Schlüsse zu be-
nutzen. Charakteristisch für die von ihm hierbei benutzte Strenge der
Kritik ist das Eingangs angeführte Beispiel, welches von dem Nach-
weise symmetrischer Anordnung im Hundehirn handelt. Traten einmal
Reizeffecte auf, welche ein anderes Mal ausgeblieben waren (wenn unser
— 154 —
Forscher nämlicli überhaupt eine Wiederholung für nöthig hielt), so
heisst es „tlie present results are more definite", das Thier war bei
dem ersten Versuche zu aufgeregt oder zu erschöpft. Damit ist dann
die Sache zum ferneren Schlüsse reif, die Annahme genügt, der Beweis
durch neue Versuche würde zu Weit führen.
Auf derselben Gleichgültigkeit gegen die sichere Begründung durch
Thatsachen beruht es, wenn Ferrier einen auch bei ihm stets reac-
tionslosen Punkt unter Beifügung des Wortes „wahrscheinlich" mit einer
bestimmten Function ausstattet, so dass die ganze Frage plötzlich eine
andere Färbung erhält.
Nachdem in der beschriebenen Weise die einzelnen Bezirke fast der
ganzen Oberfläche des Grosshirns der verschiedenen Tiiiere mit be-
stimmten Functionen ausgestattet sind, werden die einzelnen Thiere mit
Bezug auf diese Bezirke unter einander verglichen. Hierzu dient ein
für alle Mal die Formel: „Vergleiche Punkt a, &, c bei der Katze mit
Punkt d, e, f etc. beim Hunde." Wenn man nun dieser Aufforderung
folgt, so findet man, dass die Vergleichung mit Rücksicht auf die ana-
tomische Lage häufig ganz unmöglich ist. Es ereignet sich sogar, dass
Punkte vor der Syl vischen Grube, mit einem solchen hinter dieser
wichtigsten Greuzmarke ohne jede Bemerkung zusammengeworfen werden,
und damit scheint für den, jener Aufzählung nicht Punkt für Punkt
folgenden Leser freilich alles in der vollkommensten Harmonie. —
Auf Grund der so gewonnenen Daten entsteht nun folgender Schluss.
„Schlagende und mit den Gewohnheiten der Thiere correspondirende
Unterschiede finden sich in der Differenzirung der Centren. So sind
die Centren für den Schwanz beim Hunde, die Vorderpfote bei der
Katze, für Lippen und Mund beim Kaninchen höchlichst differenzirt und
ausgesprochen*). Diese Differenzirung soll nun in grösserer Ausdehnung
und Zahl der Flächen bestehen, welche gleichartige Bewegungen ver-
mitteln. So muss der Schwanz, mit dem er viel wedelt, beim Hunde,
die Vorderpfote, mit der sie Ball schlägt, bei der Katze, die Fressw'erk-
zeuge, welche es mehr als andere Thiere gebraucht, beim Kaninchen im
Gehirn besonders entwickelte Centralapparate besitzen. Wie es scheint,
ist nicht nur von Ferrier, sondern auch von anderer Seite auf diesen
Schluss besondere Wichtigkeit gelegt worden. Ich will dennoch dem
Leser mit Allem, was sich gegen denselben anführen Hesse, nicht lästig
fallen und nur zwei Momente hervorheben. Das eine besteht darin,
dass ein solcher Schluss nur dann begründet sein könnte, wenn es ge-
länge die Reizeffecte der Leitungsbahnen auszuschliessen oder als solche
Ferrier, A. a. 0. S. 94 und anderwärts.
— 155 —
zu erkennen. An deren Existenz scheint Ferrier aber gar nicht ge-
dacht zuhaben, und seine Versuche sind zur Erreichung dieses Zweckes
gerade am Wenigsten geeignet.
Der andere Punkt ist, dass Ferrier ganz wiiikürliclie und niclit
einmal äusserlich gerechtfertigte Schlüsse aus jenen Reizeffecten gezogen
hat. Ich will mich auch hier auf andere Details nicht einlassen und
bemerke nur, dass, wenn ich einmal einen solchen Schhiss ziehen wollte,
ich auf Grund der Angaben Ferrier's das Verdrehen des Kopfes als
hauptsächlichste Gewohnheit der Katze, und die Mimik als vorwiegende
Eigenschaft des Hundes betrachten würde. —
Seine Versuche über symmetrische Anordnung der Centren führt
Ferrier an, um damit einen Boden für eine nicht ganz neue Theorie
der Aphasie zu gewinnen. Auch hier ist die Voraussetzung, von der er
ausgeht, irrthümlich. Es hat Niemand bezweifelt, dass die motorischen
Centreu im Gehirn bilateral-symmetrisch angeordnet seien, Niemand
hat wegen des eigeuthümlichen Zusammentreffens der Aphasie mit links-
seitiger Rindenerkrankung angenommen, dass etwa in der dritten
Stirnwindung der rechten Seite irgend welche motorische Organe
ihren Sitz hätten, welche linkerseits fehlten und von Magazinen für
Wortbilder ersetzt seien. Nimmermehr kann durch den bereits von uns
getührten Nachweis symmetrischer Anordnung der motorischen Centren
etwas direct für Symmetrie sämmtlicher Organe in functioneller Be-
ziehung Sprechendes abgeleitet werden. Wahrscheinlich ist die
durchgreifendste Symmetrie allerdings aus tausend anderen Gründen
von jeher gewesen, aber gewisser scheint sie mir durch die fraglichen
Untersuchungsraethoden überhaupt nicht werden zu können.
Die nach häufigerer Reizung der' gleichen Hirnstellen entstehenden
Nachbewegungen setzt Ferrier unbedenklich in eine Linie mit der
Chorea und erklärt diese für derselben Natur, wie die Epilepsie, weil
sich aus den Nachbewegungeu epileptiforme Anfälle herausbilden können.
Er übersieht nur, dass diese choreaähnlichen Nachbewegungen ohne
jeden willkürlichen Bewegungsirapuls und durchaus nicht unter der
Form abnormer Mitbewegungen eintreten. üeberhaupt lassen sich ja
die fraglichen Thatsachen nicht ohne Weiteres vergleichen. Wohin
sollte es führen, wenn jede oberflächliche Aehnlichkeit das Recht zu so
weittragenden Schlüssen gäbe!
Kurz Ferrier hat diese Versuche, welche mit einem Schlage die
Geheimnisse aller einzelnen Hirnprovinzen entschleiern sollten, dazu
benutzt, noch neben jenen Folgerungen für die Physiologie die weit-
gehendsten Schlüsse auf viele Gebiete der Nervenpathologie zu ziehen.
Wir waren damals von dem entgegengesetzten Principe ausgegangen,
— 156 —
von der Üeberzeugung, dass die Schlüsse sich leicht finden, wenn nnr
die Tiiatsachen wohl unterstützt sind. Der Leser wird zu entscheiden
haben, durch welches Verfahren die Sache mehr gefördert wird. Die
Resultate seiner bisherigen Untersuchungen werden wohl kaum an vielen
Stellen den Wunsch wachrufen, dass Ferrier's Ingenium noch einmal
unserem mangelhaften Verständnisse zu Hilfe komme.
Ferrier hat. um es mit einem Worte zu recapituliren
nach einer allen Einwürfen ausgesetzten Methode und in
ganz oberflächlicher Weise constatirt, dass durch starke
elektrische Ströme von den vorderen und basalen Hirn-
partieen des Hundes und der Katze aus Fressbewegungen
hervorzubringen sind. Darin besteht sein Verdienst. Auf
der anderen Seite hat er nicht einmal die von uns ange-
gebenen Reizpunkte mit Sicherheit wiedergefunden; er hat
eine Menge von Angaben gemacht, welche inconstante oder
auf fehlerhafte Methoden zurückzuführende Reizeffecte be-
treffen; er hat endlich sein Werk ohne Nameunennung mit
Entdeckungen geschmückt, die nicht ihm, sondern uns an-
gehörten.
Bevor und während ich diese controlirenden Versuche unternahm,
habe ich mich oft genug gefragt, ob es sich der Mühe und des unver-
meidlichen Odiums lohne, so viel Arbeit auf die Widerlegung von Unter-
suchungen zu verwenden, welche gänzlich ohne die nothwendige physi-
kalische Vorbildung, ohne Selbstkritik, ohne Berücksichtigung fremder,
nicht angefochtener Angaben angestellt wurden; welche jede Einzelne
den Charakter einer vorläufigen Mittheilung über einen, bereits ander-
weitig ausführlich bearbeiteten Gegenstand trägt. Ich war von jeher
der Ansicht, dass die productive Thätigkeit der rein kritischen, zumal
der polemischen unendlich vorzuziehen sei, und habe nach dieser An-
sicht gehandelt. Gerade in dieser Zeit aber war mein Interesse durch
die Verfolgung eigener Ideen anderweitig auf das Möglichste gefesselt.
Unter diesen Umständen war mir die vorliegende Arbeit ein grosses
Opfer; ein Opfer, zu dem mich nur die Wichtigkeit der angeregten
Fragen und der Antheil, welchen ich an ihrer ersten Entstehung habe,
veranlassen konnte. Dennoch hätte ich die Discussion gern Anderen
überlassen, wenn nicht die einer besseren Sache würdige Geschicklich-
keit, mit der die Entdeckungen Ferrier's auf alle Weise in Scene ge-
setzt wurden, zur Eile mahnte.
Wenige Wochen nach dem Auftreten dieses Forschers begannen
— 157 —
seine Irrtliümei- bereits in den Werken anderer Autoren eine Holle zu
spielen. Wissenschat'tliclie und politisclie Zeitungen verkündeten den
Beginn einer neuen Aera für die Nervenpathologie. Kaum der Name
von Sir Charles Bell schien glänzend genug, um neben dem Ferrier's
genannt zu werden. So erhielten diese Publicationen eine bedenkliche
Wichtigkeit. Aber schlimmer als dies, die Gefahr liegt aller Analogie
nach zu nahe, dass seine Untersuchungen einfach als Maassstab für die
ünsrigen benutzt werden. Spricht doch die englische Literatur sogar
überall von wesentlichen Verbesserungen, die Ferrier der
Methode gegeben habe. Damit würde aber wegen jener offenkundigen
Fehler Alles von uns mühsam und, wie ich denke, zur Förderung der
Sache Erreichte vor der Hand gänzlich in Frage gestellt und der Polemik
das weiteste Feld eröffnet sein.
Ich hofte, dass diese Arbeit noch zeitig genug erscheint, um dem
einen Damm zu setzen. Jedenfalls muss ich erklären, dass wenn ich
auch einmal zur detaillirten Widerlegung von Behauptungen geschritten
bin, die sich schon durch die angewendete Methode richten, ich mich
dieser Mühe ein zweites Mal nicht unterziehen werde. —
Die Herren Drr. Ullrich, derzeit Assistent an der psychiatrischen
Klinik in Erlangen, und Veit jun. in Berlin verpflichteten mich durch
ihre bei diesen Versuchen geleistete Hülfe zu grossem Danke.
Anmerkungen.
15) Die nachstehende Abhandlung ist stark polemischer Natur. Der
Kampf ist längst vorbei und, wie ich denke, entschieden. So habe ich mich
gefragt, ob diese Arbeit nicht einer Umarbeitung in friedlichem Sinne zugängig
sei ; aber ich habe nach reiflicher üeberlegung eine solche Absicht fallen
lassen müssen.
16) Ferrier hat diesen Fehler in seinem Buche „The Function of the
Brain. II Edition, 1886, S. 224", durch eine, wenn auch unvollständige Er-
wähnung der von uns gefundenen Thatsachen wieder gut zu machen versucht.
17) Ferrier hat seine Art von Anwendung von Inductionsströmen und
die von ihm aus diesen Versuchen gezogenen Schlüsse in seinem angeführten
Buche S. 223 ff in sehr ausführlicher Weise zu rechtfertigen versucht. Ich
habe mich über diese Fragen so oft (u. a. auch in meiner Rede Hughlings
Jackson und die motorischen Rindencentren, Berlin 1901) und so ausführlich
geäussert, dass ich es nicht für erforderlich erachte, nochmals darauf zurück-
zukommen.
18) Ferrier hat die Richtigkeit auch dieser unter sich in Widerspruch
stehenden Angaben (a. a. 0, S, 249) gegen die vorstehenden Einwendungen
— 158 —
zu vertheidigen gesucht. Ich muss bei meiner Auffassung stehen bleiben, ohne
dass ich der Darlegung derselben ein Wort hinzuzufügen hätte.
19) Seitdem hat sich eine grosse Literatur über die Erregbarkeit, nicht
nur des Kaninchenhirus, sondern auch der Gehirne viel kleinerer Thiere, so-
gar des Frosches, entwickelt. Auf deren Inhalt kann ich hier selbstverständ-
lich nicht eingehen, aber ich glaube doch bemerken zu sollen, dass es danach
doch denAnschein hat, als ob eine Isolirung der Theile sich auch bei kleineren
Hirnen sehr wohl beweisen Hesse, üeberall freilich bin ich davon nicht
überzeugt.
20) In seinem Buche (S. 250, 251) lässt Ferrier den Reizpunkt nach
vorn bis in den Gyrus sigmoides rücken. Seine früheren Angaben hätten
„zweifellos auf einem Zustand von hyper-excitability" beruht.
21) Ferrier hat sich inzwischen wohl meiner Ansicht angeschlossen.
Er sagt wenigstens (a. a. 0. -S. 252, 253), dass die unregelmässigen Be-
wegungen des Kopfes und die V^eränderungen im Rythmus der Athmung,
welche er bei Reizung der praefrontalen Region manchmal beobachtete aller
Wahrscheinlichkeit nach durch Stromschleifen nach dem Bulbus olfactorius
bedingt worden seien.
Munk hat später diese Gegend in Beziehung zu den Bewegungen des
Stammes gebracht, wovon an anderen Stellen dieses Buches die Rede ist.
VII. lieber einen interessanten Abscess der Hirnrinde. =s=)
Durch die vorstehenden Abhandlungen ist nachgewiesen worden,
dass die normale Entstehung der Muskelbewegungen gewissser Centra
der Grosshirnrinde bedarf. Ihre Reizung mit elektrischen Strömen setzt
bestimmte Bezirke der willkürlichen Muskulatur in Bewegung, ihre Zer-
störung bringt eine Beeintrcächtigung der willkürlichen Bewegung in
denselben Bezirken hervor.
Wir haben bisher die directe Uebertragung der am Hundegehirn
gewonnenen Resultate auf bestimmte Localitäten des menschlichen Ge-
hirns vermieden. Denn hierfür fehlte es an der Vorbedingung, an der
Feststellung derjenigen Hirntheile des Menschen, welche den von uns
bezeichneten Hirntheilen des Hundes gleichwerthlg sind. Diese Aufgabe
bleibt noch zu lösen.
Drei Wege giebt es, auf denen die Lösung möglich erscheint: Die
histologische Untersuchung, die vergleichend anatomische Betrachtung
und die klinische Beobachtung.
Man hatte bereits früher diese drei Methoden zur Feststellung der
physiologischen Dignität der einzelnen Hirnbezirke angewandt. Indessen
war man zu endgültigen Resultaten bisher kaum oder nur in beschränk-
ten Grenzen gelangt, obwohl namentlich die moderne Histologie manche
bisher für unbesiegbar gehaltene Schwierigkeiten überwunden hat.
Der klinischen Forschung und den aus der Autopsie zu ziehenden
Schlüssen stellten sich gleichfalls mannigfache Hindernisse entgegen.
Nicht das Geringste bestand wohl darin, dass der Kliniker auf diesem
Gebiete von dem Physiologen im Stiche gelassen wurde. Bis in die
letzten Jahre hatte man, wie von uns gezeigt worden ist, über die
speciellere Function der Grosshirnrinde so unsichere und theilweise irrige
Ansichten, dass die nächsten physiologischen Anhaltspunkte für die Ver-
werthung des am Krankenbette und am Leichentische Gefundenen aus-
fielen. Wir dürfen hoffen zur Beseitigung dieses Uebelstandes beige-
tragen zu haben.
*) Die Seitenzahlen der Citate meiner eigenen Arbeiten beziehen sich auf
die hier vorliegende II. Auflage meines Buches.
— 160 —
Ein anderer Uebelstand wird aber bestehen bleiben. Es ist der,
dass man selbstverständlich auf cir cum Scripte Läsionen des Gross-
liirns zu fahnden hat, während das menschliche Leben selbst sehr aus-
gedehnte erträgt. Um so reichlicher und sorgfältiger muss das kli-
nische Material gehäuft werden. Man kann hoffen, dass es so durch
Vergleichung vieler analoger Fälle gelingen wird, das Unwesentliche
unter den Symptomen zu erkennen und auszuscheiden.
Von diesem Gesichtspunkte aus habe ich mich während des Krieges
gegen Frankreich bemüht, so viele Kopfverletzungen als möglich zu
Gesichte zu bekommen. Auf Anregung Fr e rieh s' hatte mir die Mili-
tärverwaltung in Nancy gestattet, alle die Stadt passirenden Soldaten
mit Kopfwunden auf meiner Station aufzunehmen. Dies Hess sich aber
nur in der Art ausführen, dass ich mir aus den Eisenbahnzügen die
verbundenen Köpfe heraussuchte. Man kann sich denken, dass ich so
niemals Mangel an Parotiten, cariösen Zähnen u. dgl. hatte. Ein Fall,
den ich nachstehend mittheile, belohnte mich indessen für meine Be-
mühungen. Er ist wirklich geeignet Licht auf die gestellte Frage zu
werfen. Aber selbst dieser Fall muss von dem eben erwähnten Ge-
sichtspunkte aus beurtheilt werden. Dann jedoch scheint er mir aller-
dings wichtige vorläufige Anhaltspunkte zu geben und die Auf-
merksamkeit des Klinikers auf einen nun schon mehr umschriebenen
Rindenbezirk zu lenken.
Der 20 Jahre alte Soldat im 30. französischen Liaien-Infanterie-Regiment
Joseph Masse au wurde am 14. Dezember 1870 in das Lazareth der Tabaks-
mauufactur zu Nancy aufgenommen. Er hatte am 10. bei Orleans einen Streif-
schuss an der rechten Seite des Kopfes erhalten.
19. XII. 70. Ganz oberflächliche Hautabschürfung au der rechten Seite
des Kopfes durch Flinteuschuss. Verband mit Carbolwasser (1 : 100).
10. I. 71. Die AVunde beginnt namentlich an der Peripherie, weniger
nach der Tiefe zu sich zu vergrössern, die ganze Wundfläche hat ein schmutzig-
graues Ansehen. Sehr geringe Secretion. Kein übler Geruch. Carbolöl (1 : 7).
An demselben Tage erkrankte ich.
15. I. Als ich den Verwundeten wiedersah. Die Wunde hat sich erheb-
lich vergrössert, bildet eine kreisnmde Höhle von etwa 4 cm .Durchmesser,
stark gewulsteten, infiltrirten, unterminirten, rothen Rändern, schmutzig grauem
Grunde, nur geringes Secret absondernd. Wird isolirt und mit Liquor ferri
sesquichlor. behandelt. Hierdurch gelang es dem Fortschreiten des Processes
Einhalt zu thun, nachdem die Wunde eine Länge von 7 cm und eine Breite
von 6 cm erhalten hatte.
3. IL Der untere Wundwinkel, der durch Spaltung einer unterminirten
Stelle entstanden war, befindet sich nunmehr 5 cm oberhalb der Mündung des
rechten Meatus auditor. extern., die obere Circuuiferenz 11 cm über demselben.
— 161 —
Innerhalb dieser Grenzen sind die Runder noch etwas unterminirt und der
Knochen zunächst in der Mitte der Wunde in nierenförmiger Gestalt auf die
Länge von 3 cm und die Breite von IY2 cm, dann auch in dem hinteren
Wundwinkel, zungenförmig mit der erstgenannten Stelle zusammenhängend,
blossgelegt. Da übrigens eine reichliche, gute Granulationsbildung in der
Wunde begonnen und auch der Knochen sich bereits zu bedecken angefangen
hat, das Allgemeinbefinden auch ganz ungetrübt ist, wird Patient auf seinen
früheren Platz zurück verlegt.
4. II. Die Wunde hat wieder ein etwas schlafferes Aussehen, am vor-
deren Rande weisslicher Belag. Betupfen desselben mit Liquor ferri.
Nachdem Patient bereits amMorgen etwas über Kopfschmerzen an der rechten
Seite des Kopfes geklagt hatte, erfolgte um 10 Uhr Vormittags plötzlich
ein Anfall von klonischen Krämpfen ohne Verlust des Bewusst-
seins, hauptsächlich im Gebiete des linken Facialis. Die Muskeln
um Mund und Nase namentlich, dann auch Orbicul. palpebr. contrahiren
sich mit äusserster Heftigkeit, im Anfange des Anfalls in Pausen von etwa
1 Secunde. Die Pausen wurden im Verlaufe des Anfalles, während derselbe
an Heftigkeit noch zunahm, kleiner, so dass die Krämpfe ein tetanisches Aus-
sehen bekamen, doch konnte man immer noch die einzelnen Zuckungen unter-
scheiden. An dem Anfalle betheiligten sich ferner die übrigen dem Facialis
angehörigen Muskeln, wenn auch in geringerem Grade; die Muskeln der
Zunge in hohem Grad e, Respirationsmuskeln, da während des Anfalles
ein mit den übrigen Zuckungen synchronisches Schluchzen statthatte, und ein
vorderer Halsmuskel, wahrscheinlich Sternocleidomastoid. dexter. (Wegen der
Menge von Dingen, auf die schnell die Aufmerksamkeit gerichtet werden rausste,
konnte dies nicht genau constatirt werden). Gleichzeitig grosse Aengstlichkeit,
Gesichtsfarbe kreideweiss. Dieser Anfall dauerte im Ganzen 5 Minuten.
Unmittelbar nachher bestand eine passagere, aber für den Mo-
ment fast complete Lähmung des ganzen linken Facialis und der
linken Zungenmuskulatur. Nach wenigen Minuten bereits Hess
diese Lähmung zunächst im oberen Aste des Facialis, nachher
auch in den übrigen nach und zwar derart, dass Patient willkür-
liche Bewegungen im Anfange nur ausführte, wenn ihm geheissen
wurde, die linke Seite allein zu bewegen, während bei gemein-
schaftlichen Gesichtsbewegungen diese Seite ruhig blieb. Im Ver-
laufe einer halben Stunde begannen auch gemeinschaftliche Bewegungen beider
Gesichtshälften, jedoch blieb immer noch die linke Gesichtshälfte zurück.
Etwa 10 Minuten nach dem Sistiren des soeben beschriebenen Anfalles
iraten ganz analoge klonische Zuckungen von geringer Intensität und Dauer,
im Ganzen etwa 40 — 50 in sämmtlichen Beugemuskeln der Finger incl. des
Daumens der linken Hand ein, während gleichzeitig der Facialis nur ein leich-
tes Vibriren zeigte.
Nach dem Anfalle kehrte die normale Gesichtsfarbe fast augenblicklich
wieder zurück, während Patient mit stark lallender Zunge versicherte, dass es
ohne Zweifel nichts gewesen sei. Die Zunge zeigte noch den ganzen Tag über
Hitzi", Gesammelte Abhandl. I. Theil. 11
— 162 —
und zwar beiderseitig, stärker jedoch links, klonische Zuckungen geringeren
Grades. An den Pupillen keine Veränderung.
Der Puls war während des Anfalles beschleunigt und rechts auf-
fallend viel kleiner als links; namentlich auch war das Arterienrohr rechts
weniger gespannt als links. Nach dem Anfalle war gerade das Ent-
gegengesetzte der Fall. Die rechte Radialis war nun drahtähn-
lich hart zu fühlen.
12 Uhr Mittags. Ein dem ersten ganz gleicher Anfall von derselben
Dauer, aber vielleicht noch etwas heftiger, mit dem gleichen Schluchzen und
denselben Arterienerscheinungen, jedoch ohne Betheiligung der Armmuskeln.
— Gegen Abend ist die Parese des linken Facialis fast ganz geschwunden.
Temperatur 39,8. Puls 120. Respiration 28.
5. IL Erbrechen, Klage über geringen Appetit, gleichwohl isst er alles
durcheinander. Sein ganzer Gedankengang bewegt sich um seineu Appetit
und seine angeblich davon abhängige Wiederherstellung. Die Wunde sieht
gut aus, nachdem der Aetzschorf sich abgestossen hat.
Morgens. Abends.
Temp. 39,3 39,9
Puls 120 120
Resp. 26 27
6. IL
Temp. 38,9 . 39,8
Puls 100 120
Resp. 26 27
7.11. Die Wunde etwas trocken; der Gedankenkreis sehr beschränkt;
es ist schwer möglich eine präcise Antwort zu erhalten, gleichwohl hat er keine
irrthümlichen Vorstellungen über sein Verhältniss zur Aussenwelt. Leichte
Parese, besonders des unteren Facialisastes, derart, dass bei ge-
meinschaftlichen Gesichtsbewegungen die linke Gesichtshälfte
fast ganz zurückbleibt. Bei isolirten Bewegungen der letzteren
contrahiren sich die Muskeln etwa mit derselben Energie wie
rechts. Das Auge wird gut geschlossen, die Frontalrunzeln sind links hin-
gegen weniger tief.
Gleich zeitig besteht ein leichter Kr am pf im link enDepressor
anguli oris, Orbicul. oris und den linken Nasenmuskeln, der sehr
häufig, etwa alle halbe Minute, eintritt und durch den das Gesicht links einen
weinerlichen Ausdruck erhält. Die Zunge wird ausserordentlich schief heraus-
gesteckt. Die Spitze weicht nach links ab, kann aber willkürlich fast ganz in
die Mitte gebracht werden. Die Uvula steht sehr stark mit der Spitze nach
rechts.
Die Sensibilität ist (auch auf der Zunge) gegen leichte Berührungen so-
wohl als gegen Nadelstiche vollkommen intact.
T. 38,3, P. 100.
3 Uhr Nm. Sehr heftiger Anfall im Gebiet des Facialis, bei dem auch
ein sehr heftiger klonischer Krampf des linken Abducens und des rechten
— 163 —
Rectus internus vorhanden war, 'd'^j^ Uhr neuer Anfall mit Betheiligung dos
linken Pector. major und der Bauchmuskeln beiderseits. Bald nachher noch
■ein Anfall, bei dem Folgendes beobachtet wurde.
1) Mit Rücksicht auf den Willen: Der Kranke vormag während des An-
falles normal zu gehen, die rechte Hand zu reichen und mit ihr einen massig
kräftigen Druck auszuüben, während er mit der linken nur sehr beschränkte
und unbestimmte Bewegungen vollbringt. Den Mund vermag er willkürlich
nicht zu öffnen.
2) Was die Krämpfe betrifft: dieselben erstrecken sich nunmehr mit auf
■einzelne Muskelbündel des rechten Frontalis, auf den ganzen Sternalkopf des
rechten Sternokleido, während der linke ganz frei bleibt; dagegen contrahirt
sich das linke Platysma sehr stark, während das rechte ganz frei ist. Ausser-
dem contrahiren sich beiderseits sämmtliche zwischen Unterkiefer, Kehl-
kopf und Sternum befindliche Muskeln. Im Arm keine Bewegungen.
3) Was das Sensorium betrifft: Er versteht die Worte, die man an ihn
richtet, und behält sie so im Gedächtniss, dass er nachher richtige Auskunft
darüber geben kann.
Solche Anfälle treten im Laufe des Nachmittags noch mehrmals ein. In
■den Pausen stehen die Augen immer in den linken Winkeln und der Kopf
•durch Contractur des rechten Sternokleido nach links gedreht. Abends T.
59,0. P. 100.
8. II. Anfall von einstündiger Dauer zwischen Sy^ und l'^j^ Uhr Mor-
gens. Der Anfall begann mit Zuckungen im Gesicht und Ablenkung der Bulbi
wie bei früheren Anfällen, dann traten Krämpfe im linken Arm und der linken
Thoraxhälfte ein, endlich auf der Höhe des Anfalles, während die Zuckungen
im linken Arm ausserordentlich stark waren, auch im rechten Arm. Das Be-
wusstsein war wiederum nicht verloren. T. 39,6. P. 110. Abends T. 40,5.
P. 120.
9. IL T. 39,3. P. 110. Abends schnarchende Respiration, Stupor, gegen
9Y2 Uhr Anfall von halbstündiger Dauer, der aber viel schwächer als der
letzte und ohne Betheiligung der rechten Seite verlief. T. 39,6. P. 120.
10. IL Morgens 10 Uhr Sopor, schnarchende Respiration. 11 Uhr Tra-
chealrasseln, Puls klein, häufig, Arterienrohr leer, die Welle rechts viel kleiner
als links. Die linke Pupille stark contrahirt, ganz reactionslos, auch die rechte
reagirt nur wenig. Weder jetzt noch früher war der Leib eingezogen. Wäh-
rend der Agone bei jeder der tiefen schnarchenden Inspirationen eine ausgie-
bige Contraction in Muskeln des unteren Astes des linken Facialis, namentlich
im Depressor anguli oris. Puls des Morgens 8 Uhr 120, T. 38,4, Morgens
10 Uhr 41,5. 11 Uhr 41,6. 4 Uhr 5 Min. Nachmittags erfolgte der Tod.
T. 41,8. Postmortale Temperatursteigerung 4 Uhr 15 Min., 10 Min. nach dem
Tode 42,0.
Autopsie 11. 11. zwanzig Stunden nach dem Tode.
Schädeldach massig dick, an der äusseren Tafel des Scheitelbeins, ent-
sprechend der Wunde hat sich eine sehr deutliche Demarkationslinie von ohr-
muschelförmiger Gestalt gebildet, welche in den grössten Dimensionen 4,4 cm
11*
- — 164 —
Länge (von oben nach unten) und 2,5 cm Breite (von hinten nach vorn) be-
sitzt. Der höchstgelegene Punkt dieser Demarkationslinie ist von der Pfeilnaht
6,5 cm entfernt. Zieht man von ihm aus eine gerade Linie nach der Pfeilnaht,
so liegt der Punkt, wo beide Linien zusammentreffen, 9,3 cm von der kleinen
Fontanelle nach vorn. An der inneren Tafel, entsprechend der eben bezeich-
neten Stelle, vi^ar der Knochen mit dickem, anhaftendem, gelblichem Eiter be-
deckt, nach dessen Abspiilung in der Ausdehnung eines Guldens grau, miss-
farbig, Verlust des normalen Glanzes, Rauhigkeiten von unregelmässiger Ge-
stalt, etwas über die Fläche erhaben und von grösseren und kleineren Poren
durchsetzt, zeigend. Derartige rauhe Stellen finden sich noch vielfach in der
Umgebung*). An dem oberen Ende der erstbezeichneten Stelle hat sich ein
Knochenplättchen von Linsengrösse abgestossen, welches nur noch an seinem
oberen Ende locker mit der Tabula vitrea zusammenhängt. Ueber die ganze
Schädelhälfte verbreitet ausserordentlich zahlreiche Vascularisationen, die der
inneren Fläche ein rothgeflecktcs Aussehen geben.
Bei Eröffnung des Schädels entleert sich aus einem Loche der Dura,
welches genau jenem Knochenplättchen entspricht, etwa ein halber Esslöffel
grün-gelblichen Eiters. Die ganze rechte Hirnhälfte unter der Dura blaugrün,
die linke roth. Die ganze Dura der rechten Convexität an der inneren Fläche
mit gelbem Eiter bedeckt, ungemein stark verdickt. In der Umgebung des
erwähnten aussen scharfrandigen, innen trichterförmigen Loches, das halb
bohnengross ist, beträchtliche Auflagerung, die von zahlreichen grösseren und
kleineren mit der Pia zusammenhängenden Gefässen durchsetzt ist und ein
schwärzliches Aussehen hat. Auch die linke Hälfte der Dura mit zahlreichen,
kleineren, neugebildeten Gefässen durchsetzt.
Die Pia der rechten Convexität von vorn bis hinten mit dickem Eiter
bedeckt, der nur zum Theil unter dem Wasserstrahle sich löst, die Hirnhaut
selbst, mit Ausnahme des hinteren Drittels, in eine dicke Schwarte verwandelt.
Ihre Venen überall mit festen nicht anhaftenden Gerinseln gefüllt, nur in
der Umgegend des gleich zu nennenden Abscesses flüssigen, gelben Eiter
enthaltend.
Entsprechend dem Substanzverluste der Dura findet sich ein Abscess,
aus dem sich bei der Eröffnung des Schädels der Eiter zum Theil entleerte.
Seine äussere Oeffnung hat l'/g — 2 cm im Durchmesser, seine Tiefe beträgt
knapp ebensoviel. Sein oberer Rand liegt 6Y2 cm von der Mittellinie, sein
hinterer Rand 2Y3 cm nach vorn vor dem mittleren Theile der Sylvischen
Grube und unmittelbar am vorderen Rande der Rolandischen Furche, der
Abscess selbst also zwischen dem unteren Ausläufer dieser und dem Sulcus
praecentralis von Ecker, in der vorderen Centralwindung an deren Uebergang
in den Klappdeckel.
*) Letztere wurden aber erst nach der Trocknung des Knochens sicht-
bar; dann hoben sie sich durch eine weissere Farbe noch mehr von der
Umgebung: ab.
— 165 —
Fig. 21.
R'
F
Linke Hemisphäre nach Ecker. F. Lobus frontalis. P. Lobus parietalis.
0. Lobus occipitalis T. Lobus temporalis. S. S.' Fossa Sylvii. R. R.' Sul-
cus Rolando. S. p. Sulcus praecentralis. A. Vordere, B. hintere Gentral-
windung, H. Abscess von Hitzig. W. Zertrümmerung von Wernher. (H. ist
Behufs leichterer Vergleichung auf die linke Hemisphäre übertragen.)
Die Ventrikel enthalten nur eine ganz geringe Menge seröser Flüssigkeit.
Die Substanz des Grosshirns mehr noch rechts als links, am auffälligsten in
der Marksubstanz an der Grenze der Rindensubstanz ist mit vielen kleinen
Blutpunkten durchsetzt. Ihre Consistenz ist im Allgemeinen die normale, nur
in der Umgebung des Abscesses ist die Hirnsubstanz sehr mürbe. Fast an der
ganzen rechten Convexität haftet die Pia abnorm der Rindensubstanz an, so
dass nach ihrer Entfernung die Letztere ein zernagtes Aussehen erhält.
Die Dura der rechten Basis mit Ausnahme des hinteren Drittels in
ähnlichem Zustande, wie die der Cont^exität.
In dem linken Pleurasack etwa 750 ccm blutig seröser Flüssigkeit. Die
linke Lunge zeigt an der Basis die Zeichen einer hypostatischen Pneumonie,
die Spitze emphysematös. Andere Veränderungen von Wichtigkeit fanden sich
nicht vor.
Rekapituliren wir die wesentlichsten Punkte der vorstehenden Be-
obachtung, Es war durch einen gangränösen Process ein Theil des
rechten Scheitelbehies blossgelegt und der Berührung mit dem Eisen-
chlorid ausgesetzt worden. Bei der Section fand sich, dass ein Theil
der äusseren Tafel an jener Stelle in der Sequestration begriffen war.
— 166 —
Dem entsprechend fand man ein Plättchen der inneren Tafel bereits
abgestossen, während in der Umgebung ähnliche nekrotisirende Processe
den Knochen ergriffen hatten. Ebenso war hier der Hauptherd der
Erkrankung, welche die Hirnhäute und die Hirnsubstanz selbst betraf.
Die Häute waren hier der Sitz besonders starker Verdickungen und
Auflagerungen, in deren Centrum sich aber eine eitrige Schmelzung
ihrer Substanz fand, welche ihrerseits wieder mit einem Abscesse des
Gehirns communicirte. Indessen hatten sich die geschilderten Ent-
zündungserscheinungen der Hirnhäute und des Gehirns selbst nicht nur
auf die nächste Umgebung, sondern über weite Strecken, endlich auch
offenbar auf die andere Seite fortgepflanzt. Dennoch Hess sich aus der
Summe aller dieser Erscheinungen, namentlich aus ihrer örtlich ver-
schiedenen Intensität und Entwicklungsstufe, mit Sicherheit constatiren,
dass der Anfang aller dieser Processe an der Stelle des späteren
Abscesses gewesen war.
Auch während des Lebens beobachtete man eine allmähliche Aus-
breitung in den Symptomen von Reizung der Hirnsubstanz, während
die Zeichen der Lähmung von Anfang au einen ziemlich engum-
schriebenen Muskelbezirk betrafen, bis endlich die Aufhebung der
sensorischen Functionen auch der willkürlichen Muskelbewegung im
Allgemeinen ein Ende machte.
Es war von Anfang an die Muskulatur des linken Facialis und
der Zunge, welche die Aufmerksamkeit erregten und während der
ganzen Dauer der Beobachtung wach erhielten. In diesen Muskeln traten
die Krampferscheinungen zuerst auf, und in ihnen fehlten sie bei allen
späteren Anfällen niemals. Dieselben Muskeln zeigten zu gleicher Zeit,
von dem ersten Augenblicke an, als man der cerebralen Erkrankung
gewahr wurde, eine allmählich zunehmende Beeinträchtigung der will-
kürlichen Innervation. In anderen Muskeln traten Lähmungen über-
haupt nicht ein. Allerdings konnte man während der Anfälle eine
Störung der willkürlichen Muskelinnervation auch in solchen Provinzen
nachweisen, die für den Augenblick nicht der Sitz von Krämpfen
waren*). Indessen waren dies Erscheinungen, die mit dem, was wir
Lähmung zu nennen gewohnt sind, nichts gemein hatten. Man sah
allerdings ein theilweises Abgeschnittensein der normalen Willens-
impulse, aber ebenso gut könnte man die unbestimmten Bewegungen,
die ein Schlaftrunkener auf Geheiss macht, als die eines Gelähmten
bezeichnen. Wenn man die äusserst auffallenden Differenzen in der
Füllung der rechten und der linken Radialis in Betracht zieht, wenn
*) Siehe die Notizen vom 7. Februar.
— 167 —
man sich gleichzeitig der ini Moment der Anfälle auftretenden Ent-
färbung des Gesichtes erinnert, so dürfte sich wohl eine solche theil-
weise und vorübergehende Ausserfunctionsetzung grösserer Hirnprovinzen
durch plötzliche Circulationsstörungen in ungezwungener Weise erklären.
In den zum Theil ja sehr langen Pausen war eine Motilitätsstörung der
Extremitäten nicht vorhanden.
Noch einen Punkt, sei es gestattet, in die Erinnerung zurück zu
rufen. In der Agone contrahirte sich synchronisch mit jeder der so
charakteristischen tiefen Inspirationen ein Theil von den während des
Lebens besonders afficirten Muskeln.
Halten wir nun das klinische Bild mit dem anatomischen Befunde
zusammen, so weit dies erlaubt scheint, so unterliegt es wohl keinem
Zweifel, dass man die Innervation derjenigen Muskelbezirke, welche
zuerst und am constan testen von Krämpfen betroffen, welche anderer-
seits von Anfang an gelähmt waren, in Verbindung zu setzen hat mit
demjenigen Hirntheile, welcher die vorgeschrittensten und ältesten
pathologischen Veränderungen, welche einzig und allein eine Zer-
trümmerung der Substanz zeigte. Dies wäre in der Peripherie der
Innervationsbereich des Facialis und des Hypoglossus, im Centrum die
obere und vordere Grenze des Klappdeckels.
Wohl könnte man einwenden, dass bei einer Zertrümmerung der
Substanz zwar Lähmungen aber kein Krampf möglich sei. Doch ist
dieser Einwand um deswillen hinfällig, weil selbst bei einer gänzlichen
Zertrümmerung eines Centrums der Rinde, die dort mündenden Mark-
fasern intact und der Erregung zugänglich bleiben können. Dass aber
in der That gerade ein Centralgebiet des Facialis ausser Function ge-
setzt sein musste, das beweisen zum Ueberfluss die agonalen Mit-
bewegungen im Bereiche jenes Nerven.
Es ist eine bekannte und unbestrittene Thatsache, dass nicht
degenerirte Nerven, deren Verbindung mit der Innervation des Gehirns
eine Unterbrechung erlitten hat. der Ausbreitung von Reflexen und
motorischen Irradiationen in ihrer Bahn ausserordentlich zugängig sind.
Ein solcher Fall lag hier vor. Die tiefen Inspirationen Agonisirender
werden sicher durch einen heftigen, am letzten Ende auf die Medulla
oblongata einwirkenden Reiz hervorgebracht, und seiner Ausbreitung in
eine labilere Bahn muss man es zuschreiben, wenn in diesem Falle
gerade diejenigen Muskeln sich noch einmal bis zum Ende in Bewegung
setzten, welche von Anfang an die Hauptrolle gespielt hatten.
Die Berechtigung, die geschilderten Functionsstörungen im Gebiet
des Facialis und Hypoglossus auf jene zertrümmerte Rindenpartie zu
beziehen, wird noch unterstützt durch das Verhalten des Knochens und
— 168 —
der Dura mater. Man konnte sich leicht überzeugen, dass die Er-
krankung der Schädelcontenta von der mehrerwähnten Stelle aus-
gegangen war, und sich von hier aus erst allmählich ausgebreitet hatte.
Ich will nicht versuchen, der Entstehungsart der übrigen beob-
achteten Krampferscheinungen specieller nachzugehen. Nur eine kurze
Bemerkung sei in dieser Beziehung gestattet. Man weiss, dass ent-
wickeltere Entzündungsvorgänge auf den Hirnhäuten in der Regel
Krämpfe erzeugen, und man kann in Folge dessen sämmtliche beob-
achtete Krampferscheinungen auf diese im gegebenen Falle mehr als
hinreichend vorhandenen Processe- beziehen. Indessen ist noch eine
andere Auffassung möglich. .Gelegentlich unserer experimentellen Unter-
suchungen hatten wir nachgewiesen, dass beim Einstechen von Nadeln
in die Gehirnsubstanz sich andere Muskeln auf den elektrischen Reiz
in Bewegung setzten, als diejenigen, welche bei der Reizung des ent-
sprechenden Rindengebietes zuckten. Wahrscheinlich hat man dies als
eine Reizung von Fasern aufzufassen, welche sich von den vorderen
Gebieten der Hemisphäre nach dem Hirnstamme zu begeben.
Man darf also nicht vergessen, dass bei Zerstörung eines Theiles
der Rinde, sei es nun durch einen Abscess oder durch eine Neubildung,
sehr wohl Leitungsfasern, die jenem Rindentheile im Wesentlichen fremd
sind, von dem fremden Körper in den erregten Zustand versetzt werden,
und so Zuckungen bedingen können. Ich richte die Aufmerksamkeit
auf diesen Punkt, weniger wegen des vorliegenden Falles, bei dem es
auf die Krampferscheinungen insofern nicht so sehr ankommt, da ihm
seine Wichtigkeit hauptsächlich durch das correspondirende Vorkommen
einer isolirten kaum haselnussgrossen Zerstörung der Rinde und einer
circumscripten Lähmung innewohnt. Aber für die Deutung anderer
Fälle, bei denen die einzelnen Symptome sich noch schwerer entwirren
lassen, ist es doch vielleicht gut, an die erwähnte und in der Wirk-
lichkeit gewiss häufig vorkommende Möglichkeit zu erinnern.
Wegen des Lage -Verhältnisses unseres Abscesses und des von
Fritsch und mir gefundenen Centrums für den Facialis verweise ich
auf die folgende Abhandlung. Es kann selbstverständlich nicht meine
Absicht sein, hiermit die Identität jener beiden Regionen als bestimmt
erwiesen zu behaupten. Dazu sind weitere Erfahrungen und be-
stätigende Untersuchungen auf den beiden eingangs erwähnten Wegen
erforderlich.
Interessant ist der Vergleich der Art der motorischen Störung bei
dem Kranken Masseau und denjenigen Hunden, denen wir das Centrum
für die rechte Vorderextremität exstirpirt hatten. Der Kranke Masseau
hatte eine motorische Hemmung im Facialis-Gebiete, welche vollkommen
— 169 —
oder fast vollkommen war, sobald er gemeinschaftliche Gesichtsbewegungen
ausführen, z. B. lachen sollte. Wurde aber seine Aufmerksamkeit auf
das Gebiet des abnorm fiuigirenden Muskels gerichtet, Hess man ihn
isolirte Bewegungen des linken Facialis vornehmen, so zeigte sich, dass
das Entstehen der erforderlichen Impulse in der That nicht so sehr ge-
hemmt war, als es anfänglich den Anschein hatte. Die Bewegung kam
nun immer bis zu einem gewissen Grade zu Stande. Wie ausser-
ordentlich verschieden hiervon ist das Verhalten der Muskeln bei
Lähmungen-, die ihren Sitz z. B. im Corpus striatum haben. Allerdings
ist auch bei ihnen selten die ganze Bahn verlegt, sondern der obere
Ast fungirt mehr oder weniger gut. Aber dasjenige, was nun einmal
gelähmt ist, fungirt in der allerersten Zeit nach der Läsion einfach nicht,
sondern erholt sich, wenn es überhaupt dazu kommt, erst nach Ablauf
einer mehr weniger geraumen Zeit. Dann aber sieht man nicht das
hier geschilderte Verhalten, sondern die Motilität ist auch bei gemein-
samen Gesichtsbewegungen in den gegebenen Grenzen vorhanden.
Als ich dem Grunde für dies Zurückbleiben des linken Facialis
nachging, so glaubte ich ihn zuerst darin zu finden, dass der Masseau
bei gemeinschaftlichen Impulsen sich keine richtige Vorstellung von
dem bilden konnte, was im Gebiete dieses Nerven geschah. In diesem
Falle wäre der Vorgang ganz ähnlich gewesen demjenigen, welchen wir
bei den operirten Hunden voraussetzen mussten. Indessen sprach doch
der Umstand gegen die Annahme einer Beraubung des Bewusstseins
jener Muskelzustände, dass gerade der bewusste Wille einen sich der
Norm mehr nähernden Einfluss auf . die Muskeln hatte, während die
mehr maschinenmässig vor sich gehende gemeinschaftliche mimische
Innervation die grössere Abnormität zeigte.
Demnach ist es wahrscheinlicher, dass der an einem dritten Orte
gebildete, für beide Hirnhälften gleichberechnete Willensimpuls wegen
der vorhandenen theilweisen Zerstörung rechts schwächer aufgenommen
und fortgepflanzt wurde, dass aber doch noch hinlänglich Substanz
vorhanden war, um bei Verstärkung des Impulses eine annähernd
normale Bewegung auszulösen.
VIII. lieber aequivalente ßegiouen am (ireliirii des Hundes,
des Affen und des Menschen.
Wenn die in den vorstehenden Abhandlungen gegebene und ver-
theidigte genauere Begrenzung des motorischen Gebietes ihre volle
Wichtigkeit für die menschliche Pathologie und die vergleichende
Physiologie gewinnen soll , so muss vorher die Uebertragung der be-
zeichneten Grenzen auf die äusseren Flächen des menschlichen Gehirns
möglich gemacht sein.
Welches Interesse das Gelingen dieser Aufgabe für sich in An-
spruch nehmen dürfte, brauche ich kaum auszuführen. Inmitten der
bisher räthselvollen Windungsfelder des Menschengehirns wäre ähnlich
wie am Hundehirn ein Gebiet abgegrenzt, das sich durch eine ihm
eigenthümliche Function nicht nur von den Nachbargebieten unter-
scheidet, sondern auch durch dieselbe und vermöge seiner Lagerung
zwischen den übrigen Theileu des Mantels für diese wieder, sei es vor-
dere sei es hintere Grenzen zeichnet.
Mau kann das gesteckte Ziel, wie ich schon eingangs der vor-
stehenden Abhandlung andeutete, auf verschiedenen Wegen anstreben.
Ich selbst versuchte mir durch vergleichend anatomische Betrachtung
ein Urtheil zu bilden, um so mindestens die Discussion herbeizuführen,
und mit derselben den Anstoss zu neuen Arbeiten auf diesem Felde
zu geben*).
Vor Allem schien eine möglichst genaue und sichere Bestimmung
der vorderen Grenzen der erregbaren Zone von Nöthen. Wenn nämlich
nur auf Grund der in der ersten Abhandlung von uns gemachten An-
gaben das Lageverhältniss der als erregbar bezeichneten Mantelmassen
zum Schädel ins Auge gefasst wurde, so konnte, wie es geschehen ist,
die Ansicht entstehen, dass dieselben dem Stirntheile des Menschen
äquivalent seien. Nachdem ich indessen nachgewiesen hatte, dass
*) E. Hitzig, A. a. 0. 1873. Gap. 7.
— 171 —
nicht nur der, mehr durch seine Flächen- als Dickendimensionen aus-
gezeichnete, vor der Verlängerung der Fossa Sylvii belegene Theil,
sondern ausserdem fast ein ganzer, die hintere Grenze dieses Ein-
schnittes bildender Gyrus {d) unerregbar seien, gewann der Gegen-
stand ein anderes Gesicht. Jetzt musste erwogen werden, ob
nicht vielmehr dieser, durch das Fehlen der motorischen
Reaction char akterisirte Abschnitt dem Stirntheile ent-
spräche.
Eine dahin auslaufende Ansicht hatte von vorne herein mancherlei
für sich. Der in der vorstehenden Abhandlung beschriebene Abscess
sass nicht in der Stirn- sondern in der Scheitelregion. Fälle von
Wer n her und Loeffler, welche im Anschluss an unsere Untersuchungen
theils publicirt, theils (durch Th. Simon) reproducirt wurden, und auf
die wir unten einzugehen haben, bestätigen die aus der Beobachtung
jenes Abscesses geschöpften Ansichten im Allgemeinen, ohne jedoch die
Details klarer zu legen.
Die Intelligenz im höheren Sinne ist von Alters her in den Stirn-
lappen verlegt worden, und stets wurde mit dieser Vorstellung die Idee
mächtigerer Entwickelung der Stirn und der unmittelbar von ihr be-
deckten Organgruppen verknüpft. Nun nimmt die Massenhaftigkeit des
Hundehirns von vorn nach hinten zu. An der Grenze des motorischen
Abschnittes findet ein plötzlicher Sprung in der Entwickelung statt, so
dass man den Eindruck erhält, als ob hier ein Organcomplex für reich
ausgestattete Functionen mit einem spärlich Bedachten zusammenstosse.
Vor der vorderen Verlängerung der Sylvischen Grube sind zwar die
Flächen gross, aber der Querdurchmesser klein. Der dahinter liegende
motorische Theil ist bereits beträchtlich, noch stärker der occipitale
und temporale Theil entwickelt. Vergleicht man mit diesem Verhalten
des Substrates die Lebensäusseruugen desselben — die Seelenthätig-
keiten, so scheint sich eine Parallele, wenn auch nur in grossen Zügen,
fast von selbst aufzudrängen. Die geringe Entwickelung bei gleichwohl
gut zu unterscheidender Anlage des Stirnlappens würde der mangel-
haften Ausbildung höherer Seelenthätigkeiten beim Hunde wohl ent-
sprechen; in absteigender Linie hat die viel weniger intelligente und
bildungsfähige Katze (Vgl. Figg. 18 und 19) bereits einen beträcht-
lich reducirten Stirntheil aufzuweisen. Durch die plötzliche, den mo-
torischen Theil betreffende Massenzunahme würde die Menge der dem
Hunde zukommenden Muskelleistungen gedeckt werden. Unvergleichlich
höher als die Muskelthätigkeiten sind aber die, nach anatomischen Un-
tersuchungen (Meynert) in den hinteren Hirnregionen zu suchen-
den sensuellen Fähigkeiten dieses Thieres veranlagt und ausgebildet.
— 172 —
Ich sah mich mm nach laatürlichen und coustanten Grenzlinien anf
der Mantelfläche mn, und fand im Yerhältniss der Furchenbildung zur
Funktion in der That gewisse Anhaltspunkte. Die Fossa Syhdi erlaubt
einen Tlieil der hinteren Abgrenzung der Sclieitelregion ohne Wei-
teres zu erkennen. Die mediale Hälfte dieser Grenze, soweit sie auf
der Convexität liegt, ist beim Menschen nur zu einem Theile durch die
dem Hunde fehlende Fissara parieto-occipit. scharf bestimmt. Beim
Hunde lässt sich hingegen eine Trennung bald mehr bald weniger deut-
lich durch die ganze Mantelfläche verfolgen, wenn man eine Linie zieht
von _ der Knickungsstelle der sylvischen Windung durch die Knickungen
der um jene concentrisch ge-lagerten Windungen nach einer der obersten
Knickung gegenüberliegenden und sich an der inneren Fläche des
Randwulstes vorfindenden Einkerbung. An Stelle eines Theiles dieser
Knickungen findet man nicht selten Furchenbildung, wie ich in Fig. 1
rechte Hemisphäre gezeichnet habe. Durch die angeführten, tiefgreifen-
den Einschnitte und durch die an oder mindestens dicht vor ihnen auf-
hörende motorische Reaction entsteht nun eine natürliche anatomische
und physiologische Abgrenzung, welche durch den Umstand an Bedeut-
samkeit gewinnt, dass andere natürliche Grenzlinien in den mehr rück-
wärts gelegenen Partien nicht existiren. Der eine Theil dieser Grenz-
marke, insoweit er der sylvischen Grube angehört, kann aber aller
Analogie nach, nur auf den Scheitellappen bezogen werden, so dass nun
die grösste Wahrscheinlichkeit erwächst, dass auch die medialen Ein-
schnitte das hintere Ende dieser Region bezeichnen.
Die vordere Grenze nahm ich a. a. 0. an der vorderen Verlängerung
der sylvischen Grube an imd sprach die Vei-muthung aus, dass der
Sulcus cruciatus (Leuret) Figg. 17 und 18 S. 127 mit der Furche
Rolando's zu identificiren sei. Die nähere Begründung dieser Ansicht
kann dort eingesehen werden. Inzwischen hat sich durch gleich zu
erw'ähnende Untersuchungen in der unzweideutigsten Weise heraus-
gestellt, dass diese letztere Annahme — Identificirung des Sulcus
cruciatus mit der Furche Rolando's — irrig ist, während meine An-
nahme, dass die erregbare Zone imd ihr bis zu der erst erwähnten
Grenze reichendes Nachbargebiet der menschlichen Scheitelregion ent-
spricht, durch die gleichen Untersuchmigen bis zu an Gewissheit
grenzender Wahrscheinlichkeit erhoben wird.
Aus der Vergleichung der Figg. 21 und 22 S. 173 und 174 wird
deutlich, eine wie grosse Aehulichkeit zwischen den Gehirnen selbst
niederer Affen und dem des Menschen besteht. Während am Hirn des
Hundes, der Katze und nahestehender Typen nur die Sylvische Grube
mit Sicherheit zu identificiren ist, kann beim Affen die Rolandische
173
Furche und der Sulcus praecentralis, um die es sich hauptsächlich
handelt, ohne Weiteres erkannt werden. So war es von grösstcm
Interesse, Affengehirne auf die Lage der Muskelcentren untersuchen zu
können.
Indessen ist es in Berlin schwierig und kostspielig, sich lebende
Affen zu verschaffen. Auf der anderen Seite ist der Sprung in der
Gehirnformation, welcher zwischen den übrigen Thieren und den Affen
statthat, scheinbar so gross, dass die Vergleichung todter Gehirne, wie
ich sie bereits vor längerer Zeit unternahm, zu überzeugenden Resultaten
nicht führen kann. Endlich ist es mir durch die Güte des Herrn
Director Bodinus gelungen, aus den Beständen des hiesigen zoologischen
Gartens ein noch kräftiges Exemplar von Innuus Rhesus für diesen
Zweck zu erhalten.
Linke Hemisphäre nach Ecker. F. Lobus h-ontalis. P. Lobus parietalis.
0. Lobus occipitalis. T. Lobas temporalis. S. S.' Fossa Sylvii. R. R.' Sulcus
Rolande. S. p. Sulcus praecentralis. A. Vordere, B. hintere Centralwindung.
H. Abscess von Hitzig. W. Zertrümmerung von Wernher. (H. ist Behufs
leichterer Vergleichung auf die linke Hemisphäre übertragen.)
Bevor ich aber auf die Resultate dieser in Gegenwart mehrerer
Professoren und Aerzte ausgeführten Vivisection näher eingehe, will
ich erwähnen, dass auch Ferrier am Affen experimentirt hat. Die
Resultate dieser Versuche sind mir zum Theil aus einem in der Times
enthaltenen Referate zugänglich geworden. Allerdings lässt sich aus
demselben nicht viel ersehen; nur scheint es, dass Ferrier wieder
— 174 —
einen viel grösseren Theil der Rinde als erregbar anspricht und die
Centren überhaupt mehrfach anders localisirt als ich.
Die Operation — Eröffnung der linken Schädelhälfte — wurde in
der Aether-Narkose und fast ohne jeden Blutverlast ausgeführt. Als der
Affe wieder zu sich gekommen war, lag er so still, dass die elektrische
Reizung mit viel grösserer Leichtigkeit als gewöhnlich an Hunden vor-
genommen werden konnte. Da ich nicht die Hoffnung hegen durfte,
sobald wieder in den Besitz eines Affen zu kommen, so sollte mir dieses
Thier in erster Linie zur Beantwortung der Frage dienen, an welchen
Theilen seines Gehirnes sich diejenigen Punkte befänden,
deren Reizung mit „sahwachen Strömen" beim Hunde durch
Bewegungen beantwortet wird. Die Untersuchung der übrigen
Rindentheile wurde erst in zweiter Linie in Aussicht genommen.
Fi ff. 22.
Das erhaltene Resultat war im höchsten Grade merkwürdig. Um
es mit einem Worte zu sagen: Die sämratlichen Centren fanden
sich in der vorderen Centralwindung wieder, und zwar derart,
dass sie deren Fläche von der grossen Längsspalte an bis hinab zur
Syl vischen Grube einnahmen. Unmittelbar neben der Mittellinie, nur
etwa 3 mm von derselben entfernt (1 Fig. 22), fand sich das Ceutrum
für die hintere Extremität. Wieder 3 mm lateralwärts (2 Fig. 22) lag
das Centrum für die vordere Extremität. Fast 7 mm lateralwärts
(3 Fig. 22) wurde ein Theil der mit dem Gesichtsnerven zusammen-
hängenden Gebilde, endlich dicht an der Fossa Sylvii, 6 mm mediau-
wärts von deren Rande und 12 mm von dem vorigen Punkte entfernt
(4 Fig. 22) diejenigen Stellen gefunden, welche zu den Mund-, Zungen-
und Kieferbewegungen in Beziehung stehen.
Besonders interessant war die künstliche Innervation der Muskeln
der oberen Extremität, namentlich bei Reizung mit Inductionsströmen.
Man konnte dadurch, dass man die Elektroden abwechselnd auf die
— 175 —
verschiedenen Naclibargebiete des bezeichneten Punktes applicirte, eine
grössere Zahl von entschieden coordinirten und zweckmässigen Be-
wegungen hervorrufen, die den willkürlichen Bewegungen des Thieres
ganz ausserordentlich ähnlich sahen. Eine etwas mehr nach vorn ge-
legene Stelle reagirte mit Pronation des Armes, wenige Millimeter
hinter derselben und etwas lateralwärts zwischen 2 und der Rolandi-
schen Furche ergab die Reizung Extension des Carpus und Spreizung
der Finger. Dicht daneben brachte man Greifbewegungen oder Zu-
sammenlegen der Spitzen des Daumens und der beiden ersten Finger
hervor.
Das mehr lateralwärts gelegene Centrum 3 antwortete mit Re-
traction des Ohres und Schluss des Auges. Ging man nun noch mehr
lateralwärts, so gesellten sich zu den Ohrbewegungen noch Contractionen
der Masseteren, endlich Lippenbewegungen, und an der Stelle unmittelbar
über der Fossa Sylvii auf den Inductionsstrom intensives Aufsperren
des Mundes. Etwas höher als dieser Centralpunkt, jedoch noch mit
ihm zusammenhängend, trat Retraction der Mundwinkel und in einer
ebenfalls sehr benachbarten, aber nicht genau bestimmten Gegend traten
Bewegungen der Zunge, sowie der übrigen zwischen Kiefer, Zungenbein
und Sternum belegenen Motoren ein. Die um den Punkt 4 gruppirten
Bewegungen waren sämratlich doppelseitig. Dicht bei dem Centrum
für die vordere Extremität bekam man auch eine Rotation des Kopfes
von rechts nach links, während ein leichtes Heben des Kopfes von einer
etwas lateral- und rückwärts von dem Centrum für den oberen Theii
des Facialis gelegenen Stelle ausgelöst wurde. —
Das Zuckungsminimum lag im Allgemeinen an diesen Stellen sehr
niedrig; im oberen Theil des Facialis traten die Bewegungen schon bei
10 S. E. W. stark, in den Masseteren spurweise auf. Die Armbewegungen
erforderten etwas stärkere Ströme bis zu 30 S. E. W. Das Zuckungs-
minimum bei Reizung mit dem Inductionsstrome lag für Orbicularis
palpebrar.- und Ohrbewegungen schon bei 120 Rollenabstand, die Ex-
tremitäten reagirten deutlich auf 110, die Oeffnung der Kiefer erfolgte
hingegen erst bei 100 R. A.
Es wurde leider versäumt zu untersuchen, ob von dem Centrum
für den Orbicularis palpebrarum aus auch Augenbewegungen hervor-
zubringen wären. Indessen ist dies nach Analogie der am Hunde und
der Katze von mir erzielten Resultate wohl mit Sicherheit voraus-
zusetzen.
Die eigentliche Parietal-Region, sowie auch der Stirnlappen wurden
nur oberflächlich untersucht, nachdem mit Sicherheit constatirt worden
war, dass dieselben schwache Ströme mit Zuckungen nicht beantworteten.
— 176 —
Vor dem Sulcus praecentralis ergab z. B. Ausschaltuug der Neben-
schliessung oder 80 R. A. Drehung des Kopfes von links nach rechts
und intensive doppelseitige Contraction des Frontalis, während Reizung
mit 100 S. E. W. unbeantwortet blieb. Etwas leichter, jedoch auch nur
auf verhältuissmässig starke Ströme reagirte die hinter der Rolandi-
schen Furche gelegene Partie des Scheitellappens, am leichtesten noch
der obere Theil der hinteren Centralwindung. Mehr nach hinten zu
hörten auch bei starken Strömen alle Zuckungen auf. üeberall, wo
man überhaupt Zuckungen bekam, betheiligte sich übrigens auf An-
wendung stärkerer Ströme das Ohr. Ausserdem gewannen die Zuckungen
auf so starke Ströme immer einen mehr weniger allgemeinen Charakter,
und es gelang, nicht, so geartete Bewegungen wie in der vorderen
Centralwindung auf ganz kleine Stellen zu localisiren.
Ich stehe unter diesen Umständen nicht an, die vordere Central-
windung als die eigentlich motorische Partie der Hirnrinde
des Affen, oder vielmehr als denjenigen Theil zu bezeichnen,
welcher in sehr oberflächlicher Lage Zusammenfassungen
fast sämmtlicher Körpermuskeln enthält. ^2)
Die Contractionen der Ohrmuskeln, des M. frontalis und anderer
mehr weniger grosser Gruppen von Muskeln, die nur durch stärkere
Ströme, dann aber von ausgedehnten Flächen aus hervorzurufen waren,
betrachte ich als Producte von Stromschleifen nach tiefer liegenden
Theilen. Aehnlichen Reizeffecten sind wir bei Besprechung der Ver-
suche Ferrier's in Menge begegnet. Ich erinnere z. B. an die bei
Reizung des ganzen Hinterhirns der Katze entstehende Drehung des
Kopfes und die ein ähnliches Verhalten zeigenden Augenbewegungen.
Auf S. 24 haben wir schon dargelegt, wie gerade die strenge Localisa-
tion der Zuckungen ein Beweis für die oberflächliche Lage unserer
Centren ist. Consequenterweise wird das entgegengesetzte Verhalten den
Schluss auf Stromschleifen nach tiefer liegenden Theilen bedingen.
Wesentliche Differenzen gegenüber den anderweiten Reizeffecten,
aber eine auffällige Uebereinstimmung mit den gleichnamigen Be-
wegungen beim Hunde und der Katze zeigten die Fressbewegungen. Sie
traten nicht nur grossentheils doppelseitig auf, sondern sie erforderten
auch wiederum stärkere Ströme. Indessen muss doch hervorgehoben
werden, dass die Masseteren sich hier schon auf den Reiz ganz
schwacher Ströme bewegten. Andererseits erfordert die Kieferöffnung
neben Ueberwiudung eines beträchtlichen Widerstandes das zweck-
mässige Zusammenwirken einer grösseren Zahl von Muskeln. 'Hierin
könnten Momente zur Erklärung jener Verschiedenheiten gefunden
werden. Die Doppelseitigkeit der Bewegung bleibt dabei aber ganz
— 177 —
unbeleuchtet, und sie darf um so weniger ausser Acht gelassen werden^
als doppelseitige Bewegungen in einzelnen Motoren schon bei geringen
Stromstärken beobachtet wurden.
Man möge mir fernere Zurückhaltung über dieses Thema auch jetzt
noch um so mehr gestatten, als der Gesichtskreis doch nur durch die
Resultate eines Versuches erweitert worden ist. —
Betrachten wir nun das anatomische Verhältniss dieser Region
zu denjenigen Theilen des Hundehirns, welche ihr in physiologischer
Beziehung parallel zu setzen sind, so stellt sich heraus, dass meine An-
sicht, nach der die erregbaren Theile am Menschenhirn in der parie-
talen Gegend zu suchen sein würden, schon durch die Reaction des
Afl'enhirns Bestätigung findet. Ich sehe dabei von der unter den Anatomen
herrschenden Meinungsverschiedenheit, ob die vordere Centralwindung
zum Stirn- oder Scheitellappen zu rechnen sei, übrigens ab, und be-
rücksichtige nur ihr Lageverhältniss zum Schädel. Wie ßischoff
nachgewiesen hat, wird die vordere Centralwindung noch durch das
Scheitelbein mitbedeckt und steht insofern allerdings in einer natür-
lichen genetischen Beziehung zu den anderen von dem gleichen Knochen
bedeckten Windungen. -3)
Der Fuvchenbildung lege ich freilich wichtige Beziehungen zu den
Hirnfunctionen unter, aber nicht derart, dass ich aus dieser oder jener
Variaute oder aus der Massenhaftigkeit irgend welche Schlüsse ab-
zuleiten gedächte. Eben so wenig erblicke ich die Noth wendigkeit,
dass jeder Lappen bei jeder Species von einer mehr oder weniger
durchschneidenden Transvc salfurche begrenzt sei. Wo aber derartige
tiefeinschneidende Furchen den Typus vervollständigen und nicht etwa
blos gelegentlich als Anomalien vorkommen, scheinen sie mir als natür-
liche Grenzen für eine bestimmte Zahl grosser Gruppirungen von Func-
tionen gelten zu können. Es ist klar, dass Zusammengehöriges niciit
durch tiefe Furchen getrennt sein darf. Denn dadurch würde wegen
der noth wendigen Verbindungsbahnen eine unendliche Verschwendung
an Raum ui/id Material veranlasst werden.
Von d«!mselben Gesichtspunkte aus betrachte ich die beim Menschen
regelmässig vorhandenen Ueberbrückungen der vor der Centralfurche
transversal verlaufenden Furche, wodurch dieselbe in mehrere Frag-
mente zerrisse;:: wird. Wahrscheinlich werden sehr nahe Rindenbezie-
hungen zwischen, Stirnlappen und vorderer Centralwindung von Nöthen
sein. Deshalb können aber doch die Functionen der Stirn- und der
Scheitelregion so sehr als möglich differiren. Lassen wir z. B., um
einen nahe liegenden Gedanken aufzugreifen, ein der Sprachbildung
dienendes Centralorgan in der dritten Stirnwindung existiren, so wird
Hitzig, Gesammelte Abhandl. I. Theil. 12
— 178 —
allerdings das ßedürfiiiss einer directen Verbindung zwischen diesem
Rindenbezirke und dem die Centralorgane der Spreclimuslieln bergenden
der vorderen Central windung entstehen. Es wäre ja im höchsten Grade
umständlich und unzvA-eckmässig, wenn die Verbindung erst durch Um-
gehung der Furche hergestellt werden sollte.
Andererseits denke ich nicht daran aus der verhältnissmässig glatten
Oberfläche der Stirn-Scheitelregion unseres kleinen Aeffchens etwa be-
sonders innige Beziehungen zwischen irgend welchen Rindenorganen-
ableiten zu wollen. Die Zahl und Complicirtheit der Furchen steht so
offenbar in directem Zusammenhange mit der Massenhaftigkeit des Ge-
hirnes, dass man aus ihrem örtlichen Fortfalle, der Ansicht Reichert's
folgend, nur schliessen kann, dass die anderweitigen Einschnitte aus-
reichen, die Blutgefässe genügend tief in das Innere des Organes ein-
dringen zu lassen.
Die eben ausgeführten Anschauungen werden anderweitig unter-
stützt durch Vergleichung der Lage der erregbarsten Stellen beim Affen
und beim Hunde. Sie liegen bei dem Letzteren scheinbar in zwei ver-
schiedenen Windungen und deren Adnexen, bei dem Ersteren jedoch in
einer einzigen Windung. So verwirrend dieser Umstand zu Anfang war,
so sehr hat er nachher, als die Vergleichung vieler Gehirne mir erst
den Schlüssel gegeben hatte, zur Klärung meines eigenen Urtheils in
der Frage beigetragen.
Fiff. 23. Fiff. 24.
. Ich glaube, dass die Vergleichung des unter Fig. 23 abgebildeten
Hundehirns mit dem Affenhirne allseitig überzeugend wirken dürfte.
Man sieht an demselben nämlich, wie die beiden hier in Frage
kommenden, die Centren tragenden Gyri breit in einander übergehen,
so dass sie einen hakenförmigen Gyrus bilden. Denkt man sich nun
diesen Haken gestreckt, so dass der nach vorne liegende, laterale Theil
(bei 4) ganz an den lateralen Rand und an seine Stelle der gekrümmte
— 179 —
Theil des Hakens käme, so hat man das Lageverliältniss der
Centren zu einander, wie es beim Affen existirt, vollkommen
wiederhergestellt. Von der Mittellinie nach aussen gerechnet würden
die Centren in derselben Reihe auf einanderfolgen, nämlich hintere
Extremität 1, vordere Extremität 2a und Nacken- 2 b, Gesichts- 3, end-
lich 4 Fressbewegungen.
Wenn nun diese beiden zu einem vereinigten Gyri als vordere
Centralwindung aufzufassen sind, so muss folgerecht die Rolandische
Furche unmittelbar hinter ihnen zu suchen sein. An dem auf Fig. 28
abgebildeten Gehirne existirt aber an dieser Stelle wenigstens linker-
seits keine durchschneidende Furche, sondern es besteht eine Brücke
zwischen den zwei mit R. R. R. bezeichneten Fragmenten. Auf der
rechten Hemisphäre desselben Gehirns fehlt jedoch diese Brücke, so
dass die beiden Fragmente zu einer grossen Furche [zusammenlaufen.
Dadurch entsteht ein Bild, welches Fig. 3 besonders, gut versinnlicht.
Fig. 1 rechte Hemisphäre zeigt ein ähnliches Gehirn von oben gesehen.
Vergleicht man sehr viele Hundegehirne auf das Verhäitniss jener
beiden Windungen und der sie umgebenden Furchen, so sieht man
gleiche oder ähnliche Varianten immer wiederkehren. Die rechte Hemi-
sphäre des Gehirns Fig. 23 enthält z. ß. eine Uebergangsstufe zu dem
2usammenfliesseu der beiden Gyri. Es besteht eine schmalere secundäre
W^indung zwischen ihnen. Ebenso schneidet an anderen Gehirnen bald
einmal die von vorn nach hinten, bald einmal die median-lateralwärts
verlaufende Furche durch. Dies beweist nach meinen eben entwickelten
Anschauungen nur, dass beim Hunde die beiden Hälften der als Gyrus
praecentralis zu betrachtenden Windungen irgend welche wichtige
physiologische Verbindungen untereinander in der Rinde nicht ein-
gehen. In der That liegt auch auf der Hand, dass die in der einen
Hälfte zusammen localisirten Organe — Extremitäten und Rumpf —
gemeinschaftlicher und naher Beziehungen bedürfen, imd dass dasselbe
für die in der anderen Hälfte zusammen liegenden, nämlich Gesichts-,
Augen-, Zungen- und Kieferbewegungen zutrifft, während diese beiden
grossen Complexe in relativer Unabhängigkeit von einander stehen.
Bei der Katze ist das Zusammenfliessen jener beiden Gyri (e und f )
die Regel, während die F'urchen bei den von mir untersuchten Hirnen
gesondert bleiben. Jedenfalls hat die Vergleichung der Gehirne sehr
vieler Thiere derselben Species etwas ungemein Belehrendes, und ich
glaube, dass ich mit dieser Beschäftigung meine Ansichten berichtigt
und erweitert habe. Indessen fehlt mir das Material um das gleiche
■Studium auf viele Species und deren Embryonen ausdehnen zu können,
12*
— 180 —
während Abbildungen, die ja doch immer nur den Typus geben, wenig
fördern.
Deshalb halte ich mich zu einer irgend weitergehenden Ausführung
dieser vergleichenden Betrachtang nicht für berechtigt und möchte nur
gerade das feststellen und erklären, was aus den Reizversuchen direct
hervorgeht. Dies aber lässt sich wohl mit einem Worte dahin zu-
sammen fassen, dass die Gyri e, f (nebst den Adnexen von /" in g
und /^) des Hundes und der Katze dem Gyrus praecentralis
des Affen wahrscheinlich entsprechen^^). Hieraus folgt denn
unmittelbar, dass meine früher ausgesprochene Annahme, nach der die
rudimentären Gyri a, h, c und der Gyrus d des Hundehirns die Anlage
des Stirnlappens enthielten, und ihrer Weiterentwickelung die Massen-
zunahme des Hirns der Primaten vorwiegend zu danken sei, dem wirk-
lichen Sachverhalte entspricht. Denn die Weiterentwickelung des Stirn-
hirns lässt sich an der Stufenleiter der Aften bis zu den, dem mensch-
lichen Gehirne immerhin sehr nahestehenden Gehirnen der anthropoiden
Affen ohne Schwierigkeit nachweisen. Der einzige Punkt, um den sich
Alles dreht, und der deshalb der ferneren und festesten Begründung
auf das Dringendste bedarf, ist der eben angestrebte Nachweis, dass
wirklich Gyrus e und / des flundes der vorderen Central windung des
Affen resp. des Menschen äquivalent sind.^s) —
Von diesem Gesichtspunkte aus sind pathologische Beobachtungen
am Menschen, soviel sich auch gegen deren zu unbedingte Benutzung
einwenden lässt, behufs weiterer Förderung der Sache nicht zu ver-
schmähen. Alle unsere Beweise kommen am letzten Ende darauf hinaus,
dass wir jeden Weg betreten, der die Wahrscheinlichkeit des zu Be-
weisenden mehr und mehr erhöht. Bis zur Gewissheit des mathema-
tischen Beweises bleibt immer noch eine Lücke, deren Bedeutsamkeit
ich, insbesondere bei unserem Thema, wahrlich nicht unterschätze.
Ich habe in der vorigen Abhandlung von den Schwierigkeiten,
welche sich der physiologischen Ausnutzung klinischer Beobachtungen
entgegenthürmen, bereits gesprochen. Um nicht durch ein leicht mög-
liches Missverständniss noch neue Hindernisse für die gleichmässige
ßeurtheilung solcher Thatsachen entstehen zu lassen, fühle ich mich
verpflichtet, an dieser Stelle, und bevor ich selbst auf derartige Er-
örterungen eingehe, noch einmal ausdrücklich hervorzuheben, dass ich
weder die vordere Centralwindung des Affen, noch die Gyri e, /' des
Hundes als die einzigen mit der Muskelbewegung in Zusammenhang
stehenden Theile des Grosshirns betrachtet wissen will. Meine bis-
herigen Reizversuche an der Rinde richteten sich vielmehr ganz allein
auf die Feststellung derjenigen centralen Zusammenfassungen und ihrer
— 181 —
örtlichen Anordnung, welche am oberflächlichsten und deshalb für
die Reizmittel des Untersuchenden am zugänglichsten liegen. Ausser
diesen giebt es gewiss noch andere gleichen Werthes und möglicher-
weise wieder andere verschiedenen Werthes. Jede einzelne der unter-
suchten Thierspecies Hess bei Anwendung massig starker Ströme die
eine oder die andere Muskelbewegnng vermissen. Es ist kein Grund
wahrzunehmen, warum nicht auch diese Motoren durchaus äquivalente
Zusammenfassungen im grossen Gehirn besitzen sollten. Vielleicht liegen
dieselben in der Tiefe der von den Wülsten gebildeten Faltungen. Viel-
leicht ist ihre Faseranordnung derart zerstreut, dass schwache Ströme
zur Bethätigung der Function nicht geeignet sind. Man kann darüber
nur Vermuthungen haben.
Diese Umstände werden namentlich bei der Beurtheilung von
Läsionen, welche die hintere Centralwindung und den Rest der Scheitel-
region betrafen, in Rechnung zu ziehen sein. Es wäre gewiss sehr
wünschenswerth, wenn bei von aussen her eindringenden, mit Krämpfen
oder Paresen verknüpften Processen dieser Gegend besonderer Fleiss
auf makroskopische und mikroskopische Untersuchung der Tiefe ver-
wendet würde, bis zu der die Veränderung sich ausgebreitet hat. —
Es ist nicht meine Absicht, die ganze Literatur der Oberflächen-
Affectionen des Grosshirns in die Besprechung zu ziehen. Dahingehende
Bestrebungen, die übrigens wohl von anderer Seite her in Aussicht ge-
nommen sind, finden noch besondere Schwierigkeiten, wie schon Ecker
hervorgehoben hat, in der mangelhaften Kenntniss, welche das ärztliche
Publicum von den typischen Grosshiruwindungen besass, und der damit
in Verbindung stehenden mangelhaften Localisation der Krankheitsherde.
Man würde sich einer entschiedenen Förderung der Sache versehen
können, wenn die verdienstliche Schrift von Ecker: „Die Hirnwindungen
des Menschen," Braunschweig 1869, durch welche die Orientirung ausser-
ordentlich erleichtert wird, den Aerzten bekannter würde. Ich werde
also an dieser Stelle nur diejenigen Rinden affectionen zur Besprechung
heranziehen, welche seit der Veröffentlichung unserer ersten Unter-
suchungen Gegenstand der Discussion geworden sind.
Die erste hierhergehörige Beobachtung habe ich selbst in dem
vorigen Aufsatze mitgetheiit, und ich glaube, dass sie trotz der com-
plicirenden Momente, welche durch die bei der Sectiou gefundenen
meningitischen Producte dem an und für sich klaren. Sachverhalte bei-
gemischt sind, ein ungewöhnliches Interesse beanspruchen darf. Dieses
Interesse liegt in dem Umstände begründet, dass einerseits, die während
des Lebens wahrnehmbaren Erscheinungen von Rindenreizung — Krämpfe
von ihrem ersten Anfange an durch mich selbst in allen ihren Details
— 182 —
verfolgt wurden, dass sich ferner parallel dem äusserlich wahrnehm-
baren Ausgangspunkte der Krämpfe auf der Hirnrinde ein bestimmter
Ausgangspunkt der Ceutralerkrankung auffinden Hess, welcher seiner-
seits wieder durch das mit gleichen Reizeffecten antwortende
Ceutrum des Affenhirns örtlich gedeckt wird.
Der oben beschriebene Abscess hatte seinen Sitz in der vorderen
Centralwindung bei H (Fig. 21). Diese Stelle liegt zwischen dem Centrum
3 und 4 (Fig. 22) des Affengehirns. Bei ihrer Reizung „trat Retraction
der Mundwinkel, Bewegungen der Zunge, sowie der übrigen zur Zunge
in Beziehung stehenden zwischen Kiefer, Zungenbein und Sternum be-
legenen Motorenl ein." Die letztangeführten Bewegungen waren
sämmtlich doppelseitig. Die ersten Krampfanfälle meines Patienten
betrafen namentlich die Muskeln um Mund und Nase, die Muskeln der
Zunge in hohem Grade und zwar doppelseitig, ausserdem in geringerem
Grade solche Muskeln, welche sowohl in der Peripherie benachbart
liegen, als [auch in der Hirnrinde nachbarliche Innervationsherde be-
sitzen — Orbicularis palpebrarum besonders, dann vordere Halsmuskeln.
Unmittelbar nach dem Anfalle bestand eine sehr passagere, aber für
den Moment fast coraplete Lähmung des Facialis und der entsprechenden
Zungenhälfte.
Schon bei diesem Anfalle lässt sich eine allmähliche Verbreitung des
Reizes auf Muskeln, deren Centralorgan beim Affen etwas mehr median-
wärts liegt, nachweisen; zuerst zuckten die Muskeln um den Mund und
die Zungenrauskeln, nachher der Orbicularis palpebrarum (Centrum 3).
Unmittelbar auf diesen Anfall folgte ein anderer, der eine weitere Ver-
breitung des Reizes nach der Mittellinie zu andeutet. „Etwa 10 Minuten
nach dem Sistiren des so eben beschriebenen Anfalls traten ganz ana-
loge klonische Zuckungen von geringer Intensität und Dauer in sämmt-
lichen Beugemuskeln der Finger inclusive des Daumens der linken
Hand (Centrum 2) ein, während gleichzeitig der Facialis nur ein
leichtes Vibriren zeigte." Bald gesellten sich auch Augenmuskeln und
andere Muskeln der oberen Extremität dazu, die Muskeln der unteren
Extremität aber, deren Centrum (1) beim Affen am entferntesten von
der Steile des Abscesses liegt, blieben bis zu Ende in Ruhe. Diejenigen
Muskeln, deren centraler Inuervationsherd nach unten unmittelbar an
den Abscess grenzt, die eigentlichen Herabzieher des Unterkiefers
wurden ebenfalls nicht in Bewegung gesetzt. Man wird hierbei daran
erinnert, dass für die künstliche Kieferöffnung sowohl beim Hunde, als
auch beim Affen stärkere Ströme erfordert wurden. Endlich findet
sich, dass die einzige wirklich zerstörte Stelle im Gehirn, der Abscess,
genau dort sitzt, wo die einzigen bei Lebzeiten gelähmten Muskeln, die
— 183 —
des Gesichtes mul der Zunge i)i der Hirnrinde des Ail'cn ihr motorisches
('Cntralorgan haben. —
Nicht lange nach der Publication meiner Beobachtung erschien
eine in mancher Beziehung ähnliche von Wernher*). Durch ein
Trauma war das linke Schläfenbein verletzt, die Dura und Pia durch-
rissen und die beiden Gyri, welche die Sylvische Grube begrenzen,
gegenüber dem unteren Ausläufer der Rolandischen Furche (W Fig. 21)
zerquetscht. Nachdem schon am zweiten Tage eine leichte Parese dei*
Schliessmuskeln des Unterkiefers und des Levator palpebrae superioris
nebst einer aphasischen Sprachstörung beobachtet war, begannen am
dritten Tage Krämpfe. Dieselben gingen niemals in allgemeine Con-
vulsionen über, sondern beschränkten sich immer auf einzelne Muskel-
gruppen der gegenüberliegenden (rechten) Körperhälfte. Insbesondere
wurde der rechte Mundwinkel, die Nasenflügel, die Lider, die Zunge in
Bewegung gesetzt; ferner machten die Finger krampfhafte Flexions-
und Extensionsbewegungen; auch die Muskeln der rechten Hals- und
Nackenseite waren in ähnlicher Weise betheiligt. Als der Kranke am
sechsten Tage zu Grunde gegangen war, fand sich ausser den erwähnten
Veränderungen, dass auf der Oberfläche der linken Hemisphäre ein im
Zerfallen begriflenes Blutextravasat lag, welches hauptsächlich den
linkeil Stirnlappen einnahm, sich aber auch über den Scheitel- und
Schläfeulappen erstreckte. Die Oberfläche des Frontallappeus war bis
zu ganz geringer Tiefe erweicht, während die Hirnhäute keine wesent-
lichen Veränderungen zeigten.
Durch die letztan geführten Befunde, sowie dadurch, dass die ur-
sprüngliche Läsion sich über drei Windungen erstreckte, wird die Rein-
heit der Beobachtung wesentlich getrübt, ebenso wie die eitrige Menin-
gitis in meinem Falle complicirende Momente eingeführt hatte. Gleich-
W'ohl ist dieser Publication eine grosse Wichtigkeit nicht abzusprechen,
denn nach den früher schon hervorgehobenen Erfahrungen zu schliessen,
darf man kleine Läsionen der Oberfläche ohne anderweitige Zerstörungen
der Hirnsubstanz und ohne Betheiligung der Häute nur höchst aus-
nahmsweise auf dem Sectionstische erwarten. Es wird also wesentlich
darauf ankommen durch fernere Autopsien zu constatiren, ob Verletzungen
des Rolandischen Theiles der ersten Temporalwinduug oder des Sylvi-
sehen Theiles der hinteren Centralwindung partielle Convulsionen hervor-
gebracht haben. Vor der Hand aber dürfte als wesentlich hervor-
'^) Wernher, Verletzung des Lobus frontalis der linken Grosshirnhälfte,
ein Beitrag zur Pathologie der Gehirnverletzungen und zur Localisation der
Gehirnfunctionen. Virchow's Archiv Bd. LVI. H. 3.
— 184 —
zuheben sein, dass wiederum eine Verletzung des unteren Areals der
vorderen Centralwindung localisirte Krämpfe auslöste, welche das
Gesicht, die Zunge, die obere Extremität und den Hals in Bew^egung
setzten, während wie in meinem Falle die untere Extremität, deren
Central punkt am weitesten A'on dem Herde entfernt liegt, in Ruhe
blieb. —
Vergleichen wir hiermit eine Beobachtung von Gr'iesinger*), auf
die M. Bernhardt neuerdings wieder aufmerksam gemacht hat.
Ein 41 jähriger Tagelöhner war plötzlich mit Zuckungen im
rechten Beine, die Anfangs nicht alle Tage kamen und nur ganz
momentan waren, erkrankt.. Später wurden die Anfälle häufiger, so
dass sie selbst mehrmals täglich auftraten. Vier Wochen nach dem
Beginne der Erkrankung wurde auch der rechte Arm convulsivisch
bewegt, während gleichzeitig eine leichte Parese beider Extremitäten
eintrat. Acht Tage später wurde Patient in die Griesinger'sche
Klinik aufgenommen, wobei noch constatirt wurde, dass durch willkür-
liche Bewegungen des Beines sofort ein Krampfanfall hervorgebracht
werden konnte. Dabei dreht sich der Kopf stark nach rechts und es
tritt Zittern und Zucken bald in den Flexoren bald in den Extensoren
der rechten Extremitäten ein. Beide ßulbi stellen sich nach rechts,
beide Pupillen erweitern sich und reagiren nicht, manchmal beide, ge-
wöhnlich ein Facialis betheiligen sich an dem Anfalle; auch die im
Munde liegende Zunge zittert am Ende des Anfalls. Zu Anfang seiner
Krankheit war der Patient nur ausnahmsweise bewusstlos geworden,
später hingegen immer, ohne dass sich jedoch mit Ausnahme der letzten
Zeit seines Lebens Muskeln der andern Körperhälfte betheiligt hätten.
Hingegen war eine anfangs kaum wahrnehmbare Facialis-Paralyse noch
am Todestage nicht recht deutlich geworden, während die Extremitäten
längst ganz gelähmt waren.
Der Kranke starb 80 Stunden nach der Aufnahme. Bei der Section
fand sich zunächst eine 4 cm breite, 4,3 cm lange, 5 — 6 Cysticercus-
Blasen enthaltende Cyste, w^elche unmittelbar der linken Seite der Falx
anlag. Ihr vorderes Ende entsprach einer vom Ohr heraufgezogenen
Linie. Ausser dieser Blase sassen noch 5 etwa bohnengrosse Säcke an
der Oberfläche derselben Hemisphäre und zwar sowohl in den hinteren
Partieen des Scheitellappens als auch auf d'em Stirnlappen. Die bei-
gegebene Zeichnung ist nicht sehr deutlich und es fehlt leider die Be-
nennung der Gyri. Indessen sind doch zwei transversal verlaufende
*) Griesinger, Cysticerken und ihre Diagnose. Gesammelte Abhand-
lungen, Berlin, 1872, Band I, S. 399—443.
— 185 —
Gyri, welche die Stelle der Centralwindungen einnehmen, deutlicli um-
rissen, und wenn ich mit der Zeichnung die Bemerkung, dass eine vom
Ohr heraufgezogene Linie das vordere Ende des Sackes getroffen hätte,
in Beziehung bringe, so scheinen mir diese Gyri allerdings den Central-
windungen zu entsprechen. Denn die genannte Cyste bedeckt die
medialen Ausläufer derselben gänzlich und dehnt sich um ein Geringes
nach vorne und hinten aus.
Vergleichen wir nun die Ausbreitung der Krampferscheinungen
dieses Falles und der beiden anderen augeführten Beobachtungen, so
finden wir, dass die Reihenfolge eine umgekehrte war. Hier wurde
zuerst das Bein, dann der Arm, dann die übrigen Muskeln ergriffen.
So sass dann auch die grösste Cyste an dem medialen Rande der
Hemisphäre zunächst dem Centralpunkte für die untere Extremität,
während in den beiden anderen Fällen die Läsion den lateralen Theil
einnahm. Allerdings ist auch diese Beobachtung nicht rein, denn nicht
nur occupirte der Sack den Bereich mehrerer Windungen, sondern es
fanden sich auch mehrere andere, wenn gleich viel kleinere Blasen an
anderen Stelleu des Gehirns. . Mit Bezug hierauf könnte ich nur die
anlässlich der vorigen Beobachtungen gemachten Bemerkungen wieder-
holen.
Uebrigens würden auch die später auftretenden linksseitigen Krampf-
anfälle ihre Erklärung in einer stark haselnussgrossen Blase finden,
welche offenbar an der unteren Grenze des medialen Drittels der
vorderen Centralwindung lag, wenn es nicht sein Missliches hätte,
Schlüsse aus Krampfanfällen ziehen zii wollen, die den Charakter der
epileptischen schon angenommen haben. —
Grösseres Literesse gewinnen diese Beobachtungen noch durch einige
kriegschirurgische Erfahrungen, welche Löffler*) mittheilt, und auf die
Th. Simon**) bereits die Aufmerksamkeit gelenkt hat.
Im Anschlüsse an die Beobachtung Griesinger's isr zunächst
Löffler's Fall 23***) von Literesse. Hier bestand eine Schussfractur
beider Scheitelbeine auf der Höhe des Scheitels. Die Wunde war
etwa 8 Groschen gross, die Dura nicht verletzt, hingegen nach innen
gedrückt. Hier nun waren beide Beine gelähmt und liy perästhetisch,
während anderweitige Lähmungserscheinungen nicht eintraten.
*) Löffler, Generalbericht über den Gesundheitsdienst im Feldzuge
gegen Dänemark 1864, Berlin 1867.
I «I ^**) Th. Simon, Zur Pathologie der Grosshirnrinde. Beii. Idin. Wochen-
schr. 1873. No. 4 und 5.
***) Löffler, A. a. 0. S. 89f. ■
— 1.86 —
Daran reiht sich der A'ollkoramen mit den angeführten Thatsachen
im Einklänge stehende 19. Fall*). Ein dänischer Untercorporal war
am vorderen oberen Winkel des linken Scheitelbeins nahe der Pfeilnaht
durch eine Flintenkugel verwundet worden. Es bestand eine 2 Zoll
lange, ^/^ Zoll breite und 4 Linien tiefe Depression. Bei der Trepanation
wurde ein 12 Linien langes, 5 Linien breites und 2^/2 Linien dickes
Knochenstück entfernt, welches die Dura durchbohrt und den Sinus
longitudinalis verletzt hatte. „Im Moment der Verletzung war der
Soldat zusammengebrochen und nicht mehr von der Stelle gegangen,
weil das rechte Bein vollkommen bewegungs- und gefühllos
geworden." Am siebenten Tage nach der Verwundung dehnte
sich die Lähmung über den rechten Arm aus; verschwand aber
aus diesem Gliede bald wieder, während sich die Lähmung des Beines
langsam verbesserte. Also auch in diesem Falle betraf eine Läsion der
Scheitelhöhe der vorderen Central winduug (die vorderste Partie des
Scheitelbeines deckt die vordere Centralwindung) zunächst die Innervation
des Beines und breitete sich dann entsprechend der Lage der Centreu
auf den Arm aus, ohne die übrigen Muskeln des Körpers, insbesondere
die des Gesichts in ihr Bereich zu ziehen.
Der Kranke des Falles 11**) hatte einen Splitterbruch durch eine
streifende Flintenkugel erhalten. Das rechte Scheitelbein war auf
seiner Höhe in der Ausdehnung von 1 Zoll Länge und 1/4 Zoll Breite
zerschmettert. Bei der Section fand sich ein Hühnerei grosser Abscess.
Die Extremitäten waren sofort gelähmt gewesen, der Facialis wurde
jedoch erst am 11. Tage paretisch und am 12. Tage deutlicher gelähmt. —
Auch im Falle 20***) hatte eine Schussfractur der Höhe des rechten
Scheitelbeins ausschliesslich zu einer Parese der linken unteren Ex-
tremität geführt. —
Th. Simonf) endlich beschreibt den Fall eines dementen Knaben,
der neben Aphasie rechtsseitige Extremitäten-Lähmung und Contractar
hatte. Der Facialis war hingegen bis zu Ende freigeblieben. Bei der
Section wurde Atrophie und Sklerose der linken Grosshirnrinde ohne
Betheiligung tieferer Schichten gefunden. Der Process hatte die untere
Hälfte der hinteren Centralwindung, die unterste Spitze der vorderen,
die Inselwindungen, die ganzen hinteren zwei Drittel der dritten Stirn-
windung, die Parietal -Windungen mit Ausnahme der obersten und
*) Löffler, A. a. 0. S. 82 ff.
**) Löffler, A. a. 0. S. 73.
***) Löffler, A. a. 0. S. 88.
'[) Th. Simon, A. a. 0. No. 5.
— 187 —
sämmtliclie Occipital -Windungen zerstört. Diejenigen Tlieilo indessen
wo die Centralpunkte für den Facialis und die Extremitäten zu suchen
wären, waren verschont geblieben. Die während des Lebens an den
Extremitäten beobachteten Motilitätsstörungen würden sich also aus dem
Leichenbefunde in so einfacher Weise nicht erklären, während die Ver-
schonung des Facialis immerhin bemerkenswerth erscheint. Simon
selbst ist zu vorsichtig, um aus einem chronisch verlaufenden Falle,
der mit einem so ausgedehnten Rindendefect endete, weitgehende Schlüsse
ziehen zu wollen. —
Wenn wir nun einen Rückblick auf die angeführte Casuistik werfen,
so zeigt sich, dass die üebereinstimmung in den Symptomen der einzelnen
Fälle, so klein ihre Zahl auch sein mag, werth volle Anhaltspunkte für
die uns beschäftigende Frage ergiebt. üeberall finden wir, dass
Läsionen der Höhe des Scheitellappens von Motilitäts-
störungen der Extremitäten begleitet sind, und dass Läsionen
der Basis des Scheitellappens Motilitätsstörungen im Be-
reiche der Mund- und Zungenmuskulatur auslösen. Werden
grössere Abschnitte der vorderen Centralwindung in den Bereich der
Affection gezogen, so betheiligen sich mehr und mehr Muskelgruppen,
insbesondere auch der Rest des Facialis.
Auf der anderen Seite kann ich nicht unterlassen die Aufmerksam-
keit auf diejenigen Beobachtungen zu lenken, bei denen der Stirnlappen
durch äussere Gewalt fast gänzlich vernichtet war, ohne dass irgend
welche Motilitätsstörungen nachgewiesen werden konnten. Diese Fälle
sind so zahlreich und bekannt, dass ich die Mittheilung einer Auslese
derselben für überflüssig erachte.
Ich bin weit entfernt — das brauche ich wohl kaum zu sagen —
hiermit die angeregten Fragen für abgeschlossen zu erachten. Indessen
lehrt gerade die Gegenüberstellung der immensen, von keinen Motilitäts-
störungen begleiteten Verletzungen des Stirnlappens und der kleinen,
durch wohlumgreuzte Alterationen der Bewegung charakterisirten
Läsionen des Scheitellappens, dass die grössere Wahrscheinlichkeit für
die eingangs von mir entwickelten Ansichten spricht. Es kann nicht
fehlen, dass die von mir in dem vorigen Aufsatze ausgesprochene
Hoffnung allmählich in Erfüllmig geht, dass es durch Vergleichung
vieler analoger Fälle gelingen wird, das Unwesentliche in
den Symptomen zu erkennen und auszuscheiden.
Anmerkungen.
22) Die Localisation der motorischen Function auf der Hirnrinde des
Affen hat seither die merkwürdigsten Wandlungen erfahren. Ferrier fand bei
seinen Reizversuchen, dass die motorischen Centren beide Centralwindungen
einnehmen und ausserdem noch combinirte Augen- und Kopfbewegungen, sowie
Ohrbewegungen von der frontalen, occipitalen und sphenoidalen Nachbarschaft
der Centralwindungen aus hervorzubringen sind.
Weit ausgedehnter ist das motorische Gebiet, von ihm bekanntlich Fühl-
sphäre genannt, bei H. Munk-*). Es nimmt mit Ausnahme des Hinterhaupts-
und Schläfenlappens die ganze Convexität ein. Namentlich reicht die Region
für das Hinterbein vom Sulcus parieto-occipitalis bis zur vorderen Grenze der
vorderen Centralwindung und die Vorderbeinregion über die mittleren Theile
beider Centralwindungen und die hintere Hälfte des medialen Theiles des
Stirnlappens bis an die grosse Längsspalte. Das Orbiculariscentrum, welches
sich bei ihm zu einer Fühlsphäre des Auges entwickelt hat, und welches er
identisch mit dem Orbiculariscentrum des Hundes beschreibt und benennt,
liegt nicht in der vorderen Centralwindung, sondern nimmt beim Atfen den
Gyrus angularis ein. Wie Munk zu dieser Kenntniss gelangt ist, th eilt er uns
ebensowenig mit, als anlässlich der betreffenden Versuche an Hundegehirnen;
wir erfahren nur, dass es sich um Exstirpatipnsversuche handelt. Da er
meinen eigenen Versuch und die Ansichten, die ich mir auf Grund desselben
gebildet hatte, gar nicht erwähnt, so konnte er ohne Schwierigkeit jeder Er-
klärung der Differenzen zwischen seinen Ergebnissen und den meinigen aus
dem Wege gehn.
In einer späteren Arbeit**) wird dann mitgetheilt, dass er neben grösseren
auch kleinere Exstirpationen vorgenommen hat und dass „die Rindenstellen,
von welchen aus durch scliAvache elektrische Reizung Bewegungen eines Körper-
theiles zu erzielen sind, immer innerhalb derjenigen Region gelegen sind,
welcher derselbe Körpertheil nach den Ergebnissen der Exstirpationen zu-
gehört". Aber auch hier fehlt es an jeder näheren Angabe über den Ort und
den Grad der angewendeten Reizung und die irt des erzielten Reizeffectes,
so dass wir z. B. nicht erfahren, ob dieselbe Stromstärke, welche in der vor-
deren Centralwindung das Hinterbein in Bewegung setzte, den gleichen Reiz-
eifect auch in der hinteren Partie des oberen Scheitelläppchens hatte, oder wie
dieser Reizeffect ausfiel und ob der Orbicularis palpebrarum von der vorderen
Centralwindung oder vom Gyrus angularis (Augenregion) aus in Thätigkeit zu
versetzen war.
Endlich im Jahre 1896, also 16 Jahre nach jener 1. Mittheilung, giebt
*) Munk, Gesammelte Mittheilungen. 1890. S. 50, 51.
**) H. Munk, Ueber die Fühlsphären der Grosshirnrinde. Sitzungsbe-
richte etc. 1892.
— 189 —
Munk*) nähere Auskunft über den Erfolg von Partialexstirpationen der Extre-
mitätenregionen. Da aber auch diese immer grössere Abschnitte betreffen, so
wird die Frage nach der Ausdehnung dieser Regionen keineswegs, am aller-
wenigsten in seinem Sinne entschieden. Ebensowenig sind die bei derselben
Gelegenheit berichteten Resultate von Reizversuchen, welche Munk wesentlich
im Interesse der Polemik gegen die gleich zu erwähnenden Versuche von
Beevor und Horsley anführt, da sie viel zu summarisch gehalten sind, ge-
eignet, den hier in Frage gestellten Sachverhalt aufzuklären. Namentlich geht
aus keiner der angeführten Arbeiten hervor, ob er den Focus für den Orbicu-
laris wie ich in die vordere Centralwindung oder in seine Augenregion, den
Gyrus angularis localisirt.
Beevor und Horsley haben eine Reihe von Untersuchungen an Affen-
gehirnen vorgenommen, auf die wir hier nicht näher eingehen können**). Es
genügt hervor zu heben, dass diese Autoren bei Anwendung des Induk-
tionsstromes das wirksame Reizgebiet bei kleineren Affen fast ebenso gross als
Munk fanden, während sie es bei dem Orang Utang der Hauptsache nach auf
die vordere Centralwindung begrenzen konnten. Nur der Daumen fand sich
gegenüber einem anderen Focus für den Daumen auch in der hinteren Central-
windung repräsentirt, ebenso der Zeigefinger gegenüber den anderen Fingern
und gleichfalls der Orbicularis palpebrarum gegenüber dem Orbicularis pal-
pebrarum sowie endlich die Mundmuskulatur gegenüber der Mundmuskulatur
in der vorderen Centralwindung. Im Uebrigen liegen die einzelnen Central-
gebiete : Untere Extremität, obere Extremität, Facialis und Fresswerkzeuge
etc. in derselben Reihenfolge wie bei meinem Versuch in der vorderen Cen-
tralwindung. Auf die feinere Detailirung und Localisirung der einzelnen Be-
wegungsformen und Combinationen, die Beevor und Horsley bei ihren zahl-
reichen Versuchen aufdecken konnten, hier näher einzugehen, muss ich mir
versagen.
Endlich haben Grünbaum und Sherrington***) durch unipolare
Reizung an anthropoiden Affen, insbesondere dem Schimpansen, die Reprä-
sentation sämmtlicher von mir namhaft gemachter Muskelgruppen und dazu
die der anderen mir entgangenen Muskeln in der vorderen Centralwindung
nachgewiesen und zwar fanden sie die einzelnen Centren in der gleichen
*) H. Munk, Ueber die Fühlsphären der Grosshirnrinde. Sitzungsbe-
richte etc. 1896. S. 17—21.
**) Beevor und Horsley, A minute analysis of the various movements
produced by stimulating etc. Philosophical Transactions 1887. Dieselben:
A further minute analysis by electric Stimulation etc. (Macacus sinicus). Ebenda
1888. Dieselben: A record of etc. Electrical excitation etc. in an Orang
Utang. Ebenda 1890.
***) Grünbaum und Sherrington, Observations on the physiology of
the cerebral cortex of some of the higher apes. Proc. of the Royal Society.
Vol. 69.
— 190 —
Reihenfolge gelagert, wie ich dies angegeben hatte. Hiernach scheint mir
der Sachverhalt so klar als nur möglich zu liegen. Exstirpationsversuche
allein vermögen zwar Licht auf die Function des angegriffenen Rindentheils
zu werfen, aber für die Begrenzung der einzelnen Function auf die Rinde
bedeuten sie nur wenig. Wenn eine Function durch Exstirpation eines be-
stimmten Rindenstiiokes nicht beeinträchtigt wird, so erwächst daraus freilich
die Wahrscheinlichkeit, dass diese Parthie mit der fraglichen Function nichts
zu thun hat; wird sie aber beeinträchtigt, so lässt sich wegen der durch den
Eingriff bedingten Nebenwirkungen keineswegs schliessen, dass der zerstörte
Rindentheil in der Norm in directen Beziehungen zu jener Function steht und
das um so weniger, als ein grosser Theil der durch kleine Exstirpationen ge-
setzten Störungen der Function höchst vergänglicher Natur ist.
Es bleiben also die Reizversuche. Werden diese mit den nöthigen Cau-
telen angestellt, so gelingt es immer, eine ganz kleine Stelle ausfindig zu
machen, die aufStröme von minimaler Stärke mit einer bestimmten motorischen
Reaktion und nur mit dieser antwortet. Diese Stelle ist als der eigentliche
Focus der Function, als der Mittelpunkt des Durchgangspunktes anzusehen,
durch welchen die frei gewordenen Kräfte eines grösseren benachbarten Areals
sich nach aussen entladen. Wie gross die den einzelnen Focis zugeordneten
nachbarlichen Regionen in jedem Einzelfalle sind, dürfte sich durch die uns
bekannten Untersuchungsmethoden kaum entscheiden lassen. Es kommt also
vornehmlich und ganz besonders auch in praktischer Beziehung auf die Auf-
suchung jener Reizpunkte — Foci -■ selbst an. Diese werden mit um so
grösserer Sicherheit aufzufinden sein, je sorgfältiger die erforderlichen Cautelen
beobachtet werden. Bis zum Ueberdrusse habe ich wiederholt, dass nur die
Verwendung schwacher Ströme und nur die Combination der galvanischen und
der faradischen Reizmethode zu sicheren Resultaten führen könne, ohne dass
ich doch damit allgemeines Gehör gefunden hätte. Wie sehr ich im Rechte
war, das zeigt wohl am besten der Ausgang dieses Streites. Wenn jetzt
Grüübaum und Sherrington bei Troglodytes niger zu denselben Resul-
taten gekommen sind, wie ich bei Innuus Rhesus, soviärd niemand glauben, dass
die anatomischen und physiologischen Verhältnisse beim Orang und niedri-
geren Affen andere seien, d. h. also, dass die fraglichen Centren in anderen
Windungen lägen, sondern man wird die Ursachen der abweichenden Resul-
tate der Versuclie mit Recht in den angewendeten Methoden und den ander-
weitigen Differenzen der untersuchten Gehirne suchen. Und hierin liegen sie
in der That. Hauptsächlich kommt die Grösse der untersuchten Gehirne in
Betracht. Je kleiner das Gehirn, um so weniger sind die einzelnen Centren
auseinander zu halten und um so leichter diffundiren Ströme aus der Nachbar-
schaft. So erklärt sich ohne Weiteres die angebliche motorische Erregbarkeit
der hinteren Centralwindung aus der Diffusion von Strömen nach der hinteren
oder auch der vorderen Lippe der Centralfurche oder gar der oberflächlichen
Substanz der vorderen Centralwindung.
Ich bin wirklich sehr weit entfernt, den Werth jenes einen im Text
— 191 —
publizirten Versuches am Affen, den ich später nur noch wenige Male be-
stätigen konnte, zu überschätzen; aber dieBehandliing als quantito ncgligoable,
wie sie ihm meistens zu Theil geworden ist, hat er denn doch nicht verdient.
Im Gegentheil hat der Erfolg gelehrt, dass man bei Anwendung richtiger Me-
thoden und genügender Sorgfalt auch an .kleinen Affen alles Wesentliche zu
erkennen vermag und dass ein einziger solcher Versuch unter Umständen
mehr werth sein kann, als zahllose andere weniger vorsichtig ausgeführte Ver-
suche.
23) Schon hier habe ich mich über die Zugehörigkeit der vorderen Cen-
tralwindung zum Scheitellappen unbestimmt ausgedrückt, wenn ich auch in
dem Folgenden, um überhaupt einen descriptiven Ausdruck zu gewinnen, die
motorische Region als zum Scheitellappen gehörig bezeichnete. Sehr bald
jedoch, schon während meiner Züricher Thätigkeit (1875 — -79) habe ich mich,
abweichend von den verschiedenen damals üblichen Nomenclaturen daran ge-
wöhnt, die Centralwindungen von den anderen Hirnlappen abzusondern und
sie als „Lappen der Centralwindungen" (im Gegensatz zum „Centrallappen",
Reil'sche Insel) zu bezeichnen.
24) Die Identificirung von g und h mit der „Scheitelregion", welche
sich ursprünglich im Texte fand, war sicherlich unrichtig.
25) Obwohl ich meine Ansichten über die Bedeutung der Furchen noch
weiter geändert habe, habe ich die vorstehenden Auslassungen doch unver-
ändert stehen lassen, weil es unmöglich gewesen wäre den einmal vorhandenen
Text meinen gegenwärtigen Anschauungen anzupassen. In der Literatur haben
sich mancherlei Bestrebungen, die Centralfurche mit dieser oder jener Furche
der Gehirne niederer Säuger, z. B. der Carnivoren zu identificiren, geltend ge-
macht. Einzelne haben, ich will jetzt nicht erörtern weshalb, meine längst
aufgegebene Ansicht, dass sie dem Sulcus cruciatus entspräche, wieder auf-
gegriffen. Andere haben, indem sie das -Bärengehirn zum Vergleich herbei-
zogen, ihr Homologen in dem Sulcus suprasylvius anterior gesucht. Ich bin
der vielleicht etwas ketzerischen Ansicht, dass ein Homologen der Central-
furche bei den niederen Säugern überhaupt nicht existirt und dass es auch
sonst ein vergebliches Beginnen ist, die einzelnen Furchen und Windungen
verschiedener Species mit Bezug auf ihre physiologische Function, so wie
dies von mir und anderen versucht worden ist, identificiren zu wollen.
Der im Text von mir ausgesprochenen Ansicht Reichert's, dass die
Furchen nur Ernährungswege darstellen, auf denen die Gefässe am bequemsten
in die Hirnmasse eindringen können, gebe ich vielmehr noch insofern eine
fernere Folge und Erweiterung, als ich annehme, dass die Gestaltung der
Furchen lediglich durch die Gestaltung der Schädelkapsel und der damit in
Zusammenhang stehenden Configuration des Gehirns ist. Sie ergiebt sich also
als etwas an sich Gleichgültiges, der grössten Variation Zugängliches und nur
insofern Gesetzmässiges, als sie der Gesetzmässigkeit derjenigen Factoren, von
denen sie abhängt, in grossen Zügen folgt. So beweist also z. B. die ver-
schiedene Lagerung des Sulcus cruciatus bei verschiedenen Species an sich
— 192 —
nicht, dass sich die ihn bei der einen Species umgebenden Centralgebiete von
bestimmter physiologischer Function bei der anderen Species entsprechend ver-
schoben haben.
Dagegen hat sich die im Text gegebene Identificirnng der motorisch er-
regbaren Gyri des Hunde- und Kat^engehirns einerseits, mit einer bestimmten
Region des Affen- und Menschengehirns andererseits in der glänzendsten Weise
als richtig erwiesen (vergl. oben), und gerade hieraus ergiebt sich auch die
Richtigkeit meiner vorstehenden Ansicht über den Werth oder den ünwerth
der Furchenbildung.
Der Werth der Furchenbildung für die Vergrösserung der Oberfläche wird
natürlich durch alle diese Auslassungen garnicht berührt.
IX. Kritische und experimentelle Uiitersiichimgeii zur Physiologie
des Grosshiriis, im Aiischluss an die Untersuchungen der Herren
L. Hermann, H. Braun, C. Carville und H. Duret.
Die Arbeit L. Hermann 's*) beginnt mit folgendem Satze:
„Meine Versuche hatten den Zweck zu entscheiden, inwieweit
„der von verschiedenen Seiten erhobene Einwand berechtigt sei,
„•dass die Erfolge der Fritsch-Hitzig'schen Reizversuche an der
„Hirnrinde nicht von Erregung der Rindenstellen selbst, sondern
„von der tiefer gelegener Theile herrühren."
Diese Entscheidung wäre nach Hermann in folgender Weise
herbeizuführen :
„ — — der Erfolg muss ausbleiben, wenn man die der Electroden-
,.stellung unmittelbar anliegende Hirnpartie fuuctionsunfähig macht,
„Diese Prüfung war die Hauptaufgabe meiner Versuche**)"
Dem entsprechend zerstörte Hermann bei sieben Hunden unser
sogenanntes Centrum für das Hinterbein theils durch Aetzung, theils
durch Exstirpation, theils durch Combiuation von Aetzung und Exstir-
pation, reizte von Neuem und da der Reizeffect nun nicht ausblieb,
schliesst er seine Arbeit mit folgendem Satze:
„Ich schliesse mit der Behauptung, dass die Versuche von
Fritsch und Hitzig, so interessant und schätzbar sie sind, zu
keinerlei Schlüssen hinsichtlich der Functionen der
Grosshirnrinde berechtigen ** *) " .
Zur Begründung der vorstehenden Behauptung verwerthet Her-
mann noch eine Reihe anderer Argumente, welche wir später ins
Auge zu fassen haben. Zuvörderst erhebt sich die Frage, einmal ob
*) L. Hermann, Ueber elektrische Reizversuche an der Grosshirnrinde.
Pflüger' s Archiv, Bd. X. S. 77—85.
**) A. a. 0. S. 79.
***) A. a. 0. S. 84.
Hitzig, Gesammelte Abhancll. I. Theil. 13
— 194 —
diejenigen, von Hermann beigebrachten Thatsachen, deren Fest-
stellung er selbst als die Hauptaufgabe seiner Versuche bezeichnet,
richtig sind, sodann ob sie, diesen Fall vorausgesetzt, das be-
weisen, was sie beweisen sollen.
Die erste Hälfte dieser Frage kann ich nun um so mehr bejahen,
als ich darüber nicht nur eigene, wiederholt ausgesprochene*) Erfah-
rungen besitze, sondern auch, wie man sehen wird, eine andere Mög-
lichkeit garnicht existirt, gleichviel wer mit seiner Ansicht von dem
Zustandekommen der Reizeffecte Recht hat. Es ist also ganz richtig,
dass nach Aetzung oder Abtragung der oberflächlichen Schichten
unserer sogenannten Centra ,die elektrische Reizung fernerhin Zuckungen
in den vorher bewegten Motoren setzt.
Die zweite Hälfte dieser Frage muss ich verneinen, und die Be-
gründung meines Widerspruches dürfte um so mehr ins Gewicht fallen,
als es sich einfach um die Praemisse für den von Hermann angetre-
tenen Beweis handelt.
Unter einer Bedingung würde die Hermanusche Argumentation
zutreffen, nämlich dann, wenn ich behauptet hätte, in der Rinde lägen
motorische Cent ren, deren Function neben der vitalen organischen Er-
regung durch die elektrische Erregung ihrer eigenen Substanz
und nur durch diese zur Anschauung gebracht werden könnte.
Allerdings müsste dann folgerecht der Reizeifect mit dem Fortfall
dieser Substanz erlöschen. Hermann hat nun wirklich diese Ansicht
aus meinen Arbeiten herausgelesen, obwohl ich sie weder ausgesprochen
noch jemals gehabt habe. Es liegt mir ob, das jetzt zu beweisen und
dabei soll nicht verschwiegen werden, welcher Theil der Schuld an
diesem Missverständniss etwa mich selbst trilft.**)
Dass Hermann glaubte, Fritsch und ich hätten die erzielten
Reizeffecte auf motorische Centra selbst bezogen, geht aus der
ganzen Tendenz, insbesondere aber aus folgendem Passus seiner Arbeit
hervor :
„Der von den Verfassern und vielen Anderen hieraus (Reiz-
„versuche) gezogene Schluss, dass an diesen Stellen motorische
„Centra liegen, ist gänzlich ungerechtfertigt. Ganz ab-
„gesehen von dem allgemeinen Satze, dass man ein motorisches
*) z. B. auch in dem Gentralblatt für niedic. Wissensch, 1874. 35.
Nur benutzte ich den Da viel 'sehen Löffel, während Hermann sich eines
Korlcbohrers bediente.
**) Ich habe die Verantwortlichkeit für die Redaction der sämmtlichen
in meinem Buche enthaltenen Abhandlungen zu übernehmen.
— 195 —
„Ceiitrum überhaupt nie durch Reizversuche erkennen kann, ist
„der Einwand, dass die Erfolge von Reizung tiefer gelegener Theile
„hergeleitet werden können, nicht widerlegt.*)"
Ich lasse nun gern dahingestellt, ob man motorische Centra er-
regen kann oder nicht, denn da ich denselben niemals Erregbarkeit
vindicirt habe, so ist das für die vorliegende Streitfrage gleichgültig.
Der Ausdruck „Centrum" ist in meinen Arbeiten promiscue mit Reizpimkt
gebraucht worden, und was ich damit meinte, das habe ich sehr oft und
ganz deutlich gesagt. So steht z. B. S. 17 meines Buches, wo das
ominöse Wert zuerst vorkommt, dass es nur der Kürze wegen gebraucht
wird, und S. 58 Anm. heisst es ausdrücklich: „Der mit allem Vor-
^,behalt gebrauchte Ausdruck Centrum hat nur zur Bezeichnung der
„erregbarsten Stellen gedient."
Ausserdem brauche ich mich aber ebensowenig wie irgend einer
meiner Widersacher an das Wort „Centrum" und was ich wohl damit
gemeint haben könnte, zu klammern; "denn ich habe meine Ansicht
über das, was etwa auf den Reiz geantwortet haben könnte, in meiner
ersten hierher gehörigen Abhandlung ebenfalls höchst ausführlich und,
wie ich denke, hinlänglich klar auseinandergesetzt. Schon damals hielt
ich Ausdrücke wie „Centrum", „Rinde", „oberflächliche Lage" u. dgl.
für zu vage, um mich ihnen allein für immer anzuvertrauen, und zog
es deswegen vor, ein für allemal auch die morphologischen Elemente
auf ihre Erregbarkeit anzusehen, um keinen Zweifel über den Sinn
meiner Redewendungen aufkommen zu lassen. Bekanntlich giebt es
keine scharfe Trennung zwischen Rinden- und Marksubstanz des Gehirns,
sondern die Markfasern bilden an der untersten Rindenschicht durch
ihr Einstrahlen in die eigentliche graue Substanz eine Art von üeber-
gangszone, welcher möglicher und sogar wahrscheinlicher Weise ge-
wisse Eigenschaften sowohl der weissen als der grauen Substanz zu-
kommen. Auf diese Zone musste unter allen Umständen Rücksicht
genommen werden, denn wenn die gangliöse Substanz nicht erregbar
war, so wurde es sehr wahrscheinlich, dass gerade sie — weil von
Markfasern führenden Schichten den Einströmungsstellen am benach-
bartesten — den Angriffspunkt des Reizes abgäbe. Nun habe ich aber
ebensowenig behauptet, dass die eigentliche Rinde — oder wie ich mich
vorsichtiger Weise ausdrückte, — die gangliöse Substanz erregbar
sei, als ich behauptet habe, dass ich Centren zu erregen vermöge. Her-
mann nimmt dies freilich an, denn er sagt: „Hitzig muss sich die
„Lage seiner Centren an der all er ausser sten Oberfläche vorstellen;
*) A. a. 0. S. 82. 83.
13'
— 196 —
sonst könnte maii seine Angaben vom „lieber wiegen der Anode" nicht
verständlich finden." Hier muss ich einen [principiellen Protest ein-
schieben. Meine Angaben über das üebei'wiegen der Anode waren
lediglich objectiver Natur, frei von jeder Deutung, die Beschreibung
dessen, was ich gesehen habe, und stehen darum für die Aussenwelt
so' lange in gar keiner Beziehung zu meinen Vorstellungen über Lage
der Organe, welche gereizt wurden, bis ich selbst eine solche Bezie-
hung herstelle. Es steht hingegen Jedermann frei, die Richtigkeit
meiner Angaben zu prüfen, festzustellen, wo das erregte Organ liegt,
und dann auf seine eigene Gefahr weiter zu schliessen. Ich glaube, es
genügt, wenn man, wie ich,' mit Bezug hierauf sagte: „Wir ziehen vor,
Ulis „der Betrachtungen über den Zusammenhang der zuletzt angeführten
Erscheinungen zu enthalten,"*) um mich vor jeder Supposition von
Ansichten zu schützen, ebenso wie es eigentlich genügen sollte, wenn
ich sagte**): „Nehmen wir selbst an, der Beweis für Auslösung der
fraglichen Bewegungserscheinungen durch die gangliöse Substanz sei
geliefert — und er ist es nicht,"***) um mich vor der Ansicht zu
schützen, als hätte ich die Erregbarkeit gerade dieser gangliösen Sub-
stanz beweisen wollen.
Jetzt wolle der Leser sich aber vergegenwärtigen, wie klar und
ausführlich, ich f) meine Meinung über das,^ was in dieser Beziehung
bewiesen und nicht bewiesen ist, ausgedrückt habe:
„^ — wenden wir uns zu der Erörterung der Frage nach dem
„Werthe der grauen. und weissen Substanz für das Zustandekommen
.„der von uns beschriebenen Reizeffecte. Wird die Frage in dieser
i ■ „Form, gestellt, so dürfte es zu einem Tlieile bereits jetzt möglich
„sein, sie befriedigend zu beantworten. Wollte man aber statt der
„allgemeineren Begriffe graue und weisse Substanz die Worte Fasern
„und Zellen sich einander gegenüberstellen, so liesse sich auch die
„Möglichkeit einer Lösung bisher nicht absehen. Demi da sich in
„der grauen Substanz Fasern und Zellen untrennbar mischen, ist
„eine isolirte Untersuchung der einzelnen morphologischen Bestand-
„theile unausführbar. Selbst wenn also der directe Beweis der Er-
„regbarkeit auch, für die graue Substanz geführt worden wäre,
„würde man immer noch einwenden können, dass nicht die Ganglien-
„zelleiT, sondern die zwischen ihnen verlaufenden Nervenfasern dieser
*) S. 20.
**) S. 29.
***) Im Original nicht gesperrt,
t) S. 29 f.
— 197 -^
„Substanz den eigentlich erregten Tlieil abgäben. Für den Augon-
„blick stellt die Frage so, dass wir durch die oben angeführten
„Versuche über das Einstechen isolirter Nadehi die Erregbarkeit
„der Marksubstanz hinlänglich bewiesen haben. Da nun die wesent-
„lichen nervösen Bestandtheile der Marksubstanz — die Nerven-
„fasern — sich mit den gleichen anatomischen Eigenschaften in die
„Rindeusubstanz fortsetzen, liegt kein Grund vor, eine wesentliche
„Aeiiderung ihrer physiologischen Eigenschaften eher anzunehmen,
„als ihre anatomische Continuität durch neue Gebilde unterbrochen
„wird. Aus diesem Grunde lässt sich die Erregbarkeit eines Theiles
„der Fasern auch der Rinde mit Recht voraussetzen. Ob dieselben
„nun allein oder ob auch die Zellen erregbar sind, das ist, wie ge-
„sagt, mit den bisherigen Mitteln nicht hinlänglich sicher zu ent-
„scheiden."
Fassen wir nun das in diesen Citaten Gesagte zusammen, so er-
giebt sich als meine Meinung, die ich wirklich auch jetzt motivirt
kaum besser auszudrücken wüsste:
1) Die Erregbarkeit der Marksubstanz haben wir bewiesen.
2) Die Erregbarkeit der Rindensubstanz können wir weder beweisen
noch bestreiten.
3) Die Erregbarkeit des faserigen Theils der üebergangszone
halten wir — allerdings auf Grund einer Deduction — für wahr-
scheinlich.
Kurz und gut, der Angriff Hermann' s, insoweit er die von mir
angeblich behauptete Erregbarkeit von Centren oder die ganz ober-
flächliche Lage der erregten Theile betrifft, ist durchaus gegenstandslos.
Ich bin deshalb auch der Besprechung des von Hermann aus der
Widerstandsfähigkeit der Rinde gegen die Einflüsse der Luft hergelei-
teten Einwandes überhoben.
Nun hatte ich oben gesagt, der Erfolg des Herrn ann'schen com-
biuirten Exstirpatious- und Reizversuches sei unter allen Umständen
nothw endig. Mir scheinen nur folgende Möglichkeiten zu existiren:
1) Entweder hätte Hermann Recht, die erregten Theile lägen in
der Tiefe: dann ist natürlich kein Grund vorhanden, warum der Reiz-
effect bei Annäherung an dieselben aufhören sollte.
2) Oder ich hätte mit der Ansicht Recht, welche man bei mir
zwischen den Zeilen lesen konnte, wenn man überhaupt dort etwas
suchen wollte, die erregbare Substanz begönne in der üebergangszone:
so lag auch kein Grund vor, warum die Erregbarkeit nach Abtragung
der Rinde, selbst incl. der üebergangszone, aufhören sollte, denn die
Erregbarkeit der Marksubstanz war ja besonders nachgewiesen worden,
— 198 —
und die Uebergangszone würde ihre Erregbarkeit den Markfasern ver-
danken.
3) Endlich die von Hermann bei mir vorausgesetzte Ansicht wäre
richtig gewesen, nämlich die oberflächliche Schicht wäre erregbar; so
war schon a fortiori wegen der mehr peripheren Lage anzmiehmen,
dass auch das dazu gehörige Büschel von Leitungsfasern erregbar sein
würde, selbst wenn der Beweis dafür nicht ausdrücklich geführt
worden wäre. Daran hat Hermann allerdings wohl gedacht. Denn
er sagt*): „Man kann nun weiter behaupten, nach dieser Zerstörung
„treffe der Reiz noch motorische Fasern, die von dem zerstörten Cen-
„trum ausgingen; aber wenn'es solche Fasern in der Tiefe giebt, wo bleibt
„der Beweis für das oberflächliche Centrum ? Kann nicht am unver-
„sehrten Hirn der Erfolg durch ebendieselben tiefen Fasern erklärt
„werden?" Gewiss kann und soll er das**), und der Beweis für ober-
flächliche Centra, von deren Existenz ich freilicli nach wie vor über-
zeugt bin, konnte und sollte, wie man sehen wird, durch die Reiz-
versuche allein überhaupt nicht geführt werden.
Bleiben wir indessen zunächst noch bei unseren Reizversuchen und
den von Hermann gegen dieselben gerichteten Angriffen stehen. Wir
finden da auf S. 77 folgenden Passus: „Niemand konnte sich beim Be-
„kanntwerden dieser Versuche des Staunens erwehren, dass die grosse
„Mehrzahl der erfahrensten und sorgfältigsten Experimentatoren eine so
„leicht zu constatirende Erregbarkeit der Hirnrinde nicht blos über-
„sehen, sondern geradezu bestritten haben sollten, und dass nach den
„Verfassern selbst die Erregbarkeit, was sonst unerhört ist, auf elek-
„trischen Reiz beschränkt sein soll. Der Verdacht lag ungemein nahe,
„dass die Verfasser ihre positiven Resultate einer von den früheren
,, vermiedenen oder nicht erreichten Höhe der Stromstärken verdankten,
„durch welche in der Tiefe gelegene motorische Apparate in Action
„gesetzt wurden."
1) Thatsächliche Berichtigung: Die Verfasser haben niemals be-
hauptet, dass die Erregbarkeit auf elektrische Reizbarkeit beschränkt
sein soll. Sie sagen vielmehr, es sei bewiesen, „dass auch centrale
„Nervengebilde „zunächst" auf einen unserer Reize ant-
worten."***)
*) A. a. 0. S. 83.
**) Freilich nur, wenn ich darunter dasselbe verstehen sollte, wie Her-
mann. Es erschwert die Verständigung, dass er sich gar nicht darüber aus-
lässt, wo er sich etwa diese tiefen Fasern und ihren Ursprung denlvt.
***) S. 28.
— 199 —
Vorher war es nämlich noch nicht bewiesen. Das heisst aber
doch nicht, dass auf die anderen Reize Iceine Antwort folgt, sondern
nur, dass die Antwort „zunächst" noch Jiicht gefunden ist. Dann steht
aber S. 66*) der positive. Erfolg eines Kauterisationsversuches referirt
und in der dazu gehörigen Anmerkung heisst es: „Ueber die von mir
„angewandte Methode der chemischen und mechanischen Reizung, sowie
„deren Resultate werde ich an einem anderen Orte ausführlicher be-
„richten."
2) Wenn man wirklich Reizeffecte nur auf die elektrische Erregung
eintreten sähe, was würde das ausmachen? Es wäre ja ganz gut mög-
lich, dass die Einrichtungen im Grosshirn derart sind, dass neben den
vitalen Reizen nur die Elektricität zu ihrer Bethätigung geeignet ist.
Wir haben da eine unendliche Menge feiner Formelemente, deren Zu-
sammenwirken unzweifelhaft gefordert wird, wenn etwas Sichtbares
herauskommen soll. Wird dieses Zusammenwirken nothwendig erzielt,
wenn ich mit einem Messer die Hirnsubstanz verletze oder ein Kauterium
auf blutende Flächen applicire? Ist es nicht vielmehr mindestens ebenso
wahrscheinlich, dass eine Summe von Elementen schon zerstört ist, ehe
die andere gereizt wird? Von diesen Erwägungen ging ich bei dem
Ersinnen meiner chemischen und mechanischen Reizversuche aus. Leider
ist es mir noch nicht gelungen, deren Erfolg von Zufälligkeiten unab-
hängig zu machen, so dass ich die Methoden bis auf Weiteres besser
unbeschrieben lasse. Andererseits benutzte mid benutze ich diese Ver-
suche nach aussen hin auch zu keinerlei Schlüssen, ja nicht einmal
zur Stütze meiner Ansichten über die excentrische Lage von motorischen
Centren und erhalte nur die Behauptung aufrecht, dass ich soweit als
möglich entfernt war, die Erregbarkeit des Gehirns durch andere als
elektrische Reize zu bestreiteji.
3) ,,Endlich wird man fragen, wie es denn kam, dass so viele
„frühere Forscher, darunter die glänzendsten Namen, zu entgegen-
„gesetzten Resultaten gelangten."**) So fragten wir uns nämlich, und
antworteten: sie haben wahrscheinlich nicht vorn sondern hinten trepanirt,
weil das bequemer ist, und weil das Vorurtheil von der Gleichwerthigkeit
der Grosshirnsubstanz damals florirte. Hinten giebt es aber eben kein
Resultat. Hermann nimmt freilich auf diese unsere Hypothese keine
Rücksicht, nach ihm hätten vielmehr unsere Vorgänger keine so starken
Ströme gehabt wie wir, oder sie hätten sie vermieden. Nun ich brauche
"') Ueber Production von Epilepsie durch experimentelle Verletzung der
Hirnrinde.
**) S. 26.
— 200 —
wohl Hermann nicht an die Riesenketten zu erinnern, die schon von
Ritter und seinen Zeitgenossen gebaut wurden, oder ihn darauf auf-
merksam zu machen, welche Rolle der Rotatiousapparat während der
ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in den französischen Laboratorien ge-
spielt hat. Hätte Flourens, Magendie oder Longet etwas von dem
gesehen, was wir entdeckten, und ich wiederhole, sie hätten es sehen
müssen, sobald sie am Vorderhirn gearbeitet hätten, so würden sie es
ohne Zweifel um so eher gesagt haben, als die Lehre von der Strom-
vertheilung in den Leitern und den Mitteln zur Abstufung der Ströme
damals noch recht sehr in den Windeln lag.
Hermann übersieht a'ber ausserdem ganz und gar, dass diese
Autoren, imd noch viele andere mit ihnen, nicht etwa die Erregbarkeit
der Hirnrinde, wie er meint, sondern die „so leicht zu constatirende"
Erregbarkeit des Gehirns überhaupt bestritten haben. Ganz ebenso
haben sie aber auch die, doch genau ebenso leicht zu constatirenden
Erfolge localisirter Verletzungen bestritten. Es ist eben die immer
wieder jung werdende Geschichte vom Ei des Columbus. Wenn man
erst einmal weiss, worauf es ankommt, so ist es ganz leicht.
4) Haben wir denn endlich so gewaltig starke Ströme angewendet?
Wenn man die Arbeit Hermann's liest, sollte man allerdings meinen,
es sei dies unumgänglich nöthig, um einen Reizeffect zu sehen, und
wir wären ohne die geringste Kenntniss von den Gesetzen der Elek-
tricitätslehre blind in die gröblichsten Schlingen gegangen. Nun was
den letzteren Punkt angeht, verweise ich den Leser sehr ruhig, neben
der angegriffenen, auf meine übrigen Arbeiten, von denen sich ja einige
auch mit der Elektricitätslehre specieller beschäftigen. Ich habe nur
einen directen Vorwurf Hermann's zu berichtigen, nach dem es so
aussieht, als ob ich dem Leitungsvermögen eines Körpers einen directen
Einfluss auf die in ihm entstehenden ideellen Strömungscurven und
Spannungsflächen zuschriebe. Dies ist mir gar nicht eingefallen, sondern
ich habe nur behauptet: „da die von uns zu den beweisenden Experi-
„menten verwandten Ströme nur schwach waren (ein Satz, den Hermann
„leider übersehen hat), da die Substanz des Gehirns einen sehr grossen
„Widerstand besitzt" und „da endlich die Entfernvmg der Elektroden
„von einander nur gering war, so konnte ii. s. w. die Stromdichte
„schon in sehr geringer Entfernung von den Einströmungsstellen nur
„eine minimale sein." und das wird wohl gerade so lange wahr
bleiben, als das Ohm 'sehe Gesetz und das von mir angezogene Gesetz
von der Stromvertheilung.
Diese ganze Discussion dreht sich aber obenein um eine, jeden
praktischen Interesses bare sogenannte Doctorfrage. Denn wir hatten
— 201 —
die fraglichen Erwägungen ausdrücklich als aprioristische bezeichnet
und gesondert von den directen Beweisen behandelt, deren Berück-
sichtigung ich bei Hermann vermisse.
Es besteht eine Differenz zwischen den thatsächlichen Angaben
Hermann's und meinen eigenen rücksichtlich der nothwendigen Inten-
sität der Ströme. Bei uns heisst es*) darüber: „Die Stromstärke war
„dabei so gering, dass metallische Schliessung nur eben eine Gefühls-
„sensation auf der mit den Knöpfchen berührten Zunge hervorrief."
Dem stellt Hermann ganz unvermittelt, d. h. ohne meine Angabe an-
zuführen und zu bekämpfen, folgenden Satz gegenüber: „Die zur Er-
„reichung der Erfolge nöthigen Stromstärken waren sowohl bei con-
„stanten als bei Inductionsströmen überraschend gross, stets riefen sie
„auf der Zunge sehr erhebliche Empfindungen hervor und der constante
„Strom auf der Hirnoberfläche kräftige Gasbläscheu- Entwicklung."**)
Hieran schliesst sich***) unmittelbar eine Bemerkung, die gleich-
falls behufs Formulirung eines Einwandes gegen uns vorgebracht wird,
es sei manchmal ein kleiner Sulcus durch den wirksamen Bereich ver-
laufen, daraus geht wieder hervor, dass der wirksame Bereich bei
Hermann ziemlich gross gewesen sein muss.
Dem gegenüber bedaure ich, einfach bei meinen früheren Angaben
stehen bleiben zu müssen. Ich bin mit schwächereu Strömen aus-
gekommen, habe stets und laut gegen die Anwendung so starker Ströme
für den vorliegenden Zweck protestirt und bestreite, dass bei der Strom-
stärke des Zuckungsminimums Sulci durch den wirksamen Bereich ver-
laufen, während das bei starken Strömen, welche Hermann für un-
umgänglich hält, allerdings auch von mir beobachtet und beschrieben
worden ist. Uebrigens habe ich die Wirksamkeit schwacher Ströme so
oft vor Physiologen von Fach demonstrirt und meine Versuche sind
von so vielen Physiologen von Fach mit dem gleichen Erf(dge wieder-
holt worden, dass ich der Entwickelung dieser Frage ruhig zusehen darf.
Allerdings müssen die Ströme unverhältnissmässig viel
stärker sein, als wenn man einen isolirten Froschnerven vor
sich hat. Ich habe Gelegenheit genommen, mich hiervon bei sonst
gleicher Anordnung des Versuches ausdrücklich zu überzeugen, fand die
Thatsache aber angesichts meiner Vorstellungen über die Möglichkeit
der anatomischen Verhältnisse der hier in Betracht kommenden Gebilde
nur selbstverständlich. Abgesehen von dem Einflüsse der vorhandenen
*) S. 16.
**) A. a. 0. S. 80.
***) A. a. 0. S. 83.
— 202 —
Nebenscliliessungen müsste das zu erregende Organ, sei es nun ein
Centrum oder der ideelle Querschnitt von Fasern, flächenhafte Aus-
dehnung besitzen. Unter keinen Umständen, selbst wenn das Organ
ganz oberflächlich läge, könnte also diejenige Stromstärke ausreichen,
welche in dem kürzesten Stromfaden aequivalent wäre der mittleren
Stromstärke für das Ziickungsminimum des motorischen Nerven, sondern
es war zu erwarten, dass die absolute Intensität des Stromes so lange
gesteigert werden musste, bis jenes Aequivalent mindestens auch in den
übrigen in das sogenannte Centrum (sit venia verbo!) fallenden Curven
erreicht war.
Auch dann noch konnte der Reizeffect latent bleiben, denn die rein
mechanischen Momente, unter denen eine Zahl der einschlägigen Be-
wegungen einherzugehen hat, sind hier ungünstiger, als bei dem Ver-
suche am Froschpräparat. Dies gilt von den Extremitäten, namentlich
von der Hinterextremität, mit der Hermann experimentirte. Ich habe
schon früher hervorgehoben, dass wahrscheinlich aus diesem Grunde der
Facialis leichter zu innerviren ist.
Bevor wir weiter gehen, habe ich noch die Frage zu beantworten,
ob und welcher Theil der Schuld mir selbst an den Hermann unter-
gelaufenen Missverständnissen zufällt. Ganz unschuldig bin ich daran
nicht, das geht schon daraus hervor, dass Hermann weder der Erste
noch der Einzige auf dem von ihm betretenen Pfade war. Thatsächlich
habe ich an verschiedenen Stellen meines Buches kurzweg von Reiz-
barkeit, Elektrisirung und Reaction der Rinde gesprochen, z. B. Ein-
leitung S. 4: „Gerade die Art der elektrischen Reaction der Hirnrinde
u. s. w."*), S. 64: „berücksichtigen wir die Eutwickelung jedes einzelneu
„durch Elektrisirung der Rinde hervorgerufenen Anfalles", und der-
gleichen Stellen mehr.
Ich gebe gern zu, dass das sehr wenig präcise und zu Irrthümern
Veranlassung gebende Ausdrücke sind. Auch habe ich in meiner letzten,
übrigens mehrere Monate vor der Hermann'schen erschienenen Ab-
handlung**) viel grössere Vorsicht beobachtet. Dort heisst es auch
nicht mehr Centrum, sondern Reizpunkt, wenn das Wort auf die Resultate
der elektrischen Erregung bezogen werden kann, obwohl es meiner An-
sicht nach, wie wir sehen werden, dort gerade so gut Centrum heissen
*) Auf derselben Seite steht noch folgender Passus: „Daraus ist wohl
„bei Manchem die Meinung entstanden, als ob ich — ausgehend von den
„elektrisch reizbaren „Centren" u. s. w." Hier handelt es sich freilich nicht
einmal um meine Meinung, sondern um eine rhetorische Piction.
**) V. Lähmungsversuche am Grosshirn. S. 73 ff.
— 203 —
könnte. Indessen möchte ich denn doch darauf aufmerksam machen,
dass ich ja an anderen Stellen auf das Ausführlichste aus-
einandergesetzt habe, wie ich mir die Sache vorstelle, so dass
es auf keinen Fall gerechtfertigt war, sich mit der Formu-
lirung der bei mir vorausgesetzten Ansicht ohne Weiteres
gerade an Redewendungen zu halten, die mit dem in ihnen
vermutheten Sinne in directem Widerspruche mit jenen Er-
läuterungen standen. Wenn^ man nicht den Umstand berücksichtigen
wollte, dass ich von Letzteren weder ausdrücklich zurückgetreten bin,
noch auch Thatsachen beigebracht habe,' welche eine Sinnesänderung
motiviren konnten, so hätten doch diejenigen Autoren, welche einen
Widerspruch bei mir vermutheten — und höchstens um einen solchen
konnte es sich handeln — nur das Recht gehabt, darauf hinzuweisen,
anstatt gerade auf Grund der zweifelhaften Stellen gar nicht vorhandene
Ansichten anzugreifen.
Ich habe schon oben folgenden Satz Hermann's citirt: „Der von
„den Verfassern und vielen Anderen hieraus (Reizversuche) gezogene
„Schluss, dass an diesen Stellen motorische Ceutra liegen, ist gänz-
,.lich ungerechtfertigt." Dem habe ich entgegengehalten, dass wir aus
den Reizversuchen allein ja überhaupt nichts geschlossen hätten. Alles,
was sich von Schlüssen aus den Reizversuchen auf die Function der
„Rindencentra" vorfindet, steht auf S. 30 und beginnt mit folgendem
Satze: „Gleichwohl lässt sich auf indirectem Wege*) ein einiger-
„maassen wahrscheinlicher Schluss (!) auf die Function, wenn auch
„nicht auf die Erregbarkeit des zelligen Theiles der Rinde ziehen."
Man könne nämlich nicht einsehen, was die motorischen Fasern dicht
an der Rinde anders sollten, als deren Function fortleiten. So könne
man durch die Reizelfecte jener etwas von der Function dieser erfahren.
Den directen Weg, also den eigentlichen Beweisweg, haben wir
aber doch auch eingeschlagen und folgenden Wegweiser dazu gesetzt:
„Indessen giebt es einen anderen Weg, die Frage nach der Bedeutung
„der einzelnen Theile der Rinde experimentell zu lösen; es ist die
„Exstirpation circumscripter und genau bekannter Theile
„derselben."**) Also nicht der Reizversuch, sondern der Lähmungs-
versuch löst uns experimentell diese Frage.***) Hermann hat eben
'■^) Im Original nicht gesperrt.
**) S. 31.
***) Vgl. auch „Ausgehend von diesen Versuchen (Lähmungsversuche)
,hatte ich unter Benutzuns- der Keizversuche den .Schluss o-ezoffen u. s. w."
- 204 —
das, was wir von der Erregbarkeit sagten, vollkommen mit dem ver-
mischt, was wir von der Function bewiesen. Hieran tragen wir überall
da, wo unsere erste Abhandlung citirt wird, nicht einmal formal irgend
eine Schuld: denn in derselben sind selbst die Redewendungen nicht
zu missdeuten.
Aber Hermann lässt auch nicht einmal die Exstirpatiousversuche
gelten. Denn „welche Vorstellungen soll man sich von motorischen
„Apparaten machen, deren Wegfall in etwa 14 Tagen anscheinend
„spurlos wieder ersetzt wird."
Nun einmal ist die Thatsache irrthümlich; denn Hermann's Thiere
waren 14 Tage nach der Verletzung noch krank, wenn er ihnen wirk-
lich 1 — 11/2 cm tief Hirnsubstanz herausgenommen hatte*), und zweitens
werden sich auch diejenigen Physiologen, welche es noch nicht thaten,
wohl an die den Pathologen längst bekannten Erfahrungen über auffällig
schnelle Restitution verloren gegangener centraler Functionen gewöhnen
müssen.
Darin läge also überhaupt kein Grund zu der Annahme Hermann's,
„dass tiefer gelegene Theile durch die Nähe der Verletzung und eine
„von ihr sich ausbreitende entzündliche Veränderung vorübergehend in
„ihren Functionen gestört sind."**) Ausserdem geräth Hermann mit
dieser Annahme durchaus auf den Weg der Deduction, der Hypothese.
Freilich kann er mir die im voraus acceptirte Pflicht des directen Be-
weises zuschieben. Aber da ihm „jede Thatsache, die hier mitspricht,
„von so enormer, ich möchte sagen mehr als physiologischer Wichtig-
„keit"**) ist, so hätte es doch vielleicht auch für ihn der Mühe ge-
lohnt, die für die Stütze seiner Hypothese nothwendigen Thatsachen
beizubringen, selbst wenn ihn dazu nicht der Umstand bewog, dass er
im Begriffe war, über eine fünf Jahre lang fortgesetzte Arbeit über die
Functionen der Grosshirnrinde das vernichtende Endurtheil zu fällen,
„dass sie zu keinerlei Schlüssen hinsichtlich der Functionen der Gross-
„hirnrinde berechtige.***)
Schwer war die Aufklärung durch den directen Beweis eben nicht
zu finden, ja sie war sogar eigentlich in den Hermann vorliegenden
Schriften bereits vorhanden. Es heisst da nämlich mehrfach, dass
oberflächlich an der Hirnrinde verletzte Thiere unmittelbar nach der
Operation die betreifenden Erscheinungen gezeigt hätten. Nun müsste
das eine curiose und jedenfalls schon makroskopisch erkennbare Ent-
*) Vgl. hierzu meine verschiedenen Arbeiten über Lähmungsversuche.
**) A. a. 0. S. 84.
***) A. a. 0. S. 84.
— 205 —
Zündung sein, die sich in wenig Minuten von der Oberfläche bis weit in
die Tiefe ausbreitete, und wenn die unbestimmte Fassung Herrn ann's
auch die Auslegung zulässt, sie brauche nicht weit in die Tiefe zu
steigen, sondern die Theile lägen oberflächlich, so fällt für diesen Fall
das Streitobject weg.
Ausserdem beschäftigte sich aber eine meiner Arbeiten, die zwar
zur Zeit der Publication He rm ann's schon erschienen war, aber leider
von ihm übersehen worden ist, speciell mit dem Studium des secun-
dären Einflusses der Operation.*) Im Allgemeinen kann ich auf den
Wortlaut der citirten Abhandlung einfach verweisen. Einige Haupt-
resultate möchte ich aber doch anführen. Von einer langen Versuchs-
reihe waren zwei Serien mit zusammen 14 Versuchen mitgetheilt, die
sämmtlich sehr grosse Exstirpationen an dem nicht motorischen Theile
des Vorderhirns betrafen. Alle Verletzungen lagen entweder unmittel-
bar an der Grenze des motorischen Theiles oder doch nicht gar weit
ab, wie das durch die Kleinheit der Spitze des Vorderhirns bedingt ist.
Nun blieben von diesen 14 Thieren 8 überhaupt frei von Störungen des
Muskelbewusstseins, bei zweien war die Erscheinung unmittelbar nach
der Operation vorhanden und rührte zweifellos von Nebenverletzungen
her, bei zweien erschien sie am 2ten, bei einem am 4ten und bei einem
am 5ten Tage. Und welchen autoptischen Befund gaben diese Versuche?
Erklärten sich die Störungen aus Entzündungserscheinungen, welche in
die Tiefe gegriffen hatten? Im Gegentheil, überall war das Wesentliche
irgend eine Alteration des Gyrus e (sigmoides) meiner Figuren. War
die Alteration klein, so war die Motilitätsstörung klein, war die Läsion
aber gross, so verhielt sich die Motilitätsstörung gerade so. Ob die
Lage der ersteren nun oberflächlich oder tief war, das machte weiter
nichts aus, aber die kleinste secundäre Beeinträchtigung der Integrität
des Gyrus e führte, auch wenn sie oberflächlich war, ebenso zu Störungen,
wie die primären Verletzungen. Traten ferner diese Störungen gleich auf?
Im Gegentheil, vielfach fehlten sie gänzlich und frühestens erschienen
sie am zweiten Tage nach der Verletzung. Dennoch lag die Wunde
nicht selten den „Centren" ganz nahe. Sehr tief unter der Oberfläche
dürfte der Angriffspunkt des elektrischen Reizes also auch nach diesen
Versuchen nicht liegen. Uebrigens hat mich die seit dem Sommer 1874
betriebene mikroskopische Verfolgung dieser Frage auch ferner von der
Ünhaltbarkeit der Annahme einer Entzündung überzeugt.
*) V. Lähmungsversuche. 8.73 ff. Ich erfahre nachträglich durch persön-
liche Mittheilung, dass die angegriffene Bemerkung Herrn ann's sich nicht
gegen meine Exstirpationsversuche richtet, sondern gegen die Deutung, welche
man den seiniaen ffeben könnte.
— 206 —
Um indessen jeden Zweifel aus der Welt zu schaffen, habe ich fol-
genden Versuch schon in Berlin vielfach angestellt und nun hier in
Zürich noch einigemal wiederholt. Man legt die Oberfläche des Gyrus
sigmoides in der früher beschriebenen Weise bloss, stillt die Blutung,
entledigt das Thier seiner Fesseln und constatirt, dass das Muskelbe-
wusstsein der gegenüberliegenden Extremitäten iutact ist. Sodann nimmt
man ein ganz feines spitzes Scalpell, das 2 mm von der Spitze mit
einem Wachskügelchen arrairt ist und sticht in ein Centrum für eine
Extremität ein. Jetzt ist das Muskelbewusstsein einer oder
beider Extremitäten gestört. Zwischen beiden Untersuchungen
braucht keine halbe Minute- an Zeit zu A^erstreichen, es braucht kein
Tropfen Blut zu fliessen, und von Entzündungsvorgäugen kann natürlich
gar keine Rede sein. Der Versuch ist in seinem Erfolge so sicher und
elegant, wie die Durchschneidung eines motorischen Nerven, namentlich
wenn es gelingt, eine Extremität isolirt zu afficiren, was Glückssache
ist. Selbstverständlich darf man nicht erwarten, dass diese Hunde nun
gleich auf dem Dorsum pedis gingen oder gar zu Boden fielen, sondern
die Störung beschränkt sich, entsprechend der Kleinheit der Läsion
darauf, dass man das Bein dislociren kann, ohne dass es sogleich re-
ponirt wird.
Führt man aber mit dem armirten Messerchen einen seichten Schnitt
parallel dem Sulcus cruciatus, oder scarificirt man die Rinde durch
viele kleine Stiche, so kann man auch recht erhebliche Störungen zur
Anschauung bringen.
Wollte ich in ähnlicher Weise wie Hermann es am Ende seiner
Arbeit that, einen Schluss ziehen, so könnte es nur der sein, dass
Hermann keine einzige Thatsache vorgebracht hat, durch die
die von Fritsch und mir gezogenen Schlüsse auf die Func-
tion der Grosshirnrinde im Geringsten erschüttert worden
wären.
Mehrere Missverständnisse finden sich in der, sonst gewiss sehr
schätzenswerthen Arbeit von Braun.*) Einige von ihnen mögen bereits
in meinem Buche „Untersuchungen u. s. w." ihre Berichtigung gefunden
haben. Einige andere sollen hier erörtert werden.
1) Handelt es sich von Neuem um die vielbestrittene und behaup-
tete Empfindlichkeit der Dura mater. Wir hatten*") bemerkt, „dass ihr
*) Braun, Beiträge zur Frage über die electr. Reizbarkeit des Gross-
hirns. Eckard' s Beitr. Sep.-Abdr. 1874. Bd. VII. 2.
**) S. 25.
— 207 ■-
„eine gewisse Empfindlichkeit schon im physiologischen Znstande inne-
„ wohnt, dass dieselbe sich aber nach Erüfliiung der Schädelkapsel sehr
„schnell steigert." Ferner sagten wir,*) dass die Hunde lebhaften
Schmerz äussern, wenn die Dura leicht incidirt, mit der Pincette erfasst
und bis zu den Knochenrändern abgetragen wird. Braun lässt das nicht
gelten. Allenfalls giebt er die Möglichkeit zu, dass man eins der in der
Dura verlaufenden Nei'venästchen durch Druck beleidigen oder durcli
starken Zug an den Zipfeln der Dura Bahnen, z. B. des Trigeminus,
treffen könne. Letzteres halte ich nun schon für rein mechanisch un-
möglich, wenigstens bei Manipulationen, wie ich sie anwende. Es ist
aber auch physiologisch gar nicht einmal richtig, dass ein derartiger,
obenein indirecter Zug an einem Nervenstamm Schmerzen auslöst. So
konnte z. B. Romberg den Infraorbitalis des Pferdes dehnen und durch
das untergeschobene Bistouri ausspannen, ohne Schmerzensäusserungen
2U provociren.**)
Was den ersten Punkt angeht, so bin ich natürlich auch nicht der
Meinung, dass das Stroma der Dura empfindlich sei, sondern suche die
Sensibilität in den sensiblen Nerven dieses Organs, gleichviel ob es
Ausbreitungen oder die Stämmchen betriff't. Ich nehme auch nicht an,
dass Braun keine Schmerzensäusserungen um deswillen sah, weil er
etwa periphere Bahnen nach der Durchschneidung gereizt hätte. Son-
dern die Meinungsdifferenz kommt einfach daher, dass viele Hunde
wirklich bei allen Beleidigungen der Dura still halten, während andere
sich umgekehrt aufführen. Aber leider beweisen eben die Geduldigen
nichts.
Jeder erfahrene Vivisector wird beobachtet haben, dass einzelne
Thiere ein jämmerliches Geschrei ausstossen, wenn man sie festbindet,
ohne ihnen dabei nenneuswerthen Schmerz zuzufügen; dass sie dann
aber die Zerschneidung der Weichtheile und die Trepanation ertragen,
ohne einen Laut von sich zu geb-en oder zu zucken. Ganz dasselbe ist
auch bei Operationen anderer Körpertheile zu constatiren. Deshalb kann
man aber doch nicht schliessen, dass diese Thiere derartige Eingriffe in
den Verbreitungsbezirk ihres Trigeminus oder anderer sensibler Nerven
nicht sehr unangenehm empfänden. Mir scheint vielmehr hiernach nur
der Schluss gerechtfertigt, dass sie bei der Fesselung aus Angst schrieen
und sich nachher in ihr Schicksal ergeben hatten.
Beweisend sind hier nur die positiven Resultate und diese sind so be-
weisend wie möglich. Man hat einen Hund trepanirt und die Kreis-
*) S. 15. , .
**) Romberg, Lehrbuch der Nervenkrankh. 3. Aufl. S. 940.
— 208 —
fläche der Dura liegt bloss. Jetzt berührt man ihr Centrum mit einem
spitzen Skalpellchen, um sie aufzuschlitzen, sofort erfolgt ein Satz und
hat man nicht aufgemerkt, so ist die Pia verletzt. Mau macht den
Versuch ein zweites und drittes Mal und immer giebt es denselben Er-
folg, wenn man sich nicht die erforderliche Geschicklichkeit angeeignet
hat. Aehnliches ereignet sich dann, wenn man die Membran weiter ab-
trägt. Wie soll man sich das Alles ohne Sensibilität der Dura erklären?
Wenn übrigens Braun zugiebt, dass die Dura sensible Nerven führt, so
ist damit eigentlich Alles gesagt. Schliesslich möchte ich noch be-
merken, dass ja auch Leyden die Dura empfindlich fand und dass
Pflüger mit seiner Angabe über die Empfindlichkeit des Splanchnicus
mutatis mutandis genau dieselbe Erfahrung zu machen hatte wie wir
mit der unsrigen. Hoffentlich ist hiermit diese ziemlich nebensächliche
Frage mindestens für einige Zeit aus der W^elt geschafft.
2) meint Braun andere Resultate von der Reizung in der Aether-
Narkose gesehen zu haben als ich, macht aber ganz genau dieselben
Angaben. Ich kann mir gar keine vollständigere Bestätigung denken,
als die seinige.
Ich sagte*): „Wenn man ein Thier so tief ätherisirt, dass
„jede Spur von Reflexen aufgehört hat, so findet man die
„elektrische Erregbarkeit des Gehirns theils erhalten, theils
„verloren. — — — Gab ich nun noch mehr Aether, so gelang es
„für kurze Zeit, aber in der That nur für ganz kurze Zeit, jede Reaction
„aufzuheben."
Braun sagt: „Was das Factum anlangt, so kann ich mich Schiff
„anschliessen, indem während tiefer Betäubung die Reizung in der
„That ohne Erfolg bleibt. üebrigens scheint es mir sehr schwer
„zu sein, in dieser Beziehung verlässliche Versuche anzustellen, da die
„Erfolge der Reizung einer und derselben Hirnstelle während der ISar-
„kose oft und mitunter sehr schnell wechseln."
Schwer ist es allerdings, aber um so mehr freue ich mich, dass
wir zu so identischen Resultaten gelangt sind.
Die Leser meiner Arbeiten werden sich erinnern, dass ich schon
mehrere Male an die Hrn. Carville und Duret in Paris Ermahnungen
wegen der Art richten musste, wie sie mit meinem literarischen Eigen-
thum umzugehen beliebten**). Wenn ich hierbei besondere Nachsicht
*) S. 40.
**) Untersuchungen u. s. vv. S. IX. Untersuchungen u. s. w. Neue Folge.
II. S. 441.
— 209 —
walten Hess, so geschah das theils in gerechter Berücksichtigung des
Unistandes, dass die grosse Eilfertigkeit, mit der Hr. CarviJle seine
so mannigfaltigen Untersuchungen veröffentlicht, ihrn unmöglich erlauben
kann, 'die von ihm besprochenen und wiederholten Arbeiten Anderer
auch zu lesen, theils in der Ueberzeugung, dass Hr. Carville gewisse,
bei unseren westlichen Nachbarn früher sehr verbreitete literarische
Eigenthümlichkeiten auch heute noch in die Kategorie der „berech-
tigten" zählt.
Nun wäre ich zwar einer nicht geringen Heiterkeit meiner Leser
sicher, wenn ich ihnen die literarischen Usancen der Hrn. Carville
und Duret einmal im Zusammenhang schildern wollte, indessen ver-
zichte ich um deswillen darauf, weil der sachliche Gewinn dieser Be-
mühungen zu gering ausfallen würde.
Mehrere Gründe bewegen mich aber, in höchst entschiedener Weise
Einspruch zu erheben gegen den Hauptinhalt, gegen die Tendenz einer
neuesten Publication der genannten Herren*). Die Kühnheit und Be-
harrlichkeit, mit der sie sich, wie ich beweisen werde, wider besseres
Wissen in den Besitz von fremdem Eigenthum setzen, erlaubt keine
fernere Toleranz. Das von ihnen für ihr Unternehmen gewählte Journal,
die „Archives de Physiologie", ist zu angesehen und zu verbreitet, als
dass man sich fernerhin begnügen könnte, über die Hrn. Carville
und Duret zu lächeln. Endlich erachten wir es für unsere Pflicht, im
allgemeinen Interesse deutscher Arbeit wenigstens nicht oiine Wider-
sprach den freilich wohl kaum zu verhindernden Uebergang der Car-
ville'schen Darstellung in die französische Literatur geschehen zu
lassen.
Die Hrn. Carville und Duret hatten früher durch Versuche von
sehr zweifelhaftem Wertli zu beweisen gesucht, dass unsere Ansicht
über die oberflächliche Lage der bei den Reizversuchen erregten
Theile irrig sei. In ihrer neuesten Arbeit halten sie diese ihre Meinung
nicht mehr aufrecht, aber hören wir in wortgetreuer Uebersetzung, wie
sie nun vorgehen. „Es ist sonderbar, dass Fritsch, Hitzig und
„Ferrier angesichts so zahlreicher Untersuchungen und der einstimmigen
„Ansicht dieser ausgezeichneten Forscher (Magendie, Flourens
„u. s. w.) nicht versucht haben, ihre Untersuchungsmethode auf einer
„soliden Basis aufzubauen. ■ — Man ist erstaunt, wenn man sieht,
„wie wenig diese Experimentatoren sich mit der Lösung dieser Fragen
„(Stromschleifen) beschäftigt haben. Kaum dass Hitzig diese Fehler-
*) Carville et Duret, Sur les fonctions des hemispheres cerebraux,
Arch. de physiol. Ser. 2. T. IL Mai-Juillet 1875. p. 353-491.
Hitzig, Gesammelte Abhaiidl. I. Theil. 14
— 210 —
„quelle ahnt." (Als wenn wir nicht S. 22 — 24 eine weitläufige Be-
sprechung dieser Frage gegeben hätten und die ganze gegen Ferrier
gerichtete Abhandlung nur auf Bestimmung des Werthes der Stroni-
schleifen hinausliefe!) „Sie hätten angesichts der von den alten Phy-
„siologen angestellten Versuche die Vorschrift des D esc arte s be-
„folgen, d. h. das experimentelle Verfahren variiren müssen; das haben
„wir gethan und wir haben es auf einem anderen Wege erreicht, die
„Richtigkeit ihrer Schlüsse zu einem Theile (?) zu erkennen.*)
Und welches ist nun der andere Weg, auf dem die Hrn. Carville
und Dur et unsere Versäumnisse nachholten? Man höre und staune!
„Um ihrem experimentellen Verfahren seinen exclusiven Charakter zu
„benehmen und um durch eine andere Methode ihre experimentellen
„Resultate zu verificiren, haben wir Exstirpatiouen der durch die elek-
,,trischen Ströme aufgedeckten Centren unternommen."**) Das ist alles,
wirklich alles.
Also weder ich in Gemeinschaft mit Fritsch***) noch später
alleinf), noch Nothnagelff), noch Schifffff), Niemand von uns hat
soviel Intellect besessen, um die Reizversuche durch Lähmungsversuche
zu ergänzen; es mussten erst die Hrn. Carville und Duret kommen,
um uns zu zeigen, wie man eine Thatsache feststellt!
Aber vielleicht haben unsere Autoren alle diese Arbeiten nicht ge-
kannt, sie haben einen, schliesslich verzeihlichen Irrthum begangen.
Ja, wenn darüber irgend ein, auch nur der leiseste Zweifel bestehen
könnte, so würde ich mich wohl gehütet haben, oben zu behaupten,
sie hätten wider besseres Wissen gehandelt. Ich weiss sehr wohl,
wie schwer dieser Vorwurf wiegt, aber ich halte ihn mit vollem Be-
wusstsein und aller Entschiedenheit aufrecht.
Handelte es sich um irgend welche andere Autoren als gerade um
die Hrn. Carville und Duret, so würde ich als Beweis für meine
Behauptung den Umstand anführen, dass sie eine Arbeit schrieben,
deren Titel lautet: „Critique experimentale des travaux de MM. F ritsch.
Hitzig, Ferrier "*f), und dass in dem Aufsatz F ritsch -Hitzig die
Untersuchungen beschrieben stehen, deren Lnterlassung sie uns mit
*) Carville et Duret, A. a. 0. S. 398, 399.
**) A. a. 0. S. 433.
***) S. 31 ff.
t) S. 56 ff. u. S. 63 ff.
ft) Nothnagel, Virchow's Arch. Bd. 57.
jff) Schiff, Lezioni di fisiol. sper. etc. See. ediz. Firenze 1873.
S. 536 ff.
*t) Carville et Duret, Gaz. med. 1874. No. 2.
— 211 —
soviel Emphase vorwerfen. Ich würde endlich anführen, dass ich der Societe
de biologie, in der Hr. Carville seine Vorträge zu halten pflegt, ein
Exemplar der neuen Folge meiner Untersuchungen habe zugehen
lassen, in welchen fortgesetzte Lähmungsversuche beschrieben sind, und
in welchen durch einen besonderen Anhang die Hrn. Carville und
Duret darauf aufmerksam gemacht werden, dass die von ihnen im
Jahre 1874 in der Societe de biologie als neu vorgetragenen Beobach-
tungen von uns schon im Jahre 1870 publicirt worden sind. Ich würde
endlich anführen, dass die Hrn. Carville and Duret in ihrer jüngsten
Arbeit sehr ausführliche Auszüge nebst Abbildungen aus meinem Buche
in so weit es die, uns nun doch nicht mehr zu entfremdenden Reiz-
■versuche betrifft, beibringen, und dass es nicht wahrscheinlich ist, dass
sie bei der Gelegenheit die Lähmungsversuche nicht sollten gelesen
haben. Indessen mit solchen, jeden anderen Autor in Verlegenheit
setzenden Beweisen ist gegen diese Herren, wie wir am Schlüsse dieser
Arbeit sehen werden, nichts auszurichten. Es bedarf des Beweises
•durch ihre eigenen gesprochenen und geschriebenen Worte,
und hier ist er.
Als die Hrn. Carville und Duret ungeachtet meiner Abmahnung
fortfuhren, sich in der Societe de biologie mit meinen Federn zu
schmücken, hatte ich ein Schreiben an die Gesellschaft gerichtet, in
dem ich auf dieses curiose Verfahren aufmerksam machte und sehr
höflich um Aufklärung bat.*) Hrn. Carville's Erwiderung ist zu
charakteristisch, um sie ganz zu übergehen, und so folge sie denn hier
wörtlich: „Leur (Carville et Duret) uote du 30. Oct. 1874 dit qu'ils
^,ont employe un procede deja ancieu, celui des ablations de diverses
„parties des hemispheres, pour verifier certains points en litige; donc
ils n'ont pas eu la pretention d'avoir les premiers fait ces experiences."
Natüiiich hat es sich um die Methode ja gar nicht gehandelt, sondern
um die Resultate, wie wir das (s. die Anm.) recht deutlich gesagt
liatten, und deren Entdeckung diese Herren damals für sich in Anspruch
nahmen. Aber darauf soll es jetzt nicht ankommen. Es kommt darauf
an, dass sie überhaupt auf meine Reclamation geantwortet haben,
folglich haben sie sie gehört.
*) MM. Carville et Duret ont communique (seance du 10. Oct. 1874)
des experiences sur la paralysie provoquee par des lesions de la substance
grise du cerveau. II semblerait, d'apres la redaction de leur note, qu'ils aient
les Premiers fait ces experiences. Cependant dejä en 1870 M. Fritsch et moi-
meme nous avions pratique ces vivisections et nous avious publie nos resultats,
bui etaient tres-analogues, si non identiques. Gaz. med. 1875. 6. Fevr. Aus
■dem Briefe von Hitzig.
14*
212
Ferner citiren sie nicht nur mit der grössten Harmlosiglieit neben
meinen Arbeiten auch Nothnagel's Lähmungsversuche und discutireu.
dessen Muskelsinn-Theorie, sondern sie übersetzen auch die Stelle bei
Schiff, in der derselbe die Resultate unserer und seiner Lähmungs-
versuche ganz ausführlich beschreibt und sagt, er habe in unserer Be-
schreibung sofort die Aufhebung des Tastsinns erkannt"*), folglich
haben sie alles Nöthige, insbesondere, dass ich schon mit
Fritsch diese Versuche gemacht hatte, mindestens bei Schiff
gelesen. Ausserdem hat Hr. Dur et die Arbeit Ferrier's, in der
nachstellender Passus vorkommt, ins Französische übersetzt: „Fritsch
and Hitzig ascertained that destruction of the centres, in which they
had localised certain movements of the paw in dogs, caused a partial
paralysis of the muscles set in action by galvauisation of the same
centres."**) Folglich hat Hr. Duret ausser bei Schiff auch bei
Ferrier gelesen, dass wir schon in unserer ersten Arbeit
jene Lähmungsversuche beschrieben hatten.
Endlich drucken sie sogar folgende Stelle: „Depuis ces premieres
„experiences Hitzig a exstirpe deux ou trois fois chez des chiens le
„centre des mouvements des pattes et il aurait vu la paralysie sur-
„venir; mais il est pea explicite sur les caracteres speciaux de cette
„paralysie."***) Alles das ist lauter Verdrehung der Wahrheit. Die
Lähraungsversuche wurden nicht nur „seit" sondern schon „in" der
ersten Arbeit publicirt, Carville und Duret wussten das, wie eben
gezeigt worden ist, und wenn meine Schilderung so war, dass Schiff
sofort einen prägnanten, wenn auch falsch gedeuteten Eindruck davon
erhielt, sollte sie am Ende auch den Hrn. Carville und Duret deutlich
geworden sein; ganz zu geschweigen davon, dass diese auch nicht ein
Körnchen Neues zu unserer Schilderung hinzugethan haben.
Ja aber, wird der Leser, dem das auf S. 219, 210 Citirte nicht mehr
ganz gegenwärtig ist, fragen, worüber beklagst du dich denn eigentlich,
wenn Carville und Duret nicht imr deine eigene Arbeit, sondern
auch die bestätigenden Versuche von Schiff und Nothnagel citirten?
Auf diese Frage haben auch die Hrn. Carville und Duret offenbar
gerechnet, aber vielleicht nicht darauf, dass ich in der Lage sein würde,
sie dem Leser anticipando zu beantworten. Sämmtliche in Rede stehende
Arbeiten waren einfach nicht todtzuschweigen, weil Schiff so vor-
*) Schiff, A. a. 0. S. 413—416.
**) Ferrier, Experimental researches. West Riding asyl. Rep. III, p. 77.
Die französische üebevsetzung ist mir nicht zur Hand.
'•■**! Carville et Duret, A. a. 0. S. 434.
— 213 —
sichtig gewesen war, seine Versuche in Paris zu zeigen, weil darüber
in der Societe de biol. vorCarvilie discutirt worden war, weil Noth-
nagel's Versuche anlässlich der Arbeiten von Beaunis und Fournie
auch in der französischen Presse zu viel erwähnt waren, und weil, mit
Rücksicht auf uns endlich neben anderen Citaten französischer Autoren
denn doch mein Brief an die Societe de biol. hätte allzu unbequem
werden können.
Mussten die Hrn. Carville und Duret also schon diese Ar-
beiten erwähnen, so hat sie das doch nicht gehindert, im
Widerspruch mit den daraus hervorgehenden Thatsachen und
mit doppelter Kühnheit die Behauptung aufzustellen, wir
hätten unsere Reizversuche nicht durch Lähmungsversnche
controUirt, wir hätten dies unterlassen, da wir kaum eine
Ahnung von den möglichen Fehlerquellen gehabt hätten,
erst sie hätten durch ihre Lähmungsversuche unsere bis
dahin unbewiesenen Behauptungen sicher gestellt.
Warum die Hrn. Carville und Duret so handelten, welche Ab-
sichten und Motive sie bewegten, das will ich nicht erörtern. Ich habe
meine Feder ungern zur Feststellung der Thatsachen hergeliehen.
Mit dem, was darüber hinaus ist, will ich nichts zu thun haben. Nur
eins habe ich noch zu beweisen und das gehört gewissermassen zu
dieser Frage, nämlich dass die Hrn. Carville und Duret Leute sind,
bei denen man sich der von mir geschilderten Handlungsweise versehen
konnte.
Schon in ihren ersten Publicationen hatten diese Autoren versucht,
unsere Arbeiten theils ganz todtzuschweigen, theils unsere Resultate
dem Hrn. Ferrier zuzuwenden. Dasselbe Verfahren ist auch, beiläufig
gesagt, in der letzten Arbeit zur Anwendung gekommen, wie ich leicht
beweisen könnte, wenn ich ein Gewicht darauf legte. Als ich mich
nun in dem mehrerwähnten Briefe an die Soc. de biol. darüber be-
schwerte, erhielt ich folgende Antwort, die Herreu hätten unsere Ar-
beiten gar nicht, sondern nur die des Hrn. Ferrier (welche freilich
nur eine Wiederholung der unsrigen war), prüfen wollen. Also hätten
sie auch gar nicht nöthig gehabt, unseren Antheil an diesen Versuchen
zu berücksichtigen. Unsere Namen seien eben nur aus Versehen (ä
tort) in den einen Titel gerathen. Dieser Titel lautet aber: Critique
experimentale des travaux de MM. Fritsch, Hitzig, Ferrier!
Nach dieser persönlichen Auseinandersetzung wird man mir es
hoffentlich nicht verdenken, wenn ich die vielfachen sachlichen Miss-
verständnisse und Irrthümer, welche sich in der Arbeit der Hrn. Car-
ville und Duret vorfinden, nicht gerade heute zur Erörterung heranziehe.
X. lieber die Einwände des Hru. Professor Groltz.
Exstirpationsversuche am Grossliirn des Hundes lieferten das that^
sächliche Material zu einer Arbeit*), mit der Goltz die von mir ge-
äusserten Anschauungen über die Functionen dieses Organes widerlegt
zu haben glaubt. Analoge Versuche, den von mir sogenannten Gyrus e
(sigmoides) betreffend, hatte ich selbst bereits im Verein mit Hrn.
Fritsch*'^) in geringer Zahl angestellt, später aber in systematischer
Weise auf die ganze Convesität des Grosshirns auszudehnen begonnen.
Aus der letzteren Versuchsreihe sind Beobachtungen***), durch die ich
„den letzten und nicht mehr anzufechtenden Beweis für die Localisation
im Grosshirn gegeben" zu haben glaubte, publicirt w^orden. Leider haben
mir äussere Verhältnisse nicht gestattet, diese Versuche derart zu fördern,
dass ich aus ihrer immerhin grossen Zahl schon jetzt dem Leser ein
weiterreichendes, abgeschlossenes und mit der erforderlichen Bew'eiskraft
ausgerüstetes Ganze vorzulegen vermöchte.
Aehnliche Versuche sind ferner von Nothnagelf), Carville und
Duretff), Schifffft), L. Hermann*f) und endlich von Soltmann*ff)
ausgeführt worden *ttt) .
*) Goltz, üeber die Verrichtungen des Grosshirns. Pflüger's Archiv
u. s. w. Bd. XlII.
**) Siehe oben S. 31 ff.
***) Siehe oben S. 63 ff. und S. 73 ff.
j) Nothnagel, Virchow's Archiv Bd. 57.
ff) Carville et Dur et, Archives de physiol. 1875.
fff) Schiff, Archiv für exp. Path. Bd. 3.
*f) Hermann, Pflügers Archiv Bd. X.
*ff) Soltmann, Jahrb. für Kinderheilk. N. F. Bd. IX.
*fff) Goltz citirt ferner einen Aufsatz von Bouillaud in Magendie's
Journal T. X sowie einige Beobachtungen von Vulpian in seinen LeQons sur
la physiol. etc. Paris 1866. Ich habe diese beiden Arbeiten bei Abfassung
meiner bezüglichen Abhandlungen nicht gekannt. Hätte ich sie jedoch ge-
— 215 —
Die Resultate meiner eigenen Untersucliungon haben durch die
Arl)eiten der genannten Forscher unter gelegentlicher Anwendung anderer
Methoden manche Erweiterung erfahren. Ich muss mir nun vorbehalten
den mamiigfachen hier angeregten Fragen dann in extenso nälier zu
treten, wenn ich 'das erforderliche Material beisammen haben werde,
und insbesondere auch zu zeigen, in wie weit das rein Thatsächliche
meiner eigenen Erfahrungen die Angaben anderer Autoren deckt. Für
den Augenblick beschränke ich meine Aufgabe auf die Erörterung der
Frage, ob Goltz durcii die angeführte Arbeit wirklich den
Nachweis geführt hat, dass die von mir ausgesprochenen
Ansichten über die Functionen der Grosshirnrinde irrig
sind, und bei dieser Erörterung werde ich vorzugsweise die
Störungen der Bewegung berücksichtigen.
Meine Ansicht über das, was durch meine und andere Versuche
am Grosshirn bewiesen ist, habe ich sehr oft in einer, wie ich glaube,
ganz klaren und nicht misszuverstehenden Form ausgesprochen. Es soll
mich aber nicht verdriessen, eine oft citirte Stelle heut noch einmal
atjzuführen:
„Wir hatten nicht ohne Absicht gerade an den Schluss unserer
Arbeit folgenden Satz gestellt:
„„Es geht ferner aus der Summe aller unserer Versuche hervor,
dass keineswegs, wie Flourens und die Meisten nach ihm meinten,
die Seele eine Art Gesammtfunction der Gesammtheit des Gross-
hirns ist, deren Ausdruck man wohl im Ganzen, aber nicht in
seinen einzelnen Theilen durch mechaniche Mittel aufzuheben vermag,
kannt, so weiss ich nicht, ob ich sie angeführt haben würde; denn sie stehen
mit dem, was ich beweisen wollte, kaum in Connex. Bouillaud stiess ein
Glüheisen von der Seite her durch Trepanlöcher in jede der beiden Hemi-
sphcären. Welche Zerstörungen es anrichtete, giebt er nicht an. Vulpian
legte bei zwei Hunden Frontalschnitte durch die Hemisphäre und zwar mög-
lichst vor dem Corp. striat., einem dritten Hunde nahm er ca. 1 ccm Hirn-
masse, und einem vierten durchwühlte er das Hirn mit einer Klinge. Beide
Forscher sahen nachher die vielbesprochenen Motilitätsstörungen eintreten.
Goltz hat von seinem Standpunkte des Nicht-Localisirens freilich ganz
recht, wenn er sich auf diese Arbeiten bezieht. Da ich hingegen lediglich auf
das Localisiren ausging, Lähmungserscheinungen nach Hirnverletzung sonst
ja weder beim Menschen noch beim Thiere (vgl. z. B. Schiff) etwas Neues
waren, und da von Localisation in den angeführten Arbeiten sogut wie gar
nicht die Rede war, so sehe ich nicht recht, in welche Beziehung ich dieselben
zu meinen Bestrebungen hätte bringen können. Das Auftreten mit dem Fuss-
rücken an und für sich ist ja etwas ganz Nebensächliches.
— 216 —
sondern dass vielmehr sicher einzelne seelische Func-
tionen, wahrscheinlich alle, zu ihrem Eintritt in die
Materie oder zur Entstehung aus derselben auf circum-
scripte Centra der Grosshirnriude angewiesen sind."''
Denn in der That folgt die Wahrheit dieses Satzes mit aller
wünschen swerthen logischen Schärfe aus unseren Versuchen, und wir
betrachten diese Wahrheit als die werthA'ollste Errungenschaft unserer
Arbeit.
Wenn Reizung bestimmter Stellen bestimmte Muskeln in Bewegung
setzt, und Zerstörung dieser Stellen die Innervation derselben Muskeln
alterirt, wenn Reizung und Zerstörung anderer Stellen ganz und gar
keinen Einfluss auf die Muskelinnervation ausübt, so scheint mir das
hinreichend beweisend zu sein für den Satz, dass die einzelnen Tlieile
des Grosshirns nicht gleichwerthig sind: und diesen Satz wollten wir
beweisen*)".
Goltz ist zunächst bei seinen Versuchen und sodann folgerecht
bei seinen Schlüssen zu anderen Resultaten gelangt. Es liegt mir vor
allem ob, die Ursachen der Meinungsverschiedenheit, was die That-
sachen angeht, in unzweideutiger Weise aufzuklären. Vielleicht wäre
es sogar richtiger gewesen, wenn schon Goltz selbst diese Aufklärung
beizubringen versucht hätte.
Im Gegensatz zu dem Inhalte der soeben aus meinem Buche citiiten
Stelle schreibt Goltz: „Wir werden sehen, dass der Grad der Störungen
im Allgemeinen gleichen Schritt hält mit der Grösse des Substanz-
verlustes. Dagegen ist der Ort des Substanzverlustes, soweit bis jetzt
meine Untersuchungen gediehen sind, von keinem ent-
scheidenden Einfluss, d. h. der Charakter der Störungen ist der-
selbe, ob nun das Trepanloch weiter nach vorn z. B. am vorderen
R.ande der sogenannten erregbaren Zone von Hitzig angebracht ist,
oder ob dasselbe weit hinten im Bereich des Hinterlappens angelegt
wird"**).
Die Fassung dieses Satzes könnte zu Missverständnissen Veranlassung
geben, denn während in seinem ersten Theile Grad und Ort verglichen
werden, treten sich in seinem zweiten, den ersten erklärenden Tlieile
Art (Charakter) und Ort gegenüber. Immerhin kann man den Inhalt
auffassen wie man will, er ist höchstens in einer ganz bedingten Weise
richtig, nämlich dann, wenn man wie Goltz „bei jeder Operation eine
erhebliche Ausrottung von Hirnmasse beabsichtigt und erreicht."
*) S. 57.
**) Goltz, a. a. 0. S. 31, 32, 33.
— 217 —
Ich zweifle nicht an der Riclitigkeit der von Goltz publicirten Resultate,
aber er hat eben ganz andere Versuche angestellt als ich, und unter-
lassen hierauf die erforderliche Rücksicht zu nehmen; daher stammt
die Differenz in den thatsächlichen Angaben.
Wenn mau kleine, ja selbst minimale Tlieile Hirn aus-
schaltet, wie ich dies bei den beweisenden Versuchen that, so ist der
Ort der Operation einzig und allein von entscheidendem Ein-
fluss dafür, ob Motilitätsstörungen eintreten werden oder nicht. Operirt
man in dem von mir sogenannten Gyrus sigmoides, so sind, die Beine
afficirt, operirt man an einer anderen Stelle, insbesondere hinten, so
sind die Beine nicht afficirt. Ja wenn man an anderen Stellen sogar
sehr viel mehr Hirnmasse herausnimmt, als im Gyrus sigmoides zur
Hervorbringung deutlicher Störungen genügen würde, so sieht man
immer noch nichts. Das ist eine Thatsache, an der noch Niemand,
auch Goltz nicht zu rütteln versucht hat, und an der auch nicht zu
rütteln ist. Wenn dem aber so ist, so sehe ich auch nicht, wie man
den Schluss angreifen will, „dass die einzelnen Theile des Grosshirns
nicht gleichwerthig sind."
Sobald bewiesen sein wird, dass ein Stich in jeden beliebigen
Theil des Hirns, oder die Herausnahme eines linsengrossen Stückchens
grauer Substanz aus jeder beliebigen Stelle des Hirns dieselben Motilitäts-
störungen hervorbringt wie das bei identischen Läsionen des Gyrus
sigmoides der Fall ist, werde ich zugeben, dass ich mich geirrt habe,
und dass die einzelnen Theile des Grosshirns gleichwerthig sind; vorher
aber nicht. Goltz führt unter Anderem gegen meine Auffassung an,
dass ich selbst den von mir anlässlich der Verletzungen des Gyrus d
(vorderer Schenkel des Gyrus sigmoides) zuerst beschriebenen „Defect
der Willensenergie" gleichzeitig auch als Folge grösserer Verletzungen
des Hinterhirns constatirt habe, und ist geneigt jenes Symptom als eine
geringere Stufe dessen, was ich Störung des Muskelbewusstseins nenne,
aufzufassen. Ich will jetzt von allen Deutungen absehen, hingegen noch
einmal hervorheben, dass auch dieses Symptom eben nur bei grossen
Ausschaltungen grauer Substanz des Hinterhirns zur Beobachtung kommt,
bei kleinen aber nicht.
um nuu dem Leser einen Begriff von der verschiedenen Wirkmig
verschieden localisirter Eingriffe zu geben, führe ich folgenden Doppel-
versuch an.
In den ersten Tagen des Mai 1876 wurde einem kleinen Pinscher
der Schädel links neben Gyrus sigmoides (d e) mit einer Trephine von
14 mm Durchmesser eröffnet und eine annähernd der Oeffnung ent-
sprechende Menge Hirnsubstanz auf ca. 4 mm Tiefe entfernt. Dem-
— 218 —
selben Hunde wurden sodann am 19. September 1876 zwei Kronen von
11 mm mit einer stehenbleibenden intermediären Knochenbrücke über
Hinter- und Schiäfenlappen rechterseits aufgesetzt, und sowohl die frei-
liegende Substanz, als die unter der Brücke liegenden Partien auf
mindestens 4 mm Tiefe gänzlich entfernt. Der lange Durchmesser der
Hirnwunde betrug ca. 30 mm also mehr als das Doppelte der links-
seitigen. Beide Exstirpationen nahm ich mit dem Löffel vor.
In Folge der linksseitigen Operation erschienen nun rechterseits
sehr erhebliche Störungen des Muskelbewusstseins, die in der gewöhn-
lichen Weise verliefen und noch heute spurweise aber deutlich in der
Art nachweisbar sind, dass der Hund bei Beobachtung gewisser Cau-
telen die Vorderpfote mit dem Dorsum oder in Fuss- und Zehengelenken
eingeknickt aufsetzen lässt und diese Extremität sogar gelegentlich activ
in charakteristischer Weise nach innen und hinten oder nach innen und
vorn setzt.
Hebt man ihn mit zwei Händen an der Rückenhaut auf und lässt
ihn dann herab, so stehen die Zehen der rechten Vorderpfote eigen-
thümlich krallenartig und der Fuss gelangt mehr mit der Spitze der
Zehen als mit der Planta auf den Tisch.
In Folge der rechtsseitigen Operation wurde der Hund auf dem
linken Auge blind, zeigte aber keinerlei Störungen des Muskelbewusst-
seins, wenn man nicht den Umstand dafür gelten lassen will, dass er
in den zwei ersten Tagen nach der Operation zitternd und heulend vor
Furcht die Pfoten manchmal, bei Weitem nicht immer, auf 2 — 3 See.
mit dem Dorsum aufsetzen liess. Auch das war ungeachtet aller Vor-
sicht nach Ablauf dieser zwei Tage nicht mehr möglich, während alle
anderen, bei analogen Läsionen des Gyrus sigmoides unausbleiblichen
Störungen, das Ausrutschen, das active Aufsetzen mit dem Dorsum, das
Einknicken, die Deviationen absolut und vom ersten' Augenblicke an
fehlten.
Recapituliren wir also diese Erfahrungen mit einem Worte, so er-
giebt sich, dass eine kleine Verletzung im Gyrus sigmoides Sym-
ptome in den Bewegungsapparaten setzt, die noch nach ca. 7 Monaten
\vahrzunehmen und aller Wahrscheinlichkeit nach permanent sind, wäh-
rend eine grosse Zerstörung des Hinterhirns zu keinen oder höch-
stens sehr geringfügigen und vorübergehenden Störungen anologer Ver-
richtungen führt.
Endlich besteht noch eine thatsächliche Differenz zwischen den
Goltz'schen Beobachtungen und den meinigen, sie betrifft die Reitbahn-
bewegungen, welche Goltz anführt, während ich ihrer nicht erwähnte.
Auch ich habe anlässlich einiger im Jahre 1874 ausgeführter Opera-
— 219 —
tionen Reitbahnbeweguiigen, oder correcter ausgedrückt, Volteluufen he-
obaclitet, indessen habe ich das Symptom bisher nicht angeführt, einmal
weil es nur ganz ausnahmsweise und dann auch bei ausnahmsweisen
Bedingungen auftrat, und zweitens weil es bei den bisher von mir in
extenso publicirten Experimenten überhaupt nicht vorkam. Soviel steht
fest, dass es keine regelmässige Begleiterscheinung von Läsionen ist,
die erhebliche Störungen des Muskelbewusstseins auslösen.
Alles in Allem liegt die Streitfrage mit Rücksicht auf das That-
sächliche jetzt so, dass Goltz nur grosse Ausschaltungen vornahm
und deshalb die gleichen Erscheinungen von allen Regionen des Gross-
hirns aus hervorbringen konnte, welche ich bei kleinen lediglich von
bestimmten Bezirken aus zu erzeugen vermochte. Wir werden später
sehen, dass ein derartiges Verhalten meinen Anschauungen nicht nur
nicht widerspricht, sondern dass ich dessen Möglichkeit ausdrücklich zu-
gelassen habe.
Welchen Antheil nebenher etwa die von Goltz angewendete Me-
thode des Ausspülens an den erzielten Resultaten gehabt hat, das ver-
mag ich vor der Hand nicht zu beurtheilen. Immerhin steht für mich
soviel fest, dass der Hund recht grosse Abtragungen des Hinterlappens
mit dem Löffel erträgt, ohne nachher Störungen des Muskelbewusstseins
zu zeigen, und dass ich eine Methode, welche Symptome von Druck
auf die Medulla oblongata (Stillstand der Respiration und Herzaction bei
Goltz's Versuchsthieren) involvirt, nur mit einem gewissen Misstrauen
anwenden würde.
Wenden wir uns nunmehr zu den Deutungen. Auch hier wird
mir wieder die Pflicht erwachsen, thatsächliche Irrthümer richtig zu
stellen.
Goltz glaubt, dass es von höchster theoretischer Bedeutung sei,
zwischen vorübergehenden und dauernden Störungen zu unterscheidan, in-
dem er die ersteren als Hemmungs-Reizungserscheinungen gedeutet wissen
will und nur den letzteren den Werth von wirklichen Functionsschädi-
gungen des Grosshirns zugesteht. Er meint, ich habe die hierher ge-
hörigen Bemerkungen von Lussana und Lemoigne nicht gekannt,
ohne dass dies zuträfe. Das Werk dieser Autoren ist mir sehr wohl
bekannt gewesen, aber ich glaubte weder früher, noch glaube ich jetzt,
dass ihre von Goltz angezogenen Ansichten irgend eine Bedeutung für
die hier in Frage kommenden Versuche beanspruchen dürfen.
Wenn die Eintheilung in vorübergehende und dauernde Störungen
einen Werth haben soll, so ist vor allen Dingen erforderlich, dass ge-
nau definirt wird, welche Störungen vorübergehend und welche dauernd
sind. Ich sehe nicht, dass Goltz diese Aufgabe gelöst hat.
— 220 —
Er bezeichnet als dauernde Störungen die Neigung, mit den Pfoten
auszugleiten, und zweitens die Vernachlässigung der afficirten Pfote, wenn
es gilt, dieselbe als Hand zu benutzen. Gleich darauf gesteht er aber zu,
dass auch diese Störungen möglicher Weise vergänglich sein könnten.
Dann gäbe es also überhaupt keine merklichen Functionsschädigungen
des Grosshirns nach Ausrottung von Hirnsubstanz.
In der That sagt nu.n Goltz selbst, dass einige von seinen Hunden
die Fähigkeit, die Pfote zu reichen, wiedergewannen, andere aber nicht.
Man kann diese Störung also doch nicht wohl mit mehr Recht zu den
dauernden zählen, als jene von mir in dem oben mitgetheilten Doppel-
versuch angeführten. M^as aber das Ausgleiten mit den Pfoten angeht,
so sehe ich nicht ein, in wiefern man dasselbe von den übrigen, von
mir beschriebenen Motilitätsstörungen trennen kann. Es zeigt eine Un-
sicherheit, eine Schwäche des Beines, vielleicht eine mangelhafte Orien-
tirung über dessen Zustände an. Dieselben bedingenden Momente werden
aber auch dann vorauszusetzen sein, wenn der Hund die Pfote mit dem
Dorsum aufsetzen lässt, ohne sie zu reponiren, wenn er sie in falsche
Stellungen bringt, wenn er in ihren Gelenken einknickt. Es kommt
dazu, dass die zuletzt angeführten Symptome ebensowohl zu der gleichen
Periode der theilweisen Restitution in den Vordergrund treten können,
als das Ausgleiten. Während wir demnach die von Goltz für so wich-
tig gehaltene Trennung in vorübergehende und dauernde Störungen, was
die Bewegung angeht, als undurchführbar, jedenfalls aber als bisher
noch nicht durchgeführt erachten, kann man allerdings die Frage auf-
werfen, ob diese Störungen und die Alterationen der Bewegung über-
haupt directe Motilitätsstörungen sind, oder ob sie einer Beein-
flussung der Sensibilität ihren Ursprung verdanken.
Wenn man diese Frage erörtern will, so muss man in jedem Falle
zwischen der Hautseusibilität und den sensibeln Eigenschaften des Be-
wegungsapparates unterscheiden. Goltz hat schon mit Recht darauf
hingewiesen, dass man den Verlust der Fähigkeit, die Pfote zu geben,
nicht wohl durch eine Sensibilitätsstörung erklären könne. Man kann
aber noch auf andere Art nachweisen, dass der Bewegungsapparat direct
von einer Störung getroffen ist, die ihre Wirkungen ohne Dazwischen-
kunft der Hautsensibilität zur Geltung bringt.
Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass operirte Hunde, welche
an der Rückenhaut schwebend gehalten oder unter dem Kinn gefasst,
nur mit den Vorderfüssen vom Tisch entfernt werden, eine merkwürdige
Deviation der Extremitäten und auch der Wirbelsäule (Goltz) zeigen.
Diese Deviation kann mit der Hautsensibilität nichts zu thun haben.
Ebensowenig kann das sonderbare Einknicken in den Gelenken auf einen
— 221 —
Ausfall innerhalb dieses Gebietes von Wahrnehmungen bezogen werden.
Ferner, wartet man bis der grössere Theil der initialen Störungen sich
ausgeglichen hat, so lässt sich nachweisen, dass die Hautsensibilität zu
einer Zeit intact ist, zu der doch noch das oben beschriebene charakte-
ristische Bild der Störung des Muskelbewusstseius von dem Kundigen
und Geduldigen zur Anschauung gebracht werden kann. Setzt man
nämlich dem Hunde die Spitze einer Nadel auf die Pfote, so sieht er
hin, sticht man zu, so zieht er die Pfote fort. Hebt man ihn dann mit
zwei Händen an der Rückeuhaut auf u.nd berührt leise eine Pfote nach
der anderen mit der Hand, so entzieht er sie sämmtlich und gleichmässig
der Berührung, eine Bewegung, die er nach entsprechenden Eingriffen
in das Grosshirn mit den kranken Pfoten unter Umständen anfänglich
nicht ausführt.
Wenn der Hund nun nicht nur die Fähigkeit Schmerz zu empfinden
besitzt, sondern wenn er auch durch so überaus geringfügige Tastreize
zu Aenderungen in der Stellung seiner Glieder veranlasst wird, warum
sollten so viel gröbere Berührungen, wie das Aufsetzen des Dorsum
der Zehen auf den Tisch nicht die gleichen Centralapparate zur Be-
thätigung bringen, vorausgesetzt dass wirklich die Hautseusibilität hier
die entscheidende Rolle spielte.
Giebt man zu, dass die von mir sogenannten Störungeji des Muskel-
bewusstseius in einer späteren Periode nicht von Störungen der Haut-
sensibilität herrühren, so kann mau unmöglich annehmen, dass sie
während einer früheren Periode diesen Ursprung hatten, wenn sie
auch zu der Zeit vielleicht mit, solchen Symptomen vergesellschaftet
waren.
Bevor wir uns nun näher auf die Erörterung des wahrscheinlichen
Grundes aller der sonderbaren Bewegungsstörungen einlassen, wollen
wir noch einige andere, nach Exstirpationen im Gyrus sigmoides be-
obachtete Erscheinungen zusammenstellen.
Ich hatte bereits früher*) angeführt, dass Hunde mit Störung des
Muskelbewusstseins blindlings mit der kranken Pfote über den Tisch-
rand in's Leere treten, sodass sie vom Tisch fallen, gerade als wenn
sie blind wären, obwohl sie nachweislich auch auf dem Auge der affi-
cirten Seite nicht blind sind und sich selbstverständlich der vollen
Integrität des anderen Auges erfreuen. Diesen Zustand hatte ich dahin
charakterisirt, „dass die Hunde sich mit der kranken Vorderpfote so
„benehmen, als ob für dieses Glied die Gesichtseindrücke nicht existiren,
„oder als ob die Gesichtseindrücke nicht zur Bildung von Vorstellungen
*) S. 111 f.
— 222 —
„für dasselbe verwerthet würden." Andere Erklärungen und Hypo-
thesen hatte ich meinem Principe der Zurückhaltung gemäss nicht
hieran geknüpft, aber doch ist Goltz gar schnell bereit gewesen, meine
„Erklärung" ohne weitere Discussion als unrichtig zu bezeichnen.
Seiner Meinung nach tritt der Hund wegen mangelnder Sensibilität in's
Leere.
Etwas dem geschilderten Verhalten ganz Aehnliches kann man nun
beobachten, wenn operirte Hunde sich an einem Tische bewegen, dessen
Füsse nahe dem Boden mit einer horizontalen Leiste versehen sind,
oder wenn man ihnen auch ein Seil dorthin spannt. Sie stossen sich
dann mit dem kranken Vorderbeine an der Leiste oder dem Seile. Hat
man aber beide Seiten operirt, so stossen sie sich mit beiden Vorder-
beinen, wodurch übrigens die Beobachtung wesentlich erleichtert wird.
Hingegen stossen sie niemals mit dem Kopfe oder gesunden Extremi-
täten an, sondern bewegen sich in dieser Beziehung mit vollkomnaener
Sicherheit zwischen einem Walde von Stuhlbeinen dahin. Sie sehen
also und doch stossen sie mit den afficirten Beinen an. Hunde, die
in Folge einer grossen Laesion des Hinterlappens blind gew'orden sind,
verhalten sich ganz anders. Sie stossen mit der Schnauze statt mit
der Pfote an diejenigen Dinge an, welche sie nicht sehen, und treten
nicht in's Leere, sondern orientiren sich mit dem gesunden Auge.
Auch jenes Anstossen mit den Pfoten würde Goltz wahrscheinlich
durch eine Sensibilitätsstörung erklärt wissen wollen, ohne dass ich ihm
bei dieser, wie bei der schon früher erwähnten Beobachtung über das
in's Leere Treten beipflichten könnte. Denn wenn der Mangel an
Tastsinn Veranlassung zu den abnormen Bewegungen sein sollte, so
müsste vorausgesetzt werden, dass der unverstümmelte Hund jene Fehler
in der Norm mit Zuhülfen ahme des Tastsinns vermiede, dass er dabei
taste, was nachweislich nicht der Fall ist und auch gar nicht der Fall
sein kann.
Nehmen wir nämlich an, dass das gesunde Thier nicht durch die
aus' den Gesichtsbildern sich entwickelnden Vorstellungen an dem un-
zweckmässigen Ueberschreiten des Tischrandes gehindert würde, sondern
dass es hierzu tasten müsse, so ist nicht ersichtlich, welches Tastobject
bei dem Hinaustreten in die Luft etwa zur Regulirung dienen könne,
weil keines vorhanden ist. Niemand, der einen gesunden Hund auf
einem Tische laufen sieht, dürfte wohl auch den Eindruck erhalten,
dass derselbe an den Rändern taste, ob jenseits eine Stütze für den
Fuss vorhanden sei, sondern er wird finden, dass sich das Thier mit
den Augen orientirt. Das von Goltz bei dem Gesunden vorausgesetzte
Verhalten würde nicht demjenigen eines gesunden, sondern demjenigen
- 223 —
eines seit längerer Zeit blinden Hundes entsprechen, welcher erst
tasten muss, bevor er die intendirte Bewegung ausführt; der gesunde
Hund intendirt die unzweckmilssige Bewegung aber gar nicht, er tritt
nicht über den Tischrand, um vielleicht dann erst die Pfote zurückzu-
ziehen, und er bringt sein Bein gar nicht in die Gefahr, an die Leiste
zu stossen, um es vielleicht erst nach Beginn der Berührung zurückzu-
ziehen. Der Verstümmelte hingegen stösst plump an die Leiste, als
wenn sie nicht da wäre, und er schreitet besinnungslos in's Leere, als
wenn die Tischplatte sich dorthin fortsetzte.
Wir finden also, dass hier eine Anomalie scheinbar im Gebiete
der Sehorgane vorhanden ist, welche mit dem, was man Blindheit nennt,
insofern nichts zu thun hat, als die auf die Ausbreitung des Sehnerven
■wirkenden Reize nach dem Gehirn fortgeleitet und für eine Anzahl von
Körpertheilen in der normalen Weise, für andere aber gar nicht ver-
werthet werden.
Ich bedauere, dass ich der mir auferlegten Beschränkung gemäss
an dieser Stelle nicht auf gewisse überaus interessante Beobachtungen,
welche Goltz über Störungen des Sehvermögens und der Empfindung
nach grossen Exstirpationen machte, eingehen kann. Die Lücke, welche
hierdurch in meiner Beweisführung und in dem Bilde, welches ich nun
zu zeichnen gedenke, entsteht, entgeht mir nicht, aber ich hoffe doch,
dass das für jetzt benutzbare Material dem Leser meine Ansicht hin-
reichend begründen wird. Die Zeit wird dann mehr bringen.
Beginnen wir mit der schönen Beobachtung von Goltz, dass der
verstümmelte Hund, welcher ziemlich ordentlich gehen kann, nicht im
Stande ist, die Pfote zu geben, obwohl er gern möchte. Goltz sagt
hierüber: „Zwischen dem Organ des Willens und den Nerven, die den
„Willen ausführen, hat sich irgendwo ein unbesiegbarer Widerstand
„aufgebaut. — — Nur wenn der Willensimpuls zum Gehen und Laufen
„gegeben wird, spielt die rechte Vorderpfote in dem regelmässigen
„Maschineugetriebe mit."
Ich stimme dieser Ausführung zu, aber ich gehe weiter, indem
ich den fraglichen Widerstand seinem Wesen nach zu erklären
suche. Meiner Ansicht nach reicht der Hund die Pfote darum nicht,
weil er sich keine oder nur unvollkommene Vorstellungen von
dem Zustande der ßewegungsorgane dieses Gliedes bilden kann.
Denn wenn er die Zustände seiner Bewegungsorgane auf Grund
eines Willensactes isolirt und in zweckmässiger Weise ändern soll,
so ist erforderlich, dass sein Sensorium von diesen Zuständen, w^enn
auch nur in der hier die Regel bildenden unklaren Weise Kenntniss
hat. Ein Organ, durch welches diese Kenntniss vermittelt wird, muss
— 224 —
im Gehirn uothwendiger Weise existiren, und ich glaube, dass der
Gyrus sigmoides, ich will nicht gerade sagen, dieses Organ ist, aber
doch etwas damit zu thun hat,
Zur Auslösung von Bewegungen ganz allgemein gesprochen, also
z. B. von Ortsbewegungen, ist die Gesammtsumme dieser Kenntniss.
welche sich nämlich aus den einzelnen Factoren der die einzelnen
Glieder betreffenden Bewusstseiusvorgänge zusammensetzt, nicht er-
forderlich. Es genügt hier, dass der Bewegungsimpuls überhaupt von
der Grosshirnrinde zu den niederen Bewegungscentren gelange, um ihre
Maschinerie in Thätigkeit zu setzen. Die kranken Glieder spielen dann
so gut es ohne das ihnen z.ugehörende Theil Grossbirn eben gehen will
mit. Sofort macht sich aber der Defect im Grosshirn bei der Be-
wegung bemerklich dadurch, dass der Hund die Pfote in den einzelnen
Gelenken ungeschickt bewegt, sie nach innen oder aussen setzt, sie mit
dem Dorsum aufsetzt u. s. w. Nähme er wahr, dass die Pfote sich in
diesen abnormen Stellungen befindet, so würde er dieselben aufgeben,
oder vielmehr, hätte er vollkommene Kenntniss von dem Zustande
seiner Bewegungsorgane, so würde er diese abnormen Stellungen über-
haupt nicht einnehmen, denn die Beobachtung lehrt, dass eine absolute
Unmöglichkeit normale Stellungen und Bewegungen einzunehmen durch-
aus nicht vorliegt. Es ist aber nur ein Zufall, wenn die Pfote solche
normale Bewegungen macht, in der Regel fällt die der Norm adaequate
Begrenzung der einzelnen Bewegungsglieder, die nur aus der unaufhör-
lichen Kenntnissnahme jeder einzelnen Beweguugsphase resultiren kann,
dahin .
Auf dieselbe Linie stelle ich endlich die Erscheinung, dass _der
Hund sich mit den afficirten Pfoten stösst und sie in's Leere setzt.
Auch hier entstehen unzweckmässige Bewegungen, weil das Sensorium
nicht über die Zustände des Gliedes orientirt ist. Die Bewegungs-
maschiuerie ist einmal in Thätigkeit gesetzt, ihre Verrichtungen spielen
sich annähernd in der gewöhnlichen Weise ab, aber deren Einzelheiten
werden nicht in der normalen Weise durch die vermöge des Gesichts-
sinnes im Sensorium hervorgebrachten Aenderungen regulirt, mit anderen
M'^orten: „die Gesichtseindrücke werden nicht zur Bildung von Vorstel-
lungen für das fragliche Glied verwerthet."
Alle diese Phaenomene besitzen also das Gemeinschaftliche, dass
äusserliche Zustände — einmal die der Muskeln, das andere Mal
die der Objecto des Raumes vom Sensorium für die Bewegungen
des kranken Gliedes, aber nur für diese nicht in Rechnung
gestellt werden.
In dieser Weise erkläre ich mir die verschiedenen, nach Laesionen
— 225 —
des Gyrus sigmoides auftretenden Functionsstörungen, ihre Verknüpfung
mit einander und ihre Localisation auf eine kleine cerebrale Stelle.
So weit ich die Sache übersehen kann, dürften auch die Sensibilitäts-
störungen einer analogen Deutung unterliegen. Ich bin wenigstens
nicht im Stande, eine andere Auffassung ausfindig zu machen, welche
die Summe dessen, was wir bis jetzt sicher wissen, in befriedigender
Weise zu erklären vermöchte. —
Goltz schreibt mir über die Thatsache der Restitution verloren
gegangener cerebraler Functionen Ansichten zu, welche ich mit der von
ihm vorausgesetzten Bestimmtheit nicht ausgesprochen, ja sogar solche,
von denen ich das Gegentheil gesagt habe. Nach Goltz würde ich
diese Restitution lediglich als Folge unvollkommener Zerstörung dieses
oder jenes Centrums auffassen und anderen Deutungen, insbesondere
derjenigen, dass die gesunde Hirnhälfte für die verletzte einträte,
keinen Raum gelassen haben. Die von mir gebrauchten Worte lauten
folgendermassen :
„Daraus (Restitution) lässt sich aber nicht das Geringste schliessen,
„denn der sich eröffnenden Möglichkeiten sind zu viele. Eine sehr
„einfache Annahme ist z. B. die, dass man nicht das ganze Centrum
„zerstört hat u. s. w.*) — — — Dennoch bin ich weit entfernt, ihn
„(diesen Gedanken) für den einzig richtigen auszugeben, — —
„Wir haben nicht daran gedacht in dieser Beziehung irgend
„welche Grenzen für irgend ein Centrum anzugeben, noch die
„Möglichkeit zu behaupten oder auszuschliessen, dass ein solches
„doppelt vorkäme, sondern wir haben nur den Satz aufstellen wollen
„und wir erhalten ihn aufrecht, dass die einzelnen in Frage stehenden
„ Hirnfun ctionen sich bestimmter, irgendwo aber wohl begrenzter Hirn-
„organe bedienen ii. s. w.**)
Wenn ich also die unvollkommene Zerstörung eines Centrums nur
als eine von vielen Möglichkeiten aufzählte, so habe ich, weit ent-
fernt davon die Möglichkeit des Eintretens der anderen Hemisphäre zu
bestreiten, sogar Beweise dafür beigebracht, dass dieselbe schon in der
Norm durch ihren Linsenkern (Vgl. Anmerkung 7) zu den Bewegungen
der ihr gleichnamigen Seite mitwirkt.*''*)
Ich bin vielfach durch allerlei Angriffe und Deutungen Anderer
gezwungen worden, auf Möglichkeiten hinzuweisen, die von anderer
Seite nicht berücksichtigt waren, mich in psychologische Erörterungen
*) S. 58.
**) S. 58f.
***) S. 50, 51,
Hitzig, Gesammelte Abhandl. I. Theil. 15
— 226 —
einzulassen, die mir unerwünscht kamen. Aber doch bin ich mir be-
wusst, überall mit der nöthigen Vorsicht verfahren zu sein, und nament-
lich wohl unterschieden zu haben, was eine nothweudige Folgerung
aus den vorhandenen Thatsachen und was eine subjective Meinung des
Autors war. Wir werden im Folgenden noch sehen, wem von beiden,
ob Goltz oder mir mit grösserem Eecht der Vorwurf der Unvorsichtig-
keit in den Schlüssen gemacht werden kann.
Ich hatte oben den Nachweis versprochen, dass das Auftreten von
Bewegungsstörungen nach Verletzungen anderer als der in der erreg-
baren Zone gelegenen Hirutheile meinen früher geäusserten Anschau-
ungen keineswegs widerspräche. In der That fand ich mich anlässlich
des von mir selbst beigebrachten Nachweises eines auf Zerstörungen
anderer Hirnpartien folgenden „Defectes der Willensenergie" bereits
bewogen, au folgenden im Jahre 1870 geschriebenen Passus zu er-
innern :
„Es ist nicht undenkbar, — dass der Hirntheil, welcher die Ge-
„burtsstätte des W^ollens der Bewegung einschliesst, noch ein anderer
„oder vielleicht ein Adelfacher ist: dass die von uns Centra genannten
„Gebiete nur Vermittler abgeben, Sammelplätze u. s. w."
Es ist ja einerseits klar, dass die Zerstörung von „Sammelplätzen"
bei weitem stärkere und mehr Symptome zur Folge haben muss, als
die Zerstörung eines Theiles der Plätze, auf deren Summe alles das
entstellt, was nachher gesammelt wird.*) Aber dass Eingrifi'e und noch
dazu sehr grosse Eingriffe in die letzteren überhaupt nichts der Art
nach Aehnliches hervorbringen sollten, davon ist nicht nur nichts ge-
sagt, sondern es ist das Gegentheil gesagt.
Was hat nun Goltz an die Stelle der von mir mit aller Vorsicht
und Zurückhaltung ausgesprochenen Anschauungen zu setzen versucht?
Einen Satz, den er für ebenso sichergestellt hält, als ich ihn für un-
richtig halte. Er erklärt die von mir und Anderen beschriebenen
„groben Störungen der Bewegung nach Verletzung des Grosshirns durch
einen Hemmungsvorgang, welcher sich von der Hirnwunde aus nach
hinten fortpflanzt. Vermöge dieser Hemmung werden eine sehr grosse
Zahl von Centren, die selbst durch die Operation nicht im geringsten
geschädigt werden, für kürzere oder längere Zeit gelähmt." Diese
Centren sollen ihren Sitz im Kleinhirn haben.
Vergegenwärtigen wir uns die Thatsachen. Wenn ich im Gyrus
sigmoides eine kleine Verletzung anbringe, sehe ich, kurz gesagt,
Lähmungserscheinungen. Wenn ich aber dieselbe Verletziuig hinten
*) S. 6.
— 227 —
oder ganz vorn anbringe, so sebe ich keine Lähmungserscheinungen.
Setze ich nun mit Goltz voraus, dass die Lähmungserscheinungen,
wenn sie entstehen, durch Fortpflanzung eines Reizes nach dem Klein-
hirn bedingt werden, so folgt, dass der Reiz an denjenigen Stellen, wo
Lähmungserscheinungen zu erzeugen sind, zunächst einmal Bahnen
findet, auf denen er sich nach dem Kleinhirn fortpflanzen kann, und
dass er an den anderen Stellen keine solchen Bahnen findet. Die in
den Windungen des Grosshirns vorkommenden Nerven münden aber in
graue Massen der Rinde, sind also nicht einfache Bahnen, sondern ge-
hören zu Centren. Beide wirken selbstverständlich zu derselben Func-
tion mit, also haben diese Centren jedenfalls wie die Bahnen etwas
mit der Bewegung zu schaffen, mag ihr Weg nun durch das Kleinhirn
gehen oder nicht.
Wenn aber hier mit solchen specifischen Eigenschaften begabte
Centren liegen, so bedarf man der Annahme einer Passage durch das
Kleinhirn garnicht. Sie erscheint überflüssig und darum künstlich.
Das Wenige, was wir bis jetzt über die Restitution wissen, ist an und
für sich nicht geeignet, eine derartige Annahme zu rechtfertigen, und
was von der angeblichen Vollständigkeit der Restitution zu halten ist,
das lehrt der oben angeführte Doppelversuch.
Etwas Anderes wäre es, wenn alle gleichartigen, also auch die
kleinen Verletzungen an allen Stellen des Gehirns den gleichen Effect
hätten. Dann wäre von Localisation keine Rede, dann könnte man
auch die Hemmungstheorie verfechten. Aber, dass dem nicht so ist,
das habe ich durch meine im Jahrgang 1874 dieses Archivs mit-
getheilten localisirten Exstirpationsversuche bewiesen, und ich kann
mich durch Versuche, bei denen von Localisation gar keine Rede ist,
von meinen Ueberzeugungeu nicht abbringen lassen.
Goltz befindet sich ferner im Irrthum, wenn er meint, es seien
gerade die Organe der groben maschinenmässigen Bewegungen, wie
Gehen, Laufen u. s. w., welche geschädigt werden. Meine Hunde liefen
und gingen vielmehr gleich nach der Operation gelegentlich ganz vor-
trefflich, zeigten aber Störungen in den feineren Details der Anord-
nung und der Controlle ihrer Bewegungen, wie ich das eben geschildert
habe. Mir wird es nun ganz unmöglich zu verstehen, wie diese Stö-
rungen, wenn sie wirklich auf Hemmungsvorgängen beruhten, nach
Massgabe der Grösse der Exstirpation ait Umfang zunehmen, anhalten
und verschwinden sollen.
Kennt man irgend einen pathologischen Nervenreiz, der wie dieser
Monate lang continuirlich anhaltende Wirkungen producirt? Wie ist
15*
— 228 —
der Umstand zu erklären, dass der elektrische Reiz Bewegungen und,
nach seiner Unterbrechung, Nachbewegungen, nicht aber Hemmungen
setzt? Wie gedenkt Goltz mit den Erfahrungen am Menschen, mit den
dauernden Hemiplegien nach Läsionen des vorwärts vom Kleinhirn ge-
legenen Corpus striatum fertig zu werden, wie mit den anatomischen
Daten? Alles das sind Fragen, die sich durch eine einfache Uebertra-
gung von am Rückenmark und am Frosche gemachten Beobachtungen
auf das Gehirn höherer Thiere keineswegs erledigen lassen.
Endlich kommen neben den Bewegungsstörungen auch die Störungen
der Empfindung und des Sehvermögens in Betracht. Ich kann unge-
achtet der für weitergehende Schlüsse nicht zureichenden Zahl meiner
Beobachtungen doch versichern, dass nach vielen Verletzungen des Ge-
hirns nichts davon wahrnehmbar ist, und dass nach anderen Verletzun-
gen die Symptome gerade wie bei den Bewegungsorganen wieder ver-
schwinden. In den von Goltz mitgetheilteu Beobachtungen finden sich
gleichfalls Beispiele von schneller Restitution dieser Functionen dort
nämlich, wo die vorgenommene Ausschaltung nicht allzu massenhaft war.
Sollen nun auch die wesentlichen Centra für die Sensibilität und das
Sehvermögen ihren Sitz im Kleinhirn haben und durch Heramungsvor-
gänge temporär ausser Thätigkeit gesetzt werden können? Hypothesen,
welche alle modernen Anschauungen so gründlich erschüttern, sollten,
wie ich meine, nur mit grösster Vorsicht und nicht ohne eine sehr weit-
reichende Begründung ausgesprochen werden.
Resumiren wir den Inhalt dieses Aufsatzes, so finden wir
1) dass durch die Summe der vorhandenen Thatsachen die An-
nahme von Hemmungsvorgängen nicht erfordert wird, sondern dass man
mit der einfacheren Annahme von Ausfallsvorgängen auskommt.
2) Dass, wenn dies nicht der Fall wäre, und man demnach einige
Berechtigung zur Annahme von Hemraungsvorgängen hätte, inzwischen
noch jede klare Definition dessen fehlt, was man als Product der Rei-
zung — Hemnmng auffassen soll und was nicht.
3) Dass Goltz zu ganz irrthümlichen Ansichten um deswillen ge-
langte, weil er den in der Localisirung liegenden Fortschritt verkennend,
wieder zu den früher üblichen grossen Ausschaltungen zurückkehrte,
ohne den neuen Methoden die ihnen gebührende Berücksichtigung zu
schenken.
Wenn ich also auch die zahlreichen neuen von Goltz beigebrach-
ten Thatsachen und ihre anmuthige Darstellung Avie wohl jeder Forscher
mit wahrem Vergnügen begrüsst habe, so kann ich doch nicht umhin,
- 229 —
den von Goltz eingesclilagenen Weg als einen solchen zu bezeichnen,
der nicht gerade zum Ziek^ führt, mit einem Worte als einen Umweg. —
Möge mir endlich Goltz die Bitte verzeihen, dass er sich durch
diese Vertheidigung meiner Arbeiten und meines Standpunktes nicht zu
noch grösserer Herbe fortreissen lasse, als ich schon einmal ganz
ahnungslos bei ihm erregen musste.
Zürich im October 1876.
XL Zur Physiologie des Grrossliirus.
Vortrag gehalten in der Sitzung der südwestdeutschen Neurologen und
Irrenärzte am 17. Juni 1883.
Im Laufe der sechs Jahre, während deren ich, durch äussere Um-
stände verhindert, über mein altes und heutiges Thema nichts publicirt
habe, ist dasselbe durch eine übergrosse Zahl anderer Forscher in der
ausgiebigsten Weise bearbeitet worden, wie Ihnen das ja bekannt ist.
Ich bin hierbei Gegenstand mannigfacher Angriffe gewesen. Indessen
betreffen dieselben, wie ich zu meiner Freude constatiren kann, doch
fast ausschliesslich die Deutung der Thatsachen, oder richtiger gesagt,
meistens Deutungen, welche man mir untergeschoben hat. Die That-
sachen selbst hat man mit einer einzigen Ausnahme stehen lassen
müssen. Diese Ausnahme betrifft die von mir ausgesprochenen An-
sichten über die Function der Vorderlappen des Grosshirus. Hierüber
und über einige streitige Deutungsversuche wollen Sie mir eine kurze
Mittheilung gestatten.
In meinen früheren Arbeiten hatte ich die Spitze des Vorderlappens,
den jetzt sogenannten Stirnlappen des Hundes für nicht motorisch erklärt.
Reizversuche ergaben keine Zuckung, Lähmungsversuche Hessen keine
Alteration der Bewegung in die Erscheinung treten.
Später hat Munk in zwei verschiedenen Arbeiten das Gegentheil
behauptet. Er erhielt auf Reizung mit Inductionsströmen Zuckungen und
bei Exstirpationen Lähmungen, so dass er den von ihm sogenannten
Stirnlappen nunmehr gänzlich für die Innervation der Rumpfrauskeln
in Anspruch nahm. Dies veranlasste ihn dann gegen die allgemein
angenommene und auch von mir vertretene Ansicht, dass die Stirn-
lappen der Sitz der Intelligenz im höheren Sinne seien, zu pole-
misiren.
Sowohl die thatsächlichen Angaben Munk's als seine Folgerungen
gaben mir zu den erheblichsten Bedenken Veranlassung, so dass ich
— 231 —
meine alten Untersuchungen über diese Region von Neuem aufn.'ihni.
Sie sind aber wegen meiner steten Ueberliäufung mit anderen Arbeiten
noch nicht zum Abschluss gekommen. Ich werde mich deshalb mit
einer gewissen Beschränkung auszudrücken haben.
Die Reiz versuche Munk's übergehe ich. Sie sind mit Strömen
von solcher Intensität angestellt, dass sie ohne Lähmungsversuche über-
haupt nichts beweisen würden. Bei seinen Lähmungsversuchen
aber fand er, dass die Hunde nach Abtrennung des Vorderlappens an
einer dauernden contralateralen Lähmung der Rumpfmuskulatur litten.
War die Operation einseitig ausgeführt, so verloren die Hunde dauernd
die Fähigkeit ihre Wirbelsäule hakenförmig nach der anderen Seite zu
krümmen. War sie doppelseitig ausgeführt, so entstand nebenbei eine
katzenbuckelartige Krümmung der Wirbelsäule.
Ferner giebt Munk in negativer Beziehung an, dass der Gesichts-
mid Gehörssinn dieser Thiere zu keiner Zeit irgend weiche Störungen
erkennen Hess, und dass ihre Intelligenz derart ungeschädigt sei, dass
ihn jahrelange Beobachtungen nicht einen einzigen Zug entdecken
Hessen, durch welchen diese Hunde sich von unversehrten Hunden
unterschieden.
Nach meinen Versuchen stellt sich die Sache etwas anders. Zu-
nächst ist der Katzenbuckel und die Aufhebung der seitlichen Bewegung
der Wirbelsäule keineswegs so leicht und regelmässig zu produciren^
wie man glauben sollte. Ich kann nicht bestreiten, dass diese Symp-
tome, wenn man genau nach Munk operirt, vorhanden sein können^
und da sie vorher weder von mir noch von Anderen producirt werden
konnten, so erkenne ich den in ihrer Aufdeckung liegenden Fortschritt
bereitwillig an. Indessen ist soviel nach meinen Versuchen sicher,
dass man durch Abtrennungen und sogar Auslöffelungen der Hirn-
substanz die erheblichsten einseitigen und doppelseitigen Zerstörungen
anrichten kann, ohne dass die gedachten Erscheinungen eintreten.
Hier besteht also eine höchst auffällige Differenz gegen die Erfolge
von Zerstörungen anderer Grosshirntheile. Während dort die kleinsten
Eingriffe in die Rinde deutliche Störungen in den Bewegungen oder im
Sehvermögen zur Folge haben, kaun man hier sogar die Markstrahlung
tief verletzen, ohne dass man dasjenige alterirt findet, was die besondere
Function dieser Region ausmachen soll. Ja man sieht von solchen
Functionsstöruugen sogar in den ersten Tagen, während deren auch die
Umgebung der Hirnwunde durch das Trauma vorübergehend ausser
Function gesetzt wird, ganz und gar nichts.
Auf der anderen Seite habe ich, wiederum abweichend von Munk^
erhebliche Sehstörungen auf dem gegenüberliegenden Auge, Störungen
— 232 —
in der Bewegung der Extremitäten und vor Allem einen erheblichen
Intelligenz defect beobachtet.
Ich verwendete zu diesen Versuchen Thiere, deren Benehmen vor
der Operation genau studirt war, und die ausserdem noch möglichst gut
abgerichtet waren. Namentlich wurden sie daran gewöhnt, ihr Futter
mit oder ohne Zuhülfenahme eines Stuhles auf einem Tische zu suchen.
Nach doppelseitiger Operation hatten sie diese Kunststücke ver-
gessen und lernten sie auch nicht wieder. Ja sie zeigten eine so hoch-
gradige Gedächnissschwäche, dass sie die Existenz von eben gesehenen
Fleischstücken wieder vergassen. Solche Hunde fressen allerdings
Fleisch, das mau ihnen vorwirft, so lange sie es sehen, aber sie suchen
die ihnen bekannten Futterplätze nicht, wie gesunde Hunde auf.
Ausserdem zeigen sie noch eine Reihe von anderen Veränderungen in
ihrem Benehmen, auf die ich jetzt nicht näher eingehen will.
Ob diejenigen Störungen, welche man in den Bewegungen der Ex-
tremitäten beobachtet, durch eine secuudäre Betheiligung des benach-
barten Gyrus sigmoides bedingt sind, wie Aehnliches ohne Zweifel
rücksichtlich einer Anzahl an der Zunge und den Lippen zu consta-
tirender Alterationen zutrifft, will ich für jetzt gleichfalls dahin gestellt
sein lassen.
Hingegen kann ich diese Deutung für die Sehstörungen nicht zu-
lassen. Diese verschwinden allerdings nach einigen Tagen, so dass ich
leichtes Spiel mit ihnen hätte, wenn ich, wie dies von meinen Gegnern
durchgehends und sonst vielfach geschieht, auf das, was zu dieser Zeit
beobachtet wird, überhaupt kein Gewicht legte. Aber auch in dieser
Hinsicht bleibe ich meinen früher geäusserten Ansichten treu. Freilich
nicht ohne besondere Kritik dürfen die Symptome dieser Tage benutzt
werden. Dann aber geben sie sehr werth volle Fingerzeige für die Vor-
stellungen, die man sich von dem Hirnmechanismus im Allgemeinen
zu bilden hat. In der That vermag ich nicht einzusehen, welchen Ein-
fluss ein Trauma der Spitze des Vorderhirns auf die Hinterhauptslappen
— die Sehsphäre — ausüben sollte, es müssten denn directe Verbin-
dungen zwischen den beiden Hirntheilen existiren, und ganz das
Gleiche muss ich auf Grund ähnlicher Erfahrungen bei grossen
Zerstörungen im Gebiet des Gyrus sigmoides für diese Region an-
nehmen.
Ich stimme, was die Thatsache angeht, also soweit mit Goltz
übereiu, wie ich ausdrücklich constatiren möchte. Wer deshalb aber
meinen sollte, dass ich meinen früheren Standpunkt der Localisation
aufgegeben hätte, um mich in das Lager von Goltz zu begeben, der
würde sich irren.
— 233 —
Bevor ich hierin weiter gehe, habe ich einer Arbeit von Schiff
zu gedenken. Dieser Forscher hat bekanntlich schon seit 10 Jahren
die Ansicht verfochten, dass die durch elektrische Reizung des Hirns
bewirkten Zuckungen nichts anderes seien als Reflexbewegungen, welche
ausgelöst würden durch die Reizung centraler Ausbreitungen der Tast-
nerven. Ich habe keine Veranlassung, auf seine frühere Argumentation
rmd die Gründe seiner Gegner, zu denen auch ich zähle, hier näher
einzugehen, und ebensowenig kann ich mich auf eine Besprechung
seiner neuesten Arbeit sonst einlassen. Schiff führt eine wahre Höllen-
maschine von neuen Thatsachen in's Gefecht. Nun sind Thatsachen ja
freilich die Hauptsache. Aber mir scheint, sie sollten doch etwas
mehr nebeneinander und nicht so übereinander aufgebaut sein, wie das
bei Schiff diesmal der Fall ist. Sonst macht das Gebäude eben den
bedenklichen Eindruck eines Kartenhauses, das in sich zusammenstürzt,
wenn eine einzige Karte entfernt wird. Ich berühre also nur einige
Punkte.
Schiff spricht immer von solchen Reflexbewegungen, die in Folge
heftiger und ausgebreiteter Tastempfindung entstünden, und von denen,
die nach elektrischer Reizung entstehenden Bewegungen nicht zu unter-
scheiden sein sollen. Ich muss nun gestehen, dass ich weder Reflexbewe-
gungen kenne, die lediglich von solchen Tastreizen ausgelöst würden,
noch dass mir je Reflexbewegungen A^orgekommen sind, die irgend eine
Aehnlichkeit mit einer grossen Zahl der elektrischen Reizefi'ecte hätten,
ich nenne nur das Herausstrecken der Zunge oder die durch schwache
Ströme zu bewirkende Contraction einzelner Muskelbündel.
Durch Braun zunächst war Schiff Folgendes vorgehalten worden.
Wenn es sich um Reflexe handle, so niüssten die Zuckungen nach Ent-
fernuQg der grauen Rinde, insofern diese das Reflexcentrum vorstelle,
fortfallen, was nicht zutrifft. Schiffs neueste Hypothese verlegt nun,
offenbar um diesem sehr berechtigten Einwände zu begegnen, dieses
Reflexcentrum aus der Rinde an eine andere Stelle, ohne diese näher
zu bezeichnen. Die centripetalen den Reflex aufnehmenden Fasern
sollen mit den Hintersträngen des Rückenmarks aufsteigen, unter der
Hirnrinde hinstreichen und sich dann wieder in die Tiefe begeben, um
in dem neuen Reflexcentrum zu münden. Von hier stiegen die centri-
fugalen Fasern wieder bis nahe an die Rinde herauf, in deren Nähe
sie weiter nichts zu suchen haben, um endlich in die Hinterseitenstränge
zu münden. Allerdings ist diese Hypothese nöthig, um alle That-
sachen zu erklären, die theils von Schiff, theils von Anderen vor-
gebracht worden sind. Aber wem von Ihnen entgeht nicht ihre Künst-
lichkeit, wer wird nicht fragen, zu welchem Zwecke sich denn alle
— 234 —
diese Fasern ganz dicht unter der Rinde, in die sie nicht hinein-
gelassen werden, Rendezvous geben? Ferner sind die Bewegungs-
störungen, welche sofort nach minimalen oberflächlichen Verletzungen
der Rinde zu constatiren sind, auf diese Weise nicht zu erklären.
Ausserdem ist dieses Schema trotz seiner Künstlichkeit noch nicht
künstlich genug. Denn Schiff hat übersehen, dass die elektrischen
Reizeffecte nach vollzogener Abtragung der Rinde nunmehr wegen
Trennung der centrifugalen — seiner kinesodischen — Bahnen fort-
fallen müssten, was nicht zutrifft, und endlich wird man, bevor man
„die Fahne wechselt" wie Schiff verlangt, getrost abwarten dürfen,
dass er uns sein neues Centrum zeigt.
Bis dahin nehme ich weiter an, wie bisher, dass nach und von
den fraglichen Rindenceotren motorische, sensible, sensuelle und viel-
leicht noch andere Fasern verlaufen, und dass die motorischen es sind,
welche durch den elektrischen Strom erregt werden.
Wenn Sie endlich die Arbeit Schiffs lesen, werden Sie finden,
dass er bei seiner Polemik gegen meine Auffassung der mehrerwähuten
Bewegungsstörungen mit einer Art Behagen immer von Neuem darauf
zurückkommt, wie ich mich angeblich theilweise wenigstens bekehrt
habe. Er klammert sich dabei daran, dass ich jene Rindenfelder ur-
sprünglich mit dem Ausdrucke „motorisch" bezeichnet habe. Nun als
das Kind geboren wurde, musste es eben einen Namen haben; ich gab
ihm den Namen „motorisch" ausdrücklich mit Beziehung auf die von
Schiff eingeführte Unterscheidung zwischen motorischen und kinesodi-
schen Nerven. Ebenso wenig wie bisher beabsichtige ich vorerst weder
diesen Namen noch meine Üeberzeugungen zu ändern. Schliesslich
kommt es nicht auf den Namen an, sondern darauf, dass man klar de-
iinirt, was man darunter verstellt.
Nach dieser Richtung hin ist ebenso merkwürdig, wie das Ver-
fahren Schiffs dasjenige von Munk, insofern er aus der motorischen
eine Fühlsphäre machte und sich den Anschein gab, als hätte er mit
dieser Umtaufe ein grosses Werk vollbracht. Sehen wir uns zunächst
die nach Eingriffen in die Rinde zu constatirenden Thatsachen an, so
fand ich zuerst die Bewegungsstörungen, Schiff die Sensibilitätsstörung
und ich endlich die bisher gründlich ignorirte Thatsache, dass der Hund
mit seiner kranken Pfote vom Tisch in's Leere tritt, wenn man ihn
nicht hindert. Bevor ich nun noch die Sensibilitätsstörung kannte, hatte
ich den durch den Versuch erzeugten Zustand dahin detinirt, dass eine
eigentliche Lähmung nicht vorhanden sei, und hatte dann wörtlich
Folgendes gesagt: „Aber sie (die Hunde) hatten offenbar nur ein mangel-
haftes Bewusstsein von den Zuständen dieses Gliedes, die Fähigkeit, sich
— 235 —
A^ollkommene Vorstellungen über dasselbe zu bilden, war ihneji abhanden
gekommen".
Au dieser Definition habe ich später, als noch mehr gefunden
wurde — man kann eben nicht Alles auf einmal finden — nicht das
Geringste zu ändern brauchen. Die neuen Thatsachen bewiesen nur,
dass die Vorstellungen des Thieres über seine kranken Glieder noch un-
vollkommener waren, als der erste Anschein mich gelehrt hatte. Ich
resümirte danach im Jahre 1877 meine Ansicht in folgenden Worten:
„(Die Gesichtseindrücke werden nicht zur Bildung von Vorstellungen
für das fragliche Glied verwerthet.)
Alle diese Phänomene besitzen also das Gemeinschaftliche, dass
äusserliche Zustände — einmal die der Muskeln, das andere Mal
die der Objecte des Raumes vom Sensorium für die Bewegungen des
kranken Gliedes, aber nur für diese nicht in Rechnung gestellt werden.
In dieser Weise erkläre ich mir die verschiedenen nach Läsionen des
Gyrus sigmoides auftretenden Functionsstörungen , ihre Verknüpfung
mit einander und ihre Localisation auf eine kleine centrale Stelle. So
weit ich die Sache übersehen kann, dürften auch die Sensibilitäts-
störungen einer analogen Deutung unterliegen."
So, meine Herren, habe ich definirt, was ich unter motorischen
Störungen und folgerecht unter motorischen Centren verstehe, und ich
finde weder bei Schiff noch bei Munk einen Fortschritt nach dieser
Richtung hin. Auch sie wissen nichts weiter zu sagen, als dass die
Vorstellungen von den Zuständen des fraglichen Körpertheils durch den
Eingriff geschädigt worden sind, und dass man diese Schädigung an
den Bewegungen äusserlich wahrnimmt.
Kommen wir zum Schhiss. Ich nehme noch heute das Gleiche an.
was ich bereits im Jahre 1870, wenn auch in hypothetischer Form aus-
sprach, dass die von mir aufgedeckten Rindencentren nichts weiter sind
als Sammelplätze, und ich dehne diese Theorie lediglich jetzt aus auf
andere seither gefundene Centren. Ich vertrete ferner die wiederholt
ausgesprochene Ansicht, dass tiefe oder sehr ausgedehnte Eingriffe in
den centralen Mechanismus nothwendig eine Menge von Verbindungen
zwischen den einzelnen Hirnregionen zerreissen und damit solche Sym-
ptome produciren müssen, welche einer verhältnissmässig schnellen Aus-
gleichung fähig sind. In diese Categorie reihen sich auch die bei tiefen
Eingriffen in verschiedene Stellen der Hemisphäre entstehenden, schnell
vorübergehenden Sehstörungen. Front mache ich aber gegen die An-
schauung, die Munk von dem Wesen der höheren intellectuellen Fähig-
keiten und deren Beziehung zu dem materiellen Substrat überhaupt
äussert.
— 236 —
Nach Munk sind besondere Organe für dieselben nicht vorhanden
und nicht nöthig. Allerdings stimme ich ihm darin bei, dass die
Intelligenz in allen Theilen der Rinde zu suchen ist. Aber ich be-
haupte, dass das abstracte Denken besondere Organe nöthig macht und
suche dieselben vorläufig im Stirnhirn.
A priori war es im höchsten Grade unwahrscheinlich, dass die
enorme Masse Hirnsubstanz, welche den Stirnlappen des Menschen con-
stituirt, fast gänzlich so einfachen Functionen, wie die Bewegungen der
Wirbelsäule sind.^ dienen sollte, und die bisherigen Versuche haben für
mich nur dazu gedient, diese Zweifel zu verstärken. 26)
Anmerkungen.
26) Die in dem vorstehenden Vortrag berührten Punkte sind seither
Gegenstand mannigfacher Experimentaluntersuchungen gewesen und von den
einzelnen Autoren in sehr verschiedener Weise beurtheilt worden. Da ich
selbst auf immer verhindert bin, meine zur Aufklärung des Sachverhaltes be-
gonnenen Arbeiten zu Ende zu führen, so beschränke ich mich auf drei Be-
merkungen.
Die Beziehung, in welche Munk die Zunahme der Masse des Stirnhirns
bei den Primaten zu deren aufrechtem Gang gebracht hat, ist wohl eine der
sonderbarsten der von diesem Forscher aufgestellten Hypothesen. Wenn der
Hund in der Fvegel nicht aufrecht zu gehen pflegt, so beruht dies offenbar auf
der Art seiner Körperbildung, insbesondere auch auf der Bildung seiner Ge-
lenke. Da er aber ungeachtet dieser mechanischen Schwierigkeiten bekanntlich
sehr wohl aufrecht zu gehen vermag, so müsste er, wenn die Hypothese Boden
hätte, ein viel reicher entwickeltes Stirnhirn haben als die höheren Sauger.
Andererseits beruht eine von mir gegen Munk erhobene Einwendung
theilweise auf einem Irrthunie meinerseits.
Ich sagte*): „f f f Ich will zu seinen Gunsten eine, von ihm
allerdings, soviel ich sehe, nicht ausgesprochene Auffassung gelten lassen,
dass nämlich zur Hervorbringung von sichtbaren Bewegungen in dieser Region
die gleichzeitige Reizung der centralen Endstätten einer grossen Zahl von
central und peripher weit auseinander liegenden Motoren erforderlich sei. Wenn
die von mir für die motorische Pvegion in Anspruch genommenen Theile dieser
wirklich zugehörten, dann mussten sie sich auch mit Bezug auf den elek-
trischen Reiz ebenso verhalten wie diese, mit anderen Worten, die von dort
innervirten Muskeln mussten sich auf die Stromstärke des Zuckungsminimums
ganz oder theilweise contrahiren, auch wenn durch solche Contractionen sicht-
bare Bewegungen der die Anwendung eines grösseren Kraftaufwandes er-
fordernden Körpertheile nicht hervorgebracht wurden. Das Vorhandensein
solcher partiellen und totalen Muskelzuckungen wies ich denn auch bei
*) E. Hitzig, Alte und neue Untersuchungen. Arch. f. Psychiatrie.
Bd. 35. H. 2. S. 310, f.
— 237 —
Reizung entsprechender Rindenpartien durcli Ziifühlen und durch Aufdeckung'
der fraglichen Muskelgruppen nach. Es liegt kein Grund vor, wegen dessen
sich der sogenannte Stirnlappen in dieser Beziehung anders verhalten sollte;
wäre er also wirklich das Centrum für die Runipfniuskeln, so nriüsste er auf
einzelne galvanische Stromstösse von der ungefähren Stärke des Zuckungs-
minimums mit Muskelcontractionen antworten. Munk hat den Beweis, dass
dem so sei, nicht angetreten und thatsächlich ist es auch nicht der Fall."
Es ist nicht richtig, dass Munk die Auffassung nicht ausgesprochen
habe, dass das Ausbleiben des Bewegungseffectes bei einer bestimmten Strom-
stärke auf den vorher erwähnten mechanischen Umständen beruhen könne. Er
hat dies vielmehr unter Bezugnahme auf meine eigenen früheren Untersuchungen
an einer von mir zu meinem Bedauern übersehenen Stelle*) in sehr ausführ-
licher AVeise gethan. An der gleichen Stelle führt er auch an, dass er durch
Aufdecken der Muskulatur erkannt habe, dass bei einer Stromstärke von
6—8 cm Rollenabstand auf Reizung des Stirnlappens bei voller Ruhe der
Rumpfwirbeisäule einzelne Rückenmuskeln sich contrahirten. Er fügt dann
hinzu, dass er es der zu geringen Reizdauer zuschreiben möchte, wenn „mit
dem galvanischen Strome von der medialen Partie der Nackenregiou aus nur
selten, vom Stirnlappen aus gar nicht ein Reizerfolg zu erhalten war."
In diesem letzteren Punkte stimmen unsere Beobachtungen also überein.
dagegen würde ich, falls mir diese Stelle bei der Redaktion meiner Arbeit
gegenwärtig gewesen wäre, eingewendet haben, dass man nicht einsehen könne,
aus welchem Grunde gerade die Nacken- und Rückenmuskeln sich gegen den
Reiz eines einmaligen Stromstosses, dem man ja jede beliebige Stärke ver-
leihen kann, anders verhalten sollten, als alle anderen Muskeln. Mochte e&
auch za keiner Bewegung der Wirbelsäule kommen, der einzelne Muskel oder
ein Stück seiner Substanz hätte sich auf derartige Pieize contrahiren müssen.
Ich würde in diesem Falle ferner meine Einwendungen auch nicht auf den
Mangel des Erfolges gegen den Reiz des galvanischen Stromes beschränkt,
sondern ferner eingewendet haben, dass die Stromstärke von 6—8 cm Rollenab-
stand, bei der die Wirbelsäule noch in voller P\,uhe verblieb, viel zu gross ist,-
um dem angetretenen Beweise als Stütze zu dienen. Wie gross muss die Strom-
intensität erst gewesen sein, um die Rumpfwirbelsäule in Bewegung zu setzen!
Noch in anderer Weise unterscheiden sich die Centren des Stirnhirns
merkwürdig von allen anderen motorischen Centren. Munk beruft sich u. a.
auf eineunter seiner Leitung ausgeführte Arbeit Pvothmann' s**), in der dieser
Forscher begreiflicher Weise seine eigenen Resultate bestätigt. Dagegen konnte
Rothmann bei den nach Marchi untersuchten Hunden keine Spur einer ab-
steigenden Degeneration in der Oblongata, der Pyramidenkreuzung und dem
Rückenmarke auffinden.
*) H. Munk, Gesammelte Mittheilungen. 1890. S. 168 f.
**) Max Rothmann, Ueber das Rumpfmuskelcentrum in der Fühlsphär&
der Grosshirnrinde. Neurol. Centralblatt 1896. S. 1105.
XII. lieber Fuuctioueii des Orosshiriis.
(Vortrag- gehalten am 20. September 1886 in der physiologischen Section der
Naturforscherversanimlung zu Berlin.)
Die ungeheure Menge des über die Localisationsfrage zusammen-
getragenen Materials, die Complicirtheit des Gegenstandes und der
breite Raum, welcher hier mehr als bei anderen Experimentalunter-
suchuugen der Subjectivität des Forschers gelassen ist, machen die
mündliche Behandlung dieses Gegenstandes ausserordentlich schwierig.
Namentlich erscheint es fast unmöglich Missverständnisse zu vermeiden,
soll anders die übliche Zeitdauer eines Vortrages auch nur annähernd
innegehalten werden.
Wenn ich mich ungeachtet dieser und anderer Bedenken entschlossen
habe, das Wort in dieser Sache zu ergreifen, so wollen Sie das vor-
nehmlich aus den Angriffen erklären, die mein verewigter Freund
V. Gudden in seiner letzten Publicatiou auch gegen meiner Ansicht
nach feststehende Thatsachen gerichtet hat. Konnte ein Forscher von
dem Range v. Guddens noch jetzt zu einem solchen Standpunkte ge-
langen, so musste mir eine erneuerte mündliche Discussion dieser That-
sachen als wünschenswerth erscheinen.
Die zu beantwortenden Fragen lassen sich dahin formuliren :
Giebt es motorische Centren in der Hirnrinde zunächst des
Hundes, und welches ist ihre Bedeutung?
Die erste Frage hätte noch vor einigen Jahren weiter gefasst
Av erden müssen. Damals suchte Herr Goltz, unser eifrigster Gegner,
jene Centren im Kleinhirn und erklärte die nach Eingriffen in das
Grosshirn zu beobachtenden Störungen durch traumatische Hemmung
der Kleinhirnthätigkeit. Da Herr Goltz diese Theorie inzwischen hat
fallen lassen und sogar gegenwärtig motorische Störungen durch Ein-
griffe in den zuerst von Herrn Fritsch und mir als motorisch be-
zeichneten Theil des Grosähirns, den vorderen Theil desselben ent-
— 239 —
stehen lässt, so dürfen wir uns alsbald mit der Rinde dieses letzteren
beschäftigen.
Mit Unrecht haben die Herren Schiff, Goltz luid ihre Anhänger
die Ergebnisse der Reizversuche als nichts beweisend bei Seite
geschoben. Allerdings hatten wir seiner Zeit aus ihnen allein nicht
die Existenz von Rindencentren beweisen wollen oder können, ja wir
hatten nicht einmal die Erregbarkeit des gangliösen Theils der Rinde,
sondern nur die Erregbarkeit der in dieselbe einstrahlenden Markfaserun g
behauptet.
Dagegen hatten wir die Fernewirkung von Stromschleifen aller-
dings ausschliessen können, wie denn wohl Niemand, der vorurtheils-
los die Reizeffecte vorsichtig angewendeter galvanischer Ströme be-
obachtet hat, dem nach dieser Richtung erhobenen Einwände eine Be-
deutung zumessen wird. Es ist bisher auch keinem unserer Gegner
gelungen, den Ort ausfindig zu machen, wo die supponirten Strom-
schleifen angreifen möchten.
Inzwischen ,hat diese Seite der Frage durch die Reizversuche der
Herren Bubnoff und Heidenhain, sowie Frank und Pitres ein
neues Gesicht gewonnen. Wenn nach diesen Versuchen die Reactions-
zeit bei elektrischer Reizung der unverletzten Oberfläche des Gehirns
wesentlich länger als bei Reizung der subcorticalen weissen Substanz
ist, wenn die Zuckungscurve nach Abtragung der Rinde einen total ver-
änderten Verlauf zeigt, wenn endlich die durch Morphiumvergiftung ein-
geführten Veränderungen der elektrischen Reaction gleichfalls nach Ab-
tragung der Rinde vei-schwinden, so ist hiermit der unanfechtbare Be-
weis für die selbständige Erregbarkeit der Rinde beigebracht. Und
weiter lässt sich schliessen, dass die durch organische Reize aus-
gelöste Function der Rinde im Princip die gleiche sein wird, wie die
durch den elektrischen Reizversuch demonstrirte, d. h. die Ver-
mittelung von Bewegungsvorgängen in quergestreiften Muskeln.
Herr Schiff hat neuerdings seine alte Behauptung, der Reizeffect
sei ein Reflexvorgang, durch eine überaus complicirte Beweisführung
zu stützen versucht. Zu diesem Zwecke construirt er ein irgendwo,
nur nicht in der Rinde gelegenes Centrum, das er — ich weiss nicht
aus welchem Grunde — in bisquitförmiger Gestalt zeichnet. Er lässt
zu diesem hypothetischen Centrum Tastnerven aus den Hintersträngeu
des Rückenmarks auf einem vollkommen unmotivirten Umwege, der
unter der Hirnrinde entlang führt, aufsteigen und wiederum kinesodische
Bahnen aus diesem Centrum auf dem gleichen unmotivirten Umwege in
die Seitenstränge des Rückenmarks hinabgelangeu. Der aufsteigende.
— 240 —
nicht der absteigende Schenkel dieses Reflexbogens sei der den Reiz
aufnehmende, die Bewegung auslösende Theil.
Herr Schiff braucht diese Lehre freilich zur Rettung seiner kine-
sodischen Substanz. Auch sie wird jedoch durch die eben angeführten
Versuche, insofern durch dieselben die selbständige Erregbarkeit der
Rinde erwiesen ist, beseitigt. Ueberdies hat sie, ganz abgesehen von
anderen Mängeln, den fundamentalen Fehler, dass sie in sich unmög-
lich ist. Denn wenn man — Schiff folgend — solche Schnitte durch
die Windungen legt, welche den Effect von auf die Schnittfläche ange-
brachten Reizen nicht aufheben sollen, dann hat man beide Schenkel
des Reflexbogens durchschnitten, und die Reizeffecte müssten folgerecht
verschwinden, was der Schiff'schen Prämisse zuwider und in Wirk-
lichkeit nicht der Fall ist.
Es scheint mir, meine Herren, dass durch den Nachweis von Rinden-
territorien, welche die geschilderte, besondere und nur ihnen zukom-
mende elektrische Reaction besitzen, die Existenz von motorischen
Centren in der Rinde bereits im höchsten Grade wahrscheinlich ge-
macht wird.
In gleicher Weise wie die Resultate der Reizversuche sind von
allen unseren Gegnern die Ergebnisse kleiner Eingriffe, lokalisirter
Lähmungsv^ersuche, vernachlässigt worden. Wenn ich anführte, dass
nur ein ganz bestimmter Theil der Hirnoberfläche auf solche,
also kleine Läsionen, mit Störungen der Muskelbewegung und — was
von Anderen, zuerst von Herrn Schiff festgestellt ist — auch der
Empfindung antwortet, so hat Herr Goltz gegen die Beweiskraft dieser
Thatsache allerdings zwei Einwände erhoben. Der eine A-on diesen ist
der vorerwähnten Herbeiziehung von Stromschleifen parallel zu setzen.
Er behauptet die Möglichkeit der mechanischen Beleidigung fernliegender
Theile. Meines Erachtens würde es dem Gegner obliegen, uns die von
ihm gemeinten Theile zu zeigen. Indessen habe ich auch durch den
directen Versuch diesen Einwand entkräftet. Ich wies nach, dass
seichte Stiche und Einschnitte, welche lediglich die Rinde verletzen
und Fernewirkungen unmöglich zur Folge haben können, der Art, wenn
auch nicht dem Grade nach, den gleichen Erfolg haben, wie grössere
Exstirpationen.
Der zweite Einwand, welcher übrigens, auch wenn er begründet
wäre, nicht zutreffend sein würde, behauptet, es sei unmöglich, durch
Rindenverletzungen die Bewegungjen eines einzelnen Gliedes
zu alteriren; bei Angriffen auf das Centrum für das Vorderbein
müsse man die Parese des Hinterbeins mit in den Kauf nehmen und
umgekehrt. Herr Goltz irrt sich hierin, wie ich durch neue Versuche
_ 241 —
festgestellt habe. Ich eröftiie die Dura in möglichst geringer Aus-
dehnung und verletze die Rinde durch einen Schnitt oder Stich mit
einem halbstumpfen Instrument an der Grenze ehies der sogenannten
Centra.
Man wählt also, um das Vorderbein zu treffen, das laterale Viertel
des vorderen Schenkels des Gyrus sigmoides, und um das Hinterbein zu
treffen, das mediale Ende des hinteren Schenkels dieses Gyrus. Man
beobachtet dann, dass der Hund das betreffende Bein mit dem Dorsum
aufsetzen, über den Tischrand dislociren und herabhängen lässt. Mir
ist es gelungen, diese Symptome auch am Hinterbein auf die Dauer
von 8 Tagen zu verfolgen, ohne dass das Vorderbein jemals im Ge-
ringsten afficirt gewesen wäre.
Ich wünsche nun aber nicht, etwa dahin missverstanden zu werden,
dass ich mit diesem Nachweis die Ansicht eines isolirten Neben-
eiuanderbestehens oder nur einer weitgehenden Differenzirung der
motorischen Centra für die beiden Extremitäten zu verfechten beab-
sichtige. Vielmehr halte ich ein ähnliches Ineinandergreifen der einzelnen
Innervationsfelder, wie Herr Panetb dies neuerdings demonstrirt hat^
für sehr wahrscheinlich. Ausserdem weiss ich sehr wohl, dass man
durch tiefe Eingriffe in das Vorderhirn die mannigfachsten Combina-
tionen von Erscheinungen hervorbringen kann. Dagegen halte ich den
Nachweis für die Existenz von motorischen Centren in der Rinde durch
die Gesammtsumme dieser Erfahrungen, sowie durch die von gleichen
Resultaten gefolgten oberflächlichen Anätzungen der Rinde für hin-
reichend erbracht. Meine Auffassung dürfte sich mit der des Herrn
Exner, der ja auch Herrn Paneth wohl inspirirt hat, ungefähr decken.
Bei weitem schwieriger imd complicirter ist die Lösung der zweiten
Frage, der Frage nach der Bedeutung dieser Centren. Freilich
ist bei ihrer Bearbeitung von auf die Rinde isolirten Angriffen schon
lange nicht mehr die Rede gewesen. Die Hauptrolle in der Discussion-
spielt hier die Restitution, die Erfahrung, dass Functionen, welche nach
Exstirpationsversuchen verloren gegangen waren, sich wieder einstellen.
Man wird ja den Gegnern, denen sich hierin auch v. Gudden an-
geschlossen hat, selbstverständlich insoweit Recht geben können und
müssen, dass durch die V^iederkehr einer temporär verloren gegangeneu
Function die fernere Existenz eines einer solchen Function fähigen
Organs bewiesen wird. Nicht bewiesen wird damit aber, dass die ent-
fernte Hirnpartie nicht ursprünglich zum Theil oder ganz das zur Aus-
übung jener Function bestimmte Organ war. Thatsächlich kommt
es nun aber niemals zu voller Restitution der nach grossen
Zerstörungen der motorischen Zone verloren gegangenen
Hitzig, Gesammelte Abhandl. I. Tlieil. 16
— 242 —
Functionen. Freilich geht Herr Munk viel zu weit, wenn er sagt:
„Die völlige Zerstörung der Fühlspliäre eines Körpertheils muss den
bleibenden Verlust aller Gefühle und Gefühlsvorstellungen des Körper-
theils — Rindenlähmung (Rindenbewegungs- und Rindengefühllosigkeit)
des Körpertheils zur Folge haben". Die völlige Zerstörung einer
solchen Sphäre hebt nämlich niemals die sämmt liehen Gefühle und
Gefühlsvorstellungen des zugehörigen Körpertheils dauernd auf. Aber im
Princip lassen sich alle Störungen, welche ursprünglich vorhanden ge-
wesen sind, noch nach beliebiger Zeit, und ich habe solche Hunde ab-
sichtlich deswegen mehrere Jahre lang am Leben erhalten, nachweisen.
Die Hunde bringen die betreffende Extremität in ungewöhnliche Stellungen,
sie lassen mit ihr allerhand Dinge vornehmen, die sie mit der contra-
lateralen nicht vornehmen lassen, und sie zeigen sogar auch eine per-
sistente Alteration des Tastsinns. Vor Allem aber sind sie derjenigen
Bewegungsformen verlustig gegangen, welche • — wie Herr Schiff sich
ausdrückt — einem besonders auf sie gerichteten Willensact
ihre Entstehung verdanken. Herr Goltz war es selbst, der das erste
schlagende hierhergehörige Beispiel bekannt gab, indem er fand, dass
abgerichtete Hunde die Pfote nicht mehr geben konnten. Ich rechne
die neuerdings von ihm gefundene Thatsache, dass der Hund mit
doppelseitiger Verstümmelung des Vorderhirns den Kopf nicht mehr
willkürlich an die Nahrung heranzubringen vermag, gleichfalls hierher.
Die Herren Munk und Schiff haben die Zahl jener Beispiele
seither weiter vermehrt. Namentlich ist ein von dem letzteren Forscher
erzähltes Beispiel sehr drastisch. Ein Affe, der seine Extremitäten zum
Laufen und Klettern vortrefflich zu gebrauchen verstand, konnte Hand
und Arm, ungeachtet aller Mühe, die er sich offenbar gab, behufs Er-
greifung einer Frucht nicht in Bewegung setzen.
Auch ich kann die Zahl dieser Beobachtungen um eine, wie mir
scheint, sehr überzeugende vermehren. Bereits in meinen ersten Publi-
cationen hatte ich auf verschiedene Anomalien aufmerksam gemacht,
die sich an operirten Hunden beobachten lassen, die man in der
Schwebe hält. Seitdem ist diese überaus fruchtbare üntersuchungs-
methode nun von mehreren anderen Forschern, namentlich von den
Herren Schiff, Bianchi und Luciani angewendet worden, ohne dass
ich jetzt näher auf Alles hierher Gehörige eingehen könnte*). Ich muss
*) Es ist in mancher Beziehung nicht gleichgültig, ob man Hunde, wie
ich dies bei meinen früheren Versuchen that, mit zwei Händen, an der Rücken-
haut gefasst, in der Schwebe hält oder ob man sie, wie dies für andere Ver-
suche erforderlich ist, in einem Apparat aufhängt. Letzteres kann man derart
— 243 —
mich damit begnügen, eine frühei* bereits von mir angeführte Thatsache
in ihrem Umfange und ihrer Deutung zu erweitern. Ich gab damals
an, dass schwebende Hunde, denen man den linken Gyrus sigmoides
genommen hat, auf Berührung der Sohlen zwar die linke, aber niemals
die rechte Vorderpfote fortziehen. Wenn man nun den Versuch in der
Art abändert, dass man eine lange Nadel einer Pfote nach der anderen
nähert, als ob man stechen wollte, so sieht man, nachdem man den
Hund einmal gestochen hat, Folgendes:
Sobald man die Nadel der linken Pfote nähert, zieht das Thier
dieselbe an den Leib, nähert man sie aber der rechten Pfote, so bleibt
diese, obwohl der Hund der Bewegung der Nadel aufmerksam mit den
Augen folgt, in gestreckter Stellung herabhängen. Ob mau die Nadel
nun vor dem linken oder vor dem rechten Auge vorbeiführt, das ist
ganz gleichgültig. Wiederholt man den Versuch, so fängt der Hund
an zu winseln, zu bellen und wohl gar nach der Nadel zu beissen, aber
niemals setzt er die rechte Pfote isolirt in Bewegung. Dagegen fängt
er nach einiger Zeit fast regelmässig an, mit allen vier Extremitäten
Schwimm- und Fluchtbeweguugen in der Luft zu machen. Selbstver-
ständlich eignet sich nicht jeder Hund gleichmässig zu diesem Versuche,
da einzelne sich überhaupt apathisch verhalten, andere dagegen von
vornherein Schwimmbewegungen machen. Dagegen habe ich niemals
einen Hund beobachtet, der die isolirte Fluchtbewegung mit der rechten
Pfote wieder gelernt hätte, wenn ihm wirklich der ganze Gyrus sig-
moides genommen war, obwohl ich, wie ich das ausdrücklich wieder-
Ifiole, einzelne Hunde über 2 Jahre lang am Leben erhielt.
machen, dass man in ein Stück Sackleinewand 4 Löcher für die Extremitäten
schneidet, die Leinewand über dem Rücken des Hundes zusammenschlägt, sie
mit einigen spitzen Doppelhaken durchbohrt und letztere an einem Längs-
balken aufhängt.
Die anlässlich der Naturforscherversammlung von . mehreren Herren
demonstrirten Sehprüfungen veranlassen mich, nebst dieser Methode auch die
Art anzuführen, wie ich mich derselben zur Untersuchung von Sehstörungen
bediene: 1. Dem Hunde, welchem ein Auge verbunden ist, wurden ganz kleine
Stückchen Fleisch mit einer Pincette von hinten her, also über den Kopf weg,
zwischen Nase und Auge gezeigt. Auf diese Weise wird das ganze Gesichts-
feld erst des einen, dann des anderen Auges abgesucht. 2. In den einzelnen
Thellen des Gesichtsfeldes werden nahe dem Auge die Branchen einer Pincette
schnell und wiederholt geöffnet und geschlossen. Wo der Hund sieht, folgt
häufig synchronisches Blinzeln, wo er nicht sieht, bleibt dieses aus.
Die Anwendung der Schwebe empfiehlt sich für diese Methoden, weil die
Hunde in derselben nicht durch massenhafte Bewegungen zu stören pflegen,
wie dies bei allen Versuchen, die in Berlin gezeigt wurden, der Fall war.
16*
— 244 —
Ich hatte die mangehide Reaction bei BerühruDg der Sohle seiner
Zeit auf eine fortbestehende Alteration des Tastsinnes bezogen, und eine
solche ist auch aus anderen Gründen nicht auszuschliessen. Dagegen
kann die Bewegungslosigkeit bei Annäherung der Nadel nicht auf eine
Störung des Tastsinnes bezogen werden, sie ist vielmehr gerade wie
die vorher angeführten Beispiele, auf eine Lähmung der isolirteu
intentiouellen Bewegung zurückzuführen. Ebensowenig wie die
Fähigkeit, die bedrohte Pfote zurückzuziehen, habe ich jemals die
Fähigkeit die Pfote zu geben, wiederkehren, oder die anderen vorher
geschilderten Anomalien verschwinden sehen, wenn wirklich der
ganze Gyrus sigmoides- ausgeschaltet war. Oft haben kleinere
Verletzungen den gleichen dauernden Erfolg gehabt, was ja natürlich
von Zufälligkeiten abhängig ist; wenn die fraglichen Störungen sich
aber gänzlich ausglichen, dann fand sich jedesmal eine beträchtliche
Portion jenes Gyrus erhalten. Ich will hiermit die Möglichkeit der
Restitution der isolirteu intentioneilen Innervation des Vorderbeins durch
Eintritt der gleichnamigen Hemisphäre oder der Nachbarschaft des ver-
letzten Gyrus sigmoides nicht bestreiten. In meinen Versuchen hat sich
aber die Nothwendigkeit, diese Erklärung heranzuziehen, noch nicht
gezeigt.
Herr Goltz argumentirt nun bekanntlich seit langer Zeit mit
einzelnen Fällen, bei denen sich ungeachtet gänzlicher Fortnahme
des Gyrus sigmoides und grösserer Partien des Vorderhirns einer Seite
alle Störungen vollkommen verloren haben sollen, und v. Gudden
hat sich ihm angeschlossen. Hätten sie Recht, so wäre damit die
Richtigkeit der Lehre von der gesetzmässigen Folge von Ursache und
Wirkung, und damit der Boden, auf dem wir alle arbeiten, erschüttert.
Ich glaube deshalb vorläufig noch, dass bei den fraglichen Versuchen
irgend ein Fehler mit untergelaufen ist.
Jedenfalls gehen wir ja gegenwärtig insofern mit Herrn Goltz
einig, als nach dessen neuesten Angaben die Hunde bei doppel-
seitiger tiefer Verletzung des Vorderhirns „die Fähigkeit ver-
lieren, bestimmte Gruppen von Muskelfasern — wie er sich
ausdrückt — zweckentsprechend bei gewissen Handlungen
spielen zu lassen". Mir scheint, die Definition, wenn auch weniger
scharf gefasst, deckt sich ebenso sehr mit der von Schiff formulirten
und von mir vorher angeführten, wie sich die ihr zu Grunde liegende
Thatsache, dass die Hunde Knochen nicht mehr mit den Pfoten zu er-
fassen vermögen, mit den vorher angeführten Thatsachen deckt. Es
kommt auf das Gleiche hinaus, ob nun der Hund die Pfote nicht reicht,
oder sie vor der drohenden Nadel nicht zurückzieht, oder den Knochen
— 245 -
nicht erfasst, oder ob der Afte die begehrte Feige mit der rechten Hand
nicht zu ergreifen vermag. So gross, wie es den Anschein liat, sind
die bestehenden Differenzen also gegenwärtig nicht mehr.
Die nach Eingriffen in die motorische Zone entstehenden Krank-
heitserscheinungen habe ich in 2 Arbeiten aus den Jahren 1873 und
1876, insoweit sie damals bekannt waren, als Ausdruck von
Störungen der Vorstellungsthätigkeit betrachtet. Der Hund be-
wegt seine Glieder nicht oder unvollkommen, weil er. sich keine oder
doch nur unvollkommene Vorstellungen mit Bezug auf diese Glieder zu
bilden vermag. Ich brauche Ihre Zeit für die Wiederholung dieser
A^useinandersetzungen umsoweniger in Anspruch zu nehmen, als Herr
Munk ja, wenn auch erst seit dem Jahre 1878, der gleichen, nur wenig
modificirten Lehre zu grösserer Publicität verholten hat.
Es versteht sich von selbst, dass keines von diesen Thieren, auch
wenn ihm die grössten Verletzungen beigebracht worden sind, so dass
seine Vorstellungsthätigkeit aufs Aeusserste beschränkt ist, deshalb
Lähmungen im Sinne absoluter Bewegungslosigkeit zeigen
muss. Wenn Kaninchen, denen das ganze Grosshirn genommen ist,
noch laufen können, so ist nicht einzusehen, aus welchem Grunde Hunde,
denen nur ein Theil desselben fehlt, nicht laufen oder sich sonst be-
wegen sollten. Niemand, auch nicht Herr Munk, hat etwas derartiges
behauptet. Die bezüglicheu Angriffe des Herrn Goltz, denen v. Gudden
secundirte, sind deshalb gegenstandslos. Ich bin sogar der Ansicht,
dass die nach ganz grossen Zerstörungen in den ersten Tagen beob-
achteten Hemiplegien nur Chocerscheinungen sind. Sie verlieren sich
sehr bald, und es besteht dann zunächst die hochgradigste Regellosig-
keit der gesammten Muskelinnervation, bis auch diese sich, wie bekannt,
allmählich bis zu einem gewissen Grade wieder ausgleicht. Mir scheint
die Erklärung für dieses Verhalten darin zu liegen, dass die niederen
ßewegungscentren auf ein bestimmtes Maass und eine bestimmte Ver-
theilung der zu ihnen gelangenden cerebralen Reize eingeübt sind und
im Uebrigen für die feinere Regulirung der Bewegungen der steten
Controle des Bewegungserfolges durch die cerebralen Centren bedürfen.
Unzweifelhaft stehen die Reize, welche bald nach dem Eingriffe zu
jenen Centren — und ich meine vornehmlich das Rückenmark — ge-
langen, in dem grössten Missverhältnisse zu dem Spiele der gewohnten
Uebung. Allmählich werden diese Mechanismen aber auf die veränderten
Umstände eingeübt kraft des Anpassungsvermögens, das wir diesen
Organen ja allgemein zuschreiben, und damit verschwindet dieser
Theil der Störungen. Derjenige Theil derselben, welcher von dem
Ausfalle der Controle durch die Bewegungsvorstellungen abhängt, ver-
— 246 —
schwindet aber nur nach Maassgabe des Fortbestandes der den Be-
wegungsvorstellungen dienenden Organe, mögen sich diese nun in der
verletzten oder der unverletzten Hemisphäre befinden.
Es ist sofort klar, dass durch diese Art der Erklärung das Ver-
ständniss für die Thatsache eröffnet wird, dass das Maass der Restitution
in dem Grade unvollkommen ausfällt, in welchem das geschädigte Ge-
hirn der einzelnen Thierspecies mehr zu isolirter iutentioneller Be-
wegung befähigte Organisationen besitzt. Und aus diesem Grunde
mögen sich die Abweichungen in dem Verhalten der Motilität, welche
man in Folge von Läsionen des Affen- und namentlich des Menschen-
gehirns findet, wenigstens zum Theil erklären. Ein anderer Theil der bei
hemiplegischen Menschen zu beobachtenden Abweichungen ist aber nur
scheinbar ein Product der Lähmung, erwächst in Wirklichkeit aber aus
einem Reizungssymptome, der durch die absteigende Degeneration,
bedingten, auf Irritationszuständen der grauen Substanz des Rücken-
marks beruhenden Contractur. Auch der hemiplegische Mensch vermag
in der Regel, wie der Hund, die einfache Locomotion relativ gut zu
vollziehen, nur dass sich dabei die fatale, das Bein in eine Stelze ver-
wandelnde Extensionscontractur einstellt.
Ungeachtet der grossen in den letzten 16 Jahren auf das Stu-
dium der Functionen des Grosshirns verwendeten Arbeitskraft sind
unsere Kenntnisse von denselben noch höchst rudimentär. Das gilt auch
von dem Thema, das ich heut aus dem Gesaramtstoff — ich möchte
sagen — herausgerissen habe. Und gleichwohl bin ich mir der Un-
vollkommenheit, welche meine Schilderung dieses Rudimentes au sich
trägt, vollbewusst. Um so bereitwilliger erkenne ich die Förderung an,
welche unserer Erkenntniss im Kampfe gerade von den Gegnern zu
Theil geworden ist.
XIII. Ein Beitrag zur Hirn Chirurgie.
I.
Klinischer Vortrag gehalten am 4. Mai 1892.*)
Sie haben in der vorigen Vorlesung einen Kranken gesehen, bei
dem es sich um eine raumbeschränkende Erkrankung innerhalb der
Schädelliöhle handelte, welche, wie ich annahm, in unmittelbarer Be-
ziehung zu dem Schädelknochen stehen müsse. Ich sagte Ihnen, dass
dieser Fall uns in der chirurgischen Klinik wieder begegnen würde, und
in der That hat Herr Prof. v. Bramann ihn gestern operirt. Er ist
nach jeder Richtung von Interesse, so dass es sich sicher lohnt, etwas
ausführlicher auf ihn zurückzukommen.
Der Kranke, ein 29jähriger Maurer, hatte anamnestisch ange-
geben, dass er in seinem zweiten Lebensjahre „einen Scharlachfriesel"
gehabt hätte, und daran hätte sich eine Ohreneiterung angeschlossen,
die erst in seinem 18. Lebensjahre aufhörte. Lues will er nie gehabt
haben.
Er selbst schob seine Krankheit auf einen eigenthümlichen Zufall,
auf eine Ueberraschung durch die Dienstherrschaft eines Mädchens, mit
dem er den Coitus im Stehen ausübte. Unmittelbar darauf will er
einen heftigen Kopfschmerz an der rechten Seite der Stirn, und zwar
gerade an derjenigen Stelle verspürt haben, welche uns nachher be-
sonders interessiren wird. Dieser Kopfschmerz habe zunächst einmal
längere Zeit angehalten, dann zwar wieder nachgelassen, aber sichi
immer wieder eingestellt, und er sei ihn seit der Zeit nicht mehr los-
geworden.
Alle Fragen nach anderen ätiologischen Momenten, welche hier in
Betracht kommen könnten, führten zunächst zu keinem Resultat, bis
der Kranke hier vor Ihnen in der Klinik angab, dass er einen Schlag
mit einer Stockkrücke auf die gedachte Stelle erhalten habe
indessen vermochte er uns nicht zu sagen, ob er den Schlag vor dem;
*) Nach einem Stenogramm.
— 248 —
Eintreten der ersten hier in Betracht kommenden Krankheitszeicheu oder
erst nachher erhalten hätte. Diese Unsicherheit in seiner Angabe und
das Auslassen von so wichtigen Daten, wie wir sie schon angeführt
haben und wie wir sie noch weiter zu erwähnen haben werden, bildet
gleichfalls ein wichtiges Krankheitszeichen für uns. Es deutet hin auf
eine vorhandene Gedächtnissschwäche und eine wenn auch nicht
sehr hochgradig entwickelte, so doch deutlich nachweisbare Demenz.
Nun gab der Kranke uns weiter an, dass er im October 1891 neben
den bereits erwähnten Erscheinungen etwas Neues plötzlich bemerkt
habe. Während er im Wirthshaus gesessen habe, sei ihm plötzlich die
Cigarre aus der linken Hand gefallen und sein Mund habe
sich nach der linken Seite verzogen. Nach diesem Anfall sei
eine, wenn auch nur geringe und sich etwas bessernde Schwäche in der
linken Hand zurückgeblieben. Derartige Anfälle will er im Laufe der
Zeit etwa vier oder fünf gehabt haben und jedes Mal sei wieder etwas
Schwäche in dem Arm geblieben. Sprechen und Schlucken sei
ebenfalls in geringem Grade betheiligt gewesen, das Bein aber frei ge-
blieben. Anfangs November bemerkte er neben einer Zunahme seiner
Kopfschmerzen, dass er auf dem rechtenAuge weniger gut sehen
konnte, und zwar beschreibt er die eintretende Sehstörmig in einer so
eigenthümlichen und charakteristischen Weise, dass man eigentlich an-
nehmen sollte, dass er sich darin gewiss nicht habe täuschen können.
Er sagt nämlich, es sei ihm gewesen, als wenn eine Linie in der Mitte
des rechten Auges senkrecht von oben nach unten gezogen sei, und als
ob er rechts davon nichts habe sehen können. Dass er etwas Aehn-
liches auf dem linken Auge bemerkt habe, hat er uns nicht gesagt. Sie
werden nachher hören, dass diese Angabe dennoch durchaus unzuver-
lässig und jedenfalls ganz unrichtig gewesen ist.
Die Sehstörung nahm nun bei dem Kranken allmählich zu, und
sie erstreckte sich weiterhin auch auf das linke Auge, was er beson-
ders an hier und da auftretenden Erscheinungen von Verdunkelung
bemerkte. Immerhin konnte er damit noch sehen.
Der Kranke hat dann ferner angegeben, dass er niemals an Er-
brechen gelitten habe, ein Symptom, das ja für die Diagnose von
räum beschränkenden Erkrankungen innerhalb der Schädelhöhle von
grosser Wichtigkeit wäre. Es könnte nun bei dem erwähnten psychi-
schen Zustande zweifelhaft erscheinen, ob er in der That niemals ge-
brochen hat. Seine Angaben darüber wurden auch später unsicher;
jedenfalls hat er bei uns mid in der chirurgischen Klinik thatsächlich
niemals erbrochen, und das scheint mir auch sicher, dass er vorher
jedenfalls nicht sehr oft erbrochen hat, sonst würde wohl diese Er-
— 249 —
scheinung in seinem Gedächtnisse haften geblieben sein. Auch in der
Krankengeschichte, welche sein Hausarzt mir mitgetheilt hat, ist von
Erbrechen nicht die Rede. Ich meine, das wäre ein Kraukheitssymptom,
welches die Angehörigen, die sehr besorgt um diesen Kranken sind, wohl
beobachtet und referirt hätten, wenn er selbst auch nicht in der Lage
war, etwas Sicheres darüber zu berichten.
Bei der Aufnahme am 21. IV. d. J. constatirten wir nun zuerst,
was die Körper- und Kopfhaltung betrifft, dass der Kranke den
Kopf ziemlich stark nach vorn geneigt und leicht nach links
schief hielt; ebenso hing die linke Schulter herab. Von Seiten der
Hirnnerven war festzustellen eine etwas träge, reflectorische Pupillen-
reaction, während die accomodative besser war. Die Untersuchung des
Augenhintergrundes ergab beiderseits eine sehr ausgesprochene
Stauungspapille.
Die Untersuchung des Sehvermögens ergab nun aber keineswegs,
wie nach den Angaben des Patienten hätte vermuthet werden können,
Hemianopsie, sondern das Gesichtsfeld erwies sich auf beiden Seiten
als hochgradig concentrisch eingeengt, und zwar rechts so, dass
nur noch Fingerbewegungen wahrgenommen werden konnten, diese aber
überall, nicht etwa nur auf einem nicht hemianopischen Theil des Ge-
sichtsfeldes und ebenso war die Sehschärfe auf dem linken Auge überall
gleichmässig herabgesetzt; es war auch da eine hemianopische Thei-
lung des Gesichtsfeldes nicht vorhanden.
Sodann war, was die anderen Kopfnerven anbetrifft, am auffallend-
sten der Facialis betroffen. Derselbe zeigte schon in der Ruhe eine
erhebliche Differenz in der Innervation — das Gesicht stand ziem-
lich stark nach rechts verzogen — und bei Bewegungen trat dieselbe
noch stärker hervor. Bemerkenswerth ist, dass auch das linke Auge
mit gerhigerer Kraft als das rechte geschlossen werden konnte.
Die Zunge zeigte gleichfalls eine, wenn auch leichte Abweichung
nach der linken, der gelähmten Seite.
Sodann war noch ziemlich stark betroffen die linke obere Ex-
tremität. Allerdings hat der Herr Practikant, der den Kranken unter-
suchte, zunächst nichts finden können, wie denn der Kranke in der
That im Stande war, sämmtliche Bewegungen mit diesem Gliede aus-
zuführen. Aber einmal war die grobe Kraft erheblich herabgesetzt;
das liess sich auch dynamometrisch sehr gut feststellen, der Kranke
drückte rechts 36, links aber nur 8 kg; dann wurden die einzelnen Be-
wegungen weniger geschwind ausgeführt als auf der anderen Seite und
endlich trat die Bewegungsstörung sehr deutlich hervor, wenn man den
Kranken feinere Fingerbewegungen machen oder ihn die Fingerspitzen
— 250 —
gegen die Daumenspitzen reiben liess; dann waren die fraglichen Be-
wegungen auf der linken, kranken Seite viel langsamer und zum Theil
gar nicht ausführbar.
Bei Weitem geringer waren die Erscheinungen an dem linken Bein
oder, wenn ich mich richtiger ausdrücken soll, an den Beinen. Die
Differenz in der Entwickelung der groben Kraft — zu Ungunsten der
linken Seite — war nämlich nur gering, dagegen waren die beiden
unteren Extremitäten schwach, wie sich denn der Kranke im Ganzen
leidend und schwach fühlte.
In der Motilität war also am meisten betroffen der Fa-
cialis und die Nacken-Halsmuskulatur, dann er heblich, wenn
auch weniger, die obere und am wenigsten die untere Ex-
tremität; endlich die Zunge.
Seusibilitätsstörungen waren nicht vorhanden; dagegen waren
die Patellarreflexe auf beiden Seiten, stärker links, gesteigert;
links war auch Fussklonus vorhanden und ebenso waren die Haut-
reflexe gesteigert.
Ich hatte nun einige Tage nach der Aufnahme des Kranken, am
27. IV. ein neues Symptom gefunden. Abgesehen davon, dass er schon
früher über Schraerzhaftigkeit des Kopfes bei Bewegungen und Be-
klopfen geklagt hatte, bemerkte ich in der rechten Schläfegegend,
der vorderen Hälfte des Ursprungs des Musculus temporalis entsprechend,
eine Partie, welche am 27. massig, am 28. stark geschwollen und
teigig anzufühlen war. An einem Punkte dieser Stelle bestand ein
sehr erheblicher Druckschmerz. Sie haben sich selbst überzeugen
können, dass der Kranke, wenn man ihn an dieser Stelle drückte,
schmerzhaft das Gesicht verzog und Abwehrbewegungen machte. Diese
Schwellung verlor sich am 29. und 30. zum Theil wieder, wenn sie
auch bei der klinischen Demonstration immer noch sowohl durch den
Augenschein als auch durch Betasten nachweisbar war. Die Schmerz-
haftigkeit blieb in gleicher Intensität vorhanden.
Der Kranke hat dann bei uns nach der klinischen Vorstellung,
nämlich am 1. V. einen analogen Anfall gehabt, wie ich ihn bereits
geschildert habe: Erstarrungsempfindungen, eine momentan stärkere Läh-
mung der linken oberen Extremität und Zuckungen in der linken Ge-
sichtshälfte.
Ich will noch bemerken, dass ebensowenig wie wir Erbrechen hier
beobachtet haben, auch Pulsverlangsaraung auftrat. Der Puls war immer
eher etwas beschleunigt oder auch normal.
Nun, die Frage, wie wir sie uns bei der klinischen Bespre-
chung vorlegten, war einmal die: Mit welcher Art von Er-
— 251 —
krankuiig haben wir es zu thun, und zweitens: wo sitzt die-
selbe?
Zunächst war ja das klar, dass wir wegen der linksseitigen Hemi-
parese einen in der rechten Schädelhälfte vorgehenden Krankheits-
process anzunehmen hatten. Aber welcher Art war dieser Krankheits-
pro cess?
Da fallen uns denn zunächst eine Anzahl von AUgemein-
ersche inungen auf. Der Kranke hat von Anfang an über Kopf-
schmerzen zu klagen gehabt. Er bezog sie auf eine Veranlassung,
auf die wir sie nicht beziehen werden, aber es scheint danach doch
ausser allem Zweifel, dass diese Kopfschmerzen, die übrigens später
auch den ganzen Kopf einnahmen, so dass der Kranke zeitweise die
Empfindung hatte, als ob der Kopf auseinandergesprengt werden sollte,
bei jener Veranlassung, also bereits im April 1891, vorhanden waren,
dass der Kraukheitsprocess also schon zu der Zeit bestanden hat, d. h.
über ein Jahr alt ist.
Ein zweites Allgemeinsymptom besteht in der hier doppelseitig vor-
handenen Stauungspapille.
Ein drittes besteht, man kann das wenigstens so auffassen, in der
Demenz, d. h. in den psj'chischen Störungen, an denen der Kranke
unzweifelhaft leidet. Ich habe mich da eben etwas zweifelhaft ausge-
drückt; wenn Sie wollen, können Sie das Symptom event. auch als
eine Localerscheinung auffassen. Wenn beispielsweise im Stirnlappen
ein Kraukheitsprocess von grösserer Ausdehnung sich entwickelt, so
können Sie den Ausfall psychischer Functionen auf diese Localität be-
ziehen und Sie haben nicht unbedingt nöthig, anzunehmen, dass durch
den gesteigerten Hirndruck die Gesammtmasse des Gehirns beeinträch-
tigt sei. Endlich hat der Kranke, was wir zu erwähnen vergassen, an
Schwindel gelitten.
Dagegen haben von Allgemeinerscheinungen gefehlt: Erbrechen,
Pulsverlangsamung und endlich allgemeine epileptiforme Krämpfe.
Das Fehlen dieser Symptome konnte uns jedoch in keiner Weise
bestimmen, eine raumbeschränkende, den Druck in der Schädelhöhle
steigernde Erkrankung auszuschliessen, vielmehr nur beweisen, dass der
raumbeschräukende Process nicht an einer Stelle sich entwickelt hatte,
an der diejenigen Organe, deren Beeinträchtigung besonders leicht zu
den fehlenden Symptomen führt, gelegen sind, wobei allerdings mit
Bezug auf die epileptiformen Krämpfe noch gesagt werden muss, dass
nur die eine, auf schnellerer Drucksteigerung beruhende seltenere Genese
derselben ins Auge gefasst ist. Das wäre also der Raum unterhalb des
Tentoriums.
— 252 —
Nun war die Frage, wenn wir es mit einer raumbeschränkenden
Erkrankung in der Schädelhöhle zu thun haben, welcher Art die-
selbe sei.
Vor der Operation ist von Herrn CoUegen v. Bramann die Frage
aufgeworfen worden, ob nicht vielleicht ein Gehirnabscess vorläge.
Ich habe mich dieser Frage gegenüber negativ verhalten und ich habe
aus diesem Grunde seiner Zeit die vorhergegangene Ohreneiterung auch
hier nicht weiter erwähnt. Allerdings wissen wir ja, dass sehr häufig
dadurch Hirnabscesse entstehen; aber einmal erschien mir der Zeitraum,
welcher seit dem Cessiren dieser Otorrhoe verflossen ist (zwölf Jahre),
etwas lang; zweitens fehlte während der ganzen Beobachtung des
Kranken an ihm ein Symptom, welches man so überaus häufig bei Hirn-
abscess findet: atypisches Fieber, Schüttelfröste; das ist niemals beob-
achtet worden. Drittens ist es jedenfalls relativ sehr selten, dass ein
Hirnabscess in Folge einer Otorrhoe gerade im Stirnlappen sich ent-
wickelt, während wir alle Veranlassung hatten, die fragliche Erkran-
kung im Stirulappen zu suchen, und endlich wäre mit Rücksicht auf
die anderweitigen Erscheinungen das Entstehen der Stauungspapille, die
hochgradige Sehstörung durch einen Hirnabscess nicht wohl zu erklären
gewesen. Damit will ich nicht sagen, dass bei Hirnabscessen Stauungs-
papille niemals vorkommt, aber das Ensemble der Erscheinungen war
nicht danach.
Eine zweite Möglichkeit, die hier vorlag, war das Vorhandensein
eines Hämatoms. Der Kranke hatte sicher eine Kopfverletzung er-
litten, dieselbe hat alier Wahrscheinlichkeit nach an der bewussten
Stelle stattgefunden und es wäre deswegen sehr leicht möglich gewesen,
dass der Kranke eine daselbst beginnende Pachymeningitis haemorrha-
gica davongetragen hätte. Sie wissen, dass zwischen den einzelnen
Lamellen pachymeningitischer Auflagerungen Extravasate entstehen.
Diese können so colossal werden, dass sie wie ein grosser Hirntumor
drucksteigernd wirken. Aber dann verläuft die Sache in der Regel
anders. Handelt es sich nicht um einen Paralytiker oder einen Greis
mit Hirnschwund und entwickelt sich der Erguss plötzlich, so kommt
es nicht etwa zu solchen allmählich zunehmenden Erscheinungen und
verhältnissmässig leichtgradigen Attaken und vorübergehenden Paresen,
wie bei meinem Kranken, sondern da giebt es wegen der plötzlichen
Drucksteigerung einen echten apoplektischen Insult. Entwickelt die
Blutung sich aber sehr allmählich, wie es hier hätte der Fall sein
müssen, so pflegen die Erscheinungen seitens des Sehapparates zu fehlen
oder weit geringer zu sein als hier. Auch würde das Hämatom an sich
die Schwelluns; der Weichtheile nicht erklären.
— 253 —
Mir war es von Anfang an sehr wahrscheinlich, dass der Knochen
in nnmittolbarer Beziehung zu dem Krankheitsherde stehe. Ich l'üiirte
aber ausdrücklich an, dass Tumoren der Hirnsubstanz, auch wenn sie
noch so gross sind und den Knochen erreichen, eine solche teigige An-
schwellung der Weichtheile nicht produciren. Es musste also der
Knochen selbst betheiligt sein. Ein auf denselben beschränkter Process
hätte aber, wenn er nicht colossal war, die Druckerscheinungen nicht
erklärt. Dabei war zu berücksichtigen, dass der Tumor nicht nach
aussen perforirt hatte. Das Wahrscheinlichste war also, dass wir es
mit einem Process am Knochen und ausserdem iioch mit einer Ge-
schwulst zu thun hatten.
Die zweite Frage war, wie gesagt, die, wenn wir es mit einer
raiimbeschränkenden Erkrankung in der Nähe des Knochens
zu thun hatten, wo sitzt dieselbe?
Da waren nun zwei Reihen von Symptomen, die uns leiten konnten.
In erster Linie die schmerzhafte Anschwellung, in zweiter Linie die-
jenigen Erscheinungen, welche uns immer in solchen Fällen zu leiten
haben, die Herderscheinungen.
Am besten verfährt man nun, wenn man sich klar machen will,
wo ein Krankheitsprocess im Gehirn, dafern er überhaupt der Local-
diagnose zugänglich ist, sitzt, per exclusionem. So thaten wir es hier.
Sie haben bereits gehört, dass wir wegen gewisser fehlender All-
gemeinerscheinungen diejenigen Organe auszuschliessen hatten, welche
unterhalb des Tentoriums gelagert sind. Zu diesen gehört in erster
Linie das Kleinhirn. Wenn das Kleinhirn befallen wäre, so würden wir
jedenfalls sehr häufiges Erbrechen gehabt haben und wahrscheinlicherweise
hätte sich die Stauungspapille früher und energischer entwickelt, als es
in dem vorliegenden Falle zutrifft.
Dann schien ja Einiges darauf hinzuweisen, dass der Tumor in dem
Hinterhaupts läppen beziehungsweise in der Nähe des Thalamus seinen
Sitz haben könnte, denn der Kranke hatte angegeben, dass er eine
hemianopische Sehstörung gehabt habe und wie Ihnen bekannt ist.
treten derartige Sehstörungen bei Läsionen, die im Hinterhauptslappen
ihren Sitz haben, oder den Tractus opticus direct zerstören, auf. Da
nun der Kranke solche Angaben gemacht hatte, war immerhin die Auf-
merksamkeit auf diese Hirntheile gelenkt. Aber nachdem uns die ob-
jective Untersuchung ergeben hatte, dass von Hemianopsie jetzt garnicht
die Rede war und nie die Rede gewesen sein konnte, entschlossen wir
uns, diese Angaben des Kranken garnicht zu beachten, wie denn über-
haupt die subjectiven Empfindungen und Angaben von Kranken dem
objectiven Thatbestande gegenüber stets zu vernachlässigen sind, wenn
— 254 —
derselbe nur unzweideutig ist. Ich habe mir vorgestellt, dass der
Kranke wohl von irgend einem mit der Sache nicht ganz vertrauten
Arzte vorher nach Hemianopsie gefragt und ihm dabei eine solche
Sehstörung suggerirt worden ist. Uebrigens wenn es sich in der That
um eine Läsion eines Hinterbauptlappens gehandelt hätte, so hätte
dieselbe links sitzen müssen, da der Kranke behauptete, dass seine
Hemianopsie eine rechtsseitige gewesen sei. Das würde aber wieder
mit den Lähmungserscheinungen der linken Körperhälfte nicht gestimmt
haben.
Sodann kam die motorische Region in Frage, auf die für den
Unerfahrenen die Aufmerksamkeit durch die vorhandenen motorischen
Paresen hingelenkt war. Man musste sich aber sagen, dass der Tumor
dort seinen Ursprung nicht haben konnte; denn die ersten Erscheinungen
waren Allgemeinerscheinungen, keine Herderscheinungen gewesen: der
Kranke hatte zuerst an Kopfschmerzen gelitten und Motilitätsstörungen
waren nur allmählich erschienen und sie waren jetzt noch verhältniss-
mässig unerheblich, so dass die Motilität selbst in dem am meisten be-
troffenen Facialisgebiet immer noch vorhanden war. Hätte der Tumor,
der nunmehr, nachdem er seit länger als einem Jahre bestanden, eine
erhebliche Grösse angenommen haben musste, in dem motorischen Ge-
biete sich entwickelt, so wäre sicherlich eine umfangreiche, ausge-
sprochene halbseitige Lähmung vorhanden gewesen.
Es blieb also eigentlich nur noch übrig der Stirn- und Schläfen-
lappen. Hätte der Tumor links gesessen, so hätten wir den Schläfen-
lappen von vorn herein ausschliessen können, weil eine bestimmte Form
aphasischer Sprachstörmig mit der Läsion dieses Lappens verknüpft zu
sein pflegt. Bei dem rechtsseitigen Sitze des Tumors konnte man dies
nicht ohne Weiteres thun, zumal sehr grosse Tumoren des Scliläfen-
lappens gelegentlich auch zu motorischen Erscheinungen führen, aber
hier musste uns einmal die anderweitige Reihe von Erscheinungen leiten,
von denen ich gesprochen habe, das sind die Erscheinungen an den
Weichtheilen und am Knochen. Zweitens kam dabei die Entwickelung
und die Vertheilung der Lähmungserscheinungen in Betracht.
Wenn wir uns nämlich diese beiden Abbildungen von Affengehirnen,
deren eine meinem Buche, die andere einer Arbeit von Horsley und
Schaefer entnommen ist, ansehen, so bemerken wir, dass zu oberst,
am meisten medial gelegen, sich das Centrum für das Bein, mehr lateral
das für den Arm, dann das für die Gesichts-, Zungen- und Kiefer-
Musculatur befindet. Und endlich nach vorn, vor diesen liegen die
Centren, welche den Kopf und Nacken bewegen.
Nun sehen wir in dem vorliegenden Falle, dass am meisten be-
— 255 —
troffen von der Läsion das Gesicht war. Dann war der Kopf nicht
unerheblich betroffen. Der Kranke hielt den Kopf stark nacli vorn ge-
senkt und leicht nach links geneigt. Er hing überhaupt etwas nach
der gelähmten Seite, nach links hinüber. Sodann war die obere Ex-
tremität nennenswerth befallen, die untere dagegen nicht anders als
die untere Extremität der anderen Seite. Die erste Herderscheinung
war übereinstimmend ein leichter Anfall von motorischen Erscheinungen
im Gebiet der oberen Extremität und des Facialis gewesen.
Es wäre nun schon schwer zu erklären gewesen, wie ein Tumor
im Schläfenlappen seinen Einfluss halbseitig auf alle diese Centren und
zwar in der geschilderten Weise, so dass namentlich die Zunge fast frei
blieb, hätte ausüben können. Dagegen erklärte sich der ganze Hergang
sehr einfach, wenn man annahm, dass er im Stirnlappen seinen Sitz
hatte, dass er sich da allmählich vergrösserie und nunmehr, indem
gleichmässig Allgemeinerscheinungen auftraten, die ihm benachbarten
Centren der vorderen Centralwindung das Centrum für den Arm und
den Facialis betroffen habe.
Zu dem gleichen Schlüsse führte uns die mehrerwähnte Veränderung
am Knochen und an den Weichtheilen. Wenn man genau zufühlte, konnte
man sich überzeugen, dass die Anschwellung und die Schmerzhaftigkeit
hauptsächlich ihren Sitz an dem Theil hatte, wo die Schuppennaht sich
in ihrem vorderen Theile basal umbiegt. Etwas oberhalb dieser Stelle
bestand die hauptsächlichste Schmerzhaftigkeit. Nun entspricht jener
Punkt der Schuppennaht ziemlich genau dem aufsteigenden Aste der
Fossa Sylvii, also ebenfalls dem hintersten Theile des Stirnlappens. —
Nachdem die Diagnose so in allen ihren Theilen festgestellt war,
fragte es sich, was ist zu thun? Unzweifelhaft war der Mann dem
Tode geweiht, wenn nicht eingegriffen wurde. Der Druck nahm zu,
es war vorauszusehen, dass er in nicht zu ferner Zeit sein Sehvermögen
gänzlich verloren haben würde und ferner vorauszusehen, dass der
weiter sich steigernde Druck zu ausgebreiteten Lähmungserscheinuugcn
und schliesslich zum Aufhören des Lebens führen würde. Es bestand
also eine Lidicatio vitalis zur Operation, mochte auch die Hoffnung,
den Kranken endgültig durchzubringen, nur schwach sein. Wenn man
so weit mit der Localdiagnose kommen kann, wie in diesem Falle, so
ist einem wachsenden Tumor gegenüber, der an der Convexität des
Grosshirns sitzt, die Operation immer indicirt. Ich habe mich deshalb
mit Herrn Collegen von Bramann in Verbindung gesetzt, er war der-
selben Meinung wie ich und zum operativen Vorgehen bereit.
Fraglich war, wo und wie einzugehen. Wir haben eben gesehen,
dass über den Ort, wo der Tumor seinen Sitz haben musste, eigentlich
— 256 —
ein grösserer Zweifel nicht bestehen konnte. Nur Iconnte man sicli über
die Grösse des Dinges nur sehr unvollkommene Vorstellungen bilden
und infolge dessen auch nicht sagen, wie gross die anzulegende Oeffnung
sein müsse. Im Allgemeinen lässt sich darüber wenig sagen. Wir haben
ja einen sehr grossen Tumor gefunden, aber die Erscheinungen waren
doch verhältnissmässig recht unbedeutend und ich möchte hervorheben,
dass ein Tumor von der Grösse einer Pflaume unter Umständen sehr
ähnliche Erscheinungen hätte produciren können, wie das Riesending,
das College von Bramann da herausgeholt hat. Immerhin war ich
der Auffassung, dass die Geschwulst gross sein müsse, weil sie ziemlich
lange Zeit zur Entwickelung gebraucht hatte und die Erscheinungen,
die sie von einem relativ indifferenten Orte aus hervorrief, eine so
grosse Zahl von motorischen Centren, wenn auch mit geringer Intensität
betrafen.
Herr College von Bramann hatte denn auch gleich anfänglich
ein grosses Stück von 8 cm im Quadrat ausgemeisselt. Sie haben be-
merkt, dass dieses Stück noch nicht einmal gross genug war. Wir
hatten verabredet, dass die Stelle des aufsteigenden Astes der Fossa
Sylvii als Ausgangspunkt gewählt werden solle, derart, dass der kleinere
Theil der Oeffnung nach hinten, der grössere nach vorn und dass die
Basis nicht tiefer gelegt werden solle, als diese, weil wir eben oberhalb
der Fossa Sylvii bleiben wollten.
Schon als die Weichtheile getrennt wurden, zeigten sich dieselben
als im hohen Grade blutreich, es spritzte eine Menge von Gefässen und
ebenso erwies sich der Knochen, wie wir das vorausgesetzt hatten, nach
verschiedener Richtung verändert. Einmal fanden wir eine Druckusur
des Knochens mit Osteophytenbildung. An einzelnen Stellen war der
Knochen papierdünn. Um so mehr stach eine andere Stelle davon ab,
an der eine hochgradige Hyperostose von Centimeterdicke
vorhanden war, derart, dass die darunter liegenden Tlieile der Dura
und des Gehirns eine tiefe Impression erlitten hatten. Der Knochen
war ferner stellenweise blauroth verfärbt. Die Dura war mit der als^
bald erscheinenden Geschwulst verwachsen, und wie es schien, von ihr
durchwachsen.
Nach Entfernung der Dura präsentirte sich also eine dunkelrothe
Geschwulst. Wir hatten es glücklich so getroffen, dass au der Basis
gesunde Gehirnmasse vorlag, aber nach allen anderen Richtungen hin
überragte die Geschwulst die Schädellücke. Diese wurde also dadurch
erweitert, dass medial eine zweite Oeffnung von 8 cm Länge und 3 cm
Breite angelegt wurde, so dass nunmehr das Loch im Schädel, nachdem
noch auf beiden Seiten etwas wesgekniffen war, die Dimensionen von
— 257 —
11 cm iu frontaler und 9 cm in Scagittaler Richtung zeigte*). Die
mediale Grenze der Trepanationsüffnung reichte bis dicht an die Sagittal-
nalit heran. Nmi wurde der Tumor, nachdem von
allen Seiten gesunde Hirnsubstanz sichtbar war,
durch Herrn Collegen von Bramann mit ge-
wohnter Kunst herausgeschält, wobei er, wie er
sagte, mit dem Finger in den Seitenventrikel hin-
eingelangte, darauf die Wunde verbunden und der
Kranke in sein Bett gebracht.
Die Geschwulst hatte das enorme Gewicht
Fig. 25. von 280 g. Wenn Sie annehmen, dass ein recht
schweres Männergehiru 1500 g wiegt, wovon
170 g auf Kleinhirn, Pous und Oblongata, dann 50 g auf Hirnhäute
und Hirnwasser, zusammen also 220 g abzurechnen sind, so bleibt für
beide Grosshirn half ten ein Gewicht von 1280 g, für eine von 640 g
übrig. Sie sehen also, dass eine Geschwulst enucleirt worden ist, bei-
nahe äquivalent dem Gewichte einer halben Hemisphäre. Nun, ich
möchte nur gleich bemerken, dass der Kranke nicht hur lebt, sondern
dass es ihm relativ gut geht. Er hat seine Facialisparese wie früher,
die Zunge deviirt vielleicht ein wenig stärker nach der kranken Seite;
stärker geworden ist die Lähmung in der oberen Extremität, die
Streckung der Hand und der Finger fehlt so gut wie ganz. In den Beinen
besteht kein Unterschied gegen früher, alles zusammen ein Beweis
dafür, dass die Operation mit ausserordentlicher Eleganz ausgeführt ist,
so dass die Nachbartheile nicht in irgend welcher erheblichen Weise
geschädigt worden sind.
Was den Tumor anbetrifft, so hat sich derselbe als ein gemischtes
Sarkom erwiesen. (Demonstration eines mikroskopischen Präparates mit
dem Projectionsapparat.) —
Was ich Ihnen gebührlich vorgetragen habe, könnte zu einer grossen
Anzahl von Bemerkungen Veranlassung geben. Ich will mir ein so
weites Eingehen aber für heute versagen, und komme vielleicht ein
andermal auf andere Punkte zurück. Für heute will ich mich be-
*) Die Abbildung kann nur ein ungefähres Bild von dem Sachverhalt
geben. Zwar sind die Maasse 9 : 11 cm richtig übertragen. Aber einmal ist
der benutzte Schädel klein und brachycephal, während der Kranke einen
grossen dolichocephalen Schädel besitzt. Ferner sind die Ecken nicht überall
herausgemeisselt worden und endlich reicht der obere Theil der Lücke weiter
nach vorn, dagegen weniger weit nach hinten. Ungeachtet dieser Ungenauig-
keiten dürfte die Abbildung doch eine ungefähre Vorstellung von der enormen
Grösse des gesetzten Schädeldefectes geben.
Hitzig, Gesammelte Abhandl. I. Theil. 17
— 258 —
gnügen, einige uns gerade an diesem Falle ganz besonders interessirende
Dinge hervorzuheben.
Zunächst ist der Krankheitsfall in ätiologischer Beziehung in-
teressant. Ich halte es für unzweifelhaft, dass infolge eines Traumas
ein Sarcom im Gehirn sich entwickelt hat. Dass hier wirklich ein
Trauma stattgefunden hat, wird angesichts der Hyperostose, welche wir
vorgefunden haben, nicht bestritten werden. Darunter hat sich nun ein
Hirnsarkom entwickelt, welches aber doch nicht vom Knochen und der
Dura ausgegangen ist, sondern die Dura nur secundär betroffen hat,
sonst würden die Veränderungen dieser Organe doch hochgradigere sein.
Dass sich Sarcom e in Folge , eines Traumas entwickeln, ist nun durchaus
nichts Seltenes, wenn es auch von Cohnheim bestritten worden ist.
Wir haben z. B. im vorigen Semester einen ganz analogen Fall beob-
achtet und klinisch wiederholt besprochen.
Die gleichfalls höchst interessante Geschichte dieses Kranken,
eines 46 Jahre alten Landwirthes Frässdorf, möge kurz hier folgen.
xinamnese: Pat. hatte lYo Jahr vor seiner Aufnahme, 11. December
1891, einen Schlag auf die rechte Kopfseite erhalten.
21, X. 91. Beginn der Erscheinungen damit, dass ihm beim Säen das
Laken aus der linken Hand glitt. Ein paar Tage nachher konnte er die Karten
mit dieser Hand nicht mehr halten. Zuerst war befallen der Zeige-
finger, dann Daumen und Mittelfinger.
3. XL, 17. XL, 28. XL Linksseitige Krampfanfälle. Die Anfälle
begannen stets in den Fingerbeugern der linken Hand, gingen schnell auf die
Muskulatur der Oberarme, der Schulter und der linken Gesichtshälfte über,
Hessen aber die untere Extremität frei. Das Bewusstsein blieb frei. Erbrechen,
Kopfschmerz und Sehstörungen waren bis dahin nicht vorhanden gewesen und
traten auch im Zusammenhang mit den Anfällen nicht auf.
Nach den Anfällen fast vollständige Lähmung erst der Hand, dann der
ganzen oberen Extremität, Parese des Facialis, der unteren Extre-
mität und Heiserkeit der Sprache. Seit 10. XIL Empfindung von Kochen
an einer bestimmten Stelle des rechten Scheitelbeins, dicht hinter der Kranz-
naht, 3 Finger breit lateral von der Mittellinie.
Stat. praesens. Massige Facialisparese, auch der Augenschluss links
weniger energisch, ebenso Stirnrunzeln links weniger deutlich. Zunge mit der
Spitze deutlich nach links. Parese des linken Stimmbandes; Sprache deutlich
heiser, Husten mit etwas Luftverschwendung.
Alle Bewegungen der linken oberen Extremität fehlen, nur kann der Arm
willkürlich bis zur Horizontalen erhoben werden. Geringe und nicht immer
nachweisbare Rigidität. Keine Steigerung der Reflexe.
Leichte Parese der unteren Extremität. Sehnenreflexe beiderseits, stärker
links gesteigert, dort auch Periostreflexe und Fussklonus.
Sensibilität links leicht abgestumpft.
— 259 —
Ophthalmoskopisch normaler Befund.
Verlauf: 13. XII. Zwei Anfälle, wie oben geschildert, aber mit Bethei-
ligung des rechten Orbic. palpebr., beim zweiten Anfall auch mit Deviation
«onjuguee, als zuletzt erscheinender und zuerst verschwindender Krampf, aber
ohne Betheiligung des Beines. Beginn des Anfalls mit Kriebeln in den einan-
der zugekehrten Seiten des Zeige- und Mittelfingers.
18. XII. und später Kopfschmerzen über dem rechten Auge und rück-
wärts bis zur»Kranznaht.
21. XII. Obscurationen rechts.
22. XII. Parästhesien und zunehmende Parese im linken Bein.
23. XII. Letzte Nacht Anfall, beginnend im Zeigefinger, sonst wie früher,
das Bein blieb frei.
Ophthalmoskopisch: Beide Papillen sehr stark geröthet, vielleicht begin-
nendes Oedem. Linke obere Extremität wärmer, Hand leicht livide.
24. XII. Nachts 31/2 Uhr Anfall, Morgens 9 Uhr Syncope und kurzer
Anfall. Abends Brechreiz.
26. XII. Beiderseits beginnende Stauungspapille.
Während der Beobachtungszeit war die Intensität der Parese des Facialis
und des Beins schwankend, die Lähmung des Arms constant gewesen,
27. XII. Trepanation durch Prof. v. Bramann.
Bei der klinischen Vorstellung am 10. December und 9. Januar
war eine Geschwulst diagnosticirt worden, die ihren Ausgangspunkt von
dem Centrum für die Fingerbewegungen genommen habe. Die Lage
dieses Centrmns wurde nach der von Aug. Müller (Bern) angegebenen
3Iethode bestimmt und dasselbe von Herrn Prof. v. Bramann als der
Mittelpunkt für die anzulegende Trepanationsöffnung gewählt. Bei einer
ersten Operation erschien hier eine Cyste von der Grösse eines Enten-
eis, welche exstirpirt wurde, sich dann aber als Theil eines nicht ab-
gekapselten Cystosarcoms erwies, so dass noch zwei Operationen, bei
denen Herr v. Bramann jedesmal grosse Geschwulstmassen entfernte,
erforderlich Vvfurden.
Also auch hier ein Hirnsarcom zeitlich und vermuthlich auch, ur-
sächlich als Folgeerscheinung eines Schädeltranmas.
Soviel von der Aetiologie.
Einige andere Punkte betreffen die diagnostische Seite. Ich
habe da nun schon auf eins hingewiesen, das ist das Verhältniss der
Entwickelung des Erbrechens und der Puls verlangsamung, ich will jetzt
auch sagen der Stauungspapille zu der Entwickelung der anderen Er-
scheinungen. Wenn Sie mit einiger Sicherheit Hirntumoren diagnosti-
ciren wollen, dürfen Sie diese Frage niemals aus den Augen verlieren.
Sie haben gesehen, dass dieser Tumor eigentliche Herderscheinungen
doch nur wenig ausgesprochen und verhältnissmässig spät hervorgebracht
17*
— 260 —
hat, im Anfang nur Allgemeinersclieiiuiugen. Etwas Aehuliches sieht
man bei Kleinhirntumoren und man kann deshalb sehr leicht in Zweifel
gerathen, wenn man nur den Status praesens berücksichtigt. Charac-
teristisch für Kleinhirntumoren ist es aber, dass sie hervorragend schnell
neben anderweitigen Allgemeinerscheiuungen zu heftigem, anhaltendem
und immer wiederkehrendem Erbrechen führen, dass die Stauungspapille
viel schneller beginnt und verläuft und auch Pulsverlangsamung häufiger
erscheint, obwohl dieses Symptom bei Weitem nicht in allen Fällen ein-
tritt. Das wäre also ein Punkt.
Eine zweite diagnostische Mahnung richtet sich auf eine recht ge-
naue Untersuchung des Schädels. Bei Weitem nicht in allen Fällen
werden Sie dabei etwas finden, was Sie auf die Diagnose leitet, ja mau
kann geradezu sagen, dass man selten eine so präcise locale Indication
zum Eingreifen vorfindet, wie in diesem Falle. Aber es giebt doch
eine erhebliche Anzahl von Fällen, bei denen die Diagnose leicht viel
zweifelhafter sein kann, als in unserem Falle und dann ein einziger
solcher Fingerzeig gleich zu einer Localdiagnose verhilft und unser Ein-
greifen zielbewusster macht. Dabei möchte ich nochmals darauf auf-
merksam machen, wie wenig die subjectiven Empfindungen der Kranken
gegen solche objectiven Befunde in Betracht kommen. Auch in dem
Falle Frässdorf hatte Fat. sein „Kochen im Schädel" an eine ganz an-
dere Stelle localisirt, als die war, wo wir die Geschwulst zu suchen
hatteji und fanden.
Schliesslich möchte ich noch in Bezug auf die hirnchirurgi-
schen Fragen erwähnen, dass wir mit unserem Vorgehen in einen ge-
wissen Widerspruch mit den Anschauungen v. Bergmannes gerathen
sind. v. Bergmann, der, wie Ihnen bekannt ist, eine hervorragende
Stelle unter den Hirnchirurgen einnimmt, steht dem chirurgischen Ein-
greifen gerade bei Tumoren verhältnissmässig skeptisch gegenüber. Man
könne nicht wissen, ob ein Tumor diffus, infiltrirt oder circumscript, ab-
gekapselt sei. In dem ersteren Falle dürfe in der Regel nicht exstirpirt
werden. Zweitens will er sehr grosse Tumoren wegen der Gefahr der
Blutung und des Gehirnödems nicht operirt wissen.
Nun, wir haben in diesem Falle einen circumscripten Tumor ge-
funden, das konnte man allerdings vorher nicht wissen. In dem Falle
Frässdorf belehrte aber auch die explorative Trepanation nicht hin-
reichend über die Grenzen der Geschwulst, sondern erst die di'itte Ope-
ration. Soll man da nun die Hände in den Schooss legen, wenn man
sieht, der Kranke geht unfehlbar dem Tode entgegen? Ich bin der
Ansicht, nein! Selbst wenn der Tumor sich nach der explorativen
Trepanation als dift'us erwiese, könnte ich mir Fälle vorstellen, bei
— 261 —
denen ich angesichts der absolut hoffnungslosen Prognose, wenn der
Chirurg mich fragen sollte, zur Operation rathen würde. Uebrigens
concedirt ja auch v. Bergmann vorsichtig die Möglichkeit solcher
Fälle.
Was die Blutung und das Hirnödem betrifft, so sind wir dem
keineswegs entronnen. Ich weiss es nicht, ich bin nicht Chirurg genug,
um darüber urtheilen zu können, wie gross die bevorstehenden Gefahren
noch sind, jedenfalls der schlimmste Tag ist überstanden. Aber dass
• das Hirnödem auch nach Exstirpation sehr grosser Tumoren keineswegs
nothwendig erscheinen muss, beweist der Fall Frässdorf. Derselbe hat
nach der Schätzung des Herrn Prof. v. Bramann mindestens 150 g
Tumormasse mit Umgebung und bei der dritten Operation eine Menge
von 95 g auf einmal verloren, wobei der Seitenventrikel auch beinahe
erreicht wurde. Es war also auch eine colossale Geschwulst. Nun, der
Patient hat jetzt eine enorme Lücke im Schädel; die ganze Kopfhälfte
ist eingesunken, aber er lebt nicht nur, sondern er hat auch noch einen
beträchtlichen Theil der Motilität seiner kranken Körperhälfte gerettet.
Also man darf mit seinen Bedenken wenigstens nach dieser Richtung
nicht so weit gehen wie v. Bergmann. Man muss vielmehr, wenn
einmal sonst der Stab über dem Kranken gebrochen erscheint, auch bei
zweifelhaften Verhältnissen sich zum Eingreifen entschliessen. Man-
cherlei, das noch vor kurzer Frist unmöglich erschien, ist doch allmäh-
lich möglich geworden. 2")
Anmerkung.
27) Der Kranke der ßeob. I. befindet sich noch jetzt am Leben. Er hat
sich verheirathet, ist Vater zweier Kinder und führt selbstständig ein Geschäft.
Er stellte sich zmii letzten Mal am 17. September 1901 in der Klinik vor.
Aus dem umfangreichen, bei dieser Gelegenheit erhobenen Status entnehme
ich mit dem Hinzufügen, dass negative Befunde nicht erwähnt werden, und
dass die Beschreibung der Operationsgegend einer Mittheilung des Herrn Col-
legen von Bramann*) entnommen ist. Folgendes: „Auf der rechten Schädel-
decke im Bereiche des Scheitel-, Stirn- und Schläfenbeins eine muldenförmige
Einsenkung, die im Bereiche des Tuber frontale beginnt und sich in einer
Ausdehnung von 13 cm bis über das Tuber parietale nach hinten und von der
Schläfenbeinschuppe bis fast zur Sagittalnaht (11 cm) erstreckt, und deren
tiefste Stelle fast 4 cm unter dem Niveau der normalen Scheitelbeinfläche ge-
*) von Bramann, Beitrag zur Prognose der Hirntumoren, Verhand-
lungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 1895.
— 262 —
legen ist. Im Bereiche der muldenförmigen Einsenkung fehlt das knöcherne
Schädeldach vollkommen , und das überall deutlich pulsirende Hirn ist nur
von der, von mehreren Narben durchzogenen und sehr dünnen Kopfschwarte
bedeckt."
Spastische Lähmung der linken Extremitäten, in der unteren Extremität
nur angedeutet, aber mit erheblicher Steigerung dei* Sehnenreflexe dort.
Hirnnerven: AugenbeAvegungen nach allen Seiten frei, aber bei Conver-
genz das rechte Auge nur minimal mit eingestellt. Pupillen bei hellem Tages-
licht gleich, bei massiger Beschattung die rechte weiter. Reaktion links auf
Lichteinfall prompt und ausgiebig; rechts: Reaktion weniger prompt und aus- '
giebig, aber deutlich. Rechts ist der Visus auf Bewegungen der Hand redu-
cirt. Augenhintergrund: Reclits sehr deutliche papillitische Atrophie, links
Papille anscheinend gleichfalls etwas abgeblasst. Facialis in der Ruhe links
etwas schlaffer als rechts, Nasolabialfalte verstrichen, Mundwinkel hängend,
Stirnast frei, Augenschluss beiderseits gleich kräftig. Beim Zähnezeigen,
Pfeifen, Mundspitzen, Zungezeigen die Facialisdifferenz zum Theil sich aus-
gleichend, jedenfalls weniger deutlich als in der Ruhe.
Bei Aufforderung den Kopf ganz gerade zu halten, bleibt er ganz wenig
um die Horizontalachse nach rechts gedreht, ausserdem minimal um die Sagit-
talachse nach links geneigt (rechtes Ohr höher). Drehungen um die Vertical-
achse auf Aufforderungen beiderseits gleich, dabei das Gefühl als ob es nach
links leichter ginge.
Sensibilität obere Extremität: Berührung mit Watte am Arm bis etw^as
oberhalb des Handgelenkes fehlerlos angegeben, von da ab ohne deutliche zu-
nehmende Verschlechterung gegen das distale Ende einzelne, ■'•/ibis^/s, ausge-
lassen. Von der gleichen Grenze ab auch subjectiv die Empfindung weniger
deutlich werdend. Schmerzempfindlichkeit bei leichten Nadelstichen ohne
Differenz zwischen Arm und Hand, die linke Hand eher empfindlicher als die
rechte. iVuch gegen faradischen Strom die linke Hand etwas empfindlicher.
Kopf und Spitze der Nadel bis zur obigen Grenze sehr prompt unterschieden,
von da ab Kopf zuweilen ausgelassen. Wärme und Kälte bei erheblicherer
Differenz bis zu den Fingerkuppen beiderseits gut unterschieden. Localisation
von Berührung an allen Fingern rechts innen und aussen tadellos; links Feh-
ler bis zu IY2 Finger Breite. Ungefähr gleich grosse Störungen bei der Auf-
gabe, einen bei geschlossenen Augen berührten Punkt der linken Hand nach
Freigabe der Augen mit der rechten anzuzeigen, dabei noch Fehler in der Be-
stimmung der Fingerglieder.
Tastversuch: Rechts ohne Fehler, links Schlüssel — , Ring — Messer,
Streichholz — , Groschen — harter Gegenstand; passives Vorbeischieben der
Gegenstände an den Fingern der linken Hand verbessert die Erkennung nicht.
Geldstück nicht einmal als runder Gegenstand erkannt.
Angaben über passive Bewegungen: Schulter gut, Ellenbogen gut, auch
bei geringen Excursionen, Handgelenk nur bei groben Excursionen. Finger:
Combinirte Bewegungen aller Finger im Grundgelenk noch erkannt bei grossen
Excursionen; feinere Bewegungen der einzelnen Fingerglieder gegeneinander
— 263 —
überhaupt nicht als Bewegung wahrgenommen. Spontan keine Schmerzen ;
nur mitunter todtes Gefühl und Kriebeln im ganzen Arm.
Untere Extremität: Berührung and Schmerzempfindlichkeit rechts gleich
links, auch am Fuss resp. den Zehen. Passive Bewegungen werden überall
richtig angegeben, nur solche der grossen Zehe links zu V4 — Va fehlerhaft an-
gegeben, rechts fehlerlos.
Ueber die ferneren Schicksale des Kranken der Beob. IL entnehme ich
der angeführten Mittheilung des Collegen von Bramann Folgendes:
„5 Monate nach der 3. Operation trat ein neuer Tumor im hinteren und
medialen TheildesSchädeldefectesundzugleich an den Knochenrändern selbst auf
und zwang zu einer 4. Operation, die sich noch eingreifender gestaltete, als
die drei ersten, indem nicht nur das Hirn in grosser Ausdehnung um den sehr
tiefgehenden Tumor entfernt wurde, sondern auch nach sehr ausgedehnter
Resection des Schädels bis ca. 3 cm über die Mittellinie nach links der Sinus
longitudinalis nach doppelter Unterbindung in einer Ausdehnung von ca. 7 cm
Länge resecirt wurde. Der Wund verlauf gestaltete sich auch dieses Mal günstig,
so dass Patient ca. 6 Wochen später mit geheilter Wunde frei von Pvecidiv aus
der Klinik entlassen werden konnte. Der weitere Verlauf kann leider nur nach
Mittheilungen der Angehörigen des Patienten berichtet werden, die sich kurz
dahin zusammenfassen lassen, dass etwa 4 Monate nach der 4. Operation eine
neue Geschwulst auf dem Hinterkopfe und ausserdem ein starker Husten mit
reichlichem, zum Theil blutig gefärbtem Auswurf aufgetreten sei. Zugleich
hatten die Lähmungserscheinungen auf der linken Körperseite zugenommen, die
überaus qualvollen Krampfanfälle, an welchen der Patient bei den früheren
Recidiven gelitten hatte, scheinen aber ausgeblieben zu sein. Die letzte Ur-
sache des im Frühjahr 1893 eingetretenen Exitus letalis ist allem Anscheine
nach — die Section hat leider nicht gemacht werden können — in ausgedehn-
ten Metastasen in den Lungen zu suchen!"
XIV. Ein Beitrag zur Hiruchiriirgie.
IL
Ueber hirnchirurgische Misserfolge.
Ein klinischer Vortrag.
Es sind gerade sieben Semester her — es war am 4. Mai 1892 — ,
dass ich an der gleichen Stelle hier einen seither publicirteu klinischen
Vortrag*) hielt über zwei Fälle von grossen Hirntumoren, die von Herrn
Collegen von Bramann, nachdem sie hier richtig diagnosticirt worden
waren, glücklich exstirpirt worden sind. Die Fälle waren ausgezeichnet
nicht nur durch den glücklichen Verlauf, den die ganze Angelegenheit
genommen hat, sondern insbesondere auch durch die ungewöhnliche
Grösse, die die Tumoren hatten. Der eine von ihnen wog 280 g, so
ziemlich der grösste Hirntumor, der je, noch dazu mit Glück, operirt
worden ist. Gerade dieser Fall ist noch heute am Leben und der
Kranke besorgt, wenn auch halbseitig gelähmt, seine Geschäfte in wün-
schenswerther Weise; der andere hat auch die Operation glücklich
überstanden, ist aber, soviel ich weiss, später an Rückfällen zu Grunde
gegangen.
Di<3se Fälle, die damalige Publication, zeigten uns die Lichtseiten
dieser ganzen Materie, aber sie hat nicht nur Licht-, sondern auch
Schattenseiten, und unsere Aufgabe ist es, die Dinge nicht nur einseitig,
sondern von allen Seiten zu betrachten, damit wir in zweifelhaften Fällen
luis diagnostisch zu helfen wissen.
Ich habe schon im Sommer vorigen Jahres auf der Versammlung
südwestdeutscher Psychiater und Neurologen in Baden-Baden anlässlich
eines vom Herrn Collegen Kraske aus Freiburg gehaltenen Vortrages
über einen oder zwei unrichtig diagnosticirte Fälle von Hirntumoren
*) Siehe oben S. 247.
— 265 —
etwas Aelinliches ausgesprochen, namentlich darauf hingewiesen, wie die
bisherigen Publicationen doch ein recht falsches Bild von der Wirklich-
keit geben, und ich benutze nun den Krankheitsfall, den wir heute vor
acht Tagen gesehen haben und der, wie Sie wissen, am vorigen Sonn-
tag obducirt worden ist, um einige Bemerkungen nach dieser Richtung
hin anzuknüpfen.
Ich möchte mich dabei freilich beschränken; glauben Sie ja nicht,
dass ich die Absicht haben könnte, hier auf die Symptomatologie der
Hirntumoren und überhaupt derjenigen Krankheiten, die zu einem Ein-
griff in die Schädelhöhle ermuntern könnten, sämmtlich einzugehen.
Und ebenso wenig kann es mir einfallen, die andere Seite der Materie,
die sich noch darbietet, nämlich die von anderen Autoren geernteten
und publicirten chirurgischen Misserfolge, eingehend zu behandeln. Ich
möchte mich, was das klinische Material anbetrifft, darauf beschränken,
hier von einigen Fällen aus meiner eigenen Erfahrung zu
sprechen, welche von motorischen Reizerscheinungen von
Seiten des Gehirns unter solchen Umständen begleitet waren,
dass sie uns zu einer von Misserfolg begleiteten Trepanati on
geführt haben.
Bevor ich jedoch auf diese Casuistik eingehe, will ich, um den-
jenigen von Ihnen, die nicht ganz vertraut mit der Geschichte der Hirn-
chirurgie sind, mich verständlich zu machen, doch noch einige für diese
Frage nicht uninteressante physiologische und symptomatologische That-
sachen vortragen.
Den Ausgangspunkt dieser ganzen Lehre von der Hirnlocalisation
und von den sich darauf gründenden chirurgischen Eingriffen bildete,
nachdem schon früher H. Jackson darauf aufmerksam gemacht hatte,
dass eine solche Localisation, in der Gegend der Art. men. med. unge-
fähr, mit Bezug auf die motorischen Erscheinungen bestehen müsse,
eine Arbeit, die ich selbst mit Fritsch im Jahre 1870 publicirt habe.
Ich will des Näheren auf diese Arbeit nicht eingehen und will nur die
hauptsächlichsten Thatsachen, um die es sich hier handelt, hervorheben.
Wir wiesen damals nach, dass durch electrische Reizung bestimmter
Partien des Gehirnes Muskelzuckungen auf der contralateralen Seite in
einer ganz bestimmten Weise eintreten, und zwar so, dass bestimmte
Muskeln auf Reizung bestimmter Regionen des Gehirnes antworten. Die
Sache hatte ihr ganz besonderes Interesse deswegen, weil bis dahin die
Möglichkeit, die centralen Nervenmassen durch andere als durch orga-
nische Reize zu erregen, bestritten wurde. Wir gaben deshalb damals
unserer Arbeit den Titel: „Ueber die electrische Erregbarkeit des Gross-
— 266 —
hirns." JSlun steht aber in der Arbeit noch sehr viel Anderes als das
eben Augeführte. Insbesondere ist daselbst schon darauf aufmerksam
gemacht worden, dass diese Zuckungen, von denen ich eben gesprochen
habe, Nachbewegungen nach sich ziehen können, dass hierbei also, wenn
man aufhört, zu reizen, die gereizten Muskehi weiter zucken können
und dass von ihnen aus sich die Reizerscheinuugen auf die benachbarten
Muskelgebiete ausdehnen. Das ist ja gerade diejenige Thatsache,
welche für die Beurtheilung der sogenannten rinden-epileptischen Krämpfe
von entscheidendem Interesse ist, und ich hebe das deswegen hervor,
weil noch neuerdings z. ß. v. Bergmann *)28) die Entdeckung dieser
Thatsachen Ferrier und Luciani mit Unrecht zugeschrieben hat.
Ausserdem zeigten wir schon damals, dass Exstirpation oder Ver-
letzungen der gleichen Stellen zu lähmungsartigen Erscheinungen in
denselben Muskeln (wenigstens was den Hund anbetrifft) führten.
Dann habe ich in meinem Buche eine Abhandlung publicirt**):
„lieber äquivalente Regionen am Gehirn des Hundes, des Affen und des
Menschen", in der ich weitere Schlüsse ziehen konnte, Schlüsse, die sich
zum Theil gründeten auf meinen noch früher zurückliegenden Aufsatz:
„üeber einen interessanten Abscess der Hirnrinde". In dieser Arbeit
kam ich zu dem Schlüsse, indem ich noch anderweitiges Material heran-
zog, einmal, dass die Krämpfe, von denen die Rede gewesen ist, sich in
bestimmter Richtung auf der Hirnoberfläche verbreiteten, und zweitens,
dass die Läsionen, die man bis dahin kannte, wenn sie den oberen
Theil der Centralwindungen betrafen, zu einer Lähmung der Extremi-
täten, wenn sie den unteren Theil betrafen, zu einer Lähmung des Ge-
sichts und der Zunge führten. Es verstand sich von selbst, dass man
zu jener Zeit, wo das mit Bezug auf die physiologischen Unter-
suchungen gesammelte pathologische Material noch sehr gering war,
sich darauf beschränken musste, die Thatsachen, welche man aus dem
vorhandenen Material kennen konnte, einfach als solche mitzutheilen
und sich wohl hüten musste, etwaige generelle Schlüsse zu ziehen und
mit einer Bestimmtheit aufzutreten, die in der Natur der Sache noch
nicht gegeben war.
Immerhin sind alle diese Dinge in den soeben angeführten Ar-
beiten schon klar und deutlich ausgesprochen. Es gereicht mir zu
einer grossen Genugthuung, dass ein so hervorragender Forscher
*) V.Bergmann, Die chirurgische Behandhing von Hirnkrankheiten.
2. Aufl. 1889. 8. 157.
**) Siehe oben S. 170.
— 267 —
wie Charcot*) einige Jahre später das, was ich Ihnen liier ange-
führt habe, in vollem Maasse anerkannt hat. "Wenn Sie erlauben, lese
ich Ihnen das, was er am Schlüsse der betreffenden Arbeit, die mit
Pitres zusammen publicirt worden ist, darüber sagt, vor:
„Les observations que nous avons recueillies confirment par-
faitement les conclusions de M. Hitzig. Elles deraontrent (jue
les lesions destructives limitees siegeant sur les deux tiers snpe-
rieurs des circonvolutions ascendantes ou sur le lobule paracentral,
determinent une paralysie des membres du cute oppose sans para-
lysie de la face, et qu'au contraire les lesions destructives limi-
tees siegeant siir le tiers inferieur des circonvolutions ascendantes,
determinent une paralysie du cute oppose de la face sans paralysie
des membres."
Nun, es geschieht nicht ganz ohne Grund, dass ich Ihnen alles
dieses zusammenfassend anführe. Diejenigen, welche meine Vorlesungen
besuchen, wissen, dass es mir sehr fern liegt, mich meiner Thaten zu
rühmen, ebenso wissen diejenigen, welche sich in der Literatur der Lo-
calisationslehre umgesehen haben, dass ich auch da nicht gewohnt bin,
mehr als nöthig von mir selbst zu sprechen. Nachdem es aber seit
langer Zeit, leider besonders bei unseren deutschen Landsleuten, Mode
geworden ist, das, was ich doch schliesslich selbst geleistet habe, An-
deren zuzuschreiben, sowohl den Autoren selbst, welche schreiben, als
auch dritten Personen, und nachdem ich mir das lange genug habe ge-
fallen lassen, erscheint es mir, zumal ich in diesem Jahre das 25jäh-
rige Jubiläum dieser Entdeckungen feiere, an der Zeit, einmal zu sagen,
was mir eigentlich gehört. —
Ich habe dann noch, indem ich mich soweit beschränke, einige
Punkte anzuführen, welche in diagnostischer Beziehung insbesondere
von Gowers*''^') hervorgehoben worden sind und uns hier besonders inter-
essiren.
Zunächst einmal hat Gowers einen sehr wichtigen Grundsatz mit
Bezug auf das Verhältniss von Krampf und Lähmung ausge-
sprochen, den wir in dem vorliegenden Falle berücksichtigen müssen.
Er sagt nämlich: Wenn ein bestimmtes Muskelgebiet krampft und ein
*) Charcot et Pitres, Contributiou ä l'etude des localisations dans
l'ecorce des hemispheres du cerveau. Revue mensuelle de niedecine et de
Chirurgie. 1877. S. 450.
**) Gowers, Handbuch der Nervenkrankheiten. Bd. 6. 1892.
— 268 —
anderes gelähmt ist, so muss man die Stelle der Läsion nicht in dem
krampfenden, sondern in dem gelähmten Gebiete snchen, denn es ist
sehr möglich, dass ein Tumor, welcher das eine Gebiet zerstört hat und
dort eine Lähmung hervorbringt, ein benachbartes Gebiet reizt: das Um-
gekehrte wäre aber wohl nicht möglich. Wir werden darauf noch nach-
her zurückzukommen haben.
Dann führt er eine andere Regel an, der man gleichfalls zustimmen
muss, er sagt, dass man auch sonst nicht unter allen Umständen den
Sitz des Tumors in dem krampfeuden Gebiet zu suchen habe. Beispiels-
weise wäre es möglich, dass ein Kranker an Anfällen von Parästhesieu
gelitten hätte. Sie wissen ja, dass sehr häufig diese rinden-epileptischen
Anfälle damit beginnen, dass die Kranken abnoi-me Empfindungen von
Eingeschlafensein, von Kribbeln u. dgl. in einer Extremität oder Th eilen
derselben haben und dass sich daran nun Krampfanfälle schliessen.
Gewöhnlich treten diese in denjenigen Theilen auf, in denen vorher die
Parästhesieu empfunden wurden. Aber dies ist nicht immer der Fall,
es kommt beispielsweise vor, dass die Parästhesieu in den Enden der
Extremitäten beginnen, dass da aber keine Krämpfe erscheinen, sondern
nur Krämpfe in den grossen Gelenken. In diesem Falle, sagt Gowers
mit Recht, wird man den Sitz des Tumors in denjenigen Gebieten
zu suchen haben, wo die Parästhesieu zuerst aufgetreten
sind. Der Reiz sei dann da noch nicht stark genug gewesen, um zu
Krämpfen zu führen. Diese Entwickelung habe er erst in den anderen,
weiter herauf gelegenen Gebieten erlangt. Auf einen anderen Punkt
macht er aufmerksam, der uns gleichfalls hier interessirt, nämlich, dass
sehr leicht Krämpfe mit dem Ansehen der rindenepileptischen
durch Processe, Tumoren, welche nicht in der motorischen
Region, sondern in der Nachbarschaft liegen, hervorgebracht
werden können. In diesem Falle] aber würde doch voraussichtlich der
Verlauf der Krämpfe in den einzelnen Anfällen nicht immer der gleiche
werden. Wir haben neulich davon gesprochen, dass dieser Verlauf ja
ein recht typischer ist, also derart, dass immer zunächst diejenigen
Muskeln sich in Bewegung setzen, deren Centren dem gereizten Cen-
trum entprechen und dass sich dann, ohne dass etwa Centren über-
sprungen werden, die Erregung auf der Hirnrinde weiter ausbreitet.
Maassgebend für unsere gegenwärtige Auffassung von der Lagerung
der motorischen Rindencentren sind die von Beevorund Horsley am
Orang-Utang (Fig. 26) ausgeführten Reizversuche. Nach diesen
sind zunächst der Mittellinie, und zwar in der vorderen Centralwindung,
repräsentirt die Centreu für die kleinen Gelenke der unteren Extremität.
— 269 —
Dann folgen die liinervationsgebiete für die grossen Gelenke, erst der
gleichen, daini der oberen Extremität, weiter abwärts diejenigen für das
Handgelenk und die Finger, dann die Centren für Augen- und Kopf-
bewegungen, während der laterale Theil der vorderen Centralwindung
der Innervation der mimischen und masticatorischen und Sprachmuscu-
latur dient. Die hintere Centralwindung erscheint nur wenig an der
motorischen Innervation betheiligt.
Es ist nicht uninteressant, hiermit die Abbildung zu vergleichen,
welche ich meiner oben citirten Abhandlung über Reizversuche am Ge-
hirn des Cercopithecus beigegeben habe.
Also wenn Sie annehmen, dass beispielsweise die Gegend der Finger
zuerst gereizt wurde und zuckte, dann würde sich der Krampf aus-
dehnen können auf die grossen Geletdce des Arms, dann auf das Bein,
gleichzeitig aber auch auf das Gesicht. Das wäre ja denkbar. Oder
wenn die Zehen des Fusses zuerst sich in Bewegung setzen, so würde
der Krampf sich weiter ausdehnen können auf die grossen Gelenke des
Beins, den Arm und das Gesicht. Aber es ist im Allgemeinen ausge-
Fig. 26.
schlössen, dass der Krampf im Gesicht und der Zunge beginnt und dann
den Arm überspringt und auf das Bein gleich übergeht, sofern der
reizende Fremdkörper seinen Sitz nämlich wirklich in der motorischen
Region hat. Ist das nicht der P'all, so können auch rindenepileptische
Krämpfe entstehen, aber sie sind dann nicht gebunden an die typische
Verbreitungsweise, wie ich sie eben geschildert habe.
— 270 —
Ausserdem giebt es noch andere Fern Wirkungen, die wir bei
der Localisation von Tumoren in Rechnung stellen müssen. Also ein-
mal handelt es sieh dabei um die Mitbetheiligung von basalen Nerven,
unter denen eine besondere Rolle spielen die Augenmuskelnerven,
und unter ihnen besonders der Nervus abducens. Durch irgend welche
raumbeschränkende Vorgänge innerhalb der Schädelhöhle können die
Nerven auf weite Entfernung gedrückt werden und ihre Function ent-
weder theilweise oder gänzlich einstellen.
Ein anderes Moment besteht in der Berücksichtigung der vor-
handenen oder nicht vorhandenen Contractur, also anderweitiger Reiz-
erscheinungen. Wissen w'ir- doch, dass solche Contracturen immer ent-
stehen, wenn auf irgend eine Weise die corticomusculäre Bahn von der
inneren Kapsel an unterbrochen ist, sei es, dass ein Tumor oder ein
anderer Process da Platz gegriffen hat.
Die Contracturen können aber auch entstehen, wenn die Rinde be-
leidigt ist, nur müssen sie nicht dabei entstehen. Also das Vorhanden-
sein dieses Symptoms scheint mehr zu beweisen als das Fehlen. Wir
werden aber alsbald sehen. dass auch das Fehlen der Con-
tractur nichts gegen einen Sitz des Tumors in dem subcorticalen Gebiet
der motorischen Region beweist.
Wenn wir nun zunächst auf den Krankheitsfall eingehen, der uns
jetzt beschäftigt, so erlauben Sie mir, dass ich Ihnen noch einmal kurz
recapitulire, um was es sich bei ihm gehandelt hat.
I. Beobachtung.
X., 34 .Jahre alter Maschinenwärter.
Mehrere Kopftraumen, das letzte vor 8 Jahren, schwerer Schlag mit
einem Hammer an die linke Orbita, Ohnmacht.
Beginn der Krankheit Anfangs d. J. mit Anfällen von Schwäche und
Zuckungen in den grossen Gelenken des rechten Armes. Tremor in der Hand.
Unmittelbar nachher kurzer Drehschwindel und Trübung des Bewusstseins, 6
bis 8 Wochen lang täglich Anfälle 2—3 Minuten lang. Zu der Zeit keine
Kopfschmerzen, kein Erbrechen, dagegen dauernd Schwäche im
rephten Arm, Kopfschmerzen erst seit 6 Wochen von der linken Nacken-
seite bis ins Auge, am heftigsten in der Schläfe. Schwäche im rech-
ten Bein schnell zunehmend seit derselben Zeit. Immer noch kein Er-
brechen.
Status praes. 15. Juli 1895. 5 kleine Narben, davon 4 am linken
Vorderkopf.
Pupillen: Linke etwas weiter, Lichtreaction beiderseits träge. Keine
Stauungspapille. R. Facialis eine Spur schwächer. R. Arm. Deutliche
— 271 —
Parese in den grossen Gelenlven, keine in den kleinen Gelenken. R. Bein.
Hochgradige Parese des rechten Beins, in den kleinen Gelenken eher stärker.
Gang hemiplegisch.
Sehnenreflexe verstärkt, Fussclonus.
Verlauf während der dreitägigen klinischen Beobachtung: Wiederholte
Anfälle von Krämpfen, beginnend in den grossen Gelenken des rechten Arnris,
dann im Bein, nicht im Gesicht oder auf der anderen Seite (durch den Wärter
beobachtet). Pat. will eines Nachts einen Anfall von allgemeinen Krämpfen
gehabt haben, die im rechten Arm anfingen. Kopfschmerzen.
Ich habe den Kranken wiederholt zum Gegenstand der klinischen Erörte-
rung gemacht; vor seiner Ueberführung in die chirurgische Klinik lenkte ich,
neben genauer Aufnahme des anderweitigen Status, Ihre Aufmerksamkeit vor-
zugsweise darauf, dass in der oberen Extremität feinere Pingerbewegungen
rechts ebenso gut und schnell auszuführen waren als links, während die Be-
Avegungen im rechten Schultergelenk sehr viel langsamer und viel weniger aus-
giebig ausgeführt wurden als im linken und der erhobene Arm bald lebhaft zu
zittern anfing und herabsank. Andererseits zeigte ich Ihnen, dass an der
unteren Extremität Bewegungen der Gelenke, der Zehen und des Fusses fast
gänzlich ausfielen, während die, wenn auch hochgradig beeinträchtigten Be-
wegungen im Hüft- und Kniegelenk doch noch soweit möglich waren, dass
der liegende Kranke das gestreckte Bein von der Unterlage zu erheben ver-
mochte.
Bei der ausführlichen Besprechung, auf deren Einzelheiten ich später zu-
rückkommen werde, wurde wegen der vorangegangenen Kopfverletzung dieVer-
muthung ausgesprochen, dass es sich um ein Sarkom handeln möchte.
In der chirurgischen Klinik. Wiederholt Anfälle. Kopfschmerzen.
30. Juli 1895. Operation.
Umschneidung eines Hautlappens, der die Centralfurche einschliesst, mit
der Basis dicht neben der Sagittalnaht gelegen, 5 cm breit, 7 cm lang, mit
derSpitze etwas nach vorn gerichtet. Durchsägung des Knochens mit der elec-
trischen Kreissäge. Die in Kreuzform durchschnittene Dura verdickt, sonst
nicht abnorm. Das Hirn drängt sich stark hervor, lässt aber keine anderen
Anomalien wahrnehmen als eine vermehrte Consistenz und deutliches Fluctua-
tionsgefühl bei der Palpation. Punction bis auf 5 cm Tiefe ergiebt gleichfalls
kein Resultat. Auf Reizung mit dem Inductionsstrom, an der vorderen Grenze
der Wunde, treten Zuckungen in den contralateralen Muskeln der Extremitäten
auf. Nunmehr wird nach vorn zu ein zweiter Hautknochenlappen gebildet.
Nachdem auch hier ein Tumor nicht gefunden wurde, wurde eineincision
von 6 cm Länge und IV2 cm Tiefe im Niveau der vorderen Centralwindung
gemacht, ohne dass man jedoch auf Tumormassen stiess. Nachher vollkommene
motorische und sensible Paralyse. Letztere verliert sich bald. Die Heilung ver-
lief ohne Störung.
Wiederaufnahme 19. August.
Stat. praes.: Stauungspapille beiderseits, links stärker, progressiv.
— 272 —
Kopfschmerzen. Schmerzen im rechten Oberschenkel. Wiederholte
Krampfanfälle im linken Bein oder in beiden Beinen, links beginnend, mit
Erbrechen, Urinabgang, Benommenheit, allmählich zunehmend, Er-
brechen nüchtern.
2. November: Exitus.
Nachdem ich Ihnen den Kranken am 30. October nochmals kurz demon-
strirt hatte, erläuterte ich meine Auffassung des Falles am 2. November nach
dem Tode and vor der Autopsie wiederholt in ausführlicher Weise. Ich hebe
daraus nur hervor, dass ich damals mit Rücksicht auf das negative Ergebniss
der Operation und das Auftreten der linksseitigen Krämpfe die Vermuthung
aussprach, der Tumor möge seinen Sitz an der medialen Fläche haben und auf
diese Weise die rechtsseitigen Innervationsgebiete für das linke Bein gereizt
haben. Die fernere Ann ahme, dass die anfänglich regelmässig im rechten Ober-
arme beginnenden Krämpfe als Fernwirkung durch Druck des Tumors gegen
die betreffenden Kindengebiete aufzufassen sei, erkläre zwar diese Vorgänge,
habe aber insofern etwas Gezwungenes, als die Krämpfe in diesem Falle nach
der bisherigen Annahme nicht mit der hier beobachteten R,egelmässigkeit von
demselben Centralgebiet aufzutreten pflegten.
Autopsie am 3. November 1895.
Schädeldach zeigt links zwei vollkommen eingeheilte, an der Innen-
fläche mit Resorptionsgrübchen versehene, trepanirte Knochenstücke; die
innere Tafel bereits theilweise knöchern verbunden, Dura etwas gespannt, Gyri
stark abgeflacht, Oberfläche trocken, Falx mit der linken Hemisphäre leicht ver-
wachsen.
Die medialen Windungen der linken Hemisphäre treten in Gestalt eines
flachen, noch von einer dünnen Hirnschicht bedeckten Tumors weit über die
Medianlinie vor. An der Basis drängt sich gleichfalls der vor dem Chiasma
gelegene Theil des linken Gyrus rectus vor. Brücke stark abgeplattet, beide
Oculomotorii und beide Abducentes abgeplattet und von grau-gelber Farbe.
Die mediale Fläche der linken Hemisphäre wird durch eine aus mehrerea
Lappen bestehende Tumormasse stark nach rechts vorgewölbt. Die Geschwulst
nimmt etwas mehr als die vordere Hälfte der linken Hemisphäre ein und dringt
mit ihrer vorderen Partie, ca. 2 cm vom vorderen Rande des Balkenknies ent-
fernt, weit in den Balken vor. Die vordere Grenze des Tumors liegt ca. lYgCi^i
von der Spitze des Stirnlappens entfernt; die hintere Grenze, soweit bestimm-
bar, liegt ca. 2Y2 cm vor dem hinteren Rand des Spleniums.
Pia mater ist zum Theil nur schwer, besonders von den oberen Windun-
gen des rechten Stirnhirns abzulösen.
Es wird ein Frontalschnitt gelegt durch das vordere Ende des Thalamus
opticus. Man sieht jetzt die höckerigen Tumormassen in den Längsspalt des
Gehirnes weit hineinragen. Auf dem Querschnitt ist eine Partie des Tumors
getroffen, welche bei gelbrother Färbung mehrfach frische Hämorrhagien ent-
hält. Durch die Geschwulst ist das Lumen des linken Seitenventrikels auf
einen schmalen Spalt zusammengedrängt. DerBalken und die Gewölbschenkel
— 273 —
sind nach rechts herüber gedrängt. Die innere Kapsel und die grossen Gang-
lien, namentlich der Thalamus links, sind conaprimirt.
Ein schräger Sagittalschnitt von oben innen nach unten aussen durch
den Tumor zeigt, dass die Tumormasse aus einer nach der Mittellinie zu ge-
legenen, gelb-röthlichen und einer nach aussen gelegenen blasseren Partie
besteht.
Die Rinde des Stirnhirns ist vorn nicht verändert, wenn auch der Tumor
bis an die Rinde heranreicht. Dagegen ist die Rinde im Gebiet der medialen
Fläche des Stirnlappens bezw. Scheitellappens vielfach von Blutungen
durchsetzt.
Bei der Localisatiousdiagnose, die wir für den chirurgischen Zweck
zu stellen hatten, raussten wir folgende üeberlegungen machen. Zu-
nächst war die Frage die: um was handelt es sich, um einen Tumor
oder nicht? Dagegen konnte sprechen, dass der Kranke relativ wenig
Allgemeinerscheinungen hatte; er hatte ja lauge Zeit hindurch nicht
einmal Kopfschmerzen gehabt. Damals hat er allerdings bei den An-
fällen etwas Schwindel gehabt, aber keine Stanungspapille, kein Er-
brechen, keine Pulsverlaugsamung. Nichtsdestoweniger konnten wir die
Diagnose mit sehr grosser Sicherheit auf einen Tumor stellen, wegen
der langsamen Entwickelung, wegen der charakteristischen rinden-epi-
leptischen Krämpfe und wegen der Kopfschmerzen, die sich allmählich
eingestellt hatten.
Die zweite Frage war die, wo denn der Tumor, wenn wir ihn
anzunehmen hatten, seinen Sitz hatte? Diese Diagnose war nun
schon ein Theil schwieriger, und Sie . haben sich überzeugt, dass wir
uns dabei zunächst geirrt haben. Die Ueberlegung, die wir machten,
war folgende: Der Kranke hat zuerst keine Allgemeinerscheinungen
gehabt, die Krankheit hat sofort begonnen mit Localerscheinungen.
Dies sprach an und für sich dafür, dass der Tumor seinen Sitz
innerhalb der Centralwindungen hatte. Sass er ausserhalb der Central-
windungen und hatte durch Druck die entfernt liegenden Centren zu
den Krämpfen gereizt und die Lähmung producirt, so musste er schon
ziemlich gross geworden sein und dann würde er aller Wahrscheinlich-
keit nach zu einer Stauungspapille und anderen Allgemeinerscheinungen
geführt haben. Da diese fehlten, waren wir eben zu dem angeführten
Schlüsse genöthigt.
Wenn er nun in den Centrahvindungen seinen Sitz hatte, war es
wahrscheinlich, dass er ausgegangen war von denjenigen Gebieten, von
denen aus die Muskeln, die die grossen Gelenke des Arms bewegen,
innervirt werden. Dies wäre also der obere Theil des Armcentrums.
Hitzig, Gesammelte Abhandl. I. TlieiJ. 18
— 274 —
Nun war beim Eintritt des Kranken in die hiesige Beobachtung das
Bein stärker gelähmt, welches zuerst gar nicht gelähmt gewesen w^ar,
es war also daraus zu schliessen, dass der Tumor beim Weiterwachsen
sich mehr in das benachbarte Beincentrum ausgedehnt hatte. Immer-
hin war es auffallend, dass dann nicht die benachbarten grossen Ge-
lenke des Beines stärker betroffen waren, sondern die kleinen: die
Zehenbewegungen waren am meisten beschränkt.
Nun, auf ein solches Detail kann man keine Rücksicht nehmen,
hier um so weniger, als das Operationsfeld ohnehin die Gegend des
Arm- und Beincentrums gemeinsam umfassen musste. Nach Eröffnung
des Schädels fand mau Erscheinungen eines Tumors. Die Dura war
ungeheuer gespannt, das Gehirn drängte sich gleich vor. Die Hirnober-
fläche war platt gedrückt, der palpirende Finger hatte die Empfindung
der Fluctuation. Aber an der fraglichen Stelle war nicht die Spur
eines Tumoi'S. Ein Einschnitt in die Rinde, den Herr Prof. v. Br am an n
ausführte, ergab auch nichts. Die Wunde wurde wieder geschlossen
und die herausgemeisselten Stücke sind wunderschön eingeheilt. Nach-
dem der Kranke dann von der Operation wieder genesen war, wurde er
uns wieder zugeführt und am 19./Vni. hier wieder aufgenommen. Bei
der Untersuchung hier hatte er nun eine hochgradige Stauungspapille
• — links stärker — , die progressiv war. Dann klagte er über heftige
Kopfschmerzen, heftige Schmerzen im rechten Oberschenkel und nmi
gab es hier wiederholte Anfälle, die jetzt aber nicht die rechte, sondern
die linke Seite, insbesondere das linke Bein betrafen, oder doppelseitig
waren, oder allgemein und dann in den Beinen beginnend. Dabei hatte
der Kranke Erbrechen, unwillkürlichen ürinabgang. Er wurde allmählich
benommen, erbrach vielfach nüchtern. Am 30. /X. stellte ich ihn hier
vor und am 2. /XL starb er.
Damals, als ich hier mit Ihnen über den Fall sprach, hatte ich
meine Diagnose nun insofern etwas geändert, als ich mit Rücksicht
darauf, dass die Krämpfe nun vorwiegend im linken Bein auftraten,
annehmen zu müssen glaubte, dass der Lobulus paracentralis, der ja,
wie Sie wissen, an der medialen Fläche des Gehirns liegt, und ja auch
mit der Innervation des Beins zu thun hat, befallen sei, und dass der
nunmehr stärker gewachsene Tumor die Beinregion der anderen Hemi-
sphäre gereizt hatte. Natürlich sprach das, was jetzt vorhanden war,
ja noch nicht dafür, dass ganz genau die gleichen Verhältnisse in einer
früheren Periode, wo andere Symptome vorhanden gewesen, bestanden
hatten. Nun haben wir in der That einen sehr grossen Tumor ge-
funden. Ich will zunächst einmal, um Ihnen einen üeberblick über die
Sache zu geben, ein Diapositiv zeigen. (S. Fig. 27.) Sie sehen also hier
— 275 —
einen sehr grossen Tumor, dei- den Rmidwulst der Hemispliären, ins-
l)esondere der Centralwindungen nach oben gedrängt hat. I)i(!snr Tumor
hat seinen Sitz erstens und hauptsächlich in dem Centrum somiovale.
Fig. 27 "■'•). Hintere Schnittfläclio, von vorne gesehen.
Dann ist er nach innen hin gewachsen und hat hier den Lobulus para-
centralis und den Gyrus fornicatus in seinen Bereich gezogen und zum
Theil zerstört.
Sie sehen nun aber Folgendes: Erstens, dass der Tumor hier in
hohem Grade verdrängend gewirkt hat. Die ganze obere Partie, also
die Gegend, w'o die eigentlichen Centren der Centralwindungen liegen,
ist nach oben gedrängt und nicht zerstört, und dann sind auch die
Leitungsbahnen, die von dort aus nach der inneren Kapsel führen, bei
Seite gedrängt und nicht zerstört. Der Balken aber ist in den Bereich
der Zerstörung mit hineingezogen. Nun reicht der Tumor nach vorn
bis dicht an die Spitze des Stirnhirns, und nach hinten reicht er un-
gefähr an die hintere Grenze der vorderen Centralwindung. Ich habe
die Dura übrigens auf dem Gehirn an den Stellen, wo trepanirt worden
ist, nicht abgelöst, so dass Sie sehen, dass man bei der Operation die
gewollte Stelle richtig getroffen hat. Man kann aus der Beschaffenheit
des Tumors, welcher sich im üebrigen als ein Sarkom producirt, un-
*) Es ist nicht ohne Interesse, dass die Photographie auch in diesem
Falle mehr zeigt, als das blosse Auge. Die besonders comprimirten Windungen
zeigen auf der Photographie ein eigenthümliches glasiges Aussehen.
18*
— 276 —
schwer erkennen, dass er ursprünglich zuerst nicht in der Rinde, sondern
in dem Centrum semiovale gelegen hat. Nämlich in seinem Centrum,
welches weiter nach vorn, nach dem Stirnlappen zu liegt, zeigt er eine
jetzt grauliche, früher gelbliche Beschaffenheit, das sind also ent-
schieden die ältesten Theile, während er in der Gegend der Central -
Windungen und der Gegend des Lobulus paracentralis frische Blutungen
zeigt und gerade der Lobulus paracentralis noch die graue Hirnrinde,
wenn auch sehr stark verändert, erkennen lässt. Wir haben es also
factisch zu thun gehabt gar nicht, wie wir annahmen, mit einem Tumor
der Rinde, sondern mit einem Tumor der weissen Substanz. Der dia-
gnostische Irrthum hat hier- nicht weiter geschadet. Der Tumor wäre
nicht zu exstirpiren gewesen, er war damals schon zu gross, so dass,
wenn man ihn hätte herausnehmen wollen, der Kranke unzweifelhaft
dabei geblieben wäre. Nun giebt es eine Anzahl von bemerkeus-
werthen Punkten und von diagnostischen Lehren, die wir daraus
ziehen können. Zunächst einmal handelt es sich um das Verhalten
der AUgeineinerscheinungen. NB. Ich will noch nachtragen, der Tumor
hat eine Länge von 9 cm und eine Breite von 6,5 cm; also ein riesiger
Tumor.
Sie haben gesehen, dass ungeachtet der ungeheueren Dimensionen,
die der Tumor gehabt hat und die jedenfalls zu der Zeit der Operation
auch schon recht erhebliche waren, die Allgemeinsymptome verhältniss-
mässig sehr geringe waren. Da ist zunächst eine erste Periode zu
unterscheiden, in der eigentlich gar keine Allgemeinsymptome waren,
aber es waren erhebliche Herdsymptome vorhanden. Patient hat damals
lauter Symptome gehabt, die auf die Rinde und zwar auf die Rinde
der Centralwindungen hinwiesen. Li der That wird das immer als ein
diagnostisches Moment angeführt: Fehlen der Allgemeinerscheinungen,
Vorhandensein von Herdsymptomen spricht für eine Rindenläsion. Hier
in diesem Falle hat es sich also umgekehrt verhalten. Nachher kommt
eine zweite Periode, bei der als einzige Allgemeinerscheinung Kopf-
schmerzen eingetreten sind und erst nachdem der Kranke schon operirt
worden ist, da kommen die Stauungspapillen und das Erbrechen. Nun,
Sie wissen ja, eine wie grosse Rolle die Stauungspapille bei unserer
diagnostischen Aufgabe spielt, aber auch dieser Fall kann Sie wie-
der belehren, dass, so wichtig das Vorhandensein der Stauungspapille
ist, ihr Fehlen gar nichts beweist. Das ist eine Thatsache, die mir
freilich geläufig ist; ein Fall, den ich einst gesehen habe und der
mir immer unvergesslich bleiben wird, betraf einen faustgrossen Echino-
coccus in dem Seitenventrikel, der bei Lebzeiten keine Stauungspapille
gemacht hatte. Ich hatte damals mich durch das Fehlen der Stauungs-
— 277 —
papille verleiten lassen, einen Tumor auszuschliessen. Das liegt al)er
viele Jahre zurück.
Was das Verhalten der Herderscheinnngen angeht, so haben Sie
vorher gehört, dass das typische Auftreten der Krämpfe gleichfalls als
charakteristisch für eine Rindenläsion angesehen wird. Nun, wir hatten
hier ein typisches Auftreten und doch handelte es sich um eine Fern-
wirkung, denn aller Wahrscheinlichkeit nach hatte zu der Zeit, wo die
Krämpfe in dem Arme auftraten, der Tumor die Gegend der Central-
windungen noch nicht erreicht.
Dann haben war vorher die Ansicht von Gowers erwähnt mit
Bezug auf das Verhalten von Lähmung und Krampf zu einander. Sie
sehen, dass diese Ansicht sich auch nicht so ohne Weiteres auf unseren
Fall anwenden lässt. Hier bei uns hatte der Kranke ja allerdings, als
er uns zu Gesichte kam, eine stärkere Lähmung in dem nicht krampfenden
Gebiete, in den Beinen, und man hätte deswegen ja die Diagnose auf
den Sitz in dem Beincentrum stellen können, während wir den Sitz in
dem Armcentrum suchten. Aber vergessen Sie nicht, dass während
einer langen ersten Periode Lähmung und Krampf lediglich in dem Arm
ihren Sitz hatten. Das Bein wurde erst lange nachher betroffen. Also
auch dieses differentielldiagnostische Symptom kann nur mit Vorsicht
benutzt werden, denn schliesslich sass der Herd weder in dem Arm-
noch in dem Beincentrum. Was die Betheiligung des anderen Beins
betrifft, so habe ich Ihnen das Nothw'endigste darüber bereits gesagt.
Ich wiederhole also hier nur kurz, dass der Krampf durch den Reiz
ausgelöst wurde, den der linksseitige Tumor auf den rechten, übrigens
unversehrten Lobulus paracentralis ausübte.
Dann giebt es noch zwei Punkte, auf die ich eingehen will: Erstens
hat mau gesagt, und zwar ist das auch eine Lehre von Gowers, man
solle sich bei der Stellung der Localdiagnose nicht dadurch beeinflussen
lassen, dass die unteren Enden der Extremitäten mehr gelähmt sind.
Das sei bei allen cerebralen Lähmungen der Fall. Also mit anderen
Worten: Es könne sehr wohl ein Tumor in den Centren für die grossen
Gelenke sitzen und doch die Lähmung der kleinen stärker sein. In
diesem Falle haben Sie gesehen, dass der Vordersatz nicht durchgehend
richtig ist. Im vorliegenden Fall waren die grossen Gelenke des Armes
ziemlich stark gelähmt und die kleinen noch ganz frei. Dann ein letzter
Punkt ist der, dass, wie ich vorher sagte, gewöhnlich, wenn der Tumor
in den weissen Markmassen sitzt und dann natürlich auch die Stamm-
strahlung und die innere Kapsel zu beleidigen pflegt, auch Contracturen
vorhanden sind. Auch das trifft in dem vorliegenden Fall nicht zu.
Dafür haben wir ja den Grund erkennen können. Die motorische
— 278 —
Strahlimg war eben, ungeachtet der höchst compromittirendea Umstände,
unter denen sie zu existiren genöthigt war, doch nicht erheblich belei-
digt; die Bahn war mir verdrängt, nicht zerstört.
Wenn nun in dem vorliegenden Falle ja auch nicht viel darauf
ankam, ob der Kranke so oder so operirt wurde, so müssen wir ja alle
solche Fälle benutzen, um die Thatsachen für künftige zu verwerthen.
Der diagnostische Irrthum lag hier nur darin, dass wir einen Tumor
der weissen Substanz für einen solchen der grauen genommen hatten.
und ich hege die Vermuthung, dass dieser Irrthum schon recht oft
begangen ist, noch recht oft begangen werden wird, denn ich sehe
in der That nicht recht, wÜB man ihn unter solchen Umständen ver-
meiden kann. Man muss aber wissen, dass solche Dinge vorkommen,
schon damit — das gilt ja allerdings mehr für den Lehrer — man
sich bei der klinischen Diagnose mit der nöthigen Vorsicht ausdrückt.
Insofern habe ich auch davon gelernt, denn in diesem Falle hatte
ich allerdings mit Sicherheit geglaubt, eine richtige Diagnose gestellt
zu haben.
Wir wollen nun zu einem anderen Fall übergehen, der insofern
Interessant ist, als die Läsion an derselben Stelle gesessen hatte, nicht
ganz so gross war und gerade die entgegengesetzten Symptome gemacht
hatte.
IL Beobachtung.
H., 33 Jahre alte Frau. Aufnahme 24. Juli 1892. September 1891 In-
fluenza. Stirn- und Scheitelschmerz. Erbrechen 3— 4mal täglich,
später 16mal und öfter, besonders Morgens. Schwindel nur im Anfang,
gleichzeitig begann Sehstörung rechts, links Mai 1892, als bereits das
rechte Auge total amaurotisch war. Ende Mai auch das linke. Strabismus
convergens erst links, dann rechts Ende März.
Anfälle 4 Arten. 1. September 1891 Sensibel-vasomot. links, dabei
die linken Extremitäten ganz steif, Beginn in den Fingerspitzen der Hand.
Ein paar Mal wöchentlich. 2. Von März 1892 an, gleiche Anfälle bald links,
bald rechts. 3. Anfang Mai 1892. Während des Erbrechens wird der linke
Arm plötzlich im Schultergelenk ruckweise nach hinten gezogen, Ellenbogen
flectirt. Hand und Finger steif. 4. Mitte Mai. Halbstündiger Anfall von allge-
meinen Krämpfen ohne Verlust des Bewusstseins. Beginn mit Gefühl von
Schwäche in beiden Armen, dann in den Beinen. Krämpfe, gleichzeitig in
beiden Armen, dann in beiden Beinen, dann im Gesicht und Zunge. Niemals
Xähmung. Stat. Empfindlichkeit des Kopfes. Stauungspapille.
Strabismus convergens rechts stärker. Keine deutlichen hemiple-
gischen Erscheinungen, so dass der Assistenzarzt sie überhaupt nicht fand.
Ich selbst constatirte Ellenbogen und Hüftgelenk links etwas schwächer,
— 279 —
Zehenbewcgnngen links weniger ausgiebig. Giobt dann selbst zu, links mehr
Schwäche zu spüren.
Spar von Facialparesc rechts. E pilepsie spinale. Lebhafte Re-
flexe. Die Kranke wurde am 27. .Juli klinisch vorgestellt, die Schwierigkeit
der Localdiagnose hervorgehoben und die Möglichkeit, dass es sich um einen
Tumor in der rechten Kleinhirnhemisphäre handeln könne, begründet.
30. Juli verlegt nach der chirurgischen Klinik. 6. August operirt über
der rechten Kleinhirnhemisphäre mit negativem Erfolg. Pacialparese links.
28, August Wiederaufnahme.
Status: Facialis links unbedeutend paretisch. Linker Arm magerer,
grobe Kraft etwas geringer. Linkes Bein, Oberschenkel 2,5 cm magerer, grobe
Kraft etwas geringer. Fussclonus.
Lebhafte Gehör- und Gesichtshallucinationen.
Erbrechen.
Verlauf: Geruchshallucinationen, Schmerzen im linken Bein, beson-
ders bei Berührungen.
Etwas Zunahme der Parese im linken Bein. Viel Erbrechen. Collaps.
Tod 25. October 1892.
Section: In dem vordersten Theil des rechten Stirnlappens 5 cm lange,
3,5 cm breite Cyste, giiomatöse Einsprengungen bis in die Spitze des Stirn-
lappens. Abplattung der rechten Hälfte der Brücke, der Optici, Oculomotorii,
Abducentes und des rechten Quintus.
Nun, die Diagnose in diesem Falle war ja überaus schwierig. Die
Kranke hatte von Anfang an sehr schnell zur Entwickeluug gelangende
und sehr hochgradige Allgemeinerscheinungen: sehr heftige Kopf-
schmerzen, äusserst heftiges Erbrechen und sehr schnell zu totaler Er-
blindung führende Stauungspapille. Am wenigsten ausgesprochen war
noch der Schwindel. Dagegen traten die Herderscheinungen zurück und
Hessen sich nicht localisiren. Es bestand freilich eine linksseitige
Schwäche, dieselbe war aber so unbedeutend, dass sie übersehen werden
konnte, und daneben erschien der rechte Facialis schwächer. Den
Paresen der Augenmuskeln konnte nur ein sehr bedingter Werth beige-
messen werden, und die Anfälle waren erst' recht geeignet, irrezuführen,
weil sie bald links, bald rechts, bald allgemein auftraten, wenn auch
die linke Seite eine gewisse Bevorzugung zeigte. Diese Umstände alle
zusammen Hessen mich daran denken, dass es sich um einen Tumor des
Kleinhirns handeln könne. Bekanntlich entwickeln sich die Allgemein-
erscheinungeii mit viel grösserer Schnelligkeit dann, wenn der Tumor
unterhalb des Zeltes sitzt, also in einem verhältnissmässig kleinen, von
starren Wänden umgebenen Raum.
Namentlich die StauungspapiUe und das Erbrechen treten dann viel
schneller auf, als beim Grosshirntumor.
— 280 —
Was die Krämpfe anbetrifft, so kommen gerade solche Krämpfe,
wie die geschilderten, noch am ehesten dann vor, wenn es sich um
Kleinhirntumoren handelt, insofern durch dieselben eine allgemeine
Drucksteigeruug bewirkt werden kann.
Die Frage war dabei noch die, ob die Kranke nicht als hysterisch
und ihre Krämpfe demnach nicht auch als hysterische aufzufassen waren.
Selbstverständlich kann eine Hysterica auch einen Tumor bekommen;
indesseil war die Natur der Krämpfe doch durchaus verschieden von
denjenigen, welche wir bei Hysterie zu sehen bekommen. Es wurde
also die Trepanation über dem Kleinhirn gemacht, und es fand sich
nichts. Die Trepanationswunde heilte ohne Zwischenfälle. Die Kranke
wurde zu uns zurückverlegt. Am 28. August, als sie wiederkam,
zeigte sie eine nicht sehr erhebliche, linksseitige Atrophie der Extre-
mitäten, sie litt wie früher an Erbrechen, sie bekam allerhand Hallu-
cinationen, Schmerzen im linken Bein, besonders bei Berührungen. Die
Parese des linken Beines nahm zu; die Patientin starb am 25. October.
Bei der Section fanden wir im Wesentlichen an derselben Stelle,
wie in unserem ersten Falle, im vordersten Theil des rechten Stirn-
lappens eine 5 cm lange und 3,5 cm breite Cyste, gliomatöse Ein-
sprengungen bis in die Spitze des Stirnlappens. Dann war die
rechte ßrückenhälfte abgeplattet, ebenso eine Menge basaler Nerven
plattgedrückt.
Also zunächst sehen Sie aus diesem Fall, dass die Allgemeiner-
scheinungen bei gleichem Sitz und sogar bei geringerer Grösse des Tu-
mors in dem einen Fall sich ausserordentlich schnell und hochgradig
entwickeln können, während sie in dem anderen Fall ungeachtet dos
grössei'en Volumens des Tumors erst in einem viel späteren Stadium zu
erscheinen beginnen.
Wenn wir auch diesen Fall wieder nach Perioden betrachten, so
hatte die Kranke in der ersten Periode an Kopfschmerzen, Schwindel,
Erbrechen und Sehstörungen gelitten, in der zweiten Periode war Stra-
bismus dazu gekommen. Schon in der ersten Periode waren sensibel-
vasomotorische inid leichte Krampfersclieinuugen aufgetreten; in der
zweiten Periode bei zunehmendem Druck ausgesprochene, bald rechts-,
bald linksseitige Krampfanfälle, welche sich dann, allerdings in ver-
schiedener Form und unter stärkerer Betheiligung der linken Seite, über
die dritte Periode ausdehnten. Die letzte Periode wird durch Erschei-
nungen stärkeren Drucks: psychische Störungen, Paresen anderer Hirn-
nerven und Zunahme des Erbrechens charakterisirt. Die Kranke hatte
während der ganzen Zeit, mit Ausnahme der vierten Periode, eine nur
— 281 —
ganz unbedeutende Schwäche der linken Seite gelinbt, so dass sie einem
doch schon erfahreneren Arzte ganz entgehen konnte.
Betrachten wir nun den Gang meiner Schhissfolgerung und ihre
Fehler, so ergiebt sich Folgendes:
Ich hielt es für unmöglich, dass der Tumor in der motorischen
Region seinen Sitz habe, dagegen sprach das Fehlen von distincten
Herderscheinungen bei hochgradigen Allgemeinerscheinungen. Dieser
Schluss erwies sich insofern auch als richtig, als der Tumor ausserhalb
der motorischen Region, nämlich vor derselben, sass. Ich schloss zweitens,
dass er wegen der schnellen Entwickelung der Allgemeinerscheinungen
überhaupt nicht im Grosshirn, sondern in der hinteren Schädelgrube
seinen Sitz habe. In diesem Schlüsse wurde ich drittens durch die früh-
zeitigen Lähmungen basaler Hirnnerven, und viertens durch die Eigen-
art der Kramp ferscheinuDgen bestärkt. Man könnte zunächst den Vor-
wurf erheben, dass ich dem Fehlen der für Kleinhirnerkrankuugen allein
charakteristischen Herderscheinungen, nämlich Schwindel und statische
Ataxie, nicht genügende Wichtigkeit beigelegt hatte. Der Schwindel war
allerdings zu Anfang dagewesen, hatte dann aber gefehlt. Indessen ist
es eine bekannte Thatsache*), und meine eigenen Erfahrungen ent-
sprechen dem vollkommen, dass cerebellare Erkrankungen, wenn sie nicht
den Wurm, sondern eine Hemisphäre betreffen, ohne Herderscheinungen,
also auch ohne Schwindel und Ataxie, verlaufen können. Die Trepa-
nation wurde deswegen auch nicht in der Mittellinie, sondern über der
rechten Kleinhirnhemisphäre vorgenommen. An und für sich kann man
in dieser Ueberlegung also keinen Fehler erblicken.
Ebenso wenig liegt ein Fehler in dem Schlüsse, dass die Combina-
tionen so frühzeitiger Druckerscheinungen — Augenmuskellähmungen,
Facialisparese, cerebrales Erbrechen, Stauungspapille, Kopfschmerz —
auf einen Tumor der hinteren Schädelgrube hinweisen. Was die Indi-
cation zur Wahl der rechten Seite als Trepanationsort angeht, so war
diese darauf begründet, dass die linksseitige Parese auf die Druck-
wirkung des Tumors oberhalb der Pyramidenbahn bezogen werden
musste.
Ich bin also der Ansicht, dass alle von mir angestellten Ueber-
legungen sich sehr wohl rechtfertigen lassen. Der Fehler lag nur in
der unrichtigen Abwägung der verschiedenen Möglichkeiten gegen ein-
ander, insbesondei'e wohl, dass Krämpfe der geschilderten Art, auch
wenn sie doppelseitig sind, und auch, wenn sie nicht von einem Balken-
*), Vergl. z.B. Gowers, Handbuch der Nervenkrankheiten. 1892. S.309.
— 282 —
tumor ausgehen, leichter einem Grossliirn- als einem KJeinliirntumor
ihren Ursprang verdanken.
Schaden ist der Kranken auch in diesem Falle durch die irr-
thümliche Localdiagnose nicht erwachsen, denn operirbar wäre der
Tumor auch dann nicht gewesen, wenn er richtig localisirt worden
wäre.
Nun wollen wir zu einem dritten Falle übergehen, in dem die
Verhältnisse ganz anders lagen. Diesen Fall will ich aber nur kurz
behandeln.
III. Beobachtung.
Louise V., 34jährige, massig genährte, etwas anämische Frau ohne be-
sondere Antecedentien, erlitt im Frühjahre 1890 eine leichte Kopfverletzung
durch eine herabfallende Kellerthür. Schon vor Beginn der jetzigen Krankheit
hat sie rechts mehr geschwitzt als links; dies soll noch jetzt der Fall sein.
Seit einem Jahre leidet sie nun an Krämpfen in der rechten oberen Extremität.
Der 3., 4., ö. Finger wurden ihr plötzlich schwach und krümmten sich unwill-
kürlich in die Hohlhand. Manchmal betheiligte sich auch der Daumen und der
Arm, so dass das Ellenbogengelenk gebeugt wurde. Die Anfälle treten fast
immer im Schlaf ein oder wenn Patientin im Begriff ist, einzuschlafen. Sie
wacht dann auf und verliert das Bewusstsein nicht, ausnahmsweise treten
auch Anfälle mit Schwindel und^ Bewusstseinsstörung, von denen Patientin
nachher nichts Genaues weiss, ein. Diese verlaufen mit „Krieseln", das bis zur
Schulter aufsteigt.
Stat. pr. 21. November 1891. Rechte Pupille etwas weiter; Sprache
besonders bei Paradigmen etwas schwerfällig, so dass schwerere Woite nicht
nachgesprochen werden können. Grobe Kraft in der linken oberen Extremi-
tät besser als in der rechten. Dynamometer links 25, rechts 22 kg. Beider-
seits Andeutung von Patellarclonus. Zeichen von Hysterie fehlen. Patien-
tin hat auch hier allnächtlich Anfälle, in der Nacht vom 21.— 22. November
wurden deren zwei beobachtet. Die rechte Hand wird geschlossen, so dass der
2. — 5. Finger mit den Nägeln in die Hohlhand drücken. Gleichzeitig richtet
sich Patientin auf, der Kopf hängt nach links unten, dann folgen noch einige
stossende Bewegungen des rechten Beines. Bei dem zweiten Male öffnete die
Kranke einmal den Mund, wobei sich die Zunge nach links boAvegte. Ob
Zuckungen im Gesicht vorhanden waren, blieb unsicher. Die Anfälle, die Pa-
tientin aus dem Schlafe weckten, dauerten V-j^—i Minuten. Das Bewusstsein
war dabei erhalten. Derartige Anfälle traten allnächtlich ein.
In der Nacht vom 1. zum 2. December ein Anfall, der nach Angabe
einer anderen Kranken mit allgemeinen Krämpfen und Bewusstseinsverlust
endigte.
In der Nacht vom 7. zum 8. December 11 Anfälle. 13. December Anfall
bei Tage, dessen Ende ärztlich beobachtet wird: der rechte Arm ist gebeugt,
die rechte Hand zur Faust geballt, das rechte Bein ist gestreckt. Bewusstsein
~ 283 —
erhalten. Später bleiben — - bei Brom nach Jodbeliandhvng- — zahlreiche An-
fälle nur auf die erwähnten Finger beschränkt.
12. November. Anfall in den Fingern, als sie mir gerade die Hand giebt.
Ziemlich kräftige Contraction.
23. Februar. Die Anfälle nehmen an Schwere und Häufigkeit wieder zu.
In der letzten Nacht vier, von denen zwei bis zur Schalter liinauf gestie-
gen sind.
24. Februar. Nachts 4 Uhr. Schwerer Anfall. Zunächst im Sitzen einer
der gewöhnlichen Anfälle, dann fällt sie nach hinten links über, so dass der
Kopf über den Bettrand hängt, die Augen drehen sich nach oben, der Mund
nach rechts, stossende Bewegungen mit dem in Varo-equinus-Stellung stehen-
den Bein, dilatirte Pupillen, schnarchende Respiration, Bevvusstseinsverlust.
Dauer des Anfalls ca. 5 Minuten, nachher ca. 10 Minuten benommen. Entsinnt
sich des Anfalls bis zu dem Moment des Hintenüberfallens. (Referat einer er-
fahrenen Wärterin.) Am Morgen ist das linke Scheitelbein bei Percussion em-
pfindlich.
20. Februar. Verlegung nach der chirurgischen Klinik, nachdem die
Kranke wiederholt vorgestellt worden war.
28. Februar. Operation. Die beiden Centralwindungen werden ent-
sprechend der Knickungsstelle (Fig. 26) dadurch aufgedeckt, dass ein 7 cm
langer, öy^cm breiter Hautknochenlappen, welcher seine Basis an der Kranz-
naht hat, gebildet wird. Die Hirnoberfläche erschien absolut normal. Die
Heilung erfolgte ohne Zwischenfälle.
Juli 1894. Keinerlei Veränderung. Krämpfe nach wie vor. Inzwischen
eine Entbindung.
Fassen wir nun die bei dieser uns im November 1891 zugeführten
Kranken seit einem Jahre bestehenden Krankheitserscheinungen kurz
zusammen, so ergiebt sich, dass Allgemeinerscheinungen so gut
wie ganz fehlten. Diese kamen nur in Form von Schwindel imd Be-
wusstseinsstörungen vor. Aber in dem vorliegenden Falle konnten diese
Krankheitszeichen nicht als Folge von Drncksteigeruug innerhalb der
Schädelhöhle, sondern lediglich als Folge des localen epileptogenen
Reizes gelten.
Die Herderscheinungen bestanden auch nur aus Krämpfen, und
einer Spur von gleichnamiger Parese. Diese Krämpfe hatten nun einen
höchst eigenthümlichen Charakter: sie gingen stets von ein und der-
selben kleinen Muskelgruppe, Beugern der Finger, aus und beschränkten
sich auch im Anfang des Leidens, sowie während der Perioden geringerer
Heftigkeit desselben auf diese Muskeln. Traten die Krämpfe stärker auf,
so verbreiteten sie sich wohl auf die ganze Seite und verliefen mit
Bewusstseins Verlust.
Es kann nun, allgemein gesprochen, gar keinem Zweifel unter-
liegen, dass solche Krämpfe nur durch Reizung einer bestimmten Rinden-
— 284 —
stelle erzeugt werden können. Fraglich war nur, ob dieser Reiz or-
ganischer Natur und entfernbar war, oder ob beides nicht zutraf.
Nach der einen Richtung hin konnte in differentiell-diagnostischer
Beziehung eigentlich nur der Ausschluss der Hysterie in Frage kommen.
Die Hysterie gehört bekanntlich zu denjenigen Krankheiten, welche, wie
in anderer Beziehung die progressive Paralyse der Irren, die Tendenz
haben, die allerverschiedensten Nervenkrankheiten vorzutäuschen. Man
thut deshalb in der Neuropathologie immer gut, an die Hysterie zu
denken und ihre Existenz auszuschliessen. Nun hatten die hier zu be-
obachtenden Krämpfe aber an sich schon durchaus keinen hysterischen
Charakter; ich wenigstens habe bei Hysterischen niemals etwas Analoges
gesehen und keime auch aus der Literatur nichts ähnliches. Ausserdem
sprach auch der markante Einfluss der Bromsalze auf die Krämpfe ent-
schieden gegen Hysterie, und endlich bot die Kranke, wenn man nicht
etwa das seit einiger Zeit bestehende halbseitige Schwitzen dahin rechnen
Avill, keinerlei hysterische Stigmata.
Wenn man also auch anzunehmen berechtigt war, dass es sich nicht
um ein functionelles, sondern um ein organisches Leiden handle, so habe
ich mich dennoch sehr schwer, erst nach dreimonatlichem Zögern, zur
Operation entschlossen. Meine Bedenken hatten ihren Grund nicht etwa
in der Schwierigkeit, die betreffende kleine Stelle auf der Hirnrinde
aufzufinden. Die Innervationsgebiete für die Finger liegen (vgl. Fig. 26)
an einer wohlumschriebenen Stelle, vornehmlich der vorderen Central-
windung, so dass es bei der Grösse der Schädellücken, welche die
moderne Chirurgie anzulegen pflegt, nicht schwer fallen kann, gerade
dieses Gebiet in den Bereich der Operationswunde hineinzuziehen. Wenn
uns dieses aber auch gelang, so erschien es dennoch fraglich, ob es
gelingen würde, den Gegenstand, welcher den Reiz ausübte, aufzufinden,
denn dieser konnte nach Lage der Sache — Fehlen von Allgemein-
erscheinuugen, Fehlen von Lähmungen bei Ausgang von der motorischen
Zone und jahrelangem Bestehen — nur sehr klein sein. Welcher Art-
er war, ob ein Tumor, vielleicht ein Cysticercus, vielleicht eine Induration,
das konnte von vornherein gar nicht vermuthet werden: er konnte seinen
Sitz also sehr wohl in der grauen Rinde einer Furche aufgeschlagen
haben, und dies um so mehr, als sich die fraglichen Innervationsgebiete
über die beiden Centralwindungen erstrecken. So konnte es sich er-
eignen, und das A'erhehlten wir uns schon vor der Operation keineswegs,
dass eine auf Grund richtiger Indication kunstgerecht ausgeführte Ope-
ration dennoch erfolglos blieb. Dies war nun in Wirklichkeit der Fall,
und wir haben hieraus die Lehre zu ziehen, eine Lehre, welche aller-
dings schon vorher nicht fremd war, dass man an eine Trepanation bei
— 285 —
voraussichtlich sehr kleinen reizenden Herden nur mit vorsichtigster
Rückendeckung herangehen soll.
Endlich will ich noch einen vierten Fall Ihnen kurz anführen, bei
dem wir allerdings den Ort richtig diagnosticirt, den Tumor auch ge-
funden haben, der aber an den Folgen der Operation zu Grunde ge-
gangen ist. Den Fall haben Sie am Ende vorigen Semesters hier ge-
sehen.
IV. Beobachtung.
Karl S., sehr kräftig gebauter Bremser, erlitt vor ca. 3 Jahren, Sommer
1892, eine schwere Verletzung der linken Kopfhälfte durch die herab-
fallende Thür eines Eisenbahnpackwagens. Er blieb zunächst, an einen Wagen
gelehnt, für 10 — 15 Minuten ohne Besinnung, dann vermochte er zum Arzte
zu gehen, um sich verbinden zu lassen.
Nach 4—5 Tagen ging er wieder zur Arbeit, obwohl ihm immer „duselig
und schwindlich" im Kopfe war und obwohl er weiter Kopfschmerzen
hatte, die ihn seitdem nicht mehr verlassen haben.
Allmählich verschlimmerten sich diese Erscheinungen und traten nament-
lich in heftigen Anfällen auf, so dass er sich nicht auf den Beinen halten
konnte. Nach solchen Anfällen war ihm — gewöhnlich auf die Dauer von
2 — 3 Tagen — die rechte Seite schwer und er lahmte auf dieser Seite.
Die Zahl derAnfälle vermehrte sich, so dass sie nunmehr alle 2 — 3Wochen
eintraten.
Mit Krämpfen vergesellschafteten sie sich, wenn auch nicht immer,
seit dem Sommer 1893. Die Krämpfe begannen und beginnen stets mit Zucken
im rechten Bein, ergreifen dann den Arm und schliesslich das Gesicht. Zuerst
wird der Fuss gebeugt und gestreckt, ob auch die Zehen, weiss der Kranke
nicht, dann geht das Bein herauf und herunter. In der oberen Extremität be-
ginnt der Krampf gleichfalls in der Hand und steigt zur Schulter hinauf, ohne
dass der Patient auch hier die zuerst bewegten Gelenke näher zu bezeichnen
vermag.
Die einzelnen Anfälle dauern ca. eine halbe Stunde, erstrecken sich nicht
auf die andere Seite und verlaufen nie mit Bewusstseinsverlust, Zungenbiss
und Secessus involuntarii. Dagegen wird er durch dieselben zu Boden ge-
rissen, ohne sich wieder erheben zu können.
Nach denselben leidet er mehrere Tage lang an einer zuerst totalen,
dann sich allmählich bessernden Bewegungsschwäche, an Kopfschmerzen,
Schwindel, Abgeschlagenheit und Appetitlosigkeit. Die Bewegungen des
Armes im Schultergelenk sind seit dem Auftreten der Anfälle aber auch
dauernd erschwert wegen Schmerzen in diesem Gelenk. Auch im Hüftgelenk
habe er Schmerzen und in der rechten Wange häufig ein Zucken und Kribbeln.
Ausser diesen .Anfällen leidet Patient seit etwa 8—10 Wochen an Zitterbe-
wegungen der rechten Seite, die mit jedem Anfall schlimmer werden.
Kopfschmerzen, welche jetzt den ganzen Kopf einnehmen,
— 286 —
und Schwiü delan fälle hat der Kranke gegenwärtig fast täglich, namentlich
nach dem Erwachen.
Erbrechen will er anfänglich nicht gehabt haben, später will er
manchmal morgens etwas Schleim erbrochen haben. (Hineingefragt?)
Sein Sehvermögen sei gut.
In psychischer Beziehung klagt er über vermehrte Reizbarkeit und
Unlust zur Geselligkeit.
Soweit die von dem Kranken theils in der medicinischen Klinik, theils
'in meiner Klinik, in die er nur auf drei Tage aufgenommen war, gegebene
Anamnese.
In die medicinische Klinik war er am 10. December 1894 aufgenommen
worden.
Dort fand sich, kurz gesagt, hochgradige im Bein spastische Parese
der rechten Extremitäten, ganz geringe Parese des rechten Facialis, Ab-
stumpfang der Tast-, Schmerz- und Temperaturempfmdung an den rechten
Extremitäten, Steigerung der Pveflexe, besonders rechts.
Grosse Anfälle traten daselbst ein in den Nächten vom 16. /IT.,
29. /oO. December 1894 und am 15. Februar 1895. Ausserdem hatte Patient
häufiger nächtliche Zuckungen geringeren Grades in der rechten Körperhälfte.
Die grossen Anfälle entsprachen im Wesentlichen der vorstehenden Beschreibung,
namentlich blieb die linke Körperhälfte ruhig. Ausserdem wurde aber theils
von den andern Kranken, bei dem zweiten Anfalle von einem Arzte, beobachtet,
dass sich Kopf und Augen nach rechts drehten und das rechte Auge mehr ge-
schlossen wurde.
Ferner wurde daselbst S chmerzh aftigkeit der linken Schädel-
hälfte und auf dem linken Scheitelbein parallel und direct neben der Pfeil-
naht eine 3 cm lange, ca. 6 cm vor der Spitze der Hinterhauptsschuppe be-
ginnende, mit dem Knochen nicht verwachsene Narbe constatirt.
Stat. praes. 7 — 9 März 1895. (Mit Uebergehung aller negativen Be-
funde.) Die erwähnte Narbe auf Druck etwas empfindlich.
Es besteht eine spastische Lähmung und Abstumpfung der
Sensibilität der rechten Extremitäten, im Gesicht ist die Sensi-
bilität etwas abgestumpft.
Zunge stark nach rechts, zittert leicht. Uvula etwas nach links.
Rechter Arm steht im Ellenbogengelenk in leichter Beugecontractur.
Vorderarm in Pronations-Contractur, active Bewegungen im Schultergelenk
auf etwa 120° beschränkt, im Ellenbogengelenk keine völlige Streckung, Finger-
bewegungen rechts sehr langsam und wenig ausgiebig. Dynamometer links 47,
rechts 5 kg. Leichter Tremor in den Fingern bei activen Bewegungen, bei
passiven Bewegungen starke Spasmen. Reflexe beiderseits, rechts
mehr gesteigert.
Einfache Berührungen an einzelnen Stellen der Hand und derVolar-
fläche des Vorderarms nicht gefühlt, Nadelstiche nur als Kitzeln oder An-
rührung. Durchstechen einer Hautfalte am Dorsum des Vorderarmes als Be-
rührung.
— 287 —
T e m p e r ii t o r s i n n stark abgestumpft.
Drucksinn: Links Differenz von 18 : 22 g, rechts von 18 : 50 g stets
richtig. Lagegefühl, Gelenkempfindungen (passive Bewegungen) ohne
Anomalien (active Bewegungen). Nachahmung der rechts ausgeführten Be-
wegungen fällt links viel ausgiebiger aus.
Kinesiaesthesiometer jedenfalls keine auffallende Störung. Auf-
zeichnungen nicht ganz deutlich.
Hauttemperatur: zwischen Daumen und Zeigefinger links o6,G, rechts
37,0. Zwischen 4. und 5. Finger links 34,7, rechts 35,7.
Rechtes Bein: Am Oberschenkel 1,5, am Unterschenkel 1 cm magerer
als das linke. Leichte Spitzfussstellung. Acti ve Bewegungen der Zehen
und des Fusses gar nicht ausführbar, des Hüftgelenks stärker, des Kniegelenks
weniger stark behindert. Bei passiven Bewegungen starke Spasmen. '
Patellarclonus bei leichtem Betupfen der Sehne, Fussclonus, Fusssohlen-,
Stich- und Strichreflex fehlt.
Einfache Berührungen werden am Fuss und Unterschenkel vielfach
aiisgelassen, Nadelstiche nur als Berührung empfunden.
Temperatarsinn derart abgestumpft, dass Eis fast überall nur als
Berührung, heiss am Fussrücken als Berührung, am Oberschenkel als warm
empfunden wird.
Lagegefühl und Druck sinn wie in der oberen Extremität.
Kinesiaesthesiometer. Wenn der Spann des Fusses durch Watte ge-
schützt ist, bemerkt Patient keinen Unterschied zwischen einem leeren und
einem mit 1 kg beschwerten Strumpf.
Hauttemperatur zwischen 2. und 3. Zehe links 33,6, rechts 32,8.
Am 9. März wurde Patient in die medicinische Klinik zurück- und am
13. März in die chirurgische Klinik verlegt. Daselbst
20. März 12 Uhr Mittags grosse Anfälle, von denen der erste ärztlich
beobachtet wurde. Der Anfall begann mit Uebelkeit, ohne Erbrechen, und
krampfhaften Flexions- und Extensionsbewegungen in den Zehen des rechten
Fusses. Der Krampf erstreckt sich dann von unten nach oben fortschreitend
auf das ganze Bein, dann auf den Kopf, der nach rechts gedreht wird, den
Arm, welcher viel weniger stark krampft, und schliesslich beginnen unter
Zähneknirschen Zuckungen im Bereich des rechten Facialis. Dauer 5 Minuten.
Nachher matt, fast vollkommene motorische und sensible Hemiplegie.
27. März 1895. Operation. Zuerst Herausmeisselung eines 8 cm im
Quadrat messenden Hautknochenlappens, dessen Basis an der Sagittalnaht
liegt und dessen Schenkel lateralwärts schräg nach vorn verlaufen. Grade in
der Mitte des Gesichtsfeldes erscheint die bläulich verfärbte und von zahl-
reichen, dicken Venen durchzogene Dura in Grösse eines 10 Pf.-Stückes durch
eine bräunliche, nicht blutende Tumormasse perforirt, die an der entsprechenden
Schädelstelle mehrfache Usurcn gemacht hat. Nachdem zahlreiche Gefässe
unterbunden sind und die Dura zurückgeschlagen ist, erscheint noch nirgends
normales Gehirn. Die Oeffnung wird also derart vergrössert, dass ein gleich
breiter 4 cm langer Hautknochenlappen um seine laterale Basis umgeklappt
288
und der erste Schädeldefect medial, sowohl nach hinten als vorn mit der
Knochenzange erweitert wird. Der endgültige Schädeldefect ist 12,5 cm lang,
8,5 cm breit. Nunmehr lässt sich der von der Dura ausgehende, klein faust-
grosse 84 g schwere Tumor leicht mit dem Finger herausschälen. Er reicht
bis hart an die Falx heran und hat das Gehirn im Allgemeinen nar comprimirt;
lediglich an einer kleinen Stelle schien er mit der Pia verwachsen. Mikro-
skopisch erweist er sich als Endotheliom. Der Knochen des ersten Lappens,
die entsprechende Dura, sowie der verdächtige Sinus in Länge von 5cm, sowie
ein entsprechendes Stück Falx und Dura der rechten Hemisphäre in 1cm Breite
wurden gleichfalls entfernt und dann die Wunde geschlossen.
Schon während der massig blutigen Operation collabirte der Kranke
mehrmals unter den Zeichen der Herzschwäche und starb um 5 Uhr Nach-
mittags ungeachtet aller angewendeten Mittel unter gleichen Symptomen.
Die Section ergab im Wesentlichen eine Compression der oberen
Hälfte der Regio centralis des Randwulstes und des Gyrus fornicatus (Fig. 28).
Fig. 28.
Die comprimirte Stelle wird begrenzt nach vorn vom Sulcus praecentralis,
nach unten durch eine Linie, die man sich durch die untere Grenze des
mittleren Drittels der Centralwinduugen gelegt denkt, nach hinten durch einen
Frontalschnitt, der das hintere Ende der Fossa Sylvii trifft, nach innen an-
nähernd durch den Hemisphärenrand. Der Gyrus fornicatus ist entsprechend
der tiefsten Stelle der beschriebenen Impression (1 cm hinter der Mitte des
Balkens) verschmälert.
An der Compressionsstelle erweist sich die Hirnsubstanz mit zahlreichen
frischen capillaren Hämorrhagien durchsetzt und darüber hinaus diffus blutig
imbibirt.
Ein ähnlicher Zustand findet sich auch in den Grenzbezirken der rechten
Hemisphäre.
— 289 —
Werfen wir einen zusammenfassenden Rückblick auf diesen Krank-
heitsfall, so ergiebt sich, dass zunächst eine Anzahl von All gern ein -
erscheinungen vorhanden war, nämlich Schwindel und hochgradige
anhaltende Kopfschmerzen; dagegen fehlte die Stauungspapille, das Er-
brechen etc. ungeachtet der Grösse des allerdings extracerebral sitzenden
Tumors.
Die Art und Entwicklung der Herderscheinungen machen den
Tumor, ungeachtet seines extracerebralen Sitzes, geradezu zu einem
Schulfall. Patient hatte eine Kopfverletzung erlitten, an der Stelle
dieser Verletzung befand sich eine Narbe, war der Schädel schmerzhaft,
und entsprechend dieser Stelle war der Process zu suchen, durch den
die Herderscheinuugen ausgelöst wurden. Denn dieselben bestanden in
erster Linie in vollkommen typischen, von dem unterhalb der Narbe
belegenen Innervationsgebiet für die untere Extremität ausgehenden,
rindenepileptischen Krämpfen. Diese Krämpfe dehnten sich im All-
gemeinen, entsprechend der Lage der Rindencentren, über die ganze
befallene Seite aus. Ferner bestanden Lähmungserscheinungen, welche
wiederum besonders ausgesprochen das zuerst krampfende Glied be-
trafen, sich aber in geringerem Grade auf die ganze Seite verbreiteten.
Zu diesen Symptomen kamen dann noch Sensibilitätsstörungen und
ein continuirlicher, spastischer Zustand des spinalen Reflexbogens, die
ebenso wie die Krampf- und Lähmungserscheinungen einer kurzen Be-
sprechung bedürfen.
Zunächst interessirt uns die Verbreitungsweise der Krämpfe.
Nach der herrschenden Lehre, wenigstens wenn man die Localisation
von Beevor and Horsley (vgl. Fig. 26) zu Grunde legt, hätten die
Krämpfe, wenn der Tumor im Lobulus paracentralis oder im medialen
Theile der Centralwindungen seinen Sitz hatte, vom Bein auf die Schulter,
das Ellenbogeugelenk, u. s. w. von oben nach unten sich verbreiten
sollen. Nun verbreiteten sie sich aber in der oberen Extremität, den
Daten der klinischen Krankengeschichte zufolge, von unten nach oben.
Einem ähnlichen Verhalten sind wir bereits bei der Beobachtung I
(Ilg.) begegnet, nur dass es dort die Verbreitung der Lähmung war,
welche einen etwas anderen als den vorgeschriebenen Weg nahm. Ich
habe bei diesem Anlasse bereits darauf aufmerksam gemacht, dass ge-
ringere Abweichungen von dem vorgeschriebenen Schema der Ver-
breitungsweise der Krämpfe und Lähmungen füglich unberücksichtigt
bleiben können und müssen. In noch höherem Grade als von den
Lähmungen gilt dies sicherlich von den Krämpfen. Zunächst würde
mau sich unzweifelhaft täuschen, wenn man die Frage der örtlichen
Vertheilung der motorischen Centren auf der Rinde bereits als in allen
Hitzig, Gesammelte Abhandl. T. Tlieil. 19
— 290 —
Details endgiltig erledigt ansehen wollte. Beevor and Horsley waren
so glücklich, an einem Orang-Utang experimentiren zu können. In-
dessen sind die Resultate eines einzigen Versuches für eine Frage von
dieser Tragweite an sich nicht hinreichend beweiskräftig. Dazu kommt
noch, dass die Resultate nicht nur von den Ergebnissen früherer Unter-
suchungen an den Gehirnen niederer Affen, welche nicht ich selbst,
sondern sogar Horsley selbst angestellt hatte, in nicht unw^esentlichen
Punkten abweichen. Ja, merkwürdigerweise haben die am Orang-Utang
erzielten Reizeffecte insofern mehr Aehnlichkeit mit den von mir an
Inuus Rhesus als mit den von Horsley an höheren Affen gewonnenen
Resultaten, als die neueren Horsley 'sehen Versuche, so wie ich das
von Anfang an that, die vordere Centralwindung viel mehr als die
hintere für die motorische Innervation in Anspruch nehmen. Hiernach
ist es noch keineswegs ausgeschlossen, dass die Technik der Reizver-
suche für die difi'erente Localisation der motorischen Innervationsgebiete
verant^vortlich zu machen ist. Indessen ist es ebensowohl möglich, dass
ähnliche Differenzen, wie sie bei Ausschluss dieses Factors zwischen
dem Gehirn des Orang und dem anderer Affen bestehen würden, auch
zwischen dem Gehirn des Menschen und dem des Orang bestehen.
Im Ferneren darf die Schwierigkeit der Beobachtung der Ver-
breitungsweise der Krämpfe nicht unterschätzt werden. Nicht voll-
kommen Unterrichtete und nicht mit besonders scharfer Beobachtungs-
gabe ausgestattete Personen sind überhaupt in vielen Fällen nicht fähig,
die einzelnen, manchmal blitzschnell aufeinanderfolgenden Phänomene
richtig aufzufassen und zu referiren; und wie oft ist man lediglich aiif
deren Angaben, eingeschlossen die des Kranken, angewiesen! Indessen
fällt es selbst dem wohlunterrichteten und an scharfe Beobachtung ge-
wöhnten Arzte unter Umständen schwer, die Reihenfolge der Er-
scheinungen mit genügender Sicherheit zu erfassen; ich weiss dies aus
eigener Erfahrung. Hiermit will ich nun keineswegs zu einer Unter-
schätzung dieses eigenthüralichen und, wie ich wdederhole, durch meine
eigenen Untersuchungen zuerst practisch verwerthbar gewordenen Sym-
ptoms der Rindenepilepsie verleiten. Aber darauf möchte ich die Auf-
merksamkeit lenken, dass es sich hiermit, wie mit den meisten andern
hier genannten, wie mit noch so vielen andern Symptomen verhält,
nämlich dass der ganze Symptomencomplex in seiner Totalität aufgefasst
und kritisch gewürdigt werden muss. Der Beruf des Arztes ist eben
eine Kunst, und diese kann nicht allein mit dem, was man auswendig
gelernt hat, ausgeübt werden.
Ueber die Lähmungserscheinungen will ich nur kurz sagen,
dass sie durchaus den herrschenden Anschauungen entsprechend am
— 291 —
stärksten im Bein, dessen Centralgebiet vornehmlich comprimirt war,
und entsprechend schwächer in den übrigen motorischen Innervntions-
gebieten auftraten.
Von besonderem Interesse war das Verhalten der Sensibilität
in unserem Falle. Der Kranke bot sehr ausgedehnte Sensibilitäts-
störungen dar, wir haben gesehen, dass die Sensibilität in fast allen
ihren Qualitäten und wieder besonders stark an der unteren Extremität
gestört war. Neben leichter Anästhesie bestand eine sehr ausgesprochene
Analgesie, Termanästhesie und Alteration des Muskelsinns etc. Nun
weichen bekanntlich die Ansichten der Autoren über die Localisation
der Empfindungen auf der Hirnrinde soweit auseinander, dass man ein
kleines Buch über dieses Thema schreiben könnte. In neuester Zeit
haben aber Horsley und Schaefer*) durch Versuche an Affen die
Ansicht zu begründen versucht, dass es von den verschiedenen Ab-
schnitten des sogenannten Lobus limbicus wesentlich der Gyrus forni-
catus sei, dessen Zerstörung contralaterale Anästhesie bedinge. Gerade
mit Bezug auf diese Ansicht wurde der Operation mit um so grösserer
Spannung entgegengesehen, als der Tumor, wenn er wirklich die dia-
gnosticirte Lage im Lobulus paracentralis einnahm, sehr wohl in den
Gyrus fornicatus hineingewuchert sein, oder denselben sonst beleidigt
haben konnte. Nun fand sich der genannte Gyrus allerdings hoch-
gradig comprimirt, und der vorliegende Fall könnte deswegen wohl zu
einer Stütze der Horsley-Schaefer'schen Theorie verwerthet werden.
Jedoch dürfte die allergrösste Vorsicht nach dieser Richtung hin um
so mehr zu empfehlen sein, als die Erfahrungen, welche wir und Andere
an Balkentumoren, die in die Hemisphäre hinein wucherten, gemacht
haben, und ja auch die Ergebnisse des Falles I (Hg.)? von dem unsere
heutige Besprechung ihren Ausgangspunkt nahm, keineswegs im gleichen
Sinne sprechen.
Endlich haben wir noch kurz des Reizzustandes, in welchem
sich vornehmlich, wenn auch nicht ausschliesslich die Muskulatur der
gelähmten Seite befand, zu gedenken. Die Lähmung war eine höchst
ausgesprochen spastische und die Sehnenphänomene auf's Aeusserste ge-
steigert. Unzweifelhaft sind diese Erscheinungen auf die Irritation der
Rinde durch den ihr in grosser Ausdehnung aufliegenden Tumor zu be-
ziehen. Immerhin ist es interessant, darauf aufmerksam zu machen,
dass gerade so hochgradige Reizerscheinungen keineswegs unter dem
*) Horsley and Schaefer, A Record of experiments upon the function
of the cerebral cortex. Philosoph. Transact. Vol. 179 (1888). ^
19*
• — 292 —
Einflüsse der absteigenden Degeneration entstehen müssen, sondern sehr
wohl auf corticale Reizzustände bezogen werden liönnen.
Wenn wir schliesslich uns dem Grunde für das Mi sslin gen
der Operation zuwenden, so ist derselbe in diesem Falle ausnahmsweise
nicht auf dem diagnostischen, sondern auf dem chirurgisch-technischen
Gebiete zu suchen. Nicht als ob bei der Ausführung der Operation
irgend etwas versehen worden wäre. DaA^on konnte bei der bewährten
Technik meines verehrten Collegen von ßramann keine Rede sein.
Wir waren aber von vornherein dahin übereingekommen, dass der
Tumor gross, und deshalb auch die Trepanationsöffnung gross sein müsse.
Der Tumor präsentirte sich auch f actisch mit seinem Centrum in der
Mitte der Schädellücke: aber deren Lumen, welches Herr College
von Bramann mit 8 cm im Quadrat für gross hielt, war doch nicht
gross genug. So nahm die Erweiterung der Schädellücke, dann die
Abtragung der verdächtigen Falx und des Sinus nebst der Unterbindung
zahlreicher Gefässe eine kostbare und verhänguissvolle Zeit in Anspruch.
Vielleicht wäre es besser gewesen, die von der Falx und dem Sinus
drohende Gefahr einstweilen auf sieb beruhen zu lassen; denn die Ge-
fahr des Collapses lag näher. Indessen wären wir allen diesen Klippen
wohl noch glücklich entgangen, wenn die Oeffnung des Schädels mit
der damals hier noch nicht vorhandenen elektrischen Kreissäge hätte
bewirkt werden können. Denn der Tod war, dies muss aus principiellen
Gründen, auf das Bestimmteste betont werden, keineswegs eine Folge
der Entfernung einer relativ grossen Geschwulst, sondern lediglich eine
Folge der langen Dauer der Operation mit allen ihren Schädlichkeiten,
insbesondere der prolongirten Einwirkung des Chloroforms auf den ge-
schwächten Organismus des Kranken.
Dies eine Schilderung unserer Misserfolge. Es ist eine alte, fast
zur Trivialität gewordene Wahrheit, dass man aus begangenen Fehlern
und Irrthümern nicht selten mehr lernen könne, als aus richtigen und
wohlgelungenen Schlüssen. Indessen vermissen wir die practische Nutz-
anwendung dieses Lehrsatzes in der Literatur insofern ganz erheblich,
als einmal die Misserfolge nicht selten verschwiegen und andererseits
ihre Gründe nicht discutirt werden, wenn man wirklich die Thatsachen
preiszugeben für gutfindet. Ich habe es für richtig gehalten, der all-
gemeinen Ueberzeugung, welche auch die meine ist, Folge zu geben,
und hoffe, mir damit auch Ihren Dank verdient zu haben.
— 293 —
Anmerkung.
28) von Bergmann*) ist nochmals auf diese Frage zurückgekommen.
Er sagt: „Eine Bemerkung in Hitzig's hirnchirurgischen Misserfolgen vin-
dicirt gegenüber Ferrier und Luciani dem Entdecker der elektrischen Reiz-
barkeit der Hirnrinde auch die Anwendung dieser Entdeckung auf die Be-
sonderheiten der Jackson 'sehen Epilepsie. Das ist ein Irrthum, denn diese
Application war thatsächlich den beiden genannten Autoren vorbehalten. Die
incriminirte Stelle meines Buches beginnt mit den Worten: „Seit die Unter-
suchungen von Hitzig u. s.w.". Warum der Autor dennoch die ihm schuldige
Anerkennung vermisst, verräth der Tenor seiner Ausführungen '^ Die „incri-
minirte" Stelle der 2. Auflage lautete: „Alle Beobachter erkennen an und be-
stätigen, was Ferrier und Luciani zuerst gefunden haben, dass der Anfall
stets in derjenigen Muskelgruppe beginnt, ^velche dem elektrisch gereizten
Centrum in der Pvinde entspricht, dem ihr zugehörigen und vorstehenden
Rindenfelde. Bald bleibt der Krampf nur auf diese eine Muskelgruppe be-
schränkt (Monospasmus), bald breitet er sich weiter aus auf die Muskeln nur
einer Körperhälfte, oder weiter noch auf die des ganzen Körpers (Hemispasmus
und allgemeine Epilepsie)".
Genau die in diesem Absatz angeführten Thatsachen sind in der von mir
gemeinschaftlich mit Fritsch im Frühjahr 1870 veröffentlichten Abhandlung
(siehe oben S. 21, 22) zuerst mitgetheilt worden. Da die Untersuchungen von
Ferrier und Luciani erst durch die unserigen inspirirt waren, so können
die fraglichen Thatsachen nicht von jenen Autoren zuerst gefunden worden
sein, von Bergmann war und ist also im Unrecht. Was es mit der Heran-
ziehung der Jackson 'sehen Epilepsie, einem klinischen Syndrom, auf sich
hat, lasse ich um so mehr unerörtert, als davon weder an der angeführten
Stelle der 2. Auflage von Berg mann 's noch an der angeführten Stelle
meines Vortrags die Rede war; überhaupt ist diese Sache hiermit für mich
erledigt (vgl. hierzu noch meine vorstehenden Aufsätze: „Ueber einen inter-
essanten Abscess der Hirnrinde", „Ueber äquivalente Regionen etc." und die
Anmerkung 11 S. 68 ff.).
*) von Bergmann, Die chirurgische Behandlung von Hirnkrankheiten.
3. Auflage. 1899. S. 401.
XV. Ein Beitrag zur Hiriicliirurgie.
III.
Vortrag, vorbereitet für die IIL Versammlung mitteldeutscher Psychiater und
Neurologen zu Jena 1. Mai 1898.
Die in den letzten Jahrzehnten auf dem Gebiete der Hirnchirurgie
erwachsenen Fragen gehören unstreitig auch heute noch, und heute viel-
leicht mehr als je, zu den wichtigsten Problemen der Neuropathologie.
Die Fortschritte der Physiologie und Pathologie einerseits, der Chirurgie
andererseits haben die Diagnose und die Heilung von früher absolut
hoffnungslosen Leiden ermöglicht. Mag aber die Eröffnung der Schädel-
kapsel auch gegenwärtig als ein gegen früher verhältnissmässig unge-
fährlicher Eingriff gelten, so entstehen doch neue Gefahren durch die
Beschaffenheit der Krankheitsproducte, welche man zu beseitigen beab-
sichtigt, durch die Beschaffenheit des Organismus, an dem die Opera-
tion vorgenommen wird, und selbst die Operation kann eine Anzahl
von Zwischenfällen mit sich bringen, die im Verein mit den erwähnten
Umständen das Leben des Operirten unmittelbar gefährden. Ueberdies
wird aber die Trepanation, selbst wenn sie glücklich verläuft, immer
ein schwer, nur unter bestimmten Bedingungen zu wagender Eingriff
bleiben.
So werden denn die Anforderungen an die stetige Vervollkomm-
nung der Diagnostik nach allen ihren verschiedenen Richtungen hin
immer mehr und mehr anwachsen. Denn wenn der Arzt sich auch
wohl selbst bewusst sein mag, dass er die Trepanation nur Angesichts
der Hoffnungslosigkeit anderweitiger Heilmethoden vorgenommen hat, so
liegt doch schon in der Nutzlosigkeit einer Operation von dieser Be-
deutung an sich, namentlich aber dann, wenn der tödtliche Ausgang
sich mehr oder minder unmittelbar an sie anschliesst, ein Moment, das
mindestens die Empfindung der Unbefriedigung mit der eigenen Thätig-
keit wachruft, während die betheiligten Laien selbstverständlich zu noch
erheblich ungünstigeren, wenn auch vielleicht ungerechtfertigten Urtheilen
über die ärztlichen Maassnahmen gelangen können.
— 295 —
An Mis«erfolgeii auf unserem Gebiet ist aber, wie die Literatur uns
lehrt, auch heute noch leider kein Mangel. Die Hirnchirurgie hat denn
auch, ungeachtet ihres jugendlichen Alters, bereits verschiedene Phasen
durchgemacht. Auf eine Periode des durch einzelne glückliche Resul-
tate wachgerufenen Enthusiasmus ist eine andere des Skepticismus, um
nicht zu sagen des Pessimismus, gefolgt, und in dieser letzten Periode
befinden wir uns wohl noch. Ich selbst habe mich, wie ich glaube,
von jeher von dem einen wie dem anderen Extrem ferngehalten. So
habe ich denn auch in zwei früheren Arbeiten, während ich zwei mit
glücklichstem Erfolge operirte Fälle publicirte '■'), mich wohl gehütet,
mich zu grossen Hoffnungen hinzugeben, und während ich vier Miss-
erfolge mittheilte**), damit keineswegs Zweifel an der Berechtigung
wohlüberlegten chirurgischen Eingreifens erwecken wollen. Schon da-
mals habe ich den Standpunkt eingenommen, auf dem ich noch jetzt
stehe, den Standpunkt, dass diese ganze Lehre sich erst im Anfange
ihrer Entwickelung befinde, so dass wir noch viel zu arbeiten haben
werden, bevor wir mit der überhaupt erreichbaren diagnostischen
Sicherheit ausgerüstet sein werden. Dabei schweige ich davon, dass
auch die chirurgische Technik sicherlich noch weiterer Vervollkommnung
fähig ist.
Li diesem Sinne wollen Sie die folgende Mittheilung auffassen. Sie
beansprucht nicht mehr, als die Erörterung einiger noch nicht ganz ge-
klärter, wichtiger Fragen, vornehmlich die der corticalen Kräoapfe, an
der Hand von zwei neuen Fällen. Einen Abschluss derselben wird auch
sie nicht bringen.
Beobachtung I.
Potator. Beginn der Krankheit apoplektiform mit Krämpfen.
Parese im linken Arm, zahlreiche Krampfanfälle in demselben.
Trepanation. Entleerung einer im Armcentrum belegenen Cyste.
Exitus durch Vaguslähmung.
Pvö., 48 Jahre alter Steinbruchsarbeiter.
Anamnese. Der Vater hat sich erschossen, die Mutter hatte, wahr-
scheinlich hysterische, Krämpfe. Pat. war niemals krank, hat aber seit
28 .Jahren täglich durchschnittlich für 10 Pf. Schnaps getrunken. Am
28. Nov. V. J. empfand er plötzlich beim Holzmachen im linken Arm
,, einen Schlag", der sich links bis in das Genick ausdehnte, das Gesicht
aber freiliess. Der Anfall begann in den Fingerspitzen und stieg von da an
aufwärts, so dass der Kopf ca. eine Stunde lang verdreht war. Pat. sei dann
*) Siehe oben S. 247.
**) Siehe oben S. 264.
— 296 —
etwa zwei Stunden lang bewusstlos gewesen. Als er wieder zu sich kam, war
der linke Arm gelähmt, am meisten in den Fingern und dann abnehmend bis
zur Schultergegend. Diese Lähmung besserte sich allmählich, ohne sich jedoch
je ganz zu verlieren. In den nächsten drei Wochen hatte Fat. fast alle Tage
Anfälle, die mit Ameisenlaufen und Zuckungen im Daumen oder
Zeigefinger begannen und mit Zuckungen in den Muskeln des Vorderarms
verliefen. Ihre Dauer betrug angeblich ca. 5 Minuten.
Diese Anfälle hörten dann bis zum 25. Januar Avieder auf. An diesem
Tage trat wieder ein schwerer Krampfanfall ein, der im linken Arm begann,
dann die linke Brust- und Bauchseite und zuletzt die linke Gesichtshälfte er-
griff. Darauf trat Bewusstlosigkeit von angeblich 4 — 5 Minuten Dauer ein.
Kopfschmerz, Erbrechen, -Schwindel oder Sehstörungen will Fat. niemals
gehabt haben.
Status praesens 30. Januar 1898. An den Hirnnerven nichts Be-
sonderes, namentlich wird die Zunge gerade und ohne Zittern herausgestreckt,
auch ergiebt die ophthalmoskopische Untersuchung durchaus normale Verhält-
nisse. Nur der linke Facialis zeigt undeutlich eine etwas schwächere Inner-
vation, insofern als der Mundwinkel beim Oeffnen des Mundes vielleicht etwas
tiefer steht und das Auge nicht ganz so fest geschlossen werden kann. Der
Kopf ist auf Beklopfen nirgends schmerzhaft. —
Der linke Arm ist deutlich dünner als der rechte. An den dicksten
symmetrischen Stellen beträgt der Umfang:
des Oberarms links 23 cm, des Vorderarms links 23,5 cm,
„ „ rechts 25 ,, „ „ rechts 25,0 „
Der Daumen- und Kleinflngerballen, sowie Spatium interosseum I und 11 er-
scheinen deutlich eingesunken.
Der linke Arm kann activ nicht ganz zur Verticalen erhoben werden;
der passiven Erhebung wird unter Schmerzensäusserung Widerstand im Gelenk
entgegengesetzt. Die grobe Kraft bei der Extension und Flexion des Vorder-
arms gegen den Oberarm erscheint etwas, aber nur wenig, herabgesetzt. Die
Supination gelingt links nicht ganz vollständig. Die Hand kann activ nur bis
zur Horizontalen gestreckt und bis zu ca. 45 Grad gebeugt werden. Adduction
und Abduction sind nur in geringem Grade möglich. Fat. vermag von den
Fingern nur den Zeigefinger gegen den Daumen zu bringen, bei Klavierspieler-
bewegungen bleiben die Finger der linken Hand fast ganz zurück: der Hände-
druck ist äusserst schwach.
Die Sensibilität zeigt keine deutlichen Störungen. An den unteren
Extremitäten keinerlei Anomalien.
Die Sehnen- und Feriostreflexe waren an der linken oberen Extremität
besonders, die ersteren überall lebhaft.
Verlauf: Vom 2. Februar an trat eine grosse Anzahl von Anfällen
auf, die theils von mir selbst, theils von den Assistenten, theils von den
Wärtern, theils lediglich von dem Kranken beobachtet wurden. Der erste der-
artige, nicht beobachtete Anfall hatte nach den Angaben des Kranken folgenden
Verlauf: Es traten zuerst kurze rhythmische Zuckungen im Daumen auf, die
— 297 —
dann die anderen Pinger, die ganze Hand, den Unterarm, den Oberarm und
schliesslich die Schulter ergrilfen. Nach ca. 3 Min. hörten diese Zuckungen
dort auf, um nach ca. 1 Min. ebenda wieder anzufangen und nun in entgegen-
gesetzter Richtung zu den Fingern herabzusteigen. Hier hörten sie zuerst,
zuletzt aber in den Schultermuskeln auf. Das Bewusstsein war dabei nicht
getrübt.
Am Nachmittag trat ein gleichfalls nur vom Kranken beobachteter Anfall
auf, der sich auf Finger, Hand und Vorderarm beschränkte.
4. Februar. Anfall, während ich selbst gerade den Kranken untersuchte.
Rhythmische Zuckungen begannen im Daumen, gingen dann auf die anderen
Finger und die Vorderarmmuskulatur über, dabei lebhafte rhythmische Adduc-
tionsbewegungen der Hand. Der Anfall schloss mit Zuckungen im Daumen.
5. Februar und 7. Februar je ein gleicher Anfall. 9. Februar ein ähn-
licher Anfall, bei dem die Zuckungen zwar wieder im Daumen begannen, aber
zuerst in den Fingern, zuletzt im Ellenbogen aufgehört haben sollen.
10. Februar abends Anfall, in den beiden letzten Fingern anfangend und
sich bis zur Schulter hinaufziehend. Der Daumen blieb frei. Der Anfall hörte
zuerst in den Fingern, zuletzt in der Schulter auf; 10 Min. später Anfall, in der
Ellenbeuge anfangend, sich zur Schulter hinaufziehend und hier aufhörend.
11. Februar Anfälle, theils vom Praktikanten, theils von einem Arzt beobachtet.
Die Zuckungen fingen im Daumen an, gingen auf die anderen Finger über und
hörten daselbst auf. Gleich darauf Zuckungen in den drei letzten Fingern, im
Daumen und im Vorderarm. Einige Stunden später Zuckungen im Daumen,
im Vorderarm, nicht in den anderen Fingern, gleich darauf im linken Corru-
gator supercilii.
In der Folgezeit zahlreiche Anfälle, die zum grösseren Theil im Daumen
oder in den Fingern anfingen und sich auf die obere Extremität oder nur den
Vorderarm erstreckten. Bei einem Anfall am 15. Februar wurde die gesammte
Rumpfmuskulatur mit ergriffen.
Mehrere Anfälle am 18. und 19. Februar hatten den specifischen Rinden-
typus. Bei ihnen war die Reihenfolge der Zuckungen: Daumen, Zeigefinger,
andere Finger, Hand, Vorderarm, Schulter und dann wieder abwärts, so dass
der Daumen dann noch eine Zeit lang weiter zuckte.
21. Februar. Krampfanfall, beginnend im Daumen, dann die anderen
Finger und die Hand.
22. Februar. Zwei Krampfan fälle, beginnend im kleinen Finger, dann in
den anderen Fingern und im Daumen.
23. Februar wurde der Kranke nach der chirurgischen Klinik vorlegt.
Dort mehrere Krampfanfälle, von denen einer am 24. Februar abends beob-
achtet wurde. Dieser begann im Daumen und ging dann der Reihe nach auf
den Zeigefinger, die anderen Finger und die Hand über, die im Handgelenk
zuckte.
Operation 25. Februar mittags 12 Uhr.
Durch Bildung eines etwa 5 cm breiten, 4 cm langen Haut-Periost-
Knochenlappens mit der Basis nach unten, wird der mittlere Theil der beiden
— 298 —
Centralwindungen derart aufgedeckt, dass die Centralfurcbe annähernd durch
die Mitte, etwas mehr nach hinten, der Schädellücke verläuft. Nach Frei-
legung der Dura erscheint diese stark gespannt, in ihrer ganzen hinteren
Hälfte deutlich buckelartig hervorgetrieben, in dem kleineren Theil der hinteren
Hälfte durch zahlreiche, darunter liegende Venen der Pia bläulich durch-
scheinend. Bei der Spaltung der Dura wurden die weichen Hirnhäute an einer
unmittelbar vor der Mitte der Centralfurcbe belegenen Stelle, welche besonders
stark hervorgetrieben war und innerhalb eines von drei Venen eingefassten
Dreiecks im Gegensatz zu der anderweitigen normalen Färbung der Hirnober-
fläche stark anämisch war, leicht verletzt. Im Uebrigen zeigte die Hirnober-
fläche keinerlei Anomalien.
Die faradische Reizung üiit einem Strom, der auf der Zunge schon unan-
genehm empfunden wurde, ergab, auch nachdem Fat. schon wieder zu stöhnen
begann, keinerlei Zackungen. Diese blieben auch aus, nachdem die Rolle
reichlich 1 cm weiter hineingeschoben war.
Bei der Function mit einer Functionsnadel in der Mitte der verletzten
Stelle versinkt diese von selbst und ihre Spitze bleibt frei beweglich. Nach
Incision an dieser Stelle fliesst eine reichliche Menge goldgelber Flüssigkeit
aus einer kleinapfelgrossen, giattwandigen Cyste aus. Nachher collabirt die
vorher stark gespannte Hirnoberfläche, namentlich in dem oberhalb der Inci-
sion gelgenen Theile beträchtlich, so dass dieser Theil stark eingesunken, fast
faltig, erscheint.
Tamponade der Höhle, sowie über und unter dem zurückgeklappten Lap-
pen durch .Jodoformgaze unter geringer Compression.
Der Puls hatte schon während der Narkose öfters gewechselt. Gleich
nachher betrug er 136, war aber kräftig.
Nachmittags grosse Unruhe. Fat. vermag den linken Arm noch zu be-
wegen.
xibends totale Lähmung der oberen Extremität. T. 36,5, F. 154.
Morgens 3 Uhr Exitus, nachdem der Puls filiform und die Athmung sehr
beschleunigt geworden war.
Obduction. In der Umgebung der Incisionsstelle eine dünne Blut-
schicht; Innenfläche der Dura matt, ohne Auflagerungen. Verminderter Blut-
gehalt der Gefässe. Auf der Dura der Partes orbitales des Stirnbeins eine
ganz frische Blutschicht. Die cystische Höhle erscheint jetzt spaltförmig, an
ihren Wandungen mit leicht geronnenem Blute in dünner Schicht bedeckt,
dicht unter der Rinde belegen. Rinde und weisse Substanz sehr blass.
Der knorpelige Ueberzug des linken Humeruskopfes war stellenweise ge-
röthet und rauh.
Beobachtung 11.
Mädchen. Beginn mit 2 epi leptiformen Anfällen, localen
Zuckungen und psychischen Erscheinungen. Zahllose auf Hirn-
nerven und einige Muskeln des linken Arms localisirte Anfälle,
Parese im linken Facialis und einigen Muskeln der linken Ober-
— 299 —
extremität. ResultatI ose Trepanation. Exitus an Erschüpi'ung.
Section negativ.
Ida R., 17 -Jahr altes Dienstmädchen.
Anamnese. Staramt nach den Angaben einer Schwester aus einer nicht
belasteten Familie. Sie hatte seit ca. einem halben .Jahre ein Verhcältniss mit
einem Gehilfen ihres Dienstherrn, der sie heirathen wollte, sehr eifersüchtig
war und sie verfolgte, ohne dass sie jedoch angeblich an die Ehe dachte.
Gleichwohl sagte sie ihm beim Abschied, der infolge der Einmischung des
Dienstherrn erfolgte: „Bleib' nicht zu lange, sonst setz' ich mir was in den
Kopf". Irgend welche tiefere Erregung oder eine Scene soll nicht stattgefun-
den haben. Andererseits kann es keinem Zweifel unterliegen, dass die R. wie-
derholt geschlechtlichen Umgang gepflogen hat.
Nachdem Pat. schon einige Tage ungewöhnlich laut gewesen war, und
sich durch vieles Lachen auffällig gemacht hatte, erkrankte sie am Abend
jenes Abschiedstages, 6 Tage vor ihrer Aufnahme, mit einem Krampfanfall.
Sie soll plötzlich beide Arme nach vorn gestreckt, den Kopf zurückgebogen,
die Augen verdreht, gestöhnt haben und dann plötzlich gestreckt vom Stuhl
heruntergefallen sein. Dann habe sie mit Armen und Beinen gezuckt und ge-
röchelt. Erst nach einer Viertelstunde kam sie wieder zu sich und hatte
dann Angst.
In den folgenden Tagen trat noch ein ähnlicher Anfall, ausserdem aber
öfters unabhängig davon Zucken im Gesicht und Knirschen mit den Zähnen
ein. In der Zwischenzeit soll sie angeblich vollkommen klar gewesen sein, bis
der Dienstherrschaft am Tage vor der Aufnahme einzelne ihrer Aeusserungen
auffielen.
Status praesens 21. Februar 1898. Bei der Aufnahme ist Pat. leicht
verwirrt, unvollkommen orientirt, zieht sich die Kleider aus, anstatt an, dreht
sich zwecklos im Zimmer herum und ist nicht im Stande, zusammenhängende
Auskunft zu ertheilen. Bald nachher auf der Abtheilung ist sie ganz klar,
wenn auch leicht gehoben. Sie lässt sich unbefangen über ihr Liebesverhält-
niss aus, so richtig lieb gehabt habe sie den Betreffenden nicht, es sei ihr ganz
recht, dass alles so gekommen; Krankheitsbewusstsein hat sie nicht. Körper-
liche Anomalien sind zunächst nicht nachweisbar, weder Allgemeinerschei-
nungen, noch Herdsymptome. P. 80. Der wahrscheinlich durch Scheiden-
sekret (eiteriger Katarrh) verunreinigte Urin ist trübe, enthält weder Eiweiss,
noch Zucker, aber zahlreiche Bakterien und weisse Blutkörperchen.
22. Februar abends. Total verwirrt. „Ich bin gar nicht da, ich weiss
gar nicht, wo ich bin, meine Nerven sind weg, meine Gedanken fort".
24. Februar. Tobsüchtig erregt. Redet unaufhörlich und droht die Fen-
ster einzuschlagen. Zeitweise ganz ruhig und verständig, dann wieder total
verwirrt.
25. Februar. Während der Visite Beginn einer Serie von Krampf-
anfällen. Zuerst wird der Unterkiefer mit einem leichten seufzenden Schrei
nach unten gezogen, dann wird der linke Mundwinkel tonisch nach
links gezogen und beide Augen tonisch g es chlossen. Hieran schliesst
— 300 —
sich ein klonischer Krampf der Orhiculares palpebrarum, gleichzeitig drehen
sich die Augen und der Kopf stark nach links. In den Masseteren und der
Zungenmuskulatur bestand ein klonischer Krampf. Die betheiligten Nacken-
und Halsmuskeln waren mehr tonisch mit kurz dauernden Unterbrechungen
contrahirt. Die übrigen Muskeln, insbesondere auch die der Extremitäten,
blieben in Ruhe, die Pupillen waren stark erweitert und reactionslos.
Derartige Anfälle, von denen ich mehrere absolut identische selbst beob-
achtete, folgen in Zwischenräumen von wenigen Minuten bis einer Viertelstunde
unaufhörlich aufeinander, mindestens 20 an dem Nachmittag. Sie dauern ca.
1 — 3 Minuten und enden ziemlich plötzlich. Bei längeren Pausen kann Pat.
unmittelbar nach Beendigung des Anfalls aufstehen und gestellte Fragen be-
antworten.
26. Februar. Wiederholtes Erbrechen, zweimal nüchtern. Fast ununter-
brochen kurz dauernde Krampfanfälle der beschriebenen Art, die in ganz typi-
scher Weise verlaufen. An dem Facialiskrampf betheiligt sich auch das Pla-
tysma, die Stirnmuskeln kaum. Am Anfalle betheiligen sich auch mit blitz-
artigen Zuckungen Abductor und Extensor pollicis und Flexor carpi
radialis. In den Pausen zv/ischen den Anfällen langsame „athethose-
artige" Bewegungen in der linken Hand und im linken Arm. Der
linke Daumen und der linke Facialis bleiben bei Willkürbewe-
gungen zurück.
Während der Anfälle reagirt Pat. auf Fragen nicht; im Moment des Auf-
hörens der Anfälle beantwortet sie Fragen im allgemeinen zutreffend, ist dabei
aber massig verwirrt, lacht unmotivirt: Es geht ihr gut, ist gar nicht krank,
bloss in der Hand, da geht doch die Haut drüber — , etc. P. 80.
Allein in der Zeit von 12 bis l^/^ Uhr werden 46 solcher Anfälle gezählt.
Nahrung hat die Kranke bis jetzt so gut wie gar nicht zu sich genommen.
Klinische Vorstellung. Während derselben mehrere Anfälle der be-
schriebenen Art, sodann ein grosser Anfall, der in der gewöhnlichen Weise
links beginnend, erst die gesammte linke Seite ergreift und dann auf der rech-
ten Seite im Bein anfängt. Pat. wird zunächst tief chloroformirt und über
zwei Stunden lang in der Narkose erhalten. Während der Narkose nehmen die
Anfälle ab, ohne ganz aufzuhören. Abends im Verlauf von 3 Stunden 5 g
Chloralhydrat. Dabei nehmen die Anfälle wieder zu, zeigen aber nunmehr
einen atypischen Verlauf. Z. B. : Hand, Arm, Bein, Nacken, Gesicht andeu-
tungsweise, Aufhören in der Hand, Arm, Bein, Aufhören im Arm. Nacken,
Facialis, dabei im Arm stossartige Bewegungen, im Bein Strecktonus. Nur
Ablenkung der Augen nach links etc.
Schläft gegen 11 Uhr nachts ein.
27. Februar. Fast ununterbrochene Anfälle, meist nur im Gesicht, ein-
zelne auf den Arm übergehend.
In den Pausen zwischen den Anfällen reagirt Pat. auf Ansprechen und
Anforderungen sinngemäss.
Respiration schwerer, etwas rasselnd. P. stets kräftig, 76.
In die chirurgische Klinik verlegt. Dortselbst ist notirt: Pat.
— 301 —
blass, etwas cyanotisch, vollkommen bewusstlos. P. 112—120, sein klein, ge-
spannt. T. 86,4. Starke Bronchitis, starke Salivation.
Der linke Daumen ist etwas fester adducirt. Anfälle in Intervallen von
1 — 5 Minuten, von gleichem Charakter wie die in der Nervenklinik beobach-
teten; meist Gesicht, meist linker Facialis, zuweilen auch der linke Arm, selten
auch das linke Bein.
Operation von fünf Viertelstunden Dauer, während deren Fat. nur
wenige Tropfen Chloroform erhält. Die Operation sollte den Schädel so er-
öffnen, dass die obere Grenze des unteren Drittels der Centralwindungen in
die Mitte der Schädellücke zu liegen kam. (Bei der Section zeigte sich, dass
die Stelle gut getroffen war.) Die Aussenfläche der Dura erwies sich an ein-
zelnen Stellen leicht streifig verfärbt und verdickt. Die Dura und die Hirn-
oberfläche ausserordentlich stark gespannt. Die freigelegte Arachnoidea er-
schien leicht granulirt, und die Pia ganz ausserordentlich hyperämisch, so
dass jedes kleinste Gefäss stark injicirt war. Im Gegensatz hierzu war eine
längliche, in der Mitte der Operationsfläche in der vorderen Central Windung
belegene, ca. 2 cm lange Stelle deutlich anämisch. Sonst fand sich nichts
Abnormes. Der Puls war andauernd klein, frequent und gespannt gewesen.
Transfusion von 250 com. NaCl-Lösung, nachher Excitantien. Die Anfälle
dauern fort (in den ersten vier Stunden 15—20). Schluckbeschwerden.
Ausserhalb der Anfälle Parese des linken Facialis und des linken Arms.
Spricht ab und zu spontan einige verständliche Worte, es gehe jetzt besser etc.
Gegen Abend seltenere aber heftige Anfälle in denselben Gebieten (von
7 — 9 Uhr sechs, von 9 — 12 Uhr drei Anfälle), manchmal nur im Gesicht. Un-
ruhig, will aus dem Bett. P. 160, gcpannt, klein. T. morgens 36,4:
abends 37,8.
28. Februar morgens gehäufte Anfälle, alle 10 — 12 Minuten, nachher alle
5 — 7 Minuten. Pat. spricht viel, ist unruhig.
Abends vorübergehendes Aussetzen der Anfälle. Nachts 12 Uhr beginnen
diese von neuem sehr heftig, auch mit Betheiligung des linken Beins. P. mini-
mal, fliegend, 180.
1. März. P. elend. T. 39,2, noch fünf Anfälle. Exitus liy^ Ühr
morgens.
Die Hirnsection ergab makroskopisch so gut wie nichts Abnormes.
Die weichen Hirnhäute erschienen jetzt geradezu anämisch, die Arachnoidea
ganz leicht getrübt. An einer unmittelbar hinter der anlässlich der Trepana-
tion erwähnten und zwar hinter der hinteren Centralwindung gelegenen Stelle
adhärirte die Pia derart der Hirnoberfläche, dass sie nur mit Substanzverlust
abgelöst werden konnte.
Bevor ich auf die unser eigentliclies Thema betreffenden Fragen
eingehe, will ich nur einen, allerdings besonders interessanten Punkt
ganz kurz berühren. Wir haben gesehen, dass der Kranke der Beob-
achtung I eine sehr deutliche, gleichmässige Atrophie von 1,5
bis 2 cna Differenz der Umfange seiner linken oberen Extremität
— 302 —
erkennen liess. Diese Atrophie war ausserordentlich schnell eingetreten,
denn Pat. war ja bei seiner Aufnahme erst seit zwei Monaten krank,
und sie konnte auch sonst nicht auf Inactivität bezogen werden, da das
Glied keineswegs ganz gelähmt, sondern nur paretisch war. Diese Form
cerebraler Atrophien ist bekanntlich erst seit w-enigen Jahren, nament-
lich seit den Arbeiten von Quincke, Gegenstand der Discussion ge-
worden und deshalb auch durch anatomische Befunde noch sehr wenig
aufgeklärt. Der vorliegende Fall besitzt deshalb an und für sich schon
ein besonderes Interesse, und dieses Interesse wächst noch dadurch, dass
es sich dabei um einen unmittelbar unter der Rinde sitzenden, nicht
wesentlich raurabeschränkenden Herd handelt. Ich behalte mir vor, auf
diese Frage unter Heranziehung einiger anderer hierhergehöriger Fälle
demnächst ausführlicher zurückzukommen.
Von dem gleichen Gesichtspunkt aus, nämlich der Trophoueurose,
ist ein anderes bei dem gleichen Fall beobachtetes Symptom, das der
Schultergelenkentzündung, zu betrachten. Die Functionsstörung
des Delta war in diesem Falle so unerheblich, dass das traumatische
Moment, welches ich in einer früheren Arbeit*) zur Erklärung solcher
Schultergelenkentzündungen mit herangezogen hatte, nicht verantwort-
lich gemacht werden kann. Ich hatte damals angenommen, dass der
in Folge der Lähmung des Delta herabsinkende Kopf des Humerus, in-
dem er auf dem Rande der Gelenkpfanne ritte, die eigentliche Veran-
lassung zu der, allerdings durch vasoparalytische oder trophische Stö-
rungen begünstigten Gelenkentzündung gäbe. Aus dem vorliegenden
Falle geht hervor, dass solche Gelenkentzündungen auch ohne das Her-
absinken des Gelenkkopfes zu Stande kommen können, wennschon die
Concurrenz anderweitiger, allerdings in die physiologische Breite fallen-
der Traumen dabei nicht ausgeschlossen erscheint.
Fassen wir sodann diesen Fall I mit Bezug auf die uns jetzt näher
interessirenden Krankheitserscheinungen ins Auge, so liegt deren Mecha-
nismus jetzt ganz klar zu Tage. Der Kranke hatte eine Hämorrhagie
in die subcorticale weisse Substanz erlitten, diese Hämorrhagie hatte
den apoplektischen und epileptiformen Insult hervorgerufen, und die
aus der Hämorrhagie sich entwickelnde Cyste hatte die geschilderten
Krampfanfälle zur Folge gehabt. Bei Lebzeiten war die Diagnose so-
weit aber doch nicht zu stellen gewesen. Einmal sind die Windungen
auch in ihrer weissen Substanz ein verhältnissmässig ungewöhnlicher
Ort für Hämorrhagien, und dann können ganz ähnliche^ Insulte durch
*) Hitzig, üeber eine bei schweren Hemiplegien auftretende Gelenk-
affection. Virch. Arch., Bd. XLVin.
- 303 —
einfache Tumoi'en oder durch Tmnoren, in vveUdie Blutungen erfolgen,
hervorgerufen werden.
Von Interesse ist nun ferner der Umstand, dass eine derartige suh-
corticale Cyste zu corticalen, einfachen oder combinirten monospasti-
schen Anfällen Veranlassung giebt. Man wird allerdings nicht annehmen
können, dass ein Krankheitsproduct dieser Art allgemein oder auf wei-
tere Entfernungen hin raumbeschränkend wirke; indessen scheint eine
solche Raumbeschränkung mit Bezug auf die nächste Umgebung doch
stattgefunden zu haben. Hierfür spricht die ausserordentlich starke
Spannung der Dura und die Hervortreibung der Hirnoberfläche, die wir
bei der Operation gefunden haben. Wahrscheinlich wird auch die an-
ämische Beschaffenheit der besonders stark hervorgewölbten Rinden-
partie, welche unmittelbar über der Cyste lag, auf den Druck, den
diese in der Richtung gegen die Schädelkapsel ausübte, zu beziehen
sein. Ich hebe diesen Punkt, der meines Wissens früher nicht erörtert
worden ist, um deswillen hervor, weil die Beachtung von solchen an-
ämischen Stellen vielleicht in Zukunft einen Fingerzeig für die Auf-
suchung subcorticaler Herde dann abgeben kann, wenn sich, wie in
unserem Falle, auf der Rinde nichts findet. Wir dürfen indessen nicht
vergessen, dass sich eine ähnliche anämische Stelle, die dem Anscheine
nach gleichfalls durch local besonders starken Druck hervorgerufen war,
auch in dem Fall II fand, obwohl in diesem Falle von einem sub-
corticalen Herd nicht die Rede war. Der Nachweis derartiger Stellen
dürfte es also wohl nur wahrscheinlich machen, dass die Hirnrinde
dort besonders stark gegen die Schädelkapsel gepresst wurde, während
die Gründe hierfür verschiedener Natur sein mögen.
Die in diesen beiden Fällen beobachteten Krampfanfälle
lenken in ganz besonderer W^eise unser Interesse auf sich. Denn die
einfachen und combinirten monospastischen Krampferscheinungen bilden
ja die Grundlage, auf der sich, sowohl nach der physiologischen als
nach der pathologischen Seite hin die ganze Lehre von der Hirn-
chirurgie aufbaut. Wenn man von den ganz typischen Anfällen, wie
sie entsprechend den experimentell erzeugten Krämpfen durch beliebige
Reizung einer beliebigen motorischen Rindenpartie erzeugt werden, aus-
geht, so verlaufen diese ja bekanntlich in der Weise, dass zuerst die
von der gereizten Stelle, dann die von den benachbarten Stellen ab-
hängigen Muskeln zucken, und dass die Krämpfe schliesslich in um-
gekehrter Reihenfolge derart erlöschen, dass die zuerst in den Krampf
eintretenden Muskeln zuletzt zu krampten aufhören. Es wäre sehr gut,
wenn man eine Art von Dogma dahin formuliren könnte, dass die durch
umschriebene Reizung der Rinde ausgelöfiten Krämpfe immer diese Ver-
— 304 —
laufsweise an sich hätten, und dass alle so verlaufenden Krämpfe auf
einen Herd zurückzuführen seien, der innerhalb desjenigen Centrums
seinen Sitz habe, dessen iMuskeln den Krampf einleiteten. Die Er-
fahrung lehrt uns aber, dass eine solche Formulirung nach jeder
Richtung hin unzutreffend wäre. Ich selbst habe bei früherer Gelegen-
heit bereits auf das Vorkommen einer abweichenden Verlaufsweise
localisirter corticaler Krämpfe aufmerksam gemacht; das Gleiche ist
auch von anderer Seite geschehen; indessen ist es mir zweifelhaft, ob
das bisher gesammelte Material zu einer abschliessenden Erörterung
dieser Fragen ausreicht. Mindestens besitzen wir meines Wissens eine
solche, sich auf eine kritische Verwerthung des vorhandenen Materials
gründende Erörterung bisher nicht. Schon der Versuch, auf diese Weise
zu einem Abschluss zu kommen, würde dankenswerth sein.
In dem Fall I verbreiteten die Krämpfe sich nun allerdings zum
Theil in der angegebenen typischen Weise; also: Daumen, Zeigefinger,
andere Finger, Vorderarm, Oberarm und in umgekehrter Richtung
wieder abwärts. Zum Theil verliefen sie aber anders: sie begannen
also entweder nicht im Daumen, sondern in anderen Muskeln, vor-
nehmlich in denen der anderen Finger, oder sie machten den typischen
Turnus nicht durch, derart, dass sie also nicht in denjenigen Muskeln
zuletzt aufhörten, in denen sie angefangen hatten, sondern dass sie
gerade umgekehrt in diesen zuerst aufhörten. Eine besondere Art
dieser Verbreituugsweise bestand z. B. darin, dass der Kramj)f von den
Fingern bis zur Schulter aufstieg, in derselben Reihenfolge, wie er sich
entwickelt hatte, verschwand, um dann wieder in der Schulter zu be-
ginnen und von dieser zu den Fingern in ähnlicher Weise herabzusteigen,
aber so, dass er wieder in den Schultermuskeln zuerst aufhörte.
Halten wir mit diesen klinischen Erscheinungen die Ergebnisse der
Operation und der Autopsie zusammen, so lässt sich wohl eine Er-
klärung für diese eigenthümliche Verbreitungsweise der Krämpfe finden,
ohne dass man irgendwie genöthigt wäre, die durch die physiologischen
Experimente gegebene Regel fallen zu lassen oder die Verlaufsweise
dieser Krämpfe als etwas mehr oder minder Zufälliges zu betrachten.
Die physiologische Forderung besteht nur darin, dass diejenigen
Muskeln zuerst krampten, deren Centrum zuerst gereizt wird, und dass
der Krampf sich alsdann, insofern er von jenem Reiz ausgeht, gesetz-
mässig auf der Rinde verbreitet, ohne irgend welche Centren zu über-
springen. Nun kann der Reiz aber, wie uns die Erfahrung lehrt, in
der allerverschiedensten Weise entstehen. Er kann von der Rinde der
motorischen Region selbst, er kann von benachbarten Partien und er
kann von ganz entlegenen Hirnprovinzen aus, ja sogar vom Kleinhirn
— 805 —
seinen Ausgangspunkt nehmen. Nur in dem ersteren Falle, aber auch
dann nicht immer, wird der eigentliche Herd mit Sicherheit in dem
fraglichen Centrum selbst zu suchen sein; denn es ist möglich, und
übrigens nicht selten beobachtet worden, dass die Zerstörung des ur-
sprünglich ergriffenen Centrums schon soweit vorgeschritten war, dass
Krämpfe nur noch von der Nachbarschaft ausgelöst werden konnten.
Auf die typische Verbreitungsweise der Krämpfe wird man aber
nur dann mit Sicherheit rechnen können, wenn der Herd in der Rinde
der motorischen Region selbst seinen Sitz hat. In dem vorliegenden
Falle traf das nicht zu. Gleichwohl zeigten die Kräoapfe eine Verlaufs-
weise, die nur auf eine localisirte, beschränkte und beschränkt bleibende
Reizung der Hirnrinde bezogen werden konnte. Aber der Angriffspunkt
des Reizes war bei den einzelnen Anfällen ein verschiedener, gewöhn-
lich war es die Region der Daumenmuskeln, bei anderen Anfällen die-
jenige von anderen Fingern oder von anderen Muskeln der oberen
Extremität, aber immer waren es Muskeln dieser Extremität, die den
Krampf einleiteten, wie er denn auch ineist auf sie beschränkt blieb.
Thatsächlich griff also der Reiz, wenn auch nicht immer an der gleichen,
doch immer an einer ziemlich eng begrenzten Stelle der Hirnrinde an.
Dieser Vorgang lässt sich sehr wohl durch die vorgefundene Cyste und
die in ihrer Umgebung beobachteten löcalen Druckerscheinungen er-
klären. Es ist leicht verständlich, dass dort entstehende cougestive
Zustände nicht immer genau dieselben, aber immer streng nachbarliche
Bezirke gegen die Schädelkapsel pressen konnten.
Der unmittelbar subcorticale Sitz des Herdes Avar es also, der in
diesem Falle die Abweichungen von dem typischen Verlauf der Krämpfe
veranlasste. Aehnliche Bilder können aber auch dann entstehen, wenn
der Reiz, beispielsweise ein Tumor, sonst von der Nachbarschaft aus,
also von den vor oder hinter der motorischen Region liegenden Partien,
ja selbst von der Dura aus, einwirkt.
Im Allgemeinen wird man also wohl an dem Grandsatz festhalten
dürfen, dass man den Herd nur dann in der Rinde der motorischen
Region zu suchen hat, wenn alle Anfälle den gleichen specifischen
Hindentypus an sich tragen. Es ergiebt sich daraus aber auch mit
Nothwendigkeit die weitere Regel, dass man die locale Diagnose erst
nach vorgängiger gesicherter Beobachtung einer Anzahl von Anfällen,
die nicht auf einen zu kurz bemessenen Zeitraum fallen, mit Sicherheit
stellen darf.
Ob der Herd dann, wenn er nicht in der Rinde selbst seinen Sitz
hat, unmittelbar subcortical, wie in unserem Falle, oder anderwärts zu
suchen ist, das kann aus der Beschaffenheit der Krämpfe allein über-
Hitzig, Gesammelte Abhaiidl. I. Theil. 20
— 306 —
liaupt nicht geschlossen werden, sondern nur aus der Berücksichtigving
des Verlaufs und der sonst noch vorhandenen oder fehlenden Symptome,
insbesondere der Lähmung. Auf diese Frage kann sich aber unsere
heutige Erörterung nicht erstrecken. —
Zu einer ganz anderen Reihe von Betrachtungen führen uns die
in dem zweiten Falle beobachteten Krämpfe. Gehen wir von dem,
was wir selbst beobachtet haben, aus, so verliefen sie in diesem Falle
so lange in ihrer Art vollkommen typisch, bis zur Anwendung von
Narkoticis geschritten wurde. Sie begannen also in der respiratorischen
und in der die Kiefer und die Zunge bewegenden Muskulatur und
breiteten sich dann auf den liliken Facialis, manchmal auch auf einzelne
Muskeln der oberen Extremität aus, während die Muskeln der unteren
Extremität regelmässig in Ruhe blieben; dagegen trat dann deviation
conjuguee auf. Die Krämpfe erschienen doppelseitig in denjenigen
Muskeln, in denen sie auch bei einseitiger Reizung doppelseitig er-
scheinen können; im Uebrigen blieben sie in der unteren Hälfte des
Facialis und in der oberen Extremität auf die linke Seite beschränkt.
So verliefen die Krämpfe in Hunderten von Anfällen. Als die Kranke
dann chloroformirt worden war und Chloral erhalten hatte, begannen
die Krämpfe zwar gelegentlich in anderen Muskeln und zeigten auch
sonst einige Abweichungen in ihrer Erscheinungsweise, sie behielten
aber auch dann ihren hemispastischen Charakter, ohne sich, wie es
vorher der Fall gewesen war, zu allgemeinen Anfällen zu entwickeln.
Hiernach dürfte der Schluss, dass jene Abweichungen auf eine, durch
die Narcotica veränderte Erregbarkeit der Rinde zu beziehen sei, wohl
gerechtfertigt erscheinen.
Ausser diesen hemispastischen zeigte die Kranke aber noch eine
Reihe von anderen Symptomen. In erster Linie sind hier die all-
gemeinen Krampfanfälle zu nennen. Einen solchen Anfall hatten
wir, und zwar gerade während der klinischen Vorstellung, Gelegenheit
zu beobachten. Dieser Anfall hatte insofern durchaus nichts Un-
gewöhnliches, von den bei einseitiger, corticaler Reizung gelegentlich
auftretenden Anfällen Abweichendes an sich, als die Krämpfe auch hier
einseitig begonnen hatten. Die Kranke sollte aber allgemeine Anfälle
vor ihrer Aufnahme gehabt haben, ohne dass nach der uns gegebeneii
Beschreibung hemispastische Erscheinungen vorangegangen
seien. Besonderes Gewicht konnte aber auf diese Angaben um so
weniger gelegt werden, als sie von einer für die Auffassung und
Wiedergabe solcher Beobachtungen ganz incompetenten Seite kamen
und als sogar von dieser Seite anamnestisch über anderweitige luono-
spastische Anfälle berichtet woiden war. Unter diesen Umständen war
— 307 —
der Schluss berechtigt, dass jene allgemeinen Anfälle ebensowohl durch
localisirte Zuckungen ehigeleitet worden waren, wie dies für den in
der Klinik beobachteten Fall zutraf, nur dass sie der Beobachtung ent-
gangen waren.
Eine andere Besonderheit der Kram pfanf alle bestand in ihrem
Beginn in der respiratorischen Muskulatur, während die
Jackson 'sehen Anfälle in einer Extremität oder dem Facialis zu be-
ginnen pflegen.
Im ferneren kamen eine Reihe von Erschemungen, die die psy-
chische Sphäre betrafen, in Betracht. Erstens ist hier zu erwähnen,
dass auch die partiellen Krampfanfälle mit Bewusstseins-
verlust verliefen. Dies ist etwas durchaus Ungewöhnliches. In der
Regel geht das Bewusstsein erst dann verloren, wenn die Krämpfe sich
auf die andere Seite verbreiten oder doch mindestens die gesammte
Muskulatur der einen Seite befallen. In unserem Falle trat der Be-
wusstseinsverlust aber selbst dann ein, wenn der Anfall sich auf die
Kopfnerven beschränkte.
Ich war so glücklich, die klinisch so überaus markante Difl'erenz
zwischen dem gewöhnlichen und dem Verhalten in unserem Falle in
der gleichen Vorlesung klinisch demonstriren zu können. Denn wir
beobachteten zu jener Zeit zufällig eine paralytische Frau, welche
mehrere Tage hindurch an monospastischen Anfällen der einen oberen
Extremität litt, ohne dass dabei ihr Bewusstsein getrübt oder ihr ander-
weitiges Verhalten irgendwie beeinträchtigt worden wäre.
Zweitens hatte die Kranke aller. Wahrscheinlichkeit nach schon vor
dem Einsetzen der Krämpfe an psychischen Erscheinungen, die
der Beschreibung nach an eine leichte Manie erinnern konnten, ge-
litten, und psychische Erscheinungen wurden auch während des klinischen
Aufenthaltes wiederholt beobachtet. Theils hatten diese den Charakter
der Verwirrung, theils den einer leichteren oder schwereren tobsüchtigen
Erregung an sich. Zwischendurch war die Kranke wiede« auf längere
Zeit scheinbar normal. Höchst auffallend und ungewöhnlich war auch
das psychische Verhalten in den Intervallen zwischen den
einzelnen Anfällen, insofern als sich unmittelbar an eine Periode
der schwersten Bewusstseinsstörung eine solche von fast vollkommener
Lucidität anschliessen konnte.
Zu diesem eigenthümlichen Symptoniencomplex kam dann noch die
Parese im linken B"'acialis und in einigen Muskeln der linken
oberen Extremität hinzu.
Hatte die Diagnose sich schon in dem Fall I mit Rücksicht auf
die Art des Herdes eine gewisse Zurückhaltung auferlegen müssen, so
20*
— 308 —
musste diese Zurückhaltung in dem Fall II noch mehr betont werden.
In der That schloss ich meine klinische Besprechung des Falles dahin
ab, dass sich in diagnostischer Beziehung nichts weiter sagen Hesse,
als dass ein Reiz sich von dem lateralen Drittel der motorischen Region
aus auf weitere Gebiete der Rinde verbreite; welcher Natur aber dieser
Reiz sei und ob die ihn verursachende pathologische Veränderung nur
in der motorischen Region ihren Sitz habe und nicht vielmehr noch
andere Theile der Hirnrinde, insbesondere das Stirnhirn, mit in seinen
Bereich ziehe, das liesse sich nicht sagen. In therapeutischer Beziehung
läge indessen eine Indicatio vitalis vor, da die Kranke unter den unauf-
hörlichen Anfällen zu Grunde zu gehen drohe. Die Trepanation sei
deswegen in Aussicht zu nehmen.
In diagnostischer Beziehung war in erster Linie zu erwägen ge-
wesen, ob ein organisches oder ein functionelles Leiden anzu-
nehmen sei. Die uns in der Anamnese angegebene Aetiologie konnte
an Hysterie denken lassen. Wenn man jedoch selbst davon absehen
wollte, dass die Pat. selbst ihrer Liebesaifäre keinerlei Bedeutung bei-
mass, so fehlten doch alle anderweitigen Zeichen von Hysterie, während
die Art der Krämpfe sowohl wie die mit ihr vergesellschaftete Bewusst-
seinsstörung ganz und gar von dem Bilde der hysterischen Krampf-
anfälle abwich.
Dagegen kam allerdings das Vorhandensein einer in einen Status
epilepticus auslaufenden Epilepsie in Frage. Für diese Auffassung
sprach der Beginn der Krämpfe mit einer seufzenden Inspiration, die
deviation conjuguee, der schnell eintretende Bewusstseinsverlust und
die sonst beobachteten psychischen Störungen. Dagegen sprach die Be-
schränkung der Krämpfe auf bestimmte Gebiete, der passagere Charakter
der Bewusstseinsstörung, die Paresen und der foudroyante Verlauf bei
fehlender Temperatursteigerung.
Allerdings ist der Begriff der functionellen Epilepsie ein sehr vager,
so dass es btekanntlich nicht an Autoren fehlt, welche einen organischen,
wenn auch häufig nicht nachweisbaren Rindenherd bei jeder Art von
Epilepsie voraussetzen. Im concreten Falle hat weder die Operation,
noch die Section eine Aufklärung nach dieser Richtung hin gebracht.
Die colossale Hyperämie, die wir bei der Operation fanden, konnte so-
wohl die Ursache, als — was wahrscheinlicher ist — eine Begleit-
erscheinung der Krämpfe sein. Die locale Verwachsung der Pia mit
der Hirnrinde war bei einem so jugendlichen Individuum höchst auf-
fallend, um so auffallender, als die Pia sich sonst sehr leicht von der
Hirnrinde ablöste. Ob hier ein Krankheitsherd, von dem aus die
Krämpfe ihren Ursprung nahmen, vorlag, hat auch die vorläufige mikro-
— 309 —
skopische Untersuchung, die nichts AI)i\ormes ergab, nicht entschieden.
Somit lässt sich über den Fall auch gegenwärtig wenig mehr sagen,
als das, was ich vorher anlässlich der klinischen Demonstration gesagt
hatte. Die angeführten, das eigenthümliche Krankheitsbild charakteri-
sirenden Symptome scheinen mir aber nicht ohne diagnostisches Inter-
esse zu sein.
Wie dem auch sein mag, ich bin auch jetzt noch der Ansicht, dass
der chirurgische Eingriff in diesem Falle gerechtfertigt war. Bevor wir
zur Operation schritten, machten sich die ersten Zeichen eines heran-
nahenden Lungenödems schon derart bemerklich, dass Herr College
von Bramann die Frage aufwarf, ob die Kranke die Trepanation
überhaupt überstehen würde. An dieser ist sie dann auch sicherlich
nicht gestorben, sondern an ihrem Grundleideu. Andererseits bestand
immei'hin eine Möglichkeit, die Kranke durch die Trepanation zu retten;
imd diese, wenn auch schwache Hoffnung rechtfertigte nicht nur die
Operation, sondern sie nöthigte zu ihr. Aber allerdings war es von
Wichtigkeit und wird es in allen solchen Fällen bleiben, dass diese
Gesichtspunkte in voller Klarheit und Nüchternheit schon vor der Ope-
ration vom Katheder und — soweit erforderlich — vor den Angehörigen
entwickelt werden können. —
Wenn auch in diesem Falle die Operation mit dem letalen Aus-
gange offenbar nichts zu thun hatte, so liegt die Sache in dem Falle 1
ganz anders: hier ist der Kranke infolge der Operation gestorben.
Wenn wir uns aber nach den Gründen für diesen fatalen Ausgang um-
sehen, so finden wir nicht die gewöhnlich angeführten. Ungeachtet
mancher Schwierigkeiten hatte die Operation weder ungewönlich lange
gedauert, noch war der Blutverlust besonders gross gewesen, noch hatte
der Kranke besonders viel Chloroform erhalten. Ebensowenig war der
Herd etwa sehr gross gewesen, noch waren thatsächlich aus diesem oder
einem anderen Grunde die klinischen oder anatomischen Zeichen eines
Hirnödems eingetreten. Der Puls hatte einfach schon während der Ope-
ration einen bedenklichen Charakter angenommen, und der Kranke ver-
schied unter den Zeichen der Herzlähmung. Es handelte sich hier also
sicherlich um einen Shok, und dieser konnte nach [dem soeben Ange-
führten seinen Grund nur in der Constitution des Kranken haben. Ich
sehe ihn in dem geständlich seit 28 Jahren betriebenen Alkoholmiss-
brauch.
Es kann fraglich erscheinen, ob dieses Moment nicht in zukünf-
tigen Fällen — abgesehen von seiner prognostischen Seite — auch
therapeutisch durch Verabreichung einer Dosis Alkohol, der anderer
Excitantien vor Beginn der Operation Berücksichtigung verdient. Jeden-
— 310 —
falls werden die neueren Bestrebungen der Chirurgie, die Eröffnung der
Schädelhölile in kürzester Zeit zu vollziehen, gerade diesen und ähn-
lichen Fällen ganz besonders zu gute kommen.
Schliesslich sei des Ausbleibens der motorischen Reaction auf den
faradischen Reiz im Falle I kurz gedacht. Der hier am Ende des Reiz-
versuches verwendete Strom war sehr stark, so stark, dass er beim
Hunde sicher weitverbreitete Convulsionen ausgelöst^ haben würde: hier
aber trat nicht die geringste Zuckung ein. Ich war einen Augenblick
versucht, die Erklärung in dem Vorhandensein der Cyste, welche eine
gut leitende Nebenschliessung in den Stromkreis einführte, zu suchen.
Diese Vorstellung musste aber schon deshalb fallen gelassen werden,
weil die Reizung mit dem gleichen negativen Erfolge weit über die
Grenzen der Cyste hinaus ausgedehnt worden war. Aller Wahrschein-
lichkeit lag der Grund also in der Einwirkung des Chloroforms auf
die Hirnrinde. Möglicherweise wäre ein Reizeffect noch eingetreten,
wenn man den Kranken noch weiter hätte erwachen lassen; dies er-
schien aber wenig indicirt.
Meine Erfahrungen über die Reaction der menschlichen Hirnrinde
auf den faradischen Strom sind zu gering, als dass ich hier ein be-
stimmtes ürtheil äussern möchte. Wenn man jedoch den abnormen
Verlauf der Chloroformnarkosen bei Potatoren berücksichtigt, so er-
scheint eine solche abnorme elektrische Reaction wohl verständlich,
und vielleicht dürften die gleichen hier anzunehmenden Veränderungen
der Rindenelemente auch den Collaps, der dem sonst nicht weiter be-
gründeten Exitus zu Grunde lag, herbeigeführt haben.
XVI. Ein Kinesiästliesiometer nebst einigen Bemerkungen über
den Mnskelsinu.
Zur Untersucliuüg „des Muskelsiuns" bediene ich mich seit Anfang
des Jahres 1886 des im Folgenden zu beschreibenden Apparates. Auf
einem 47 cm langen und 39 cm breiten Brett von polirtem Holz, welches
auf vier kurzen Füsschen steht, sind in seichten Vertiefungen 17 Kugeln
aus dichtem Holz (Erlen) angeordnet. Der Durchmesser dieser Kugeln
beträgt ca. 7 cm; ihr Gewicht difterirt zwischen 50 und 1000 g, so
zwar, dass sechs Kugeln von 50 — 100 eine Gewichtsdifferenz von je
10 g, 5 Kugeln von 100 bis 300 eine Gewichtsdifferenz von je 50 g und
sechs Kugeln von 300 — 1000 eine Gewichtsdifferenz von je 100 g auf-
weisen. Jede Kugel besteht aus zwei Hälften, welche mit einem Falz
aufeinander geleimt und durch den Drechsler glatt abgedreht wor-
den sind, nachdem sie zuvor ausgehöhlt bezw. in der Höhlung mit
einer entsprechenden Bleifüllung versehen worden waren. Die Ge-
wichtszahl einer jeden Kugel ist auf ihr selbst mit Bleistift, neben der
ihr zukommenden seichten Vertiefung des Brettes mit weisser Oelfarbe
angegeben.
Diesen Apparat Hess ich mir seiner Zeit anfertigen, weil mir eine
handliche Vorrichtung, vermittelst deren sich die Schärfe „des Muskel-
sinns" bei Kranken mit Leichtigkeit bestimmen Messe, aus der Lite-
ratur nicht bekannt war. E. H. Weber gab bei seinen grundlegenden
Untersuchungen*) den Versuchspersonen die vier Zipfel von Tüchern in
die Hand, in denen sich die Gewichte befanden. Es verstellt sich von
selbst und wird übrigens durch die Ergebnisse Weber"s bewiesen, dass
auch dieses Verfahren an sich brauchbar ist. Ich glaube jedoch, dass
Jeder, der solche Untersuchungen an Kranken angestellt hat, eine er-
*) E. H. Weber, Der Tastsinn und das Gemeingefühl. ^Vagner's Hand-
wörterbuch. Bd. III. 2. S. 546.
— 312 —
hebliche Schwierigkeit in dem durch die Zusammenstellung der Ge-
wichte entstehenden Zeitverlust gefunden haben wird. Noch ein anderer
umstand erschwert die Anwendung jenes Verfahrens bei Kranken. Nach
der Vorschrift Web er 's soll der Beobachter das Tuch etwas festerfassen
als nöthig ist, damit es nicht aus der Hand gleite. Hierdurch wird
schon an sich insofern eine Complicatiou in den Versuch eingeführt, als
den Muskeln eine zweite, nicht in gleichem Sinne wirkende, aber für
sich abzumessende und abzuschätzende Kraftleistung zugemuthet wird,
mit der das Sensorium sich also nebenher zu beschäftigen hat. Ueber-
dies ist gerade bei den hier in Betracht kommenden Krankheitszustän-
den, mögen dieselben nun in Reiz- oder Lähmungszuständen auf dem
motorischen oder dem sensiblen Gebiet oder in Coordinationsstörungeu
bestehen, die Forderung Web er 's schwer oder nicht ausführbar. Ich
will jedoch nicht verkennen, dass es für eine Anzahl der uns interessi-
reuden Fälle wenig darauf ankommt, ob man den Kranken das Tuch in
die Hand giebt oder ob man es nach dem Vorschlage anderer Autoren
in der Art einer Schlinge um die Hand oder das Handgelenk befestigt,
dafern man nur bei Anwendung grösserer Gewichte für den Ausschluss
schmerzhaften Druckes besorgt ist. Zwar besteht die Absicht des
reinen Versuches in der Prüfung „des Muskelsinns" für sich ohne Con-
currenz des Drucksinns, während bei dem Ueberhängen des Tuches unter
allen Umständen ein mehr oder minder starker Druck auf eine be-
schränkte Hautstelle ausgeübt wird. Da jedoch die erw'ähnten Versuche
Weber 'S gelehrt haben, dass die combinirte Inanspruchnahme des
Muskelsiuus und des Drucksinns an den oberen Extremitäten keine
feinere Unterscheidung ermöglicht als die des Muskelsinns allein, wäh-
rend die Unterscheidung durch den Drucksinn allein an Feinheit der
Unterscheidung durch den Muskelsinn allein bei Weitem nachsteht, so
erscheint die erwähnte Modification der Web er 'sehen Anordnung für
practische Zwecke immer dann ausreichend, wenn nicht eine hochgra-
dige Störung „des Muskelsinns" neben relativ guter Conserviruug des
Drucksinns zu vermuthen ist. Auf derartige Combinationen muss man
sich aber, sobald überhaupt Sensibilitätsstörungen vorhanden sind, immer
gefasst machen.
Leyden*) untersuchte den Muskelsinn von Tabeskranken nach einer
anderen Methode. „Ein Becher steht auf einem ca. einen halben Fuss
hohen Stock, an dessen unterem Ende eine querovale Pelotte ange-
bracht ist. Der Stock geht durch das horizontale Brett eines Gestelles
*) Leyden, Ueber Muskelsinn und Ataxie. Virchow's Arch. Bd. XLVII.
S. 326.
— 313 —
frei beweglich hindurch, so dass der Becher auf diesem IJrette steht
und die Pelotte über dem Fussbrett des Gestelles etwa l^/g Zoll ent-
fernt bleibt. Der Fuss wird nun so hingestellt, dass die Pelotte sich
über der zwischen Zehen und Fusswurzel gelegenen Furche befindet,
und ist in dieser Stellung durch ein kleines, verschiebbares, hinter der
Hacke befindliches Brettchen so weit fixirt, dass auch die Ataktischen
eine hinreichende Sicherheit der Bewegungen gewinnen, zumal sie die-
selben noch durch Hinsehen leiten können. Wenn nun in diesem Ap-
parate die Fussspitze durch Contraction der Extensoren am Unter-
schenkel gehoben wird, so wird auch die Pelotte und mit ihr der
Becher emporgehoben, in welchen man einen anderen mit Bleikugeln
gefüllten Becher hineinstellt, dessen Gewicht mau variiren kann."
Ich besitze ein abschliessendes ürtheil über diesen Apparat nicht,
weil ich selbst keine Versuche mit demselben angestellt habe. Jeden-
falls macht er ein zeitraubendes Nachwiegen nach jeder Gewichts-
schätzung erforderlich. Ueberdies scheint es mir, dass durch denselben
der Drucksinn — wo er erhalten ist — mindestens in dem gleichen,
vielleicht noch in höherem Grade als der Muskelsinn in Anspruch ge-
nommen werden kann. Bei den Hebelbewegungen, welche der Fuss
während eines jeden Schätzungsversuches zu machen hat, dient der
Hacken als Hypomochlion. Die zu hebende Last drückt also gleich-
zeitig auf seine Hautbedeckung und auf denjenigen Theil der Haut, auf
dem die verliältuissmässig kleine Pelotte ruht. Hiernach würde für
jede einzelne Versuchsperson vorgängig zu ermitteln sein, ob dieselbe
nicht etwa im Stande ist, eine bestimmte Gewichtsdifferenz durch ent-
sprechende Belastung jener beiden Hautstellen zu erkennen. In der
That wollte ein Theil der Kranken Leyden's die Schwere des Gegen-
standes an der Stelle fühlen, wo der Fuss die Pelotte traf. Auf die
Concurrenz der Gelenkempfindungen kommen wir später zu sprechen.
Eine noch umständlichere Vorrichtung, auf deren Beschreibung ich
verzichte, hat M. Bernhardt*) für die Untersuchung der unteren Ex-
tremitäten angegeben.
Inzwischen scheint Chariten Bastian**) auf eine ähnliche Idee
wie ich selbst gekommen zu sein. „Es mag angeführt werden," sagt er,
„dass bei der Anwendung dieser Untersuchung auf die Oberextremitäten
lederne Bälle von gleicher Grösse, aber mit verschiedenen Blei-
*) M. Bernhardt, Zur Lehre vom Muskelsinn. Arch. f. Psych. Bd. III.
1872.
*''^) Chariten Bastian, The muscular sense; its nature and cortical
lo<;alisation. Brain. 1887. April. S.-A. p. 33.
— 3U —
gewichten darin benutzt werden können." Vielleicht hat die lederne
Umhüllung sogar einen Vorzug vor der von mir benutzten hölzernen,
da eine stark bescliw'erte Lederkngel, welche zu Boden fällt, nicht wie
eine gleich schwere Holzkugel zerbrechen kann. Indessen sagt
Bastian nicht, ob und in welcher Weise er diese Idee in die Wirklich-
keit übersetzt hat.
„Den Muskelsinn" der unteren Extremitäten hat man — abgesehen
von den erwähnten Methoden Leyden's und Bernhardt 's — auch
derart untersucht, dass man beschwerte Tücher oder Säcke an dem
Fussgelenk aufhing*) und das Bein alsdann aufheben liess. Diese Me-
thoden sind in der Art, wie sie angewendet Avurden, wenig zweck-
mässig, da das Receptaculum für das Gewicht rutschen oder drücken
rausste, wozu dann noch die Unbequemlichkeit der Zusammenstellung
der Gewichte kam.
Ich habe mir für diese Zwecke au den Hacken eines gewöhnlichen
Strumpfes aus starker Baumwolle eine kleine, zur Aufnahme der Kugeln
dienende Tasche mit einer seitlichen Oeffnung anstricken lassen. Die
Auswechsehmg der Kugeln bewirkt man auf diese Weise sehr leicht
und schnell, und ihr Gewichtsdruck vertheilt*;sich auf eine sehr grosse
Hautfläche. Nach Bedarf kann man den Druck auch noch durch
Zwischenschaltung von Watte vermindern.
Ich finde die Vorzüge meines Apparates in der Bequemlichkeit,
welche durch die stets bereite Combination verschiedener Gewiciits-
grössen gegeben ist, in seiner Anwendbarkeit für die obere und untere
Extremität und in seiner leichten Transportabilität. Nicht nur für die
gewöhnliche Krankenuntersuchung, sondern namentlich auch für die
klinische Demonstration machen sich diese Vorzüge in sehr bestimmter
Weise geltend. Es liegt auf der Hand, dass derartige Demonstrationen
nur dann mit Vortheil und ohne Ermüdung der Hörer ausführbar sind,
wenn sie schnell und glatt zur Anschauung gebracht werden können.
Mit den bisher beschriebenen Vorrichtungen war dies in der jetzt
leicht zu erreichenden Weise nicht möglich. —
E. H. Weber fand bekanntlich, dass Gesunde eine Gewichtsdifferenz
von 1/40 mit den oberen Extremitäten noch erkennen. Ferrier**)
konnte dagegen nur noch 1/^7 unterscheiden ■■'^*'').
*) Jaccoud, Les paraplegies et l'ataxie du mouvement. Paris 1864.
S. 672.
**) Perrier, Functions of the brain. II ed. p. 392.
***) Vgl. auch Eigenbrodt, Ueber die Diagnose der partiellen Empfin-
dungslähmungen. Vh'chow's Arch, Bd. XXHI. S. 577. Biedermann und
— 315 —
Mein Apparat reicht in der ihm von mir gegebenen Gestalt für
Untersuchungen, welche sich auf Grenzen des normalen Schätzungs-
verraögens beziehen, nicht aas, er ist aber auch nicht dafür, sondern
für die Krankenuntersuchnng berechnet. Will man „den Muskelsinn"
der oberen Extremitäten prüfen, so wird man zunächst die 100 und
90 g schweren Kugeln mit einander vergleichen lassen und dabei finden,
dass gesunde und nicht unintelligente Menschen diese Gewichtsdifferenz
von 1/lo zwar ohne besondere Schwierigkeit erkennen, dass aber dazu
doch schon eine gewisse Beobachtungsgabe und Anspannung der Auf-
merksamkeit erforderlich ist. Irrthümer über eine geringere Gewichts-
dift'erenz fallen also bereits in den Bereich der Fehlerquellen und kom-
men bei Kranken nicht in Betracht. Die Differenz von i/^q als Minimum
reicht deshalb sogar für die obere Extremität, dafern es sich nur um
klinische Zwecke handelt, vollkommen aus. Wenn Jemand dennoch
das Bedürfniss hat, noch feinere Unterschiede festzustellen, so ist auf
dem Brett des Apparates noch Platz für 3 — 4 Kugeln mit Zwischen-
gewichten gelassen. Die Differenz von ^/lo kehrt nach oben in den
Kugeln von 900 und 1000 g Schwere nochmals wieder. Die Prüfung
wird dann — wenn also 100 von 90 nicht unterschieden werden kann
— derart fortgesetzt, dass 100 mit 80, 70, 60, 50 und dann 150 mit
90, 80, 70, 60, 50 etc. verglichen werden.
Ueber die Fähigkeit, Gewichtsdifferenzen mit den unteren Ex-
tremitäten zu schätzen, finde ich Angaben bei Jaccoud, Leyden
und Bernhardt. Jaccoud giebt nur an, dass die Gewichtsdifferenz
50 — 70 g betragen müsse, wenn sie wahrgenommen werden solle. Ueber
die Grösse des Anfangsgewichts sagt er nichts. Bei Leyden unter-
schieden Gesunde noch die Hinzufügung von ca. 83 zu ca. 1100 bezw.
zu 1700 g, d. h. ca. Vis ^"T^d '/20- ^ine dritte Versuchsperson unter-
schied sogar noch etwas schärfer. Bernhardt selbst unterschied ca.
50 g von 0 und 583 g von 500, also etwa Ve- Dagegen vermochte er
500 von 550 g, d. h. W^, nicht zu unterscheiden. Ein von ihm unter-
suchter Arzt unterschied 0 von 83 und 250 von 330, also nur etwa Vi-
Loewit, welche unter der Leitaug von E. Hering arbeiteten, fanden den eben
merklichen Unterschied = ^/^^ bei 250 und bei Zunahme der Belastung all-
mählich kleiner werdend bis= Yii4 b^i 2500 g. Bei noch stärkerer Belastung
nahm die Unterschiedsempfindlichkeit wieder ab. Sie konnten also die Hinzu-
fügung von 22g zu 2500g noch erkennen. Ich darf von diesen und ebenso von
Fechner's Resultaten hier imUebrIgen absehen, da diese Feinheit des Unter-
scheidungsvermögens doch wohl nur von Personen, die durch psycho-physische
Untersuchungen geschult sind, erworben werden kann. Um solche handelt es
sich aber bei der klinischen Untersuchuno: nicht.
— 316 —
Im Allgemeinen fand er, dass 83 von 0 und 750 von 830, also Vio?
noch richtig unterschieden werden konnten. Hiernach schätzten die
Versuchspersonen Leyden"s im Allgemeinen mindestens doppelt so fein
als die Bernhardt's.
Ich habe schon vorher die Yermuthung ausgesprochen, dass der
Apparat Leyden's den Drucksinn mit in Anspruch nimmt. Soweit
meine eigenen Erfahrungen reichen, ist es nun ungeschulten Personen
nicht möglich, durch den ,.Muskelsinn" allein 1/20 zu unterscheiden,
während i/^o sich wohl noch schätzen lässt. Demnach dürften die
weiter gehenden Ergebnisse von Leyden durch die gleichzeitige Be-
thätigung mehrerer Empfindungsquellen zu erklären sein. Zwar erscheint
diese Auffassung auf den ersten Blick nicht vereinbar mit den erwähnten
Versuchen Web er 's. Indessen beziehen sich diese Versuche nur auf
die Verhältnisse der oberen Extremität. In der That kommt die Fähig-
keit, Gewichtsdifferenzen zu erkennen, den unteren Extremitäten in
einem viel geringeren Maasse zu, als den oberen Extremitäten, so dass
hier die Rolle des Drucksinns mehr iu's Gewicht fällt.
Will man Fehler bei diesen Untersuchungen vermeiden, so muss
man der in horizontaler Lage befindlichen Versuchsperson aufgeben,
das mit dem Versuchsstrumpf bekleidete Bein einfach zu erheben und
dasselbe alsdann wieder herunterzulassen. Bei dem letzteren Act fängt
der Untersucheode die Tasche mit der darin befindlichen Kugel ab, so
dass die Versuchsperson lediglich den Act der Erhebung zu beurtheilen
hat. Eigentlich sollte es sich von selbst verstehen, dass Wägebe-
wegungen — abwechselndes Heben und Senken der Gewichte — ver-
mieden werden müssen. Denn durch die verschiedene Grösse der Fall-
geschwindigkeit, welche dem zu schätzenden Gewichte auf diese Weise
mitgetheilt werden kann, wird der Werth desselben in uncontrolirbarer
Weise verändert. Gleichwohl empfehlen verschiedene Autoren gerade
diese Art der Untersuchung.
Ich selbst kann mich einer besonderen Feinheit des Muskelsinns
an den unteren Extremitäten nicht rühmen. Ich unterscheide 0 von
100 g sicher, aber wenn es nur 90 g sind, so irre ich mich schon.
Dagegen unterscheide ich 200 von 250, 250 von 300 und Gewichts-
differenzen von 100 bis hinauf zu einer Belastung von 1000 g stets
richtig, [m Allgemeinen w^erden 70 — 90 g von 0 noch unterschieden.
60 g dagegen in der Regel nicht mehr. Nachher gelingt die Unter-
scheidung von 100 und 150 sowie von 50 und 100 manchmal, sie ist
aber entschieden unsicherer als die Unterscheidung von 200 von 250,
bei der Irrthümer kaum vorkommen. Bei der Vergleichung von 900
und 1000 g irren sich Einzelne schon wieder. Die Schätzung gelingt
— 317 —
allemal dann besser, wenn erst das leichtere und dann das schwerere
Gewicht gehoben wird. Anderenfalls werden die Gewichte sehr oft als
gleich bezeichnet.
Der Apparat reicht also für die Untersuchung der unteren Ex-
tremitäten sogar von Gesunden, dafern diese nicht besonders befähigt
sind, vollkommen aus. Man wird zunächst die untere Grenze, bei der
eine Belastung überhaupt wahrgenommen v^ird, bestimmen. Liegt diese
zwischen 100 und 150, so thut man 2 der leichteren Kugeln in die
Tasche. In ähnlicher Weise kann man sich helfen, wenn bei den
schwereren Gewichten ein solches von gewünschter Grösse fehlen sollte.
Indessen dürfte dies wohl nur selten der Fall sein.
Schliesslich entsteht die Frage, welche Apperceptionen es denn
nmi eigentlich sind, deren Schärfe durch den Apparat ziffermässig be-
stimmt werden soll, uud welche ich bisher mit dem Namen „Muskel-
sinn" bezeichnet habe. Ich kann diese Frage nicht ganz umgehen,
erstens weil ich Missverständnisse zu vermeiden wünsche, und zweitens,
Aveil der Name des Apparats durch die Anschauungen, welche mit seiner
Benutzung verknüpft sind, bedingt wird. Indessen möchte ich doch be-
merken, dass meine Ansprüche sich auf eine erschöpfende Besprechung
der „Muskelsinnfrage" nicht erstrecken. Wer sich dafür interessirt,
findet reichliches Material in der oben citirten Abhandlung von Charlton
Bastian und in der anschliessenden Discussion der Neurological Society
ot London und an anderen Orten*).
Die Leistungen unseres Bewegungsapparates gelangen uns in normalen
Verhältnissen zum Bewusstsein — abgesehen vom Gesichtssinn — durch
die Wahrnehmung der Einzelleistungen der Muskeln und ihrer Adnexe,
sowie durch differente Empfindungen seitens der Haut und der Gelenke-
Weichen Antheil ich jenen einzelnen Factoren an dem Zustandekommen
der Bewegungsbilder zuschreibe, das habe ich schon vor langer Zeit
wiederholt in unzweideutiger Weise ausgesprochen, und ich finde auch
heute nichts daran zu ändern. Ich sagte z. B. — „und gleicherweise
ist es klar, dass diese ßewegungsbilder vorwiegend auf die Perception
der Muskelzustände, weniger also auf Gelenke, Haut u. dgl. zurück-
zuführen sind etc."**). Es scheint mir hieraus so unzweideutig als
*) Pechner, Psychophysik. L S. 93 ff. und 8. 182 ff. — Hering,
Ueber Fe ebner 's psychophysisches Gesetz. Sitzungsber. d. K. Akad. d.
Wissenscb. LXXII. 1875. — Funke, Hermann's Handbuch der Physiol.
Bd. 111. 2. — Wundt, Physiol. Psychol. 2. Aufl. Bd. L S. 397 ff. —
Jastrowitz, Beiträge zur Localisation im Grosshirn. Dtsch. med. Wochen-
schrift. 1888. No. 5 ff. etc.
**) Siehe oben S. 61.
— 318 —
möglich hervorzugehen, dass ich zwar dem „Muskelsinn" s. strict. eine
besonders hervorragende Rolle bei der Bildung der Bewegungsvor-
stellungeu zuerkannte, aber keineswegs der unbestimmten Auffassung
(lax view) gewesen bin, welche Gharlton Bastian*) mir zu Unrecht
vorwirft, und welche „Haut-Gelenkempfindungen u. s. w. in den Begriff
Muskelsinn einschliesst".
Man hat nun die Frage aufgeworfen, ob mit den bei jeder Be-
wegung abgegebenen Willensimpulseu eine Wahrnehmung der Grösse
dieser Impulse unabhängig von den centripetal anlangenden Empfin-
dungen ihrer peripherischen Wirkungen verbunden sei oder nicht, mit
anderen Worten, ob dem Sensorium ein unabhängig von äusseren Sinnes-
empfindungen bestehender „Kraftsinn" zukomme.
Ich habe an sich gegen die Annahme eines Kraftsinnes nichts ein-
zuwenden, ja ich sehe sogar nicht, wie der regelmässige Ablauf unserer
willkürlichen Bewegungen ohne diese Annahme erklärt werden kann.
Jede mehr oder minder complicirte Willkürbewegung setzt sich zusam-
men aus den Einzelwirkungen überaus zahlreicher, den einzelnen Mus-
keln und Theiieu von Muskeln zukommenden Zugkräfte. Diese Kräfte
bleiben aber während eines und desselben Bewegungsactes weder ab-
solut noch in ihrem gegenseitigen Verhältniss zu einander constant,
sondern sie erfahren während jeder einzelnen Phase desselben zahlreiche,
durch die Verwirklichung der Bewegungsintention bedingte Verände-
rungen. Da nun die Letztere eine Function des Bewusstseins ist, und
*) Bastian, a. a. 0. S. 76. Meines Erachtens hätte ich vor derartigen
Missverständnissen gesichert sein sollen. Nachdem ich in der mit Herrn
Fritsch publicirten Abhandlung in ganz hypothetischer Form von einer cere-
bralen Endstation — einem Centrum für „den Muskelsinn" gesprochen hatte,
bemerkte ich an der von Ch. Bastian citirten Stelle gegenüber einem Ein-
wände Nothnagel's: „Und dennoch bedauere ich noch, damals das Wort
Muskelsinn gebraucht zu haben, insofern dasselbe von jeher zu allerlei Miss-
verständnissen Veranlassung gegeben hat"; später habe ich mich denn auch
bei der Erörterung der durch Hirnverletzungen hervorgebrachten Störungen
des Ausdrucks „Muskelbewusstsein" bedient. Ich habe dann sehr genau, wenn
auch in der mir passend scheinenden Kürze auseinandergesetzt, wie ich mir die
fraglichen Vorgänge denke, und freue mich zu sehen, dass Bastian hierin mit
mir einer Ansicht ist.
Wenn ich nun in deni vorliegenden Aufsatze, welcher sich mit der ex-
perimentellen Pathologie des Gehirns nicht beschäftigt, gleichwohl zunächst
schlechthin von „Muskelsinn" spreche, so schliesse ich mich damit lediglich
dem bei diesem Thema allgemein angenommenen Sprachgebrauch an. Auch
hier wird man aber die Erläuterung dessen, was ich darunter verstanden wissen
will, nicht vermissen.
— 319 —
da ihre Verwirklichung von einem Zuwuchs oder umgekehrt einer Ab-
minderung der von diesem abzugebenden Impulse iibhäugig ist, so ver-
steht es sich von selbst, dass das Bewusstsein irgend eine Kenntniss
sowohl von den peripherischen Wirkungen der von ihm aufgewendeten
Kraft, als auch von dem Maasse dieser Kraft selbst besitzen miiss: ja
diese Kenntniss kann nicht nur etwa die aufgewendete Kraft im Allge-
meinen betreffen, sondern sie muss sich noth wendig wieder aus der
Kenntniss von den Einzelkräften zusammensetzen, welche für jeden ein-
zelnen Factor des arbeitenden Theiles des Muskelsystems verwendet
worden sind.
Wenn nun unsere eigenen Wahrnehmungen von diesen inneren Vor-
gängen nicht die Schwelle des klaren Bewusstseins überschreiten, so
dass deren Existenz oder Nichtexistenz überhaupt Gegenstand der Dis-
cussion sein kann, so ist dies auf ein allgemein gültiges Gesetz zurück-
zuführen.
„Wir vermögen ganz allgemein die Zustände der einzelnen Organe
nur insoweit — von Innen heraus — zu erkennen, als es für die Be-
nutzung derselben zur Erhaltung des gleichmässigen Flusses der von
ihnen abhängigen Reihe von Lebenserscheinungen erforderlich und aus-
reichend ist."*)
Hiernach ist also die Existenz eines „Kraftsiuns" insoweit zuzuge-
stehen, als derselbe einen von den für den Ablauf normaler Bewegungen
unentbehrlichen Factoren bildet. Daraus kann aber noch nicht ohne
Weiteres gefolgert werden, dass solche Empfindungen (Sinnesempfindun-
gen des Kraftsinns) auch gänzlich unabhängig von den anderen in Be-
tracht kommenden Factoren gebildet werden. Man kann sich vielmehr
sehr wohl vorstellen, dass sie nur unter dem Einflüsse von bestimmten
centripetalen Reizen zu Stande, bei gänzlichem Fortfall der Letzteren
aber gleichfalls in Fortfall kommen. In dem erstangenommenen Falle
würden also centripetal anlangende Empfindungen zur Bildung von Asso-
ciationen — d. h. zur Miterregung anderer centraler Empfindungsappa-
rate — verwandt werden, welche in ihrer noch centripetal gerichteten
Hälfte sich mit dem centrifugalen Willensimpulse zu einer in verschie-
dener Weise nuancirten Vorstellung vereinigen. Dass dieser als möglich
vorausgesetzte Vorgang grössteutheils unter der Schwelle des Bewusst-
seins verliefe, könnte aus dem vorangeführten Grunde nicht weiter über-
raschen.
In dem anderen Falle würde die Associationsreihe aber gar nicht
erst in Fluss gerathen, weil das hierfür wesentliche Anfangsglied fehlt.
*) Siehe oben S. 61.
— 320 —
Lediglich intercentrale (der vielfach gebrauchte Ausdruck „centrifugal"
passt hier nicht) Empfindungen des Kraftsinns würden unter dieser Vor-
aussetzung nicht existiren.
Ich weiss nicht, ob es sich so verhält, und ich will nichts Derarti-
ges behaupten. Ich sehe aber auch nicht, dass das Gegeutheil erwiesen
ist; vielmehr scheint mir dasjenige, was wir von unzweideutigen Be-
weisen besitzen, eher gegen die Existenz eines von der Apperception
der Bewegungen unabhängigen Kraftsinns zu sprechen.
Natürlich wird die Schätzung der für eine bestimmte Bewegung
aufgewendeten Kraft durch jede pathologische Veränderung der hier
mitwirkenden Apparate beeinflusst. Zwei in der Kürze anzuführende
Beispiele mögen diese Thatsache etwas näher erläutern.
I. Einem 16jährigen Handlanger war am 6. Januar 1886 ein Mauerstein
aus beträchtlicher Höhe auf die linke Scheitelhöhe dicht neben der Mittellinie
gefallen. Er trug eine Depression des Scheitelbeins und eine Parese beider
rechten Extremitäten, welche in der unteren Extremität stärker war, nebst einer
Steigerung der Sehnenreflexe davon. Das Gebiet des Facialis etc. war frei ge-
blieben. Als er am 26. Januar 1886 zur Beobachtung kam, waren sämmtliche
Bewegungen der oberen Extremität ausführbar, die grobe Kraft derselben massig
herabgesetzt, feinere Fingerbewegungen wurden langsamer und ungeschickter
ausgeführt, Contracturen bestanden nicht, das Lagegefühl war erhalten. Der
Kranke schätzte aber Gewichte mit dieser Extremität zu schwer.
Gab man ihm gleichzeitig in jede Hand eine Kugel, die leichtere in die rechte
Hand, so schienen ihm 50 g theils schwerer als 100 g, theils gleich schwer,
150 g schwerer als 200 g etc. Bei den höheren Gewichten hielt er vielfach
ziemlich weit auseinander liegende Gewichte für gleich schwer. Gab man ihm
jedoch die Kugeln nach einander in die gleiche rechte Hand, so schätzte
er richtig. Uebrigens erlahmte die Aufmerksamkeit verhältnissmässig schnell.
Ein ähnliches, jedoch nicht weiter verfolgtes Verhalten wurde an der unteren
Extremität constatirt.
Li diesem Falle waren offenbar die corticalen Centren für die mo-
torische Lniervation der rechten Extremitäten verletzt und dadurch in
ihrer Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Somit wurde durch die Leistung
der gleichen Arbeit die Aufwendung einer grösseren Summe von Willens-
impulsen bedingt, welche Differenz nun nach dem Gesetz der excentri-
sclien Empfindung als Vorstellung der Hebung einer grösseren Last in
die Peripherie verlegt wurde.
Genau dem Widerspiel dieser Escheinung begegnen wir in dem fol-
genden Falle.
n. Ein 33 jähriger Arbeiter war am 28. Mai 1887 so von einem 4— 5Fuss
hohen Gerüste gestürzt, dass er bei gestrecktem Arm auf die Fläche der linken
hyperextendirten Hand fiel. Er klagte von der Zeit an über eine Combination
— 321 —
von motorischen und sensiblen Lähmungs- und Reizerscheinungen in dieser
Extremität. In diesseitige Behandlung trat er am 8. October ej. Zu der Zeit
als die fraglichen Untersuchungen ausgeführt wurden, hatte er eine nicht auf
bestimmte Nervenstärame begrenzte motorische und sensible Parese des linken
Vorderarms und der Hand, gleichzeitig aber Krämpfe und Parästhesien in
dieser Extremität. Paretisch waren die Extensoren der Handwurzel, der Flexor
digitt. prof. und die den kleinen Finger bewegenden Muskeln an der Hand.
In den letzteren war die Parese am stärksten, derart, dass der 5. Finger nicht
opponirt und dem 4. Finger nicht genähert werden konnte, in den übrigen
Muskeln war sie nur angedeutet. Die elektrische extramusculäre Erregbarkeit
erwies sich annähernd normal, die intramusculäre dagegen an der ganzen Ex-
tremität eher etwas gesteigert. Die sensible Parese betraf nur den Tastsinn,
während die Temperatur- und Schmerzempfindung keine Veränderungen er-
kennen Hessen. Die Störung erstreckte sich auf die ganze Vola, einen Theil
der Phalangen, sowie Streifen und Flecken innerhalb verschiedener Nerven-
gebiete des Vorderarms. Ganz genaue Grenzen Hessen sich nicht feststellen,
da der Kranke durch excentrische Empfindungen beirrt wurde. Er war jedoch
z. B. gänzlich ausser Stande, ein Geldstück, eine Uhr, einen Schlüssel etc.
durch Betasten zu erkennen, und gab an, einmal in der Nacht dadurch heftig
erschreckt worden zu sein, dass er seine linke Hand mit der rechten Hand wie
eine fremde Hand in seinem Bette fühlte. Gegeneinanderstossen der Phalan-
gealgelenke nahm er nicht wahr, wohl aber Ziehen an denselben. Die Empfin-
dung für nicht schmerzhaften Druck fehlte an den Fingern gänzlich, während
er schon kleine Differenzen eines schmerzhaften Druckes wohl erkannte. Die
Contractionsempfindung bei elektrischer Reizung der Muskeln war zwar erhal-
ten, aber deutlich schwächer als rechts. An den oberen Extremitäten war eine
Veränderung der Reflexe nicht wahrzunehmen, dagegen erschienen die Patel-
larreflexe ausserordentlich gesteigert. Symptome von Seiten der Hirnnerven,
welche auf die gegenwärtige Krankheit bezogen werden konnten , fehlten.
Ausserdem litt der Kranke an klonischen Krämpfen, durch welche in der Regel
nur abwechselnd rhythmische Adductions- und Abductionsbewegungen im
linken Handgelenk, und zwar ca.löOmal in der Minute hervorgebracht wurden,
und an denen sich sowohl die Beuger als die Strecker betheiligten. Liess man
den Kranken jedoch bei horizontal gesrecktem Arm die Vola manus nach oben
drehen, so traten — vornehmlich bei geschlossenen Augen — mehr tonische
Krämpfe auch im Biceps und in anderen Muskeln des Vorderarms und der
Hand auf, so dass pronatorische Flexions-Bewegungen des Vorderarms und
Oppositionsbewegungen des Daumens entstanden. Die ersterwähnten rhyth-
mischen Krämpfe cessirten während dessen ganz oder fast ganz. Im Uebri-
gen traten die Krämpfe zurück, sobald die Aufmerksamkeit des Kranken
nicht in irgend einer Weise auf seinen Arm gelenkt wurde, und bei Ausführung
anderer Bewegungen z. B. beim Händedruck.
Dieser Kranke schätzte nun dann, wenn man ihm gleich-
zeitig eine Kugel in jede Hand gab, die linke Kugel stets zu
Hitzig, Gesammelte Abhandl. I. Theil. 21
— 322 —
leicht, und zwar war der Irrthum grösser bei Schluss der Augen, folge-
recht bei Verstärkung der Intensität und Extensität der Krämpfe. In
diesem Falle schienen ihm mit der rechten Hand gefasste Kugeln nicht
nur dann schwerer, wenn es sich um die kleineren Gewichte zwischen
50 und 100 handelte, sondern er hielt sogar noch 250 g für schwerer
als 800 g. Andererseits schätzte er mit der rechten Hand allein ganz
richtig, mit der linken Hand allein so, dass er z. B. 60 und 80 g
nicht, aber doch 800 von 700 g und 250 von 300 g richtig unterschei-
den körnte. Die Unsicherheit war in diesem Falle also nur gering.
' In demselben Sinne war das Lagegefühl verändert. Sollte der
Kranke nämlich mit dem linken Arm eine dem rechten Arm gegebene
Stellung reproduciren, so erfolgte stets eine zu ausgiebige Bewegung.
Man kann über die Diagnose dieses Falles im Zweifel sein.*) Im
Uebrigen glaube ich, dass es sich um eine Neurose handelte. Jeden-
falls lässt sich aus dem Verhalten der Krämpfe auf eine Betheiligung
der grauen Substanz schliessen. . Für unsere gegenwärtige Erörterung
ist nur dies und die Folgerung von Interesse, dass die gleiche und
sogar eine um Vieles grössere Arbeitsleistung dem Sensorium deshalb
um Vieles geringer erschien, weil ein adäquater Theil der geleisteten
Arbeit nicht von Willensimpulsen, sondern von einem innerhalb der
centralen motorischen Bahn wirksam werdenden Reizzustande herzu-
leiten war.**)
Indessen scheinen mir diese beiden oder ähnliche Fälle für die Ent-
scheidung der aufgeworfenen Frage nichts beizutragen. Denn wenn
durch dieselben auch bewiesen wird, dass die geleistete Arbeit jedesmal
dann unrichtig geschätzt wird, wenn das Maass der erforderlichen Im-
pulse durch einen der Erfahrung des Sensorium fremden Factor eine
positive oder negative Veränderung erleidet, so wird die peripherische
Arbeitsleistung doch in jedem dieser Fälle appercipirt und damit die
Associatiousreihe, welche zu der erforderlichen Urtlieils(Schluss)bildung
führt, in Fluss gebracht.
Aus ähnlichen Gründen lässt sich auch mit den Erfahrungen
* M.Bernhardt, Ueber einenPall vonHirnrindenataxie (Deutsche med.
Wochenschr. 1887. S.52), beschreibt einen sehr ähnlichen Fall. S, a. Jastro-
witz a. a. 0. Fall VI und A^I.
**) Diese Annahme ist nur zum Theil richtig. Ein Theil des Irrthums
ist zweifellos aus der Abstumpfung des Muskel- und Gelenkgefühls derart her-
zuleiten, dass das Sensorium geringwerthigere Reize von diesen Theilen her
empfing. Im Text ist hiervon abgesehen, um die Auseinandersetzung nicht un-
nöthig zu verwickeln. Der Einfluss der Krämpfe geht andererseits daraus her-
vor, dass die Grösse des Irrthums von ihrer Intensität abhängig war.
- 323 —
welche über die in den oberen nnd unteren Extremitäten verschiedene
Feinheit des Muskelsinns gesammelt sind, nichts anfangen. Die That-
saclie selbst ist wohl hinreichend festgestellt. Denn wenn auch die
durch die oben angeführten Untersuchungen gefundenen Verhältniss-
zahlen für die unteren Extremitäten zwischen 1/4 und 720 schwanken,
so ist doch der der grössten Feinheit des Onterscheidungsvermögens der-
selben entsprechende M'^erth von 1/20 — welcher zudem kaum richtig
sein dürfte — immer nur halb so gross, wie der von Weber für die
oberen Extremitäten gefundene Werth. Wahrscheinlich verhält sich das
relative ünterscheidungsvermögen wie 1 : 4 — 5.
Man könnte folgenden Schluss ziehen wollen. Wenn mit den oberen
Extremitäten die Hinzufügung von 1 g zu einer Belastung von 39 g
richtig, dagegen mit den unteren Extremitäten die Hinzufügung von 60
bis 80 g zu einer Belastung von 0 g nicht richtig erkannt wird, so ist
■dies mit der Annahme eines Kraftsinnes nicht vereinbar; denn ein solcher
Sinn müsste in jedem von beiden Fällen die aufgewendete Kraft gleich-
massig fein beurtheilen können. Dieser Schluss wäre aber deshalb un-
zulässig, weil er der Gewichtsdifferenz zwischen der oberen und der
unteren Extremität keine Rechnung trägt. Es versteht sich, dass das
Sensorium in demjenigen corticalen Centrum, welches stets die Bewegung
einer grösseren Last — also der unteren Extremität — zu versehen
hat, eine höhere Schwelle für den Werth der Belastung besitzt. Einen
Kraftsinn in der supponirten Bedeutung könnte es also geben, und dennoch
würde dieser nicht befähigt sein, das Mehr der Impulse zu appercipiren,
welches durch einen Zuwachs der Belastung von 1 g oder 80 g gleich-
viel zu der Eigenschwere des Beines bedingt wird.
Dagegen scheinen gerade solche Beobachtungen, welche nach der
Ansicht einiger Autoren für die Existenz eines unabhängigen Kraftsinns
•sprechen sollen, dagegen zu sprechen. Ich meine die Beobachtungen
über die Bewegungsempfindungen der Tabischen. Diese Krankheitsfälle
sind um deswillen von ganz besonderem Interesse, weil bei ihnen die
üebermittelung centripetaler Reize ganz oder fast ganz ausgeschlossen
sein kann, so dass dann die Existenz und die Eigenschaften eines inter-
centralen Kraftsinns appercipirbar werden müssteu.
Leyden fand bekanntlich,*) dass Tabiker, welche die stärksten
faradischen Muskelcontractionen an den unteren B>xtremitäten nicht
empfanden und ausserdem daselbst an einer bedeutenden allgemeinen
Anästhesie litten, die Schwere verschiedener Gewichte (nach der vor-
beschriebenen Methode) „mit derselben Schärfe unterschieden wie Ge-
*) Leyden, a. a. 0. 8. 329.
21*
— 324 —
sunde". Indessen gelang ihnen das nur dann, wenn das zu schätzende
Gewicht eine gewisse Schwere besass, sonst wurde das Gewicht über-
haupt nicht wahrgenommen. Leyden schliesst hieraus, „dass die
Schätzung nicht (mehr) Function der sensiblen Nerven, sondern des Sen-
sorium ist, — — dass diese Fähigkeit so lange normal ist, als die
psychischen Vorgänge dieser Art normal sind". „Die Grenze aber, wo
das Gefühl der Schwere entstand, war erheblich heraufgerückt, wenn
eine erhebliche Abschwächung der Muskelsensibilität wie der Sensibilität
überhaupt bestand." Zunächst kommt der von Leyden mitgetheilten
Thatsache eine allgemeine Gültigkeit nicht zu. Schon Jaccoud*)
hatte abweichende Erfahrungen gemacht. Leyden hat zwar die Grenze
nicht angegeben, jenseits deren das Gefühl der Schwere entstand; man
kann jedoch aus seinen Versuchen entnehmen, dass dieselbe nicht höher
als 1000 — 1500 g gelegen hat. Lassen wir also von den sechs an Tabes
leidenden Versuchspersonen Jaccoud 's zunächst diejenigen fünf bei
Seite, welche mit leichteren Gewichten untersucht wurden oder welche
geringere Differenzen unterschieden, so bleibt doch immer noch ein
Kranker, welcher erst eine Differenz von cc. 3000 g unterschied. Auch
Bernhardt**) untersuchte Tabische, welche 1000, selbst 1500 g von
500 g nicht unterschieden.
Ich selbst beobachte seit dem Juni 1886 einen Kranken, der in
dieser Beziehung und sonst von Interesse ist.
III. Der Schreiber E., ein intelligenter Mann, nicht syphilitisch, angeb-
lich in Folge von Erkältung erkrankt, ist in Folge doppelseitiger glaucomatöser
Opticusatrophie total blind. Die ersten Erscheinungen von Tabes traten im
Jahre 1881 mit lancinirenden Schmerzen in den unteren Extremitäten und
Biasenbeschwerden auf. Gegenwärtig besteht eine ausserordentlich hochgradige
Ataxie. Wenn der Kranke sitzend oder liegend sich zum Gehen anschickt, so
wirft er die Beine durcheinander, als wenn er damit trommeln wollte. Ist er
damit jedoch erst auf den Fassboden gelangt und in Gang gekommen, so ver-
mag er an der Hand eines Führers grosse Wege zurückzulegen. Das Lage-
gefühl in den unteren Extremitäten fehlt gänzlich. Die stärksten faradischen
Muskelcontractionen rufen daselbst nicht die geringste Contractionsempfindung
hervor. Die Hautsensibilität ist hochgradig gestört, am besten ist noch der
Temperatursinn erhalten, ausserdem werden stellenweise starke, auf die Haut
localisirte Inductionsströme mit einer Verlangsamung als Schmerz empfunden.
Dieser Kranke vermag nun 0 von 1900 g auch dann nicht
zu unterscheiden, wenn die Schätzung bei gestrecktem Bein
durch Beugung im Hüftgelenk vorgenommen wird.
*) Jaccoud, a. a. 0. S. 675.
**) Bernhardt, a. a. 0. S. 631.
— 325 —
In allen diesen Fällen war also von einem mit Schärfe fungiren-
den Kraftsinn nichts zu merken. Indessen sprechen auch die anderen-
bei Weitem zahlreicheren Fälle, in denen das Gefühl der Schwere be-
reits bei einer viel geringeren Belastung entstand, durchaus in gleichem
Sinne. Es ergiebt sich nämlich aus diesen — mid meine eigenen Be-
obachtungen stimmen damit überein — , dass die Fähigkeit, Gewichte
richtig abzuschätzen, in gleichem Maasse mit den sensiblen Eigenschaften
der Extremitäten abnimmt, ohne dass der „Kraftsinn" etwas daran zu
ändern vermöchte. Diese Fähigkeit erweist sich damit als abhängig
von centripetalen Reizen und als unabhängig von selbst-
ständigen intercentralen Vorgängen.
Wäre die in Rede stehende, von Leyden gemachte Erfahrung aber
auch allgemein gültig, was sie nicht ist, so könnte daraus unter keinen
Umständen der von ihm gezogene Schluss hergeleitet werden. Wenn
Leyden nämlich sagt: „Nunmehr ist aber diese Thatsache leicht ver-
ständlich, denn die Schätzung ist nicht mehr Function der sensiblen
Nerven, sondern des Sensorium," so kann dieser Satz nur so verstanden
werden, dass die Schätzung in den fraglichen Fällen ohne Mitwirkung
der sensibeln Nerven ausschliesslich Function des Sensorium sei;
denn dass bei jeder Schätzung eine Mitwirkung des Sensorium statt-
findet, versteht sich von selbst.
Hiernach würde sich die Sachlage für einen concreten Fall fol-
gendermaassen gestalten. Ein Tabiker nimmt ein Gewicht von 900 g
ungeachtet seines intercentralen Kraftsinns überhaupt nicht wahr, son-
dern hat das Gefühl der Schwere erst bei 1000 g. Fügt man dagegen
zu diesem Gewicht von 1000 g 1/20, also 50 g hinzu, ein Mehr, welches
von Gesunden in der Regel nicht appercipirt werden wird, so erkennt
der gleiche Sinn, welcher bis dahin überhaupt nicht functionirt hat,
nunmehr plötzlich diese minimale Ditierenz. Dieses Verhalten wäre in
keiner Weise zu erklären. Man versteht nicht, aus welchem Grunde
jener Sinn, wenn er überhaupt vorhanden und in dem einen Falle zur
Erkennung so feiner Dift'erenzen befähigt ist, in dem andern Falle grobe
Differenzen nicht wahrzunehmen vermag, und man wird deshalb geneigt
sein, den Grund für diese auffallende Erscheinung nicht im Centrum,
sondern in der Peripherie zu suchen.
Leyden selbst hat durch Versuche nachgewiesen, dass noch andere
sensible Nerven als die der Muskeln bei der Bildung unserer An-
schauungen von activen nnd passiven Bewegungen concurriren. In der
That kommt den Empfindungen, welche durch Zug an den sehnigen
Appendices der Muskeln und durch Druck auf die Gelenkflächen ver-
mittelt werden, schon in der Norm ein nicht unwesentlicher Antheil an
— 326 —
der Bildung der Bewegungsvorstellungen zu; ich erinnere nur an die
schon von Weber angestellten Versuche.
An Kranken lässt sich nun zunächst nachweisen, dass die Sensi-
bilität dieser Theile einer gesonderten Störung fähig ist. Der hier
unter II. erwähnte Kranke hat z. B. keine Empfindung von dem Zu-
sammenstossen fast aller Fingergelenke, während er Zug an den Fingern
wahrnahm. Gerade umgekehrt empfindet der zuletzt erwähnte Kranke
Zug an den Gelenken der unteren Extremitäten gar nicht, dagegen
empfindet er schon ein leises Zusammenstossen der einzelnen Gelenk-
flächen sehr gut. Ja er empfindet das leiseste mit einer Fingerspitze
gegen die Längsaxe des Gliedes gerichtete Klopfen unter dem Hacken
mit der grössten Sicherheit und Regelmässigkeit, während die Haut
des Hackens in dem Maasse anästhetisch ist, dass der Kranke daselbst
weder das Quetschen einer Hautfalte noch tiefe Nadelstiche überhaupt
wahrnimmt. Jene Empfindung kann daher nur in den Gelenken der
Fusswurzel oder im Fussgelenk entstehen.
Ich vermuthe hiernach weiter, dass den Gelenkempfindungen unter
Umständen eine vicariirende Thätigkeit zukommt, vielleicht sogar in
der Weise, dass der Gelenksinn — wenn man das Wort passiren lassen
will — einer Verschärfung dann fähig ist, wenn das Sensorium bei der
Orientirung über die Zustände der Extremitäten vornehmlich oder gänz-
lich auf ihn augewiesen ist. Wahrscheinlich beruht die grössere Sicher-
heit, welche die Tabischen in der Beherrschung der Extremitäten ge-
winnen, sobald sie erst einmal mit den Hacken auf den Boden gelangt
und in Gang gekommen sind, andererseits — wenigstens zum Theil —
die grössere Kraft, mit der sie die Hacken aufsetzen, auf der verstärkten
Inanspruchnahme der Gelenkempfindungen.
Und in gleicherweise scheinen sich die Erfahrungen von Leyden
zu erklären. In der That gaben seine Kranken an, sie empfänden die
Schwere der Belastung theils an der Stelle, wo der Fuss die Pelotte
trifft, theils in den Gelenken. Jedenfalls hat es sich dabei also
um die Apperception peripherischer, nicht aber um die intercentraler
Empfindungen gehandelt.
Jedoch scheinen mir die von dem Haut- und dem Muskelsinn un-
abhängigen Empfindungen auch bei den Bewegungsverrichtungen der
Gesunden eine grössere Rolle zu spielen, als mau bisher anzunehmen
geneigt war. Ich schliesse das aus der oben von mir mitgetheilten
Thatsache, dass Personen, welche eine Belastung der unteren Extremität
von 50 g überhaupt nicht appercipiren, einen Zuwachs von 50 g zu
einer Anfangsbelastung von 200 und von 250 g etc. leicht erkennen*).
*1 Die Thatsache, dass die Feinheit der Schätzung mit der Zunahme
— 327 —
Wären die Muskelempfiudungen bei der Schätzung einzig und allein
ausschlaggebend, so müsste das Uragekehrte zutreffen. Wenn die der
Schätzung zu Grunde liegende Bewegungsempfindung sich jedoch ausser-
dem noch aus den Empfindungen von Zug au Fascieii und Bändern und
von Pressungen der Gelenkflächen zusammensetzt, so wird die Thatsache
ohne Weiteres verständlich; denn die anatomischen Verhältnisse der
unteren Extremität, das grössere Gewicht ihrer Theile, bedingen natur-
gemäss einen höheren Schwellenwerth für die in Frage kommenden
Reize. —
Wenn man also Gewichte schätzen lässt, so niisst man die Summe
der im Einzelfalle wirksam werdenden, aus jenen verschiedenen Quellen
herstammenden Empfindungen, Bewegungsempfindungen im weitesten
Sinne. Das werden in der Norm vornehmlich, aber keineswegs aus-
schliesslich Muskelempfindungen sein, — hierin stimme ich Leyden
und Bastian vollkommen bei ■ — bei Krankheiten kann das Verhältniss
sich mdessen derart ändern, dass gerade diese Empfindungen gänzlich
zurücktreten.
Chariten Bastian hat fi^ir die Wahrnehmung der Gesammtheit
jener Empfindungen den Ausdruck „Kinaesthesis" (Kinaesthetic im-
pressions) vorgeschlagen und ich selbst finde gegen ein solches Sammel-
wort, wenn es auf eine schärfere Präcision dessen, was bisher vielfach
„Muskelsinn" genannt wurde, ankommen soll, im Priucip nichts ein-
zuwenden. Nur wird mir von competenter Seite versichert, dass das
Wort in sprachlicher Beziehung nichts tauge. Mir thut das auf-
richtig leid. Denn wenn ich, im Uebrigen Bastian folgend, den be-
schriebenen Apparat nicht „Kinaesthesiometer" genannt habe, so ver-
hehle ich mir keineswegs, dass dieses Wort, wenn auch sprachlich
unrichtig, sich doch zum Sprechen immer noch besser eignet, als das
sprachlich richtigere „Kinesiaesthesiometer".
der Belastung bis zu einer bestimmten Grenze anwächst, hat für die obere
Extremität zuerst Fechner (a. a. 0. S. 200) gefunden und nachdem Hering
(bezw. Biedermann und Loewit a. a. 0. S. 34) bestätigt.
XVII. lieber den Ort der extraventriculäreii Cerebralflüssigkeit.
Nachdem in den letzten Jahren die Literatur unseres Themas gelegent-
lich der Arbeiten von J. Henle*), H. Quincke**) und E. Leyden***)
erschöpfend zusammengestellt worden ist, glaube ich auf dieselbe nicht
noch einmal näher eingehen zu sollen. Der gegenwärtige Standpunkt
der meisten Autoren — und unter ihnen befinden sich mehrere unserer
besten Forscher — wird durch die Darstellung von Henle veranschau-
licht werden: „Da der seröse Sack (Arachnoidealsack Bichat's), auf
dessen anatomischen Nachweis von vornherein verzichtet wurde, nur eine
Hypothese war zur Erklärung des die Centralorgane umspülenden
Wassers, so verstand es sich von selbst, dass das Wasser den Inhalt
des Sackes bilden musste, dessen Wände man als die Quelle des Wassers
ansah. Der Glaube an den serösen Sack hinderte die Anatomen, zu
bemerken, dass bei der Eröffnung der Wirbelhöhle das sogenannte vis-
cerale Blatt der Arachnoidea in der Regel in unmittelbarer Berührung
mit dem parietalen gefunden wird; er hinderte die Aerzte, sich zu
überzeugen, dass das gerinnbare Exsudat der Arachnitis nicht zwischen
den beiden Lamellen des serösen Sackes, sondern unterhalb der Vis-
cerallamelle liegt." Henle selbst f) bezeichnet dann in Uebereinstim-
mung mit den meisten anderen neueren Autoren das sogenannte sub-
arachnoideale Bindegewebe als den eigentlichen Ort der Cerebrospinal-
flüssigkeit, indem er es mit Virchow ein physiologisch wassersüchtiges
Gewebe nennt. Er meint, dass die areoläre Beschaffenheit dieses Ge-
*) J. Henle, Handbuch der systematischen Anatomie. Nervenlehre.
S. 315. Braunschweig 1871.
'^*) H.Quincke, Zur Physiologie derCerebrospinalflüssiglveit. Reichert's
und du Bois-Reymond's Archiv. 1872. Heft 2.
***) E. Leyden, Klinik der Rückenmarkslvrankheiten. Bd. 1. S. 7 — 13.
Berlin 1874.
t) a. a. 0. S. 312.
— 329 —
webes der Flüssigkeit eine fast so rasche Orts Veränderung erlaube, als
wenn sie frei das Centralorgan umspüle. So würden alle Anforderungen
erfüllt, welche das eigentliümliche Verhältniss des Druckschwankungen
und plötzlichen Bewegungen in der starren Schädelkapsel ausgesetzten
Gehirns stellen könnte.
Wie man schon aus der Darstellung Henle's ersieht, ist mannig-
facher, wenn auch erfolgloser Widerspruch dieser Anschauungsweise
nicht erspart geblieben. Jeder ist gewohnt, an das zu glauben, was er
selbst sieht. So blieben die Anatomen und pathologischen Anatomen
in der grossen Mehrzahl bei dem an und für sich ganz unanfechtbaren
Befunde stehen, dass sich bei der Leichenöffnung im Sacke der
Dura au der Convexität gewöhnlich keine Flüssigkeit findet,
während die Maschen der Pia allerlei flüssige Körper ent-
halten können. Die Einwendungen der Gegner wurden als rein theo-
retischer Natur bezeichnet, insofern sie sich lediglich auf die nicht zu
erweisende Hypothese Bichat's von der Auskleidung aller Höhlen mit
serösen, also Flüssigkeit secernirenden Häuten stützen sollten.
Andererseits hatte ich mich selbst durch eine nach Hunderten
zählende Reihe von Vivisectionen an Hunden so sicher als möglich
von dem Vorhandensein einer nicht geringen Menge von
Flüssigkeit im Sacke der Dura überzeugt. Das von mir ange-
wendete Verfahren schloss jede Täuschung aus. Mit einer kleineu
Trephine wurde ein Loch von 14 mm Durchmesser in den Schädel-
knochen geschnitten, die. unverletzte Dura bauschte sich hervor, und
schon jetzt konnte man durch deren halbdurchsichtiges Gewebe hin-
durch die Anwesenheit von Flüssigkeit in dem von ihr eingeschlossenen
Räume wahrnehmen. Sobald nämlich die Dura der Pia ohne trennende
Flüssigkeitsschicht unmittelbar anliegt, sieht man die Getässe der weichen
Hirnhaut durchschimmern, die Anwesenheit einer Flüssigkeitsschicht macht
die Gefässe hingegen, je nach ihrer Dicke, mehr oder weniger un-
deutlich und verräth sich ausserdem durch die besondere Art der Licht-
brechung.
Ging ich nun mit einem ganz kleinen und sehr spitzen Skalpell im
Centrum der Kuochenlücke so zwischen Dura und Pia ein, so dass die
Klinge des Messers den Hirnhäuten fast parallel lag, quoll sofort
eine beträchtliche Menge entweder klarer, oder mit Blut gemischter
Flüssigkeit unter einem anscheinend nicht ganz geringen Drucke her-
vor. Wurde nun das Schädeldach weiter abgetragen und die Dura mit
Pincette und Schere entsprechend weit entfernt, so konnte ich mich
leicht überzeugen, dass auch in den Fällen, wo Blut kam, die Pia keine
Verletzung erfahren hatte, sondern dass das Blut aus den zerschnittenen
— 330 —
Gefässen der harten 'Hirnhaut herstammte; denn auch die kleinsten
Verletzungen der Pia geben ein Bild, welches jede Täuschung unmög-
lich macht. Abgesehen von dem Umstände, dass in der Regel eine
Blutung auf die freie Fläche, oder wenn die Wunde sehr klein ist, in
das Maschengewebe der Pia selbst folgt, so drängt sich die weiche
Hirnmasse hernienartig durch die Wunde der weichen Hirnhaut hervor.
Betrachtet man nun die Oberfläche der Hemisphäre gegen das Licht,
so macht sich auch die kleinste Unterbrechung des in der Norm
vorhandenen feuchten Glanzes auf das Deutlichste bemerkbar. Aber
man kann sich auch noch auf eine andere Weise überzeugen, dass jene
Flüssigkeit nicht etwa aus einem noch so kleinen Loche der Pia her-
vorströmt. Wenn man nämlich die Dura der Trepanationslücke mit der
Schere durch einen Kreuzschnitt spaltet und die Lappen zurück-
schlägt, so sieht man während der ersten Hälfte jeder exspiratorischen
Phase die Flüssigkeit ganz deutlich und in relativ bedeutender Menge
von den Seiten her hervorquellen. Käme diese immerhin erhebliche
Menge Flüssigkeit in so kurzer Zeit aus einer kleinen Lücke der Pia,
so würde sie unter einem bedeutenden Drucke und mit grosser Ge-
schwindigkeit, also als ein nicht zu übersehender dünner Strahl her-
vorspritzen müssen. Einen anderen Beweis dafür, dass die Cerebral-
flüssigkeit nicht aus dem Maschengewebe der Pia kommt, werde ich
unten noch anführen.
Wenn nun auch für mich auf Grund dieser täglichen Erfahrung
kein Zweifel über den fraglichen Punkt existiren konnte, so war damit
der Widerspruch zwischen den Befunden der Anatomen und den Er-
gebnissen der Vivisection noch nicht gelöst. Ich niusste annehmen?
dass so aasgezeichnete Beobachter, wie die Vertheidiger der eingangs
geschilderten Lehre sich nicht getäuscht hatten, als sie die stete Ab-
wesenheit von Flüssigkeit im Sacke der Dura bei Leichen constatirten,
und ich musste erwarten, dass die einfache Gegenüberstellung der
beiderseitigen Befunde denselben negativen Erfolg haben würde, wie die
früheren Bemühungen. Ich hätte dies lebhaft zu bedauern gehabt;
denn die Vorstellungen, welche man sich von einer beträchtlichen Zahl
physiologischer und pathologischer Verhältnisse bildet, müssen noth-
gedrungen auf dem Boden jenes einfachen Thatbestandes erwachsen.
Unter diesen Umständen kam es darauf an, die Brücke zwischen den
divergirenden Ansichten, von denen eine jede sich zweifelsohne auf
richtige Beobachtungen stützte, herzustellen.
Ich unternahm dies in folgender Weise: Zunächst galt es, zu ent-
scheiden, ob man beim todten Hunde denselben Mangel von Flüssig-
keit im Sacke der Dura würde nachweisen können, als bei den zur
— 331 —
Autopsie gelangenden Menschen. Ich untersuchte deshalb nach der
oben geschilderten Methode eine grössere Zahl von Hunden, welche be-
reits vor mehr als 24 Stunden getödtet waren. Hierbei fand ich denn,
wie ich wohl voi'aussetzen durfte, dasselbe Verhältniss, welclies beim Men-
schen beschrieben worden ist: im Sacke der Dura war, wenigstens
an der Convexität, auch nicht ein einziger Tropfen Fl üssigkeit
vorhanden. Es fand sich aber noch etwas mehr, und das ist der fernere
Beweis für die Herkunft der Cerebralflüssigkeit aus dem Sacke der Dura
selbst, den ich oben verhiess. Ich konnte nämlich die Pia und die
Hirnsubstanz in jeder beliebigen Weise verletzen, ohne dass auch
dann ein noch so kleines Tröpfchen hervordrang. Nunmehr
war also weder Flüssigkeit zwischen Dura und Pia, noch innerhalb der
Mascheuräume der letzteren zu finden. Wenn die Erklärung, dass die
bei Sectionen menschlicher Leichen an der Schädelbasis gefundene-
Flüssigkeit lediglich aus dem durch die Säge zerrissenen Gewebe der
Pia ausgeflossen sei, richtig wäre, so würde man ja dieses Ausfliessen
aus der erst nach vollkommener Freilegung verletzten Gefässhaut des
todten Hundes sehen müssen. Etw'as anderes fand sich aber, das muss
schon hier angeführt werden, wenn ich aus dem in situ gelassenen
Gehirne einen Keil herausschnitt, dessen Oeffnung mir einen Einblick
in den Seitenventrikel gestattete. Dieser war stets von Flüssig-
keit erfüllt.
Wenn nun die Verhältnisse im todten Hundeschädel als identisch
mit denen innerhalb des todten Menschenschädels erkannt waren, so
erschien die Wahrscheinlichkeit, dass die Verhältnisse auch im Leben
die gleichen sein würden, unendlich gross; es fragte sich aber, was
denn aus der im Leben ziemlich reichlichen Menge von
Flüssigkeit nach dem Tode geworden sei? Ausserdem galt es
aber noch einen Einwand zu beseitigen, der mit Recht erhoben werden
konnte. Da nämlich im Momente der Trepanation der Druck innerhalb
der Schädelkapsel wesentlich geändert wurde, so konnte immerhin die
Möglichkeit angeführt werden, dass die wahrgenommene erhebliche
Menge der Cerebralflüssigkeit dennoch in der Norm nicht vorhanden
und nichts Anderes als ein durch den veränderten Druck bedingter,
pathologischer Erguss aus den Lymphbahnen der Hirnhäute sei. Ueber
die beiden zuletzt angeführten Momente war durch denselben Ver-
such Aufklärung zu erlangen. Ich untersuchte eine grosse Anzahl von
Hunden verschieden lange Zeit nach ihrem Tode, der theils durch
Blausäure, theils durch Cyankalium herbeigeführt worden war. Die
Blausäurevergiftungen waren in der Anatomie der Königlichen Thier-
arzneischule, die Cyankaliumvergiftungen durch mich selbst ausgeführt
— 332 —
worden. Bei der ersteren Methode erfolgte der Tod fast immer mo-
mentan, bei der anderen geht es manchmal ebenso schnell, manchmal
verfliessen einige Minuten.
Eröffnete ich nun den Sack der Dura genau in der oben ange-
führten Weise unmittelbar nach dem Tode des Thieres, so fand sich
dasselbe Verhältniss wie beim lebenden. Sobald die Dnra angeschnitten
wurde, quoll die Cerebralflüssigkeit hervor und erfüllte die Trepanations-
lücke. Liess ich etwas längere Zeit vergehen, so war die Menge der
Flüssigkeit geringer, und bereits nach einigen Stunden fand sich
wenigstens an der Convexität von derselben nichts mehr vor. Die
letzten Spuren der Flüssigkeit Hessen sich immer noch in der Art ent-
decken, dass ein Zipfel der kreuzweis gespaltenen Dura wiederholt sacht
angezogen und wieder losgelassen wurde; dann liess sich an der ver-
schiedenen Art der Lichtbrechung noch deutlich eine minimale Flüssig-
keitsschicht zwischen Dura und Pia erkennen.
War nun die Flüssigkeit ganz geschwunden, sobefandsich dieOberfläche
des Hirns zu der Schädelwandung, zunächst also zur Dura, überhaupt in
einem anderen räumlichen Verhältniss. Gelang es beim lebenden und dem
jüngst getödteten Tliiere leicht, mit dem Scalpell zwischen Dura und Pia
einzudringen, ohne die letztere anzuschneiden, so war dies nun ausser-
ordentlich schwierig, fast unmöglich, obwohl die Dura sich wie in den
anderen Fällen nach Anlegung der Knochenlücke hervorwölbte. Selbst
wenn ich mit einer krummen Nadel die Dura vor dem Einstich an-
hakte und aufhob, gewahrte ich fast immer nach Freilegung der Ober-
fläche des Centralorgans an einer kleineren oder grösseren Stelle das
oben von mir angeführte characteristische Hervorquellen der Hirnmasse
aus einer Lücke der weichen Hirnhaut. Die Hirn Substanz selbst
hatte nunmehr also den Raum eingenommen, welcher früher
durch die Cerebralflüssigkeit ausgefüllt wurde.
Hiermit scheinen mir die beiden zuletzt aufgeworfenen Fragen in
einer befriedigenden und den Zusammenhang der Dinge vollkommen
herstellenden Weise beantwortet zu sein. Bei diesen Sectionen konnte
eine Sekretion in Folge von Druckveränderung nicht stattgefunden
haben: denn das todte Thier secernirt nicht mehr. Ebenso war der
Verbleib der verschwundenen Cerebralflüssigkeit durch die Volumenzu-
nahme des Gehirns selbst erklärt; denn diese konnte nach Lage der
Dinge nur durch Aufnahme jener Flüssigkeit verursacht sein. Und
diese Annahme wurde um so sicherer, als ganz ausnahmslos ein be-
deutender Unterschied in der Consistenz der Gehirne ganz frisch und
bereits seit einigen Stunden getödteter Hunde nachzuweisen war. Im
letzteren Falle war das Gehirn stets viel weicher.
— 333 —
Es war mir nun wegen einer Reiiie von pathologischen Zuständen,
ganz abgesehen von der physiologischen Seite der Frage, von Interesse,
zu erfahren, welchen physikalischen Verhältnissen die Aufnahme der
Flüssigkeit in das Innere des Organs zuzuschreiben sei. Zu diesem
Zwecke machte ich die oben erwähnten, keilförmigen, bis in die Seiten-
ventrikel reichenden Excisionen aus den Hemisphären solcher Thiere,
bei denen extraventriculäre Cerebralflüssigkeit nicht mehr nachweisbar
gewesen war. Denn ich sagte mir, dass auch die hier vorhandene
Flüssigkeit wohl geschwunden sein würde, wenn die Resorption der
extraventriculären Flüssigkeit lediglich auf einer besonderen hygro-
skopischen Tendenz, einer besonderen Imbibitionsfähigkeit der todten
Hirnmasse beruhe. Da ich nun aber die Ventrikel, sobald das Gehirn
in situ gelassen wurde, stets von Flüssigkeit erfüllt fand, so war diese
Annahme auszuschliessen, und ich kam deshalb zu der Ueberzeugung,
dass die Imbibition in das Gehirn wesentlich durch den von demselben
auf das Wasser ausgeübten Druck bedingt wird.
Wie viele Factoren bei der Production des normalen Hirndruckes
und bei seiner Erhaltung auf einem gewissen Durchschnittswerthe be-
theiligt sein mögen, will ich nicht näher erörtern. Eis kam mir für
den Zweck dieser Abhandlung nur darauf an, festzustellen — soweit
dies ohne besondere Vorrichtungen möglich war — ob in der Schädel-
höhle eben getödteter Thiere, also nach Fortfall des Blutdrucks, noch
ein nennenswerther positiver Druck vorhanden sei oder nicht. Dazu
genügte das einfache Anstechen der Dura in der Trepanationslücke.
Wenn nämlich das Thier ganz frisch getödtet ist, so quillt die P'iüssig-
keit, abgesehen von den respiratorischen Schwankungen, in genau der-
selben Weise wie bei dem Lebenden hervor. Ist nun die Stichöffnung
klein und tupft man das herausrieselnde Wasser fort, so kann man den
Vorgang eine ganze Weile beobachten. Daraus geht wohl ziemlich
sicher hervor, dass der Druck, welchen das Hirnwasser und das lebende
Gehirn gegenseitig auf einander ausüben, nicht lediglich aus dem inner-
halb des Gefässsystems herrschenden Drucke resultirt. Es muss viel-
mehr bei Lebzeiten und bereits in der Norm ein Secretionsdruck 2^) mit-
wirken, welcher einen höheren Werth besitzt, als derjenige ist, mit dem
die eigene Elasticität und der Blutdruck das Gehirn gegen die Schädel-
wände treiben. Das Gehirn befindet sich also dauernd in einem Zu-
stande physiologischer Compression. Dass dieser Secretionsdruck durch
Krankheitsprocesse noch in erstaunlicher Weise gesteigert werden kann,
ist ja zur Genüge durch die Symptome des Hydrocephalus bekannt,
und wenn man in Rechnung zieht, dass die Resorption abnormer
Flüssigkeitsmengen innerhalb des Sackes der Dura mit grosser Ge-
-- 334 —
schwindigkeit vor sich geht, so wird man noch mehr Respect vor diesen
Kräften bekommen.
Der Werth des normalen Hirndrnckes ist von Leyden'-') nnd von
Jolly**) ziemlich übereinstimmend auf 100— 110 mm Wasser im Mittel
bestimmt worden. Hört nun der Gegendruck des Blutes auf, so wird
der Gesammtdruck zwar absinken, jedoch nicht ganz verschwinden, es
w'ird gerade noch die Kraft übrig bleiben, mit der das comprimirte
Gehirn seine Elasticitätsgrenzen wieder einzunehmen sucht, und in
dieser Kraft ist wohl das Moment zn suchen, durch welches das Wasser
aus dem Sacke der Dura in die Hirnsubstanz verdrängt wird.
Es scheint mir, dass nach Kenntnissnahme dieser Thatsachen manche
pathologischen Verhältnisse einer wiederholten Betrachtung bedürfen
werden. Ich halte es zwar für unrichtig, jede eben gefundene physio-
logische Thatsache sofort bis zu den letzten patiiologischen Conse-
quenzen hin auszubeuten, und ich glaube, dass die Sache mehr geför-
dert wird, wenn man zuvor den Prüfstein neuer pathologischer Erfah-
rimgen den Anschauungen anlegt, welche plötzlich eine andere Form
erhalten sollen, dennoch wird es zweckmässig sein, die Aufmerksamkeit
auf einige hier besonders zu berücksichtigende Fragen zu lenken.
Hierher rechne ich namentlich die so vielfach umstrittene Frage nach
dem Werte der Consistenz der Hirnmasse solcher Personen, welche
unter allgemeinen Cerebralerscheinungen zu Grunde gingen. Der Nacli-
Aveis, dass eigentlich jedes zur Section gelangende Gehirn eine je nach
den Umständen verschiedengradige Maceration erfahren hat, dürfte
mancherlei in einem anderen Lichte erscheinen lassen. Insbesondere
dürften schnell erfolgende Exsudationen, welche durch allgemeine
Hirn-Anämie schnell tötlich verliefen, die ])ostmortale Aufnahme von
Flüssigkeit in die Hirnsubstanz jinsofern begünstigen, als bei einer
kurzen Dauer der Compression die El asticitäts Verhältnisse der centralen
Nervenmassen noch nicht wesentlich verändert sein können. Es ist
also nicht uimiöglich, dass ein Hydrocephalus externus acutus bei Per-
sonen bestanden hat, deren Gehirn bei der Section nur die Zeichen
des Hirnödems präsentirt. Auch die Oedeme der Pia bleiben mit der
zuletzt entwickelten. Anschauung verständlich. Wo man sie findet, hat
die benachbarte Hirnsubstanz einfach in Folge degenerativer Vorgänge
ihre Elasticität oder ihr normales Volumen eingebüsst, so dass eine
*) E. Leyden, Ueber Hirudruck und Hirnbevi^egungen. Virchow's Arch.
Bd. 37. (1866). H. 4. ,
**) Fr. Jolly, Untersuchungen über den Gehirndruck und die Blut-
bewegung im Schädel. VVürzburg 1871.
— 335 —
Verdrängung des Wassers nicht mehr stattfinden kann. Endlich wäre
es von nicht geringem Interesse, wenn die Aufmerksamkeit der Irren-
ärzte sich gerade auf diesen Punkt lenken wollte. Da in der Norm
Flüssigkeit im Sacke der Dura bald nach dem Tode nicht mehr vor-
handen ist, so gewinnt die Angabe, welche ich bei sorgfältigen
Sectionsberichten über Leichen Geisteskranker finde, dass beim „An-
schneiden der Dura" mehrere Esslöffel Flüssigkeit herausgeflossen seien,
entschieden an Interesse. Man hat ja von jeher angenommen, dass
der durch Hirnatrophien entstehende Raum durch Flüssigkeit aus-
gefüllt würde, nun aber würde man dem Nachweise von irgend
welcher Quantität Wasser in diesem Räume immer noch die Bedeutung
beilegen müssen, dass auch beim Fehlen augenfälliger Veränderungen,
innerhalb des Gehirns allgemein oder local Ereignisse eingetreten
wären, welche ihm die postmortale Ausdehnung bis zur gänzlichen Er-
füllung der Schädelkapsel nicht gestatteten. —
Anmerkung.
29) Es kann fraglich erscheinen, ob der Ausdruck Secretionsdruck richtig
gewählt war, da er in der Regel nur von der Thätigkeit von Drüsen ge-
hraucht wird. Ich muss auch heute noch unentschieden lassen, welche Kräfte
,bei der Erzeugung des unleugbar vorhandenen Ueberdruckes der Cerebral-
flüssigkeit thätig sind. Vielleicht sind sie in der Function der Plexus und
Tela chorioides zu suchen.
XVIII. lieber die beim Crahanisireu des Kopfes entstehenden
Störnngen der 3Iuskelinner\ation nnd der Vorstellnngen vom
Verhalten im Ranme'O).
I. Literatur.
Schon den älteren Experimentatoren im Gebiete der galvanischen
Elektricität war es bekannt, dass bei Application von einigermasseu
intensiven Strömen in der Gegend des Kopfes Schwindelempfindungen
eintreten können. So erwähnt Augustin*) einen einschlägigen Versuch:
„Umwickelt man die Ohren mit Draht, befeuchtet sie mit Salzwasser und
„taucht dann die Spitzen jenes Drahtes in die Wassergläser, worin die an
„den Extremitäten der Säule befestigten Ketten liegen, so wird einem schwind-
„lich und man sieht elektrische Blitze."
Bereits im Jahre 1827 wurde dieser Gegenstand aber von Pur-
kinje**) in einer bei den neueren Autoren leider in Vergessenheit
geratheneu Abhandlung ausführlicher behandelt. In dieser Arbeit, von
der gleichwohl nur einige Seiten sich mit den galvanischen Schwindel-
empfindungen beschäftigen, findet sich der grössere Theil des von den
Versuchspersonen subjectiv Wahrgenommenen richtig beschrieben.
„Es ist leicht zu vermuthen, dass wenn ein Strom galvanischer Thätig-
„keit durch das Gehirn geführt werden könnte, dieser einseitige Reiz auch die
„Schwindelbewegungen erregen müsste. Dies gelingt vollkommen, wenn man
„die Pole durch beide Ohren leitet. Man fühlt dann den Kopf eingenommen
„und einen allgemeinen schwindelhaften Zustand, dessen Richtung sich bei
„näherer Beobachtung als diejenige ausweiset, die wir eben als senkrecht
„stehenden Kreis mit nach links und rechts gerichteter Peripherie beschrieben
*) F. L. Augustin. Versuch einer vollständigen systematischen Ge-
schichte der galvanischen Elektricität und ihrer medizinischen Anwendung.
Berlin 1803. S. 129.
**) Purkinje. Rust's Magazin für die gesammte Heilkunde etc.
Bd. XXIIl. Berlin 1827. S. 297.
— 337 —
„haben, dessen Fläche also mit dem Gesichte parallel geht, und der das Gehirn
„senkrecht von Oben nach Unten und quer durchschneiden würde. Die
„Richtung der Kreisbewegung dieses Schwindels geht aufwärts von der
„rechten zur linken Seite, wenn der Kupferpol im rechten Ohre, der Zinkpol
„im linken ist, umgekehrt aufwärts von der linken zur rechten, wenn der
„Kupferpol ins linke, der Zinkpol ins rechte Ohr eingebracht wird. So oft die
„galvanischen Leiter wieder abgezogen werden, tritt jedesmal der Schwindel
„in entgegengesetzter Richtung ein und dauert längere oder kürzere Zeit nach,
„je nachdem die primäre Einwirkung länger oder kürzer war."
Von den späteren Forschern äussert sich zunächst Remak*) aus-
führlicher über diese Frage.
„Eine häufige Nebenwirkung bei Strömen, die den Kopf, Hals oder Nacken
„treffen ist der Schwindel, der seltener während des stetigen Stromes, als
„bei Oeffnung der Kette eintritt und in einem vorübergehenden Wanken des
„Kopfes nach der Seite der sich entfernenden Elektrode hin besteht. Nur
„selten beobachtete ich Schwindel beim Eintritt des Stromes in die Schläfe.
„Da der Schwindel besonders leicht beim Galvanisiren in der Gegend der
„nachbenannten Organe entsteht, so scheint es beinah als wenn das obere
„Ganglion des N. sympathicus oder das daneben liegende Ganglion des N.
„vagus den Grund dieser sonderbaren Erscheinung enthielte. Bei anderen
„Personen tritt dieser Schwindel freilic.'i heftiger bei Strömen ein, die den
„Proc. mastoid., oder den Nacken bis zum 6. Halswirbel treffen, so dass es
„sich dennoch vielleicht um eine Behelligung des kleinen Gehirns handelt,
„dessen Verletzung bekanntlich nach Flourens' Entdeckung Drehbewegung
„hervorruft. Es ist nützlich sich mit diesem Schwindel und den Bedingungen
„seines Eintritts vertraut zu machen, wenn man auf Kopf und Hals Ströme
„anwenden will, obgleich er nur vorübergehend und von keinem bleibenden
„Nachtheil ist."
- Benedikt**) hingegen bringt zum Theil ganz andere, zum Theil
abweichende Angaben bei:
„Bei der queren üurchleitung, besonders durch die Zitzenfortsätze muss
„man die Vorsicht gebrauchen, zuerst den Zinkpol anzusetzen und zuerst den
„Kupferpol wegzunehmen, weil man dadurch sicherer den Schwindel ver-
„meidet. — Eintretender Schwindel, congestive Zustände mahnen, die
„Dauer und Intensität der Application zu verringern, weil man sonst grosse
„Beschwerden, selbst eclamptische Anfälle, wie ich es sah, und Haemorrhagia
„cerebri hervorrufen kann. — — • — Allgemeine Aufregung, Convulsioneu,
„Muskelspannungen, Schwindel***), Schmerzen, Lähmungen, Blutungen ins
*) R. Remak, Galvanotherapie der Nerven- und Muskelkrankheiten.
Berlin 1858.
**) M. Benedikt. Elektrotherapie. Wien 1868. S. 74 f.
***) A. a. 0. S. 80 f.
Hitzig, Gesammelte Abhaiidl. I. Theil. 22
— 338 —
,,Geliirns, in die Lunge und in den Mastdarm, hochgradige Metrorrhagie sind
,,häufige Folgen zu schmerzhafter Ströme. Ausfallen der Zähne und Blindheit
,,sind ebenfalls Erscheinungen, die auf zu starke elektrische Pveizung im Ge-
„sicht und im Kopfe eintreten können. Alle diese Erscheinungen sind
„keine Schreckbilder doctrinärer Phantasie, sondern der Erfahrung entlehnte
„Thatsachen. -"
Brenn er"-'), der sich nächst Purkinje ofi'enbar am eingehend-
sten mit dem Studium dieses Symptoms beschäftigte, hat wiederum
theils neue, theils differirende und, wie wir sehen werden, nicht durch-
gehends richtige Angaben gemacht. Ich führe nachstehend alles Wesent-
liche aus seiner Darstellung des Sachverhaltes an. Ein vollständiger
Abdruck derselben dürfte zu viel Raum einnehmen.
„Der Schwindel ist von den in den Sinnesorganen auftretenden Pveiz-
„erscheinungen vollkommen unabhängig und besteht in einer Störung des
„Gleichgewichtes, welche nicht bloss von den Versuchspersonen gefühlt wird,''
sondern auch durch Schwanken derselben nach der Seite der Anode hin ob-
jectiv wahrgenommen werden kann. Kein Schwindel tritt ein, wenn die, beide
Elektroden verbindende Linie der Medianebene parallel läuft, am stärksten ist
er bei transversaler Galvanisirung. „Das Gefühl besteht in der
Empfindung „als sei die Schwere der einen Körperhälfte aufgehoben, und als
falle man in Folge dessen nach der anderen Seite." Der Schwindel nimmt
während des Schlusses der Kette noch allmählich zu. Die Reizmomente von
denen er abhängig ist, sind An. S, An. D und KO. Indessen erfordert der
Oeffnungsschwindel grössere Stromintensitäten und ist von kürzerer Dauer.
SeineRichtungist die demSchliessungsschwindel entgegengesetzte. ZweiAnoden
auf symmetrische Kopfthcile applicirt, Kathode an indifferenter Stelle machen
keinen Schwindel, ebenso wenig die Anwendung inducirter Ströme. „Er ver-
„liert bei noch so häufig wiederholter Application des Stromes niemals von
„seiner ursprünglichen Intensität."
Ich möchte hier gleich bemerken, dass die später nachzuweisende
UnVollständigkeit und theilweise Ungenauigkeit der Brenn er 'sehen
Angaben offenbar daher rührt, dass er einmal die Purkinje'schen
Beobachtungen über die Scheinbewegungen nicht kannte, dann aber von
vorgefassten Meinungen über polare "Wirkungen ausging. Immerhin
zeichnet sich Brenner's Darstellung rücksichtlich ihrer thatsächlichen
Richtigkeit vor sämmtlichen neueren, hierher gehörigen Mittheilungen
rühmlich aus.
*) R. Brenner, Untersuchungen und Beobachtungen auf dem Gebiete
der Elektrotherapie. Leipzig 1868. I. 1. S. 75 ff. und II. S. 30 f.
— 339
II. Ueber die beim Galvanisiren des Kopfes eintretenden
Erscheinungen von Schwindel.
Wenn man galvanische Ströme durch den Kopf oder die ihm be-
nachbarten Theile so leitet, dass der Schädelinhalt durch Stromschleifen
getroffen wird, oder wenn man Ströme, die diese Theile durchfliessen,
mit einer gewissen Geschwindigkeit vergehen lässt, oder wenn man auch
nur einigermassen schnelle, sei es positive, sei es negative Dichtigkeits-
schwankungen solcher Ströme herbeiführt, so können dadurch die Vor-
stellungen der Versuchspersonen von dem Verhalten der Gesichtsobjecte
oder von ihrem eigenen Veriialten im Räume in einer bestimmten
Weise alterirt werden. Man nennt diese vorübergehende Verwirrung
der Vorstellungen Schwindel.
Es ist also irrig, wenn von der einen oder der anderen Seite be-
hauptet wird, dass eine bestimmte Wahl der Einströmungsstellen oder
ein bestimmtes Reiznioment — Oeffnung oder Schliessung — zur Her-
vorbringung dieses Symptomes absolut erforderlich sei. Allerdings dis-
poniren gewisse Methoden unvergleichlich mehr zum Schwindel als
andere, doch kann die einfache Annäherung einer der beiden Elektroden
an den Kopf oder ihre Entfernung schwindelerregend wirken.
Am leichtesten entsteht Schwindel, wenn der Strom von
einer Fossa mastoidea*) zur anderen geht. Die übrigen um das Ohr
gelegenen Stellen verhalten sich ähnlich wie die Fossa mastoidea.
Dieser Umstand lässt sich auf zweierlei Art erklären An der genannten
Stelle liegen die Carot. interna und die Jugul. interna dicht unter der Elektrode.
Da nun das Blut unter den menschlichen Geweben dass grösste Leitungs-
vermögen besitzt, so liegt bei dieser Reizmethode am leichtesten die Möglich-
keit vor, mittelst der Aeste jener Gefässe namentlich auch der Sinus, das
ganze Gehirn mit Stromschleifen zu überziehen und zu durchziehen. Zweitens
ist es möglich, dass in der hinteren Schädelgrube oder in ihrer Nähe solche
Organe liegen, deren Elektrisirung Schwindel macht. Wahrscheinlich wirken
diese beiden Bedingungen zusammen.
Weniger leicht entsteht Schwindel bei transversaler Galvanisirung
durcli den Hinterkopf, noch schwerer bei transversaler Galvanisirung
durch den Vorderkopf, leichter hingegen als bei diesen letzteren Me-
thoden dann, wenn nur die eine Elektrode sich in der Fossa mastoidea
*) Unter Fossa mastoidea verstehe ich die Grube, welche sich zwischen
der hinteren Fläche des Ohrläppchens und dem Frocess. mastoid. befindet.
Remak hat diesen Namen meines Wissens zuerst angewendet, und ich adoptire
ihn um der Kürze willen.
22*
-^ 340 -.-
und die andere sich an einem indifferenten Orte befindet, wenn also
die directe Strombahn in einem Sagittalschnitte liegt, oder mit einem
solchen irgend einen Winkel bildet. Die übrigen Anordnmigen, bei
denen die directe Strombahn in sagittale Ebenen fällt, begünstigen den
Schwindel nicht.
Man kann mit Sicherheit sagen, dass Dichtigkeitsschwankungeu
derjenigen Stromschleifen, welche durch den Schädel gehen, je nach
ihrer Grösse und Geschwindigkeit stärkeren oder weniger starken
Schwindel erzeugen. Man kann aber nicht mit Sicherheit sagen, ob die
Annäherung der Anode oder der Kathode, die Schliessung oder die
Oeflfnung eine grössere Wirkung har. Ich will deswegen lieber den
Sachverhalt, wie er durch die Versuchsbedingungen geformt wird, aus-
einandersetzen. Das allen numerischen Bestimmungen entgegentretende
Hiuderniss besteht in der absoluten Unmöglichkeit, die Bedingungen je
zweier Parallel versuche ganz gleich zu machen; dann in der unverhält-
nissmässigen Schwierigkeit, die Grösse von bei je zwei Versuchen vor-
kommenden Veränderungen in den Versuchsbedingungen abzuschätzen
oder gar genau zu messen.
Der wesentlichste, die Grösse der Stroraintensität bedingende Factor
ist der Hautwiderstand, und dieser ist nicht mir bei verschiedenen
Menschen, sondern auch bei demselben Menschen an symmetrischen
Körpertheilen so ungleich, dass schon von vorn herein ein fast nicht
gut zu machender Fehler in den Versuch eingeführt wird. Kleine Ab-
schilferungen der Oberhaut, irgend eine stärkere Durchfeuchtung der-
selben und andere umstände vermögen von einem Tage zum anderen
das Verhalten der gleichen Hautstelle gegen den Strom gänzlich zu
ändern. Mit der Schliessung der Kette beginnen dann die stets ver-
schiedenen Modificationen des Hautwiderstandes durch , ausgeschiedene
Ionen und durch Veränderung der Blutzufuhr zu dem benachbarten Ge-
webe. Endlich kann man die Schwindelempfindungen nicht wie Muskel-
zuckungen sehen oder ihre Höhe an Curven ablesen, sondern man ist
grossentheils auf die subjectiven Angaben von Personen angewiesen,
die nun ausserdem noch an zwei auf einander folgenden Tagen eine
sehr verschiedene Disposition zum Schwindel mit in den Versuch hin-
einbringen können. Ungeachtet dessen habe ich versucht, mir für meine
Person ein Urtheil über diese Frage durch grosse Vervielfältigung der
Versuche zu bilden. Dabei schien es mir, dass die Anoden-Schliessung
leichter Schwindel erzeugt, als die Kathoden-Schliessung, und die Anoden-
Oeffnung leichter als die Kathoden-Oeifnung. Indessen ist dies mehr
ein Eindruck, als eine auf Zahlen begründete Ueberzeugung.
Brenner a. a. 0. spricht nicht von der Wirkung der Kathoden-
— 341 —
Schliessung und der Aiiodeji-Oefliiiiiig. Wie es scheint, hat er sich
von dem Auftreten des Schwindels hei diesen Reizmomenten nicht über-
zeugt. In dem ersten Theile seines Buches zweifelt Brenner an dem
Oeffniingsschwindel im Allgemeinen, verlangt aber mindestens stärkere
Ströme für sein Zustandekommen; später hat er sein Vorkommen für
die Kathode zugegeben. Da dieser fleissige Forscher offenbar eine
Menge Versuche gemacht hat, kann ich mir seinen Irrthum nicht recht
erklären; denn wenn man den Dingen nicht näher auf den Grund geht,
scheint es sogar, als wenn die Oeffnung der Kette stärkeren Schwindel
errege, als die Schliessung der gleichen Batterie. Der Grund hierfür
liegt darin, dass, wie soeben erwähnt, während des Galvanisirens der
Hautwiderstand allmählich sinkt. Die Ordinate der Schliessung ist also
nicht nur weniger hoch, sondern der von dem ansteigenden Theile der
Curve mit der Abscisse gebildete Winkel ist auch weniger gross als die
gleichnamigen Werthe der Oeffnung.
Uebrigens ist es auch keineswegs richtig, dass, wie Brenner an-
giebt, der Oeflfnungsschwindel gleich allen Oeffnungsreizen nur von
kurzer Dauer sei. Das mag auf das eine Symptom des objectiv nach-
weisbaren Schwankens passen. Die Scheinbewegung und besonders die
allgemeine Unsicherheit pflegt aber noch kürzere oder längere Zeit an-
zudauern. Durch tiefe Inspirationen und Riechen von Ammoniak kann
man ihrer Herr werden. —
Während der Dauer des constant gewordenen Stromes hält der
Schwindel an. Er vermindert sich nur allmählich und zwar, wie sich
aus dem Einflüsse der Gewöhnung nachweisen lässt, durch Regulirung
vom Sensorium aus. Bei einigermassen starken Strömen hört er während
der Stroradauer überhaupt nicht ganz auf. Diese letzteren Umstände
in Verbindung mit einigen später anzuführenden sind nicht nur von
grosser Wichtigkeit für die Deutung der hier vorliegenden Thatsachen,
sondern sie reihen auch der Lehre vom Elektrotonus ein neues
Capitel an.
Aenderung der Stromrichtung verstärkt alle subjectiv und objectiv
wahrnehmbaren Symptome von Schwindel. Inducirte Ströme bringen
niemals Schwindel hervor. —
Die bei den Versuchspersonen entstehende Verwirrung der
Vorstellungen kann je nach der relativen Stärke des Stromes in
verschiedener Art zur Wahrnehmung kommen. Bei relativ
schwachen Strömen bemächtigt sich des Sensoriums eine unbestimmte
Empfindung von Unsicherheit über das räumliche Verhalten des eigenen
Körpers oder der ausserhalb gelegenen Dinge, ohne dass jedoch eine
Scheinbewegung von bestimmter Richtung, oder am eigenen Körper
— 3.42 —
reale Bewegungen entständen. Diese Art oder vielmehr dieser Grad
des Schwindels wird, ausser während der Dauer ganz schwacher Ströme
besonders häufig schon nach Oeffnung einer Kette beobachtet, deren
Schluss oder Stromdauer keinen Schwindel erzeugte. Man hört die
fraglichen Empfindungen wohl mit dem mir ganz zweckmässig scheinenden
Namen „Benommenheit" bezeichnen.
Bei Anwendung stärkerer Ströme indessen wird das Urtheil über
das räumliche Verhalten des Ich zur Aussenwelt in einer bestimmten
und gesetzmässigen Weise gefälscht. Es treten nun Scheinbe-
wegungen ein, deren Richtung durch die Wahl der Einströmungs-
stellen bedingt wird. Das Prototyp dieser Versuche ist die von
Purkinje beschriebene Anordnung. Wenn sich die Elektroden in je
einem Ohr befinden, so scheinen während der Stromdauer die Gesichts-
objecte wie ein dem Gesichte paralleles, aufrechtes Rad, von der Seite
der Anode nach der Seite der Kathode zu kreisen. Im Momente der
Oeifnung ändern sie ihre Richtung, so dass nun die Scheinbewegung
auf der Seite der Kathode eine aufsteigende und auf der Seite der
Anode eine absteigende Richtung hat.
In einzelnen Fällen bereits bei Anwendung von Strömen der gleichen
Intensität, immer aber bei Anwendung stärkerer Ströme, beobachtet
man einen dritten Grad des Schwindels, es schwankt die Versuchs-
person bei der Kettenschliessung mit dem Kopfe oder dem
ganzen Körper nach der Seite der Anode und bei der Ketten-
öffnung nach der Seite der Kathode. =^1)
Gleichzeitig aber sind dann die obenerwähnten Scheinbewegungen
der Gesiclitsobjecte in grosser Deutlichkeit vorhanden, wie denn über-
haupt ihre Geschwindigkeit durchaus in gleichem Verhältnisse mit der
relativen Stromdichte zunimmt.
Während der Stromdauer kann gleich den übrigen Erscheinungen
die seitliche Neigung des Kopfes und Körpers allmählich abnehmen
und gänzlich verschwinden; doch pflegt dies bei stärkeren Strömen und
mangelnder Gewöhnung nicht vorzukommen. Positive Dichtigkeits-
schwankungen haben rücksichtlich der scheinbaren und wirklichen Be-
wegungen der Art nach den Effect der Schliessung, negative den der
OeflFnung.
Die sämmtlichen geschilderten Erscheinungen treten, zwar weniger
leicht, aber sonst genau in derselben Weise auf, wenn sich nur eine
Elektrode am Kopfe befindet. Die Richtung der Scheinbewegung so-
wohl als die Richtung der wirklichen Körperbewegung ist bei einer
solchen Anordnung so, als wenn die andere Elektrode sich auf der
anderen Seite des Kopfes befände.
— 343 —
Es träte der Strom z. B. in der rechten Fossa mastoidea ein und in der-
selben Fossa supraclavicularis oder auf der Brust, oder auf dem Rücl(en aus,
so wankt der Kopf nach rechts und die Gegenstände scheinen nach links zu
versinken. Ganz denselben Reizeffect beobachtet man aber auch, wenn man
den Strom in der linken Fossa supraclavicularis (oder einem beliebigen Orte)
ein- und. in derselben Fossa mastoidea austreten lässt. Es ist selbstverständ-
lich, dass bei den anderen noch möglichen Abänderungen dieser Anordnung
die reale und die Scheinbewegung jede nun nach der entgegengesetzten Seite
eintreten muss. Uebrigens ist grade diese Anordnung .sehr geeignet, die An-
sicht zu erzeugen, dass der Schwindel bei der Oeffnung leichter als bei der
Schliessung entsteht. Personen, die dabei Schliessungsschwindel nur unter
Benutzung einer sehr starken Kette bekommen, werden vom Oeffnungsschwindel
schon bei der halben und einer noch geringeren Elementenzahl befallen.
Von den im Vorstehenden geschilderten Erscheinungen kommen
nur unwesentliche Abweichungen vor. Die häufigste Abweichung be-
steht noch darin, dass sitzende Versuchspersonen keine senkrecht
stehende, sondern eine horizontale Schwindelbahn haben. Dann scheinen
also die Gegenstände von rechts nach links oder von links nach rechts
zu entweichen, ohne gleichzeitig in einer dieser beiden Richtungen zu
versinken. Noch bei Weitem seltener und, wie es scheint, nur unter
besonderen, später namhaft zu machenden Bedingungen, tritt überhaupt
keine Scheinbewegung der Gesichtsobjecte. sondern nur eine nach der
Kathoden-Seite gerichtete Scheinbewegung des eigenen Körpers ein.
Auch hierbei herrscht die senkrecht rotirende Richtung vor, obwohl
die Personen sich doch manchmal in einer horizontalen Ebene fort-
bewegt glauben. Ich lasse es dahin gestellt sein, ob die.:äe Empfindung
bei Personen mit gesunden Augenmuskeln und bei offenen Augen über-
haupt vorkommt, und ob sie nicht vielmehr Anomalieen der Inner-
vation oder das Ausfallen der optischen Eindrücke voraussetzt. Wenn
sie vorhanden ist, wird sie mit der Empfindung des Carousselfahrens
verglichen. —
Die nächste Frage, welche sich nach Kenntiiissnahme der an-
geführten Thatsachen aufdrängt, ist die, ob das Schwanken des
Körpers nach der einen Seite und die Scheinbewegung der Gesichts-
objecte nach der anderen Seite nicht im Verhältniss von Ursache und
Wirkung zu einander stehen. Es ist bekannt, dass Scheinbewegungen
dann entstehen, wenn die Richtung der Gesichtslinie auf anderem
Wege als dem der normalen Innervation geändert wird. Wenn man
z. B., während man das linke Auge scliliesst, mit dem rechten stark
nach innen blickend, einen Gegenstand fixirt, und nun die Haut des
rechten äusseren Augenwinkels nach aussen zerrt, so scheint der fixirte
Gegenstand bei jeder Zerrung nach links zu entweichen. Diese Erschei-
— Ui —
nung hat ihren Grund darin, dass durch jene Zerrung die Gesiclitsliuie
etwa in der Richtung des Zuges des äusseren graden Augenmuskels
verschoben wird, ohne dass wir diesen Muskel mit dem dazu in der
Regel verwendeten Willensimpulse versehen hätten, während wir, um
unser Gesichtsobject weiter fixiren zu können, den Internus in der
Weise innerviren müssen, als wenn jenes nach links bewegt worden
wäre. Das Sensorium verlegt deshalb die wirklich stattgehabten Be-
wegungen nicht in das Auge, sondern in das betrachtete Object, indem
es, lediglich auf seine bis dahin gesammelten Erfahrungen angewiesen,
imr nach dem seinerseits wirklich verbrauchten Augenmuskelimpulse
urtheilt. Dieser entspricht a^ber bei dem gewählten Beispiele einer Be-
wegung des Gesichtsobjectes von rechts nach links.
Wenn nun durch eine unseren Sinnen unbekannte Kraft ohne die
in der normalen Weise vor sich gehende Mitwirkung unseres Sensoriums
der Kopf und mit ihm die Aiigen nach rechts bewegt werden, so kann
man dies als eine unwesenthche Abänderung des soeben beschriebenen
Versuches betrachten. Es würde dann folgerichtig sein, die nach links
gerichtete Scheinbewegung als nothwendige Folge der vorausgesetzten
Zwangsbewegung aufzufassen, wenn mit dem Aufhören der Zwangs-
bewegung auch die Scheinbewegung ihr Ende erreichte. Dies ist aber
niclit der Fall, sondern das scheinbare Versinken der Gegenstände nach
der einen Seite dauert an, während die wirkliche Bewegung bei dem
Wanken des Kopfes nui' momentan zu sein braucht. Ja, das Zustande-
kommen der Scheinbewegung bedarf nicht einmal nothwendigerweise
einer objectiv wahrnehmbaren Körperbewegung. Es ist oben schon
angeführt worden, dass Scheinbewegungen bedeutend leichter zu er-
zeugen sind, als das andere in Rede stehende Symptom.
Unter diesen Umständen ist es zwar möglich, dass in dem Momente
des nach der Seite Schwankens uns durch dasselbe eine ebenfalls mo-
mentane Bewegung der Gegenstände im Raurae nach der anderen Seite
vorgetäuscht wird, aber die continuirliche Scheinbewegung kann hier-
durch keineswegs erklärt werden.
Uebrigens ist die Production des compensirenden Muskelimpulses keine
nothwendige Bedingung für das Eintreten der Scheinbewegung. Denn
dieselbe Scheinbewegung entsteht auch jedes Mal, wenn man den rechten
Bulbus durch einen plötzlichen kurzen Druck von innen her nach rechts ver-
schiebt, während man gleichzeitig, ohne zu fixiren, ins Weite blickt. Es würde
also in den beiden gewählten Beispielen die auf abnorme Weise vor sich
gehende Verschiebung der Gesichtslinie genügen, um eine scheinbare Be-
wegung des Gesichtsobjectes hervorzubringen. Indessen ist die Sinnestäuschung
unter sonst gleichen Verhältnissen immer stärker, wenn compensirende Muskel-
— 345 —
impulse mit in Frage kommen. Durch diejenigen Phänomene, welche bei
Augenmuskellähmungen und nach anhaltender Betrachtung sich in einer
bestimmten Richtung bewegender Gegenstände vorkommen, lässt sich der
Beweis hierfür führen. —
Bevor wir nun dieses Capitel schliessen, sei es gestattet, die an-
gewendete Methode einer kurzen Besprechung zu unterziehen. Bei
allen Gnindversuchen Hess ich den Strom in der einen Fossa mastoidea
ein- und in der anderen Fossa mastoidea austreten. Dies Verfahren
ist bei Weitem weniger umständlich als die Galvanisation durch die
Ohren und auch lange nicht so schmerzhaft. Wenn man den Strom
durch die Ohren leitet, hat man es wegen der Enge des Gehörganges
nothgedruugen immer mit äusserst kleinen Einströmungsstellen zu thun.
Die Dichtigkeit des Stromes wird also, bei übrigens gleicher Intensität
desselben, in der Regel an den Einströmungsstellen, wenn es die
Ohren sind, viel beträchtlicher sein, als bei äusserlicher Anlegung der
Leiter. Dies ist um so unangenehmer, als die Nerven des Gehörganges
ohnehin schon sehr empfindlich zu sein pflegen. Ausserdem bekommt
man bei der Galvanisirung durch die Ohren leicht subjective Gehörs-
empfindungen. Nun wird von der Versuchsperson Auskunft über ihr
durchaus neue, subjective Empfindungen verlangt, welche zudem in
einer theilweiscn Verwirrung des Urtheils bestehen und deshalb von
entschieden beängstigender Natur sind. Verlangt man also einiger-
massen zuvei'lässige Angaben, so muss man von der Versuchsperson
alle Eindrücke, durch welche ihre ürtheilsfähigkeit noch weiter beein-
trächtigt wird, fern halten, und zu diesen gehört in erster Reihe der
Schmerz.
Applicirt man die Elektroden nicht beide in den Fossis mastoideis
oder ihrer unmittelbaren Nähe, so ist, die gleiche Elementeiizahl vor-
ausgesetzt, der Schmerz zwar manchmal noch unbedeutender; indessen
treten die zu studirenden Reizerscheinungen dann um so schwerer ein,
so dass man, um das Gleiche zu sehen, der Versuchsperson durch
Steigerung der absoluten Stromintensität nun doch wieder mindestens
den gleichen Schmerz verursachen muss.
Aus den gleichen Gründen habe ich in allen Fällen die von mir
angegebene Modification der unpolarisirbaren Elektroden du Bois-
Reymond's angewendet: denn die durch Metallelektroden hervor-
gebrachte Anätzung der Haut kann einen so erheblichen Schmerz ver-
ursachen, dass man zur Unterbrechung des Versuches veranlasst wird.
Die Zahl der zur Hervorbringung der beschriebenen Reizeffecte er-
forderlichen Elemente variirt je nach Oertlichkeit und Querschnitt der
— 346 —
Einströmungsstelleii und der Reizbarkeit der Versuchspersonen inner-
lialb ziemlich breiter Grenzen.
Bei Verwendnng einzölliger Elektroden und bei querer Durch-
leitimg des Stromes kann man bei 6 Daniell schon starken Schwindel
haben. Gewöhnlich bedarf mau einiger Elemente mehr. Vollkommene
Durch feuclitung der Haut und metallische Schliessung und Oeffnung
ersparen ceteris paribus immer ein paar Elemente. Eine grosse Rolle
spielt die Disposition. Bei Krankheiten ist dieselbe häufig bedeutend
gesteigert, ohne das man aber mit wenigen Worten allgemein gültige
Regeln aufstellen könnte. Die meisten Tabes-Kranken z. B. werden un-
gemein leicht scliwindlich, andere wieder sehr schwer.
Die Verwendung unpolarisirbarer Elektroden empfiehlt sich auch
aus dem Grunde, weil diese Instrumente das Andrücken des Reiz-
trägers nicht erfordern. Die dadurch bedingte Unterstützung des Kopfes
erschwert das Eintreten der Schwindelempfindungen.
Das Horausschleichen aus der Kette durch Anwendung einer gra-
duirten Nebenschliessung vermag andererseits den Eintritt von Oeff-
nungsschwindel nicht immer gänzlich zu verhüten. —
Es mag am Platze sein, hier meine Ansicht über die von einigen
behauptete Gefährlichkeit des Galvanisirens am Kopfe auszusprechen.
Zunächst dürfte wohl die grosse Anzahl von Versuchen, die ich zur
Ermittelung der in dieser Abhandlung angeführten Thatsachen an Ge-
sunden und Kranken ohne Nachtheil für dieselben angestellt habe, da-
für sprechen, dass die beschriebenen Methoden, wenn überhaupt, nur
ausnahmsweise und unter ganz besonderen Bedingungen wirklich ge-
fährlich sein können. Dann möchte ich darauf aufmerksam machen,
dass in der Literatur noch kein einziges glaubwürdiges Beispiel existirt,
aus dem hervorginge, dass Jemand in der That durch eine solche Me-
thode ernstlich geschädigt worden wäre. Gleichwohl hat man seit dem
ersten Bekanntwerden des Galvauismus ohne Scheu die barbarischsten
Galvanisationsmethoden am Kopfe vorgenommen.*) .Ja, es lässt sich so-
gar aus den eigenen Schriften solcher Autoren, die am meisten gegen
das Galvanisiren des Kopfes eifern, mit Leichtigkeit nachweisen, dass
sie selbst stärkere Ströme, als die hier in Rede kommenden, ohne Be-
denken angewandt haben.
*) Die älteren Galvanisten, denen das Gesetz von du Bois-Reymond
noch nicht bekannt war, glaubten den Strom durch Schütteln der Ketten,
welche sie als stromzuführende Leiter benutzten, in Bewegung halten zu
müssen. Natürlich reizten sie dadurch das Gehirn mit ungezählten Schlies-
sungs- und Oeffnungsschläffen.
— 347 —
Ich will durchaus nicht in Abrede stellen, dass die unvorsichtige
Durchleitung elektrischer Ströuie durch den Kopf ebenso gut wie durch
jeden anderen Körpertheil vorhandene Krankheitszustände verschlimmern
kann, wie denn manche Personen die Elektricität in keiner Form und
nach keiner Methode vertragen. Auch gehört die galvanische Reizung
des Gehirns durch starke Ströme mit zu den unangenehmsten Elektri-
sationsmethoden, weniger wegen der Begleiterscheinungen als wegen
der dem „Katzenjammer" ähnlichen Nachwirkungen. Man hat noch
längere Zeit nachher die Empfiudung dumpfen Druckes, namentlich im
Hinterkopfe, Uebelkeit, manchmal auch Schwindelempfindungen. Das
beste Mittel dagegen ist der Genuss von Speise und Trank.
Damit ist aber noch nicht das Geringste für eine specifische
Gefährlichkeit der fraglichen Methode — selbstverständlich innerhalb
gewisser Grenzen — bew'iesen. Wer beim Galvanisiren des Kopfes
Beobachtungen gemacht hat, die etwas Anderes beweisen, der möge
doch den Krankheitsfall und das angewendete Verfahren mit seinen
Folgen genau beschreiben. Obwohl ich für diese Methode als Heil-
mittel keineswegs eingenommen bin, halte ich es doch, selbst w'enn
man von ihrer therapeutischen Verwerthung ganz absehen sollte, für
wünschenswerth, dass die Wahrheit bekannt werde. Bis etwas Anderes
bewiesen ist, werde ich meinen eigenen Erfahrungen mehr Glauben
schenken, als allgemein gehaltenen Behauptungen. —
Die soeben besprochene Methode wurde auch bei den in den nach-
stehenden Capiteln angeführten Versuchen angewendet. Ich verweise
deshalb rücksichtlich jener Beobachtungen auf das hier Vorgetragene.
Ausserdem bemerke ich, um Wiederholungen zu vermeiden,
dass bei allen Versuchen, von denen nicht ausdrücklich
etwas Anderes gesagt ist, die Anode in der rechten Fossa
mastoidea gedacht, und soweit die Augen in Frage kommen,
das rechte Auge betrachtet ist.
III. Ueber die beim Galvanisiren des Kopfes eintretenden
Augenbewegungen.
Wenn man galvanische Ströme von solcher Intensität,
dass durch sie der zweite Grad des Schwindels hervor-
gerufen wird, oder stärkere Ströme durch den Kopf leitet,
so treten unwillkürliche und unbewusste Bewegungen der
Augen ein.
Die Leichtigkeit, mit der diese Augenbewegungen zu Stande
— 348 —
kommen, wächst bei übrigens gleichen Verhältnissen unter denselben
Bedingungen, wie die von mir gelegentlich der Scheinbewegungen und
der objectiv wahrnehmbaren Bewegungen des Körpers als begünstigende
angeführten. Man beobachtet sie also leichter bei querer Durchleitung,
beim Galvanisiren des Hinterkopfes, bei grösserer Steilheit der Strom-
curven und nach Aenderung der Stromrichtung.
Die galvanischen Augenbewegungen halten auch während der
Stronidauer an, obwohl sie weniger ausgiebig werden können, sobald
der Strom constant geworden ist. Hat man einen relativ schwachen
Strom gewählt, so verschwinden sie zuweilen allmählich gänzlich. Im
Moment der Oeffiiung hingegen oder bei anderen erheblichen negativen
Schwankungen der Stromdichte beginnen sie, auch wenn sie aufgehört
hatten, von Neuem, haben dann aber die umgekehrte Richtung.
Es ist aus den oben angeführten Gründen wiederum nicht zu ent-
scheiden, üb bei Annäherung nur einer Elektrode an den Schädel die
Anode oder die Kathode eine grössere Wirkung hat. Die Augeii-
bewegungen treten bei einer solchen Anwendung überhaupt vergleichs-
weise viel seltener und weniger intensiv auf. als die Schwindel-
empfindungen. Man bedarf dann nicht selten einer Kette von 30 und
mehr Daniel 1.
Ihrem Charakter nach sind die so an Gesunden hervor-
gebrachten Bewegungen fast immer associirte und lassen sich am Besten
mit der Nystagmus genannten Affection vergleichen. Nur unterscheidet
mau hier immer deutlich, namentlich bei geringeren Stroniintensitäten,
eine schnell ruckartig ausgeführte Bewegung nach der einen Seite und
eine langsamere nach der anderen Seite. Bei manchen Individuen
gleicht unter einer bestimmten Reizgrösse die Iris dem Schwimmer
eines Angelfischers, der langsam auf einem Flusse dahintreibt, bis er
plötzlich an der Leine in entgegengesetzter Richtung zurückgerissen
wird. Bei zunehmender Strnmintensität wird der Rhythmus schneller
und schneller, bis endlich die Richtung der kurzen ruckenden Bewegung
dominirt und der Bulbus bei sehr starken Strömen nur noch leise
oscillirend im Augenwinkel festgehalten wird.
Die Richtung der einzelnen Bewegungen — und dies ist einer der
interessantesten Punkte der ganzen Frage — hängt derart von der
Wahl der Einströmungssteilen ab, dass die schnellere, ruckende Be
wegung, die wir der Einfachheit wegen zunächst allein berücksichtigen
werden, immer in der Richtung des positiven Stromes erfolgt, die lang-
samere in der entgegengesetzten Richtung. Wenn sich also die Anode
in der rechten und die Kathode in der linken Fossa mastoidea be-
findet, so erfols;t der Ruck nach links, und bei starken Strömen werden
— 349 —
beide Bulbi in den linken Winkeln festgehalten. Damit dieses Gesetz
auf die überwiegend zahlreichen Fälle, in denen Raddrehungen ein-
treten, passe, ist es uöthig, sich den gebogenen Pfeil, durch den man
sich den Vorgang der Raddrehung veranschaulichen kann, gestreckt zu
denken. Wie üblich ist hierbei das obere Ende des verticalen Meri-
dians betrachtet.
In denjenigen Fällen jedoch, wo nur die eine Elektrode sich in
der Gegend des Kopfes befindet, treten die Bewegungen, wenn es über-
haupt dazu kommt, so auf, als wenn die andere Elektrode sich auf der
anderen Seite des Kopfes befände. Bei einer solchen Anordnung kann
man denn auch einzig am Normalen die Beobachtung machen, dass die
Bewegungen beider Augen nicht vollkommen associirt sind, sondern
dass auf dem einen Auge die Drehung um die sagitale, auf dem anderen
Auge die Drehung um die verticale Axe vorherrscht.
Man kann durch das Galvanisiren keineswegs alle ph3'siologischen
Augenbewegnngen zwangsweise hervorbringen. An normalen Augen
fallen z. B. sämmtliche Convergenzen aus. Es handelt sich vielmehr
hauptsächlich um gleichnamige Seitenwendungen und Rotationen. Ausser-
dem entsprechen die vorhandenen Bewegungen, wie ich noch ausführ-
licher zeigen werde, rücksichtlich der Combinationen der Drehungs-
winkel in den meisten Fällen den physiologischen durchaus nicht.
Die zunächst zu lösende Frage würde lauten, durch Reizung
welcher Organe die soeben beschriebenen Augenbewegungen
ausgelöst werden. Es könnte sich um die Muskeln, um die Stämme
der motorischen Nerven und um centrale Gebilde handeln.
An die Muskeln kann man schon um deswillen nicht denkeii, weil
der Reizeffect unendlich viel leichter auftritt, wenn man sich bis zur
Fossa mastoidea von der Orbita entfernt, als wenn man in deren Gegend
operirt. Ausserdem wäre nicht zu ersehen, wie associirte Bewegungen
beider Augen durch die Reizung mit einem annähernd constanten
Strome direct durch die zugehörige Muskulatur ausgelöst werden
sollten.
Auch um die Nervenstämme kann es sich nicht handeln; denn
auch der motorische Nerv antwortet ganz anders auf die Reizung mit
Kettenströmen. Indessen wurde, um diese Frage noch weiter zu er-
hellen, der Versuch gemacht, zu bestimmen, durch welche Muskeln
in jedem einzelnen Falle die betreffenden Bewegungen aus-
gelöst w erden.
Es war um so schwerer, hierüber zu einer definitiven Ansicht zu
gelangen, als auch die physiologischen Augenbewegungen kaum je
das Resultat der Contraction eines einzelnen Muskels sind. Die Augen-
— 350 —
muskejn haben vielmehr in hohem Grade den Charakter von Mode-
ratoren, derart, dass eine jede physiologische Bewegung des Bulbus
als Resultante einer Anzahl von bewegenden Kräften aufgefasst werden
muss. Zwei Wege gab es jedoch, auf denen es vielleicht möglich war,
der Sache näher zu kommen. Der eine bestand darin, dass man ge-
sunde und der Selbstbeobachtung fähige Versuchspersonen während der
Reizung bestimmte willkürliche Augenbewegungen ausführen liess, und
das Product der willkürlichen und der galvanischen Augenbewegungen
beobachtete und beobachten liess. Die so e: zielten Resultate sind aber
zur Verwerthung nicht dur-chsichtig genug, wahrscheinlich weil der
Vorgang dabei noch w^eiter complicirt wird. Denn nicht nur, dass wir
es dabei mit neuen Imiervationen der gesammten Augenmuskulatur
zu thun bekommen, sondern es tritt auch ein centraler Vorgang ein,
dessen Einzelnheiten uns unbekannt bleiben. Der letztere Umstand
fällt um so mehr in's Gewicht, als die Methode ja von vornherein eiiie
Fälschung des Ürtheils herbeiführt.
Der andere Weg hingegen lieferte Resultate, welche in einem
späteren Theile der Abhandlung auch noch anderweitig verwerthet
werden sollen. Er bestand in der Anwendung dieser Methode auf Per-
sonen mit completen Lähmungen einzelner Augenmuskeln. Man konnte
nämlich erwarten, dass bei einer peripheren, noch completen Lähmung
des einen oder des anderen Augenneiven die elektrischen Bewegungen
auf dem kranken Auge entweder ganz ausfallen oder doch modificirt
werden würden. In der Tliat traf diese Voraussetzung zu.
Wenn bei einer rechtsseitigen Lälimuug des Oculo mo torius der
Strom von der linken zur rechten Fossa mastoidea gerichtet ist, so
kann es vorkommen, und es ist sogar die Regel, dass auf dem linken
Auge ausgesprochene Radbewegungen, auf dem rechten jedoch hori-
zontale eintreten, während bei umgekehrter Stromrichtung sich auf
beiden Seiten Raddrehungen zeigen. Bei der einen sowohl als bei der
anderen Stromrichtung sind die Excursionen des rechten Bulbus weniger
ausgiebig als die des linken.
Es scheint mir hieraus mit Sicherheit hervorzugehen, dass die
Raddreliung, welche bei der ersteren Reizmethode am Gesunden auch
auf dem rechten Auge eintreten müsste, die Resultante darstellen würde
von der Contraction nicht nur des Obliquus inferior, sondern auch
mindestens noch des Abducens. Denn von der Gesammtbewegung des
Auga])fels, welche beim Gesunden in einer Drehung um die Vertical-
axe nach rechts mit gleichzeitiger Raddrehung in derselben Richtung
besteht, fällt auf dem kranken Auge in Folge der Leitungsunterbrechung
in der Bahn des Oculomotorius der zweite Theil der Bewegung aus,
— 351 —
während der andere von diesem Nerven nicht abhängige zu Standes
kommt. Die Excursiouen bewegen sich aber auf dem kranken Auge
um deswillen in engeren Grenzen, weil diejenigen Muskeln, welche den
einmal nach rechts gestellten Bulbus in die mittlere Stellung zurück-
zuführen hätten, von dem gelähmten Augennerven versorgt werden.
Wenn man nun bei einer rechtsseitigen vollständigen Lähmung des
Abducens dieselben Versuche anstellt, so kann man beobachten, dass
auf dem linken Auge Horizontalbewegungen, auf dem rechten aber
Raddrehungen eintreten, sobald die Anode sich links befindet, während
bei umgekehrter Application auf beiden Augen Rotationen um die ver-
ticale Axe vorhanden sind. In beiden P'ällen macht das linke Auge
ausgiebigere Bewegungen. Das rechte Auge hingegen steht in mehr
oder weniger starker Abduction, manchmal auch gleichzeitig nach oben
schielend.
Hätte nun die fragliche Versuchsperson keine Lähmung des Ab-
ducens gehabt, so würden ohne Zweifel bei der erstangeführten Reiz-
methode auch auf dem rechten Auge Horizontalbewegungen eingetreten
sein. Da nun bei Ausfall des rechten Abducens gleichwohl Bewegungen,
aber solche um die sagittale Axe zu beobachten sind, so darf man
wohl mit Recht annehmen, dass bei der auf einem normalen rechten
Auge eintretenden Horizontalbewegung nach rechts nicht nur der Ab-
ducens, sondern mindestens auch der Obliquus inferior betheiligt ist
und dass der dann gleichwohl um die Verticalaxe erfolgende Bewegungs-
effect nur auf das Vorwiegen der Abducens-Contraction zu beziehen ist.
Auf dem linken Auge hingegen würde es sich in denselben Momenten
um gleichzeitige Reizung in den Bahnen für Internus und Trochlearis
handeln.
Selbstverständlich treten überall grade die umgekehrten Erschei-
nungen auf, sobald die auf dem rechten Auge vorausgesetzten Muskel-
lähmungen das linke Auge betreffen. Uebrigens ist es auffallend, wie
leicht die sonst seltener zu erzeugenden Horizontalbewegungen grade
bei Augenkranken auch auf der gesunden Seite zu beobachten sind.'')
Wir sehen also übereinstimmend, dass bei der Stromrichtung von
links nach rechts auf dem linken Auge Theile des Oculomotorius und
der Trochlearis, auf dem rechten Auge andere Theile des Oculomo-
torius und der Abducens mit Reizen eigenthümlicher Art versehen
werden.
Wie derartig gruppirte Reizeffecte gesetzmässig durch directe
Reizung der Nerven ausgelöst werden sollen, ist weder vom rein phy-
*) Reine Trochlearis-Lähmungen bekam ich nicht zur Beobachtung.
— 352 —
sikalischen noch vom physiologischen Standpunkte aus einzusehen.
Denn die Innervation strahlt nicht nur in mehrere Muskeln, sondern
auch in mehrere von A'^erschiedenen, weit auseinanderliegenden Nerven
abhängige Muskeln ein. Endlich auch müssten, was den Oculomotorius
angeht, immer nur einzelne Theile seines Stammes getroffen werden,
eine Annahme, die höchstens für eine bestimmte, nicht aber für alle
Stromstärken Gültigkeit haben könnte.
Andererseits ist es nicht nur möglich, sondern bis zu einem ge-
wissen Grade sogar sicher, dass im Gehirn Associationsvorrichtungen
bestehen, in denen solche Fasern, die später verschiedenen Nerven an-
gehören, dicht beisammen liegen und deshalb auch, gemeinschaftlicher
Reizung leicht zugänglich sind.
Wenn die fraglichen Augenbewegungen nun weder durch die
Muskeln noch durch die peripheren Nerven ausgelöst sein können, so
bleibt in der That nur übrig, sie auf irgend eine Beeinflussung centraler
Gebilde zu beziehen. —
Sehr merkwürdig und durchaus abweichend von dem, was wir über
das Verhalten peripherer Nerven wissen, ist, dass diese anscheinend
innerhalb derselben Bahnen an- und abschwellenden Erregungen durch
den nicht unterbrochenen, möglichst constant gehaltenen Batteriestrom
aasgelöst werden. Der Inductionsstrom führt ebenso wenig zu diesen
Augenbewegungen, wie zu Schwindelempfindungen. Gleichwohl ist es
durch die bisher angeführten Untersuchungen und Erwägungen vielleicht
noch nicht gänzlich auszuschliessen, dass nicht die in Folge der all-
mählichen Durchfeuchtung und Auflockerung der Haut während des
Kettenschlusses entstehenden Stromschwankungen hierbei eine Rolle
spielen. Allerdings wird dies, abgesehen von manchen anderen Gründen,
auch dadurch sehr unwahrscheinlich, dass die nach der Kettenöffnung
entstehenden Bewegungen mit umgekehrter Richtung nicht nur momentan
sind, sondern auch über den Moment der Oeffnung hinaus eine geraume
Zeit anhalten.
IV. lieber die Art der Einwirkung des Galvanismus.
Bereits mehrfach ist einer Verschiedenheit der Wirkungsart beider
Pole gedacht worden. Wir sahen, dass die Richtung aller realen und
auch aller Scheinbewegungen mit einer Gesetzmässigkeit, die nichts zu
wünschen übrig lässt, davon abhängt, welche Elektrode rechts und
welche links applicirt wird, ob der Schliessungs- oder der Oeffnungsreiz
einwirkt.
— 353 —
Alis diesem Verhalten geht mit absoluter Sicherheit hervor, dass
ein Gegensatz in der Wirkung beider Elektroden, wie er schärfer nicht
gedacht werden kann, vorhanden ist. Indessen dürfte es von besonde-
rem Interesse sein, hervorzuheben, dass gerade die vollkommene Ein-
führung dieses Gegensatzes in den centralen Mechanismus conditio sine
qua non für das Eintreten aller uns beschäftigenden Reizerscheinungen
ist, und dass hierfür keineswegs die Einwirkung irgend eines elek-
trischen Eeizes ausreicht. Brenner (s. o.) führt bereits einen Versuch
au, der als schlagender Beweis benutzt werden kann. Er brachte eine
getheilte Anode in die Fossae mastoideae und eine einfache Kathode
auf den Nacken. Es trat kein Schwindel ein. Sobald er aber eine
Anode entfernte, war der Schwindel selbst bei einem viel schwächereu
Strome, als dem zuerst benutzten, vorhanden. Ich habe diesen Versuch
nicht nur mehrfach wiederholt, sondern auch auf die Reizung mit der
Kathode ausgedehnt. Danach kann ich die Angabe Brenner's voll-
kommen bestätigen und ausserdem auch für die Kathode und für das
Eintreten der Augenbevvegungen erweitern. Auch bei den grössten
Stromintensitäten kommt es weder zu Schwindel noch zu Augenbewe-
gungen, sobald beide Schädelhälften mit der gleichnamigen Elektrode
gereizt werden.
Wenn nun bei Annäherung nur einer Elektrode an den Schädel
gleichwohl sämmtliche Reizerscheinungen, aber freilich viel weniger aus-
gesprochen, eintreten, so muss dies auf die eigeuthümliche Function der
gereizten Organe bezogen werden. Sowohl die associirteu Augenbewe-
gnngen als die Vertheilung der zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts
dienenden Muskelimpulse setzen ein ungestörtes Zusammenwirken der
gleichnamigen symmetrischen Centralorgane voraus. Wird nur
die Erregbarkeit des Centralorgans der einen Seite von der Norm ent-
fernt, so ist die daraus resultirende Störung beträchtlich geringer, als
wenn die Erregbarkeit des symmetrischen Organs um das Gleiche, aber
im entgegengesetzten Sinne, verändert wird. Eine doppelseitige positive
oder negative Erregbarkeitsveränderung bleibt aber ohne wahrnehmbare
Zeichen.
Es kann bei Berücksichtigung des soeben Recapitulirten und Neu-
angeführten wohl keinem Zweifel unterliegen, dass die in Rede stehen-
den Reizerscheinungen auf analoge Erregbarkeitsveränderungen zurück-
zuführen sind, wie die nach den Untersuchungen von Pflüger am
elektrotonisirten Nerven vorhandenen. Dies dürfte aber der erste Nach-
weis sein, dass man vermag, durch galvanische Reizung ge-
wisse Complexe intracerebralei- Nerven — sei es direct, sei
Hitzig, Gesammelte Abhandl. I. Theil. 23
— 35i —
es indirect — in Erregungszustände zu versetzen, durch die
Aulass zu Muskeibewegungen eigenthümliclier Art gegeben
wird.
Hieran schliesst sich aufs Engste die Erwägung des ümstandes,
dass inducirte Ströme weder Schwindel noch Augenbewegungen hervor-
bringen. Schon einmal war die Elektrophysiologie mit der Bearbeitung
einer ähnlichen Frage beschäftigt. Es handelte sich damals darum,
zu erklären, warum gelähmte Muskeln nicht auf inducirte, wohl aber
auf Kettenströrae reagiren. Neumann hat das Verdienst, den physi-
kalischen Grund dieses ungemein sonderbar erscheinenden Phänomens
in der kurzen Dauer der Inductionsströme gefunden zu haben Natür-
lich lag es nahe, sich zu überzeugen, ob hier nicht dieselbe physikali-
sche Ursache obwalte. Die gehegte Vermuthung fand sich bestätigt.
Kettenschliessungen und ebenso Kettenöffnungen von ganz
kurzer Dauer haben denselben Nichterfolg wie Inductions-
ströme. Wenn man also z. B. eine Kette, deren gänzliche OefTnung
das ganze Bild der Reizeffecte entrollen würde, nur momentan öifnet
und wieder schliesst, so ist es für die fraglichen Gehirnfunctionen, als
wenn nichts gewesen wäre; die peripheren Nerven aber antworten jeder
mit seiner specifischen Energie, der Facialis mit Zuckung, der Opticus
mit Lichtempfindung, die Geschmacksnerven mit stärkeren galvanischen
Sensationen. Schnelle Wiederholung der Oeffnung und Schliessung
ändert hieran nichts.
Dieser Umstand ist in doppelter Beziehung von Wichtigkeit. Ein-
mal darum, weil er einen ferneren Beweis für den eben augeführten
Satz bildet, dass „die vollkommene Einführung des elektrotonischen
Gegensatzes in den cerebralen Mechanismus conditio sine qua non für
das Eintreten der uns beschäftigenden Reizerscheinungen ist." Wir sind
berechtigt, zu schliessen, dass die intracraniellen Nervengebilde der
Veränderung ihres Zustandes durch den Strom eine ähnliche Trägheit
entgegensetzen, als der gelähmte oder curarisirte Muskel, als der
Schliessmuskel der Muscheln. Ehe die Umlagerung und damit die als
Muskelbewegung in die Erscheiiumg tretende Aenderung der Function
herangebildet, ist die Rücklagerung in den früheren Zustand schon
wieder da. Hierin würde also eine wesentliche, wenn auch nur quan-
titative Verschiedenheit von dem Verhalten peripherer Nerven liegen.
Der Umstand ist zweitens von Wichtigkeit, weil er den Beweis für
eine Ansicht liefert, welche man unten (S. 372) ausgesprochen finden
wird, dass nämlich der Galvanismus bei diesen Reizversuchen in der
Art einer Summirung von Reizen wirkt. Wenn dieselben Reize, welche
bei intermittirender Anwendune; zu keinem Reizeffecte Veranlassuna;
— 355 —
geben, continuirlich angewendet werden, so ist der Reizeffect da. Dies
heisst, in andere Worte übertragen: „Innerhalb gewisser zeitlicher
Grenzen verstärkt jeder kleinste Zeitabschnitt des Reizes die Wirkung
seines Vorgängers."
Endlich könnte noch Jemand die Frage erheben, ob bei diesen Ver-
suchen der negative Reizzuwachs der Schliessung in der That auf der
Seite der Anode und der positive Reizzuwachs auf der Seite der Kathode
statt hat. Bei gewissen Untersuchungen am Menschen über Erregbar-
keit elektrotonisirter Nerven (Erb) fand sich nämlich stets der un-
gleichartige Rrregbarkeitszuwachs jeder der beiden Elektroden auf
das Aeusserste nahegerückt. Indessen kommt ein solches Verhalten
bei der benutzten Versuchsanordnung offenbar nicht vor. Man kann
dies aus den Reizversuchen am Gehörorgan mit Sicherheit entnehmen.
Die akustischen Reactionen beweisen, dass in der That ein noch ziem-
lich entlegener Theil des Schädelinhalts gänzlich unter dem Einfliisse
der dem Schädel äusserlich genäherten Elektrode steht.
V, Ueber das Verhältniss der beim Galvanisiren des Kopfes
auftretenden Reizerscheinungen zu einander.
Die Gleichzeitigkeit im Vorkommen der angeführten Thatsachen
veranlasst die Frage, ob dieselben unter einander ganz oder
theilweise in dem Verhältnisse von Ursache und Wirkung
stehen. Es liegen hier drei Möglichkeiten vor:
1. Die Schwindelempfindungen können Folge der unwillkürlichen
Augenbewegungen, oder
2. die unwillkürlichen Augenbewegungen können Folge der Schwindel-
empfindungen sein, oder
3. beide Reizerscheinnngen werden ganz oder theilweise unabhän-
gig von einander durch Reizung verschiedener Centralorgane, vielleicht
auch eines Centralsystems, in dem eine Verknüpfung motorisclier
Augennerven mit Nerven der willkürlichen Körpermuskulatur stattfindet,
hervorgebracht. —
Der nächste Weg um die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der
einzelnen Reizerscheinungen von einander festzustellen, war natürlich
der, nachzusehen, ob sie unabhängig von einander vorkommen. In der
That kommen sowohl Augenbewegungen ohne Schwindelempfindungen,
als Schwindelempfindungen ohne Augenbewegungen vor. Wenn man
mit relativ starken Strömen arbeitet, kann man dies freilich nicht beob-
achten. Indessen gelingt es hier und da mit schwächeren Strömen eine
Intensität herauszufinden, bei der gerade nur das eine Symptom vor-
23*
— 356 —
handeil ist. Arn häufigsten beobachtet man bei Personen, die schon
öfter in der angegebenen Weise galvanisirt worden sind, Augenbewe-
gungen ohne Schwindelempfinduugen.
Man kann solche Beobachtungen als stricten Beweis jedoch nicht
gelten lassen. Denn wie wir einerseits unser Verhalten zu den Gegen-
ständen im Räume nach den Erfahrungen beurtheilen, die unser Senso-
rium über das Verhältniss der von ihm beanspruchten Muskelimpulse
zur Anordnung der Gegenstände gesammelt hat, und wie unser Urtheil
hierüber durch irgend welche Störung im Bereiche des percipirenden
Mechanismus verwirrt werden kann, so liegt andererseits die Möglich-
keit vor, dass die Erfahrung solcher, eine gewisse Breite nicht über-
schreitender Störungen mit der Zeit Herr werden kann. Eine Versuchs-
person, welcher früher schon mehrfach galvanische Augenbewegungen
höheren Grades erzeugt worden sind, würde endlich dahin kommen
können, diejenigen geringen Verschiebungen der Netzhautbilder, welche
durch schwache Bewegungen erzeugt werden, zu übersehen, und ver-
möge einer in der That vorhandenen Accomniodationsfähigkeit des
Centralorgans als noch in die Breite des Normalen fallend aufzu-
fassen. So haben auch Kranke, die an Nystagmus leiden, in der Regel
keine Scheinbewegungen, sondern vielmehr amblyopisclie oder aber
andere Sehstörungen, wie sie durch das Augenzittern als solches nicht
bedingt sind.
Einer ähnlichen Betrachtung würde man das isolirte Vorkommen
einer Schwindelempfindung von bestimmter Richtung nicht unter-
ziehen können. Indessen erhält man so gut wie nie Angaben, die unter
diesen Umständen eine bestimmte Richtung mit Sicherheit, oder in einer
mit anderweitig gesammelten Erfahrungen stimmenden Weise bezeichne-
ten, so dass man daraufhin eine Frage von dieser Wichtigkeit kaum ent-
scheiden möchte. Zudem hätte man in diesen seltenen Fällen lediglich
mit Angaben über subjective, sich der Controle entziehende Empfin-
dungen zu rechnen. Dieser letztere Einwand lässt sich auch gegen den
Umstand erheben, dass die Schwindelbahn der jedesmal vorwiegenden
unwillkürlichen Ablenkung der Augen nicht in allen Fällen zu ent-
sprechen scheint. Bei Raddrehungen der Augäpfel werden auch die
Netzhautbilder annähernd auf den Peripherien von vertical stehenden
Kreisen verschoben. Man hätte also eine verticale Scheiubewegung der
Gesichtsobjecte zu erwarten. Eine solche wird aber, wenn auch in der
grossen Mehrzahl der Versuche, so doch nicht ausnahmslos angegeben.
Einige Personen behaupten bei diesem Reizeffecte Horizontalschwindel
zu haben. Ebenso trifft sich das umgekehrte Verhältniss. Aus dem
angeführten Grunde ist jedoch solchen Angaben, so lange sie ohne
— 357 —
Unterstützung tlurch andere Thatsachen dastehen, keine grosse Wichtig-
keit beizulegen.
So war es denn um so mehr geboten, die gestellte Frage weiteren
Erwägungen und der Prüfung durch andere Versuche zu unterziehen,
als ein vollkommenes sich Decken der Augeubewegungen und der
Schwindelempfindungen das Zustandekommen der Letzteren, insoweit es
die Scheinbewegungen der Gesichtsobjecte betrifft, auf das Befriedigendste
erklären würde. Ja, das Eintreten von derartigen Scheinbewe-
gungen bei den beschriebenen Augenbewegungen ist in dem
Grade ein physiologisches Postulat, dass ich ungeachtet
dessen, was ich vorgebracht habe, die Erklärung dieses
Theiles der Schwindelempfindungen aus den Augenbewe-
gungen nicht nur für unbedenklich, sondern für noth wendig
halte.
Insoweit die Schwindelempfindungen als einfaches Resultat des gal-
vanischen Nystagmus betrachtet werden sollen, sind sie den Erfahrungen
anzupassen, welche aus dem S. 243 angeführten Versuche, betreffend
die bei seitlicher Verschiebung des Bulbus durch Ziehen an den Lidern
entstehenden Scheinbewegungen, gewonnen wurden. Ich habe des Näheren
(S. 348 f.) auseinandergesetzt, dass die galvanischen Augenbewegungen
keinen einfachen Tetanus oder eine einfache Muskelcontraction zur An-
schauung bringen, sondern in einem Hin- und Herschwingen des Auges
bestehen. Wir haben es also hier mit zwei entgegengesetzten Rich-
tungen der Augenbewegungen zu thun, von denen die eine mit der
Richtung der Scheinbewegung zusammenfällt. In jenem Falle (mechani-
sche Verschiebung des Auges nach rechts) glaubten wir eine Bewegung
des Gesichtsobjectes nach links darum wahrzunehmen, weil wir zur
Fixation, d. h. zur Ausgleichung der erstgenannten Bewegung, abnormer
Weise den rechten Internus mit stärkeren Impulsen versehen mussten.
Da nun bei dem galvanischen Versuche im Uebrigen die gleichen Ver-
hältnisse vorliegen, so ist für diesen anzunehmen, dass von den beiden
hier in Frage kommenden sich balancirenden Bewegungen gleichfalls
die eine durch unbewusste, aber räumliche Vorstellungen bilden helfende
Impulse ausgelöst wird, die andere hingegen durch eine unseren Sinnen
mibekannte Kraft, welche dieselbe Rolle spielt, wie der zerrende Finger,
und welche im gegebenen Falle der Galvanismus ist.
Die Scheinbewegung findet bei der geforderten Versuchsanordnung
ebenfalls nach links hin statt, folglich muss die unbewusst will-
kürliche Bewegung ebenfalls auf dem rechten Auge haupt-
sächlich den Internus betreffen, und die von dem Galvanis-
— 358 —
mus abhängige würde demnach auf demselben Auge haupt-
sächlich dem Abducens zufallen.
Diese Erklärung würde auch für den Fall ihre Gültigkeit behalten, dass
die Scheinbewegung bei dem S. 243 angeführten Versuche lediglich durch
die unbowusste Verschiebung der Gesichtslinie, also nicht durch die compen-
sirenden Muskelimpulse gedeutet würde. Der Beweis wird unten geführt
werden.
Sehen wir zunächst davon ab, durch welche besondere Art der
Einwirkung des Galvanismus die eine der beiden Augenbewegungen
hervorgebracht wird, so erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass die
andere, durch dem Sensorium eigene Impulse gebildete, eine Folge
ist der durch die erstere bewirkten abnormen Muskelzu-
stände. Wenigstens Hesse sich dies von den rotatorischen Bewegungen
sagen. Ich hatte oben angeführt, dass die galvanischen Augen-
bewegungen in ähnlicher Weise wie die normalen, Resultanten mehrerer
Zugkräfte sind. Auch bei den rotatorischen Bewegungen kann man
immer eine mehr oder weniger bedeutende Seitenwendung wahrnehmen.
Indessen stellen sich die Werthe der Raddrehungswinkel zu denen der
Seitenwendungswinkel in der Regel als ganz unverhältnissmässig viel
grösser heraus, als sie bei willkürlichen Bewegungen je vorkommen.
Nun ist aber bei diesen das Verhältniss dieser beiden Winkel zu ein-
ander kein zufälliges oder durch den Willen zu beeinflussendes. Nach
dem Donders-Listing'schen Gesetze ist der Raddrehungswinkel viel-
mehr eine Function von dem Erhebungs und dem Seitenwendungs-
winkel, oder wenn wir diesen Satz umkehren: Eine bestimmte Grösse
des Raddrehungswinkels setzt auch eine bestimmte Grösse der (in
dieser Beziehung als complementär zu betrachtenden) Erhebungs- und
Seitenwendungswinkel voraus. Da nun beim Galvanisiren weder der
eine, noch der andere dieser beiden Winkel seiner Grösse nach dem
Raddrehungswinkel entspricht, so müssen dadurch ganz ungewohnte
Muskelemplindungen vermittelt werden, und da das Sensorium mit den-
selben nicht rechnen kann, so wird es deren Ausgleichung, so weit es
ihm möglich ist. anstreben. Für diejenigen Fälle, wo bei Seiten-
wendungen wirkliche Uebergänge aus der Primärstellung in eine Se-
cundärstellung stattfänden, Hesse sich diese Erklärung freilich als nicht
zureichend anfechten. Wir werden indessen auch anderweitige Ver-
anlassung haben, auf diese Frage zurückzukommen. —
Nachdem wir dergestalt den galvanischen Nystagmus in zwei Be-
wegungen zerlegten, deren eine vorläufig als nur von dem eigen-
thümlichen Verhältniss der Augenmuskeln zu einander abhängend be-
trachtet wurde, können wir es unternehmen, die an der anderweitigen
— 359 —
willkürlichen iVIuskulatur wahrnehmbaren Innervationsstörungcn niit in
Betracht zu ziehen. Wir sahen, dass mit dem Kettenschlusse Kopl' und
Körper nach rechts schwankt, mit anderen Worten, dass die gesammte
Muskulatur, insofern sie die Haltung des Körpers bedingt, Impulse er-
hält, welche die Medianebene des Körpers nach rechts neigen. Ganz
ebenso werden auch der Gesammtmuskiiiatur der Augen in einem Mo-
mente der Reizung Impulse zu Theil, welche den verticalen Meridian
beider Augen — also Ebenen, welche der Medianebene annähernd
parallel liegen — nach derselben Seite nach rechts neigen. Es darf
aber nicht ausser Acht gelassen werden, dass bei starken Strömen das
Endresultat der zwangsmässigen Augenstellung erst hervortritt, und
sich dann als gerade das Umgekehrte ausweist, insofern als dann, wie
oben ausgeführt, die im Sinne der Stromrichtung erfolgende Be-
wegung — nach links — dominirt.
Wir haben bisher die Schwindelempfindungen ganz im Allgemeinen
so betrachtet, als wenn ihre Abhängigkeit von den Augenbewegungen
mit einer Art von Noth wendigkeit vorausgesetzt werden müsse. Wenn
indessen eine unbedingte Abhängigkeit des ersten Symptoms von dem
anderen bestände, so müssten nach den üblichen Anschauungen die
Schwindelempfindungen mit dem Fortfallen eines jeden optischen Ein-
druckes gleichfalls ausfallen, denn die scheinbare Bewegung entstand ja
bei dem als Ausgangspunkt gewählten Versuche durch das Zusammen-
wirken eines optischen Eindruckes mit abnormer Weise erforderten
Muskelimpulsen, wobei zwar die Muskelimpulse, nicht aber das Gesichts-
bild wegfallen konnten. Um den Einfluss des einen und des andern
dieser beiden Momente festzustellen, war es also geboten, den Reizver-
such einmal unter Ausschluss aller optischen Eindrücke, dann aber
unter Ausschluss aller Muskelimpulse, wenn dies möglich war, anzu-
stellen. Für diesen letzteren Zweck wäre es sehr erwünscht gewesen,
Personen mit completer Lähmung aller Augenmuskeln untersuchen zu
können; indessen gelang es mir aller angewandten Mühe ungeachtet
nicht, diesen seltenen Krankheitsfall zu Gesicht zu bekommen. Für den
ersteren Zweck konnte es vielleicht genügen, wenn man Personen bei
Schluss der Lider untersuchte. Indessen war man dann der Beobach-
tung der Bulbusbewegungen beraubt, auch hätte allenfalls die, wenn-
gleich unbestimmte Lichtempfindung, welche bei Lidschluss statt hat,
als ein Einwand erhoben werden können.
Ich stellte den Versuch deswegen zuvörderst an zwei Blinden an,
deren Zuweisung ich dem freundschaftlichen Interesse des Herrn Dr.
Brecht verdanke.
— 360 —
Der eine dieser Blinden war in Folge glaucomatöser Sehnervenexcavation
auf dem rechten Auge ganz blind, hatte auch bei galvanischer Opticusreizung
mit 20 Elementen keine Phosphene; mit dem linken Auge konnte er auf 6"
Entfernung noch eben Finger unterscheiden. Auf diesem Auge trug er während
des Versuches einen, jeden Lichtschimmer ausschliessenden Watteverband.
Bei Kettenschluss fiel er ungemein stark nach der Anoden-Seite und hatte
ausserordentlich starke Bulbusbewegungen in der Horizontalen, manchmal
schien der Bulbus nach hinten gezogen zu werden. Der Schwindel war sehr
stark, doch vermochte der sehr beunruhigte Kranke eine bestimmte Richtung
der Scheinbewegung nicht anzugeben.'^) Er liess sich auch nur noch ein
zweites Mal untersuchen, wobei nichts Weiteres herauszubekommen war.
Die andere Versuchsperson litt neben Tabes an Atrophie beider Seh-
nerven. Auf beiden Augen bestanden noch geringe Spuren quantitativer Licht-
empfindung, welche aber durch Flacirung vor eine nicht beleuchtete Wand
aufgehoben werden konnten. Beim Gradeausblicken geringe rechtsseitige Con-
vergenz; bei grösseren willkürlichen Excursionen etwas Nystagmus. Derselbe
tritt auch spontan beim Stehen auf, verliert sich beim Niedersetzen. Rechte
Papille sehr eng, linke von mittlerer Weite. Beide auf den Lichtreiz ohne
Reaction. Bei der elektrischen Reizung fiel P. sehr stark nach der Anoden-
Seite, während die in der Horizontalen vor sich gehenden Bulbusbewegungen
so stark waren, dass der Cornealrand des rechten Auges (Anode rechts oder
links) über die Karunkel hinausgezogen wurde, links war diese Excursion
weniger gross.**) Dabei hatte der Mensch sehr ausgesprochen die Empfin-
dung, als wenn er in einem Caroussel gefahren würde, welches
sich von rechs nach links dreht, vorausgesetzt, dass die Anode
rechts applicirt war.
Der Versuch konnte unter mehrmaliger Abänderung der Bedingungen in
der Zeit vom 28. November 1869 — 13. Januar 1870 10 Mal wiederholt wer-
den, und die einzelnen Angaben waren derart constant und sicher, dass ich
glaube Mehreres von denselben m.ittheilen zu sollen. Zunächst war es möglich
durch Veränderung der Einströmungsstellen Einzelheiten der .Scheinbewegung
zu modificiren. Wenn man nämlich die zweite Elektrode statt in die Fossa
mastoidea in die Fossa supraclavicularis brachte, hatte er die Empfindung des
Bergab- resp. Bergaufbewegtwerdens. Beim Galvanisiren durch zwei symme-
trische 1" nach hinten der Process. mastt. gelegene Stellen glaubt er aber
wie ein aufrechtes Rad rotirt zu werden, während doch die Bulbusbewegungen
ihren Charakter nicht änderten. Endlich gelang es, beim Galvanisiren durch die
Schläfen Bulbusbewegungen ohne gleichzeitige Scheinbewegung zu erzielen.
Beide Versuchspersonen hatten also bei Ausfall jedes optischen Ein-
drucks doch Scheinbewegungen, die nun aber auf den eigenen Körper,
statt auf die Gegenstände der Aussen weit bezogen wurden. Im Besitze
*) „Es geht Alles mit mir herum."
**) Er schielte bei jeder Bewegung also sehr stark.
— 361 —
dieser Resultate schritt ich dazu, normalsehende Personen bei ge-
schlossenen Augen zu untersuchen.
Abgesehen von vielen Kranken und meiner eigenen Person wurden diese
Versuche an zahlreichen Aerzten, welche meine Vorlesungen besuchten, an-
gestellt. Ich bin der Selbstbeobachtung dieser Flerren manche Aufklärung
und ihrer Gefälligkeit um so mehr grossen Dank schuldig, als ich nicht in
der Lage war, an mir selbst viele derartige Versuche anstellen zu können.
Schwindelempfindungen höheren Grades sind bei mir sehr schwer zu erzeugen,
während rotatorische Augenbewegungen leichter zu Stande kommen. Bei einer
bedeutenden Stromintensität sehe ich die Gegenstände verschwommen und un-
sicher, auch dreht sich der Kopf nach der Anodenseite, ohne dass ich jedoch
dabei diejenigen abnormen Empfindungen hätte, von denen bald die Rede sein
wird. Zur Beobachtung der- Augenbewegungen musste ich selbstverständlich
von meiner eigenen Person so gut wie ganz absehen.
Die Untersuchung normalsehender Versuchspersonen ergab folgende
constante Resultate. Sobald die Kette geschlossen wurde, fielen sie
nach der Anodenseite, und die der Selbstbeobachtung Fähigen bezeich-
neten diese Bewegung mit Bestimmtheit als eine willkürliche,
hervorgerufen durch die Empfindung, als wenn der Kopf
oder der Körper nach der Kathodenseite geneigt würde, und
durch das Bedürfniss, gegen diese Bewegung das Gleich-
gewicht aufrecht zu erhalten. Während des Kettenschlusses schien
ihnen aber die nach der Kathode gerichtete Bewegung des Körpers
(in der Regel) um seine horizontale und mediane Axe fortzudauern.
Liess man nun die bis dahin geschlossenen Augen öffnen, so wurde
die Empfindung von Scheinbewegung des eigenen Körpers unterdrückt
und auf die Gesichtsobjecte in der früher beschriebenen Weise über-
tragen. Gleichzeitig konnte man dann Bulbusbewegungen, wie ich sie
oben beschrieben habe, wahrnehmen, von diesen hatte aber Niemand
eine subjective Empfindung.
Ein Arzt (Dr. Heusner) zeigte Abweichendes. Im Momente des Ketten-
schlusses (Anode links) sank er mit dem Kopfe nach links, dann wieder nach
rechts, dann nach links zurück, und so dauerte eine pendelnde Bewegung
etwa 1 Minute lang an. Dann fing sie an, trichterförmig zu werden und zwar
derart, dass der Kopf an der vorderen Peripherie des Trichters von rechts
nach links bewegt wurde. Beim Oeffnen der Augen hörte diese Bewegung so-
fort auf, gleichzeitig war eine Empfindung von Schwindel ohne deutliche
Scheinbewegung der Gesichtsobjecte vorhanden. Augenbewegungen be-
standen nicht. Bei Schluss der Augen begann die trichterförmige Bewe-
gung sofort wieder. Eine Wiederholung des Versuches ergab dasselbe Resultat.
— Die Aehnlichkeit des hier vorhandenen Verhaltens der Körpermuskulatur
mit dem sonstigen der Augenmuskeln bedarf keiner Erwähnung. Ich habe
diesen Reizeffect nicht wieder produciren können.
— 362 —
Brenner (a. <i. 0.) hat bei seiner Beschreibung des galvanischen
Schwindels das Wanken des Kopfes und Körpers nach der Anodenseite
so gut wie ausschliesslich berücksichtigt. Er sagt darüber S. 76: „Das
Gefühl — — — besteht in der Empfindung, als sei die Schwere der
einen Körperhälfte aufgehoben und als falle man in Folge dessen nach
der anderen Seite." Von dem Vorkommen von Scheinbewegungen er-
wähnt er nichts, obwohl er die Benennungen „Schwindel" und „Schwiu-
delgefühl" häufig gebraucht. Bei der Exactheit, deren sich Brenner
sonst in seinen Angaben bedient, scheint es deswegen so, als ob ihm
die andere Hälfte der Erscheinungen von Schwindel entgangen sei. Die
in dem Citat beschriebene Empfindung stimmt hingegen mit den An-
gaben meiner Versuchspersonen überein, wenn auch in jenem Passus
eine ausreichende Begründung des „Fallens nach der anderen Seite"
nicht enthalten ist. Ich werde noch näher ausführen, wie in dieser
Beziehung die Auffassung der fraglichen galvanischen Zwangsbewegung
als eine unbewusst willkürliche — nicht aber als eine passive — von
grosser Wichtigkeit ist.
Zunächst aber dürfte als Resultat dieser Versuche festzuhalten sein,
dass auch.bei Ausfall aller optischen Eindrücke bestimmten
Gesetzen folgende Scliwindelempfindungen auftreten, nur
dass dieselben, anstatt auf die Gegenstände der Aussenwelt,
auf den eigenen Körper bezogen werden. Es wird hierdurch
bereits sicher bewiesen, dass kein unbedingtes Abhängigkeitsverhält-
niss im Sinne der (S. 355) unter 1 gestellten Frage zwischen den
Schwindelempfindungen und den durch den Galvanismus hervorgebrachten
abnormen Augenstellungen besteht. Man kann ein solches jedoch auch
durch einen directen Beweis ausschliessen.
Wenn nämlich eingewendet würde, dass auch beim Carroussel-
fahren zur Fixation eines ausserhalb liegenden Gegenstandes Augen-
bewegungen erforderlich sind, und dass die zwangsweise Production
ähnlicher Augenbewegungen durch den Galvanismus uns bei Aus-
schluss optischer Eindrücke das Erinnerungsbild des in gleicher Weise
Bewegtwerdens aufnöthigen kann, so lässt sich, abgesehen von der ihm
sonst innewohnenden Unwahrscheinlichkeit, dieser Einwand entkräften.
Denn eine einfache Ueberlegung macht ersichtlich, dass dann die Schein-
bewegung bei offenen und geschlossenen Augen jedesmal eine entgegen-
gesetzte Richtung haben müsste. Ich hatte oben (S. 357) die nach
der Anodenseite, nach rechts gerichtete Bulbusbewegung als die vom
Galvanisiren direct abhängige angesprochen. Die Scheinbewegung
nach links sollte entstehen einmal durch die vermöge äusserer Gewalt
erfolgende Verschiebung der Blicklinie nach rechts, dann in Folge von
— 363 —
Augenmuskelimpulsen, welche diesen Effect aufzuheben streben, also die
ßlicklinie nach links wenden. Wenn ich nun in einem Carroussel von
rechts nach links fahre, so werden mir die Gegenstände nach rechts
entrückt, ich muss also, um zu fixiren, den rechten äusseren und den
linken inneren Graden vorwiegend innerviren. Demnach würden die
beim wirklichen Carrousselfahren vorhandenen willkürlichen Augen-
bewegungen grade die entgegengesetzte Richtung haben, als diejenigen,
welche wir beim scheinbaren Carrousselfahren als die willkürlichen
betrachteten, insofern als die letzteren unter der vorausgesetzten Ver-
suchsanordnung die Blicklinie nach links wenden.
Wollte man aber annehmen, dass die nach der Anode gerichtete
Bulbuswegung die willkürliche, und die andere die vom Galvanismus
direct abhängige sei, so würde sich die Richtung der Scheinbewegung
(bei offenen Augen) nach der Kathode weder durch die vermöge äusserer
Gewalt hervorgebrachte Verschiebung der Blicklinie, noch durch die
compensirenden Muskelimpulse erklären lassen. Denn wenn die Biick-
linie durch äussere Gewalt ohne Dazwischentreten von Willensimpulsen
nach links verschoben wird, so kann dies wohl eine scheinbare Be-
wegung der Objecto nach rechts, nicht aber nach links bedingen,
und ebenso würde die compensirende Muskelinnervation, insofern sie
dann nach rechts gerichtet wäre, dem Vorbeiführen der Gegenstände
nach derselben Richtung entsprechen.
Unter diesen Umständen kann man mit Bestimmtheit annehmen,
dass die bei geschlosseneu Augen eintretenden Schwindelempfindungen
mit den Augen nichts zu thun haben; während die bei offenen Augen
vorhandenen Scheinbewegungen der Gesichtsobjecte wohl sicher auf
die galvanischen Zwangsbewegungen des Bulbus zurückgeführt werden
müssen. Mithin wäre die erste der drei aufgeworfenen Fragen dahin
zu beantworten, dass die Schwindelempfindungen in ihrem
optischen Theile Folge der galvanischen Augenbewegungen
sind. —
Was nun im Allgemeinen die Uebertragung der Scheinbewegung
bald auf die Ausseuwelt, bald auf den eigenen Körper betrifft, so ist
es bekannt, dass Irrthümer bei der Bestimmung, ob ein Körper sich
wirklich bewegt, überall da zu den häufigsten Vorkommnissen gehören,
wo die Erfahrung uns nicht durch Bezugnahme auf genau bekannte
Verhältnisse weiterhilft. Wenn wir z. B. auf einer Eisenbahnfahrt in
einem Bahnhofe angelangt, den auf einem parallelen Geleise befind-
lichen Train durch das Fenster betrachten, und einer der beiden Züge
geräth in langsame Bewegung, so täuschen wir uns ungemein häufig
in der Bestimmung dessen, welcher sich wirklich bewegt. Fast regel-
— 364 —
massig glaubeil wir dann selbst bewegt zu werden, wenn unser Nachbar
seine Fahrt beginnt. Selbst die Reflection darüber, dass wir keine
Stösse erhalten, hilft über diese Täuschung nicht hinweg. Erst das
bewusste Zusammenhalten unserer eigenen Stellung und der unseres
Nachbars mit derjenigen von uns als unverrückbar bekannten Körpern
belehrt uns über die Wahrheit. In dieser Weise wirkt z. B. die Be-
trachtung von Telegraphenstangen durch die sich corres])ondirenden
Fensteröffnungen.
Es ist also für die richtige Deutung einer beschränkten Anzahl
sinnlicher Eindrücke erforderlich, dass wir in den Stand gesetzt werden,
dieselben in unser anderweitig gebildetes System von Erfahrungen ein-
zureihen. Ist dies aber nicht der Fall, so befinden wir uns für die
Auffassung der gegebenen Zahl sinnlicher Eindrücke in absoluter Ab-
hängigkeit von den Ideenassociationen, welche die eigenthümliche
Gruppirung der im concreten Falle gegebenen siiuilichen Eindrücke in
uns wachruft und mit deren auch nur theilweiser Veränderung unsere
Vorstellung von dem wirklichen Vorgange gänzlich umgeformt werden
kann. Helmholtz, der in seiner physiologischen Optik diesen Gegen-
stand, in soweit er die Gesichtswahrnehmungen betrifft, an mehreren
Orten mit der ihm eigenen Klarheit behandelt, äussert sich S. 632 über
den Einfluss derartiger Ideenassociationen in folgender Weise: „Diese
Art der Association der Vorstellungen geschieht nicht willkürlich,
sondern wie durch eine blinde Naturgewalt, wenn auch nach den Ge-
setzen unseres eignen Geistes und sie tritt deshalb in unseren Wahr-
nehmungen ebensogut als eine äussere, uns zwingende Macht auf, wie
die von aussen kommenden Eindrücke."
Wenn wir diese Betrachtungen auf die den beiden Formen des
galvanischen Versuches entsprechenden Schwindelempfindungen an-
wenden, so ergiebt sich, wie mir scheint, zwanglos eine einfache und
befriedigende Erklärung der einen und der anderen.
Vergessen wir jedoch nicht, dass bei den zwei vorliegenden Formen die
Aufgabe, zu bestimmen, welcher von zwei Körpern sich wirklich bewegt, in
dem einen Falle genau genommen eigentlich gar nicht gestellt werden kann.
Bei der Scheinbewegung der Gesichtsobjecte handelt es sich allerdings um
wirkliche Bewegungen der Augen. Das ist aber bei der Scheinbewegung des
eigenen Körpers insofern nicht der Fall, als die beim galvanischen Versuche
eintretende reale Bewegung nach der Anode nicht ein mit dem ersten Mo-
mente der Scheinbewegung gleichzeitiger Act, sondern erst eine Consequenz
der letzteren ist. Es wird also der sonst bei der zu lösenden Aufgabe wirklich
vorhandenen Bewegung eine scheinbare Bewegung von vorn herein substituirt.
Unsere Vorstellungen über das Verhalten des eigenen Körpers im
— 365 —
Räume und zu den einzelnen anderen Objecten des Raumes werden
durch die Function einer ganzen Reihe verschiedenartiger Organe ge-
bildet, verändert und gefälscht. Wir beschäftigten uns schon mehrfach
mit den Verhältnissen, welche den Sehapparat betreffen. Indessen ist
es ersichtlich, dass diesem die gedachte Function nicht allein zukommt.
Ich will nicht von dem eigenthümlichen Zusammenhange der halb-
cirkelförmigen Kanäle''') mit der Erhaltung des Gleichgewichtes sprechen,
aber wir wissen, dass die durch Erregungen der sensiblen Hautnerven
und durch die Zustände der gesammten willkürlichen Muskulatur ge-
bildeten Vorstellungen in einer ähnlichen Weise wie die Gesichfsbilder
zur Formation der Ges' mmtvorstellung unseres räumlichen Seins ver-
werthet werden. Dabei macht sich jedoch ein bemerkenswerther Unter-
schied zwischen diesen beiden Arten der Perception geltend. Die opti-
schen Wfthrnehnmngen vermögen uns mit einem Schlage das Gesammt-
bild des Verhaltens einer grossen Zahl von Gegenständen zu einander
und zu uns selbst zu entrollen, während das Geraeingefi^ihl uns im
Wesentlichen nur die Zustände des eigenen Körpers abspiegelt, und
daran nur wenige Eindrücke der sich im unmittelbarsten Contacte mit
iluii befindenden anderen Körper anreiht.
Aus diesem Grande haben wir uns gewöhnt, den vom Auge her-
rührenden Sinneserregungen bei unserer Orientirung einen bestimmenden
Einfluss zu lassen, und folgerecht werden, wenn Störungen des ge-
sammten Orientirungsapparates vorkommen, dieselben mit Vorliebe auf
Gesichtseindrüeke, d. h. auf die Gegenstände der Aussenwelt bezogen
werden, wenn auch die Störung in deren Bereiche für den concreten
Fall vielleicht nur eine untergeordnete Rolle spielt. So ist das Fehlen
der deutlichen Perception von Scheinbewegung des eigenen Körpers
bei offenen Augen zu erklären.
Fallen die optischen Eindrücke indessen gänzlich fort wie bei ge-
schlossenen Augen und bei Blinden, so ist das Sensorium plötzlich
auf die übrigen zur Orientirung dienenden Mechanismen allein an-
gewiesen, und nun wird die Summe der von ihnen herrührenden Er-
regungen dieselbe zwingende Macht über die Bildung unserer räum-
lichen Vorstellungen erhalten, wie sie vordem den Augen mit ihrem
lichtempfindenden und muskulösen Apparate zukam. Da diese Er-
regungen aber sämmtlicli Folgezustände des Verhaltens unseres eigenen
Körpers sind, so wird eine Fälschung in der Perception dieser Zu-
stände nothwendiger Weise wieder auch nur auf den eigenen Körper
*) Vergl. hierzu die Anmerk. 32.
— 366 —
übertragen werden können, d. h. als eine Bewegung des eigenen Körpers
gedeutet werden müssen. —
Nachdem wir so unsere Auffassung des grösseren Theiles der vor-
handenen vSchwindelempfindungen im Allgemeinen dargelegt haben,
schreiten wir zu speciellerer Beleuchtung der objectiv wahrnehmbaren
Bewegungen. Wir sahen, dass bei der Kettenschliessung Kopf und
Körper nach der Anode schwanken. Der Selbstbeobachtung fähige Per-
sonen haben dabei auf das Bestimmteste die Empfindung, als wenn sie
in jedem Augenblicke nach der Kathode versänken oder gedreht würden,
als wenn sie auf jener Seite leichter würden. Eine derartige Empfiü-
dung kann im gegebenen Falle nur dadurch entstehen, dass ein fremder
Factor in den Apparat eingeführt wird, welcher dem Sensorium Nach-
richten von dem Zustande der Gesammtmuskulatur zuführt, mit einem
Worte, dass das iVluskelgefühl gefälscht wird.
Man kann sich den hier ablaufenden Empfindungs- und Bewegungs-
vorgang sehr wohl dadurch klar machen, dass man sich der Vorgänge
erinnert, weiche stattfinden, wenn man sich auf einen Stuhl setzt, dessen
zwei rechte Beine auf festem Rasen und dessen zwei linke Beine auf
losem Sande stehen. Im Momente des Niedersetzens versinken die lin-
ken Beine in den losen Sand und der Körper macht eine unwillkürliche
— besser unbewusst willkürliche — Bewegung nach rechts, um das
Gleichgewicht aufrecht zu halten.
Diese Bewegung wird dadurch ausgelöst, dass die sämmtlichen zur
Fixation des Körpers dienenden Muskeln der linken Körperhälfte in dem
Momente, wo der Stuhl versinkt und das Gesäss also nicht unterstützt
ist, in Unthätigkeit gesetzt werden und die Empfindung ihrer momentan
aufgehobenen Arbeitsleistung dem das Gleichgewicht aufrecht erhalten-
den Central Organe übermittelt wird.
Bei dem galvanischen Versuche ist nun dieselbe Empfindung des
Versinkens des Stuhles nach der Kathode, mit anderen Worten der ge-
ringeren Arbeitsleistung der entsprechenden Muskeln vorhanden, während
den letzteren gleichwohl die mechanischen Bedingungen zur ungestörten
Weiterleistung der bisherigen Arbeit nicht entzogen sind und dieselben
allerdings auch noch in dem Momente der eintretenden Sinnestäuschung
die normale Arbeit leisten. Nach den angeführten Versuchen und den
daran geknüpften Erwägungen muss nothwendigerweise angenommen
werden, dass die in Rede stehende Kette von Empfindung und Bewe-
gung durch eine eigenthüniliche, je nach der einwirkenden Elektrode
verschiedene Beeinflussung der cerebralen Vorgänge hervorgebracht
wird.
Halten wir zunächst nur den wahrnehmbaren Effect dieser indirec-
— 367 —
ten Beeinflussung der Körpernuiskiilutur noch einmal mit dem zusammen,
was wir au den Augen walirnehmeu, so kommen wir wieder auf den
oben schon angedeuteten Umstand zurück, dass nicht nur die Muskuhi-
tur des Körpers, sondern auch die der Augen unter dem Einflüsse des
Galvanismus derart veränderte Impulse erhält, dass die Medianeljenen
beider nach der Anode geneigt werden, während eine angemessene Ver-
stärkung des Reizes der entgegengesetzten Bewegung, was die Augen
angeht, zur Herrschaft verhilft. Danach scheint mir die Annahme sehr
nahe zu liegen, dass die eine der beiden Augenbewegungen auf
einer ähnlichen Beeinflussung eines centralen Organ es für
die gemeinsame Augenmuskelinnervation beruht, wie ich
dies soeben für die übrige willkürliche Muskulatur nachzu-
weisen mich bemühte. Das würde also eine Abschwächung der
Wahrnehmung von der Arbeitsleistung aller derjenigen Muskeln bedeu-
ten, welche die Angen in der einen von beiden Richtungen bewegen.
Es ist nicht zu verkennen, dass diesen Deutungsversuchen sich eine
Menge von Schwierigkeiten entgegenstellen, welche zur Vorsicht im
Ausdrucke mahnen. Eine dieser Schwierigkeiten liegt eben darin, dass
bei starken Strömen der ganze Mensch nach rechts, die Augen aber
nach links gezogen werden. Man kann dies in folgender Weise er-
klären. Diejenigen Muskeln, welche das Auge nach links drehen, haben
einen gemeinschaftlichen Innervationsheerd, und correspondiren rück-
sichtlich dessen Lage der linksseitigen Körpermuskulatur. Die physio-
logische Berechtigung zu dieser Annahme ist nach den Untersuchungen
von Adamück'''), denen ich Aehnliches beweisende eigene Erfahrungen
anreihen kann, vollkommen vorhanden. Nach Adamück dreht der
rechte vordere Vierhügel beide Augen nach links, und der linke beide
Augen nach rechts. Selbstverständlich ist damit die Möglichkeit nicht
ausgeschlossen, dass die gleiche Verknüpfung der coordinirten Function
noch in mehr central gelegenen Hirnbezirken stattfindet. Jedenfalls
geht aber daraus hervor, dass eine Centralstelle für die Drehung des
(Hering'schen) Doppelauges nach links auf derselben Seite zu
suchen ist, wie die Innervationsstätte der übrigen linksseitigen Musku-
latur, nämlich reclits, und dass folglich diese beiden Centra unter die
Einwirkung derselben Elektrode fallen.
Hieraus entstehen zwei Fragen: 1. wie es denn zugeht, dass durch
die gleiche Art der Einwirkung die Körpermuskulatur veranlasst wird,
den Körper nach rechts, und die Augenmuskulatur die Augen nach
links zu drehen: denn die aus dem Donders-Listine;'schen Gesetze
*) Adamück, Centralbl. für die medicinischen Wissenschaften, 1870, 5.
— 368 —
abgeleitete Erklärung reicht selbstverständlich keineswegs für das U eber-
wieg en der nach links gerichteten Bewegung aus; — 2. woher die
andere Augeubewegung rührt, welche die Bulbi nach der Anode, nach
rechts dreht?
Die Beantwortung der ersten Frage lässt sich aus der Verschieden-
artigkeit der Aufgabe ableiten, welche den beiden zu vergleichenden
Muskelsystemen obliegt. Die Körperrauskulatur hat den Körper im
Gleichgewichte zu erhalten. Bei einem wirklichen oder scheinbaren
Verluste des Gleichgewichtes werden deshalb von dem das Gleichgewicht
regulirenden Centralorgane solche Motoren mit einem Reizzuwachse ver-
sehen, welche die Störung auszugleichen geeignet sind. Diese müssen
aber keineswegs der Körperhälfte angehören, nach der die Störung,
event. die zu geringe Arbeitsleistung durch die Empfindung projicirt
wird, und sie gehören ihr auch im vorliegenden Falle nicht an. Denn
weil wir nach links zu fallen glauben, werfen wir uns durch stärkere
Innervation der rechten Seite nach rechts.
Bei den Augen liegt die Sache ganz anders. Wenn hier dem Cen-
tralorgane für die richtige Vertheilung der Impulse durch die Anode
künstlich der Eindruck beigebracht wird, dass eine Muskelgruppe eine
ungebührlich geringe Arbeit leistet, so erwächst ihm dadurch nicht die
Aufgabe, etwa das Fallen des Auges nach der Seite dieser Muskel-
gruppe, soudern vielmehr die Drehung nach der der Antagonisten zu
verhindern. Das gedachte Centralorgan wird also den anscheinend
trägen Muskeln stärkere Impulse als die erforderlichen zuwenden, und
dadurch das Auge nach ihrer Seite, nach der Kathode, nach links drehen.
Bis hierher wäre die Erklärung ziemlich einfach.
Die Beantwortung der anderen Frage, welcher Ursache die nach
der Anode gerichtete Bulbusbewegung zuzuschreiben ist, verlangt bei
Weitem grössere Concessionen an die Hypothese. Durch die Einwir-
kung der anderen Elektrode auf das symmetrische Organ der anderen
Seite lässt sich nichts Weiteres als das bisher Gefundene erklären;
denn man würde in dieser Beziehung nur zu dem Schlüsse berechtigt
sein, dass diese Elektrode dem Gleichgewichtsorgane eine vergrösserte
Arbeitsleistung der antagonistischen (rechtsseitigen) Augenmuskulatur
vortäuscht und dadurch einen schwächer zugemessenen Impuls auslöst.
Dies würde aber wiederum nur einer Augeubewegung nach links ent-
sprechen.
Es bleibt nichts übrig, als dass man entsprechend der doppelten
Art der Augenbewegung, welche in zwei Zeiten fällt, auch einen zwei-
zeitigen Vorgang im Gehirne annimmt, welcher sich abwechselnd in
— 369 —
zwei Organen von verschiedener Function abspielt, oder vielmehr in
einem Systeme, wo eine Verknüpfung beider Organe stattfindet.
Die Function zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichtes ist als eine
Art continuirlichen Reflexvorganges aufzufassen, bei dem gewisse, durch
das Verhältniss der Leistung der Körpermuskulatur bedingte Reize zu
einem Centralorgane geleitet werden, und in diesem als Reflex die zur
äquilibrirten Haltung des Körpers zweckmässige Vertheilun'g der
motorischen Innervation auslösen. Dass dieses Ceutralorgan mit dem
der psychischen Fähigkeiten nicht identisch ist, beweisen die schönen
Versuche von Flourens und Goltz. Wenn Flourens Thieren das
Gehirn mit Ausnahme des Cerebellum nahm, hielten sie, selbst bei
durch Reize ausgelösten Ortsbewegungen, das Gleichgewicht aufrecht.
Nahm er ihnen indessen dieses Organ, so war die Harmonie der Be-
wegungen dahin. (Nach den Versuchen von Goltz scheint das Cere-
bellum sich in diese Function, mindestens beim Frosch, mit den Lobis
opticis zu theilen.) Es geht daraus hervor, dass die Dazwischenkunft
psychischer Thätigkeit zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichtes wenig-
stens bei diesen Thieren nicht erforderlich ist.
Andererseits ist es aber klar, dass die psychischen Thätigkeiten
— der "Wille — mit grosser Macht in die Verrichtungen des Gleich-
gewichtsorgans einzugreifen vermögen. Eine Ballettänzerin gelangt durch
üebung dahin, ihren Körper in Stelhuigen zu bringen und zu erhalten,
bei denen der Schwerpunkt so wenig als möglich unterstützt ist, und
die von der Natur gewiss nicht vorgesehen wurden. Selbst der ab-
gerichtete Pudel erlangt in diesen Kunststücken eine nicht zu unter-
schätzende Fertigkeit.
Wenn nun auch bei denjenigen Stellungen und Haltungen, welche
dem ungekünstelten Hergang der Dinge eigen sind, der Eingriif des
Willensorgans in das Ressort des Gleichgewichtsorgans weniger in die
Augen springt, so wird doch wohl Niemand annehmen wollen, dass
diese beiden Maschinerien in dem unversehrten Organismus unabhängig
die eine von der anderen, neben einander arbeiteten, etwa wie das
Kleinhirn in dem seines Grosshirns beraubten Thiere. Man wird viel-
mehr bei allen Bewegungsvorgäugen, auch bei solchen, die scheinbar
ohne den Willen zu Stande kommen — und die ich deshalb in dieser
Abhandlung schon mehrmals unbewusst willkürliche*) nannte — eine
Concurrenz des Willensorgans anzunehmen haben.
*) Dieser Ausdruck ist nach der Anologie des von (Kant) Helmholtz
eingeführten — unbewusster Schluss — gebildet.
Hitzig, Gesammelte Abhandl. I. Theil. 24
— 370 —
Wenn nun das eigentliche Seelenorgaa, unter dem ich das Organ
der höheren psychischen Functionen verstehe, einen Einfluss auf das
Gleichgewichtsorgan ausüben soll, so muss nothwendigerweise ein mate-
rieller Zusammenhang zwischen beiden durch irgend welche Leitungs-
bahnen existiren, und es muss dann auch die Möglichkeit vorliegen,
an dem Orte, wo diese Leitungsbahnen sich mit dem Gleichgewichts-
organe verbinden, beide gemeinschaftlich zu beeinflussen. Ja, es ist
sogar im höchsten Grade wahrscheinlich, dass, wenn es gelänge, das
Seelenorgan in einer ähnlichen Weise direct zu beeinflussen, wie wir
es nach dem Inhalte dieser Abhandlung mit dem Gleichgewichtsorgane
unzweifelhaft vermögen, dass man diese Beeinflussung an der Function
des Gleichgewichtsorgans würde nachweisen können. Ich lasse dies
dahingestellt sein.
Nehmen wir nun an, dass die dem Gleichgewichtsorgane von dem
Seeleiiorgane zuströmenden Erregungen beiderseits eine gleiche Reiz-
grösse haben, so wird der Reizeffect selbstverständlich verändert
werden, wenn ich an einer Stelle der Leitungsbahn die Erregbarkeit
dieser selbst einseitig verändere. Wenn demnach das Doppelauge durch
ein linksseitiges, unter der Herrschaft des Gleichgewichtsorgans stehen-
des Centralorgan nach rechts gedreht wird, und ich vermag durch
einen fremden Factor die Erregbarkeit der hier von dem Willensorgane
aus einmündenden Bahnen zu erhöhen (resp. die Erregbarkeit der anta-
gonistischen Bahnen einseitig oder gleichzeitig zu erniedrigen), so ist
es klar, dass die Function des nach rechts Drehens mit dem Momente
der Einführung dieses Factors anwachsen wird. Kann man also den
Beweis führen, dass die angewendete Elektrisationsmethode ihren ander-
weitig bekannten Eigenschaften nach im Stande ist, die vorausgesetzten
Erregbarkeitsveränderungeu hervorzubringen, so lässt sich die Möglich-
keit nicht in Abrede stellen, dass die Drehung nach rechts auf dem
angenommenen Wege erfolgt. Etwas direct dagegen Sprechendes wird
mir nicht ersichtlich; ebensowenig ist aber ein directer Beweis geliefert,
dass dem wirklich so sei. Die Methode besitzt wenigstens, wie oben
(S. 253 f.) gezeigt worden ist, die von ihr verlangten Eigenschaften in
der That. Gleichwohl muss dieser Erklärungsversuch vorläufig als
reiner Nothbehelf betrachtet werden. Wenn nachgewiesen würde, dass
die eigenthümliche Wirkung der Pole die Hirnsubstanz nicht unmittel-
bar, sondern vielmehr durch Vermittelung anderer Factoren angreift,
so müsste dieser Erklärungsversuch bereits modificirt werden. ^^^
Fassen wir das an den einzelnen Stellen dieser Abhandlung über
den galvanischen Nystagmus Gesagte zusammen, so würde sich folgende
Erklärung ergeben. Im Momente des Kettenschlusses wird der
— 371 —
Einfluss des Willeusorganes auf das Organ, welches die
gleichmässige Vertheilung der Augenmuskelimpulse regelt,
linksseitig künstlich gesteigert, rechtsseitig herabgesetzt.
In Folge dessen erfolgt eine Augendreliung in der Zugrich-
tung der rechtsseitigen Muskulatur des Doppelauges. Unter-
dessen ist aber in dem Gleichgewichtsorgane selbst der Ein-
druck verminderter Arbeitsleistung der linksseitigen Augen-
muskulatur derart angewachsen, dass er verstärkte Impulse
in den betreffenden Nervenbahnen auslöst, d. h. also das
Auge wieder nach links dreht. — Die Grösse dieses Ein-
druckes kann durch das Zusammenwirken verschiedener
Factoren bedingt werden: nämlich 1) direct durch den Gal-
vanismus; 2) durch in der That geringere Arbeitsleistung
die mit Verschiebung des Auges in entgegengesetzter Rich-
tung in die Erscheinung tritt; 3) durch unbestimmte, ab_
norme Muskelempfindungen, die durch abweichend vom
Donders-Listing'schen Gesetz erfolgende Raddrehungen aus-
gelöst werden.
Man kann annehmen, dass der die Augen nach links drehende
Bewegungsimpuls dem Willensorgane Seitens des Gleichgewichtsorganes
abgefordert wird. In diesem Falle würde derselbe wesentlich zur
Bildung der Scheinbewegung der Gesichtsobjecte beitragen. Man wird
aber durch die bisherigen Untersuchungen nicht verhindert, anzunehmen,
dass der fragliche Bewegungsimpuls durch das Gleichgewichtsorgan
selbst vermittelst einer ihm innewohnenden Regulationskraft hervor-
gebracht wird. In diesem Falle würde die Scheinbewegung der Gesichts-
objecte vielleicht lediglich auf die olme Dazwischentreten von Willens-
impulsen erfolgende Verschiebung der Gesichtslinie zu beziehen sein.
Wahrscheinlicher ist die erste Annahme, da man bei dem sich an der
Körpermuskulatur abspielenden analogen Vorgange die Empfindung der
willkürlichen Bewegung hat. Dass man diese Empfindung an der
Augennmskulatur nicht hat, erklärt sich insofern aus dem normalen
Verhalten, als die Muskelempfindung bei nicht ermüdeten Muskeln eine
Function der bewegten Last und der erfolgten Verkürzung ist, und
beide bei nicht excessiven Augenbewegungen nur geringe Werthe
besitzen.
Für dieses Verhalten ist es sehr charakteristisch, dass ein Streit zwischen
namhaften Gelehrten darüber möglich ist, ob bei gewissen optischen Erschei-
nungen ßulbusbewegungon vorhanden sind oder nicht.
Es hat nach unseren Anschauungen nun nichts Befremdendes
mehr, dass die galvanischen Augenbewegungen in einem rhythmi-
24*
-^ 372 .^
sehen Typus auftreten. Die Function der Gleichgewichtsreguliruug
steht ihrer physiologischen Dignität nach etwa in der Mitte zwischen
Reflex- und automatischen Bewegungen. Bei den Letzteren ist rhyth-
mischer Typus die Regel und selbst der continuirliche Typus wird
von der Mehrzahl der Physiologen als eine Art aus dem Rhythmus
hervorgegangener Tetanus aufgefasst. Es ist klar, dass ein sich in
jedem Augenblicke reproducirender Reflex Vorgang ebenfalls je nach der
Schnelligkeit in der Aufeinanderfolge der einzelnen Reize und der
Grösse der. zu überwindenden Widerstände alle Modalitäten des Rhyth-
mus bis zu einer continuirlichen Bewegung veranschaulichen kann.
"Wenn man sich nun vorstellt, dass eine bestimmte, intermediäre Augen-
stellung durch die Einwirkung einer bestimmten Zahl von Siunes-
eindrücken auf einem dem Reflexe ähnlichen Wege ausgelöst wird, so
ist damit schon ausgesprochen, dass jede Verminderung in dem Maass
jener Sinneseindrücke, oder der in den betretenen Bahnen vorhandenen
Widerstände eine Aenderung des durch die gegebene Augenstellung
repräsentirten Bewegungstypus setzen kann. L. Herrmann*) gebraucht
(nach Rosenthal) ein sehr gutes Bild um den Rhythmus automatischer
JBeweguugen zu erklären. „Die dadurch (continuirliches Freiwerden
von Kräften) bewirkte Erregung der Nervenfaser braucht indess deshalb
nicht continuirlich zu sein; denkt man sich nämlich, dass die frei-
werdenden Kräfte einen gewissen Widerstand zu überwinden haben,
ehe sie auslösend auf die Nervenfaser wirken können, so ist die Folge,
dass sie sich jedesmal vorher bis zu einer gewissen Spannung auf-
speichern müssen, ähnlich wie ein continuirlich durch eine Röhre unter
Wasser geleitetes Gas in diesem nicht continuirlich, sondern inter-
mittirend in Blasen von einer gewissen Grösse aufsteigt, in dem es
sich in der Röhre jedesmal bis zu einem Drucke ansammelt, welcher
hinreicht, den Widerstand der Cohäsion des Wassers zu überwinden."
Ich habe in dem Capitel IV auf das Evidenteste nachgewiesen,
dass im gegebenen Falle der Galvanismus in der That eine Rolle spielt,
welche der des Gases in dem angeführten Bilde ungemein ähnlich ist.
Auch der Galvanismus wirkt in der Art einer vor sich gehenden Suni-
mirung von Reizen, — zeitlich zusammenfallend mit Drehung nach
der einen Seite — die von Zeit zu Zeit von einer Entladung — Drehung
nach der anderen Seite — unterbrochen wird. Je stärker der Reiz, um
so schneller ist die erforderliche Summe erreicht, um so schneller er-
folgen die einzelnen Entladungen. So erklärt sich die zunehmende Ge-
*) L. Herr mann, Grundriss der Physiologie. 2. Aufl. Berlin 1867.
— 373 —
schwindigkeit des Rhythmus bei Vergrösseruiig der galvanischen
Kette. —
Wir hatten oben S. 363 die erste der drei aufgeworfenen Fragen
dahin beantwortet, „dass die Schwindelenipfindungen in ihrem
optischen Theile Folge der galvanischen Augenbewegungen
sind." Nach den S. 365 ff. gegebenen Auseinandersetzungen können
wir diese Antwort jetzt dahin vervollständigen, dass die andere
Hälfte der Schwindelenipfindungen, insofern sieden eigenen
Körper betreffen, von einer directen Beeinflussung des Gleich-
gewichtsorganes abhängt.*)
Die zweite Frage lautete: Sind die unwillkürlichen Augen-
bewegungen eine Folge der Schwindelempfindungen? Wenn
man die Schwindelempfindung als einen durch gestörtes Muskelgefühl
erzeugten psychischen Vorgang definirt, so kann man die nach der
Kathode gerichtete Bulbusbewegung in Folge der S. 367 f. gegebenen
Auseinandersetzungen als eine innerhalb dieses Vorganges ausgelöste
Bewegung betrachten, ohne dass damit behauptet wäre, dass die Aus-
lösung erst am centralsten Ende der Kette, nämlich da, wo die räum-
liche und die Bewegungsvorstellung gebildet wird, einträte. Vielmehr
soll nicht ausgeschlossen werden, dass dieselbe nur einer Zwischen-
station bedarf. Demnach kann man die nach der Kathode ge-
richtete Bulbusbewegung als durch gestörtes Muskelgefühl —
Schwindel — auf indirectem Wege hervorgebracht auf-
fassen.
Es muss dem Leser überlassen werden, sich ans dem Texte der
Abhandlung selbst ein Urtheil zu bilden, in wie weit die gestellten
Fragen jetzt schon einer weiteren, namentlich einer positiv gehaltenen
Beantwortung fähig sind. In jedem Falle dürfte es einleuchten, dass
die von uns gegebeneu Erklärungen der einzelnen Reizeffecte in ähn-
licher Weise ineinandergreifen, wie die normalen Lebensäusserungen
des optischen Apparates und des Apparates der willkürlichen Bewegung.
So wenig wir unsere Anschauungen also auch der Ueberzeugung des
Lesers aufdrängen möchten, so sehr scheinen sie uns doch durch ein
solches Verhalten gestützt zu werden.
VI. Schluss.
Es bleibt uns noch übrig, einige Punkte zu besprechen, welche in
dem Rahmen der übrigen Capitel den an und für sich schon ver-
wickelten Gegenstand noch weniger übersichtlich gemacht hätten.
*) Vergl. hierzu die Anmerk. 32.
— 374 —
1. Ueber den Ort der Einwirkung des Galvanismus.
Alle Versuche — physiologische wie therapeutische — welche am
unversehrten Organism us ausgeführt werden, am meisten aber die neuro-
elektrischen und mit ihnen auch die vorliegenden, sind als nicht rein
und nicht mit der wünschenswerthen Durchsichtigkeit ausgestattet, zu
betrachten. Die Scbutzlosigkeit gegen die directe und indirecte Ein-
wirkung der Reize auf mehrere Organe statt nur auf eins, verlangt
immer einige Reserve in der Beurtheilung erzielter Reizeffecte. Nicht
minder verkehrt als die Vernachlässigung dieser Reserve würde aber
ein Verfahren sein, welches auf den alleinigen Grund der Möglichkeit
von Fehlerquellen dieselben ohne ausreichende anderweitige Begründung
zu Erklärungen benutzen wollte. Meinerseits will ich versuchen, den
von mir eingenommenen Standpunkt, soweit es im Augenblicke mög-
lich ist, zu klären.
Ich zweifle nicht, dass einige Autoren behaupten werden, die ge-
schilderten Reizeffecte kämen auf dem Wege des Reflexes zu Stande.
In dieser Beziehung ist schon so Ungeheuerliches geleistet, dass ich
auch meine Versuche einer gleichartigen Erklärung für zugänglich
halten muss. Da ich mir indessen nicht vorstellen kann, wie das etwa
gemacht werden könnte, will ich einen solchen Deutungsversuch er-
warten.
In einem früheren Abschnitte hatte ich nachgewiesen, dass die
galvanischen Augenbewegungen nur durch Vermittelung cerebraler
Centren hervorgebracht sein können, rücksichtlich der anderweitigen
Symptome von Schwindel bedarf es eines solchen Nachweises nicht.
Es könnte aber ein Zweifel bestehen, ob der Reiz auf das Central-
organ direct oder iudirect, namentlich durch Vermittelung des den Eiu-
strömungsstellen sehr nahe liegenden Halssympathicus wirkt. Dieser
dunkle Nerv erfreut sich bekanntlich einer so beträchtlichen Sympathie
seitens vieler Elektrotherapeuten und einzelner Neuropathologen, dass
ihm ein Haupt- oder Nebenamt von diesen bei der Pathogenese, von
jenen bei der Therapie höchst verschiedener Krankheiten zugewiesen
zu werden pflegt. Wenn also der Sympathicus auch nichts mit den
Blutgefässen und der Pupille zu thun hätte, so würde ich gleichwohl
sein Eindringen auch in diese Frage abzuwehren haben.
Aus den Versuchen über die Symptome des Drehschwindels, welche
ich noch zu referiren gedenke, wird hervorgehen, dass elektrische
Reizung des Sympathicus keinenfalls eine nothwendige Bedingung
unserer Reizeffecte bildet. Ausserdem wird seine Betheiligung auch
a priori um deswillen unwahrscheinlich, weil man dieselben, wie oben
— 375 —
erwähnt, ebenfalls vom Hinterhaupt und Nacken, ja sogar vom Vorder-
kopf aus hervorbringen kann. Indessen könnte man einwenden, dass
von jenen Stellen her Stromschleifen zu den sympathischen Nerven ge-
langten, welche hinreichend stark wären, um Gefässverengerung der
einen und Gefässerweiterung der anderen Hirnhälfte auszulösen; denn
so würde man sich doch etwa die Wirkung der Sympathicus-Reizung
vorzustellen haben. Jedoch kann davon wohl nicht füglich die Rede
sein, wenn man berücksichtigt, dass Verschiebung der Elektroden in
-'der Richtung der Grenzstränge selbst eben keinen Reizeffect zur Folge
hat. Die Grösse des Reizeffectes nimmt sogar mit der Entfernung vom
Gehirn, selbst wenn beide Elektroden über den Grenzsträngen stehen,
ungemein schnell ab. Da also die Entfernung von bestimmten Theilen
des Gehirns wesentlich, die Entfernung von den Grenzsträngen aber
unwesentlich ist, so liegt kein Grund vor, den Sympathicus zu Er-
klärungen heranzuziehen.
Das Verhalten der Pupille erheischt noch einige Bemerkungen.
Eulenburg und Schmidt'^') haben Versuche über den Einfluss ähn-
licher Galvanisationsmethoden auf die Pupille angestellt. Wenn sie die
Pole einer Batterie von 20 — 40 Elementen an die den ersten Hals-
ganglien entsprechenden Stellen applicirten, weniger deutlich, wenn
sich ein Pol auf dem Manabrium sterni befand, konnten sie minimale
Pupillenveränderungen durch die Referate subjectiver Wahrnehmungen
der Versuchspersonen (Pupilloskop von Houdin) constatiren. Es ist
bedauerlich, dass sie denjenigen Personen, welchen 20 Elemente solche
subjectiven Erscheinungen bereiteten, nicht die bei Anderen angewen-
deten 40 Elemente applicirt haben. Vielleicht wäre es dann vorwiegend
zu objectiv wahrnehmbaren Dingen gekommen. Aber gesetzt den Fall,
diese Papillenveränderungen wären zweifelsohne constatirt, so ist mir
nicht ersichtlich, woher auch nur das geringste Recht stammen soll,
dieselben mit den genannten Forschern ohne Weiteros auf den Sym-
pathicus zu beziehen. Abgesehen von dem Einflüsse des bei 20 bis
40 Elementen doch nennenswerthen Schmerzes, abgesehen von dem mit
Sicherheit anzunehmenden Vordringen starker Stromschleifen zu den
Vierhügeln, treten bei diesen Galvanisationsmethoden stets subjective
Lichtempfindungen ein, so dass jedenfalls der Opticus, wahrscheinlich
der ganze Bulbus mit in den Bereich des Stromes gezogen wird. Es
ist schwer zu verstehen, wie diese Momente so ganz ausser Acht ge-
lassen werden konnten. Ich überlasse eine weitergehende Kritik dieser
*) Eulenburg und Schmidt, Centralblatt für die medicinischen
Wissenschaften 1869. Nr. 21 u. 22.
— 376 —
Arbeit gern solchen, die sie zu wiederholen geneigt sind, kann aber doch
meine Verwunderung nicht verbergen, dass jene Autoren, wenn sie
öfter den Strom von 40 Ell. durch die oberste Halsgegend leiteten,
zwar constant subjective Pupillenphänomene, aber niemals objectiv
wahrnehmbare galvanische Augenbewegungeu beobachtet haben.
Bei den von mir angewendeten Reizmethoden habe ich Pupillen-
phänomene nicht selten beobachtet. Unter etwa 300 Reizversuchen
finde ich 47 mal, also in etwa 16 pCt. zweifellose Anomalieen verzeich-
net; Zweifelhaftes wurde viel öfter beobachtet, übrigens nicht immer
notirt. Von diesen 47 Beobachtungen betrafen nur 18 Personen mit
gesunden Sehapparaten, die übrigen 29 beziehen sich auf Augenkranke,
obwohl bei weitem mehr von der ersteren, als der letzteren Gruppe
untersucht wurden. Die Pupillen der Blinden zeigten jedoch niemals
irgend welche Veränderungen.
Es gelang mir nicht, irgend ein Gesetz für die Pupillenreaction
aufzufinden, und ich glaube nicht, dass dies überhaupt möglich sein
wird, denn es gelang mir wenigstens, mich von der ungleichen Wirkung
der gleichen Reizmomente zu überzeugen. Die häufigste Anomalie war
abnorme Beweglichkeit beider oder seltener einer Pupille; dabei er-
weitern und verengern die Pupillen sich abwechselnd, manchmal in
einem Rhythmus gleich dem der Bulbusbewegungen. In mehreren Fällen
waren die Pupillen nur erweitert, bei anderen bestanden Differenzen
zwischen der Weite beider, z. B. bei mir selbst. (20 Elemente,
20 f* Galvanoskopausschlag, Kathoden- Pupille erweitert.) In einem
Falle zeigte die Iris der Kathoden-Seite eine Ausstülpung ihres freien
Randes an der inneren, unteren Peripherie (Dr. Bonvetsch). Ein an
der Iris Gesunder hatte eine von oben nach unten, ein anderer eine
herzförmig verzogene Pupille. Bei heilender Mydriasis paralytica waren
solche, manchmal sehr wunderlichen Verziehuugen eigentlich die Regel.
Ich habe dabei wahrhaft amöboide Bewegungen des freien Randes der
Iris, Verlegung des Sehloches nach der Peripherie der Iris hin u. s. w.
beobachtet.
Wie mir scheint, kann man diese Reizefiecte nicht wohl dem Sym-
pathicus zuschreiben, man müsste diesem Nerven denn jedwede speci-
fische Energie absprechen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass der Reiz
an einer Stelle angreift, wo Sympathicus- und Oculomotorius-Bahnen
nahe bei einander liegen oder zu einem Systeme vereinigt sind, und
dass die am peripheren Ende bald dieser, bald jener Bahn wahrnehm-
baren Schwankungen in der Grösse des Reizeffectes auf Innenverhält-
nisse des gereizten Organes zurückzuführen sind, die sich w'egen dessen
Complicirtheit unserer Beurtheilung entziehen. Das Verhalten der Pupille
— 377 —
bei heilender Mydriasis paralytica ist wesentlich geeignet, diese An-
nahme zu unterstützen. Die Widerstände in der Bahn des Oculomoto-
rius sind offenbar noch zu gross, um der normalen Innervation die
Ueberwindung des Dilatators zu gestatten. Mit dem galvanischen Reiz-
zuwachse kommt dieselbe aber in mehr oder weniger vollkommener
Weise zu Stande. Sind indessen beide Bahnen und das Centrum gesund,
so ist bei Reizung des letzteren ein Vorwiegen der einen oder der
anderen Innervation von vornherein weniger leicht zu erwarten.
Wenn ich mich nun auch auf das Entschiedenste gegen das Her-
anziehen des Nerv, sympathicus zur Erklärung unserer Reizeffecte aus-
sprechen muss, so bin ich doch weit davon entfernt, in Abrede stellen
zu wollen, dass mancherlei für eine Vermittelung durch die vasomoto-
rischen Nerven des Gehirns spricht. Ich halte es also, wie ich schon
an mehreren Stellen der Abhandlung andeutete, für möglich, dass eine
elektrotonisirende Wirkung auf die Nervensubstanz des Gehirns selbst
überhaupt nicht oder nur in untergeordnetem Maasse stattfindet, und
dass direct nui' die das Gefässkaliber beherrschenden Nerven beeinflusst
werden. —
Auf Vermuthungen, welcher Hirntheil etwa die Summe unserer Reiz-
effecte auslösen könnte, gedenke ich mich hier um so weniger einzu-
lassen, als ich dieser Frage auf anderem Wege*) bereits näher getreten
bin. Vor der Hand genüge die fast zur Gewissheit erhobene Wahr-
scheinlichkeit, dass wir es in der That mit dem Gehirne direct zu thun
haben. Dass nicht nur Läsionen der Vierhügel, sondern auch solche des
Pons, der Kleinhirnschenkel und des Kleinhirns selbst zu pathologischen
Störungen ähnlicher Art führen, kann als bekannt vorausgesetzt
werden. —
Die Thatsache scheint mir nun ausserdem unzweifelhaft festgestellt,
dass wir durch Einführung eines modificirbaren fremden
Factors in die Oekonomie des Gehirns nach Gefallen ver-
mögen, gewissen Bezirken unserer Vorstellungen eine ver-
blasstere oder lebhaftere Färbung mitzutheilen. Soweit minde-
stens reicht das rein Thatsächliche, von jeder Deutung unabhängige,
und hierin liegt vielleicht die über Specialinteressen hinausreichende
Tragweite dieser Untersuchungen.
2. Ueber das Verhältniss des Drehschwindels zu den
galvanischen Reizeffecten.
Die Erscheinungen des Drebschwindels sind von Purkinj e^^) mit der
ihm eigenen Detaillirung studirt worden und ich verweise deshalb wegen
^) Vgl. hierzu die Abhandlung XIX.
— 378 —
alles Specielleren auf die angeführte Abhandlung. Es genüge hier,
daran zu erinnern, dass nach einer gewissen Zahl von Rotationen Schein-
bewegungen der Gesichtsobjecte und abnorme Muskelempfindungeu in
gesetzraässiger Weise auftreten. Sonderbarerweise hat Purkinje ver-
säumt, die ihm sicherlich bekannte Richtung dieser Scheinbeweguugen
anzugeben. Helmholtz hingegen*) sagt über den Drehschwindel
Folgendes: „Ich finde, dass nach einer Drehung mit geschlossenen
Augen diese Art der Scheinbewegung nicht eintritt, sobald man die
Augeu erst öffnet, wenn man wirklich bis zum festen Stehen gekommen
ist. Thut man es früher, so tritt eine Scheinbewegung der Gegenstände,
entgegengesetzt der bisherigen Drehung des Körpers, ein;
aber mau überzeugt sich auch leicht, dass der Körper auf den Füssen
noch etwa eine Viertelkreisdrehung ausführt, ehe er wirklich zur Ruhe
kommt, zu einer Zeit, wo man ihn schon für ruhend hält. Dann ist
also eine Täuschung über die Haltung des Körpers Ursache der Schein-
bewegung der Objecte."
"Während die angeführten Facta dem Sachverhalte vollkommen ent-
sprechen, bin ich nicht in der Lage, der Ansicht des berühmten For-
schers über ihre Ursache beizutreten. Wenn man nämlich den Vei'such
derart variirt, dass man das rotirende Individuum im Momente des Still-
stehens unverrückbar festhält, so kommt es doch zu einer Scheinbewe-
gung der Gesichtsobjecte, die nun nicht auf der fraglichen Täuschung
beruhen kann. Unter diesen Umständen nahm Helmholtz die Schein-
bewegung bei den betreffenden Versuchen wahrscheinlich um deswillen
nicht wahr, weil er zwischen dem Rotiren und dem Oeffnen der Augeu
zu lange Zeit verstreichen Hess.
Betrachtet man aber die Augen der Versuchsperson, so
findet man einen Nystagmus, der ebenso gesetzmässig wie
der galvanische vor sich geht, und der es folglich erlaubt, die
Erscheinungen des Drehschwindels gewissen Formen der galvanischen
Reizung parallel zu setzen. Die nach dem Drehen von links nach rechts
bei der gewöhnlichen Kopfhaltung auftretenden Reizeffecte entsprechen
genau den bei der oben immer vorausgesetzten Reizmethode (Anode
rechte — Kathode linke Fossa mastoidea) vorhandenen, d. h. die
kurze, ruckweise vor sich gehende Augenbewegung und die Schein-
bewegung der Gesichtsobjecte sind nach links gerichtet. Beide ent-
sprechen übrigens weit häufiger der Bewegung eines liegenden Rades,
und ausserdem geht die nach rechts gerichtete Bulbusbewegung mit
*) A. a. 0. S. 603.
— 379 —
bemerkenswerther Langsamkeit, manchmal aber mit einer ungemeinen
Ausgiebigkeit vor sich.
Nach diesen neuen Thatsachen^^^ glaube ich denn sogar im Sinne
von Helmholtz zu handeln, wenn ich die Schein bewegung auf
die un bewussten Augenbewegungei) nach dem obigen Schema
beziehe. —
Es würde sich schliesslich fragen, wodurch bei dem Rotiren diese
Augenbewegungen und die leicht zu constatirenden Störungen der an-
derweitigen Muskelsensibilität zu erklären sind. Purkinje verglich
das Gehirn mit einem rotirenden Topfe Wasser, in welchem die Theil-
cheu nach der Richtung der Tangente zur Peripherie der Drehbewegung
zu entweichen suchen. Dadurch müssten bei den Verhältnissen des Ge-
hirns Zerrungen der einen und Drückungen der anderen Hirnhälfte ver-
anlasst werden. Dieser Vergleich erscheint mir vollkommen zutreffend,
und auch gegen die Deutung habe ich für mein Tlieil nichts einzuwen-
den. Es würde dann der axiale Theil des Gehirns der Anode, und der
periphere der Kathode entsprechen.
Ich «habe wohl kaum nöthig, hinzuzufügen, dass hiermit das sub 3
gestellte Thema nicht im Entferntesten in seinen Details erledigt ist.
Es ist vielmehr die Rücksicht auf den Raum, die mich abbrechen heisst.
In demjenigen Theile der vorliegenden Abhandlung, welcher die
Deutung der, wie ich denke, reichlich vorgebrachten Thatsachen in sich
schliesst, habe ich mir alle Mühe gegeben, der Darstellung den ihr
ziemenden hypothetischen Charakter zu wahren. Manche Leser würden
freilich eine mehr positive Darstellung vorziehen. Damit sind wir bis-
her auf diesem Gebiete aber doch nicht viel weiter gekommen. Wenn
die Gehirnphysiologie auch mehr als jeder andere Zweig der Wissen-
schaft das Bedürfniss der Hypothese hat und immer haben wird, so
liegt die erste Bedingung für ihre Weiterentwickelung doch in der Be-
reitwilligkeit, jederzeit auf dieses, schon bei der Geburt den Stempel
der Vergänglichkeit an sich tragende Bindemittel zu verzichten. So
wird denn der grössere Theil der Leser und meine Nacharbeiter zumal
es mir Dank wissen, dass ich diesen Stempel nicht zu verwischen suchte,
dass sich die Behauptungen nur auf Erwiesenes stützen, und dass
die Meinungen von den Gängen dieses Labyrinthes nur als solche
vorgetragen werden.
380 —
Anmerkungen.
30) Die vorstehende Abhandlung wurde zuerst im Jahre 1871 in Rei-
chert's und du Bois-Reymond's Archiv zu einer Zeit abgedruckt, da die
Litteratur über den Vestibularapparat noch einen ganz geringen Umfang besass.
Zur Zeit ihres erneuten Abdruckes in meinem Buche „Untersuchungen über
dasGehirn"I.Aufl. im Jahre 1874 waren soeben bemerkenswerthe Abhandlungen
von Breuer und Mach über diesen Gegenstand erschienen, auch hatte Wundt
die Materie dieser Abhandlung in seinem Buche „Grundzüge der physiologi-
schen Psychologie" behandelt.^ Diese Schriften hatten mich veranlasst, der
vorstehenden Abhandlung einen besonderen Aufsatz „Bemerkungen zu der vor-
stehenden Abhandlung" anzufügen. Mancherlei von dem Inhalte dieses Auf-
satzes ist durch die Entwicklung, welche diese Fragen inzwischen genommen
haben, entbehrlich geworden, ich habe es fortfallen lassen: Anderes erachtete
ich der Aufbewahrung für werth, ich habe es in den folgenden Anmerkungen
dieser Abhandlungen angefügt.
31) Wundt*) bemerkt, dass auch der Körper „häufig" zuerst
nach der Seite der Kathode schwanke, und dann erst durch Drehung
gegen die Anode das Gleichgewicht wieder herstelle. Ich hatte Angesichts der
frappanten, bei diesen Versuchen eintretenden Dislocation des Kopfes und
Körpers früher an die Möglichkeit eines primären Schwankens nach der
Kathode gar nicht gedacht, und war deshalb gezwungen, diese Frage ganz
von Neuem mit einer feineren Methode zu prüfen.
Um den Reizeffect möglichst zu objectiviren, befestigte ich einen mit
chinesischer Tusche gefärbten Pinsel auf dem Scheitel der sitzenden Versuchs-
personen, und Hess diesen auf ein Blatt Papier zeichnen. Auf diese Weise
erhielt ich Bilder, welche allerdings einen viel complicirteren Vorgang an-
deuten, als es zu Anfang den Anschein hatte. Die Bewegungen des Kopfes
und Körpers fallen nämlich nicht, wie ich früher annahm, lediglich in die
Frontalebene, sondern die von dem Pinsel gemalte Curve deckt
gleichzeitige, bald mehr, bald weniger starke Schwankungen
nach beiden Dimensionen der Sagittalebene auf.
In vielen Fällen erhielt ich, sobald mehrere Schliessungen und Oeffnun-
gen auf einander folgten, eine, gewöhnlich unregelmässig aussehende Gurve,
welche auf dem Papiere von hinten und der Seite der Kathode nach vorn und
der Seite der Anode, also in der Diagonale des Blattes vorrückte. Die Zer-
gliederung der Curve zeigte, dass bei der Schliessung ein vorwiegend nach
der Anode und bei der Oeffnung ein vorwiegend nach Vorn sehender Strich
gemalt worden war. So kam es, dass das Ende der Curve nach der Seite der
Anode und vorn verschoben war. Längere Dauer des Stromes liess auch den
Oeffnungsstrich entschieden länger ausfallen. Nach einer gewissen Zahl von
S. 207-221
■) W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie. Erste Hälfte.
— 381 —
Schliessungen und Oeffnungen hörte aber die Bewegung nach der Anode auf
und nun kamen mehr nach vorn und hinten gerichtete sich deckende Striche zum
Vorschein. Bei anderen Versuchen entstand ein mehr oder weniger diagonaler
Strich, der absatzweise doppelt übertuscht war. Hier war der Kopf mit jeder
Schliessung um ein beträchtliches Stück nach vorn und gegen die Anode vor-
gerückt, und bei der üeffnung um ein kleineres Stück in der entgegengesetzten
Richtung zurückgewichen. Wieder andere Versuchspersonen zeigten neben
jenen Bewegungen ein sehr deutliches Aufschnellen in verticaler Richtung.
Endlich fand ich bei nochmaliger Durchsicht meiner früheren Versuchsproto-
colle, dass ich schon damals ganz ähnliche Bewegungen notirt hatte.*)
Diese Versuche finden sowohl in sich selbst als in den Versuchspersonen
allerhand Schwierigkeiten, und sind ausserdem zeitraubend, so dass ich nicht
behaupten darf, in der mir zugemessenen Frist alle Seiten der Frage betrachtet
zu haben. Von dem Vorkommen einer primären Kopfbewegung
nach der Kathode habe ich mich aber in keinem einzigen Falle
überzeugen können. Da Wundt diese Bewegung nur „häufig", aber nicht
immer gesehen hat, und da ich vielleicht nicht genug Versuche angestellt
habe, so muss ich die Möglichkeit von Ausnahmen vorläufig wohl zulassen.
Aber ich kann mich des Gedankens doch nicht erwehren, dass die Anwendung
zu starker Ströme vielleicht hier und da zu Schliessungszuckung des Sterno-
kleido der Kathoden-Seite geführt hat.
32) Diese Vorsicht hat sich seit der ersten Niederschrift dieser Abhandlung
als wohlbegründet erwiesen.
Breuer (a. a. 0.) sowohl als Mach**) beziehen alle Erscheinungen des
Schwindels auf percipirte Alterationen der halbcirkelförmigen Kanäle. Nach
meiner Auffassung war das Gehirn direct verantwortlich zu machen.
Die Breuer-Mach'sche Theorie der Function der halbcirkelförmigen
Kanäle lässt sich in Kürze (die Details nach Breuer) folgendermassen formu-
lire,n._ Die drei Kanäle können als in den drei Ebenen liegende, mit Flüssig-
keit gefüllte Riuge aufgefasst werden. Lasse ich einen solchen Ring um die
auf seiner Ebene verticale Axo rotiren, so wird nach dem Trägheitsgesetz die
Flüssigkeit in demselben gegen die Bewegung zurückbleiben. Die so ent-
stehende Strömung wird durch Perceptionsorgane — die Hörhaare der Am-
pullen — auf Nerven — einen oder mehrere der sechs Ampullarnerven —
übertragen, und auf diese Weise dem Sensorium Nachricht über Drehung um
jede der einzelnen Axen zugeführt werden können.
Mach hat durch den directen, übrigens auch von Breuer vorgeschlage-
*) Diese Unregelmässigkeiten in der Reaction erklären sich ungezwungen
aus einer ungleichmässigen Reizung der verschiedenen Ampullarnerven.
Breuer hat die als jedesmalige Resultante des Reizversuchs auftretende reale
Bewegung als „diffuse Reaction" bezeichnet.
**) E. Mach, Physikalische Versuche über den Gleichgewichtssinn des
Menschen. Separat-Abdruck aus dem LXVEl. Bd. der Sitzb. der k. Akademie
der Wissensch. HI. Abth. Nov.-Heft. Jahrs;. 1873.
— 382 —
Den Versnch sich selbst diese Theorie als in der vorgetragenen Form irrig
widerlegt. Wenn er ein geschlossenes Röhrchen von der Form und Grösse
eines Bogenganges auf der Gentrifugalmaschine rotiren liess, so erhielt er
wegen der Grösse der Reibung niemals eine Drehung. Er kam deswegen von
seiner ursprünglichen, mit der ßreuer's zusammenfallenden Ansicht, dass sich
der Labyrinthinhalt wirklich bewege — ströme, zurück, und fasst nun den
Reizvorgarg so auf, dass bei jeder, sowohl der einfachen als der Winkel-
beschleunigung des Kopfes durch den en masse gegen die Beschleunigung
zurückbleibenden Labyrinthinhalt Züge und Pressungen auf die Endorgane der
Ämpullarnerven ausgeübt werden.
Ich legte mir die Fragen. vor, ob in einem Räume, der kein Ausweichen
gestattet, dieser Vorgang überhaupt eintritt, ferner ob die vorausgesetzte
„Gegenbeschleunigung", ihr Eintreten generell zugegeben, bei den geringen
durch die gewöhnlichen Bewegungen veranlassten Beschleunigungen angesichts
der vorhandenen Widerstände eine die Reizschwelle überschreitende Geschwin-
digkeit erlangen kann? Einem Physiker von dem Rufe und der Objectivität
des Herrn Mach gegenüber glaubte ich aber auf die Discussion dieser Fragen
um so mehr verzichten zu sollen, als es sich für mich in der That nicht um
die halbcirkelförmigen Kanäle, sondern um das Gehirn handelt. Ich kann jene
Theorie zulassen, ohne in meiner Auffassung der Erscheinungen mehr als den
ursprünglichen Angriffspunkt des Reizes zu ändern. Die wahrnehmende und
bewegende Kraft kommt in jedem Falle dem Gehirne zu: dass irgend eine in-
directe Beeinflussung desselben an Stelle der directen immerhin möglich sei,
habe ich (s. z. B. S. 370) nie ganz ausschliessen können. — ■
Ich muss aber gegen verschiedene Punkte in den Beweisführungen
Mach's und Breuer's Bedenken erheben. Mach beginnt seine Mittheilung
mit folgenden Worten: „Fährt man auf der Eisenbahn durch eine starke
Krümmung, so scheinen die Häuser und Bäume oft beträchtlich von der Ver-
ticalen abzuweichen und zwar scheint sich der Gipfel der Bäume auf der con-
vexen Seite der Krümmung von der Bahn wegzuneigen. Andererseits bemerkt
man sehr oft auch eine Schiefstellung des Wagens und hält nun die Bäume
für vertical.
Bekanntlich wird die Schiene auf der convexen Seite der Krümmung
etwas höher gelegt, um die Wirkung der Centrifugalkraft zu compensiren.
Der Höhenunterschied kann aber nur einer einzigen Fahrgeschwindigkeit ent-
sprechen. — Fährt man mit der dem Höhenunterschied der Schienen
und der Krümmung entsprechenden Geschwindigkeit, so weiss man nichts
von der Schiefstellung des Wagens. Dann scheinen die Häuser schief. In
jedem anderen Falle scheint der Wagen schief."
So richtig nun auch die Erklärung von Mach ist, dass die Täuschung
aus dem angeführten Missverhältnisse erwächst*), so wenig kann ich mich
■•'■) Wie ich mich nachträglich überzeugt habe, ist diese Erklärung
Mach's doch nicht zutreffend. „Es ist nicht richtig, dass die Täuschungen
über die Stelluno; des Wagens und der Häuser von demVerhältniss des Höhe-
— 383 —
überzeugen, dass in derselben eine „Beschleunigung der Massentheile des
Körpers" die Rolle des nothwendigen Factors spiele.
Ich hatte im Jahre 1872 den Rigi von Arth aus bestiegen, und fuhr von
Staffelhöhe mit der Bahn zu Thal. Als wir untervregs, ich glaube, es war in
Kaltbad, hielten, schienen mir plötzlich die Häuser und Bäume enorm schief
zu stehen. Es war mir sofort klar, dass diese optische Täuschung von
seltener Eindringlichkeit auf einem mich zwingenden Irrthume über meine
eigene Haltung beruhe, und dennoch konnte ich mich ebenso wenig von dem
Zwange befreien, als es die Mitreisenden konnten. Hier war nun von einer
Massenbeschleunigung nicht die Rede; denn der Waggon hielt ja. Auch war
sicherlich nicht die Schiefstellung des Waggons der Angelpunkt des Phä-
nomens. Denn wenn ich einen Gebirgspass im Postwagen überschreite, so er-
scheinen mir weder im Fahren noch im Halten verticale Körper schief. Die
Täuschung konnte hiernach nur aus Vorgängen erwachsen, welche auf Diffe-
renzen in der Construction beider Vehikel beruhen.
Ich finde dieselben in der Construction der Sitzbänke, welche in dem
Waggon gegen dessen Fussebene geneigt sind, damit dem Reisenden der
stetige Kampf gegen das nach vornüber Fallen erspart bleibe. Der Neigungs-
winkel der Bank kann aber selbstverständlich nur einem bestimmten Stei-
gungswinkel der Bahntrace entsprechen. Compensiren sich beide Winkel
nicht, so nehme ich die Differenz an den ausser mir liegenden Körpern mit
einer scheinbaren Abweichung von der Verticalen wahr.
Wenn ich nun weder im Postwagen, der mich zum Balanciren zwingt,
noch bei einer beliebigen schiefen Lage, die ich willkürlich meinem Körper
mittheilen kann, der fraglichen Täuschung unterliege, so beweist dies, dass
ebensowenig die Haltung des Körpers als die Beschleunigung seiner Massen-
theile das Wesentliche ist, sondern dass dies vielmehr auf dem Miss-
verhältnisse der wirklich verwendeten Muskelimpulse zur ein-
genomme-nen Körperhaltung beruht.
Aus den Thierversuchen ergab sich nun ganz unzweideutig, dass man
durch dem Kleinhirne zugefügte Veränderungen, ohne das Labyrinth anzu-
rühren, sowohl jedes der bei dem ursprünglichen Versuche erscheinenden
Symptome einzeln, als auch ihr Gesammtbild erzeugen kann. Namentlich aber
zeigte sich, dass das Kleinhirn wirklich mit der Regulirung der Muskel-
impulse direct etwas zu thun hat. Denn die eine Läsion war im Stande das
Muskelbewusstsein derart zu verändern, dass das Thier stets die eine Seiten-
lage mit der Bauchlage verwechselte; bei einer anderen Läsion kam es sogar
vor, dass nur einzelne Theile des Muskelsystems alterirt wurden, so dass die
Unterschiedes der Schienen zu der (der Krümmung entsprechenden) Zug-
geschwindigkeit abhängen. Mir erscheinen sowohl die Häuser als der Wagen
unter allen Umständen schief, wie immer auch die Geschwindigkeit des Zuges
beschaffen sein mag. — " (E. Hitzig, Der Schwindel a. a. 0. S. 27.)
— 384 —
sogenannte spiralige Drehung des Rumpfes zwangsmässig eintrat. Wegen
der Details verweise ich auf die folgende Arbeit.*)
33) Breuer**) macht darauf aufmerksam, dass bereits Purkinje***)
den „Gesichtsschwindel" auf Augenbewegungen bezog. Ich hatte anlässlich
der Abfassung meines Aufsatzes bei den damals obwaltenden eigenthüm-
lichen Verhältnissen der Berliner Bibliothek Schwierigkeiten mit der Erlangung
jener früheren Arbeit Purkinje's gehabt, und da dieser Forscher in der
sieben Jahre später publicirten, und von mir (s. S. 336) ausführlich citirten
Abhandlung nichts von Augenbewegungen, und soweit der Galvanismus in
Betracht kommt, auch nichts von Schwanken der anderen Körpertheile sagt,
so glaubte ich auf die Einsicht jener, wie ich jetzt sehe, höchst interessanten
Arbeit verzichten zu dürfen.
*) Ich habe in meiner Arbeit über den Schwindel^) eine Uebersicht
über die bis dahin erschienenen wichtigeren Arbeiten auf dem uns be-
schäftigenden Gebiete und meine gegenwärtige Stellung zur Sache gegeben.
Wenn ich mich hiernach also auch entschlossen habe, den Halbzirkelcanälen einen
breiteren Raum bei der Aufnahme der Schwindel erregenden Reize zuzugestehen,
so haben meine anderweitigen Erwägungen dadurch doch keine wesentliche
Aenderung erfahren. In. jener iirbeit (S. 42/43) sagte ich von den bezüg-
lichen Aufgaben des Kleinhirns folgendes :
„In diesem Sinne steht die Function des Kleinhirns unter dem reflek-
torischen Einflüsse des Nervus vestibularis, des Sehapparates und der ge-
sammten centripetalen ihm zufliessenden sensiblen und kinästhetischen
Bahnen. Die besondere Art der Reaction auf die auf diesen Wegen über-
kommenen Reize besteht in einer Regulirung der Muskelimpulse."
In welcher Weise diese Function in den gesammten cerebralen Mecha-
nismus eingefügt ist und welche grundsätzliche Bedeutung ihr Verständniss
für die allgemeine Auffassung der psychischen Vorgänge besitzt, das habe ich
ebenda (S. 46) auseinandergesetzt. Indem ich auf diese Arbeit verweise,
kann ich mich eines näheren Eingehens auf diesen Theil jener Fragen um-
somehr enthalten, als ich sie am Schlüsse der letzten Abhandlung des zweiten
Theiles dieser Sammlung nochmals von jenen allgemeineren Gesichtspunkten
aus ins Auge fasse.
**) J.Breuer, Ueber die Function der Bogengänge des Ohr-
labyrinthes. Separat-Abdruck aus den med. Jahrb. I. Heft 1874.
***) Purk inj e, Beiträge zur näheren Kenntniss des Schwindels aus
heautognostischen Daten. Med. Jahrb. des k. k. österr. Staates. Wien 1820.
Bd. VI. St. 2. S. 79—125.
^) E. Hitzig, Der Schwindel. Nothnagel's specielle Pathologie und
Therapie. Bd. XH, H. E. 1898.
— 385 —
In der That erwähnt Purkinje auch dort bei Referirung seiner Ver-
suche über den galvanischen Schwindel nicht, dass er bei denselben Augen-
bewegungen beobachtet oder vermuthet habe, so dass ich die Entdeckung
des galvanischen Nystagmus wohl mir zuschreiben darf. Die von
Purkinje allerdings beschriebenen Augenbewegungen bei und nach dem
Drehschwindel sind aber allmählich wieder so vollkommen in Vergessenheit
gerathen (Vgl. z. B. die im Text erwähnte Theorie des Schwindels von
Helmholtz), dass ich sie, wie Breuer voraussetzt, selbstständig wieder
entdecken musste.
Hitzig, Gesammelte Abhandl. I. Theil. 25
XIX. Untersuchungen zur Physiologie des Kleinhirns*).
Die Gesichtspunkte, welche mich zu vivisectorischeu Versuchen am
Kleinhirn veranlassten, sind bereits in der vorstehenden Abhandlung
angegeben. In der hinteren Schädelgrube liegen so viele wichtige
Organe auf kleinem Räume, dass die Reduction der bei äusserlicher
Reizung erzielten Effecte auf irgend eins derselben ohne eingehendere
Localisationsversuche in der Luft geschwebt hätte. Die Erreichung des
hiermit gesteckten Zieles musste aber gleichzeitig mit der einstweiligen
Begrenzung dieser Reihe von Versuchen zusammenfallen. Denn die
Schwierigkeit der Vornahme und der Beurth eilung von Versuchen am
Cerebellum ist so erheblich, dass das Bestreben nach einer weitergrei-
fenden Erledigung der hier schwebenden Fragen mich auf eine nicht
abzusehende Zeit von dem Objecte meines hauptsächlichen Interesses,
von dem grossen Gehirne, abgezogen hätte.
Ich beschränke mich deshalb auch hier allein auf die Mittheilung
derjenigen Thatsachen, welche zur Localisation der beim Galvanisiren
durch den Kopf beobachteten Reizerscheinungen auf das Kleinhirn und
zum Verständniss derselben dienen können, und hoffe zu einer detail-
lirteren Bearbeitung dieses Kapitels unter kritischer Heranziehung der
angehäuften Literatur wohl noch die Müsse zu finden. Fast sämmt-
liche Versuche — etwa 80 an Zahl — wurden an Kaninchen vorge-
nommen. —
Die Methode den Menschen durch den Kopf zu galvanisiren, hat
vor allen sonst hier in Frage kommenden den unbestreitbaren Vorzug,
dass man über die eigenen Wahrnehmungen des Versuchsobjectes und
damit von vornherein über den Sinn, wenigstens eines Theiles der
Reizeffecte unterrichtet wird. Indessen sind diese Reizeffecte eben sehr
complicirter Natur. Wenn sie nun sämmtlich auf perverse Muskelactionen
*) Vgl. hierzu: Reichert's und du Bois-Reymon d's Archiv 1871.
S. 771 f., und Berl. klin. Wochenschr. 1872. No. 43. , .
— 387 —
zurückzuführen sind, die einen Irrtlium rücksichtlich der Orientirung
im Räume vermuthen lassen, so war es wahrscheinlich, dass irgendwo
ein Organ bestehen müsse, in welchem eine Verknüpfung der einzelnen
Mechanismen stattfindet, welche zur Orientirung, sowie zu der davon
abhängenden Aenderung des Verhaltens im Räume dienen, und dass
dieses Organ gereizt wüi"de.
Dass diese Mechanismen mannichfaltiger Art sind, ferner dass eine
Störung in jedem Einzelnen derselben zu Anomalieen sehr verwandten
Sinnes führt, weiss man. Das Auge, das Ohr, das Gefühl im weiteren
Sinne, die drei Vorrichtungen, welche besonders dazu bestimmt sind,
unsere Beziehungen zur Aussenwelt nach innen zu verdeutlichen, ge-
niessen gleicher Dignität. So möchte ich auch die Verbindung der
halbcirkelförmigen Canäle mit dem Gehörorgane nicht für einen Zufall
halten, sondern darin eher die Absicht vermuthen, auch diesen Wahr-
nehmungen räumliche Vorstellungen schon im Entstehen beizumischen.
Pathologische Beobachtungen und Versuche, welche schon seit dem
vorigen Jahrhundert immer und immer von Neuem in der Literatur
erschienen, hatten versucht, das Kleinhirn zum Gleichgewichts-Orienti-
rungsorgane zu machen. Wenn man aber die Lehrbücher der Physio-
logie durchsieht, so findet mau, dass diese Ansicht keineswegs zur
iillgemeinen Geltung kommen konnte, und dass auch die schon von
Purkinje ausgesprochene Auffassung jener Zwangsbewegungen als
Schwiiidelerscheinungen keinen besonderen Anklang fand. Es wurde
nicht für bewiesen gehalten, dass die Tliiere überhaupt Schwindel hätten,
und dann wurde die Multiplicität der mit Zwangsbewegungen reagiren-
den Organe eingewendet.
Ich will hier nicht näher auseinandersetzen, wie diese Multiplicität
nur eine scheinbare ist, insofern der eine Theil jener Organe in die
Kategorie von Leitungsbahnen gehört, und dem einen Theile der
Zwangsbewegungen überhaupt ein anderer Sinn unterliegt. Aber nichts
ist einfacher zu beweisen, als dass die Z wangsbewegungeu um
■die sagittale Axe ausführenden Thiere wirklich Schwindel
höheren Grades haben. Denn dieselben Momente, welche dem Men-
schen erfahrungsgemäss Schwindel, nämlich die in der Abhandlung XVIIl
detaillirten Erscheinungen, bereiten, rufen am Thiere je nach der Ein-
wirkung dieselbe Form der Zwangsbewegung in mehr oder weniger aus-
gesprochenem Grade hervor.
Am leichtesten kann man sich hiervon dadurch überzeugen, dass
man einem Kaninehen einen Bindfaden um die Fussgelenke legt und es
an demselben einige Male um eine verticale Kopf- oder Körperaxe dreht.
■Sobald man mit der Drehung aufhört, wirft sich das Thierchen auf die
'25*
— 388 —
entgegengesetzte, also wenn es nach links gedreht wurde, auf die rechte
Seite, und die Augen zeigen rhythmischen Nystagmus. Dessen Richtung
weicht jedoch von dem anderweitigen Schema insofern ab, als die
ruckende Bewegung nach rechts anstatt nach links hin stattfindet.
Aehnliche Bewegungen, die ihr Analogen am Menschen in dem S. 357
erwähnten Versuche finden, macht auch der Kopf.*)
Noch deutlicher lässt sich die Identität der Zwangsbeweguugen mit
den Aeusserungen des Schwindeis durch die galvanische Reizung er-
weisen. Wenn man nämlich Kaninchen feuchtes Papier mäche in die
äusseren Gehörgänge bringt, ^ und nun die Pole der Kette mit diesem
feuchten Leiter verbindet, so kann man durch Schaltung verschieden
starker Ströme alle Modalitäten der Zwangsbewegungen um die Längs-
axe erzeugen. Wählt man einen schwachen Strom, so fällt das Thier
bei der Schliessung nur nach der Anode, während es seine Augen unter
Nystagmus nach der Seite der Kathode dreht**). Manchmal aber fehlt
die Bewegung der Augen, oder sie tritt nur bei der Schliessung und
Oeffnung der Kette ein. Dann liegt das Thier auf der Seite, ohne dass
seine Augen die sonst bei gezwungener Seitenlage zu beobachtende Ver-
drehung zeigten.
Wählt man aber einen starken Strom, so wälzt sich das Kaninchen
mit grosser Geschwindigkeit nach der Seite der Anode um seine Längs-
achse, während man an den Augen eine hochgradige Verdrehung im
angegebenen Sinne beobachtet, das Bild ist also gerade so, als wenn
man den mittleren Kleinhirnschenkel durchschnitten hätte. Bei der
Oeffnung der Kette nehmen alle Bewegungen die umgekehrte Rich-
tung an.
Aus den soeben und in der vorstehenden Abhandlung angeführten
Versuchen geht jedenfalls schon ganz unanfechtbar hervor, dass die
in der Form von theilweiser oder gänzlicher Rotation um
die sagittale Axe auftretenden Zwangsbewegungen, ebenso
wie die entsprechenden Erscheinungen am Menschen, nichts
als eine besondere Erscheinungsweise des Schwindels sind^
ohne dass jedoch schon etwas für die Localisation der Reizelfecte ge-
wonnen wäre. —
Auf einen etwas kleineren Bezirk gelangt man nun mit dem fol-
*) Breuer hat diese seither von ihm an Vögeln beobachteten Bewe-
gungen „Nystagmus des Kopfes" genannt.
**) Sitzt die Anode also rechts, so wird das rechte Auge durch den Ruck
nach vorn und innen und oben gedreht.
— 389 —
genden, auch durch die Art des bisher nicht angewendeten Reizmittels
interessanten Versuch.
Wenn man dem Kaninchen das Hinterhaupt eröffnet und ihm den
kleinen Seitenlappen des Kleinhirns exstirpirt, der der Flocke beim
Menschen entspricht, so bleibt eine, von dem beim Kaninchen ver-
knöcherten Tentorium gebildete Höhle zurück, in die der Flockenstiel
hineinragt. Bringt man nun in diese Höhle einige Fragmente Eis, oder
spritzt vorsichtig kaltes Wasser hinein, so richtet sich das Thier plötz-
lich auf, macht ähnliche wackelnde Bewegungen mit dem Kopfe, manch-
mal auch mit dem Körper wie nach den Dreh versuchen, und stürzt
dann auf die entgegengesetzte Seite, während sich nun beide Augen
unter heftigem Nystagmus in die Winkel der verletzten Seite stellen.
Eine Weile bleibt es so liegen, dann springt es plötzlich wieder auf
und sitzt ruhig da, als wenn ihm nichts geschehen wäre. War der Reiz
aber sehr stark, so geschieht dasselbe wie beim Galvanisiren mit starken
Strömen. Das Kaninchen macht einen solchen Satz, dass es nicht mehr
auf die Seite, sondern auf den Rücken zu liegen kommt, rollt von da
auf die verletzte Seite, schleudert sich wieder nach der gesunden Seite
zu, und wenn der Impuls stark genug ist, kann sich der Vorgang ein
paar Mal wiederholen. Die Abkühlung wirkt also wie die Kathode.
Da in der Mehrzahl der Fälle einige Momente vergehen, so ist die Idee
nicht von der Hand zu weisen, dass die durch den Kältereiz erfahrungs-
gemäss producirte Contraction der kleinsten Blutgefässe hierbei eine
Rolle spielt. 34)
Durch diesen Versuch wird die Summe unserer Reizeffecte schon
etwas mehr, nämlich auf die unmittelbare Umgebung der Flocke locali-
sirt. Da aber die einseitige oder doppelseitige Exstirpation dieses kleinen
Organs an dem Verhalten des Thieres nicht nothwendigerweise etwas
ändert, so darf man nicht annehmen, dass jene Bewegungseffecte etwa
durch Reizung der in dem Flockenstiele austretenden Bahnen ausgelöst
würden. Vielmehr wird es durch die Nachbarschaft der Ausstrahlungen
der eigentlichen Hemisphäre des Kleinhirns nach dem Brückenschenkel
zu wahrscheinlich, dass dieser Theil der Bahnen bei der zuletzt ge-
schilderten Methode den Angriffspunkt des Reizes abgiebt. Von diesem
Gesichtspunkt aus müssen sämmtliche durch Exstirpation oder Reizung
der Flocke bedingten Anomalieen der Muskelinnervation beurtheilt
werden.
Unverletzte Kaninchen lassen sich bekanntlich ebensowenig mit dem
Rumpfe als mit dem Kopfe gutwillig auf die Seite legen, und wenn es
gewaltsamer Weise geschehen ist, so schleudern sie sich mit Energie
in ihre Normalhaltung zurück, sobald man sie freilässt. Hat man ihnen
— 390 —
jedoch die Flocke genommen, so setzen sie manchmal der Verdrehung
ihres Körpers keinen Widerstand entgegen und lassen sich auch die
Seitenlage des Rumpfes während längerer Zeit gefallen. Ihre Bewe-
gungen (aucli die der Augen) sind dabei sonst nicht beeinträchtigt, denn,
wenn man sie reizt, so entweichen sie wie gesunde Thiere; überhaupt
werden sie durch die Operation nicht sehr alterirt. So ertappte ich
ein, nach Vollendung der Operation kurze Zeit ohne Aufsicht gelassenes
Kaninchen dabei, dass es sich bemühte, den Pons eines vorher getödte-
ten Leidensgefährten durch Lecken aus der von mir geöiTneten Schädel-
höhle herauszubefördern, nachdem es das ganze Grosshirn bereits ver-
zehrt hatte.
Wenn demnach auch die Flocke und ihr Stiel unschuldig an den
Drehbew^egungen und an dem eben geschilderten abnormen Verhalten
des Thieres sind, insofern als dasselbe wohl auf accidentelle Zerrungen
oder Quetschungen der Umgebung zurückgeführt werden muss, so geht
doch aus diesen Versuchen hervor, dass man durch einen so gering-
fügigen Eingriff, wie diese mechanischen Beleidigungen,
partielle Störungen in dem Orientirungsapparate des Thieres
hervorbringen kann.
Einen ähnlichen Sinn hat es, wenn beim Zerschneiden des Flocken-
stieles, wie ich fand, doppelseitige coordinirte Bewegungen der Augen
auftreten, und weim es bei Reizung der Flocke selbst zu inconstanten,
aber gleichfalls coordinirten Zwangsstellungen der Bulbi kommt. In
den meisten Fällen kann man nämlich, sobald man nicht roh verfährt,
die Flocke mechanisch und elektrisch reizen, ohne irgend einen Reiz-
effect zu beobachten. Manchmal aber, w'enn auch selten, dreht sich
schon bei sanftem Druck auf das unverletzte Organ und ebenso bei
Reizung desselben mit der Anode eines sehr schwachen Stromes das
Auge der verletzten Seite nach unten, und das andere Auge nach oben.
Nachlass des Druckes und Oeffnung der Kette führen dann zu einer
Bewegung in entgegengesetzter Richtung.
Das Endziel war nun, diese Erscheinungen in die Hemisphären
oder den Wurm zu verfolgen, bis jede einzelne derselben womöglich
ebenso localisirt war, wie es für die Muskel bewegungen im Grosshirn
glückte. Ich habe schon eingangs angeführt, dass ich diese Aufgabe
nicht vollständig lösen konnte, aber doch erreichte ich mein nächstes
Ziel, die Localisirung des ganzen Coraplexes auf das Cerebellum und
seine fernere Zerlegung in die einzelnen Bewegungsanomalieen.
Eins der wichtigsten Resultate erhielt ich gleich bei den ersten
Versuchen, bei welchen Herr Dr. Mossdorff aus Dresden mir assi-
stirte, ich habe es oben (S. 148) bereits erwähnt. Als ich nämlich zur
— 391 -
Vornahme der eJektrischen Reizung das Hinterhaupt eröffnet hatte,
zeigten die, als Indices in den Glaskörper gesteckten Karlsbader Nadehi
heftigen Nystagmus an. Es konnte nun sein, dass der Luftreiz direct
oder indirect diese Bewegungen auslöste, aber es war auch möglich,
dass durch die Entfernung des Knochens eine Dislocation der die
hintere Schädelgrube ausfüllenden Theile, und so eine Zerrung an diesen
so sensiblen Organen eingetreten war.
Ich sagte mir, dass in der Einwirkung der Luft, wenn diese wirk-
lich die Schuld trug, wahrscheinlich die Teniperaturdifferenz das We-
sentliche sei, und damit liess sich der Zweifel beseitigen. Nachdem
nämlich der Nystagmus wieder aufgehört hatte, kühlte ich die Ober-
fläche des Organes von neuem mit Wasser von Zimmertemperatur oder
Eiswasser ab. Die jetzt entstehenden Reizeffecte konnten nun nicht
mehr auf Zerrungen bezogen werden. Sie bestanden wiederum in
Zwangsbewegungen des Körpers, des Kopfes und der Augen,
nur dass dieselben sich nicht mit der absoluten Constanz herstellen
Hessen, wie bei Reizung von der Flockenkapsel aus. Hierin lag der
Grund, wegen dessen ich die letztere Methode aufsuchte und für De-
monstrationen und die erste Publication adoptirte.
Bei einer Zahl von Fällen treten nämlich Rollbewegungen nach
der unverletzten Seite und Zwangsstellungen der Augen ein, bei einer
anderen Zahl aber nur mehr oder weniger starker Nystagmus, und dessen
Richtung ist, wie es scheint, je nach der gereizten Stelle verschieden.
In wieder anderen Fällen waren auch die Augenbewegungen sehr
schwach. Ich habe mich nicht sicher überzeugen können, ob auch
hieran geringe Differenzen der Oertlichkeit oder, was mir wahrschein-
licher ist, verschiedene Irritabilität der Blutgefässe Schuld war.
Obwohl ich den Effecten der localen Elektrisirung an so
kleinen und empfindlichen Theilen einen grossen Wertli nicht beilegen
kann, so will ich doch wegen der Uebereinstimmung mit den durch
äussere Galvanisirung erzielten Augenbewegungen auch die Resultate
einiger derartiger Versuche mittheilen.
Die Drähte mit den Platinknöpfchen Hessen sich hier, da sie die
Oberfläche des Organs sofort zerfetzten, nicht ohne Weiteres anwenden.
Ich umgab sie deshalb mit einigen durch Seide festgehaltenen Lagen
feuchten schwedischen Fliesspapieres, und reizte dann (Anordnung wie
auf S. 5) mit 20 S. EE. W. in der Nebenschliessung.
Dabei drehten sich nun beide Augen, wenn die Elektroden über
dem hinteren Lappen des Wurms standen, nach rechts oder links, je
nachdem die Anode rechts oder links war. Am deutlichsten schien
der Effect zu sein, wenn sich die eine Elektrode in der, beim Kanin-
— 392 —
chen sehr tiefen, sagittalen Furche zwischen Wurm und Hemisphäre
befand.
Rückten die Elektroden nach dem oberen Lappen, so ergab die
eine Stromrichtung combinirte Drehung des einen Auges nach oben
und des anderen nach unten, und die andere Stromrichtuug sofortigen
Wechsel, so dass nun das zuerst nach oben blickende Auge nach
unten sah. Auch die mechanische Reizung der gleichen Theile
mit der Spitze einer lancettförmigen Präparirnadel führte zu zuckenden
Bewegungen beider Augen. —
Endlich nahm ich noch ^ eine lauge Reihe von Verletzuugs-, Durch-
schneidungs- und Exstirpationsversuchen am Kleinhirn vor, deren Ge-
sammtresultat zur ferneren Aufklärung des Sachverhalts wesentlich bei-
trägt. Wenn tiefgehende Schnitte die eine Hemisphäre derart
trennten, dass ihre Verbindungen mit dem mittleren und hinteren
Schenkel zum grösseren Theile unterbrochen sein mussten, so entstand
dasselbe Bild wie bei starker galvanischer Reizung, die Thiere ro-
tirten mit rasender Vehemenz nach der verletzten Seite.
Befanden sie sich im Käfig, so verpackten sie sich, wie Magen die
gelegentlich seiner Versuche über Trennung des mittleren Kleinhirn-
schenkels treffend bemerkt, durch das Drehen selbst ähnlich in Stroh,
wie eine Flasche, die man auf Reisen schickt.
Ich habe schon a. a. 0. darauf aufmerksam gemacht, dass diese,
schon von anderen Autoren beschriebene Form des Versuches, so merk-
würdig ihr Anblick auch sein mag, den Einblick in das eigentliche
Wesen des Vorganges wegen der grossen Gewaltsamkeit der Bewegungen
viel weniger gut gestattet, als die kleineren Verletzungen. Bei diesen
beobachtet man nämlich entweder das Gleiche, wie nach Exstirpation
der Flocke: die Thiere lassen sich die Seitenlage des Rumpfes
gefallen. Oder wenn man grössere Zerstörungen anrichtet, kann eine
Serie von zwangsmässigen Aenderungen der Normalhaltung eintreten,
deren häufigste Erscheinungsweise die ist, dass sich das Versuchs-
thier aus jeder Lage, die man ihm mittheilt, auf die verletzte
Seite wirft anstatt in die Mittelstellung. Ist dieser Impuls sehr
heftig, so kommt es gelegentlich auch einmal zu einer oder mehreren
Rotationen, die regelmässig mit der abnormen Zwangslage enden.
Auf Grund dieser Beobachtungen kam ich zu der Ueberzeugung,
dass in dem operirten Kaninchen, wenn es z. B. auf dem Bauche
liegt, der Eindruck vorherrscht, dass es auf der unverletzten Seite läge,
und dass die Zwangsbewegung nach der verletzten Seite nichts ist, als
eine willküi'liche Bewegung zur Aufrechthaltung des scheinbar gestörten
Gleichgewichtes.
— 393 —
Hiermit habe ich nber, wie ich schon sagte, nur eine Form „der
Zwangslage" beschrieben, diese ist nun wieder der mannich faltigsten
Varianten fähig. SteUung und Bewegung der Augen, Verhältniss des
Kopfes zum Rumpfe und der einzelnen Abschnitte des Rumpfes unter
sich wechseln bei den einzelnen Versuchen in der buntesten Reihen-
folge mit einander ab. Von diesen Details erwähne ich nur die soge-
nannte spiralige Drehung des Rumpfes, bei der das Thier zwangs-
mässig die Vorderpfoten und die eine Hinterbacke auf den Tisch bringt,
so dass man entschieden an eine Täuschung über das Verhalten des
Hinterleibes denken muss. Näheres Eingehen auf diese Fragen verspare
ich mir, der eingangs erwähnten Absicht getreu, auf eine andere
Gelegenheit.
Ich glaube aber hiermit nachgewiesen zu haben, dass man alle
die beim Galvanisiren durch den Kopf eintretenden und als
Schwindelerscheinungen zu betrachtenden Störungen der
Muskelinnervation in ihrer Gesamratheit oder einzeln her-
vorbringen kann, je nachdem man die normalen Zustände
des Kleinhirns allgemein oder local ändert.
Anmerkung.
34) Die gleichen Erscheinungen sind, wie Breuer und Ewald seither
nachgewiesen haben, durch directe Abkühlung der Halbcirkelcanäle hervorzu-
bringen. Es versteht sich daher, dass sie in unserem Falle gleichfalls durch
Reizung der Canäle oder des N. vestibularis erklärt werden können. Die beob-
achtete Latenzzeit wird dem Zeitintervall entsprechen, den die Ausbreitung
der Abkühluns: erfordert.
XX. Ueber die Auffassung einiger Anonialieen der Muskel-
innervation.
I.
Die bisher vorgebrachten Ansichten über die Ursachen der in
Folge von Apoplexieen so häufig auftretenden Contracturen
weichen nicht unerheblich von einander ab. Einige Autoren beschul-
digen einfach die Prävalenz der Flexoren, ohne dass damit doch mehr
als eine bequeme Redewendung, mit der man über die Schwierigkeit
der Erklärung hinweg kam, gegeben worden wäre.
Wenn wirklich einzig und allein die Anwesenheit grösserer Muskel-
massen an den ßeugeflächen, die jedoch keineswegs allein Sitz solcher
Contracturen sind, bedingend wäre, so könnte man nicht einsehen, warum
jenes Symptom nicht sofort, oder wenigstens im Laufe einiger Tage
nach dem Eintritt der cerebralen Läsion zum Vorschein kommt. Ausser-
dem hätte man dann bei peripheren Brachiallähmungen, namentlich aber
bei isolirten Lähmungen des Nervus radialis, denselben Symptomencom-
plex zu finden, welches nicht der Fall ist.
Andere Autoren suchen den Grund im Gehirne. Duchenne*) hält
die Contractur Hemiplegischer für ein Zeichen eines im Gehirn ab"
laufenden Entzündungsvorganges, der in den Wänden der hämorrhagi-
schen Cyste seineu Sitz hätte. Ich brauche nicht anzuführen, dass es
reichliche Fälle von liemiplegischen Contracturen giebt, bei denen man
keine Veranlassung hat, an Blutergüsse in die Hirnsubstanz zu denken.
Im üebrigen giebt jener verdienstvolle Forscher keine Gründe für seine
Ansicht an.
Auch in der Heranbildung und dem weiteren Verlaufe solcher Con-
tracturen liegt mancherlei, was die fragliche Ansicht von vorn herein
unwahrscheinlich macht. In der Regel sieht man die ersten Zeichen
*) Duchenne, De 1' electrisation localisee. Deuxieme edition.
Paris 1861, p. 362.
— 395 —
des Symptoms erst im Laufe des 2. — 3. Monats nach dem Insulte er-
scheinen. Dann aber pflegt es nur zu häufig bis au das Lebensende
nicht wieder zu weichen, sondern im Gegentheil an Intensität immer
mehr und mehr zuzunehmen. Wenn man nun auch zugeben kann, dass
die Entzündung in der Cysteuwand erst im 2. oder 3. Monat entsteht,
so kann man ihr doch eine Jahre und Jahrzeiinte lange Dauer kaum
zugestehen. Man kann dies um so weniger, wenn man berücksichtigt,
dass nach dem Zustande der Contractur zu urtheilen, diese Entzündung
immer heftiger werden müsste, ohne doch andere schwere Erscheinungen
zu setzen.
Andere Autoren sprechen melir unbestimmt „von der Einwirkung
abnormer Reize auf die motorischen Fasern der ßeugemuskeln." Hier-
mit dürfte nicht viel erklärt sein und ich muss nur wiederholt in Er-
innerung bringen, dass es keineswegs immer die Beugemuskeln allein
sind, welche von der Contractur heimgesucht werden. — Wieder An-
dere (Boudet, Durand-Fardel) glauben, dass die Contractur eine
Läsion der Convexität oder der Ventrikel bedeute. Dagegen sprechen
zahlreiche Sectionsbefunde, bei denen Contractur ohne den vorausge-
setzten Erguss auf die freien Flächen des Gehirns bestand.
Die meiste Wahrscheinlichkeit hat die in den neueren Arbeiten
nicht berücksichtigte Ansicht Bouchard's*) für sich, obwohl sich zeigen
wird, dass sie für sich allein die vorhandenen Symptome nicht erklärt_
Bouchard, der in sehr dankenswerther Weise die verschiedenen secun-
dären Rückenmarksdegenerationen studirte, widmet dem Auftreten und
den Symptomen der cerebralen Contractur eine ganz besondere Auf-
merksamkeit. Er hat wohl die genaueste Beschreibung dieses Sym-
ptoms, ohne dass er freilich die eigenthümlichen, schon früher bekann"
ten plötzlichen Aenderungen in dem Verhalten der betreffenden Musku-
latur erwähnte. Nach ihm wäre die frühzeitig (innerhalb der ersten
Tage) auftretende mit Temperatursteigerung verknüpfte Contractur als
Entzündungserscheinung, die späte Contractur aber als Product der
gleichzeitig beginnenden secundären Bindegewebswucherung im Rücken-
mark zu deuten. Wir wollen dahingestellt sein lassen, ob gerade die
Bindegewebswucherung als Reiz einwirkt; dass in der That ein Reiz-
zustand in den Centralorganen anzunehmen ist, werden wir später näher
besprechen.
Ich habe nun zunächst einige neue Thatsachen beizubringen. Bei
verschiedenen Autoren findet sich die Angabe, dass mitunter, ohne eine
*) Bouchard t. Des degenerations secondaires de la moelle epiniere.
Archives generales 1866. (4. Artikel.)
— 396 —
hinreichend erkennbare Ursache die hemiplegischen Contracturen sich
plötzlich und vorübergehend vollständig lösten. Diese sonderbare Er-
scheinung passt in keine der gangbaren Erklärungen hinein. Man hat
aber die Bedingungen dieses plötzlichen Wechsels nicht studirt, nament-
lich auch sich nicht überzeugt, unter welchen umständen derselbe con-
stant auftritt. Andere Beobachter sahen als momentane Folge psychi-
scher Affecte Streckung krampfhaft gebeugter Finger und Erhebung des
vorher gegen den Rumpf gepressten Armes. Bei derartigen Vorgängen
haben wir es aber nicht mit einem einfachen Nachlasse der Contractur,
sondern mit einer gleichzeitigen, plötzlichen und unwillkürlichen Inner-
vation der Antagonisten zu thun.
Die einfache Lösung der Contractur tritt innerhalb einer
langen Zeitperiode der Krankheit regelmässig nach längerer
Ruhe, insbesondere nach dem nächtlichen Schlaf auf.*) So
lange die Kranken auch nach dem Erwachen ruhig im Bette
liegen, bleiben ihre Glieder weich und biegsam. Ja, es kommt
sogar vor, dass Personen, die nur in Folge starrer Contrac-
turen an vollkommener Immobilität der betreffenden Partie
zu leiden scheinen, dieselbe unmittelbar nach dem Schlafe
ziemlich gut bewegen können. Mit dem Augenblicke aber,
wo sie eine, die Erzeugung grösserer Willensimpulse vor-
aussetzende Bewegung machen, ist die Contractur und damit
die Immobilität wieder da. Häufig ist dies der Fall, wenn solche
Kranke das Bett verlassen haben, manchmal genügt schon das Wechseln
des Hemdes im Bett, in anderen Fällen tritt die alte Starrheit in gan-
zer Intensität erst nach Zurücklegung eines mehr oder weniger langen
Weges ein.
Diese Verschiedenheiten hängen wahrscheinlich ab von der Inten-
sität der Affection und von dem bereits seit dem Insulte verflossenen
Zeitraum. Ueber die ganz alten Contracturen vermag ich übrigens
nichts auszusagen, da sie mir so gut wie gar nicht zur Beobachtung
kommen. Indessen war ich doch in der Lage, das Symptom über
mehrere Jahre hinaus verfolgen zu können. Es mag sein, dass die
Contractur nach Jahrzehnte langem Bestehen überhaupt permanent wird.
Dem liegen jedoch wohl ganz difl"erente Ursachen ■ — secundäre Verän-
derungen der Muskeln und Gelenke zu Grunde.
Lässt man Hemiplegische, deren Contractur nach Zurücklegung
*) Benedict, Elektrotherapie S. 219 erwähnt beiläufig: „Bei der Nacht
verschwinden (diese Spannungen, wie auch) gewöhnlich die cerebralen Con-
tracturen."
— 397 —
eines längeren Weges ziemlich starr geworden ist, sich niederlegen, so
verschwindet nicht selten ein grosser Theil der Starre. Dies dauert
aber nur so lange sie liegen. Wenn sie wieder aufgestanden sind und
einige Bewegungen gemacht haben, ist die frühere Starre wieder da.
Es begegnen uns manchmal Kranke, bei denen dieser Wechsel nur ganz
kurze Zeit in Anspruch nimmt, so dass man das Experiment oft hinter-
einander wiederholen kann. Legt man dann die eigenen Finger vor-
sichtig auf die Spitzen der krallenartig eingeschlagenen Finger der
Kranken, so kann man sehr deutlich das jedesmalige Nachlassen und
wieder Zuschnappen fühlen.*)
In anderen Fällen kann man eine Verstärkung der Contractur
auch durch andere als Ortsbewegungen des ganzen Körpers erzielen.
Ich habe z. ß. eine Kranke mit leichter apoplektischer Contractur der
rechten Seite beobachtet, welche jedesmal, sobald ich sie mit der linken
Hand einen schweren Gegenstand heben Hess, den Daumen und Zeige-
finger der rechten Hand, die sonst ziemlich flexibel waren, ganz starr
einschlug. Liess sie den Gegenstand wieder herab, so war auch der
alte Zustand wieder da.
Wir haben hier also mehrere Formen. Bei den letzterwähnten
Beobachtungen tritt eine unwillkürliche Zusammenziehung einzelner
Muskeln nur während der Dauer gewisser Bewegungen ein. Bei
anderen dauert sie nach einer Anzahl von willkürlichen Bewegimgs-
impulsen so lange der Mensch steht oder geht an, lässt aber nach
einiger Ruhe nach. In wieder anderen Fällen endlich ist nur lange
Ruhe — der nächtliche Schlaf — im Stande die Contractur vollständig
zu lösen, während schon massige Bewegungsimpulse sie in voller In-
tensität wieder herzustellen vermögen.
Es liegt auf der Hand, dass diese, in den mehr oder
weniger paralytischen Gliedern eintretenden unwillkür-
lichen Bewegungen, welche wir Contracturen nennen, als
Mitbewegungen aufgefasst werden müssen.
Sehr viel klarer tritt der Charakter der Mitbewegung bei einer
*) Vorsichtig mnss man hierbei verfahren, weil die Reflexerregbarkeit
in diesen Gliedern sehr gross zu sein pflegt. Auf jede auch nur geringe Zer-
rung antworten die Muskeln sofort mit noch stärkerer Zusammenziehung. —
Die Lösung der Contractur tritt auch gelegentlich ein, wenn man den Kranken
durch galvanische Ströme Sehwindel macht, und ebenso, wenn man ihnen
durch passive Bewegungen des entzündeten Schultergelenkes (Vergl. meine
Abhandlung: Ueber eine bei schweren Hemiplegieen u. s. w. Virchow's Archiv
Bd. 48) Schmerz verursacht.
— 398 —
bisher wenig beschriebenen P'orm cerebraler Halblähmung, der so-
genannten Hemiplegia spastica infantium zu Tage.
Eine im Allgemeinen treffende Beschreibung dieser Krankheit finde
ich eigentlich nur bei Benedict*). Er irrt sich jedoch in der An-
gabe, dass dabei die Lähmungen fehlten. Benedict beschreibt nämlich
diese Aftection als lediglich durch Muskelspannungen bedingt. Wahr-
scheinlich sind ihm durch Zufall nur spätere Stadien zur Beobachtung
gekommen, wobei dann allerdings die krampfartigen Erscheinungen bei
Weitem in den Vordergrund treten können. In früheren Stadien, und
bei einzelnen Individuen auch auf lange Zeit hinaus, besteht aber eine
wohl charakterisirte Halblähmung des Körpers und auch des Gesichtes.
Mit der eintretenden Motilität ändert sich das Bild, und man bekommt
allmäblig die uuzweckmässigsten Mitbewegungen, die man sich denken
kann, derart, dass nicht selten der antagonistische Effect oder eine be-
liebige andere wunderliche Combination von Muskel Wirkungen heraus-
kommt. Berücksichtigt man nur diese Mitbewegungen, so kann man
die Krankheit wohl für Chorea halten.
Es lässt sich hierbei nun ganz das Gleiche wie bei den Hemi-
plegieeu Erwachsener nachweisen. Wenn man solche Kinder, nachdem
sie erst die anfängliche Aengstlichkeit überwunden haben, einige Zeit
auf dem Sopha ausgestreckt liegen lässt, so gelingen ihnen Bewegungen,
die sie sonst absolut nicht ausführen können, in bei Weitem zweck-
mässigerer Weise. Die krampfartigen Bewegungen, welche beim Gehen,
häufig auch schon beim Stehen auftreten, fallen aber in der absoluten
Ruhe häufig gänzlich aus. —
Andererseits lassen sich jene Mitbewegungen ebenfalls durch Auf-
bietung stärkerer Willensimpulse bedeutend verstärken. Man kann dies
leicht zur Anschauung bringen, wenn man den Kindern Gewichte ver-
schiedener Schwere in die gesunde Hand giebt. Je schwerer die Ge-
wichte werden, um so w-eiter wird der Bereich der abnormen Mit-
bewegungen und ihre Intensität.
Ich habe bisher die Contractur der Erwachsenen nur als Ausdruck
von Mitbewegungen bei allgemeinen Körperbewegungen und bei auf
andere Glieder gerichteten Willensintentionen geschildert. Ganz
ebenso häufig strahlen die Impulse auch bei Erwachsenen in abnormer
Stärke in antagonistische Muskeln derselben Extremität ein. Schon
von alten Zeiten her weiss man, dass halbseitig Gelähmte, denen man
die Hand öffnen und die Finger strecken heisst, das Glied nur noch
fester zukrallen. Liegt der Mensch aber ruhig im Bette, so gelingt
*) Benedict, Elektrotherapie S. 219 f.
— 399 —
ihm die geforderte Bewegung. Analoges beobachtet man auch an den
Muskehl des Oberarmes. Es ist keine so gar seltene Erscheinung, dass
ein heilender Scb lagflüssiger , wenn er seinen Vorderarm gegen den
Oberarm beugen soll, allem Anscheine nach eine colossale Summe von
Willensimpulsen verbraucht. Sieht man näher zu, so findet man, dass
er gleichzeitig mit den Beugern, den Triceps in einer die Wirkung der
ersteren wesentlich hemmenden Weise innervirt*). Dasselbe kann auch
bei Streckbewegungen mit den Beugern der Fall sein. Dann nähert
sich das Bild wieder bis zur Vei'wischung dem gewöhnlichen Bilde der
Contractur. Häufig findet sich dabei ein ruckweiser, absatzweiser Cha-
rakter der Muskelaction. Man beobachtet auch Kranke, bei denen
krampfhaft gebeugte, dem W^illenseinflusse scheinbar entzogene Finger
gestreckt werden, sobald eine Erhebung des Oberarmes angestrebt wird.
Bei anderen hingegen wird auf dieselbe Willensintention die Beugung
noch stärker. —
Es würde sich nun um eine einleuchtende physiologisch - patho-
logische Erklärung für alle diese so ausserordentlich eigenthümlichen
Erscheinungen handeln. Denn wenn wir einen abstracten Ausdruck für
die im Voranstehenden geschilderten Vorgänge gebrauchen wollen, so
würde der lauten: Abnorme Innervation, unter Umständen so-
gar Innervation von absolut abnormer Stärke in für den
normalen Willensimpuls mehr oder weniger gelähmten
Muskeln. Für den ersten Augenblick scheint ein Widerspruch darin
zu liegen, dass gelähmte Muskeln unter Mitwirkung irgend welcher
Willensimpulse abnorm stark innei'virt werden sollen. Doch besteht
ein Widerspruch, wie wir sehen werden, thatsächlich nur zum Schein.
Beschäftigen wir uns zuerst mit den äusserlich wahrnehmbaren
Modalitäten einer normalen willkürlichen Bewegung, und benutzen wir
dazu das eben angeführte Beispiel der Beugung des Vorderarms gegen
den Oberarm. Es muss hier zunächst der Ansicht entgegengetreten
werden, als ob bei Vollzug dieses Willensactes nur die Beuger innervirt
würden. Dies wäre im Gegentheil abnorm, und würde eine abnorme
Bewegung hervorbringen. Bei der Beugung werden nicht nur
Strecker mit innervirt, sondern gleichzeitig noch eine Menge anderer
Muskeln, die für die genannte Bewegung erst die Vorbedingung zu
schaffen haben.
Soll der Vorderarm in irgend einer Weise gegen den Oberarm be-
wegt werden, so ist dazu einmal erforderlich, dass der letztere durch
*) Nothnagel, Archiv^ für Psychiatrie und Nervenlfrankheiten. Bd. III.
H. 1, 8. 214—218, publicirt einen ähnlichen Fall.
— 400 —
Schulter- und Brustmuskeln im Schultergelenke in einer gewissen
Stellung fixirt werde. Jene scheinbar so einfache Bewegung ist ohne
den genannten gleichzeitigen, unbewussten Willensact durchaus unmöglich.
Selbst wenn man beabsichtigt, den Oberarm am Körper ganz schlaff
herunter hängen zu lassen, wozu eine grosse Herrschaft über die eigene
Muskulatur gehört, kann man eine gewisse nicht ganz geringe Spannung
einzelner Muskeln, die mit der Beugung direct nichts zu thun haben,
namentlich des Delta und des Pector. major gar nicht vermeiden. Die
Beugung selbst ist dann wieder eine höchst complicirte Verrichtnng
aller Muskeln des Oberarms und des Supin. longus auf die wir nur mit
Rücksicht auf die Rolle des'Triceps etwas näher eingehen wollen. —
Die Action des Triceps beginnt in demselben Augenblicke, wo die
Beuger zu spielen anfangen, und sie besteht darin, dass er aus einem
anfänglich stärkeren Contracktionszustande in einen schwächeren über-
geht, während die Beuger denselben Vorgang in umgekehrter Richtung
durchmachen. Durch ein derartiges Zusammenwirken einer Menge von
Muskeln gewinnen unsere Bewegungen überhaupt den Charakter des
„Associirten". Damit sie ihn bewahren, ist die ungestörte Function
jedes einzelnen betheiligten Muskels nothig. Fällt ein einziger aus
oder wird er falsch innervirt, so ist die Harmonie gestört, nicht nur
bei der Function, die man ihm wohl zuschreibt, sondern bei allen Be-
wegungen des Gliedes.
Es giebt zwei Gelegenheiten, bei denen man die Wahrheit des
Gesagten mit Leichtigkeit studiren kann. Die eine bereits früher,
namentlich von Duchenne viel benutzte, besteht in der Beobachtung
von Lähmungen. Die andere, meines Wissens noch nicht verwerthete,
bietet das nach Resection des Ellenbogengelenks manchmal zurück-
bleibende Schlottergelenk. Hier kann man die nun noch wichtiger ge-
wordene Rolle des Triceps recht verfolgen. Heisst man einen solchen
Kranken den Arm beugen, so sieht man, wie er zuerst die Feststellung
des Vorderarms gegen den Oberarm durch eine mächtige Contraction
dieses Muskels vornimmt. Sind namentlich an dessen unteren Enden,
an seinen mehr weniger von Knochen abgelösten Ansatzpunkten tief-
gehende Narben vorhanden, so sieht man diese energisch nach oben
gezogen werden. Mit dem Moment, wo die wirkliche Beugung beginnt,
tritt aber ein sanftes Nachlassen des contrahirten Muskels ein, das
man an ihm selbst fühlen und an den Narben sehen kann.
Im Princip dasselbe wie bei der eben besprochenen Beugung des
Vorderarms gegen den Oberarm ist bei jeder willkürlichen Bewegung
der Fall. Man wird mir ein näheres Eingehen darauf jedoch wohl er-
lassen. Aber mit dem, was man an den Bewegungen eines einzelnen
— 401 —
Gliedes studiren kann, ist die Lehre von der synergischen MuskeJ-
wirkung bei Weitem nicht erschöpft. Jede denkbare Einzelbewegung
eines Gliedes setzt wieder eine bestimmte Allgemeinstellung, ich möchte
sagen Fixation des Körpers voraus, um die wir nicht gänzlich herum-
kommen, und wenn wir uns lang gestreckt auf ein Ruhebett legen.
Beim Stehen und Gehen nun vollends giebt es nur wenige Muskeln des
ganzen Körpers, die sich nicht in unablässigem Wechsel zwischen Zu-
sammenziehung und Nachlass befänden. Dieses Zusammenwirken der
Muskeln ist anatomisch und physiologisch präformirt und zwar derart
präformirt, dass der grössere Theil isolirter Muskelwirkungen überhaupt
unmöglich ist. Der motorische Theil unseres Gehirnes weiss nichts
von Triceps und Biceps, er weiss nur von Beugung etc. unter Winkel x
oder Winkel y, wie die Erfahrung ihm das gelehrt hat. Wir müssen
also, mögen wir wollen oder nicht, bei jeder intendirten Bewegung eine
grössere Summe von centralen Stätten der Muskel bewegung in den Er-
regungszustand versetzen, wir müssen, mögen wir wollen oder nicht,
auch denjenigen Muskeln, welche als Antagonisten wirken, oder welche
erst durch eine geeignete Körperstellung die Vorbedingung für die be-
absichtigte Bewegung schaffen, ihr Theil Impulse zukommen lassen.
Die Ausbreitungsgrösse und Art der Impulse über die einzelnen
Centralbezirke ist aber von zwei Factoren abhängig, einmal von den
jedesmaligen Modalitäten der intendirten Bewegung, d. h. also ob sie
mehr. den Charakter der Beugung, Streckung, Rotation etc. haben soll,
dann jedoch, was uns hier hauptsächlich interessirt, von der
Grösse der überhaupt im gegebenen Augenblicke producirten
motorischen Willensimpulse.
Wenn ich meinen Arm in die Höhe heben will, so muss ich meinem
Körper irgend eine Stellung geben, und dazu eine gewisse Zahl von
Muskeln innerviren. Nehme ich aber bei dieser Bewegung ein Pfund
in die Hand, so muss ich nicht nur die Muskeln meines Arms, sondern
auch diejenigen, welche meinen Körper in seiner Stellung erhalten
sollen, stärker innerviren, und wenn ich 10 Pfund nehme, so wird die
Grösse der für den gleichen Nutzeffect erforderlichen Arbeit in dem
ganzen arbeitenden Gebiete proportional anwachsen. W^ächst die ge-
forderte Arbeit zu einer sehr bedeutenden Grösse an, so scheint der
Erregungszustand im Centralsystem sich auch in der Norm auf grössere
Gebiete zu verbreiten, derart dass beim Heben einer schweren Last
kaum ein Muskel des ganzen Körpers in Ruhe bleibt. Selbst die
Kiefer werden dann mit Gewalt zusammengepresst, obwohl diese Theile
mit dem Heben einer Last direct gar nichts zu thun haben. Sehr viel
leichter und eleganter lassen sich diese Verhältnisse wiederum an
Hitzig, Gesammelte Abhandl. I. Theil. 26
— 402 —
Kranken studiren. doch wollen wir unter Verweisung auf das oben be-
reits Angeführte darauf hier nicht weiter eingehen. Im Allgemeinen
sehen wir also bei der vom Centrum herstammenden will-
kürlichen Innervation ein durchaus ähnlich es Gesetz wal ten ,
als bei der von der Peripherie aus erregten unwillkür-
lichen — der Reflexinnervation. Auch bei dieser breitet
sich unter zunehmender Intensität der (peripheren) Reize
d-er centrale Krregungsvorgang nach gewissen Gesetzen auf
grössere und grössere Gruppen von Muskeln aus.
Allen diesen physiologi,sch präformirten Bewegungserscheinungen
liegen auch präformirte anatomische Einrichtungen im Hirnstamm
und Rückenmark zu Grunde, wie uns das die Anatomie selbst, haupt-
sächlich aber die Experimentalphysiologie zur Genüge gelehrt hat.
Wenn Flourens Vögeln das ganze Grosshirn genommen hatte, so
waren dieselben auf äussere Reize noch zu so complicirten Bewegungen
befähigt, als der Gang und das Fliegen sind. Es geht daraus unbe-
streitbar hervor, dass bei jenen Thieren abwärts vom Grosshirn noch
Apparate bestehen, welche das Zustandekommen associirter Bewegiuigen
auch bei Ausfall des Grosshirns vermitteln, diesen Bewegungen eine
gewisse Unabhängigkeit vom Willen verleihen.
Freilich kann man die am Central-Nervensystem von Thieren ge-
wonnenen Resultate nicht schablonenmässig auf den Menschen über-
tragen. Denn offenbar gehen beim Thier vielerlei Bewegungs- und
scheinbare Willensacte mehr zwangsmässig und mehr nach dem Schema
der Reflexe vor sich als beim Menschen. Schon in dem grossen Werk
von Longe t, dieser Fundgrube unserer Kenntnisse der Functionen des
Nervensystems, finden wir dies erkannt. Longot macht darauf auf-
merksam, wie ungemein verschieden die Zerstörung der Hirnlappen auf
die Bewegungen der Thiere wirkt, je nachdem sie mehr oder weniger
vollkommen organisirt sind. Je vollkommener ein Thier organisirt ist,
ja selbst je mehr durch Heranwachsen der Einfluss von Vorstellungen
auf die Bewegung zugenommen hat, um so deutlicher wird der Einfluss
von Zerstörungen innerhalb jener Organgruppen auf die sogenannte
willkürliche Muskulatur. Aber gerade das vergleichend physiologische
Studium lehrt uns, das p r i n c i p i e 1 1 e Verschiedenheiten in der
Organisation dieser Mechanismen nicht bestehen, sondern dass nur jede
Species entsprechend ihrer grösseren allgemeinen Entwickelung auch nach
dieser Richtung hin verfeinerte Apparate besitzt. Es ist also hiernach
in hohem Grade wahrscheinlich, dass diese Apparate beim Menschen
noch weiter entwickelt und aus der Sphäre der Reflexe in die der Vor-
stellunsren und Willensacte e;erückt sind.
— 403 —
Die Zeit ist noch nicht gekommen zu entscheickMi, wie viele
Stationen der Centralorgane zu dieser innigen Verbindung der Muskel-
innervation beitragen. Indessen haben wir aus der Untersuchung der
Reflexe bei Paraplegieen doch den direeten Beweis gewonnen, dass beim
Menschen ebenfalls gemeinsame Bewegungen der Glieder bei gänzlichem
Ausschluss des Willens auch im Rückenmarke entstehen, dass beim
Menschen ebenfalls bis in das Rückenmark hinab die innigste Verbin-
dung der motorischen Centralapparate unter einander besteht. Anderer-
seits haben unsere und Nothnagels Lähmungsversuche am Grosshirn
des Hundes und Kaninchens bewiesen, dass schon bei diesen Thieren
die Coordination der willkürlichen Bewegungen mit der Integrität ge-
wisser Rindenbezirke des Grosshirns zusammenhängt. Nach Zerstörung
ganz kleiner Mengen Rindensubstanz konnten die Versuchsthiere zwar
noch das von dort aus innervirte Bein bewegen, aber die Bewegungen
hatten das Geordnete der gesunden Seite verloren und glichen den Be-
wegungen Tabischer. Wir dürfen in Folge der für die willküi'liche
Bewegung grösseren Wichtigkeit des Gehirns beim Menschen wohl an-
nehmen, dass eine gleiche, dem menschlichen Gehirne zugefügte Läsion
bei Weitem schwerere, aber im Princip doch ähnliche Erscheinungen
auslöst. In der That ist das der Fall. Denn bei Zerstörungen so
wichtiger Theile innerhalb der motorischen Organe des menschlichen
Gehirns ist die eigentliche Lähmung eine viel erheblichere und an-
dauerndere als beim Hunde, wo selbst grosse Zerstörungen, wenn das
Thier sie überlebt, sich ausgleichen. Aber im Princip sehen wir wieder
die Aehnlichkeit in der Art der Bewegungsstörung. Sowohl bei dem
Experiment als während einer gewissen Krankheitsperiode der Hemi-
pleglschen bestellt die Motilitätsstörung wesentlich in abnormer Ver-
theilung der motorischen Impulse. Der Hund setzt sein Bein anders
als er sonst that, der Mensch innervirt seine Muskeln anders als er will.
Ich meine diese beiden Zustände lassen sich ihrer physiologisch-
pathologischen Bedeutung nach wohl vergleichen, wenn auch beim
Menschen häufiger Leitungsbahnen als Centren von der Function aus-
geschlossen werden. Denn es ist wahrscheinlich für die willkürliche
Bewegung gleichgültig, ob ein Centrum überhaupt nicht mehr existirt,
oder ob nur seine Verbindung mit der Peripherie abgeschnitten ist.
Führen wir die soeben zusammengestellten Thatsachen auf einen
gemeinsamen Werth zurück, so ergiebt sich folgende Lehre. In den
abwärts gelegenen Theilen des Centralnervensystems existirt eine Anzahl
von Zusammenfassungen der peripheren Nerven, welche bei gewissen
Reizen die Möglichkeit zur gemeinschaftlichen Function der letzteren
schafft. Bei weniger hoch organisirten Thieren, bei denen auch die
26*
— 404 —
Bewegungen eine weit geringere Mannigfaltigkeit besitzen, genügt es,
wenn Reize von der Peripherie aus eindringen, um die wenigen ilinen
zu Gebote stehenden Bewegungen auch bei Abwesenheit des Grosshirnes
ebenso auszulösen, als wenn das ganze Centralorgan noch vorhanden
wäre. Bei Thieren einer höheren Stufe genügt es, dass überhaupt noch
Impulse des Grosshirns nach abwärts gelangen, um das ungestörte Fort-
spielen der Maschine zu ermöglichen.*) Sind die Thiere noch höher
organisirt, so genügt es nicht mehr, dass irgend welche cerebrale
Erregungen einwirken, um normale Bewegungen auszulösen, sondern
nun bedarf es der ungeschmälerten Impulse weiterer Zusammenfassungen
von Nerven, um die nun auch mannichfaltiger gewordenen Modalitäten
der Muskelwirkung in iher ganzen Fülle zur Anschauung zu bringen.
Aber doch finden wir noch immer die Tendenz der Maschine zu Mit-
bewegungen. Denn die dem Reize der Vorstellungen entzogenen Glieder
werden gleichwohl in Bewegung gesetzt, sobald die anderen gewöhnlich
zusammenwirkenden Apparate zu functioniren beginnen. —
Sehen wir nun zunächst zu, welchen Nutzen wir aus der Kenntniss
der im Vorstehenden zusammengestellten Thatsachen für die Deutung
der uns beschäftigenden Krankheitserscheinungen ziehen können. Wir
überzeugten uns, dass ein schlagflüssiger Mensch, den man in eine Lage
versetzt, welche an und für sich nur geringe motorische Impulse von
ihm verlangt, die Glieder seiner kranken Körperhälfte in einer sich der
Norm um vieles nähernden, übrigens von dem Grade der Restitution
des Centralorgans abhängenden Weise bewegen kann. Will derselbe
Mensch aber Allgemeinbewegungen des Körpers ausführen, erzeugt er
grosse motorische Impulse, so strahlen dieselben mit Heftigkeit, unab-
hängig von dem Willen in einzelne Bahnen ein, welche bei sehr ver-
schiedenen Impulsen für dasselbe Individuum dieselben bleiben. Von
demselben Augenblicke an ist es mit der soeben noch möglichen will-
kürlichen Innervation ganz oder grösstentheils vorbei.
Dem entsprechend treffen wir auch bei Thieren und bei dem nor-
malen Menschen abwärts vom Grosshirn Vorrichtungen, welche eine
gemeinschaftliche Reaction auf cerebrale Reize haben, und unter Ver-
stärkung der motorischen Impulse selbst in der Norm die unwillkür-
liche Ausbreitung der centralen Erregung gestatten. Man könnte nun
annehmen, dass jene Unordnung der Innervation allein durch den Aus-
fall der Impulse des einen oder des anderen jener Grosshirnceutra ent-
*) Vergl. hierzu die Versuche von Flourens, der Vögel den grösseren
Theil der Hirnrinde abtrug, ohne dadurch die äusserlich wahrnehmbaren
Zeichen ihrer seelischen Functionen zu vernichten.
— 405 —
steht. Dann könnte man sich aber nicht wohl erklären, wie die nor-
malere Bewegung bei der Ruhelage zu Stande käme. Man könnte sich
auch zu der Ansicht neigen, dass die abnorme Innervation nur durch
den Ausfall eines Theiles der motorischen Bahnen für die eine Mus-
kelgruppe bei gleichzeitiger Integrität der Bahnen für die Antagonisten
bedingt sei. Wenn auch sicher ein Theil der motorischen Bahnen
dauernd zerstört ist, so haben wir doch für die supponirte Vertheilung
der Zerstörung nicht nur keine Anhaltspunkte, sondern es wäre auch
mit derselben die sich in der Starre der Contractur ausdrückende Stärke
der Reaction auf einen verhältnissmässig geringeren Reiz, und ihre
schliessliche Dauer über die willkürliche Bewegung hinaus noch nicht
erklärt.
Nehmen wir hingegen an, dass sich während des Ab-
laufes des Krankheitsprocesses ein Reizzustand irgend einer
Art innerhalb einzelner, zur Coordination der Bewegungen
bestimmter Abschnitte der Centralorgane entwickelt, durch
welchen die zweckmässige Vertheilung der Impulse von dem
Augenblicke an, in dem die herabgelangenden Impulse diesen
Abschnitt betreten, der Regulirung seitens des Willens ent-
rückt wird, so lassen sich fast sämmliche hierher gehörigen That-
sachen bereits erklären. Denn unser Wille vermag erfahrungsgemäss
mit abnormen Reizzuständen innerhalb centraler Organisationen nicht
zu rechnen, sondern er giebt seine Impulse ohne Rücksicht auf diese
stets so ab, als ob alle Bahnen sich in normalem Erregungszustande
befänden.
Dass in der Tliat ein Reizzustand existirt, lässt sich auf mancherlei
Art nachweisen. Der anatomische Befund könnte herangezogen werden,
und wenn ich oben meine Bedenken geäussert habe, dass das gewucherte
Bindegewebe selbst der Reiz sei, so muss man doch nach analogen
Erfahrungen diese Wucherung durch das Vorhandensein eines Reiz-
zustandes deuten.*) Doch liegt es keineswegs im Bereiche der Un-
möglichkeit, dass nur die allmähliche und unvollkommene Wiederher-
stellung cerebralen Einflusses abnorme Erregungszustände setzt, und
dass das Zusammenwirken dieser beiden Momente — der Ursache und
des von ihr erzeugten Folgezustandes ohne das directe Dazwischentreten
der degenerativen Vorgänge das uns beschäftigende Verhalten veran-
lasst. Ich werde in der folgenden Abhandlung noch etwas zur Auf-
klärung beitragen. Für den Augenblick halte ich diese Frage aber für
viel zu complicirt, und die Vorbedingen zu ihrer Lösung für viel zu
*) Dieser Ansicht bin ich natürlich nicht mehr.
— 406 —
wenig vorhanden, um eine bestimmte Ansicht auszusprechen. Es mag
vor der Hand genügen, dass wir überhaupt das Vorhandensein eines
Reizzustandes nachweisen können. Zu Gunsten dieses Nachweises spricht
ferner die Erhöhung der Reflexerregbarkeit. Wenn man, wie
ich oben bereits anführte, der Haut des gelähmten Armes nur geringe
Reize zufügt, oder die Mnskehi desselben nur wenig zerrt, so beobachtet
man sofort eine Zunahme der Contractur. Wenn man geringe Reflex-
reize auf die Haut des Beines einwirken lässt, so bewegt sich nicht nur
dieses, sondern auch der Arm geräth in unwillkürliche Bewegungen.
Man könnte hieraus ohije weiteres schliessen wollen, dass der Sitz
des Reizes im Rückenmark und damit alles erklärt sei. Indessen lassen
sich diese Reizerscheinungen doch weit höher hinauf, selbst bis zum
Sitze der psychischen Fähigkeiten verfolgen. Auch beim Recken und
Gähnen bewegt sich der kranke Arm, manchmal gemeinschaftlich mit
dem gesunden, manchmal ohne ihn. Der kranke Arm bewegt sich ohne
den gesunden, wenn plötzliche Erregungen der Seele — Schreck, Zorn,
Angst sich in dem Gehirne abspielen; und dies ist Marshall Hall so
unerklärlich gewesen, dass er offenbar grösstentheils deshalb seine Lehre
von den verschiedenen Principien der Seelenerregung und der Willens-
kraft neben seiner Vis nervosa aufstellte, ja sogar für die erstere sich
nicht kreuzende Bahnen angenommen wissen wollte. Interessant, wenn
auch dunkel ist der Umstand, dass bei dieser Art von Bewegungen,
welche nicht auf Willensintentionen , sondern auf entferntere Reflex-
reize und psychische Eindrücke erfolgen, nicht die contracturirten Mus-
keln, sondern im Gegentheil ihre Antagonisten innervirt zu werden
pflegen. Ich möchte mich also über den Ort, wo die fraglichen Inner-
vationsanomalieeu beginnen, ebenfalls des definitiven Urtheils enthalten. —
Es würde sich nun fragen, wie die Verlängerung der Contractur
über die Dauer des Willensreizes hinaus zu erklären sei. Ich glaube,
dass man hierfür Anhaltspunkte in dem Entwicklungsgange der Con-
tractur findet. Im Anfange scheint die Contractur allerdings nicht lange
über den Impuls hinaus zu daueni, mit der Zeit aber hält sie immer
länger an, bis sie endlich nur durch verhältnismässig lange Ruhe gelöst
wird. Vielleicht mag auch ein Zeitpunkt eintreten, zu dem sie über-
haupt permanent wird. In gleichem Verhältniss wie die Dauer nimmt
aber auch die Intensität der Contractur zu. Man darf unter diesen
Umständen wohl die Vermuthung äussern, dass dem eine allmählige
Zunahme der Reizung der betreftenden morphologischen Elemente zu
Grunde liegt, durch die sie befähigt werden, die ihnen gewordenen
Erregungen länger und länger über die gewöhnliche Dauer hinaus
festzuhalten. —
— 407 —
Mit dem Umstände in Verbindung, dass auf Centrailäsionen der
Tliiere nie Contracturen folgen, nuiss die von allen Autoren einhellig
gemachte Beobachtung besprochen werden, dass die obere Extremität
fast ausnahmslos am heftigsten, die untere Extremität weniger, der
Rumpf aber niemals von der Contractur befallen wird. Bouchard*)
deutet dies durch den in der Nackenzone des Rückenmarks grösseren
Reichthum an sich kreuzenden, also cerebralen und degenerirenden
Fasern. Diese Auffassung erscheint mir nun keineswegs hinreichend
gestützt. Bouchard spricht an der Stelle freilich gar nicht von den
Rumpfmuskeln, sondern nur von denen der Arme und Beine. Es würde
ihm sonst vielleicht nicht entgangen sein, dass diese nach seiner
Theorie von einer Contractur befallen sein müssten, die ihrer Stärke
nach zwischen der des Armes und der des Beines liegen müsste. Nun
aber findet man dort gar keine Contractur. Ausserdem rührt doch
der grössere Reichthum cerebraler, degenerirender Fasern der oberen
Rückenmarkspartieen nur daher, dass die für die abwärts gelegenen
Körpertheile bestimmten Fortsetzungen derselben noch nicht abgegeben
sind, also in ihrem centraleren Verlaufe mit degeneriren. Man müsste
folglich, wenn Bouchard 's Anschauung richtig wäre, durchgehends
eine gleiche Intensität der Contractur antreffen, was nicht der Fall ist.
Im ganzen Verlaufe dieser Abhandlung ist es mein Bestreben ge-
wesen, darauf hinzuweisen, wie die Hauptbedingung für das Zustande-
kommen der Contractnren in unserer von vorn herein auf gemeinschaft-
liche Bewegungen angelegten Organisation liegt. Ich glaube, dass man
hierin auch den Grund für die Verschiedenheit der Intensität zu suchen
hat, mit welcher die einzelnen Muskelgruppen befallen werden. Es ist
in hohem Grade wahrscheinlich, dass gleichwie in der Stufenleiter der
Thiere die centralen Apparate bei Zunahme der Mannigfaltigkeit in der
Muskelleistung mehr und mehr verfeinert, wie immer mehr und mehr
Zusammenfassungen der einzelnen Nerven gebildet werden, dass ebenso
für die einzelnen Gruppen der menschlichen Muskulatur, je nach den
ihnen obliegenden Leistungen eine grössere oder geringere Entwicklung
der üebertraguugsapparate stattfindet. Da nun, wie ich hinlänglich
bewiesen zu haben hoffe, in diesen die Ursachen für die Mitbewegungen
überhaupt liegen, so ist auch anzunehmen, dass in gleichem Verhältniss
wie die Wichtigkeit ihrer Rolle in dem Mechanismus der normalen Be-
wegung, auch ihre Wichtigkeit für das Eintreten abnormer Mitbewe-
gungen wächst. Unsere Rumpf- und Athemmuskeln haben kaum andere
Functionen zu erfüllen wie die analogen Muskeln mancher Thiere, —
*) A. a. 0. p. 294.
— 408 —
sie werden nie von der Contractur befallen. An die Beine werden
schon mehr Ansprüche gestellt, — an ihnen beobachtet man die Con-
tractur bereits ziemlich häufig; und das zu den complicirtesten Ver-
richtungen bestimmte Glied, die obere Extremität, wird auch am
häufigsten und stärksten von diesem Leiden heimgesucht.
Zu den von mir entwickelten Anschauungen stimmt auch der Um-
stand, dass die Intensität und Ausbreitung der Contractur gleichmässig
mit der oben beschriebenen bedingten willkürlichen Innervation zu-
nimmt. Stellt sich z. B. ein Bluterguss im Gehirn ein, so wird eine
Zahl von morphologischen Elementen zertrümmert, eine andere Zahl
wird aber nur in grösserem oder geringerem Grade mechanisch beleidigt,
so dass sie ihre Function nur vorübergehend verliert. Für diese Zeit
werden dann allerdings alle dort passireuden Impulse aufgehalten.
Mit der eintretenden Resorption stellt sich aber allmählig die Fähigkeit
zur Erzeugung oder Leitung der Impulse wieder her, und es beginnt
nun vor der Hand eine abnorme Function, die je nach der gesetzten
Zerstörung entweder der Norm weichen, oder mit der Zeit immer ab-
normer werden kann ^°).
Anmerkung.
35) Ueber das Wesen und die Entstehung der hemiplegi sehen
Contractur.
Seit dem ersten Erscheinen dieser beiden Aufsätze haben sich zahl-
reiche Autoren mit der Genese und dem Wesen der Contractur beschäftigt.
Einzelne von ihnen (ich nenne Senator, M. Sander, W. König) haben
sich meiner Auffassung im Wesentlichen oder ganz angeschlossen. Andere
haben mehr oder minder stark divergirende Ansichten geäussert und diese
durch Gründe der verschiedenartigsten Herkunft zu stützen versucht. Die
Discussion aller dieser Theorien würde mich hier sehr viel zu weit führen.
Denn so gut wie jede von ihnen geht von der Construction eines bestimmten
anatomisch-physiologischen Systems aus, in dem die Prüfung jeder einzelnen
Annahme wieder einer umfänglichen Erörterung bedürfte. Ueberdies hat
Mann*) erst vor kurzem eine solche Aufgabe unternommen. Ich will mich
deshalb nur einer Besprechung der von diesem Autor selbst entwickelten Lehre
*) L. Mann, „Ueber das Verhalten der Sehnenreflexe und der passiven
Beweglichkeit bei der Hemiplegie." Kritisches Sammelreferat. Monatsschrift
für Psychiatrie und Neurologie. Band I, Heft 5. Derselbe, „Ueber das Wesen
und die Entstehung der hemiplegischen Contractur", Ebenda, Bd. IV. In einer
späteren Arbeit (Ueber cerebellare Hemiplegie etc., Ebenda, Bd. XII) acceptirt
— 409 —
unterziehen ; aber auch hierbei muss ich mich aus dem oben angegebenen
Grande auf die Erörterung einiger grundsätzlicher Fragen beschränlcen.
Auch bei dieser Lehre handelt es sich nämlich wieder um ein ganzes
System anatomisch - physiologischer Voraussetzungen, welche keineswegs
überall bewiesen oder nur einer Deutung fähig sind. Unter diesen Umständen
begnüge ich mich damit, zu zeigen, in wie weit die Theorie Mann's mit der
meinigen parallel läuft und welche Bedenken gegen den Pvest dieser Lehre zu
erheben sind.
Nachdem Mann meine Theorie unter wörtlicher Citirung einiger Sätze
kurz referirt hat, wendet er dagegen ein, „dass die Mitbewegungen durchaus
nicht ein constantes Symptom bei hemiplegischen Contracturen sind", dass
sie dieselben für sich allein also nicht zu erklären vermögen.
Ausserdem macht er die von Munk an ilffen gemachten Erfahrungen
geltend, nach denen angeblich diejenigen Thiere, welche nach Verletzung der
motorischen Zone ruhig gehalten wurden, Contracturen bekamen, während
diejenigen Thiere, welche zu Bewegungen angehalten wurden, frei davon
blieben. Wären diese Versuche so beweisend wie sie anfechtbar sind, so
würde ich mich doch nicht mit ihnen zu beschäftigen haben, da es sich bei
denselben eben um Affen und nicht um Menschen handelt.
In ersterer Beziehung hat Mann aber übersehen, dass ich keineswegs
behauptet habe, dass Mitbewegungen — insofern die Contractur nicht selbst
eine Mitbewegung ist — in allen Fällen oder während des ganzen Verlaufs
von typischen Hemiplegien zu beobachten wären. Dies ist garnicht das
Wesentliche meiner Lehre, sondern die Annahme und der Nachweis eines
„Reizzustandes irgend einer Art innerhalb einzelner zu Mitbewegungen prä-
formirter Abschnitte derCentralorgane," (also nicht allein des Rückenmarks, wie
Mann bemerkt) „durch welchen die Vertheilung der Impulse von
dem Augenblicke an, wo dieser Abschnitt betreten wird, der
Regulirung seitens des Willens entrückt wird."
Mann nimmt nun selbst als Grundbedingung der Contractur einen Reizzu-
stand an, dessen äusserlich erkennbare Erscheinung er nach der modernen Aus-
drucksweise als „Hypertonie" bezeichnet und als Ausdruck eines „gestei-
gerten Reflexvorganges" auffasst. Den Nachweis gesteigerter Reflexerregbarkeit
— auch von Seiten der Muskulatur — hatte ich bereits in der ausgiebigsten
Weise geführt und gerade auf diesen Nachweis meine ferneren Auseinander-
setzungen gegründet. Wären zu jener Zeit die Sehnenreflexe und ihre patho-
logischen Veränderungen bereits bekannt gewesen, so würde ich nicht verab-
säumt haben, auch diese Reihe von Beobachtungen als Stütze meiner Ansicht
zu verwerlhen. Bis hierher lässt sich also die Aufl'assung Mann's wenigstens
in diesem Hauptpunkte, mit der meinigen vereinigen. Von da an diver-
giren sie.
Mann meine Auffassung der cerebralen Innervationsvorgänge in dem Maasse,
dass ich mir die Frage vorgelegt habe, ob er noch geneigt sein kann, die hier
besprochene Theorie aufrecht zu erhalten.
— 410 —
Mann sucht den eigentlichen Sitz der Hypertonie in der spinalen Vorder-
hornzelle, ich nicht allein daselbst, sondern höher hinauf. Ich hatte mich
über den Grund der Entwicklung des fraglichen Reizzustandes nicht mit Be-
stimmtheit auslassen wollen. Mann findet ihn in dem Fortfall von Hemmungen.
Er geht aber weiter, indem er die Hemmungen nur für das System der hyper-
tonischen, contracturirten Muskeln, welche ihre willkürliche Beweglichkeit
bewahrt haben, nicht aber für deren Antagonisten fortfallen lässt. Für die
letzteren statuirt er umgekehrt das Fortbestehen der normalen Hemmungen,
andererseits das Fehlen der willkürlichen Beweglichkeit. In einer längeren
Beweisführung zieht er sodann den Schluss, dass die Hemmungsnerven des
contracturirten Theiles der Musculatur intracerebral gemeinschaftlich mit den
erregenden Fasern ihrer Antagonisten verliefen und umgekehrt.
Die unentbehrliche Voraussetzung dieser Theorie besteht nun offensicht-
lich in der Existenz von gesonderten Hemmungsnerven innerhalb der cortico-
musculären Bahn. Ich will hier die Frage, ob solche Nerven in anderen
Systemen existiren, gänzlich unberührt lassen, dagegen muss ich betonen,
dass weder Mann den Beweis für die Existenz solcher Nerven innerhalb
jener Bahn geführt hat, noch dass er von anderer Seite je geführt worden ist.
Mann stützt sich auf die "Versuche von Bubnoff und Heidenhain, sowie
von E. Hering, durch welche bewiesen wird,, dass man durch Reizung der
Rinde Hemmungswirkungen in der abhängigen Musculatur hervorbringen kann.
Dass die motorische Rinde unter anderem ein Regulirungsorgan sei und dem-
nach auch hemmende Eigenschaften besitzen müsse, habe ich selbst genugsam
hervorgehoben, indessen ist dadurch die Existenz von besonderen Pasern ,
durch die diese hemmenden Einflüsse in die Peripherie projicirt werden, keines-
wegs bedingt. Vielmehr ist es an und für sich nicht nur möglich, sondern
sogar viel wahrscheinlicher, dass sich die gesammte Regulirung durch Ver-
mittelung eines und desselben gleichartigen Fasersystems vollzieht, eine An-
sicht, die erst neuerdings wieder von v. Leyden und Goldscheider aus-
gesprochen und von Mann zwar citirt, aber nicht widerlegt worden ist.*)
Fehlt es somit an dem Nachweis der unbedingt erforderlichen Voraus-
setzung für jene Theorie, so erscheint sie auch aus anderen Gründen zum min-
desten sehr anfechtbar. Die immense Mehrzahl der Fälle von Hemiplegie zeigt
bekanntlich ein sehr typisches Bild. Wenn auch die Intensität der Lähmung
und der Contractur in den einzelnen Fällen differirt, so kehrt doch in jedem
dieser Fälle in der oberen Extremität die pronatorische Beugecontractur und
in der unteren Extremität die Streckcontractur wieder. Diesem constanten
*) In seiner Fragestellung sagt Mann: „dass die physiologische Anord-
nung der Fasern vielleicht gerade die sein könnte, dass die erregenden Fasern
für jede einzelne Muskelgruppe mit den hemmenden Fasern ihrer Antagonisten
zusammen verlaufen, resp. mit ihnen identisch sind.'' Wie das Letztere, näm-
lich die Identität, gemeint ist, kann ich mir nicht vorstellen. Uebrigens kommt
M. im weiteren Verlauf seiner Arbeit auf diese Alternative auch gar nicht
wieder zurück.
— 411 —
Typus entsprechen nun keineswegs constante cerebrale Läsionen, sondern diese
unterscheiden sich ungeachtet der bekannten Prädilectionsstellen nicht nur mit
Bezug auf ihre Ausdehnung, sondern auch mit Bezug auf ihre Localisation in
der erheblichsten Weise von einander. Es ist also nicht zu verstehen, wie
unter solchen Umständen regelmässig die Bahn der erregenden Fasern für die
eine Gruppe von Muskeln an der oberen und der unteren Extremität, welche
gleichzeitig die Bahn für die hemmenden Fasern ihrer Antagonisten ist, unter
relativer Schonung der antagonistischen Bahnen betroffen sein kann, während
eine Umkehr des fraglichen Typus niemals in die Erscheinung tritt.
Hiernach ist es also viel wahrscheinlicher, dass die von mir geschilderte
Störung in der Vertheilung der motorischen Impulse ihren Grund in einer
pathologischen Veränderung innerhalb von Organen, die zu Gemeinschafts-
bewegungen angelegt sind, als in Zerstörung von ganz bestimmten motorischen
Fascikeln hat.
Dazu kommt noch, dass Mann eine Anzahl von mir namhaft gemachten
Erscheinungen, die in den Rahmen seiner Theorie nicht hinein passen, unbe-
rücksichtigt gelassen hat. Ich weiss nicht, ob er sie sämmtlich als Ausnahmen
betrachtet hat, aber selbst wenn dies der Fall wäre, so hätte er sich seiner
eigenen Bemerkung: „dass das Studium der Ausnahmen oft die wichtigsten
Hinweise für die Erklärung des regulären Verhaltens giebt", erinnern sollen.
Hierher gehört die Beobachtung, dass die Extensoren der oberen Extremität in
einer Anzahl von Fällen zeitweise nach längerer Ruhe noch relativ gut inner-
virt werden können, dass also die Hemmungsfasern für ihre Antagonisten
gleichfalls relativ intact sein müssten, während gleichwohl die Contractur bei
Aufwendung grösserer Willensimpulse und später dauernd vorhanden ist.
Ebenso wenig sind die irradirten Extensionsbewegungen, welche bei reflecto-
risch angeregten Bewegungen — Niesen, Gähnen — zu Stande kommen,
und die analogen bei Aft'ecten auftretenden Bewegungen mit jener Theorie zu
vereinbaren. All diese Beobachtungen beweisen jedenfalls, dass noch cere-
brale Einflüsse recht verschiedener Art, die ihren Weg aber immer durch die
spinale Ganglienzelle nehmen müssen, zu der scheinbar gänzlich gelähmten
Musculatur gelangen können.
Gänzlich unberücksichtigt ist der Inhalt des zweiten hier folgenden
Aufsatzes sowohl bei Mann als bei den andern von ihm referirten Autoren ge-
blieben. Hier hatte ich nachgewiesen, dass eine bestimmte periphere Lähmung,
die Facialislähmung, einen ähnlichen Reizzustand des Reflexorgans herbei-
führen kann, wie er nach centralen Läsionen eintritt, das heisst, es kommt
dabei zu krankhaften Mitbewegungen und zu sehr erheblichen Steigerungen
der Reflexerregbarkeit. Hier kann doch nun von einer Leitungsunterbrechung
centraler Hemmungsfasern gar keine Rede sein, und doch finden wir im Princip
die gleichen pathologischen Erscheinungen. Ich habe damals die Frage auf-
geworfen, ob die zu beobachtende Steigerung der Reizbarkeit nicht auf den
centripetal fortgeleiteten Einlluss der Leitungsunterbrechung zurückzuführen
sei. Man kann sich aber auch vorstellen, dass sie ihren Ursprung der con-
stanten Abgabe verstärkter Willensimpulse verdanke, mit denen das Central-
— 412 —
Organ unwillkürlich den abnormen Widerstand innerhalb der peripheren Lei-
tung zu überwinden suche.
In genau der gleichen Weise Hesse sich freilich der Reizzustand der
Reflexorgane bei der Hemiplegie nicht erklären; denn hier fehlt eben die directe
Willensbahn, die Pyramidenbahn, ganz oder grösstentheils, während sie dort
erhalten ist. Dagegen hat v. Monakow neuerdings eine durch Mann mit
Unrecht bekämpfte analoge Theorie aufgestellt, nach der sich ,,der ganze cen-
trifugal gerichtete Erregungsstrom auf die niederen Bewegungscentren (Haube,
Brücke, verlängertes Mark) ergiessen und sie nebst dem Vorderhorn der gegen-
über liegenden Seite in übermässiger Weise belasten" soll. Die weitere Ent-
stehung der Contractur erklärt dann v. Monakow in ähnlicher Weise, wie ich
mit der Annahme that, dass „die zweckmässige Vertheilung der Impulse von
dem Augenblicke an, in dem die herabgelangenden Impulse den sich im Reiz-
zustand befindlichen Abschnitt betreten, der Regulirung seitens des Willens
entrückt wird". Mit vollem Recht hat v. Monakow diesen Ausfall der Regu-
lirang ausserdem auf den Ausfall der Pyramidenbahn bezogen, denn die Pro-
jection der Bewegungsvorstellungen in die Peripherie, wie sie in geordneten Be-
wegungen in die Erscheinung tritt, ist beim Menschen nur durch Vermittlung
dieser Bahn denkbar, während Bewegungsimpulse auch nach ihrer Zerstörang
noch in die Peripherie gelangen.
Allerdings weichen hier wieder die Ansichten Mann's von den unsrigen
sehr weit ab. Er nimmt auf Grund einer zwar scharfsinnigen, aber doch nicht
überzeugenden Deduction an, dass die Pyramidenbahn oder doch der zu der
hypertonischen Muskulatur gehörige Antheil derselben intact sei und dies ist
eben schon aus den früher angeführten Gründen im höchsten Grade unwahr-
scheinlich. Ich gestehe gern zu, dass man über die Gründe, wegen deren ge-
rade bestimmte Muskelgruppen von der Contractur befallen werden, im ein-
zelnen verschiedener Ansicht sein kann; imPrincip beharre ich aber bei meiner
früheren Ansicht und glaube auch nicht, dass eine andere Ansicht aufrecht zu
erhalten ist: ich glaube also, dass die hemiplegische Contractur
zu erklären ist durch den Ausfall der Pyramidenbahn durch die
Herausbildung eines Reizzustandes in solchen Zusammenfassun-
gen grauer Substanz , welche zu Gemeinschaftsbewegungen prä-
formirt sind und durch die uncoordinirte Ei n Wirkung von Wil-
lensimpulsen, welche auf anderen Bahnen (Haubenbahn) zu diesen
Organen gelangen.
XXI. lieber die Auffassung einiger Anomalieen der Muskel-
iunervatiou.
IL
In der vorstehenden Abhandlung habe ich nachgewiesen, dass sich
in Folge von Lähmungen, welche centrale Abschnitte des motori-
schen Apparates betreffen, regelmässig Irritationszustände des Central-
organes herausbilden, die unter der Form abnormer, aber sehr typischer
Mitbewegungen — Contracturen — in die Erscheinung treten. Ich
werde nunmehr zu zeigen suchen, dass auch periphere Lähmungen
zwar der Form nach verschiedene aber im Princip ganz ähnliche und
wohl charakterisirte Anomalieen der Muskelinnervation herbeizuführen
pflegen. Es handelt sich um die nach completen, peripheren Facialis-
lähmungen im Stadium der Wiederherstellung der motorischen Leitung
regelmässig eintretenden abnormen Mitbewegungen, sowie um einige
andere gleichzeitig erscheinende und weniger bekannte Reizerschei-
nuugen. —
Das Vorhandensein abnormer Mitbewegungen im Gebiete des früher
gelähmten Facialis ist freilich längst bekannt, und man findet es bei
den meisten genau beobachtenden Autoren erwähnt: jedoch hat man
diesem Symptome irgend welche Aufmerksamkeit bisher nicht geschenkt;
wie denn auch die neuesten Autoren, welche diese interessanteste Läh-
mungsform im übrigen mit so grosser Sorgfalt beobachteten, davon
wenig Notiz genommen haben. Ich halte mich deswegen einer Aus-
führung der Literatur wohl mit Recht für überhoben.
Diese abnormen Mitbewegungen könnten an verschiedenen Stationen
der motorischen Bahn ausgelöst werden. Der erste Gedanke wird sich
natürlich dem verletzten Nerven oder der direct von ihm abhängigen
Muskulatur zuwenden; indessen wäre es doch möglich, dass auch mehr
central gelegene Organe die Veranlassung für diese bisher unerklärte
Reizerscheinung in sich trügen.
^ 414 —
Ich will nun zunächst die bezüglichen Notizen aus einigen Kran-
kengeschichten geben; denke aber im Einverständniss mit dem Leser
zu handeln, wenn ich nicht die ganzen, grösstentheils mehrere Bogen
umfassenden Journale abdrucke, sondern mich nur auf das unmittelbar
auf den fraglichen Punkt Bezügliche beschränke.
1. Beobachtung. Student von 22 Jahren. Complete rechtsseitige, peri-
phere Facialislähmung seit den letzten Tagen des December 1866. Gewöhn-
licher Verlauf der Erregbarkeitsveränderungen.
Am 26. IL 1867 (Anfang des 3. Monats) erste Spuren der Motilität.
21. IIl. (Ende des 3. Monats) erste Spuren von Mitbewegung das rechte Ohr
betreffend. Die Mitbewegungen breiten sich dann allmählich aus, und werden
bis zum 2. V. 1868, bis l'^j^ Jahre nach der Läsion verfolgt. Beim Runzeln
der Stirn ziehen sich die Heber der Oberlippe, bei Schluss des Auges die
Zygomatici, und bei Zusammenpressen der Lippen der Orbicularis palpebrarum
mit grosser Intensität zusammen. Die Reizerscheinung beschränkt sich auf
die rechte (kranke) Seite. Es besteht schliesslich eine massige Contractur der
gelähmten Muskeln, welche nach dem nächtlichen Schlafe deutlicher aus-
gesprochen ist.
2. Beobachtung. Mädchen von 33 Jahren. Complete periphere Fa-
cialislähmung seit dem 21. XII. 1868. Gewöhnlicher Verlauf der Erregbar-
keitsveränderungen.
18. III. 69. (10. Woche). Die ersten Spuren von Motilität in den Mus-
keln um den Mund.
24. IV. (5. Monat). Beginnende Motilität im Frontalis, gleichzeitig leichte
Mitbewegung in den Zygomaticis.
Allmähliche Zunahme der Motilität und der Mitbewegungen.
29. VI. (7. Monat). Mitbewegungen in den Muskeln der unteren Gesichts-
hälfte bei Innervation der Muskeln der oberen Gesichtshälfte sehr stark. Die
Reflexerregbarkeit der ersteren sehr erhöht, so dass z. B. Annäherung des
Fingers an das Auge Bewegungen in den Muskeln um den Mund hervorruft.
3. Beobachtung. Frau von 26 Jahren. Linksseitige, complete, peri-
phere Facialis-Paralyse seit dem 11. VIII. 67. Gewöhnlicher Verlauf der Er-
regbarkeitsveränderungen.
16. X. (9. Woche). Spuren von Motilität im Frontalis.
18. X. Die ersten Spuren von Mitbewegungen in den Muskeln um den
Mund bei Innervation des Orbicularis palpebrarum und des Frontalis, während
die willkürliche Beweglichkeit in den erstgenannten Muskeln noch fehlt, aber
in den nächsten Tagen eintritt.
4. Beobachtung. Knabe von 11 Jahren. Complete, linksseitige, peri-
phere, traumatische Facialis-Paralyse seit Mitte Juli 1867. Gewöhnlicher Ver-
lauf der Erregbarkeitsveränderungen.
5. X. Erste Spuren der Motilität im Frontalis.
15. X. (13. Woche). Erste Mitbewegungen bei kräftiger Innervation des
— 415 —
Orbicularis palpebrarum in den Hebern der linken Oberlippe, welche willkür-
lich erst einige Tage später zum ersten Mal wieder innervirt werden.
29. X. Deutliche Zunahme der Motilität. Bei Innervation des Frontalis
schwache, bei Innervation des Orbicularis palpebrarum starke Mitbewegungen
in den Muskeln um den Mund ; bei Innervation der Letzteren starke Mitbewe-
gungen im Orbicularis palpebrarum.
5. Beobachtung. Oeconom von 22 Jahre. Complete rechtsseitige peri-
phere Facialislähmung seit Anfang August 1869. Spuren von Motilität im
Frontalis und Spuren von Mitbewegungen bereits bei der Aufnahme am 1. X.
1869. Die Motilität stellt sich ziemlich schnell und vollständig wieder ein,
während die Mitbewegungen nicht sehr intensiv werden und zum Theil durch
den Willen unterdrückt werden können. Nur bei sehr kräftiger Innervation des
Orbicularis palpebrarum und des Frontalis sind Mitbewegungen in den Mus-
keln um den Mund nicht ganz zu vermeiden.
Weniger bekannt, ja sogar kaum erwähnt, finde ich das Vorhan-
densein abnormer Reflexerregbarkeit in dem gleichen Stadium dieser
Krankheit. Indessen ist es aufmerksameren Beobachtern doch nicht
gänzlich entgangen. So erwähnt Erb'-') gelegentlich des ersten von
ihm angeführten Falles dieser Krankheit, dass 13 Monate nach der
Läsion sich ein kurzes blitzähnliches Zucken in den Muskeln, sowohl
spontan, als auch in Folge von Hautreizungen gezeigt habe. Inzwischen
habe ich eine mehr oder weniger beträchtliche Erhöhung der Reflex-
erregbarkeit in allen jenen Fällen, wo ich darauf achtete, beobachtet.
So finde ich bereits in dem Journale einer 46jährigen Frau, die
ich im Jahre 1866 behandelte, dass 13 Monate nach dem Insulte auf
die Reizung mit einer Kette von 26 Daniell zwar im Momente des
Kettenschlusses selbst keine Zuckungen in der direct gereizten Musku-
latur eintraten, dass dieselben aber unmittelbar nachher begannen und
dann eine Weile anhielten. Auch bei der Beobachtung 2. habe ich
bereits der Reflexe erwähnt. An anderen Kranken habe ich dieselben
ausführlicher studirt.
6. Beobachtung. Frau von 27 Jahren. Complete, linksseitige, peri-
phere Facialis-Paralyse seit Ende November 1868. Gewöhnlicher Verlauf der
Erregbarkeits Veränderungen.
5. XII. (12. — 13. Tag). Ehe noch Spuren von wiederkehrender Motilität
vorhanden sind, bei Percussion der linken unteren Gesichtshälfte schwache
klonische Zuckungen, aber diese regelmässig im Levator labii superioris der
anderen (gesunden) Seite.
8. XII. Auf demselben Reiz Reflexzuckungen auch in den Zygomaticis.
10. XII. Dieselben Pveflexzuckunffen sind auch von anderen Punkten
*) Deutsches Archiv für klinische Medicin. Bd. IV, Heft 5 u. 6. S. 546.
— 416 —
(Arcus zygomaticus) aus hervorzurufen. Leider blieb die Kranke nach dem
21. XII., ehe noch die Motilität wiedergekehrt war, aus der Behandlung.
7. Beobachtung. Knabe von 15. Jahren. 6. VII. 70. Complete peri-
phere, linksseitige Facialis-Paralyse seit 2 Jahren. Motilität: Nur eine Spur
von Function im Orbicularis palpebrarum ; gleichzeitig aber auch eine Spur
von Mitbewegung in den Lachmuskeln. Faradische Erregbarkeit im unteren
Aste annähernd normal, fehlt ganz im oberen Aste. Mechanische Erregbarkeit
überall normal. Galvanische Erregbarkeit fehlt extra- und intramuskulär im
Frontalis, Corrugator supercilii und Orbicularis palpebrarum gänzlich; in den
Muskeln der unteren Aeste ist sie wesentlich geringer als rechts. Gleich nach
der Sitzung beträchtliche Motilität der ganzen unteren Gesichtshälfte.
7. VII. Erhöhte Keflexerregbarkeit auf optische, mechanische und galva-
nische Reize vom Opticus und vom Trigeminus auf die Kinnmuskeln.
14. VIl. Starke Mitbewegungen in den Lachmuskeln bei Innervation des
Orbicularis palpebrarum und in letzterem Muskel bei Innervation des Orbicu-
laris oris.
8. Beobachtung. Maurer von 26 Jahren. Complete, periphere, rechts-
seitige Facialislähmung seit dem 25. XI. 68. Gewöhnlicher Verlauf der Er-
regbarkeitsveränderungen.
31. XII. (Ende der 5. Woche). Bei Percussion des rechten Arcus zygo-
maticus Zuckungen im linken Orbicularis palpebrarum.
23. I. Spuren von Motilität im Frontalis.
27. II. Plötzliche Rückkehr eines Theiles der Motilität der unteren Ge-
sichtshälfte.
8. III. (4. Monat). Spuren von Mitbewegung bei Innervation des Fron-
talis in den Hebern der Oberlippe, die durch den Willen noch unterdrückt
werden können.
16. III. Bei Innervation des Frontalis Mitbewegung der Muskeln um den
Mund, die noch schwach sind, aber nicht mehr unterdrückt werden können.
23. III. Aehnliche Mitbewegungen bei Innervation des Orbicularis pal-
pebrarum. Bei Reizung der Stirnhaut Reflexbewegungen in den Muskeln um
den Mund.
18. IV. Starke Mitbewegungen, enorm grosse Reflexerregbarkeit, vom
Trigeminus und vom Opticus aus.
9. Beobachtung. Knabe von 10 Jahren. Linksseitige periphere Fa-
cialis-Paralyse durch Fractur der Schädelbasis seit 7 Monaten.
2. X. Parese im ganzen Facialisgebiet; Fehlen der faradischen und
mechanischen, Herabsetzung der galvanischen Erregbarkeit. Bei Innervations-
versuchen der Muskeln des oberen Astes Mitbewegungen in denen der unteren
Aeste. Reflexerregbarkeit stark erhöht, sowohl vom Opticus, als auch vom
Trigeminus aus. Die Reize strahlen hauptsächlich in dem unteren Ast und
Orbicularis ein.
10. Beobachtung. Uhrmacher von 25 Jahren. Periphere, linksseitige
Facialis-Parese seit 6 Jahren.
— 417 —
25. 11. G'J. Paralyse des Frontalis, Parese fies Orbicularis |ial|ielirarum.
Faradisclie Erregbarkeit annähernd normal, nur bleibt die Zuci<ungsgrösse
im Frontalis, auch bei starken Strömen, nur gering. Gleich nach der Sitzung
ist die Motilität im Frontalis grossentheils wieder da. Bei Innervation des
Frontalis und Orbicularis palpebrarum starke Mitbewegungen in den Zygoma-
ticis und den Hebern der Oberlippe. Bei elektrischer Reizung der Haut zucken
dieselben Muskeln; nachher dauert dieser Krampf noch eine Weile an.
I. III. Die Reflexerregbarkeit ist jetzt .90 gross, dass der halbseitige Ge-
sichtsmuskelkrampf schon bei blosser Annäherung des Percussions-Hammers
an die Haut beginnt.
II. Beobachtung. Kaufmann von 22 Jahren. Hat bereits vor 5 Jahren
an rechtsseitiger Gesichtslähmung gelitten: vor 2 Jahren trat eine Lähmung
auf derselben Seite ein, in Folge deren er noch jetzt über Motilitätsstörun-
gen klagt.
25. III. 72. Leichte rechtsseitige Contractur; Uvula etwas nach links,
Motilität in allen Muskeln, jedoch unvollständig, wieder vorhanden. Leichte
fibrilläre Zuckungen in den Kinnmuskeln. Paradische Erregbarkeit, was das
Zuckungsminimum angeht, rechts nur wenig geringer; was das Zuckungs-
maximum angeht, beträchtlich herabgesetzt. Galvanische und mechauische
Erregbarkeit gering. Sehr intensive Mitbewegungen in der gewöhnlichen
Weise, doch treten auch beim Zusammenpressen der Lippen und bei Inner-
vation der Lachmuskeln leichte Mitbewegungen im Frontalis und bei Inner-
vation des letzteren auch eine geringe Hebung des unteren Lids ein. Optische
Reize wirken wie oben angeführt. Leichte oder stärkere Hautreize, sowie Be-
rührungen der Wimpern führt zu zitternden Contractionen in den Muskeln der
unteren Gesichtshälfte, die sich namentlich auf faradische Hautreize zu einem
nicht unbedeutenden Krampf steigern, der sich auch auf den Frontalis und
den gleicknamigen Muskel der anderen Seite ausdehnt.
üeberblicken wir nun zuerst dasjenige, w'as wir rücksichtlich der
Mitbewegungen bei tliesen Lähmungen gefunden haben. Nach
unseren bisherigen Beobachtungen scheint es so, als ob in der Regel
die ersten Mitbewegungen etwa gleichzeitig mit der Motili-
tät in den Muskeln der unteren Gesichtshälfte eintreten. Ja, in
einigen Fällen (vgl. Beobachtung 3 und 4) traten sogar die ersten
Spuren von Mitbewegungen um einige Tage früher als die willkürliche
Bewegung ein. Freilich war es nicht in allen Fällen möglich, ihren
ersten Anfang zu beobachten, einmal weil die Aufmerksamkeit nicht in
allen Fällen genügend darauf gelenkt war, dann aber weil andere
schon mit dieser Bewegungsanomalie in die Behandlung traten. Endlich
mag sie, je nach den grade obwaltenden besonderen Bedingungen,
das eine Mal längere, das andere Mal kürzere Zeit zur Entwickelung
nöthig haben.
Von dem Ort und der Art der Läsion der Nerven scheinen
Hitzig, Gesammelte Abhandl. I. Theil. 27
- 418 —
die MitbeweguDgen gänzlich unabhängig zu sein. Denn ich beobachtete
sie nicht nur nach der gewöhnlichen Form rheumatischer Lähmung,
sondern auch bei Fällen traumatischer Lähmung in Folge von Fractur
der Basis cranii, auch bei einem Falle, dem wahrscheinlich Syphilis zu
Grunde lag. Uebrigens wäre es, wie man später sehen wird, von Inter-
esse, zu entscheiden, ob auch solche Läsionen, die den extracraniellen
Verlauf des Nerven treffen, zu gleichen Störungen führen.
Die Art, in der diese Mitbewegungen auftreten, und ihre all-
mählige Ausbreitung ist in allen Fällen gleich und höchst characte-
ristisch. Zuerst bemerkt rnan bei Innervationsversuchen der oberen
Gesichtshälfte eine leichte Verziehung des Mundes. Später wird dieselbe
deutlicher, und endlich tritt auch beim Zusammenpressen der Lippen
ein nicht beabsichtigter Schluss des kranken Auges ein. Manchmal
kommt es auch (s. Beobacht. 11) bei Innervation der unteren Gesichts-
hälfte zu einer Contraction im Frontalis. Der durch diese Bewegungen
erzielte mimische Effect ist bei grösserer Intensität des Phänomens
nicht mehr von der Action des einen oder des anderen Muskels allein
abhängig sondern entsteht durch das Zusammenwirken mehrerer
Muskeln, und giebt dem Gesicht einen höchst fratzenhaften Ausdruck;
letzteres um so mehr, als die andere Gesichtshälfte dabei in Ruhe
bleiben kann.
Dieser mimische Ausdruck lässt sich mit denjenigen, welche durch
die Affecte erzielt werden, nur schwer vergleichen. Ich will deswegen
lieber versuchen, die bei jeder Muskelinnervation abnormer Weise mit
innervirten Muskeln zu benennen. Es ist selbstverständlich, dass durch
mehr oder weniger vollständige Wiederherstellung der Leitung in den
einzelnen Aesten des Nerven die grössere oder geringere Betheiligung
des einen oder anderen Muskels beeinflusst werden kan,n.
Bei Innervation des Frontalis sowohl, als bei Innervation des
Corrugator supercilii contrahiren sich Levator alae nasi labiique sup,
Zygomatici und Orbicularis oris. Bei Innervation des Corrugator super-
cilii tritt dann noch der Triangularis menti mit hinzu. Der Gesammt-
effect dieser abnormen Innervation ist aber eine Verziehung der ganzen
Gesichtshälfte nach oben, während bei willkürlicher Innervation des
Orbicularis palpebrarum dieselben Muskeln, aber nun so mitbewegt
werden, dass das Gesicht in die Quere verzogen, der Mundwinkel der
kranken Seite also dem Ohre genähert wird. Willkürliche Innervation
der Lacbmuskeln bringt keine Mitbewegungen hervor, während Zu-
sammenpressen des Mundes wieder eine sehr deutliche Mitbewegung im
Orbicularis palpebrarum erzeugt, wodurch dann das Gesicht einen etwas
schalkhaften Ausdruck erhält. Auch zwischen der bei Innervation des
— 419 —
Frontalis und bei der des Cornigator supercilii eintretenden Verzerrung
lässt sich ein deutlicher Unterschied wahrnehmen. Bei der ersteren
haben die Zygomatici immer noch etwas das Uebergewicht, während
bei der Letzteren die Heber der Oberlippe entschieden vorwiegen. —
Die nächste Frage wäre nun, von welchem Organ denn diese
Bewegungsanoraalie ausgelöst wird. Man könnte vielleicht an
das Ganglion geniculi denken, insofern dieses bei einer Anzahl von
Lähmungen wahrscheinlich beleidigt wird, und insofern als es ja möglich
wäre, dass in einem solchen Ganglion ähnliche Verknüpfungen der
Muskelbewegung stattfinden, als in anderen Centralorganen. Lidessen
haben wir doch gar keine Anhaltspunkte für die letztere Annahme,
ausserdem sollte man meinen, dass bei einer Zerstörung eines Organs
von solcher Function diese Function nicht stärker werden, sondern im
Gegentheil ausfallen müsste. Man würde dann eher zu erwarten haben,
dass bei der willkürlichen Linervation die im Normalen vorhandene
mimische Mitbewegung entweder ganz ausfiele oder schwerer zu Stande
käme. Endlich ist es kaum anzunehmen, dass in allen meinen Beob-
achtungen, die Läsionen von so verschiedener Natur betreffen, die
Leitungsunterbrechung immer in den Bereich jenes Ganglion gefallen sei.
Man könnte auch den übrigen Theil des m,otorischen Nerven ver-
antwortlich machen wollen: man müsste dann aber mindestens voraus-
setzen, dass derselbe eine grössere Leistungsfähigkeit als ein normaler
Nerv besässe, was nach den zahlreichen vorhandenen Untersuchungen,
denen ich ebenso zahlreiche eigene anreihen könnte, wenig wahr-
scheinlich ist.
Man könnte drittens den Grund im Muskel suchen. Letzter zeigt
allerdings auch in späteren Perioden gebesserter F'acialis - Lähmungen
gewisse abnorme und wenig bekannte Zustände, die mögUcher Weise
ihren Grund in gesteigerter Erregbarkeit der Muskelsubstanz selbst
haben. Man bemerkt nämlich in den Muskeln fibrilläre und partielle
Contractionen, welche auf das lebhafteste an das gleiche bei pro-
gressiver Muskelatrophie vorhandene Phänomen erinnern. Gleichzeitig
aber ist die Erregbarkeit gegen mechanische und elektrische Reize auf
das entschiedenste herabgesetzt, während jenes Muskelzittern nach jeder
Reizung der sensiblen Nerven — sei es durch Anblasen der Haut, sei
es durch mechanische, sei es durch elektrische Reize — auf das deut-
lichste verstärkt oder erst hervorgerufen wird. Unter diesen Umständen
ist es noch sehr zweifelhaft, um nicht zu sagen, unwahrscheinlich, dass
in der That der Muskel selbst sich im Zustande gesteigerter Erreg-
barkeit befinde.
Wie dem nun auch sein mag, und ob mau nun den Nerven oder
27*
— 420 -^
den Muskel zur Erklärung heranziehen will, in jedem Falle wäre er-
forderlich, dass, wenn auf einen Willensirapuls eine Coutraction ein-
treten soll, dieser Willensimpuls in die betreffende Leitungsbahn gelangt.
Auch bei der allergrössesten Steigerung seiner Reizbarkeit wird der
Muskel in Ruhe bleiben, wenn diese Bedingung nicht zutrifft. Da nun
die abnormen Mitbewegungen vom Centrum her nicht beabsichtigt
werden, ja sogar ihre Entstehung durch den Willen so gut wie immer
fruchtlos unterdrückt zu werden versucht wird, so muss zwischen
dem motorischen Centrum und dem peripheren Nerven
irgend wo ein Mechanismus in Unordnung gerathen sein,
durch den nun die centralen Impulse in nicht gewollte
Bahnen geschleudert werden.
Es findet mit anderen Worten ein ähnliches Verhalten
statt, wie bei den hemiplegischen Contracturen; auch dort
gelangen, wie ich oben gezeigt habe, die Impulse in niclit
beabsichtigte Bahnen hinein. Indessen könnte man einwenden,
dass jede W^illensinnervation des einen Gesichtsmuskels eine, wenn auch
nur schwache Mitinnervation der anderen Gesichtsmuskeln voraussetze,
ähnlich wie ich dies bezüglich anderer Muskelgruppen a. a. 0. aus-
geführt habe. Bei den gewöhnlichen Bewegungen des Gesichtes sind
die Grenzen der Mitinnervation, wenn es überhaupt dazu kommt,
freilich ganz anders gezogen. Doch könnte man in einer mehr oder
weniger künstlichen Beweisführung dafür plädiren, dass der Nutzeffect
der Muskelinnervation für gewöhnlich latent bliebe. Dann würden also
in der That Impulse in die peripheren Bahnen gelangen, und es würde
der Annahme eines Reizzustandes in centralen Organen nicht bedürfen.
Gegen eine solche Auffassung ist der Nachweis abnormer Reflex-
vorgänge allerdings von entscheidender Wichtigkeit. Beschäftigen wir
uns nunmehr mit diesen.
Es war die Rede von Reflexcontractionen, welche einmal bei Reizen,
die auf den Opticus wirkten und dann bei solchen, die den Trigeminus
angingen, zu Stande kamen.
Die durch optische Reize ausgelösten Zusammenziehungen
können, obwohl wir sie unter dem Namen der Reflexcontractionen an-
führten, wie sich bei genauerer Prüfung herausstellt, als solche nicht
ohne weiteres aufgefasst werden. Diese Contractionen werden nämlich
von vielen Kranken vollkommen verhindert, und zwar immer dann,
wenn das Blinzeln mit den Lidern bei Annäherung eines fremden
Körpers unterdrückt werden kann. Bei denselben Kranken treten aber
sofort höchst intensive allgemeine Mitbewegungen auf, sobald man die
Wimpern — sei es bei offenen oder bei geschlossenen Augen — be-
— 421 —
sonders des unteren Lides leise beriilirt. Unter diesen Umständen
müssen die anfänglich als optische Reflexe imponirenden Oontractionen
als eine besondere Art von Mitbewoguiig aufgefasst werden. Auf den
optischen Reiz tritt die normale Reflexbewegung des Lidschlusses ein,
mit ihr al)er zufolge der vorausgesetzten Unordnung in jenem centralen
Apparate eine höchst unzweckmässige Bewegung in dem ganzen krank-
haft afficirten motorischen Gebiete.
Da diese Thatsachen mir für die Bedeutung der vorliegenden Be-
obachtungen von grossem Interesse schienen, so habe ich die eben be-
schriebenen Versuche seit langer Zeit an meinen Kranken unzählige
Male wiederholt und habe dabei, den gleichen Zustand der Leistungs-
fähigkeit in den motorischen Nerven vorausgesetzt, immer das gleiche
Resultat gefunden. Kommt es jedoch in Folge Leitnngsunfähigkeit des
Orbicularis palpebrarum auf Berührung der Wimpern noch nicht zum
reflectorischen Lidschlusse, so beobachtet man eine andere Reflexbewegung,
dann zuckt nämlich der ganze Kopf zurück, — während bei Reizung
der anderen Seite nur die normale Reflexbewegung, der Lidschluss, ein-
tritt. Man braucht diese ungewöhnliche Reflexbewegung freilich nicht
als Beweis einer abnormen Reizbarkeit aufzufassen, sondern man kann
sie als ein Analogen jenes beim decapitirten Frosche bekannten Vor-
ganges betrachten, insofern als der Frosch zur Abwehr von Reizen
eine ganze Reihe von Motoren nach einander in Bewegung zu setzen
vermag.
Das Interesse dieser Thatsache liegt darin, dass hier die Mit-
bewegung nicht in Folge von Willensimpulsen, sondern als E'olge von
äusseren Reizen auftritt. Die centrale Bahn für den Willensimpuls
kommt also in Wegfall und wir vermögen dadurch den Heerd der
Reizung genauer zu localisiren. Bei der Schwierigkeit, der die Analyse
aller centralen Vorgänge unterliegt, scheint eine jede solche Thatsache
mir von nicht geringer Wichtigkeit zu sein. —
Wenn nun die durch den Opticus vermittelten Bewegungen mehr
den Character der Mitbewegung tragen, so lassen sich die bei Rei-
zung des Trigeminus auftretenden Contractionen um so sicherer als
reine Reflexe erklären.
Ich habe der Reihe nach bei diesen Kranken alle möglichen Reize
versucht, und es giebt keinen einzigen Reiz, von dem einfachen Streichen
der Haut mit dem Finger an bis zur elektrischen Reizung, durch den
ich nicht die vielgenannten Muskelgruppen hätte in Bewegung setzen
können. Natürlich ist je nach dem Grade der vorhandenen Erregbarkeit
in dem einen Falle ein stärkerer, in dem anderen Falle ein geringerer
Reiz erforderlich. In einzelnen Fällen wurden die Reflexe sogar auf
— 422 —
die andere Seite übertragen (Beobacht. 6 und 8. s. a. Beobacht. 12 und
13). Diese Uebertragungen auf die andere Seite wurden bereits in einer
ganz frühen Periode der Lähmung beobachtet, so dass auch dies dafür
spricht, dass jener Reizzustand durch den die Mitbewegungen und die
abnormen Reflexbewegungen hervorgebracht werden, bereits lange be-
stehen kann, ehe die ursprünglich verlegte motorische Leitungsbahn
wieder geöffnet ist.
Fassen wir alle diese Thatsachen zusammen: das Vorhandensein
von Mitbewegungen im Stamme desselben Nerven, deren Auftreten auch
bei peripherer Reizung vom Opticus aus, das Vorhandensein von ab-
normen Reflexbewegungen, die leichte Uebertragbarkeit auf die andere
Seite; so ergiebt sich schon hieraus mit der grüssten Wahrscheinlichkeit,
dass der Sitz der abnormen Reizung in dem eigentlichen
Reflexorgane des Facialis sein muss, d. h. in der Medulla
oblongata.
Ehe wir nun in unserer Betrachtung weiter gehen, seien hier noch
zwei Krankheitsfälle, wenn auch in möglichster Kürze doch etwas aus-
führlicher angeführt, insofern als sie nicht nur durch ihre Seltenheit
ein allgemeineres Literesse beanspruchen können, sondern auch zur
lUustrirung der uns beschäftigenden Anomalien besonders geeignet sind.
12. Beobachtung. Mädchen von 19 Jahren. Erkrankte vor 3 Jahren
an completer, linksseitiger Facialis-Lähmung, welche bis auf fehlende Motilität
im Frontalis und Contractur des Orbicularis palpebrarum geheilt war, als sie
am 6. in. 1869 von neuem mit Ohrenschmerzen und Lähmung desselben Ner-
ven erkrankte.
Status praesens. 9. IIL 1869. Keine Gesichtsverzerrung; nur das linke
(kranke) Auge bedeutend kleiner als das rechte. Zunge grade; Uvula mit der
Spitze erheblich nach rechts. Motilität fehlt gänzlich im Frontalis, ist höchst
unvollkommen in den anderen Gesichtsmuskeln. Mechanische Erregbarkeit
fehlt. Galvanische Erregbarkeit intramuskulär äusserst gering ; (Kinnmuskeln
bei 18 Ell Zuckung, in den andern Muskeln bei 20 Ell keine Zuckung). Fara-
dische Erregbarkeit intra- und extramuskulär, namentlich im oberen Aste, be-
trächtlich herabgesetzt.
10. III. Faradische Contractilität noch geringer.
11. III. Faradische Erregbarkeit mit Ausnahme einiger Spuren im Cor-
rugator supercilü und einzelnen Bündeln des Quadratus menti gänzlich ver-
loren. Motilität spurweise in den genannten Muskeln, fehlt sonst.
3. IV. (Leichtes Oedem des Gesichts und zunehmende Empfindlichkeit,
sowie Ansteigen der galvanischen, intramuskulären Erregbarkeit schon seit
den ersten Tagen der Behandlung.) Jetzt Frontalis, rechts 12, links 8; die
anderen Muskeln, rechts 10, links 8. Deutliches Vorwiegen der Anode im
Frontalis und der Oberlippe, Vorwiegen der Kathode am Kinn. Mechanische
Erregbarkeit sehr e'erins,-.
— 428 —
Seit Anlang Mai alhnaliliclio Ziiiialiino der Motilität.
25. V. (12. Woclie). Motilität säninitlicher Gesiclitsrmiskoln, ausgenom-
men Frontalis fast complet; am meisten bleibt noch zurück Orbicularis pal-
pebrarum. Bei Innervation des Frontalis und Orbicularis palpebraruia Mit-
bewegungen der Muskeln um den Mund.
10. VI. Inzwischen allmähliche Zunahme der Mitbewegungen und auch
der Motilität des Frontalis; jetzt treten auch bei Innervation des Orbicularis
oris schwache Mitbewegungen im Orbicul. palpebrarum auf. Ueber die mecha-
nische Erregbarkeit der Muskeln lässt sich wegen der enormen Rellexerregbar-
keit kein sicheres Urtheil gewinnen. Schon bei Annäherung eines Gegenstan-
des an die Haut, namentlich der linken, doch auch der rechten Gesichtshälfte,
zucken die Muskeln um den Mund; desgleichen bei leichtem Herüberfahren
über die Haut. Gleichzeitig spontane fibrilläre Zuckungen.
16. XL Keflexerregbarkeit noch immer sehr gross. Die Percussion des
oberen und des unteren Orbitalrandes, sowie des linken Theiles der Nase und
des Arcus zygomaticus, sowie das oberflächliche Stechen aller dieser Punkte
mit Nadeln, sowohl bei offenen als bei geschlossenen Augen löst Zuckungen,
ja bei längerer Dauer der Reizung klonische Krämpfe in allen linksseitigen
Gesichtsmuskeln, ausgenommen Frontalis, aus. Endlich bleibt ein touischer
Krampf des Quadratus menti für einige Minuten zurück.
2. IV. 70. Klagen über Innervationsstörung der rechten Gesichtshälfte.
Nichts nachweisbar, als geringe Schwäche des Orbicularis palpebrarum.
5. IV. Incomplete Lähmung des rechten Facialis, theilweise Erhöhung
der faradischen Erregbarkeit, (z. B. Orbic. palpebr., Corrug. supercilii extra-
musculär 170.) Auf der rechten Zungenhälfte süsslicher Geschmack. Gal-
vanische Geschmacksempfindung am vorderen und seitlichen Zungenrande
rechts abgestumpft.
Allmähliches Abfallen der faradischen Erregbarkeit.
12. IV. Frontalis unerregbar, die anderen Muskeln zwischen 150 und
120 noch zu erregen. Bei dieser Untersuchung äusserst starke, nicht zu be-
herrschende Reflexcontractionen in dem linken Facialis.
19. VI. Grosse Empfindlichkeit der rechten Gesichtshälfte; noch keine
mechanische Erregbarkeit, faradische Erregbarkeit in den oberen Aesten r:= 0,
in den unteren Aesten bei schwachen Strömen in einzelnen Bündeln, bei stär-
keren Strömen kein grösserer Pveizeffect. Motililtät verhält sich ebenso. Gal-
vanische Erregbarkeit: Kinn 6, Oberlippe 8, Frontalis 10; Vorwiegen der
Kathode.
21. IV. Spuren mechanischer Erregbarkeit.
27. IV. Seit gestern Nachmittag plötzlich der letzte Rest von Motilität
auf der rechten Gesichtshälfte verschwunden. Bei leichter Percussion des
rechten Frontalis, weniger der übrigen Gesichtsmuskeln, leichte klonische
Krämpfe der Muskeln um den Mund auf der anderen Seite.
29. IV. Pvechte Gesichtshälfte ziemlich stark geschwollen, äusserst em-
pfindlich. Spuren mechanischer Erregbarkeit im Frontalis. Noch grössere
galvanische Erregbarkeit.
— 424 —
5. V. (5. Woche). Spuren von Motilität im Frontalis, Corrugator und
Orbicularis palpebrarum. Mechanische Erregbarkeit zugenommen. Bei der
geringsten Reizung der Haut der rechten Gesichtshälfte sehr starke Contrac-
tionen auf der linken Seite.
7. V. Mechanische Erregbarkeit sehr bedeutend erhöht. Weiteres An-
wachsen der galvanischen Erregbarkeit. Stets Vorwiegen der Kathode. Kam
bald nachher aus der Beobachtung.
Das hauptsächlichste Interesse dieser Beobachtung liegt 1. darin,
dass die Kranke drei Lähmungen ihrer zwei Gesichtsnerven davon ge-
tragen hat, 2. in der kolossalen Steigerung der Reflexerregbarkeit, die
sich eben auch in starker Projection der Reize nach der anderen Seite
äusserte. Man kann aus diesem Falle ferner unmittelbar ersehen, dass
die Coutractur, welche nach peripheren Lähmungen zurückbleibt, in
der That im Muskel und nirgends anders ihren Sitz hat. Denn der
linke Orbicularis palpebrarum befand sich von der ersten Lähmung her
noch in Contractur, und behielt dieselbe bei, obwohl eine complete
Leitungsunterbrechung seines motorischen Astes von neuem eintrat. Ja,
ich erinnere mich, diese Kranke noch gelegentlich ihrer rechtsseitigen
Facialislähmung stets mit der verkleinerten Lidspalte gesehen za haben.
Endlich verliefen die anderweitigen Erregbarkeitsveränderungen inner-
halb der zum zweiten Male befallenen Muskulatur in der gewöhnlichen
Weise, nur die mechanische Erregbarkeit erfuhr linkerseits nicht die
gew'öhnliche Steigerung.
1.3. Beobachtung. Köchin von 42 -Jahren. Rheumatische rechtsseitige
Facialis-Paralyse seit dem 16. IX. 68.
Status praesens 16. X. 68: Complete Paralyse des Facialis, jedoch ohne
Beiheiligung der Uvula. Faradische Erregbarkeit fehlt gänzlich; (im Corrug.
superc. und Frontalis sind einige Pasern gegen den Willen und den fara-
dischen Reiz erregbar geblieben). Galvanische Erregbarkeit beträchtlich er-
höht, (Vorwiegen der Kathode.) Fast gänzlicher Verlust der Geschmacks-
Empfindungen am rechten Rande und der Spitze der Zunge. Bei jedem kräf-
tigen Innervationsversuche des Frontalis will sie für die Dauer desselben auf
der kranken Seite einen tiefen Ton hören. (Mit Resonatoren werden rehts alle
Töne schärfer als links gehört. Lucae.)
2. XI. (7. Woche). Spuren von Motilität in der unteren Gesichtshälfte.
20. XI. (9. Woche). Die Motilität hat inzvi^ischen zugenommen. Fara-
disclie Erregbarkeit in sämmtlichen Muskeln spurweise, am grössten im Fron-
talis, keine im Orbicularis palpebrarum. Beim Klopfen auf den Unterkieferast
des Facialis in der Gegend des Angulus mandibulae (zur Untersuchung auf
mechanische Erregbarkeit des Nerven) zucken plötzlich zuerst die Muskeln,
welche dieser Ast versorgt mehrmals hinter einander; noch während dieser
Zuckungen beginnen auch die Zygomatici dasselbe Spiel. Dann fangen zuerst
— 425 —
die mimischen Unterkiefermuskcln der anderen Seite an sicli zu contrahiren ;
das Zucken verbreitet sich auf sämmtliche mimische Muskeln der anderen
Seite, und zwar derart, dass durch kräftige langsame Contractionen ein ausser-
ordentlich heftiger Krampf im Gebiete des ganzen Facialis entsteht, wie man
ihn in so grosser Heftigkeit bei Fällen von reinem Gesichtsmuslcelkrampf Icaum
jemals zu sehen beliomnit. Nachdem der Krampf sich beruhigt hatte, wurde
der Klopfversuch wiederholt. Nun entstand neben dem Pacialiskrampf gleich-
zeitig ein Krampf in beiden Trigeminis der Art, dass abwechselnd die Kiefer
gegen einander gepresst wurden und dann seitliche Bewegungen machten, etwa
wie ein kauendes Pferd. Einen sehr eigenthümlichen Anblick gewährte es,
dass sich einzelne Bündel der linken Gesichtsmuskeln isolirt mit ganz ausser-
ordentlicher Energie zusammengezogen. Bei einem dritten Versuch bekam die
Kranke eine Art von Schüttelfrost ähnlichem Krampf, wollte aber nebenbei
über Kälte oder sonstige abnorme Empfindungen nicht zu klagen haben.
21. XI. Gestern Abend 7Y2 Uhr ein halbstündiger Anfall von doppel-
seitigem Krampf des Facialis und Trigeminus. Während desselben fortwährend
Gehörsempfindungen auf dem kranken Ohre. Seit heute Morgen unausgesetzt
doppelseitiger Facialis- und Trigeminuskrampf, ausserdem häufige Schüttelfrost
ähnliche Krämpfe.
Mittags 3 Uhr in der von Gräfe'schen Klinik. Inzwischen waren meh-
rere Anfälle von Krämpfen, auch in den Extremitäten, jedoch ohne Verlust
des Bewusstseins vorhanden gewesen. Der erste Anfall hatte sich auf die
Arme beschränkt, beim zweiten waren auch Zuckungen in den Beinen auf-
getreten. Zwei solcher Anfälle wurden in der Klinik mit von Gräfe beob-
achtet. Sie begannen beide im rechten Facialis, breiteten sich sehr schnell
über alle Gesichtsmuskeln aus, dann kam es zu schluchzenden Bewegungen,
Schüttelfrost, dann begann der rechte Arm bei halb gebeugten Fingern schüt-
telnde Bewegungen zu machen, endlich traten tonische Streckbewegungen des
rechten Beines mit klonischen Dorsalflexionen des rechten Fusses auf. Die
krampfhaften Bewegungen der linken Extremitäten waren nur ganz unbedeu-
tend. Während des zweiten Anfalles waren beide Recti inff. in tonischer Con-
traction. Dabei war die Haut feucht und der erst volle und weiche, nur wenig
beschleunigte Puls unzählbar häufig, leer und klein. Verordnung: Vollkom-
mene Ruhe; Kali brom.
1. XII. Hat inzwischen nur wenige kurz dauernde Anfälle und zwar
jedes Mal in Folge von Aufstehen und namentlich von Sprechen gehabt. Dabei
waren Krämpfe in den beiden Extremitäten der kranken Seite, und gegen Ende
der Anfälle auch in der gesunden Seite vorhanden.
7. XII. Selbst bei vollkommener Pvuhe immer noch kleine Anfälle von
Krampf, namentlich in den Muskeln des unteren Astes und auch der gesunden
Seite vorhanden. Bei Bewegungen auch mit der gesunden Seite werden die
Krämpfe stärker. Druck auf die Muskeln der kranken Seite ruft sie in allen
Muskeln des Gesichts in grosser Intensität hervor.
14. XII. Heute ist der Krampf auf der kranken Seite stärker.
— 426 —
30. XII. Reflexerregbarkeit immer noch kolossal. Bei plötzlichem Nähern
des Fingers an das Auge heftige Gesichtsmuskelkrämpfe, an denen sich auch
der linke Rectus inf. bei Reizung links betheiligt, so dass der linke Bulbus
unter Schliessungsbewegung des Lides nach unten gerollt wird, während der
rechte grade aus sieht.
Den Rest der Kraukengeschichte übergehe ich, indem ich nur noch hin-
zufüge, dass die Steigerung der Reflexerregbarkeit in allmählich abnehmendem
Grade und die abnormen Mitbewegungen noch lange beobachtet wurden, die
Motilität stellte sich allmählich wieder ein.
Das Interesse dieser Beobachtung, für die mir Analoga nicht be-
kannt sind, liegt in der Ausbreitung des Reizzustandes auf benachbarte
Innervationsstätten.*) Nachdem sich zuerst der Facialis der gereizten
(kranken) Seite in Bewegung gesetzt hatte, folgte ihm der Facialis der
anderen Seite, dann die Trigemini und so breitete sich der Krampf
ziemlich gleichzeitig sowohl nach vorn als nach hinten nicht nur auf
die willkürlichen Muskeln, sondern sogar auf den Herzmuskel aus. An
den Extremitäten waren die Bewegungen auf der kranken Seite unver-
gleichlich viel stärker als auf der gesunden Seite. Die Krämpfe wurden
sowohl durch Willensimpulse als auch Reflexreize, endlich auch durch
auf dem Reflexwege producirte indirecte Reize (vom Opticus her)
ausgelöst.
Dieser Fall scheint mir sich von den bisher angeführten nur gra-
duell zu unterscheiden. Wir fanden bei jenen zunächst die Tendenz
zur Mitbewegung pathologisch angewachsen, dann zeigte sich eine Aus-
breitung reflectorischer Reize auf benachbarte Motoren derselben Seite,
ja in einzelnen Fällen kam bereits ein Ueberspringen des Reizes auf
die andere Seite zur Beobachtung. In diesem Falle wurden nun auch
entfernter liegende Motoren mit ergriffen. —
Nach allem diesem dürfte sich wohl kaum noch ein Zweifel da-
gegen erheben, dass die geschilderten Bewegungsanoraalieen
wirklich in der Med. oblong, ihren Sitz haben und auf einen
besonderen Reizzustand dieses Organes zurückzuführen
sind. Die Frage wäre nur, woher denn dieser Reizzustand
kommt? Dass Reizungen sensibler Nerven krampfhafte Zustände ver-
schiedener Art bedingen können, ist bekannt genug, aber dass Läh-
mungen motorischer Nerven einen gleichen Effect hätten, wusste man
bisher nicht. Man ist also zunächst versucht, an die Anastomose des
Facialis mit dem Quintus, d. h. an dem Facialis beigemischte sensible
*) Meiner Ansicht nach dürften die Krämpfe wohl aus einer Complication
mit Hysterie hervorgegangen sein.
— 427 —
oder sensuelle Fasern, zu denken. Ich lasse dahingestellt sein, in wie
weit dieser pjrklärungsversuch das Richtige träfe. Thatsächlich ist mit
Ausnahme der Geschmacksalteration eine P^mpfindungslähraung bei
Facialis-Paralysen nicht zu constatiren, und die sich später einstellende,
übrigens sehr verschieden starke Empfindlichkeit der kranken Gesichts-
hälfte dürfte wohl auf die dann vorhandene Muskelentzündung zu be-
ziehen sein. Man könnte auch diese letztere verantwortlich machen
wollen. Dagegen müsste ich indessen schon Einspruch erheben; denn
die Dauer der abnormen Reizzustände erstreckt sich über Jahre hinaus,
wenn von der Muskelentzündung längst nichts mehr wahrzunehmen ist.
Weiter, glaube ich, kann man für den Augenblick mit den Sichtungs-
und Deutungsversuchen nicht gehen. Es genüge also einstweilen die
durch meine Beobachtungen gewonnene und in dieser Form unbestreit-
bare Thatsache, dass in Folge von Leitungsunterbrechungen
eines peripheren motorisch (-sensuellen?^ Nerven, des Fa-
cialis, sich ein der weiteren Ausbreitung fähiger, convulsi-
vischer Zustand in seinem Reflexorgaue eingestellt, nnd dass
dieser Zustand Jahre lang anhalten kann.
In diese abstracte Form gebracht, finden unsere Beobachtungen am
Menschen auch sofort ihr Analogen in den Resultaten gewisser Vivi-
sectionen. Durch die Versuche Brown-Sequard's ist es bekannt, dass
Durchschneidiing des Ischiadicus am Meerschweinchen zur Ausbildung
einer echten Epilepsie führt, bei der merkwürdiger Weise eine „epilep-
togene Zone" in den Bahnen des Quintus liegt. Einzelne neuere Be-
obachtungen desselben Forschers nähern diesen Krankheits Vorgang noch
mehr dem von mir beschriebenen. Bei einzelnen Thiereu trat nämlich
die charakterisirte Epilepsie nicht ein, sondern es kam entweder nur
zu unvollständigen Anfällen (vgl. Beobacht. 13) oder einfach zu krank-
hafter Reizung der Reflexthätigkeit. Bei allen diesen Thieren konnte
man eine ungewöhnlich schnelle Wiederherstellung der Leitungsunter-
brechung nachweisen*). Die Intensität des gesetzten Reizes war also
offenbar von der Intensität der gesetzten Leitungsunterbrechuug ab-
hängig. Dies erinnert an meine Beobachtung 5, bei der der sonstige
Verlauf gleichfalls für eine geringere Intensität der Läsion sprach und
auch die Mitbewegungen nur schwach zur Anschauung kamen.
Brown-Sequard ist geneigt die Entstehung der Epilepsie gleich
der nach Durchschneidung des Ischiadicus entstehenden Degeneration
des Hinterstranges auf einen Reiz zu beziehen, der nach ihm am cen-
*) Brown-Sequard, Archives de Physiologie. Bd. III. S. 155 und
Bd. IV, S. 118.
— 428 —
tralen Ende des durchschnittenen Nerven seinen Sitz haben soll. Die
Verbreitung der Degeneration durch Continuitüt stellt er in Abrede.
Wenn die Sache sich in der Tliat so verhalten sollte, so würde die
Anwendung auf die Lähmungen des 7. Paares allerdings sehr einfach
sein, ausgenommen immer den schon einmal berührten Umstand, dass
im Facialis keine eigentlichen sensiblen Fasern zu verlaufen scheinen.
Es ist aber in dieser Beziehung nichts weniger als bewiesen, dass nur
sensible Bahnen solche continuirlichen Erregungen nach dem Centrum
zu projiciren vermögen. Man kann als aprioristischen Grund gegen
ehie solche Ansicht das doppelsinnige Leitungsvermögen der Nerven
anführen, und auch an casuistischen Belägen für den, der diese Ansicht
planmässig bekämpfen wollte, dürfte es nicht fehlen. So erwähnt schon
Pflüger einen Fall von John Cooke, bei dem eine Geschwulst in
dem Muskel aste zum Semimembranosus tödtliche Epilepsie herauf-
beschworen hatte. Ich bin übrigens weit entfernt, weder für die eine
noch für die andere Ansicht eintreten zu wollen.
Kommen wir nun noch einmal auf den Ausgangspunkt unserer
Untersuchungen zurück, so ergiebt sich als gemeinschaftliches Resultat
dieser beiden Abhandlungen, dass Leitungsunterbrechungen so-
wohl centraler als peripherer Nerven ebensogut beim
Meinschen als beim Meerschweinchen zu I rritatjonszuständen
gewisser motorischer Abschnitte des Centralnervensystems
•führen, die ihrerseits wieder je nach Grad und Ort der
Läsion, sowie nach den anderweitigen Eigenschaften des
Individuums unter höchst verschiedenen Formen in die Er-
scheinung treten können.
Druck von L. Schuiaacher in Berlin.
II. THEIL.
Alte und neue Untersuchungen
über das
Gehirn.
Gesamiiielte Abhandlimgeii
von
Dl'. Eduard Hitzis:.
I. lieber die nach Verletzungen des Hinterliirns auftretenden
Störungen der Bewegung und Empfindung.
In einer früheren Abhandlung i) hatte ich die nach Eingriffen in
das Grosshirn des Hundes zu beobachtenden Bewegungsstörungen ■ in
folgender Weise besprochen: „In der That setzt sich die aus schwereren
Verletzungen des Gyrus e. (sigmoides) resultirende Alteration der Be-
wegung aus einer beträchtlichen Anzahl von Factoren zusammen, von
denen wir denjenigen, welcher die eigenthümliche Färbung des Bildes
bedingt, auch fernerhin als Störung des Muskelbewusstseins
bezeichnen wollen. Dieser erste Factor ist damit abzugrenzen, dass der
Hund seine Pfote passiv in unbequeme Stellungen bringen lässt, ohne
sie zu reponiren, dass er zweitens bei activen Bewegungen die affi-
cirten Pfoten ungeschickt gebraucht. Insbesondere rutscht er mit
ihnen, zumal auf glatterem Boden, und wenn er sich schüttelt oder an
der Leine nach dem Futter drängt, davon, er setzt sie gelegentlich mit
dem Dorsum statt der Sohle auf, er rotirt sie in den Schultergelenken
gewöhnlich mehr nach Innen, selten mehr nach Aussen, als dies auf
der anderen Seite und von gesunden Kameraden überhaupt geschieht."
„Ein anderes Symptom, welches ich in meinen Protokollen Defect
d e r W i 1 1 e n s e n e r g i e nannte, treffen wir neben diesem Krankheitszustande.
Versucht man, einem durch Zureden oder Streicheln oder ähnliche Mittel
ruhig gehaltenen Hunde eine Extremität aus der einmal eingenommenen
Stellung zu dislociren, so wehrt er sich. Bald fühlt man einen conti-
nuirlichen Widerstand in der gefassten Pfote, bald ruckweise Contrac-
tionen, welche wohl auch in allgemeines Sträuben übergehen. Hat das
Thier aber einen „Defect der Willensenergie" erlitten, so lässt es die
Dislocation einer oder beider Pfoten einer Körperhälfte widerstandslos
über sich ergehen; sobald es die Extremität jedoch wieder frei fühlt,
nimmt es mit maschinenähnlicher Sicherheit die vorher inne gehabte
Stellung wieder ein. Die Extremitäten werden also niemals in abnormen,
ihnen passiv mitgetheilten Stellungeji belassen, noch werden sie activ
1) E. Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. Neue Folge. Rei-
chert's und du Bois-Reymond's Archiv. 1874. Heft 4. S. 437ff.
Hitzig, Gesammelte Abhandl. II. Theil. 1
— 2 —
in solche Stellungen gebracht. Darin besteht der Unterschied von der
früher beschriebenen Krankheit".
— — — „Ich darf und muss dem Gange meiner Darstellung hier
insofern vorgreifen, als ich hinzufüge, dass grössere Verletzungen des
Hinterhirns den gleichen Effect (nämlich Production des „Defectes
der Willensenergie") haben".
Diese Frage hielt ich von jeher eines besonderen Interesses für
werth. Schon bei der ersten Entdeckung unserer Centren hatte ich die
Möglichkeit offen lassen wollen, „dass der Hirnth.eil, welcher die Ge-
burtsstätte des Wollens der, Bewegung einschliesst, vielleicht' ein viel-
facher sei, dass die von uns Centra genannten Gebiete nur Sammel-
plätze abgeben"!) und bei einer späteren Gelegenheit 2) führte ich diesen
Gedanken etwas weiter aus. Ich erklärte es für denkbar, dass die Zer-
störung einer als reine Sinnesfläche erkannten Region eine Bewegimgs-
störung mit herbeiziehe, namentlich bei psychisch niederen Thieren,
ohne dass je die Reizung derselben Stelle zu einer Bewegung führe.
Denn — hiervon ging ich aus — alle Bewegungen sind auf frühere
und gegenwärtige Sinneseiudrücke zurückzuführen, sie wurzeln also in
den Feldern der Sinnesfläche.
Wenn also durch die Ausschaltung eines unzweifelhaft dem Sehen
dienenden Riudenfeldes eine Abschwächuug der motorischen Energie
gesetzmässig herbeigeführt werden könnte, so würde damit unsere Auf-
fassung von den psychischen Vorgängen, von der Physiologie der Wil-
lensäusserungen eine Aufklärung von principieller Wichtigkeit gewinnen.
Denn in diesem Falle wäre durch den Versuch ohne Weiteres erwie-
sen, dass die Impulse keineswegs auf beschränkten motorischen Feldern
entstünden, dass diese keineswegs nur durch Einleitung von solchen
Impulsen innerhalb für jeden Einzelfall eng begrenzter Bahnen erregt
würden, sondern die willkürliche Bewegung überhaupt wäre als ein Pro-
duct des Zusammenwirkens der gesammten Rindenfläche erschienen.
Selbstverständlich hätte dieser Beweis nur für das Gehirn des Hundes
Gültigkeit gehabt.
Sclion aus diesen Gründen hatte ich mir a. a. 0. bereits eiiie wei-
tere Verfolgung der aufgeworfenen Fragen vorbehalten. —
Es versteht sich, dass die Vertreter der Localisationslehre streng-
ster Observanz in dem Auftreten von Bewegungsstörungen nach Ver-
letzung des Hinterhirns einen Angriff auf ihr Dogma erblicken mussten,
während andererseits diejenigen Autoren, welche jede Localisation der
1) E. Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. S. 26.
2) Ebenda. Einleitung. S. XIII.
Functionen im Grosshirn leugnen, einen neuen Beweis für die Richtig-
keit ihrer Ansicht gefunden zu haben glaubten.
In der That verwerthete Goltz^), welcher damals noch der An-
sicht war, dass „Thiere, bei welchen die Verletzung, wie die Section
ergab, allein auf den Hinterlappen, also auf die unerregbare Zone
beschränkt war, durchaus dieselben Erscheinungen zeigten, wie solche,
bei denen sie weit vorn im vordersten Abschnitt der erregbaren Zone
stattgefunden hatte", die in Rede stehende Beobachtung alsbald im
Sinne seiner Auffassung. Er machte mir damals (1. c.) den Vorwurf,
dass ich mich ungeachtet der fraglichen Beobachtung „nicht hätte be-
stimmen lassen, meine Auffassung (im Sinne der vorerwähnten Goltz-
schen Anschauungsweise) zu berichtigen". Inzwischen hat sich dadurch,
dass Goltz selbst seine Ansichten über die Localisationsfrage gründlich
geändert hat, gezeigt, wem die Pflicht der Berichtigung der eigenen
Auffassung zufiel, üebrigens wollte Goltz dort, wo ich einen qualita-
tiven Unterschied gefunden zu haben glaubte, nur einen quantitativen
erkennen, indem er sagt: „Was Hitzig als Defect der Willensenergie
beschreibt, scheint mir nichts anderes zu sein, als eine geringere Stufe
dessen, was er Störung des Muskelbewusstseins nennt". Zur Aenderung
meiner Ansicht hatte ich also schon um deswillen keine Veranlassung,
weil ich eben einen qualitativen Unterschied gefunden zu haben
glaubte. Wir werden noch sehen, in wie weit Goltz hierin Recht
hat. In keinem Falle war freilich für seine bekannte Theorie damit
etwas gewonnen; denn nach derselben hätte bei einer grossen Ver-
letzung des Hinterhirns nicht eine „geringere Stufe" derjenigen Bewe-
gungsstörung auftreten dürfen, welche bei einer kleinen Verletzung
des Vorderhirns bereits in ausgesprochenster Weise in die Erscheinung
tritt, sondern das Maass dieser Bewegungsstörung hätte eben entspre-
chend der Grösse der Verletzung eine gerade qantitativ wenn mög-
lich noch „höhere Stufe" erreichen müssen.
Goltz selbst hatte natürlich auch, wie bereits angedeutet, nach
Eingriffen in das Hinterhirn Bewegungsstörungen beobachtet; insbeson-
dere sollen nach ihm auch Drehstörungen in Folge jeder grösseren Ver-
letzung einer Hirnhälfte eintreten. Loeb hat sich dann später ausgie-
biger mit diesen Drehstörungen beschäftigt und ausdrücklich hervorge-
hoben, dass sie auch nach Verletzungen des Hinterhirns auftreten. Sie
sind nach ihm als Product „der ungünstigen Nebenbedingung einer
1) Goltz, üeber die Verrichtungen des Grosshirns. Pflüger's Archiv
Bd. Xm. S. 38. (S.-A.)
1*
— 4 —
starken intracraniellen Blutung" i) aufzufassen und sie verlieren sich
„je nachdem die Nebenwirkungen der Läsion mächtiger oder geringer
waren" langsamer oder schneller.
Dies wären also viel sinnfälligere und ausgesprochenere Bewegungs-
störungen nach. Verletzung der fraglichen Region, als die hier zu be-
sprechenden. Indessen will ich mich mit den Drehstörungen, den Reit-
bahnbewegungen und dem Voltelaufen operirter Hunde hier überhaupt
nicht beschäftigen und bemerke nur kurz, dass Drehstörungeu irgend
welcher Art nach maximalen corticalen Abtragungen des Hinterhirns
überhaupt nicht einzutreten, brauchen, und dass sie ohne die geringste
Spur einer intracraniellen Blutung eintreten können.
Einwendungen anderer Art hat Munk erhoben. Sie gehen natürlich
von dem entgegengesetzten Standpunkt aus. „Denkt man sich — sagt
er 2) — eine Linie von dem Endpunkte der Fissura Sylvii vertical gegen
die Falx gezogen, so giebt diese Linie ungefähr die Grenze ab von
zwei scharf getrennten Sphären des untersuchten Grosshirnrindenab-
schnittes — einer vorderen motorischen und einer hinteren sensoriellen
Sphäre. Exstirpationen vor der Linie bedingen immer Bewegungsstö-
rungen, Exstirpationen hinter der Linie haben nie, auch nicht spurweise
Bewegungsstörungen zur Folge. Ebenso ziehen den sogenannten Defect
der Willensenergie nur Exstirpationen vor der Linie nach sich, nicht
Exstirpationen hinter der Linie". So sicher dieser Forscher nun auch
damals die Grenzlinie zwischen der motorischen (später von ihm als
Fühlsphäre bezeichneten) und der „sensoriellen" Sphäre zog, so war
doch gerade er es, der dieselbe sehr bald nach hinten verlegte. Zu-
nächst allerdings schob er einen leeren Streifen zwischen die motorische
Zone, bezw. seine Fühlsphäre und die Seh-Hörsphäre ein^), welcher mit
seiner vorderen Grenze erheblich vor und mit seiner hinteren Grenze
etwas hinter dem Endpunkt der Fissnra Sjdvii abschneidet, und für
den Munk damals noch keine Function ausfindig gemacht hatte. Auf
den Abbildungen, welche er der vierten von ihm gemachten Mitthei-
lung*) beifügte, reicht seine „Fühlsphäre" aber mit ihrer Ohrregion
über die Fossa Sylvii hinaus bis zu dem hinteren Rande des Schläfen-
theils der ersten Urwindung und mit ihrer Augenregion sogar noch ein
1) 3". Loeb, Beiträge zur Physiologie des Grosshinis. Pflüger's
Archiv Bd. XXXIX. S. 266 und 268.
2) H. Munk, Ueber die Functionen der Grosshirnrinde. Berlin. Zweite
Aufl. S. 10. (Erste Mittheilnng, 23. März 1877.)
3) a. a. 0. S. 22. (Dritte Mittheilnng, 15. März 1878.)
4) a. a. 0. S. 50. (Vierte Mittheilung, 29. November 1878.)
gutes Stück weiter bis zur Höhe der Mitte der zweiten ürwindung.
Diese beiden letzteren Regionen haben inzwischen also jenen ursprüng-
lich leer gelassenen Streifen eingenommen. Hierdurch wurde die Sach-
lage säuzlich verändert. Denn das von mir bei den erwähnten Ver-
suchen angegriffene „sensorielle" Areal des Hinterhirns war von der
ursprünglichen motorischen Zone M unk' s, die sich mit der von mir
so bezeichneten annähernd, wenn auch nicht ganz deckt, durch einen
breiten Streifen getrennt, während diese Zone nach M unk 's späteren
Angaben scharf an die „sensorielle" Sphäre grenzt. Ich hatte also bei
meinen Angriffen auf den Hinterlappen nach meiner derzeitigen eigenen
Auffassung eben keine besondere Ursache gehabt, die hintere Grenze
jenes Streifens ängstlich zu vermeiden imd ebenso wenig würde dies
den ersten Angaben M unk 's zufolge erforderlich gewesen sein. Dehnte
sich die motorische Region aber wirklich weiter nach hinten aus, so
war allerdings die äusserste Vorsicht bei der Abgrenzung jener Ein-
griffe geboten, wenn anders deren Folgen unzweideutige Schlüsse ge-
statten sollten.
Es würde richtig gewesen sein, wenn Munk diese durch Verände-
rung seiner eigenen Stellung herbeigeführte Veränderung der Sachlage
berücksichtigt hätte, als er in der Einleitung zu der Zusammenstellung
seiner Abhandlungen i) eine historisch kritische Besprechung meiner
Angaben über die nach Verletzungen des Hinterliirns auftretenden Stö-
rungen unternahm. Freilich gestaltet sich in Wirklichkeit die Sachlage
noch ganz anders, als es nach den erwähnten Hirnkarten und den an-
geführten Erläuterungen Munk's erscheinen muss. Dieser hat nämlich
im Laufe der Zeit seine Ansichten nicht nur über den Umfang, sondern
auch über den Inhalt des motorischen Feldes nicht unwesentlich geän-
dert. Vergleicht man nämlich jene beiden Hirnkarten mit einander, so
ergiebt sich zunächst — und dies interessirt uns hier vornehmlich ■ — ,
dass auf der ersten die sogenannte selbstständige Fühlsphäre für das
Hinterbein sehr erheblich über den Gyrus sigmoides hinaus nach hinten
eicht, während sie auf der späteren genau mit diesem Gyrus abschnei-
det. Fast ebenso verhält es sich mit der sogenannten Kopfregion. An
die Stelle der von diesen beiden Regionen leer gelassenen Flächen ist
dann die Augenregion mit höchst unbestimmten Functionen, auf die
wir in einem späteren Kapitel zurückzukommen haben, getreten. Aehn-
liche Wandlungen haben sich in dem vorderen Abschnitt der Fühlsphäre
vollzogen. Hier nahm die Vorderbeinregion ursprünglich nicht nur den
lateralen Abschnitt beider Schenkel des Gyrus sigmoides ein, sondern
1) a. a. 0. S. 6.
- 6 —
sie erstreckte sich ia dem vorderen Schenkel auch bis zur Mittellinie,
Später ist dann an der letzteren Stelle die Nackenregion erschienen.
Wieder anders haben sich die Dinge in einer späteren Abhandlung i)
gestaltet. Die Nackenregion hat sich hier auf den lateralen Theil des
vorderen Schenkels des Gyrus sigmoides und auf die Nachbarschaft der
2. Urwindung, von wo sie ein Stück Kopfregion verdrängt hat, ausge-
dehnt, die Region für das Hinterbein hat sich zu Gunsten der Vorder-
beinregion wieder um etwas verkleinert, dagegen greift sie nunmelir
über den Sulcus cruciatus herüber in das Gebiet des medialen Drittels
des Gyrus sigmoides über.
Es ist mir nicht recht klar geworden, ob diese Wandlungen in den
Ansichten Munk's sich auf Grund von Esstirpationsversuchen oder un-
ter der gemeinschaftlichen Benutzung der Ergebnisse von Reiz- und
Exstirpationsversuchen vollzogen haben. Sollten sie, wie es den An-
schein hat, der Hauptsache nach durch Exstirpationsversuche bedingt
sein, so hätte sie sich Munk, meiner Ueberzeuguug nach, zu einem
grossen Theil ersparen können; denn so genau, wie diese Aenderungen
dies erforderlich scheinen lassen, kann man die Folgen von operativen
Eingriffen in das Gehirn überhaupt nicht abgrenzen. Andere >Vand-
lungen hätte er sich durch Berücksichtigung meiner eigenen Angaben
sparen können. Seine letzte Bezeichnung der hinteren Grenze seiner
Fühlsphäre entspricht ziemlich genau der hinteren Grenze meiner moto-
rischen Region und an diejenige Stelle, an die er schliesslich seine
Nackenregion verlegte, hatten schon Fritscli und ich die Reizpunkte
für die Nackenmuskeln localisirt. Irgend eine Discussion dieser sowie
der anderen soeben angeführten Thatsachen vermisse ich bei Munk.
Nur führt er mit Recht an, dass sich ganz genaue Grenzen für die ein-
zelnen Regionen nicht ziehen Hessen: ich sehe aber nicht, dass er A'on
dieser Erkenntniss den geeigneten Gebrauch gemacht hätte.
Auch die zuletzt besprochenen Angaben Munk's bedürfen noch
einer vorurtheilsiosen Erörterung; sie kann aber nicht die Aufgabe der
vorliegenden Abhandlung sein. Unter allen Umständen musste mir
jedoch daran liegen, zu prüfen, ob die Differenz unserer Angaben wirk-
lich und ausschliesslich in der angedeuteten Art, also dadurch zu erklären
sei, dass ich bei denjenigen Versuchen, bei denen ich durch
Eingriffe in den Hinterlappen Sehstörungen hervorbrachte,
der hinteren Grenze der motorischen Zone (Fühlsphäre
Munk's) zu nahe gekommen war, so dass die gleichzeitig eintre-
1) H. Munk, Ueber die Fühlsphären der Grosshirnrinde. Sitzungs-
berichte 1892.
— 7 —
tontle Bewegungsstörung thatsäclilich nicht aus der Fortnahme einer
grösseren Menge beliebiger Hirnsubstanz, sondern aus der Beleidigung
motorischer Regionen herzuleiten war. Gleichzeitig konnten die A^or-
erw ahnten Einwendungen von Goltz einer wiederholten Betrachtung
unterzogen werden.
Von den Versuchen, welche ich zu diesem Zwecke anstellte, will
ich alsbald diejenigen mittheilen, welche mir nach allen Richtungen
beweisend zu sein scheinen.
Einem kleinen Hunde wurde das ganze linke Hinterhirn bis in die
Gegend „einer Linie, die man sich von dem Endpunkt der Fissura Sylvii senk-
recht auf die Falx gezogen denken kann", freigelegt und die hinteren drei
A''iertel dieser Stelle auf die Tiefe von etwa 5 mm mit einem kleinen Präpara-
tenheber herausgehoben. Der dadurch herbeigeführte Substanzverlust war
(im Verhältniss zur Grösse des Gehirns) reichlich so gross wie bei denjenigen
Versuchen, bei denen ich früher „Defect der Willensenergie" erzielt hatte. Am
folgenden Tage war jedoch kein Unterschied zwischen der Motilität der Extre-
mitäten der beiden Seiten nachzuweisen, es bestand also auch kein „Defect
der Willensenergie". Dagegen schien der Hund auf dem rechten Auge ganz
blind zu sein. Die Wunde war bis auf ein Eckchen des hinteren Winkels ver-
klebt, das Thier munter und bei Appetit.
Am 8. Tage wurden die Nähte herausgenommen und die Wunde geöffnet.
Das Gehirn hatte sich ziemlich stark durch die Lücke herausgedrängt, was
man schon durch die Haut hindurch hatte fühlen können, Eiterung war jedoch
nicht vorhanden. Die Wunde wurde offen gelassen. Es bildete sich nun ein
sehr grosser, unter Eiterung innerhalb etwa 4 Wochen heilender Fungus her-
aus, der zu einem grossen Substanzverlust führte.
Am 9. Tage wurde „Defect der Willensenergie" in beiden rechten Extre-
mitäten, ausserdem aber eine deutliche Sensibilitätsstörung in denselben con-
statirt. Diese Symptome waren 15 Tage später noch vorhanden, verschwanden
dann aber allmählig und gänzlich.
Ein ganz ähnliches Resultat ergab folgender Versuch. liier war
einem ziemlich grossen Pinscher, der beide Pfoten, die linke lieber, gab, ein
ca. 2 cm langes und 1 cm breites Stück aus dem rechten Hinterhirn auf etwa
2 — 3 mm Tiefe entfernt und — da die colossale Blutung anders nicht zu stil-
len war — ein Stück Salicylwatte in der durch die Naht verschlossenen
Wunde belassen worden.
Am 2. Tage war kein „Defect der Willensenergie" vorhanden, der Hund
gab beide Pfoten, die linke wie sonst zuerst. Die Watte wurde unter antisep-
tischen Cautelen entfernt und die Wunde wieder vernäht. Gleichwohl kam es
zur Eiterung.
Vom 3. bis 9. Tage war „Defect der Willensenergie" und Sensibilitätsstö-
rung bald mehr in der linken Vorderpfote, bald mehr in der Hinterpfote nach-
weisbar, dabei gab der Hund aber die Pfoten. Am 10. und 11. Ta^e waren
die erwähnten Störungen nicht nachzuweisen, am 12. Tage war dies wieder
möglich, später nicht mehr. (Die Sehstörung verhielt sich übrigens ähnlich.)
Aus diesen Versuchen geht hervor, dass sehr erhebliche Ausschal-
tungen der Substanz des Hinterhirns vorgenommen werden können, ohne
dass das von mir als „Defect der Willensenergie" bezeichnete Symptom
eintritt, aber wenn dies geschieht, so darf es doch nicht auf
die ausgeschaltete Hirnpartie bezogen werden, weil es nicht
zu den nothwendigen unmittelbaren Folgen der Operation
gehört.
Bei den bisher angeführten Versuchen war das uns beschäftigende
Symptom primär nicht, wohl aber secundär nach Eintritt von Eiterung
zu beobachten. Die Sachlage kann sich aber auch nach verschiedenen
Richtungen hin anders gestalten.
Zunächst verdient hier eine Beobachtung Erwähnung, bei der eine
Schädellücke von 20 : 15 mm angelegt und die Rinde auf 3 mm Tiefe
a,bgetragen war. Die Wunde war zwar per primam verklebt, entleerte
aber am 5. Tage auf Function dünnflüssigen Eiter. Vom 2. Tage an bis
dahin bestand deutliche Sensibilitätsstörung, ausserdem war ein allmählig
abnehmender „Defect der Willensenergie" bis zum, 23. Tage zu beobachten.
In diesem Falle war also unzweifelhaft gleichfalls die Eiterung
wegen des Auftretens von Symptomen, die nicht dem Hinterlappen an-
gehören, anzuschuldigen. In anderen Fällen ist dies aber, da es eben
zu keiner Eiterung kam, nicht angängig.
So wurde einem Hunde die hinterste Partie des Hinterlappens in einer
Ausdehnung von 16 : 19 mm aufgedeckt und mit öproc. Carbolsäure geätzt;
die Narbe reichte bis hart an jene Linie, die man sich von der Spitze der Fossa
Sylvii senkrecht bis zur Falx gezogen denken kann, ohne sie jedoch zu über-
schreiten. Der Hund zeigte bis zum 7. Tage eine contralaterale Sensibilitäts-
störung.
Einem anderen Hunde war eine obertlächliche Exstirpation in einer
Ausdehnung von 18 mm Quadrat ganz hinten und so gut wie ohne Blu-
tung gemacht worden. Am 2. Tage liess der Hund nicht nur das rechte
Hinterbein ohne Weiteres dislociren , ja er liess es sogar kurze Zeit auf dem
Dorsum stehen und über den Tischrand hängen; auch das Vorderbein liess sich
leichter dislociren. x\usserdem zeigte sich eine leichte contralaterale Sensibi-
litätsstörung. Letzteres Symptom M^ar noch am nächsten Tage deutlich zu
beobachten, die ersteren Symptome nicht mehr.
Von noch grösserem Interesse ist der folgende Versuch. Hier war
einem Hunde die hinterste Partie des Hinterlappens in einer Ausdeh-
nung von 15 mm sagittal : 17 mm frontal aufgedeckt worden. Bei der Sec-
tion erwies sich, dass die Oberfläche sagittal 15 mm von der Spitze des Hin-
terlappens nach vorn freilag. Die Pia wurde intact gelassen; die Blutung war
gleich Null; die Wunde heilte per primam. Am 2. Tage bestanden keine Er-
scheinungen. Am 3. Tage wurde jedoch, abgesehen von einer vorhandenen
Sehstörung ein sehr deutlicher Defect der Willensenergie, eine sehr deutliche
Sensibilitätsstörung, letztere nur in der Vorderextremität, und in der Schwebe
ein charakteristisches Herabhängen der contralateralen Vorderextremität beob-
achtet. Am 6. Tage waren diese Erscheinungen nur noch ganz spurweise zu
beobachten. Der Hund Avurde dann getödtet.
In anderen Versuchen wurden mit der Bohrmaschine Löcher von
11 — 18 mm Quadrat oder mit der Trepliine mehr miregelmässige Löcher
von ähnlichen Dimensionen angelegt und der aufgedeckte Hirntheil auf
2 — 4 mm Tiefe entfernt, ohne dass sich hierbei abweichende Resultate
ergeben hätten. Nur ein Fall verdient noch eine besondere Erwähnung.
In diesem Falle war eine Exstirpation von 17 mm frontal und 10 mm
sagittal, aber in einer Tiefe von 7 mm gemacht worden. Bei der am
7. Tage vorgenommenen Section wurde eine pilzartige Hervortreibung des Ge-
hirns von 17,5 mm frontal und 16 mm sagittal vorgefunden. Die vordere
Grenze des Pilzes blieb ca. 4 mm hinter der Linie Fossa Sylvii — Falx zu-
rück. Die Blutung war minimal. Am 2. Tage war der Hund noch nicht zu
untersuchen. Am 3. Tage bestand in den contralateralen Extremitäten Defect
der Willensenergie und in der überhaupt mehr betroffenen Vorderextremität
eine Sensibilitätsstörung. Am nächsten Tage waren die Bewegungsstörungen
nur noch eben angedeutet, die Sensibilitätsstörung war bis zum Schlüsse der
Beobachtung noch nachweisbar. Bei der Section fanden sich im hinteren
Schenkel des Gyrus sigmoides an der Grenze der grauen und weissen Substanz
vier kaum sichtbare Capillarhämorrhagien.
Fassen wir alle diese Beobachtungen zusammen, so ergiebt sich,
dass die Dinge keineswegs so einfach liegen, wie es nach der Darstel-
lung Munk's den Anschein haben könnte. Ich war wirklich nahe
daran, mir durch seine mit grosser Bestimmtheit vorgetragene Behaup-
tung suggeriren zu lassen, dass ich bei meinen früheren Versuchen der
Grenze desjenigen Gebietes, welches er Fühlsphäre nennt, zu nahe
gekommen sei, wenn ich sie auch nicht überschritten hatte. Anderer-
seits hatte ich zu berücksichtigen, dass das aseptische Operationsver-
fahren Anfangs der 70er Jahre, als ich jene Versuche anstellte, noch
nicht bekannt war, und dass es damals noch Niemanden gab, der auf
die Misslichkeit der Heranziehung von solchen Versuchen aufmerksam
gemacht hätte, die nicht prima iutentione geheilt waren. Ich selbst
hatte bei meinen früheren Versuchen nur die Nothwendigkeit gefunden
und betont, dem Wuudsecret freien Abfluss zu lassen; die Rrzielmig
der prima intentio erschien mir damals nicht nothwendig.
Wenn wir aber auch die unter Eiterung verlaufenden oder sonst
nicht ganz reinen Versuche gänzlich ausschalten, so bleiben doch noch
einzelne Versuche übrig, bei denen es zu Störungen der Muskelinner-
— 10 —
vatioii und der Sensibilität, mit einem Wort zu anderen als Sehstörun-
gen kam, obschon die Läsion ausschliesslich in der „Sehsphäre" sass
und auch die hintere Grenze der „Fühlsphäre" nicht überschritten, in
einer Anzahl von Fällen sie nicht einmal erreicht hatte. Besonders
bemerkenswert!! ist sicherlich, dass schon die blosse Freilegung des Ge-
hirns zur Production solcher Störungen genügt.
Wollte man aber gleichwohl im Sinne Munk's die fraglichen Sym-
ptome auf eine directe Beleidigung der „Fühlsphäre" beziehen, so würde
dieses Ergebniss dennoch im Widerspruch zu seinen Ansichten stehen.
Diejenige Region, welche durch meine Eingriffe unbeabsichtigter Weise
in ihrer Function gestört sein konnte, war seine „Augenregion, die
selbstständige Fühlsphäre des Auges". Nach der Theorie Munk's
hätten Verletzungen dieser Region also „Störungen der Gefühle und
Gefühlsvorstellungen bloss für den zugehörigen Körpertheil (also das
Auge) zur Folge haben" dürfen. Die von mir beschriebenen Krankheits-
erscheinungen zeigten sich aber an den Extremitäten und nicht am Auge.
Noch ein anderer Umstand musshier berücksichtigt werden. In derjenigen
Arbeit, in der ich zuerst von dem „Defect der Wiliensenergie" gesprochen
hatte 1), hatte ich mehrere Versuche beschrieben, bei denen sich dieses Sym-
ptom nach Exstirpationen im vorderenSchenkel des Gyrus sigmoides und
im benachbarten Theil des „Stirnlappens" entweder überhaupt nicht oder
doch primär nicht gezeigt hatte. Nun grenzen diese Theile aber unmittelbar
an die Extremitätenregionen, während die hier in I^Vage kommenden
Exstirpationen sich auch in den verdächtigsten Fällen sehr weit entfernt
davon befanden. Genau das Gleiche gilt von den eigenen Exstirpations-
versuchen Munk's in seiner Augenregion. Es geht also nicht an, dass
man die Dinge in jenen, auf den ersten Blick allerdings sehr einfach
und einleuchtend erscheinenden Zusammenhang bringt, wie Munk dies
gethan hat. Ich bestreite gar nicht, dass einer der Gründe für die
nach Operationen im Hinterhirn zu beobachtenden Motilitäts- und Sen-
sibilitätsstörungen in einer directen Beleidigung der motorischen Zone
liegen kann; aber in einer directen Beleidigung der Centren für die
Extremitäten kann er unter keinen Umständen liegen, höchstens könnte
es sich um eine vorübergehende Schädigung der von ihnen nach hinten
verlaufenden Leitungsbahnen handeln.
Ueberdies könnte dies nur einer der verschiedenen hier in Betracht
kommenden Gründe sein, und zwar ist es gerade derjenige, der meine
eigenen Versuche am wenigsten erklärt. Dies beweisen jene theils über-
1) E. Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. Neue Folge. Rei-
chert's und du Bois Reymond's Archiv. 1874. Heft IV.
— 11 —
haupt ohne Exstirpatioii , theils mindestens ganz Iiiiiteii ausgeführten
Versuche. Es kann sich mithin bei diesen nur um Feruwirkungen,
über deren Meclianismus wir noch nicht im Klaren sind, handein; viel-
leicht giebt jener Versuch, bei dem sich miliare Blutungen im hinteren
Schenkel des Gyrus sigmoides fanden, einen Anhaltspunkt für die spä-
tere Lösung dieser Frage.
Aber auch auf diesem Wege scheint mir das Zustandekommen der
uns beschäftigenden Phänomene nicht erklärt werden zu können. Ich
besitze nämlich eine Reihe von Beobachtungen über Doppeloperationen,
bei denen Störungen der Motilität und Sensibilität, welche nach Eingriffen
in den Gyrus sigmoides aufgetreten, dann aber ganz oder theilweise
verschwunden waren, in P'olge eines verhältnissmässig kleinen Eingriffs
in die Munk'sche Stelle A^ und deren Umgebung wieder auflebten.
Einem Hunde war in einer ersten Operation eine Skarification , lu
einer zweiten Operation eine Exstirpation im Gyrus sigmoides beigebracht
worden. Mehr als drei Monate nach der letzteren Operation wurde eine
Aetzung mit öproc. Carbolsäure im hintersten Theil des Hinterlappens vor-
genommen. Vor der dritten Operation bestand noch eine deutliche Sensi-
bilitätsstörung, ein geringer Defect der Willensenergie, d. h. der Hund setzte
Dislocationsversuchen der Extremitäten einen etwas geringeren Widerstand
entgegen, und ausserdem liess er in der Schwebe die kranke Vorderextremität
noch ein wenig schlaffer herabhängen. Nach dieser Operation waren alle diese
Erscheinungen deutlicher, der Hund liess sogar die contralateralen Extremi-
täten kurze Zeit über den Tischrand hängen. Ein Theil dieser Steigerung der
Erscheinungen war noch beim Schluss der Beobachtung, 29 Tage nach der
Operation nachweisbar.
Einem anderen Hunde war der ganze vordere Schenkel des Gyrus
sigmoides skarificirt worden. Drei Monate später wurde ihm die hinterste
Partie der Convexität dicht an der Medianspalte oberflächlich exstirpirt.
Vor dieser Operation waren die Motilitätsstörangen im üebrigen gänzlich
geschwunden, nur liess der Hund die contralateralen Extremitäten noch etwas
schlaffer herabhängen , auch war das reflectorische Zurückziehen der Pfoten
beim „Begreifen" i) derselben weniger ausgesprochen, als auf der gesunden
Seite. Nach der Operation und zwar schon am 2. Tage war die Motilitätsstö-
rung wieder so hochgradig, dass der Hund beim Schütteln und Fressen mit
den kranken Extremitäten davonrutschte, sie mit dem Dorsum aufsetzen, sie
dislociren und über den Tischrand hängen liess. In der Schwebe hingen diese
Extremitäten wieder ganz gestreckt und der Reflex beim Begreifen fehlte wie-
der gänzlich. Dieser Zustand hielt im Wesentlichen unverändert an bis ein-
schliesslich des 5. Tag-es und besserte sich dann allmälig. Am 29. Tage, als
]) Was ich unter diesem Ausdruck verstehe, werde ich unten auseinan-
dersetzen.
— 12 —
der Hund getödtet wurde, fehlte der „Berührungsreflex" aber noch gänzlich und
die Pfoten hingen noch eben so gestreckt herab wie gleich nach der Ope-
ration.
Einem dritten Hunde war der erregbare Theil des Gyrus sigmoides
unterschnitten worden. Fünf Wochen nachher wurde der hintere Theil
der „Sehsphäre" in einer Ausdehnung von sagittal 17 : frontal 14 mm
unterschnitten. Vor dieser Operation war die anfänglich hochgradige Motili-
tätsstörung noch insoweit nachweisbar, als der Hund die Pfoten etwas dislo-
ciren Hess und mit den kranken Pfoten gestreckt hing; ferner hatte er beim
Begreifen in der Vorderpfote keinen, hinten nur einen schwachen Pveflex. Nach
der Operation, und zwar bereits am 2. Tage, Hess der Hund die Pfoten erheb-
lich stärker dislociren und rutschte mit ihnen beim Schütteln und Fressen wie-
der davon. Diese Verschlimmerung nahm allmählig ab und war am 7. Tage
kaum noch nachzuweisen.
Man kann aus diesen Erfahrungen, wie mir scheint, nur den Schluss
ziehen, dass Vei'letzungen des Hiuterhirns nicht ohne Einfluss auf die
Functionen des Vorderhirns sind oder mindestens sein können, insbe-
sondere wenn das letztere schon A-orher beschädigt w^orden ist. Zu wei-
teren Schlüssen fehlt bisher der gesicherte Boden.
Exneri) hat sich neuerdings 2) in folgender Weise über die in
diesem Abschnitt erörterte Frage ausgesprochen: „Uebrigens hat Hitzig
gelegentlich dieser Demonstrationen (auf der Naturforscherversammlung
in Berlin) an den in der Sehsphäre operirten Himden Munk's Versuche
angesteUt und ist sowie auch andere Anwesende (auch ich gehöre dazu)
zu der Ueberzeugung gelangt, dass sich jene unnatürlichen Stellungen
der Extremitäten herstellen lassen, die wir allgemein als Ausdruck der
Alteration des Muskelsinnes, Defect der Willensenergie u. dergl. be-
trachten; jene Stellungen, die sich auch bei Exstirpation der motorischen
Sphäre noch nach Monaten und Jahren den Thieren. geben lassen".
Es ist richtig, dass ich bei jenem Aulass gewünscht habe, mich über
das motorische Verhalten von solchen Hunden zu unterrichten, an denen
die „Total exstirpation der Sehsphäre" vorgenommen war, und dass ich
deshalb mit der Erlaubniss von M unk die von ihm der physiologischen
Section vorgezeigten Hunde nach dieser Richtung untersucht habe.
Hierbei glaubte ich zu finden, dass die Thiere der Verschiebung ihrer
hinteren Extremitäten einen geringeren Widerstand entgegensetzten, als
nicht operirte Thiere; ja eines derselben Hess sogar einmal die eine
mit dem Dorsum aufgesetzte Hinterpfote kurze Zeit in dieser Stellung.
1) Exner, Ueber neuere Forschungsresultate, die Localisation in der
Hirnrinde betreffend. Wiener med. Wochenschr. 1886. 49 — 51.
2) Dieser Theil des Manuscripts ist in den 80er .Jahren niedergeschrie-
ben worden.
— 13 —
Indessen waren diese Hunde, welche ich nur einmal und unter für sie
ungewohnten Umständen untersuchte, beiderseits operirt, es fehlte
also der für einen sicheren Schluss meines Erachtens unerlässliche Ver-
gleich mit der gesunden Seite, und es fehlte auch die Section. Wenn
ich also auch nicht bestreiten will, dass Hunde, denen eine ganze „Seh-
sphäre" fehlt, sich regelmässig auf der gekreuzten Seite in der erwähn-
ten Weise verhalten, so kann ich es doch auch nicht behaupten und
ich würde schon aus diesen Gründen und schon damals nicht ganz so
weit als Exner haben gehen wollen. Gegenwärtig bin ich dazu noch
weniger geneigt.
Ein Rückblick auf das bisher Vorgetragene lehrt uns also, wenn
wir zunächst von der Art der uns hier beschäftigenden Störun-
gen absehen. Folgendes: Meine frühere Angabe, dass nacliEingriifen in das
Hinterhirn gewisse Motilitätsstörungen entstehen können, hat
durch die hier mitgetheilten Untersuchungen ihre Bestätigung gefun-
den; ja es hat sich gezeigt, dass allemal dann, wenn sich Motilitätsstörungen
nachweisen Messen, auch Sensibilitätsstörungen vorhanden waren.
Diese hatten sogar unter Umständen eine längere Dauer als die Motilitätsstö-
rungen. Dagegen lassen sich alle diese Störungen nicht als eine directe
Folge des Eingriffes in das Hinterhirn auffassen,, weil sie fehlen können
und nur unter bestimmten, im Vorstehenden näher bezeichneten Um-
ständen eintreten, ohne dass es bisher gelungen wäre, über den Zusam-
menhang der Erscheinungen in's Klare zu kommen.
Die von Goltz an meine ursprünglichen Mittheilungen geknüpften
Schlussfolgerungen sind also auch im Lichte der neuesten Erfahrungen
betrachtet, als vollkommen hinfällig zu erachten. Die nach Eingriffen
in das Hinterhirn zu beobachtenden Motilitäts- und Sensibilitätsstörungen
haben unzweifelhaft eine ganz andere Genese als die nach Eingriffen
in das Vorderhirn zu beobachtenden. Ausserdem war es gerade Goltz,
welcher immer und immer wieder betont hat, dass Störungen, welche
nach bestimmten Verletzungen zwar eintreten können, aber nicht ein-
treten müssen, nichts für die Function des verletzten Theiles beweisen.
Dieses Argument ist ganz richtig, aber wir wenden es jetzt gegen ihn
an. Irgend ein Schluss gegen die Localisation der corticalen Functio-
nen kann also aus diesen Versuchen durchaus nicht gezogen werden.
Ebenso wenig ist die Sache mit der Formel von Munk abgethan,
dass „Exstirpationen vor einer Linie, welche man sich vom Endpunkte
der Fissura Sylvii vertical zur Falx gezogen denkt, immer Bewegungs-
störungen, Exstirpationen hinter der Linie nie auch nicht spur weise
Bewegungsstörungen zur Folge haben; und dass ebenso den sogenannten
Defect der Willensenergie nur Exstirpationen vor der Linie, nicht Ex-
— 14 —
stirpationen hinter der Linie nach sich ziehen". Nicht einmal der erste
Theil dieser Lehre ist richtig, dass nämlicli Exstirpationeu vor der
Linie stets Bewegungsstörungen nach sich ziehen, wie dies aus den eige-
nen Versuchen M unk 's an seiner Augenregion hervorgeht, und ihr
zweiter Theil ist es noch viel w-eniger. —
Die von mir bei der jetzigen Untersuchung beobachteten Störun-
gen der Motilität entsprechen nicht in allen Fällen gänzlich dem
früher von mir gezeichneten Bilde. In einer Anzahl von Fällen aller-
dings zeigte sich nur Verminderiuig oder Aufhebung des Widerstandes
bei Dislocationsversuchen, also „Defect der Willensenergie". Ich habe
aber jetzt auch Hunde beobachtet, welche die afficirten Extremitäten,
wenn auch nur in geringem Grade, dislocirt und sogar auf kurze
Zeit über den Tischrand herabhängen Hessen. Dagegen traten diese
Hunde niemals spontan in's Leere, sie hatten nicht verlernt die Pfote
zu geben und sie zeigten beim Aufheben an der Rückenhaut bezw. in
der Schwebe nur ganz ausnahmsweise das charakteristische Herabhängen
der Extremitäten.
In dem auf S. 3 angeführten Citat habe ich bereits hervorgeho-
ben, dass sich die aus schweren Verletzungen des Gyrus sigmoides
resultirende Alteration der Bewegung aus einer beträchtlichen Zahl von
Factoren zusammensetzt, welche ich im Vorstehenden grösstentheils
nochmals aufgeführt habe. Zu ihnen kommt nun noch die Sensibilitäts-
störung, von der wir gesehen haben, dass sie ebenso wohl eine regel-
mässige Begleiterscheinung der nach occipitalen wie der nach frontalen
Verletzungen der Rinde eintretenden Motilitätsstörungen ist. Wenn ich
alle diese Umstände' in Beti'acht ziehe, so muss ich Goltz mit seiner
gegen mich gerichteten Bemerkung, dass es sich bei den nach occipi-
talen Verletzungen zu beobachtenden Bewegungsstörungen nur um einen
quantitativen Unterschied handle, bis zu einem gewissen Grade Recht
geben. Es ist bekannt, dass ich die gesammten in Folge Verletzung
des Gyrus sigmoides auftretenden Symptome als Störungen der Vorstel-
lungen auffasse. Wenn nun der Hund seine Extremitäten widerstands-
los aus ihrer normalen Lage in unbequeme Stellungen bringen lässt,
sie aber alsbald wieder reponirt, während er andei'erseits eine Störung
der Sensibilität zeigt, so lässt sich dies Verhalten sehr wohl so deuten,
dass seine Vorstellungen von den Zuständen seiner Glieder, hier also
von den Zuständen der Muskulatur und der Haut, in einem gewissen,
aber nicht hohen Grade geschädigt sind. Dieser höhere und der
höchste Grad von Schädigung der bezüglichen Vorstellungen kann durch
die Totalexstirpation des Gyrus sigmoides erreicht werden und er äussert
sich darin, dass die Existenz des Gliedes im Bewusstsein vollkommen
— 15 —
ausgelöscht erscheint. Das Thier versetzt das Glied zwar bei Allgeiiiein-
bewegungen mit in Bewegung, aber die Art, in der diese Bewegungen
ausgeführt werden, ist rein zufällig, das Glied geräth dabei in ganz
beliebige, unzweckmässige und unbequeme Stellungen, ja es wird sogar
in's Leere gesetzt. Eine Folge der Auslöschung der Existenz dieses
Gliedes im Bewusstsein ist der Verlust der isolirten inteutionellen Be-
wegung, wie er sich ti. A. an dem schwebenden Hunde nachweisen
lässt, der ausser Stande ist, die von einer Nadel bedrohte Pfote zurück-
zuziehen. Sicherlich treten bei diesem Zustande eine Menge von Er-
scheinungen hervor, welche qualitativ ganz verschieden erscheinen mö-
gen; ich will aber nicht leugnen, dass sie sich sänimtlich auf die von
mir selbst aufgestellte Formel „Störung der Vorstellungen von den
Zuständen des Gliedes" zurückführen lassen, und dass insofern das
isolirte Vorkommen eines oder einzelner derselben nur eine quantitative
Bedeutung besitzt.
In der Literatur der Lehre von der Localisation im Grosshirn taucht
immer wieder ein Streit darüber auf, wie die eben erwähnten Störungen
zu bezeichnen seien. Man hat sie wohl kurzweg Lähmungen genannt
und namentlich ist dies mit Rücksicht auf die am Affen zu beobachten-
den Symptome, welche thatsächlich Lähmungen im gewöhnlichen Sinne
des Wortes d. h. Zustände von Bewegungslosigkeit sein können, ge-
schehen. Ich selbst habe den Ausdruck Lähmung mit Bezug auf das,
was man beim Hunde sieht, niemals gebraucht, und wenn man versucht
hat, ihn mir zu suppeditiren , wie dies z. B. von F'errier geschehen
ist, so habe ich dagegen stets auf das Energischste protestirt. Ich hatte
dazu meine sehr guten Gründe; denn um Lähmungen in dem gewöhn-
lichen Sinne des Wortes handelt es sich ja allerdings nicht, und wenn
dies nicht der Fall war, so musste ich n^ich zahlreichen Erfahrungen
darauf gefasst sein, dass der unvorsichtige Gebrauch eines solchen Aus-
druckes den Gegnern der Lehre alsbald eine Handhabe zu den heftig-
sten Angriffen geben würde. Ich habe mich deshalb immer darauf
beschränkt, die von mir beobachteten Zustände zu beschreiben und die
von mir gebrauchte Nomenclatur als conventioneil zu bezeichnen.
Thatsächlich handelt es sich bei dem fraglichen durch Eingriffe in
die Convexität hervorgebrachten Symptomencomplexe aber dennoch um
einen der cerebralen Lähmung des Affen und sogar des Menschen paral-
lelen, wenn auch nicht äquivalenten Zustand. Unter Umständen nimmt
dieser Zustand ganz und gar den Charakter der Lähmung an, während
er unter anderen Umständen mit einer Lähmung nicht das Geringste
gemein zu haben scheint. Letzteres trift't, wie bekannt und eben er-
wähnt, allemal dann zu, wenn der schon etwas restituirte Hund Orts-
— 16 —
oder Allgemeinbewegungen ausführt. Hebt man aber einen solchen
Hund zu der Zeit und selbst noch monate- und jahrelang nachher au
der Rückenhaut auf oder hängt man ihn in der von mir beschriebenen
Schwebe auf, so zeigen die contralateralen Extremitäten ein eigenthüm-
liches Verhalten, auf das ich zuerst in der mehrfach citirten Abhand-
lung i) aufmerksam gemacht habe. Während der normale Hund seine
Figur 1. Im Gyrus sigmoides operirter Hund in der Schwebe. Die gelähmten
rechten Extremitäten hängen herab.
Extremitäten mehr oder minder stark gebeugt zu halten pflegt, hängen'
die des operirten Hundes mehr oder minder stark gestreckt, aber nicht
steif, sondern schlaff herab. Ferner deviiren sie nach innen, eine Er-
scheinung, welche stärker hervortritt, wenn man den Hund an der
Rückenhaut hält, als wenn er in der Schwebe hängt.
Ich sehe nicht, dass man dieses schlaffe Herabhängen der Extre-
mitäten anders als im Sinne einer Lähmung auffassen kann, und da
diese Anomalie eine regelmässige Folge einer Ausschaltung des Gyrus
sigmoides ist, so wird man zu der Annahme gezwungen, dass in der
Norm von diesem Gyrus aus stetige Erregungen — eine Art von Tonus
— den Muskeln dieser Extremitäten zufliessen, durch welche die letz-
teren in jene halb gebeugte Stellung gebracht und in ihr erhalten werden,
während diese Erregungen mit dem Fortfall des Gyrus sigmoides gleich-
falls fortfallen.
Ebenso, also als Lähmungserscheinung ist auch die vorerwähnte
1) E. Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. Neue Folge. Rei'
chert's und du Bois-Reymond's Archiv. 1874. Heft 4.
— 17 —
Beobachtung aufzufassen, dass Jiämlich der Hund die kranke Pfote einer
sie bedrohenden Nadel nicht zu entziehen vennag, und das Gleiche be-
deuten die verschiedenen Beobachtungen von Goltz und Schiff, nach
denen so operirte Hunde bezw. Affen die kranken Pfoten nicht mehr
isolirt und willkürlich in Bewegung zu setzen vermögen. Dagegen un-
terscheiden sich diese cerebralen „Lähmungen" des Hundes durch das
Fehlen von Contracturen, durch die stets mehr oder minder gut erhal-
tene Fähigkeit zu Allgemeinbewegungen und durch die in viel höherem
Grade hervortretende Störung der Vorstelkuigen von den Zuständen der
afficirten Körpertheile sehr wesentlich von den cerebralen Lähmungen
höher organisirter Thiere.
Zu jenen Störungen der Vorstellung ist auch die beim Hunde bei
weitem mehr hervortretende Störung in der Wahrnehmung tactiler Reize,
Sensibilitätsstörung zu rechnen. Ich halte ihr regelmässiges Vorkommen
ungeachtet dessen, was B'errier u. A. dagegen sagen mögen, für voll-
kommen erwiesen und ein näheres Eingehen auf diese Frage deshalb
hier für überflüssig. Dagegen verdienen gewisse Beobachtungen, weiche
ich anlässlich der im Vorstehenden mitgetheilten Versuche gelegentlich
kurzweg als Sensibilitätsstörungen, ein andermal aber als Störungen der
reflectorischen Thätigkeit bezeichnet habe, noch eine Erwähnung. Es
handelt sich um die Resultate einer von mir bereits vor vielen Jahren
beschriebenen Untersuchungsmethode i). Sie besteht darin, dass man
die Hunde mit zwei Händen an der Rückenhaut aufheben lässt oder
sie in dem mehrerwähnten Schwebeapparat aufhängt und dann nach
einander die Fusssohlen berührt. Abgesehen von seltenen Ausnahmen,
die übrigens auch tageweis auftreten können, ziehen die Hunde auf
diesen Reiz die gesunden Pfoten zurück, die kranken lassen sie hängen.
Die Hinterpfoten reagiren häufig weniger gut und ausgiebig. Am besten
lässt sich der Versuch so machen, dass man die Spitzen der Zehen mit
einem kurzen, leisen Griff gleichzeitig an Rücken und Sohle anfasst^).
Die gesunde Pfote schnellt dann, wie mit Federkraft bewegt, in die
Höhe. Man sieht dann, dass die gekreuzten Pfoten entweder gar nicht-
oder — und das betrifft gerade einige Hunde, von denen jetzt die Rede
ist — langsamer und weniger ausgiebig zurückgezogen werden als die
Pfoten der verletzten Seite. Wenn ich das Ausbleiben dieser Bewegung
gelegentlich als Sensibilitätsstörung bezeichnete, so rechtfertigt die That-
1) E. Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. Neue Folge. P\,ei-
chert's und du Bois-Reymond's Archiv. 1876. Heft 6. S. 701.
2) Ich habe diesen Versuch im Vorstehenden kurz als „Begreifen" be-
zeichnet.
Hitzig, Gesammelte Abliandl. IL Theil. 2
— 18 —
Sache an sich diese Bezeichnung doch nicht, denn sie kann mit dem
gleichen Rechte als eine Störung der Reflexthütigkeit oder in der vorher
gedachten Weise bedingte Störung der willkürlichen, isolirten Bewegung
aufgefasst werden. Indessen kommt das Phänomen so häufig, oder wie
ich glaube, regelmässig gemeinschaftlich mit anderweitig nachweisbaren
Störungen der Berühruugsempfindlichkeit vor, dass ich ein Bedenken
bei der Wahl dieses Ausdruckes nicht gefunden habe.
H. Munk^) hat im Jahre 1892 ähnliche Untersuchungen mitgetheilt
luid ihr Ergebniss als Eintreten bezw. Ausbleiben von Rindenreflexen
gedeutet. Nach seiner Theorie ist dieser reflectorische Vorgang in gleicher
Weise wie der Vorgang der willkürlichen Bewegung zu erklären. Die von
bestimmten Regionen der Hautoberfläche ausgehenden Berühruugsreize
werden den ihnen zugeordneten Elementen der Rinde zugeleitet und
von ihnen auf motorische Bahnen übertragen, so dass sie als die un-
mittelbaren Ursachen der Bewegung erscheinen 2). Diese Art von Rin-
denreflexen ist angeboren, gegenüber jenen anderen Rindenreflexen, bei
denen beispielsweise der Kopf dem gereizten Körpertheil zugewendet
wird, und welche als erworben anzusehen wären. Mit den Vorstellungen
des Thieres scheint Munk weiter nicht zu rechnen. Demgemäss würde
dann auch das Ausfallen der Berührungsreflexe, d. h. also auch der
soeben von mir wiederholt beschriebenen Symptome ausschliesslich und
direct auf das Ausfallen des corticalen Uebertragungsapparates zu be-
ziehen sein. Diese Rindenreflexe unterscheiden sich dadurch von den
Rückenmarksreflexen, dass sie nur auf leise Berührungen eintreten und
nur die Zehen oder höchstens den Fuss in Bewegung setzen, während
die Bethätigung der Rückenmarksreflexe stärkere, schmerzerregende
Reize voraussetzt und dann nicht mit Bewegungen jener Theile, sondern
mit Bewegungen in den grossen Gelenken in die Erscheinung tritt ^).
Gesteht man die Berechtigung dieser Theorie zu, so würde man
allerdings gar nicht nöthig haben, die von mir vorher erwähnte Unter-
scheidung zwischen Störung der Sensibilität, der Reflexe oder der will-
kürlichen, isolirten Bewegung zu machen. Denn bei Munk's Betrach-
tungsweise kommt dies schliesslich alles auf das Gleiche hinaus. In-
dessen liegen die Dinge keineswegs so einfach, wie dies nach den wie
immer blendenden Ausführungen dieses Autors erscheinen könnte.
1) H. Munk, Ueber die Fühlsphären der Grosshirnrinde. Sitzungsbe-
richte 1892. XXXVI.
2) H. Munk, Ueber die Fühlsphären der Grosshirnrinde. Sitzungsbe-
richte. 1896. S. 14.
3) H. Munk, Ueber die Fühlsphären der Grosshirnrinde. Sitzungsbe-
richte. 1892.
— 19 —
Die physiologische Seite dieser Theorie an sich, wie sie M unk
(a. a. 0.) vorträgt, giebt den erheblichsten Bedenken Raum. Einmal
sind es doch nm- verhältuissmässig unbedeutende Partien der Hautober-
fläche, welche in der geschilderten Weise, d. h. durch Berührung mit
Dingen der Aussenwelt, eine beschränkte Anzahl von Bewegungen ver-
anlassen; die überaus grosse Mehrzahl der Bewegungen kommt in ganz
anderer, von mir wiederholt geschilderter Weise zu Stande. Ferner
basirt Munk seine ganze Auseinandersetzung darauf, dass ganz leichte
Berührungen der Zehen und des Fusses nur locale Bewegungen zur Folge
hätten, während • grobe und ausgedehnte Bewegungen in den grossen
Gelenken der Extremitäten nur auf stärkere, insbesondere schmerzerre-
gende Reize zu Stande kämen. Die letzteren seien deshalb und weil
sie nach Exstirpatiouen der Extremitätenregionen ebenso wie nach Ab-
trennung der Oblongata nicht dauernd verloren gingen, als Rückenmarks-
reflexe aufzufassen, während die ersteren, welche eben mit der Exstir-
pation dieser Regionen dauernd verloren gehen, Rindenreflexe seien.
Diese Deduction leidet nun zunächst an der Schwäche, dass bei dem
von mir geschilderten Versuch qualitativ durchaus nichts anderes ge-
schieht als bei den Munk' sehen Versuchen, dass das erzielte Resultat
aber die Munk' sehe Beweisführung direct widerlegt. Ob ich die Fuss-
spitze des schwebenden Hundes leise und ohne den geringsten Druck
auszuüben an Planta und Dorsum oder nur an der Planta mit meinen
Fingerspitzen berühre, oder ob Munk eine dieser Stellen mit dem Pin-
sel streicht oder sonst tactil reizt, kommt genau auf das Gleiche hinaus
und doch zieht der normale Hund auf diesen Reiz, wie oben erwähnt,
die ganze Extremität blitzartig unter ausgiebigster Bewegung der grossen
Gelenke zurück, er führt also gerade diejenige Bewegung aus, welche
er nach Munk nicht ausführen dürfte, weil sie ein Rückenmarksreflex
sein soll, der nicht durch Berührungsreize, sondern nur durch schmerz-
erregende Reize ausgelöst wird. Unzweifelhaft handelt es sich bei die-
sen Versuchen aber doch nur um Berührungsreflexe und ich kann weder
anatomisch noch physiologisch verstehen, wie solche Berührungen, wenn
sie die Haut in geringerer Ausdehnung trefi'en, im Gehirn, wenn sie sie
aber in grösserer Ausdehnung treffen, im Rückenmark übertragen wer-
den sollen. Ueberdies scheint es mir durch pathologische Erfahrungen
hinreichend erwiesen, dass eine üebertragung tactiler Reize auf ganz
beliebige, also sowohl auf die die grossen, als auch auf die die kleinen
Gelenke bewegenden Motoren im Rückenmark vor sich gehen kann.
Hiernach kann ich nicht zugestehen, dass man jene durch tactile
Reize ausgelösten Bewegungserscheinungen ohne Weiteres als Reflexe
der Hirnrinde und ihren Fortfall nach Eingriffen in den Gyrus sigmoides
— 20 —
ohne Weiteres auf den Ausfall der Hirnrinde beziehen darf. Es wäre
möglich, dass es sich so verhielte, aber es ist nicht bewiesen. Als ein-
ziger Beweis könnte die zeitliche Aufeinanderfolge der Exstirpation und
des Ausbleibens des Reflexes augeführt werden; die zeitliche Folge be-
dingt aber bekanntlich nicht nothweudig einen ursächlichen Zusammen-
hang. Um so weniger darf dieser Punkt aus dem Auge verloren wer-
den, als uns bereits eine grosse Anzahl von indirecten, durch subcorti-
cale Centren vermittelten Folgen corticaler Eingriffe bekannt sind. Das
lang anhaltende, ja sogar permanente Ausbleiben jenes Berührungs-
reflexes könnte also sehr wohl auf Veränderungen in spinalen Reflex-
centren, welche durch die secundäre absteigende Degeneration veranlasst
wären, bezogen werden.
Hiezu kommt noch ein anderes. Die Darstellung von Munk von
dem Verhalten und der Wiederkehr derjenigen Reflexe, welche er Ge-
meinreflexe nennt und auf das Rückenmark bezieht, ist nicht richtig
oder doch nicht zutreffend. Er sagt darüber wörtlich i): „Mau muss die
Zehen in den ersten Tagen nach der Operation sehr stark, später aller-
dings mit der Zeit immer weniger stark, aber schliesslich noch etwas
drücken, damit eine Reaction eintritt". Ich bestreite nicht, dass Hunde
zu gewissen Zeiten auf Druck in der geschilderten Weise reagiren, aber
die Untersuchung durch einen allmählig zunehmenden Druck eignet sich
nicht für die Entscheidung der Frage, ob der Hund auf einen schmerz-
erregenden Reiz mit einer normalen Reflexbewegung antwortet oder
nicht; denn wenn man ein Pfote längere Zeit drückt, so treten je nach
der seit der Operation verflossenen Zeit früher oder später Schwimm-
bewegungen — wie ich es nenne, Strampelbewegungen — wie Munk
es nennt — ein, und dass es auch bei den Versuchen dieses Autors
nicht anders zugegangen ist, scheint mir aus dem Wortlaut seiner
eigenen Darstellung hervorzugehen. Diese Art von Bewegungen kann
man aber sicherlich nicht als eine Function des Rückenmarks auffassen,
sondern sie sind sicherlich solchen Allgemeinbewegungen wie das Lau-
fen, das Schwimmen im Wasser etc. parallel zu setzen und ihrem Ur-
sprünge nach in das Grosshirn zu verlegen; treten sie doch auch in
genau gleicher Weise auf, wenn ich der Pfote des schwebenden Hundes
eine Nadel nähere, ohne damit aber seine Haut zu berühren. Ich habe
dies schon früher geschildert 2).
1) H. Munk, Ueber die Fühlsphären der Grosshirnrinde. Sitzungsbe-
richte. 1892. S. 13, 14.
2) E. Hitzig, Ueber Functionen des ürosshirns. Berliner klin. Wochen-
schrift. 1886. No. 40.
— 21 —
Untersucht man aber den schwebenden Hund mit einem kurz
dauernden schmerzerregenden Reiz, so sieht man etwas ganz anderes.
Sticht man ihn einmal kurz in die Planta der gesunden Vorderpfote,
so schnellt diese mit einem kurz dauernden Ruck unter Beugung der
grossen Gelenke in die Höhe; beginnt man aber den Versuch mit einem
einmaligen kurzen Stich in die Planta der kranken Vorderpfote, so
schnellt diese nicht in die Höhe, sondern bleibt schlaft' herabhängen.
Erst bei wiederholtem oder längerem Stechen treten Schwimmbewegun-
gen ein. schneller bei Reizung der gesunden, langsamer bei Reizung
der kranken Pfote. Thatsächlich fehlen also bei dem im Gyrus sigmoi-
des operirten Hunde nicht nur die von Muuk in die Rinde verlegten
Berührungsreflexe, sondern auch die von ihm in das Rückenmark ver-
legten „Gemeinreflexe" und das, was er auf Grund seiner uuzweckmässi-
gen üntersuchungsmethode für den normalen — oder vielleicht, er sagt
es nicht, modificirten Rückenmarksreflex hielt, war nur der Anfang von
A llgemeinb e wegungen .
Besonderes Gewicht ist darauf zu legen, dass dieser geschilderte
Ablauf der Erscheinungen nicht nur „in den ersten Tagen nach der
Operation", sondern monatelang zu beobachten ist, dass er also nicht
von einer vorübergehenden Hemmung, welche Munk für die erste Zeit
nach der Operation zugesteht, abhängen kann. Vielmehr wird man dem
Ausfall des Reflexes auf schmerzerregende Reize unzweifelhaft denselben
Ursprung zuschreiben müssen, wie dem Ausfall des Reflexes auf tactile
Reize. Uebrigens kommt es bei allen im Vorstehenden besprochenen
Versuchen gar nicht darauf an, ob der Hund den ihm drohenden Reiz
mit den Augen verfolgen kann oder nicht, worauf Munk Gewicht legt.
Der schwebende Hund entzieht die gesunde Pfote der drohenden Nadel,
während er die kranke Pfote ihr ebenso wenig isolirt zu entziehen ver-
mag, wie der Affe mit der kranken Hand die begehrte Feige ergreifen
kann. Selbstverständlich reagirt der Hund auf die Annäherung des
Pinsels und des Fingers erst recht nicht.
Ich verhehle mir gar nicht, dass der Sachverhalt durch meine
Schilderung der Versuchsergebnisse complicirter und einer einfachen
Erklärung weniger zugänglich wird. Bei weitem am einfachsten wäre
es, wenn der Hund, wie geschildert, nur auf Annäherung der Nadel die
gelähmt herabhängende Extremität nicht zurückziehen könnte, aber seine
Reflexerregbarkeit gegen tactile und schmerzerregende Reize bewahrt
hätte. Man käme dann mit der Formel aus: Der Hund hat die Fähig-
keit der isolirten intentionellen Bewegung des Gliedes, welche eine
Function des Bewusstseins, der verletzten Hirnrinde ist, verloren, aber
die reflectorische Function der subcorticalen Mechanismen ist intact.
— 22 —
p]infacher auch wäre es, wenn Muuk mit seiner Darstellung Recht
hätte, so class also thatsächlich nur solche Functionen, welche nach-
weislich der Rinde zugehören, verloren gegangen wären, die Functionen
der subcorticalen Mechanismen aber wirklich nicht gelitten hätten. Lei-
der trifft aber weder das eine noch das andere zu. Indessen ist es
nicht die Aufgabe des physiologischen Versuches, das Einfachste zu
finden, sondern die N\^ahrheit zu finden; ist das Einfachste die Wahrheit,
dann um so besser.
Die physiologisch-psyclKtlogischen Auffassungen, welche sich mir
bei meinen früheren Versuchen aufdrängten und welche mir auch den
hauptsächlichsten Anlass zu den hier mitgetheilten Versuchen gaben,
haben sich, also als berechtigt nicht erwiesen. Durch den Versuch am
Hunde lässt sich nicht beweisen, dass andere als die sogenannten moto-
rischen Areale der Hirnrinde einen unmittelbar bestimmenden Einfluss
auf die Energie der motorischen Innervation besitzen. Allerdings ist
hiermit nicht gesagt, dass das psychologische Problem, welches ja auch
auf ganz anderen Erwägungen beruht, hiermit in negativem Sinne ent-
schieden sei. Denn es ist uns vorläufig noch so gut wie unbekannt,
in welcher Weise sich das Zusammenwirken der einzelnen corticalen
und subcorticalen Organe für das Zustandekommen der von uns so ge-
nannten willkürlichen Bewegungen in der Norm und imter den durch das
Experiment willkürlich veränderten Bedingungen gestaltet. Auch hier
finden wir eine der zahlreichen Aufgaben, deren Lösung vielleicht der
Zukunft vorbehalten bleibt.
II. Der Versuch Loeb's.
Derjenige Versuch, welchen ich als den Versuch Loeb's bezeichne,
ist von diesem Autor schon in seiner ersten Arbeit i) beschrieben
worden. Er besteht darin, dass man dem einseitig operirten Hunde
gleichzeitig zwei Stücke Fleisch vorhält, von denen das Eine sich auf
der besser sehenden, das Andere sich auf der schlechter sehenden Netz-
hautpartie abbildet. Der Hund springt dann nach dem Ersteren auf.
Wenn man jedoch das andere Fleischstück schüttelt, während das Erste
ruhig bleibt, so sucht er sich des geschüttelten Fleisches zu bemächtigen.
Loeb schloss hieraus, „dass der ganze Unterschied im Sehen für beide
Gesichtsfeldpartien darin besteht, dass die Reizschwelle für alle Reize
aus der vernachlässigten Gesichtsfeldpartie erhöht ist".
Dieser Versuch ist an sich ganz interessant und da der Werth der
Erhöhung der Reizschwelle unendlich gross sein kann, so dass der Hund
dann eben auf der betreffenden Partie gar nicht sieht, so ist auch gegen
den Schlusssatz in seiner allgemeinen Fassung nicht viel einzuwenden.
Oppenheim^) hat ähnliche Versuche mit Bezug auf die Hautsensibilität
an halbseitig gelähmten Menschen mit ähnlichem Erfolge angestellt und
auch aus meiner eigenen Klinik ist durch einen meiner Assistenten, Herrn
Dr. L. Bruns^), eine einschlägige Beobachtung mitgetheilt worden.
Loeb selbst aber hat die Wichtigkeit seines Versuches bald viel
höher geschätzt. Bereits in seiner nächsten Publication*) unternahm
er es, mit Hülfe desselben Gesetze aufzustellen, die „thatsächlich alle
Störungen, welche nach oberflächlicher Verletzung des Grosshirns vorher
intacter Thiere beobachtet worden sind, umfassen" sollen.
1) J. Loeb, Die Sehstörungen nach Verletzung der Grosshirnrincle.
Pflüger's Archiv Bd. XXXIV. 1884. S. 54.
2) H. Oppenheim, üeber eine etc. Untersuchungsmethode. Neurol.
Centralbl. 1885. 23.
3) L. Bruns, Ein Beitrag zur einseitigen Wahrnehmung doppelseitiger
Reize bei Herden einer Grosshirnhemisphäre. Ebenda. 1886. 9.
4) J. Loeb, Die elementaren Störungen einfacher Functionen nach ober-
tlächlicher umschriebener Verletzung des Grosshirns. Pflüger's 7\.rchiv
Bd. XXXVIL S. 51ff. •
— 24 — '
In einer dritten Arbeit i) sagt er: „Für die geschilderte Selistöruug
habe ich den Namen Hemiamblyopie vorgeschlagen". Freilich ge-
hört zu seiner Schilderung dieser Hemiamblyopie noch die Beobachtung,
dass die Zeit zwischen Vorhalten des Fleisches und Erfassen desselben
für den die gekreuzte Netzhauthälfte treffenden Reiz grösser ausfällt als
für die gleichnamige Seite. Da der Autor jedoch ausdrücklich hinzufügt,
dass diese Zeit sich bei verschiedenen Thieren nicht proportional dem
Grade der Sehstörung verhielt und dass die Mehrzahl dieser seiner
Versuchsthiere auch Dreh Störungen hatte, so ist zunächst noch nicht
klar, wie gross der auf die Sehstörung und wie gross der auf die Dreh-
störuug oder vielleicht richtiger gesagt „die Motilitätsstörung" fallende
Abschnitt des Zeitzuwachses sich bei'echnet. Es ist sogar nach dem,
was wir sonst über den Mechanismus der „Drebstörungen" durch ge-
wisse Bemerkungen von Goltz und gerade auch von Loeb wissen, von
vorn herein durchaus nicht unwahrscheinlich, dass die Verlängerung
des Intervalls zwischen Reiz und Vollendung des Bewegungsacts in einei
Anzahl von Fällen eine reine Bewegungsstörung ist, also gar nichts für
eine bestehende „Hemiamblyopie" beweist. "Wir kommen darauf zurück.
Da nun jene „Alles umfassenden Gesetze" Loeb 's vornehmlich auf
den Symptomen seiner „Hemiamblyopie" fussen und dieselben bei Thieren,
welchen er den Vorderlappen (rectius Vorderlappen und Gyr. sigmoid.)
exstirpirte, den höchsten Grad erreichten, welchen Loeb jemals beob-
achtete, und ungeachtet einer Besserung überhaupt nicht verschwanden 2),
so war es von Wichtigkeit festzustellen, ob denn die Existenz einer
Sehstörung wenigstens durch den positiven Erfolg desLoeb-
schen Versuches mit Sicherheit erwiesen wird. Goltz hat in
seinen letzten Arbeiten als ein Resultat seiner fortgesetzten Untersuchungen
zugegeben, dass hochgradigere imd anhaltendere Sehstörungen durch
Eingriffe in den hinteren Theil des Gehirns, hochgradigere und an-
haltendere Motilitäts- und Sensibilitätsstörungen durch Eingriffe in den
vorderen Theil des Gehirns entstehen. Loeb seinerseits schwächt
nicht nur dieses Gesammturtheil in seinen eigenen Resumes erheblich
ab, sondern er macht auch eine Anzahl von Versuchen namhaft — und
zu diesen gehört der zuletzt citirte • — welche gerade das Gegentheil
ergaben, nämlich den Eintritt von hochgradigeren und anhaltenderen
Sehstörungen als Folge nicht von Verletzungen der hinteren, sondern
1) J. Loeb, Beiträge zur Physiologie des Grosshirns. Plüger's Archiv
Bd. XXXIX. S. 275.
2) J. Loeb, Beiträge zur Physiologie des Grosshirns. Plüger's Archiv
Bd. XXXIX. S. 316.
— 25 —
der am meisten nach vorn gelegenen Theile des Gehirns. Diese und
andere Erscheinungen treten nach seiner Anschauungsweise nicht ge-
setzmässig ein, sondern sie werden durch Zufälligkeiten — Nebenbe-
diugungen verursacht. Er gelangt so zu Theorien und Gesetzen über die
physiologischen Aufgaben des Gehirns und der pathologischen Störun-
gen derselben, deren Discussion im Einzelnen ich mir an dieser Stelle
versagen darf.
Loeb ist vielleicht nvu* zu sehr bereit „Gesetze zu formuliren".
Dem gegenüber sei es gestattet an jenen früher bereits von mir citirten
Ausspruch Fechner's zu erinnern: „Die Sicherstellung, Fruchtbarkeit
und Tiefe einer allgemeinen Ansicht hängt überhaupt nicht am Allge-
meinen, sondern am Elementaren". Unstreitig Avird es zu allererst dar-
auf ankommen, Gesetzmässigkeit in der Folge der Erscheinungen her-
zustellen und die Ursachen für die scheinbaren Abweichungen von der
allgemeinen Regel aufzudecken. Erst wenn das gelungen ist, mag man
an die Formulirung von Gesetzen gehen; aus der Ungesetzmässigkeit
im Elementaren, d. h. in den unmittelbaren Ergebnissen der Versuche
werden Gesetze, die etwas bedeuten, niemals erwachsen.
Ich verkenne gar nicht, dass jede Verwundung des Gehirns höchst
complicirte Bedingungen setzt, denen wir bisher nur wenig nachzugehen
im Stande sind und dass aus dieser Complication Verschiedenheiten in
dem Erfolge anscheinend gleicher Eingriffe entstehen können, mit denen
wir Alle rechnen müssen. Um so mehr kommt es darauf an, dass der-
jenige, welcher die Bearbeitung so schwieriger Fragen unternimmt, vor
allen Dingen die Identität der Bedingungen von Parallel versuchen mit
aller Strenge controllirt. Dass Loeb hierin noch viel zu lernen hat,
habe ich an anderer Stelle nachgewiesen. Es ist aber begreiflich, dass
die Zahl der scheinbaren Ausnahmen ins Ungemessene zunehmen muss,
wenn in dieser Weise gefehlt wird. Einen anderen Grund für den Irr-
thum Loeb 's in der Beurtheilung der experimentell erzeugten „Seh-
störungen" werden wir jetzt kennen lernen.
Ich erinnere daran, dass der Werth des Loeb 'sehen Versuches mit
seinen Consequenzen darauf beruht, dass die bei demselben zu be-
obachtenden Erscheinungen wirklich immer durch Störungen
des Sehapparates und nicht vielmehr durch irgend welche
andere Factoren bedingt sind. Wäre das Erstere zutreffend, so
würde damit allerdings wieder eine bedenkliche Unsicherheit nach dem
Sinne Loeb 's in der Lehre von der Dignität der einzelnen Hirnabschnitte
entstehen.
Bei der Beurtheilung der Frage hat man zunächst 2 Perioden streng
auseinanderzuhalten: eine frühere, während deren der Hund die im ge-
— 26 —
kreuzten Gesichtsfeld befindlichen Gegenstände nicht oder doch sehr
schlecht sieht und eine spätere, während deren er sie — sagen wir zu-
vöi'derst — besser sieht.
üeber das Verhalten der Thiere während der ersten Periode be-
steht kein Streit, sie beachten solche Gegenstände, wie Fleisch, Licht
etc., nicht, welche sie mit der afficirten Partie des gekreuzten Auges
sehen sollten. Loeb hat im Wesentlichen imr insofern eine von den
Angaben der Autoren abweichende Ansicht, als er irrthümlich eine
Hälfte des Gesichtsfeldes als vernachlässigt bezeichnet, während zu
dieser Zeit thatsächlich anf dem gekreuzten Auge mehr, auf dem gleich-
seitigen Auge weniger als die Hälfte ausgeschaltet ist, eine Thatsache,
die sich übrigens ungeachtet dessen, was er sonst sagt, in einigen seiner
eigenen, in dieser Beziehung widerspruchsvollen Angaben bestätigt findet.
Auch die Angabe Loebs, dass ein links operirter Hund während
der zweiten Periode, also wenn er besser sieht, von 2 ihm gleichzeitig-
unter gleichen Bedingungen gezeigten Stücken Fleisch auch dann, wenn
die Hirnwunde vorn sitzt, stets das links von ihm befindliche nimmt,
ist für lange Zeitabschnitte zutreffend. Fraglich ist nur, aus welchem
Grunde er die linke Seite bevorzugt. Loeb selbst hatte sich schon
die Frage vorgelegt, ob jener Grund nicht in einer Störung der Be-
wegung oder des Geruchsinnes zu suchen sei und sich dann in nega-
tivem Sinne entschieden; wir werden sehen, dass und aus welchen Grün-
den er sich getäuscht hat.
Ich werde zuerst meine eigenen, an einem sehr intelligenten ab-
gerichteten Schäferhund während einer langen Beobachtungszeit ge-
machten Erfahrungen schildern i).
Ich hatte ihm den ganzen linken Gyrus sigmoid. bis annähernd auf
den Grund der Windung entfernt und nur den hintersten medialen Theii
desselben stehen lassen. Die Blutung war aus dem Knochen fast null,
aus der Hirnwunde massig gewesen, die Wunde per primam geheilt.
Am 2. Tage hatte er eine massige Drehstörung nach links, sah auf dem
rechten Auge Fleischstücke nur mit einem ganz schmalen temporalen
1) Bei dieser Gelegenheit mache ich die Bemerkung, welche überflüssig
sein sollte, aber nach üblen Erfahrungen nicht überflüssig ist, dass beispiels-
weise beschriebene Versuch sthiore nicht die einzigen sind, an denen ich die
zu beschreibenden Erscheinungen studirt habe, sondern dass ich in jedem
Falle, in dem nicht ausdrüclclich das Gegen theil gesagt ist, so lange gleich-
lautende Erfahrungen gesammelt habe — und stets zu sammeln pflege — bis
ich von der Constanz der Erscheinungen überzeugt war. Der Exemplification
bediene ich mich genau wie diejenigen, die, wie z. B. Herr Goltz, das ge-
legentlich nicht verstehen wollen, im Interesse der Darstellung.
— '27 —
Streifeil der Netzhaut, stiess viel mit der rechten Seite des Kopfes an
und Hess bei übrigens grosser Munterkeit einen sehr ausgesprochenen
Defect der Intelligenz erkennen. Wer ihn früher nicht gekannt hatte,
der würde freilich nichts davon gemerkt habeji, wir sahen aber alsbald,
dass der Hund nicht nur eine Anzahl der früher gelernten Kunststücke
nicht mehr wusste, sondern auch den "Weg aus dem Hundestall über
die Treppe und die Gänge des Instituts, den er früher im Sturm nahm,
nicht mehr fand. Dieser Defect verlor sich aber bald wieder, so dass
der Hund schon am Ende der ersten Woche in dieser Beziehung resti-
tuirt erschien.
Die Drehung, soweit sie in Voltelaufen bestand, verlor sich zu
Anfang der 3. Woche.
Die Sehstörung war zw'ar bereits am 4. Tage viel geringer,
immerhin am 7. Tage noch hochgradig, in der Mitte der 4. Woche noch
in der Reaction auf Fleisch nachweisbar und verlor sich dann. Es ist
unnütz, hier Näheres über den Ablauf dieser Erscheinungen zu sagen,
da ich mich auf die Mittheilung von Beobachtungen beschränken werde,
die während einer viel späteren Periode, nämlich 5 Monate nach der
ersten Operation und später gemacht wurden. Inzwischen war der Hund
3 Monate nach jener ersten einer zweiten Operation unterzogen worden.
Vor derselben wurde ein genauer Status aufgenommen (die Erscheinungen,
von denen die Rede sein wird, waren im Wesentlichen schon damals und
früher constatirt worden), dann wurde die Stelle der ersten Operation
Avieder aufgedeckt, die Knochenwunde nach hinten erweitert, der stehen
gebliebene Rest des Gyrus sigmoid. umrissen, mit dem Präparatenheber
in der Fissura longitudinalis bis auf den Balken vorgedrungen und der
ganze Rest des Gyrus bis auf die Balkenstrahlung herausgehoben. Am
2. Tage war wieder eine Sehstörung auf beiden Augen und eine Dreh-
störung (diese schon gleich nach der Operation) nachweisbar, aber diese
Symptome verloren sich überraschend schnell, wie denn überhaupt die
Summe der diesmal producirten Krankheitserscheinungen gegen die
Grösse des Eingriffs erstaunlich gering war^).
Wieder 2 Monate später fand sich nun Folgendes:
Von einer Drehstörung, so dass der Hund Volte läuft, ist keine
Rede; ebensowenig liegt er mit dem Rücken nach rechts convex. Den
anderweitigen Zustand der Motilität und den der Sensibilität über-
eehe ich.
1) Der in Rede stehende Versuch gehört zu denen, die mich überzeugt
haben, dass es bei grösseren Exstirpationen und beim Hunde auf kleine
stehen gebliebene Pveste unmöglich ankommen kann. Goltz hat hierin ganz
Recht. Aui Vögel und Frösche findet das Gesagte natürlich keine Anwendung.
— 28 —
Das Sehvermögen ist vortreiflich. Nicht nur findet sich in der
Schwebe nicht die geringste Differenz zwischen den beiden (abwech-
selnd verklebten) Augen, sondern ein in meinen bisherigen Aufsätzen
nicht erwähnter Versuch, welcher weit grössere Anforderungen an das
Sehen stellt, erwies die vollkommene Intactheit dieses Sinnes. Der Hund
war nämlich unter Anderem darauf abgerichtet, ihm zugeworfenes Fleisch
zu fangen; nicht gefangenes musste er liegen lassen. Liess ich ihn nun
einen Atollen Fleiscbteller fixireu und warf ihm dann seitlich kleine Fleisch-
stückchen zu, so dass sie bald bei dem rechten, bald bei dem linken
Auge vorbeiflogen, so fing er sie sämmtlich mit untrüglicher Sicherheit.
Machte ich den Loeb 'sehen Versuch, so sprang der Hund stets
nach links auf. Aenderte ich den Versuch in der Weise ab, dass ich
in jeder Hohlhand eine leere Pinzette verbarg, welche ich dem Hunde
mit einer schnellen Drehung der Hand präsentirte, so sprang er das
erste Mal nach der linken Pinzette mit solcher Heftigkeit auf, dass er
sie halb verschluckte, das zweite Mal sprang er wieder nach der linken
auf, beschnupperte sie aber nur, das dritte Mal beschnupperte er, un-
zufrieden mit der linken Pinzette, die rechte. Nun wurden ihm zwei
Fleisch pinzetten (Fleisch tragende) in gleicher Weise präsentirt — er
ging regelmässig nach links.
Sodann zeigte ich ihm links eine leere und rechts eine Fleisch-
pinzette. Hier verhielt sich nun der Hund je nach der Reihenfolge der
Versuche verschieden. Begann ich mit diesem Versuche, so beachtete
er das lang herabhängende Stück Fleisch gar nicht, sondern sprang zu-
erst stets nach der leeren Pinzette; war er aber, wie bei der geschil-
derten Versuchsreihe durch wiederholte Enttäuschungen bereits ge-
witzigt, so setzte er die ersten Male zwar regelmässig zum Sprunge
nach links an, er sprang aber nicht, sondern betrachtete sich erst
sein Ziel und ging, als er dies der Bemühung unwerth fand, nach
rechts.
Es versteht sich von selbst, dass die Vernachlässigmig des Fleisches
bei diesen Versuchen nicht durch eine Seh Störung, sondern lediglich
durch Mangel an Aufmerksamkeit bedingt ist. Ein Thier, welches im
Stande ist, ein schnell bei seinem rechten Auge vorbeifliegen-des kleines
Stück Fleisch zu erhaschen und auch sonst keine Sehstörung erkennen
lässt, wird natürlich auch im Stande sein, ein 10 mal so grosses Stück
Fleisch, welches ihm plötzlich gezeigt wird, mit diesem Auge zu sehen
und erst recht wird sein linkes Auge zu der Erkenntniss der Leerheit
der linken Pinzette befähigt sein. Oflenbar beachtet aber der Hund zu-
vörderst gar nicht das Fleisch oder die Pinzetten, sondern nur die Hand-
bewegung und erst dann beginnt er seine Aufmerksamkeit zu schärfen.
— 29 —
wenn er bei seinen ßemüliungen ein oder mehrere Male leer ausgegangen
ist. Wenn der Hund also gleichwohl zunächst ausnahmslos nach links
geht, so kann das nicht daher rühren, dass er das rechtsseitige Fleisch
nicht oder undeutlicher sieht, indessen wäre es möglich, dass er seine
Aufmerksamkeit weniger auf das Fleisch als auf die Handbewegung ge-
richtet hätte und dass er die rechtsseitige Handbewegung undeutlicher
sah. Angesichts der mitgetheilten Umstände und der langen, auch seit
der zweiten Operation verflosseneu Zeit erschien zwar dieser Einwand
von vorn herein sehr wenig wahrscheinlich. Indessen musste er gänz-
lich beseitigt werden.
Zu diesem Zwecke hielt ich dem Hunde, dessen auf andere Weise
geprüfter Geruchsinn beiderseits iutact war, meine beiden geschlosseneu
Fäuste vor die Nase. Als er sie eifrig beschnüffelte, entfernte ich sie
schnell von einander, der Hund folgte nach links. An der Wieder-
holung nahm er aber bald kein Interesse mehr, weil er kein Fleisch
roch. Nahm ich dann ein Stück Fleisch in jede oder auch nur in die
linke Faust, so war er wieder eifrig bei der Sache, folgte aber, auch
wenn er vorher die linke Faust beschnüffelt und beleckt hatte, dennoch
regelmässig der rechten nach links. Verklebte ich ihm beide Augen,
so änderte sich insofern nichts, als er sich, wenn er überhaupt folgte,
nach links drehte. Indessen bekümmerte er sich, wie andere Thiere in
dieser Lage vielfach mehr um die Befreiung seiner Augen, als um das
Fleisch.
Es geht also aus diesem Versuche hervor, dass der den Hund nach
links in Bewegung setzende Antrieb überhaupt nicht aus einer Gesichts-
wahrnehmung resultirt, also auch bei dem vorher erwähnten Versuche
nicht darauf zurückgeführt werden kann, dass er die sich auf seiner
linken Retina abspiegelnde Handbewegung deutlicher sah als die der
anderen Seite.
Loeb bemerkt a. a. 0. kurz „die Erscheinung (die Bevorzugmig
der linken Seite) hört auf nach Verkleben beider Augen." Ich nehme
an, wenn er es auch nicht ausdrücklich sagt, er habe den Thieren zwei
Fleischstücke dicht vor die Nase gehalten und die Hunde hätten nun
bald das linke, bald das rechte genommen. Es kommt natürlich sehr
darauf an, wie man den Versuch macht, insbesondere, ob die Thiere
nur durch eine Ortsbeweguug in den Besitz des Geruchsobjectes kommen
können; unter dieser und sonst gleichen Bedingungen dürften sich aber
auch die Hunde Loeb 's wohl nach links wenden. Uebrigens ist es
ganz gleichgültig, ob man den Hunden bei diesen Versuchen die Augen
verklebt oder nicht. Wenn der Geruchsinn einmal in Anspruch genom-
men ist, so treibt er das Thier, nicht aber der Gesichtssinn zur Er-
— 30 —
hascliung der Nahrung. Nach welcher Seite sich dann die dazu er-
forderliche Bewegung richtet, kann von ganz anderen Factoren als von
der Schärfe dieser Sinne abhängen. Das geht schon aus dem Versuch
mit der leeren Pinzette hervor und wird noch deutlicher durch einen
gleich anzuführenden Versuch erwiesen. Hiernach halte ich das Sym-
ptom, aus demLoeb eine „typische Hemiamblyopie" diagnosticirt,
keineswegs für ein sicheres Zeichen einer Sehstörung, sondern führe
dasselbe in einer Reihe von Fällen auf eine Störung der motorischen
Innervation zurück.
Indessen kann es in einer anderen Reihe von Fällen auch eine
Sehstörung bedeuten. Nimmt man einem Hunde ein Stück des linken
Hinterlappens z. B. Munk's Stelle A^, so bevorzugt er, so lange er
eine Sehstörung hat, bei dem ersten Versuch, den man mit ihm an-
stellt, regelmässig — selbstverständlich — auch wenn er keine Bewe-
gungsstörung hat, das linke Fleischstück.
Auf Grund dieser Methode kann man eine Sehstörung also nur
dann diagnosticiren, dafern sie schon auf andere Weise nachgewiesen
ist. Wenn der Hund lediglich regelmässig das Fleisch der einen oder
der anderen Seite bevorzugt, so beweist das an und für sich — nichts.
Aber Loeb hat weiter angegeben, dass der Hund die gleiche Seite
nur so lange bevorzugt, als man das Fleisch der anderen
Seite nicht oscilliren lässt. Sobald dies geschieht, springt der
Hund nach dem oscillirenden Fleisch. In der That springt der Hund
nach dem oscillirenden Fleisch, Herr Loeb hat uns dies auf der Natur-
forscherversammlung zu Berlin demonstrirt und ich selbst habe den
Versuch oft genug mit gleichem Erfolge augestellt. Fraglich ist nur
ob der Hund, wie Loeb annimmt, lediglich deshalb in der geschilderten
Weise reagirt, weil ein bewegter Gegenstand ein stärkerer Reiz
für das Sehorgan ist als derselbe Gegenstand in der Ruhe, oder ob
auch hier andere Factoren mitspielen.
Wir sahen in Berlin, wie das Versuchsthier Loeb 's gleichsam zur
Belohnung für die höchst exacte Ausführung der Leistung das Fleisch
erhielt und verspeiste. V\'enn jenes Thier und die Versuchsthiere Loeb's
überhaupt in dieser Weise erzogen werden, so erklärt sich zum Theil
hieraus, zum Theil allerdings aus dem Umstände, dass jener Forscher
den Hund viel zu sehr als Reflexmaschine betrachtet, sowie jede Be-
schäftigung mit den Vorstellungen des Hundes als unphysiologisch ver-
wirft, seine Ansicht über den Werth dieses Theils seines Versuches.
Ich wähle, zur Erläuterung dessen, was ich zu sagen habe, zunächst
wieder ein Beispiel.
Ein Schäferhund, dem ich linkerseits die Stelle A^ M unk 's fort-
— 31 —
genommen hatte, sah nach Verhiuf von 14 Tagen auf dem rechten Auge
schon wieder erträglich, war aber immerhin noch ziemlich arablyopisch.
Er folgte also kleinen Stücken Fleisch mit Leichtigkeit, ignorirte aber
ein brennendes Streichholz, während er sich voll Abscheu abwandte,
wenn ich ihm dasselbe vor das andere Auge hielt. Auch war der Lid-
reflex nur durch Annäherung der gajizen Handfläche und sogar auf diese
Art nur schwach hervorzurufen. Drehstörungen hatte das Thier zu
keiner Zeit. "Wenn ich diesem Hunde jetzt zwei Fleischpinzetten vor-
hielt, so stürzte er sich regelmässig auf die linke, er bekam aber nichts.
Als ich nun das rechte Fleisch oscilliren Hess, so war dem Hunde zu-
nächst — und darauf kommt es an — gar nicht begreiflich zu
machen, dass eigentlich dieses Stück Fleisch für ihn bestimmt war, er
capricirte sich auf das linke. Dabei konnte nicht die Rede davon sein,
dass der Hund das Fleisch oder die Oscillationen nicht gesehen hätte,
da er das Erstere berücksichtigte, wenn es ihm allein gezeigt wurde
und da er nacli Verklebung des anderen Auges jeder Bewegung des
Armes oder der mit einem viel kleineren Stückchen Fleisch armirten
Zange recht gut folgte.
Ich bemerke hierzu, dass hinten operirte Thiere sich in der Regel
so verhalten. Erst wenn solche Thiere sehr viel besser sehen, ver-
stehen sie den Wink ohne viele Mühe und gehen nach rechts, immer-
hin w4rd man finden, dass dies nur selten auf das allererste Schütteln
geschieht. Nehmen wir dagegen einen im linken Gyrus sigmoides ope-
rirten Hund mit einer scheinbaren Sehstörung, der also auch nach
Ablauf der wirklichen Sehstörung mit' grösster Fromptheit nach dem
linken Fleisch aufspringt, so ist dessen Aufmerksamkeit durch
Schütteln des Fleisches sehr leicht von links nach rechts abzulenken.
Nachdem ich nun jenem Schäferhunde mit dem oscillirenden Fleisch
sehr nahe, bis fast an die Nase gerückt war, fand er für gut, dasselbe
zu verspeisen. Bei dem zweiten Versuch brauchte ich schon nicht mehr
so zudringlich zu werden und so ging es leichter und leichter, bis der
Hund sich nach dem 6. Stück um das linke Fleisch überhaupt nicht
mehr kümmerte, obwohl ich diesem nun die dreifache Grösse gegeben
hatte. Am folgenden Tage hatte der Hund bei wenig veränderter Seh-
störung die Lection des Vortages so wenig vergessen, dass er sich von
vorn herein nach rechts wandte. Als ich dann ein ungeheures Stück
Fleisch links auf das Heftigste in anhaltende Oscillation versetzte, sah
der Hund gar nicht einmal hin. Näherte ich nun beide jetzt gleich-
grosse Stücke einander, so dass sie sich berührten, um sie dann schnell
von einander zu entfernen, so drehte sich der Hund zuerst regelmässig
— 32 —
nach links, wandte sich dann aber sofort wieder dem rechten Stück
Fleisch zu.
Die Versuche wurden mit mehrtägigen Pausen, während sich das
Sehvermögen allmählig weiter besserte, wiederholt und niodificirt, ohne
den Hund jedoch ferner vorwiegend von rechts her zu füttern. Dabei
zeigte sich, dass der Hund, sobald einige Tage Intervall gelassen waren,
auf das erste Zeigen der Fieischstücke stets nach links wollte; hatte
er aber ein einziges Stück von rechts her erhalten, so machte ihm
alles Oscilliren des linken Fleisches nicht den geringsten Eindruck mehr.
Setzte ich nach einer kurzen Pause den Versuch in der Weise fort,
dass ich alsbald mit Oscilliren des linken Fleisches begann, so sah der
Hund zwar stets zuerst nach links, drehte sich aber doch sofort nach
rechts. Begann ich meinen Versuch nach nur eintägiger Pause damit,
dass ich links ein -grosses Stück Fleisch in der Pinzette schüttelte mid
dem Thiere rechts eine leere Pinzette unbeweglich vorhielt, so sprang
er nach der leeren Pinzette.
Bei den Versuchen von Loeb wie bei den meinigen, wendete sich
der Hund also stets zuerst nach der Operati ousseite; während er sich
aber bei Loeb durch Schütteln des Fleisches der „amblyopischen" Seite
nach dorthin ablenken liess, ging er bei meinen Versuchen von selbst
nach dieser Seite und liess sich nicht einmal durch Schütteln des Flei-
sches, welches er mit dem gesunden Auge sah, irgendwie bestimmen.
Käme es, wie Loeb will, nur auf den stärkeren Reiz des bewegten
Gegenstandes mit Ausschluss anderer Factoren an, so hätte der Hund
sich doch offenbar durch das Fleisch, welches vor seinem gesunden
Auge bewegt wurde, erst recht nach dorthin ablenken lassen müssen.
Bei allen diesen Versuchen war das Intervall zwischen Zeigen des
Fleisches und Aufspringen nach demselben v er hältniss massig kurz,
auch dann, wenn der Hund veranlasst worden war, zuerst nach links
zu sehen.
Ganz anders, mit Bezug auf das Zeitintervall, verhielt sich der zu-
ei'St beschriebene Schäferhund mit der scheinbaren Sehstörung. Zeigte
ich ihm mehrmals 2 Fleisch pinzetten so, dass er sich stets des rechts-
seitigen bemächtigen konnte, so hatte er sich das schnell gemerkt und
sprang gleichfalls immer nach dieser Seite auf, ohne dass es des Schüt-
teins bedurft hätte. Während jedoch der andere Hund mit dem Moment
des Erscheinens des Fleisches zum Sprunge ansetzte und sprang, verging
hier, so oft man auch den Versuch wiederholen mochte, inmier eine
ziemlich lange Zeit zwischen dem Gesichtseindruck und der Bewegung,
wenn auch mit der Wiederholung des Versuchs die Dauer dieser Zeit
abnahm. Der Hund überlegte sich die Sache erst. Bald betrachtete er
— 33 —
das rechte, bald d;is linke Fleisch, um (hiiiu aber doch regelmässig mit
Gier auf das Erstere loszugehen.
Wenn mir der Versuch, in die Vorgänge der Huudeseele einzudringeu,
von Physiologen strengster mechanischer Schule, nach dem Sinne Loeb's
nicht allzusehr verübelt wird, so möchte ich vermuthen, dass sich in
dieser Seele ein Kampf zwischen einer nach links treibenden Kraft und
der Vorstellung, dass links gerade wie früher, so auch diesmal nichts,
wohl aber rechts etwas zu holen sei, abspielte und dass endlich die
vernünftige üeberlegung über das mechanische Prinzip die Oberhand
behielt.
Durch die mitgetlieilten Versuche scheint mir — unter Berück-
sichtigung dessen, was wir schon früher wussten — die Sache voll-
ständig und befriedigend aufgeklärt zu sein. Einseitig, gleichviel ob
vorn oder hinten operirte Hunde bevorzugen während einer verschieden,
manchmal viele Monate langen Periode von 2 ihnen gebotenen Fleisch-
stücken immer das Stück der Operationsseite, aber aus verschiedenen
Gründen. Hat eine saubere Operation ein wirklich auf den Hinterlappen
beschränktes, nicht zu grosses Stück entfernt, so ist lediglich die Seh-
störung verantwortlich zu machen. War das Stück zu gross, so ist der
Versuch nicht mehr rein, er kann durch Bewegungsstörungen complicirt
sein. Hat man aber den Gyrus sigmoides^) verletzt, so hat man es
zunächst gleichfalls mit einer in demselben Sinne wirkenden Seh-
störung, aber ihrerseits als Complication zu thun. Erst wenn diese ab-
gelaufen ist, tritt das eigentlich bedingende Moment klar und zwar mit
viel zwingenderer Macht zu Tage, als jene aus der Verletzmig des Hiuter-
lappens resultirende Sehstörung und erweist sich als eine Störung der
motorischen Innervation. Während der einseitig schlecht sehende Hund,
einmal über das Wesen des sich von rechts her ihm präsentirenden
Gegenstandes unterrichtet, ohne Weiteres auf denselben losgeht, hat das
in seinem Bewegungsmechanismus alterirte Thier erst einen Widerstand
zu überwinden, bevor es sich nach der gekreuzten Seite drehen kann.
Loeb hat die Frage, ob nicht schon die Ungleichheit in der Inner-
vation beider Körperhälften das Thier stets nach der Operationsseite
drängt, selbst aufgeworfen und in ganz correcter Weise zu discutiren
begonnen. Er Hess sich schliesslich jedoch bestimmen, diese Frage im
negativen' Sinne zu beantworten, weil er fand, dass Hunde, welche nicht
an Drehstörung litten, dennoch jene Symptome, die er Hemiamblyopie
nennt, erkennen lassen. Die Beobachtung an sich ist wieder richtig,
1) Von den mittleren Theilen der Convexität habe ich zunächst keine
Veranlassung zu reden.
Hitzig, Gesammelte Abhandl. 11. Theil. 3
— 34 —
wie aus meinen im Vorstehenden mitgetheilten gleichlautenden Erfah-
rungen hervorgeht; d. h. also Hunde, welche keine Drehstörung- zeigen,
bevorzugen gleichwohl das Fleisch der operirten Seite. Sie beweist
aber nicht, was sie beweisen soll; denn sie schliesst zwar den Einfluss
einer Dreh Störung auf das Gelingen des Versuches, nicht aber den
Einfluss von anderen motorischen Störungen aus und sie beweist ins-
besondere nicht den bestimmenden Einfluss einer Sehstönuig. Dies hätte
aber bewiesen werden sollen, bevor aus dem Nachweis jenes Symptoms
der Rückschluss auf das Bestehen einer Sehstörung gemacht und bevor
daraufhin das Bestehen von dauernder Sehstörung nach einem Eingriff
in den Vorderlappen behauptet werden durfte.
Loeb stützt sich ausserdem auf einen Doppelversuch (Exstirpation
rechts vorn und links hinten), den er für beweisend hält, der aber —
ausnahmsweise — so unklar beschrieben ist, dass seine Beweiskraft mir
entgeht. Wenn mit diesem Versuche gesagt werden soll, dass so ope-
rirte Thiere diejenige Seite bevorzugen, auf der sie besser sehen, was
aber nicht gesagt ist, so konnte ich das bei zwei analogen Versuchen
nicht bestätigen. Beiden Thieren hatte ich im Gyrus sigmoides kleine,
im gekreuzten Hinterlappen grössere Verletzungen beigebracht und beide
bevorzugten nach der zweiten Operation, als sie besser zu sehen an-
fingen, die Seite der Sehstörung. Ich vermuthe, dass das abweichende
Ergebniss von Loeb wieder auf unbeabsichtigter Abrichtung des Hundes
beruht.
Wenn Loeb selbst i), wie Eingangs erwähnt, der Meinung war,
„in der Mehrzahl der Fälle sei neben der Hemiamblyopie eine Dreh-
stöning vorhanden", so hätte ihn das vorsichtiger machen sollen 2). In
1) J. Loeb, Beiträge zur Physiologie des Grosshirns. Pflüger's Archiv
Bd. XXXIX. S. 276.
2) Die Besprechung der Drehstörungen (Beiträge zur Physiologie des
Grosshirns. Pflüg er 's Archiv Bd. XXXIX, S. 266) beginnt Loeb mit folgendem
Satze; „Bei Thieren, welche eine schwere A'erletzung einer Hemisphäre mit
den ungünstigen Nebenbedingungen einer starken intraoraniellen Blutung er-
litten haben, beobachtet man bekanntlich Reitbahnbewegungen." Auf S. 313,
314 der gleichen Abhandlung finden sich folgende Sätze: „Davon (den Neben-
bedingungen) ist auch die Intensität der Störung abhängig; danach richtet es
sich z. B., ob Exstirpation des Stirnlappens Reitbahnbewegung zur Folge hat
oder nicht. Diesem kleinen Umstände verdankt der Streit um die Localisation
der Functionen seine respectable Dauer." unter diesen Nebenbedingungen
spielt wieder die intracranielle Blutung die Hauptrolle. Es ist mir hiernach
gänzlich unverständlich, wie Loeb, wenn er selbst dieser Ansicht ^yav, auf
solche Versuche, bei denen eine Drehstörung vorhanden, also eine intracra-
— 35 —
der That geht aus der Siimme des Vorgetragenen hervor, dass diese Be-
vorzugung der operirten Seite in jenen Fällen, in denen sie nicht auf
einer anderweitig nachweisbaren Sehstörung oder auf unbeabsichtigter
Abrichtung u. dergl. beruht, auf eine Störung der motorischen Inner-
vation zurückzuführen ist. In denjenigen Fällen, in denen vorher eine
Drehstörung vorhanden war, lässt der Vorgang sich ja ohne Weiteres
übersehen; anfänglich war die Differenz in der Innervation der beiden
Seiten so hochgradig, dass das Thier nicht im Stande war dauernd ge-
radeaus zu laufen, sondern von Zeit zu Zeit eine Volte einschieben
musste, mit der Zeit trat aber eine Adaptirung an die vorhandene In-
nervationsstörung insoweit ein, dass das Thier nicht mehr gezwungen
war, den normalen Lauf geradeaus durch eine, sagen wir Linksdrehung
zu unterbrechen; gleichwohl aber bestand die Tendenz zur Linksdrehung
•derart fort, dass alle Bewegungen nach dieser Seite mit grösserer
Leichtigkeit von Statten gingen. Die Bevorzugung der linken Seite ist
in cUesen Fällen also, wenn man will, als Residuum der Drehstörung,
correcter ausgedrückt als ein Zeichen ungleicher motorischer Innervation,
wie dies insoweit auch Goltz annimmt, aufzufassen. Aber auch von
den anderen Fällen, in denen also eine Drehstörung niemals bestand,
gilt das Gleiche; denn auch in diesen Fällen, insofern sie die moto-
rische Region betreffen, ist die motoi-ische „Arbeitsleistung" der contra-
Jateralen Seite herabgesetzt, nur dass diese Herabsetzung in den Mus-
keln, welche den Kopf und die Wirbelsäule nach der contralateralen
Seite drehen, weniger ausgesprochen ist.
Die Vorgänge, die uns hier beschäftigt haben, spielen sich für den
Hund offenbar auf einem durch die Erfahrung vorbereiteten Boden ab.
Aus der ganzen Situation merkt er, dass es nun für ihn etwas Gutes
zu erhaschen giebt und seine Erwartung ist auf's Höchste gespannt.
Sobald er an der Stelle, von der her schon Speise gekommen ist, etwas
erscheinen sieht, so stürzt er darauf los, ohne erst lange zu prüfen, ob
es auch wirklich Speise ist. Dies sind die beiden in erster Linie wirk-
samen Momente. Sieht er nun auf einem Auge schlechter und werden
ihm zwei Gegenstände vorgehalten, so ist das Plus an Lichtempfindlich-
keit des anderen Auges, die grössere Helligkeit der Seite, sicherlich
aber nicht die bessere Apperception des Gegenstandes für die Richtung
seiner Bewegung entscheidend. Wäre es anders, so würde er sich nicht
durch die leere Pinzette der besser sehenden Seite täuschen lassen.
Eine Abweichuns; von diesem Verhalten zeigt nun der Loeb'sche
nielle Blutung anzunehmen war, überhaupt etwas, geschweige denn „alles um-
iassende Gesetze" aufbauen konnte.
3*
— 36 —
Versuch, d. h. der Hund kaun unter Umständen nach dem Fleisch
der schlechter sehenden Seite aufspringen, aber sein Verhalten beruht
dann keineswegs auf dem an sich nicht bestrittenen Gesetz, dass ein
bewegter Gegenstand ein stärkerer Reiz für die Netzhaut ist als ein
unbewegter Gegenstand, sondern darauf, dass Loeb bei seinen Versuchen
die Hunde in ergötzlicher Weise unabsichtlich auf die Drehung nach
jener Seite abrichtete. Dies kann wohl nicht deutlicher als durch jenen
Versuch bewiesen werden, bei dem der einmal von rechts her gefütterte
Hund nach einer dem rechten Auge ruhig vorgehaltenen Pinzette auf-
sprang, während ihn ein grosses, vor dem linken, gesunden Auge stark
oscillirendes Stück Fleisch vollständig kalt Hess.
Ein anderer Factor als die Sehstörung in Combination mit der Ab-
richtung kann in die Versuche in allen jenen Fällen eingeführt werden^
in welchen eine Störung der motorischen Innervation durch beabsich-
tigte oder unbeabsichtigte Verletzung der motorischen Region bedingt
wird. Dieser Factor führt zu dem gleichen Resultate wie die Sehstö-
ruug; der Hund hat zunächst also immer die Tendenz nach dem Fleisch
der Operationsseite aufzuspringen. Dass das ursächliche Moment hierfür
aber in Wirklichkeit auf der motorischen Seite liegt, wird einmal da-
durch bewiesen, dass das Zeitintervall regelmässig ein grösseres ist,
wenn der Hund sich nach dem Fleisch der nicht operirten Seite wendet,
gleichviel, ob eine Sehstörung vorhanden ist oder fehlt und es wird
zweitens dadurch bewiesen, dass das Vorhandensein oder Fehlen einer
Sehstörung, von dem man sich in viel sichererer Weise überzeugen kann,
an dem Erfolge des Versuches nichts ändert; der nicht abgerichtete
oder sonst beeiuflusste Hund springt eben unter allen Umständen nach
dem Fleisch der Operationsseite auf.
Wenn wir die Schlussfolgerungen Loeb 's und die auf diesen hoch
aufgebauten Theorien im Lichte dieser Thatsachen betrachten, so er-
scheint sein ganzes Gebäude wankend und hinfällig. Denn weim er
Wirkungen von motorischen und von Sehstörungen nicht auseinander-
zuhalten verstand, so beweisen die Ergebnisse seiner Versuche schon
aus diesem sehr einfachen Grunde nichts gegen die Lehre von der
Localisation, geschweige denn, dass sich darauf „alles umfassende Ge-
setze" aufbauen Hessen. —
III. Historisches, Kritisches mul Experimentelles über Methoden
nnd Theorien der (jrosshirnforschnng.
Inhalt: Einleitung S. 37. 1. Ueber Operationsmethoden. Princip der Loca-
lisation und Gründe für den Streit um dieses Princip S. 38. Seeundäre
Erweichungen und Blutungen S. 41. Lähmungsversuche S. 44. Die Metho-
den von Goltz S. 46. Die Methoden von Loeb S. 53. Die Methoden von
Luciani S. 63. Die Methoden von Tonnini S. 67. IL Ueber Unter-
suchungsmethoden. Die elektrische Untersuchung S. 68. Die Unter-
suchung der Bewegung und Empfindung S. 75. Die Untersuchung der Re-
flexe S. 97. III. Theorien. A. Theorien des corticalen Sehens und der
corticalen Sehstörungen S. 102. B. Theorien der Gehirnmechanik S. 111.
•Munk S. 112. Die italienische Schule S. 115. Goltz S. 116. Loeb S. 127.
IV. Schlussbetrachtungen S. 151.
Die Lehre von den Functionen des Grosshirus hat von jeher ein ganz
eigenartiges Schauspiel geboten. Gewisse Thatsachen stehen freilich
unbestritten da und ich darf wohl mit Genugthuung sagen, dass es vor-
nehmlich diejenigen sind, die ich zuerst, zum Theil im Verein mit
Fritsch, veröffentlicht habe. Aber schon bei der Deutung dieser allge-
mein anerkannten Thatsachen gingen die Meinungen von jeher so weit wie
möglich auseinander und sie divergiren auch jetzt noch recht erheblich.
Verlässt man jedoch dieses immerhin ziemlich eng umschriebene
Gebiet, so begegnet man einer sich immer mehr vergrössernden Zahl
von rein thatsächlichen Angaben, deren Richtigkeit von einer Anzahl
von Forschern ebenso bestimmt behauptet, wie von anderen bestritten
wird. Es versteht sich von selbst, dass auf diese Weise erst recht der
Boden für grundverschiedene Theorien geschaffen wurde. Ganz gewiss
mögen vorgefasste oder auf Grund einseitiger Beobachtungen gewonnene
psychologische Ansichten bei dieser Verwerthung angeblich objectiver
Befunde eine grosse Rolle spielen; und man darf wohl mit Sicherheit
yoraussagen, dass solche Meinungsverschiedenheiten auch dann nicht
— 38 —
gänzlich verschwinden würden, wenn über die Thatsachen selbst kein
Zweifel bestände. Indessen wäre doch schon sehr viel gewonnen, wenn
mindestens der Streit um die Thatsachen aus der Welt geschafft würde;
denn damit würde die Zerfahrenheit und Unsicherheit, welche heute
noch der ganzen Lehre anhaftet, ihr Ende erreichen.
Der Zweck der folgenden Abhandlung ist nun nicht etwa eine
historische Uebersicht über die augedeuteten Kämpfe auf diesem Gebiet
zu geben; denn das würde eine Geschichte der gesammten Grosshirn-
physiologie, ein Buch von gewaltigem Umfange bedeuten. Vielmehr
beabsichtige ich, an dieser Stelle die Gründe für jene Kämpfe um die
Thatsachen und die Mittel zur Vermeidung solcher Kämpfe darzulegen.
Die Auswahl der zur Besprechung kommenden Arbeiten anderer For-
scher ist also von diesem Gesichtspunkte aus getroffen und macht kei-
nerlei Anspruch auf Vollständigkeit.
I. Ueber Operationsmethoden.
Schon bei der Wahl der Operationsmethoden hat sich die Einwir-
kung der beiden grundsätzlich verschiedenen Anschauungen über die
Function der Hirnrinde geltend gemacht. Mich selbst hatte die Mög-
lichkeit, bestimmte elektrische Reizeffecte auf ganz eng umschriebene
Stellen der Hirnoberfläche localisiren zu können, mit Nothw?endigkeit
dazu gedrängt, parallele d. h. solche Lähmungsversuche vorzunehmen
und für die zunächst anizustellenden Versuche zu empfehlen, bei denen
der Eingriff annähernd ebenso umschrieben war, wie der Reiz
bei dem elektrischen Reizversuch. Umgekehrt hat Goltz mit
seiner Schule seine Aufgabe in der Ausschaltung grosser, um nicht zu
sagen, möglichst grosser Hirnpartien gesucht.
Ich habe den Werth von grossen und grössten Exstirpationen für
das Studium der Hirnphysiologie stets und in vollem Umfange aner-
kannt. Aber einmal ist es doch eine allgemein gültige Regel, dass
jeder Forscher, welcher die Versuche seiner Vorgänger wiederholt und
controlirt, sich genau an das von diesen angegebene Verfahren hält
Und dann liegt es auf der Hand, da«s die Lehre von der Hirnlocalisa-
tion nur dann wirksam vertheidigt oder angegriffen werden kann, wenn
der einzelne Versuch so angestellt wird, dass er eben nur, soweit dies
überhaupt möglich ist, locale Wirkungen hervorbringt.
Wir werden uns später mit gewissen Theorien über die physiolo-
gische Bedeutung einzelner Rindencentren zu beschäftigen haben. So
verschieden diese Theorien aber nun auch sein mögen, so sind doch
— 39 -
die anfänglichen Gegner der Localisationslehre im l^Miife der verflosse-
nen Decenuien zu dem Zugeständniss gezwmigen worden, dass die
einzelnen Areale der Grosshirnrinde sich anatomisch und
functioncll dadurch unterscheiden, dass sich in ein jedes
dieser Gebiete Projectionssysteme verschiedener Dignität
einsenken und dass die Angriffe auf diese Areale im Gross-
hirn auch entsprechende Resultate verschiedener Dignität
im Grossen ergeben. So widerwillig dieses Geständniss auch ge-
gemacht sein mag, so hartnäckig auch die hieraus gezogene Schlussfol-
gerung, dass dadurch der Begriff von Centren begründet sei, bestritten
wird, das thatsächliche Zugeständniss ist vorhanden und bleibt bestehen,
es bildet die nächste, weil nicht mehr bestrittene Grundlage für unsere
operativen Postulate und auch unsere Gegner werden aus diesem Grunde
gezwiuigen sein, damit zu rechnen.
Betrachtet man nämlich das Gehirn des Hundes, der Katze und ähn-
licher Thiere und sieht mau zunächst von allen Theorien über die Function
der grauen Hirnrinde ab, so ergeben elektrische Reizversuche überall und
Lähraungsversuche wenigstens an einer gewissen Zahl von Stellen überein-
stimmend, dassinder von mir sogenannten motorischen Region solcheProjec-
tionssysteme verschiedener Dignität in der allernächsten Nach-
barschaft bei einander liegen. Es gelingt bei galvanischer Reizung xmd
einiger Geschicklichkeit zwar leicht, die Reizeffecte der einzelnen Mus-
keln der Extremitäten und des Stammes vom Gyrus sigmoides aus iso^
lirt zur Anschauung zu bringen und noch leichter ist es, die Reizeffecte
der einzelnen Aggregate des Facialis und diejenigen der Zungen- und
Kiefermuskeln zu localisireu. Ganz anders gestalten sich die Dinge
aber, sobald man die nothwendigen Cautelen ausser Acht lässt oder zu
Lähmungsversuchen übergeht. Allerdings habe ich vor vielen Jahren
mitgetheilt, dass es unter besonderen Bedingungen gelingt, eine isolirte
Innervationsstörung einer Vorderextremität ohne Mitbetheiligung der
gleichnamigen Hinterextremität zu erzeugen. Bei dem gewöhn-
lichen Operationsverfahren gelingt dies aber selbst bei Anwendung der
grössten Vorsicht nicht. Bohrt oder meisselt man ein Loch in den
Schädel, sei es nun an dem medialen, sei es an dem lateralen Rande
des motorischen Theiles des Gyrus sigmoides und verletzt man dann die
Hirnrinde, so wird man immer neben der Innervationsstörung der einen
Pfote eine solche auch der anderen Pfote mit in den Kauf nehmen
müssen. Etwas Aehnliches kann man erleben, wenn man die zur Inner-
vation der einzelnen Aggregate des Facialis in Beziehung stehenden
Gebiete angreift, aber man kann das, wie wir in einer späteren Ab-
handlung noch erörtern werden, vermeiden.
— 40 —
Sicherlich sind die Gründe für das Erscheinen complicirter ünter-
suchungsergebnisse nicht überall die gleichen. Ich sehe hier natür-
lich voa allen nicht reinen Versuchen ab. Indessen liegen doch
schon für die reinen innerhalb des Gyrus sigmoides und für die
ausserhalb desselben vorgenommenen Operationen die Dinge ver-
schieden. Allem Anscheine nach ist die Innervation der Extremitäten
im hinteren Schenkel dieses Gyrus anatomisch derartig miteinander com-
binirt, dass ihre isoürte Schädigung schon aus diesem Grunde nicht
möglich, oder doch nur unter besonderen Bedingungen möglich ist.
Die Existenz von solchen anatomischen Verknüpfungen wird
auch durch die Resultate von Reizversuchen wahrscheinlich gemacht.
Ichi) habe bereits im Jahre 1873 nachgewiesen, dass es im hinteren
Schenkel des Gyrus sigmoides eine Stelle giebt, von der aus die gleich-
zeitige Innervation der beiden contralateralen Extremitäten möglich ist
und dass es ausserdem noch eine grössere Anzahl von anderen, vor-
nehmlich in der Tiefe gelegenen Punkten giebt, deren Reizung zur Her-
vorbringung von combinirten Muskelactionen anderer Art führt.
Eine andere - wichtige Rolle spielen aber die Verhältnisse der
Nachbarschaft in Verbindung mit der Wundheilung und kleinen un-
beabsichtigten Verschiedenheiten der Operation selbst. Ich habe auch
diese Thatsachen bereits im Jahre 1874 in einer ziemlich unbeachtet
gebliebenen Abhandlung^) ausführlich erörtert. In einer Versuchsreihe,
die den eigentlichen Stirnlappen und den unerregbaren Theil des vor-
deren Schenkels des Gyrus sigmoides betraf, zeigte sich, dass Bewe-
gungsstörungen an den Extremitäten nur unter gewissen, keineswegs
immer von dem Willen des Experimentators abhängigen Bedingungen
eintraten. Bei annähernd gleichen Eingriffen in die genannten Regionen
verlief der Versuch das eine Mal reactionslos, während das andere Mal
mehr oder minder erheb liehe Störungen eintraten, je nachdem sich benach-
barte Theile des hinteren Schenkels mehr oder minder stark in die Hirn-
oder Schädelwunde drängten, je nachdem ein Theil dieses Schenkels mit
freigelegt war oder anderweitige Traumen auf die Hirnwunde einwirkten.
Es geht hieraus schon ohne weiteres hervor, dass die Beschrän-
kung operativer Eingriffe unter sonst gleichen Umständen sich um so
schwieriger gestaltet,' je kleiner das Gehirn ist und je näher seine ein-
zelnen Innervationsgebiete bei einander liegen. Ein Blick auf eine der
bezüglichen Abbildungen meines Buches „Untersuchungen über das Ge-
1) E. Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. S. 48—49.
2) E. Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. Neue Folge. II. Lcäh-
mungsversuche am Grosshirn. Reichert's u. du Bois-Reymond's Archiv
1874. Heft 4.
— 41 —
hirn" lehrt, dass isolirte Ausschaltungen der motorischen Centren für
die einzelnen Extremitäten durch Exstirpationen innerhalb des motori-
schen Theiles des Gyrus sigmoides selbst unmöglich sind.
Das Gehirn des Affen bietet nach dieser Richtung hin sehr viel
günstigere Verhältnisse dar als dasjenige des Hundes, insofern die ein-
zelnen Centren sehr viel weiter auseinander gezogen und unter einem
viel geräumigeren Schädeldach liegen.
Wenn wir auch bei dieser Betrachtung von den Projectionssystemen
ausgingen, so ist dabei doch die Rinde mit in den Kreis der Erwägun-
gen gezogen, wie denn von einer isolirten Schädigung der Rinde und
des Markes bei den allgemein üblichen Operationsmethoden nicht wohl
die Rede sein kann. Es versteht sich von selbst, dass die erstere auch
unter den günstigsten Bedingungen niemals isolirt verletzt werden kann,
sondern dass jeder Eingriff eben auch jene in sie einstrahlenden Projec-
tionsbahnen schädigen muss. Dadurch gelangt die Wirkung solcher
Eingriffe ja eben vornehmlich zur Anschauung. Die gleiche Vorsicht,
welche die operative Begrenzung und der Heilungsvorgaug mit Bezug
auf die oberflächlichen Schichten erfordert, ist aber auch mit Bezug
auf die tiefer liegenden Bahnen unerlässlich. Die directe Verletzung
ebenso gut wie die sich daraus entwickelnden Folgen ziehen nicht sel-
ten solche Bahnen in das Bereich des Trauma, deren Rindenfelder nicht
mit geschädigt worden sind. Aus diesen Gründen im Verein mit den
gleich zu erwähnenden Umständen können scheinbar gleiche Läsionen
Krankheitsbilder hervorbringen, welche neben den nach Analogie
früherer Versuche erwarteten, fremde Züge erkennen lassen.
Bei weitem nicht alle Experimentatoren haben bei ihren Versuchen
über die Repräsentation der Bewegungen in der motorischen Region der
eigentlich selbstverständlichen Forderung, die einzelnen Eingriffe jedes
Mal auf einen bestimmten Gyrus zu beschränken, Rechnung ge-
tragen. Wenn man aber irgend einen der in den nachstehenden Ab-
bildungen wiedergegebenen Querschnitte durch diesen Theil des Gehirns
in's Auge fasst, so sieht man ohne weiteres, dass sogar die Beachtung
dieser Forderung die Reinheit des Versuchs keineswegs verbürgt. Die
einzelnen Gyri, namentlich auch ihre Markstrahlungen und deren Ueber-
gang in den Fuss des Stabkranzes liegen so nahe bei einander, dass
die Fortnahme irgend eines Stückes der Convexität fast mit Nothwen-
digkeit benachbarte Windungen in Mitleidenschaft ziehen muss.
Hierzu kommt aber noch ein anderer Umstand, der meines Wissens
nicht beachtet, oder doch nicht gewürdigt und experimentell verfolgt
worden ist, das Auftreten secundärer Erweichungen und Blu-
tungen. Ich führe deshalb einige Fälle an.
— 42 —
Beotoaclitwng" 1.')
Einem Hunde war mit dem Präparatenheber in der 2. Urwindung nahe
iiirer Spitze eine oljerflächliche Untersclnieidung beigebracht worden. Bei der
Section fand sich ein ziemlich grosser Ervveichungsherd an der Basis der ver-
letzten Windung, der die Markstrahlung dieser Windung fast gänzlich, aber
auch die Strahlungen aus den Nachbarwindungen zum Theil unterbrochen
haben musste. (Fig. 2.)
M^
Fig. 2. Fig. 3.
BeobacJhitviixg' %i.
Einem Hunde war der vordere Theil der 2. und 3. Urwindung etwas
tiefer unterschnitten worden. Bei der Section fand sich, abgesehen von den
Veränderungen in den verletzten Windungen ein relativ grosser Erweichungs-
herd, der sich von der Spitze des Nucleus caudatus quer durch den Fuss des
Stabkranzes bis fast an das laterale Rindengrau erstreckte, so dass neben der
Balkenstrahlung mindestens noch die Strahlung aus dem Gyrns sigmoides ver-
letzt sein musste. (Fig. 3.)
Beobaditviixg- 3.
Einem Hunde wurde der vordere Theil der 2. und 3. Urv\indung nicht
ganz oberflächlich unterschnitten; bei der Eröffnung des Duralsackes war ein
H
1) Bei den Figuren 2—7 bedeuletO überall Operationsstelle und H Herd.
■ 43 —
stärkeres Gefäss der Pia verletzt worden. Bei der Section fand sicli eine Kette
von Weineren und grösseren Erweicliungsherden, durch welche das ganze
Markweiss von der ünterschneidungsstelle an durch den Fuss des Stabla-anzes
in die innere Kapsel hineinreichend bis auf 2 mm von der Spitze des Seiten*
Ventrikels unterbrochen wurde. (Fig. 4.)
Beolbaclitiing" 4.
Einem Hunde war eine Unterschneidung der 2. und 3. Urwindung in
ihren vorderen Theilen auf 4—5 mm Tiefe beigebracht worden. Bei der Sec-
tion fand sich ein kleiner Erweichungsherd neben der Spitze des Nucleus cau-
datus bereits in der inneren Kapsel. (Fig. 5).
BeobacJatiiiiig' S.
Einem Hunde war der vordere Theil der 2. und 3. Urwindung theils un-
terminirt, theils abgetragen worden. Der Hund starb am 17. Tage. Bei der
Section fand sich eine frische Blutung vor, welche von der Operationsstelle
bis in die Spitze des Seitenventrikels reichte und auf diesem Wege den Fuss
des Stabkranzes und den dorsalen Theil der inneren Kapsel zerstört hatte.
(Fig. 6 und 7.)
0
Fig. 6. Fig. 7.
Bei der Beobachtung 5 handelte es sich unzweifelhaft um eine
Spätapoplexie, welche in derselben "Weise zu Stande gekommen war,
wie die Spätapoplexien des Menschen, also durch Usur eines durch eine
erweichte Stelle verlaufenden Gefässes. Die bei den anderen Beobach-
tungen gefundenen Erweichungsherde sind aller "Wahrscheinlichkeit nach
auf Gefässverletzungen, welche durch die Operation direct oder indirect
bedingt waren, zurückzuführen. Da die Gefässe durch die Sulci in die
Tiefe dringen, so wird sich deren thunlichste Schonung empfehlen.
Bei einzelnen Beobachtungen scheint jedoch kein Sulcus verletzt gewesen
zu sein; es wird sich dort also wohl um die Beleidigung einer, sich
direct von der Convexität in die Hirnmasse einsenkenden Arterie der
Pia gehandelt haben.
Aus den angeführten Versuchen geht hervor, dass sich unbeabsich-
— 44 —
tigte Ausschaltungen von Leitungsbahnen auch bei solchen Versuchen
finden können, welche dem äusseren Anschein nach in jeder Beziehung
einwandsfrei verliefen, und bei denen zudem die Unterschneidnng, die-
jenige Operationsmethode angewendet worden war, welche am wenigsten
zu unbeabsichtigten Nebenwirkungen, namentlich Verschiebung und Vor-
drängung der Nachbarregionen mit collateraler Erweichung führt. Je
grösser der operative Eingriff und der Umfang der herausgeschnittenen,
gelöffelten oder gebohrten Hirnmasse ist, je stärker das jeder Methode
anhaftende traumatische Moment in die Erscheinung tritt, um so grösser wer-
den die Chancen für die Entstehung der beschriebenen Fernewirkungen sein.
Es liegt aber auf der Hand, dass diese Fernewirkungen solche Be-
dingungen in den Versuch einführen, welche mit der Function der ober-
flächlich angegriffenen Stelle nicht das mindeste zu thun zu haben
brauchen. Sitzt der Erweichungsherd, wie in dem einen der angeführ-
ten Versuche an der Basis der verletzten Windung selbst, so mag er
anders geartete Erscheinungen als die oberflächliche Verletzung viel-
leicht nicht veranlassen. Sitzt er aber wie bei anderen Versuchen im
Fusse des Stabkranzes oder in der inneren Kapsel, oder zieht er an-
dere Windungen in Mitleidenschaft, so sind seine Folgen einfach nicht
zu berechnen. Die Autopsie der Hirnoberfläche genügt also nicht, son-
dern sie muss sich auf Durchschnitte erstrecken.
Widersprüche und die scheinbare Gesetzlosigkeit in den
operativen Ergebnissen erklären sich für viele Fälle durch
die zuletzt vorgetragenen Befunde und die vorher angestell-
ten Erwägungen. —
Bei Beurtheilung der Resultate der Lähmungsversuche ist man
meiner Ansicht nach theils nach einer, theils nach der entgegengesetzten
Richtung hin zu einseitig vorgegangen. Einzelne Forscher haben entweder
ausdrücklich oder doch stillschweigend alle nach solchen Versuchen
beobachteten Symptome ausschliesslich auf das ausgeschaltete Rinden-
feld bezogen, derart, dass sie meinten, dass die nunmehr gesetzten Aus-
fallssymptome die normale Function der angegrift'enen Region darstell-
ten. Andere, in Deutschland vornehmlich Goltz und seine Schüler,
erblickten in diesen Erscheinungen ausschliesslich die Folgen von Hem-
mungsvorgängen, durch die subcorticale Centren ausser Function ge-
setzt würden, so dass ihnen schliesslich das gesammte Grosshirn oder
doch mindestens dessen oberflächliche Schichten lediglich die Bedeutung
eines Hemmungsorgans gewann. Beide Schulen sind wie ich glaube zu
weit gegangen. Dass sich wirklich Hemmungsprocesse von einer Hirn-
wunde aus auf subcorticale Centren ausbreiten können, unterliegt für
mich keinem Zweifel. Andererseits aber erwächst aus dem Nachweise
— 45 —
von solchen Vorgängen noch keineswegs die Berechtigung zu der An-
nahme, dass nun alle im Gefolge von Hirnverletzungen eintretenden
Symptome auf Hemmungsvorgängen und damit am letzten Ende gar
nicht auf der Schädigung der Function des Grosshirns, sondern auf
einer temporären Ausserfunctionsetzung subcorticaler Centren beruhten.
Mit der Betrachtung des einzelnen Rindenfeldes und der ihm sub-
ordinirten oder sonst zu ihm in Beziehung stehenden subcorticalen
Organe ist das Gebiet, auf dem sich die Folgen einer experimentellen
Läsion geltend machen können, noch keineswegs abgegrenzt. Anato-
misch ist die associative Verbindung der einzelnen corticalen Gebiete
eine der am besten fundirten Thatsachen; psychologisch erblicken wir
in dem associativen Denken einen Ausdruck jener Thatsachen; experi-
mentell-pathologisch haben wir bisher aber kaum einige Anhaltspunkte
gewonnen, welche einen Schluss auf die Störung associativer Vorgänge
durch die Ausschaltung dieses oder jenes Rindengebietes gestatteten.
Nichtsdestoweniger kann es einem begründeten Zweifel kaum unterlie-
gen, dass derartige Störungen thatsächlich bestehen, wenn wir sie auch
aus dem jedesmal vorhandenen Symptomenbild nicht herauszuschälen
vermögen.
Alles in allem sehen wir, dass schon ein kleiner und mit der wohl-
bewussten Absicht localer Begrenzung ausgeführter Eingriif in den cor-
ticalen Mechanismus die mannigfaltigsten Beziehungen zwischen den ein-
zelnen centralen Apparaten alteriren kann.
Wenn die vivisectorische Untersuchung des Gehirns uns also zu
weiteren Fortschritten in der Erkenntniss seiner Verrichtungen führen
soll, so wird man sich vor allen Dingen mit Strenge an die Beobach-
tung derjenigen Regeln halten müssen, welche auf allen anderen Ge-
bieten der physiologischen Forschung als selbstverständlich gelten. Vor
allen Dingen ist es erforderlich, dass die einzelnen Versuche in jeder
Versuchsreihe gleichwerthig sind und so beschrieben werden, dass ein
Vergleich mit fremden Versuchen durchführbar ist. Es genügt also
nicht, dass in dem Bericht gesagt wird, es sei vorn oder hinten, ober-
flächlich oder tief operirt worden, sondern die Localität muss sowohl
mit Bezug auf die angegriffenen Windungen, die Tiefe des Eingriffs und
anderweitige, von ihm etwa abhängige, secundäre Läsionen als auch mit
Bezug auf das, was von Knochen und Dura entfernt wurde, genau be-
schrieben werden. Dann aber muss jeder einzelne Versuch von dem
gleichen Experimentator unter gleichen Versuchsbedingungen so oft
wiederholt werden, bis ein unzweideutiges und constantes Resultat zu
Tage getreten ist. Dies ist bei weitem weniger einfach, als es wohl
erscheinen mag. Wenn schon alle physiologischen Versuche ihre Tücken
— 46 —
besitzen, so gilt dies in ganz besonderem Grade aus den angeführten
Gründen von den corticalen Lähmungsversuclien. Und weil eben Paral-
lelversuche auf diesem Gebiete so überaus schwer ganz identisch her-
z;uste]len sind, erwächst um so mehr die Pflicht, jeden einzelnen Ver-
such so lange zu wiederholen, bis das Unwesentliche als solches und
die Gesetzmässigkeit in der Folge der Erscheinungen erkannt ist.
Der Missachtung dieser Grundsätze verdanken wir die Eingangs
erwähnte Verwirrung auf diesem Gebiete, eine Verwirrung, die niemals
hätte zu entstehen brauchen, wenn gerade diejenigen Experimentatoren,
welche sich am meisten mit der Erforschung der Functionen des Gross-
hirns beschäftigt haben, den von mir von Anfang an aufgestellten For-
derungen Gehör geschenkt hätten.
Goltz hat jenen Weg, den ich seiner Zeit als einen Umweg be-
zeichnet habe, zuerst beschritten und gerade dasjenige Verfahren, wel-
ches ich von jeher und soeben als grundsätzlich fehlerhaft charakteri-
sirt habe, als das principiell allein richtige erklärt. Ich hatte damals^)
hervorgehoben, dass ein Einstich in die Rinde des Gyrus sigmoides aus-
reiche, um Bewegungsstörungen in den contralateralen Extremitäten
hervorzubringen, während verhältnissmässig grosse Exstirpationen anderer
Stellen der Hemisphäre keinerlei Störungen dieser Art verursachten.
Es wäre die Aufgabe von Goltz gewesen, den erst gedachten Versuch
zu wiederholen und ihn in seinen thatsächlichen Ergebnissen oder in
seinen Schlussfolgerungen zu widerlegen. Dies hat er aber niemals
gethan. Ich will zwar nicht bezweifeln, dass er genau die gleichen
Versuche wie ich wirklich angestellt hat, ja, ich würde mich sogar sehr
wundern, wenn er es nicht gethan hätte; aber er hat es niemals zu-
gegeben und er hat niemals meinen Versuch oder eigene identische
Versuche ernsthaft discutirt. Anstatt dessen stellt er an einer Stelle
seiner Abhandlung einen Vergleich an, in dem er eine Geschichte von
einem juristischen Examinator erzählt^).
Wenn jemand dort, wo es sich um eine logische Auseinandersetzung
handelt, anfängt Geschichten zu erzählen und Vergleiche zu ziehen, so
ist Misstrauen stets am Platze; Vergleiche hinken stets, diejenigen von
Goltz aber häufig auf zwei Beinen, so angenehm sie sich auch lesen
mögen. Sein Schluss kommt darauf hinaus, „es sei der solidere Weg,
zunächst aus dem Groben festzustellen, ob grössere Abschnitte der Rin-
1) E. Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. Neue Folge. IV. Ueber
die Einwände des Herrn Prof. Goltz in Strassburg. Reichert's und du
Bois-Keymond's Archiv. 187(5. Heft 6.
2) F.Goltz, Ueber die Verrichtungen des Grosshirns. Bonn 1881, S.lOl.
— 47 —
densubstfinz des Grosshirus abweichende Function liabcii und erst später
zum Studium der Einzelheiten überzugehen". Dass der analytische Weg
immer der bessere oder solidere sei, kann ich nicht zugeben, ja ich
möchte glauben, dass die Physiologie im Allgemeinen auf dem Wege
der Synthese noch besser davon gekommen ist; aber an und für sich
will ich weder der einen, noch der anderen Methode ihre Berechtigung
bestreiten. Es wird immer nur darauf ankommen, wie der Einzelfall
denn eigentlich beschaffen ist und welchen Zweck man verfolgt. Un-
zweifelhaft hat Goltz mit seiner Methode die interessantesten Resultate
erzielt und uns zu ganz neuen Einblicken in die Functionen des Ge-
hirns der Säuger verhelfen. Nur haben diese Resultate gerade zur Auf-
klärung über die Localisation der Functionen in der Hirnrinde direct
nichts beigetragen und sie konnten dies nicht aus den im Vorstehenden
dargelegten Gründen. Ja noch mehr; selbst dort, wo sie zu thatsäch-
licli richtigen Schlüssen führten, verloren sie deshalb ihre Beweiskraft,
weil auch der unbefangenste Beurtheiler durch die Gleichgültigkeit, mit
der Goltz von Anfang an den Umfang der von ihm angerichteten Zer-
störungen und die Fernewirkungen der von ihm angewandten Methoden
betrachtete, mit Misstrauen erfüllt werden musste.
Es ist auch heute noch nicht ohne Interesse, ja es erscheint mir
sogar wegen der Stellungnahme einzelner hervorragender Autoren uner-
lässlich, die Schlüsse gegenüber zu stellen, welche Goltz zu den ver-
schiedenen Perioden seiner experimentellen Thätigkeit auf diesem Ge-
biete aus seinen Versuchen gezogen hat; und zwar will ich diesmal mit
einem Citat aus einer späteren, der fünften Abhandlung aus dem Jahre
1884 beginnen. Es lieisst da einleitend:
„Mit höchstem Befi'emden lese ich bei verschiedenen Schriftstellern
die Bemerkung, ich hätte behauptet, dass die Gehirnsubstanz über-
all gleichwerthig ist. Eine auch nur oberflächliche Bekanntschaft
mit meinen älteren und neueren Arbeiten hätte genügt, um zu wissen,
dass ich niemals in positiver Weise einen solchen Ausspruch gethan
habe." Aus den Schlussbemerkungen zu dieser Abhandlung hebe ich
Folgendes hervor: „Der vorn operirte Hund bewahrt an allen Punkten
seines Körpers Empfindung — — — er tastet dagegen schlecht. Er
tritt mit den Füssen in's Leere."
„Er vermag alle seine Muskeln willkürlich zu bewegen, allein seine
Bewegungen sind plump und unbeholfen." — — —
„Seine Siuneswahrnehmungen sind nicht hochgradig geschwächt."
„Der hinten operirte Hund hat ungestörte Tastempfindung und
scheint auch gut zu tasten. Er tritt nicht in's Leere."
„Er vermag nicht bloss alle Muskeln seines Körpers willkürlich zu
— 48 —
bewegen, sondern diese Bewegungen erfolgen auch annähernd mit dem-
selben Geschick, wie bei normalen Thieren." — — —
„Er leidet an einer hochgradigen allgemeinen Wahrnehmmigs-
schwäche."
„Es kann nach alledem, was ich geschildert habe, nicht mehr dem
geringsten Zweifel unterliegen, dass ein Hund, welcher die Hinterhaupts-
lappen verloren hat, sich in höchst wesentlichen Punkten von einem
solchen dauernd unterscheidet, der einen grossen Theil des Vorderhirns
eingebüsst hat. Die Lappen des Grosshirns haben demnach
sicher nicht dieselbe B^edeutung."
Ich habe hier nur die Schlüsse, welche Goltz mit Bezug auf die
Bewegungen und Sinnes Wahrnehmungen zieht, wiedergegeben und von
denjenigen abgesehen, welche an dieser Stelle von principieller Wich-
tigkeit nicht sind. Immerhin aber ist es bezeichnend für die Befangen-
heit, mit der ein Forscher von dem Range Goltz' — und nicht er
allein war es — den Dingen gegenüber tritt, wenn er mit Bezug auf
diese seine Feststellungen und Schlüsse sagen konnte: „Ich habe eine
Reihe von neuen Thatsachen beigebracht, die ich als die ersten Bau-
steine einer Lehre von den Functionen der Hirnrinde bezeichnen durfte."
Hier will er also als der Begründer der Lehre von der Localisation
erscheinen, einer Lehre, welche er bis dahin, ungeachtet dessen, was er
in jenen einleitenden Worten sagt, auf das erbittertste bekämpft hatte.
Denn vergleichen wir damit die aus seinen früheren Untersuchungen
gezogenen Schlüsse! In seiner ersten Abhandlung Mai 1876^) sagt er:
„Unvereinbar mit Hi tz ig' s Auffassung' scheint mir ferner die Thatsache,
dass das Ergebniss der einzelnen Acte der Hirndurchspülung einander
so überaus ähnlich war. Mochten nun die Trepanlöcher vorn oder hin-
ten angebracht sein, wenn nur eine erhebliche Masse. Hirn, d. h. einige
Gramm herausgespült wurde, so war der Gang der Störungen genau
derselbe. Thiere, bei welchen die Verletzung, wie die Section ergab,
allein auf den Hinterlappen, also die uuerregbare Zone, beschränkt war,
zeigten genau dieselben Erscheinungen wie solche, bei denen sie weit
vom im vordersten Abschnitt der erregbaren Zone stattgefunden hatte."
Hier ist also mit dürren Worten gesagt, dass die Lappen des Gross-
hirns dieselbe Bedeutung haben, während wir soeben hörten, dass sie
sicher nicht dieselbe Bedeutung haben.
Genau der gleiche Sinn wohnt den folgenden Aeusseruugen der zwei-
ten Abhandlung vom December 18762) ^gi^
1) P. Goltz, lieber die Verrichtungen des Grosshirns. Bonn 1881. S. 38.
2) F. Goltz, üeber die Verrichtungen des Grosshirns. S. 71.
— 49 —
„In der vorangehenden Darstellung meiner Versuche habe ich es
unterlassen , genaue Angaben über die Grösse der Zerstöi-ungon zu
machen, die ich angerichtet hatte. Dies ist deshalb geschehen, weil
ich mich bisher nicht habe davon überzeugen können, dass die Erschei-
nungen sich wesentlich geändert hätten, wenn in dem einen Fall diese
oder jene Windung geschont wurde, die in dem anderen Fall heraus-
gespült war. Die Abweichung der einzelnen Fälle von einander war nur
eine quantitative und zwar waren die Störungen um so hochgradiger,
je ausgedehnter die Verletzung war." - —
„Die Verwüstungen, die durch Ausspülung angerichtet wurden, be-
trafen sowohl die erregbare, wäe die unerregbare Zone Hitzig's." —
„Ich wende mich jetzt zu der Frage, ob etwa die Ergebnisse meiner
Versuche geeignet sind, derjenigen Hypothese als Stütze zu dienen, nach
welcher die einzelnen Abschnitte der grauen Rinde verschiedenen Ver-
richtungen dienen sollten. So weit bis jetzt meine Erfahrungen reichen,
kann ich mich nicht davon überzeugen, dass die Folgen von Verletzun-
gen innerhalb des von mir in Angriff genommenen Gebietes je nach
der Begrenzung des Substanzverlustes wesentliche Abweichungen dar-
geboten hätten. Die Erscheinungen, welche ich au meinen Hunden
beobachtet habe, waren nur dem Grade nach verschieden, obwohl die
Verletzung bei jedem gewisse räumliche Eigenthümlichkeiten zeigte."
Während bisher also mit aller Entschiedenheit die Lehre verfochten
wurde, dass die auf den Eingriff in das Gehirn folgenden Krankheits-
erscheinungen nicht von dem Orte, sondern nur von der Grösse des
Eingriffs abhängig seien, dass also von einer Localisation im Grosshirn
nicht die Rede sei, vielmehr die einzelnen Abschnitte der Grosshirnrinde
gleichwerthig seien, beginnt Goltz in seiner dritten Abhandlung (Juni
18791) einzulenken. Er sagt hier: „Es ist nicht ausgemacht, ob jedes
Stück der Hirnrinde gleichwerthig ist. Die Thiere mit Zerstörung bei-
der Scheitellappen zeigen, wie aus meinen bisherigen Versuchen her-
vorzugehen scheint, dauernd stumpfere Empfindung als solche, welche
den gleichen Verlust an den Hinterhauptslappen erlitten haben. Da-
gegen scheint die Verletzung der Hinterhauptslappen eine tiefere,
dauernde Sehstörung zur Folge zu haben."
Indessen folgt darauf ein Satz, aus dem hervorgeht, wie schwer
sich Goltz von seinen alten Anschauungen losmachen konnte. „So
habe ich also aus meinen Versuchen die üeberzeugung gewonnen, dass
jeder Abschnitt der Rindensubstanz des Grosshirns sich an den Func-
tionen betheiligt, aus welchen wir auf Wollen, Empfinden, Vorstellen
1) S. 114.
Hitzig, Gesammelte Abliandl. II. Theil.
— 50 —
iiDd Denken scliliessen. Jeder Abschnitt ist unabhängig von
den übrigen, mit allen willkürlichen Muskeln durch Leitun-
gen verknüpft und steht andrerseits in Verbindung mit allen
sensiblen Nerven des Körpers."
Das heisst doch mit kürzeren Worten ausgedrückt, dass jeder Ab-
schnitt der Rindensubstanz des Grosshirns gleich werthig mit jedem an-
deren Abschnitt sei.
In der vierten Abhandlung (September 1881) vergleicht Goltz
weniger die Functionen der einzelnen Hirnlappen mit einander. Er be-
schränkt sich vielmehr auf die Besprechung der Frage nach der Exi-
stenz eines umschriebeneu Sehcentrums und schliesst in dieser Be-
Äiehungi): „Indem ich also auch auf Grund meiner neueren Erfahrungen
■einen grösseren Einfluss des Hinterhirns auf das Sehen für festgestellt
■erachte, kommt es mir dabei nicht in den Sinn, etwa eine begrenzte
Sehsphäre zuzugeben, wie sie Ferrier, Munk und Luciani construirt
haben."
Die Gründe, wegen deren Goltz ein umschriebenes Sehcentrum
leugnet, interessiren uns an dieser Stelle nicht; wir stehen ihnen an
dieser Stelle ganz objectiv gegenüber, um sie in einer anderen Abhand-
lung eingehend zu discutiren.
In einer sechsten Abhandlung 2) nimmt Goltz dann im Wesentlichen
den gleichen Standpunkt ein, den wir bereits im Vorstehenden aus der
fünften Abhandlung kennen gelernt haben. Indessen haben wir doch
•einige seiner hier gemachten Bemerkungen anzuführen. Zunächst wird
hier zugestanden, dass Hunde mit doppelseitiger tiefer Zerstörung der
Vorderlappen dauernd die Fähigkeit verlieren, die Pfoten als Hände
2U gebrauchen (z. B. S. 4-47) und ferner kommt Goltz hier wiederholt
auf seine Entdeckung, der er besonderes Gewicht beilegt, zurüclc, dass
solche Hunde erhebliche Fressstörungen zeigen (S. 442). Ich will an
dieser Stelle nicht auf seine, gegen meine Erklärung dieser Thatsacheu
gerichtete Polemik, welche er selbst meiner Ansicht nach durch seine
■eigenen neueren Befunde entkräftet, eingehen — vielleicht geschieht
dies an einer anderen Stelle, — hier interessirt nur seine Angabe, dass
solche Störungen bei gleichen symmetrischen Verletzungen der Hinter-
lappen fehlen. Sodann bleibt der Vollständigkeit halber seine Angabe,
dass Hunde mit grossen symmetrischen Verletzungen der Hinterhaupts-
lappen auf einen kalten Luftstrom, der ihre Extremitäten trifl't, nicht
1) F. Goltz, Ueber die Verrichtungen des Grosshirns, s. S. 169.
2) F. Goltz, Ueber die Verrichtungen des Grosshirns. Pflüger' s
Archiv Bd. 42. S. 419. 1888.
— 51 —
reagiren (S. 457 und 462), deshalb anzuführen, weil Goltz damit seine
frühere Angabe, dass der Tastsinn solcher Hunde ungeschädigt sei, ein-
schränken will. Indessen will es mir viehuehr scheinen, als ob diese
Stumpfheit der Reaction ausreichend durch den tiefen Blödsinn erklärt
würde, welchen Goltz diesen Versuch sobjecten zuschreibt und durch
zahlreiche Beweise erhärtet. Andererseits giebt er zu, dass Hunde mit
grossen symmetrischen Verstümmelungen der Hinterlappen, die B'ähig-
keit, die Pfoten zu geben, nicht zu verlieren brauchen.
Alles in allem geht aus den angeführten Stellen unwiderleglich
hervor, dass Goltz ungeachtet seiner Proteste seine ursprüngliche Be-
hauptung, dass Hunde mit verstümmelten Vorderlappen sich in nichts
von Hunden mit verstümmelten Hinterlappen unterschieden , allmählig
dahin berichtigt hat, dass sehr wesentliche Unterschiede zwischen der
einen und der anderen Gruppe von Thieren bestehen. Fragen wir nach
den Gründen dieser Sinnesänderung, so ergeben sie sich ohne weiteres
aus der Verschiedenheit der bei den einzelnen Versuchsreihen angewen-
deten Operationsmethoden und dies ist einer, von denjenigen Gründen,
die mich zu näherer Betrachtung dieser Untersuchungen veranlasst haben.
Die Angaben von Goltz über sein Verfahren bei den einzelnen
Operationen, über dasjenige, was dabei zerstört wurde und namentlich
über den Heilungsvorgang sind ziemlich summarisch. Gleichwohl lassen
sich doch mit Bezug auf einen Punkt sichere Schlüsse aus seinen spär-
lichen Angaben ziehen. Diesen zufolge hat er bei den, in den beiden
ersten Abhandlungen beschriebenen Versuchen zwei Trepanlöcher auf
dem Plauum semicirculare angelegt und durch diese vermittelst einer
Druckpumpe die dazwischen liegende Hirnmasse herausgespült. In spä-
teren Operationen wurden dann noch mehr Trepanlöcher zur Einleitung
des gleichen Verfahrens gebohrt.
Schon bei der erstgedachten Operation ist es unmöglich, den
directen Eingriff auf den Vorder- oder Hinterlappen des Gehirns zu be-
schränken. Ausserdem greift die directe Zerstörung erheblich in die
Tiefe. Endlich aber entstehen bei der Durchspülung des Gehirns über
haupt, wie von Goltz selbst angeführt und wie von mir und vielen
anderen bemängelt worden ist, Erscheinungen von Hirndruck. Wenn
also nicht nur in jedem dieser Versuche sowohl die Vorder- wie die
Hinterlappen angegriffen wurden, wenn ausserdem sowohl ihre Asso-
ciations- wie ihre Projectionssysteme geschädigt wurden und wenn end-
lich Allgemeinerscheinungen zu Tage traten, so war es eben von vorn
herein unmöglich, dass die Versuchsobjecte nachher solche Erscheinungen
zeigten, welche für die Läsion eines bestimmten Lappens charakteristisch
sind. Ganz gleichgültig ist es dabei, worauf Goltz sich stützt, ob bei
4*
— 52 —
den A^erschiedenen Versuchen das eine Mal diese, das andere Mal jene
Windung mehr oder weniger beschädigt war. Der Schliiss von Goltz,
dass er keinen Unterschied zwischen den Resultaten seiner einzelneu
Operationen habe entdecken können, folgt daher mit Nothwendigkeit aus
der Art dieser Operationen; aber es kann nicht die Rede davon sein,
dass sie auch nur das geringste gegen die Lehre von der Localisation
bewiesen, gleichviel ob diese in einem meinen eigenen Anschauungen
entsprechenden oder weit über diese hinausgehenden oder in seinem
eigenen Sinn formulirt wird.
Wenn ich im Vorstehenden ausgeführt habe, wie Goltz in seiner
dritten Abhandlung derart einzulenken beginnt, dass er den Zerstörungen
der motorischen Region einen grösseren Einfliiss auf die Empfindung
imd den Zerstörungen des Hinterhauptlappens einen grösseren Einfluss
auf das Sehvermögen zuerkennt, so erklärt sich auch dies in der ein-
fachsten Weise aus der bei den diesmaligen Versuchen angewendeten
Methode. Zwar spülte er auch diesmal die oberflächlichen Schichten
der Mantelsubstanz mit der Druckpumpe heraus und musste folglich die
diesem wenig zarten Verfahren an sich anhaftenden Mängel mit in den
Kauf nehmen, indessen gelang ihm eine relative Begrenzung der Wir-
kungen des Eingriffs doch dadurch, dass er lummehr grössere Flächen
vollkommen freilegte und nur die freigelegten Theile fortspülte. Wäh-
rend also bei den früheren Operationen eine Schädigung weit auseinan-
der liegender Regionen der Hemisphäre unvermeidlich war, war bei
der jetzt angewendeten Methode die Möglichkeit der Begrenzung des
Eingriffs, wenn auch nicht auf die Rinde und deren unmittelbare Nach-
barschaft, so doch wohl auf die voi'deren bezw. hinteren Abschnitte der
Hemisphäre gegeben.
Bei den, seinen drei letzten Abhandlungen zu Grunde gelegten
Versuchen hat Goltz sich endlich theils der Bohrmaschine mit ver-
schiedenen Ansatzstücken, namentlich des sogenannten Scheerenboh-
rers, theils des Messers bedient. Gleichzeitig giebt er jetzt die früher
von ihm stets geleugneten Mängel der Hirndurchspülung selbst zu
(a. a. 0. S. 130). Es ist entschieden unrichtig, wenn er hier sagt, er
habe früher nur die Absicht gehabt, die Restitutionsfrage zu prüfen,
um sich nunmehr der gründlichen Untersuchung der Localisationslehre
zuzuwenden. Welche Absichten er gehabt hat, kaini freilich niemand
ermessen; aber seine Ausführungen und seine Schlüsse bezogen sich
vielmehr auf die von ihm angefochtene Lehre von der Localisation, als
auf die Restitution.
Unzweifelhaft sind die hier erwähnten Methoden bei weitem mehr
geeignet, begrenzte Zerstörungen hervorzurufen, als die früher besprochenen
— 53 —
und folgerecht haben sich die Zugeständnisse, welche Goltz schliess-
lich der Localisationslehre gemacht hat, zu dem Umfange erweitert, den
wir im Eingange dieser Erörteiamgen kennen gelernt haben.
Ich hatte Goltz seiner Zeit eingewendet i), dass der von ihm ein-
geschlagene Weg ein solcher sei, der nicht gerade zum Ziel führe, er
sei mit einem Worte ein Umweg. Goltz hat mir das sehr übel ge-
nommen (a. a. 0. S. 100). Indessen dürfte sich, wie man soeben ge-
sehen hat, wohl selten eine Prophezeibung so erfüllt haben, als die
damals ausgesprochene.
Diese historisch vergleichende Darstellung mag vielleicht denjeni-
gen, welche an irgend eine Localisationslehre, wie immer sie sich diese
auch vorstellen, uuerschütterlich fest glauben, überflüssig erscheinen —
mit Unrecht. Ich will hier davon schweigen, dass ein so hervorragen-
der Forschei- wie E. HaeckeP), Goltz und Munk in einem Athem
als Begründer der Localisationslehre bezeichnet, während er die Güte
hat, unserer eigenen Arbeit mit Stillschweigen zu gedenken; derartige
sachliche und historische Irrthümer werden der Erkenntuiss der Wahr-
heit keinen Eintrag thun. Aber die Lehre von der cerebralen Locali-
sation ist, wie ich dies noch näher zu erörtern gedenke, keineswegs ein
wohl definirter Begriff und so manche von den Thatsachen, die Goltz
im Verlauf seiner Untersuchungen zu Tage gefördert hat, muss nur an
die ihr gebührende Stelle und in das richtige Licht gerückt werden,
um die ihr zukommende Bedeutung in der Gesammtheit unserer Kennt-
nisse zu erlangen. Dies ist ohne Keuntniss der Entwicklung der Lehre
unmöglich und es ist auch nicht wohl möglich ohne einen, wenn auch
nur ganz flüchtigen Blick auf die Art der Polemik von Goltz. So
sehr ich auch die Verdienste dieses Forschers stets anerkannt habe und in
Zukunft anerkennen werde, so wenig kann ich die von ihm angewandte
Art der Polemik billigen, namentlich dort, wo sie, wie im Vorstehenden
angedeutet, in dem Bestreben Recht zu behalten, die Erkenntniss der
Wahrheit erschwert. —
Endlich sind die Methoden und die Theorien von Goltz keineswegs
als todt und abgethan zu betrachten. Vielmehr hat sein Schüler Loeb
nicht nur in ähnlichem Sinne weiter experimentirt, sondern er hat sogar
einen Theil der von Goltz 2;emachten Concessionen mehr oder minder
1) E. Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. Neue Folge. Rei-
chert's und du Bois-Reymond's Archiv. 1876. S. 710.
2) E. Haeckel, Ueber unsere gegenwärtige Kenntniss vom Ursprung des
Menschen. Vortrag gehalten auf dem 4. internationalen Zoologen- Congress
in Cambridge. Bonn 1899.
— 54 —
stillschweigend fallen lassen , um gewisse andere Anschauungen von
Goltz, unter Hinzufügung reichlicher eigener Apperceptionen zu Theo-
rien und Gesetzen zu entwickeln, mit denen wir uns noch zu beschäf-
tigen haben werden. Vielleicht hätte ich mich entschliessen können,
diese Bestrebungen der Vergessenheit zu überlassen, wenn sie nicht
neuerdings in der ihrem Urheber eigenen anspruchsvollen und abspre-
chenden Form in einem Buche i) wieder aufgetaucht wären, welches
nach anderer Richtung mancherlei thatsächliche Mittheilungen von In-
teresse enthält und wenn nicht die Erfahrung lehrte, dass sich die
Werthschätzung, welche ei'nem Theile der Leistungen eines Autors mit
Recht gezollt wird, auf einen anderen Theil dieser Leistungen mit Un-
recht um so leichter überträgt, je weniger die Gesammtheit der Materie
der allgemeinen Beurtheilung zugänglich ist.
Wenn man an die Durchdringung und Wiedergabe der theoretischen
Ansichten dieses Forschers geht, so begegnet man einer Reihe von
Schwierigkeiten, deren erste, wie sich noch zeigen wird, darin besteht,
dass er zu den verschiedenen Zeiten seiner Thätigkeit und an den ver-
schiedenen Stellen seiner Abhandlungen zu einer Reihe von Apercus
gelangt, die sich bei ihm alsbald zu Gesetzen von weittragender Bedeu-
tung ausbilden, ohne dass er dabei die von ihm begonnenen Gedanken-
reihen soweit durchführte, wie es für die Aufstellung von Gesetzen
erforderlich wäre. So ereignet es sich, dass gerade diejenigen That-
sachen, welche für den wesentlichen Inhalt jener sogenannten Gesetze
von entscheidender Bedeutung sein müssten, gänzlich ausser Betracht
bleiben.
Ich werde auf die Ansichten Loeb's über die Functionen des
Grosshirns weiter unten zurückkommen; für den Augenblick interessirt
uns nur das Versuchsmaterial, soweit es den Hund angeht, auf welches
er seine Theorien aufgebaut hat.
Betrachten wir zunächst die Ergebnisse seiner Zerstörungen des
Hinterlappens.
1. Exstirpation der Stelle A^ nebst Umgebung nach vorn über
die Sehsphäre hinaus, nach hinten bis an die Basis, ohne irgend eine
Sehstörung 2).
2. Doppelseitige Exstirpation der ganzen Convexität der Sehsphäre.
1) J, Loeb, Einleitung in die vergleichende Gehirnphysiologie und ver-
gleichende Psychologie mit besonderer Berücksichtigung der wirbellosen Thiere.
Leipzig 1899.
2) J. Loeb, Dio Sehstörungen nach Verletzung der Grosshirnrinde.
Pf lüger 's Archiv Bd. 34. S. 18.
55
Der Hund hatte anscheinend eine bilaterale temporale Sehstörung.
(a. a. 0. S. 21.) Die Stelle des deutlichsten Sehens soll aber intact ge-
wesen sein, ohne dass ich dies, wie übrigens auch bei anderen analogen
Versuchen, als erwiesen erachten könnte.
3. Einseitige Exstirpation der ganzen Convexität der Sehsphäre,
Heilung unter Eiterung, temporale Hemiamblyopie (S. 25).
4. Zerstörung der ganzen Convexität der Sehsphäre mit Ausnahme
der lateralen Partie. Heilung per primam, keine Sehstörung.
5. Exstirpation der Stelle A^. Eiterung, länger als zwei Wochen
dauernde temporale Sehstörung (S. 28).
6. Exstirpation der Stelle A^. Heilung per primam, keine Seh-
störung.
7. — 14. Jedesmal Exstirpation der Stelle A^. Zweimal keine Seh-
störung, sechsmal laterale Hemiamblyopie. Ueber den Heilungsprocess
ist nichts gesagt (S. 29).
Fig. 8. A. Aj Sehsphäre, B. B^ Hörsphäre, G. Ohrregion nach Munk.
Ich übergehe mehrere Versuche, bei denen Primär- oder Secundär-
Operationen in verschiedenen Theilen der Sehsphäre mit dem Erfolge
ausgeführt wurden, dass die gewöhnlichen Erscheinungen der homony-
men Hemiamblyopie auftraten.
Es folgen dann zwei secundäre Exstirpationen der occipitotempo-
ralen Partie, bei denen hochgradige Sehstörungen eintraten, während
die primären Operationen in der Sehsphäre das eine Mal gar keine,
das andere Mal eine vorübergehende Sehstörung gesetzt hatten. Bei
zwei primären Operationen an der gleichen Stelle erschien das eine Mal
gar keine, das andere Mal eine zweifelhafte Sehstörung.
Wir gehen nunmehr zu den Operationen Loeb's an der motori-
schen Region über. (S. 49, 50.)
1. Exstirpation der hinteren Partie der Augenregion (Munk) und
der vorderen Partie der Sehsphäre links. Keinerlei Störung.
— 56 —
2. Derselbe Hund. Exstirpation der Augenregiou unter Schonung
der Sehsphäre rechts. Hemiamblyopie und motorische Störung links.
3. Derselbe Hund. Exstirpation der vorderen Partie der Augen-
region und der M unk 'sehen Hinterbeinregion links. Keinerlei Störung.
4. Derselbe Hund. Exstirpation des Restes der motorischen Region
rechts. Ausgeprägte Sehstörung und Bewegungsstörung links.
5. Anderer Hund. Exstirpation der „Fühlsphäre des Auges" rechts.
Keinerlei Störung.
6. Derselbe Hund. Zerstörung des Restes der motorischen Region
rechts. Hemiamblyopie und Drehstörung.
7. Exstirpation der Sehsphäre links. Hemiamblyopie.
8. Derselbe Hund. Partielle Exstirpation in der motorischen Region
links. Motorische Störung und Hemiamblyopie von solcher Intensität,
wie sie Loeb „selbst bei solchen Thieren, die drei ausgedehnte Opera-
tionen im Hinterhauptslappen erlitten hatten, nicht beobachtet" hatte.
(S. 50.)
Von zwei Operationen im Schläfenlappen verlief wieder eine mit,
die andere ohne Sehstörung.
Am Stirnlappen wairden mehrere, wie viel ist nicht gesagt, Opera-
tionen ausgeführt 1).
1. Abtrennung des linken Stirnlappens mit dem Messer. Schwere
Hemiamblyopie, motorische Störungen in den Extremitäten imd Dreh-
störung, keine Störung in der Bewegung der Wirbelsäule.
2. Gleiche Operation, starke intracranielle Blutung, Heilung unter
Eiterung. Die schwerste Hemiamblyopie, die Loeb je gesehen hat.
Reitbahnbewegungen. Motilitätsstörungen in den Extremitäten, alles
dieses nicht verschwindend: keine Störung in der Bewegung der Wir-
belsäule.
Andere Thiere glichen bald mehr dem einen, bald mehr dem an-
deren der beiden hier geschilderten Thiere.
Fassen wir das vorgetragene Material, in soweit das möglich ist,
in Kürze zusammen, so ergiebt sich zunächst für die Sehsphäre Fol-
gendes.
I. Keine Sehstörung: Bei den Versuchen 2): 1. Grosse Exstir-
pation über die „Sehsphäre" hinaus. 4. Zerstörung fast der ganzen
Convexität der Sehsphäre. 6. Exstirpation der Stelle A^. 7. — 14. Zwei
Exstirpationeu der Stelle A^.
1) J. Loeb, Beiträge zur Physiologie des Grosshirns. Pflüger's Archiv
Bd. 39. S. 314.
2) Die Ziffern beziehen sich auf die im Vorstehenden augewendete Nume-
rirune;.
— 57 —
IL Selistörung: 2. Doppelseitige Exstirpatlonen der ganzen Con-
vexitüt der Sehspliäre. 3. Exstirpation der ganzen Convexität der Seh-
sphäre. 5. Exstirpation der Stelle A^. 7.^14. 6 Mal Sehstörung.
Es ergiebt sich also, dass Loeb unter den 14 hier referirten Ver-
suchen 9 Mal ein positives und 5 Mal ein negatives Resultat hatte;
ausserdem hatte er in einer Anzahl von anderen Versuchen, die sich in
Kürze nicht wohl wiedergeben lassen, zum grösseren Theile positive,
zum geringeren Theile negative Erfolge. Er kommt denn auch (S. 40)
zu dem Schlüsse, dass jede Stelle der Rinde des Hinterhauptlappens
weggenommen werden könne, ohne dass die geringste Sehstörung dar-
auf erfolge.
Ganz ähnlich ist das Ergebniss seiner nur in geringer Zahl an der
occipito-temporalen Region angestellten Versuche. Die Versuche Loeb's
an der „motorischen Region" ergaben im Princip gleichartige Re-
sultate, also Gesetzlosigkeit. Besonders interessirt uns hier der unter
1 — 4 angeführte Huud, an dem vier Operationen ausgeführt wurden.
Es kommt weniger darauf an, dass bei den ersten beiden, annähernd
symmetrischen Operationen in der sogenannten Augenregion Munk's
das eine Mal, als die Sehsphäre verletzt wurde, keine Sehstörimg und
das andere Mal, als sie geschont wurde, eine Sehstörung auftrat; da-
gegen lege ich besonderes Gewicht darauf, dass der gleiche Hund, nach-
dem ihm bei der dritten Operation neben dem Reste der sogenannten
Augenregion auch noch die Hinterbeinregion genommen war, überhaupt
keine Störungen zeigte. Ebenso ist der unter 6 erwähnte Versuch in-
sofern von Interesse, als bei ihm als Folge einer totalen Zerstörung der
motorischen Region zwar Drehstörungen, aber keine anderweitigen Be-
wegungsstörungen angegeben sind.
Von dem Reste dieses Materials recapitulire ich nur die beiden am
Stirnlappen ausgeführten und ausführlich mitgetheilten Versuche. Hier
finden wir Gesetzmässigkeit. Beide ergaben nicht, wie Munk wollte,
Störungen in der Bewegung der Wirbelsäule, dagegen anderweitige
schwere Motilitäts- und Sehstörungen.
Alles in allem ist Loeb der von ihm angestrebte Nachweis also
wohl gelungen, nämlich „dass bei seinen Versuchen die vorschrifts-
mässigen Störungen fehlen, dagegen aber ganz andere auftreten." Ja
noch mehr, es ist ihm der Nachweis gelungen, dass im Gebiete der
Grosshirnphysiologie, abweichend von allen anderen Wissensgebieten,
Gesetzlosigkeit herrscht.
Er hati) diese Gesetzlosigkeit, was die Sehsphäre angeht, der
1) Loeb, Die Sehstörungen etc. 1884. (8. 57.)
— 58 —
Hauptsache nach dadurch zu erklären gesucht, dass „bei allen Thieren,
die nach einer Verletzung im Hinterhauptlappen von keiner Sehstörung
befallen wurden, die Operation fast ohne Blutung in's Gehirn, die Hei-
lung per primam intentionem verlaufen war."
Indessen muss er doch zugeben, dass auch bei günstigem Verlauf
der Operation, bei einer Heilung per primam eine Hemiamblyopie er-
folgen kann. Er schiebt dies auf die verschiedene Reizbarkeit des
Gehirns.
Loeb ist indessen noch viel weiter gegangen, indem er an anderen
Orten „den ganzen Streit und seine respectable Dauer um die Locali-
sationslehre" auf die Nichtbeachtung derartiger umstände, von Fehlern,
Zwischenfällen wie z. B. intracranielle Blutungen etc. zurückführt i).
Ich habe keinerlei Interesse an der Aufrechterhaltung der Lehre
Munk's von der Existenz eines Sehcentrums in seiner Stelle A, und
von seiner Sehsphäre überhaupt. Denn wenn ich auch gefunden habe,
dass die Verletzung jener Stelle zu Sehstörungen führt, so habe ich
mich doch wohl gehütet, aus dieser Erfahrung heraus ein Sehcenti'um
zu construiren. Dies entbindet mich jedoch nicht von der Verpflich-
tung, die Richtigkeit der Behauptungen Loeb 's zu prüfen.
Wenn dieser Autor den Gegnern Nichtbeachtung von Operations-
fehlern und Zufälligkeiten derart vorwirft, dass er die ganze Theorie
von der cerebralen Localisation darauf zurückführt, so sollte man mei-
nen, dass er selbst sich von diesen Fehlern auf das sorgfältigste frei-
gehalten hätte. Thatsächlich trifi't aber das Gegentheil zu. Dass man
Versuche, bei denen intracranielle Blutungen vorgekommen sind, als
werthlos bei Seite zu legen hat, erscheint mir selbstverständlich. Loeb
aber, der Anderen die Benutzung solcher Versuche vorwirft, ohne dafür
Beweise beizubringen, hat sie selbst in ausgiebiger Weise verwerthet.
Ich erinnere nur an jenen vorstehend citirten Hund, bei dem nach Ab-
tragung des Stirnlappens, mit starker intracranieller Blutung und Hei-
lang unter Eiterung dauernd die schwerste Hemiamblyopie, Reitbahubewe-
gangen und Motilitätsstörungen in den Extremitäten eintraten. Ich muss
ihm also schon aus diesem Gesichtspunkte das Recht zu solchen Vor-
würfen überhaupt bestreiten. Was mich aber im Besonderen angeht,
so habe ich 2) bereits in meinen ersten Arbeiten auf die Nothwendigkeit
der Beachtung der sogenannten Nebenbedingungen hingewiesen, weil
anderenfalls unvergleichbare Grössen geschaffen würden und ich glaube
1) Loeb, Beiträge etc. 1. c. S. 313.
2) E. Hitzig, Lähmungsversuche am Grosshirn. Reichert's und du
Bois-Reyraond's Archiv. 1874. S. 435—437.
— 59 —
nicht, dnss Loeb mir einen einzigen Fall nachweisen kann, in dem ich
von dieser, durch mich selbst aufgestellten Regel abgewichen wäre.
Dagegen habe ich selbst an anderer Stelle nachgewiesen i), dass
Loeb, der sich schon als Student gestattete, andere Leute zu hofmeistern
und abzukanzeln, und der von diesen Gewohnheiten auch jetzt noch nicht
ablässt, sich bei den hier besprochenen Arbeiten der unglaublichsten
Unzuverlässigkeit, nicht nur in Bezug auf die Beschreibung seiner Ex-
stirpationen, sondern auch mit Bezug auf die Beschreibung der darauf-
folgenden Symptome schuldig gemacht hat. Er hatte damals ein Gehirn
demonstrirt, dem er den Stirnlappen abgetragen haben wollte, dem aber
thatsächlich auch der vordere Schenkel des Gyrus [sigmoides fehlte,
vyährend gleichzeitig noch ein grosser Erweichungsherd im hinteren
Schenkel des Gyrus sass.
Bei der gleichen Gelegenheit demonstrirte Loeb einen Hund, der
noch auf den Hinterbeinen gehen konnte, nachdem er ihm angeblich
die beiden Hinterbeinregionen unter möglichster Schonung der Vorder-
beinregionen exstirpirt hatte. Hierdurch sollte gegen Munk der Beweis
geführt werden, dass besondere Innervationscentren für das Hinterbein
nicht existiren. Dieser Beweis konnte aber durch jene Demonstration
deshalb nicht geführt werden, sie war gegenstandslos, weil Niemand,
auch Munk nicht, bestritten hatte, dass solche Hunde auf den Hinter-
beinen gehen können. Von diesem Hunde ist anscheinend auch auf
S. 318 der im Jahre 1886 erschienenen „Beiträge" Loeb 's die Rede.
Beide Male unterliess er es, diejenigen Störungen anzuführen, welche so
operirte Thiere in den Hinterbeinen regelmässig haben und welche auch
der vorerwähnte Hund, wie sich bald herausstellte, thatsächlich hatte,
während er andererseits nicht unterliess hervorzuheben, dass das Thier
eine sehr starke Störung in der Bewegung und der Sensibilität in den
vorderen Extremitäten hatte. Zum Ueberfluss behauptete Loeb bei jener
Gelegenheit, dass die Krankheitssymptome, welche ich damals in den
Hinterbeinen nachwies, auch bei gesunden Hunden nachzuweisen wären.
Loeb hatte sich damals durch Herrn Professor Zuntz attestiren lassen,
dass er von diesen Störungen in den Hinterbeinen, welche er bei seinen
Demonstrationen nicht erwähnt hatte, gewusst habe. Er hat nun neuer-
dings in seinem mehrerwähnten Buche (S. 176) die für mich unfass-
bare Kühnheit besessen, die an diesem Hunde gemachten Beobachtungen
mit der gleichen Tendenz als Beweismaterial heranzuziehen. Die be-
treffende Stelle lautet: „dagegen bestanden leichte, aber deutliche Aen-
1) E. Hitzig, Erwiderung dem Herrn Prof. Zuntz. Pflüger's Archiv
Bd. 40. 1887.
— 60 —
deruugen der Haltung der vorderen Extremitäten, hervorgebracht durch
die erwähnten Aenderuugen der Muskelspannuugen. Die sogenannten
Centren der Vorderbeine in der Grosshirnrinde liegen nämlich in der
Nähe der corticalen „Hinterbeincentren" (Fig. 34). Die leichte Reizung
der ersteren bei der Exstirpation der Hinterbeincentren ist genügend,
eine stärkere Wirkung auf den Tonus der Muskeln der Vorderbeine aus-
zuüben, als die Exstirpation der Hinterbeincentren auf die Muskeln der
letzteren auszuüben im Stande ist, einfach aus dem Grunde, weil
die segmentalen Ganglien der Hinterbeine im Lendenmark liegen und
deshalb- vom Operationsfeld-e erheblich weiter entfernt sind, als die
segmentalen Ganglien der Vorderbeine. Die Shokwirkungen der Ope-
ration sind also stärker im Vorderbein als im Hinterbein." Loeb stellt
die Sache also wiederum so dar, als wenn der Hund nur Störungen
in den Vorderbeinen, aber keine Störungen in den Hinterbeinen gehabt
hätte, während ich ihm vor der physiologischen Section der Naturfor-
scherversammlung bewiesen habe, dass in den Hinterbeinen die gleichen
Störungen nachweisbar waren wie in den Vorderbeinen und während er
sich hat attestiren lassen, dass er von diesen Störungen schon vorher
gewusst habe. Die Thatsache, mit der Loeb operirt, ist also falsch
und er hat gewusst, dass sie falsch war. Schon aus diesem Grunde ist
seine Deduction unbegründet, sie ist es auch deshalb, weil es sich hier-
bei keineswegs um eine „leichte Reizung" der Vorderbeinceutren, son-
dern darum handelt, dass man eben durch Eingriffe in den hinteren
Schenkel des Gyrus sigmoides immer beide Extremitäten schädigt. Ver-
letzt man das Vorderbeincentrum, so treten genau die gleichen Störun-
gen im Hinterbein auf, was der Theorie Loeb 's gänzlich widerspricht.
Hierher gehört auch die oben unter 3 der Operationen an der motori-
schen Region angeführte Beobachtung. Hier will Loeb einem Hunde
die vordere Partie der Augenregion und die Hinterbeinregion exstirpirt
haben, ohne dass irgend eine Störung auftrat. Ich will glauben, dass
Loeb keine Störungen in der Function der Extremitäten beobachtet
hat, aber vorhanden gewesen sind sie eben so sicher, wie sie bei dem
zuletzt besprochenen Hunde vorhanden waren.
Ich habe meine damaligen Bemerkungen mit folgendem Satze ge-
schlossen: „Nach diesen Auseinandersetzungen bleibe ich bei der Be-
hauptung stehen, dass es Herrn Loeb an der für so schwierige Unter-
suchungen erforderlichen Objectivität fehlt und dass aus diesem Grunde
seine Darstellungsweise — um von anderen Dingen zu schweigen — der
Zuverlässigkeit entbehrt."
Ich bedaure, dass Loeb mich durch Wiederauffrischung seiner Be-
hauptungen, durch die W^iederholung und W'^eiterentwicklung seiner halt-
— 61 —
losen Theorien und durch die Form seines Auftretens zur Wiederholung
dieses meines Urtlieiles nöthigt. Wir werden -aber in der Folge noch
sehen, wie Loeb sich bei anderen Gelegenheiten in ebenso unzuver-
lässiger Weise ausgedrückt hat und wie die Vorstellungen, welche man
sich von den hier erörterten Fragen zu bilden hat, deshalb von ganz
besonderer Wichtigkeit sind, weil sie auf das innigste zusammenhängen
mit den höchsten Problemen unserer psychologischen Erkeuntniss.
Wenn ich auch gute Gründe zu der Annahme habe, dass die
Stelle Ai und ihre Umgebung ein Sehceutrum in dem Sinne M unk 's
nicht ist, so erscheinen mir unter den vorgetragenen Umständen doch
die mit Bezug auf das Sehen negativen Resultate, über die Loeb nach
seinen Angriffen auf den Hinterhauptlappen berichtet, im höchsten Grade
verdächtig. An und für sich wäre es ja nicht auffallend, dass Sehstö-
rungen nach Eingriffen in jene Region ausbleiben, wenn diese kein
„Sehcentrum" ist. Auffallend ist jedoch, dass Loeb bei Primäropera-
tionen von dem Umfange, wie er sie vorgenommen hat, keine Sehstö-
rungen beobachtet haben w'ill, während ich und mit mir andere Beob-
achter nach derartigen Operationen ausnahmslos Sehstöruugen ein-
treten sah.
Bei der weiter oben unter 1. referirten Operation will Loeb z. B.
die Stelle A^ nebst Umgebung nach vorn über die Sehsphäre hinaus,
nach hinten bis an die Basis und bei der unter 4. angeführten Opera-
tion will er die ganze Convexität der Sehsphäre mit Ausnahme der
lateralen Partie ohne nachfolgende Sehstörung zerstört haben. — • Ab-
gesehen von anderen Bedenken und abgesehen von den abweichenden
Resultaten aller zuverlässigen Forscher erscheint es mir sehr auffallend,
dass bei Ausschaltungen von solchen Dimensionen die Sehstrahlung un-
geschädigt fortgekommen sein sollte. Ich will bei dieser Gelegenheit
gewisse Doppelversuche von Loeb erwähnen. Er fand^), dass nach
secundären Exstirpationen innerhalb der Sehsphäre schwerere und
dauernde Sehstörungen eintraten, während nach den primären Opera-
tionen leichtere und vorübergehende Sehstörungen zu beobachten ge-
wesen waren und bezieht dieses Resultat auf die Reizung der Hirnnarbe
durch die secundäre Operation. Diese Erklärung ist durchaus nicht die
einzig mögliche und sie ist wahi'scheinlich auch nicht die richtige.
Durch die Operation an der Convexität des Gehirns wird, wie ich 2)
zuerst nachgewiesen habe, der Markkörper nach oben verzogen, so dass
die tieferen Schichten und mit ihnen die Sehstrahlung dem zweiten
1) I. Loeb, Die Sehstörungen etc. S. 57 — 58.
2) E. Hitzig, Lähmungsversuche am Grosshirn. l. c. S. 429—431.
— 62 —
Eingriffe näher gerückt werden. Es kann sieb sogar bei solchen Secun-
däroperationen leicht ereignen, dass man unversehens in den Seitenven-
trikel gelangt. Der Umstand, dass Loeb bei diesen Secmidäroperationen
eine dauernde Sehstörung beobachtete, scheint mir mit aller Bestimmt-
heit auf eine Verletzung der Sehstrahlung hinzudeuten. Wenn er auch
auf diesen Gedanken nicht gekommen zu sein scheint, so ist es ihm
doch nicht entgangen, dass er bei dieseu Versuchen eine tiefere Zer-
störung der weissen Substanz angerichtet hat. Er sagt darüber: „Es ist
möglich, dass dieser Umstand schwer in die Wagschale fiel."'
Uebrigens verstehe ich -nicht, auf welchem Wege eine, auch auf
andere Weise z. B. mit dem Schneckenbohrer, von Loeb und zwar er-
folgreich vorgenommene Reizung der Narbe einen Einfluss auf die sub-
corticalen Centren ausüben sollte. Unter der oberflächlichen Narbe
befinden sich keine Nervenfasern, wie Loeb annimmt, sondern Degene-
rationsproducte, also auch Narbe.
Werfen wir also einen Rückblick auf das soeben Vorgetragene so-
weit es die Operationsmethode angeht, so ergiebt sich, dass schon aus
dieser die Gesetzlosigkeit, welche in den Versuchen Loeb 's die Haupt-
rolle spielt, sich hinreichend erklärt. Seine Versuche sind weder den
Versuchen der von ihm angegriffenen Autoren, noch seinen eigenen
Parallel versuchen äquivalent; sie sind unvollkommen beschrieben, sie
enthalten die wesentlichsten Lücken in der Beschreibung der Operation
und ihrer Folgen und dort, wo sich ein Einblick in die Einzelheiten
der Versuche eröffnet, gewahrt man, dass auch solche Versuche ver-
werthet, ja sogar als besonders beweisend verwerthet worden sind,
welche wegen ihrer Unreinheit von jeder Verwerthung hätten ausge-
schlossen werden sollen. Ausserdem aber genügt es für die Beurthei-
lung der Resultate dieses Forschers vollständig, wenn er grosse Stücke
der motorischen Region ausgeschaltet haben will, ohne irgend eine Stö-
rung zu sehen.
Goltz hat seiner Zeit den Satz aufgestellt: für die Beurtheilvmg
der Function eines Rindenabschnittes sei es unwesentlich, ob seine Zer-
störung zu irgend welchem Symptome führen könne, es käme darauf
an, ob sie zu diesen Störungen führen müsse.
So unanfechtbar dieser Satz auch ist, so besteht doch die absolut
erforderliche Prämisse für seine Richtigkeit in der Annahme, dass der
Untersucher thatsächlich vorhandene Störungen wirklich auffindet und
referirt. Es ist aber einfach unrichtig, dass motorische und sensible
Störungen nach grossen Eingriffen in die motorische Zone ausbleiben.
Niemand, der jemals am Hundehirn operirt hat, wird Loeb das Gegen-
theil glauben.
— 63 —
Trotz alledem und alledem muss aber auch dieser Autor zugeben^
dass die Hinterlappen in näherer Beziehung zum Sehen und die Vorder-
lappen in näherer Beziehung zur Bewegung und Empfindung stehen,
derart, dass Eingriffe in die Hinterlappen niemals zu Bewegungsstörun-
gen ohne Sehstörung und EingriiTe in die Vorderlappen niemals zu Seh-
störungen oline Bewegungsstörungen führen. —
Luciani ist in seiner letzten, zusammen mit Seppilli^) unter-
nommenen grösseren Arbeit zu einer ihm eigenthümlichen Theorie ge-
langt. Wir werfen einen Blick auf das erwähnte Buch und eine frühere
grössere Arbeit von Luciani und Tamburini-), wobei wir uns auf die
physiologischen Untersuchungen am Hunde beschränken, und zwar nur
insoweit sie sich auf das Sehvermögen und die in den Extremitäten
beobachteten Erscheinungen beziehen. Die Theorie Luciani's, welcher
er erst in seiner zeitlich späteren Arbeit Ausdruck gegeben hat, v.'eist
den einzelnen corticalen Functionen gut localisirte Centralgebiete an,
deren Zerstörung in der motorischen Region die ausgesprochensten mo-
torischen und sensiblen Erscheinungen in dem zugehörigen Körpertheil
und deren Zerstörung in der Sehsphäre die ausgesprochensten und
dauerndsten Sehstörungen setzt. Die Umgebung dieser Centralgebiete
steht aber in functionellem Zusammenhange mit ihnen, derart, dass
ihre Zerstörung zu weniger ausgesprochenen und kürzer dauernden Seh-
störungen führt, während in der motorischen Zone unter solchen Um-
ständen die Erscheinungen an anderen Körpertheilen , deren Centralge-
bieten man sich genähert hat, deutlicher auftreten, um sich in denjeni-
gen Körpertheilen, -von deren Centralgebieten man sich mehr entfernt
hat, mehr und mehr zu verwischen. Diese Erfahrungen sind nach ihm darauf
zurückzuführen, dass die einzelnen Centren der sensorisch-motorischen
Zone so vollständig miteinander verbunden und gleichsam ineinander
übergeführt sind, dass es nicht möglich ist, sie mit einer klaren be-
stimmten Linie von einander zu trennen, so wie dies geschieht, wenn
die Rinde eingeschnitten und entfernt wird.
Die motorische Zone umfasst den vorderen Theil des Gehirns von
der Spitze des Stirnlappens bis über den vorderen Theil der sogenann-
ten A.ugenregiou Munk's hinaus. Wenn man davon ausgeht, dass alle
diejenigen Theile zur Sehsphäre zu rechnen sind, deren Zerstörung irgend
welche Sehstörung hervorbringt, so stimmt Luciani mit Goltz über-
ein, oder kommt wenigstens seiner Ansicht sehr nahe, dass sich das
1) Luciani und Seppilli, Die Functionslocalisation auf der Grosshirn-
rinde, übersetzt von Fränkel. 1886.
2) Luciani und Tamburini, Sui centri psich. sensori corticali. 1879.
— 64 —
Sehcentrum bei Hunden zu weit ausdehnt, als dass von einer bestimm-
ten Oertlichkeit ernstlich die Rede sein könne. Sehstöruugen folgen
eben nach den Untersuchungen von Luciani und Seppilli, sowie nach
denjenigen früherer Autoren auf Exstirpationen an allen Th eilen der
Hirnrinde mit Ausnahme der unteren und inneren Seiten der Hemi-
sphären, welche bis jetzt noch wenig untersucht sind.
Die Theorie Munk's von der Projection der Retina auf die Seh-
sphäre ist unhaltbar; denn 1. erhält man bilaterale homonyme Hemi-
anopie nach Exstirpationen nicht nur des Hinterhauptlappens, sondern auch
des Scheitel- und Schläfenlappens; 2. folgt niemals partielle Blindheit
(die Rindenblindheit Munk's) nach symmetrischen Exstirpationen selbst
der Stelle A^ und 3. treten weder nach einseitiger, noch nach doppel-
seitiger Zerstörung der Rinde dauernde Sehstörungen ein, so dass man
eine Compensation durch die Reste der Sehsphäre Luciani' s anneh-
men muss.
Das Rindencentrum hat nur die Aufgabe, die Gesichtsempfindungen
im psychischen Sinne zu verarbeiten, diese bilden sich aber nicht, wie
Munk will, dort, sondern in den grossen Ganglien des Mittelhirns. Die
vier sensorischen Sphären (Sehsphäre, Hörsphäre, Riechsphäre, senso-
motorische Sphäre) haben, abgesehen davon, dass jede ein eigenes
Territorium in der Hirnrinde besitzt, ausserdem ein gemeinschaftliches
Territorium, welches innerhalb der Augenregion von Munk liegt. In
dieser Region greift die gegenseitige Ueberlagerung und consequenter-
weise die partielle Fusion der. einzelnen sensorischen Centren Platz.
Diese Region ist also die wichtigste in der Hemisphäre des Hundes, wo
sie gleichsam das Centruni der Centren repräsentirt.
Thatsächlich beleidigt nach seiner Ansicht die Exstirpation dieser
Region, während sie ganz besonders den Gesichtssinn betrifft, gleich-
zeitig die Gehörs-, Geruchs- und tactilen Wahrnehmungen. Es giebt
keinen anderen Hirntheil des Hundes, dessen Verletzungen fähig sind,
so complicirte Effecte zu veranlassen und gleichzeitig so tiefe psychische
Störungen des Thieres hervorzubringen.
Aus der angeführten Arbeit von Luciani und Tamburini hebe
ich nur hervor, dass sich dabei ein besonderer Einfluss von tiefen Zer-
störungen der Sylvi'schen Region der 2. ürwindung auf das Sehen er-
gab. Auch die anderen Theile dieser Windung werden in nähere Be-
ziehung zum Sehen gebracht. Die Sehsphäre von Munk ist kein Per-
ceptions-, sondern ein psychisches Centrum, in dem die Sinueswahr-
nehmungen ausgearbeitet Averden.
Die allgemeinen Betrachtangen, welche Luciani im Eingange seines
Buches über die Functionslocalisation anstellt, decken sich in sehr vielen
— 65 —
Punkten mit dem Inhalte der Einleitung dieses Aufsatzes, aber ich ver-
misse ihre strenge Anwendung auf die Art der angestellten Versuche
und die aus diesen gezogenen Schlüsse. Ueberall sind verhältnissmässig
grosse, sich über mehrere Windungen ausdehnende Zerstörungen von
•unbestimmter Tiefe vorgenommen worden, über die Art der Wundheilung
erfährt man so gut wie nichts; die Wundbehandkmg entspricht nicht
den an sie zu stellenden Anforderungen und schliesslich sind Versuche
angeführt worden, welche unzweideutige Resultate nicht ergeben haben
oder überhaupt nicht ergeben konnten. Auch die Untersuchungsmethoden,
insbesondere die des Sehvermögens, erscheinen mir an vielen Stellen
unzureichend. Nichtsdestoweniger haben diese Versuche viel, für jene
Zeit werthvolles Material beigebracht, auf das ich zurückzukommen ge-
denke und sie enthalten auch nichts, was sich nicht mit meinen eigenen
Erfahrungen vereinbaren oder durch die angewendeten Metboden er-
klären Hesse. Dagegen fehlt es ganz und gar an solchen experimen-
tellen Unterlagen, durch welche die Luciani'sche Hypothese von einem
Centrum der Centren gestützt werden könnte. Der Nachweis eines
solchen könnte meiner Ansicht nach nur darauf basirt sein, dass eine
kleine Verletzung in dem Centrum dieses Centrums der Centren die ge-
forderten Störungen, wenn auch nur vorübergehend, zui- Anschauung
brächte. Erfahrungsgemäss ist dies aber nicht der Fall, vielmehr können
solche Versuche vollkommen symptomlos verlaufen. Die von Luciani
angestellten Versuche entsprechen aber dieser Forderung überhaupt
nicht, abgesehen von allem, was sonst- dagegen einzuwenden ist.
Andererseits ist es vollkommen zutreffend, dass man durch Läh-
mungsversuche in der motorischen Region die motorischen wie die
sensiblen Innervationsgebiete nur in der von Luciani angegebenen un-
vollkommenen Weise von einander abzugrenzen vermag. Indessen ist
mindestens die corticale Isolirung der motorischen Innervation, wie ich
schon früher gezeigt hatte und später noch erörtern werde, allerdings
durch Reizversuche in vollkommener Weise zu erreichen. Ebenso
zutreffend ist die Angabe, dass Sehstörungen nach solchen Hirnver-
letzungen, wie Luciani sie vornahm, von der ganzen Convexität aus
hervorzubringen sind, sowie dass deren Intensität und Dauer am grössten
ist, wenn sie den Occipitallappen betreffen u.nd wenn sie überhaupt
grössere Bezirke der Convexität ausschalten. Dagegen ist meiner An-
sicht nach wiederum unrichtig, wenn Luciani alle diese Sehstörungen
ausschliesslich auf die angegriffenen Localitäten und überhaupt auf die
Rinde bezieht, obschon ich ihm darin beipflichte, dass die Convexität
des Hinterlappens nicht als ein Sehcentrum im Sinne Munk's, wohl
Hitzig, Gesammelte Abhandl. II. Tlieil. 5
— 66 —
aber als ein psychisches zur Verarbeitung optischer Eindrücke be-
stimmtes Centrum anzusehen ist. —
Die Arbeiten der meisten anderen italienischen Autoren, insoweit
sie mir bekannt geworden sind, scheinen mir mehr oder weniger unter
dem Einflüsse der Arbeiten Luciani's zu stehen. Ich will aus ihnen
nur die Untersuchungen von Bianchi und Tonnini hervorheben. Der
erste Forscher^) schreibt in üebereinstiramung mit Luciani und Tam-
burini der 2. ürwindu.ng einen besonderen Einfluss auf das Sehen
zu. Ausserdem umfasst das corticale Sehcentru.m die mittleren und
hinteren Theile der 1. und U. üi'windung, sowie den Rest des Hinter-
hauptlappens. Die isolirte Exstirpation eines jeden Segmentes ist, was
den augenblicklichen Effect angeht, der Exstirpation des Ganzen gleich-
werthig und das, was von dem ganzen Centrum übrig bleibt, reicht
hin, um das aufgehobene Sehvermögen wieder herzustellen. Die Ex-
stirpation des ganzen Sehcentrums bringt dauernde Sehstörungen hervor.
Die motorische Zone erstreckt sich ungefähr 1 cm weit über
die Grenze des Gyr. sigm. hinaus nach hinten. Von einer ausschliess-
lichen Beziehung bestimmter Punkte dieser Zone zu bestimmten Muskel-
gruppen kann keine Rede sein. Die centralen Elemente für die Inner-
vation eines bestimmten motorischen Organes sind vielmehr über die
ganze motorische Zone zerstreut und finden sich nur in wenigen Punkten
dichter zusammengelagert, derart, dass sie auf diese Weise die soge-
nannte erregbare Zone zusammensetzen. Aber diejenigen Muskeln,
welche voii hier aus erregt werden können, sind nicht nur hier, sondern
auch in dem ganzen Rest der motorischen Zone repräsentirt. Deshalb
geben nur die Ausschaltungen, die sich über einen grossen Theil der
motorischen Zone erstrecken, Veranlassung zu dauernden motorischen
Störungen. Die (^Kompensation wird also durch die Reste der gleich-
namigen, bis zu einem gewissen Grade aber auch durch die ungleich-
namige motorische Region vermittelt. Störungen des Tastsinnes
sind durch Eingriffe in die motorische Zone beim Hund nicht sicher
zu demonstriren.
Der vordere Antheil der 2. ürwindung ist gemischt motorisch-
sensorisch. Wird ihr Gebiet zusammen mit dem Gyrus sigmoides ent-
fernt, so wird die Hemiplegie schwerer, als wenn dieser allein entfernt
wird; bei ihrer alleinigen Exstirpation wird sowohl die Motilität, als
auch das Sehvermögen geschädigt. —
1) Bianchi, Sülle compensationi funzionali della corteccia cerebrale. (La
psichiatria. 1883.) — Bianchi, Ancora sulla dottrina dei centri corticali mo-
tori del cervello. (La psichiatria. 1885.)
— 67 —
Toniiiiii^) kommt zu dem allgemeinen Schlüsse, dass identische
Operationen nicht immer identische Resultate geben, während anderer-
seits verschiedene, wenn auch in nachbarlichen Regionen vorgenommene
Operationen sehr verwandte Symptomencomplexe darbieten. Also be-
steht grosse Aehulichkeit zwischen den occipitotemporalen und parietalen
Läsionen einerseits und zwischen den frontalen und parietalen anderer-
seits. Die entgegengesetzten Ersclieinu.ngen werden durch frontale
Läsionen einerseits und durch occipitale Läsionen andererseits hervor-
gebracht, aber auch dies ist nicht absolut. Die frontalen Läsionen
bringen leichter occipitale Symptome hervor als umgekehrt die occipi-
talen Läsionen frontale Symptome.
Motorische Störungen treten leichter nach frontalen Läsionen
hervor, dies können aber sowohl sigmopräfrontale, sigmoide, sigmo-
parietale, als auch parietale Lä,sionen allein sein. Die sigmoide Region
ist also mindestens nicht die einzige motorische Zone. Die parietale
Region hat namentlich in ihrer vorderen Hälfte mindestens eine gleiche,
wenn nicht eine grössere Wichtigkeit für das hemiplegische Syndrom
als die sigmoide Region.
Den Reizversuchen scheint Tonnini nur eine geringe Wichtigkeit
beizumessen.
Sehr ähnliche Ansichten wie über die corticale Läsion der Bewegung
hat Tonnini über corticale Localisation der höheren Sinne. Er
sagt in dieser Beziehung: „Wir verneinen die Specifität der occipi-
talen und temporalen Region, ohne deren Wichtigkeit auszuschliessen,
indem wir zulassen, dass die centrale, parietale Region der Hemisphären
mehr den Functionen eines Seh-Hörcentrums und vielleicht auch eines
complicirten sensorischen Centrums entspricht." Ausgedehnte Zer-
störungen, welche die tiefen Regionen der Sehsphäre betheiligen, können
eine fast complete Seelenblindheit zur Folge haben, wobei es unbestimmt
bleibt, ob es sich nicht um absolute Blindheit handelt; dabei ist zu be-
rücksichtigen, dass die schwerste residuale Sehstörung in Seelenblind-
heit besteht, wenn keine subcorticalen Degenerationen bestehen.
Läsionen der parietalen Region geben zu Seh- und Hörstörungen
von fast gleicher Intensität Veranlassung, namentlich gilt dies von der
vorderen Hälfte der 2. und 3. Urwindung. (üebrigens sind in den Ver-
suchen auch häufig, wenn schon nicht immer, Sehstörungen nach Ver-
letzungen des Gyrus sigmoides erwähnt.) „Es ist sicher, dass alle
unsere in der sigmoiden Region operirteu Hunde Seh- und auch Hör-
1) Tonnini, I fenomeni residuali e la loro natura psichica etc. Rivista
sperimentale. 1889.
— 68 —
Störungen darboten, von denen sie immer bis zum letzten Tage ihres
Lebens, wenn auch abgeschwächt, Residuen behalten werden." Diese
letzte Aeusserung ist darauf zurückzuführen, dass Tonnini nicht nur
die Motilitätsstörungen, sondern auch die des Gesichts, des Gehörs, des
Geruchs etc. als Ataxie auffasst, „die vielleicht die hauptsächlichste Ur-
sache der psychischen Blindheit, Taubheit und der anderen psychischen
Anästhesien und deshalb unheilbar ist, weil sie auf Unterbrechung der
Verbindungen mit dem Kleinhirn und den verschiedenen Associations-
systemen beruht." (S. 47.) —
Die Exstirpationen To-nniui's haben sämmtlich einen grösseren,
manchmal einen sehr grossen Umfang gehabt, so dass sich einige von
ihnen fast über die ganze Convexität erstreckten. Hieraus erklärt sich
ohne Weiteres ein grosser Theil seiner localisatorischen Ansichten. Denn
wenn auch er, wie Luciani, dem mittleren Theil des Gehirns ge-
mischte Functionen und eine höhere psychische Bedeutung zuschreibt,
so erklärt sich dies, ebenso wie seine anderweitige Vertheilung der
motorischen und sensuellen Functionen auf der Rinde durch die Her-
vorbringung von Nachbarschaftssymptomen, wie denn andererseits Nach-
barschaftssymptome nicht in Betracht kommen können, wenn Exstirpa-
tionen der entgegengesetzten Pole der Hemisphäre miteinander ver-
glichen werden.
Ein anderer Theil seiner Ansichten, wie auch derjenigen von
Bianchi ist darauf zurückzuführen, dass beide Forscher jede durch
Verletzung der Rinde hervorgebrachte Sehstörung ohne Weiteres auf die
Functionen der Rinde beziehen. Auch auf ihre Untersuchungen finden
die im Eingange dieser Abhandlung vorgetragenen Erörterungen und
meine Erfahrungen über secundäre Erweichung vielfach Anwendung.
Wir werden auch auf die soeben vorgetragenen Befunde, Ansichten und
Theorien zurückzukommen haben.
II. Ueber Untersuchungsmethoden.
Die elektrische Untersuchung.
Der von mir im Jahre 1870 in Gemeinschaft mit Fritsch ver-
öffentlichten Arbeit hatte ich nicht ohne Absicht den Titel „Ueber die
elektrische Erregbarkeit des Grosshirus" gegeben. Diese Arbeit enthält
zwar eine so grosse Anzahl die cerebrale Innervation der Bewegung
betreffende Thatsachen, dass der späteren Forschung nur der Ausbau
und die Fortentwicklung der Lehre auf vollkommen gesicherter Grund-
lage überlassen blieb. Aber in der That erschien mir der Nachweis,
dass sich die centrale Nervensubstanz im Gegensatz zu der damals all-
— 6!) —
gemein gültigen Lehre von Schiff und van Deen, mit Rücksicht auf
eine so wesentliche Grundeigenschaft wie die Erregbarkeit nicht wesentlich
von den Eigenschaften der peripheren Nerven unterschiede, an sich von
so eminenter principieller Wichtigkeit, dass sie schon aus diesem Grunde
die Wahl jenes Titels rechtfertigte. Hierzu kam der Werth, den ich
der elektrischen Reizung als Forschnngsmittel beilegte. Vielleicht war
es gerade jener Titel, welcher spätere Autoren mit Unrecht dazu ver-
anlasst hat, unseren Antheil an der Begründung der Lehre von der
corticalen Localisation auf den generellen Nachweis der elektrischen
Erregbarbeit des Grosshirns zu beschränken.
Ich will die Angaben, welche wir in jener Arbeit machten und
welche ich in mehreren späteren Arbeiten vervollständigte^), indessen nur
insoweit es dem Zwecke des vorliegenden Aufsatzes dient, kurz reca-
pituliren.
Wenn die elektrische Exploration überhaupt zuverlässige und un-
anfechtbare Ergebnisse zu Tage fördern sollte, so kam es darauf an,
diejenigen Stellen herauszufinden, deren Reizung bei der geringsten
überhaupt wirksamen Stromstärke einen Reizeifect ergab. Ein anderer
Zweck der Untersuchung musste in dem Studium der Art der so zur
Anschauung gebrachten Reizeffecte bestehen; d. h. es kam unter anderem
darauf an zu erforschen, ob, unter welchen Bedingungen und in welcher
Art jene Reizeffecte isolirt oder zu gemeinschaftlichen Muskelactionen
combinirt in die Erscheinung treten.
Diesen beiden Aufgaben entspricht die Reizung mit einzelnen
Schlägen und diejenige mit tetanisirenden Strömen in verschiedenem
Grade. Die Hervorbringung combinirter Muskelactionen erfolgt nicht
nur leichter, sondern in erheblich vollkommenerer Weise bei Anwendung
von Inductionsströmen, während die Localisirung der einzelnen Reiz-
effecte auf eng begrenzte Punkte beim Hunde nur unter Zuhilfenahme
der Reizung mit einzelnen Schlägen möglich ist. Ob diese Schläge nun
durch Schliessung von Kettenströmen hervorgebracht oder ob es einzelne
Inductionsschläge sind, ist an sich zwar gleichgültig; indessen ist die
Möglichkeit, dem galvanischen Schlag eine beliebige Dauer zu ver-
leihen, den Zwecken der Untersuchung förderlich, während die damit
1) E. Hitzig, Untersuchungen zur Physiologie des Grosshirns. Rei-
chert's und du Bois-Reymond's Archiv 1873. Kritische und experimen-
telle Untersuchungen zur Physiologie des Grosshirns. Untersuchungen zur
Physiologie des Grosshirns. Untersuchungen über das Gehirn. S. 63 ff. Ueber
äquivalente Regionen im Gehirn des Hundes, des Affen und des Menschen.
Ebenda. S. 126 ff.
— 70 —
Hand in Hand gehende Zunahme der elektrolytischen Wirkung von
Nachtheil ist; das Umgekehrte trifft für die Reizung mit einzelneu In-
ductionsströmen zu.
Zwei Eigenschaften der Hirnrinde sind es, welche den angeführten
Regeln zu Grunde liegen: 1. die Summirung der Wirkung schnell
auf einander folgender Reize und hiermit zusammenhängend
2. die successive Ladung der Elemente der Rinde und_ ihre
demnächstige Entladung bei Strömen dieser Art.
Wenn man die Reizung mit Inductionsströmen von subminimaler
Intensität beginnt, so sieht man die zu erwartende Zuckung erst nach
Verlauf von einigen Sekunden eintreten i), so dass man leicht zu dem
Glauben verleitet werden kann, dass man den eigentlichen Focus der
Innervation nicht gefunden habe. Kommt es dann bei Strömen dieser
oder solcher Intensität, deren Einbruch ein Reizeffect sofort folgt, zu
Muskelcontractionen, so sind diese stets combinirter Natur, wenigstens
habe ich niemals beobachtet, dass sich bei dieser Form der Reizung
einzelne Muskehi oder gar Theile von Muskeln der Extremitäten oder
des Stammes zusammengezogen hätten. Setzt man die Reizung alsdann
ort, so treten Nachbewegungen in der abhängigen Muskulatur ein,
welche sich in der, durch zahlreiche Arbeiten näher bekannt gewordenen
Weise auf die gesammte Körpermuskulatur ausdehnen können, so dass
aus dieser Ausbreitung der Ladung ein typischer epileptischer Anfall
resultirt.
Reizt man dagegen mit einzelnen Stromstössen, so lassen sich bei
passender Abstufung der Strominteusität sehr leicht einzelne Theile
von Muskeln, ganze Muskeln und Combinationen von Muskeln inner-
viren.
Es geht hieraus hervor, dass die combinirte Muskelcoutraction,
welche dem faradischen Reiz folgt, nicht das Product ist der Reizung
des eigentlichen Focus, d. h. der centralsteu und kleinsten Stelle, die
überhaupt auf einen Reiz antwortet, sondern dass die Combination der
einzelnen motorischen Elemente darauf beruht, dass der Reiz sich über
die unmittelbarste Umgebung der Eintrittsstelle ausdehnt und diese
durch Summirung der Erregung in denjenigen Zustand versetzt hat,
welcher der Auslösung einer Bewegung entspricht. Wenn nun auf
diese Weise immer grössere, wenn auch beschränkte Gebiete der Hirn-
oberfläche in den erregten Zustand versetzt werden, so ist es klar, dass
1) Vergleiche hierzu auch Bubnoff und Heidenhain , lieber Erre-
gungs- und Hemmungsvorgänge innerhalb der motorischen Hirncentren. Pflü-
ger's Archiv Bd. XXVL S. 156ff.
— 71 —
die einzelnen im Gyrus sigmoides des Hundes bei einander liegenden
Reizpunkte weniger leicht auseinander gehalten werden können und
dass daselbst die Aufdeckung und Umschreibung solcher Foci, in denen
wirklich eine Combination jener einzelnen Muskeln zu gemehischaft-
licher Action anatomisch und physiologisch begründet ist, ganz besoji-
deren Schwierigkeiten unterliegt.
Das Gehirn des Aft'en bietet ebenso wie für die Lähmungs versuche,
so auch für die Reizversuche viel günstigere Bedingungen dar und die
Verhältnisse liegen um so günstiger, je grösser das Gehirn ist und je
weiter deshalb die einzelnen Foci auseinandergezogen scheinen. Dazu
kommt noch, dass das Gehirn des Affen weniger leicht zur Hervor-
bringung von Nachbewegungen imd von epileptischen Anfällen dis-
ponirt scheint.
Es folgt daraus, dass jede strenge Untersuchung der Hirnobertläche
sich beider Reizmethoden bedienen muss, der einen zur Aufsuchung der
eigentlichen Foci, der anderen zur Nachweisung der von diesen aus
hervorzubringenden ßewegungscombinationen. Andererseits kann durch
die alieinige Anwendung von Inductionsströmen von grosser Intensität
mid langer Dauer allein die Existenz irgend eines motorischen Inner-
vationscentrums an einer beliebigen Oertlichkeit niemals bewiesen oder
wahrscheinlich gemacht werden. Hierbei lasse ich ganz und gar un-
erörtert, welchen Werth die motorische Reaction bestimmter Stellen der
Gehirnoberfläche für den Nachweis der Existenz von motorischen oder
wenn man will, „Fühlsphären" au den so reagirenden Oertlichkeiten
besitzt, um später darauf zurückzukommen. Aber ich werde wohl
kaum einem Widerspruch mit der Ansicht begegnen, dass die
wesentlichen Eigenschaften dieser Regionen mit Bezug auf
ihre elektrische Reaction identisch sein müssen und dass
folgerecht eine Region, welche in dieser Beziehung von den
motorischen oder Fühlsphären abweicht, diesen nicht zu-
gerechnet werden kann.
Diese Frage spielt eine wesentliche Rolle bei der Bestimmung der
Function des Stirnlappens des Hundes. Es ist, beiläufig gesagt, in der
hier uns beschäftigenden Frage gleichgültig, ob man zu dem Stirn-
lappen in functioneller Beziehung den medialen Theil des vorderen
;Schenkels des Gyrus sigmoides hinzurechnet, wie ich dies thue, oder
ob man ihn nicht hinzurechnet, wie z. ß. Munk dies thut; denn es
kommt hier nur auf die elektrische Reaction an. Nun ist es bekannt,
dass die Foci der von mir als motorisch bezeichneten Regionen auf
schwache electrische Ströme mit einer motorischen Reaction ant-
worten, während ich den Stirnlappen in der Ausdehnung der von mir
— 72 —
gegebenen Definition nicht nur gegen solche, sondern sogar gegen
Ströme von viel grösserer Intensität motorisch mierreghar fand. Es ist
ferner bekannt, dass Miink in dem von ihm sogenannten Stirnlappen
die „Fühlsphäre" für den Rumpf localisirt und dass ihm zur Stütze
für diese Ansicht die motorische Reaction, welche er bei der elektrischen
Reizung dieser Theile erhielt, diente. Ich habe gegen diese Lehre
M unk 's eingewendet, dass solche Reactionen seiner eigenen Angabe
nach nur bei Anwendung von Strömen von solcher Intensität und
Dauer eintreten, wie ich sie im Vorstehenden und früher als ungeeignet
bezeichnet habe und Munkl) hat darauf erwidert, dass bei meiner
Forderung eine Unklarheit zu Grunde gelegen habe — eine Behauptung,
welche nicht im Geringsten begründet ist — insofern als für die ab-
solute Grösse der Ströme, welche in Anwendung zu kommen hätten,
an sich überhaupt keine Beschränkung weiter gesetzt, sondern hierfür
nur der zu erzielende Erfolg, also die Erzielung der Bewegungen der
Wirbelsäule etc. massgebend sei.
Ich will jetzt dahingestellt sein lassen, in wieweit Munk im Recht
ist, w^enn er gerade bei diesen Versuchen den bekannten und soeben
erörterten Erfahrungen über die Diffusion der Ströme, über die Ladung
der Rinde keine Beachtung schenkt und zu seineu Gunsten eine, von
ihm allerdings, soviel ich sehe, nicht ausgesprochene Auffassung gelten
lassen, dass nämlich zur Hervorbringung von sichtbaren Bewegungen in
dieser Region die gleichzeitige Reizung der centralen Endstätten einer
grossen Zahl von central und peripher weit auseinander liegenden
Motoren erforderlich sei. Ich selbst habe wiederholt 2) diese Frage auf-
geworfen und zwar gerade in Bezug auf die Muskeln des Stammes, sie
dann aber durch den Versuch direct beantwortet. Wenn die von mir
für die motorische Region in Anspruch genommenen Theile dieser wirk-
lich zugehörten, dann mussten sie sich auch mit Bezug auf den elek-
trischen Reiz ebenso verhalten wie diese, mit anderen Worten, die von
dort innervirten Muskeln mussten sich auf die Stromstärke des Zuckungs-
minimums ganz oder theilweise contrahiren, auch wenn durch solche
Contractionen sichtbare Bewegungen der die Anwendung eines grösseren
Kraftaufwandes erfordernden Körpertheile nicht hervorgebracht wurden.
Das Vorhandensein solcher partiellen und totalen Muskelzuckungen wies
ich denn auch bei Reizung entsprechender Rindenpartien durch Zu-
1) Munk, Ueber die Ausdehnung der Sinnessphären in der Grosshirn-
rinde. Zweite Mittheilung. Sitzungsberichte 19Ü0. S. 782f.
2) E. Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. 1874. S. 48, 91 und
an anderen Orten.
— 73 —
fühlen und durch Aufdeckung der fraglichen Muskelgruppen nach. Es
liegt kein Grund vor, wegen dessen sich der sogenannte Stirnlappen in
dieser Beziehung anders verhalten sollte; wäre er also wirklich das
Centrum für die Rumpfmuskeln, so raüsste er auf einzelne galvanische
Stromstösse von der ungefähren Stärke des Zuckungsminimums mit
Muskelcontractionen antworten. Munk hat den Beweis, dass dem so
sei, nicht angetreten und thatsächlich ist es auch nicht der Fall.
Die hier kurz berührte Frage hat eine bei weitem grössere Wich-
tigkeit, als die Bestimmung der centralen Lokalisation einer grösseren
Muskelgruppe für sich beanspruchen darf: es handelt sich darum, ob
der Stirnlappen in seiner ganzen Ausdehnung lediglich mo-
torischen Functionen dient, oder ob dies nicht zutrifft.
Diese Frage ist wiederholt und auch in den letzten Jahren Gegen-
stand der Diskussion gewesen und sie ist von so hervorragender Wich-
tigkeit, dass ich sie nächstens eingehender zu besprechen beabsichtige.
Für diesmal beschränke ich mich daher auf die vorstehenden allge-
meinen Bemerkungen über die bei Anstellung von Reizversuchen er-
forderliche Kritik.
Eine Reihe von anderen Resultaten meiner eigenen Reizversuche
ist derart übersehen worden, dass sie von meinen Nachfolgern zum
Theil von Neuem entdeckt werden mussten, zum Theil unberücksichtigt
geblieben sind.
Uns iuteressiren zunächst die Verbindungen, welche die ein-
zelneu Innervationsgebiete miteinander einzugehen scheinen,
ein Verhalten, welches ich^) mit dem Namen „erregbare Verbindungen
der Centren" bezeichnete. In dieser Beziehung ergab sich zunächst,
dass es zwischen den Reizpunkten für die beiden Extremitäten und von
ihnen durch eine weniger erregbare Stelle getrennt, einen Punkt giebt,
von dem aus beide contralateralen Extremitäten gleichzeitig in Bewegung
gesetzt werden können. Um Stromschleifen nach den Reizpunkten für
die eine oder die andere Extremität konnte es sich nicht handeln, weil
der Reizeffekt eben aufhörte oder schwächer wurde, wenn die Elek-
troden sich diesen Reizpunkten näherten.
Ebenso gelang es mir durch Reizung mit stärkeren Strömen von
der Convexität aus, sowie durch Reizung mit meinem Lanzenrheophor
bei Einstechen in die Hirnsubstanz verschiedene Muskelcombinationen
nachzuweisen. Ich war damals geneigt, die letzterwähnten Reizeffecte
auf die grossen Ganglien zu beziehen; indessen dürfte es sich dabei
1) Untersuchungen etc. 1874. S. 45 ff.
— 74 —
wahrscheinlich nur um Reizung von nahe beieinander verhaufenden
Fasern der inneren Kapsel gehandelt haben.
Schon damals, also im Jahre 1873, konstatirte ich die Möglichkeit,
eine grössere Anzahl von Muskeln, vornehmlich die Stammmuskeln,
durch Reizung von der Oberfläche aus und nicht nur diese, sondern
auch den grösseren Theil der Muskulatur der Extremitäten durch die
Reizung mit dem Lanzenrheophor doppelseitig zur Contraction zu
bringen, wobei sich die gleichnamige hintere Extremität stärker, die
gleichnamige vordere Extremität schwächer betheiligte. Doppelseitige
Bewegungen der Zunge, des Facialis und der die Kiefern in Bewegung
setzenden Muskeln konnte ich') zum Theil in Uebereinstimmung mit
Ferrier durch Reizung der vorderen und basalen Theile der 2. und
3. Urwindung nachweisen.
Es konnte hiernach keinem Zweifel unterliegen, dass fast die
gesammte Muskulatur, wenn auch in verschiedener Stärke,
in beiden Hemisphären repräsentirt ist und demnach auch der
doppelseitigen Innervation zugänglich sein muss. Diese Thatsachen au
sich sind auch, abgesehen davon, dass sie, wie gesagt, von Anderen
erst wieder entdeckt wurden, bei der Erörterung einer Anzahl hierher
gehöriger Fragen, z. ß. der der Restitution, der doppelseitigen Paresen,
der doppelseitigen Steigerung der Reflexe etc., wie sie beim Menschen
beobachtet werden, nicht unbeachtet geblieben, ja sie haben sogar
wiederholt Veranlassung zu besonderen Experimentaluntersuchungen ge-
geben; von anderen Autoren sind sie überhaupt nicht berücksichtigt
worden. Und in noch höherem Grade gilt dies von meinen Unter-
suchungen über combinirte Reizeffecte. Gleichwohl sind alle diese
Dinge von nicht geringer Wichtigkeit für unsere Erkenntniss der Ge-
hirnmechanik. Vor der Hand erklären sie nicht nur bis zu einem ge-
wissen Grade die doppelseitigen Wirkungen einseitiger Zerstörungen
überhaupt, sondern sie lassen uns auch, wie bereits im Eingang dieser
Abhandlung angedeutet, die Gründe erkennen, wegen deren selbst kleine
Verletzungen der motorischen Region des Hundes einerseits in der Regel
zu motorischen und sensiblen Störungen beider contralateraler Extremi-
täten führen, andererseits aber unter bestimmten Voraussetzungen des
Ausgleiches durch den Eintritt anderer Bezirke der gleichen Hemisphäre
zugänglich sind.
Hiermit mögen die vorerwähnten Ansichten italienischer Autoren
über die Construction luid die Verrichtungen der motorischen Zone vor-
1) E. Hitzig, Untersuchungen etc. 1874. S. 85tf.
— 75 —
behaltlich einer besonderen, demnächst zu publizirenden Experimental-
untersuchung ihre vorläufige Erledigung finden.
Aber weit darüber hinaus kommt diesen Erfahrungen und den-
jenigen über den Einfluss corticaler Eingriffe auf den Sehact, mit denen
wir uns in einer folgenden Abhandlung beschäftigen werden, eine be-
sondere Wichtigkeit für die Erkenntniss der Art und Weise zu, in der
die einzelnen cerebralen Mechanismen ineinander greifen, um aus diesem
Zusammenwirken dasjenige zu gestalten, was wir unter dem Namen
psychischer Functionen verstehen. Ich habe gewiss niemals das prac-
tische und ebensowenig das physiologische Interesse der von mir zuerst
angeregten Fragen verkannt; aber noch höher als dieses schätze ich
den Erwerb auf psychologischem Gebiete, welchen uns die Zukunft
bringen wird. Sicherlich sind die Einrichtungen, durch die eine Be-
wegung erzielt wird, und insbesondere die Einrichtungen und die Mittel,
durch welche die Sinne auf die Bewegungen einwirken, beim Hunde
und beim Menschen verschieden und wahrscheinlich besteht beim Affen
eine solche Verschiedenheit gegenüber beiden. Gerade das Studium
dieser Verschiedenheiten aber und die Verfolgnng der Art der Fortent-
wickelung der einzelnen Functionen verspricht uns die ersehnte Förde-
rung. Nur wird dieses Studium immer als nächstes Ziel im Auge
haben müssen, jedesmal den Einfluss jedes einzelnen corticalen Feldes
auf den ungestörten Ablauf der psychischen Functionen jeder Species
zu ergründen.
Die Untersuchung der Bewegung und Empfindung.
So bekannt die nach corticalen Läsionen einti'etenden Bewegungs-
störungen auch sein mögen, so ist doch weder ihr Studium abge-
schlossen, noch ist Uebereinstimmung über die Deutung der zu beob-
achtenden Erscheinungen erzielt. Wir haben uns zunächst mit den
üntersuchungsmethoden zu beschäftigen und zwar komme ich zuerst
nochmals auf die von mir neuerdings mehrfach erwähnte Unter-
suchung schwebender Hunde zurück.
Diese Art der Untersuchung hatte ich selbst bereits im Jahre 1874
angegeben und bin später wiederholt darauf zurückgekommen 1). Ich
hob damals hervor, dass die Beine der operirten Thiere in der Schwebe
1) E. Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. Neue Folge. II. Rei-
chert's und du Bois-Reymond 's Archiv. 1874. S. 421 ff. u. 439. Ebenda
1876. S. 701. 1877. S. 697, 700 und 709. Ueber den heutigen Stand der
Frage von der Localisation im Grosshirn. Volkmann' s Sammlung- klin.
Vorträge. No. 112. S. 971, 974, 975.
— 76 —
eine ganz veränderte Stellung zueinander und zum Rumpfe einnehmen.
Thatsächlich deviiren sie das eine Mal nach der Operationsseite, das
andere Mal nach der contralateralen Seite; häufig zeigt nur das kranke
Vorderbein eine Deviation. Ich fand ferner, dass dieses Bein immer
gestreckt und gewöhnlich im Schultergelenk abnorm gedreht, das
Hinterbein häufig nur gestreckt gehalten wird. Endlich gab ich an,
dass die schAvebenden Thiere auf leise Berührungen die kranken Pfoten
nicht fortziehen, während diese Reaction auf der gesunden Seite mehr
oder minder energisch von Statten geht.
Von anderen Forschern liat sich vornehmlich Bianchi mit dieser
üntersuchungsmethode beschäftigt. Seine ersten Notizen hierüber finde
ich in einer Arbeit aus dem Jahre 1883^). Hier heisst es S. 17 ff.,
dass alle Hunde, denen Bianchi die motorische Zone in grosser Aus-
dehnung zerstört hatte, noch nach Monaten in der Schwebe, also wenn
sie keine locomotorischen Bewegungen ausführen konnten, eine so gut
wie vollständige Unbeweglichkeit der paretischen Extremitäten, auch
bei schmerzerregenden Reizungen mit dem Inductionsstrom und einen
grösseren Widerstand ihrer Streckmuskulatur bei Beugeversuchen er-
kennen Hessen.
Bianchi ist dann noch ein zweites Mal auf diese Frage zurück-
gekommen 2). Hier führt er weiter an, dass die paretischen Glieder bei
Reizversuchen noch mehr gestreckt werden und dass, wenn unter diesen
Umständen Bewegungen eintreten, diese mit Bewegungen der anderen
Seite associirt sind. Besonders betont wird hier, dass die Extensoren-
gruppe sich in einem stärkeren Spannungszustande contracturirt .befand
und dass dieser Zustand qualitativ der posthemiplegischen Contractur
des Menschen entspräche und nur quantitativ von ihr verschieden sei.
Sodann führt Bianchi an, dass diese Hunde die über den Tisch-
rand dislocirten kranken Extremitäten herabhängen lassen, ohne sie zu
reponiren, eine Beobachtung, welche bereits in meiner citirten Arbeit
aus dem Jahre 1874, S. 422 ff., beschrieben ist. Und endlich erwähnt
er die seinerzeit von mir 3) zum Gegenstand einer besonderen Arbeit
gemachte Erscheinung, dass hemiplegische Contracturen beim Menschen
sich unter dem Einfluss motorischer Willeusimpulse verstärken können
1) L. Bianchi, Sülle compensazioni funzionali della corteccia cerebrale.
La Psichiatria. 1883.
2) L. Bianchi, Ancora sulla dottrina dei centri corticali motori del cer-
vello. La Psichiatria. 1885.
3) E. Hitzig, Ueber die Auffassung einiger Anomalion der Muskelinner-
vation. Untersuchungen über das Gehirn. 1874.
— 77 —
und sucht diese Erscheinung mit der ExteusionsstelJung der afficirten
Pfoten in Verbindung zu bringen.
Während die meisten hier angeführten Beobachtungen Bianchi's,
wenn auch später als die meinigen, so doch jedenfalls unabhängig von
ihnen gemacht sind, kommt diesem Forscher, soviel ich sehe, das zu
meinem Bedauern von mir früher übersehene Verdienst zu, zuerst hervor-
gehoben zu haben, dass solche Hunde, welche man auf die geschilderte
Weise in die Unmöglichkeit versetzt hat, Locomotionsbewegungen zu
machen, zu jeder Bewegung der kranken Extremitäten unfähig sind.
Es ist dies, wie ich bereits wiederholt betont habe, eine besondere
Form des von Goltz, Schiff und mir beschriebenen Verlustes der iso-
lirten intentioneilen Bewegung der gelähmten Glieder.
Den Vergleich, den Bianchi zwischen der Streckstelluug der ge-
lähmten Hundepfote und der hemiplegischen Contractur des Menschen
zieht, halte ich für unzutreffend. In der That unterscheidet sich das
uns beschäftigende Symptom von der hemiplegischen Contractur schon
dadurch, dass es alsbald nach der Operation in die Erscheinung treten
kann, während die hemiplegische Contractur des Menschen sich be-
kanntlich erst Wochen nach dem Eintritte der Lähmung zu entwickeln
pflegt. Auch ist es nicht richtig, dass die Streckstellung der Extremität
durch stärkere Contraction der Strecker bedingt ist, sodass Beuge-
versuchen ein stärkerer Widerstand entgegengesetzt würde. Die sämmt-
lichen Muskeln der Extremität sind vielmehr, wenn der Hund nicht
aufgehängt ist, vollkommen schlaff, viel schlaffer als die Muskeln der
anderen Seite und sie sind es sicherlich noch recht lange Zeit nach
der Operation immer; ist er aufgehängt, so sind sie gelegentlich weniger
schlaff, aber weder die Beuger noch die Strecker setzen in der Regel
passiven Bewegungen irgend einen oder gar einen stärkeren Widerstand
entgegen, als die gleichnamigen Muskeln der anderen Seite. Betrachtet
man die Abbildung S. 16 dieser Untersuchungen^), so wird man auch
durchaus nicht den Eindruck erhalten, als ob die rechten Extremitäten
von einer Streckcontractur befallen seien.
In neuerer Zeit habe ich mich nochmals mit der Prüfung der An-
gaben Bianchi's und zwar vornehmlich aus dem Grunde beschäftigt,
weil ich zu einer Erklärung der von den meinigen abweichenden An-
sichten dieses verdienten Forschers zu gelangen wünschte. Hierbei habe
ich einige nicht unwichtige und die Auffassung Bianchi's gut er-
klärende Beobachtungen gemacht.
1) Alte und neue Untersuchungen über das Gehirn. Archiv für Psych.
Bd. 34. Heft I.
— 78 —
Ich gebe zunächst einige typische Beobachtungen wieder, indem
ich mich dabei jedoch auf die Anführung der uns hier interessirenden
Symptome beschränke.
Einem Hunde wurde der ganze linke Gyrus sigmoides von der Stirnhöhle
aus freigelegt und dann unter geringer Blutung umschnitten und unter-
schnitten. Das Thier läuft bald nach der Operation mit hochgradiger Moti-
litätsstörung umher.
. 2. Tag: Sehr starke Motilitätsstörung. Hängt rechts anfänglich stark,
nachher nur wenig mehr als Ifnks gestreckt. Bei passiven Bewegungen beider
Vorderpfoten kein Muskelwiderstand, ausser in den Beugern, aber auch dieser
leichte Widerstand links deutlicher als rechts.
3. Tag: Hängt rechts anfangs wieder stark gestreckt, nach verschiedenen
passiven Bewegungen zieht er aber auch das rechte Bein an, so dass kein Un-
terschied in der Haltung der Pfoten mehr zu erkennen ist.
4. Tag: Hängt anfangs nicht gestreckt, wohl aber nachdem er einige
heftige Schwimmbewegungen ausgeführt hat.
5. Tag: Das rechte Hinterbein war unter den Leib in den Sack gerathen.
Während dieser Zeit hängt der Hund rechts vorn gestreckt und zeigt leichten
Muskelwiderstand in den Extensoren dieser Extremität. Sobald das Hinterbein
befreit war, zog er das Vorderbein an und hängt nun beiderseits gleich halb
gebeugt; bei passiven Bewegungen kein Unterschied mehr zwischen rechts und
links. Hinten hängt er beiderseits halb gestreckt und spannt stark bei pas-
siven Bewegungen.
8. Tag: Hängt beiderseits mit angezogenen Beineu, ohne dass sich durch
Pumpbewegungen 1) etwas daran ändern liesse.
12. Tag: Hängt anfangs rechts wieder gestreckt mit schlaffer Muskula-
tur, zieht aber bald an und hängt dann beiderseits gleich. Bei Pumpbewe-
gungen des linken Beines streckt sich das rechte Bein und spreizen sich dessen
Zehen, sehr bald nach Aufhören der Bewegungen zieht er aber wieder an.
Zieht beim ersten Nadelstich in die Vorderpfote diese zurück.
18. Tag: Hängt rechts wieder anfangs gestreckt (diese Erscheinungen
waren bisher constant), zieht aber auf leichtes Kitzeln an. Beim Begreifen
links viel ausgiebiger und heftiger als rechts. Nach dem Anziehen hängt der
rechte Fuss schlaff und stumpfwinklig gebeugt, während der linke stark spitz-
winklig gebeugt gehalten wird.
29. Tag: Motilitätsstörungen haben sich allmählig sehr erheblich gebes-
sert; lässt aber die Pfoten noch dislociren und kurze Zeit mit dem Dorsum
aufsetzen. Setzt das Bein bei jeder Berührung alsbald fort. Hängend stets
das gleiche Verhalten: streckt bei Pumpbewegungen des linken Beines das
rechte Vorderbein etwas, Avenn auch nicht mehr so stark wie anfangs.
1) So bezeichne ich der Kürze wegen mehrmalige passive Beuge- und
Streckbewegungen der Extremität.
79
30. Tag: Operation rechts symmetrisch, wobei derGyrus sigmoides durch
den Meissel etwas gequetscht wird.
31. (2.) Tag: Motilitätsstörung links stark, rechts unverändert. Hängt
beiderseits leicht angezogen. Bei heftigen activen Bewegungen streckt sich
das rechte Bein, nie das linke, auch nicht auf Pumpbewegungen des rechten
Beines. Beim Begreifen Reaction rechts schwach, links fehlend.
32. (3.) Tag: Hängt beiderseits angezogen; auf Pumpbewegungen des
linken Beines streckt sich das rechte Bein unter Spreizen der Zehen.
36. (7.) Tag: Bisher unverändert. Hängt heute links stark gestreckt,
rechts angezogen. Bei Pumpbewegungen der linken Extremitäten spreizen sich
die Zehen der rechten und die Beine strecken sich leicht; bei Pumpbewegungen
der rechten Extremitäten strecken sich die linken. Besonders betrifft dies die
Hinterbeine; diese deviiren dann so stark nach vorn, dass sich die etwas nach
hinten stehenden Vorderbeine mit den Hinterbeinen kreuzen. Die rechten Ex-
tremitäten sind ganz schlaff, die linken zeigen bei passiven Bewegungen einen
stärkeren Widerstand als die rechten.
39. (10.) Tag: Heute strecken sich die linken Extremitäten auch nach
Pumpbewegungen, welche man mit ihnen selbst ausgeführt hat, stärker aller-
dings nach solchen Bewegungen mit den contralateralen Extremitäten. Im
Uebrigen das gleiche Verhalten wie früher: hängt zuerst links stark gestreckt,
zog dann aber an. Die Streckung auf Pumpbewegungen dauert immer nur
Augenblicke, während deren sich Hinter- und Vorderbeine kreuzen. Mitten in
der Untersuchung hing er dann wieder links vorn ganz, links hinten massig
gestreckt. Gleichzeitig besteht ein viel stärkerer Muskelwiderstand Avie bei der
durch Pumpbewegungen erzielten Streckung.
41. (12.) Tag: Motilitätsstörungen und, Sensibilitätsstörungen links immer
noch sehr hochgradig; im Uebrigen unverändert.
Fig. 9.
43. (14.) Tag: Getödtet. Section: Linke Hemisphäre: Die etwa 18mm
lange und 22 mm breite Narbe sitzt dem Gyrus sigmoides in der Weise auf,
80
dass sie nach hinten mit dem hinteren Rande des hinteren Schenkels, nach
lateral mit dem lateralen Rande abschliesst; nach vorn reicht sie bis etwas
über den Sulcus craciatus in den vorderen Schenkel hinein; nach medial bis
7 mm von der Medianspalte. Diese Hirnoberflächenpartie von der Narbe bis
Fig. 10/ '
zur Medianspalte ist leicht höckerig narbig eingezogen. Durchschnitt (dicht
hinter dem Sulcus cruciatus): Die Rinde ist flach in der Ausdehnung der
Narbe zerstört; von der Narbe aus geht im Markweiss des Gyrus sigmoides ein
feiner, blutig verfärbter Erweichungsstreifen 4 mm weit basalwärts.
Rechte Hemisphäre: Die 15 mm lange und 12 mm breite Narbe sitzt
genau symmetrisch, nur reicht sie nicht ganz bis zum hinteren Rande des hin- i
teren Schenkels des Gyrus sigmoides. Durchschnitt (wie links): Rinde der
Narbenausdehnung entsprechend fl.ach zerstört; das unter der Narbe liegende, '
den einschneidenden Sulci folgende Rindengrau erscheint, wie auch links,
vielleicht etwas abgeblasst. In der Markleiste des Gyrus sigmoides (laterale i
Verbindung desselben zwischen vorderem und hinterem Schenkel) steigt eben- ;
falls ein blutig verfärbter Erweichungsstreifen basalwärts; derselbe ist etwa
9 mm lang. I
Hervorzuheben ist, dass beiderseits mehr noch links als rechts, ein j
nicht unerliebliclier Tlieil der grauen Substanz des hinteren Schenkels j
couservirt erscheint, und dass die linke innere Kapsel unter die I
Schnittfläche eingesunken ist.
Beobaehtviiig,- '^•
Einem Hunde wurde ein Bezirk von ca. 8 mm Durchmesser in der linken
2. Urwindung lateral vom Gyrus sigmoides mit dem Präparatenheber in fi-on-
taler Richtung derart umstechen, dass ein annähernd vertical auf der Falx
— 81 —
stehender Cylinder umschnitten war. Der Präparatenheber drang etwa 1,8 cm
tief ein.
2. Tag: Der Hund ist sehr munter. Starke Motilitätsstörungen vorn,
geringe hinten. Hängt rechts vorn stark gestreckt, das Bein nach aussen
deviirend, zieht das Bein weder auf Kitzeln, noch Stechen an. Bei passiven
Bewegungen ganz schlaff, schlaffer als links.
5. Tag: Hängt vorn stark gestreckt, die Zehen gespreizt, das Bein immer
noch nach aussen deviirend. Nach einigen heftigen Schwimmbewegungen zieht
er das Bein etwas an.
7. Tag: Die Motilitätsstörung hat inzwischen stark abgenommen: lässt
nur noch mit dem Dorsum aufsetzen und dislociren, reponirt aber alsbald.
Sonst unverändert.
8. Tag: Identische Operation symmetrisch rechts unter Verletzung einer
stark spritzenden Gehirnarterie.
9. (2.) Tag: Starke Motilitätsstörungen links, hängt beiderseits gestreckt.
Gleich nach der Untersuchung typischer epileptischer Anfall mit Secessus und
Bellen, coupirt durch Klysma von Chloral 2,0.
10. (3.) Tag: Hängt beiderseits gestreckt, aber links zeigt sich bei pas-
siven Bewegungen ein starker Muskelwiderstand, der rechts bei gleicher
Streckung fehlt. Nach einigen passiven Bewegungen hängen beide Vorderbeine
leicht nach aussen und stark nach hinten deviirend, so dass die Füsse der
Vorderbeine hinter den Füssen der stark gestreckten und nach vorne sehenden
Hinterbeine zu hängen kommen. Angezogen wurden die Beine nach passiven
Bewegungen nicht.
12. (5.) Tag: Hängt beiderseits gestreckt, rechts ganz schlaff, links im
Ellenbogengelenk stärkerer, im Handgelenk schwächerer, aber immerhin deut-
licher Muskelwiderstand gegen passive Beugung.
15. (8.) Tag: Gestern und heute keine Deviation nach aussen und hin-
ten. Die Beine hängen einfach gestreckt, zeigen weder rechts noch links den
geringsten Muskelwiderstand; Pumpbewegungen bleiben resultatlos.
Unverändert bis zum 18. (11.) Tag.
19. (12.) Tag: Die Beine deviiren wieder deutlich nach hinten; links
vorn besteht wieder der erwähnte starke Muskelwiderstand.
23. (16.) Tag: Hängt beiderseits vorn und hinten gestreckt, aber kein
Muskel widerstand.
26. (19.) Tag: Die allmählig immer mehr und mehr zurückgegangenen
Motilitätsstörungen sind deutlich nur noch links vorn nachzuweisen, wo dei"
Hund leicht dislociren und für Augenblicke mit dem Dorsum aufsetzen lässt.
Hängt beiderseits vorn und hinten gestreckt, die Vorderbeine leicht nach hin-
ten deviirend; überall ganz schlaff, bei Pumpbewegungen tritt nur ein leichtes
Spreizen der Zehen ein. Beim Begreifen vorn nichts, hinten deutlich.
Getödtet. Section :
Linke Hemisphäre: Auf der 2. Urwindung lateral vom Gyrus sigmoides
liegt die etwa 9 mm lange und 6 mm breite Narbe, so dass die laterale Ver-
längerung des Sulcus cruciatus durch den vorderen Rand derselben geht; nach
Hitzig, Gesammelte Abhandl. IL Theil. 6
— 82 —
medial greift sie nicht auf den Gyrus sigmoides über. Durchschnitt (dicht
hinter dem Sulcus cruciatus) : Von der Mitte der Narbenkappe geht ein 6 mni
langer Spalt schräg das Rindengrau des hier einschneidenden Sulcus corona-
riüs durchlrennend mediahvärts. Vom unteren Rande der Narbe geht ein etwas
längerer Spalt (10 mm) ganz horizontal nach innen, im Markweiss mit einem
kleinen Erweichungsherd abschliessend.
Rechte Hemisphäre: Die derbe Narbenkappe ist hier 20 mm lang und
14 mm breit, liegt im Wesentlichen symmetrisch. Nach medial greift sie ge-
rade auf den lateralen Rand des Gyrus sigmoides über. Durchschnitt (wie
links): Rindengrau unter der Narbe ausgedehnt zerstört, auch der laterale
Rand des Gyrus sigmoides. Von dem die Rinde substituir enden Narbengewebe
geht ein breiter Ervveichungszug horizontal nach der Medianspalte des Gehirns
zu bis zum dortigen Rindengrau, also hier die ganze Verbindung des Gyrus
sigmoides nach basal quer abtrennend. Mitten in dem Streifen befindet sich
eine mit einem Blutcoagulum gefüllte Höhle.
In erster Linie ist aus diesen Beobachtungen hervorzuheben, dass
der Hund der Beobachtung 6 sein Bein in der Schwebe nicht immer
in der typischen Streckstell ang hielt, sondern dass dies Verhalten nicht
nur an verschiedenen Tagen, sondern auch an dem gleichen Tage
während der gleichen Untersuchung wechselte. Bereits am dritten Tage
Hess sich durch Pumpbewegungen der gleichen Pfote ein Anziehen der
gestreckten Pfote erzielen. Am 4. und 5. Tage trat die sonst nicht
vorhandene Streckstellung in Folge vorangegangener willkürlicher Be-
wegungen, bezw. einer unbequemen Lage des Hundes in der Schwebe
ein. Vom 12. Tage an Hess sich constant durch Pumpbewegungen der
gesunden Vorderextremität eine Sti-eckung der kranken Vorderextremität
mit Spreizung ihrer Zehen hervorbringen. Zwischendurch hing der
Hund spontan bald gestreckt, bald gebeugt und zeigte ausserdem eine
noch dazu ziemlich frühzeitige Wiederkehr der Sensibilität und der
„Berührungsreflexe."
Noch viel auffälliger ist das Verhalten dieses Hundes nach der
2. Operation, insofern er in der ersten Zeit nach derselben die typische
Streckstellung der coutralateralen Extremität überhaupt nicht und zwar
auch nicht in Folge passiver Bewegungen erkennen liess. Erst vom
7. Tage an hing der Hund spontan gestreckt und von dem gleichen
Zeitpunkte an verstärkte sich die bereits vorhandene Extensionsstellung
oder die nicht vorhandene Extensionsstellung trat ein in Folge von
Pumpbewegungen der contralateralen Extremität. Vom 10. Tage an
war das Phänomen auch von der gleichen Seite aus hervorzurufen.
Sehr ähnliche Erscheinungen habe ich bei einer Anzahl von anderen
Thieren beobachtet; einiges davon, die Wiedergabe aller Beobachtungen
halte ich für überflüssig, werden wir gleich noch kennen lernen.
. — 83 —
Unzweifelhaft begegnen wir hier einer grösseren Zahl von Er-
scheinungen, welche nicht alle von dem gleichen Gesichtspunkte aus
zu erklären sind. Was zunächst die Abweichung von dem Typus in
der Haltung der gelähmten Extremitäten angeht, so spielt dabei der
Umstand vielleicht eine Rolle, dass beide Gyri sigmoides, wie Fig. 8
zeigt, nur unvollkommen zerstört waren. Im Einklang hiermit kehrte
auch die Sensibilität der rechten Extremitäten frühzeitig zurück.
Die Beobachtung, dass der Hund in Folge einiger passiver Be-
wegungen mit der gelähmten rechten Vorderextremität diese annähernd
in ihre normale Beugestellung brachte, scheint mir nur so erklärt
werden zu können, dass in diesem Falle durch die Dehnungen, welche
den Muskeln bei dieser Gelegenheit mitgetheilt wurden, Reize ent-
standen, die nach dem spinalen Reflexorgau fortgeleitet wurden und in
diesem vorübergehend denjenigen Tonus auslösten, welcher durch die
cerebrale Exstirpation theilweise verloren gegangen war.
Die anderen Erscheinungen lassen sich wohl in zwei Gruppen
sondern, nämlich in solche, welche schon in den ersten Tagen nach
der Operation und solche, welche erst später eintraten. Die letzteren,
welche darin bestehen, dass Muskelreize, die die nicht oder die zuerst
gelähmten Muskeln trafen, Bewegungserscheinungen in der zuletzt affi-
cirten Seite hervorriefen, sind wahrscheinlich durch eine in der Zwischen-
zeit eingetretene Steigerung der spinalen Reflexerregbarkeit zu erklären.
Die ersteren dagegen, welche in Stellungsänderungen der kranken
Glieder in Folge von willkürlichen Bewegungen bestanden, können kaum
anders als durch cerebrale Impulse, die in pathologischer Weise ver-
theilt wurden, erklärt werden.
Die nachstehende Beobachtung scheint mir vollständiges Licht in
die aufgeworfenen Fragen zu bringen.
BeolbaolitTiiig' S.
Einem Hunde wurde der Gyrus sigmoides freigelegt. Schädellücke sagit-
tal-medial 24 mm, sagittal-lateral 19 mm, frontal 14,5 mm. Der Gyrus wird
an den äusseren drei Seiten auf ca. 1 cm Tiefe umstechen, alsdann unter-
schnitten und endlich bis zur Falx mit der Scheere abgetragen. Nicht erheb-
liche, aber längere Zeit anhaltende Blutung. Naht, Jodoformcollodium. Hei-
lung per primam.
2. Tag: Hängt rechts halb gestreckt, vorderes Fussgelenk halb gebeugt,
hinten ziemlich stark gestreckt.
3. Tag: Hängt links mit der Vorderpfote gebeugt, rechts hängt die Pfote
schlaff, im vorderen Fussgelenk ganz leicht gebeugt; bei passiven Bewegungen
vollkommen schlaff. Nach einigen passiven Bewegungen vorn rechts hängt
sie ganz gestreckt, auch die Hinterpfote. Nach Pampbewegungen mit der rech-
6*
84
Fiff, 11. Schwebender Hündin Kühe.
Fig. 12. Derselbe Hund Fleisch bekehrend.
— 85 —
ten Hinterpfote wird die rechte Vorderpfote durch Flexion im Ellen-
bogen- und Extension im Fussgelenk ganz hochgehoben, fast so,
als wenn der Hund die Pfote geben wollte. (Bemerkenswerth ist, dass
dieser Hund gelernt hatte, die Pfote zu geben, aber nicht die rechte, sondern
nur die linke.)
6. Tag: Inzwischen werden die gleichen Beobachtungen wiederholt.
Hängt anfangs beiderseits annähernd gleichmässig gestreckt. Bei Pumpbewe-
gungen tritt das gleiche Beugephänomen, wie oben beschrieben, auf. Sobald
man dem Hunde Fleisch vorhält, so dass er den Kopf aufrichtet, um danach
zu schnappen, streckt sich das rechte \'orderbein aus der Beuge-
stellung maximal und bewegt sich nach hinten. Etwas ähnliches,
wenn auch weniger ausgesprochen, wird auch allemal dann beob-
achtet, wenn an dem Hunde optische Untersuchungen angestellt
wurden od er wenn er sonst zu activen Bewegungen angeregt wurde.
In den nächsten Tagen hängt der Hund zu Anfang der Beobachtung
stets annähernd gleich, führt aber, sobald man ihm Fleisch zeigt, die eben
beschriebene Streckbewegung mit grösster Präcision und Regelmässigkeit
aus. Die Muskulatur setzt dabei jedoch passiven Bewegungen keinerlei ab-
normen Widerstand entgegen.
In diesem Falle hing die kranke Vorderpfote in der Regel, wenn
auch nicht immer, in leichter Extensionsstellung mit etwas gebeugtem
Fusse schlaff herab. Diese Stellung konnte aber auf verschiedene Weise
und in verschiedener Art geändert werden; auf passive, der gleichen
Pfote mitgetheilte Bewegungen streckte, sie sich, während durch passive
Bewegungen in der gleichnamigen Hinterpfote eine aus Beugung und
Streckung combinirte, einer intentionellen Bewegung, dem Pfotegeben,
durchaus ähnlich sehende Bewegung zu Stande kam. Endlich konnte
mit maschinenmässiger Sicherheit die maximale Extension der kranken
Vorderpfote bei vollkommener Ruhe der linken Vorderpfote durch eine
Anzahl von Reizen hervorgerufen werden, die den Hund psychisch be-
schäftigten, oder ihn zu solchen Bewegungen anregten, die, mindestens
in seiner schwebenden Stellung, die Muskulatur der Extremitäten nichts
angingen, also zu krankhaften Mitbewegungen.
Vielleicht nicht ohne Zusammenhang mit diesen Mitbewegungen
und den anderweitigen, im Vorstehenden beschriebenen Reizerschei-
nungen, steht die Beobachtung 7, bei der einem Hunde eine doppel-
seitige, subcorticale Durchtrennung der weissen Substanz unterhalb des
Gyrus sigmoides beigebracht worden war. Dieser Hund hatte am Tage
nach der Operation eine Serie von epileptischen Anfällen mit Bellen
und Rollbewegungen. Am Tage darauf hing er mit allen vier Extre-
mitäten gestreckt und zwar zeigte die der 1. Operation contralaterale
hintere Extremität schon dann, wenn der Hund auf dem Tische lag, eine
— 86 —
so starke Extension, dass sie mit ihrer Fussspitze die vordere Exti-emität
erreichte. Versuchte man nun diesem Hunde, wenn er schwebte, pas-
sive Bewegungen zu machen, so begegnete man einem erheblichen
Widerstand in allen Muskeln der, der zweiten Operation contralateralen
Vorderextremität, vornehmlich aber im Triceps. Auch die Muskeln der
anderen Extremität zeigten eine, wenn auch minder hochgradige Zu-
nahme der Spannung. Setzte man diese Bewegungsversuche eine Zeit
lang lort, so geriethen alle vier Extremitäten derart in einen Zustand
von Streckung, dass die beiden Vorderextremitäten nach hinten und
beide Hinterextremitäten nach vorne sahen und die Vorderfüsse auf
diese Weise hinter die Hinterfüsse geriethen. Diese letztere Erschei-
nung beobachtet man übrigens nach ähnlichen Operationen nicht selten.
Bemerkenswerth ist, dass der Widerstand, welcher in diesen Fällen
passiven Bewegungen entgegengesetzt wurde, immer am geringsten im
Fussgelenk und am stärksten im Ellbogengelenk w^ahrzuuehmen war.
Alle diese Beobachtungen machen mir die Angaben Bianchis
wohl verständlich, aber sie führen mich doch nicht zu den gleichen
Schlüssen. Es kommt bei diesem hauptsächlich darauf an, ob die Ex-
tensionsstellung der Extremitäten immer durch eine nachweisbare
Spannungszunahme der Extensoren bedingt ist, und dies trifft thatsäch-
lich nicht zu. Ja, es ist ganz sicher, dass eine derartige Spannungs-
zunahme in der überwiegenden Majorität der Fälle fehlt und dass sie
auch in diesen Fällen durch irgendwelche Manipulationen, die man mit
dem Hunde vornehmen mag, nicht hervorgebracht werden kann. Ich
muss also bei der Ansicht verharren, dass diese Streckstellung in der
Regel und der Hauptsache nach ihren Ursprung dem Fortfallen des
normalen cerebralen Tonus verdankt. Wir haben aber gesehen,
dass sie in einer Anzahl von Fällen derart fehlt, dass die kranke Pfote
annähernd oder ganz gleich wie die gesunde gehalten wird, oder dass
doch eine solche Stellung in Folge von passiven Bewegungen eintritt.
Diese Beobachtungen bedingen logischer Weise den Schluss, dass bei
ihnen zu der Zeit, zu der diese atypische Stellung beobachtet wurde,
ein annähernd normaler Tonus vorhanden war, der sowohl durch cere-
brale, als durch spinale Impulse bedingt sein konnte. Es ist mir nicht
unwahrscheinlich, dass hierbei ein Zusammenwirken beider stattfindet,
ohne dass ich jedoch alle Einzelheiten dieses complicirten Vorganges
zu entwirren vermöchte.
Dagegen scheint mir die Beobachtung 8 eine Anzahl der hierher-
gehörigen Vorgänge in unzweideutiger Weise zu erklären. Der Hund
war zu der Zeit zur Avisführung isolirter intentioneller Bewegungen mit
der rechten Vorderextremität gänzlich unfähig, ja er hatte das Pfote-
— 87 —
geben mit dieser Extremität überhaupt nicht gelernt. Wenn er nun in
Folge von Pumpbewegungen mit der rechten Hinterextremität die Be-
wegung des Pfotegebens dennoch ausführte, so konnte dies sicherlich
nicht unter dem Einflüsse corticaler Impulse geschehen. Es musste sich
also um eine subcorticale Uebertragung der einwirkenden Reize handeln,
welche in diesem Falle von um so grösserem Interesse ist, als sie eine
aus Beugung und Streckung combinirte, anscheinend vorgebildete Be-
wegungsform zum Ausdruck brachte, während sie in allen anderen von
mir beobachteten Fällen nur eine einfache, den gewöhnlichen Reflexen
entsprechende Bewegung zur Folge hatte. Trat in diesen letzteren
Fällen eine Streckung der Extremität als spinaler Reflex ein, so ge-
schah dies in der Beobachtung 8 — und beiläufig gesagt noch bei
einer Anzahl von in dieser Beziehung ganz conformen Beobachtungen
— allemal dann, wenn man den Hund zur Abgabe motorischer Impulse
anregte, in der Form einer cerebralen Mitbewegung. Es erscheint mir
also ganz sicher, dass das Phänomen sowohl cerebral als spinal bedingt
sein kann und ferner geht aus dem Gesagten hervor, dass die Mitbe-
wegungen, auf deren Wichtigkeit für das Zustandekommen der hemiple-
gischen Contractur beim Menschen ich in meinem Aufsatze „üeber die
Auifassung einiger Anomalien der Muskelinnervation" aufmerksam ge-
macht habe, auch bei der cerebralen Hemiplegie des Hundes vorkommen.
Bianchi hat also, indem er diesen Vergleich anstellt, ganz Recht. Ich
habe bei den vorstehenden Erwägungen vornehmlich diejenigen Fälle
berücksichtigt, bei denen die Streckstellung ohne gleichzeitige Span-
nungszunahme der Muskulatur in die Erscheinung trat.
Wenn nun gleichwohl in anderen Fällen eine Hypertonie der Ex-
tensoren, sei es spontan, sei es in Folge von experimentellen Reizen
— passive Bewegungen, Hautreize, active Allgemeinbewegungen — ein-
tritt, so beruht dies offensichtlich, wie bereits ausgeführt, auf der Da-
zwischenkunft ungewöhnlicher Umstände, welche sowohl cerebral als
spinal bedingt sein können. Das letztere wird wohl dann zutreifen,
wenn Aenderungen des Spannungszustandes durch passive Bewegungen
der einzelnen Extremitäten oder analoge Reize hervorgerufen werden.
Indessen lässt sich dies mit absoluter Sicherheit doch nicht sagen, denn
die Möglichkeit, dass durch solche Reize eine Erhöhung der constant
von der Rinde herabfliessenden Reizwelle hervorgebracht wird und dass
diese Reiz welle sich auf der kranken Seite in abnorme Canäle vertheilt,
lässt sich für gewisse Fälle nicht ausschliessen. Für die Existenz
solcher Reizzustände spricht in einem unserer Fälle das Auftreten epi-
leptischer Anfälle, in einem anderen Falle mögen sie von den zurück-
gelassenen Resten der exstirpirteu Centra ausgehen und in noch höherem
Grade mag ein solcher Vorgang Platz greifen, wenn die fragliclien
Centra überhaupt nicht exstirpirt, sondern wie in der Beobachtung 7
nur unterschnitten waren.
Wenn nun Bianchi, wie es scheint, jene stärkere Spannung der
Extensoren häufiger oder regelmässig beobachtete, so ist dies vielleicht
darauf zurückzuführen, dass er zu jener Zeit sicherlich nicht aseptisch
operirte und demnach in vielen Fällen mit Wundeiterung zu rechnen
hatte. Natürlich beruht dieser Erklärungsversuch nur auf einer Ver-
muthung. Sicher ist aber, dass die Streckstellung in der Regel
nicht nur ohne grössere, sondern sogar mit geringerer
Spannung der betheiligten Muskulatur zu Stande kommt.
Ich habe bei diesen Erwägungen kein besonderes Gewicht darauf ge-
legt, dass die Spannungszunahme, wenn sie beim Hunde überhaupt ein-
tritt, in den Streckern der vorderen Extremität sich zeigt, während
die hemiplegische Contractur des Menschen bekanntlich die Beuger
der oberen Extremität befällt; denn es wäre ja nicht ausgeschlossen,
dass derartige Differenzen in der verschiedeneu Organisation des Hundes
begründet wären. —
Wenn ich die vorgetragenen Erscheinungen nun auch nicht, wie
Bianchi als qualitativ der hemiplegischen Contractur identisch be-
trachten kann, so ist doch nicht zu verkennen, dass sie gewissen Be-
gleiterscheinungen derselben — den Mitbewegungen und der Reflex-
steigerung — parallel laufen. Indessen muss ich es mir versagen, diese
Fragen hier näher zu erörtern; denn sie haben in neuerer Zeit einen
so grossen Umfang angenommen (vgl. z. B. die scharfsinnige, wenn
auch mich, was meine eigene Theorie angeht, keineswegs bekehrende
Arbeit von Mann^)), dass dazu allein eine längere Abhandlung er-
forderlich sein würde. Aber sicherlich werden sie in Zukunft bei der
Theorie der hemiplegischen Contractur des Menscheii berücksichtigt
werden müssen.
Die nach Läsionen der motorischen Region auftretenden Bewegungs-
störungen habe ich im Jahre 1870 in Gemeinschaft mit Fritsch wie
folgt geschildert.
Beim Laufen setzten die Thiere die rechte Vorderpfote unzweck-
mässig auf, bald mehr nach innen, bald mehr nach aussen als die
andere und rutschten mit dieser Pfote leicht nach aussen davon, so
dass sie zur Erde fielen. Ausserdem kommt es vor, dass die Vorder-
1) L. Mann, Ueber das Wesen und die Entstehung der hemiplegischen
Contractur. Monatsschr. für Psychiatrie Bd. IV.
— 89 —
pfote mit dem Dorsum statt mit der Planta aufgesetzt wird, ohne dass
der Hund etwas davon merkt. Beim Sitzen auf dem Hintertheile, wenn
beide Vorderpfoten auf der Erde stehen, rutscht das rechte Vorderbein
allmählich nach aussen davon, bis der Hund ganz auf der rechten Seite
liegt. Setzte man dem Hunde, während er stand, die rechte Vorder-
pfote auf ihren vorderen oberen Rand so nach innen und hinten, dass
sie zwischen den drei anderen Beinen stand und verhinderte man durch
Streicheln den Hund Ortsbewegungen vorzunehmen, so liess er die Pfote
beliebig lange in dieser unbequemen Stellang.
Die Hautsensibilität und die Sensibilität auf tiefen Druck zeigt an
der rechten Vorderpfote keine nachweisbaren Abweichungen. Die
Sensibilität wurde bei diesen Versuchen nur durch schmerzerregende
Hautreize, sowie durch schmerzerregende Compression der Zehen und
des Fusses untersucht. Sehr bald aber zeigte zuerst Schiff, dass die
Sensibilität gleichwohl gestört sei und ich habe mich später dieser von
den Meisten getheilten, von Anderen noch jetzt bestrittenen Auffassung
angeschlossen.
Das damals von mir gezeichnete Bild der Bewegungsstörungen ist
später durch einzelne Züge ergänzt worden und ausserdem sind einige
neue Beobachtungen hinzugekommen, welche einen schon damals be-
rührten Punkt in seiner principiellen Wichtigkeit erkennen Hessen: ich
spreche von der Schädigung der isolirten intentioneilen Bewegung.
Ausserdem hat die Frage der Restitution eine sehr intensive Bearbeitung
gefunden. Alle diese Punkte übergehe ich und ebenso übergehe ich
hier den Kampf um die Bedeutung der geschilderten Erscheinungen.
Während aber diese Erscheinungen selbst von allen Seiten Bestätigung
gefunden haben, hat Loeb^) Behauptungen aufgestellt, welche dem
Anscheine nach den Thatbestand nicht unwesentlich verändern uud
welche ihm dazu dienen sollen, meine Lehre von der Entstehung dieser
Störungen zu vernichten und eine neue, seine eigene Lehre von den
Aufgaben des Grosshirns zu begründen. Diese Behauptungen wolleu
wir uns jetzt näher ansehen.
Loeb berichtet zuerst wörtlich: „Ein Hund, welcher rechts operirt
war, hatte die typische Bewegungsstörung der linken Vorderpfote.
Einige Tage nach der Operation verletzte sich das Thier durch einen
Unfall die rechte Vorderpfote, welche bald stark eiterte und wohl sehr
schmerzte, denn das Thier wagte es nicht mehr, mit derselben den
1) J. Loeb, Beiträge zur Physiologie des Grosshirns. Pflüg er 's Archiv
Bd. XXXIX. S. 287 ff. Einleitung in die vergleichende Gehirnphysiologie.
1899. S. 172 ff.
— 90 —
Boden zu berühren und zog es vor, auf den übrigen drei Beinen zu
laufen. Während dieser Zeit war von der Bewegungsstörung der linken
vorderen Extremität nichts mehr zu bemerken. Als aber die rechte
Pfote wieder geheilt war und das Thier dieselbe wieder normal ge-
brauchte, war zu meiner üeberraschung die bekannte Bewegungs-
störung wieder da. Diese Erfahrung reiht sich an die Versuche von
Goltz, der fand, dass das Thier, wenn ihm die gleichseitige Pfote an
das Halsband gebunden und so immobilisirt wurde, sehr bald mit der
gekreuzten Pfote zu gehen im Stande war."
Er fährt dann fort: „Wenn das Thier ruhig steht, so wird man
rinden, dass den grössten Theil der Zeit über das gleichseitige Bein die
Last des Körpers trägt, während das gekreuzte ohne innere Arbeit zu
leisten, entspannt, oft mehr hängt als steht. Wenn dann das Thier
sich plötzlich in gradlinige Bewegung setzt, so sieht man zuweilen,
dass die gekreuzte Pfote im vorderen Kniegelenk einknickt und das
Thier auf das Knie sinkt. Man hat diese Erscheinung, welche Hitzig
zuerst constatirte, meist so beschrieben, dass man sagte, das Thier trete
zuweilen mit dem Dorsum statt mit der Sohle auf. Die Erscheinung
kommt nur dann zu Stande, wenn das links operirte Thier auf der
linken Pfote ruht, während die rechte nicht gespannt war und nun der
Schwerpunkt des Thieres nach rechts und nach vorn hin verlegt wird,
ohne dass die Handwurzelgelenke hinreichend rasch fixirt werden."
„Mit derselben Gewohnheit des links operirten Thieres, die rechte
Vorderpfote zur Unterstützung seines Körpers wenig zu gebrauchen, die-
selbe schlaff zu lassen, hängt noch eine andere Erscheinung zusammen,
die oft beschrieben ist: das Thier setzt der passiven Verschiebung dieser
Pfote weniger Widerstand entgegen. Wenn man aber wartet, so wird
auch einmal der Fall eintreten, dass das Thier sich auf die gekreuzte
Pfote stützt. Versucht man jetzt das Bein zu verschieben, so ist auf
einmal der normale Widerstand in demselben vorhanden. Hebt man
die linke Vorderpfote vom Boden und hält sie locker in der Hand, so
muss das Thier sich auf die rechte Pfote stützen; dabei findet sich
ebenfalls, dass dieselbe die normale Spannung hat, während die linke
Pfote einen Mangel von Widerstand gegen Verschiebung zeigt."
Wir haben zunächst die augeführte Beobachtung von Goltz, als
garnicht hierher gehörig, aus der Beweisführung auszuschalten. Goltz^)
hat allerdings den von Loeb erwähnten Versuch angestellt und seine
Beschreibung enthält auf den ersten Anblick auch nicht viel mehr als
das Citat Loeb 's; bei genauerem Zusehen aber ersieht man daraus,
1) F. Goltz, Gesammelte Abhandlungen. 1881. S. 29, 30.
— 91 —
dass der Versuch drei Wochen nach der Operation und zwar yai einer
Zeit angestellt wurde, „als man beim Gehen, Laufen und Springen des
Thieres bereits keinerlei Unregelmässigkeiten mehr wahrnehmen konnte."
Zunächst ist also gegen die Verwerthung dieses Versuches einzuwenden,
dass es sich bei demselben überhaupt nicht um das Verschwinden der
uns hier interessirenden „typischen Bewegungsstörungen", sondern um
die Fähigkeit der Locomotion handelt. Dass diese aber bei so operirten
Hunden überhaupt annähernd normal bleiben, oder nach kurzer Zeit wieder
annähernd normal werden kann, habe ich bereits 1870 angegeben. Von
einer Untersuchung der anderweitigen Störungen seines Bewegungs-
apparates ist aber in der Beschreibung von Goltz nicht die Rede.
Der Versuch kann also schon aus dem angeführten Grunde zur Lösung
der Streitfrage nichts beitragen. Er ist aber ausserdem von Loeb in
ganz tendenziöser Weise citirt worden. Das Citat lautet, dass das Thier
„sehr bald nach der Immobilisirung der gesunden Vorderpfote mit der
gekreuzten Pfote zu gehen im Stande war." Der Leser muss daraus
schliessen, dass das Thier vorher mit der gekreuzten Pfote nicht zu
gehen im Stande war. Thatsächlich war es aber nicht nur zu gehen
im Stande, sondern man konnte auch beim Laufen und Springen keinerlei
Unregelmässigkeiten mehr an ihm wahrnehmen. Goltz hat durch
diesen Versuch nur beweisen wollen, dass ein solches Thier auch auf
drei Beinen zu gehen vermag, eine Thatsache, die zur Lösung der
aufgeworfenen Streitfrage nichts beiträgt, nicht aber, dass ein solches
Thier dadurch auf der kranken Pfote gehen lernt, dass man es am
Gebrauch der gesunden verhindert; denn das konnte es ja schon vorher.
Beiläufig gesagt, würde auch dies nichts gegen meine eigenen An-
schauungen beweisen.
Was die eigene zuerst erwähnte Beobachtung Loeb 's angeht, so
erhellt aus derselben nur, dass „von der Bewegungsstörung der linken
vorderen Extremität nichts mehr zu bemerken war", so lange das Thier
nur auf seinen drei nicht schmerzenden Beinen lief, es erhellt aber
nicht daraus, ob und mit welchem Erfolge Loeb das Thier sonst unter-
sucht hat, ob er versucht hat, demselben die Extremität zu dislociren,
sie mit dem Dorsum aufzusetzen, sie über den Tischrand hängen zu
lassen und dergl. mehr. Ich ersehe also nur, dass das auf drei Beinen
gehende Thier seine Beine anders gebraucht hat, als das auf vier
Beinen gehende Thier, was mich nicht wundert, und dass Loeb von
der Bewegungsstörung jener Extremität nichts bemerkt hat, was mich
auch nicht wundert, ich ersehe aber nicht, dass sie nicht vorhanden
gewesen ist. In keinem Falle ist diese isolirte und oberflächlich be-
richtete Beobachtung dazu angethan, den Satz zu begründen, welchen
— 92 —
Loeb auf sie aufbaut: „Alle diese Thiere sind sehr wohl im Stande,
die gekreuzte Pfote auch ganz normal zu gebrauchen." Nicht für
ein Thier, geschweige denn für alle ist es bewiesen.
Noch weniger bedeuten die anderweitigen, citirten Angaben A^on
Loeb; sie sind einfach falsch. "Wenn er behauptet, dass der normale
Widerstand in der kranken Pfote alsbald vorhanden sei, während die
andere Pfote nunmehr den Mangel an Widerstand gegen Dislocations-
versuche zeige, sobald das Thier sich einmal zufällig auf die gekreuzte
Pfote stütze, oder wenn man dasselbe durch Aufheben der gesunden
Pfote dazu zwinge, so bestreite ich dies auf's Bestimmteste. Wäre es
so, käme es wirklich nur darauf an, ob das Thier sich auf die Pfote,
welche man dislociren will, stützt oder nicht, so sehe ich nicht ein,
aus welchem Grunde der Hund vorher operirt werden müsste. Jeder
gesunde Hund müsste ja gelegentlich genau dasselbe zeigen, was sich
an dem operirteu beobachten lässt.
Thatsächlich ist der Sachverhalt aber ein ganz anderer. Niemals
Fig. 13. Hund mit Verletzung des linken Gyrus siginoides, der auf dem Dor-
sum beider rechten Pfoten stehen bleibt, obwohl ihm die linke Vorderpfote
aufgehoben ist.
zeigt ein gesunder Hund oder ein operirter auf der gesunden Seite Er-
scheinungen, welche sich mit den von mir als Störung des Muskel-
— 93 —
bewusstseins beschriebenen Bewegungsstörungen verwechsebi lassen;
und niemals kann man dem im Gyrus sigmoides operirten die Fähig-
keit, Widerstand gegen Dislocationsversuche zu leisten oder die normale
Spannung dadurch wieder verleihen, dass man ihn nöthigt, sich auf
die kranke Pfote zu stützen. Der Hund verhält sich, vielmehr unter
diesen Umständen genau wie vorher. Wenn man ihn auf der gesunden
Seite derart aufhebt, dass sogar beide Pfoten dieser Seite den Boden
nicht mehr berühren und fast die ganze Last des Körpers auf der an-
deren, kranken Seite ruht, so kann man gleichwohl die Pfoten dieser
Seite beliebig dislociren, ja man kann sie sogar beide mit dem üorsum
aufsetzen, ohne dass das Thier versuchte, die ihm natürliche Stellung
wieder einzunehmen, vorausgesetzt, dass man dafür sorgt, dass Orts-
bewegungen vermieden werden.
Falsch wie die behauptete neue Thatsache ist aber auch Loeb's
Schilderung des anderweitigen Sachverhaltes und seine Benutzung des
anderweitig gesammelten Materials. Das von mir geschilderte Krank-
heitsbild soll, wie er behauptet, hervorgerufen werden „nicht etwa
durch einen Verlust des Muskelbewusstseins, wie Hitzig will, sondern
durch eine Erschlaffung der StrecJ^er des Vorderbeines (und gewisser
anderer Muskelgruppen) sowie durch eine Abnahme der Hautsensibilität."
Die Thiere haben die „Gewohnheit", die abnorme „Neigung", das
kranke Bein entspannt zu halten. Das eine Mal sind es also nach
seiner. Beschreibung neben den Streckern der vorderen Extremität „viel-
leicht auch andere Muskelgruppen", das andere Mal sind es, wie an-
geführt, „gewisse andere Muskelgruppen" und wieder ein anderes Mal,
wenn es besser passt, ist es die ganze Extremität, welche unter der
Gewohnheit oder der Neigung des Thieres, die Pfote entspannt zu
halten, leidet. Endlich aber wird die hemiplegische Contractur des
Menschen zum Beweise dafür herangezogen, dass die Stellung des
Armes nur durch den Spannungszustand der Beuger allein bestimmt
wird. „Das ist aber dasselbe wie beim Hunde, bei dem ja auch nach
Verletzung des „Vorderbeincentrums" die Spannung der Strecker im
Ellbogengelenk abnimmt."
Was meint nun Loeb eigentlich, das eine, das andere oder das
dritte oder das vierte und was ist die Wahrheit?
Der Darstellung Loeb's fehlt jede scharfe Definition des wirklichen
Sachverhaltes, wie er ihn auffasst, und jede logische Entwicklung der
daraus abzuleitenden Schlüsse.
Thatsächlich hängen die kranken Pfoten des aufgehängten Hundes ge-
streckt herab, wie es die Abbildung auf S. 16 dieser Untersuchungen zeigt.
Hätten die Beuger das üebergewicht, so könnten die Pfoten nicht gestreckt
— 94 —
herabhängen. Thatsächlich setzt der Hund seine Pfote nicht, wie dies nach
Loeb's Theorie der Fall sein müsste, regelmässig mit dem Dorsum
auf, sondern dies geschieht, entsprechend meiner Schilderung, nur ge-
legentlich, dafür aber bringt er, entsprechend der gleichen Schilde-
rung, die Pfote spontan in allerhand andere abnorme Stellungen, er
rotirt sie bald mehr nach innen, bald mehr nach aussen etc. und alles
das, was er so spontan ausführt, lässt er auch passiv widerstandslos
über sich ergehen. Man kann also die Pfote unter Anderem auch be-
liebig extendiren, ohne dass man in den Beugern den geringsten Wider-
stand fühlen könnte, einen Widerstand, den man doch unfehlbar fühlen
müsste, wenn die Theorie Loeb's richtig wäre. Die Wahrheit ist also,
dass sich die gesammte Muskulatur und nicht nur etwa ein Theil
derselben in einem veränderten Innervationszustande befindet. Inwieweit
dieser Zustand der hemiplegischen Lähmung des Menschen parallel zu
setzen ist, habe ich in der ersten dieser Abhandlungen (S. 14 ff.) bereits
erörtert. Wenn nun auch Loeb die hemiplegische Lähmung des Men-
schen für „dasselbe" hält, wie den durch Zerstörung des Gyrus sig-
moides beim Hunde hervorgebrachten Zustand, so sehe ich nicht ein,
warum er nicht einfach mit düiren Worten zugestanden hat, dass solche
Eingriffe beim Hunde eben lähmungsartige Zustände hervorbringen. Er
hätte sich durch den Umstand, dass die Gesammtmuskulatur der Pfote
betroffen ist, durchaus nicht stören zu lassen brauchen, denn sein Satz:
„Das (Contracturstellung) beweist, dass dieser Arm in Folge der . Herd-
erkrankung im Grosshirn nicht gänzlich gelähmt ist, sondern dass nur
die Spannung der Strecker abgenommen hat", ist mindestens in der
ihm gegebenen Fassung thatsächlich unrichtig. Die Muskeln des Armes
sind sämmtlich an der Lähmung betheiligt, wenn sie auch in keinem
derselben vollständig zu sein braucht. Woher diese Contractur rührt,
das ist eine Frage, welche aus den oben angeführten Gründen hier
nicht erörtert werden kann; es genügt, dass alle Aerzte, welche diese
Krankheit wirklich kennen, darin übereinstimmen, dass die Contractur
nicht davon herrührt, dass die Beuger von der Lähmung verschont
bleiben.
Wir haben oben gesehen, dass auch Bianchi den veränderten
Innervationszustand der kranken Pfote des Hundes mit der hemi-
plegischen Contractur des Menschen vergleicht und dass auch er einen
veränderten Spannungszustand in einzelnen Muskelgruppen des Gliedes
annimmt. Während aber nach Loeb die Strecker einen verminderten
Spannungszustand besitzen sollen, zeigen sie nach Bianchi gerade das
Umgekehrte, einen vermehrten Spannungszustaud. Der Widerspruch
erklärt sich, wie man gesehen hat, daraus, dass Bianchi einige, wenn
— 95 —
auch inconstante, so doch thatsächlich vorhandene Erscheinungen in
eine, wenn auch nur zum Theil begründete Verbindung mit anderen
thatsächlich beim Menschen zu machenden Beobachtungen gebracht hat,
während die Behauptungen Loeb's sich auf nichts Thatsächliches,
sondern auf ebenso oberflächlich gemachte, wie verwerthete Aper(;üs
gründen.
Ebensowenig wie Loeb sein eigenes Beobachtungsmaterial in an-
gemessener Weise zu verwerthen im Stande war, hat er gewusst, die
Literatur passend zu benutzen. Verwerthet ist nur das, was mit seiner
Theorie nicht im Widerspruch steht. Auf diese Weise sind alle die-
jenigen Beobachtungen, welche sich weder durch die Abnahme der
Spannung in den Streckern etc. noch durch Störungen der Hautsensi-
bilität erklären lassen, unberücksichtigt geblieben; die von mir ge-
fundenen Thatsachen, dass solche Hunde in 's Leere treten, mit der
kranken Pfote anstossen, die kranke Pfote in der Schwebe schlaff
herabhängen lassen, die von Goltz, Schiff, Bianchi und mir mitge-
theilten Beobachtungen, die den Verlust der isolirten intentioneilen
Bewegung betreffen etc., alles das ist ausser Betracht gelassen. Selbst
Goltz!) \i^i zugegeben, dass der Verlust der Fähigkeit, die Pfote zu
reichen, nicht aus einer Empfindungsanomalie erklärt werden könne;
er meint vielmehr, zwischen dem Organ des Willens und den Nerven,
die den Willen ausführen, habe sich irgendwo ein unbesiegbarer Wider-
stand aufgebaut. Mir scheint, man kann diesen Zustand, ohne sich der
von Goltz beliebten mystischen Umschreibung zu bedienen, einfach als
Lähmung einer Art von Bewegungen erklären. Man weiss doch, dass
man ein Quantum der Gehirnmasse fortgenommen hat und man weiss,
dass es an einer ganz bestimmten Stelle geschehen musste, wenn der
in Frage stehende Erfolg erzielt werden sollte. Ich begreife nicht, aus
welchen Gründen die Herbeiziehung des unbekannten Factors „unbe-
siegbarer Widerstand" erforderlich ist nnd warum man sich sträubt,
den so hervorgebrachten Zustand, ich will nicht sagen als Lähmung,
aber doch im Sinne einer Lähmung aufzufassen. Wie dieser Zustand
im Einzelnen verstanden werden kann, das habe ich 2) bereits im
Jahre 1876 zu erläutern versucht. Von alledem ist bei Loeb keine
Rede.
Es ist bei ihm auch nicht die Rede davon, dass neben der Sensi-
bilität der Haut auch die Sensibilität der tiefereu Theile, also z. B.
1) F. Goltz, Gesammelte Abhandlungen. S. 35.
2) E. Hitzig, Ueber die Einwände des Herrn Professor Goltz in Strass-
burg. Reichert's und du Bois Reymond's Archiv. 1876.
— 9.6 —
die der Gelenke und der Muskeln gestört ist. Loeb's Meister, Goltz^),
hat „gegen die Annahme, dass das Muskelbewusstsein gestört ist", an
sich nichts einzuwenden, aber diese Störung des Muskelbewusstseins ist
selbst nur eine untrennbare Theiierscheinung der Abstumpfung der
Empfindung im Allgemeinen. Ich habe diese Ansicht von Goltz seit
langem nicht nur acceptirt, sondern sie auch dahin erweitert, dass die
gesammten Zustände des betreffenden Gliedes im Sensorium des Thieres
zeitweise ausgelöscht erscheinen.
Loeb hat sich hierin auf einen anderen Standpunkt gestellt und
damit auch in Gegensatz zu Goltz gebracht. Mit der ihm eigenen
Bescheidenheit sagt er 2): „Damit wird auch das Bestreben Hitzig's hin-
fällig, zur Erklärung der Motilitätsstörung den Begriff einer „Störung
des Muskelbewusstseins" in die Physiologie einzuführen."
„Abgesehen von sprachlichen Bedenken — wir müssten entsprechend
von einem Hautbewusstsein , Knochenbewusstsein, Drüsenbewusstsein
sprechen — fehlt diesem Begriffe die physiologische Definition." Und
in seinem neuesten Werke 3) heisst es: „Wir wollen den Umstand, dass
wir kein Bewusstsein unserer inneren Organe, also auch kein Muskel-
bewusstsein, besitzen, unberücksichtigt lassen und darauf nur hin-
weisen, dass die Störungen des angeblichen „Muskelbewusstseins" in
Wirklichkeit in der Spannungsänderung bestimmter Muskelgruppen und
Abnahme der Sensibilität der Extremität bestehen."
Als ich die hier discutirten Thatsachen in die Physiologie einführte,
habe ich mir erlaubt, auch zu ihrer, wenn schon in den bescheidensten
Grenzen gehaltenen Erläuterung zu schreiten und dabei den Ausdruck
„Störung des Muskelbewusstseins" „eingeführt". Die von Loeb ver-
misste physiologische Definition wird durch die Thatsachen selbst ge-
geben; und was seine Behauptung, dass wir kein Bewusstsein unserer
inneren Organe besässen, angeht, so entspringt sie eben dem ander-
weitigen Bestände seines Nichtwissens. Im Normalzustande setzt sich
unsere Selbstempfindung, welche unzweifelhaft unserem Bewusstseius-
materiale angehört, zusammen aus den mannigfachen Erregungen, welche
dem Gehirn als ein Product der Zustände aller inneren Organe zu-
fliessen; bei jeder Abweichung von der Norm beginnen aber diese Er-
regungen alsbald eine ganz andere Rolle im Bewusstsein zu spielen.
Am auffälligsten tritt dies zwar bei den Geistesstörungen, iiisbesondere
denjenigen hypochondrischer Natur hervor — hier wohl meistens wegen
1) F. Goltz a. a. 0. S. 35.
2) J. Loeb, Beiträge. S. 293.
3) J.. Loeb, Einleitung- etc. 1899. S. 175.
— 97 —
krankhafter Veränderung des Centralorgans; indessen maclien sich be-
kanntlich auch die meisten körperlichen Krankheiten, ja schon zahl-
reiche, noch in den Bereich des Physiologischen fallende Zustands-
änderungeu, z. B. die Ermüdung der Muskeln, in analoger Weise be-
merkbar. Im Uebrigen habe ich mich über das Verhilltniss des
Bewusstseins zur Muskelthätigkeit vor und nach meinen hier be-
sprochenen Arbeiten so oft geäussert, dass ich denjenigen, die sich für
berufen halten, über die Sache zu schreiben, anlieim geben muss, erst
einmal das früher Publicirte zu lesen.
Ich fasse das zuletzt Gesagte dahin zusammen, dass eine Ab-
schwächung der Sensibilität, gleichviel ob sie, wie Loeb will, nur die
Haut betrifft, oder ob sie, wie die Mehrzahl der anderen Forscher will,
die ganze Extremität betrifft, ohne eine Veränderung der Bewusstseins-
thätigkeit überhaupt nicht denkbar ist. Und hiermit verlasse ich diesen
Gegenstand.
Die Untersuchung der Reflexe.
Das Studium der Reflexthätigkeit ist von ausserordentlicher Wich-
tigkeit für das Verständniss der durch corticale Läsionen hervorge-
brachten Krankheitserscheinungen. In der That kann man das ganze
psychische Geschehen als eine Kette von immer mehr und mehr com-
plicirten reflectorischen Vorgängen auffassen und demnach auch alle
nach corticaleu Läsionen eintretenden Störungen von diesem Gesichts-
punkte aus betrachten.
Viele Forscher auf unserem Gebiete haben ihnen auch, wenn schon
mit recht verschiedener Intensität und mit recht verschiedenem Glücke
ihre Aufmerksamkeit zugewandt. Namentlich sind hier Goltz und
Munk zu erw' ahnen.
Eine Methode, die Reflexthätigkeit zu untersuchen, das von mir
sogenannte „Begreifen", habe ich in der ersten dieser Abhandlungen
(S. 17 ff.) geschildert und bei der gleichen Gelegenheit habe ich auch
einen Theil der Lehre Munk 's über die Rolle, welche die Reflex-
thätigkeit in dem Centralorgane normaler und operirter Hunde spielt,
erörtert. Hier beabsichtige ich nun, einen neuen Reflexversuch zu be-
schreiben und die Bedeutung, welche gewissen anderen derartigen Ver-
suchen zukommt, kurz zu betrachten.
Wenn man einem gesunden Hunde die Nasenhaut einer
Seite streicht, so zucken die Augenlider der gleichen Seite
syn chronisch und wenn man das Streichen sehr schnell aufeinander
folgen lässt, so kommt es nicht selten zu vollständigem oder fast voll-
ständigem Lidschluss. Noch stärker wirkt der reflectorische Reiz, wenn
Hitzig. Gesammelte Abhandl. II. Theil. 7
mau die Seite der Nase leiclit mit der Kuppe des Fiugers beklopft.
Die Intensität der Lidbewegung nimmt zu, je mehr man sich dem Auge
nähert.
Unzweifelhaft handelt es sich bei diesem Versuche um einen Reflex
von dem Trigeminus auf den Facialis. Indessen könnte man leicht auf
die Vermuthung kommen, dass der Sehakt dabei eine, w^enn nicht die
ausschliessliche Rolle spiele. Dem ist aber nicht so. Denn blinde Hunde
zeigen den Reflex so gut wie sehende und ebenso wenig bleibt der
Reflex aus, wenn man das Auge passiv mit dem Finger schliesst. Dem
Fehlen dieses Reflexes, deü ich Nasenlidreflex nenne, werden wir
bei der Beschreibung der in späteren Capiteln anzuführenden Versuche
häufig begegnen.
Exner und Panethi) haben einen ähnlichen Versuch beschrieben.
„Streicht man Hunden z. B. mit einem Stückchen spitzen Holzes über
die Wangen, so zucken sie mit den betreffenden Mundwinkeln. Dieser
Reflex, der sehr constant und auffallend ist, fehlt bei Verletzung des
Facialisfeldes oder ist sehr vermindert."
Die Untersuchung dieser Reflexe ist von um so grösserer Wichtigkeit,
als die Hunde auf sensible, auch Schmerz erregende Reize, welche
ihre Gesichtshaut treffen, in individuell sehr verschiedenem Grade
reagiren.
An der gleichen Stelle sprechen Exner und Paneth auch von
dem Fehlen des optischen Reflexes bei Annäherung des Fingers. Sie
meinen, es sei „bei diesem Symptome nicht auszumachen, ob es der
Störung der Function des Facialis oder der Sehstörung angehört; ebenso
können an dem Fehlen des ersterwähnten Reflexes die Unterempfind-
lichkeit oder die Parese oder beides Schuld tragen."
Die op frischen Reflexe sind von den verschiedensten Autoren
studirt und fast ausschliesslich in der Weise gewürdigt worden, dass
aus ihrem Fehlen oder Vorhandensein auf Fehlen oder Vorhandensein
der optischen Functionen im weiteren Sinne, also auch des Sehens ge-
schlossen wurde. Ich führe hier wörtlich an, was Luciani und
Seppilli^) hierüber sagen: „Der fehlende Reflex der Augenlider bei
Bewegungen vor den Augen hat bei diesen Untersuchungen nicht den
geringsten Werth. Viele gesunde Hunde reagiren auf den betr. Versuch
gar nicht, oder nicht regelmässig und jedesmal bei Annäherung eines
Fingers oder sonstigen Gegenstandes an das Auge. Das Zwinkern der
1) Exner und Paneth, Versuche über die Folgen der Durchschneidung
der Associationsfasern am Ilundehirn. P flüger' s Archiv Bd. XLIV. S. 547.
2) Luciani und Seppilli, Die Functionslocalisation etc. S. 28—29.
— 99 —
Augen kann also constant bei dem normalsten Sehen fehlen. Gleich-
wohl erlangt der sogenannte Gesticulationsversuch in denjenigen
Fällen Bedeutmig, in welchen ein Auge oder ein Segment des Augen-
grundes sich indilt'erent zeigt, während das andere Auge oder ein an-
deres Segment der Netzhaut auf die Gesten regelmässig mit Augen-
schluss antwortet.
Nachdrücklicher ist der Versuch mit Kerzenlicht, das unversehens
ein oder dem anderen Auge genähert, auf einem oder dem anderen
Netzhautabschnitt sich abzeichnet. Während der ersten und heftigsten
Wirkungen des Operationseingriffes giebt jener Versuch fast das einzig
verwendbare Mittel, um die partiellen Sehstörungen abzuschätzen.
Einige Hunde eignen sich dazu sehr gut, indem sie nicht nur mit dem
Lid zwinkern, sondern auch mit raschen Kopfbewegungen bei jeder
Annäherung des Lichtes an die Augen reagiren, wenn dasselbe auf
normal fuugirende Netzhäute fällt, aber indifferent bleiben, wenn das
Licht auf blinde oder amblyopische Abschnitte fällt. Andere Thiere
bleiben jedoch selbst bei plötzlicher Annäherung der Kerze unbewegt,
auf welchen Theil der Netzhaut der Lichtstrahl fallen möge, und sind
doch keineswegs blind, wie sich aus den Untersuchungen nachweisen
lässt."
Die thatsächlichen Angaben Luciani's sind insofern ganz richtig,
als die einzelnen Hunde sehr ungleich auf die verschiedenen optischen
Reize reagiren. Insbesondere ist auch zutreffend, dass der gleiche
Hund an verschiedenen Tagen aus verschiedenen, manchmal unbekannt
bleibenden Gründen, sehr verschieden auf diese Reize reagirt. Das
eine Mal blinzelt er schon bei der blossen Annäherung eines Fingers,
das andere Mal führt nicht einmal die Annäherung einer oscillirenden
Flamme an sein Auge zu irgend einer Reaction. Diese Versuche be-
weisen also, wie die Verfasser richtig bemerken, nur dann etwas, wenn
sie einseitig oder doppelseitig positiv ausfallen. Dagegen kann ich dem
Versuche mit dem „Kerzenlicht" selbst nach der Schilderung von
Luciani und Seppilli einen besonderen Vorzug vor dem „Gesticu-
lationsversuch" nicht einräumen. Denn auf manche Thiere macht, wie
sie auch selbst angeben, selbst die plötzliche Annäherung von grellem
Licht nicht den geringsten Eindruck. Wenn sie aber reagiren, so ge-
schieht dies durch Abwenden des Kopfes, durch Beissen etc., während
der Lidreflex nur in verhältnissmässig seltenen Fällen eintritt. Dass
er regelmässig fehle, wie Bönsel^) angiebt, davon habe ich mich
1) Karl Boensel, Die Lidbewegungen des Hundes. Inaugural-Dissert.
Giessen L897.
— 100 —
jedoch nicht überzeugen können. Ich kann nur annehmen, dass Luci-
ani und Sejjpilli sich durch den zufälligen Eintritt spontaner Lidbe-
wegungen haben täuschen lassen, was, wie ich zugebe, sehr schwer zu
vermeiden ist.
Man kann den optischen Lidreflex ja in sehr verschiedener Weise,
wenn auch mit verschiedener Sicherheit hervorrufen. So viel ich sehe,
haben die meisten Forscher sich dazu der Annäherung eines Fingers
oder eines spitzen Gegenstandes bedient. Ich selbst habe längere Zeit
die Hunde in der Weise untersucht, dass ich die Branchen einer ana-
tomischen Pincette iü schneller Folge vor dem Auge öffnete und schloss.
Wenn dieser Versuch gelingt, so giebt er insofern ein überzeugendes
Resultat, als jedesmal ein mit den Pincettenbewegangen synchronisches
Blinzeln eintritt, über dessen Herkunft man sich nicht so leicht täuschen
kann, wie über die Herkunft des bei anderweitigen Methoden ein-
tretenden einmaligen Lidschlusses. Indessen ist der Erfolg dieses Ver-
suches noch unregelmässiger als der aller anderen bisher erwähnten
Methoden.
Am sichersten, wenn auch nicht absolut sicher reagiren die Hunde
mit Lidschluss, weun man die flache Hand schnell in der Richtung von
unten nach oben vor dem Auge vorbei führt. Weniger leicht erfolgt
die Reaction, wenn man die Schmalseite der Hand rasch dem Auge
nähert. Ich habe mich schliesslich zur Untersuchung des „optischen
Reflexes" auf diese beiden Methoden beschränkt und die entsprechenden
Versuche in meinen Protokollen mit „flacher Hand" und „schmaler
Hand" bezeichnet. Selbstverständlich muss man sich überzeugen, dass
man bei diesen Handbewegungen den Lidschluss nicht etwa durch den
dabei entstehenden Luftstrom ausgelöst hat, was am einfachsten da-
durch geschieht, dass man den Versuch bei passiv geschlossenen Augen
wiederholt.
In der Deutung dieser optischen Reflexe sind,, wie wir oben ge-
sehen haben, Exner und Paneth bei weitem vorsichtiger gewesen als
Luciani und Seppilli. Während die letzteren das Ausbleiben der
optischen Reflexe nach Hirnläsionen ohne weiteres als Beweis für das
Vorhandensein einer Sehstörung ansprechen, lassen die ersteren es
dahingestellt sein, ob das Symptom einer Störung in der Function des
Facialis oder des Sehens angehört. Vielleicht sind auch sie noch nicht
vorsichtig genug gewesen.
Im Allgemeinen ist dem Symptom eine systematische Verfolgung
und Analyse nicht zu Theil geworden, wenn auch die von uns ange-
führten und andere Autoren dasselbe gelegentlich erwähnen. Nur M unk
und Boense] haben sich, soviel ich weiss, eingehender damit beschäf-
— 101 —
tigt. Freilich sehe ich nicht, dass der erstere den Einfluss von Kinden-
läsionen auf die optischen Lidreflexe systematiscli verfolgt hätte.
Dagegen hat ersieh über die Theorie derselben, bezw. den' Mechanismus
ihrer Entstehung an verschiedenen Stellen ausgelassen. Diese Reflexe
sind nach ihm keine „Retina- oder Opticus-", sondern „Sinnes- oder
Sehreflexe" 1). Sie sind nicht angeboren, sondern erworben und können
nur unter Mitwirkung des Grosshirns sich vollziehen. „Für diese Seh-
reflexe muss die Erregung den Weg von der Sehsphäre aus durch
Associationsfasern zu anderen Rindengebieten und erst durch deren
Radiärfasern zu den niederen Centren nehmen." Es versteht sich hier-
nach von selbst, dass der optische Lidreflex nach jeder Verletzung der
„Sehsphäxe" beeinträchtigt werden oder ausfallen muss, wenn er wirk-
lich den ihm von Munk anatomisch und physiologisch vorgezeichneten
Weg beschreitet. „Fährt man im Verlaufe der ersten Woche mehrmals
mit dem Finger an oder in die Augen des Hundes, so tritt von der
Zeit an regelmässig Blinzeln auf Näherung des Fingers ein; sonst kommt
dieses Blinzeln ohne alles Zuthun erst in der zweiten oder dritten
Woche zur Beobachtung."
ßoensel^), der unter der Leitung Eckhard's arbeitete, kam nun
allerdings zu ganz anderen und sehr merkwürdigen Resultaten. Die
Beobachtung, dass der Hund einerseits, wie oben angeführt, auf grelle
Lichtreize nicht mit Lidschi uss reagirt, während andererseits die Häufig-
keit des spontanen Lidschlages schon durch die einfache Freilegung der
Dura 3) eine sehr erhebliche Beeinträchtigung erfuhr, erregte in ihm die
Vermuthung, dass sich im Grosshirn ein Hemmungsmechanismus für
den Lidschlag befinde. Diese Vermuthung fand er bestätigt einmal
dadurch, dass nach Freilegung der mittleren und hinteren Gegend des
Grosshirns ^) unter Abnahme der Häufigkeit des spontanen Lidschlages
ein prompter, reflectorischer Lidschluss auf den Reiz eines brennenden
Magnesiumstreifens eintrat und ferner dadurch, dass ein Hund, dem
beide Hinterhauptlappen vollständig abgetragen worden waren, auf den
gleichen Reiz in gleicher Weise reagirte. Diese Reaction war am Abend
des Operationstages „so prompt, wie sie nur sein konnte" und dann
1) H. Munk, Gesammelte Mittheihmgen etc. 1890. S. 281 u. 306. Seh-
sphäre und Augenbewegungen.
2) K. Boensel a. a. 0.
3) Boensel drückt sich merkwürdigerweise mit folgenden Worten aus:
„Nach der einfachen, doppelseitigen Blosslegung des Hirns, noch während es
mit der Dura auf beiden Seiten überzogen war."
4) K. Boensel I. c. S. 31. Hier ist nicht ersichtlich, ob dem Gehirn die
Dura gelassen war oder nicht.
— 102 —
noch 31/2 Monate lang mindestens in der Dunkelkammer regelmässig
vorhanden. Einige andere Versuche, die Boensel selbst als unvoll-
kommen bezeichnet, übergehe ich.
Ich habe diese Beobachtungen als merkvi'ürdig bezeichnet und sie
sind es in der That mindestens insofern, als sie eine Reihe von Fragen
unaufgeklärt lassen. Zunächst stehen sie natürlich in directem Gegen-
satz zu der Theorie Munk's. Denn sie würden, wenn sie sich bestätigen
sollten, in demjenigen Organe, in welchem Munk den eigentlichen
Uebertragungsapparat für jenen Reflex annimmt, einen Hemmuugsapparat
für den gleichen Reflex nachweisen. Sodann bleibt aber das Verhält-
niss des auf grelles Licht eintretenden Lidschlusses zu dem auf die
Annäherung der Hand eintretenden Lidschlusse unerörtert und übrigens
auch unerwähnt. Indessen sind dies Fragen, deren Erörterung ich mir
an dieser Stelle versagen muss.
III. Theorien.
A. Theorien des corticalen Sehens und der corticalen
Sehstörung.
Die Untersuchungen über die corticale Schädigung des Seh-
vermögens hatten, wie ich glaubte, mit meiner Mittlieilung aus dem
Jahre 1874 ihren Anfang genommen. Neuerdings ersehe ich jedoch
aus einem, ich weiss nicht, ob übersehenen oder vergessenen Citate von
Luciani und Seppillii), dass dieses Verdienst Panizza zukommt,
der schon im Jahre 1855 analoge Beobachtungen gemacht hat^). Aus
der nach dem Jahre 1874 erwachsenen, überaus umfangreichen Lite-
ratur führe ich nur diejenigen Daten an, deren ich für meinen Zweck
bedarf.
Das Auftreten bilateraler homonymer Hemlanopie beim
Hunde ist zuerst von Luciani und Tamburini bemerkt worden 3).
Munk hatte es zuerst direct bestritten^), dann aber zugegeben und
näher studirt^), indem er gleichzeitig Luciani und Tamburini vor-
1) Luciani und Seppilli a, a. 0. S. 59.
2) H. Munk (Gesammelte Mittheilungen 1890, S.20 u.214) hat die Arbei-
ten Panizza' s ausführlicher referirt. Meine Versuche wiesen bestimmt auf
den Hinterhauptlappen hin, Panizza's Versuche thaten dies weniger. In-
dessen scheint mir aus später zu erörternden Gründen hierauf nicht viel an-
zukommen.
3) Luciani und Tamburini, Gli centri psico-sensori corticali. Rivista
sperimentale di Freniatria. März 1877.
4) H. Munk, Gesammelte Mittheilungen. S. 30. (15. März 1878.)
5) H. Munk, Ebenda. S. 66ff. (4. .luli 1879.)
— 103 —
warf, dass ihre Untersucliungsmethoden niclit beweiskräftig seien.
Munk hat damals augegeben, dass der Ausfall auf der gleichseitigen
Netzhaut immer genau den erhaltenen Stücken der ungleichseitigen
Netzhaut entspräche und nie mehr als liöchstens ein Viertel der Retina
ausmache. Goltz und Loeb hatten diesen Angaben lebhaften Wider-
spruch, auf den ich zurückkommen werde, entgegengesetzt. Für jetzt
habe ich nur, mit Bezug auf die Sehstörung des gleichnamigen Auges
zu bemerken, dass sie in vielen Fällen schwer oder auch nicht nach-
zuweisen ist, wie sie denn auch zuerst mir und später Munk entgangen
war. Ist sie aber nachweisbar, so nimmt sie, entsprechend den An-
gaben Munk's, bei einseitigen Verletzungen, niemals mehr als ein
Viertel der Retina ein. Hierauf und auf die Coustatirung ihres relativ
frühzeitigen Verschwindens, will ich an dieser Stelle meine, aus eigenen
Erfahrungen geschöpften Bemerkungen über die Sehstörung des gleich-
namigen Auges beschränken.
Fig. ]4. A. A^ Sehsphäre, B. B^ Hörsphäre, G. Ohrregion nach Munk.
Die Angaben der verschiedenen Autoren über die Art der ge-
setzten Sehstörung, welche Munk bekanntlich mit Seelenblindheit
und Riudenblindheit bezeichnet, während Goltz und Loeb von der
totalen Blindheit nur eine Hirnsehschwäche bezw. Hemiamblyopie unter-
schieden wissen wollen, sind von so grundsätzlicher Wichtigkeit für die
Vorstellungen, welche man sich nicht nur von dem corticalen Mechanis-
mus des Hundes, sondern auch von demjenigen des Menschen zu bilden
hat, dass die kurze Anführung und die Prüfung der hauptsächlichsten
Streitpunkte unerlässlich erscheint.
Nach der Lehre von Munk werden die corticalen, optischen Wahr-
nehmungen in der Weise vermittelt, dass die einzelnen Punkte der
Netzhaut durch Sehnervenfasern mit bestimmten Theilen der Rinde,
i
— 104 —
welche die Sebsphäre zusammensetzen, ja sogar mit bestimmten Em-
pfindungszellen der Rinde direkt verbunden sind. Insbesondere eut-
spriclit diejenige nahe der hinteren oberen Spitze des Hinterhauptlappens
gelegene Stelle, deren Verletzung mir seiner Zeit temporäre, contra-
laterale Blindheit ergab und die später von Munk A^ genannt
worden ist, der Stelle des deutlichen Sehens der Retina. In dieser
corticalen Stelle und von ihr aus in ihre Umgebung werden „die Er-
innerungsbilder der Gesichtswahrnehmungen in der Reihenfolge etwa,
wie die Wahrnehmungen dem Bewusstsein zuströmen, gewissermaassen
von einem centralen Punkte aus in immer grösserem Umkreise deponirt."
Es entstehen also nicht nur die Gesichtsvorstellungen, sondern
auch die Gesichtswahrnehmungen, die Lichtempfindungen in der
Rinde und dort allein. Diesen beiden verschiedenen Zwecken dienen
zwei verschiedene Arten von Elementen, die wahrnehmenden und die
Vorstellungselemente. Die ersteren kehren nach jeder Erregung sehr
rasch wieder in den vollen „alten Ruhezustand zurück", während in
den letzteren Erinnerungsspuren von jeder Erregung haften bleiben.
Die so gesetzten Erinnerungsbilder entstehen fortan jedesmal, dass die-
selben Vorstellungselemente, gleichviel aus welchem Anlass, wieder in
Erregung gerathen. Alle Vorstellungselemente, in welchen die Er-
innerungsbilder der früheren Gesichtswahrnehmungen auf diese Weise
latent erhalten sind, haben in den beiderseitigen Stellen A^ ihren Sitz.
Aber auch die einzelnen Erinnerungsbilder haben ihren bestimmten Sitz
in der Grosshirnrinde, sodass es gelegentlich gelingt, bei Ausschaltung
aller anderen Erinnerungsbilder nur eines derselben unversehrt zu er-
halten, z. B. das Bild des Eimers, aus welchem der Hund zu trinken
gewohnt war oder der Handbewegung (!), auf welche er die Pfote gab.
Werden nun einzelne Stücke dieser Sehsphäre exstirpirt, so wird
das Thier für den correspondirenden Theil seiner Netzhaut für alle Zeit
rinden blind, es entsteht also gleichsam ein zweiter blinder Fleck auf
der Netzhaut. Wird die ganze Sehsphäre exstirpirt, so fällt der ganze
correspondirende Theil beider Netzhäute aus, und werden beide Seh-
sphären exstirpirt, so wird das Thier auf beiden Augen total blind.
Besondere, von der Exstirpation aller anderen Theile der Sehsphäre
abweichende Folgen hat die Exstirpation der Stelle A^. Zwar wird
das Thier nunmehr auch für den correspondirenden Theil der Netzhaut,
nämlich die Stelle des deutlichen Sehens, rindenblind; da aber in
dieser Stelle A-^ alle Erinnerungsbilder, die der Hund früher gesammelt
hatte, deponirt waren, so vermag er zwar noch mit den ü(brigeu Theilen
seiner Netzhaut zu sehen, aber er erkennt nicht mehr, was er sieht, er
ist seelenblind.
— 105 —
Die Seelenbliudheit ist aber kein (lauernder Zustand, sondern sie
ist der Ausgleichung fähig und damit erklärt sich die' Thatsache der
Restitution. Denn da der Hund noch sehen kann, ist ihm die Fähigkeit
geblieben, wie ein Neugeborener wieder sehen zu lernen, d. h. die Ele-
mente des Restes seiner Sehsphäre mit neuen Erinnerungsbildern zu
besetzen. Er erkennt also die einzelnen Gegenstände erst dann wieder,
wenn er sie seit seiner Verstümmelung wieder gesehen und in ihren
sonstigen Eigenschaften wahrgenommen hat, indem er also z. B. das
Fleisch oder die Peitsche gekostet hat. Der Zeitpunkt, zu dem die
einzelnen Stücke seiner Seelen blindheit verschwinden, hängt demnach
nicht von dem Heilungsprocess oder irgend welchen anderen Umständen,
sondern der Hauptsache nach nur davon ab, ob der Hund die einzelnen,
den Stücken seiner Seelenblindheit entsprechenden Objecte früher oder
später wiedererkennen gelernt hat.
Die Theorien Munk's sind von mir stets in der vorgetragenen
Weise aufgefasst worden und meines Wissens haben sie auch nirgends
eine andere Auffassung gefunden. Ich will aber nicht unterlassen, an-
zuführen, dass Munk in einer Anmerkung (A. a. 0. S. 41 — 43), in
welcher er eine Menge von polemischen Aeusserungen von Goltz citirt,
auch wiederholt die gegen seine Localisirung der Erinnerungsbilder in
einzelnen Ganglienzellen der Hirnrinde gerichteten Bemerkungen von
Goltz anführt, um dann am Schlüsse zu sagen, „kann man anders als
mit dem Kopfe schütteln, wenn man sieht, wie, um mich zu bekämpfen,
jenen falschen Aussagen gerade das entgegengehalten wird, was ich
wirklich angegeben habe?" Der Sinn dieser Bemerkung Munk's ist
mir völlig entgangen. Wenn man von der Art der Polemik Goltz's,
welche mir, wie gesagt, sehr unsympathisch ist, absieht, so kann ich
nicht finden, dass er Munk falsch citirt hat und ich kann insbesondere
auch, da es Munk an allen Erläuterungen hat fehlen lassen, nicht er-
sehen, ob er sich thatsächlich darüber beschweren will, dass Goltz
ihm seine immer und immer wieder betonte Lehre von den in be-
stimmten Ganglien localisirten Erinnerungsbildern vorrückt. Ich habe
auch sonst an keiner Stelle finden können, dass Munk sich von dieser
Lehre losgesagt oder etwa erläutert hätte, inwiefern er von der ganzen
Welt missverstanden worden ist.
Wie man sieht, setzt sich diese Lehre aus einer ganzen Reihe von
einzelnen Grundanschauungen zusammen, die sich kurz so formuliren
lassen :
1. Der centrale Sehact geht nur in der Rinde und nicht, wie die
älteren Forscher wollten, in den subcorticalen Internodien und der
Rinde vor sich.
— 106 —
2. lu dei; Rinde ist er derart in der Sehsphäre localisirt, dass
Verletzungen ausserhalb dieser Sehsphäre niemals Sehstörungen, Ver-
letzungen innerhalb derselben stets partielle Rindenblindheit, und wenn
sie die Stelle A^ treffen, ausserdem Seelenblindheit hervorbringen.
3. Die optischen Wahrnehmungen, welche von anderen Forschern
in die subcorticalen Centren verlegt werden und die optischen Vor-
stellungen, welche allgemein in die Rinde verlegt werden, werden durch
zwei verschiedene Arten von corticalen Zellen, Wahrnehmungs- und
Vorstellungszellen vermittelt.
4. Die ersteren Zellenelemente stehen mit Zellen der Retina in
direkter Verbindung. An die letzteren Zellenelemente, einzeln oder
gruppenweise, sind die einzelnen Vorstellungen gebunden, sie sind von
ihnen besetzt.
Es hat, wie man später sehen wird, keinen Werth für die von mir
mitzuth eilenden Untersuchungen, die Einzelheiten der ^Innk'schen
Projection der Netzhäute auf die Rinde hier auszuführen und zu er-
örtern; von um so grösserer Wichtigkeit ist aber das Princip an sich,
vornehmlich deshalb, weil Munk das gleiche Princip auf die corticale
Projection aller anderen Sinnesflächen anwendet und dabei stets mit
der von ihm als erwiesen angesehenen optischen Projection argumentirt,
dann aber auch — neben manchen anderen Dingen — wegen der ana-
tomischen und physiologischen Vorstellungen, die man sich von dem
Centralorgan überhaupt zu machen hat. Sehen wir nun zu, welchen
Einfluss die Lehre Munk 's auf die wissenschaftliche Literatur aus-
geübt hat, so begegnen wir einem höchst eigenartigen Schauspiel. Es ist
mir nicht bekannt, dass seine, die Hauptsätze dieser Lehre begründenden
Versuche von anderen Forschern, als etwa von solchen, die unter ihm
gearbeitet haben, mit dem gleichen Erfolge wiederholt worden wären;
vielmehr sind sie von allen selbständigen Experimentatoren mit ver-
schiedenem Rechte, mit verschiedenem Glücke und verschiedener Hef-
tigkeit angegriffen worden. Nur Schäfer und Sanger Brown^) haben
bei einem am Affen ausgeführten Lähmungsversuch und Schäfer-)
sowohl wie einige andere Autoren durch Reizversuche am Occipitalhirn
des Hundes und des Affen Resultate erzielt, welche ihnen für die
1) Sanger Brown and E. A. Schäfer, On investigation into the func-
tions of the occipital and temporal lobes of the monkey's brain, Philos. trans-
act. of the Royal Soc. of London. 1888.
2) E. A. Schäfer, On electrical excitation of the occipital lobe and ad-
jacent parte of the monkey's brain. Proceedings of the Royal Soc. 1888, and
Experiments of the electrical excitation of the Visual area of the cerebral cortex
in the monkey. Brain 1888, April.
— 107 —
Richtigkeit des Principes der Projection zu sprechen scheinen. Da-
gegen haben diese Lehren bei allen denen, welche sich nicht selbst mit
solchen Versuchen beschäftigen, den willigsten Eingang gefunden, so
dass sie namentlich in den Lehrbüchern der praktischen Medicin eine
maassgebende Rolle spielen.
Die nächste und wichtigste Frage, welche von der entscheidendsten
Bedeutung für die Lehre von der Localisation im Grosshirn ist, ist die
Frage, ob eine Sehsphäre überhaupt existirt oder nicht. Wenn
ein, anscheinend so leicht durch den Versuch zu entscheidendes Problem
bis auf den heutigen Tag gerade durch den pli)'siologischen Versuch
und ganz besonders was den Hund angeht, nicht entschieden ist, so
liegt dies in erster Linie an der Fragestellung oder vielleicht richtiger
gesagt, an den falschen Voraussetzungen, von denen die Fragestellung
ausging. In dieser Beziehung haben sich Munk und seine Gegner
nichts vorzuwerfen. Während Munk argumentirte: Sehstörungen treten
nur nach Verletzung meiner Sehsphäre auf, folglich ist dies eine Seli-
sphäre, schlössen seine Gegner: Sehstörungen treten nach Verletzungen
von anderen oder von allen Theilen des Hirnmantels auf, folglich ist
die Sehsphäre viel grösser als Munk will, oder sie ist überall vor-
handen, mit anderen Worten, es giebt keine Sehsphäre.
Hierbei ging sowohl Munk als auch ein Theil seiner Gegner von
der Annahme aus, dass alle durch corticale Verletzungen bervorge-
. brachten Sehstörungen direkt von der Ausschaltung des vernichteten
Rindenstückes abhängig seien, während Goltz und seine Schule des-
halb, weil die so hervorgebrachten Störungen gänzlich oder theilweise
vergänglich sind, der corticalen Ausschaltung an sich überhaupt keinen
direkten Antheil an der Sehstörung zugestanden wissen wollten und
alle zu beobachtenden Störungen consequenterweise in die subcorticalen
Centren verlegten.
Ja, diese Schule ging insofern noch viel weiter, als sie, ähnlich
wie Munk, nur in gerade umgekehrter Weise ihre Erfahrungen gene-
ralisirte und nun nicht nur die corticalen Sehstörungen, sondern alle
durch Eingriffe in die Rinde hervorgebrachten Störungen — mit Aus-
nahme einer beschränkten Zahl von psychischen Störungen — auf die
Hemmung subcorticaler Organe bezogen wissen wollte. Der Fehler
dieser Voraussetzungen liegt in ihrer Ausschliesslichkeit. Denn wenn
auch nachgewiesen wird, dass ein Theil der durch corticale Ver-
letzungen hervorgebrachten Sehstörunge]i auf subcorticale Hemmungen
zurückzuführen ist, so ist doch damit noch nicht bewiesen, dass alle
Sehstörungen, oder gar alle corticalen Störungen überhaupt, diesen
Ursprung haben. Ebenso wenig ist das Gegentheil bewiesen, nämlich
— 108 —
dass der corticale Ursprung einer bestimmten Gruppe von Sehstörungen
entscheidend für den Ursprung aller anderen durch Eiugriife in die
Rinde entstehenden Sehstörungen sei. Und endlich bleibt immer noch
die Frage zu entscheiden, ein wie grosser Antheil der durch Zer-
störungen des Hirnmantels hervorgebrachten Störungen auf die Rinde
selbst und wieviel davon auf die Sehbahn zu beziehen ist.
Wie man sieht, hängen die einzelnen Grundsätze der Lehre Munk\s
auf's Innigste unter einander zusammen. Denn wenn es gelaug, Seh-
störungen auch durch Eingriffe in andere corticale Gebiete zu erzielen,
so war an die Existenz eines Sehcentrums in seinem Sinne nicht mehr
zu denken. Die Existenz eines occipital begrenzten Sehcentrums au
sich wurde durch einen solchen Nachweis freilich nicht ausgeschlossen,
denn die Sehstörung konnte iu jenem Falle sowohl dadurch hervorge-
bracht werden, dass die anders localisirte Zerstörung einen hemmenden
Einfluss auf das eigentliche corticale Centrum, als auch dadurch, dass sie
einen solchen Einfluss auf die subcorticalen Centren ausübte. Aber schon
in dem letzteren F'alle müsste man mit anatomischen und physiologischen
Bedingungen rechnen, durch welche die M unk 'sehe Projection der Retina
auf die Rinde ganz unverständlich würde und iu dem anderen P'alle
entstand das Dilemma, wie man sich denn eigentlich die Hemmung
der von Munk vorausgesetzten Vorstellungszellen zu denken hätte.
Vermochte der pathologische Reiz die gesammte Sehsphäre oder grössere
Abschnitte derselben vorübergehend ausser Function zu setzen, oder,
hemmte er nur die Thätigkeit gewisser mit bestimmten Erinnerungs-
bildern besetzter Zellcomplexe, dass vielleicht gerade das Bild des
Eimers, aus dem der Hund zu saufen gewohnt war oder der Handbe-
bewegung (!), welche ihn zum Reichen der Pfote einlud, verlöschte?
Allerdings war diese Frage ja der experimentellen Prüfung zu-
gänglich; diese ist vielfach versucht worden und sie hat ergeben, dass
jede durch einen corticalen Eingriff hervorgebrachte Sehstöruug, unge-
achtet verschiedener Intensität und verschiedener Dauer immer den-
selben Character zeigt, d. h. dass sie hemiopischer Natur ist.
Aber auch bei dieser Lösung der Frage wäre es Munk schwer ge-
worden, eine Vorstellung von demjenigen Mechanismus zu geben, welcher
befähigt war, durch Reize, die an einer entfernten Rindenstelle ange-
bracht wurden, die Summe aller seiner einzelnen direct mit den Netz-
hautelementen in Verbindung stehenden Wahrnehmungs- bezw. Vor-
stellungselemente gleichmässig zeitweise ausser Function zu setzen.
Ich selbst kann mir wenigstens absolut keine Vorstellung machen, wie
ein solches, im Sinne Munk 's construirtes Schema etwa aussehen
könnte.
— 109 —
Munk ist dieser Schwierigkeit dadurch entgangen, dass er von
jeher und insbesondere noch in seinen letzten Mittheilungen i) behaup-
tete, solche Sehstörungen seien nur auf eine Beleidigung der Sehsphäre
also auf Nebenwirkungen und Fehler bei der Operation zu beziehen.
Und diese Behauptung hat er in seiner letzten Mittheilung durch zwei
Versuche an Affen zu stützen versucht, bei denen in einem Falle
eine so entstandene Sehstörung durch eine aus Fieber und massiger
Benommenheit erschlossene leichte Meningitis, in dem anderen Falle
durch ein ansehnliches Blutgerinnsel erklärt wurde. Es mag sein, dass
Munk mit dieser Erklärung jener beiden Beobachtungen Recht hat.
Ich vermisse aber bei ihm die systematische Nachprüfung der ihm ent-
gegengehaltenen Versuche. PvS kommt darauf au, ob er, bei von ihm
selbst vorgenommenen und ihm selbst einwandfrei erscheinenden Exstir-
pationen innerhalb der motorischen Region, bei ausreichender Unter-
suchung des Sehvermögens regelmässig Sehstörungen vermisst hat oder
nicht und wenn das letztere zutrifft, ob er in allen diesen Fällen im
Stande war, einen Grund für eine Beleidigung der Sehsphäre aufzu-
finden oder nicht. Dadurch, dass Munk beharrlich behauptet, bei
solchen Versuchen kämen keine Sehstörungen vor, und dadurch, dass
er einzelnen seiner Gegner Versuchsfehler nachwies, scheint mir die
Sache denn doch nicht endgültig in seinem Sinne entschieden zu sein.
Vielmehr bleibt die aufgeworfene Frage, angesichts der von Munk
noch neuerdings gegen alle anderen Forscher erhobenen Einwendungen
um so mehr durch einwandfreie Versuche zu entscheiden, als allerdings
eine Zahl der früher angewendeten Methoden zu den schwersten Be-
denken Veranlassung giebt. Dies wird eine der Aufgaben der nächsten
Abhandlung sein.
Ebenso war die Richtigkeit der Lehre von der Projection der Netz-
häute durch das Studium der nach directen Eingriffen in die Sehsphäre
entstehenden Sehstörungen zu prüfen. Dies ist von zahlreichen For-
schern, z.B. Luciani und Seppilli, namentlich vonLoeb geschehen,
und Goltz hat später den Angaben Loeb's beigestimmt. Nach allen
diesen Forschern kommt es in Folge umschriebener Exstirpationen in
der Sehsphäre, keineswegs zu umschriebenen Skotomen im Sinne
Munk's, sondern auch in diesen Fällen tritt, wenn es überhaupt zu
einer Sehstörung kommt, eine solche hemianopischer Natur ein.
Ich habe schon oben auseinandergesetzt, dass die Versuche Loeb's,
1) H. Munk, Ueber die Ausdehnung der Sinnessphären in der Gross-
hirnrinde. Sitzungsbericht der Akademie der Wissenschaft. 1899. LH. und
1900. XXXVI.
— 110 —
schon wegen der in ihren Resultaten herrschenden Gesetzlosigkeit, einen
wenig vertrauenerweckenden Eindruck machen. Ausserdem aber wird
sich ergeben, dass Loeb in dem Bestreben, Munk mit seiner Behaup-
tung, dass die Stelle Ai der Stelle des deutlichen Sehens entspräche,
ad absurdum zu führen, mehr bewiesen hat, als überhaupt bewiesen
werden konnte, dass er also selbst dorthin gelangt ist, wohin er Munk
führen wollte.
Auch dieser Tlieil des Sachverhaltes ward also nachzu])rüfen sein.
Im Uebrigen hat dieser Forscher, ebenso wie Goltz, der Lehre
Munk's von den local deponirten Erinnerungsbildern eine Reihe von
experimentellen und aprioristischen Einwondungen entgegengesetzt, deren
Berechtigung nicht zu bestreiten ist.
Von den letzteren kommt namentlich die Erwägung in Betracht,
dass die gesammte Hirnrinde des Hundes — beiläufig nicht nur die der
Sehsphäre — in verschwenderischem Ueberschusse angelegt sein müsste,
wenn die Ansicht Munk's richtig wäre, denn es müsste da eine uner-
messliche Anzahl von Zellen geben, welche von der Geburt des Thieres
an darauf zu warten hätten, dass sie vielleicht später einmal mit Vor-
stellungen besetzt würden. Munk hat seine sonderbare Hypothese von
dem „verschwenderischen Ueberfluss'' gleichwohl festhalten zu sollen
geglaubt. Es liesse sich dagegen noch vielerlei sagen, was ich als un-
nötliig unterlasse. Was dagegen die Lehre von den local deponirten
Erinnerungsbildern anbetrifft, so springt deren Unhaltbarkeit sofort in's
Auge, sobald man an ihrer Hand die Entwicklung und Reproduction
irgend eines Begriffes zu verfolgen versucht. Ich habe mich dazu in
meinen Vorlesungen gewöhnlich des Beispieles einer Mohrrübe bedient.
Es giebt unendlich viele Arten von Mohrrüben, grosse und kleine, dicke
und dünne, mit Wurzeln und Grün versehene und solche, die schon
geschabt und zubereitet sind, und ferner kann mau alle diese Mohr-
rüben in sehr verschiedener Beleuchtung, Entfernung und Menge, tlieils
frei, theils im Erdboden versteckt erblicken. Mit einem Worte, das
optische Bild der Mohrrübe kann uns im Laufe eines langen Lebens in
unzählig vielen Gestaltungen erscheinen. Nach der Lehre Munk's
müsste nun jede dieser Gestaltungen eine besondere Zelle oder einen
besonderen Zellcomplex in der Sehsphäre für sich in Anspruch nehmen
und jeder dieser Zellcomplexe müsste wegen der Bedürfnisse des asso-
ciativen Denkens mit unzählig vielen anderen Zellcomplexen in asso-
ciativen Beziehungen stehen. Wenn nun aber der Begriff der Mohrrübe
auf Grund eine's inneren oder äusseren Reizes zu identificiren w'äre,
müsste dieses ganze ungeheure cerebrale Mohrrübenfeld in Erregung
gerathen, um mit seinen mehr oder minder lebhaften oder abgeblassteu
— 111 —
Erimierungsbildeni von der allerverschiedensten Gestaltung zu dem Be-
grift" „Mohrrübe" zu congruiren.
Ich sehe zu meiner Freude, dass in neuester Zeit ein Physiologe
von Fach, J. v. Kries^) einen ähnlichen logischen Weg gegangen ist,
wie ich, nur dass er sich statt des Erinnerungsbildes der Mohrrübe
desjenigen des Pferdes bedient. Die Stelle lautet: „Fragen wir, wie
wir uns die centrale Repräsentation eines bestimmten optischen Gegen-
standes, etwa desjenigen eines Pferdes, denken sollen, so gelingt zum
mindesten die Auseinanderlegung einer Reihe wohlunterschiedener Mög-
lichkeiten. Abzulehnen wäre zunächst jedenfalls der Gedanke, dass
jeder derartige Eindruck seine bestimmte Zelle besitze, die sozusagen
nur ihm zugehört und die, gerade immer nur durch ihn, in Thätigkeit
zu versetzen, als die Trägerin dieses Erinnerungsbildes zu gelten hätte;
es ist die oberflächlichste und platteste aller Vorstellungen, die schon
daran scheitert, dass ja unmöglich für jede neue Art von Eindrücken
eine Anzahl von Zellen bereit gestellt sein kann, die gewissermaassen
auf sie gewartet hätten und falls es zu jener "Wahrnehmung nicht ge-
kommen wäre, dauernd ausser Gebrauch hätte bleiben müssen."
Jedenfalls pflegt die Natur sich zur Erreichung ihrer Zwecke ge-
schickter anzustellen, als wenn sie wirklich den Weg gegangen wäre,
den Munk ihr vorschreibt.
Aus dem Vorgetragenen erhellt ohne Weiteres, eine wie grosse
Zahl von Fragen, die das Verhältniss der einzelnen Theile des Gehirns
zum Sehact angehen, der weiteren Erforschung und endlichen Entschei-
dung noch harren.
B. Theorien der Gehirnmechanik.
Die Theorien über die Gehirnmechanik, mit anderen Worten über
die Grundlage und Vorbedingungen der Bewusstseinsthätigkeit bauen sich
bei den einzelnen Autoren, deren Arbeiten hier besprochen worden sind,
naturgemäss auf den Ergebnissen dieser Arbeiten auf. Insofern sind
diese Ergebnisse, ihr Wertli oder Ünwerth, ihre Reinheit oder Unrein-
heit und die Schlüsse, die aus ihnen gezogen werden, von der grosse-
sten Wichtigkeit für diejenige Richtung der Psychologie, welche in
naturwissenschaftlichem Boden wurzelt. Unzweifelhaft sind die am
Menschen zu machenden Beobachtungen, mögen sie nun das eigene oder
fremdes psychologisches Geschehen im gewöhnlichen Flusse der Er-
scheinungen oder unter experimentell geschafi'enen Variablen betreffen.
1) J. V. Kries, Ueber die materiellen Grundlagen derBewusstseinserschei-
nungen. Tübingen und Leipzig. 1901. S. 43.
— 112 —
uuentbehiiicli für jedes psychologische System, welcher Art auch immer
es sein mag. Aber ebenso wie die complicirten anatomischen Bildungen
des menschlichen Gehirns erst durch das Studium der einfacheren
Apparate von niedrig organisirten Thieren unserem Verständniss näher
gerückt werden, ebenso bedürfen wir der einfacher construirten Gehirne
niederer Thiere, um durch variable Eingriife in die einzelnen cerebralen
Apparate zur Erkenntniss des Zusammenwirkens derselben in dem Sinne
zu gelangen, dass war verstehen lernen, wie die Bewegungserschei-
nungen der Aussenwelt allmählig derart transformirt werden, dass daraus
die individuelle Auffassung' des Weltbildes und die individuelle Reaction
auf die so appercipirten äusserlichen Bewegungserscheinungen erwächst.
Aus diesen Gründen erachte ich nicht nur im Interesse der Erkenntniss
der Wahrheit an sich die experimentelle Durchdringung, Richtigstellung
und Vollendung unserer Kenntuisse vornehmlich von den Functionen
des Hundegehirns von so eminenter Wichtigkeit. Ich bin weit davon
entfernt, dem Studium anderer Thierspecies sein Interesse zu bestreiten
oder zu schmälern. Der Hund nimmt aber dadurch eine ganz besondere
Stellung ein, dass er bei hochentwickelter Intelligenz sich leicht unter-
suchen lässt und dennoch in der Thierreibe schon ziemlich tief unter
dem Menschen steht.
Eine der hauptsächlichsten Aufgaben der vorliegenden Abhandlung
ist es daher, an der Hand von Beispielen einen ungefähren Ueberblick
darüber zu geben, wie weit die Wissenschaft in der Lösung des End-
problems vorgedrungen ist und dabei wird sich ganz von selbst ergeben,
wie dies in Vorstehendem auch schon geschehen ist, welche Aufgaben
vorerst noch einer endgültigen, sicheren Entscheidung zugeführt werden
müssen, bevor man daran denken kann, sich ein lückenloses Bild von
dem cerebrospinalen Geschehen, insoweit dies überhaupt unserer Er-
kenntniss zugänglich ist, zu machen.
Man fasst die einzelnen Autoren am besten in der Reihenfolge
in's Auge, wie sie sich zu der Theorie der corticaleu Localisation
stellen.
H. Munk vertritt, allgemein gesprochen, unzweifelhaft die Lehre
von der strengsten corticalen Localisation, obschon er in einem
Punkte nicht einmal so weit geht, als ich selbst. Es war mir bekannt-
lich seiner Zeit gelungen, die corticale Repräsentation einer grossen
Anzahl von Bewegungsmodalitäten der einzelnen Körpertheile, Beugung,
Streckung etc. der Extremitäten, Innervation der einzelnen Aggregate
des Facialis etc. auf der Rinde des Hundes elektrisch zu localisiren.
Ferrier und vornehmlich Horsley haben später diese Untersuchungen
vervollständigt. Ich sehe nicht, dass Munk bei seinen eigenen Unter-
— 113 —
suchungen gerade diesem Punkte besondere Aufmerksamkeit zugcweud(;t
hätte. Dafür tritt er um so entschiedener für die Localisatioji aller
einzehien psychischen Functionen, nicht nur der sensomotorischen, soji-
dern auch der rein sensuellen auf der Hirnrinde in dem Sinne ein, dass
er jeder einzelnen Function Avohl umschriebene und scharf begrenzte
Gebiete zuweist. Er hat diesen Standpunkt bei den verschiedensten
Gelegenheiten mit solcher Bestimmtheit vertreten, dass er, um nur eins
anzuführen, mit v. Monakow sogar um Millimeter der Ausdehnung
seiner Sehsphäre marktet i).
Er nennt diese Gebiete „Sphären" und räumt ihnen den ganzen
Hirnmantel ein, derart, dass dieser von seinem frontalen bis zu seinem
occipitalen Pol gänzlich von der Fühlsphäre, der Sehsphäre, der Hör-
sphäre, der Riech- und der Schmecksphäre bedeckt ist.
Innerhalb dieser Sphären spielt sich nach Munk's ursprünglichen
Ansichten die Gesammtheit der psychischen Vorgänge ab; nur die ein-
fachen niederen Reflexe verweist er in die Organisationen des Rücken-
marks und des Hirnstammes. Dagegen schreibt er der Rinde einen
ähnlichen Einfluss auf die Bewegungen zu, wie derjenige, den sie ent-
sprechend meinen vorstehenden Ausführungen auf den Gesichtssinn be-
sitzen soll. Gerade wie dort nicht nur die Gesichtsvorstellungen, son-
dern auch die Gesichtswahrnehmungen in der Rinde und zwar in
verschiedenen Classen von Elementen derselben entstehen, so entstehen
auch nicht nur die Gefühlsvorstellungen, sondern auch die sämmtlichen
Gefühle von den Zuständen der einzelnen Körpertheile in den ihnen
zugeordneten Sphären der Rinde und von diesen aus tritt in Folge der
auf diesem Wege erzeugten ßewegungsvorstellungen die einzelne Be-
wegung ein.
Ich sehe nicht, dass Munk hier seine Hypothese anatomisch so
weit ausgesponnen hat, wie auf dem optischen Gebiete; indessen ent-
spricht es doch seinem gesammten Gedankengange, wenn man annimmt,
dass er sich auch hier wieder die Bethätigung von verschiedenen und
zwar drei Klassen von Zellen vorstellt, nämlich von wahrnehmenden,
von vorstellenden und von bewegenden Zellen. Jedenfalls aber nimmt
er anatomisch eine ebenso direkte Verbindung der einzelnen empfin-
denden Punkte aller äusseren Organe mit bestimmten Zellen seiner
Fühlsphäre an, wie er eine solche für die einzelnen Punkte der Netz-
häute mit bestimmten Zellen seiner Sehsphäre postulirt. Wir erfahren
nicht, auch nicht in grossen Zügen, wie er sich die Construction und
die Function der in den Verlauf der centripetalen Nerven eingeschalteten
1) H. Munk, Gesammelte Abhandlungen 1890. S. 314.
Hitzig, Gesammelte Athandl. II. Tlieil.
— 114 —
subcorticalen Orgaue denkt und ebenso wenig lässt er uns erkennen,
welchen Werth die Resultate der Untersuchungen über die intracerebrale
secundäre Degeneration für seine Anschauungsweise besitzen.
Aus dieser Position hat Munk sich durch gewisse, besonders die
letzten Versuche vou Goltz i) zum Theil und zwar insofern heraus-
drängen lassen müssen, als er genöthigt war, dem Hunde, welcher
überhaupt kein Grosshirn mehr besitzt, eine Art von niederem ße-
wusstsein für die Schmerzempfindung zuzugestehen, oder richtiger aus-
gedrückt, ferner nicht zu bestreiten, dass es ein solches niederes Be-
wusstsein gäbe 2). Denn die Berechtigung, mit einem solchen unbe-
kannten Factor zu rechnen, erkennt er im Grunde nicht an.
Wenn er jedoch bei dieser Gelegenheit sagt, die Anhänger dieser
Lehre müssten dann auch in den einfachsten, z. B. den Pupillarreflexen
den Ausdruck von Empfindungen sehen, so kann ich nur den Ausdruck
einer Verlegenheit darin erblicken. Richtig und consequeut wäre diese
Folgerung nur dann, wenn alle Reflexe mit Bezug auf die ihnen bei-
wohnende Function der Empfindung gleichwerthig wären, oder wenn
Munk selbst sie wenigstens so abschätzte. Dies trifft aber nicht zu.
Gerade die motorische Function der Rinde fasst er ja der Hauptsache
nach als einen Reflexvorgang auf — ganz zu geschweigen von den von
ihm so genannten corticalen „Berührungsreflexen" — und zwischen
diesen Vorgängen einerseits und dem Pupillarreflex z. B. andererseits
liegt noch sehr viel. Es ist schon a priori durchaus nicht unwahr-
scheinlich, dass es dazwischen Reflexe giebt, denen die Function einer
höheren Betheiligiuig der Empfindung als den gemeinen Reflexen, da-
gegen die Function einer niederen Betheiligung der Empfindung als den
durch Vermittelung der Rinde abfliessenden Reflexen beiwohnt.
Die Function der Rinde erachtet Munk auf diese Weise, insoweit
nicht transcendentale Betrachtungen in Frage kommen, als hinreichend
defiuirt. Die Intelligenz ist ihm hiernach lediglich ein Product des
Zusammenwirkens aller seiner Sphären oder Sinnescentren; besondere
Organe für besondere intellectuelle Verrichtungen, welche also nicht
Organe der Sinne wären, existiren auf der Hirnrinde nicht, weil die
Sinnessphären durch Besetzung des ganzen corticalen Areals keinen Platz
für sie übrig gelassen haben. Insbesondere können dem Stirniappen
solche Functionen nicht zugetraut werden, weil er die „Fühlsphäre" des
Stammes vorstellt. —
1) F. Goltz, Der Hund ohne Grosshirn. Pflüger's Archiv Bd.51. 1892.
2) H. Munk, Ueber die Pühlsphären der Grosshirnrinde. Sitzungsbe-
richte 1892.
— 115 —
Meine eigenen Ansichten stehen denen Munk's, was das Princip
der Localisation angeht, so nahe, dass ich sie, wenn ich die Ord-
nung des Stoftes ausschliesslich nach diesem Princip vornehmen
wollte, an di eser Stelle zu erörtern hätte. Es erscheint mir indessen
ÄW-eckmilssiger, dies bis znm Schlüsse dieses Aufsatzes zu verschieben,
weil sich auf diese Weise am besten unnütze Wiederholungen vermeiden
lassen. —
Die Autoren der italienischen Schule haben das mit einander
gemein, dass sie den subcorticalen Ganglien einen grösseren Antheil
der Functionen zuschreiben als Munk; im Einzelnen bestehen aber
zwischen ihnen zahlreiche Meinungsverschiedenheiten mit Bezug auf die
Rolle, welche die Rinde und die subcorticalen Ganglien spielen sollen.
Am wenigsten weit von den Anschauungen Munk's entfernt sich
Bianchi, wenigstens insoweit diese allgemeine Auffassung in Betracht
kommt. Im Besonderen hat er insofern freilich eine abweichende
Meinung von ganz principieller Wichtigkeit, als er der motorischen
Region (den Fühlsphären) die Function des Fühlens abspricht. Aber
er beschränkt doch diese motorische Function auf bestimmte Grenzen,
innerhalb welcher er jedoch wiederum keine rechte Localisation nach
„Centren" oder „Sphären" anerkennen will. Andererseits bricht wieder
in diese motorische Region nach dem Vorbilde Luciani's und in
Debereinstimmung mit Tonnini die sensuelle Function ein, während
von den beiden letztgenannten Autoren, am ausgesprochensten bei
Luciani, ein Ineinandergreifen sämmtlicher Corticalgebiete mit cen-
tralen Verdichtungen jeder einzelnen Function innerhalb des ihr zuge-
hörigen Gebietes angenommen wird. Am consequentesten verfährt also,
Avas das Princip angeht, Luciani, aber ein grundsätzlicher Unterschied
zwischen seiner und seiner Landsleute Ansichten über die Art der
Verth eilung der corticalen Functionen besteht nicht.
Etwas anders liegt die Sache mit Bezug auf die Vertheilung der
Functionen auf die Rinde und die subcorticalen Organe.
Nach Luciani erledigt sich die Frage in der einfachsten Weise da-
durch, dass er die letzteren auch physiologisch als corticale Ein-
stülpungen auffasst und sie demgemäss auch mit corticalen Functionen,
also insbesondere auch der Fähigkeit zur Bildung von Vorstellungen
und der Fähigkeit, corticale Läsionen zu compensiren, ausstattet. i)
Bianchi dagegen lässt die Compensation theils durch die er-
haltenen Felder der gleichen, theils durch die ungleichnamige Hemi-
sphäre von Statten gehen. Sind alle diese Gebiete vernichtet, so fällt
1) Luciani und Seppilli a. a. 0. S. 395,
— 116 —
der der Rinde zukommende Autheil der betreffenden Function gänzlich
und für immer aus und nur der subcorticale Theil bleibt übrig.
Tounini encjlich weist den subcorticalen Ganglien wohl von allen
dieseu Autoren die grösste Selbständigkeit zu. Die Rinde hat nach
ihm nur associatorische oder coordinatorische Aufgaben, welche sich
wiederum keineswegs auf wohlumschriebenen, sondern stark diffun-
direnden Rindengebieten vollziehen. —
Ersichtlich stehen diese Autoren in der Mitte zwischen Munk und
Goltz, wie Luciani dies ^uch ausdrücklich ausspricht. Seine Ver-
suche führen ihn vielfach zu den gleichen Resultaten wie Goltz, aber
seine Schlüsse entfernen sich von denen dieses Autors. —
Goltz Ansichten über die hier aufgeworfenen Fragen wiederzugeben
ist ein Unternehmen, welches einigen Schwierigkeiten begegnet. Ich
rede hier nicht davon, dass er, der ursprünglich alle Localisation
leugnete, eine solche später, wie wir oben gesehen haben, zugab. In
dieser Beziehung erachte ich einfach den letzten von ihm eingenom-
menen Standpunkt für maassgebend. Er hat aber eine eigene Art von
Localisationslehre zu begründen versucht, welche neben der von anderen
Forschern angenommenen herläuft. Die Darstellung der ohnedies nicht
einfachen Daten wird dadurch noch mehr complicirt.
Als Ausgangspunkt dient am besten seine letzte, oben bereits
citirte, grössere Arbeit, die über den Hund ohne Grosshirn. Goltz ist
es bekanntlich gelungen, drei Hunde, von denen er namentlich mit dem
einen exemplificirt, nach Abtragung des ganzen Grosshirns, ähnlich wie
dies früher nur bei Vögeln ausgeführt worden ist, längere Zeit am
Leben zu erhalten. Diese Thiere behielten nun oder vielmehr erlangten
wieder mehr oder weniger gut die Fähigkeit der Locomotion, eine
Thatsache, auf die man allerdings wohl gefasst sein durfte, sobald es
überhaupt gelang, auch Säugethiere längere Zeit nach der Operation
am Leben zu erhalten. Ausserdem aber soll der Hund, A^on dem haupt-
sächlich die Rede ist, das Symptom, welches ich Störung des Muskel
bewusstseins genannt habe, nicht gezeigt haben, er soll also niemals
mit dem Dorsum aufgetreten sein und sich Dislocationsversuche seiner
Extremitäten nicht haben gefallen lassen. Er besass ferner seine Haut-
sensibilität, wie daraus hervorging, dass er beim Anfassen knurrte,
beim Herausheben aus dem Käfig Wuthanfälle bekam und den in ein.
Gefäss mit Wasser gesetzten Fuss alsbald wieder herauszog. Gleich-
wolil erwies sich der Tastsinn bei feineren Uutersuchungsmethoden als
abgestumpft. Der Hund „sah auch", was Goltz durch das Erhalten-
sein des Pupillarreflexes, des optischen Lidreflexes gegen grelle Be-
lichtung und daraus zu beweisen sucht, dass der Hund „in seltenen
— 117 —
Füllen" auf einen solchen Reiz den Kopf zur Seite wandte; er hörte
ferner, wie aus seiner Reaction gegen „abscheuliche" Töne hervor-
ging und er schmeckte endlich, da er mit Chinin und Coloquinthen
gewürzte Fleischstücke unter Grimassireu wieder ausspie. Dass er nicht
riechen konnte, wird durch Zerstörung der Olfactorii erklärt.
Namentlich war der Hund wenigstens durch einen Trieb, den
Hunger, zu Bewegungen anzuregen, und dass die von ihm ausgeführten
Bewegungen schon sehr complicirter Art und zweckmässig waren, geht
bereits aus dem vorhin Angeführten hervor. Der Hunger setzte ihn
also in rastlose Bewegung und veranlasste ihn zum „freiwilligen"
Fressen, während die Sättigung, ich will nicht sagen das Sättigungs-
gefühl, ihn von weiterem Fressen abhielt. Diese letzteren Erscheinungen
sind von so besonderem Interesse, dass wir sie etwas genauer betrachten
wollen.
Monatelang musste der Hund künstlich ernährt werden und erst
sehr allmählig erlangte er diejenige Fähigkeit, welche er bei seinem
Tode besass. Zunächst setzte er der Nahrungszufuhr durch Zusammen-
pressen der Kiefer und Sträuben den heftigsten Widerstand entgegen.
Wurde dieser Widerstand gewaltsam überwunden, so dass Nahrungs-
mittel in das Maul eingeführt werden konnten, so erwies sich zwar die
Function der Speiseröhre intact, im Uebrigen aber sogar der reflecto-
rische Schluckact gestört, geschweige denn, dass normale Fressbewe-
gungen mit Zunge und Kiefer ausgeführt werden konnten. Ganz all-
mählig stellten sich dann der Reihe nach diese Bewegungen wieder ein,
so dass zunächst der reflectorische Schluckact von Statten ging, worauf
die Fähigkeit, Milch einzuschlürfen, folgte.
Hieran schloss sich die Fähigkeit, in das Maul gebrachtes Fleisch
zu kauen und zu verschlucken und endlich begann der hungrige Hund
auch solche Bewegungen mit seinen Fresswerkzeugen auszuführen, die
geeignet waren den Inhalt einer Schüssel Fleisch in sein Maul und in
seinen Magen zu führen, sobald man seine Schnauze mit dem Inhalte
der Schüssel in Berührung brachte.
So interessant und wichtig diese Beobachtungen auch sind, so
führen sie mich doch nicht zu dem Schlüsse, den Goltz aus ihnen zog,
wenn er sagte: „Hunde ohne Grosshirn nehmen freiwillig Nahrung
aus der Aussenwelt auf und verzehren sie," und wenn er ferner meint,
dass solche Hunde, deren Sehvermögen nicht durch Verstümmelung des
Thalamus, wie bei dem fraglichen Hunde, eine schwere Schädigung er-
htten hätte, eine noch grössere Spontaneität in der Nahrungsaufnahme
beweisen würden.
— 118 —
^Nach meiner Auffassung erklärt sich der physiologische Process der
Nahrangsaufnahme, wie er sich bei diesem Hunde gegen Ende seines
Lebens vollzog, derart, dass die Berührung der mit den Fresswerkzeugeu
in Verbindung stehenden Haut- und Schleimhautgebiete reflectorisch die
sämmtlichen geschilderten Fressbewegungen auslöste. Hierin vermag
ich irgend etwas von „Freiwilligkeit"' oder Spontaneität nicht zu er-
blicken. Unter Freiwilligkeit wird man doch immer nur die Vollziehung
eines Actes verstehen können, bei dem der Wille nach Bildung eines
ürtheils frei wählt. Die positiven hier geschilderten Fressbewegungeu
gingen aber unzweifelhaft ebenso zwangsmässig und ohne Wahl vor
sich, wie das von Goltz geschilderte Hervorstrecken der Zunge und
Lecken des hungrigen Hundes. Und ebenso fasse ich die negativen
Fressbewegungen, d. h. das von Griniassiren begleitete Ausspeien bitter
gemachten Fleisches auf. In allen diesen erblicken wir den Ablauf von
höchst complicirten, durch äussere und innere Empfindungen angeregten
Bewegungserscheinungen. Uebrigens kennen wir ähnliche Vorgänge auch
beim Menschen, insofern Neugeborene vor Vollendung der Markscheiden-
bildung, also bevor das Grosshirn einen Einfluss auf die subcorticalen
Gebiete gewinnt, auf innere und äussere Reize eine recht grosse Zahl
von Bewegungsformen zeigen, die von Aeusserungen der Lust oder Un-
lust begleitet sein können.
Es ist hiernach auch ein anderer Grund, als der, dass ein gross-
hirnloser Hund die fraglichen Phänomene darbieten kann, welcher mein
Interesse an diesen von Goltz auch mit Bezug auf ihre Entwicklung*
vollständig geschilderten Symptomen erregt hat. Es ist der Umstand,
dass grosshirnlose Hunde, das Wort Lernen im weiteren Sinne ge-
braucht, zu lernen vermögen. Fasst man die eben nach Goltz re-
producirten Erscheinungen ins Auge, so lässt sich, rein objectiv be-
ti-achtet, überhaupt nicht bestreiten, dass der Hund, welcher anfänglich
nicht fressen konnte, allmählig wieder fressen gelernt hat. Fraglich
kann nur erscheinen, ob die Wiederkehr dieser Function auf dem Ver-
schwinden vorhandener Hemmungen beruhte oder ob noch etAvas Neues
dazugekommen ist. Bei der Neigung von Goltz, die gänzliche oder
theilweise Wiederkehr verloren gegangener Functionen einfach in der
erst gedachten Weise zu erklären, hätte man darauf gefasst sein können,
dass er auch in diesem Falle den gleichen Weg gehen würde. Er hat
sich indessen darauf beschränkt, auf das Vorhandensein von Hemmungen
im Gebiete der Oblongata von der anhaltenden Neigung zum Fehl-
schlucken aus zu schliessen. Der Hauptsache nach zeigt er sich aber
zu der Annahme geneigt, „dass in den hinter dem Grosshirn gelegenen
Hirntheilen durch häufige Wiederholung einer Thätigkeit eine vorhandene
— 119 —
Anlage sich weiter entwickelt. Vor der Verstüniinolung wirken diese
Hirntheile mit dem Grosshirn zusammen und liaben vielleicht sogar
eine untergeordnete Rolle. Nach. der Entfernung des Grossljirns selbst-
ständig geworden, erstarken sie." Die Wörter „Uebung" und „Er-
lernen" will Goltz auf diesen Vorgang aber nicht angewendet wissen,
da man sie sonst doch nur auf Wesen anzuwenden pflege, „welche ziel-
bewusst eine gewisse Fertigkeit erstreben." Ueberzeugende Beweise
von zielbewusstem Handeln hätten seine grosshirnlosen Hunde aber
nicht geliefert.
Ich kann mich auf diesen Standpunkt aber nicht stellen. Meiner
Auffassung nach ist die Fähigkeit, durch üebung zu lernen eine allge-
meine Eigenschaft der grauen Substanz und sie. hat mit zielbewusstem
Handeln und mit dem Bewusstsein überhaupt an sich nichts zu thun.
Wir begegnen den Erfolgen der Uebung, nämlich der Fähigkeit, com-
plicirte Bewegungen mit zunehmender Geschwindigkeit und Vollendung
auszuführen, bei einer unendlichen Anzahl A^on Verrichtungen, welche
zwar ursprünglich cortical, vielfach auch zielbewusst eingeleitet werden,
aber bei ihrem späteren Vollzuge der Mitwirkung des Bewusstseins nur
noch in höchst geringem Grade b.edürfen und der Hauptsache nach
eben wegen der Einübung der subcorticalen Organe rein maschinen-
mässig in der gewohnten Vollendung ablaufen; ich erinnere nur an das
Stricken bei gleichzeitiger Ablenkung der Aufmerksamkeit durch Leetüre.
Indessen lassen sich die sämmtlichen reflectorisclien, ja selbst die auto-
matischen Bewegungen genetisch kaum in anderer Weise als eben durch
eine sich entwickelungsgeschichtlich immer mehr heranbildende üebung
auffassen.
In ähnlicher Weise deute ich mir auch den fraglichen Hergang bei
jenem Hunde. Goltz hatte gewiss seine guten Gründe, den Hemmungs-
vorgängen keine weitergehende Mitwirkung einzuräumen, als er gethan
hat; denn er wird sich selbst den Einwurf gemacht haben, dass das
Sträuben des Hundes, sein Zusammenpressen der Kiefer, sein Heraus-
strecken der 2unge, die Annahme, dass die diesen Bewegungen vor-
stehenden subcorticalen Centren gehemmt seien, vollständig ausschloss.
Das, was Goltz als Erstarkung dieser Hirntheile bezeichnet,
wird einfach in einer sich allmählig vollziehenden Bahnung
der in Betracht kommenden reflectorisclien Wege bestehen.
Um so leichter konnte es hierzu kommen, als der centripetal ab-
fliessenden Erregungswelle der Weg nach dem Grosshirn versperrt war,
sodass sie sich vollständig auf dem Wege in die centrifugalen Bahnen
ergiessen musste. Diese Bahnung sehen wir dann nach der Goltz-
schen Schilderung ihren Ausgangspunkt nehmen von der erhalten gOr
— 120 —
bliebeneii allereiufaclisten peristaltischen Function der Speiseröhre, sich
dann auf die functionell mit ihr verbundene, gleichfalls in der Norm
rein reflectorisclie Function des Schluckactes ausdehnen imd dann auf
solche combinirte Bewegungen, wie die der Zunge und der Kiefer über-
gehen, welche sich zwar in der Norm gemeinsam mit dem Schlucken
und Schlingen vollziehen, aber dann unter dem Einflüsse des Willens
stehen. Es versteht sich von selbst, dass der erleichterte Ablauf aller
dieser Processe in demselben Sinne aufzufassen ist, wie die von Goltz
eingehend beschriebene Steigerung der anderweitigen Reflexthätigkeit.
Ich kann deshalb auch nicht' mit Goltz eine Schwierigkeit darin finden,
dass der grosshirnlose Hund sich das eine Mal gegen die Annäherung
des Kopfes an das Fleisch sträubte, das andere Mal nicht. Die Einzel-
heiten, aus denen sich solcher Act von dem Beginn des Ergreifens an
bis zur Berührung der Schnauzenspitze mit dem Fleisch und der damit
beginnenden reflectorischen Bethätigung jener anderen Gruppe von
Motoren zusammensetzt, können sich so verschiedenartig gestalten, dass
sich daraus wohl eine verschiedenartige Bethätigung jener Motoren er-
klären lässt, die bei dem Sträuben zusammenwirken. Letzteres ist doch
schliesslich nichts Anderes als die Reaction auf das Herausheben aus
dem Käfig, nämlich auch wieder ein Ausdruck gesteigerter Reflex-
thätigkeit.
Während wir so den Ablauf der Erscheinungen, welche sich auf
dem Gebiete der Nahrungsaufnahme abspielten, verfolgen und ihre
Gründe in solchen Phänomenen erkeimen konnten, die unserer ander-
weitigen Kenntniss von den normalen uud pathologischen Verrichtungen
der Centralorgane vollkommen entsprechen, lässt uns die eigene Schilde-
rung von Goltz mit Rücksicht auf den Ablauf und die Erklärung der-
jenigeu Phänomene, welche ich als Störung des Muskelbewusst-
seins bezeichnet habe, vollkommen im Stich. Wir erfahren hier nur
das Endresultat der Beobachtung, also dass der Hund seine Pfoten nicht
mit dem Dorsum aufsetzte, nicht dislociren liess und dass der Goltz'sche
„Fallthürversuch" nur unvollkommen gelang, i) Wir erfahren aber nicht,
wie sich dieser Hund zu Anfang mit Bezug auf die fraglichen Pfoten
vei'hielt; ja, wir erfahren sogar nicht einmal die nothwendigsten Einzel-
1) In parenthesi möchte ich hier bemerken, dass ich den mir von Goltz
früher gemachten Vorwurf, dass ich diesen Fallthürversuch nicht wiederholt
habe, ablehnen muss. Schon lange vor dieser Erfindung von Goltz habe ich
den gleichen Versuch dadurch angestellt, dass ich meinen Hunden ihre Pfoten
über den Tischrand dislocirte; ich kann nicht ersehen, welcher Unterschied
oder gar welcher Vortheil darin zu suchen ist, dass man die Pfote des Hundes
in der Mitte anstatt zur Seite des Tisches versinken lässt.
— 121 —
heiteu über die Art seines Ganges und seiner Bewegungen, z. B. ob sie
plump oder schleudernd waren, Dinge, die Goltz doch sonst bei seinen
im Vorderliirn operirten Hunden, wenn auch keineswegs ausgiebig genug
zu beschreiben pflegt. Wir erfahren nur, dass dieser Hund beim Gehen
auf glattem Boden öfters ausglitt. Wir erfahren auch nicht, welche
Gründe es waren, die die beiden anderen Hunde, welche überhaupt
nicht oder nur mit fremder Hülfe wieder gehen lernten, an dem gleich
guten Gebrauche ihrer Extremitäten verhinderten.
Goltz hat aus seinen Beobachtungen geschlossen, dass der Hund
in meinem Sinne noch Muskelbewusstsein besessen habe.
Mir drängt sich hier, wie bei allen einschlägigen Versuchen von
Goltz,. in allererster Linie die Frage auf, ob seine Beobachtungen rieh
tig, d. h. vollständig waren. Die Erfahrung hat sich immer und immer
wiederholt, dass Goltz neben einer Majorität von Thieren, die die
gleichen residualen Erscheinungen darboten, wie z. B. ich und Munk
sie beobachteten, einzelne vorfand, die diese Erscheinungen nicht dar-
boten, und dass er sich dann auf den von ihm aufgestellten Grundsatz
zurückzog, dass jene Majorität nichts bewiese, sondern nur diejenigen
Individuen, die das Mindestmaass von Erscheinungen erkennen Hessen.
Ich habe dazu immer geschwiegen, obgleich ich sehr wohl hätte ein-
wenden können, dass es bei der Aufdeckung des Mindestmaasses der
Erscheinungen auch auf die Art der Untersuchung und ganz besonders
auf den grösseren oder geringeren Grad von Objectivität ankomme, mit
dem man an die Lösung der gestellten Frage herantritt. Im vorlie-
genden Falle habe ich aber einen ganz bestimmten Anlass, daran zu
zweifeln, dass die von Goltz gegebene Schilderung und der aus ihr
gezogene Schluss zutreffen. Dieser Anlass besteht einmal in der vor-
stehend hervorgehobenen Unvollständigkeit der Goltz'schen Schilderung
und dann darin, dass Goltz selbst sagt, sein Hund habe bei dem Fall-
thürversuch in der Behauptung des Gleichgewichts nicht dasselbe zu
leisten" vermocht wie ein normaler Hund, insofern ein solcher die Pfote
viel früher aus der Versenkung zurückziehe. Nun versteht es sich ganz
von selbst, dass wenn ein Hund ohne Grosshirn die Pfote bei dem Fall-
thürversuch oder der Verschiebung über den Tischrand zurückzieht, dies
niemals ein Act des „Muskelbewusstseins" oder irgend eines anderen
Bewusstseins, sondern lediglich ein Reflexact sein kann. Thatsächlich
geht dann aber aus der eigenen Anführung von Goltz hervor, dass
dieser Reflexact bei seinem Hunde nicht in der gleichen Vollendung
sich vollzog, wie bei einem unversehrten Hunde und da er sich quali-
tativ in nichts von derjenigen Reaction unterscheidet, mit welcher Hunde
auf anderweitig bedingte Verlagerungen ihrer Extremitäten antworten,
122
so bezweifle ich , dass die von mir beschriebenen Syroptome bei jenen
anderweitigen Verlagerungsversuchen gänzlich gefehlt haben.
Indessen will ich von diesem Einwände absehen und demgemäss
also einerseits annehmen, dass die Bewegungen des Hundes sich in
annähernd normaler Weise vollzogen, ja in normalerer Weise als bei
denjenigen Hunden, denen Goltz die beiden motorischen Zonen abge-
tragen hatte, — was er aber nicht sagt — während andererseits die
gesammten Bewegungsäusserungen des Hundes, also auch jener Theil
derselben, der eine Besserung der bekannten Bewegungsstörungen in
in sich begreift, als reine, ohne Betheiligung des Bewusstseins sich voll-
ziehende Reflexacte aufzufassen sind. Dann ergiebt sich also von selbst,
dass der Act der Zurückführung der verlagerten Pfote ebenso wie alles
andere, was sich auf diesem Gebiete ausgeglichen hat, als ein Product
einer Vervollkommnung oder Steigerung der Reflexthätigkeit zu deuten
ist. Wir sind hiermit genau auf denselben Weg gekommen, den wir
bei der Erklärung der Rückkehr der Fressbewegungen beschritten haben
und es erübrigt sich, das dort Gesagte zu wiederholen.
Was die optischen Functionen des Hundes ohne Grosshirn angeht,
so interessirt uns hier hauptsächlich die Thatsache, dass der Hund auf
grelles Licht die Augen schloss; von noch grösserem Interesse würde
es freilich sein, wenn der Hund auf diesen Reiz nicht nur, wie Goltz
anführt, in seltenen Fällen den Kopf abgewendet hätte, sondern wenn
dies entweder regelmässig geschehen, oder wenn mindestens unzweifel-
haft festgestellt wäre, dass diese Bewegung nicht auf Zufälligkeiten
beruht. Insoweit diese Bewegungen wirklich auf den Lichtreiz eintra-
ten, würden sie jedenfalls den Beweis liefern, dass sie nicht, wie Munk
will, der Mitwirkung des Grosshirns bedürfen. Sie würden ferner be-
weisen, dass der Lichtreiz unter den durch den Versuch gesetzten Be-
dingungen im Stande war, sich derart zu transformiren und auszubreiten,
dass daraus zweckmässige Bewegungen resultirten.
Ob man diesen Vorgang nun als Sehen bezeichnen, ob man mit
Goltz sagen will, dass ein so beschaffener Hund nicht blind ist, das
wird ganz und gar darauf ankommen, was man unter Sehen und Blind-
heit verstanden wissen will. Einen Menschen, der nicht im Stande ist,
einem Gegenstande auszuweichen, weil er ihn durch den Gesichtssinn
nicht wahrnimmt und der sonst keinerlei andere Zeichen einer optischen
Function erkennen lässt, als solche, welche auf dem Reflexwege zu
Stande kommen können, würde der allgemeine Sprachgebrauch doch
wohl als blind bezeichnen. Wenn Goltz jedoch nur hat sagen wollen,
dass jene Transformation der Schwingungen des Aethers eine niedere
Stufe des Sehens, einen jener Vorgänge bedeute, welche eine Vorbedin-
— 123 —
gung desjenigen ausni;iclien, was wir unter Gesiclitsvorstellungen ver-
stehen, so würde dagegen, meiner Auffassung nacli, nichts einzuwen-
den sein.
Dagegen kann ich mich der Ansicht von Goltz nicht anschliessen,
dass solche Hunde, welche nicht wie dieser durch Verletzung des Tha-
lamus eine Störung des Sehvermögens erlitten hätten, eine grössere
Spontaneität bei der Nahrungsaufnahme beweisen würden; denn zu der
Entwicklung von Spontaneität in diesem Sinne würde immer die Mög-
lichkeit gehören, das wahrgenommene, „gesehene" Fleisch als solches
zu identificiren und aus dieser Erkenntniss den spontanen Wiilensact
herzuleiten. Wir haben aber bisher nicht die geringste Veranlassung
zu der Annahme, dass sich ein solcher Vorgang bei Säugethiereu, ja
sogar nicht einmal bei Vögeln (Schrader)') subcortical vollziehen
könnte.
Genau die gleichen Erwägungen lassen sich über die acus tischen
Reactionen des Hundes anstellen, so dass ich auf diese Phänomene
nicht näher einzugehen brauche.
Alles in Allem ergiebt sich aus diesen Untersuchungen
von Goltz, dass die alte Anschauung, nach welcher die hinter
dem Grosshirn gelegenen Kerne grauer Substanz solche Or-
ganisationen darstellen, in denen nicht nur die groben Be-
wegungen präformirt sind, sondern auch die Sinnesreize
einer ersten Aufrollung zu Sinneseindrücken unterliegen,
zu Recht besteht. Sie ergeben ferner mit viel grösserer
Deutlichkeit, als dies früher bekannt war, und sie ergeben
namentlich für das Säugethier, dass diese Sinneseindrücke
sich unter der Schwelle des Bewusstseins in geordnete, com-
plicirte, zweckmässige Bewegungen umzusetzen vermögen.
Während ich so ungeachtet einer Anzahl von kleineren Differenzen
im Grossen und Ganzen mit Goltz übereinstimme, gehen unsere An-
sichten weit auseinander, sobald die Verarbeitung der subcorticalen Ge-
schehnisse durch die Grosshirnrinde in Frage kommt. Es ist sehr be-
dauerlich, dass Goltz als letzten Zweck aller seiner Arbeiten die Ver-
nichtung der Lehre von den „kleinen, umschriebenen Centren" des
Grosshirns vor Augen sieht und daraufhin auch die Tendenz der soeben
besprochenen Arbeit zuspitzt, indem er gleichzeitig die Vertheidiger jener
Lehre mit der Lauge seines Spottes übergiesst. Während der langen
Zeit seiner Thätigkeit liess er deshalb immer ganze Reihen von That-
1) Schrader, üeber die Stellung des Grosshirns im Reflexmechanismus.
Archiv f. exp. Path. Bd. 29. S. 53, 54.
— 124 —
Sachen, die gegen seine Auffassung sprachen, unbeachtet oder nicht
genügend beachtet. Andererseits verfiel er in den Fehler, den anfäng-
lichen Störungen einen zu geringen, den residualen Störungen aber
einen zu grossen Werth beizumessen. Diese Fehler seiner Forschungs-
methode beeinflussen in hervorragender Weise die Schlüsse der be-
sprochenen Abhandlung.
Ich will hier weiter nicht definiren, was man unter „kleinen, um-
schriebenen Centren" verstehen oder nicht verstehen kann; aber es ist
durchaus unrichtig, wenn Goltz sagt, von den Versuchen mit elek-
trischer Reizung sei so lange kein Erfolg zu erwarten, als es unmöglich
bleibe zu wissen, was eigentlich gereizt wird. Seit den Versuchen von
Bubnoff und Heidenhain, Frangois-Frank und Pitres weiss man
sehr genau, was gereizt wird, nämlich bei einer bestimmten Anordnung
des Versuches die den Elektroden zunächst liegende graue und bei
einer anderen Anordnung des Versuches die weisse Substanz. Goltz
hat niemals den leisesten Versuch gemacht, die von jenen Autoren
oder die von mir gezogenen Schlüsse durch Versuche zu widerlegen,
so oft ich ihm dies auch vorgehalten habe. Ebenso wenig hat er gegen
die ihm von mir immer wieder vorgehaltene Thatsache, dass auf mini-
male Eingriffe in die motorische Zone sofort Bewegungsstörungen folgen
und dass auf ebensolche Eingriffe in andere Theile der Convexität
keine solchen Bewegungsstörungen folgen, durch Versuche oder auch
nur rein theoretisch Einwendungen zu erheben vermocht. Ich muss
ihm also das Recht zu Angriffen auf die Localisationslehre, insoweit
sie sich auf diese Versuche stützt, absprechen. Der zweite Fehler
von Goltz wird uns später noch zu beschäftigen haben.
Wir haben oben gesehen, dass Goltz neuerdings in Uebereinstim-
mung mit allen anderen Forschern den verschiedenen Lappen des Gross-
hirns verschiedene Functionen zuschreibt; der Gedanke wäre also sehr
naheliegend, dass er die Rinde dieser Lappen in functionellen Zu-
sammenhang zu den von ihm studirten verschiedenen subcorticalen Ver-
richtungen brächte und dass man also in diesem Sinne sein Zugeständ-
niss an die Localisationslehre aufzufassen hätte. Die Differenz zwischen
den Meinungen der beiden Lager würde dann eben nur darin bestehen,
dass Goltz jede einzelne Function auf einen umfangreicheren Herd
vertheilt, während diese Herde nach der Ansicht seiner Gegner viel-
fältiger und kleiner sind. Man war zu dieser Ansicht vielleicht um so
mehr berechtigt, als Goltz in seinen letzten Arbeiten immer und immer
wieder nachdrücklich betont hat, dass er kein absoluter Gegner jeder
corticalen Localisation sei,
Thatsächlich ist Goltz aber dieser Ansicht nicht, er will vielmehr
— 1-25 —
die Frage offen lassen, inwieweit die von ihm beschriel)enen Störungen
-r— in Wirklichkeit redet er aber auch von den von mir beschriebenen
Störungen — „durch die Wegnahme der grauen Rinde und wieweit
sie durch Vernichtung der weissen Substanz bedingt sind." Schliesslich
erscheint es ihm hochwahrscheinlich, dass ein Theil der eigenthüm-
lichen Erscheinungen durch die Trennung der Leitungsbahnen verschuldet
wird, insofern bei grossen Abtragungen der Hinterhauptslappen der Rest
der Hirnrinde noch in breitem Zusammenhange mit den Hirnstielen
bleibe, während bei ähnlichen Zerstörungen innerhalb der motorischen
Zone nicht blos diejenigen Ausstrahlungen der Hirnstiele vernichtet
werden, welche zu der mitvernichteten Rinde aufsteigen, sondern auch
Faserzüge mit verletzt werden, welche den noch erhaltenen Theilen der
grauen Rinde zustreben i).
Dies ist wieder einer von denjenigen Punkten, bei denen Goltz
die von mir aufgedeckte Thatsache unberücksichtigt gelassen hat, dass
die kleinsten rein corticalen Verletzungen innerhalb des Gyrus sigmoides
qualitativ genau die gleichen Symptome hervorbringen, wie tief-
gehende Eingriffe in diesen Theil der Hemisphäre. Zu der Aufstellung
jener künstlichen, ihm einen letzten Zufluchtsort bietenden Hypothese
hatte Goltz also keinerlei gegründeten Anlass.
Aber selbst in diesem Einwände liegt ein Zugeständniss an die
Localisationslehre. Specifische Functionen der subcorticalen Centren
giebt Goltz ja zu: wenn er also selbst die Vermuthuug ausspricht,
dass die sich von diesen nach vorne uiid die sich nach hinten begeben-
den Bahnen verschiedenen Functionen dienen, so ist damit schon das
Princip der Localisation zugestanden. üebrigens hätte es eines der-
artigen Zugeständnisses schon längst deshalb nicht mehr bedurft, nach-
dem nachgewiesen war, dass das Auftreten der secundären Degeneration
bestimmter Bahnen, insbesondere der corticomuskulären Bahn und der
Sehstrahlung, bei Thieren ebenso gut wie bei Menschen an die Verletzung
bestimmter Rindengebiete gebunden ist.
Ganz genau das Gleiche habe ich Goltz bereits im Jahre 1876
mit Bezug auf seinen hauptsächlichsten Einwand, der sich auf die Re-
stitution stützt, entgegengehalten. Bekanntlich betrachtet Goltz alle
vergänglichen Symptome als Producte von Hemmungsvorgängen. Ich
selbst habe mich niemals, wie Goltz annimmt, gegen das Vorkommen
von solchen Processen ausgesprochen. Ich war indessen von jeher und
bin auch jetzt noch nicht der Ansicht, dass jedes Abblassen oder Ver-
1) P. Goltz, Ueber die Verrichtungen des Grosshirns. 5. Abhandlung,
Pflüger 's Archiv Bd. 34. S. 504.
— 126 —
schwinden cerebraler Kranklieitssyniptome auf Hemmungen zurückgeführt
werden müsse und dass ich damit nicht im Unrecht war, hat sich
schon längst gezeigt; ich erinnere nur an die eben besprochenen Er-
fahrungen am Hunde ohne Grosshirn. Meine damaligen Einwendungen i)
gingen aber überhaupt einen anderen Weg. Ich setzte eben ausein-
ander, dass es für die Localisationstheorie ganz gleichgültig sei, ob
man die durch den Eingriff gesetzten Symptome als Producte von Hem-
mungen oder in irgend einer anderen Weise auffasse; es käme eben nur
darauf an, dass thatsächlich die verschiedenen Regionen der Rinde
ebenso wie auf Reize, so auch auf kleine Verletzungen in verschiedener
Weise antworten.
Die endliche Ansicht von Goltz über die Function des Gross-
hirns im Ganzen deckt sich wieder mit der allgemeinen Ansicht,
wenigstens insofern er 2) die Vermuthung äussert, „der wichtigste Aus-
fall, welcher nach Entfernung des Grosshirns zu beobachten sei, sei der
Wegfall aller der Aeusserungeu, aus welchen wir auf Verstand, Ge-
dächtniss, Ueberlegnug und Intelligenz des Thieres schliessen". Man
ist danach doch wohl zu der Annahme berechtigt, dass Goltz dem
Grosshirn diese Functionen zuschreibt. Nebenher laufen dann aber
wieder andere Auffassungen. „Das Grosshirn ist vornehmlich ein
Hemmungsorgan, Hunde mit grossen Verletzungen des Vorder-
hirns zeigen einen gesteigerten Bewegungsdrang und be-
kommen einen aufgeregten, zornigen, aggressiven Character
und Hunde mit grossen Verstümmelungen des Hinterhirns
werden ruhig, sanftmüthig und harmlos, auch wenn sie vor-
her sehr bösartig waren"^). Inwieweit dei'artige Beobachtungen in
Beziehung zu der corticalen Localisation gebracht w^erden können, ist
mir nicht verständlich. Abgesehen davon, dass Goltz^) selbst Aus-
nahmen von dieser Regel zulässt, sodass sie nach seiner eigenen Theorie
jede Bedeutung verliert, muss er auch selbst auf jede Erklärung der
beobachteten Phänomene verzichten. Mir selbst erscheint die Gegen-
überstellung jener beiden Veränderungen des Characters, die auch nach
meinen eigenen Erfahrungen nichts weniger als constant sind, höchst frag-
würdig. Hunde mit grossen Verstümmelungen beider Hinterhauptslappen
sind nach Goltz's eigener Schilderung „tief blödsinnig" und leiden
1) E. Hitzig, üeber die Einwände des Herrn Prof. Goltz in Strassburg.
Reichert's und du Bois-Reymond's Archiv. 1876. S. 692ff.
2) F. Goltz, Der Hund ohne Gehirn. S. 607.
3) Goltz, 5. Abhandlung. S. 477 und 500.
4) Goltz, 6. Abhandlung. Pf lüg er 's Archiv Bd. 42. 1888. S. 464.
— 127 —
zudem nicht nur an hochgradigen Sehstörungen, sondern an einer all-
gemeinen Wahrnehmungsschwäche. Ich würde sagen, dass solche Hunde
an apathischem Blödsinn litten, nicht aber dass sie einen sanftraüthigen
und harmlosen Character hätten. -
Wenn wir also einen Rückblick auf die Ermittelungen und Schluss-
folgerungen dieses verdienten Forschers werfen, so gewahren wir eine
grosse Lücke in den letzteren, insofern überall die Projection der hinter
dem Grosshirn gelegenen Organisationen auf die Rinde unberücksichtigt
geblieben ist. Gleichwohl wäre diese Lücke unschwer auszufüllen ge-
wesen, wenn Goltz die Ergebnisse der normalen und pathologischen
Anatomie, sowie diejenigen physiologischen Ergebnisse, welche er theils
unaufhörlich bekämpft, theils unberücksichtigt bei Seite geschoben hat,
in unbefangener Weise hätte würdigen W'Ollen. So aber, wie er ver-
fahren ist, kann es nicht anders sein, als dass sein Lehrgebäude auf
jeden unterrichteten Leser einen unbefriedigenden Eindruck macht. —
Nach Loeb ist das Grosshirn entsprechend der soeben erwähnten
Aeusserung von Goltz im Wesentlichen ein Hemmungsorgan i). In der
That schliesst die unten citirte lange Abhandlung mit diesem Satze.
Nun ist es sehr sonderbar zu sehen, wie Loeb auf Grund der von
Goltz zuerst gemachten Beobachtung, dass doppelseitig vorn operirte
Thiere einen erhöhten und doppelseitig hinten operirte Thiere einen
verminderten Bewegungsdrang besitzen können, das gesammte Grosshirn
und seine Functionen in einen vorderen und einen hinteren Theil zer-
legt. Die vorderen Partien des Grösshirns hängen anatomisch
enger mit dem motorischen Apparat zusammen, sie dienen zur Ver-
hinderung des Abflusses der Energie in die Muskeln; ihre Zerstörung
hebt folgerecht die Möglichkeit dieser Hemmung auf. Daher der ge-
steigerte Bewegungsdrang.
Die hinteren Partien des Grösshirns hängen anatomisch
mehr mit den Sinnesorganen zusammen. Sie dienen zur Hemmung
der von den Sinnesorganen herkommenden Erregungen, so dass das Thier
energische, auf ein bestimmtes Ziel gerichtete Muskelbewegungen aus-
führen kann. Werden sie zerstört, so brechen diese Erregungen in den
motorischen Apparat ein und hemmen diesen in seiner Thätigkeit. Wie
Loeb diese Processe zur Definition dessen, was man Willkür, Aufmerk-
samkeit bezw. Intelligenz nennt, verwerthet, das mag der dessen be-
dürftige Leser a. a. 0. nachsehen.
„Im Grosshirn giebt es keine Centren; das, was man so genannt
]) Vergl. z. B. .J. Loeb, Beiträge zur Physiologie des Grosshirns. Pflü-
ger's Archiv Bd. 39. S. 346.
— 128 —
hat, sind nur die Einmündungsstellen der Fasern, welche das Grosshiru
mit den verschiedenen seg mentalen Ganglien verbinden. Wenn
nach Reizung dieser Einmündungssteilen Zuckungen eintreten, so handelt
es sich nur um eine indirecte Erregung der segmentaien Ganglien (Ein-
leitung etc. S. 168). Diese segmentalen Ganglien spielen aber bei den
Reactionen eines Tliieres auch nur die Rolle eines protoplasmatischen
Leiters. Die Reactionen sind in Wirklichkeit bestimmt durch die Reiz-
barkeiten (resp. Sinnesorgane) der peripheren Gebilde und die An-
ordnung der Muskeln. Ein grosser Theil von dem, was wir heute als
Gehirnfunctionen bezeichnen, sind nur Functionen der peripheren Ge-
bilde" (S. 193).
Und wiederum: „Alle die „Functionen", welche diese Theorie in
die verschiedenen Theile der Grossliirnrinde legt, sind segmentale
Functionen" (S. 182).
„Die Rolle des Nervensystems besteht aber nicht darin, dass es
Regulationsmechanismen enthält, sondern dass die Leitung durch das-
selbe rascher stattfindet und dass es den peripheren Organen erlaubt-
mit grösserer Präcision zu arbeiten" (S. 28).
„Wir erkennen also im Centrainer vensystem der Wirbelthiere nur
segmentale Ganglien und segmentale Reflexe an. Wir leugnen die
Existenz übergeordneter Centren, wie sie etwa in der Annahme eines
„Coordinationscentrums" zu Tage treten" (S. 101).
Ein specifischer Unterschied zwischen der Rinde des Scheitel-
lappens und Schläfenlappens einerseits und der des Hinteihauptlappens
andererseits besteht nicht. Nie beobachtete Loeb jedoch nach Ver-
letzung des Hinterhautlappens eine blosse motorische Störung ohne Seh-
störung und nie nach Verletzung des Scheitellappens eine Sehstörung
ohne motorische Störung. Blosse Sehstörungen nach operativen Ein-
griffen am Hinterhauptlappen waren indessen nicht selten^).
Eine wesentliche und ausschliessliche Function des Grosshirns ist
das associative Gedächtniss. Der Verlust der associativen Gedächtniss-
thätigkeit ist also die wesentlichste Störung, die nach Verlust des
Grosshirns eintritt 2). Thiere, die kein Grosshirn besitzen, können nichts
lernen. Was wir als Bewusstsein bezeichnen, ist nur eine Function der
associativen Gedächtnissthätigkeit. Dabei verstellt er „unter associa
tivem Gedächtniss diejenige Einrichtung, durch welche eine Reizursache
nicht nur die ihrer Natur und der specifischen Structur des reizbaren
1) J. Loeb, Die Sehstörungen nach Verlust der Grosshirnrinde. Pflü-
ger's Archiv Bd. 34. S. 50.
2) J. Loeb, Einleitung etc. S. 160.
— 129 —
Gebildes eiitsprechejiden Wirkungen hervorbringt, sondern ausserdem
auch noch solche Reizwirkuugen anderer Ursachen, welche früher einmal
nahezu oder völlig gleichzeitig mit jenem Reiz an den Organismus an-
griifen" (S. 7 und 140). Die Bewusstseinsvorgänge bestehen ans be-
wusstem Empfinden und bewusstem Wollen (S. 147). Der Gedächtniss-
vorgang ist ein rein physikalischer Vorgang, der ebenso wenig psycho-
logischer Deutung bedarf wie eine psychologische Deutung des Phono-
graphen nöthig ist (S. 151).
Man wird nicht leugnen können, dass die hier zusammengestellten
Ansichten Loeb's ebenso neu wie kühn erscheinen. Fasst man sie aber
näher in's Auge, so gewahrt man, dass ein gewisser, nämlich der auf
einer unanfechtbaren Kette von Thatsachen beruhende Theil von ihnen
alte Wahrheiten unter neuen Namen verbirgt. Neu sind dagegen die
von Loeb daran geknüpften Speculationen; in wie weit diese beweisbar
sind, ist eine andere Frage. Uns interessirt zunächst jener erste, that-
säcbliche Theil.
Sehen wir uns die neue Segmentaltheorie, welche der Centren-
theorie entgegengestellt wird, etwas näher an und setzen wir an die
Stelle der „peripheren Reizbarkeiten" die peripheren Sinnesflächen oder
Sinnesorgane und an die Stelle der Segmente wieder die alten Reflex-
centren, so befinden wir uns im vertrauten Bekannteukreise. Von der
Function dieser Segmente oder Centreu erfahren wir Neues zwar hypo-
thetisch, aber nicht thatsächlich. Thatsächlich lässt Loeb die
Fasern, welche das Grosshirn mit den verschiedenen segmentalen
Ganglien verbinden, an denjenigen Stellen einmünden, welche wir
Centren nennen. „Wenn nach Reizung dieser „Einmündungssteilen"
Zuckungen eintraten, so handelt es sich nur um eine indirecte Erregung
der segmentalen Ganglien." Ich kann absolut nicht einsehen, wodurch
diese Vorstellungen sich von denjenigen Vorstellungen unterscheiden,
die ich bereits in meiner ersten Abhandlung aus dem Jahre 1870 ge-
äussert habe.
Aber hier entsteht nun in der Gedaiikenfolge Loeb 's eine jener
Lücken, von denen ich oben gesprochen habe. Wohin „münden" diese
Fasern und was haben sie dort zu suchen, davon erfahren wir nichts.
Nun wissen wir aber aus den Ergebnissen der normalen Anatomie und
den Erfahrungen über die secundäre Degeneration, dass gerade die
Fasern, von denen Loeb hier spricht, Achsencylinderfortsätze des ersten
in der Rinde entspringenden Neurons sind. Wenn nun diese „Ein-
mündungssteilen" und nur sie anatomisch mit den ihnen zugeordneten
Segmenten in direkter Verbindung stehen und wenn ihre Reizung oder
die Reizung der diese Verbindung herstellenden Fasern zu motorischen
Hitzig, Gesammelte Abhandl. IL Theil. • 9
— 130 —
Entladungen führt, so vermag ich absohit nicht zu verstehen, wodurch
sich der Hauptsache nach diese Einmündungsstellen von den Centren,
wie ich sie seiner Zeit definirt habe, unterscheiden sollen.
Aber rein theoretisch unterscheidet sich die Function dieser Ein-
mündungsstellen bei Loeb allerdings von derjenigen meiner Gentren,
nur dass die von ihm gelassene Lücke ihm verbietet, seiner Ansicht
einen prägnanten Ausdruck zu verleihen. Wir wären ja überhaupt
einer Ansicht, wenn Loeb zugestehen wollte, dass die sich auf diese
oder jene Anregung hin in der Rinde abspielenden Erregungsvorgänge
durch jene Einmündungssteilen in die Peripherie projicirt wei'den und
dass in diesen solche Vorrichtungen enthalten sind, welche etwas mit
der Regulirung der so eingeleiteten Bewegungs Vorgänge zu thun haben.
Da es aber nach Loeb überhaupt keine übergeordneten Centren, wie
sie etwa in der Annahme eines „Coordinationscentrums" zu Tage treten,
im Centralnervensystem giebt und da das Grosshirn nach ihm ein
Hemmungsorgan ist, so sind wir gezwungen, die Lücke in seinem Sinne
dahin auszufüllen, dass durch diese Einmündungsstellen diejenigen Im-
pulse verlaufen, deren das Grosshirn zur Hemmung der subcorticalen
Segmente fähig ist.
Nun kann man sich aber eine Hemmungsvorrichtung, von welcher
Seite man sie auch betrachten mag, nur als einen Regulirungsapparat,
ein solches übergeordnetes Centrum vorstellen, mag man sich dessen
corticale Begrenzung nun sehr eng oder sehr weit denken. Denn wenn
Hemmungsvorgänge einen Sinn und ein physiologisches Interesse haben
sollen, so müssen sie doch wohl der Abstufung fähig, regulirbar sein.
In diesem Falle würde also die Grosshirnrinde oder ein Theil derselben
diesen Apparat vorstellen und die von mir sogenannten motorischen
Centren würden, wenn sie nicht selbst jener Theil sind, doch als
Sammelplätze der für die einzelnen Segmente bestimmten, hemmenden
Einflüsse anzusehen sein. Natürlich sagt Loeb dies nicht, wie er über-
haupt gerade nach dieser Richtung hin nichts zu sagen vorzieht, aber
es giebt eben, wie gesagt, keinen anderen Weg, um die von ihm endlich
zugestandenen mit dem Reste der unbestritten dastehenden Thatsachen
in seinem Sinne zu vereinbaren. Um die Annahme von Centren
würde also auch Loeb nicht herumgekommen sein, wenn er seine Vor-
stellungen consequent hätte durchführen wollen, nur dass es dann eben
Hemmungscentren gewesen wären.
Durch die Versuche von Bubnoff und Heidenhain ist erwiesen,
dass durch Reizung meiner motorischen Centren hemmende Einflüsse
ausgelöst werden können. Eine andere Frage ist es, ob deshalb oder
aus anderen Gründen diese Gebiete mit Recht schlechthin als Hemmungs-
— 131 —
ceutreu aufgefasst vverden dürfen. Diese Frage verneine ich. Ganz im
Allgemeinen ist die gegnerische Ansicht, dass die normale physiolo-
gische Fmiction solcher Centren oder Gebiete, deren Beschädigung zu
■einer Hemmung führt, in einer Hemmung dieser Function bestehen
müsse, unerwiesen und ich bestreite ihre Richtigkeit. Wäre sie richtig,
so würde auf Grund der oben referirten Experimentaluntersuchungen
fast die ganze Rinde des Grosshirns zur Hemmung des Sehactes be-
stimmt sein, ohne dass sich ein vernünftiger Zweck für eine derartige
Einrichtung erkennen Messe und ohne dass ein Areal für Bildung
optischer Vorstellungen übrig bliebe. So wenig man aber eine solche
Einrichtung verstehen könnte, so wahrscheinlich ist die Annahme, dass
bestimmte Eingriffe in den Hirnmantel auf hier nicht näher zu er-
läuternde Weise zu temporärer Ausserfunctionsetzung optischer Centren
führen kann, obschon der angegriffene Theil selbst mit dem Sehen
direct nichts zu thun hat.
Einer etwas anderen Betrachtungsweise muss der Bubnoff-Heiden-
hain'sche Versuch insofern unterzogen werden, als er in der That die
Existenz einer normalen physiologischen Hemmungsvorrichtung in der
motorischen Region nachweist. Gehen wir vom Einfachsten aus. Zu-
gestanden ist, dass die elektrische und mechanische Reizung — mindestens
— jener Bahnen und nicht bestritten ist, dass die chemische Reizung
-der Hirnoberfläche zu Bewegungserscheinungen führt. Die experimentelle
Reizung führt also in der Regel zu Bewegungen und nicht zu Hemmungen.
Diese lassen sich nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen zur An-
schauung bringen. Hiernach lässt sich nicht absehen, aus welchen
Gründen das cortico-spinale Fasersystem nicht ebenso gut zur Fort-
leitung der in der Rinde entstehenden, die psychischen Vorgänge in
active Bewegungen umsetzenden, organischen Impulse geeignet und
bestimmt sein soll, wie es für die Fortleitung experimenteller Reize
und deren Umsetzungen in Bewegungen geeignet ist und ebenso wenig
lässt sich ersehen, weshalb die so in die Peripherie projicirten Reize
gerade ausschliesslich hemmender, also negativ motorischer Natur sein
sollen. Ueberdies beweisen die zuerst von mir selbst, dann von zahl-
reichen anderen Forschern angestellten Versuche über Erzeugung arti-
ficieller Epilepsie durch Verletzungen der Rinde sowie entsprechende
Beobachtungen beim Menschen, dass genau die gleichen motorischen
Vorgänge, wie sie sich nach elektrischer Reizung der Rinde abspielen,
auch durch organische Reize anzuregen sind. Wenn also von dieser
Region sowohl Impulse ausgehen, welche die Bewegung anregen, als
solche, welche sie hemmen, so bedeutet das, dass sie regulatorische
Einrichtungen enthält.
9*
— 132 —
Die Hemmungstheorie stützt sich jedoch der Hauptsache nach auf
die beim Ablaufe von Lähmungsversuchen zu beobachtenden Vorgänge,
d. h. auf die Restitution. Die von Goltz ursprünglich entwickelte und
später von Loeb weiter ausgebildete Deduction hat etwa folgenden In-
halt: Eine Restitution ausgerotteter Hirnmasse findet nicht statt; wenn
also verloren gegangene Functionen wiederkehren, so beweist dies, dass
das zerstörte Organ entweder nicht das einzige ist, welches den ver-
loren gegangenen Verrichtungen vorstand, oder dass es überhaupt nichts
mit diesen zu thun hatte, sondern dass seine Zerstörung nur diejenigen
Organe, denen die fragliche Function zukommt, hemmte. Die groben
maschinenmässigen Bewegungen, Laufen u. s. w., sind eine Function
der subcorticalen Organe; sie können also direct durch Eingriffe in das
Grosshirn nicht geschädigt werden; da eine solche Schädigung aber
gleichwohl stattfindet, so kann das nur in Folge einer durch den Ein-
griff' veranlassten Hemmung ihrer Function veranlasst sein. Hieran
schliesst sich dann die, so viel ich sehe nirgends näher begründete Vor-
stellung, dass das Grosshirn überhaupt ein Hemmungsorgan sei.
Sieht man sich zunächst die thatsächlichen Grundlagen dieser
Hypothese an, so erweisen sie sich an mehr als einem Punkte als un-
richtig. Die groben, maschinenmässigen Bewegungen sind nach Ein-
griffen in die motorische Region überhaupt nur unter bestimmten Be-
dingungen geschädigt, nämlich wenn die Exstirpationen entweder sehr
gross oder doppelseitig waren oder wenn mit den Goltz 'sehen Aus-
spülungen oder nach ähnlichen, nach dieser Richtung hin vollkommen
unbrauchbaren Methoden operirt worden ist. Waren aber die Aus-
schältungen sehr gross, so sieht man auch selbst in der ersten Periode
keineswegs solche Symptome, welche auf die Existenz einer Hemmung
hindeuten. Die Hunde stürzen auf die gelähmte Seite, aber ihre Mus-
keln sind keineswegs gelähmt, sondern sie werfen ihre Glieder mit
nicht geringer Kraft wild durcheinander, sodass eben der gewollte Effect
aus Mangel an Coordination nicht zu Stande kommt. War der Eingriff
aber weniger gross, so sind die groben, maschinenmässigen Bewegungen
überhaupt nicht geschädigt, sondern man beobachtet lediglich Störungen
in den feineren Details der Anordnung und der Controlle der Be-
wegungen, also auch wieder Coordinationsstörungen. Qualitativ ist das
Resultat in beiden Fällen gleich, und wie mir scheint, in einfacher
Weise dadurch zu erklären, dass die Willensimpulse zwar abgegeben
und in die subcorticalen Organe projicirt, aber in ihren Wirkungen
nicht mehr oder nicht mehr hinreichend controllirt werden,
Ich bestreite nicht, dass man daran denken kann, eine solche Co-
ordinationsstörung auf das Kleinhirn zu beziehen, da dieses Organ
— 133 —
cüorclinatorisclie Functionen besitzt, wenn schon die unmittelbar nach
Eingriffen in dasselbe zu beobachtenden Erscheinungen ein anderes Bild
darbieten. Nach Loeb freilich wäre auch dies ausgeschlossen, da es
nach ihm Coordinationscentren nicht giebt. Indessen ergiebt schon die
Beobachtung des weiteren Verlaufes der Erscheinungen, dass es sich,
dabei überhaupt nicht um Hemmungswirkungen, also auch nicht um
solche auf das Kleinhirn handeln kann. Denn die sämmtlichen wesent-
lichen Erscheinungen, welche das gesetzte Krankheitsbild characterisiren
und auf die ich hier nicht im Einzelnen einzugehen brauche, bestehen
nach den eigenen Feststellungen von Goltz ungeändert, wenn auch
nicht unvermindert dauernd fort, sobald man dem Thiere beide moto-
rische Regionen fortgenommen hat. Das wesentliche Kriterium für die
Annahme von Hemmungen fehlt also in diesem Falle. Ausserdem be-
obachtet man aber von Anfang an ein Symptom, auf das ich zuerst
aufmerksam gemacht habe und das man auf eine Hemmung der Func-
tionen des Kleinhirns oder anderer subcorticaler Organe überhaupt
nicht beziehen kann, nämlich dass der Hund blindlings mit den Pfoten
in's Leere tritt, sowie mit ihnen gegen eine Leiste oder andere ähnliche
Gegenstände anstösst.
Alles, was ich hier und an anderen Stellen vorgetragen habe, und
alles, was mir sonst an Experimenten auf diesem Gebiete bekannt ist,
ordnet sich zwanglos der von mir von Anfang an aufgestellten Lehre
unter, dass an der ausgeschalteten Stelle solche dem Bewusstsein
dienende Organe gelagert waren, deren Aufgabe in der Bildung von
bewussten Vorstellungen über die Zustände der entsprechenden Körper-
theile und Regulirung der für sie bestimmten Willensimpulse besteht.
Gegen diese Lehre spricht keine gut beglaubigte Thatsache, von der
ich wüsste. Zu diesen rechne icli auch nicht einen von Goltz als be-
sonders beweiskräftig angeführten Versuch von v. Malin owsky. In
diesem Falle zeigte ein Hund, bei dem sich nach Injection von „Eiter
erregenden Mikrokokken" ein Abscess der motorischen Region heraus-
gebildet hatte, allmählig zunehmende, sich bis zur Hemiplegie steigernde
Lähmungserscheinuugen, welche nach Herausschneiden des Abscesses
und seiner Umgebung sich bis auf den nach Exstirpation jener Region
zu beobachtenden Rest zurückbildeten. Goltz schliesst hieraus, dass
der Abscess hemmend auf die subcorticalen Centren gewirkt habe.
Sehr ad er, der bei ähnlichen Versuchen nichts von Besserung der Er-
scheinungen nach Excision des Abscesses berichtet, fand aber die gleich-
namige Hemisphäre bei solchen Hunden, abgesehen von anderen Ver-
änderungen, ödematös durchtränkt. Abscesse verursachen Hirndruck
— 134 —
und schon aus diesem Grunde beweist der von Goltz angeführte Ver-
such nichts für seine These.
Mit dem Begriffe eines Regulirungsapparates ist die Eigenschaft
einer die Function, also hier die Bewegung, in negativem Sinne, beein-
flussenden, d. h. einer hemmenden Thätigkeit nothwendig verbunden.
Ich gebe in diesem Sinne also ohne Weiteres zu, dass von diesen
Theilen der Hirnrinde normale und pathologische Erregungen ausgehen
können, welche eine hemmende Wirkung ausüben. Ob und in welchem
Grade sie überhaupt in die Erscheinung treten oder von anderen Wir-
kungen verdeckt werden, das bleibt von Fall zu Fall zu entscheiden. —
Ein weiteres Eingehen auf die Frage der Restitution versage ich mir,
Sie ist zum Theil geklärt, zum Theil nicht geklärt, und bis das Letz-
tere durch neue Beobachtungen geschehen sein wird, muss die Darlegung*
der momentanen Sachlage genügen. Gerade die eigenen Beobachtungen
von Goltz am grosshirnlosen Hunde haben den Irrthum aufgedeckt/
der seiner vorstehend erwähnten Schlussfolgerung zu Grunde lag. Dieser
besteht darin, dass Goltz das Erstarken und Neueintreten solcher
Organe ausser Acht liess, welche ursprünglich keine oder keine aus-
schlaggebende Rolle bei der geschädigten Function spielten. Welchen
Werth hierbei die zweite Hemisphäre, überhaupt corticale Gebilde mit
der zugeordneten Haubenbahn und welchen Werth subcorticale Organe
besitzen, will ich nicht weiter erörtern.
Etwas anders liegen die Dinge für die „Sehsphäre." Loeb spricht
sich über die Wirkungen hier vorgenommener Exstirpationen gleichfalls
nicht in klarer und eindeutiger Weise aus. Einmal handelt es sicli
natürlich wieder nur um Shok-, d. h. Hemmungswirkungen auf die
segmentalen Opticusganglien, ein anderes Mal werden durch die Exstir-
pation chemische Veränderungen gesetzt, welche sich nicht nur bis zu
diesen Ganglien, sondern darüber hinaus bis zu den peripheren End-
organen fortpflanzen und deren Thätigkeit abschwächen. Den Eintritt
von Hemianopsie beim Menschen „vermag er nicht zu erklären." Die
Totalexstirpation der „Sehsphären" hat — NB. abweichend von Goltz
— bei allen bisher beobachteten Hunden zur Blindheit geführt.
Da ich auf diese Fragen in der nächsten Abhandlung ausführlicher
zurückzukommen gedenke, so beschränke ich mich hier auf einige kurze
Bemerkungen. Wie die motorischen Centren für die Extremitäten zur
Bildung von Vorstellungen für diese Glieder, so dienen, meiner Ansicht
nach, die Sehceatren zur Bildung von Vorstellungen über die Zustände
des Sehorganes. Eingriffe in die Convexität dieser Sehsphären führen
zu kürzer oder länger dauernder, immer aber, vorübergehender Seh-
störung. Die „Einmündungssteile" der Sehstrahlung liegt aber nicht
— 135 —
hier, sondern aller Walirsclieinlichkeit nach in don Lippen der Fissura
calcarina. Deren Zerstörung oder gröbere Verletzungen der Sehstrahlung
geben vermuthlich Veranlassung zum Eintritt voji dauernder Hemiano-
psie, während die auf die Verletzung der Convexität folgenden Seh-
störungen vielleicht als Hemmungswirkungen aufgefasst werden können.
Man sollte meinen, dass sich die Lehre von Goltz-Loeb, das
Grosshirn sei im Wesentlichen ein Hemmungsorgan, auf den
im Vorstehenden gegebeneu Voraussetzungen aufbaue. Denn wenn es
im Ganzen ein Hemmungsorgan ist, so müssen seine einzelnen Theile
nicht nur gleichfalls Hemmungswirkungen hervorbringen, sondern diese
Einzelwirkungen müssen auch jener Gesammtwirkung der Art nach
gleichwerthig sein. Ich finde aber an Stelle einer logischen Ent-
wickelung einer derartigen Vorstellung eine solche Reihe von Lücken,
Widersprüchen und unbewiesenen Behauptungen in den Darlegungen
Loeb's, dass ich mir nicht einmal ein klares Bild von dem zu machen
vermag, was er eigentlich sagen will.
Loeb stellt sich, wie wir gesehen haben und noch weiter sehen
werden, die Vorgänge im Centralnervensystem rein mechanisch vor.
Wenn nun „die vorderen Partien des Grosshirns die Möglichkeit einer
Verhinderung des Abflusses der Erregungen in die Muskeln" bedingen
und nach ihrer Zerstörung „die Möglichkeit, den Abfluss der Energie
in die Muskeln zu hemmen, fortfällt", so sollten doch die Muskeln der
contralateralen Körperhälfte sich nach einseitiger Zerstörung dieser
Partien in unaufhörlicher BoAvegung befinden, einer Bewegung, welche
sich, je nachdem die Energie von diesem oder jenem Sinnesorgan her
zuströmt, in der verschiedensten Weise äussern müsste. Mindestens
aber müssten diese Muskeln vermöge des dauernden Zuflusses grösserer
Energie eine vermehrte Spannung erkennen lassen. Alles dies trifft
aber nicht zu, ja die Spannung dieser Muskeln ist, wie ich im Vor-
stehenden ausführlich erörtet habe, im Gegentheil während der ganzen
Lebensdauer des Thieres oder mindestens auf sehr lange Zeit ver-
mindert.
Wenn nun Loeb für seine Auffassung anführt, dass doppelseitig
vorn operirte Thiere einen gesteigerten Bewegungsdrang zeigen und von
diesem getrieben gegen Hindernisse anlaufen, obwohl sie keine Seh-
störung erkennen Hessen, so setzt er sich zunächst mit sich selbst in-
sofern in Widerspruch, als solche Thiere ja seiner eigenen Behauptung
nach, gerade die allerschwersten Sehstörungen zeigten. Wie stimmt das
Vorhandensein so erzeugter Sehstörungen zu jener Theorie? Nun
brauchen solche Thiere aber keineswegs eine Sehstörung zu besitzen
und wenn sie dann dennoch gegen Hindernisse anlaufen, so wird dies
— 136 —
wohl auf den Blödsinn zurückzuführen sein, den doppelseitig symmetrisch
operirte Thiere nach den eigenen Ansichten von Goltz und Loeb ja
immer zeigen. Ist dies aber der Fall, so beruht das Fortfallen der
Hemmung eben auf dem Fortfall von Vorstellungen, womit hier das
Austossen des Kopfes dui'chaus parallel jenem vorher erwähnten An-
stossen der Pfoten gesetzt wird. Es wäre nun ganz verkehrt, wenn
man jenen innerlichen Vorgang, welcher das Thier davon abhält, gegen
ein Hinderniss anzulaufen, jene Hemmung, als das Wesentliche der
Willensvorgänge überhaupt, als ihren Begriff bestimmend ansehen wollte.
Das Wesentliche liegt vielmehr in der willkürlichen Wahl der einzelnen
Bewegungen, welche auf associativen Processen, aber nicht auf ein für
alle Mal vorgezeichneten mechanischen Bedingungen beruht. Endlich
aber zeigen so operirte Thiere keineswegs immer einen ge-
steigerten Bewegungsdrang, geschweige denn, dass sie
immer gegen Hindernisse anliefen. Gesetze lassen sich also
auf solchen Beobachtungen überhaupt nicht aufbauen.
Kann ich mir somit auch eine Vermittelung zwischen der Aus-
drucksweise von Loeb und meinen eigenen Ansichten, was den eben
besprochenen Punkt angeht, allenfalls vorstellen, so ist mir die mecha-
nische Vorrichtung, die er mit Bezug auf die hemmenden Functionen
der hinteren Partien des Grosshirns construirt und schon damit auch
die Vorstellung von der Bestimmung des Grosshirns im Ganzen als
Hemmungsorgan gänzlich unverständlich geblieben. Denn wenn Loeb
sagt, „sobald aber diese Partie ausgefallen ist, kann die Abschliessung
gegen centripetale Erregung wenig oder gar nicht mehr stattfinden", so
sehe ich nicht, wodurch die Folgen occipitaler Abtragungen sich von
denen frontaler Abtragungen unterscheiden sollten, abgesehen davon,
dass diese ganze Ueberlegung zum puren Nonsens führt. Nehmen wir
an, es habe eine doppelseitige Abtragung innerhalb der Sehsphäre
stattgefunden — von der nochmaligen Erörterung der negativen Folgen
einseitiger Abtragung sehe ich ab — so ist die nächste Frage, bekommt
nun das Thier eine Sehstöruug oder bekommt es keine? Nach Loeb
ist dies ganz und gar unsicher, sobald nicht eine Totalexstirpation der
ganzen Sehsphäre stattgefunden hat, dagegen kann es ebenso wie Seh-
störungen auch motorische Störungen, bei einseitiger Abtragung, Dreh-
störungen etc. bekommen. Man sollte also wohl meinen, die Heramungs-
wirkungen oder ihr Fortfall müssten in bestimmten Beziehungen zu
diesen Functionsstörungen stehen, wenn sich überhaupt aus so wenig
gesetzraässigen Folgen „Gesetze formuliren" lassen. Aber freilich die
Gesetze Loeb's setzen ja keine Gesetzmässigkeit voraus, diese wird
nur für die Gesetze anderer postulirt. Nehmen wir an, das Thier habe
— 187 —
nach Loeb keinerlei Sehstörung davongetragen, so kann Niemand ver-
stehen, weshalb jene Fähigkeit der „Abschliessung" mm aufgeholjen sein
sollte.
Nehmen wir aber an, eine Total exstirpation der Sehsphäre mi
folgender Blindheit sei vorgenommen worden. Nunmehr kann die „Ab-
schliessung gegen centripetale Erregung" — doch wohl in erster Linie
von dem Sehorgan her — nicht mehr stattfinden. Das nicht sehende
Thier würde also durch optische Eindrücke unaufhörlich, gleichviel ob
im positiven oder negativen Sinne, in seinen Bewegungen beeinflusst
werden. Nehmen wir aber selbst an, es seien nicht nur die optischen,
sondern die sämmtlichen centripetalen Erregungen oder sogar die letzteren
mit Ausschluss der optischen Erregungen gemeint, so hat Loeb zwar
angeführt, aber nicht berücksichtigt, dass solche Abtragungen nach
Goltz — abgesehen davon, dass sie die Thiere überhaupt nicht blind
machen — eine allgemeine Wahrnehmungsschwäche hervorbringen.
Mit anderen Worten, es findet im Sinne Loeb 's ein unvollkommener
Abschluss gegen centripetale Erregungen statt und die natürliche Folge
müsste dann im Sinne seiner Behauptungen ein Einbrechen dieser Er-
regungen in den Muskelapparat sein, den man doch an einer Aenderung
des Zustandes der Muskeln müsste erkennen können. Davon ist aber
keine Rede. Geändert ist nur die Häufigkeit seiner Bewegungen —
nicht die Bewegungen selbst — weil das Thier durch den Fortfall einer
Anzahl von Wahrnehmungen zu Bewegungen weniger angeregt wird.
Hiermit kommen wir auf denjenigen Punkt, der Loeb allem An-
scheine nach zu seinen vollkommen verfehlten generalisirenden Theorien
veranlasst hat. Die Schilderung, welche Goltz von dem Verhalten
solcher Hunde gegeben hat, denen er die hinteren Partien des Gross-
hirns in grossem Umfange abgetragen hatte, ähnelt in sehr wesent-
lichen und zwar gerade in den uns hier interessirenden Punkten dem
Verhalten seines Hundes ohne Grosshirn. Zweckmässige Bewegungen
treten in jenem Falle nur auf als unmittelbare Folge eines Sinnes-
reizes. Dieses Verhalten entspricht der Voraussetzung von Loeb, „dass
eine Muskelthätigkeit zwar noch augeregt werden kann, allein jeder
neue Sinnesreiz bricht in das Centralnervensystem herein und unter-
bricht die begonnene Muskelaction." Ich sehe nicht ein, aus welchem
Grunde diese Beobachtungen durch eine vollkommen hypothetische,
lediglich durch zusammenhangslose Beispiele gestützte Hemmungstheorie
erklärt werden müssten. Denn es giebt dafür eine sehr viel einfachere Er-
klärung, mit der ich mich, soviel ich sehe, auch der Auffassung von Goltz,
mindestens soweit sein grosshirnloser Hund in Betracht kommt, nähere.
Alle so verstümmelten Hunde sind blödsinnig und wir haben oben
— 138 —
bereits gesehen, dass auch die des Occipitalhirus beraubten Hunde das
Bild des apathischen Blödsinns darbieten. hi diesem Zustande löst
eben jeder Sinnesreiz nur so lange er andauert eine Bewegung aus und
es wird dadurch derjenige Zustand geschaffen, den Loeb beschreibt
oder voraussetzt; nur ist er nicht als Folge von Hemmungen, sondern
so zu deuten, dass die einzelnen Sinnesreize Mangels des Grosshirns
oder der wesentlich in Betracht kommenden Theile desselben nicht zu
haften und Willkürbewegungen auszulösen vermögen, sondern dass die
„Reflexmaschine" ihren Turnus abspielt und dann wieder zur Ruhe
kommt, wenn sie nicht durch einen Sinnesreiz wieder in Bewegung
gesetzt wird.
Ueberdies vermisst man in den Loeb'schen Auseinandersetzungen
jede Angabe darüber, wie er den Ablauf aller dieser Erregungen, die
er zu kennen glaubt, localisirt, ob cortical oder subcortical. Er citirt
z. B. den bekannten, nach Abtragung der Hinterhauptslappen sonst
blinden Hund von Goltz, der aber durch einen hellen Streifen des
Fussbodens beeinflusst wurde. Diese Beeinflussung beruht -nacli Loeb
natürlich auf einer Hemmung; aber welchen Weg soll diese Hemmung
nun nehmen. Das hemmende Organ liegt ja nach seinen Entdeckungen
im Vorderhirn, die Einmündungsstellen der Sehstrahlung aber im
Hinterhirn. Nun ist der fragliche Theil des Hinterhirns abgetragen;
auf welchem Wege wird also der hemmende Einfluss wirksam und wie
erklärt es sich überhaupt, dass dieser minimale Rest von Sehen stärker
hemmend wirkt als das normale Quantum der optischen Erregung,
wenn diesem überhaupt hemmende Wirkung zugeschrieben wird?
Wegen des Mangeis eines logischen und lückenlosen Entwickeluugs-
ganges seiner Vorstellungen ist der unheilbare Widerspruch, in dem er
sich selbst verstrickt hat, diesem Forscher aber gänzlich entgangen.
Nach allen seinen experimentellen Belegen und allen seinen ander-
weitigen Auseinandersetzungen besteht ein grundsätzlicher Unterschied
zwischen den Wirkungen von Eingriffen in das Vorderhirn und das
Hinterhirn insofern nicht, als beide Mal Sehstörungen von beliebiger
Intensität in die Erscheinung treten können. Es bleibt also gänzlich
dunkel, aus welchem Grunde er dem Vorderhirn nicht ebenso gut wie
dem Hinterhirn jene Fähigkeit der Abschliessung von Sinnesreizen zu-
schreibt. Endlich bleibt natürlich bei der Annahme, dass die Hirnrinde
aus Hemmungsapparaten oder -„Centren" besteht, welche aber dennoch
keine Apparate oder Centren sind, kein Platz für das, was wir unser
Bewusstsein oder Vorstellungen nennen, obwohl wir mm einmal damit
behaftet sind.
Das Bewusstsein und insbesondere das bewusste Empfinden verlegt
— 139 —
Loeb freilich dennoch in das Grosshirn, er hat es selber auch bereits
ergründet. Dagegen lässt er uns vollkommen im Unklaren darüber, wie
er sich etwa das Zustandekommen dieses bewussten Empfindens, d. h.
doch wohl die Uebermittelung und Verarbeitung der Sinneswahrneh-
mungen ganz im Groben vorstellt. Freilich hängen nach ihm diese
oder jene Hirntheile näher mit diesen oder jenen subcorticalen Seg-
menten zusammen. Aber zwischen diesem Ausspruch und den Behaup-
tungen von den corticalen Hemmungsfunctionen einerseits und der
Function des bewussten Empfindens andererseits befinden sich wieder
jene weitklaffenden Lücken der Beweisführung, an die wir nun schon
gewöhnt sind. Wie entsteht denn eigentlich die bewusste Empfindung,
z. B. die des Sehobjectes, im Grosshirn, wenn nicht durch die Ueber-
mittelung der subcorticalen Vorgänge an dieses Organ und wenn sie so
entsteht, welche Vorstellung soll man sich dann von dem Hergang der
Dinge bilden, da dem Grosshirn die Fähigkeit zur Bildung von Sinnes-
vorstellungeu unaufhörlich abgesprochen und die Rolle der fraglichen
Organe auf die Hemmung beschränkt wird? Damit wir uns in die
Vorstellungen Loeb's von diesen Processen einigermaassen, soweit dies
überhaupt möglich ist, hineindenken können, ist es erforderlich, die
verschlungenen Wege mit ihm zu wandeln, welche ihn zu diesen Vor-
stellungen geführt haben.
Der Ausgangspunkt der üeberlegungen Loeb's ist die Thatsache,
dass Pflanzen, welche keine Nerven besitzen, gleichwohl ebenso dem
Lichte zuwachsen, wie Motten, welche ein Nervensystem besitzen, dem
Lichte zufliegen. Er schliesst daraus, dass da« Nervensystem für die
Wirkungen des „Heliotropismiis" und der Tropismen überhaupt nicht
nothwendig sei, sondern dass dafür periphere Reizbarkeiten bezw-. die
Anordnung der iMuskeln ausreichten. Das Nervensystem dient nur ver-
möge seiner besseren Leitungsfähigkeit dazu, dass es den peripheren
Organen erlaubt, mit grösserer Präcision zu arbeiten. Auch die „seg-
mentalen Ganglien spielen bei den Reactionen eines Thieres nur die
Rolle eines protoplasmatischen Leiters."
Halten wir hier einen Augenblick inne. Loeb verwendet zur Be-
gründung dieser Theorie eine Anzahl von solchen Bewegungserscliei-
nungen, welche unter dem Namen Tropismen in neuester Zeit Gegen-
stand der Discussion gewesen sind, wobei dann immer wieder der
Scliluss erscheint, dass man es bei den Reactionen des Thieres nicht
mit dem Nervensystem oder Instincten, sondern mit Tropismen zu thun
habe. Es würde zu weit führen, wenn wir uns mit dem Capitel der
Tropismen, in dem mir vorderhand viel mehr Mysticismus zu stecken
scheint als in der Lehre vom Centralnervensystem, welcher Loeb einen
— 140 —
solchen Vorwurf zu machen beliebt, jetzt eingehender beschäftigen
wollten. Dagegen erscheint mir die Tendenz, die innerlichen Vorgänge,
auf denen Bevvegungserscheinungen bei ganz verschieden organisirten
Individuen beruhen, mit einander zu identificiren, gänzlich verkehrt.
Die Natur bedient sich zur Erreichung gleicher Zwecke erfahrungs-
mässig nicht selten sehr verschiedener Mittel und andererseits birgt ein
gleicher oder ähnlicher Vorgang noch keineswegs die Gewissheit in
sich, dass er zu einem gleichen oder ähnlichen Zwecke eingeleitet oder
durch die gleichen Mittel erreicht ist.
Die Identität des Heliütropismus der Thiere mit dem der Pflanzen,
wie er sich u. A. in dem angeführten Beispiel der in das Licht fliegen-
den Motte zeigt, hat Loeb in einer besonderen Schrift nachzuweisen
gesucht i). Diese Arbeit schliesst mit folgendem Satze ab: „Wir haben
gesehen, dass bei Thieren, welche Nerven besitzen, die Orientirungs-
bewegungen gegen Licht in allen Stücken durch dieselben äusseren
Umstände bestinmit sind und in derselben Weise von der äusseren
Körperform abhängen, wie bei Pflanzen, welche keine Nerven besitzen.
Folglich können diese heliotropischen Erscheinungen nicht auf
specifischen Eigenschaften des Centralnervensystems be-
ruhen, wie sie z.B. die Nerven physiologie immer noch annimmt, w^enn
sie Vorgänge, wie die Anziehung der Motte durch das Licht als In-
stinct- oder Refl^exwirkung bezeichnet."
Wenn ich annehme, dass die von Loeb in dieser Schrift berichte-
ten Thatsachen sämmtlich richtig sind, so werden damit einmal neue
Belege für die Erfahrung, dass das Protoplasma lichtempfindlich ist,
geliefert, und ferner beweisen sie, dass diese Lichtempfindlichkeit all-
gemein nicht nur von den vitalen Eigenschaften des Protoplasma, son-
dern auch von den Eigenschaften des Lichtes gesetzmässig abhängt.
Dass diese Lichtempfindlichkeit zur Ursache von Bewegungserschei-
nungen bei Pflanzen und Thieren werden kann, ist eine längst bekannte
Thatsache; aber die Identificirung dieser Bewegungserscheinungen der
Pflanzen mit denjenigen der verschiedensten Thierspecies ist eine gänz-
lich neue Behauptung von Loeb, welche aus einer, sich auf oberfläch-
liche Aehnlichkeiten stützenden Generalisirung erwächst.
Die Bewegung der Pflanze beruht darauf, dass die lichtempfind-
liche Substanz infolge eines seinem Wesen nach gänzlich unbekannten
Vorganges, den Stiel auf seiner dem Licht abgekehrten Seite zu stärkerem
Wachsthum veranlasst. Die Bewesuna; einer Anzahl von Thieren nach
1) .J. Loeb, Der Heliotropismus der Thiere und seine Uebereinstimmung
mit dem Heliotropismus der Pflanzen. 1890.
— 141 —
dem Liclite zu oder von dem Lichte fort ist die Folge einer directen
üebertnxgung des Lichtreizes auf die contractile Substanz, während der
Lichtreiz bei anderen Thieren durch Vermittelung von mehr oder minder
peripheren Nervenapparaten und eines Uebertragungsapparates die Be-
wegung hervorbringt.
In dem einen Falle ist die Bewegung also eine Folge veränderten
Wachsthums, in den anderen Fällen hat sie mit dem Wachsthum nichts
zu thun. Wenn nun Loeb sagt, dass diese heliotropischen Erschein-
ungen gleichwerthig seien, so ist dies einmal unrichtig und wenn er
fortfährt, dass sie nicht auf specifischen Eigenschaften des Central-
nervensystems beruhten, so hat dies Niemand behauptet. Denn' es
versteht sich von selbst, das Organismen, welche kein Centralnerven-
system besitzen, nicht [mit einem solchen arbeiten können. Loeb 's
Behauptung würde nur dann einen Sinn haben, wenn die Motte auch
noch nach Zerstörung ihres Centralnervensystems in das Licht flöge.
Indem er aber auf die Nervenphysiologie von oben herab blickt, weil
sie die Anziehung der Motte durch das Licht als Reflexwirkung be-
zeichnet, begegnet es ihm, dass er dadurch, dass er ein Wort durch
ein anderes ersetzt, eine That von besonders grosser Bedeutung zu voll-
bringen glaubt. Wir verstehen unter einer Reflexaction die Ueber-
tragung eines Reizes durch einen centripetalen auf einen centrifugalen
Leiter durch Vermittelung eines eingeschalteten Ganglions. Der Helio-
tropismus der Motte ist absolut nichts anderes; es kommt also auf
dasselbe hinaus, ob ich ihn so oder als Reflexact bezeichne. Ver-
dienstlich wäre es, wenn Loeb uns einen Einblick in den letzten Grund
der Lichtempfindlichkeit des Protoplasma oder der Tropismen überhaupt
eröffnet hätte, bis dahin aber entbehren die Ansprüche, mit denen er
seine höhere Intelligenz den Anschauungen anderer Forscher entgegen- •
setzt, der Berechtigung. Mit jener ist es ihm jedes Mal übel ergangen,
wenn er sie zur „Formulirung alles umfassender Gesetze" hat benutzen
wollen.
Im vorliegenden Falle hat ihn nun die Neigung zur Formulirung
solcher Gesetze dazu verleitet, soweit sich dies aus seiner lückenhaften
und deshalb wenig klaren Darstellung erkeimen lässt, aus den Er-
fahrungen über die Bewegungen nervenloser Organismen den Schluss
zu ziehen, dass die Nerven für das Zustandekommen von Bewegungen
auch bei solchen Thieren, die mit einem Nervensystem ausgestattet
sind, an sich nicht erforderlich seien, sondern dass sie nur zur Herbei-
führung einer grösseren Beschleunigung der Leitung dienten; und in
demselben Boden wurzeln seine Behauptungen von dem Fehlen von
— 142 —
Regulationsvorrichtuugen und überhaupt von specifischen Functionen
innerhalb des Centrahiervensystems.^)
1) Nachdem diese Abhandlung längst abgeschlossen war, machte mich
mein verehrter College Klebs auf den Aufsatz von W. A. Nagel „Phototaxis,
Photokinesis und Unterschiedsempfindlichkeit" in der Botanischen Zeitung
No. 19, 1901 aufmerksam. Ich reproducire aus demselben einige die Loeb-
schen*Theorien beleuchtende Stellen, ohne dass ich es für nöthig hielte, dem
Leser mit Nutzanwendungen auf das im Texte Gesagte zu Hülfe zu kommen.
Ein Missgriff war es, auf Grund etlicher methodisch recht un-
vollkommener und in hohem Grade einseitiger Versuche die volle üeberein-
stimmung („Identität") des thierischen und pflanzlichen Heliotro-
pismus zu behaupten, wie dies Loeb auch noch in seiner neuesten, diesen
Gegenstand behandelnden Publication thut.
Loeb hatte zunächst behauptet, die seit langem bekannten Be-
wegungen von Thieren zu einer Lichtquelle hin, oder von einer Lichtquelle
weg seien in ihrer Richtung ausschliesslich von der Richtung der er-
regend wirkenden Lichtstrahlen bedingt, wie es für gewisse frei beweg-
liche Pflanzenzellen durch Strasburger u. A. festgestellt ist. Diese Angabe
hat sich für einen Theil der Fälle bestätigt, für einen Theil nicht.
dass die Curve der Reizwerthe für irgend ein phototactisches
Thier mit jenen der heliotropischen Pflanzen zusammenfalle, oder auch nur
ähnlich sei, ist nicht bewiesen.
Ueber das eigentliche Wesen, den Mechanismus der Photo-
taxis bei Thieren, ist so gut wie nichts bekannt. Loeb hat Erklärungsver-
suche unternommen, von denen aber dem Referenten nichts weiter stichhaltig
erscheint, als was eigentlich selbstverständlich ist, dass nämlich die phototac-
tischen Einstellungen durch ungleich starke Contractionen der Muskeln beider
Körperhälften zu Stande kommen. Wenn Loeb aber weiterhin die phototac-
tischen Erscheinungen mit den galvanotactischen paralleli.sirt, so kann das nur
irreführend wirken. Die galvanischen Stromfäden durchdringen ohne Weiteres
den thierischen Organismus, und für ihren physiologischen Angriff an diesem
oder jenem Muskel oder Nerven kommen ganz andere Momente in Betracht, als
für den Angriff der Lichtreizung. Das Licht wirkt, wenigstens soweit bis jetzt
bekannt ist, fast ausschliesslich durch Vermittelung von Sinnesorganen, also
auf dem Wege des Reflexes; die Sinnesorgane können sich als eigentliche
Augen in kleiner oder grösserer Zahl darstellen, oder, wie Hesse neuer-
dings nachgewiesen hat, in Gestalt über den ganzen Körper zerstreuter Licht-
sinneszellen auftreten (so beim Regenwurm und beim Amphioxus). In allen
diesen Fällen ist das Gentralnervensystem als Vermittler der Erregung zwischen
Lichtsinnesorgan und reagirenden Muskeln unentbehrlich. Phototactische
Reactionen, bei denen das Licht dir e et die Muskeln reizte, sind nicht be-
kannt. Es verdient das besonders hervorgehoben zu werden, weil nach Loeb 's
Darstellung der mit den Thatsachen nicht genügend Bekannte leicht zu gegen-
-jheiliger Meinung kommen könnte. Das nicht recht verständliche Bestreben
— 143 —
Die Annahme, dass alle Tlüere für das Zustandekommen zweck-
mässiger Bewegungen keines Nervensystems bedürfen, sondern mit dem
leitungsfähigen Protoplasma ausreichen würden, weil gewisse andere
Thiere oder gar Pflanzen zweckmässige Bewegungen ohne Nervensystem
ausführen, ist nicht nur irrthümlich, sondern einfach phantastisch. Zu
welchen Consequenzen eine derartige Methode der Schlussfolgerung
führt, zeigt am besten das folgende Beispiel. Loeb führt an, dass zwei
verschiedene Arten von Würmern (Thysanozoon und Süsswasserplanarien)
sich anatomisch durch ihre verschiedene Ausstattung mit Ganglien,
physiologisch dadurch unterscheiden, dass das aborale Stück des minder
reich mit Ganglien ausgestatteten Thieres nach querer Durchschneidung
keine ProgressiA^iewegungen mehr macht, während das aborale Stück
des reicher mit Ganglien ausgestatteten Thieres solche Bewegungen noch
ausführt. Er bestreitet aber, dass diese Differenz auf dem Vorhanden-
sein von Ganglien beruhe. Denn Flusskrebse, denen man das Ober-
schlundganglion genommen habe, machten keine Progressivbewegungen
mehr, obwohl sie noch das Unterschlundganglion mit der venti-alen
Ganglienkette besässen. Es liegt mir fern, den Fortbestand der Pro-
gressivbeweguugen in jenem Falle aus der angedeuteten Construction
des Nervensystems erklären zu wollen; dazu bin ich nicht hinreichend
orientirt. Der gegentheilige Schluss von Loeb schlägt aber den Ge-
setzen der Logik in's Gesicht, denn er setzt das als gegeben voraus,
was erst bewiesen werden soll. Wenn das Oberschlundganglion — das
Gehirn — die Fähigkeit besitzt, Progressivbewegungen zu unterhalten,
derart dass diese mit seiner Zerstörung in Fortfall kommen, so scheint
der einzig mögliche Schluss der zu sein, dass eine gewisse Localisation
der Functionen schon beim Flusskrebs und zwar derart stattfindet, dass
das Oberschlundganglion andere Functionen besitzt als das Unterschlund-
ganglion, nicht aber der, dass das Vorhandensein von irgend welchen
nervösen Gebilden für das Zustandekommen von Progressivbewegungen
unwesentlich sei. Es müsste denn vorher die physiologische Gleich-
werthigkeit aller Nerven, mindestens aber des Ober- imd Unterschlund-
ganglions bewiesen worden sein.
Loeb's, den Unterschied zwischen Thier und Pflanze in den Reizbarkeitsver-
hältnissen möglichst zu verwischen und in vielen Fällen das Centralnerven-
system als etwas nahezu üeberflüssiges hinzustellen, hat neben anderen be-
denklichen Consequenzen auch die, dass Loeb bei seinen Erörterungen über
den Mechanismus phototactischer Reactionen in einem Augenblick von Wirkung
des Lichtes durch Vermittelung der Augen spricht, im nächsten Augenblick
sich aber so ausdrückt, als ob das Licht direct „spannungsändernd" einwirkt,
wie ein elektrischer Strom. Dafür fehlt jeder thatsächliche Anhalt.
— 144 —
Derartige Schlüsse, bei denen tlieils die Prämisse, tlieils die Fol-
gerung falsch ist, wiederholen sich in den Gedankengängen Loeb"s
fortwährend, sie kehren immer wieder und sie beeinflussen das endliche
Resultat der üeberlegungen um so mehr, als sich unaufhörlich unklare,
nicht zu Ende gedachte Vorstellungen in sie einmischen. Die Be-
hauptung, .dass durch Eingriffe in das Grosshirn die Spannung der
Extensoren herabgesetzt würde, deren vollkommene Haltlosigkeit ich
weiter oben nachgewiesen habe, kehrt z. ß. bei der Schilderung
des Verhaltens jenes Flusskrebses mit ausgeschaltetem Oberschlund-
ganglion wieder und bilde't in ihrer Nichtigkeit ein Glied in der Kette
der Beweise. Sobald eine Beweisführung nicht klappen will, erfahren
wir, dass es sich vielleicht oder wahrscheinlich um eine Hemmung oder
verschiedene Reizbarkeit oder dergleichen handelt. Wir erfahren aber
niemals, was Loeb sich denn unter einer solchen Hemmung vorstellt.
Für mich ist die physiologische Hemmung eine Function eines aus
Zellen und Fasern zusammengesetzten Regulationsmechanismus, welche
uns wie alle solche Functionen, ihrem inneren Wesen nach unbekannt
ist. Für Loeb giebt es aber nicht einmal Regulationsmechanismen,
woher kommt also dieser mystische deus ex machina?
Es kann unter diesen Umständen nicht Wunder nehmen, wenn die
segmentalen Ganglien für Loeb auch nur die Rolle eines protoplas-
matischen Leiters besitzen. Es scheint fast nothwendig, ihn darauf
aufmerksam zu machen, dass das Nervensystem der Planarien andere
Aufgaben hat als das der Krebse und dass die Aufgaben des mensch-
lichen Centralnervensystems sich auch noch in einigen Punkten von
denen des Centralnervensystems der Krebse unterscheiden. • —
Je höher hinauf wir in die Functionen des Centralnervensystems
einzudringen versuchen, um so mehr macht sich das Sprunghafte der
Hypothesen Loeb 's geltend. Wir erfahren, dass die Bewusstseinsvor-
gänge eine Function des Grosshirns sind und aus bewusstem Empfinden
und bewusstem Wollen bestehen. Dagegen sagt uns Loeb kein Wort
darüber, wie er sich, rein anatomisch und physiologisch betrachtet, die
Beziehungen der segmentalen Ganglien zu demjenigen Organ denkt,
in dem diese Bewusstseinsvorgänge sich abspielen. Ich bin weit davon
entfernt, etwas Unmögliches zu verlangen; da die Anatomie und Physi-
ologie der letzten Jahrzehnte aber bei der Mehrzahl der Forscher ganz
bestimmte Anschauungen gereift hat, welche Loeb nicht theilt, so war
es mindestens seine Aufgabe, an deren Stelle andere Anschauungen zu
setzen, welche der Summe der bisher bekannten Erfahrungen besser
entsprechen. So erfahren wir aber weder, welche Wege die centri-
petale Protection beschreitet, noch auf welche Weise und auf welchen
— 145 —
Wegen sie sich durch (bis „Wollen" in centrifugalo Projection umsetzt.
Lidessen liesse sich über die Paradoxen, in denen Loeb sich gefällt,
noch so sehr viel mehr sagen, als diese Lehre werth ist, dass ich es
vorziehe, mich auf die kurze Erörterung eines Punktes, der ßevvusst-
seinsfrage, zu beschränken.
Ich habe bereits angeführt, dass Loeb das ßewusstsein nur als eine
Function der associativen Gedächtnissthätigkeit auffasst und dass er
unter associativem Gedächtniss eine „Einrichtung versteht, durch welche
eine Reizursache nicht nur die ihrer Natur und der specifischen Structur
des reizbaren Gebildes entsprechenden Wirkungen hervorbringt, sondern
ausserdem auch noch solche Reizwirkungen anderer Ursachen, welche
früher einmal nahezu oder völlig, gleichzeitig mit jenem Reiz an den
Organismus angriffen."
Ich will jetzt dahingestellt sein lassen, ob das associative Ge-
dächtniss eine „Einrichtung" sein kann und ob jene Definition auch nur
äusserlich dasjenige deckt, was man unter associativem Gedächtniss
verstellt. Mehr interessiren uns die Beziehungen, in welche Loeb diese
höchste Function des menschlichen Gehirns, die er als associative Ge-
dächtnissthätigkeit bezeichnet und die man sonst noch, je nach dem
psychologischen Standpunkt, als ßewusstsein, Apperception, Geist, Seele,
Ich etc. benannt findet, zur Intelligenz bringt. „Was wir als Intelligenz
bezeichnen, ist bestimmt durch die Zahl der möglichen Gedächtniss-
bilder (die Capacität) und durch die Resonnanzfähigkeit. Der letztere
Umstand ist vielleicht der wesentlichere, so lange die Capacität nicht
unter den Durchschnitt sinkt. Der gescheidte Kopf unterscheidet sich
vom dummen Menschen u. a. durch die Leichtigkeit der Analyse resp.
Synthese der auftauchenden Empfindungscomplexe mittels des associa-
tiven Gedächtnisses; d. h. beim langsamen oder dummen Menschen
werden nur solche Gedächtnissbilder associativ hervorgerufen, die mit
dem erregenden Complex eine sehr weitgehende Uebereinstimmrfng
zeigen; während beim raschen Denker auch solche Gedächtnisscomplexe
associativ hervorgerufen werden, die mit dem erregenden Complexe
nur in einzelnen Elementen übereinstimmen" (S. 163).
Für mich ist das ßewusstsein etwas wesentlich anderes und ich
vermag als Kriterium für die grössere oder geringere Intelligenz das
Auftauchen einer grösseren oder geringeren Zahl von Gedächtnissbildem
nicht anzuerkennen. Indessen beruht ja die Psychologie zum grösseren
Theile auf Selbstbeobachtung und so mag es geschehen, dass Loeb bei
sich selbst das Nebeneinander einer nicht geringen Zahl von Gedächt-
nissbildern als die vorzüglichste Eigenschaft seiner Intelligenz schätzt.
Hitzig, Gesammelte Abhandl. II. Theil. 10
— 146 —
Mit dem Inhalte der hier besprochenen Arbeiten wäre diese Würdigung-
nicht ganz unvereinbar.
Da ich aber selbst nicht competent sein mag, so will ich mich
nicht auf die Anführung meiner eigenen Ansichten beschränken, son-
dern auch die meines verehrten Freundes und Collegen, des Professors
der Philosophie Riehl, hier anführen:
„Die Definition des „Bewusstseins" als einer Function des „asso-
ciativen Gedächtnisses" kann unmöglich als ausreichend gelten.
1. Kein „ürtheil" lässt sich als ein rein associativer Vorgang be-
schreiben; denn es handelt sich bei einem ürtheil niemals um blosse
Coexistenz oder Folge von Vorstellungen, sondern um Acte des Prädi-
cirens, Gleichsetzens und Sabsumirens, für welche Acte die Association
höchstens das Material liefern kann. Auch vermögen wir durch ür-
theilsacte Associationen, selbst die gewohntesten, zu trennen, Asso-
ciationen aufzulösen — z. B. im verneinenden Satze.
2. Für das Gedächtniss selbst ist „Association" zwar eine wesent-
liche, aber nicht die einzige Bedingung:
Es genügt nämlich nicht, dass „gleiche oder ähnliche Reizwir-
kungen" sich associativ wiederholen, um ein Gedächtnissurtheil zu er-
geben; sie müssen auch als gleiche oder ähnliche erkannt, d. h. auf
frühere eigene Erfahrung bewusst bezogen sein.
Sonst käme es nie zu mehr als einer gedankenlosen Reproduction
wie jener des Idioten, der die ganze Bibel auswendig hersagen konnte,
ohne des Sinnes der Worte sich bewusst zu sein. — Eine derartige
mechanische Wirkung der reinen Association wird Niemand als Kriterium
für Bewusstsein, geschweige als Maass der Intelligenz oder Urtheils-
fähigkeit betrachten wollen.
Sonach ist die Definition des Bewusstseins als associativen Ge-
dächtniss-Zusammenhanges ganz unvollständig und betrifft nur eine
Betiingung desselben,
3. Es ist falsch, in der Fähigkeit des Erlernens, d. i. fortschrei-
tender Anpassung und Umbildung der Reactionsweise ein ausschliess-
liches Merkmal für bewusste Thätigkeit zu erblicken. Diese Fähigkeit
ist vielmehr eine Eigenschaft der centralen Substanz im Allgemeinen;
sie entwickelt sich auch ohne Bethätigung von Bewusstsein." —
„Das associative Gedächtniss setzt — nach Loeb — bestimmte
maschinelle Vorrichtungen voraus, die einstweilen noch unbekannt sind
und deren Ermittelung das Hauptproblem der modernen Gehirnphysio-
logie ist." (S. 162.) Also die materiellen Grundlagen des associativen
Gedächtnisses, also auch des Bewusstseins, sind Loeb unbekannt, aber
das Bewusstsein selbst bedarf für ihn keiner psychologischen Erklärung.
— 147 —
Er hält „den Gedächtnissvorgang für einen rein physikalischen Vorgang
und eine psychologische Deutung desselben ebensowenig für nöthig,
wie eine psychologische Deutung des Phonographen nöthig ist." Wir
wären damit ja plötzlich zu einer einfachen Lösung diesem schwierigsten
aller Probleme gelangt und die Physiologie brauchte sich eigentlich
gar nicht weiter mit der Auffindung des für den Bewusstseinsvorgang
■erforderlichen Mechanismus zu bemühen. Loeb hätte nur noch zu
sagen, weshalb dieser Vorgang jetzt ein „rein physikalischer" und nicht
ei]i chemischer ist, wie er an den meisten Stellen seiner citirten Arbeit
sagt und wie dieser physikalische Vorgang eigentlich beschaffen ist.
Ich selbst hatte am Schlüsse meiner Arbeit „Ueber die elektrische
Erregbarkeit des Grosshirns" gesagt, „dass keineswegs, wie Flourens
und die Meisten nach ihm meinten, die Seele eine Art Gesammtfunction
des Grosshirns ist, deren Ausdruck man wohl im Ganzen, aber nicht
in seinen einzelnen Theilen durch mechanische Mittel aufzuheben ver-
mag, sondern dass Aäelmehr sicher einzelne Functionen,
wahrscheinlich alle, zu ihrem Eintritt in die Materie oder
zur Entstehung aus derselben auf circumscripte Centra der
Grosshirnrinde angewiesen sind." Wenn ich hierin eine Alter-
native zwischen der Möglichkeit des Eintrittes seelischer Functionen in
die Materie und ihrer Entstehung aus derselben zugelassen hatte, so
habe ich damit lediglich meiner Abneigung, mich bei der Lösung phy-
siologischer Probleme in das Gebiet der Psychologie zu verirren, Aus-
druck geben wollen, einer Abneigung, welche sich noch schärfer präci-
sirt am Schlüsse der Einleitung zu meinem Buche „Untersuchungen
über das Gehirn" in dem Satze ausgedrückt findet: „Unserer Beschäf-
tigung mit den nächsten körperlichen Verrichtungen dieser Organe
wolle der Leser seine wohlwollende Theilnahme schenken. Betrach-
tungen, ob das darüber schwebende die unsterbliche Seele oder eine,
auch anderer Erscheinungsweisen fähige Naturkraft sei, überlassen wir
Anderen."
Loeb hat es gleichwohl für nöthig gefunden, die Vorstellung, dass
seelische Functionen in die Materie eintreten oder aus ihr entstehen,
für „so ungeheuerlich zu erklären, dass sie sich der wissenschaftlichen
Discussion entziehe." Ich bin mit Bezug auf Loeb's Vorstellungen in-
sofern weniger unfreundlich gewesen, als ich einen recht grossen Theil
von ihnen einer ernsthaften Discussion unterzogen habe, obwohl sie das
von ihm gewählte Prädicat vielleicht eher verdienten als die meinigen.
Auch könnte ich mich gegen die Invective Loeb's mit dem Hinweis auf die
oben gegebene Begründung begnügen. Sie istin ihrer selbstbewussten Fassung
aber geeignet, bei einzelnen Lesern den Anschein zu erwecken, als ob ich
10*
— 148 —
aus Mangel an Sachkeiintniss und Verständuiss eine absolute Absurdität
gesagt hätte. Ich halte es deshalb für richtig, die aus der gleichen
Periode herrührenden Worte eines Forschers zu citiren. in denen etwa
2 — 3 Jahre später diese ungeheuerlichen Vorstellungen und zwar ge-
rade vom Standpunkte des Physiologen aus discutirt werden. Es han-
delt sich um Niemand anders als um Emil du Bois-Reymondi).
Dieser Forscher wirft zunächst die Frage auf, ,,ob nicht Bewusstseiu
einfach als Wirkung der Materie gedacht und vielleicht begriffen w^erden
könne'" und er sagt dann weiter: „Ob wir die geistigen Vorgänge aus
materiellen Dingen je begreifen werden, ist eine Frage ganz verschieden
von der, ob diese Vorgänge das Erzeugniss materieller Bedingungen
sind. Jene Frage kann verneint werden, ohne dass über diese etwas
ausgemacht, geschweige auch sie verneint würde.'' — —
„Man erinnert sich des kecken Ausspruches Herrn Karl Vogt's:
„Dass alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen Seelenthätigkeit
begreifen, nur Functionen des Gehirns sind, um es einigermaassen grob
auszudrücken, dass die Gedanken etwa in deüiselben Verhältniss zum
Gehirn stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nie-
ren." „Auch das ist an dem Vogt'schen Ausspruch schwerlich zu
fedeln, dass darin die Seelenthätigkeit als Erzeugniss der materiellen
Bedingungen im Gehirn dargestellt wird."
Man sieht, Emil du Bois-Reymond discutirt nicht nur die eine
der von mir gestellten Alternativen, sondern er ist auch nicht geneigt
die ihr zu Grunde liegende Anschauung zu tadeln, obwohl ich dieser
nicht die von Karl Vogt beliebte Form gegeben habe, noch gegeben
haben würde. Ich finde, ebenso gut wie du Bois-Reymond hätte auch
Loeb sich zur Discussion dieser Frage herbeilassen können. Indessen
mag er sich durch die Ueberzeugung, dass das Bewusstsein ebenso wenig
wie der Phonograph einer psychologischen Erklärung bedürfe, davon
haben abhalten lassen. So ist es vielleicht nicht unnütz, ihn auf das-
jenige aufnierksam zu machen, was du Bois-Reymond in dieser Be-
ziehung sagt: „Was aber die geistigen Vorgänge selber betrifft, so zeigt
sich, dass sie bei astronomischer Kenntniss des Seelenorganes uns ganz
ebenso unbegreiflich wären, wie jetzt. Im Besitze dieser Kenntniss ständen
wir vor ihnen wie heute, als vor einem gänzlich Unvermittelten. — —
Durch keine zu ersinnende Anordnung oder Bewegung materieller
Theilchen aber lässt sich eine Brücke in"s Bereich des Bewusstseins
schlagen."
1) E. du Bois-Reymond, Ueber die Grenzen des Naturerkennens.
Leipzig 1892.
— 149 —
Diese Rede des grossen Physiologen fällt ;ibcr in eine um ein
Mensclienalter zurückliegende Epoche; seit jener Zeit ist unendlich viel
über das Bewusstsein geschrieben und das „ignorabimus" du Bois-
Reyniond's mit scharfen Waffen angegriffen worden. Vielleicht hat
sich der Standpunkt der Wissenschaft, seitdem ich jene Worte schrieb,
gänzlich verändert. Zwar würde hieraus kein Vorwurf für mich abzu-
leiten sein, immerhin lohnt es sich, die Ansicht eines zeitgenössischen
Philosophen — wieder die des Herrn Riehl — über die Bemerkungen
Loeb's zu hören:
„Dass seelische Functionen zu ihrem Eintritt in die Materie oder
zur Entstehung aus derselben auf circumscripte Centren angewiesen sind"
(Hitzig), ist keineswegs eine „ungeheuerliche" Vorstellung. Nur wer
diese Ausdrucksweise missverstehen, missdeuten will, kann sie in so
bequemer Weise „der wissenschaftlichen Discussion" entziehen.
Es ist damit sicher nicht behauptet, dass seelische Functionen an
sich nicht existiren, ehe sie in die Materie „eintreten" oder ausser-
halb der physiologischen Vorgänge, die ihr Substrat bilden, vorhanden
sein könnten, nachdem sie entstanden sind. Es heisst vielmehr einfach:
ehe bestimmte circumscripte Centren erregt sind, tritt keine seelische
(oder treten wenigstens gewisse seelische) Functionen nicht ein: mit der
Erregung jener Centren aber sind sie entstanden und bleiben an die
Erregung und deren Folgen in ihrem weiteren Verlaufe gebunden.
Dennoch besteht m. E. zwischen den materiellen Grundlagen der be-
wussten Functionen und diesen selbst eine Abhängigkeit besonderer Art,
welche mit der Abhängigkeit der physischen Vorgänge unter sich keine
genaue Analogie besitzt.
Ich gebe zu, dass die fragliche Beziehung mit dem gebräuchlichen
Ausdruck: psychophysischer Parallelismus schlecht, ja eigentlich unrich-
tig gekennzeichnet ist und ziehe dafür den Ausdruck psychophysische
Correspondenz vor.
Demnach entspricht einem bestimmten Bewusstseinsvorgang nur ein
bestimmter physiologischer Vorgang im Centralnervensystem — mit an-
deren Worten zu jedem beliebigen Bewusstseinsvorgang gehört nur ein
psychophysischer Process.
Warum auf diese Abhängigkeit nicht die Beziehung von Ursache
und Wirkung anwendbar erscheint, sie vielmehr als eine Abhängigkeit
sui generis anzusprechen ist, ergiebt sich für mich wesentlich aus den
folgenden beiden Gründen:
1. Zwischen dem Bewusstseinsvorgang und dem correspoudirenden
psychophysischen Process besteht nicht (wie bei jedem Causalverhält-
nisse) zeitliche Folge, sondern Gleichzeitigkeit.
— 150 —
Der Bewusstseinsvorgang entwickelt sich nicht aus dem zugehörigen
physiologischen Process; ist dieser gegeben, so ist auch jener vollstän-
dig mitgegeben.
2. Weil bei allen physischen Zustandsänderungen die Summe der
Energie constant bleibt, können diese Aenderungen nur in der Wirksam-
keit physischer Ursachen ihren Grund haben und auch die Folgen sol-
cher Aenderungen können immer wieder nur physische sein.
So oft „Bewegung" verschwindet, sehen wir Wärme (oder eine ihr
äquivalente Energieform) entstehen: wenn Wärme verschwindet, tritt
Bewegung von einem bestimmten Betrage an ihre Stelle. Bewegung
hat sich in Wärme, Wärme in Bewegung verwandelt. Aber wir können
nicht in demselben Sinne sagen: eine chemische Umsetzung im Ge-
hirn hat sich in Bewusstsein verw^andelt, oder Bewusstsein verwandelt
sich, indem es verschwindet, in chemische Umsetzung. Denn der che-
mische Process im Gehirn nimmt nicht ab, wenn Bewusstsein entsteht;
er nimmt nicht zu, wenn Bewusstsein latent wird. Er ist der Träger
des bewussten Vorgangs und dieser „begleitet" ihn während seines
Verlaufes.
Ich betrachte demnach eine Bewusstseinsfunction als den nicht-
physischen Theil (die subjective Seite) des zugehörigen physiologischen
Vorganges. Oder um es allgemein auszudrücken: Die Welt ist nur
Einmal da; aber sie ist dem objectiven (auf die äusseren Dinge be-
zogenen) Bewusstsein als Zusammenhang quantitativer physischer
Vorgänge und Dinge gegeben, während ein Theil derselben Welt einem
bestimmten organischen Individuum als seine, bewussten Functionen
und deren Zusammenhang gegeben ist.
Ich vermag das Bewusstsein nicht als solches in die lückenlose
Verkettung der physischen Vorgänge eingeschaltet zu denken: weil der
Standpunkt der subjectiven Erfahrung nicht gleichzeitig auch der
Standpunkt der objectiven sein kann."
Ich bin zwar nicht überall der Ansicht meines verehrten CoUegen;
denn die Gründe, aus denen er negirt, dass das Abhängigkeitsverhält-
niss des Bewusstseinsvorganges von dem physischen ein causales sei,
erscheinen mir weder beweisbar, noch entscheidend. Indessen kommt
es nicht hierauf, sondern nur darauf an zu zeigen, dass die von Loeb
beliebte Verketzerung wohl seiner Sinnesart, aber nicht dem thatsäch-
lichen Sachverhalt entspricht.
Auf die Sache selbst näher einzugehen, mnss ich mir versagen,
weil ich psychologischen Erörterungen überhaupt abhold bin, sie sind
nicht meine Sache. Ausserdem lehrt aber ein Blick in die neueste ein-
— 151 —
sclilägige Literatur, wie scliwaiikeud die B(;griife iiiul Vorstollimgeii sind,
mit denen diese Wissenschaft heute noch arbeitet.
Ein Beispiel: Jenem psychophysisclien Paralielismus , den wir so-
eben von Seiten Riehl's als psychophysische Correspondenz bezeich-
net, aber seinem Wesen nach acceptirt sahen, bestreitet von Kries in
"der angeführten Rede das ihm u. a. auch von Mach beigemessene In-
teresse. Mir scheint, dass er vielleicht zu einem anderen Resultat ge-
kommen wäre, wenn er der Ueberlegung Raum gegeben hätte, dass
einem physisch Aehnlichen auch nur psychisch Aehnliches ent-
sprechen kann. Die gleiche Rede erörtert ferner in scharfsinniger Weise
die Unzulänglichkeit der verschiedenen, über die materiellen Grund-
lagen der Bewusstseinsörscheinungen aufgestellten Theorien. Wenn ich'-
auch hier wieder dem Verfasser in vielen Dingen zustimme, so glaube
ich doch, dass er selbst zu einem anderen Resultate gekommen sein
würde, wenn er in seiner Betrachtungsweise weniger ausschliesslich ge-
wesen wäre und die Möglichkeit des Zusammenwirkens der verschie-
denen von ihm analysirten Principien in's Auge gefasst hätte.
Wir sehen also, dass die wissenschaftliche Welt im Augenblick
noch um die Erforschung der ersten Elemente, welche zur Ergründung
der Bewusstseinserscheinungen dienlich sein können, kämpft. Mag daher
jenes „ignorabimus" für die Zukunft anfechtbar sein oder nicht, jeden-
falls sollte die Gegenwart bescheidenerweise noch sagen: ignoramus.
IV. Schhissbetrachtimgeu.
üeber meine eigene Auffassung der cerebralen, insbesondere der
corticalen Vorgänge bleibt mir nach dem bisher Gesagten kaum noch
etwas anzuführen und wenn es geschieht, so verfolge ich damit vor-
nehmlich den Zweck, eine Anzahl der überaus zahlreichen Lücken zu
zeigen, welche unsere Kenntnisse von den Functionen jener Organe noch
aufweisen und deren Ausfüllung, soweit es mir vergönnt ist, meine
nächste Aufgabe sein soll.
Die Frage der Localisation halte ich in dem Grade für
entschieden, dass mir ihre fernere experimentelle Be-
gründung, soweit das Princip in Frage kommt, nicht er-
forderlich scheint. Dagegen bleibt im Einzelnen, selbst auf
denjenigen Gebieten, welche den Gegenstand der vor-
liegenden Abhandlung ausmachen, — die sensomotorische
und die visuelle Function — noch sehr viel zu thun. Von
der Localisation der anderen Sinne schweige ich auch hier
152 —
Auf der motorischen Seite ist die Richtigkeit der von
mir aufgestellten Lehre von der Localisation der einzelnen
Muskeln und Bewegungsformen auf bestimmte Gyri gegen-
über der Anschauungsweise, namentlich der italienischen
Forscher, durch anderweitige Untersuchungen zu erweisen.
Die Bedeutung des Stirnlappens und die centrale Re-
präsentation der Rumpfmuskulatur sind über allen Zweifel
festzustellen.
Wenn es schon Lücken in unseren Kenntnissen über die.
Bedeutung der corticalen Innervation für die Extremitäten
giebt, so sind unsere Anschauungen über die Bedeutung der
anderen corticalen Gebiete, z. B. desje'nigen des Facialis,
noch viel weniger geklärt. Auch hier sind nach neuen Me-
thoden anzustellende Untersuchungen erforderlich.
Die sensiblen Functionen erleiden sicherlich durch Ein-
griffe in die motorische Zone eine je nach der Grösse des
Eingriffs mehr oder minder schwere Schädigung. Es ist
wahrscheinlich, dass diese Zone zur Bildung der Gefühls-
vorstellungen benutzt wird, aber nicht wahrscheinlich, dass
sie die einzige Region ist, welche diesem Zwecke dient.
Die Restitution der motorischen und sensiblen Func-
tionen ist niemals vollständig. Im Princip müssen immer
irgend welche Störungen zurückbleiben, auch wenn die
Methode oder die Geschicklichkeit des Untersuchers zu ihrer
Auffindung nicht hinreicht. Nach grossen und namentlich
doppelseitigen Ausschaltungen sind residuale Symptome
aber unschwer nachzuweisen. Die Restitution beruht also
zum Theil auf dem Verschwinden der Nflchbarschaf ts-
symptome, zum Theil (vielleicht) auf der Erstarkung der
zweiten Hemisphäre, zum Theil auf Bahnung und Erstarkung
im Gebiete der Haubenbahn.
Die Hemmung spielt nach Eingriffen in die motorische
Zone wahrscheinlich nur insofern eine Rolle, als durch sie
vorübergehend nicht direkt geschädigte, sensible subcorti-
cale Centren ausser Function gesetzt werden. Ebensowohl
wie diese können aber auch andere Endstätten centripetaler
Nerven, mindestens diejenigen des Opticus durch so locali"
,sifte Eingriffe vorübergehend in ihrer Function gehemmt
werden. Die Bedingungen dieser Art von Fernewirkung, ihre
Stellung im cerebralen Mechanismus und ihre Bedeutung
mi^issen durch neue Versuche erst noch festgestellt werden.
— 153 —
Nicht anders wie für die motorische liegen die Dinge für
die Sehregion. Es ist sicher, dass sie zum Sehen in directen
Beziehungen steht, aber welches diese Beziehungen sind und
insbesondere wie sie sich örtlich gestalten, ist für den Hund
jedenfalls noch dunkel. Sicher ist auch hier für die Seh-
sphäre, dass Eingriffe in dieselbe zu Hemmungen subcorti-
cale'r, zu dem Sehen in Beziehung stehender Organe führen
können. Aber auch hier ist eine sichere Abgrenzung der
directen corticalen von der indirecten subcorticalen Schädi-
gung noch nicht gelungen.
Für die sensomotorische Seite ist im höchsten Grade
wahrscheinlich gemacht, — vergleiche meine Arbeit über
den Schwindel^) — dass in den subcorticalen, vornehmlich
spinalen und cerebellaren, vielleicht auch Centren des Mit-
telhirns eine allmählige fortschreitende Verknüpfung und
Ausarbeitung der Bewegung und gewisser zugehöriger Em-
pfindungen stattfindet, deren Endresultat in der Formation
von Bewegungsvorstellungen niederer Ordnung besteht,
welche A^on dem Bewusstsein durch Vermittelung der zuge-
hörigen corticalen Regionen als Bewegungsvorstellungen im
Ganzen appercipirt werden, ohne dass diesen ein Eindringen
in die Einzelheiten der subcorticalen Vorgänge gegeben wäre.
Hiernach und nach Allem, was wir sonst über die sensi-
blen und sensuellen Eigenschaften des Centraluervensystems
wissen, ist es gleicherweise wahrscheinlich, dass auch die
anderen von den Sinnesorganen aufgenommenen Bewe-
gungsvorgänge der Aussenwelt subcortical verknüpft und
ausgearbeitet werden, um endlich cortical in ihrem Ganzen
zur Apperception zu gelangen, ohne dass dem Bewusstsein
das Eindringen oder die Analyse jener vorbereitenden Pro-
cesse gestattet wäre.
Meine Auffassung unterscheidet sich sonach von der ihr
am nächsten stehenden Munk's im Wesentlichen dadurch,
dass ich keine „Fühl-, Seh-, Hör- oder ähnliche Sphären",
sondern nur Vorstellungs- oder Bewusstseinssphären kenne,
und dass ich in diesen nicht, wie Munk, die Gefühle, sondern
nur die Gefühlsvorstellungen ebenso wie alle anderen Vor-
stellungen localisire.
1) E. Hitzig, Der Schwindel. Nothnagel's Specielle Pathologie und
Therapie. Bd. XII. 2. Wien 1898.
154
Es ist ersichtlich, dass jeder Fortschritt auf diesem Ge-
biete, dafern er durch wirklich naturwissenschaftliche Me-
thoden gewonnen, irgend eine Thatsache sicher feststellt,
unserer psychologischen Erkenntniss zu Gute kommen, mit
einem Worte dem Fortschritt unserer Einsicht in das Wesen
der Bewusstseinserscheinungen dienen muss. Ich habe von
jeher hierin den grössten Werth der von mir und anderen aus
diesem Gebiete gefundenen Thatsachen erblickt und ich bin
glücklich, dass es mir im Verein mit meinem Freunde Fritsch
beschieden war, diesen Weg zuerst zu betreten. Aber es hat
mir genügt und wird mir genügen, den Philosophen einen
Theil desjenigen Materials zu liefern, mit dem sie ihr Lehr-
gebäude aufzubauen haben; ich selbst gedenke auch ferner-
hin nicht, mich mit der Ergründung des Psychologischen, in-
soweit es jenseits der vorstehend gezogenen Grenzen liegt,
zu beschäftigen.
IV. Ueber die Beziehungen der Rinde und der subcorticalen
(janglien zum Seliact des Hundes.
Vorbemerkungen.
Bei den älteren der in diesen Abhandlungen referirten Versuche war
das antiseptische Verfahren derart in Anwendung gebracht worden, dass
die Wunden mit schwachen Karbol- oder Sublimatlösuugen vor ihrer
Vereinigung durch die Naht behandelt wurden. Bei einer grösseren
Anzahl dieser Versuche wurden solche Lösungen jedoch nach Eröffnung
des Duralsackes fortgelassen. Ein Unterschied zwischen den Resultaten
der einen und der anderen Reihe dieser Versuche war zwar nicht zu
bemerken; gleichwohl wurde in allen späteren Versuchen ausschliesslich
das aseptische Verfahren angewendet, und die durch Knopfnähte sorg-
fältig verschlossene Wunde mit Jodoformkollodium überpinselt. Die
Heilung erfolgte unter diesen Umständen so gut wie ausnahmslos per
primam intentionem; nur mauchmal kam es zu einer unerheblichen auf
die Haut des unteren Wundwinkels beschränkten, das Gehirn nicht in
Mitleidenschaft ziehenden Eiterung. Immerhin gab es auch einige Fälle
von copiöser Eiterung der ganzen Wmidhöhle. Wo solche Versuche
benutzt werden, bei denen nicht alles glatt ablief, ist dies ausdrück-
lich erwähnt.
Die Ergebnisse der Sectionen wurden, insoweit sie nicht, wie bei
den späteren Versuchen, photographisch fixirt werden konnten, in vor-
handene Schemata eingetragen. Da keine Convexität des Hundegehirns
einer anderen vollkommen gleich ist, können diese Eintragungen, wie
ich ausdrücklich hervorhebe, nur ein ganz ungefähres Bild von dem Ort
— 156 —
und der Grösse der operativ erzeugten Veränderungen geben. Auch
die in den späteren Abtlieilungen dieser Abliandlung reproducirten
Photograpliien geben kein getreues Bild der ursprünglich angerichteten
Zerstörungen wieder. Auf den Abbildungen der Convexität pflegt die
narbige Auflagerung sich auf solche Nachbartheile zu erstrecken, welche
bei der Operation bestimmt geschont worden sind. Andererseits zeigen
die Querschnitte an solchen Stellen intacte oder nur wenig veränderte
Hirnsubstanz, an denen durch Entfernung eines compacten Stückes Ge-
hirn mit aller Sicherheit eine tiefe Grube gegraben worden ist. Diese
Erfahrungen erklären sich einfach dadurch, dass die Nachbartheile sich
in die Lücke hineinlegen, während gleichzeitig die von der exstirpirten
Stelle ausgehenden Bahnen atrophiren. Ich möchte dies ausdrücklich
hervorheben, um solchen Einwendungen, die sich auf eine scheinbare
Unähnlichkeit zwischen dem Berichte über die Operation und der Ab-
bildung stützen möchten, zu begegnen. —
Die Untersuchung des Sehvermögens wurde bei deii nachstehend
benutzten Versuchen regelmässig in der Schwebe vorgenommen. Ausser-
dem wurden die auf diese Weise gewonnenen Resultate aber in zahl-
reichen Fällen derart controlirt, dass der auf einem Tische befindliche
Hund durch eine Schüssel Gemüse oder in anderer Weise beschäftigt
und sein Gesichtsfeld während dieser Zeit mit einem kleinen Stück
Fleisch in der früher beschriebenen Weise abgesucht wurde. In geeig-
neten Fällen wurde der auf den Hinterbeinen stehende Hund zwischen
den Knieen fixirt und in der erwähnten Weise untersucht, oder es wur-
den ihm Fleischstücke vorgeworfen, während er mit einseitig verbun-
denem Auge frei umherlief. —
Ich bin bei diesen Versuchen der Reihe nach von verschiedenen
meiner Assistenten unterstützt worden; vornehmlich bin ich aber meinem
z. Assistenten Herrn Dr. Kalberiah zu besonderem Danke verpflichtet,
insofern derselbe mir bei ca. 80 Versuchen assistirte, die Krankenge-
schichten niederschrieb und zahlreiche Zeichnungen und Photographien
für mich anfertigte.
Unter den verschiedenen Streitfragen, die ich in der vorstehenden
Abhandlung berührt habe, sticht vornehmlich eine durch ihre princi-
pielle Wichtigkeit hervor. Ich rede von der Localisation des Seh-
vermögens.
Die historische Seite dieser Frage, die Entwicklung, welche sie im
Laufe der Jahre genommen hat und den zeitigen Standpunkt, von dem
— 157 —
eine Anzahl hervorragender Forscher sie zur Zeit betrachten , habe ich
in grossen Zügen dargelegt, so dass ich darauf im Einzelnen hier nicht
zurückzukommen brauche. Ich recapitulire nur kurz, dass es nach der
Ansicht von Munk nur eine, auch beim Hunde scharf abgegrenzte Seh-
sphäre im Hinterhauptslappen derart giebt, dass Sehstörungen nur durch
Eingriffe in diese Sehsphäre entstehen, während solche Sehstörungen
nach den Angaben zahlreicher anderer Autoren auch nach Eingriffen
in gewisse andere' oder alle anderen Regionen der Convexität zu Stande
kommen.
In rein thatsächlicher Beziehung hat insofern eine Annähei'ung
der einzelnen Lager stattgefunden, als alle Autoren, sogar Goltz und
Loeb, die schärfsten Gegner Munk 's, dem Hinterhauptslappen beson-
dere oder besonders nahe Beziehungen zu dem Sehacte zugestehen;
aber hiermit hat die Uebereinstimmung auch ihr Ende gefunden. Nach
Munk findet eine Projection der Retina auf die Sehsphäre derart statt,
dass eine verschiedene Localisation jedes Eingriffes in die letztere auch
verschiedene Theile der Retina dauernd ausser Function setzt, so dass auf
diese Weise ganz verschieden geartete Skotome zu Stande kommen, während
die Gegner Munk's, insoweit sie sich genauer über diese Frage aus-
sprechen, darin übereinstimmen, dass jede durch corticale Läsionen
veranlasste Sehstörung einen hemianopischen Charakter an sich trage.
Im Ferneren besteht Munk auf der Ansicht, dass jede so erzeugte Seli-
störung unmittelbar aus der Störung der entsprechenden Rindenelemente
resultire, während Goltz mit seiner Schule keine solche Sehstörung
direct aus der Verletzung der Rinde, sondern indirect aus einer Hem-
mung der Function der subcorticalen Ganglien entstehen lässt. Die
Forscher der italienischen Schule endlich beziehen zwar ähnlich wie
Munk jede so hervorgebrachte Sehstörung direct auf die Rinde, aber
sie gestehen die Eigenschaft, Sehstörungen hervorzubringen, wie bereits
erwähnt, nicht nur der Sehsphäre, sondern der ganzen Convexität oder
doch einem grossen Theile derselben zu.
Die am Menschen gemachten Erfahrungen über corticale Sehstö-
rungen sind bei diesen physiologischen Untersuchungen am Hunde mit
Recht gänzlich bei Seite gelassen worden. Denn die Betheiligung der
Rinde beim Sehact vollzieht sich, wie gerade diese Erfahrungen lehren,
beim Menschen sicherlich unter ganz anderen Formen. Aber gerade
diese Verschiedenheit wird, wenn erst einmal die Thatsachen sicher-
gestellt und zutreffend erklärt sind;, weitergehende Schlüsse auf den
Mechanismus des Sehens und auf dessen Rolle in dem cerebralen Mecha-
nismus überhaupt gestatten.
— 158 —
Abgesehen davon ist die Frage von höclistem principiellen Inter-
esse für die Theorie der Localisation und der Vorstellungen von den
corticalen Vorgängen im Allgemeinen, ob die einzelneu Functionen thatsäch-
lich auf mehr oder minder umschriebene Rindengebiete derart angewiesen
sind, dass jede einzelne derselben, insoweit sie zum Bewusstsein kommt,
an die Existenz des ihr zugehörigen Rindengebietes gebunden ist, oder
ob eine Vermischung der die einzelnen Rindenfuuctionen tragenden Ele-
mente auf weiten Flächen derart stattfindet, dass die Function einer
bestimmten ausgeschalteten Region von einer andern weit entfernten
Region übernommen werden kann.
Sicherlich lässt sich von vornherein nicht verkennen, dass es sehr
schwierig sein würde, sich eine annehmbare anatomische Vorstellung
von einer solchen Anordnung der corticalen Elemente und der zuge-
hörigen Leitungsbahnen zu bilden, bei der ein Gebiet, welches nach-
weislich jedenfalls in sehr ausgesprochenen Beziehungen zur Bewegung
steht, gleichzeitig zur bowussten Vermittelung des Sehactes befähigt
sein soll. Indessen können derartige aprioristische Schwierigkeiten für
unser Urtheil nicht bestimmend sein: wie überall hat auch hier der
Versuch zu entscheiden.
Hiernach werden folgende Fragen zu lösen sein:
1. Entstehen corticale Sehstörungen thatsächlich nur
durch Eingriffe in die von Munk sogenannte Sehsphäre oder
können sie auch durch Eingriffe in andere corticale Gebiete
hervorgebracht werden und welches sind diese Gebiete?
2. Welcher Art sind die durch corticale Läsionen her-
vorgebrachten Sehstörungen, sind sie hemianopischer Natur
oder nicht, insbesondere entsprechen sie den Lehren Munk's?
3. Sind diese Sehstörungen sämmtlich oder zum Theil
direct auf die Verletzung der Rinde zu beziehen, oder ent-
stehen sie sämmtlich oder zum Theil durch Vermittelung der
subcorticalen Gebilde?
L Die Beziehungen einzelner Regionen der Hirnrinde zur
Hervorbringung von Sehstörungen.
Die vordere Grenze der Sehspliäre ist nach Munk^) „scharf
charakterisirt 1. durch ihre Lage vor dem Balkenwulste; 2. durch das
ungefähr dreieckige, etwas mehr lange als breite Stück, welches sie,
1) n. Munlc, Gesammelte Mittheilungen. 1890. S. 247.
— 159 —
in Verbindung mit dem vorderen Ende der lateralen Grenze der Seh-
sphäre, von der dritten Windung abschneidet; 3. dadurch, dass ihre
Fig. 15. A A-^ Sehsphäre, B B-,^ Hörsphäre, G. Ohrregion nach Munk.
Verlängerung lateralwärts auf den am weitesten nach hinten gelegenen
Punkt der die vierte Windung abschliessenden Furche stösst oder dicht
vor oder hinter diesen Punkt fällt." Die genaue Richtigkeit dieser Grenz-
linie hat Munk^) von Monakow gegenüber in einer aus dem Jahre
1890 herrührenden Anmerkung zu seiner 16. Mittheilung und ferner
Luciani gegenüber in einer seiner letzten Mittheilungen 2) nachdrück-
lich aufrecht erhalten. An der zuletzt erwähnten Stelle führt er an,
dass ihm neuerdings vorgenommene kleinere Exstirpationen, wenn sie
selbst mit ihrer hinteren Grenze jene Grenze seiner Sehsphäre berühr-
ten, keine Sehstörungen ergaben, dass sie aber, sobald sie um etwas
weiter nach hinten reichten, Sehstörungen zur Folge hatten.
Gegen die in dem letzten Satze scharf charakterisirie Lehre von
Munk sind nun, wie mehrfach erörtert, zahlreiche Forscher aufgetreten.
Vor Allem waren es Goltz und seine Schüler, vornehmlich Loeb, welche
behaupteten, dass Sehstörungen von allen Theilen der Convexität aus
hervorzubringen seien; ja, der letztgenannte Autor wollte sogar gefun-
den haben, dass die allerschwersten Sehstörungen gerade durch Exstir-
pationen des vorderen Poles der Hemisphäre entstünden. Munk hat
sich gegen diese Angriffe sehr energisch gewehrt und da ich selbst
in meiner vorigen Abhandlung nachgewiesen habe, aus welchen Grün-
den die Angaben dieser Autoren für die uns jetzt beschäftigende Frage
1) Ebenda S. 314.
2) H. Munk, Ueber die Ausdehnung der Sinnessphären in der Gross-
hrnrinde, Sitzungsberichte 1899. LH. S. 6 f.
— 160 —
nicht zu verwertlieu sind, so komme ich hier nicht noch einmal darauf
zurück.
Gegen die Angriffe von Luciani und Sepilli hat Munk sich
gleichfalls nicht ohne Berechtigung vertheidigfi). Er bemängelt die
Operationsmethoden dieser Autoren, insbesondere wohl die Ausfüllung
der Hirnwunde mit karbolisirten Schwammstückchen, ihre Offenhaltung
und ihre Behandlung mit Karbollösungen während der Wundheilung.
Ich selbst 2) hatte angegeben, dass man nach Exstirpation des Stirn-
lappens neben allerhand motorischen Störungen auch Sehstörungen beob-
achten kann. Munk 3) hat' dagegen bemerkt, „dass lediglich unbrauch-
bare Versuche vorlagen, bei welchen die Hemisphäre weit über den
Stirnlappeu hinaus angegriffen W'ar." Es ist richtig, dass die Läsion
sich bei diesen Fällen über den Stirnlappen hinaus erstreckte. Sie
erstreckte sich jedoch nur auf den Gyrus sigmoides und dessen laterale
und basale Nachbarschaft, so dass ihre mangelhafte Localisation nichts
destoweniger nicht das Geringste im Sinne Munk's beweisen würde.
Gleichwohl gebe ich diese Versuche, eben da sie nicht genau localisirt
waren, Herrn Munk sehr gern preis.
Exner und Paneth*) haben endlich an 6 Hunden Exstirpationen
im Bereiche des Gyrus sigmoides ausgeführt, „und in fünf dieser Fälle
Sehstörungen beobachtet, welche bis zu vier Wochen anhielten." In
keinem war durch Obduction irgend eine Abnormität in der hinteren
Hälfte der Gehirnconvexität oder ihrer Häute nachweisbar, noch irgend
eine Veränderung an der Basis u. dergl., welche eine Erklärung der
Sehstörung abgeben könnte. Ferner beobachteten diese Autoren in 6
anderen Versuchen, bei welchen durch eine nicht beschriebene Operation
der Gyrus sigmoides und seine nächste Umgebung schwer geschädigt
wurde, jedesmal Sehstörungen, welche bis zu 5 Wochen anhielten. „Die
Heilung war in der grössten Mehrzahl der Fälle per primam intentio-
neni erfolgt." „Zwei weitere Hunde, denen das Rindenfeld des Facialis
einseitig exstirpirt war, zeigten keine Sehstörungen."
Ich sehe nicht, dass Munk diese Versuche irgendwie bemängelt
1) H. Munk, Ueber die Ausdehnung der Sinnessphären in der Gross-
hirnrinde. Sitzungsberichte 1899. LH. S. 3.
2) E. Hitzig, Zur Physiologie des Grosshirns. Archiv für Psychiatrie.
Bd. 15. S. 271.
3) H. Munk. Ueber die Ausdehnung der Sinnessphären. Sitzungsberichte
1900. XXXVl. S. If.
4) Exner und Paneth, Ueber Sehstörungen nach Operationen im Be-
reich des Vorderhirns. Pflüser's Archiv Bd. XXXX. 1886.
— 161 —
oder auch nur erwähnt hat. Dagegen beruft er sich in der zuletzt an-
geführten Mittheilung auf zwei Affen, bei denen vorübergehende Seh-
störungen nach Abtrennung beider Stirnlappen eingetreten waren. „In
dem einen Falle gaben das Fieber und die müssige Benommenheit eine
leichte Meningitis zu erkennen, in dem anderen Falle deckte die Section
ein ansehnliches Blutgerinnsel an der einen Trennuugsstelle zwischen
den Schnittflächen auf, so dass die Hemisphäre einem abnormen Druck
ausgesetzt war." Ich habe in meiner vorigen Abhandlung bereits aus-
einandergesetzt, dass und aus welchen Gründen diese beiden Fälle,
wenn die gemachten Angaben vielleicht auch das Auftreten von Seh-
störungen für diese beiden Fälle erklären können, dennoch nicht ge-
nügen, um die abweichenden Angaben so vieler anderer Autoren zu
entkräften.
Eine weitere Berücksichtigung der Literatur halte ich für unnütz.
Denn es geht aus dem Gesagten zur Genüge hervor, dass Munk an
seiner alten Ansicht ungeachtet aller abweichenden Befunde anderer
Autoren festhält, indem er diese durch Versuchsfehler und Nebenwir-
kungen erklärte, also auf eine Beleidigung der Sehsphäre bezog. Die
aufgeworfene Frage bedurfte daher zu ihrer definitiven Entscheidung
einer erneuten Bearbeitung.
Zunächst war es erforderlich, den operativen Eingriff in die Rinde
so zu gestalten, dass die etwa zu erhebenden und wirklich erhobenen
Einwände gegen seine Localisation, soweit dies überhaupt möglich ist,
abgewiesen werden konnten. Unzweifelhaft konnte man dem Einwurfe,
dass irgend welche Symptome durch Nebenvei'letzungen hervorgerufen
seien, am sichersten dadurch begegnen, dass man überhaupt keine Ver-
letzung der Pia anrichtete, sondern die Pia einfach freilegte und ab-
wartete, ob dann noch irgendwelche Störungen, insbesondere Sehstö-
rungen eintreten würden.
Exner und Paneth (a. a. 0.) haben über zwei ähnliche Versuche,
welche ohne Sehstörungen verliefen, berichtet. Die Stelle lautet wört-
lich: „Dagegen fehlte jede Sehstörung vollständig in zwei zur Controlle
ausgeführten Experimenten, in welchen die Operation genau wie in
frühereu bis zu den Verletzungen der Pia mater (inclusive) durchgeführt,
dann aber innegehalten wurde, so dass die Rinde selbst intact blieb."
Ich muss gestehen, dass mir diese Stelle insofern unverständlich ge-
blieben ist, als ich nicht einsehe, wie die Rinde intact bleiben kann,
wenn man die Pia mater verletzt. Vielleicht erfahren wir durch Exner
noch Näheres. —
Wenn ich mich in den folgenden Abhandlungen zu der eine grosse
Mühe verursachenden zusammenfassenden Wiedergabe zahlreicher Ver-
Hitzig, Gesammelte Abhandl. H. Theil. H
— 162 —
suclisprotokolle im Gegensatz zu dem von Munk, Goltz, Loeb, und
auch von mir selbst früher geübten Verfahren entschlossen habe, so ge-
schah dies eben deshalb, weil eine Verständigung durch das bisherige
Verfahren nicht herbeigeführt ^Yorden ist. In der That steht bei dem-
selben Behauptung gegen Behauptung, ohne dass ein greifbares Object
für die Discussion gegeben wäre.
Ich will nun zunächst eine Anzahl von solchen Versuchen mit-
theilen, bei denen ich lediglich die Pia freigelegt hatte, ohne sie zu
verletzen. Alle diese Versuche sind vor dem Jahre 1891 angestellt
worden. Ich werde bei Wiedergabe dieser Beobachtungen, und zwar aus
später ersichtlich werdenden Gründen, auch die sich nicht auf das Sehen
beziehenden Symptome anführen, im üebrigen aber mich auf das Noth-
wendigste beschränken.
A. Einfache Freilegung der Pia.
a) Versuche am Gyrus sigmoides.
Mittelgrosser Hund. Aufdeckung vorn rechts. Schädellücke rechteckig;
sagittal 17, frontal 22 mm. Pia unverletzt.
Motilitätsstörungen: Links mittelstark bis zum Tode; lässt beide
linken Beine über den Tischrand hängen und aufsetzen.
Pia-. 16.
In der Schwebe: Haltung in den ersten Tagen charakteristisch, am
Tage nicht mehr. Auf Begreifen links nichts, rechts gut bis zum Tode.
— . 163 —
Seh Störung fehlend; nimmt kleine Stückchen Fleisch auch bei ver-
klebtem rechten Auge links überall ebenso gut wie rechts.
Optische Reflexe: rechts alle gut, links fehlen sie gänzlich.
Am 6. Tage Tod durch Herzexstirpation.
Section: Der ganze Gyrus sigmoides und der vordere Theil des Orbi-
culariscentrums pilzartig herausgewölbt. Auf einem Durchschnitt durch die
Mitte des Gyrus sigmoides sehr zahlreiche kleinere und grössere Extravasate
in der weissen und grauen Substanz, namentlich kranzförmig unter dem Kno-
chenrand und in dem subarachnoidealen Gewebe der 2. Urwindung. Die graue
Substanz ist bereits merklich entfärbt, namentlich auch auf dem Durchschnitt
durch den lateralen Theil der 2. Urwindung.
Beobachtung: lO.
Kleiner Pinscher. Schädellücke rechts vorn sagittal 16, frontal 20 mm.
Der Gyrus sigmoides und das entsprechende Stück des lateral von ihm be-
legenen Gyrus liegt frei. Pia unverletzt.
Motilitätsstörungen: Links ziemlich hochgradig vom 2. Tage an,
dann allmählig abnehmend. Am 14. Tage lässt er nur noch über Tischrand
hängen.
In der Schwebe: Beim Begreifen links vorn und hinten keine Reaction,
am 15. Tage wieder gute; rechts stets gute Reaction.
Fig. 17.
Sehstörung: Sieht am 2. Tage links nur im schmalen nasalen Ge-
sichtsfeldstreifen. Keine Reaction auf Lichi. Die Sehstörung hat schon am
3. Tage sehr abgenommen, am 5. auch bei verklebtem rechtem Auge gar nicht
mehr nachweisbar.
Optische Reflexe: Rechts gut, links fehlen sie bis zum 15. Tage.
11*
164
Am 15. Tage Tod durch Herzexstirpation. Der Prolaps des Gehirns war
in den ersten Tagen sehr deutlich, dann allmählig weniger deutlich durch die
Haut durchzufühlen.
Sectio n: Blossgelegt Avar der ganze vordere Schenkel des Gyrus sig-
moides von dem hinteren nur die Hälfte, ferner das correspondirende Stück der
2. ürwindung. Ein medialer Streifen des Gyrus sigmoides von 2 mm Breite
war von Knochen bedeckt. Auf einem Prontalschnitt durch die Mitte des Gyrus
sigmoides erscheint die graue Substanz auf der Höhe des Gyrus sigmoides so-
wohl wie auf dem lateralen Bogen vollkommen entfärbt, weiss. Auch die Rinde
der 2. Ürwindung ist sehr stark entfärbt. Die Entfärbung dehnt sich sogar
noch mehr seitlich ans, wenn 'auch in geringerem Maasse.
Beobachtung' 11.
Abtragung des Schädeldachs und der Dura vorn links, sagittal 22, fron-
tal 22 mm. Der ganze Gyrus sigmoides liegt frei. Pia unverletzt.
Motilitätsstörungen: Am 2. Tage nicht nachweisbar, dann massig
stark, vom 8. Tage an abnehmend. Setzt am 2. Tage beim Kitzeln das rechte
Vorderbein langsamer fort als das linke.
In der Schwebe: Beim Begreifen Fehlen der Reaction, am 22. Tage
noch stark abgeschwächt.
Seh Störung: Hemiamblyopie vom 2. Tage an, vom 8. Tage an abneh-
mend, am 22. Tage noch undeutlich nachweisbar. Der Hund sieht während
der gedachten Zeit Fleisch zwar überall, erkennt es aber in der amblyopischen
Partie erst, nachdem er das erste Stück erhalten hat. — Auch links ein am-
blyopischer Streifen.
Optische Reflexe: fehlen; am 22. Tage gegen flache Hand vorhanden.
Tod am 33. Tage.
Fio-. 18.
Section (Morgens in meiner Abwesenheit): Hirn nicht in der Schädel-
lücke, sondern Weichtheile hineingezogen. Dem Präparat sitzt Muskelmasse
ohne irgend welche Hervorwölbung des Hirns auf.
165
Oeobadatviiig- 13.
Kleiner Hund. Schädellücke links sagittallö, frontal 14 mm, aufgedeckt
hinterer Schenkel, vom vorderen nur ein schmaler Streifen. Keine Verletzung
der Pia.
Motilitätsstörungen: Sehr gering, nur unter besonderen Umständen
nachweisbar. Am 2, Tage angedeutet. Am 3. und 4. Tage Ausrutschen
Fig. 19.
der rechten Hinterpfote beim Krabbeln am Halse. Lässt am 5. Tage beim
Saufen die rechte Hinterpfote leichter dislociren.
In der Schwebe: Keine wesentlichen Anomalien.
Sehstörung: Beachtet am 3. — 5. Tage Fleisch rechts weniger schnell
als links.
Optische Reflexe: Reagirt am 2. — 5. Tage auf flache Hand beider-
seits mit einmaligem Lidschluss, auf schmale Hand rechts manchmal, manch-
mal nicht, links immer.
Am 22. Tage getödtet.
Seotion: Schädellücke durch bindegewebige Membran geschlossen,
Hirn an Dura nur an den Rändern, sonst nirgend adhärent. Hirn und Dura
absolut normal aussehend.
Beobachtung- 13.
Mittelgrosser Pinscher. Schädellücke annähernd 19 mm sagittal, 19 mm
frontal über Gyrus sigmoides rechts. Blutung gering. Pia unverletzt.
Motilitätsstörungen: Hochgradig, auch in den Rückenmuskeln.
In der Schwebe: Links beim Begreifen keine Reaction.
Sehstörung: Am 2. Tage fehlt links die Reaction auf Licht; am dritten
Tage sieht er links offenbar, da er Armbewegungen und Fleisch folgt, jedoch
ist die Reaction anders, weniger energisch, langsamer als rechts. .Jedenfalls
ist eine Sehstörung vorhanden. Mehr lässt sich nicht feststellen, da der Hund
scheu ist.
Optische Reflexe: Fehlen rechts und links gegen schmale Hand, links
auch gegen flache Hand.
— 166 —
Getödtet am 2. Tage durch Chloroform.
Section: Unter der Haut grosser, frischer Bluterguss (vielleicht in Folge
der Todesart?). Grosser Prolaps genau den Gyrus sigmoides mit Ausnahme
von dessen medialster Partie einnehmend; etvi^as Blutung unter der Pia.
Beobaclitung: 14.
Kleiner Hund. Aufdeckung des linken Gyrus sigmoides und der nach
hinten, lateral liegenden Partie auf 24 mm sagittal, 18 mm frontal. Keine
Verletzung^ der Pia.
Fig. 20.
Motilitätsstörungen: Am 2. Tage nur angedeutet (sog. Defect der
Willensenergie); am 4. Tage ziemlich hochgradig; vom 6. Tage an abnehmend,
am 19. Tage verschwunden.
In der Schwebe: Am 2. Tage rechts auf Begreifen geringere, am
3.-24. Tage fehlende Reaction, dann noch abgeschwächt.
Sehstörung: Fehlt am 2. Tage, bevorzugt jedoch von 2 Fleischstücken
das linke, beiSchütteln das rechte. AmS.Tage sonst tadellose Reaction, bevor-
zugt aber von zwei Fleischstücken stets das linke, auch wenn das rechte oscil-
lirt. Am 4. Tage beachtet er Fleisch zuerst temporal gar nicht, nachher nur
manchmal und auch dann nur, wenn es von unten kommt. Amß.Tagebei einseitig
verklebten Augen rechts keine Reaction auf Licht (links scheut er hochgradig);
dem ersten Stückchen Fleisch folgt er nur, nachdem er dasselbe aber erhalten
hat, geräth er ausser sich, sobald es irgendwo in dem Gesichtsfelde erscheint.
Fremdkörper beriecht er nur. Ganz verschiedenes Verhalten beim Verkleben
des einen oder des anderen Auges. Am 8. Tage noch vorhanden, aber schwer
nachweisbar, dann nicht mehr. Während des letzten Theils der Beobachtung
— 167, —
bevorzugt der Hund das rechte Stück Fleisch, auch wenn links geschüttelt wird.
Optische Reflexe: Am 2. Tage herabgesetzt, am 3. Tage nocii
schwächer: fehlt ganz auf Annäherung der spitzen Pincette, fast ganz auf
schmale Hand, ist abgeschwächt auf flache Hand (links alles deutlich). Am
4.-6. Tage vollkommenes Fehlen der Reflexe; am 7. — 21. Tage auf flache
Hand schwach vorhanden, sonst fehlend; am 25. Tage rechts immer noch ab-
geschwächt.
Getödtet nach 5 Monaten durch Chloroform.
Section: Schädellücke 26 mm sagittal, 19 mm frontal. Dura mit Pia
über dem ganzen Hinterhirn durch zarte Adhäsionen verwachsen, Pia leicht
rosig. Auflagerung auf dem Hirn 22 mm sagittal, 20 mm frontal (davon einige
Millimeter unter der medialen Knochenbrücke). Im vorderen Schenkel des
Gyrus sigmoides ist die Fände gelblich verfärbt, erweicht. Ein kleiner ocker-
gelber Keil reicht bis in die Markstrahlung hinein. Ein Schnitt durch den
hinteren Schenkel zeigt einen leicht bräunlich verfärbten Streifen von gerin-
gerer Consistenz, der sich in der grauen Substanz an der Grenze der weissen
hinzieht. Die graue Substanz vornehmlich in dieser Gegend, doch auch late-
ral abgeblasst.
(Vergi. Fig. 20.)
Derselbe Hund. Schädellücke 24 mm sagittal, 15 mm frontal über late-
raler Partie des rechten Gyrus sigmoides, nach hinten etwas darüber hinaus-
reichend. Bei der Abtragung der Dura kleine Contusion in der hinteren Partie
des hinteren Schenkels, die wie eine oberflächliche Capillarhämorrhagie aussieht.
Motilitätsstörungen: Vom 2. — 6. Tage allmählig zunehmend, dann
massig hochgradig; am 16. Tage noch deutlich, später bis zum 68. Tage unter
günstigen Bedingungen immer noch fepurweise nachweisbar.
In der Schwebe: Am 2. Tage nicht, vom 3. an charakteristisch: vom
38. Tage an notirt: alle vier Beine gestreckt und gespreizt, passiv leicht be-
weglich ; dies noch zwei Monate später. Fehlen des Reflexes beim Begreifen
vom 2.' — 50. Tage gänzlich, nachher über 4 Monate nach der Operation stets
mehr oder minder hochgradig abgeschwächt.
Sehstörung: Am 2. und 3. Tage keine Sehstörung nachweisbar, am
5. Tage sieht der Hund auf der lateralen Hälfte seines linken Gesichtsfeldes
unbewegte Gegenstände nicht, bewegte sieht er; am 6. Tage beachtet der Hund,
aber nur beim Fressen, kleine Stücke Fleisch mit der lateralen Hälfte des lin-
ken Gesichtsfeldes nicht, rechts sofort.
Optische Reflexe: Am 2. und 3. Tage tadellos, sogar gegen Finger.
Am 5. und 6. Tage fehlend. Am 16. Tage andeutungsweise gegen flache Hand
vorhanden, am 50. Tage normal. (Dazwischen fehlen Notizen.)
Getödtet nach vier Monaten durch Chloroform.
Section: ' Auflagerung auf dem Gehirn 17 mm sagittal, 12 mm frontal.
Der Temporaiis adhärent der Hirnoberfläche. Im hinteren Schenkel des Gyrus
— ,168 —
sigmoides eio ganz kleiner bräunlicher Herd in der grauen Substanz und leicht
verwaschenes Aussehen der grauen Substanz.
BeobachtiMig- 16.
Kleiner Hund. Schädellücke links, dreieckig, 17 mm sagittal, Basis nach
vorn, 8 mm frontal, vornebmlicli über vorderem, zum Theil über hinterem
Schenkel des Gyrus sigmoides^ medial von der Insertion des Temporaiis. Pia
unverletzt.
Fig. 21.
Motilitätsstörungen: Solange überhaupt vorhanden, nur angedeutet
und in der Pvcgel nur unter Anwendung von Kunstgriffen nachweisbar; deut-
licher am 5. und 7. Tage.
Sensibilitätsstörungen: Setzt die Pfoten bei der leisesten Berüh-
rung fort, auch an den Tagen, wo Motilitätsstörungen naohweisba; sind.
In der Schwebe: Hängt nur am 5. und 7. Tage charakteristisch
(Notizen über den 6. Tag fehlen). Reaction bei Begreifen auch links ungleich,
indessen Abschwächung rechts wiederholt, auch am 3., 5. und 7. Tage constatirt.
Sehstörung: Unbedeutend, beachtet am 2. Tage kleine Stückchen
Fleisch weniger regelmässig als links; am 5. Tage lateraler Streifen am-
tolyopisch.
Optische Reflexe: Abgeschwächt, besonders deutlich am 2. und 7. Tage.
Getödtet am 10. Tage durch Chloroform.
Section: Der aufgedeckte Theil hat sich bis etwas über die Schädel-
lücke vorgedrängt. An der Grenze haben sich stellenweise zwischen Dura und
Pia Adhäsionen entwickelt. Der vordere Schenkel ist in seinem lateralen Theil
dunkelroth gefärbt, die Pia etwas uneben. Der mediale Theil desselben und
stärker der hintere Schenkel sind diffus hyperämisch. Die Umgebung des Vor-
falls ist anämisch.
b) Versuche im Bereiche des Hinterlappens.
Beobaclatimgj- IT".
Mittelgrosser Hund. Schädellücke sagittal 15, frontal 20 mm über der
linken Stelle A^^ und darüber hinaus, ohne Betheiligung der 1. Urwindung.
Bei Abtraffuna: der Dura minimale Verletzung der Pia in der Mitte der Lücke.
161)
Motilitätsstörungen und Sensibilitätsstörungen feiilen.
Sehstörung: Am 2. Tage Reaction nnr über dem Nasenrücken. Am
3. Tage nur noch amblyopisch, bis zum 23. Tage Sehstörung noch dadurch
nachweisbar, dass der Hund, wenn er beim Fressen beschäftigt ist, kleine
Fleischstücke erst wahrnimmt, wenn sie von lateral her bis zur Mitte der
Pupille vorgerückt sind.
Optische Reflexe: Fehlen am 2. Tage gänzlich; vom 3. — 5. Tage
gegen flache Hand sehr gut, gegen schmale Hand fehlend; vom 12. Tage an
ungeachtet eines Conjunctivalcatarrhs auch gegen schmale Hand normal.
Tod durch Chloroform am 36. Tage.
Section: Gehirn etwas vorgewölbt, der die Schädellücke schliessenden
straffen Membran etwas adhärent. Auf dem Querschnitt graue Rinde flecken-
weise sehr blass, im ganzen blasser als auf der anderen Seite; dies gilt auch
von dem lateTalen, nicht von der Operation berührten Streifen. Die von der
Rinde der 1. Urwindung, welche gleichfalls nicht berührt ist, ausgehende
Markstrahlung zeigt mehrere, unter hirsekorngrosse röthlich gefärbte Lücken,
ausserdem, wie auch die unter der Knochenlücke liegende weisse Substanz
zahlreichere sehr feine Löoherchen.
Beobadituiig- IS.
Kleiner Hund. Schädellücke links ein gleichseitiges Dreieck von 20 mm
Seitenlänge, Spitze nach hinten, die Stelle Aj^ in sich begreifend. Pia un-
verletzt.
Motilitäts- und Sensibilitätsstörungen fehlen.
Fie-. 22.
Sehstörung: Bis zum 3. Tage inclusive wegen Scheu schwer zu un-
tersuchen, nur zu constatiren, dass der Hund rechts zwar sieht, aber vornehm-
170
lieh temporal, amblyopisch ist. Vom 4.-7. Tage reagirt er auf Fleischstücke
im oberen äusseren Quadranten niemals, in den übrigen Theilen des Gesichts-
feldes gut.
Optische Reflexe: Gegen schmale Hand herabgesetzt, gegen flache
Hand vorhanden.
Getödtet am 8. Tage durch Curare.
Section: Ziemlic-h bedeutende Menge klarer, wässeriger, leicht blutig
tingirter Flüssigkeit. Zwischen Haut und Galea, bezw. zwischen Hirn und
Muskel mehrere weiche Schichten Auflagerung. Starker rosa gefärbter Vorfall.
Pia ganz unverletzt. Dura und Pia nicht verändert. Am Knochenrand Schnür-
furche. Auf dem Durchschnitt (frontal und sagittal) erscheinen mehr nach
hinten zahlreichere grössere Extravasate in der Marksubstanz, nach vorn und
in der Rinde kleinere. Letztere ist auf lateralem, nach unten abfallendem Theil
deutlich entfärbt.
IBeolbaelitTi.iig' 19.
Kleiner Pudel. Schädellücke links ganz hinten sagittal 14, frontal 22 mm.
Abtragung der Dura ohne Blutung, olme Verletzung der Pia.
Motilitäts- und Sensibilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung: Am 2. Tage nicht zu untersuchen. Am 3. Tage rechts
hemianopisch. Die untere Partie sieht besser als die obere. Am 4. und 5. Tage
Fig. 23.
hat sich der untere äussere Quadrant des Gesichtsfeldes schon erheblich auf-
gehellt.
Optische Reflexe: Am 2.-5. Tage gegen schmale Hand rechts fast
keine, gegen flache Hand geringere Reaction als links.
Getödtet am 5. Tage durch Chloroform.
171
Section: Geringe Menge sanguinolenier Flüssigkeit. Gehirn durcli die
Lücke pilzartig vorgedrängt. Dura und Pia beider Seiten absolut gleich und
normal. Pia selbst auf dem Pilz nicht injicirt oder getrübt. Dagegen vorn
und lateral an den Grenzen sehr deutliche, schon ältere Schnürfurche. Auf
dem sagittalen Durchschnitt vt'eisse Substanz auf eine ziemlich lange Strecke
vor der Abtragung mit einem leichten Stich in's Gelbliche, in der Partie unter
der Abtragung; ö;rosse und kleine, ganz frische Extravasate.
Junger Hund. Schädellücke links 17 mm sagittal, 21 mm frontal; hin-
tere Grenze 14 mm vor der Lanibdanaht. Pia unverletzt.
Im Verlaufe der Beobachtung hat sich allmählig .eine ziemliche Menge
leicht blutig gefärbter, fast klarer Flüssigkeit angesammelt, die am achten Tage
entleert wird.
Motilitätsstörungen fehlen.
In der Schwebe: Rechte Vorderpfote reagirt auf Begreifen am 2. Tage
etwas, am 3." Tage viel langsamer als die linke. Am 4. Tage normal.
Sehstörung: Am 2. Tage gering, namentlich durch Bevorzugung des
linken Fleischstückes und grössere Aufmerksamkeit auf die linke Seite zu be-
merken. Am 3. Tage hat die Sehstörung zugenommen; wenn der Hund den
Kopf ruhig hält, gelingt es, ihm das ganze rechte Auge exclusive des nasalen
Streifens abzusuchen, ohne dass er nach dem Fleischstück schnappt. In den
nächsten Tagen nimmt die Sehstörung ab, ist aber bei Unruhe des Thieres
nicht genau zu untersuchen, erweist sich aber am 12. Tage als noch vorhan-
den. Später nicht mehr nachgewiesen.
Fig. 24.
Optische Reflexe: Fehlen vom 2. Tage an gänzlich, am 12. Tage
gegen flache Hand anscheinend etwas vorhanden. Am 28. Tage normal.
Getödtet am 28. Tage.
Section: Dura und Pia normal; Muskel mit dem Hirn, das etwas vor-
gelagert ist, verwachsen. — Nach vorn reicht der Duradefect genau bis an die
172
hintere Grenze meines Augencentrums, lateral bis in die Mitte des suprasylvi-
schen Gyrus, nach hinten bis zur Umbiegungsstelle des Gyrus. Er betraf also
den vorderen Theil der Sehsphäre Munk's, sowie dessen Augenregion.
Schädellücke 17 mm frontal, 15 mm sagittal, hintere Grenze 14 mm vor
der Lambdanaht. Ohne Verletzung der Pia.
Motilitäts- und Sensibilitätsstörungen fehlen.
Fig. 25.
Seh Störung: Vom 2. — 4. Tage rechts Amblyopie, am 4. Tage abneh-
mend, geringer auf unterem Quadranten. Am 30. Tage nichts mehr. Zwischen
dem 4. und 30. Tage keine Notizen.
Optische Reflexe; Am 2. Tage gegen schmale Hand nichts, am
30. Tage rechts gegen schmale Hand wenig, gegen flache Hand beiderseits
gleich stark.
Getödtet am 30. Tage.
Section: Dura und Pia ganz normal, keine Verwachsungen irgend wel-
cher Art. Auf dem Durchschnitt gleichfalls nichts Nennenswerthes.
c) Versuche in der mittleren Region.
I?eol>£icli-tiing- SQ.
Kleiner Hund. Schädellücke links sagittal 15, frontal 20 mm; hinterer
Rand 27 mm nach vorn von der Lambdanaht, unmittelbar hinter dem hinteren
Rande des Gyrus sigmoides, vom lateralen Rande der 1. bis zum medialen
Rande der 3. ürwinduno: reichend. Pia unverletzt^).
1) Das Schema giebt nur die relative Grösse, aber im frontalen Durch-
messer nicht die richtige Vertheilung der Auflagerung auf die Windungen
wieder.
— 178 —
Motilitätsstörungen: Fehlen am 2. Tage, angedeutet am 3., an den
lolgenden Tagen fehlen Notizen,
Fig. 26.
In der Schwebe: Vom 3. — 7. Tage etwas Neigung, die rechte Vorder-
pfote gestreckt zu halten. Am 7. Tage bei Begreifen rechts vorn sehr geringe,
in den anderen drei Pfoten sehr starke Reaction.
Seh Störung: Fehlt bis zum 7. Tage. An diesem Tage auf Fleisch
weniger schnelle Reaction, anscheinend geringe Hemiamblyopie.
Optische Reflexe: Fehlen rechts stets, links meistens gut.
Getödtet am 7. Tage.
Section: In der Wunde eine ziemliche Menge blutig tingirter, trüber
Flüssigkeit. Das Gehirn massig vorgedrängt, die Pia an mehreren Stellen mit
dem Muskel mit leichten, dunkelroth gefärbten Auflagerungen verklebt. Letz-
teres trifft eigentlich für den grössten Theil der freiliegenden Pia zu.
Auf dem Durchschnitt des vorgetriebenen Hirntheils finden sich frische
capilläre Extravasate in der grauen Substanz der 2. Windung (hinter
dem Gyrus sigmoides) und in der darunter liegenden weissen Substanz.
Ausserdem steht mir noch eine im Uebrigen sorgfältig geführte
Kraukengeschichte zur Verfügung, bei der einem jungen grossen Hunde
21 mm vor der Lambdanabt eine sagittal 24, frontal 17 mm messende
Schädellücke angelegt wurde, auf die ich aber nicht näher eingehe,
weil die Section fehlt. Ich führe sie nur deswegen an, weil sich bei
massiger Motilitätsstörung und hochgradiger Sehstörung wieder anfäng-
lich eine geringere Betheiligung des unteren äusseren Quadranten an
der Sehstörung feststellen liess.
— 174 —
Die vorstehend mitgetheilten Versuche ergaben ein vollständig über-
einstimmendes und die gestellte Frage in positivem Sinne entscheiden-
des Resultat. Allgemein gesprochen führte die Blossleguug
der Pia im Bereiche der motorischen Zone nicht nur zu mo-
torischen Störungen in den Extremitäten, sondern auch, mit
Ausnahme eines Falles zu Sehstörungen und in allen Fällen
zu Störungen des optischen Lidreflexes. Die Aufdeckung der
Pia im Bereiche des Hinterhauptlappens führte in allen Fäl-
len zu Sehstörungen und gleichfalls in allen Fällen auch zu
Störungen des optischen Lidreflexes, nicht aber zu motori-
schen Störungen. Dass die fraglichen Störungen im Allgemeinen
weniger erheblich waren als bei denjenigen Versuchen, bei denen man
die Pia verletzt und mehr oder minder tief in das Gehirn eindringt, ist
selbstverständlich.
Wenn Exner und Paneth bei ihren zwei oben citirten Versuchen
zu einem negativen Resultat gelangten, so wird dies einmal auf diese
geringere Deutlichkeit besonders der Sehstörungen, andererseits auf die
von ihnen benutzte Üntersuchungsmetliode zurückzuführen sein. Sie
schildern die letztere mit folgenden Worten derart, „dass der eine Beob-
achter das Tliier beschäftigte, indem er ihm in der geschlossenen Hand
ein Stück Fleisch vorhielt. An diesem schnüffelt und leckt der Hund
herum, und es vertritt auf diese Weise das Object, das man einen Men-
schen behufs einer ähnlichen Untersuchung fixiren lässt. Der andere
Beobachter führte währenddem ein Stück Fleisch in das Gesichtsfeld
des Thieres. Dann verlässt ein normaler Hund nach beiden Seiten,
einer mit Sehstörung nach der nicht vernachlässigten Seite hin, die
geschlossene Hand, sowie er das Fleischstück am Drahte erblickt und
schnappt nach diesem, während der Hund mit Sehstörung später oder
erst nach einigem Herumbewegen des Fleisches oder auch garnicht sich
darum bekümmert." Ich will nicht bestreiten, dass diese Methode er-
fahrenen Beobachtern bei sehr ausgesprochenen Sehstörungen gute Dienste
leisten kann. Lidessen erschien sie mir selbst auch bei solchen Seh-
störungen sehr unvollkommen gegenüber der Untersuchung in der
Schwebe. Jeder einigermaassen lebhafte und hungerige Hund befindet
sich dabei in unaufhörlicher Bewegung, so dass eine ruhige Abtastung
des Gesichtsfeldes fast zur Unmöglichkeit wird. Geringere Störungen
des Sehvermögens sind auf diese Weise sicherlich nicht nachzuweisen.
Im Einzelnen führt die Betrachtung der beobachteten Symptome
zu folgenden Ergebnissen:
a) Gyrus sigmoides: 1. Sehstörungen fanden sich, wie gesagt,
in 7 von den 8 die motorische Zone betreffenden Beobachtungen. Ihrem
— 175 —
-Charakter nach waren sie sämmtlich hemiamblyopi.scher Natur, d. h.
die Hunde beachteten die in dem grösseren lateraien Theil ilires Ge-
sichtsfeldes erscheinenden Gegenstände nicht oder weniger schnell oder
weniger regelmässig als die in dem kleineren nasalen Theile oder in
dem gleichseitigen Gesichtsfelde erscheinenden Gegenstände. War die
Sehstörung hochgi-adig, so sah nur ein schmaler nasaler Streifen,
war sie minder hochgradig, so betraf der Defect nur einen schmalen
temporalen Streifen. Gelegentlich wurde auch vorübergehende An-
ästhesie eines schmalen nasalen Streifens des gleichseitigen Auges con-
statirt. In einem Falle (Beobachtung 14) hatte es an einem Tage den
Anschein, als wenn der untere temporale Quadrant weniger als der
obere geschädigt sei. Insulare Skotome konnten niemals nachgewiesen
werden. Die Dauer der Sehstörung, welche aus äusseren Gründen nicht
in allen Fällen bis zu ihrem gänzlichen Verblassen verfolgt werden
konnte, betrug zwei (Beob. 13), vier (Beob. 10), fünf (Beob. 12 und 16),
sechs (Beob. 15), acht (Beob. 1-4), und 22 Tage (Beob. 11). Der Ver-
lauf der Sehstörung war derart, dass sie sich mit einer Ausnahme
(Beob. 15) bereits am 2. Tage nachweisen Hess. In diesem Falle wurde
sie am 5. Tage nachgewiesen, war aber vielleicht schon am 4. vorhan-
den. Ausserdem ist als bemerkenswerth noch- hervorzuheben, dass sie
in demselben Falle am 6. Tage noch eine Zunahme zeigte und dass eine
entschiedene Zunahme ihrer Intensität A'Om 2. bis zum 6. Tage sich
noch in der Beobachtung 14 nachweisen liess.
2. Optische Reflexe. Während Sehstörungen, wie gesagt, in 7
von 8 Fällen vorhanden waren, fehlten die optischen Reflexe in allen
8 Fällen entweder gänzlich, oder sie waren doch mehr oder minder
stark abgeschw^ächt. Ich schalte bei dieser Gelegenheit ein, dass auch
die gekreuzten Reflexe bei einer Anzahl von diesen Versuchen geschä-
digt waren, ohne dass ich jedoch auf diese Frage näher einzugehen
beabsichtige, lieber den Charakter der Störung ist nur zu sagen,
dass sie zwar in den einzelnen Fällen verschieden hochgradig war, dass
die Thiere aber mit Ausnahme von zwei Beobachtungen (12 und 16)
zeitweise auch auf den stärksten der angewandten Reize (flache Hand)
mit einer Lidbewegung gar nicht reagirten; aber auch in diesen bei-
den Fällen war die Lidbewegung gegen diesen Reiz entschieden abge-
schwächt. Besonders bemerkenswerth ist ferner der Umstand, dass in
dem einzigen Falle, in dem eine Sehstörung absolut nicht nachweisbar
und aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht vorhanden war, die opti-
schen Reflexe gleichwohl während der ganzen Dauer der Beobachtung total
gefehlt haben. Die Dauer des Symptoms lässt sich nicht genau be-
stimmen, weil eine Anzahl von Thieren vor Ablauf der Krankheitserschei-
— 176 —
nuugen starb, bezw. aus verschiedenen Gründen getödtet wurde. Immer-
hin fehlten sie bei einem Hunde (Beob. 10) noch am 15. Tage und bßi
einem anderen Hunde (Beob. 11) am 20. Tage gänzlich. Eine hoch-
gradige Abschwächung wurde constatirt bei einem Hunde (Beob. 14)
noch am 25. Tage und bei einem anderen Hunde (Beob. 15) noch am
16. Tage. Der Verlauf bietet ein besonderes Interesse nur in den
Fällen 14 und 15. In dem ersteren Falle Hess sich eine Abnahme der
Reflexe vom 2. bis 6. Tage, dann eine sehr allmählige Zunahme erken-
nen, so dass sie am 21. Tage nur auf flache Hand schwach vorhanden
und am 25. Tage immer noch abgeschv;ächt waren; bei der anderen
Beobachtung waren die Reflexe am 2. und 3. Tage tadellos gewesen,
fehlten dann am 5. und 6. Tage gänzlich und waren am 16. Tage auch
gegen flache Hand nur andeutungsweise vorhanden.
3. Das Verhältniss der Sehstörungen zu den optischen
Reflexen. Zunächst ist hervorzuheben, dass die Störung der optischen
Reflexe, also das motorische Symptom, in Folge der experimentellen
Schädigung der motorischen Region entschieden viel stärker
und andauernder hervortrat als die Sehstörung. Während die Sehstö-
rung auch in denjenigen Fällen, wo sie ausgesprochener war, nur selten
höhere Grade und auch dann niemals eine längere Dauer zeigte, waren
die optischen Reflexe in einigen Fällen maximal geschädigt, das heisst
gänzlich aufgehoben und sie waren dies auch längere Zeit, als die Dauer
der Sehstörung betrug, soweit die Beobachtung reichte. Ferner wurde
eine Sehstörung niemals ohne gleichzeitige Aufhebung oder Abschwä-
chung der optischen Reflexe beobachtet, wohl aber umgekehrt eine Auf-
hebung der optischen Reflexe ohne Sehstörung. Trat eine Seh Störung
erst verspätet ein, so geschah dies ebenfalls nicht ohne gleichzeitige
Schädigung der optischen Reflexe.
4. Die motorischen Störungen etc. Ich fasse hier, da dies
für den Zweck genügt, die von mir sogenannten Störungen des Muskel-
bewusstseins, die in der Schwebe zu machenden Beobachtungen auf
motorischem und reflectorischem Gebiete und die Sensibilitätsstörungen an
den Extremitäten zusammen. Die fraglichen Störungen traten, wie das
bei der relativen Geringfügigkeit der Läsion vorauszusetzen war, gleich-
falls im Allgemeinen mit relativ geringer Intensität in die Erscheinung.
Immerhin waren sie erheblich stärker als die Sehstörungen und in einem
Falle (Beob. 15), in dem allerdings auch ein seltener Obductionsbefund
erhoben wurde, waren sie sogar ziemlich hochgradig und am 68. Tage
noch nicht gänzlich geschwunden. In einem anderen Falle (Beob. 14)
waren sie vielleicht noch hochgradiger, dafür aber von geringerer Dauer.
In einem dritten Falle (Beob. 13) waren sie gleichfalls, und zwar bereits
— 177 —
am 2. Tage hochgradig, konnten aber nicht weiter verfolgt werden, da
der Hund bereits an diesem Tage getödtet wm-de. Auch mit Bezug auf
diese Symptome wurde in mehreren Fällen eine allmählige Zunahme der
Erscheinungen beobachtet.
5. Verhältniss der Motilitätsstörungen zu den Augen-
symptomen. In dieser Beziehung ist hervorzuheben, dass in keinem
Falle und zu keiner Zeit Sehstörungen oder Störungen der optischen
Reflexe beobachtet wurden, ohne dass nicht gleichzeitig oder wie in der
Beobachtung 15 schon vorher, Krankheitserscheinungen an den Extremi-
täten beobachtet worden wären. In diesem letzteren Falle nahmen beide
Reihen von Erscheinungen gleichmässig zu.
b) Hinterlappen: 1. Sehstörungen fanden sich, wie bereits
angeführt, in allen fünf Fällen. Auch sie waren ihrem Charakter nach
sämmtlich hemiamblyopischer Natur, immerhin so, dass in einzehien Fällen
nicht sicher zu entscheiden war, ob der Hund auf lateralen Partien
seines Gesichtsfeldes überhaupt sah. In drei Fällen, also in der Mehr-
zahl, war der untere laterale Quadrant der Retina weniger betroffen,
bezw. hellte sich früher auf. Insulare Skotome bestanden auch hier
nicht. Ueber die Dauer der Sehstörung lässt sich nicht viel sagen,
da zwei Hunde vor ihrem Ablaufe getödtet wurden, während sie bei
den drei anderen nicht hinreichend lange verfolgt, bezw. durch Notizen
fixirt wurden. Immerhin war sie in einem Falle (Beob. 17) am 23. Tage
noch nachweisbar, in einem anderen Falle (Beob. 20) noch am 12. Tage.
Was den Verlauf angeht, so ist einmal zu bemerken, dass das Sym-
ptom in denjenigen Fällen, in denen sich die Hunde von Anfang an
untersuchen Hessen, immer bereits am 2. Tage nachweisbar war, sowie
dass die Sehstörung in einem Falle (Beob. 20) vom 2. zum 3. Tage
eine deutliche Zunahme erkennen Hess.
2. Die optischen Reflexe zeigten einen erheblichen Defect nur
in einem Falle (Beob. 20), bei dem sie vom 2. Tage an gänzlich fehl-
ten und noch am 12. Tage nur andeutungsweise vorhanden waren; in
einem 2. Falle (Beob. 17) fehlten sie zwar gleichfalls am 2. Tage gänz-
lich , waren aber bereits am 3. Tage gegen flache Hand normal. In
den drei anderen Fällen waren sie dagegen immer vorhanden, so dass
die Thiere auf den stärkeren Reiz der flachen Hand reagirten, während
eine Abschwächung der Reaction gleichwohl unverkennbar war.
3. Das Verhältniss der Sehstörung zu den optischen Re-
flexen lässt sich auf Grund des vorliegenden Materials kaum erörtern.
Einmal ist dasselbe hierfür überhaupt nicht zureichend, weil diese Ver-
suche nicht zu dem gedachten Zwecke, sondern nur in der Absicht an-
gestellt waren, grundsätzlich nachzuweisen, dass und mit welchen Stö-
Hitzig, Gesammelte Abhandl. II. Theil. 12
— 178 —
vungen jene Tlieile der Convexität auf die einfache Abtragung des
Knochens und der Dura reagirten, dann aber weil die Krankengeschich-
ten nicht regelmässig genug gefülirt sind. Sicher ist jedoch, dass die
Störungen der Reflexthätigkeit bei diesen Operationen, ganz abgesehen
von dem F'ehlen von anderweitigen motorischen Erscheinungen, weniger
erheblich waren, als bei den Operationen innerhalb der motorischen
Zone, obwohl die angelegten Schädellücken an Grösse den bei jenen
Operationen vorgenommenen Abtragungen sicherlich nicht nachstanden.
Ausserdem hatte es den Auschein, als wenn bei den zuletzt besprochenen
Operationen die Sehstörung im Allgemeinen von grösserer Intensität
und Dauer war als die Störung der optischen Reflexe.
c) Mittlere Region: 1. Sehstörungen waren bei der einzigen
hier verwertheten Beobachtung nur am 7. Tage andeutungsweise vor-
handen.
2. Die optischen Reflexe fehlten dagegen gänzlich bis zum
Schluss der Beobachtung am 7. Tage.
3. Die Motilitätsstörungen fehlten am 2. Tage und waren auch
später nur andeutungsweise vorhanden.
Diese Beobachtung unterscheidet sich also in sehr ausgesprochener
Weise von den beiden anderen Versuchsreihen dadurch, dass das Haupt-
symptom in dem Fehlen der optischen Reflexe bestand, während die
Motilitäts- und Sehstörungen ganz zurücktraten.
Die Sectionsbefunde. Von den 14 in diesem Kapitel mitge-
theilten Beobachtungen wiu'de die Section in allen Fällen gemacht.
Die Hirnhäute zeigten nur in einem Falle (Beob. 14) andere als locale
Veränderungen. In diesem Falle wurde die Pia rosig gefärbt und über
dem ganzen Hinterhirn mit der Dura durch zarte Adhäsionen verwachsen
gefunden. Man könnte gegen diesen Fall also, weil er nicht rein ist,
Einwendungen erheben und Munk würde dies sicher thun. Ich gebe
diesen Fall also preis, obwohl er sich, was die Krankheitssymptome
angeht, nur durch eine längere Dauer der Störung der optischen Reflexe
von den anderen Fällen unterscheidet und obwohl die örtlichen Erschei-
nungen an der Operationsstelle — Erweichungsherde, Abblassting der
Rinde — die beobachteten Symptome befriedigend erklären.
Es bleiben demnach noch 13 Thiere, von denen je eins am 2., 5.,
6., 7., 8., 10., 15., 22., 28., 30., 33., 36. Tage und eins 4 Monate nach
der Operation getödtet wurde. Die Tödtung wurde deshalb in einer
Anzahl von Fällen relativ frühzeitig bezw. an verschiedenen auf ein-
ander folgenden Beobachtungstagen vorgenommen, um den Ablauf der
anatomischen Processe verfolgen zu können. Es versteht sich, dass
unter diesen Umständen der Ablauf der klinischen Symptome nicht
n\) —
immer, vollständig verfolgt werden konnte; indessen kam es hierauf für
■den Zweck der vorliegenden Versuchsreihen nicht wesentlich an.
Die anatomischen Vorgänge scheinen sich hiernach und nach den
bei Lebzeiten gemachten Beobachtungen derart zu gestalten, dass sich
zuerst eine bei den verschiedenen Beobachtungen verschieden grosse
Menge von Cerebrospinalflüssigkeit an der Operationsstelle ansammelt,
welche unter Umständen so gross sein kann, dass die weichen Decken
prall gespannt werden und die Entleerung eines Theils der Flüssigkeit
Tathsam erscheint. Sodann füllt sich die Schädellücke mit einem an-
fangs weichen Exsudat, welches sich entweder allmählig zu einer straf-
fen, die Lücke verschliessenden Membran umbildet, oder in denjenigen
Fällen, in ^enen der Temporaiis die Lücke ganz oder theilweise be-
deckt, ein Verbindungsglied zwischen dem mit der Hirnoberfläche ver-
wachsenden Muskel abgiebt. Im Uebrigen entwickelt sich daraus eine,
gewöhnlich den ganzen freigelegten Theil der Convexität und manchmal
noch die nächste Umgebung bedeckende narbige Auflagerung.
Die Hirn ober fläche selbst erscheint in fast allen Fällen mid
zwar schon am 2. Tage pilzartig vorgetrieben, so dass man dann, wenn
keine übermässige Ansammlung von Cerebrospinalflüssigkeit stattfindet,
den vorgedrängten Theil in der Lücke als undeutlich fluctuirenden Kör-
per fühlen kann. Die den Pilz bedeckende Pia pflegt zu dieser Zeit
mehr oder minder stark hyperämisch zu sein. Die Rinde zeigt an den
Grenzen der Lücke in Folge des Hirnvorfalls eine Einschnürung und
die Pia verwächst an dieser Stelle mit den Rändern der Dura. Allmählig
wird der Prolaps kleiner und kann bis annähernd auf das Niveau des
Tlestes der Convexität zurückgehen.
Durchschnitte durch das Gehirn wurden bei neun dieser Beob-
achtungen (incl. der Beobachtung 14) angelegt. Die übrigen fünf Ge-
hirne wurden zur mikroskopischen Untersuchung, die dann aber leider
nicht, vorgenommen w^erden konnte, conservirt. Auf diesen Durchschnit-
ten fanden sich mit Ausnahme von zwei Fällen regelmässig in den
früheren Stadien capilläre und grössere Blutungen in der grauen und
weissen Substanz und in den späteren Stadien die Residuen derselben
in Gestalt von rothbraun tingirten Erweichungsherden oder kleinen
Lücken. Ausserdem erschien die graue Substanz an der Operations-
stelle, manchmal auch noch darüber hinaus, mehr oder minder stark
weisslich verfärbt, in einem Falle so, dass sie kaum von der weissen
Substanz unterschieden werden konnte, in einem anderen Falle zeigte
sie, und zwar mehr in der Umgebung der Lücke eine g&lbliclie Ver-
färbung.
Unzweifelhaft ist bei diesen Vorgängen das Wesentlichste die Her-
12*
— 180 —
vortreibung der Hirnmasse; durch sie kommt es zu Zerrungen und
Quetschungen nicht nur des nervösen Parenchyms, sondern vornehmlich
auch der Bkitgefässe und in Folge dessen zu Hämorrhagien und zur
Ausschaltung entsprechender Theile der functionstragenden Substanz. Ob
der Umstand, dass das freigelegte Hirn gelegentlich zur Insertionsstelle
für den Muskel wird, zu Krankheitserscheinungen führen kann, muss
ich dahingestellt sein lassen. Unwahrscheinlich ist es nicht, dass die
kräftigen Contractionen , welche der Temporaiis bei dem Kaugeschäft
ausführt, schädigend auf die Hirnrinde einwirken, beispielsweise die
Epilepsie hervorbringen, die ich gelegentlich bei solchen Versuchen
beobachtet habe.
Die Ursache der dauernden Hervortreibung wird wohl in den glei-
chen Momenten zu suchen sein, welche das Gehirn erfahrungsmässig
periodisch hervortreibeu, dem Respirations- und dem Gefässdruck. Der
erstere kann unter Umständen, also wenn die Hunde schreien oder sonst
gewaltsam Muskelanstrengungen machen, so erheblich ansteigen, dass
das Gehirn unter den Augen des Operateurs in die Lücke hineinge-
drängt wird und die Gefässe der Pia derart zerreissen, dass es zu er-
heblichen Verletzungen der Hirnoberfläche kommt. Jedoch spielt auch
der Gefässdruck dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Ich habe be-
reits im Jahre 1874 in einer so gut wie unbeachtet gebliebenen Ab-
handlungi) nachgewiesen, dass der normale Hirndruck die Resultante
aus dem Gefässdruck und dem Secretionsdruck darstellt, so dass das
Gehirn dauernd unter dem Druck der subduralen Flüssigkeit steht.
Fällt dieser Gegendruck fort, so treibt der Gefässdruck die Hirnmasse
in die Schädellücke hinein.
Die angeführten Thatsachen haben neben dem Physiologischen in-
sofern noch einen practischen Werth, als sie die Wichtigkeit der
Erhaltung des Schädeldachs und der Erhaltung und Ver-
nähung der Dura bei Operationen am Menschen darthun. Da
einige Chirurgen in neuerer Zeit hiervon absehen zu können geglaubt
haben, dürfte es nicht überflüssig sein, hier an die vorgetragenen Be-
ziehungen zwischen der experimentellen Pathologie und der Chirurgie
zu erinnern.
Gehen wir nun daran, aus den mitgetheilten Thatsachen die Fol-
gerungen für die aufgeworfene Frage zu ziehen, so ergiebt sich Fol-
gendes:
1. Die blosse Freilegung der Pia führt zu mehr oder we-
1) E. Hitzig, Ueber den Ort der extraventriculären Cerebrospinalflüssig-
keit. Reichert's und du Bois-Reymond's Archiv. 1874.
— 181 —
niger erheblichen Schädigungen der darunter liegenden Win-
dungen, manchmal auch ihrer unmittelbarsten Nachbarschaft.
2. Bei solchen Operationen treten qualitativ genau die-
selben Krankheitserscheinungen auf, wie bei localisirten
Exstirpationen oder anderen Eingriffen in die gleichen Re-
gionen, nur quantitativ sind sie v^erschieden.
3. Die beschriebenen anatomischen Veränderungen rei-
chen zur Erklärung dieser Krankheitserscheinungen voll-
kommen aus; es bedarf dazu nicht der Heranziehung von
Nebenverletzungen, Versuchsfehlern oder dergl.
4. Die Thatsache, dass von anderen Regionen als von
der Sehsphäre, nämlich vom Gyrus sigmoides aus Sehstö-
rungen hervorgebracht werden können, muss durch diese
Versuche als vollkommen erwiesen gelten. Die Theorie
Munk's ist hiermit, soweit dieser Punkt in Frage kommt,,
widerlegt. Ueber die Beziehungen anderer corticaler Regionen zum
Sehact werden wir in einer späteren Abhandlung, für die ich diesen
Theil des Materials aufsparen muss, noch mehr erfahren.
Ausserdem haben sich hierbei noch mehrere andere Resultate er-
geben, welche ich aber erst in den folgenden Kapiteln dieser Abhand-
lung zu verwerthen gedenke.
n. Welcher Art sind die durch corticale Läsionen hervorge-
brachten Sehstörungen, sind sie hemianopischer Natur oder
nicht, insbesondere entsprechen sie den Lehren Munk's?
Abschnitt I. Frontale Laesionen.
Inhalt: Einleitung S. 182. a) Versuche an der frontalen Partie der
Hemisphäre S. 182. a) Gyrus sigmoides S. 183. B. Anätzungen S. 183.
C. Unterschneidungen, a. Einseitige Operationen S. 185. ß. Operationen der
2. Seite S. 189. D. Scarificationen S. 192. E. Exstirpationen, a. Einseitige Ope-
rationen S. 195. ß. Operationen der 2. Seite S. 205. P. Doppelseitige frontale
Durchtrennung des vorderen Schenkels des Gyrus sigm. S. 210. 1. Sehstörungen,
aa. Reaction gegen Fleisch S. 212. f bb. Reaction gegen Licht S. 213. 2. Optische
Reflexe S. 218. 3. Das Verhältniss der Sehstörungen zu den optischen Reflexen
S. 219. 4. Störungen des Nasenlidreflexes S. 220. 5. Der ursächliche Zusam
menhang zwischen den Störungen des Sehactes und der durch den Opticus
und den Trigeminus angeregten Reflexthätigkeit S. 222. 6. Motilitätsstörungen
S. 223. 7. Sectionsbefunde S. 223. b) Laterale Nachbarwindungen des
Gyrus sigmoides S. 224. A. Versuche ohne motorische Folgen
S. 229. 1. Sehstörungen S. 240. 2. Optische Reflexe S. 241. 3. Nasenlidreflex
S. 241. 4. Motilitätsstörungen S. 241. 5. Operationen und Sectionen S. 242.
— 182 —
6. Das Verhältniss der Symptome zu dem Ort der Verletzung S. 243. B.Ver-
suche mit motorisclien Folgen S. 249. 1. Sehstörungen S. 265. 2. Op-
tische Reflexe S. 267. 3. Nasenlidreflex S. 268. 4. Das gegenseitige Ver-
hältniss der Sehstörung, der optischen Reflexe und des Nasenlidreflexes
S. 268. 5. Schlussfolgerungen S. 274.
In der IL dieser Abhandlungen i) habe ich bereits eine kurze üeber-
sicht über die hauptsächlichsten Angaben der Autoren von der Art
der nach Eingriffen in die Convexität des Hundehirns ent-
stehenden Sehstörungen gegeben. Es genügt deshalb, wenn ich
hier kurz recapitulire, dass Munk behauptet, Rindenbliudheit, d. h.
absolute und dauernde Blindheit verschiedener Partieen der'
Netzhaut werde durch Ausschaltung verschiedener Partieen seiner
Sehsphäre hervorgebracht, während alle anderen Autoren mit wenigen
Ausnahmen angeben, dass auf alle, gleichviel wie iocalisirte
oder doch die meisten Eingriffe in die Convexität eine Sehstörnng
hemianopischer Natur folge und dass Loeb insofern eine Sonder-
stellung unter ihnen einnimmt, als nach seiner Ansicht bei jeder so
entstandeneu Sehstörung, auch wenn die Stelle Aj angegriffen worden
ist, die Stelle des deutlichsten Sehens immer am wenigsten geschädigt
erscheint. Durch diese seine Versuche wollte Loeb die Irrthümlichkeit
der Ansicht Munk's über die Abhängigkeit der „Seelenbliudheit" von
der Zerstörung der Stelle Ai nachweisen.
Hiermit sind die höchst mannigfaltigen Aufgaben, welche die nächste
Reihe unserer Versuche zu lösen hat, in grossen Umrissen vorgezeichnet.
Wir werden uns zunächst noch eingehender mit der Art, dem
Grade und dem Ursprünge der nach Eingriffen in die vordere
Partie der Hemisphäre entstehenden Sehstörungen zu be-
schäftigen haben. Erst dann werden wir unsere Unter-
suchung auf die nach Eingriffen in den Hinterlappen in die
Erscheinung tretenden Sehstörungen ausdehnen können. Ich
werde mich dabei, wo es angelit, auf die früher gegebene Uebersicht
über die Litteratur beziehen und mich, wo es erforderlich erscheint,
noch etwas eingehender mit den thatsächlichen Angaben einiger Autoren
beschäftigen.
a) Versuche an der frontalen Partie der Hemisphäre.
In dem I. Kapitel dieser Abhandlung hatte ich gezeigt, dass die
blosse Freilegung der Pia auch zu Störungen des Sehvermögens und
1) E. Hitzig, Historisches, Kritisches u. Experimentelles über Methoden
und Theorien der Grosshirnforschung. Archiv für Psych, Bd. 35. Heft 2.
S. 275 ff und diese Untersuchungen Theil IL S. 37ff.
— 183 —
der optischen Reflexe führen kann. In dem folgenden Kapitel werde
ich zunächst untersuchen, welchen Einfluss verschiedene andere Eingriffe
in den Gyrus sigmoides auf den Sehact ausüben und mich alsdann mit
der Lösimg der Frage beschäftigen, ob dieser Einfluss einen Eingriff in
die Rinde des Gyrus sigmoides mit Nothwendigkeit voraussetzt, oder
ob die Beschädigung eines Theiles der Markstrahlung, event. welchen
Theiles dazu genügt. Bei diesem Anlasse werden einige andere Fragen
zur Erörterung gelangen, die sich mit Rücksicht auf die angegriffene
Localität in den Vordergrund der Discussion drängen.
Der erste Theil dieses II. Kapitels hätte inhaltlich ebenso gut dem
I. Kapitel angefügt werden können; indessen erschien es mir zweck-
mässiger, Parallel versuche an den vorderen und den hinteren Abschnitten
der Hemisphäre direct mit einander zu vergleichen, in ähnlicher Weise,
wie dies schon im ersten Theil dieser Arbeit geschehen ist und auch in
dem III. Kapitel dieser Abhandlung geschehen wird. In erster Linie
kam es mir freilich darauf an, zu untersuchen, ob der Grad und damit
vielleicht auch der Charakter der gesetzten Sehstörimg bei verschiedenen
Variabein, die sämmtlich die Eigenschaft einer schwereren Verletzung
als die blosse Aufdeckung besassen, stärker in die Erscheinung treten
würden. Ferner aber musste sich auf diese Weise ein breiterer Boden
zur Vergleichung der frontalen und occipitalen Sehstörung gewinnen lassen.
a) Gyrus sigmoides. •
Ich werde für diesen Abschnitt nur solche Versuche benutzen,
welche ich seit dem Jahre 1899 angestellt habe. Zahlreiche theils
früher, theils während dieser Periode angestellte Versuche bleiben un-
erwähnt, entweder, weil sie mir nicht genügten, oder und vornehmlich,
weil das hier zusammengestellte Material zur Lösung der aufgeworfenen
Fragen ausreichte.
B. Anätzungen.
JBeobaclitiing- S3.
Mittelgrosser Hund. Schädellücke links 15 mm sagittal, 20 mm frontal.
AetzuBg des hinteren Schenkels und der hinteren Hälfte des vorderen Schen-
kels mit 5proc. Karbolsäure.
Während des Heilungsverlaufes vorübergehende Schwellung der Opera-
rationsstelle (Cerebrospinalflüssigkeit).
Motilitätsstörungen: Hochgradig, am 3. Tage stärker als am 2., inso-
fern als Voltelaufen beobachtet wird; sehr allmählich abnehmend, bei geeigneten
Untersuchungsmethoden noch nach mehr als 4 Monaten nachweisbar. Jack-
son'sehe Krämpfe. Am 3. Tage in der rechten Vorderextremität während des
Fütterns Adductions- und Beugekrämpfe. Am 5. Tage bei energischer Inten-
tion der Muskeln, z. B, beim Ausgleiten auf dem glatten Tisch mehrere Secun-
— 184 —
den dauernde tonische Streck- und Adductionskrämpfe rechts vorn und hinten.
Unmittelbar nachher Thier offenbar abgespannt, apathischer und weniger fress-
lustig. Einige Minuten später wieder munter. Am 6. Tage auf dem Tisch
mehrfach tonischer Krampf der Streck- und Adductionsmuskeln rechts vorn
und hinten. Am 9. Tage einmal ein ca. 1 Minute dauernder tonischer Streck-
krampf vorn und hinten; am 14. Tage sehr oft noch beim Ausgleiten auf dem
glatten Tisch tonischer Streckkrampf vorn und hinten. Am 16. Tage Anfall
von allgemeinen epileptiformen Krämpfen mit nachfolgendem Sopor; 2 Monate
später nochmals localisirter Anfall.
In der Schwebe: Hangt noch nach mehr als 4 Monaten gestreckt;
beim Begreifen ohne Reaction. Am 14. und 17. Tage stärkerer Widerstand bei
passiven Bewegungen.
Sehstörung: Reagirt unverändert bis zum 6. Tage auf dem rechten
Auge gegen Licht gar nicht (links scheut er), gegen Fleisch nur über dem
Nasenrücken. Stösst im Zimmer nicht an. Während dieser Zeit greift oder
schnappt das Thier nach Gegenständen, die in dem sehenden nasalen Streifen
erscheinen , sehr unsicher. Am 6. und 7. Tage rechtes Auge bis auf nasalen
Streifen wie bisher blind, doch scheinen Gegenstände von rechts aussen kom-
mend, schon etwas eher als bisher eine unbestimmte Empfindung auszulösen,
da das Thier mehrfach, bevor der betreffende Gegenstand in das Gebiet jenes
nasalen Streifens kommt, seine Augen auf denselben einzustellen sucht. Am
8. Tage appercipirt das rechte Auge schon Gegenstände, wenn dieselben von
aussen her gerade die Mittelebene des Gesichtsfeldes überschritten haben. Am
9. Tage werden Gegenstände schon kurz vor Ueberschreiten des verticalen
Meridians appercipirt. Am 14. Tage Sehstörung nicht mehr nachweisbar.
Optische Reflexe: In den ersten Tagen unsicher. Am 5. Tage gänz-
liches Fehlen. Vom 9. Tage an schnelle Wiederkehr der Reflexe, am 12. Tage
normal.
Nasenlidreflex: 8 Tage fehlend, dann langsam wiederkehrend; am
12. Tage normal.
Gestorben 5 Monate nach der Operation in einem epileptischen Anfall.
Da der Hund an der gleichen Stelle noch einmal operirt worden ist, wird
das Ergebniss der Section hier nicht mitgetheilt.
Kleiner junger Hund. Aufdeckung des Gyrus sigmoides mit Ausnahme
der medialsten Partie. Absperrung gegen die Umgebung mit Watte. Aetzung
mit 5proc. Karbolsäurelösung.
Motilitätsstörungen erheblich, jedoch am 7. Tage kaum noch nach-
weisbar.
In der Schwebe: Hängt gestreckt, ohne Reaction beim Begreifen bis
zum 5. Tage. Später fehlen sichere Notizen.
Seh Störung: Nur in der temporalen Partie, nicht hochgradig und be-
reits am 7. Tage nicht mehr nachweisbar.
Optische Reflexe fehlen vom 2. bis 11, Tag. (Ende der Beobachtung.)
Nasenlidreflex dauernd abgeschwächt.
— 185 —
Gestorben nach vier Monaten, in Folge einer neuen Narkose. Da an der
gleichen Stelle noch zwei andere Operationen ausgeführt waren, so wird das
Ergebniss der Section hier nicht mitgetheilt.
C. Unterschneidungen.
Bei den folgenden Operationen wurde die Rinde möglichst flach
mit einem vorn abgerundeten, 4,7 mm breiten Präparatenheber unter
Schonung des Sulcus cruciatus uuterschnitten.
«. Einseitige Operationen.
Ziemlich junger Hund. Operation über linkem Gyrus sigmoides. Schä-
dellücke sagittal 17, frontal 13 mm. Unterschneidung der grauen Substanz
des hinteren und des lateralen Drittels des vorderen Schenkels mit Präparaten-
heber, fast ohne Blutung auf höchstens 3 mm Tiefe. Heilung im Uebrigen
per primam, nur der laterale Wundwinkel eitert während einiger Tage etwas.
Fig. 27.
Motilitätsstörungen: Am 2. Tage massig hochgradig, am 4. Tage
hochgradig. Vom 8. Tage an hinten, vom 9. Tage an vorn abnehmend. Am
30. Tage immer noch nachweisbar.
In der Schwebe: Hängt vom 2. Tage bis zum Schluss der Beobach-
tung rechts gestreckt und reagirt auf Begreifen nicht.
Sehstörung: Am 2. Tage fehlt Reaction auf der rechten lateralen Ge-
sichtsfeldhälfte oder die Gegenstände werden nicht erkannt. Gegen Licht
scheut er links stark, rechts zweifelhafte Reaction. Diese unsichere Reaction
gegen Licht bestand auch noch bis zum 11. Tage. Am 4. Tage gegen Fleisch
in derSchwebe auf weniger als der temporalen Gesichtsfeldhälfte, aber auch da
nicht ganz reactionslos; wenn ihm auf dem Tisch beim Fressen von Gemüse
Fleisch vorgehalten wurde, nahm er links sofort davon Notiz, rechts nicht.
Vom 5. Tage an Sehstörung gegen Fleisch nicht mehr nachweisbar.
— 186 —
Optische Reflexe: Fehlen vom 2. bis 20. Tage, von da an allmählich
•wiederkehrend, am 23. Tage noch abgeschwächt, am 25. Tage normal.
Nasenlidreflex: Abgeschwächt bis zum 4. Tage; vom 5. Tage an
normal.
Getödtet mit Curare zwei Monate nach der Operation.
Section: Dura und Pia normal, nirgends verwachsen. Es ist ziemlich
genau der hintere Schenkel des Gyrus sigmoides vom Sulcus cruciatus an bis
Fig. 28. 0: Operationsstelle,
etwas über die hintere Grenze des Gyrus sigmoides hinaus, dann etwas vom
lateralen Theil des vorderen Schenkels, im Ganzen lateral etwas auf die
II. Urwindung übergreifend mit Narbengewebe bedeckt. Der Durchschnitt zeigt
eine sehr flache, im Ganzen auf die Rinde beschränkte Zerstörung. Das Rin-
dengrau fehlt unter dem ganzen hinteren Schenkel, etwas hellere Verfärbung
auch noch im medialen Theil des Graues des erwähnten Theils der II. Urwin-
dung. Keine erweichten Stellen. Der Ventrikel leicht nach der Narbe zu ver-
zogen. Die ganze linke Hemisphäre leicht atrophisch.
Beol>aclitriiig,- S6.
Kleiner Spitz. Schädellücke links sagittal 21, frontal 15 mm. Da der
Gyrus sigmoides sehr klein ist, ist die Basis des Stirnlappens und der obere
hintere Theil der II. Urwindung, insoweit er dem hinteren Schenkel unmittelbar
anliegt, mit aufgedeckt. Unterschneidung des hinteren Schenkels und des late-
ralen Theils des vorderen Schenkels von lateralwärts her, etwas tiefer als sonst.
Motilitätsstörungen: Sehr hochgradig vom 1. Tage, 3 Stunden nach
der Operation an ; zwar allmählich abnehmend, aber nach 5 Wochen noch
hochgradig.
Rechte Lidspalte bis zum 32. Tage erweitert.
In der Schwebe: Hängt rechts stark gestreckt ca. vier Wochen lang,
dann gelegentlich weniger gestreckt. Beim Begreifen bis zum Schluss der
Beobachtung ohne Reaction.
187
Sehstörung: Am 2. Tage reagirt er auf Fleisch rechts nur über dem
Nasenrücken; dort schnuppert er aber sofort in der Luft herum und sucht das
Fleisch zu ergreifen. Auf dem Tisch sieht er rechts von ihm liegendes Fleisch
nicht, links liegendes sofort. Links ist kein Gesichtsfelddefect nachweisbar.
GegenLicht rechts keine Reaction, links sofort sehr unruhig. — Abnehmend vom
4. Tage an, sodass am 8. Tage Fleisch auf den lateralen zwei Dritteln des
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Fig. 29.
Fig. 30.
Gesichtsfeldes noch nicht appercipirt wird und am 11. Tage nur noch ganz
temporal ein Defect nachzuweisen ist. An den nächsten Tagen vielleicht tem-
poral noch etwas unsicher, dann normal. Die Reaction gegen oscillirendes
Licht schwankt etwas, sie fehlt ganz bis zum 5. Tage, während der Hund
links sofort scheut; dann ist sie an einzelnen Tagen abwechselnd und vom
10. Tage an regelmässig vorhanden.
— 188 —
Optische Reflexe fehlen gänzlich bis zum Schluss der Beobachtung.
Nasenlidreflex bis zuletzt abgeschwächt.
Getödtet zwei Monate nach der Operation, nachdem inzwischen eine zweite
Operation im Hinterlappen 5 Wochen nach der ersten ausgeführt war.
Section: Pia und Dura zwischen vorderer und hinterer Operationsstelle
verwachsen ; vorn leicht, vor der hinteren Stelle etwa 1 cm breit so fest, dass
die Trennung nur mit Verletzung der Hirnoberfläche möglich gewesen wäre.
Die Narbe reicht medial bis fast an die Längsspalte, nach vorn bis auf den
vorderen Schenkel des Gyrus sigmoides, doch nicht bis an den vorderen Pv,and
des Schenkels, medial etwas weiter nach vorn als lateral, n.ach lateral den
lateralsten Theil des vorderen Schenkels freilassend, ^ den lateralen Theil des
hinteren Schenkels bedeckend und noch auf die IL Urwindung übergreifend,
nach hinten noch etwas über die hintere Grenze des Gyrus sigmoides hinaus-
gehend. Auf dem Durchschnitt zeigt sich ein bräunlich verfärbtes Narbenge-
webe von der Narbendecke nach innen gehend bis in die weisse Substanz.
Die Rinde ist im Gebiet der Narbendecke theils durch Narbengewebe ersetzt,
theils heller verfärbt. Der Ventrikel ist nach der Narbe zu ausgezogen.
üeobaditiing- ST'.
Preilegung des ganzen linken Gyrus sigmoides. Umschneidung desselben
mit dem Messer, Unterschneidung mit dem scharfen Löffel. Das unterschnittene
Stück wird in loco belassen.
Motilitätsstörungen: Anfänglich und zwar schon gleich nach der
Fig. 31.
Operation sehr hochgradig, sehr allmählich abnehmend; am 22. Tage und später
setzt er das Vorderbein bei der leisesten Berührung fort, lässt es aber noch
dislociren und mit dem Dorsum aufsetzen. Ebenso noch am 29. Tage, dann
2. Operation.
In der Schwebe: Vergl. Beobachtung 6.
— 189 —
Sehstörung: Gegen Fleisch schlecht zu untersuchen, scheint es jedoch
bereits am 3. Tage ganz lateral zu bemerken. Gegen Licht: in den ersten
Tagen beiderseits gleichgültig, am 4. und 5. Tage fehlt jedoch rechts die nun-
mehr links vorhandene Keaction.
Fig. 32.
Optische Reflexe fehlen oder sind mindestens stark abgeschwächt bis
zum 7. Tage, vom 8. Tage an beiderseits gleich.
Nasenlidreflex: Bis zum 5. Tage rechts etwas abgeschwächt, vom
6. Tage an beiderseits gleich.
Getödtet nacli 6 Wochen.
Section: Hirnhäute normal. Die etwa 18 mm sagittal und 22 mm fron-
tal messende Narbe sitzt dem Gyrus sigmoides in der Weise auf, dass sie nach
hinten mit dem hinteren Rand des hinteren Schenkels, nach lateral mit dem
lateralen Rand abschliesst, nach vorn reicht sie bis etwas über den Sulcus
cruc. in den vorderen Schenkel hinein. Nach medial bis 7 mm von der Median-
spalte. Die Hirnoberilächenpartie von der Narbe bis zur Medianspalte ist leicht
höckerig, narbig eingezogen. Durchschnitt (dicht hinter dem Sulc. cruc): Die
Rinde ist flach in der Ausdehnung der Narbe zerstört; von der Narbe aus geht
im Markweiss des Gyrus sigmoides ein feiner, blutig verfarbter Erweichungs-
streifen 4 mm weit basalwärts.-
ß. Operationen der zweiten Seite.
Beobaclitiiiig- SS.
Derselbe Hund von Beob. 27, Operation am 30. Tage nach der ersten
Operation. Unterminirung des rechten Gyrus sigmoides.
Motilitätsstörungen: Hochgradig, jedoch am 14. Tage (als der Hund
getödtet wird) merklich gebessert. Rechts durch die 2. Operation nicht ver-
schlimmert, beim Tode noch nachweisbar.
190
In der Schwebe: Vergl. Beob. 6.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage auf der lateralen Hälfte ohne
Reaction, an den nächsten Tagen schlecht zu untersuchen, vom 7. Tage an
Sehstörung nur im lateralen Streifen, am 14. Tage daselbst noch geringe Ab-
schwächung. Gegen Licht: Am 2. und S.Tage fehlende Reaction, A^om 4. Tage
bis zum Tode Abschwächung.
Optische Reflexe fehlen am 2. Tage, am 3. Tage abgeschwächt, dann
normal.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet 14 Tage nach -der Operation.
Section: Hirnhäute normal. Die 15 mm sagittal, ca. 12 mm frontal
messende Narbe sitzt genau symmetrisch , nur reicht sie nicht ganz bis zum
Fig. 33.
hinteren R,and des hintere0 Schenkels des Gyrus sigmoides. Durchschnitt:
(dicht hinter dem Sulc. cruc.) Rinde der Narbenausdehnang entsprechend
flach zerstört, das unter der Narbe liegende, den einschneidenden Sulci fol-
gende Rindengrau erscheint wie auch links, vielleicht etwas abgeblasst. In
der Markleiste des Gyrus sigmoides (laterale Verbindung zwischen vorderem
und hinterem Schenkel desselben) steigt ebenfalls ein blutig verfärbter Erwei-
chungsstreifen basalwärts; derselbe ist etwa 9 mm lang.
Beolbaclituiig: S9.
Derselbe Hund von Beobachtung 32. Aufdeckung über Gyrus sigmoides
rechts auf 18 mm sagittal, 13,5 mm frontal. Unterschneidung des hinteren
Schenkels und des lateralen Theiles des vorderen Schenkels mit Präparaten-
heber. Wund h eilung: am 4. Tage Wunde stark geschwellt, Entleerung
— 191 —
einer blutig serösen Flüssigkeit. Am 9. Tage ist der untere Wundwinkel etwas
aufgegangen, entleert etwas serös eitriges Secret, wird durch Naht und Jodo-
formcoUodium wieder verschlossen.
Motilitätsstörungen: Maximal, am2. TagebeimLaufeneigenthümliche,
wie automatische Bewegungen im linken Vorderbein. Voltelaufen nach rechts.
Gegen Mittag Jackson 'sehe Krämpfe vornehmlich des Hinterbeins und
Nackens, später auch der Gesichts- und Kiefermuskulatur mit Betheiligung des
linken Orbicularis palp. Dann bei Drehung des Kopfes nach rechts auch
krampfartige Schluck- und Leckbewegungen. Am 3. Tage keine Krämpfe, aber
Tendenz den Kopf nach rechts zu drehen, am 4. Tage Vormittags heftige
rechtsseitige Krämpfe, mit Deviation conjuguee de la tete et des yeux nach
rechts. Nachmittags allgemeine Krämpfe mit automatischen Laufbewegungen
und dilatirten Pupillen. Am 5. Tage Zuckungen in der rechten Körperhälfte
nur noch selten, Gesichtszuckungen fehlen ganz, später keine Krämpfe mehr.
Erholt sich schnell; Motilitätsstörungen bis zum 7. Tage maximal, dann ab-
nehmend, aber bis zum 30. Tage hochgradig, bis zum 36. Tage (todt) massig.
Hund ist nach der 2. Operation blödsinnig geworden.
In der Schwebe die gewöhnlichen Störungen.
Seh Störung: Gegen Fleisch am 2. Tage links total, reagirt rechts un-
geachtet der Krämpfe. 3. Tag: bis auf einen nasalen Streifen vorhanden.
4. — 6. Tag: Sehstörung noch vorhanden, doch wegen mangelhafter Reaction
nicht genügend abzugrenzen. Vom 8. Tage an keine Sehstörung mehr. Gegen
Licht: indifferent bis zum 8. Tage, an diesem Tage links nichts, rechts
blinzelt er, am 10. Tage gleichgültig, schnappt nach der Flamme, indiffe-
rent bis zum 13. Tage, an diesem Tage erst gleichgültig, schnappt dann nach
der Flamme, verbrennt sich, darauf heftig scheuend. Später bis zu Ende bei-
derseits gleiche, mehr weniger starke Reaction.
Optische Reflexe: Bis zum4.Tage links fehlend, rechts sehr deutlich;
an diesem Tage auch rechts fehlend, dann bis zum 8. Tage rechts schwach
vorhanden, bis zum 10. Tage rechts immer deutlich, links fehlend, von diesem
Tage an auch links schwach bis zum 13. Tage; von da an beiderseits gleich,
manchmal links etwas schwächer, mehr weniger deutlich vorhanden.
Nasenlidreflex: Links abgeschwächt bis zum4.Tage, an diesem Tage
beiderseits fehlend, am 5. Tage links fehlend, rechts angedeutet. Vom 7. bis
13. Tage links abgeschwächt vorhanden, von da an beiderseits gleich, manch-
mal links etwas schwächer.
Gestorben am 36. Tage.
Section: Häute sonst normal, links einige zarte, leicht lösliche Ver-
wachsungen zwischen Dura und Pia. Im Gebiet des Gyrus sigmoides fehlt
beiderseits die Rinde. Verwachsung mit der die Knochenlücke schliessenden
narbigen Membran. Auf beiden Seiten hier, besonders links tiefergehende Er-
weichungsherde; links fast die innere Kapsel erreichend, rechts kleiner,
durch Blutfarbstoff bräunlich verfärbt.
— 192 —
D. Skarificationeii.
BeobaditTing- 30.
Kleines, junges Thier. Aufdeckung im Gebiete des Gyrus sigmoides
links, auf sagittal 16, frontal 14 mm. Oberflächliche Skarification (immer ca.
2 mm tief) der ganzen vorliegenden Rinde.
Fiff. 34.
Fig. 35.
Motilitätsstörungen: Hochgradig, mit Voltelaufeu und Krümmung-
der Wirbelsäule beim Liegen .nach rechts convex bis zum 4. Tage. Verlieren
sich allmählich, nach 2Y2 Monaten noch spurweise.
In der Schwebe: Hängt lange Zeit gänzlich, nach 3 Monaten noch
i;)3
leicht gestreckt. Beim Begreifen fehlt Reaction 2Y2 Monate gänzlich, nach
3 Monaten vorn noch stark abgeschwächt, hinten fehlend.
Sehstörung: Bis zum 3. Tage völlig blind; dann allmählich sich
bessernd, am 15. Tage noch in breitem temporalen Streifen; am 19. Tage nur
ganz aussen unsicher, am 25. Tage beiderseits gleich. Gegen Licht immer
beiderseits gleichgültig, nur am 10. Tage rechts schvi^ächere Reaction.
Optische Reflexe: 2 Stunden nach der Operation beiderseits in ge-
ringem Maasse vorhanden. Vom 2. Tage an rechts fehlend, vom 16. Tage an
allmählich wiederkehrend, nach 5 Wochen noch abgeschwächt, nach zwei
Monaten normal.
Nasenlidreflex: Fehlt bis zum 5. Tage, nachher abgeschwächt, vom
10. Tage an beiderseits gleich.
Getödtet 4 Monate nach der Operation mit Curare, nachdem inzwischen
3 Monate nach der Operation eine zweite Operation im Hinterlappen ausge-
führt war.
Section: Vor der hinteren Operationsstelle leichte Verklebung zwischen
Dura und Pia ; sonst beide Häute normal. Die vordere Operationsstelle bedeckt
den vorderen Schenkel des Gyrus sigmoides nach hinten bis zum Sulcus cru-
ciatus, nach vorn noch wenig auf den Stirnlappen übergreifend, lateral an der
IL Urwindung abschliessend. Auf einem Durchschnitt sieht man einen etwa
keilförmigen Herd von Narbengewebe, der sich allmählich verjüngend, sich etwa
2—3 mm in die weisse Substanz hineinerstreckt. Das Rindengrau fehlt im
Gebietdes vorderen Schenkels des Gyrus. Der Seitenventrikel ist links erwei-
tert und nach der Narbe zu ausgezogen.
Beobachtung- 31.
Aufdeckung des vorderen Schenkels des G3'rus sigmoides links bis eben
an den Sulcus cruciatus, sagittal 16 mm, frontal an der Tabula vitrea 12 mm.
Ca. 19 Einstiche in die freiliegenden erregbaren Stellen.
Fig. 36.
Hitzig, Gesammelte Abhandl. II. Theil.
13
— 194 —
Motilitätsstörungen: Unmittelbar nach der Operation nachweisbar,
aber unerheblich ; weitere Notizen fehlen.
Sehstörung: Am 2. Tage bis auf nasalen Streifen reactionslos, dann
verschwunden. Gegen Licht am 2. und 3. Tage abgeschwächt.
Optische Reflexe: 5 Stunden nach der Operation beiderseits vorhan-
den. Nur wenig und schwankend verändert bis zum 4. Tage.
Nasenlidreflex unverändert.
Getödtet 4Y2 Monate nach der ersten Operation. Da an der Stelle dieser
noch eine zweite Operation vorgenommen ist, werden die Resultate der Sec-
tion hier nicht angeführt.
Junger Hund. Aufdeclcung des linken Gyrus sigmoides auf sagittal 19,
frontal 14 mm. Ausgiebige Skarification des hinteren Schenkels und des late-
ralen Drittels des vorderen Schenkels.
Motilitätsstörungen: Deutlich, aber verhältnissmässig gering und
schnell verschwindend. Am 14. Tage noch nachweisbar.
In der Schwebe: Hängt in der Regel massig gestreckt, manchmal nur
wenig anders als links. Reaction auf Begreifen fehlt während der ganzen
Dauer der Beobachtung.
Sehstörung: Gegen Fleisch am 2. Tage auf temporalem Streifen; am
3. und 4. Tage dort vielleicht noch unsicher, dann normal. Gegen Licht am
2. Tage links scheuend, rechts nicht; später indifferent, jedoch am 11. Tage
gegen oscillirendes Licht links häufiger Blinzeln als rechts.
Optische Reflexe: 3^2 Stunde nach der Operation eher stärker, am
2. Tage fehlend, bis zum 10. Tage; vom 12. bis zum 15. Tage rechts noch
abgeschwächt.
Nasenlidreflex am 2. und 3. Tage abgeschwächt, dann normal.
Hund gestorben 2 Monate nach der 1. Operation.
Wegen des Obductionsbefundes vergl. Beobachtung 29.
Beobachtixug: 33.
Aufdeckung links vorn sagittal 17, frontal 15 mm. Skarification des hin-
teren Schenkels und des lateralen Drittels des vorderen Schenkels.
Motilitätsstörungen: Am 2. Tage recht erheblich, am 6. Tage schon
stark in der Abnahme; am 33. Tage noch Spuren, am 35. Tage nicht mehr
nachweisbar.
In der Schwebe: Hängt massig gestreckt, bald mehr, bald weniger
bis zum 33. Tage. Beim Begreifen alsdann noch keine Reaction.
Seh Störung: Am 2. Tage bis auf nasalen Streifen vorhanden, am
3. Tage noch temporaler Streifen; am 4. Tage verschwunden. Gegen Licht
beiderseits gleichgültig, nur am 11. Tage blinzelt er links häufiger als rechts.
Optische Reflexe: Am Operationstage, 6 Stunden nach der Operation
rechts stärkere Reaction ; fehlen dann rechts bis zum 13. Tage, von da an all-
mählich wiederkehrend; am 35. Tage noch schwächer als links.
195
Nasenlidreflex: Am 2. Tage abgeschwächt, nachher normal.
Getödtet 3 Monate nach der Operation.
Fig. 37.
Section: Dura und Pia normal. Die Operationsstelle nimmt den ganzen
Gyrus sigmoides ein, ohne auf die Nachbarwindungen überzugreifen. Der
Durchschnitt zeigt nur eine ganz flache Zerstörung der Rinde, das Grau ist
durch Narbengewebe flach ersetzt. Die weisse Substanz ist nicht mit-
verletzt.
E. Exstirpationeu.
a. Einseitige Operationen.
Beobaciitung- 34.
Freilegung des linken Gyrus sigmoides, Umschneidung des hinteren und
des hinteren Theiles des vorderen Schenkels desselben auf ca. 1 cm Tiefe,
Abtragung der umschnittenen Partie mit dem Präparatenheber, mit Ausnahme
der medialsten Partie, die unterschnitten wird. Knocheulücke sagittal 17 mm,
frontal 13 mm. Ziemlich starke Blutung aus einer Knochenarterie und aus
einer zwischen Dura und Pia verlaufenden Vene.
Motilitätsstörungen: Sehr hochgradig, steht anfänglich gewöhnlich
auf dem Dorsum des rechten Vorderfusses, das rechte Hinterbein stark dis-
locirt, liegt mit dem Rücken nach rechts convex; vom 10. Tage an langsam
abnehmend, am 14. Tage (Tag der 2. Operation) noch hochgradig.
In der Schwebe: Anfänglich keine Differenzen zwischen beiden Seiten,
.beiderseits ziemlich gestreckt. Vom 4. Tage zunehmend stärkere Streckung
der rechten Extremitäten, so dass diese sich vom 6. Tage an kreuzen. Vom
■6. Tage an bei passiven Bewegungen häufig, nicht immer, Muskelwiderstand,
besonders schnellt auch der Fuss nach passiver Beugung im Fussgelenk in die
Streckstellung zurück. Nach Pumpbewegungen wird das vorher gestreckte
13*
— 196 —
Vorderbein gelegentlich gebeugt. Vom 2. bis 6. Tage Schnauzenspitze nach
rechts, am 8. Tage nur noch Wirbelsäule nach rechts.
Sehstörung: Gegen Fleisch: An den ersten beiden Tagen nur insofern
angedeutet, als er langsamer reagirt. Nachher fehlend. Gegen Licht beider-
seits indifferent.
Fij?. 38.
Fig. 39. 2. Durchschnitt.
Optische Reflexe fehlen bis zum 17. Tage, dann noch 4 Tage ab-
geschwächt.
Nasenlidreflex: Am 2. und 3. Tage gegen Bestreichen abgeschwächt^
gegen Beklopfen normal.
Getödtet nach ungefähr 6 Wochen.
— 197 —
Section: Die Narbe bedeclvt den ganzen Gyrus. sigmoides mit Ausnahoie
des Ursprungs des Stirnlappens aus seinem vorderen Schenkel und eines
schmalen medialen Streifens, die mediale Kante stark einziehend; lateral etwas
auf die IL Urwindung übergreifend. Durchschnitt circa durch die Mitte der
Narbe: Hirnnarbe ist verhältnissmässig flach, Gyrus erscheint zusammenge-
zogen, so dass die IL Urwindung der Medianspalte etwas näher als normal
liegt. Die ünterschneidung reicht bis zur Medianspalte, es steht aber medial
noch eine schmale, allerdings narbig veränderte Rindenbrücke. Von der Narbe
geht ein feiner strichförmiger Erweichungsstreifen in der Markleiste des Gyrus
«inige Millimeter basalwärts. Der linke Ventrikel ist vielleicht ein wenig er-
weitert. 2. Durchschnitt 2 mm weiter nach vorn als der erste: Von der Nar-
benkappe erstreckt sich ein ziemlich breiter Erweichungsstreifen, der mit einem
etwa 2 mm grossen Erweichungsherd am Fuss des Stabkranzes unmittelbar
am Uebergang in den Balken endigt, derart in die Tiefe, dass er die ganze
Verbindung der Balkenstrahlung an dieser Stelle unterbricht. Auf dem dritten
Durchschnitt, noch 2 mm weiter nach vorn, ist die narbige Veränderung etwas
grösser geworden.
BeobaditiTiag' 3S.
Aufdeckung des Gyrus sigmoides links. Unterschneidung des ganzen
Gyrus mit dem Präparatenheber, Abtragung desselben mit der Schere.
Motilitätsstörungen: Anfänglich hochgradig, vom 8. Tage an all-
mählich abnehmend.
Fig. 40.
In der Schwebe: Hängt rechts vorn gestreckt, nach aussen deviirend,
schlaff, beim Pumpen gegen den 11. Tag öfter Spreizen der Zehen. Beim Be-
greifen keine Reaction.
— 198 —
Sehstörung: Gegen Fleisch wegen Aengstlichl'eit des Thieres nicht zu
untersuchen; gegen Licht bis zum 11. Tage rechts indifferent, links scheut er
stark und beisst nach dem Licht; nachher krank.
Optische Pteflexe fehlen, gegen Schluss der Beobachtung vielleicht
manchmal gegen flache Hand angedeutet.
Nasenlidre-flex ungestört.
Fiff. 41. 1. Durchschnitt.
H
Flg. 42. 2. Durclischniu. HH. Herde.
Gestorben nach 3 Wochen.
Section: Pia zart und glatt. Auf dem linken Gyrus sigraoides sitzt,
denselben vollkommen bedeckend, eine 20 mm sagittal und 15 mm frontal
— 199 —
messende Narbenkappe auf, die medial bis zur Medianspalte reicht. Die Gren-
zen des Gyrus werden nicht überschritten. Der ganze vordere Abschnitt der
Hemisphäre erweist sich als verschmälert und nach der Narbe zu zusammen-
gezogen. 1. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe, dem Sulc. cruc. ent-
sprechend. Rechte Hemisphäre: Grösste Breite 21 mm, linke 18 mm. Von der
Narbe auf der linken Hemisphäre ziehen blutig verfärbte Erweichungsstreifen
basalwärts, bis zum oberen Winkel des dort beginnenden Seitenventrikels.
2. Durchschnitt 2 — 3mm hinter dem hinteren Rande der Narbe: Im oberenTheil
der inneren Kapsel findet sich ein leicht blutig verfärbter, etwa linsengrosser
Erweichungsherd, der sie fast völlig durchtrennt und nur medial und lateral
ganz schmale Streifen Markweiss intact lässt. Ein zweiter kleiner Herd findet
sich im medialen dorsalen Bezirk des Centrum semiovale. Der Querschnitt,
namentlich sein dorsaler Theil, ist stark atrophisch.
Keobaclitiiiio- 30.
Mittelgrosser Hund. Aufdeckung des Gyrus sigmoides links. Schädel-
lücke sagittal-medial 24, lateral 19, frontal 14,5 mm. Der Gyrus wird mit dem
Präparatenheber an den äusseren drei Seiten auf ca. 1 cm tief umstechen, dann
bis zur Palx unterschnitten und endlich mit der Schere abgetragen. Nicht
erhebliche, aber anhaltende Blutung, so dass längere Zeit mit einigen Stück-
chen Feuerschwamm tamponirt werden muss.
Fiff. 43.
Motilitätsstörungen: Sehr hochgradig, bleibt unter anderem mit
beiden rechten Beinen auf dem Dorsum stehen, wenn man ein linkes Bein auf-
hebt; hebt man beide linken Beine auf, fällt er um (vergl. Fig. 13). Sehr
allmähliche Abnahme der Motilitätsstörung vom 9. Tage an ; am 13. Tage
(2. Operation) noch sehr deutlich.
— 200 —
In der Schwebe (vergi. Beobachtung 8): Beim Begreifen rechts gleich
Null, links hinten starke Reaction, links vorn giebt er die Pfote.
Sehstörung: Am 2. Tage maximal, reagirt gegen Fleisch erst auf dem
Nasenrücken, gegen Licht nicht; am 3. Tage ist der nasale Streifen etwas
breiter geworden, im unteren medialen Quadranten wird Fleisch regelmässig
bemerkt; am 4. Tage fehlt Reaction gegen Fleisch nur noch bis zur Mitte. Am
Fig. 44. 1. Durchschnitt.
Fig. 45, 2. Durchschnitt.
6. Tage überall Reaction auf Fleisch, auch die bis dahin fehlende Reaction
auf Licht ist vorhanden, jedoch bis zum Ende der Beobachtung (12. Tag) ab-
geschwächt.
— 201 —
Optische Reflexe: Fehlen gänzlich bis zum 23. Tage, dann noch
5 Tage (bis zum Tode) abgeschwächt.
Nasenlidreflex (auch Sensibilität in der Nase) ungestört.
Getödtet nach 4 Wochen.
Section: Häute normal. Die etwa 25 mm im sagittalen und frontalen
Durchmesser grosse Narbe bedeckt den ganzen Gyrus sigmoides und reicht bis
an die hier etwas eingezogene mediale Kante desselben. Vorderer Durchschnitt
ungefähr durch den Sulcus cruciatus: Die Narbenkappe sitzt noch etwas auf
der II. ürwindung auf, die Rinde ist dort etwas abgeblasst. Rinde des Gyrus.
sigmoides und darunterliegendes Markweiss zerstört. Von der Narbe zieht ein
Erweichungsstreifen bis auf 2mm an die Spitze des Seiten ventrikels heran, ebenso
ein feiner Streifen in die Markleiste der 11. ürwindung. Hinterer Durchschnitt
am hinteren Ende der Narbe: Der Gyrus ist stark verschmälert, nur der me-
diale Theil ist erhalten, in die Lücke hat sich die II. ürwindung hineingelegt.
Die Narbe zieht sich von der Oberfläche bis in den Balken hinein, der noch
in seinem lateralen ventricularen Theile von kleinen Erweichungsherden durch-
setzt ist.
Beobachtung- ST^.
Ziemlich kleiner Hund. Aufdeckung des Gyrus sigmoides links. Schä-
dellücke sagittal 21, frontal 10 mm. ümschneidung des Gyrus etwa 1 cm tief
und Abtragung von hinten her mit der breiten Seite des Präparatenhebers.
Motilitätsstörungen: Am zweiten Tage zeigt er beim umherlaufen
deutliches Voltelaufen nach links, dreht sich auch oft fast auf der Stelle
Fig. 46.
links herum, sogar beim Fressen aus dem Teller; Voltelaufen gelegentlich noch
am 12. Tage. Anderweitige Motilitätsstörungen massig hochgradig, öfter durch
Ortsbewegungen des von jeher lebhaften Thieres theilweise verdeckt.
— 202 —
In der Schwebe: Hängt stets rechts mehr oder weniger stark gestreckt.
Die Streckung nimmt beim Begreifen und passiven Bewegungen häufig, beim
Zeigen von Fleisch vom 6. Tage an zu. Die Muskulatur zeigt in der Regel
keinen, an einzelnen Tagen aber vorübergehend einen mehr oder minder star-
ken Widerstand gegen passive Bewegungen.
Sehstörung: Gegen Fleisch am 2. Tage Reaction nur im schmalen,
nasalen Streifen, am 4. Tage in der medialen Hälfte des Gesichtsfeldes, in der
unteren Partie besser; am 6. Tage zweifelhaft, ob noch vorhanden, vom 7. Tao-e
an fehlend. Gegen Licht: Reaction fehlend am 2. Tage, vom 4. Tage an sehr
deutlich vorhanden.
Fig. 47.
Optische Reflexe: Fehlen bis zum Schluss der Beobachtung gänzlich,
obwohl sie am 11. und 12. Tage anscheinend nachweisbar gewesen waren,
(Gekreuzter Reflex?) Links waren sie stets sehr lebhaft.
Getödtet nach 27 Tagen.
Section: Pia zart und glatt. Unterhalb der Operationsstelle findet sich
ein flaches, derbes, bereits ziemlich entfärbtes, der Innenfläche der Dura an-
haftendes, mit der Pia nicht verklebtes Blutcoagulum, das sich bis zur Basis
herunterzieht, ebenso in die Medianspalte des Gehirns zwischen den beiden
Operationsstellen bis nach dem vorderen Pol der Stirnhöhle sich erstreckt.
Die ca. 20 mm sagittal und 13 mm frontal messende Narbe sitzt dem Gyrus
sigm. auf, ihn in seiner ganzen Ausdehnung zerstörend. Die Zerstörung reicht
bis zur Medianspalte des Gehirns, die Kante ist hier nach der Narbe zu ein-
gezogen. Durchschnitt etwa durch den Sulc. cruc. : Das Rindengrau und die
ganze darunterliegende Marksubstanz im Gebiet des Gyrus ist vollständig zer-
— 203 —
stört, von der Narbe aus ziehen Erweichungen nach dem Balken zu und unter
dem Sulc. coronalis weg in die II. Urwindung. Der Querschnitt ist verzogen
und stark verkleinert.
Beobaclitung' 3S.
Aufdeckung des linken Gyrus signioides auf 18 mm sagittal und 16 mm
frontal. Lateral ist ein schmaler Abschnitt der II. Urwindung freigelegt. Vorn
ist der Ursprung des Stirnlappens aufgedeckt. Unterschneidung und Abtragung
des freiliegenden Theiles des Gyrus sigmoides von hinten her und thunlichste
Zerstörung der schmalen medialen, nicht mit aufgedeckten Partie. Massige
Blutung.
Motilitätsstörungen: Dreht und zwar noch am 5. Tage nach links.
Anderweitige Motilitätsstörungen hochgradig, noch am 5. Tage maximal, am
9. Tage erheblich abgenommen; ist der Hund etwas lebhaft, so setzt er bei
jeder Berührung das rechte Vorderbein fort, lässt auch nicht mit dem Dorsum
aufsetzen. Legt man ihm aber die Hand mit sanftem Druck auf den Rücken,
so lässt er aufsetzen und dislociren. Am 19. Tage hebt er auf dem Tisch beim
Fressen bei der leisesten Berührung das rechte Vorderbein in die Höhe. Rech-
Fig. 48.
tes Vorder- und Hinterbein kann man noch mit dem Dorsum aufsetzen, beide
Beine rutschen noch aus, lassen sich dislociren, aber nur, wenn der Hund ganz
beruhigt ist und man einen leisen Druck auf den Rücken ausübt, dabei und
später spontanes Ausrutschen mit den rechten Extremitäten.
In der Schwebe: Hängt vom 2. Tage an dauernd gestreckt und schlaff.
Auf Pumpbewegungen beugt sich gelegentlich das rechte Hinterbein stärker,
so dass es sich mit dem Vorderbein kreuzt.
Seh Störung: Gegen Fleisch am 2. Tage nicht zu untersuchen, am
3, Tage laterale Hälfte, am 4. Tage in der Schwebe ein nicht sehr breiter late-
— 204 —
raler Streifen, der auf dem Tische breiter erscheint. Am 5. Tage, wenn über-
haupt, dann nur noch geringe Sehstörung. Der untere laterale Quadrant hellte
sich früher auf. Gegen Licht bis zum 9. Tage beiderseits indifferent, an die-
sem Tage beiderseits scheuend.
Fiff. 49.
Fig. 50. Die 1. Reihe der Gesichtsfelder bezieht sich auf Beob. 38,
die 2. Reihe auf Beob. 42.
Optische Reflexe: Fehlen anfangs gänzlich, beginnen vom 7. Tage an
zurückzukehren, am 13. Tage beiderseits gleich.
Nasenlid refl ex: Stets lebhaft, obwohl am 2. und 3. Tage etwas ab-
geschwächt.
Getödtet nach ca. 10 Wochen nach einer 2. Operation.
Section: Häute normal. Die Auflagerung misst 18 mm sagittal, frontal
in der Mitte 13 mm. Sie nimmt den ganzen vorderen Schenkel und einen
grossen Theil des hinteren Schenkels des Gyrus sigmoides ein; der mediale
Rand der Hemisphäre ist stark eingezogen. Durchschnitt mitten durch den
Sulcus cruciatus: Die Stelle des Gyrus sigmoides ist durch ein narbiges Ge-
— 205 —
webe eingenommen, an das sich eine grössere Anzahl von grau-röthlichen Er-
weichungsherden in der weissen Substanz anschliesst. Die Erweichungsherde
erreichen aber nicht den nach oben starif ausgezogenen Ventrikel.
ß. Operationen der zweiten Seite.
Beobaditnng- 3d.
Derselbe Hund von Beob. 34. Freilegung des rechten Gyrus sigmoides,
Knochenlüclce 14 mm sagittal, 15 mm frontal. Exstirpation des Gyrus sehr
tief und ausgiebig mit Präparatenheber. Aus dem Grunde der Wunde entleert
sich anscheinend Cerebrospinalflüssigkeit. Geringe Blutung.
Motilitätsstörungen: Links maximal bis zum 16. Tage, auch rechts
immer sehr hochgradig, dann allmählich abnehmend, am 29. Tage bei Schluss
der Beobachtung beiderseits noch sehr deutlich.
In der Schwebe: Hängt beiderseits während der ganzen Beobachtungs-
dauer mit den Vorderextremitäten stark gestreckt, schlaff, nur am 6. Tage links
vorn im Fussgelenk federnder Muskelwiderstand.
Fig. 51.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Hund sehr apathisch, in der Schwebe
nicht zu untersuchen, auf dem Tisch vom 2. Tage an Sehstörung nachweisbar,
aber nicht immer abzugrenzen, am 3. Tage breite temporale Sehstörung, unten
weniger ausgesprochen; am 6. Tage ca. ein Drittel, dann nicht mehr nachweisbar.
Gegen Licht: fehlt P^eaction bis zum 8. Tage, dann beiderseits indifferent bis
zum 12. Tage, wo er beiderseits deutlich, rechts stärker, scheut. Am 17. Tage
beiderseits gleich, schon weit aussen scheuend. Zwischendurch indifferent.
Optische Reflexe: Beginnen vom 6. Tage an sich rechts schwach ein-
zustellen, links am 29. Tage die ersten Spuren.
Nasen lidrefl ex dauernd links abgeschwächt.
206
Hund immer sehr stumpf, apathisch, in der Schwebe für Fleisch nicht
mehr zu fixiren.
Getödtet am 29. Tage.
Section: Der linken Seite entsprechend, nur reicht die Narbenkappe
etwas weiter nach vorn und nicht bis zur medialen Kante, wohl aber ist diese
auch hier stark eingezogen. Durchschnitt (wie links): der Defect dringt keil-
förmig in die Hirnmasse vor, die an dieser Stelle durch dichtes Narbengewebe
ersetzt wird. Er reicht nicht, auch nicht in Gestalt einer Unterschneidungs-
spalte, bis an die Medianspalte, doch ist dieser Theil der Rinde stark abge-
blasst. Im Marklager dicht über der Spitze des Nucleus cäudatus findet sich
ein, mehrere Millimeter grosser Erweichungsherd, der einen Zapfen noch in
den Balken hinüberschickt. Der Ventrikel ist auf diesem Durchschnitt nicht
verletzt. Die angrenzenden Rindenpartien, besonders der II. Urwindung und
die des einschneidenden Sulc.coronalis sind stark abgeblasst. Die II. Urwindung
ist auch hier medial verzogen, der Querschnitt des Gyrus sigmoides verschmä-
lert. Auf dem II. Durchschnitt, 2 mm vor dem ersten ist die narbige Verän-
derung etwas kleiner geworden.
Derselbe Hund von Beob. 36. Aufdeckung des Gyrus sigmoides rechts.
Der hintere Schenkel liegt nicht ganz frei. Abtragung des Gyrus auf ca. 1 cm
Tiefe, wie bei der vorigen Operation thunlichst weit nach der Mittellinie zu.
Bald nach der Operation kriecht der Hund auf dem Bauche nach rechts im
Kreise herum.
Fig. 52.
Motilitätsstörungen: Am 2. Tage hochgradige Motilitätsstörung
links, die rechtsseitige hat nicht zugenommen. Liegt nach links convex,
Schnauzenspitze nach rechts. Die Motilitätsstörungen bleiben, abgesehen von
— 207 —
einer geringen Abnahme vom 7. Tage an, bis zum Sclihisse der Beobachtung
unverändert.
In der Schwebe: Am 2. Tage hängt er beiderseits massig gestreckt.
Am 3. Tage hängt er links schlaff herab, aber nicht extrem gestreckt, rechts
leicht gebeugt, streckt rechts aber sofort, wenn man ihm Fleisch vorhält. Vom
5. Tage an streckt er beide Beine beim Vorhalten von Futter, ein Symptom,
welches linkerseits in den nächsten Tagen noch zunimmt. Die Extremitäten
zeigen dabei gegen passive Bewegungen keinen Widerstand. Beim Begreifen
niemals Reaction.
Sehstörung: Fehlt gegen Fleisch am 2. Tage wahrscheinlich, vom
3. Tage an sicher. Gegen Licht verhält er sich beiderseits indifferent.
Optische Reflexe: Fehlen links, stellen sich rechts allmählich, nicht
alle Tage gleich, wieder ein, so dass sie gegen Ende der Beobachtung dort
auch gegen schmale Hand öfter nachweisbar sind. Zu dieser Zeit beginnen sie
auch links wiederzukehren.
Nasenli dreflex unverändert.
Der Hund wurde nach der zweiten Operation blödsinnig, wurde aber
nicht bösartig und zeigte keinen vermehrten, sondern eher einen verminderten
Bewegungs drang.
Getödtet am 15. Tage.
Section: Häute normal. Die runde 15 mm im Durchmesser messende
Narbe bedeckt wie links den Gyrus sigmoides bis auf einen etwa 3 mm breiten,
aber eingezogenen medialen Streifen. Vorderer Durchschnitt (ungefähr durch
den Sulcus cruc): Rinde des Gyrus und ein grosserTheil des darunterliegenden
Markes durch eine ziemlich derbe braune Narbe ersetzt, die sich aber weniger
zusammengezogen hat als linkerseits, so dass der Gyrus weniger stark ver-
schmälert erscheint als dort. Auch der mediale, nicht von der Narbe bedeckte
Theil zeigt sich unterschnitten, das Grau hier abgeblasst. Von der Narbe zieht
ein blutig durchsetzter Zapfen medialwärts. Ausserdem fanden sich dicht über
dem oberen Winkel des Nucl. caud. ein Erweichungsherd und ebenso unter
dem Sulc. coronalis im Markweiss. Hinterer Durchschnitt am hinteren Ende
der Narbe: Das Markweiss des Gyrus sigmoides und eines Theiles der H. Ur-
windung bis herunter zum Eintritt des Balkens und das laterale Ende dieses
sind blutig durchsetzt und narbig verändert. Die Rinde des Gyrus bis auf
den abgeblassten medialen Theil völlig zerstört.
Beobaclitim^ 41.
Derselbe Hund von Beob. 37. Ausgedehnte Freilegung des rechten Gyrus
sigmoides, der dann mit Präparatenheber und Schere in der Tiefe von ca. 1 cm
abgetragen wird. Die Zerstörung erstreckt sich auch unter die Knochenränder
der Lücke und nach der Palx zu ausgiebig.
Motilitätsstörungen: Am 2. Tage ziemlich hochgradig, am Schluss
der Beobachtung (12. Tag) noch sehr deutlich. Am 2. Tage Voltelaufen. Der
Bewegungsdrang ist, wenn auch noch vorhanden, entschieden weniger hoch-
gradig als vor der Operation.
208
In der Schwebe: Hängt während der ganzen Beobachtungszeit beider-
seits gleichmässig gestreckt, am 2. Tage rechts mehr als links; meist schlaff,
gelegentlich in Folge von massenhaften Bewegungen leichten Muskelwiderstand
zeigend. Auf Pumpen und Begreifen während der ganzen Beobachtungszeit
keine Reaction.
Fig. 53.
Sehstörung: Am 2. Tage so hochgradig, dass er mit der linken Seite
des Kopfes überall anstösst, den Fleischteller links nicht sieht etc. Am 3. Tage
und später gegen Fleisch gar keine Sehstörung mehr. Gegen Licht am 2. Tage
rechts nicht, links stark scheuend, vom 3. Tage an gleichmässige Reaction, vom
4. Tage an regelmässig derart, dass er, sobald er des Lichtes ansichtig wird
(rechts wie links), zu heulen beginnt, die Nase hineinsteckt, zurückfährt, um
gleich darauf die Nase wieder hineinzustecken.
Optische Reflexe fehlen beiderseits bis zum Schluss der Beobachtung.
Nasenlidref] ex ungestört.
Getödtet am 12. Tage nach der Operation.
Section: Die 15 mm sagittal und 23 mm frontal messende Narbe sitzt
dem Gyrus sigm. derart auf, dass sie lateral bis an den Sulc. coronalis reicht,
nach vorn und hinten mit dem Gyrus abschliesst, aber nach medial eine ca.
6 mm breite Fläche freilässt. Durchschnitt: Rinde des Gyrus und ein grosser
Theil der Marksubstanz zerstört, auch das nicht von der Narbe bedeckte Stück
erweist sich als unterschnitten; der ringsum erweichte Spalt geht bis zur
Medianspalte des Gehirns. Von der Narbenkappe zieht ein breiterErweichungs-
streifen nach dem Balken und dem oberen Winkel des Nucl. caud. und ein
feiner in die Markleiste der II. Urwindung.
— 209 —
Beobaclitviiig: 4Ö.
Derselbe Hund von Beobachtung 38. Aufdeckung vorn rechts über Gyrus
sigmoides auf 20 mm sagittal, 17 mm frontal. Abtragung der Dura, doch so,
dass ein Abschnitt der II. Urwindung, der mit freigelegt war, von ihr bedeckt
bleibt. Das freiliegende Rindenstück wird mit dem Präparatenheber umstochen,
dann herausgehoben und etwa ^4 cm tief mit der Schere abgetragen. Auch
die von der medialen Brücke bedeckte Rinde wird mit dem Präparatenheber
thunlichst herausbefördert. Ziemlich erhebliche Blutung aus der Arteria cru-
ciata, die aber mit Penghawar Yambee sofort steht.
Fig. 54.
Wunde nie geschwellt oder empfindlich, dagegen wird am 5. und 6. Tage
eine massige Menge einer blutig gefärbten, nicht eitrigen Flüssigkeit durch
Druck entleert und die Wunde alsdann wieder mit JodolormcoUodium ver-
schlossen.
Motilitätsstörungen: Bevorzugt bis zum 12. Tage die Drehung nach
rechts. Motilitätsstörungen massig hochgradig, immerhin so, dass er bei Dis-
locationsversuchen des rechten Vorderbeins umfällt, allmählich abnehmend.
Die Motilitätsstörungen der rechten Seite haben in Folge der 2. Operation nicht
zugenommen.
Am 21. Tage doppelseitiger, links stärkerer Anfall von Facialiskrampf,
durch Klysma von 2,0 g Chloral coupirt.
In der Schwebe werden eine Reihe von Beobachtungen gemacht, auf
die hier nicht näher eingegangen werden soll.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage rechts ein schmaler nasaler
Streifen, links lateral oben ein amblyopischer Fleck. Am 5. Tage Sehstörung
rechts verschwunden, links der amblyopische Fleck kleiner geworden. Am
Hitzig, Gesammelte Abliandl. 11. Theil. 14
— 210 —
8. Tage auch dieser Fleck verschwunden. Gegen Licht verhält sich der Hund
beiderseits indifferent.
Optische Reflexe: Fehlen anfänglich gegen schmale Hand, gegen
flache Hand immer beiderseits nachweisbar, vom 7. Tage an beiderseits gleich.
Getödtet nach ca. 5 Wochen.
Section: Häute normal. Die Auflagerung misst 10,5 mm sagittal,
12 mm frontal. Sie sitzt auf dem vorderen Schenkel des Gyrus sigmoides und
auf dem vorderen Theil des hinteren Schenkels. Der mediale Rand ist stark
eingezogen. Beide Auflagerungen sind genau symmetrisch, nur erstreckt sich
die linke vorn und hinten etwas weiter als die rechte und noch ein wenig auf
die IL Urwindung. Durchschnitt mitten durch den Sulcus cruciatus zeigt ein
sehr ähnliches Bild wie Beob, 38, nur- ist der Ventrikel bei Weitem weniger
ausgezogen, dagegen erscheint die ganze Hemisphäre stärker atrophisch. In
der Umgebung der Narbe ist die Rinde stark abgeblasst.
F. Doppelseitige frontale Durclitrennung des vorderen
Schenkels des Gyrus sigmoides.
Beobachtung- 43.
Doppelseitige Aufdeckung der lateralen Y^ des Gyrus sigmoides. Ver-
ticale Abtrennung der nach vorn gelegenen Rinde dieses Schenkels mit dem
Präparatenheber.
Motilitätsstörungen: Am 2. Tage leichte Motilitätsstörungen an den
rechten Extremitäten. Am 3. Tage rechts wie am 2. Tage, links hochgradiger.
Am 4. Tage Zunahme der Motilitätsstörungen rechts, rutscht mit allen vier
Fig. 55.
Extremitäten auseinan-der. Abnahme der Störungen vom 12. Tage an,
17. Tage nicht mehr nachzuweisen.
am
— 211 —
In der Schwebe: Am 2. Tage hängt er rechts vorn stark, im Uebrigen
massig gestreclct. Beim Begreifen rechts vorn nichts, sonst wenig. Am
3. Tage hängt er rechts vorn nur massig, links vorn stark gestreckt, hinten
beiderseits gestreckt. Beim Begreifen vorn nichts, hinten wenig. Am 4. Tage
hängt er links vorn stark gestreckt, rechts vorn massig angezogen. Links zeigt
Fly;. 56.
H
Fig. 57. H. Erweichungsherde.
sich im Gegensatz zu rechts, bei passiven Bewegungen im Ellenbogengelenk
leichter Muskelwiderstand bei Flexion. Vom 17, Tage an beim Begreifen
überall schwache Reaction, keine Anomalien der Haltung mehr.
14*
— 212 —
Seh Störung: Gegen Fleisch: An vielen Tagen wegen Unruhe des Hun-
des nicht oder nicht deutlich zu bestimmen. Am 3. Tage links hochgradig,
fehlt rechts, am 4. Tage links fast völlig blind, rechts etwa bis zur Mitte; am
10. Tage beiderseits noch hochgradig, links mehr als rechts. Am 12. Tage
beiderseits Sehstörung, die aber nicht mehr sehr hochgradig sein kann. Am
15. Tage noch nachweisbar, nachher nicht mehr. Gegen Licht: Am 2. Tage
beiderseits wenig, aber gleich reagirend, am 3, Tage rechts scheuend, links
indifferent, am 4. Tage beiderseits wenig scheuend.
Optische Reflexe: Fehlen links gänzlich bis zum 10. Tage, dann
gegen flache Hand vorhanden. , Am 12. Tage normal. Rechts abgeschwächt
bis zum 28. Tage.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet nach 5 Wochen.
Section: Keine meningitischen Veränderungen. Linke Hemisphäre: Auf
dem vorderen Schenkel des Gyrus sigmoides sitzt die etwa 8 mm in jedem
Durchmesser grosse Narbe auf. Dieselbe reicht medial fast bis zur Median-
spalte, nach hinten und vorn schliesst sie mit der hinteren resp. vorderen
Grenze des Schenkels ab. Durchschnitt durch die hintere Hälfte der Narbe
dicht vor dem Sulcus cruciatus: Vom medialen Rand der Narbe geht eine
blutig durchsetzte Spalte 12 mm basalwärts, über der Ausstrahlungsstelle des
Balkens endend, ohne die innere Kapsel zu erreichen. Zu beiden Seiten der
Spalte finden sich punktförmige, blutig verfärbte Erweichungen im Markweiss.
Rechte Hemisphäre: Narbe liegt genau symmetrisch. Durchschnitt wie links:
Mitten im Markweiss etwas nach oben und aussen vom oberen Ende der inneren
Kapsel liegt ein etwa 2 mm im Durchmesser grosser, unregelmässig gestalteter
Erweichungsherd, ohne sichtbare Communication mit der Narbe. Schräg nach
oben medial davon, fast ganz im medialen Rindengrau liegt ein etwas grösserer
ein Blutcoagulum enthaltender Erweichungsherd.
1. Selistörungen: In den 21 vorstehend mitgetheilten Beobach-
tungen fanden sich Sehstönnigen verschiedener Art und verschiedener
Dauer 20 mal; sie fehlten nur in 1 Falle (Beob. 40), welcher eine 2.
symmetrische Exstirpation betraf, gänzlich. Im üebrigen muss die Reac-
tion der Hunde gegen Fleisch und Licht, welche sich, ganz abgesehen
davon, dass die Hunde sich vielfach, wie früher erwähnt, gegen Licht
überhaupt indifferent verhalten, keineswegs gleichmässig gestaltet, einer
gesonderten Betrachtung unterzogen Werden.
Dauer der Störung, aa) Die Reaction gegen Fleisch war beein-
trächtigt nur am 2. Tage in 1 Falle (Beob. 27 erstmalige Unterschnei-
dung des ganzen Gyrus), und zwar in unsicherer Weise, in einem
2. Falle (Beob. 34 erstmalige tiefe Exstirpation des hinteren Schenkels
dun des hinteren Theiles des vorderen Schenkels) durch einseitig ver-
— 213 —
laugsamtes Ergreifen des Fleisches, in einem 3. Falle (Beob. 31 Skari-
fication des vorderen Schenkels) durch totale Amblyopie, in einem
4. Falle (Beob. 41 Exstirpation des ganzen Gyrus der 2. Seite) durch
totale Blindheit; sie war beeinträchtigt 3 Tage in 1 Falle (Beob. 33
Skarification des hinteren Schenkels und des lateralen Drittels des vor-
deren Schenkels); 4 Tage in 2 Fällen (Beob. 25 erstmalige ünterschnei-
dung des hinteren Schenkels und des lateralen Drittels des vorderen
Schenkels und Beob. 32 Skarification des hinteren Schenkels und des
lateralen Drittels des vorderen Schenkels); 5 Tage in 2 Fällen (Beobb. 36
und 38 erstmalige Exstirpationen des ganzen Gyrus); 6 Tage in 3 Fällen
(Beob. 24 Anätzung des ganzen Gyrus, Beob. 37 erstmalige Exstirpation
des ganzen Gyrus und Beob. 39 Exstirpation des ganzen Gyrus der
2. Seite); 7 Tage in 2 Fällen (Beob. 29 Unterschneidung des hinteren
Schenkels und des lateralen Theiles des vorderen Schenkels der 2. Seite
und Beob. 42 Exstirpation des ganzen Gyrus der 2. Seite) (gleichseitiges
Auge 4 Tage); 11 Tage in 1 Fall (Beob. 26 erstmalige Unterschneidung
des hinteren Schenkels und des lateralen Theiles des vorderen Schen-
kels); 13 Tage in 1 Falle (Beob. 23 Anätzuug des hinteren Schenkels
und der hinteren Hälfte des vorderen Schenkels); 14 Tage ebenfalls in
I Falle (Beob. 28 Unterschneidung des ganzen Gyrus" der 2. Seite).
15 Tage in 1 Falle (Beob. 43 doppelseitige frontale Durchtrennung des
vorderen Schenkels des Gyrus sigmoides; links Sehstörung hochgradiger
als rechts, wo sie bis incl. 3. Tag fehlt); 24 Tage in 1 Falle (Beob. 30
Skarification des vorderen Schenkels des Gyrus sigmoides). In 1 Falle,
in dem eine Sehstörung gegen Licht nachweisbar war (Beob. 35 erst-
malige Exstirpation des ganzen Gyrus) war die Reaction gegen Fleisch
wegen Aengstlichkeit des Thieres nicht zu prüfen.
Hiernach war eine Sehstörung also vorhanden bei 2 Anätzungen
je 6 und 13 Tage, bei 3 erstmaligen Unterschneidungen je 2, 4 und
II Tage, bei 4 Skarificationen je 2, 3, 4 und 24 Tage, bei 5 erstmaligen
Exstirpationen je 2, 5, 5 und 6 Tage, während die Reactiou gegen
Fleisch in einem Falle nicht zu untersuchen war, bei 2 Unterschneidun-
gen der 2. Seite je 7 und 14 Tage, bei 4 Exstirpationen der 2. Seite je
2, 6 und 7 Tage, während in einem Falle überhaupt keine Sehstörung
nachzuweisen war; bei einer doppelseitigen frontalen Durchtrennung des
vorderen Schenkels des Gyrus sigmoides 15 Tage.
bb) Die Reaction gegen Licht war beeinträchtigt 2 Tage lang
in 1 Falle (Beob. 41 Exstirpation des ganzen Gyrus der 2. Seite);
3 Tage lang in 2 Fällen (Beob. 37 erstmalige Exstirpation des ganzen
Gyrus und Beob. 31 Skarification des vorderen Schenkels, abgeschwächt);
5 Tage in 1 Falle (Beob. 27 erstmalige Unterschneidung des ganzen
— 214 —
Gyrus); 6 Tage (mindestens) in 1 Falle (Beob. 23 Anätzung des hin-
teren Schenkels und der hinteren Hälfte des vorderen Schenkels);
8 Tage (mindestens) in 1 Falle (Beob. 29 Unterschneidung des hin-
teren Schenkels und des lateralen Theiles des vorderen Schenkels der
2. Seite); in 1 Falle (Beob. 26 erstmalige ünterschneidung des hinteren
Schenkels und des lateralen Theiles des vorderen Schenkels) 9 Tage,
die letzten 5 Tage abgeschwächt; 10 Tage in 2 Fällen (Beob. 25 erst-
malige Unterschneidung des hinteren Schenkels und des lateralen Drit-
tels des vorderen Schenkels, und Beob. 30 Skarification des vorderen
Schenkels); 11 Tage in 3 Fällen (Beobb. 32 und 33 Skarificationen des
hinteren Schenkels und des lateralen Drittels des vorderen Schenkels
und Beob. 35 (hier mindestens 11 Tage) erstmalige Exstirpation des
ganzen Gyrus); 12 Tage in 2 Fällen (Beob. 36 erstmalige Exstirpation
des ganzen Gyrus: 5 Tage fehlend, dann abgeschwächt und Beob. 39
Exstirpation des ganzen Gyrus der 2. Seite: 7 Tage fehlend, dann min-
destens bis zum 12. Tage abgeschwächt); 14 Tage in 1 Falle (Beob. 28
ünterschneidung des ganzen Gyrus der 2. Seite; 3 Tage fehlend, nach-
her abgeschwächt). Hieran schliesst sich noch die eine besondere Stel-
lung einnehmende Beob. 43 (doppelseitige frontale Darchtiennung des
vorderen Schenkels des Gyrus sigmoides), bei der die Reaction nur am
8. Tage linksseitig fehlte. In 5 Fällen (Beob. 24 Anätzung des ganzen
Gyrus, Beob. 34 erstmalige Exstirpation des hinteren Schenkels und des
hinteren Theiles des vorderen Schenkels, Beob. 38 erstmalige Exstir-
pation des ganzen Gyrus, Beob. 40 Exstirpation des ganzen Gyrus der
2. Seite und Beob. 42 Exstirpation des ganzen Gyrus der 2. Seite) ver-
hielten die Hunde sich gegen den Lichtreiz indifferent.
Zur Würdigung dieser Resultate muss die höchst verschiedene Reac-
tion der Hunde auf Licht noch etwas eingehender berührt werden. Ich
habe bereits wiederholt erwähnt, dass es Hunde giebt, welche überhaupt
in keiner Weise auf den Lichtreiz reagiren; es ereignet sich aber auch
durchaus nicht selten, dass solche Hunde, welche früher in lebhafter
Weise vor der Flamme zurückscheuten, an einzelnen oder an mehreren
aufeinanderfolgenden Tagen keinerlei Reaction auf Licht erkennen lassen,
ohne dass sie dabei krank wären oder dass man sonst einen anderen
Grund für dieses Verhalten ermitteln könnte. Dann fangen sie plötzlich
wieder an, in irgend einer Weise ihre Abneigung gegen die Blendung
zu erkennen zu geben. Dieses Verhalten tritt besonders stark in der
Schwebe hervor, aber im Princip verhalten sich die Hunde auch unter
anderen, ihnen geläufigeren Existenzbedingungen nicht anders. ISach
der Schilderung von Goltz hätte der Hund überhaupt einen Abscheu
vor glänzenden Gegenständen, z. B. vor Glasflaschen. Dies betrifft nun
— 215 —
keineswegs alle Hunde, wenn überhaupt die Majorität. Ich finde z. B.,
dass die Hunde sich viel mehr entsetzen, wenn man ihnen plützlicli die
Innenseite eines Hutes vorhält. Ebensowenig ist die Darstellung von
Loeb zutreffend, nach dem der Abscheu vor dem Stocke gleichsam zu
den angeborenen Charaktereigenschaften eines Hundes gehört, so dass
er auch, wenn er niemals einen solchen zu Gesichte bekommen hat,
davor entflieht. Ich, kann versichern, dass es zahlreiche Hunde giebt,
sogar solche, die schon Prügel genug bekommen haben, die das Er-
scheinen einer Hundepeitsche oder eines Stockes in ihrem Gesichtsfelde
durchaus kalt lässt, während eine drohende Armbewegung mit oder
ohne Reitpeitsche sie sofort verängstigt in einen Winkel verscheucht.
Dieses Verhalten der Hunde gegen ihnen mehr oder minder unerfreu-
liche Gesichtsobjecte verringert natürlich den Werth der fraglichen Un-
tersuchungsmethodeu und macht sie erheblich unsicherer als die gleich-
falls mit allerlei Mängeln behaftete Untersuchungsmethode mit Fleisch,
auf die ich noch zurückkomme. Wenn die Hunde aber reagiren, so
geschieht dies auch wieder in sehr verschiedener Weise. Ich habe be-
reits in der IL dieser Abhandlungen angeführt, dass ich mich nicht
davon überzeugen könnte, dass die Ansicht von Boensel, nach der der
Hund niemals mit Blinzeln reagire, zutreffend sei. In der That finden
sich in den vorstehenden Beobachtungen 3 Fälle, in denen der Hund
auf der nicht geschädigten Seite den Reiz des oscillirenden Lichtes mit
Blinzeln beantwortete, während der Orbicularis des geschädigten Auges
sich einmal gar nicht, die beiden anderen Male in verlangsamtem Tempo
in Bewegung setzte; diese drei Fälle stehen in meiner Sammlung von
Beobachtungen keinesvi'egs vereinzelt da. Jedoch ist es richtig, dass
sie Ausnahmen bilden. In anderen Fällen wendet der Hund den Kopf
mit grösserer oder geringerer Energie ab oder er scheut mit dem mimi-
schen Ausdruck des Entsetzens zurück, oder er beginnt Schwimmbewe-
gungen zu machen, oder er beisst nach dem Licht. Gelegentlich kann
man auch beobachten, dass der Hund mit der Pfote das Licht aus-
schlägt. In einem Falle steckte der blödsinnig gewordene Hund unter
jämmerlichem Geheul die Schnauze in das Licht. Loeb würde dieses
Verhalten vielleicht als eine Umwandlung des negativen in den positiven
Heliotropismus bezeichnen. Auf die Deutung dieser Bewegungserschei-
nungen werde ich erst später eingehen.
Inzwischen erinnere ich aber daran, dass die Angaben der Reaction
meiner Hunde auf Licht bei Weitem nicht in allen Fällen den Zeit-
punkt treffen, zu dem die normale Lichtempfindlichkeit der Netzhaut,
soweit wir dieselbe überhaupt zu untersuchen vermögen, wiederherge-
stellt war, vielmehr war sie sicher in vielen Fällen noch länger abge-
— 216 —
schwächt, als dies festgestellt werden konnte. Vergleiclien wir nach
diesen Vorbemerkungen das Verhältniss der Reaction gegen Licht und
Fleisch mit einander, so ergiebt sich, dass in den Beobb. 27, 33, 25, 32,
36 und 39 der Verlust oder die Abschwächung gegen Licht in ausge-
sprochener Weise länger anhielt als der totale oder partielle Ausfall
der Reaction gegen Fleisch. Ausserdem diiferirten diese beiden Zahlen
in der fraglichen Richtung in 2 Fällen noch um je einen Tag.
Umgekehrt währte der totale oder partielle Ausfall der Reaction
gegen Fleisch 4 mal, nämlich in den Beobb. 26, 30, 37 und 43 länger
als die Beeinträchtigung der Reaction gegen Licht. In zwei ferneren
Fällen, Beobb. 41 und 28 dauerte die Sehstörung gegen Fleisch und Licht
gleich lang und in den übrigen 7 Fällen war eine Vergleichung aus
den früher angeführten Gründen nicht möglich. —
Bei der Vornahme der angeführten Untersuchungen leitete mich
u. A. die Absicht, den Eintluss von solchen Eingriffen zu studiren,
denen eine verschieden grosse reizende oder lähmende Kraft zugeschrie-
ben werden durfte. Während die lähmende Kraft naturgemäss um so
grösser sein musste, je grösser das ausgeschaltete Areal war, wenn
dieses thatsächlich eine Art von Sehcentrura darstellte, hatte ich mir
die Vorstellung gebildet, dass die reizende Kraft unter sonst gleichen
Umständen am geringsten sein würde bei Unterschneidungen, grösser
bei Exstirpationen, dann bei Skarificationen und am grössten bei An-
ätzungen. Ich dachte mir, dass es auf beiden Wegen gelingen würde,
überzeugend nachzuweisen, ob die auf frontale Eingriffe erscheinende
Sehstörung als Folge einer Lähmung oder einer Reizung corticaler oder
anderer Centren aufzufassen sei. Der Versuch hat den letztgedachten
Voraussetzungen in keiner Weise Recht gegeben. Ein wesentlicher Un-
terschied zwischen den Folgen der einzelnen Eingriffe fand sich nicht.
Nur in der erstgedachten Richtung geht aus diesen Versuchen mit
Sicherheit hervor, dass directe Beziehungen zwischen der Grösse
des ausgeschalteten Areals und der Beeinträchtigung des
Sehactes nicht existiren. Die Dauer und die Intensität der
Sehstörung w'ar keineswegs immer am grössten, wenn der
ganze Gyrus ausgeschaltet worden war und sie war nament-
lich in dem Falle keineswegs immer am grössten, wenn dann
auch der 2. Gyrus sigmoides ausgeschaltet wurde. Ebenso-
wenig kam es in diesen Fällen zu einem Wiederaufleben der
bereits verschwundenen Sehstörung des gleichseitigen Auges;
ja, der einzige Fall, in dem eine Sehstörung überhaupt nicht
nachgewiesen werden konnte (Beob. 40), betraf gerade eine
solche totale Exstirpation des Gyrus der 2. Seite.
— 217 —
Eine Vergleichung dieser Beobachtungen mit den analogen des
I. Kapitels dieser Abhandlung ergiebt jedoch, der Voraussetzung ent-
sprechend, dass auf die jetzt geschilderten Eingriffe im Allgemeinen
eine Sehstörung von grösserer Intensität und von längerer Dauer folgte.
als in jenen Fällen, bei denen nur die Pia freigelegt war. Während da-
mals die Sehstörung und zwar mit dem ungefähren Charakter der so-
genannten Seelenblindheit nur in 1 Falle 22 Tage, in allen anderen
Fällen 8 Tage oder weniger anhielt, dauerte sie hier in zahlreichen
Fällen erheblich länger, in maximo jedoch auch nur 24 Tage.
Eine singulare Stellung nimmt bei alledem der Versuch 43 — dop-
pelseitige frontale Durchtrennung des vorderen Schenkels des Gyrus
sigmoides nahe seinem vorderen Rande — insofern ein, als die am
3. Tage rechts noch fehlende Sehstörung am 4. Tage und später deut-
lich nachweisbar war. Ich habe auf Grund einer Anzahl von anderen
Versuchen hinreichende Veranlassung zu der Annahme, dass der Eintritt
von Sehstörungen überhaupt nicht auf die Verletzung des grösseren
Theiles des vorderen Schenkels, sondern auf die Ausbreitung des Trauma
auf die von mir sogenannte erregbare Zone zu beziehen ist. Indessen
kann ich an dieser Stelle auf diesen Punkt nicht näher eingehen.
Charakter und Verlauf der Sehstörung. Die Sehstörung trug
der Art nach denselben Charakter wie bei den im I. Kapitel mitge-
theilten analogen Versuchen; dem Grade nach aber war sie, wie vor-
auszusehen, in einer Anzahl von Fällen ausgesprochener als bei jenen.
Sie hatte also, insofern sie überhaupt eintrat, den hemianopischen Charakter.
Indessen waren die Hunde in einer grösseren Anzahl von Fällen auf dem
der geschädigten Seite zukommenden Theil des Gesichtsfeldes entweder total
blind, sodass sie sogar mit der entsprechenden Seite des Kopfes anstiessen,
oder sie reagirten doch auf keinen der angewandten Reize. Ja, das Sehver-
mögen erschien sogarauf dem nasalen Streifen des Gesichtsfeldes, mindestens
mit Bezug auf den Ortssinn geschädigt; erschien dort ein Stück Fleisch,
so schnupperten die Hunde wohl in der Luft herum, aber sie vermochten
nicht, es so im Räume zu localisiren, dass sie es erschnappen konnten.
Die Sehstörung besserte sich dann ausnahmslos so, dass sie entweder
plötzlich gänzlich verschwand, was auch bei solchen Fällen vorkam,
bei denen sie am 2. Tage das ganze zugehörige Gesichtsfeld eingenom-
men hatte, oder dass sie mehr allmählich von der nasalen nach der
temporalen Seite zurückwich. In einigen Fällen konnte dieses Zurück-
weichen derart verfolgt werden, dass der Hund auf einem mehr nasal-
wärts gelegenen Grenzstreifen Fleischstücke zuerst wahrnahm, ohne sie
identifiziren zu können, während er sie dann am nächsten Tage auf
diesem Streifen erkannte.
— 218 —
Von besonderem Interesse ist die Wiederholung der bereits in
4 Fällen der I. Serie gemachten Beobachtung, dass der untere innere
Quadrant des Gesichtsfeldes entweder von vornherein weniger betroffen
war oder sich früher aufhellte, sowie, dass die Sehstörung überhaupt
sich in der unteren Hälfte des Gesichtsfeldes schneller von der Nase
nach der Schläfe zu zurückzog, als in der oberen Hälfte. Die Gesichts-
feldschemata zu den Beobb. 38 und 42 können ein ungefähres Bild von
diesem Verhalten geben. Genaueres darüber werden wir später noch
erfahren. Das fragliche Verhalten ist in den Beobb. 36, 37, 38, 39 und
42 ausdrücklich fixirt w'orden.
2. Die optischen Reflexe. Dauer. Die optischen Reflexe waren
abgeschwächt, ohne aber gänzlich zu fehlen, in 1 Falle (Beob. 31)
4 Tage und in einem 2. Falle (Beob. 42) 6 Tage. Sie fehlten gänzlich
in 1 Falle (Beob. 28) 2 Tage und waren dann noch 1 Tag abgeschwächt;
in 1 Falle (Beob. 38) 6 Tage und waren dann noch 6 Tage abge-
schwächt; in einem anderen Falle (Beob. 27) 7 Tage; in 2 Fällen
(Beobb. 23 und 29) 9 Tage und waren dann noch mindestens je 2 und
4 Tage abgeschwächt; in 2 Fällen (Beobb. 32 und 40) 10 Tage und
waren dann noch je 5 und 4 Tage abgeschwächt; in 2 Fällen (Beobb. 24
und 41) (hier mindestens) 11 Tage; in 1 Falle (Beob. 33) 12 Tage,
Abschwächung noch 23 Tage; in 1 Falle (Beob. 30) fehlten sie 15 Tage
und waren dann (unbestimmt wie lange) abgeschwächt; in 1 anderen
Falle (Beob. 34) 16 Tage, dann noch 4 Tage abgeschwächt; in einem
Falle (Beob. 25) 20 Tage, dann noch 4 Tage abgeschwächt; gleichfalls
in 1 Falle (Beob. 35) 21 Tage; in 1 Falle (Beob. 36) 23 Tage, Ab-
schwächung noch 5 Tage; in je 1 Falle (Beob. 37) 27 Tage und (Beob. 39)
28 Tage und in 1 Falle (Beob. 26) fehlten sie 35 Tage. Endlich ist zu
erwähnen, dass bei der eine doppelseitige Operation betreffenden Beob-
achtung 43 die Reflexe linkerseits 9 Tage fehlten, dann noch 2 Tage
abgeschwächt waren, rechterseits aber 27 Tage nur abgeschwächt waren.
Wenn sich also auch aus den früher angeführten Gründen eine ge-
naue Bestimmung der Dauer des Symptoms nicht geben und deshalb
eine Vergleichung dieser Dauer zwischen den beiden parallelen Ver-
suchsreihen nicht anstellen lässt, so erwächst doch der bestimmte Ein-
druck, dass auch dieses Symptom, sowohl was die gänzliche Aufhebung,
als auch was die darauffolgende Abschwächung des Lidreflexes angeht,
hier entschieden ausgesprochener war, als bei jener ersten Reihe von
Versuchen.
Der Verlauf bot in 4 Fällen (Beobb. 30, 31, 32 und 33) insofern
ein besonderes Interesse, als das Symptom bei ihnen 2 — 6 Stunden nach
der Operation jedenfalls fehlte, während der Reflex bei zweien von
— 219 —
diesen (Beobb. 32 und 33) zu der gedachten Zeit sogar stärker als auf
der anderen Seite vorlianden war. In allen 4 Fällen fehlte er nachher
gänzlich, oder war doch (in 1 Falle) 4 Tage abgeschwächt.
3". Das Verhältniss der Sehstörungen zu den optischen
Reflexen ergiebt sich am besten aus der nachstehenden Tabelle.
Tabelle U)
No. der
Sehstörung gegen
Optische
Nasenlid-
Beob.
Art der Operation
Fleisch
Licht
Reflexe
reflex
23
Anätzung
13
6 min-
destens
9 (2)
8 (3)
24
Anätzung
6
—
11 dauernd
(11 dauernd)
25
Unterschneidung
4
10
20 (4)
(4)
26
Unterschneidung
11
9
35 dauernd
(35 dauernd)
27
Unterschneidung
2
5
7
(5)
28
Unterschneidung der 2.
Seite
14
14
2 (1)
0
29
Unterschneidung der 2.
Seite
7
8
9 (4)
(13)
30
Sliarification
24
10
15 (?)
5 (4)
31
Skarification
2
3
(4)
0
32
Skarification
4
11
10 (5)
(3)
33
Skarification
3
11
12 (23)
(2)
34
Exstirpation
2
—
16 (4)
(3)
35
Exstirpation
— •
11
21
0
36
Exstirpation
5
12
23 (5)
0
37
Exstirpation
6 .
3
27
—
38
Exstirpation
5
—
6 (6)
(3)
39
Exstirpation der 2. Seite
6
12
28 dauernd
(28 dauernd)
40
Exstirpation der 2. Seite
0
—
10 (4)
0
41
Exstirpation der 2. Seite
2
2
11 min-
destens
0
42
Exstirpation der 2. Seite
7
—
(6)
—
43 links
Doppelseitige frontale
15
?
9 (2)
0
43 rechts
Durchtrennung des vor-
deren Schenkels des
Gyrus sigmoides
15
?
(27)
0
Hiernach waren die optischen Reflexe in allen Fällen geschädigt
und zwar auf die Dauer von 14 Tagen auch in dem einen Falle, in dem
keinerlei Sehstörung zu beobachten war. Ein Fall, bei dem das Seh-
vermögen geschädigt, die optischen Reflexe aber intact gewesen wären,
kam also nicht zur Beobachtung. In dieser Beziehung führte die
2. Reihe unserer Beobachtungen also genau zu denselben Resultaten wie
1) Die in Klammern gesetzten Zahlen bedeuten eine Abschwächung oder
eine fernere Abschwächung um die Dauer der betreffenden Zahlen in Tagen,
Wegen der Bedeutung der Fragezeichen wird auf den Text verwiesen.
— 220 —
die 1. Reihe, dagegen ergaben sich 2 scheinbare Abweichungen mit
Bezug auf die relative Dauer der zu vergleichenden Symptome. Die
Störung der optischen Reflexe, also das motorische Symptom, währte
freilich mehr oder minder erheblich länger als die Sehstörung,' also
das optische Symptom, in 15 Fällen und in 4 Fällen (Beobb. 23, 27, 31
und 42) verschwanden beide Symptome annähernd gleichzeitig, aber in
2 anderen Fällen (Beobb. 28 und 43 links) hielt die Sehstörung je 11
und 4 Tage länger an als die Störung der optischen Reflexe. Indessen
waren in beiden Fällen die Hunde mit Bezug auf die Sehstörung schlecht
zu untersuchen und ausserdem war sie, wenn überhaupt noch vorhan-
den, auf eine laterale Zone zurückgewichen.
4. Die Störungen des Nasenlidreflexes haben zunächst ein
Interesse mit Rücksicht auf die Localisation des Eingriffs.
Betrachten wir erst diejenigen 8 Fälle, bei denen jede Stö-
rung desselben während der ganzen Dauer der Beobachtung
fehlte, so ergiebt sich, dass in den Beobb. 28 und 43 rechts und 48
links die IL Urwindung an der Läsion nicht betheiligt war, während in
den anderen 4 Beobachtungen (bei Beob. 31 fehlt die Section) eine Be-
theiligung entweder ihrer Rinde oder ihrer Markstrahlung, wohl mehr
noch des mittleren als des hinteren Drittels der uns beschäftigenden
Region sicher nachzuweisen oder mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen
war. In der Beob. 35, in der eine ausgiebige Exstirpation vorgenom-
men war, überschritt die Narbe zwar nicht die Grenzen des Gyrus sig-
moides, gleichwohl zeigte der Durchschnitt neben einem grossen Erwei-
chungsherd, der ihre Projectionsfasern nicht ungeschädigt gelassen
haben konnte, erhebliche Zerstörungen der IL Urwindung. In dem
Fall 36 ■ — gleichfalls eine ausgiebige Exstirpation — bedeckte nicht
nur die Narbe einen Theil der IL Urwindung, sondern es zog sich auch
noch ein feiner Erweichungsstreifen in deren Substanz hinein. Bei der
Beob. 40 • — Exstirpation der 2. Seite — zeigte sich eine sehr erheb-
liche Nebenverletzung der IL Urwindung, nicht nur war ihre Rinde
stellenweise abgeblasst, sondern auch ein Theil ihres Markweisses war
blutig durchsetzt und narbig verändert. Auch bei der Beob. 41, bei
der der Sitz der Narbenkappe sich auf den Gyrus sigmoides beschränkte,
zog ein feiner Erweichungsstreifen in die IL Urwindung hinein. Jeden-
falls geht aus diesen Beobachtungen hervor, dass die IL Urwindung
und zwar in Theilen verletzt sein kann, welche mit zu dem
Areal gehören, durch das die unteren Aeste des Facialis inner-
virt werden, ohne dass der Nasenlidreflex darunter zu leiden
braucht. Bemerkenswerth ist, dass die optischen Reflexe ungeachtet
dessen sehr lange, bis zur Dauer von 28 Tagen geschädigt sein konu-
— 221 —
ten. Ja diese Schädigung dauerte in 1 P'alle (ßeob. 43 rechts) 27 Tage,
obwohl die Verletzung in diesem Falle gerade am allerweitesten vom
Orbiculariscentrum entfernt, nämlich am vorderen Rande des vorderen
Schenkels des Gyrus sigmoides angebracht war.
Fassen wir die 30 uns zu Gebote stehenden Fälle, bei
denen der Nasenlidreflex geschädigt war (in 2 ferneren Fällen
Beobb. 23 und 24 war die Section nicht zu verwerthen), in's Auge, so
können wir daraus eine 1. Gruppe, bestellend aus 6 Fällen, absondern,
bei der das Symptom nur ganz kurze Zeit, bis zu 5 Tagen, zu beob-
achten war. Von diesen 6 Fällen war bei den Beobb. 25, 27 und 34
die Hineinbeziehung der IL Urwindung in den Bereich des Trauma
mit mehr oder weniger Sicherheit nachweisbar, in 3 Fällen (32, 33
und 38) war sie nicht nachweisbar. Gleichwohl glaube ich, dass alle
diese Fälle zusammengehören. Ich habe bereits früher wiederholt darauf
aufmerksam gemacht, dass benachbarte Windungen sich in die Lücken,
welche durch Eingriffe in die Substanz des Gehirns entstehen, hinein-
zudrängen und dadurch in ihrer Integrität geschädigt zu werden pflegen.
Diesem Umstände ist auch die hier wiederholt gemachte Erfahrung zu-
zuschreiben, dass der nicht mitaufgedeckte mediale Theil der IL Urwindung
mit in den Bereich der narbigen Auflagerung hineingezogen war. Die beob-
achtete geringfügige Schädigung des Nasenlidreflexes lässt sich in allen
diesen Fällen also sehr wohl als ein durch ein indirectes Trauma be-
dingtes Nachbarschaftssymptom deuten. Die 2. Gruppe setzt sich aus
4 Fällen zusammen. Bei der Beob. 26 fand sich das Orbiculariscen-
trum zum Theil zerstört, während der Reflex mindestens 35 Tage fehlte.
Bei der Beob. 39, bei der der Reflex gleichfalls bis zum Tode (28 Tage)
fehlte, fanden sich ebenfalls deutlich sichtbare, wenn auch nicht so grobe
Veränderungen der IL Urwindung, ausserdem ein Herd im Fusse des
Stabkranzes. Bei den Beobb. 29 und 30, bei denen der Reflex 13, bezw.
9 Tage fehlte, war jedoch wieder keine Betheiligung der IL Urwindung
nachweisbar; ob dennoch eine solche vorhanden war, rauss ich dahinge-
stellt sein lassen.
Ein ferneres Interesse hat die Störung des Nasenlidreflexes in
ihrem Verhältniss zur Störung der optischen Reflexe. Dieses
Verhältniss wird aus Tabelle I. ersichtlich.
Es ergiebt sich aus ihr, dass der Nasenlidreflex gestört war:
1. in keinem Falle länger als die optischen Reflexe und zwar in
8 Fällen überhaupt nicht;
2. gleich lang in 5 Fällen;
3. kürzer als die optischen Reflexe in 7 Fällen.
Sehen wir uns die Gruppe unter 2 näher au, so finden wir, dass
— 222 —
ihre 5 Fälle in der später zu erörternden Frage des Zusammenhanges beider
Symptome überhaupt nichts beweisen können. Ausserdem wurden 2 dieser
Thiere (Beobb. 24 und 26) vor Ablauf dieser Symptome einer neuen
Operation unterworfen, der 3. Hund (Beob. 39) aber vorher getödtet.
Es zeigt sich also, dass, abgesehen von dem 4. und 5. Falle
(Beobb. 23 und 29), in allen 7, überhaupt in Betracht kommenden
Fällen ausnahmslos der Nasenlidreflex früher wiederkehrte
als der optische Reflex.
5. Für den Zweck, den ich in diesem Kapitel verfolge, ist die
Erörterung der Frage, ob die Störung des Nasenlidreflexes auf den Ein-
griff in den Gyrus sigmoides oder auf eine Nebenverletzung zu beziehen
sei, erst in zweiter Linie von Interesse. In erster Linie interessirt der
ursächliche Zusammenhang zwischen den Störungen des Seh-
actes und der durch den Opticus und sodann auch der durch
den Trigeminus angeregten Reflexthätigkeit.
Ich habe den Standpunkt, auf dem die Autoren die erstere Frage
gelassen haben, bereits in meiner IL Abhandlung^) übersichtlich dar-
gelegt. Ich hebe daraus nur hervor, dass alle Forscher, insofern sie
sich überhaupt etwas eingehender mit dem Studium dieser Reflexe be-
fasst haben, aus dem Ausbleiben der optischen Reflexe ohne Weiteres
auf die Existenz einer Sehstörung schlössen; nur Exner und Paueth
wollten es unentschieden lassen, ob das Symptom „der Störung der
Fanction des Facialis oder der Sehstörung angehöre." Nach den
theoretischen Auseinandersetzungen von Munk dagegen kann es so-
wohl durch eine Sehstörung als durch eine Störung in der Function
des corticalen Uebertragungsapparates bedingt sein. Werfen wir nun
einen Blick auf die in dem vorigen und in diesem Kapitel vorgetra-
genen Untersuchungen, so ergiebt sich zunächst aus jener ersten Reihe,
dass die optischen Reflexe während der ganzen, 6 Tage dauernden Be-
obachtung 9 gänzlich fehlten, während auch nicht die Spur einer Seb-
störung zu constatiren war und dass auch in mehreren der übrigen dort
angeführten Beobachtungen die Störung der Reflexthätigkeit erheblich
länger anhielt, als die Störung des Sehvermögens.
Auch in der jetzt vorgetrageneu Reihe von Untersuchungen findet
sich 1 Fall (Beob. 40), bei dem eine Sehstörung überhaupt nicht nach-
zuweisen war, während die optischen Reflexe 10 Tage lang gänzlich
fehlten und dann noch 4Tage lang eine Abschwächung erfahren hatten.
1) E. Hitzig, Historisches, Kritisches und Experimentelles etc. Archiv
für Psych. Bd. 35. Heft 2. S. 335—840 und diese Untersuchungen Theil IL
S. 97—102.
— 223 —
Entsprechend überdauerte die Störung der optischen Reflexe, wie bereits
oben erwähnt, die Sehstörung fast immer um ein sehr erhebliches Zeit-
maass. Indem ich im Uebrigen auf die Tabelle verweise, hebe ich aus
ihr nur die 4 ausgesprochendsten Fälle hervor: Beob. 26: 11 zu 35.
Beob. 30: 24 zu 35. Beob. 33: 11 zu 35. Beob. 36: 12 zu 28. Dabei
habe ich immer noch dasjenige Zeitmaass als Dauer der Sehstörung
angenommen, welches dem längsten Fehlen der Reaction, gleichviel ob
gegen Fleisch oder gegen Licht entsprach.
Wenn also die optischen Reflexe fehlen können, während keine Seh-
störung vorhanden ist, oder jemals vorhanden war, so folgt daraus,
1. dass eine Störung in dem zwischen Opticus. und Facialis
eingeschalteten Uebertragungsapparat unabhängig von einer
Sehstörung eintreten kann. 2. dass es unzulässig ist, von
dem Nachweise einer Störung der optischen Reflexe auf das
Vorhandensein einer Sehstörung zu schliessen.
Aus der 2. Reihe jener Untersuchungen Hessen sich zwar aus den
dort angeführten Gründen weitergehende Schlüsse nicht ziehen, in-
dessen ergab sich aus ihnen doch die Thatsache, dass bei den dort
vorgenommenen Schädigungen der Convexität des Hinterlappens die
Störung der optischen Reflexe gegen die Störung des Sehvermögens der-
art zurücktrat, dass die ersteren ungeachtet vorhandener Sehstörung
entweder vorhanden, oder in nur unerheblichem Grade geschädigt waren.
Hieraus lässt sich schliessen, dass die Störung der optischen Re-
flexe keine nothwendige Folge einer corticalen Sehstörung
ist und dass, wenn sie überhaupt in allen Fällen von der
Schädigung der Rinde direct abhängig sein sollte, der op-
tische Theil des corticalen Uebertragungsapparates an den
von mir angegriffenen Stellen der Convexität des Hinter-
lappens seinen Sitz nicht hat.
6. Die Motilitätsstörungen waren selbstverständlich entspre-
chend der Grösse der Eingriffe in den jetzt mitgetheilten Fällen mehr
weniger ausgesprochen als in der früher mitgetheilten Serie. Die In-
tensität der sie zusammensetzenden Symptome steht aber nicht durch-
gehends in gleichem Verhältniss zu der Intensität der Sehstörung, so
dass ein näheres Eingehen auf diesen Punkt nicht geboten erscheint,
nur die Beob. 43 bietet nach dieser Richtung insofern ein grösseres In-
teresse, als bei ihr die Sehstörung mit der gleichzeitigen Zunahme der
Motilitätsstörung ebenfalls erst eintrat, bezw. eine Zunahme erfuhr. Etwas
ganz Aehnliches hatte ich bereits anlässlich der Besprechung der Beobb.
14 und 15 hervorgehoben.
7. Die Sectionsbefunde. Von den mitgetheilten 21 Beobach-
— 224 —
tuugen fehlt die Section in 3 Fällen, weil bei ihnen au der gleichen
Stelle noch andere Operationen vorgenommen worden sind; 3 andere
Fälle sind inhaltlich der Sectionsbefunde, nämlich 2 Verwachsungen der
Häute (Beobb. 26 und 32) und eine subdurale Blutung (ßeob. 37) als
nicht rein zu betrachten. Wenn man sie also ausschalten will, so habe
ich nicht das Geringste dagegen einzuwenden. Ich habe ihre Mitthei-
lung aber dennoch für nützlich befunden, damit der Leser sich ein Bild
von der Gruppirung und dem Ablauf der Symptome auch in solchen
Fällen machen kann.
Betrachten wir diese 3- Fälle näher, so ergiebt sich, dass bei der
Beob. 26, welche eine feste Verwachsung der Häute erkennen liess, eine
sehr lange (35 Tage) dauernde Störung der optischen Reflexe und des
Nasenlidreflexes zu beobachten war, während die Sehstörung nicht be-
sonders lange [anhielt. Man könnte diese längere Dauer der Störung
der Reflexthätigkeit also wohl auf die nachgewiesene Meningitis be-
ziehen, aber doch nur die längere Dauer, denn die gleichen Störungen
und zwar gelegentlich von fast gleicher Dauer wurden in zahlreichen
anderen Fällen, bei denen nicht die Spur meningitischer Erscheinungen
nachzuweisen war, gleichfalls beobachtet. In dem 2. Falle (Beob. 32),
bei dem eine lockere Verwachsung der Häute gefunden wurde, waren
bei einer Sehstörung von massiger Dauer auch die optischen Reflexe
nur massig lange (15 Tage) gestört und der Nasenlidreflex sogar nur sehr
kurze Zeit (3 Tage) beeinträchtigt. Die gewonnenen Resultate werden
also durch diese beiden Beobachtungen in keiner Weise alterirt. Von
der etwaigen Einwirkung der subduralen Blutung in dem 3. dieser Fälle
ist es wirklich sehr schwer sich eine Vorstellung zu bilden. Der Hund
wurde allerdings blödsinnig, aber doch erst nach der 2., rechtsseitigen
Operation, während hier von der 1. linksseitigen die Rede ist. Die
Sehstörung dauerte nur verhältnissmässig kurze Zeit und nur die Stö-
rung der optischen Reflexe trat mit einer Dauer von 27 Tagen mehr
in den Vordergrund.
Auf die Localisation der Hirnverletzung auf die einzelnen Win-
dungen werde ich später noch zurückkommen.
b) Laterale Nachbarwindungen des Gyrus sigmoides.
Es gab zwei Wege zur Lösung der Frage, ob die Einflüsse,
welche durch einen Eingriff in den Gyrus sigmoides auf die
Function des Auges ausgeübt werden, mit Nothwendigkeit
die Verletzung seiner Rinde voraussetzen oder ob die Be-
schädigung eines Theiles der Markstrahlung genügt? Der
eine konnte in frontaler Durchtrennung der von ihm ausgehenden
— 225 —
Balinen bestehen, indem man als ?]instichspunkt eine der Nachbarwin-
duugen dieses Gyrus wälilte. Auf dem anderen Wege konnte man Un-
terschneidungen der Rinde dieser Windungen vornelimen oder diese
Rinde in anderer Weise zerstören und dann abwarten, wie tief der pri-
märe Eingriff reichen und ob, event. mit welchen Folgen sich Erwei-
chungsherde in der Markstrahlung einstellen würden.
Der erste dieser Wege, den ich, übrigens auch noch zur Erreichung
eines anderen Zweckes einschlug, hat mich nach vielen Bemühungen zu
keinen mich befriedigenden Resultaten geführt; die Ergebnisse, welche
ich auf dem anderen Wege erlangte, werden uns in dem nachfolgenden
Abschnitte beschäftigen. Diese Versuchsreihe wäre schon deshalb un-
vermeidlich gewesen, weil der von mir mitgetheilte Versuchsplan ohne-
hin die Erforschung jenes Theiles der Rinde mit Rücksicht auf ihre
Beeinflussung der Functionen des Auges in sich schloss. Natürlich
wurde sie es aber umsomehr, wenn man von diesen Gebieten aus die
Markstrahlung anderer Gyri untersuchen wollte. Vorbedingung war in
diesem Falle natüflich, dass die isolirte A^erletzung der Rinde jener
Windungen selbst mindestens nicht zu Sehstöruugen führte.
Unsere Kenntnisse von den Functionen der frontalen Schenkel der
II. — IV. Urwindung sind noch bei Weitem weniger klar umfassend und
gesichert, als die von den Functionen des Gyrus sigmoides.
Bereits in der von Fritsch und mir^) veröffentlichten Arbeit aus dem
Jahre 1870 findet sich auf Grund von Reizversuchen die Angabe, dass der
Facialis von dem mittleren Theile der II. Urwindung innervirt sei. Es heisst
da: ,,die betreffende Stelle übertrifft häufig an Ausdehnung 0,5 cm und er-
streckt sich von der Hauptknickung oberhalb der Sylvi'schen Grube aus
nach vor- und abwärts." In einer anderen Abhandlung aus dem Jahre 1873
hatte ich 2) nachgewiesen, dass der von uns damals gefundene Inner-
vationsherd für den Orbicularis palpebrarum gleichzeitig der Innervation
der contralateralen geraden Augenmuskeln diene. Ausserdem ergab sich
damals die Abhängigkeit der unteren Aggregate des Facialis von einem
mehr lateral und basal gelegenen Theile jener Windungen (IL und
III. Urwindung). Ferrier^) hat sodann angegeben, dass die vorderen
und basalen Theile jener Gegend mit Schliessbewegungen des Unter-
kiefers, Verziehung der Mundwinkel, Oeffnung der Schnauze, Bewegungen
der Zunge und verschiedenen anderen Reizeffecten antworten. Seine
1) E, Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. 1874. S. 13.
2) E. Hitzig, Ebenda S. 42ff.
3) Ferrier, Experimental Researches in cerebral Physiology etc. The
West Riding lunatic asylum Medical Reports. Vol. HL 1873.
Hitzig, Gesammelte Abhandl. II. Thieil. 15
— 226 —
Angaben stützten sich, jedoch der Hauptsache nach auf einen einzigen
Versuch; sie waren so widerspruchsvoll und die ihnen zu Grunde lie-
gende Faradisirung der Hirnrinde war mit so starken Strömen ausge-
führt worden, dass man dem ürtheil, welches andere englische Autoren
über sie aussprachen, er habe wohl die Region, aber nicht die Foci
der Repräsentation jener Bewegungen aufgedeckt, nur beistimmen kann.
Ich selbst 1) hatte bei einer Nachprüfung der Untersuchungen Ferrier's
dieselben nur zu einem Theile bestätigen können und übrigens diejeni-
gen Punkte angegeben, deren Reizung mit dem Zuckungsmiuimum Be-
wegungen der Zunge, der Kiefer, des Restes der Gesichtsmuskeln und
der vorderen Halsmuskeln hervorbringt. Auch hatte ich bei dieser Ge-
legenheit auf die Doppelseitigkeit des grösseren Theiles dieser Bewe-
gungen, insbesondere der Zuugenbewegungen, aufmerksam gemacht.
Munk^) hat zuerst in seiner Mittheilung vom 15. März 1878 die
uns hier interessireuden Windungen als „Kopfregion" bezeichnet, ohne
■dass er jedoch bei diesem Anlass mittheilt, welche besonderen Störungen
in Folge von Verletzungen dieser Region eintreten. In seiner nächsten
Mittheilung vom 29. November 1878 hat er sodann den Namen „Kopf-
region" für den vorderen Theil dieser Sphäre reservirt, den hinteren
Theil aber mit einem dahinter liegenden, bisher freigelassenen, von der
IV. Urwindung bis zur Medianebene reichenden und senkrecht auf ihr
stehenden Streifen mit dem Namen „Augenregion" bedacht. Von der
letzteren Region erfahren wir (a. a. 0. S. 50 ff.), dass ihre Exstirpation
zwar die Blinzbewegungen des Auges gegen Berührungen intact lässt,
aber das sonst „jedesmal" auf Annäherung des Fingers oder der Faust
erfolgende Blinzeln aufhebt, dass ferner die Augenbewegungen eine Be-
einträchtigung erfahren, sowie dass manchmal, nicht immer, Ptosis ein-
tritt, und dass endlich die sonst bei Reizung der Coiijunctiva zu beob-
achtenden mimischen und Abwehrbewegungen in Fortfall kommen, lieber
die „Kopfregion" heisst es sodann (S. 53): „Nach Exstirpation der Kopf-
region habe ich Seelenbewegungslosigkeit der gegenseitigen Zungenhälfte
und der dort um den Mund herum gelegenen Muskeln bestehen sehen;
ausserdem waren beim Hunde die Druckgefühle der gegenseitigen Ge-
sichtshälfte verschwunden. Die Zungenlähmung habe ich immer nur
bei weit nach unten reichender Exstirpation gefunden. Ich möchte
glauben, dass die weitere Untersuchung diese Kopfregion noch in mehrere
Regionen wird zerfallen lassen."
Ich habe diese Darstellung M unk 's stets mit Verwunderung ge-
1) E. Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. 1874. S. 63 — 113.
2) H. Munk, Gesammelte Mittheilungen. 1890. S. 33.
— 227 —
lesen. Zunächst ist mir die Abtrennung einer „Augenregion" von der
einmal „Kopfregion" getauften Sphäre nicht verständlich geworden.
Zwar hatte ich selbst vor Jahren einen Theil dieser „ Augenregion" mit
Rücksicht auf die gemeinschaftliche Function als „Centrum für Bewe-
gung und Schutz des Auges" bezeichnet. Wenn man aber schon einmal
von einer „Kopfregion" sprechen will, so sehe ich nicht ein, weshalb
die Augen und der Orbicularis palpebrarum, welche doch ebenso gut
am Kopfe liegen, wie der Rest des Facialis incl. Frontalis, die Muskeln
der Zunge, der Kiefer etc. eben nicht zu dieser „Kopfregion" gehören
sollen. Sodann erfahren wir weder bei dieser, noch bei einer anderen
Gelegenheit, in welchen Beziehungen die einzelnen Theile jenes breiten,
sich quer über die Hemisphäre erstreckenden Streifens zu den Bewe-
gungen und Empfindungen innerhalb dieser sogenannten „Augenregion"
stehen und ebensowenig sagt uns Munk irgend etwas mit Bezug auf
■diesen Punkt über denjenigen Bezirk, in dem ich das Centrum für die
Fress- und Sprechmuskeln (Untersuchungen S. 135) localisirt hatte. Wir
hören nur, er glaube, dass die weitere Untersuchung diese „Kopfregion"
noch in mehrere Regionen wird zerfallen lassen. Allerdings lag Ver-
anlassung genug zu einem solchen Glauben in den von mir soeben an-
geführten Untersuchungen. Indessen hätte Munk dann freilich erwäh-
nen müssen, dass ich selbst durch den Reizversuch schon vor ihm
eine derartige Abgrenzung der centralen Innervationsstätten für die
ganze hier in Frage kommende Muskulatur vorgenommen hatte.
Ich muss bedauern, dass er dies unterlassen und sogar auf Kosten der-
jenigen Bestätigung seiner Exstirpationsversuche unterlassen hat, welche
ihnen aus meinen Reizversuchen erwachsen musste. Sehr fraglich muss
es überhaupt, wegen der Kleinheit der Theile, erscheinen, ob eine solche
weitere Zerfällung beim Hunde durch Lähmungsversuche mit der glei-
chen Genauigkeit wie durch die Reizversuche möglich ist. In dieser
Beziehung sind die Reizversuche, wie ich früher bereits ausgeführt
habe, den Lähmungsversuchen entschieden überlegen und um so mehr
hätten sie angeführt werden sollen. Vollkommen im Unklaren lässt
uns Munk an dieser Stelle auch darüber, was er unter „Seelenbewe-
gungslosigkeit der gegenseitigen Zungenhälfte" verstanden wissen will.
Zeigte die Zunge etwa eine Deviation und nach welcher Seite war eine
solche gerichtet? Näheres über die Art dieser Störung theilt Munk^)
erst im Jahre 1882 anlässlich der Beschreibung der zufälligen Nach-
harschaftswirkungen der doppelseitigen Exstirpation des Stirnlappens
mit. Wenn die Entzündung sich in diesen Fällen nach hinten verbreitet.
1) H. Munk, Gesammelte Mittheilungen. 1890. S. 149.
15'
— 228 —
fassen die Hunde ungefähr während der Dauer der ersten Woche Fleisch-
stücke ungeschickt mit den Kiefern und vermögen mit der Zunge nur
zu lecken, nicht aber, namentlich feste Nahrung in den Schlund zu be-
fördern. Au eineV anderen Stelle (ebenda S. 174) hebt er noch aus-
drücklich hervor, dass diese Fressstörungen nur bei symmetrischer Zer-
störung dieser Regionen zu beobachten sind, so dass noch heute Unklar-
heit darüber herrscht, was Munk unter der „einseitigen Seelenbewe-
gungslosigkeit der Zunge" damals A^erstanden wissen wollte. Inzwischen
hatte Schiff bereits im Jahre 18731) einseitige Fressstörungen in
der Weise beschrieben, dass die Thiere diejenigen Theile von Knochen
und Speisetheilen überhaupt, welche der geschädigten Seite entsprechen,^
aus dem Maule verlieren imd dass ihnen Speisetheile in den ßacken-
taschen und zwischen den Zähnen zurückbleiben. Goltz 2) hatte zwei
Jahre nach jener Mittheilung von Munk den doppelseitigen Fressstö-
rungen wohl die ausführlichste Beschreibung gewidmet; aber beide
Forscher haben diese als Gegner der Localisationslehre selbstverständ-
lich nicht auf die fraglichen Regionen localisirt: insbesondere begreift
die Beschreibung von Goltz nicht nur die durch die Ataxie der Fress-
muskeln, sondern auch die durch die Ataxie der JSlackenmuskeln be-
dingten Störungen in sich. Man sieht, dass ein rechter Grund zu einem
Prioritätsstreit, wie er sich zwischen Goltz und Munk erhoben hat,,
eigentlich gar nicht vorlag. Die wenigen Beobachtungen, welche ich
bei diesen Versuchen über Fressstörungen gemacht habe, geben mir keine
Veranlassung an dieser Stelle auf dieselben zurückzukommen.
Die Autoren der italienischen Schule Luciani im Verein mit Tam-
burini und Sepilli, Bianchi und Tonnini haben, wie wir bereits
in der III. dieser Abhandlungen 3) gesehen haben, dem vorderen Schenkel
der IT. Urwindung, insbesondere auch deren Sylvi' scher Region beson-
dere Beziehungen zum Sehvermögen zugeschrieben und sich dabei
namentlich auch auf das Ausfallen der optischen Reflexe gestützt. Ich
möchte hier nur noch hervorheben, dass Luciani bei seinen mit Se-
pilli publicirten Versuchen Imal (Hund H) und bei seinen mit Tam-
burini publicirten Versuchen 4nial (Versuche II, XI, XV, XVII) vor-
übergehend eine Erweiterung der contralateralen Lidspalte beobachtete.,
ohne aber diesem Symptom besondere Beachtung zu schenken.
1) M. Schiff, Lezioni di fisiologia sperimentale sul sistema nervoso
encefalico. p. 538 f. Vergl. auch Gesammelte Beiträge pp. Bd. 3. S. 517.
2) Fr. Goltz, Ueber Verrichtungen des Grosshirns, 5. Abhandlung.
Pflüg er 's Archiv Bd. 34. S. 468 ff.
3) E. Hitzig, Historisches, Kritisches etc. Archiv für Psych. Bd. 35.
H. 2. S. 302 ff. und diese Untersuchungen Theil H. S. 63 ff.
— 229 —
Den gleichen hier in Betracht kommenden Fall hat Kckhardi)
einer Untersuchung unterzogen. Er fand keinen constanten Unterschied
iu der Weite der Lidspalten oder in den Berührungsreflexen (Conjunc-
tiva, Cilien, Haut der Lider oder der Wange) oder in den spontanen
Lidbewegungen. „Das OrbicuLarisfeld hat keinen Einfluss auf die reflec-
torische und spontane Thätigkeit des subcorticalen Centrums für die
Lidbewegungen."
Endlich haben sich R. du Bois-Reyniond und Silex^) gleichfalls
mit diesem meinem Centrum für die Bewegung und den Schutz des
Auges beschäftigt. Sie bestätigten die Resultate meiner Reizversuche
und die der eben erwähnten Eckhard 'sehen Lähmungsversuche, ausser-
dem fanden sie, dass der optische Reflex gegen flache Hand „bei ein-
seitig operirten Hunden an dem geschädigten Auge in der Regel (also
doch wohl nicht constant) häufiger ausblieb, als auf der anderen Seite."
Beiläufig sei noch erwähnt, dass sich in der caudalsten Partie dieser
Region Luciani's „Centrum der Centren" (vergl. Historisches, Kriti-
sches etc. Diese Untersuchungen Theil II. S. 64, 65.) befindet. —
Die nachstehenden Versuche habe ich in zwei Gruppen eiugetheilt,
solche, die ohne nennenswerthe motorische etc. Erfolge an den Extre-
mitäten verliefen und solche, die mit derartigen Erfolgen verliefen.
A. Versuche ohne motorische Folgen.
I3eol>aclxi;viiig" <L'i..
Kleine Hündin. Trepanation 30 mm nach vorn von Lambdanaht links
mit 14 mm Trepan. Die halbe Trepankrone auf Planum semicirculare. Rei-
zung mit Inductionsströmen, während das Thier noch nicht ganz erwacht ist,
erfolglos, nur einige zitternde Nachbewegungen im Orbicularis rechts. Aetzung
mit öproc. Carbolsäure.
In der Folge werden weder motorische, sensible, optische, noch Reflex-
störungen beobachtet.
Wegen der Section vergl. Beob. 45.
Derselbe Hund von Beob. 44; 3 Wochen nach dieser Operation. Erwei-
terung der Trepanöffnung um ca. 6 mm lateralwärts. Pia hyperämisch.
Skarification der blossgelegten Rinde mit feinem Messer und Aetzung mit
öproc, Carbolsäure.
1) G. Eckhard, Das sogenannte Rindenfeld des Facialis in seiner Be-
ziehung zu den Blinzbewegungeti. Centralbl. f. Phys. Bd. XII. No. 1.
2) R. du Bois-Reymond und Silex, Ueber corticale Reizung der
Augenmuskeln. Archiv für Anatomie und Physiologie. 1899. S. 174 ff.
— 230 —
In der Folge l^eine Spur von motorischen, sensiblen, optischen, noch
Reflexstörungen.
Getödtet nach 13 Monaten, nachdem inzwischen noch 2 Operationen, die
3. im Gyrus sigmoides, die 4. im Hinterlappen ausgeführt worden waren. In
Fig. 58.
Fig. 59.
dem nachstehenden Sectionsbefunde ist die Beschreibung der Convexität
vollständig wiedergegeben.
Dura nicht verdickt, mit Pia nur zwischen vorderer und hinterer Opera-
tionsstelle leicht verwachsen. Die Auflagerung reicht medial bis fast an die
Längsspalte des Gehirns, nach vorn und lateral noch etwas über den vorderen
Schenkel des Gyrus sigmoides hinaus, nach lateral noch eben auf die III. Ur-
— 231 —
Windung übergreifend, nach hinten bis auf etwa ^4 cm von der hinteren Ope-
rationsstelle entfernt bleibend. Vorn lateral in der III. Urwindung findet sich
ein flacher Erweichungsherd. Auf dem Durchschnitt zeigt sich Zerstörung des
Rindengraus im Gebiete der aufsitzenden Narbenkappe, Das Narbengewebe
dringt etwa 1 cm tief in das Mark hinein. Dort keine Erweichung. Der Ven-
trikel kaum ausgezogen. Hintere Operationsstelle: Die Operation hat genau
die M unk 'sehe Stelle A-,^ unterschnitten. Der Einstich ist noch etwas lateral
Ton der lateralen Begrenzung dieser Stelle. Der Ausstich etwas lateraler als
die mediale Begrenzung der Stelle. Von der vorderen Narbe gehört ca. die
hintere Hälfte den beiden hier in Frage kommenden Operationen an. Sie be-
deckt das von mir sogenannte Centrum für Bewegung und Schutz des Auges
und medial davon einen Theil der von Munk sogenannten Augenregion.
3E?eol>£iclatrxrig- 40.
Abtragung des Knochens ganz vorn und lateral bis zur Spitze des linken
Planum semicirculare, dabei Durchschneidung des Facialis. Dura am hinteren
Rande der Lücke aufgeschlitzt, Unterschneidung vornehmlich basal bis auf
den Knochen, doch auch nach vorn basal 2,5 cm lang mit dem Präparatenheber
unter seitlicher Abtrennung der unterschnitten en Theile derart, dass die seit-
lichen Schneiden des Präparatenhebers an der medialen und lateralen Grenze
des unterschnittenen Theiles gegen den Knochen angedrückt werden.
Fig. 60.
In der Folge keine Spur von optischen, motorischen, sensiblen und Pve-
flexstörungen, insbesondere auch keine Anomalieen der Zunge,
Gestorben nach ca. 2Y2 Monaten, nachdem inzwischen eine 2. Operation
vorgenommen worden war.
Section: Häute normal. An der Operationsstelle eine scharf umschrie-
bene narbige Verwachsung. Die ungefähr 7 mm breite und 12 mm lange Narbe
sitzt in dem der II. und III. Urwindung gemeinschaftlichen Theil vorn 2 mm^
hinten 6 mm lateral vom lateralen Rande des Gyrus sigmoides. 1. Durch-
- 232 — -
schnitt (2 mm vor dem hinteren Rande der Narbe): Von der Narbenkappe
geht ein nicht ganz gerader, theilweise durch Erweichungen bis 1 mm breit
erweiterter Spalt basalw^ärts bis zur basalen Pia, ohne dieselbe zu durch-
Fig. 61.
schneiden. Der Spalt geht zwischen Rindengrau und innerer ivapsel entlang.
Auf dem 2. Durchschnitt (8 mm weiter nach vorn) sieht man nichts mehr
von dem Einstich.
I3eol>£tolitTing- 4*7^.
Abtragung des Knochens auf linkem Planum semicirculare ganz vorn und
lateral, auf 21mm sagittal, 11mm frontal, unter Durchschneidung des Facialis.
Abtragung der Dura nur über der hinteren Hälfte. Unterschneidung nicht ganz
bis an die vordere Spitze, ausserdem lateral und basalwärts.
Motilitätsstörungen: Gleich nach dem Einstich tonische Contrac-
tionen, wie es scheint ausschliesslich der Lendenmuskulatur, sonst ungestört.
Sehstörung fehlt.
Optische Reflexe normal.
Nasenlidreflex ungestört.
Gestorben am 13. Tage ohne erkennbaren Grund. (Epileptischer Anfall?)
Section: Häute normal, nur scharf an der Operationsstelle mit den
weichen Bedeckungen verwachsen, Pia dort etwas höckrig und stellenweise
etwas strichförmig narbig eingezogen. Die Narbe sitzt auf der II. und 111. Ur-
windung. 1. Durchschnitt (31/2 ^^ vor dem Einstich) : Schnittförmiger Canal
etwa 4 mm von der Rinde, parallel zur Oberfläche, Ränder mit einer
schmalen Erweichungszone umgeben. Der Schnitt fällt senkrecht zur Mark-
strahlung der unterschnittenen Windung, so dass ein grosser Theil der Rinde
von seinen subcorticalen Verbindungen abgetrennt ist. Das Rindengrau ist
auch im Ganzen etwas abgeblasst, stellenweise fast markweiss. Oberhalb und
lateral vom Nucleus caudatus findet sich eine blutig sufTundirte strichförmige
Erweichungsstelle im Markweiss. 2. Durchschnitt (5 mm weiter nach vorn) :
Stichcanal nicht ganz parallel zur Oberfläche, unten etwa 3 mm, oben etwa
— 233 —
4Y2 iiiiii entfernt. Da er hier etwa in die Richtung der Markstrali lung fällt,
sind augenscheinlich wenig Fasern quer durchschnitten, das Rindengrau dar-
Fiff. 62.
Fig. 63.
über auch kaum merklich aufgehellt. Etwa ly, mm weiter nach vorn endet
der Stichcanal. Länge des Ganzen danach 10 mm. (Vergl. Beob. 2.)
BeobaelitiMig- 4S.
Trepanation ganz vorn, stark lateral auf dem Planum semicirculare links.
Erweiterung mit Knochenzange auf 19 mm sagittal, 10 mm frontal. Abtragung
der unverletzten Dura, bis auf einen schmalen Streifen rings herum und ein
breiteres Stück im vorderen Drittel. Pia unverletzt. Einstich mit dem schma-
len Ende des Präparatenhebers hinten und Unterschneidung der Rinde nach
vorn in der Richtung der Knochenlücke bis an die vordere Schädelwand; dann
wird unter noch zweimaligem Einführen des Präparatenhebers in einem Winkel
— 234 —
die Rinde lateral und medial bis an die Pia ohne Verletzung derselben ab-
getrennt.
Motilitätsstörungen fehlen sonst; rechte Lidspalte 4 Tage weiter
als linke.
Fi ff. 64.
Fig. 65. 0: Unterschneidungsstelle.
In der Schwebe: Hängt am 2. Tage rechts gestreckt und reagirt auf
Begreifen schwächer.
Sehstörung: Gegen Fleisch und Licht fehlend.
Optische Reflexe normal.
Nasenlidreflex: Am 2. und 3. Tage vielleicht abgeschwächt.
Getödtet nach 7 Wochen; inzwischen eine 2. Operation im Hinterlappen,
— 235 —
Section: Häute normal. Eine etwa 5 mm grosse Narbenkappe in der
II. Urwindung dicht vor dem Centrum für Bewegung und Schutz des Auges,
also etwas weiter nach hinten als bei der vorigen Beobachtung. Durchschnitt
(5 mm vor dem Einstich): Vom medialen Rand der Narbe ausgehend, erstreckt
sich ein schnittförmiger Spalt der Piall— 12mm nach vorn. Von diesem schon
aussen in der Pia sichtbaren Schnitt geht eine Spalte quer durch das Rinden-
grau und Markweiss etwa 6 mm medial, um unten lateral umzubiegen und fast
an die Pia heranzugehen. Länge dieser Unterschneidung etwa 15 mm.
Beobachlviiig-, 40.
Knochenlücke ganz vorn 28,5 mm sagittal, 15 mm frontal auf Planum
semicirculare links, 2 — 4 mm lateralwärts von der Linea semicircularis, unter
Vermeidung des Gyrus sigmoides, Unterminirung der vorderen Hälfte der frei-
gelegten Stelle mit dem Da viel 'sehen Löffel.
Motilitäts- und Sensibilitätsstörungen fehlen.
In der Schwebe: Hängt beiderseits gleich. Beim Begreifen Reaction
bis zum 6. Tage vorn rechts fehlend, am 7. Tage schwächer, am 8. Tage
normal.
Sehstörung: Fehlt gegen Fleisch. Gegen Licht reagirt der Hund
nicht.
Optische Reflexe: Beiderseits fehlend oder nur angedeutet, aber ohne
Unterschied.
Fig. 66.
Nasenlidreflex: Beiderseits überhaupt schwach, rechts aber theils ganz
fehlend, theils noch schwächer bis zum 17. Tage. Später beiderseits gleich.
Cornealreflex unverändert.
Sensibilität der Zunge etc.: Verliert anfänglich oft Fleischstücke,
sonst nichts nachweisbar.
— 236 —
Getödtet nach h^j^ Monaten ; inzwischen eine 2. symmetrische Operation.
Section: Häute normal. Eine etwa 23 mm lange und 10 mm breite
Narbe befindet sich lateral vom Gyrus sigmoides gerade den lateralen Rand
desselben berührend, aber nicht darauf übergreifend. Vorn erstreckt sie sich
etwa bis zum lateralwärts verlängerten Sulcus cruciatus, nach hinten 10 mm
Fig. 67.
über den hinteren Schenkel des Gyrus sigmoides hinaus. Die Narbe liegt
leicht schief von hinten medial nach vorn lateral, im Wesentlichen den hin-
teren Theil des vorderen Schenkels der IL Urwindung zerstörend. Durchschnitt
(mitten durch den hinteren Schenkel des Gyrus sigmoides) : Unter der Narbe
ist die Rinde flach zerstört, das Rindengrau, soweit es die einschneidenden
Sulci darunter umgiebt, ist jedoch erhalten.
Beol>aclxtriiig: öO.
Aufdeckung auf dem Planum semicirculare links ganz vorn und ganz
lateral auf 17,5 mm sagittal, 9,5 mm frontal. Unterschneidung der freigelegten
Partie mit dem Präparatenheber von der hinteren Peripherie der Lücke her in
der Richtung derselben nach vorn bis an den Knochen.
Motilitätsstörungen fehlen in den Extremitäten. Rechte Lidspalte
4 Tage erweitert.
Sehstörung fehlt.
Optische Reflexe: Gleich nach der Operation ungestört; vom 2. bis
4. Tage abgeschwächt, nach 5 Wochen noch abgeschwächt.
Nasenlidreflex abgeschwächt bis zum Schluss. (5 Wochen.)
Getödtet nach 7 Wochen; inzwischen eine 2. symmetrische Operation.
Section: Häute normal. Narbe von 11 mm Länffe in der II. Urwin-
— 237 —
düng, Mitte etwas nach vorn vom Sulcus criiciatus, hinterer Rand genau mit
der Einstichstelle zusammenfallend, vorderer Fand genau da, wo im Gehirn
die Unterschneidungsspalte aufhört. Durchschnitt (6 mm vor dem Einstich):
Fiff. 68.
Fig. 69. 0: Operationsstelle; H: Erweichungsherd.
Die leicht blutig verfärbte Spalte liegt genau in der Längsrichtung der Mark-
strahlung, von dieser nicht viel übrig lassend. Rinde darüber ganz leicht
abgeblasst.
238
Beobaditun^ 51.
Derselbe Hund von Beoh. 50. Aufdeckung auf rechtem Planum semicir-
•culare ganz vorn und lateral auf 2 cm sagittal. Unterschneidung wie bei
Beob. 50.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sensibilitätsstörungen fehlen, auch im Gesicht und in der Nase.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage im breiten temporalen Strei-
fen, wo er zwar fixirt, aber nicht zuschnappt; am 3. Tage keine deutliche Seh-
störung mehr, am 4. Tage sicher verschwunden. Gegen Licht fehlend.
Optische Reflexe dauernd rechts schwächer.
Nasenlidreflex rechts schwächer.
Getödtet am 13. Tage.
Section: Häute normal. Auflagerung annähernd symmetrisch, etwas
weiter nach hinten im Bereiche meines Centrums für Bewegung und Schutz
•des Auges. Die Unterschneidung ist ganz flach, ungefähr an der Grenze von
Rindengrau und Markweiss, der mediale Rand der Schneide hat dabei die Pia
<3urchschnitten. Durchschnitt (10 mm vor dem Einstich) : Unterschneidungs-
spalte hat hier gerade noch die Rinde quer durchtrennt, der grösste Theil des
Schnittes ist ausserhalb der Pia gefallen. In der Tiefe des Sulcus, der den
-Gyrus sigmoides lateral begrenzt (Sulcus coronarius), liegt ein blutig durch-
setzter Erweichungsherd im Rindengrau. (Vergl. Beob. 1.)
Beobaclxtizug- 5S.
Kräftiger, mittelgrosser Hund. Aufdeckung im linken Planum semicircu-
lare, vorderer Rand der Lücke 15 mm hinter der Spitze des Planum, auf ca.
Fig. 70.
14 mm. Paradische Reizung im vorderen unteren Wuudwinkel ergiebt Schluss
■des Auges. Skarification dieses Abschnittes auf 2—3 mm Tiefe.
Motilitäts- und Sensibilitätsstörungen (auch in der Nase) fehlen.
239
In der Schwebe: Hängt, aber nur am 2. Tage, rechts vorn etwas ge-
streckt.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage im oberen temporalen Qua-
dranten Abschwächung der Reaction.
Optische Reflexe: 2 Tage lang fehlend, am 3. Tage unvollkommen,
dann normal.
Nasenlidreflex: Fehlt am 2. Tage derart, dass man ohne Reaction bis
an den Lidrand kommen kann, dort normale Reaction; abgeschwächt bis zum
16. Tage, nachher normal.
Getödtet nach ca. 7 Monaten; inzwischen eine 2. Operation im Hinter-
lappen.
Section: Die Narbe bedeckt das Centrum für Bewegung und Schutz
des Auges und die nach vorn von diesem gelegenen Theile der H., sowie die
nach hinten gelegenen Theile der TH. ürwindung; von hier geht dann schief
nach medial zur hinteren Stelle ein Streifen, wo die Dura unlösbar mit der Pia
verwachsen ist. (Diese Verwachsung ist eine Folge der 2. Operation, da die
Häute, wie damals ausdrücklich constatirt, zart und nicht verwachsen waren.)
An der Durchschnittsstelle erscheint das Gehirn nur wenig und oberflächlich
verändert.
Aufdeckung auf linkem Planum semicirculare 17mm hinter der Spitze des
Planum auf 18 mm sagittal und 13 mm frontal. Faradische Reizung im mitt-
leren und vorderen Drittel ergiebt Lidschluss. Unterschneidung dieser Partie.
Der Hund frisst bereits ^j^ Stunden nach der Operation und ist im Allge-
meinen gut zu untersuchen; Sehstörung scheint zu fehlen. Optische Reflexe
Fig. 71.
fehlen rechts, links vorhanden.
reflex beiderseits gleich.
Nasenlidreflex rechts abgeschwächt. Ciliar-
240
Motilitätsstörungen fehlen, nur am 3. Tage etwas „Defect der
Willensenergie." Lidspalte weiter offen bis zum 23. Tage.
Sehstörung: Gegen Fleisch am 3. Tage Reaction durch Fixiren auf
der temporalen, durch Zuschnappen auf der nasalen Hälfte des Gesichtsfeldes.
Später geringere Energie beim Zuschnappen bis zur letzten Notiz am 33. Tage.
Gegen Licht beiderseits sehr indifferent.
Optische Reflexe: Am 2. Tage schwächer, am 3. und 4. Tage feh-
lend. Dann fehlend oder schwächer mindestens bis zum 18. Tage.
Nasenlid refl ex schwächer bis zum 14. Tage.
Getödtet nach 8 Wochen j inzwischen eine 2. Operation im Hinterlappen.
Section: Häute normal. Die Narbe bedeckt genau das Centrum für
Bewegung und Schutz des Auges. Auf dem Durchschnitt zeigt sich eine me-
dial-lateral verlaufende Unterschneidungsspalte, die lateral etwa ^/^ cm unter
der Obertläche endet. Die Rinde über dieser Spalte ist entfärbt.
Tabelle ILi)
No.
der
Art der Operation
Motilitätsstörungen
Sehst
geg
jrang
en
Opti-
sche
Nasen-
lidre-
Beob.
Fleisch
Licht
Reflexe
flex
44
Anätzung
0
0
0
0
0
45
Skarification u. An-
ätzung
0
0
0
0
0
46
Unterschneidung
0
0
0
0
0
47
Unterschnei düng
(Lendenmuskeln)
0
0
0
0
48
Unterschneidung
In der Schwebe: 2;
Lidspalte : 4 Tage
0
0
0
(3?)
49
Unterschneidung
Begreifen: 6 (1)
0
— •
—
(16)
50
Unterschneidung
Lidspalte: 4 Tage
0
0
(35)
(35 i
51
Unterschneidung der
2. Seite
0
2(1?)
0
0
0
52
Skarification
Hängt am 2. Tage
vorn etw. gestreckt
2
—
2(1)
2(14)
53
Unterschnei düng
Lidspalte: 23 Tage;
Defect d. Willens-
cnergie: 3. Tag
33?
—
18?
(13)
1. Sehstörung fehlte in 7 von den 10 mitgetheilten Beobach-
tungen gänzlich. In der Beob. 52 fand sich am 2. Tage im oberen
temporalen Quadranten eine dann verschwindende Abschwächung der
Reaction gegen Fleisch; in der Beob. 53 war das Verhalten ein sehr
eigenthümliches gewesen. Der Hund sah und erkannte, wie er durch
1) Die in Klammern gesetzten Zahlen bedeuten eine Abschwächung oder
eine fernere Abschwächung um die Dauer der betreffenden Zahlen in Tagen.
Wegen der Bedeutung der Fragezeichen wird auf den Text verwiesen.
— 241 —
Zuschnappen bewies, das Fleisch auf der nasalen Gesichtsfeldhälfte; auf
der temporalen Gesichtsfeldhälfte sah er das Fleisch freilich auch von
Anfang an, wie er durch Fixiren bewies, aber er erkannte es offenbar
nicht, da er sich nicht bemühte, es zu ergreifen. Dieser Zustand war
zwar am 4. Tage verschwunden, aber der Hund bekundete noch bis
zum 33. Tage, bis zum Ende der Beobachtung, durch geringere Energie
beim Zuschnappen, dass ihm das Bild des Fleisches weniger deutlich
erschien. Etwas Aehnliches fand sich in der Beob. 51, aber nnr am
2. Tage, an dem der Hund das in einem breiten temporalen Streifen
erscheinende Fleisch auch nur fixirte, ohne aber zuzuschnappen. Am
folgenden Tage bereits war das Phänomen nicht mehr deutlich zu er-
kennen.
2. Die optischen Reflexe waren in 6 Fällen überhaupt nicht
und in einem 7. Falle, bei dem sie beiderseits nur schwach, aber gleich-
massig nachweisbar waren, wahrscheinlich nicht alterirt. Sie waren
also alterirt in den 3 Fällen der Beobb. 50, 52, 53. In der Beob. 50
gelang es gleich nach der Operation ihre Unversehrtheit nachzuweisen,
dann aber waren sie während der ganzen Dauer der Beobachtung —
35 Tage lang — abgeschwächt. In der Beob. 52 fehlten sie nur am
2. Tage und waren dann noch 1 Tag abgeschwächt; in der Beob. 53
endlich fehlten sie in einer ganzen Reihe von Tagen gänzlich, waren
aber an anderen, dazwischen liegenden Tagen mehr oder minder stark
abgeschwächt nachweisbar.
3. Der Nasenlidreflex war in 5 Fällen überhaupt nicht alterirt.
In der Beob 48 war er drei Tage lang anscheinend, in der Beob. 49
16 Tage abgeschwächt, während er häufig ganz fehlte. Abgeschwächt
war er auch bei den Beobb. 50 und 53 auf die Dauer von 35 bezw.
13 Tagen. In der Beob. 52 endlich fehlte er am 2. Tage vollständig
und war dann noch 14 Tage lang abgeschwächt.
4. Motilitätsstörungen. Da in diese Reihe von Beobachtungen
nur solche Fälle aufgenommen worden sind, bei denen nennenswerthe
Störungen der Motilität und Sensibilität in den Extremitäten fehlten,
so ist über diese natürlich nichts zu sagen. Immerhin hingen die Hunde
der Beobb. 48 und 52 am 2. Tage etwas gestreckt, während die Hunde
48 und 49 auf Begreifen in der Schwebe, der erste am 2. Tage weniger,
der andere bis zum 6. Tage gar nicht, am 7. Tage schwächer als auf
der anderen Seite reagirten. Der Hund der Beob. 53 endlich Hess am
3. Tage die contralaterale Vorderextremität unter geringerem Wider-
stände dislociren, zeigte also das von mir „Defect der Willensenergie"
genannte Symptom.
Eine Erweiterung der contralateralen Lidspalte zeigten
Hitzig, Gesammelte Abliandl. 11. Theil. 16
— 242 —
3 von diesen Hunden. Bei den Beobb. 48 und 50 war das Symptom
4 Tage lang und bei der Beob. 53 23 Tage lang wahrzunehmen.
Schliesslich ist noch zu erwähnen, dass der Hund der Beob. 47
bei der Operation ein sehr eigenthümliches, meines Wissens bisher nicht
beschriebenes Symptom zeigte. Unmittelbar nach dem Einstich verfielen
die Muskeln der Lendenwirbelsäule beiderseits in einen ziemlich lange
anhaltenden tonischen Krampf, an dem sich, dem Anscheine nach, an-
dere Muskeln nicht betheiligten. Wahrscheinlich werden bei dem Einstich
die betreffenden von vorn nach hinten ziehenden Bahnen verletzt wor-
den sein.
5. Operationen und Sectionen. In jeder Hinsicht von beson-
derem Interesse ist die Beob. 46. Sie betraf den vordersten Theil der
uns beschäftigenden Windungen; die Dura war nicht abgetragen, son-
dern nur am hinteren Ende der Knochenlücke aufgeschlitzt worden und
darauf hatte ich eine sehr ausgiebige Unterschneidung der gesammten
vorderen Partieen der basalen Windungen vorgenommen. Der erste
durch die Narbe gelegte Querschnitt hatte die Unterschneidung in ihrer
grössten Ausdehnung getroffen und zeigte, dass die 111. und IV. Urwin-
dung vollständig von der inneren Kapsel '' abgetrennt waren, und dass
die innere Kapsel selbst jedenfalls auch eine scliwere Schädigung er-
litten hatte. Ich werde auf die klinische Bedeutung des Falles noch
zurückkommen, hier möchte ich nur darauf aufmerksam machen, dass
dieser Fall die Art und den Umfang der bei analogen Eingriffen ge-
setzten Zerstörungen deswegen besonders deutlich zeigt, weil der Schnitt
gerade die richtige Stelle getroffen hat. Indessen ist der Umfang der
Läsion auch in denjenigen Fällen, in denen sie durch den Frontalschnitt
nicht in dieser Weise demonstrirt werden konnte, sicherlich nicht ge-
ringer ausgefallen. ■ Von dem gleichen Interesse ist die Beob. 47, bei
der die Narbe sich annähernd genau an der gleichen Stelle fand, wäh-
rend das Instrument, wie der Frontalschnitt zeigt, in die IL Urwindung
eingedrungen war. Hier hatte es fast die ganze Markstrahlung dieser
Windung durchtrennt, abgesehen von den Verwüstungen , die es sonst
noch bei seiner Vorschiebung nach der Basis zu angerichtet haben muss.
Ausserdem fand sich noch ein ziemlich grosser Erweichungsherd im
Fusse des Stabkranzes, der ersichtlich die Stammstrahlung aus einem
grossen Theile des hinteren Schenkels des Gynis sigmoides neben einem
Theile des von vorn nach hinten ziehenden sagittalen Markes durch-
trennt hat. Bei der nächsten Beob. (48) war die gleiche Operation,
nur etwas weiter hinten ausgeführt worden. Die Narben kappe sass in
der IL Urwindung an der unteren Grenze meines Orbiculariscentrums
und die auf dem abgebildeten Frontalschnitt nur zum Theil sichtbare
— 243 ^
Durchtrennung reichte mit einem ca. 15 mm langen Stichcanal bis fast
an die basale Pia, so dass auf diese Weise das Mark jener Windungen
gleichfalls von der Verbindung mit dem anderweitigen Projectionssystem
abgetrennt erscheint. Die nun folgende Operation (Beob. 49) hat die
IL Urwindung wieder etwas weiter nach hinten getroffen, so dass die
Narbenkappe noch etwas über die hintere Grenze des von mir soge-
nannten Centrums für Bewegung und Schutz des Auges hinausreicht.
Es war aber nur die vordere Hälfte des aufgedeckten Rindenbezirkes
unterminirt worden. Bei der Beob. 50 sitzt die Narbe derselben Win-
dung zwar etwas weiter nach vorn auf; indessen ist der Einstich hier
an der hinteren Peripherie der Kuochenlücke eingedrungen und hat
von da aus so gut wie die ganze Markstrahlung der IL Urwindung ver-
nichtet. Die Beob. 51 wurde an der anderen Hemisphäre desselben
Hundes in einer annähernd gleichen Weise ausgeführt, nur begann der
Einschnitt noch etwas weiter nach hinten, so dass die Narbe der Haupt-
sache nach dem mehrerwähnten Orbiculariscentrum aufsass. Ausserdem
fand sich wieder ein grosser Erweichungsherd, der einen Theil der
Markstrahlung aus dieser Windung unterbrochen hat an ihrer Basis.
Die nächste Beobachtung (Beob. 52) griff abermals einen etwas weiter
nach hinten liegenden Theil der IL Urwindung an, so dass nur der an
dem vorderen Theil der Kuochenlücke aufgedeckte Rindenbezirk, wel-
cher auf den faradischen Reiz mit Schluss des Auges reagirte, skarifi-
eirt wurde. Die Beob. 53 betrifft etwa die gleiche Region. Die Narbe
sass genau dem Orbiculariscentrum auf, betheiligte den hinteren Rand
des Gyrus sigmoides vielleicht um etwas, ünterschnitten waren aber
nur die vorderen 2/3 dieser Partie, welche auf den faradischen Reiz
mit Lidschluss reagirten. Der Durchschnitt zeigte nur eine ca. ^j^ cm
unter der Oberfläche liegende Unterschneidungsspalte. Am weitesten
nach hinten liegen die beiden, an dem gleichen Hunde vorgenommenen
Eingriffe der Beobb. 44 und 45. Bei der ersteren dieser Beobachtungen
war der medial und etwas nach hinten von meinem Orbiculariscentrum
liegende Theil der M unk' sehen Augenregion, sowie der mediale Theil
des Orbiculariscentrums selbst angeätzt worden. Bei der darauffolgen-
den Operation wurde der Rest dieses Centrums skarificirt und geätzt
(die vordere Narbe auf der Abbildung gehört nur in ihrer hinteren
Hälfte zu diesen Operationen, die vordere Hälfte derselben bezieht sich
auf zwei andere an dem gleichen Hunde im Gyrus sigmoides vorge-
nommene Operationen). Die Zerstörung drang in diesem Falle etwa
Viva 1 cm tief in die Hirnsubstanz ein.
6, Das Verhältniss der Symptome zu dem Ort der Ver-
letzung. Von den vorliegenden 10 Beobachtungen betreffen die beiden
IG*
— 244 —
letzten die hintere Grenze des vorderen Schenkels der IL Urwindung.
Die anderen 8 Beobachtungen habe ich in der Weise angeordnet, dass
sie so auf einander folgen, wie sie von vorn nach hinten gerechnet, di&
einzelnen Theile der II. ürwindung und deren laterale Nachbarwindun^
gen treffen. Hierbei ergiebt sich nun, dass die einzelnen Symptome
ihrer Zahl und ihrer Dauer nach im Allgemeinen um so mehr zuneh-
men, je weiter die Läsion nach hinten vorrückt. In den beiden Beobb,
46 und 47 war das Resultat des Eingriffes gänzlich negativ, obwohl in
dem einen Falle die ganze Masse der lateralen Windungen von der inneren
Kapsel unter Verletzung ders'elben abgetrennt war und obwohl sich in
dem anderen Falle neben der Abtrennung des grösseren Theiles der
Markstrahlung der IL ürwindung ein grosser Erweichungsherd vorfand,
der dicht unter der Einstrahlung des Balkens die medialen ^/^ des
Fusses des Stabkranzes unterbrach. Nur ein für die Localisation uner-
hebliches Symptom, die tonische Contraction der Lendenmuskeln bei
der Operation 47 wurde in dem letzten jener beiden Fälle beobachtet.
Schon bei der nächst höher liegenden Beob. 48, welche die untere
Grenze des Orbiculariscentrums nicht überschreitet, beginnen die Sym-
ptome mit einer 4 Tage dauernden Erweiterung der Lidspalte und einer
annähernd ebenso lange (3 Tage) dauernden Abschwächung des Nasen-
lidreflexes. In der wieder etwas weiter nach rückwärts localisirten-
Beob. 49, bei der die Narbe dem Gyrus sigmoides anlag, markirte sieb
dieser Umstand durch eine 7 Tage lang dauernde Störung der nor-
malen Reaction auf Begreifen, während das auf die Oertlichkeit zu be-
ziehende Symptom, die Störung des Nasenlidreflexes 16 Tage lang an-
hielt. Bei der nächstfolgenden Operation (50) stellte sich eine Erwei-
terung der contralateralen Lidspalte gleichfalls auf die Dauer von
4 Tagen ein, gleichzeitig aber zeigte sich eine 35 Tage dauernde Störung-
der optischen und des Nasenlidreflexes. Die nächstfolgende, den glei-
chen Hund betreffende Operation ergab bei annähernd gleicher Locali-
sation der Verletzung und bei einem grossen Erweichungsherde am Fuss&
der IL ürwindung nur eine unerhebliche 2 Tage dauernde Sehstörung,
üeber die Beeinträchtigung der Reflexe war ein sicheres Urtheil nicht
zu gewinnen, weil der Hund aus der 1. symmetrischen Operation noch
mit einer Abschwächung, sowohl des optischen als des Nasenlidreflexes-
in die 2. Beobachtung eintrat. Bei der Beob. 52 folgte auf eine Skari-
fication des Orbiculariscentrums eine zweitägige Sehstörung mit einer
ebenso lange dauernden Aufhebung des optischen Reflexes und des^
Nasenlidreflexes, eine 14tägige Abschwächung des Letzteren und (wegen
der Nachbarschaft des Gyrus sigmoides) ein schlafferes Herabhängen der
contralateralen Vorderextremität am 2. Tage. Am ausgesprochensten
— 245 —
waren die Erscheinungen bei der Beob. 53, bei der eine Unterschnei-
dung des Orbiculariscentrums vorgenommen worden war. Neben einem
unerheblichen „Defect der Willensenergie" zeigte dieser Hund 33 Tage
lang die Erscheinungen einer Art von Seelenblindheit; die contralaterale
Lidspalte war 23 Tage erweitert, die optischen Reflexe waren 18 Tage
lang aufgehoben und der Nasenlidreflex 13 Tage lang abgeschwächt.
Endlich sei nur noch kurz erwähnt, dass die Anätzung bezw. Ska-
rification und Anätzung des am meisten caudal gelegenen Abschnittes
•der II. Urwindung und der Nachbarregion innerhalb der sogenannten
Fühlsphäre des Auges absolut negativ verlief.
Ich habe die innerhalb dieser Region vorgenommenen Operationen
Tim deswillen in zwei Gruppen geordnet, von denen die eine, soeben
betrachtete diejenigen Fälle enthält, welche ohne deutliche Störungen
in der Innervation der Extremitäten verliefen und eine zweite, welche
Fälle enthält, die mit solchen Störungen verliefen, weil das Eintreten
solcher Störungen stets den Verdacht auf eine Mitbetheiligung des Gyrus
sigmoides oder seiner Projectionsbahnen erweckt. Für die uns beschäf-
tigenden Fragen ist die soeben analysirte erste jener beiden Gruppen,
mit ihren negativen Ergebnissen entschieden von grösserer Wichtigkeit.
Ich hatte die Frage aufgeworfen, ob diese Windungen oder der
darunter befindliche Markkörper in Beziehungen zu der nach Ein-
griff in das Frontalhirn auftretenden Beeinträchtigung des
Sehactes stünde oder nicht. Wie bereits mehrfach erwähnt, hatten
— ganz abgesehen von Goltz und Loeb — die Italiener dem vorderen
Schenkel der IL Urwindung ganz besonders nahe Beziehungen zum Seh-
acte zugeschrieben. Diese Auffassung . muss nach den Ergebnissen der
vorliegenden Untersuchungen mit aller Bestimmtheit abgelehnt werden.
Wir haben gesehen, dass in 7 von jenen 10 Fällen auch nicht die Spur
«iner Sehstörung vorhanden war, so dass nur 3 Fälle mit Sehstörung
übrig bleiben. Dies sind diejenigen 3 Fälle, bei denen die Verletzung
dem Gyrus sigmoides am nächsten gerückt war und in der That Hessen
die Hunde der Beobb. 52 und 53 dadurch, dass der eine rechtsseitig
einen Tag schlaffer hing, der andere ebenso lange das Symptom des
„Defectes der Willensenergie" darbot, erkennen, dass dieser Gyrus nicht
ganz unbehelligt geblieben war. Die Sehstörung dauerte denn auch in
jenem 1, Falle nur bis zum 2. Tage, also so lange wie das motorische
Symptom, in dem anderen Falle dauerte sie allerdings sehr viel länger
(33 Tage), indessen war hierbei die Wahrnehmung des Gesichtsobjectes
niemals aufgehoben, vielmehr hatte nur seine Identificirung an den
— 246 —
beiden ersten Tagen und schliesslich nur die Energie, mit der der Hund
auf dasselbe reagirte, gelitten. Ein ähnliches Symptom war bei der
Beob. 51, aber nur auf die allerkürzeste Zeit, am 2. Tage zu beobach-
ten gewesen. Unter diesen Umständen zwingt die gesammte Sachlage
mit aller Entschiedenheit dazu, die geringfügige in diesen 3 Fäl-
len beobachtete Sehstörung nicht auf die direct angegriffe-
nen Areale, sondern auf den Gyrus sigmoides oder auf die
von diesem ausgehende Markstrahlung zu beziehen, wenn auch
eine Schädigung dieser Gebilde nicht nachgewiesen werden konnte.
Bei einzelnen von diesen Versuchen war der Markkegel der ganzen
Windung, bei anderen die Gesammtmasse der lateral-basalen Windungen
von ihren Verbindungen mit dem Projectioussystem vollkommen abge-
trennt, wobei einmal die ganze innere Kapsel eine schwere Schädigung'
erlitten hatte und endlich hatte sich, wenigstens in einem Falle ein
grosser Erweichungsherd so im Fusse des Stabkranzes etablirt, dass der
grössere Theil der dort passirenden Fasern imterbrochen sein mnsste.
Hieraus lässt sich, wenn auch nicht mit absoluter Sicherheit, so doch
mit der grössten Wahrscheinlichkeit der Schluss ziehen, dass Ein-
griffe in die ganze nach vorn vom Gyrus sigmoides gelegene
Partie des Markkörpers ebensowenig direct zum Eintritt
von Sehstörungen führen, wie die Verletzung der vorderen
Schenkel der H.— IV. ürwindung. Auch das ventral vom vorderen
Schenkel des Gyrus sigmoides gelegene Marklager scheint sich ebenso^
zu verhalten; jedoch will ich hierauf, ebenso wie auf die Frage des
Verhaltens der medialen zwei Drittel dieses Schenkels bei dieser Ge-
legenheit nicht näher eingehen. —
Die Beziehungen der II. — IV. Ürwindung zur Innervation
der Extremitäten. Es war mir bekanntlich im Verein mit Fritsch
seiner Zeit gelungen durch elektrische Reizung die einzelnen Bewegun-
gen auf ganz circumscripte Stellen der Hirnrinde zu localisiren. Ich
hatte damals die Möglichkeit offen gelassen, dass diese Stellen — Centra —
nur Sammelplätze abgeben für die von weiteren Strecken der grauen.
Rinde zuströmenden Erregungen. Auch jetzt noch sehe ich nicht, dass
diese Auffassung als irrig erwiesen worden wäre. Inzwischen hat ihr
aber Bianchi^) eine Ausdehnung gegeben, der ich nicht beipflichten
kann. Er meint, von einer ausschliesslichen Beziehung bestimmter
Punkte dieser Zone zu bestimmten Muskelgruppen könne keine Rede
sein. Die centraler! Elemente für die Innervation eines bestimmten .
1) Bianchi, Sülle compensazioni funzionali della corteccia cerebrale.
La Psichiatria. 1883.
— 247 —
motorischen Organs seien vielmehr über die ganze motorische Zone zer-
streut und fänden sich nur in wenigen Punkten dichter zusammen-
gelagert, derart, dass sie auf diese Weise die erregbare Zone zusammen-
setzten. Aber diejenigen Muskeln, welche von hier aus erregt werden
können, seien nicht nur hier, sondern auch in dem ganzen Rest der
n^otorischen Zone repräsentirt.
Diese Ansicht stützt sich in der Hauptsache darauf, dass dauernde
motorische Störungen nur dann eintreten sollen, wenn grössere, d. h.
wohl solche Exstirpationen vorgenommen sind, die sich über den Gyrus
sigmoides hinaus erstrecken.
Es war ursprünglich meine Absicht, diese Theorie von Bianchi
zum Gegenstand einer besonderen Arbeit zu machen und diese der
vorliegenden Arbeit, deren eigentlicher Fragestellung sie fern liegt, nicht
einzuverleiben. Auf diesem Wege wäre ich aber zu einer Reproduction
der hier mitgetheilten Beobachtungen und auch sonst zu zahllosen
Wiederholungen gekommen, sodass ich mich nachträglich entschlossen
habe, den fraglichen Streitpunkt, soweit das uns jetzt interessirende
Gebiet überhaupt in Betracht kommt, gleichzeitig mit den anderen
dessen Function betreffenden Fragen, immerhin innerhalb der mir durch
meine Versuche gezogenen Grenzen, mit wenigen Worten zu erledigen.
Ich möchte zunächst auf einige, der experimentellen Lösung der auf-
geworfenen Frage entgegenstehende Schwierigkeiten aufmerksam machen.
Nach meiner Ueberzeugung gehört der ganze hintere Schenkel und das
laterale Drittel des vorderen Schenkels des Gyrus sigmoides mit Ein-
schluss des in den Tiefen seiner Windungen liegenden RindengraueSy
seine caudale Nachbarschaft und die vorderen Schenkel der IL — IV. Ur-
windung zur motorischen Zone. Eine richtige Vorstellung von den
Folgen der vollständigen Exstirpation der für die Extremitäten bestimm-
ten Centren, von denen hier allein die Rede sein soll, kann man nur
dann gewinnen, wenn man das gesammte motorische Areal der I. Ur-
windung bis auf den Grund seiner Furchen ausschaltet. Operirt man
aber in dieser Weise, so geht regelmässig ein grösserer oder geringerer
Theil der Nachbarwindiingen durch Erweichung zu Grunde. Ebenso ist
eine partielle Zerstörung des wichtigsten Theiles des Gyrus sigmoides,.
seines lateralen Bogens allemal dann unvermeidlich, wenn man seine
Nachbarwindungen bis auf ihren Grund ausrottet. Das Resultat ist also
in beiden Fällen das gleiche: der Versuch ist unrein, man kann auf
diese Weiße die zu allererst zu beantwortende Frage nicht entscheiden,
welche Theile der motorischen Zone bei dem unversehrten Hunde
zur Innervation der Extremitäten beitragen.
— 248 —
Die Frage schien mir deshalb so gestellt werden zu müssen: kann
man durch hinlänglich vorsichtige Eingriffe in die Nachbarschaft des
Gyi'us sigmoides die bekannten Störungen in den Extremitäten hervor-
bringen? Als solche Eingriffe konnten mir nur solche Operationen gel-
ten, wie ich sie in den vorstehenden Beobachtungen geschildert habe,
Unterschneidungen der Rinde oder Durchschneidungen der Markstrah-
lung einer Windung, mehr oder weniger nahe ihrem Fusse, ausserdem
die auf einige Fälle beschränkte Zerstörung der Rinde durch directe
Abtragung ihrer oberflächlichsten Schichten oder durch Skarifizirung oder
durch Anätzung mit 5proc. Carbolsäure. Auf diese Weise wurde die
Gefahr, Nachbarschaftssymptome hervorzubringen, erheblich vermindert,
während doch unfehlbar motorische Erscheinungen in den Extremitäten
hätten auftreten müssen, wenn diese in der Norm motorische Impulse
von der fraglichen Windung bezogen.
Wir haben im Vorstehenden gesehen, dass die mitgetheilte Reihe
von Versuchen, obwohl sie sämmtlich die motorische Region und zwar
zum Theil in recht grosser Ausdehnung betrafen, der Hauptsache nach
absolut negativ verliefen; nur in 3 Fällen waren unerhebliche und ganz
vorübergehende Tnnervationsstörungen der contralateralen Vorderextre-
mität, welche auf unerhebliche Traumen des Gyrus sigmoides zu be-
ziehen waren, zur Beobachtung gekommen. In einer zweiten nach-
stehend folgenden Versuchsreihe waren solche Innervationsstörungen
allerdings in mehr weniger ausgesprochener und anhaltender Form in
die Erscheinung getreten. Da aber bei dieser Art von Versuchen nur
diejenigen Beobachtungen entscheidend sind, welche mit der geringsten
Summe von Störungen verlaufen, so ist die gestellte Frage hiermit, so-
weit es durch solche Versuche überhaupt möglich ist, entschieden. Mit
anderen Worten, die lateral und basal von dem Gyrus sig-
moides gelegenen Partieen der motorischen Zone bis in die
Gegend der Spitze der Fossa Sylvii besitzen keinen directen
Einfluss auf die motorische Innervation der Extremitäten.
Man könnte gegen die Beweiskraft dieser Versuche einwenden, dass
bei einer Anzahl von ihnen die Rinde oder die von ihr ausgehenden
Projectionsbahnen nur zum Theil zerstört worden seien, so dass der
zurückgebliebene Rest ausgereicht hätte, um die Aufgaben der Function
zu decken. Dieser Einwand würde berechtigt sein, wenn es sich bei
diesen Versuchen um eine Frage der Restitution, nicht aber um die der
Erkennung eines primären Ausfalles der Functionen handelte. Ein sol-
cher wäre aber nach der Analogie des Verhaltens aller anderen uns
bekannten Rindenterritorien in Folge der hier vorgenommenen Eingriffe
unvermeidlich gewesen und er hätte mit den uns geläufigen Methoden?
— 249 —
insbesondere auch durch die Untersuchung der schwebenden Bunde unter
allen Umständen erkannt werden müssen.
Allerdings kann die Frage, ob die bei diesen Versuchen theils zer-
störten, theils von ihren Projectionsfasern abgetrennten Rindengebiete
nach vorangegangener Zerstörung des Gyrus sigmoides nicht dennoch
einen Einfluss auf die Innervation der Extremitäten gewinnen können,
auf die angegebene Weise nicht entschieden werden. Indessen vermag
ich mir die Art, wie dieser Einfluss wirksam werden könnte, anatomisch
nur schwer vorzustellen. Durch den zerstörten Gyrus sigmoides könnte
der Innervationsweg doch nicht gehen, gegen die Beschreitung eines
directen Weges zwischen jenen Windungen und den spinalen Centren
für die Extremitäten sprechen nicht nur die soeben angeführten Ver-
suche, sondern auch die elektrischen Reizversuche und die Erfahrungen
über die secundäre Degeneration; es bliebe nur der Weg durch die
Haubenbahn übrig. Wie es sich damit verhält, lasse ich unentschieden. —
Die Besprechung eines Theiles der anderweitigen, nach Verletzung
dieser Region eintretenden Symptome behalte ich mir für die alsbald
folgende Serie von Untersuchungen vor.
B. Versuche mit motorischen Folgen.
Wir haben gesehen, dass die directe Verletzung des Gyrus sigmoi-
des in der Regel zu Sehstörungen führt. Es versteht sich daher von
selbst, dass kein Theil dieses Gyrus bei den in seiner Nachbarschaft
vorgenommenen Operationen mit aufgedeckt werden darf; namentlich
gilt dies von seinem lateralen Bogen, dessen Beleidigung allem An-
scheine nach besonders häufig Sehstörungen im Gefolge hat. Einen
sprechenden Beweis hierfür liefert die folgende Beobachtung.
Beobachtung" S4.
Junger Hund. Aufdeckung im vorderen Winkel des linken Planum semicir-
culare auf 17 mm sagittal, 13 mm frontal. Medial liegt der laterale Bogen des
Gyrus sigmoides und caudalwärts mindestens die vordere Hälfte des Orbicu-
lariscentrums frei. Reizung mit dem gewöhnlichen Zuckungsminimum ergiebt
faradisch und galvanisch Zuckungen in der Vorderpfote, Orbicularis palpebra-
rum, Nasen- und Schnauzenmuskeln. Exstirpation ca. 3 mm tief mit Schonung
der Venen und der Nachbarschaft des Gyrus sigmoides. Die Hirnwunde bleibt
etwa 2mm vom Sulcus coronarius entfernt. Ausspülung mit 5 proc. Carbolsäure.
Motilitätsstörungen: Hochgradig in beiden Extremitäten; erst sehr
langsam abnehmend, zunächst hinten; vier Monate nach der Operation noch
Spuren.
Sehstörung: Bis zum 10. Tage compiett, dann abnehmend, verschwun-
den am 17. Tage.
— 250 -^
Optische Reflexe: Fehlen 4 Monate gegen flache Hand, noch nach
5 Monaten abgeschwächt.
Nasenlidreflex: Fehlt gänzlich bis zum 11. Tage, nach 4 Monaten
noch abgeschwächt.
Gestorben nach 7 Monaten.
Section: Da inzwischen eine 2. Operation im Gyrus sigmoides gemacht
worden war, bleibt nur zu bemerken, dass bei der 1. Operation eine genaue
Zeichnung der aufgedeckten, sowie der exstirpirten Partieen gemacht worden
war, mit der die Section in diesem Theile übereinstimmte. Die narbige Auf-
lagerung nahm den ganzen vorderen Schenkel der II. Urwindung ein.
Wir sehen also, dass in diesem Falle, obschon der aufgedeckte
laterale Rand des Gyrus sigmoides bei der Exstirpation selbst auf das
Sorgfältigste geschont worden war, dennoch hochgradige und langanhal-
tende Motilitätsstörungen zu beobachten waren, und dass ausserdem,
neben den auf die Verletzung der II. Urwindung zu beziehenden Sym-
ptomen, noch eine sehr ausgesprochene, 10 Tage lang sogar complette
und im Ganzen 16 Tage nachweisbare Selistöruug eintrat.
Aufdeckung auf Planum semicirculare links auf 14 mm sagittal und
15 mm frontal. Vorderer Rand der Lücke 15 mm von der Spitze des Planum
entfernt. Bei faradischer Reizung R. A. 12,5 cm in der vorderen Hälfte der
freigelegten Stelle contrahirt sich der contralaterale Orbicularis palpebrarum.
(Leichte Stichverletzung mit Spitze des Zirkels am unteren Wundrand.)
Aetzung der ganzen freigelegten Partie mit 5proc. Carbolsäure.
Motilitätsstörungen: In der rechten Vorderpfote gering, am 4. Tage
bereits verschwunden.
Sensibilitätsstörungen: In den Extremitäten ebenfalls gering, am
7. Tage bereits beim Begreifen keine Differenz mehr. Schmerzempfindung in
der Nase abgeschwächt bis zum 11. Tage.
Sehstörung fehlt.
Optische Reflexe nicht beeinträchtigt.
Nasenlidreflex abgeschwächt bis zum 12, Tage.
Nach 10 Wochen todtgebissen.
Section in meiner Abwesenheit ausgeführt, unzuverlässig.
BeolbaclitTiiig- S6.
Derselbe Hund von Beob. 46. Abtragung des Knochens ganz vorn und
lateral bis zur Spitze des rechten Planum semicirculare auf 20 mm sagittal,
10 mm frontal, dabei Durchschneidung des Facialis. Dura am hinteren Rande
der Lücke aufgeschlitzt. Es wird mit dem Präparatenheber eingestochen, die
Schneide wird einmal basal- und lateralwärts bis auf den Knochen geführt;
dann ein 2, Mal in der Richtung der Knochenlücke in der ganzen Länge der
Schneide nach vorn.
— 251 —
Motilitätsstörungen: In den Extremitäten vom 2. Tage an ziemlich
hochgradig bis zum 4. Tage, dann nur noch vorn und allmählich abnehmend,
am 27. Tage nur noch angedeutet. Katzenbuckel und Unmöglichkeit die Len-
denwirbelsäule zu drehen vom 2. Tage an; am 27. Tage noch angedeutet.
Fig. 72.
Fig. 73.
Fiff. 74.
In der Schwebe: Hängt links dauernd gestreckt, beim Begreifen keine
Reaction.
Sehstörung fehlt.
Optische Reflexe: Fehlen zunächst wegen doppelter Facialislähmung
gänzlich, am 16. Tage wieder schwach vorhanden. Ebenso Nasenlidreflex.
Gestorben nach ca. 7 Wochen.
Section: Häute normal. An der Operationsstelle eine scharf umschrie-
bene, narbige Verwachsung. Diese befindet sich auf der IL Urwindung un-
mittelbar vor dem Centrum für den Orbicularis, den Sulcus coronalis nicht,
erreichend. 1. Durchschnitt (etwa 4 mm vor dem Einstich): 7 mm von der
— 252 —
der Pia aufsitzenden Narbe sieht man einen parallel zur Oberfläche liegen-
den, durch Erweichung auf 4 mm erweiterten Spalt, welcher einen grossen
Theil der inneren Kapsel von dem Fusse des Stabkranzes abgetrennt hat, nur
die innere Partie ist erhalten geblieben. Von diesem Spalt zieht nach oben
und lateralwärts bis zum oberen Rande der Narbe ein sehr feiner, scharfer
Spalt gerade an der Grenze von Weiss und Grau der betreffenden Windung.
2. Durchschnitt (8 mm weiter nach vornj: Der Unterschneidungsspalt liegt
hier viel weiter basalwärts, er ist von unregelmässigen Erweichungen umgeben
und hat hier die weisse Substanz so gut wie vollständig zerstört.
BeobaclxtTiMg: ST'.
Derselbe Hund von Beob. 62. Aufdeckung rechts ganz vorn auf Planum
semicirculare auf 20 mm sagittal und 13 mm frontal. Abtragung der Dura im
hinteren Drittel der freigelegten Lücke auf 3 : 7 mm. Einstich mit Präpara-
L
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Fig. 75.
tenh eher in Längsrichtung der Lücke einmal nach hinten bis zum hinteren
Rande der Knochenlücke, dann nach vorn in der ganzen Länge der Schneide.
Umkippen derselben, so dass die Verbindungen mit der Rinde möglichst durch-
trennt werden.
Motilitätsstörungen: Am 2. Tage massig, hängt aber nicht gestreckt,
am 3. Tage nur noch ganz gering, am 4. Tage selbst geringer als rechts, am
7. Tage nur noch spurweise, später nicht mehr nachzuweisen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage nicht deutlich nachweisbar,
später fehlend. Gegen Licht fehlend.
Optische Reflexe: Vom 2. — 15. Tage fehlend, dann gegen flache Hand
angedeutet, gegen schmale Hand fehlend bis zum Schluss der Beobachtung,
39. Tag.
Nasenlid refl ex ungestört.
253
Gestorben nach ca. G Wochen.
Section: Die etwa 5 mm grosse runde Narbe sitzt an der Grenze der
IL und lil. Urwindung-, etwa entsprechend dem hinteren Rande des Gyrus sig-
moides. 1. Durchschnitt (3 — 4 mm hinter der Narbe): 4 mm medial von der
Oberfläche findet sich hier im Marlcweiss derlll. Urwindung eine klaffende Meine
Fig. 76.
Fig. 77.
0: Operationsstelle; H: Erweichungsherde.
Spalte mit glatten scharfen Rändern (d. i. nach hinten gerichtete ünterschneis
düng). IL Durchschnitt (12 mm weiter nach vorn, genau durch den Sulcu-
cruciatus) : Die keine Erweichung zeigende Unterschneidungsspalte hat hier
den vordersten Theil der II. Urwindung von seiner medialen Verbindung
fast ganz getrennt, indem die Spalte Rindengrau und Markweiss quer durch-
schneidet.
254 —
Beobaditviiig- SS.
Derselbe Hund von Beob. 49. Aufdeckung auf rechtem Planum semicir-
culare ganz vorn auf 24 mm sagittal, 11 mm frontal, vorn 4, hinten 8 mm von
der Linea semicircularis entfernt. Aufschlitzung der Dura im Bereiche der
Knochenlücke. Eingehen mit Daviel'schem Löffel, subcorticale Unterschnei-
dung ganz flach nach vorn. Durchschneidung des Facialis.
Fio-. 78.
Fia-. 79.
Motilitätsstörungen: In den ersten Tagen ziemlich hocligradig, am
6. Tage nur noch wenig, aber nach 4 Wochen noch angedeutet.
— 255 —
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage unsicher, am 3. Tage sicher
fehlend. Gegen Licht: Am 2. Tage deutlich, am 3, Tage gering, am 4. Tage,
fehlend.
Optische Reflexe: Anfänglich nicht notirt, vom 6. Tage an gegen
flache Hand deutlich vorhanden, gegen schmale Hand schwach; wegen der
rechtsseitigen Facialislähmung Vergleich unmöglich.
Nasenlidreflex: Vorhanden, aber schwach, Vergleich wegen der rechts-
seitigen Facialislähmung unmöglich.
Getödtet nach ca. 4 Monaten.
Section: Häute normal. Die 20 mm lange und 10 mm breite Narbe
reicht medial bis an den Gyrus sigmoides, erstreckt sich nach vorn etwa bis
zur lateralen Verlängerung des Sulcus cruciatus, nach hinten etwa bis zum
hinteren Ende des Centrums für den Orbicularis palpebrarum. Durchschnitt
an gleicher Stelle wie links: Die Rinde unter der Narbe ist theilweise zerstört,
theilweise abgeblasst, auch das den einschneidenden Sulcus umgebende Rin-
dengrau ganz leicht. Von der Narbe erstreckt sich ein Erweichungsherd me-
dialwärts bis etwa 2 mm vom oberen lateralen Winkel des Nucleus caudatus,
so dass er den lateralen Theil der Stammstrahlung aus dem hinteren Schenkel
des Gyrus sigmoides unterbrieht, während die Balkenstrahlung intact erscheint,
Beobachtunss" SO.
Aufdeckung auf dem linken Planum semicirculare ganz vorn lateral, so
dass vorderer Rand der Lücke durch Linea semicircularis gebildet wird, auf
18 mm sagittal, 11 mm frontal. Abtragung der Dura nur im hinteren lateralen
Theil. Unterschneidung und Unterminirung der Rinde nach unten lateral bis
auf den Knochen. Dann nach vorn lateral mehr als 2,5 cm lang. Abtragung
des vorliegenden Rindenstücks.
Motilitätsstörungen: Voltelaufen gleich nach der Operation, am
2. Tage nicht mehr; dreht aber meist nach links. In den Extremitäten hoch-
gradig; am 2. Tage Wirbelsäule beim Stehen so nach rechts um die Längs-
achse gedreht, dass das rechte Hinterbein so stark nach links gestellt wird,
dass der Hund oft mit dem Hintertheil nach rechts umkippt; macht besonders
mit den Hinterbeinen eigenthümliche, wie atactisch aussehende, ausfahrende
Bewegungen beim Laufen ; auch beim Liegen sind die Beine selten ruhig, be-
sonders mit beiden Hinterbeinen macht er kurze schnelle Bewegungen. Am
5. Tage in der Schwebe Biegung der Wirbelsäule mit der Convexität nach
links, so dass die stark gestreckten rechten Extremitäten sich in der Gegend
des Hinterbeins berühren. 5. Tag: Etwas Abnahme der Motilitätsstörungen,
schwankt mit den Hintertheilen nicht mehr so stark hin und her, Krümmung
der Wirbelsäule beim Hängen nicht mehr so hochgradig. Unverändert bis zum
10. Tage.
Zunge leckt unmittelbar nach der Operation dauernd nach rechts, manch-
mal auch gerade, nie nach links.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage absolut, am 3. Tage in der
A.bnahme, am 4. Tage etwa ein Drittel, am 5. Tage in temporalem Streifen,
— 256 ~ .
I
am 6. Tage verschwunden. Gegen Licht indifferent. Stösst am 2. Tage mit j
dem Kopfe an. i
Optische Reflexe: Gleich nach der Operation rechts fehlend, links !
deutlich, ebenso am 2. Tage; am 3. Tage auch rechts bereits deutlich vorhan- '
den, aber schwächer als links; ebenso bis zum Schluss der Beobachtung. i
Piff. 80.
Fig. 81.
Fig. 82.
Nasenlidreflex: Gleich nach der Operation beiderseits deutlich, am
2. Tage abgeschwächt, weniger beim Beklopfen, als beim Bestreichen; am
5. Tage rechts nur noch wenig schwächer, am 6. Tage beiderseits gleich.
Plötzlich gestorben am 17. Tage.
Section: Häute normal. Die 14 mm lange und 6 mm breite Narbe
fängt etwa am vorderen Rande des Centrums für Bewegung und Schutz des
Auges an und erstreckt sich in dieser Windung nach vorn, ohne medial auf
den lateralen Rand des Gyrus sigmoides überzugreifen. Keine Erweichungen
oder deutliche narbige Verziehungen im Umkreise. 1. Durchschnitt (2 mm
hinter dem hinteren Rande der Narbe, ungefähr durch das Orbiculariscentrum) :
In der lateralsten Ecke des linken Seitenventrikels sitzt ein blutig durchsetzter
— 257 —
apoplectischer Herd, von dem aus Blut in den Seitenventrikel geflossen ist.
(Das Coagulum hängt hier fest.) 2. Durchschnitt (mitten durch die Narbe):
Auf der narbig veränderten Rinde sitzt die Narbenkappe auf, 1 — lYg cm tief;
gerade an der Grenze von Rinde und Markweiss findet sich der Stichcanal
parallel zur Oberfläche; er lässt sich aber nicht scharf umschrieben erkennen,
da sich von dort medial in das Markweiss ein 9 mm langer und an der Basis
4 mm breiter, dreieckig blutig durchsetzter Erweichungsherd zieht, dessen
Spitze an die seitliche und oberste Begrenzung des Seiten Ventrikels stösst.
3. Durchschnitt (am vorderen Rande der Narbe): Hier sieht man die beiden,
etwas verschieden gerichteten Schnitte getrennt. Der basale stösst hier an die
Pia, ohne sie zu durchtrennen; der nach vorn gerichtete verläuft hier scharf
umschrieben, ohne angrenzende Erweichungen, stumpfwinklig dazu gerade an
der Grenze von grauer und weisser Substanz liegend. Diese ist hier abgeblasst.
(Vergl. Beob. 5.)
Beolsadituiig' 60.
Aufdeckung 17mm hinter Spitze des linken Planum semicirculare, schräg-
sagittal 27 mm, frontal 11 mm. Paradischer Augenschluss nur am und unter
dem vorderen Rande der Lücke. Unterschneidung von der Mitte der Lücke an
nach vorn, einschliesslich der reagirenden Theile.
Motilitätsstörungen: An den Extremitäten 5 Stunden nach der Ope-
ration und am 2. Tage nicht zu ermitteln; hängt aber rechts etwas gestreckt.
Am 3. Tage geringe Motilitätsstörung vorn, vom 4. — 11. Tage ziemlich hoch-
gradig, dann abnehmend. (Sensibilitätsstörung entsprechend.)
Fig. 83.
Facialis: 5 Stunden nach der Operation rechtes Auge deutlich weiter;
beim passiven OeÖnen des Auges links erheblicher, rechts fehlender Wider-
stand. In der Folge sind diese Anomalieen nicht mehr nachweisbar.
Hitzig, Gesammelte Abhandl. IT. Theil. 17
— 258 —
Sehstörung: Gegen Fleisch: In den ersten 3 Tagen nicht zu prüfen,
am 4. und 5. Tage hochgradig, Reaction aber aach links nur schwach. Am
6. Tage nicht mehr nachweisbar. Gegen Licht: Am 2.-5. Tage nachweisbar,
am 6. Tage gleichgültig, am 11. verschwunden.
Fig. 84.
Optische Reflexe: 5 Stunden nach der Operation gegen flache Hand
rechts schwächer, gegen schmale Hand fehlend, links deutlich; vom 2. — 5. Tage
fehlend. Vom 5. Tage an sehr allmählich wiederkehrend, am 27. Tage kein
Unterschied mehr.
Cornealreflex: 5 Stunden nach der Operation rechts fehlend, am
3. Tage vorhanden.
Ciliarreflex ohne Anomalieen.
Nasenlidreflex: 5 Stunden nach der Operation bis zum 5. Tage feh-
lend oder abgeschwächt, dann wieder vorhanden.
Gestorben nach ca. 8 Monaten; inzwischen eine 2. Operation im Hinter-
lappen.
Section: Häute normal, nur an der Operationsstelle Verwachsung. Die
2 cm lange und 1 cm breite Narbe ist 7 mm von der Medianspalte des Gehirns
entfernt. Medialer Rand der Narbe der Medianspalte parallel, vorderer Rand
am Orbiculariscentrum, hinterer Rand bis fast an die Munk'sche Stelle Aj^
heranreichend; lateraler Rand parallel dem medialen. 1. Durchschnitt (durch
die Mitte der Narbe) zeigt eine leichte Abblassung des Rindengraues unter
dem Narbengewebe. 2. Durchschnitt (etwa 3 mm vor dem vorderen Rand der
Narbe) zeigt 6 mm unter der Oberfläche in das Markweiss fallend eine feine,
fast völlig verklebte Spalte unter der H. Urwindung; das Grau derselben ist
abgeblasst, setzt sich kaum gegen das Weiss ab. 3. Durchschnitt (1 cm weiter
nach vorn): Hier ist kein Operationsresiduum mehr aufzufinden.
Keobaclxtxiiig- Gl.
Aufdeckung dicht hinter Spitze des Planum semicirculare links, 4 — 5mm
lateral von Linea semicircularis auf 22 mm sagittal, 14 mm frontal. Bei elek-
259
trischem Reizversuch Schreien des Thieres, Vordrängung des Hirns, Einreissen
mehrerer Gefässe. Unterminirung der vorderen drei Viertel der freigelegten
Stelle.
Motilitätsstörungen: Bald nach der Operation anscheinend nicht
vorhanden. Vom 2. Tage an hochgradig, nach 7 Wochen noch deutlich.
Fie-. 85.
Fiff.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Frisst in der Schwebe und auf dem Tisch
•iilcht, daher sonst nicht zu untersuchen, fixirt aber am 2. Tage schon ganz
aussen. Gegen Licht: Am 2. Tage beiderseits indifferent; vom 3. — 7. Tage
rechts ohne Pveaction, dann beiderseits gleich.
17*
— 260 —
Optische Reflexe: Fehlen bis zum 22. Tage, dann langsam wieder-
kehrend, nach ca. 7 "Wochen noch abgeschwächt.
Nasenlidreflex: Ami. Tage abgeschwächt, dann fehlend, am 17. Tage
normal.
Lidspalte in den ersten Tagen weiter.
Nasenloch: Gegen Kitzeln in den ersten beiden Tagen ohne Reaction.
Getödtet nach 5^/2 Monaten; inzwischen eine 2. symmetrische Operation.
Section: Häute normal. Die etwa 18 mm lange, im Mittel 10 mm
breite Narbe liegt lateral vom Gyrus sigmoides, noch ein wenig auf den late-
ralen Rand desselben übergreifend, erstreckt sich nach hinten etwa bis ans
Ende des Centrums für Bewegung und Schutz des Auges, nach vorn bis etwas
über die laterale Verlängerung des Sulcus cruciatus hinaus. Durchschnitt
(etwa durch die Mitte des hinteren Schenkels des Gyrus sigmoides): Von dem
oberen Rand der Narbe erstreckt sich ein röthlich verfärbter Erweichungs-
streifen durch das etwas abgeblasste Grau bis ins Markweiss; vom unteren
Ende der Narbe ebenfalls ein derartiger Streifen. Zwischen beiden ist die
Rinde des dort einschneidenden Sulcus weisslich verfärbt und narbig verän-
dert. Die beiden Erweichungsstreifen treffen im Markweiss unter diesem ein-
schneidenden Sulcus zusammen. Von dort aus geht ein feiner Streifen basal-
wärts nach der inneren Kapsel zu, ohne aber den Fuss des Stabkranzes zu
durchtrennen.
Aufdeckung auf Planum semicirculare links ganz vorn auf 26 mm sagit-
tal, 19 mm frontal (in der Mitte etwa, an der breitesten frontalen Erweiterung
gemessen), dabei Verletzung eines stärkeren Gefässes der Pia. Faradischer
Reizeffect im Orbicularis palpebrarum, nur am hinteren medialen Knochenrand
bei 60 mm R. A, Ausgedehnte Unterschneidung der freigelegten Rindenpartie
ziemlich tief vom hinteren Ende der Knochenlücke aus.
Ü Motilitätsstörungen: Am 2. Tage hochgradig, nur sehr allmählich
abnehmend. Am Schluss der Beobachtung, nach mehr als 6 Wochen noch
nachweisbar.
In der Schwebe: Hängt noch nach mehr als 2 Monaten gestreckt.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am2. Tage bis auf den Nasenrücken, am
7. Tage stark in der Abnahme, am 9. Tage nicht mehr nachweisbar. Gegen
Licht: Anfangs beiderseits indifferent, am 4. Tage nur rechts indifferent, am
7. Tage normal.
Optische Reflexe: Vom 2. Tage bis zum Schluss der Beobachtung
(über 6 Wochen) fehlend.
Nasenlidreflex: Am 2. Tage vorhanden (?), am 4. — 15. Tage fehlend,
abgeschwächt bis zum 26. Tage, am Schluss der Beobachtung normal.
Ciliarreflex: Am 2. Tage deutlich, am4. Tage noch wenig schwächer.
Conjunctival- und Cornealreflex: Am 2. Tage rechts viel schwä-
cher, am 4. Tage nur noch weniff schwächer; so noch am 15. Tage.
— 261 —
Nasenloch: IndiU'erent gegen Kitzeln am 2. Tage, allmählich abneh-
mend, immer noch deutlich am 10. Tage.
Anästhesie gegen Stiche und Kneifen an Lippe und Haut der Nase und
Wange bis zum Lid bis zum 4. Tage, am 7. Tage normal.
Gestorben nach 3 Monaten; inzwischen eine 2. Operation der anderen Seite.
Fig. 87.
Fig. 88.
0: Operationsstelle; H: Erweichungsherde.
Section: Die etwa dreieckige Narbe (20 : 20 : 17) reicht mit ihrer vor-
deren Spitze ungefähr bis zur hinteren lateralen Ecke des Gyrus sigmoides,
ohne auf denselben überzugreifen, und erstreckt sich nach hinten längs des
Sulcus coronarius bis fast zur Fossa Sylvii, woselbst sie deu lateralen Urwin-
dungen aufsitzt. 1. Durchschnitt (8 mm vor dem hinteren Pvande der Narbe):
Unter der Narbenkappe ist die Zeichnung von Grau und Markweiss fast ganz
— 262 -^-
zerstört, die angrenzenden Theile des Rindengraues sind abgeblasst. Etwa
2 mm von der äusseren lateralen Spitze des Seitenventrikels befindet sich ein
unregelmässig gestalteter Spalt, dessen Ränder erweicht sind. A^on dort nach
der Narbe zu zieht sich eine Kette von Erweichungsherden, durch die das
gaiize Markweiss von der Unterschneidungsstelle an aus der IL Urwindung
Fig. 89.
0 : Operationsstelle.
durch den Fuss des Stabkranzes in die innere Kapsel hineinreichend bis auf
2 mm von der Spitze des Seitenventrikels unterbrochen wurde. Der Gyrus sig-
moides bleibt auch hier unbetheiligt. 2. Durchschnitt (12 mm weiter nach
vorn): 8 mm unter der Oberfläche liegt gerade am Ende des Sulcus coronalis
die Unterschneidungsspalte mit etwas erweichter Umgebung. (Vergl. Beob. 3.)
Beobaclitniig- Ö3,
Aufdeckung auf dem linken Planum semicirculare auf sagittal 23 mm, in
der Mitte frontal 14 mm, sich nach vorn und hinten verjüngend. Vorderer
Rand der Lücke 18 mm hinter der Spitze des Planum. Bei Abtragung der
Dura Verletzung einer sehr stark blutenden grösseren Arterie der Pia. Exstir-
pation in der Mitte der Lücke eines Stückes von ca. 5 mm sagittal, 2,5 mm
frontal und etwa ebenso tief mit Präparatenheber. Währendund nach der Ope-
ration längere Zeit starke Blutung.
3 Stunden post op. Motilitätsstörung an beiden rechten Extremitäten aus-
gesprochen, namentlich lässt er die Hinterpfote mit dem Dorsum aufgesetzt
stehen, vorn reponirt er sie bald. Sehstörung hochgradig, sieht erst über
Nasenrücken. Optische Reflexe fehlen gänzlich. Nasenlidreflex anscheinend
abgeschwächt. Ciliarreflex intact.
Motilitätsstörungen: In den Beinen hochgradig und lange anhaltend,
Spuren noch am 21. Tage, dann nicht mehr.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 5. Tage bis auf nasalen Streifen, vor-
her scheinbar nur die temporale Hälfte, vom 7. Tage an in der Abnahme.
— 2G3 —
Vom 9. Tage an nur noch ganz aussen bis zum 21, Tage, am 22. Tage nicht
mehr nachweisbar. Gegen Licht: In den ersten 7 Tagen Reaction fehlend oder
deutlich schwächer, nachher gleich.
Optische Reflexe: Fehlen bis zum 16. Tage, abgeschwächt bis zum
24. Tage; am 26. Tage normal.
Nasenlidreflex: Schwächer bis zum 10. Tage, dann ohne constante
Differenz.
FiR-. 90.
Fig. 91.
Getödtet nach circa 9 Wochen; inzwischen eine 2. Operation im Hinter-
lappen.
Section: Häute normal. Die Narbe sitzt sehr genau in der 11. Urwin-
— 264 —
düng auf dem Centrum für Bewegung und Schutz des Auges. Auf dem Durch-
schnitt (durch die Mitte der Narbe) zeigt sich ein keilförmiger bräunlicher Herd
aus Narbengewebe, der bis in die weisse Substanz reicht, von der Spitze dieses
Keiles aus geht ein spaltförmiger Erweichungsherd bis fast zur Ventrikelwand.
Der Seitenventrikel ist stark nach oben aussen nach der Narbe zu ausgezogen
und erweitert.
Beoba.chtixjigj' 64.
Aufdeckung auf Planum semicirculare links ganz vorn, 2 mm von der
Linea semicircularis entfernt, auf 19,5 mm sagittal. Aufschlitzung der Dura
ganz hinten, ünterschneidung nach vorn 2,5 cm lang und dann basal bis an
den Knochen; beim Herausziehen der Schneide wird dieselbe nach lateral oben
gedreht, so dass die Verbindung des unterschnittenen Rindenstiickes nach
lateral möglichst durchtrennt wird. Durchschneidung: des Facialis.
Fig. 92.
Fig. 93.
Motilitätsstörungen: Am 2. Tage deutlich, hängt auch gestreckt.
Keine Reaction beim Begreifen. Vom 4. Tage an Abnahme, am 23, Tage nicht
mehr deutlich.
Sensibilitätsstörungen: Nasenloch: Am 2. Tage indifferent gegen
— 265 —
Kitzeln, dann nicht mehr notirt. Zunge und Wange: Am 2. Tage geräth das
Fleisch oit unter die Zunge und fällt rechts heraus, am 3. Tage geräth es
nicht mehr unter die Zunge und fällt seltener heraus. Letzteres wird noch am
6. Tage beobachtet. Leckt bis zum 5. Tage auffällig oft nach rechts.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Vom 2.-5. Tage absolut, vom 6. —8. Tage
sieht er vielleicht spurweise, am 9. Tage sieht er auf schmalem nasalen Strei-
fen, am 10. Tage auf der nasalen Hälfte, im unteren äusseren Quadranten
etwas darüber hinaus; 14. Tag: Sehstörung ein Drittel, 19. Tag: im schmalen
temporalen Streifen, nachher wieder Zunahme, (Flund beginnt zu kränkeln.)
Gegen Licht reagirt er nur auf dem gegen Fleisch reagirenden Theil, dort
aber mit Knurren und Beissen.
Optische Reflexe: Gleich nach der Operation vorhanden, fehlen vom
2. Tage bis zum Ende der Beobachtung.
Nasenlidreflex gleich nach der Operation und auch später vorhanden.
Gestorben nach ca. 3 Wochen.
Section: Häute normal, nur an der Operationsstelle in einem schmalen
Streifen ist die Dura entsprechend dem Einstich in das Gehirn mit der Pia
verwachsen. Die Narbe sitzt der H. und dem medialen Rande der IH. Urwin-
dung auf^ dicht vor und ein wenig lateral vom Orbiculariscentrum. Durch-
schnitt (6 mm vor dem Einstich) : 5^/2 mm unter der Gehirnoberfläche parallel
dazu findet sich eine leicht concav nach aussen gebogene Spalte, die die Mark-
strahlung der II. Urwindung quer durchtrennt und noch in die IH. Urwindung
hineinreicht, hier dicht unter dem Rindengrau eines einschneidenden Sulcus
endend. Das Grau der unterschnittenen Windung ist ganz leicht abgeblasst.
Am Spalte selbst finden sich keine bedeutenderen Erweichungen, eine kleine
umschriebene Erweichung liegt lateral und oberhalb vom Nucleus caudatus,
bereits in der inneren Kapsel. 7 mm weiter nach vorn endet der eine Stich-
canal unter der Pia sichtbar, ohne dieselbe zu durchschneiden; kurz vorher
trennt sich der mehr nach vorn gerichtete Stich davon ab, um etwa 4 mm
weiter nach vorn zu enden. (Vergl, Beob. 4).
In der umstehenden Tabelle III habe ich die Resultate der vor-
stehenden Beobachtungea nach der Dauer der bei ihnen festzustellenden
Sehstörung geordnet.
1. Sehstöruugen: Eine Sehstörung fehlte gänzlich bei der Beob.
55 — Anätzung der caudalen Hälfte der II. Urwindung — und Beob.
56 — Unterschneidung der vorderen Hälfte der II. Urwindung mit Ab-
trennung der III. und IV. Urwindung von dem Marklager und Zer-
trümmerung des Letzteren. Eine verhältnissmässig kurze Dauer, bis zu
5 Tagen, hatte die Sehstörung in den Beobb. 57 bis 60. Bei der Beob.
57 war unter ganz geringer Eröffnung der Dura eine Unterschneidung
der IL und III. Urwindung vorgenommen worden; eine Sehstörung war
nur am 2. Tage und selbst da nicht einmal deutlich nachzuweisen. Bei
der Beob. 58 war die ganze IL Urwindung von hinten nach vorn unter-
— 266 —
Tabelle III.i)
No.
der
Art
Motilitätsstörungen
Sehstörung
gegen
Optische
Nasen-
lid-
Beob.
der Operation
Fleisch
Licht
Reflexe
reflex
55
Anätzung
gering, nur bis zum
4. Tage
0
0
0
(12)
56
Unterschneidung
ziemlich hochgradig
der 2. Seite
0
—
Facialislähmung
57
Unterschneidung
7 Tage, spurweise
14 (25)
der 2. Seite
2?
0
mindestens
0
58
Unterschneidung
nur anfangs hoch-
der 2. Seite
gradig
2?
3
?
?
59
Unterminirung u.
theilweise Ex-
hochgradig
stirpation
5
—
2 (14)
(5)
60
Unterschneidung
bis zum 11. Tage
(zunehmend)
5
5
4 (22)
5
61
Unterschneidung
r. Lidspaite weiter;
hochgradig
0
7
22 (30)
16
62
Unterschneidung
hochgradig, noch nach
42
6 Wochen
8
6
dauernd
15(11)
63
Exstirpation
hochgradig
21
7
16 (9)
(10)
64
Unterschneidung
sehr deutlich
22
minde-
stens
22
22
0
schnitten worden; es fand sich bei der Section ein grosser Erweichungs-
herd am Fusse des Stabkranzes, der einen nicht geringen Theil der
Strahlung aus dem Gyrus sigmoides neben der Markstrahlung aus der
IL Urwindung unterbrochen haben musste; die Sehstörung erwies sich
gleichwohl nur gegen Licht bis zum 3. Tage deutlich, gegen Fleisch,
war sie nur am 2. Tage undeutlich vorhanden. Bei der Beob. 59 —
ausgiebige Unterminirung und theilweise Exstirpation der vorderen
Hälfte des vorderen Schenkels der IL Urwindung unter Betheiligung
der Nachbarwindungen mit Späthämorrhagie — dauerte die Sehstörung
gegen Fleisch 5 Tage. Bei der Beob. 60 war der sylvische Theil der
IL Urwindung und der anschliessende Theil der sogenannten „Augen-
region" aufgedeckt, aber nur die Markstrahlung der IL Urwindung an-
nähernd senkrecht auf ihre Verlaufsrichtung unterschnitten worden. Die
Sehstörung war sowohl gegen Fleisch als gegen Licht einschliesslich
des 5. Tages nachweisbar. In den übrigen 4 Fällen hielt eine Seh-
störung von verschiedener Intensität 7 — 22 Tage an. Bei der Beob. 61
1) Die in Klammern gesetzten Zahlen bedeuten eine Abschwächung oder
eine fernere Abschwächuüg um die Dauer der betreffenden Zahlen in Tagen.
Wegen der Bedeutung der Fragezeichen wird auf den Text verwiesen.
— 267 —
war das mittlere Drittel der IL ürwindung unter Schonung des Gyrus
sigmoides unterminirt worden; bei der Section zeigte sich, dass dieser
Gyrus gleichwohl etwas in den Bereich der Läsion hineingezogen war,
ausserdem zog ein feiner Erweichungsstreifen bis in den Fuss des Stab-
kranzes hinein. Li diesem Falle war die Sehstörung nur gegen Licht
auf die Dauer von 7 Tagen deutlich nachweisbar. Bei der Unter-
suchung mit Fleisch fixirte der Hund zwar, da er aber nicht frass,
blieb es fraglich, ob er den Gegenstand erkannte oder nicht. Bei der
Beob. 62 war der grössere Theil des vorderen Schenkels der IL ür-
windung fast von seinem caudalen Ende an unterschnitten worden. Der
Gyrus sigmoides war zwar geschont, aber eine Kette von Erweichungs-
herden zog sich von der IL Ürwindung aus derart durch seine Ver-
bindungen mit der inneren Kapsel hindurch, dass sie an dieser Stelle
gänzlich oder fast gänzlich unterbrochen sein mussten. Die Sehstörung
dauerte in diesem Falle gegen Fleisch 8, gegen Licht 6 Tage. Bei der
Beob. 63 war eine verhältnissmässig kleine Exstirpation im Orbicularis-
centrum ziemlich abseits vom Gyrus sigmoides ausgeführt worden. Bei
der Section ergab sich aber, dass sich ein Erweichungsstreifen von der
Narbe aus durch das ganze Marklager hindurch bis fast an die Spitze
des Seitenventrikels zog. Die Sehstörung dauerte gegen Fleisch 21 und
gegen Licht 7 Tage. Bei der Beob. 64 endlich waren die 3 lateralen
Windungen von einem Schlitz der Dura aus, der sich ungefähr über
der vorderen basalen Hälfte des Orbiculariscentrums befand, von ihren
Verbindungen abgetrennt worden. Auf dem Querschnitt zeigte sich nur
eine Unterschneidungsspalte und ausserdem ein kleiner Erweichungsherd
in der inneren Kapsel, Indessen Hessen sich auch die Endigungen der
basalen und frontalen Stichcanäle verfolgen. Die Sehstörung dauerte
hier 22 Tage, bis zum Tode des Thieres, welches allerdings in den
letzten Tagen kränkelte.
2. Die optischen Reflexe waren in 1 Falle (Beob. 56), bei dem
übrigens auch die Sehstörung fehlte, wegen Facialislähmung nicht zu
untersuchen. Ip dem 2. Falle von fehlender Sehstörung (Beob. 55)
waren sie gleichfalls nicht beeinträchtigt. In allen anderen Fällen
waren sie mehr oder minder stark beeinträchtigt. Wirft man einen
Blick auf die Tabelle, so fällt sofort auf, dass die Dauer dieser Beein-
trächtigung durchgehends unverhältnissmässig viel länger war als die
Dauer der Sehstörung. Allerdings fehlten sie dann vielfach nicht ganz,
sondern waren nur mehr minder stark abgeschwächt. Wir sehen dar-
unter aber doch 1 Fall (Beob. 61), in dem sie 22 Tage lang gänzlich
fehlten und dann noch lange abgeschwächt waren, während der Hund
schon von Anfang an auf Fleisch normal reagirte und nur gegen Licht
— 268 —
eine Sehstörung erkennen Hess. Aehulich fehlten die optischen Reflexe
bei der 57. Beob. 14 Tage gänzlich, um noch lange abgeschwächt zu
sein, während die Reaction auf Fleisch nur am 2. Tage undeutlich und
auf Licht garnicht gestört war. Ohne auf anderweitige Einzelheiten
näher einzugehen, hebe ich hier nur wieder die Selbständigkeit der
beiden Symptome und die sich hier geltend machenden Beziehungen zu
denjenigen Arealen hervor, die nach den Ergebnissen der electrischen
Untersuchung der Innervation des Orbicularis vorstehen oder ihnen be-
nachbart liegen.
3. DerNasenlidreflex war ungestört nur in 2 Fällen (Beobb. 57
und 64). In beiden Fällen fand sich eine erhebliche Störung der opti-
schen Reflexe. In dem ersteren Falle dauerte diese mindestens 39, in
dem anderen 22 Tage, bis zum Tode. In den übrigen Fällen war der
Nasenlidreflex zwischen 5 und 26 Tagen theils aufgehoben, theils ge-
stört. Unter ihnen befindet sich 1 Fall (Beob. 55), in dem er 12 Tage
abgeschwächt v/ar, während die optischen Reflexe keine Störung zeigten.
In den übrigen Fällen waren die optischen Reflexe länger gestört als
der Nasenlidreflex. Das Verhältniss betrug 16 : 5, 26 : 5, 52 : 16,
42 : 26 und 25 : 10.
4. Das gegenseitige Verhältniss der Sehstörung, der
optischen Reflexe und des Nasenlidreflexes. Ich habe bereits
in dem vorigen Kapitel und in den vorstehenden Abschnitten dieses
Kapitels dieser Abhandlung die Unabhängigkeit der Störung der opti-
schen Reflexe von der Sehstörung betont. Thatsache ist, dass ein Hund
nicht nur sehr gut sehen, sondern überhaupt keine Sehstörung gehabt
haben kann, während seine optischen Reflexe dennoch in mehr minder
hohem Grade und auf mehr minder lange Zeit geschädigt waren.
Ebensowohl kann aber auch eine Sehstörung vorhanden sein, ohne dass
die optischen Reflexe darunter zu leiden brauchten. Die Anschauung
Luciani's, nach der das Ausfallen des optischen Reflexes (Gesticula-
tionsversuch) eine Sehstörung bedeutet, ist demnach, wie ich bereits
gesagt habe, irrig. Diese Anschauung hat aber mit derjenigen Munk's
ungeachtet aller Verschiedenheit im Einzelnen etwas Gemeinsames mit
Rücksicht auf die Construction des Reflexbogens und den Mechanismus
seiner functionellen Schädigung. Gemeinsam ist Beiden die Auffassung,
dass der optische Reiz gleichviel zu einem wie beschaffenen corticalen
optischen Centrum gelangt und von diesem aus zunächst das corticale
und dann das subcorticale Orbiculariscentrura in Erregung versetzt.
Eine Verschiedenheit, mindestens im Vortrage, besteht darin, dass die
Schädigung der Function, also des Lidschlusses, nach Luciani nur in
— 269 —
der optischen, nach Munk aber sowohl in der optischen als auch in
der motorischen Region der Rinde stattfinden kann.
Jedenfalls aber giebt bei beiden Forschern die Rinde die einzigen,
für den Vorgang direct in Betracht kommenden Factoren ab; die sub-
corticalen Centren werden von Beiden bei den durch corticale Eingriffe
verursachten Störungen als unbetheiligt angesehen, während Goltz mit
seiner Schule umgekehrt alle nach corticalen Eingriffen auftretenden
Erscheinungen — mit den hier besprochenen Reflexen hat er sich
meines Wissens nicht beschäftigt — auf die subcorticalen Centren be-
zogen wissen will.
Zu den corticalen Störungen rechnet Munk^) auch die nach Ein-
griffen in die „Kopfregion" eintretende Aufhebung der Druckgefühle
der Wange, also ein Trigeminusreflex, ohne freilich anzugeben, wodurch
sich diese Aufhebung äussert. Dagegen gehörten nach ihm die Ciliar-,
Conjunctival- und Cornealreflexe, also eine andere Reihe von Trigeminus-
reflexen, ebenso wie der Pupillarreflex zu den niederen, der Mitwirkung
des Grosshirns nicht bedürfenden Reflexen.
Das gesammte Schema der Reflexthätigkeit und ihrer Störungen
würde sich nach dieser Theorie also sehr einfach gestalten und es ist
vielleicht aus diesem Grunde geschehen, dass sie so bestechend gewirkt
hat. Die Sehthätigkeit kann nur gestört werden durch Eingriffe in die
„Sehsphäre". Der reflectorische Lidschluss aber sowohl durch Eingriffe
in die „Sehsphäi*e", weil dann das Thier nichts sieht oder durch Ein-
griffe in die „selbstständige Fühlsphäre des Auges", weil dann der
dazu erforderliche Rindenreflex auf den Orbicularis in Fortfall kommt.
Legen wir nun an diese Theorien den Maassstab der in dieser Ab-
handlung vorgetragenen Thatsachen, so ergiebt sich zunächst als über-
einstimmend mit derselben, dass der optische Reflex sowohl bei solchen
Eingriffen, welche auf die „Sehsphäre", als auch bei solchen, welche
auf das Orbiculariscentrum streng localisirt sind, fehlen kann, und dass
die Ciliar- und Cornealreflexe, wie dies neuerdings auch von Eckhard
angegeben worden ist, unter diesen Umständen erhalten bleiben.
Neben diesen mit der Theorie übereinstimmenden Thatsachen werden
wir aber auf andere zurückkommen, welche mit ihr nicht überein-
stimmen. Sehen wir zunächst von unseren Erfahrungen über die Seh-
störung ab und beschäftigen uns nur mit den motorischen und Reflex-
organen, so ist es, um Klarheit in die Sache zu bringen, durchaus er-
forderlich, die einzelnen Reflexapparate mit Bezug auf ihre Störung ge-
1) H. Munk, Gesammelte Mittheilungen. 1890. S. 53.
— 270 —
sondert zu betrachten. Dies ist der Apparat der wilikürliclieu Inner-
vation, zugleich des cerebralen Tonus, der Apparat des optischen Reflexes
und die Apparate der Trigeminusreflexe.
Alsbald stossen wir hier auf eine Schwierigkeit. Nach Munk
sollen Exstirpationen seiner „Augenregion" Ptosis bewirken. Ich habe
dagegen nach Eingriffen in mein Orbiculariscentrum nur, und zwar
nicht regelmässig Erweiterung der Lidspalte, niemals Ptosis beobachtet
und ebenso lauten die Angaben Luciani's. Nach Eckhard sind keine
Constanten Veränderungen zu beobachten; mau empfinge zwar in
einigen Fällen den Eindruck als ob die Lidspalte auf der entgegenge-
setzten Seite etwas weiter sei als auf der operirten. Wegen der In-
constanz der Erscheinung will Eckhard aber kein Gewicht darauf
leg^n. Man könnte nun die widersprechenden Angaben von Munk
vielleicht in der Weise erklären, dass er bei denjenigen Exstirpationen,
bei denen er — auch inconstant — Ptosis beobachtete, andere und
zwar solche Theile angegriffen hat, die den Levator palpebrae superioris
innerviren, und dass bei denjenigen Operationen von ihm, von Luciani
und mir, bei denen der Effect mit Bezug auf die Lidspalte latent blieb,
beide Felder angegriffen waren, sodass die Wirkung der Verletzung des
einen durch die Wirkung der Verletzung des anderen aufgehoben wurde.
Da Muuk aber meines Wissens niemals eine genauere Localisation
seiner Lähmungsversuche innerhalb seiner langen und breiten „Augen-
region" kundgegeben hat, so muss ich es bei dieser Vermuthung be-
wenden lassen.
Die willkürliche Bew^eglichkeit der Lidmuskeln scheint bei diesen
Versuchen, auch wenn sie ein positives Resultat ergeben, nicht aufge-
hoben zu sein; wenigstens habe ich nicht beobachtet, dass die Hunde
mit erweiterter Lidspalte sie nicht schliessen konnten, auch bei Luciani
finde ich keine derartige Angabe und dass man bei vorhandener Ptosis
vom Hunde darüber, ob er seine Lidspalte weiter zu öffnen vermag,
keine Auskunft erhalten kann, ist selbstverständlich. Hiernach tritt
die nach diesen Operationen zu beobachtende Erweiterung
der Lidspalte, vielleicht auch ihre Verengerung, in eine Reihe
mit dem Herabhängen der geschädigten Pfoten schwebender
Hunde, das ich in den vorhergehenden Abhandlungen ausführlich er-
örtert habe. Sie ist also, wie jenes Symptom, auf das Fehlen
des normalen cerebralen Tonus zurückzuführen, ohne dass
jedoch hier, wie dort das Phänomen in allen seinen Theilen gänzlich
aufgeklärt worden wäre. Für diese Auffassung spricht auch die ge-
legentlich gemachte (Beob. 60), aber in den anderen Fällen nicht weiter
verfolgte Beobachtune;, dass der normale Widerstand, den man bei der
— 271 —
passiven Eröffnung des nicht geschädigten Auges antraf, auf dem ge-
schädigten, eine Erweiterung der Lidspalte zeigenden, fehlte.
Betrachten wir von diesem Gesichtspunkte aus das Fehlen des
optischen Reflexes, so lässt es sich gleichfalls in eine Reihe mit dem
Fehlen des normalen Reflexes beim „Begreifen" der Pfoten schwebender
Hunde stellen. In jedem der beiden Fälle können die Hunde Willens-
impulse zu der Musculatur der geschädigten Seite gelangen lassen, aber
die normale Antwortsbewegung auf den adäquaten centripetalen Reiz
bleibt aus.
Das Fehlen des Nasenlidreflexes lässt sich zwar in ähnlicher Weise
erklären; indessen ist dies nur unter Zuhülfenahme einer Annahme
möglich, welche mit den geläufigen Anschauungen über das Wesen der
Functionen innerhalb der motorischen Rindencentren sich nicht ganz
•deckt. Bei den hier mitgetheilten Versuchen hat sich gezeigt, dass ein
Theil der vom Trigeminus auf den Orbicularis palpebrarum wirkenden
Reflexe — die Ciliar-, Coüjunctival- und Cornealreflexe — so gut wie
immer ungestört bleibt, dass ein anderer Theil der vom Trigeminus auf
-den gleichen Muskel wirkenden Reflexe — der Nasenlidreflex — ge-
stört sein kann, während der vom Opticus auf den gleichen Muskel
wirkende Reiz die normale Contraction hervorruft und dass umgekehrt,
■die letztere Function, der optische Reflex fehlen kann, während der
Nasenlidreflex vollkommen intact ist. Wenn wir nun auch den Ciliar-,
Conjunctival- und Cornealreflex dadurch eliminiren, dass wir diesen
Aggregaten des Trigeminus eine eigene Repräsentirung in der Rinde
überhaupt nicht zuschreibeil, was sehr unwahrscheinlich ist, oder wenn
wir annehmen, dass der Einfluss einer solchen corticalen Repräsentirung
ganz und gar gegen die subcorticale Innervation zurücktritt, so bleibt
doch immer die Schwierigkeit bestehen, dass der gleiche Muskel, der
•Orbicularis in zahlreichen Fällen auf den einen Reflexreiz antwortet,
auf den anderen aber nicht. Diese Schwierigkeit ist unlösbar, wenn
man den Sitz der Stömng in allen Fällen in das Orbiculariscentrum
verlegt, sie lässt sich aber lösen, wenn man den nasalen Theilen des
Trigeminus ein besonderes Innervationsgebiet in der Rinde zuschreibt,
welches dann aber nicht nur allein mit der Musculatur der Nase und
Wange und nicht mit derjenigen des Orbicularis, wie es nach der er-
wähnten Theorie sein sollte, sondern auch mit der letzteren in corti-
caler reflectorischer Verbindung stehen müsste.
Insoweit sind also die sich aufdrängenden Fragen einer leidlich
befriedigenden Lösung zugänglich; die gesetzten Krankheitserscheinungen
lassen sich sämmtlich direct von dem Eingriff in die Rinde ableiten.
— 272 —
Die Schwierigkeiten beginnen erst, sobald man zu ihrer Localisation
schreitet.
Betrachten wir die vorgetragenen in Frage kommenden 40 Versuche
zunächst um festzustellen, bei welchen von ihnen eine Schädigung der
beiden uns jetzt beschäftigenden Reflexe notirt ist, so ergiebt sich, dass
eine Schädigung des Nasenlidrefleses bei den 22 Versuchen am Gyrus
sigmoides nur 12 mal notirt ist und von diesen 12 Malen hat er nur
2 mal, das eine Mal 8 Tage lang, das 2. Mal 5 Tage lang gänzlich
gefehlt, in den übrigen 10 Fällen war er nur abgeschwächt. Bei den
18 in Frage kommenden Versuchen an den lateralen Urwindungen ist
eine Schädigung dieses Reflexes dagegen 11 mal, und zwar davon 4 mal
eine gänzliche Aufhebung desselben notirt, je einmal auf 2, 5, 16 und
15 Tage. In der 1. Serie dieser Fälle dauerte die einfache Ab-
schwächung 1 mal 2, 3 mal 3, je 1 mal 4, 5, 11, 13, 28 und 35 Tage;
ausserdem schloss sich noch eine 3 tägige Abschwächung an das
8tägige Fehlen und eine 4 tägige Abschwächung an das 5 tägige Fehlen
an. In der 2. Serie dieser Versuche dauerte die einfache Abschwächung
je einmal 3, 5, 10, 12, 13, 16 und 35 Tage; ausserdem schloss sich
noch eine 14 tägige Abschwächung an das 2 tägige und eine 11 tägige
Abschwächung an das 15 tägige gänzliche Fehlen dieses Reflexes an.
Es zeigt sich also ganz allgemein gesprochen, dass die Folgen für den
Nasenlidreflex schwerer waren, wenn in den lateralen Urwindungen, als
wenn in der medialen, dem Gyrus sigmoides, operirt wurde. Dies ist
auch insofern ganz verständlich, als in dem ersteren Falle die Opera-
tion die beiden Windungen, in denen sich das von Fritsch und mir
nachgewiesene Orbiculariscentrum und das von mir nachgewiesene
Centrum für die unteren Aggregate des Facialis befindet, betraf. Die
Schädigung des uns beschäftigenden Reflexes kann nach meinen bis-
herigen Auseinandersetzungen durch Verletzung des einen, wie des
anderen Centrums bedingt sein. Immerhin wäre es auffallend genug,
wenn Eingrilfe, die auf den Gyrus sigmoides selbst begrenzt waren,
eine Schädigung der Function des letztgedachten, ziemlich weit ab-
liegenden Centrums zur Folge hätten.
Fassen wir weiter diejenigen Beobachtungen ins Auge, bei denen
ein Trauma des Centrums für den Orbicularis durch Lagophthalmus
wahrscheinlich gemacht wird, so ergiebt sich, dass bei der ßeob. 26
das Centrum für den Orbicularis mitaufgedeckt und in den Bereich der
Störung hineingezogen war. Die bis zum Ende der ßeobachung (35
Tage) dauernde Aufhebung sowohl des optischen als des Nasenlidreflexes
wird hierdurch vollkommen erklärt. Ganz anders liegen die Verhält-
nisse in dem Falle 48, bei dem die allerdings nur 4 Tage anhaltende
— 273 —
Erweiterung der Lidspalte durch den Ort der Verletzung in der Mitte
des vorderen Schenkels der II. ürwindung nicht recht motivirt war und
noch dazu die optisciien Reflexe garnicht, der Nasenlidreflex kaum ge-
stört war. Bei der Beob. 50 war das mittlere und ein Theil des
unteren Drittels der II. ürwindung und damit der vordere Theil des
Orbiculariscentrums so gut wie ausgeschaltet. In diesem Falle ent-
sprach wieder die 4 Tage dauernde Erweiterung der Lidspalte, sowie
die bis zum Ende der Beobachtung (35 Tage) dauernde Störung des
optischen und des Nasenlidreflexes der Localisation der Verletzung.
Das Gleiche gilt von der Beob. 53, bei der auf eine ünterschneidung
des Orbiculariscentrums eine 23 Tage lang dauernde Erweiterung der
Lidspalte und eine 18 bezw. 13 Tage dauernde Störung des optischen
und des Nasenlidreflexes folgte. Bei der Beob. 61 war gleichfalls das
Orbiculariscentrum in eine Narbe verwandelt, die optischen Reflexe 52
und der Nasenlidreflex 16 Tage gestört. Ueber das unter diesen Um-
ständen auffallende Fehlen des Lagophthalmus bei Angriffen auf die
hintere Hälfte des vorderen Schenkels der IL ürwindung habe ich mich
bereits (S. 270) ausgesprochen.
Mindestens ebenso auffällig ist eine Reihe von Fällen, bei denen
nach Eingriffen in die lateralen Windungen die optischen Reflexe zu
einer Zeit gestört waren, zn der keine Sehstörung bestand, während der
Nasenlidreflex nicht oder nicht mehr gestört war. Hier war also der
Weg durch das Orbiculariscentrum frei und dennoch versagte auf der
geschädigten Seite der optische Reiz.
Wir hatten bereits bei der 1. Reihe dieser Beobachtungen (Beobb.
9 — 16) gesehen, dass die einfache Freilegung des Gyrus sigmoides auch
bei denjenigen Fällen, bei denen das Orbiculariscentrum nicht betheiligt
sein konnte, genügte, um die optischen Reflexe zu schädigen. Das
gleiche Resultat haben nun auch die jetzt mitgetheilten 22 Versuche
am Gyrus sigmoides ergeben. Die optischen Reflexe blieben in keinem
einzigen Falle intact und waren in vielen Fällen sehr hochgradig und
lang andauernd geschädigt. Es würde zu weit führen auf alle diese
Fälle einzeln einzugehen. Dagegen muss ich mit aller Entschiedenheit
hervorheben, dass diese Erfahrungen keineswegs durchgehends durch
Nachbarwirkungen auf das Orbiculariscentrum zu erklären sind. Ich
selbst habe wiederholt auf die Gefahr der Täuschung durch Nachbar-
schaftssymptome hingewiesen, ja, einer der vornehmlichsten Zwecke
dieser Untersuchungen besteht darin, den Werth solcher Symptome fest-
zustellen und damit die wirklichen Folgen localisirter Verletzungen aus
der Fülle der Symptome herauszuschälen. So habe ich denn auch bei
der Analyse dieser Beobachtungen von allen denjenigen Fällen abge-
llitzi};, Gesammelte Abhandl. II. Tlieil. 18
— 274 —
sehen, bei denen die II. Urwiudung sich in die Hirnlücke hineingelegt
hatte, sodass die Narbe darauf übergriff, oder bei denen selbst die weit
nach vorn vor dem Orbicularisceutrum gelegenen Theile in Mitleiden-
schaft gezogen waren. Es giebt aber denn doch Fälle genug, bei denen
von solchen Nachbarschafts- und ebenso von anderen Fernewirkungen
gar keine Rede sein kann. Ich führe von solchen als vollkommen be-
weisend die Beobb. 43 links und 43 rechts an, bei denen eine einfache
frontale Durchtrennung am vordersten Rande des Gyrus sigmoides aus-
geführt wurde und die optischen Reflexe auf die Dauer von 11 bezw.
27 Tagen gestört waren. Ich übersehe nicht, dass sich bei diesem
Hunde auf der rechten Seite ein Erweichungsherd im Marklager und ein
Blutherd im medialen Rindengrau fand. Aber einmal waren diese
Herde nur einseitig vorhanden, während die Störung doppelseitig war
und dann lagen sie so weit nach vorn, dass sie die Strahlung aus dem
sylvischen Theil der IL ürwindung unmöglich schädigen konnten.
Ausserdem erwähne ich beispielsweise die Beobb. 29, 30, 32 und 33
mit 13 — 35 Tage dauernden Störungen der optischen Reflexe. Beiläufig
sei bemerkt, dass sich auch die Sehstörungen in diesen Fällen analog
verhielten, obschon bei ihnen von einem Trauma der „Sehsphäre" noch
viel weniger die Rede sein konnte, als von einem solchen des Orbicu-
lariscentrums. Ja, sogar in den Beobb. 43 links und 43 rechts, bei
denen die Operation fast am entgegengesetzten Pol der Hemisphäre
ausgeführt wurde, war die Sehstörung noch am 15. Tage nach der
Operation nachweisbar.
Aus dem Vorgetragenen scheint mir mit Sicherheit hervorzugehen,
dass nach frontalen Eingriffen Sehstörungen und Störungen
der optischen Reflexe als unmittelbare Folgen von Ver-
letzungen des Gyrus sigmoides so gut wie regelmässig,
Störungen der optischen Reflexe nach Verletzungen des
Orbiculariscentrums gleichfalls als directe Folgen der Ver-
letzung so gut wie regelmässig eintreten, dass ferner die
Verletzung dieses Centrums häufig zu einer Erweiterung der
Lidspalte und die Verletzung seiner mehr nach vorn und
lateral gelegenen Nachbarschaft (meines Centrums für den
Rest des Facialis) noch häufiger zu einer Störung des
Nasenlidreflexes führt, während die vorderen Schenkel der
IL — IV. ürwindung, einschliesslich des vorderen Theiles des
grossen Marklagers und der inneren Kapsel in jeder Weise
verletzt sein können, ohne dass hieraus jemals direct eine
Sehstörung resultirte.
5. Nach und durch die Erledigung dieser umständlichen Vorfragen
— 275 —
gestaltet sich die Beantwortung unserer Hauptfrage, ob Sehstörungen
auch durch Verletzungen der Markstrahlungen des Gyrus
sigmoides bedingt sein können, soweit sie überhaupt auf Grund
des vorliegenden Materials unternomnien werden kann, sehr einfach.
In Betracht kommen nur diejenigen Verletzungen der hinteren
Hälfte der lateralen Urwindungen, bei denen die Rinde des Gyrus sig-
moides selbst nicht verletzt war. Wir gehen am besten von denjenigen
Fällen aus, bei denen die Sehstörung am hochgradigsten war und am
längsten anhielt. Bei der Beob. 63 dauerte die Sehstörung gegen
Fleisch 21 und gegen Licht 7 Tage. Der Gyrus sigmoides selbst war
unbetheiligt, aber ein unmittelbar hinter demselben angelegter Frontal-
schnitt ergab, dass sich ein Erweichungsstreifen von der Narbe aus
durch das ganze Marklager hindurch bis fast an die Spitze des Seiten-
ventrikels zog. Die Schädigung der Markstrahlung aus dem Gyrus
sigmoides manifestirte sich denn auch durch eine hochgradige, ers
nach dem 21. Tage verlöschende Motilitätsstörung. Bei der Beob. 64
dauerte die Sehstörung gegen Fleisch und Licht noch 1 Tag länger
(22 Tage), die letzten Tage können aber wegen Erkrankung des Thieres
nicht mit in Betracht gezogen werdeu. Hier lag der Eingriff noch
weiter ab vom Gyrus sigmoides, aber es fand sich ein, auf dem ange-
legten Durchschnitt makroskopisch kleiner Erweichungsherd in der
inneren Kapsel. Es ist möglich, dass dieser auf anderen Schnittebenen
oder mikroskopisch grössere Dimensionen annahm. Jedenfalls hat er
aber die Strahlung aus dem hinteren Schenkel des Gyrus sigmoides
schwer geschädigt, da die Operation erhebliche Motilitätsstörungen zur
Folge hatte, ohne dass die Rinde des Gyrus sigmoides irgendwie ge-
schädigt sein konnte. Es folgt die Beob. 62, bei der die Verletzung
die Rinde des Gyrus sigmoides jedenfalls nicht betroffen hatte, während
die durch eine Kette von Erweichungsherden, die sich bis an die Spitze
des Seiten Ventrikels hinzog, in der IL Urwindung angerichtete Zer-
störung so hochgradig war, dass die Markstrahlung aus dem Gyrus
sigmoides jedenfalls auf der Schnittebeue so gut wie gänzlich unter-
brochen war; aber diese lag weiter nach vorn als in dem vorigen Falle.
Die Sehstörung dauerte nur 8 Tage; die anfangs sehr hochgradige Mo-
tilitätsstörung dagegen war noch nach mehr als 6 Wochen nachweisbar.
Von grösserem Interesse ist noch die Beob. 60, bei der eine 5 tägige
Sehstörung gegen Fleisch und Licht aller Wahrscheinlichkeit nach
durch eine in der IL Urwindung sehr tief geführte Unterschneidung,
welche an deren Fuss schon innerhalb des Centrum semiovale lag
bedingt war; der Hund hatte daneben eine vom 4. — 11. Tage ziemlich
hochgradige, dann abnehmende Motilitätsstörung.
18*
— 276 —
Von der Heranziehung der übrigen Beobachtungen, bei denen nur
eine Sehstörung von kürzerer Dauer in die Erscheinung trat, nehme ich
Abstand.
Durch diese Beobachtungen wird es sehr wahrscheinlich, dass vor-
übergehende Sehstörungen nicht nur auf Grund von Verletzungen der
Rinde des Gyrus sigmoides, sondern auch auf Grund von Verletzungen
eines Theils seiner Markstrahlung oder vielmehr von deren Einstrah-
lungen in das grosse Marklager oder die innere Kapsel entstehen
können. Ich hätte gewünscht, diese Bahnen mit einiger Sicherheit
näher bezeichnen zu können; indessen ist dies nur in ganz unvoll-
kommener Weise gelungen. Selbstverständlich können es nicht die
gleichen Projectionsbahnen sein, deren Zerstörung die hier beobachteten
Motilitätsstörungen hervorrufen, denn diese begeben sich sicherlich zu
den motorischen und sensiblen Centren des Rückenmarks. Indessen
gewinnt man vielfach, wenn auch nicht überall den Eindruck, als wenn
die motorischen Bahnen für die Extremitäten gemeinsam mit denjenigen
verliefen, deren Verletzung die Sehstörung hervorbringt. Ganz ähnlich
gestaltet sich auch allem Anscheine nach das Verhalten dieser Theile
in der grauen Rinde des Gyru« sigmoides. Es scheint auch hier ganz
bestimmte Regionen, ich meine besonders den lateralen Bogen, zu geben,
deren Verletzung die Motilität und den Sehact besonders schädigt.
Allerdings wird man sich den Hergang nicht in der Art vorzustellen
haben, dass die Grösse der Letzteren in geradem Verhältniss zu der
Grösse der Ausschaltung stehe — ich habe das schon oben erläutert
— sondern man wird annehmen müssen, dass es innere, mit dem Hei-
lungsprocess in Verbindung stehende Reiz Vorgänge sind, durch deren
Vermittelung das Phänomen in die Erscheinung tritt. —
Diese Fragen sind also, wie man sieht, keineswegs ganz aufgeklärt,
womit sie das Schicksal der meisten anderen die Physiologie des Gross-
hirns betreffenden Fragen theilen. Die vorstehende Darstellung unter-
scheidet sich aber vielleicht insofern von manchen anderen Arbeiten
auf unserem Gebiete, als ich geflissentlich alle Lücken imseres, auch
meines eigenen Wissens, hervorgehoben habe. Es giebt noch Mitte,
diese Lücken auszufüllen, wenn man sie nur kennt. Ich selbst war
aber genöthigt, diesen Theil meiner Arbeit zum Abschluss zu bringen
IV. lieber die Bezielmiigeii der Rinde und der siibcorticalen
(raiiglieu zum Seliact des Hundes.
IL Welcher Art sind die durch corticale Läsionen hervorge-
brachten Sehstörungen, sind sie hemianopischer Natur oder
nicht, insbesondere entsprechen sie den Lehren Munk's?
Abschnitt II. Occipitale Läsionen.
Inhalt: I. Historisches und Kritisches S. 278. II. Operationsmethoden
S. 296. III. Untersuchungsmethoden S. 299. 2t. Casuistik. Vorbe-
merk'ungen S. 304. a) Centrale Läsionen S. 305. A. Typische Operationen
S. 306. ß. Primäroperationen S. 306. Zusammenfassung S. 332. 1. Sehstörungen,
aa. Reaction gegen Fleisch S. 332. bb. Reaction gegen Licht S. 334. 2. Op-
tische Reflexe S. 335. Nasenlidreflex S. 336. ß. Secundäroperationen S. 336. Zu-
sammenfassung S. 355. 1. Sehstörungen, aa. Reaction gegen Fleisch S. 355. bb.
Reaction gegen Licht S. 355. 2. Optische Reflexe S. 355. 3. Nasenlidreflex
S. 356. B. Atypische Operationen S. 357. Zusammenfassung. S. 387. 1. Seh-
störungen, aa. Reaction gegen Fleisch S. 387. bb. Reaction gegen Licht S. 392.
2. Optische Reflexe S. 393. 3. Nasenlidreflex S. 393. 4. Das Verhältniss der
Läsionen zur Sehstörung S. 393. b. Laterale Läsionen S. 395. A. Aty-
pische^ Operationen 8.396. Zusammenfassung S. 400. 1. Sehstörungen S. 400.
2. Optische Reflexe S. 401. 3. Nasenlidreflex S. 401. B. Typische Operationen
S. 401. «. Laterales Drittel S. 401. Zusammenfassung S. 418. 1. Sehstörungen
S. 418. 2. Optische Reflexe S. 420. ß. Laterale Hälfte. S. 421. Zusammen-
fassung S. 432. 1. Sehstörungen, aa. Reaction gegen Fleisch S. 432. bb. Reaction
gegen Licht S. 433. 2. Optische Reflexe S. 433. 3. Nasenlidreflex S. 433.
4. Die Projectionsfrage S. 433. c. Mediale Läsionen S. 434. Zusammen-
fassung S. 444. 1. Sehstörungen, aa. Reaction gegen Fleisch S. 444. bb.
Reaction gegen Licht S. 445. 2. Optische Reflexe S. 445. 3. Nasenlidreflex
5. 445. 4. Die Projectionsfrage S. 445. d. Caudale Läsionen S. 445.
A. Typische Läsionen S. 446. Zusammenfassung S. 457. 1. Sehstörungen.
aa. Reaction gegen Fleisch S. 457. bb. Reaction gegen Licht S. 458. 2. Op-
tische Reflexe S. 458. B. Atypische Läsionen S. 459. Zusammenfassung
S. 474. 1. Sehstörungen, aa. Reaction gegen Fleisch S. 474. bb. Reaction
gegen Licht S. 476. 2. Optische Reflexe S. 476. 3. Nasenlidreflex S. 476.
■ e. Orale Läsionen S. 476. A. Typische Operationen S. 477. B. Aty-
pische Operationen S. 500. Zusammenfassung S. 536. 1. Sehstörungen.
— 278 —
aa. Reaction gegen Fleisch S. 536. bb. ßeaction gegen Licht S. 539.
2. Optische Reflexe S. 539. Nasenlidreflex S. 542.
33. Ergebnisse. 1. Die Rindenblindheit und die Projections-
lehre S. 542. 2. Die Seelenblindheit und die Beschaffenheit der
corticalen Sehstörung S. 566. III. Der Mechanismus des Sehens, der
Sehstörung und der Restitution S. 584. IV. Rückblicke und Schlüsse auf
die Entstehung der optischen Apperception S. 596.
I. Historisches und Kritisches.
Einige historische, die- Physiologie des Occipitalhirns betreffende
Daten habe ich bereits in einer früheren Arbeit i) gegeben; indessen ist
es, wie ich schon früher andeutete, noch erforderlich, auf mehrere
Punkte näher einzugehen.
Zunächst will ich der Arbeiten Panizza's nach Munk-) — die
Originale Panizza's waren mir nicht zugänglich — insofern etwas
ausführlicher gedenken, als es auf die Klarlegung der Frage ankommt,
Inwieweit dieser Forscher das Auftreten von Sehstörungen als Folge von
Hirnverletzungen auf den Hinterhauptslappen bezog. Hierher gehört
eine Anzahl der von Munk namhaft gemachten Untersuchungen nicht;
ich meine das Auftreten von Sehstörungen nach querer Durchschneidung
einer Hemisphäre an ihrem vorderen Fünftel, nach querer Durchschnei-
dung des Corpus striatum und nach Durchschneidung des Thalamus
opticus. Wohl aber gehören hierhin Exstirpationsversuche, bei denen
Panizza Hunden ein Rindenstück ausschaltete, welches „etwas tiefer
als der Scheitelhöcker" gelegen war, wenn man sie mit den theoreti-
schen Nutzanwendungen, die er aus diesen Erfahrungen zieht, in Zu-
sammenhang bringt. Zwar ist die gedachte Ortsangabe sehr unbestimmt
und weist eigentlich nicht deutlich auf den Hinterhauptslappen hin,
indessen hat Panizza alsdann die bei diesen Versuchen auftretende
Sehstörung mit der Verletzung der corticalen Endigung der Sehstrah-
lung in ursächlichen Zusammenhang gebracht, indem er sagte, die Ver-
letzung der Bündel, welche vom hinteren Umfange des Thalamus opticus
zu den hinteren oberen Windungen ziehen, machten es erklärlich, dass
eine selbst leichte Verletzung der Peripherie einer Hemisphäre, wenn
nur die faserige Substanz in Mitleidenschaft gezogen ist, stets die Blind-
heit des gegenseitigen Auges verursacht. Ausserdem gehört hierher ein
Theil derjenigen Untersuchungen, durch welche Panizza schon damals,
also vor Gudden durch Exstirpation eines Auges neugeborener, bezw.
ganz junger Thiere nicht nur die primären Opticuscentren, sondern auch
1) E. Hitzig, Historisches, Kritisches etc. Diese Untersuchungen S.oTff.
2) H. Munk, Gesammelte Mittheilungen 1890. S. 20 und 214.
— 279 —
das contralaterale Occipitalhirn nebst dem darüber liegenden Schädel-
dach zur Atrophie brachte.
Mir war von diesen Untersuchungen nichts bekannt als ich im
Jahre 1874 in Verfolg meiner anderweitigen localisatorischen Unter-
suchungen die nachstehende vorläufige Mittheilung veröffentlichte i) :
„Man kann durch Abtragungen im Bereiche des Hinterlappens
(Gyri n. o. Fig. 3 meines Buches „Untersuchungen über das Gehirn")
Fig. 94.
Blindheit des gegenüberliegenden Auges und paralytische Dilatation der
entsprechenden Pupille hervorbringen. Die Erscheinungen der halbseiti-
gen Blindheit sind so charakteristisch, dass ein Irrthum darüber unmög-
lich ist. Andererseits entstehen bei dieser Methode leicht Nebenver-
letzungen, deren Einfluss ich noch nicht hinreichend habe feststellen
können. Jedoch wird die Annahme, dass es sich hierbei um die Gross-
hirnhemisphäre selbst handelt, durch die Beobachtung unterstützt, dass
Reizung der gleichen Stelle eine starke anhaltende Verengerung der
Pupille nach sich zieht."
In den nächsten Jahren bin ich dann auf Grund fortgesetzter ana-
loger Versuche noch einige Male auf die Sache zurückgekommen. In
einer Arbeit aus dem Jahre 18762) sagte ich: „Um nun dem Leser
einen Begriff von der verschiedenen Wirkung verschieden
localisirter Eingriffe zu geben, führe ich folgenden Doppel-
versuch an.
In den ersten Tagen des Mai 1876 wurde einem kleinen
1) E. Hitzig, Centralblatt für die med. Wissenschaften 1874. No. 35.
2) E. Hitzig, Ueber die Einwände des Herrn Prof. Goltz. Reichert's
und du Bois-Reymond's Archiv. 1876. S. 696, 697 und 702.
— 280 —
Pinscher der Schädel links über dem Gyrus sigmoides mit
einer Trephine von 14 mm Durchmesser eröffnet und eine
annähernd der Oeffnung entsprechende Menge Hirnsubstanz
auf ca. 4 mm Tiefe entfernt. Demselben Hunde wurde sodann am
19. September 1876 2 Ki'onen von 11 mm mit einer stehenbleibenden
intermediären Knochenbrücke über Hinter- und Schläfenlappen rechter-
seits aufgesetzt und sowohl die freiliegende Substanz als die unter der
Brücke liegenden Partieen auf 4 mm Tiefe gänzlich entfernt.
In Folge der rechtsseitigen Operation wurde der Hund auf dem
linken Auge blind, zeigte aber keinerlei Störungen des Muskelbewusst-
seins etc. — — —
Hunde, die in Folge einer grossen Läsion des Hinterhauptlappens
blind geworden sind, verhalten sich ganz anders (als vorn operirte).
Sie stossen mit der Schnauze anstatt mit der Pfote an diejenigen Dinge
an, welche sie nicht sehen, und treten nicht in's Leere, sondern orien-
tiren sich mit dem gesunden Auge."
Und ferner 1): „Ich hatte in dieser Gesellschaft bereits im vorigen
Winter das charakteristische Benehmen von Hunden geschildert, die
nach grossen Verletzungen des Hinterhirns auf dem gegenüberliegenden
Auge erblindet waren" etc. Ich kam dann nochmals auf den eben ge-
schilderten Hund zurück.
Munk hat nun diese meine Angaben der folgenden wohlwollenden
Kritik unterzogen. In seiner ersten Mittheilung erwähnt er nur meine
vorläufige Mittheilung aus dem Jahre 1874, obwohl sich meine in zweiter
Linie erwähnte Arbeit damals in seinen Händen befand. Als er dann
im Jahre 1880 die erste Auflage seiner gesammelten Mittheilungen ver-
öffentlichte, überging er in der Einleitung, in der die Sachlage, welche
er bei seinem Herantritt an diese Untersuchungen vorfand, geschildert
werden sollte, gleichfalls jene beiden späteren Arbeiten vou mir mit
Stillschweigen. So gelang es ihm dann zu sagen „da aber hier die
Nebenverletzungen sogar das noch in Frage stellten, ob es sich um die
Grosshirnhemisphäre selbst bei der Blindheit handelte, so war ein
sicherer Nachweis, wie er zu erstreben war, dass die Exstirpation einer
bestimmten und zwar nicht motorischen Rindenpartie Blindheit zur
Folge hat, natürlich nicht erzielt. Und noch mehr an Werth verringert
war die Mittheilung dadurch, dass einige Monate später Hitzig selber
weiter angegeben hatte, dass grössere Verletzungen des Hinterhirns die-
1) E. Hitzig, üeber den heutigen Stand der Frage über die Localisa-
tion im Grosshirn. Vortrag gehalten am 9. December 1876. Volkmann 's
Sammlung klinischer Vorträge.
— 281 —
selbe Störung — den von ihm sogenannten „Defect der Willensenergie",
d. h. einen Mangel des Widerstandes gegen passive Bewegungen der
Extremitäten • — nach sich zögen, wie gewisse Verletzungen des Vorder-
hirns." Gleichzeitig bringt er aber in einer Anmerkung versteckt (a. a. 0.
S. 13) „der Vollständigkeit wegen" noch das, was ich in der zweiten jener
oben erwähnten Arbeiten gesagt hatte, aber mit Fortlassung des vorstehend
gesperrt gedruckten Satzes. Wenn Munk dies in dem Text seiner Ein-
leitung gesagt hätte, wie er dies bei loyaler Würdigung des Sachver-
haltes hätte thun müssen, so wäre ihm freilich die beabsichtigte Herab-
setzung des Werthes meiner eigenen früheren Angaben weniger leicht
geworden.
Nachdem Munk^) dann später von Goltz der literarischen Berau-
bung angeschuldigt w'orden war, hat er in einer langen Anmerkung zu
seiner 12. Mittheilung aus dem Jahre 1883 unter Benutzung seiner
früheren Argumentation das Maass damit voll gemacht, dass er sagte,
„so kann wohl höchstens von ersten Wahrnehmungen Seitens Hitzig
die Rede sein." Darauf lässt er dann das Citat aus der Volkmann-
schen Sammlung, das ihm bereits im Jahre 1877 bekannt war, dass er
im Jahre 1880 aber nicht benutzt hat, folgen.
Die ausgesprochene Absicht des Herrn Munk bei diesem Verfahren
ging dahin, den Leser in den Glauben zu versetzen, dass Niemand vor
ihm in zielbewusster und erfolgreicher Weise das Entstehen von Seh-
störungen beim Hunde auf den Hinterhauptslappen localisirt hätte.
Inwieweit er damit im Rechte war, mag der Leser entscheiden. Ich
habe zur Erleichterung des Verständnisses nur noch Folgendes hinzu-
zufügen. Ich habe nicht, wie Munk glauben machen will, gesagt, dass
ich bei jenen ersten Versuchen Nebenverletzungen angerichtet hätte,
sondern ich hatte gesagt, dass leicht Nebenverletzungen entstehen, deren
Einfluss ich noch nicht hinreichend habe feststellen können. Zu jener
Zeit operirten wir alle nicht aseptisch, es kam also zu Eiterungen. Da
nun der Hinterhauptslappen in der Nähe der primären Opticuscentren
liegt und ich grosse eiternde Hirnwunden mit grossem Prolaps erhielt,
erschien es mir damals vorsichtig, mich nicht allzu bestimmt auszu-
sprechen. Indessen geht doch aus den beiden nachfolgenden Arbeiten
für den, der sehen will, mit Sicherheit hervor, dass ich die Frage syste-
matisch verfolgt, meine früheren Bedenken überwunden und die corti-
cale Sehstörung derart auf den Hinterhauptslappen localisirt hatte, dass
in der That im Gegensatz zu der Behauptung des Herrn Munk „ein
1) H. Munk a. a. 0. 8. 214.
— 282 —
sicherei" Nachweis, dass die Exstirpation einer bestimmten und zwar
nicht motorischen Rindenpartie Blindheit zur Folge hat, erzielt war."
Was Munk mit dem Ausdruck „erste Wahrnehmungen" hat sagen
wollen, hat er seiner Gewohnheit gemäss im Dunkeln gelassen; nach
dem Zusammenhang und dem Sprachgebrauch würde das etwa soviel,
als „gelegentliche, ohne besondere Absicht gemachte Beobachtungen"
zu bedeuten haben. Der Leser wird sich aus dem Vorstehenden ja
leicht ein ungefähres Bild von dem machen können, was au dieser Dar-
stellung wahr ist. Thatsächlich lag die Sache so, dass ich, wie ich in
den einleitenden Worten zu der gegen Goltz gerichteten Abhandlung
andeutete, durch die Uebernahme einer mir neuen arbeits- und verant-
wortungsreichen Stellung au einer umfassenden Bearbeitung des Mate-
rials A^erhindert war und mich deshalb mit den vorstehend wiedergege-
benen kurzen Bemerkungen begnügte. Goltz hatte inzwischen die Frage
der Art der Sehstörung so eingehend studirt, dass dieser Seite ohne
eine mir damals unmögliche grosse Experimentaluntersuchung nichts
weiter abgewonnen werden konnte, während die Frage nach dem Ort,
der Localisation des Symptoms, durch meine Bemerkungen soweit er-
ledigt schien, dass darüber zunächst nichts weiter zu sagen war.
Ganz irrelevant ist aber, was Munk sonst noch zur Herabsetzung
des Werthes meiner Mittheilungen ins Feld führt. Vornehmlich ist bei
mir niemals davon die Rede gewesen, den Occipitallappen in nähere
Beziehung zur Motilität zu bringen. Ich hatte damals beobachtet, dass
der von mir sogenannte „Defect der Willensenergie" sowohl nach grossen
Verletzungen des Hinterhirns als nach Verletzungen der von mir als
gleichfalls nicht motorisch bezeichneten Spitze des Vorderhirns einträte.
Und ich hatte diese Beobachtungen andeutungsweise in Beziehung zu
der von mir seitdem als irrthümlich erkannten Vorstellung gebracht,
dass die Zerstörung nicht motorischer oder reiner Sinnesflächen einen
indirecten Einfluss auf die Energie der Bewegungen haben könne, ähn-
lich wie die Entstehung normaler Bewegungen aus der Thätigkeit jener
Sinnesfelder herzuleiten sei. Es liegt auf der Hand, dass das etwas
absolut anderes ist, als das, was ich selbst oder Munk jemals unter
der Function einer motorischen „Rindenpartie" verstanden haben.
Munk hat sich hier mir gegenüber sehr ähnlich benommen, wie
bei der Umtaufe meiner „motorischen Region" in seine „Fühlsphäre".
Ich meine, ein natürliches Gefühl hätte ihn davon abhalten sollen mit
denjenigen Arbeiten, die ihm den Weg gewiesen haben, auf dem er
sich einen Namen gemacht hat, so wie geschildert, zu verfahren. —
Ich habe die Lehren Munk's bereits früher i) in Umrissen darge-
1) E. Hitzig, Historisches, Kritisches etc. Diese Untersuchungen S.37ff.
— 283 —
legt. Es bleibt mir hier nur noch übrig auf seine Theorie von der
Projection der Retina auf die Hemisphäre näher einzugehen, da
diese Theorie in den nachstehenden Untersuchungen einer experimen-
tellen Prüfung unterzogen werden wird. Ich werde mich dazu soweit
als möglich der eigenen Worte M unk 's bedienen.
a) „Die mit den Opticusfasern verbundenen centralen Rindenele-
mente, in welchen die Gesichtswahrnehmung statthat, sind regelmässig
und continuirlich angeordnet wie die specifischen Elemente der Opticus-
fasern in den Retinae derart, dass benachbarten Rindenelementen immer
benachbarte Retinaelemente entsprechen. Nur ist nicht die einzelne
Retina zur einzelnen Sehsphäre in Beziehung gesetzt. Vielmehr ist jede
Retina mit ihrer äussersten lateralen Partie zugeordnet dem äussersten
lateralen Stücke der gleichseitigen Sehsphäre. Der viel grössere übrige
Theil jeder Retina aber gehört dem viel grösseren übrigen Theile der
gegenseitigen Sehsphäre zu, und zwar so, dass man sich die Retina
derart auf die Sehsphäre projizirt denken kann, dass der laterale Rand
des Retinarestes dem lateralen Rande des Sehsphärenrestes, der innere
Rand der Retina dem medialen Rande der Sehsphäre, der obere Rand
der Retina dem vorderen Rande der Sehsphäre, endlich der untere Rand.
der Retina dem hinteren Rande der Sehsphäre entspricht. „Ist
ein Theil der Sehsphären entfernt so kommt es von den speci-
fischen Endelementen des correspondirenden Theiles der Retina aus nicht
mehr zur Lichtempfindung, zur Gesichtswahrnehmung; für den Theil
der Retina, dessen Endelemente mit den centralen Rindenelementen des
vernichteten Theiles der Sehsphäre verknüpft waren, besteht Rinden-
blindheit für alle Folge." (a. a. 0. S. 87, 88.)
Während Munk so im Allgemeinen über die Beziehungen der ein-
zelnen Abschnitte der Sehsphäre zu den einzelnen Abschnitten der Re-
tina verfügt, vermag er ganz Genaues über diese örtlichen Beziehungen
zwar nicht auszusagen, b) „Doch kann er Folgendes mit voller Sicher-
heit hinstellen. Wie es mir schon früher aufgefallen war, so hat es
sich jetzt durch die zahlreichen weiteren Beobachtungen nur bestätigt,
dass die äusserste laterale Retinapartie, welche der gleichseitigen Seh-
sphäre zugehört, ■ — — — nie, auch in den günstigsten Fällen nicht,
mehr als ein Viertel der Retina, immer auf dem horizontalen Meridiane
gemessen, ausmacht. Diese Retinapartie wird regelmässig rindenblind,
wenn man von der an der Convexität gelegenen Partie der Sehsphäre
das äusserste laterale Drittel abträgt; es darf die mediale Grenze de
Exstirpationsfläche mehrere mm entfernt bleiben von der Furche, welch
den Gyrus supersylvius R. Owen ungefähr hälftet." (a. a. 0. S. 89.)
— 284 —
Was Munk mit den Worten „es darf" sagen will, ist nicht klar
ersichtlich. Jedenfalls wird man anzunehmen haben, dass die gleich-
seitig innervirte Partie der Retina nicht vollständig rindenblind wird,
wenn die Exstirpationsfläche mehr als einige mm von der vorgenannten
Furche zurückbleibt und wenn man die Abbildung Munk 's mit den
eben citirten Angaben vergleicht, so muss man annehmen, dass die
Stelle des deutlichen Sehens des gegenüberliegenden Auges allemal
dann geschädigt wird, wenn man um weniger als einige mm von dieser
Furche zurückbleibt, mit .anderen Worten, die mediale Grenze des
dem gleichseitigen Auge zugehörigen Rindenabschnittes wird durch
eine sagittale Linie gebildet, welche die laterale Grenze der Stelle Ai
schneidet.
c) „Hinwiederum wird regelmässig Rindenblindheit der ganzen me-
dialen Hälfte der Retina herbeigeführt, wenn man die mediale Partie
der Sehsphäre soweit fortnimmt, dass die laterale Grenze der Exstir-
pationsfläche auf wenige mm der Furche nahe kommt, welche den Gyrus
medialis vom Gyrus supersylvius trennt." (a. a. 0. S. 89.)
Vergleicht man mit dieser Angabe die eben angeführte Tafel
Munk'S; so ergiebt sich, dass die laterale Grenze desjenigen Abschnittes
der Sehsphäre, welcher der medialen Partie der Retina entspricht, mit
der medialen Grenze der Stelle A^ abschneidet.
Vergleichen wir hiermit das auf S. 70 ff. Gesagte, so ergiebt sich
Folgendes: Hier schildert Munk zuerst einen Hund, dem er „die innere
oder mediale Hälfte der Sehsphäre exstirpirt" und dann einen anderen
Hund, dem er „nicht die ganze innere oder mediale Hälfte der Seh-
sphäre, sondern bloss etwa ihr innerstes Drittel — noch nicht der ganze
in den Gyrus medialis fallende Theil der Sehsphäre" — exstirpirt hat.
Aus dieser Angabe ist nun zunächst zu ersehen, dass Munk das mediale
Drittel der Sehsphäre entsprechend dem Citat auf S. 89 (c) bis zum
medialen Rande der Stelle A^ und demnach die mediale Hälfte der
Sehsphäre bis etwa in die Mitte des supersylvischen Gyrus, d. h. bis
in die Mitte der Stelle A^ reichend, rechnet.
Mit Bezug auf die letztere Exstirpation heisst es ferner: d) „Bei
der genauen Prüfung mittels vorgehaltenen oder vorgelegten Fleisches
habe ich mich hier wiederholt deutlich zu überzeugen vermocht, dass
die rindenblinde mediale Partie der Retina nicht bis zur Mitte der Re-
tina sich erstreckte." (a. a. 0. S. 70, 71.)
e) „Hat die Exstirpation nicht die ganze äussere oder laterale
Hälfte, sondern etw\a nur das äusserste Drittel der linken Sehsphäre
betroffen, so ist die äusserste laterale Partie der linken Retina ebenso,
— 285 —
wie vorbin, rindenbliiid, dagegen ist am rechten Auge nunmehr gar
keine Abnormität zu constatiren. Es ist also die äusserste laterale
Partie der Retina gerade der äiissersten lateralen Partie der gleichsei-
tigen Sehsphäre zugeordnet, und das an jene äusserste Partie nach
innen anstossende Stück der lateralen Retinahälfte gehört dem an die
äusserste Partie nach innen angrenzenden Stücke der gegenseitigen Seh-
sphäre zu." (a. a. 0. S. 71, 72.)
f) „Die Hunde, welchen die vordere Hälfte der linken Sehsphäre
exstirpirt ist, sehen keinen Gegenstand oder verlieren den Gegenstand
aus dem Gesichte, sobald sein Bild auf die obere Hälfte der rechten
Retina mit Ausschluss ihrer äussersten lateralen Partie oder auf die
obere Hälfte der äussersten lateralen Partie der linken Retina fällt, sie
sind rindenblind für diese oberen Retinaabschnitte: den anderen Hun-
den, an welchen die hintere Hälfte der linken Sehsphäre zerstört ist,
geht es ebenso mit den entsprechenden unteren Retinaabschnitten, —
nur von dem Verhalten der äussersten lateralen Partie der linken
Retina habe ich mich hier noch nicht sicher überzeugen können."
(a. a. 0. S. 72.)
Aus dem letzten Citat geht hervor, dass auch die vordere Hälfte
des lateralen Drittels der Sehsphäre der oberen Hälfte und die hintere
Hälfte dieses Abschnittes der unteren Hälfte des lateralen Retinaab-
schnittes zugeordnet sein soll.
Schon in diesen Angaben Munk's finden sich soviel Widersprüche,
dass es ganz unmöglich ist sich zurecht zu finden und nach den ge-
gebenen Vorschriften linear abgegrenzte Operationen vorzunehmen, selbst
wenn dies nicht aus anderen, später zu erörternden Gründen zur Un-
möglichkeit gemacht würde.
Nach Citat c wird regelmässig Rindenblindheit der ganzen me-
dialen Hälfte der Retina herbeigeführt, wenn die Exstirpation den
Gyrus medialis bis zur medialen Grenze der Stelle A^ entfernt hat. Im
Widerspruch damit heisst es d rücksichtlich der gleichen Operation,
dass Munk sich wiederholt deutlich zu überzeugen vermocht hat, „dass
die rindenblinde mediale Partie der Retina nicht bis zur Mitte der
Retina sich erstreckte." Dies ist der erste Widerspruch. Wenn aber
zur Herbeiführung völliger Rindenblindheit der medialen Hälfte der
Retina die gänzliche Exstirpation der medialen Hälfte der Sehsphäre
nothwendig ist, so muss dieser Exstirpation auch die mediale Hälfte
der Stelle A^ zum Opfer fallen. Nun correspondirt diese Stelle nach
Munk der Stelle des deutlichen Sehens, welche an der äusseren late-
ralen Hälfte der Retina oder genauer in deren oberen äusseren Qua-
— 286 —
dranten gelegen ist.i) Wäre also das Eine oder Andere richtig, so
müsste der Hund, dem die ganze mediale Hälfte der Selispliäre genom-
men war. mindestens noch auf einem guten Stück innerhalb des äusseren
oberen Quadranten der Retina dauernd rindenblind sein, was aber wie-
derum nach den Angaben M unk 's nicht der Fall sein soll.
Genau das Gleiche gilt von den übrigen von Munk wie vorstehend
geschilderten Operationen. Er hat seine Stelle Ai annähernd genau in
den Mittelpunkt seiner Sehsphäre placirt. Es trifft sich daher so, dass
er stets und unter allen Umständen mindestens die Hälfte oder nahezu
die Hälfte der Stelle des deutlichen Sehens ausschalten muss, mag er
nun, wie eben erwähnt, die mediale Hälfte oder die laterale, die vor-
dere oder die hintere Hälfte der Sehsphäre herausgeschnitten haben;
mit anderen Worten bei jeder dieser Operationen müsste ein grösseres
oder kleineres Stück des unteren inneren Quadranten des Gesichtsfeldes
immer ungefähr entsprechend einer Hälfte der Stelle des deutlichen
Sehens rindenblind sein. Dies widerspricht aber gleichfalls den eigenen
Angaben Munk's in jeder Beziehung. Noch ein Anderes ist dabei zu
berücksichtigen. Liest man die Schilderungen Munk's von den an
der Sehsphäre auszuführenden haarscharf begrenzten Operationen und
den darauf folgenden haarscharf begrenzten Scotomen, so müsste man
glauben, es operire sich am Grosshirn ungefähr wie an einem Stück
Schweizerkäse, aus dem sich mit scharfem Messer ein beliebiges Stück
ohne weitere Folgen für die Wandungen der Lücke herausschneiden
lässt. Thatsächlich trifl't dies aber nicht zu, sondern die Wandungen
der Hirnwunde drängen sich in die gesetzte Lücke vor und gehen, wie
ich wiederholt hervoi'gehoben habe, theils hierdurch, theils in Folge
der durch den Eingriff direct gesetzten Circulationsstörungen zu Grunde.
Wenn also ein frontaler oder sagittaler Schnitt durch die Mitte der
Stelle Ai gelegt und dann die Hälfte der „Sehsphäre" abgetragen wird,
so dürfte von der anderen Hälfte der Stelle A^ wohl noch ein erheb-
liches Stück zu Grunde gehen. Unter allen Umständen müssten also
bei jeder dieser Operationen die erheblichsten dauernden Sehstörungen,
hochgradige Rindenblindheit im unteren nasalen Quadranten des Ge-
sichtsfeldes zurückbleiben.
Ausserdem pflegen sich, wie ich früher bereits nachgewiesen hatte,
und wie ich nachstehend noch ausführlicher erörtern werde, einfache
oder mit Blutextravasaten durchsetzte Erweichungsherde sogar von ganz
oberflächlichen Hirnabtraglmgen aus weit in die Tiefe zu erstrecken.
1) Yergl. z. B. H. Munk a. a. 0. S. 26, 79 und 309.
— 287 —
Werden solche oder gar grössere Eingriffe am Occipitallappeii vorge-
nommen, so ist es mivernieidlich, dass dabei die Sehstrahlung in grösse-
rem oder geringerem Umfange unterbrochen wird.
Aus denselben Gründen ist es mir vollständig unfassbar, auf welche
Weise Munk die Grenzen seiner Stelle A^ festgestellt hat; er selbst ist
jede Erklärung des von ihm dazu angewendeten Verfahrens schuldig
geblieben, so dass ich schon aus diesem Grunde so lange verhindert
wäre an die Existenz einer solchen so begrenzten und mit den von
Munk ihr zugeschriebenen Eigenschaften ausgestatteten Stelle zu glau-
ben, bis er uns nicht gesagt hätte, auf welche Weise er solche Grenzen
mit dem Messer zu ziehen vermag.
Für das Verständniss der recht complicirten Lehre von der Pro-
jection und für die Erleichterung der Nachprüfung ihrer experimentellen
Begründung, vor allem aber zur Vermeidung der vorher gerügten Wider-
sprüche oder Unklarheiten wäre es sicherlich von Vortheil gewesen,
wenn Munk selbst schematische Abbildungen von den optischen Folgen
entworfen hätte, welche localisirte Partialexstirpationen der Sehregion
seiner Ansicht nach nach sich ziehen. Da ich im Nachstehenden eine
Vergleichung der wirklichen mit den nach Munk's Behauptung in Folge
solcher Eingriffe angeblich auftretenden Sehstörungen vorzunehmen be-
absichtige, so muss ich zuvörderst diese von Munk gelassene Lücke
ausfüllen. Zu diesem Endzwecke folgt hier eine Anzahl von Abbil-
dungen, die Herr Dr. Kai her Iah auf meine Veranlassung entworfen
hat, aus denen man in einfacher Weise feine Vorstellung von denjenigen
Scotomen gewinnen kann, die zu Folge der Munk 'sehen Lehre nach
Partialexstirpationen im Gesichtsfelde auftreten müssten. Da hierbei mit
den vorerwähnten Widersprüchen nicht fertig zu werden war, su ist
von der Berücksichtigung der durch die Mitverletzung der Stelle A^
theoretisch entstehenden Scotome Abstand genommen worden.
rechts
— 288
links
rechts
links
rechts
1
1
f
Fig. 95. Die quadratischen Zeichnungen stellen die auf eine Ebene pro-
jizirten (es sind immer die linken angenommen) Sehsphären mit den in ihnen
vorgenommenen Ausschaltungen, die kreisrunden die beiden Gesichtsfelder mit
den angeblich resultirenden Scotomen dar.
— 289 —
a) Ausschallung der Stelle A^^ b) Ausschallung des lateralen Drittels
und der lateralen Hälfte, c) Ausschaltung' des medialen Drittels und der me-
dialen Hälfte, d) Ausschaltung der hinteren (caudalen) Hälfte, e) Ausschal-
tung der vorderen (oralen) Hälfte, f) Gesammtdarstellung der Projection auf
die linke Sehsphäre.
Eine systematische, wenn auch nicht vollständige oder erschöpfende
Nachprüfung der Angaben M unk 's hat, soviel ich weiss, nur Loeb^)
unternommen. Das Material dieses Autors habe ich 2) bereits früher
zusammengefasst und referirt. Jedoch bin ich dabei auf die Partial-
exstirpationen, die die Prüfung der Projectionslehre zum Zweck hatten,
nicht eingegangen, um hierauf an dieser Stelle zurückzukommen. Da
Loeb, wie ich erinnere, der Ansicht ist, dass man jede Stelle der Seli-
sphäre fortnehmen könne, ohne dass eine Sehstörung darauf folgen
müsse, so folgt daraus von selbst, dass er der gesammten Projections-
lehre auch nicht den leisesten Schein von Berechtigung zuerkennt oder
zuerkennen kann.
Nur in einem Punkte stimmt er mit sämmtlichen anderen Autoren,
also auch mit Munk überein, nämlich darin, dass der laterale Ab-
schnitt jeder Retina in Beziehung zu der gleichnamigen
Hemisphäre stehe. Dagegen bestreitet er die Angabe Munk's
von der Projection dieses Abschnittes der Retina auf das
laterale Drittel der Sehsphäre. Er stützt sich dabei 1. auf einen
Hund, dem er die laterale Partie der Sehsphäre nebst ihrer nächsten
Umgebung mit dem Erfolge weggenommen hatte, dass ein Theil des
medialen Gesichtsfeldes des gleichnamigen Auges ausfiel. Dem gleichen
Hunde nahm er alsdann in einer zweiten Sitzung, nachdem sich die
fragliche Sehstörung wieder verloren hatte, den Rest der gleichen Seh-
sphäre an ihrer Convexität. Es hätte nunmehr keine Sehstörung auf
dem gleichnamigen Auge eintreten dürfen; thatsächlich erschien aber
die gleiche Sehstörung wie nach der ersten Operation, und zwar mit
der gleichen Begrenzung, nur war sie viel ausgesprochener und glich
sich nicht v;ieder aus. 2. Einem Hunde, dem in einer früheren Sitzung
rechterseits die Stelle A^ angeblich ohne nachfolgende Sehstörung fort-
geuommen worden war, wurde in einer zweiten Sitzung gleichfalls
1) .J. Loeb, Die Sehstörungen nach Verletzung der Grosshirnrinde.
Pflüger's Archiv f. d. ges. Physiologie Bd. XXXIV.
2) E. Hitzig, Historisches, Kritisches etc. Diese Untersuchungen.
S. 32 ff,
Hitzig, Gesammelte AbhaiidJ. II. Tlieil. 19
— 290 —
rechterseits die laterale Partie der Sehsphäre entfernt. Der Erfolg war
eine laterale Hemiamblyopie des gegenseitigen Auges.
Diese beiden Versuche sind nicht gleichsinnig und nicht gleich-
werthig. Wenn die bei der ersten Sitzung des ersten Versuches ausgeschal-
tete Region so genau geschildert wäre, dass man daraus mit Sicherheit
entnehmen könnte, dass wirklich das ganze laterale Drittel der Sehspliäre
entfernt worden war, so würde das Resultat der zweiten Sitzung aller-
dings im Sinne des Autors beweisen, dass nicht nur das laterale Drittel,
sondern die ganze Sehsphäre oder jedenfalls doch noch ein anderer
Theil derselben in Beziehung zu der gleichnamigen Retina stehe. Es
würde aber noch etwas mehr beweisen als Loeb beabsichtigte, nämlich
dass die dauernde Blindheit des lateralen Netzhautabschnittes, eben weil
sie dauernd war. nicht von einer vorübergehenden Reizung subcorticaler
Centren abhängen konnte.
Der zweite Versuch, dem dieselben Mängel der Beschreibung an-
haften, wie dem ersten, trägt zur weiteren Aufklärung der Sache des-
halb nichts bei, weil man aus der Beschreibung durchaus nicht die
Ueberzeugung zu schöpfen vermag, dass nicht in der zweiten Sitzung
noch andere Theile des bei der ersten Sitzung übrig gelassenen Restes
der Sehsphäre, als jenes laterale Drittel geschädigt worden sind. Ueber-
dies genügt selbstverständlich ein einzelner solcher Versuch zur Entschei-
dung solcher grundsätzlichen Frage nicht.
Zur Feststellung der Beziehungen der Stelle A^ zur Re-
tina hat Loeb eine grössere Anzahl von Versuchen angestellt. Von
ihnen übergehe ich zunächst diejenigen, welche ohne Sehstörung ver-
liefen. Ueber die anderen Versuche, bei denen nach der Angabe des
Autors, aber wieder ohne nähere Beschreibung nur die Stelle A^ exstir-
pirt worden war, sagt er uns, dass es nach ihnen den Anschein habe,
als ob, wenn überhaupt eine Sehstörung aufträte, diese den Charakter
einer lateralen Hemiamblyopie trage.
Bei einer dritten Gruppe von Fällen, bei denen ausser der Stelle
Ai noch die ganze Convexität der „Sehsphäre" oder doch ein grösserer
Theil derselben zerstört worden war, suchte der Verfasser nachzuweisen,
dass immer, gleichviel welche Ausdehnung der Hirndefect hatte, die
Stelle des deutlichen Sehens, anstatt rindenblind zu sein, am besten
functionirte.
Es ist zunächst erforderlich diese Frage zu absolviren und zu diesem
Endzwecke die Mittheilungen, welche Loeb zur Begründung dieses
Satzes von dem Verhalten seiner Versuchstbiere macht, insoweit es sich
dabei nicht nur um allgemeine Urtheile handelt, unter einander zu
vergleichen.
— 291 —
El' beschreibt zuvörderst das Verhalten eines Hundes, dem er rech-
terscits die ganze Convexität der Sehsphäre zerstört hatte. Licss or
diesen Hund geradeaus sehen und führte dann an einem Faden ein
Stück Fleisch vor dem linken Auge von links her nach der Mittellinie
zu, so „merkte der Hund nichts, bis man an der optischen Axc vorbei
fast au die Nase gekommen war. Dann sprang das Thier nach dem
Fleisch auf. Führte man das Fleisch von rechts her in das Gesichts-
feld, so richtete der Hund sofort den Kopf danach, sobald man nur in
das Gesichtsfeld eingetreten war. Bei diesen Versuchen Hess es sich
auch nachweisen, dass es sich um einen einzigen, zusammenhängenden
Gesichtsfelddefect handelte." i) Hier hatte die laterale Sehstörung des
gegenseitigen Auges also nur etwa das mediale Viertel des Gesichts-
feldes, in keinem Falle also die Stelle des deutlichen Sehens freige-
lassen.
Ferner erfahren wir über den gleichseitigen Gesichtsfelddefect fol-
gendes: „Bei einem jener Thiere, von denen vorhin die Rede war, hatte
ich constatiren können, dass nach Wegnahme der Stelle A, nicht nur eine
laterale Hemiamblyopie des anderseitigen Auges, sondern auch eine
Sehstörung auf dem gleichseitigen Auge eintrat. Nach Munk kann die
Sehstörung auf dem gleichseitigen Auge nur das laterale Viertel der Re-
tina befallen. Ich fand nun in der That bei einem meiner Versuchsthiere
auf dem gleichseitigen Auge eine mediale halbseitige Störung, die nicht
gerade eine Hemianopsie, aber wohl eine Hemiamblyopie zu nennen
war und die hinsichtlich der Ausdehnung den Angaben Munk's ent-
sprach." ^^
Einem anderen Hunde exstirpirte er linksseitig die „laterale Partie
der Sehsphäre mit näherer Umgebung." Es heisst dann: „Als ich ihm
in den ersten Tagen nach der Operation Fleisch vor sein erhaltenes
linkes Auge hielt (das rechte fehlte ihm), bemerkte er es überall, so
lange ich mit dem Fleische bei einem Abstände von ca. 1/2 m von dem
Auge des Thieres die Medianebene nach rechts hin nicht überschritten
hatte. Wenn ich ein Stück Fleisch ihm in dem angegebenen Abstände
rechts von der Medianlinie vorhielt, so bemerkte er es öfter nicht. Er
fixirte stets normal. . Wenn ich Fleisch langsam und gleichmässig vor
seinem linken Auge vorbeiführte, so folgte er nach links hin sehr gut
und ohne auch nur einen Augenblick das Fleisch aus dem Auge zu
lassen. Bewegte mau dagegen das Fleisch langsam nach rechts, so
1) J. Loeb, Sehstörungen nach Verletzung der Grosshirnrinde. Pflü-
ger's Archiv für die ges. Physiologie. Bd. 34. 1884. S. 26.
2) Ebenda. 8. 30,
19*
— 292 —
folgte der Hund in den meisten Fällen nur bis zu dem Pnnl^te, wo man
bei Priraärstellung seines Auges etwas über die Gesichtslinie hinausging.
Dann stand er eine Weile betroffen, streckte den Kopf gerade vor,
schnupperte lebhaft, wandte sich auch nach links hin, liess es sich
aber nicht einfallen, nach rechts hin sich umzusehen. "i)
Dem gleichen Hunde exstirpirte Loeb nach sechs Wochen, nach-
dem die geschilderte Sehstörung sich ausgeglichen hatte, den Rest der
linken Sehsphäre incl. der Stelle A^. Hierauf erschien die gleiche
Sehstörung A'on Neuem, jedoch viel prägnanter und ohne wieder
zu verschwinden. Loeb äussert sich hierüber wie folgt 2): „Die Stelle
des deutlichsten Sehens war anscheinend ganz intact. Der Gesichts-
felddefect hatte nach der zweiten wie nach der ersten Operation die
gleiche Grösse: er betraf den Theil, der, wie Munk angiebt, vom late-
ralen Viertel der Retina beherrscht wird." In diesen 3 Versuchen wird
also, und zwar ausdi'ücklich entsprechend den Angaben Munk's das
mediale Viertel des Gesichsfeldes in Beziehung zu der gleichseitigen
Hemisphäre gebracht, woraus mit Nothwendigkeit folgt, dass dessen
laterale drei Viertel mit Einschluss der Stelle des deutlichen Sehens
der ungleichnamigen Hemisphäre zugehören müssen, was denn Loeb
auch selbst mit folgenden Worten zugesteht: (Auf dem der Operation
gegenüberliegenden Auge) „beträgt die in Folge der Hemiamblyopie
vernachlässigte Gesichtsfeldpartie ca. ^/^ des ganzen Gesichtsfeldes, auf
dem anderen Auge nur Vi-"^)
„Wenn man einem Hunde eine Hemisphäre schwer verletzt, so
kann man in den ersten Tagen nach der Operation beobachten, dass das
Thier optische Reize, die von der gekreuzten Hälfte seines Gesichtsfeldes
her seine Netzhäute treffen, vernachlässigt, während sein Verhalten den
Reizen gegenüber, welche aus der gleichseitigen Gesichtsfeldhälfte kom-
men, völlig normal ist. Zeigt man einem solchen links operirten Hunde
ein Fleischstück in der linken Gesichtsfeldhälfte, so geht er auf das-
selbe los. Zeigt man es ihm rechts, so erfolgt keine Reaction. Bewegt
man das in der linken Gesichtsfeldhälfte vorgehaltene Fleischstück
nach rechts, so folgt er ebenfalls, aber nur so lange, als das Fleisch-
stück links von der „Medianebene" bleibt. Sobald dieselbe nach rechts
überschritten ist, folgt das Thier mit Auge und Kopf nicht weiter." "i)
1) Ebenda. S. 31.
2) .J. Loeb. Ebenda. S. 32.
3) Ebenda. S. 96.
4) J. Loeb, Beiträge zur Physiologie des Grosshirns. Pflüger's
Arcliiv für Physiologie. Bd. 39. S. 272.
— 293 —
Da Loeb an dieser Stelle unter „Medianebene" abweichend von
seiner sonstigen Aiisdrucksweise, unzweifelhaft die Medianebene des
Auges versteht, so folgt daraus, dass er bei dieser allgemeinen l^eur-
theilung seiner Versuchsergebnisse die dem gleicliseitigeu Auge zuge-
hörende Gesichtsfeldpartie erheblich grösser, als bei den vorstehend
angeführten Versuchen bewerthet, nämlich anstatt auf ein Viertel auf
die Hälfte des ganzen Gesichtsfeldes.
Pri^ifen wir also die Behauptung Loeb 's, dass der hemiamblyo-
pische Hund mit der Stelle des deutlichen Sehens immer am besten
sehen soll nach seinen eigenen Angaben.
Wäre derjenige Tlieil dieser Angaben, nach denen die Reaction auf
Fleisch bei medialer Amblyopie medial von der Medianebene des Auges
und bei lateraler Amblyopie lateral von der Medianlinie des Auges auf-
hören soll, richtig, so wäre damit jene Behauptung in das Bereich der
Unmöglichkeit verwiesen; denn gleichviel wo die Stelle des deutlichen
Sehens auch liegen mag, jedenfalls muss sie entweder in der medialen
oder in der lateralen Hälfte der Retina zu suchen sein. Indessen mag
diese Darstellung Loeb 's auf einer, freilich gerade bei dieser Art von
Untersuchungen wenig Vertrauen erweckenden Nachlässigkeit der Aus-
drucksweise beruhen.
Sucht man seine Meinung aber nach den anderen vorstehend an-
geführten Stellen, in denen er Munk ausdrücklich zugesteht, dass die
medialen ^/^ der Retina von der contralateralen Hemisphäre und das
laterale Viertel von der gleichnamigen Hemisphäre innervirt wird, zu
erforschen, so erscheint jene Behauptung ebenso unmöglich. Denn,
wenn die lateralen ^/^ eines Gesichtsfeldes bei einör contralateralen
Exstirpation hemiamblyopisch werden, und der Hund gleichwohl mit
der Stelle des deutlichen Sehens am besten sieht, so müsste sich diese
Stelle im äussersten lateralen Theile der Retina befinden, und wenn
das mediale Viertel nach einer gleichseitigen Exstirpation amblyopisch
wird und der Hund auch dann mit der Stelle des deutlichen Sehens
am besten sieht, so könnte sich diese Stelle eben nicht in dem late-
ralsten Viertel der Retina befinden. Sie würde sich also je nach den
Bedürfnissen des Operateurs einer Wanderung zu unterziehen haben.
Thatsächlich liegt die Stelle des deutlichen Sehens beim Hunde
abe]' nach einer unwidersprochen gebliebenen Untersuchung von Gross-
mann und Mayerhausen^) auf der äusseren Hälfte der Retina, und
1) Grossmann und Mayerhausen, Beitrag zur Lehre vom Gesichts-
feld bei Säugethieren. v. Gräfe' s Archiv für Ophthalmol. Bd. 23. Abb. 3,
1877. S. 217.
— 294 -^
zwar in deren medialem Viertel, und Munk, der sich auf diese Unter-
suchung stützt, giebt an, dass solche Objecte, welche dem Thiere von
vorn und etwas von der Nasenseite her genähert werden, so dass ihr
Bild ungefähr auf der Mitte der Retina oder besser etwas nach aussen
von der Mitte entsteht, auf die Stelle des deutlichen Sehens fallen.
Wenn also Loeb von jenem mehrfach citirten Hunde mit der tempo-
ralen Hemiamblyopie sagt, dass er auf Fleisch erst dann reagirt habe,
wenn man mit demselben bis fast an die Nase gekommen war, so ist
es auch aus diesen Gründen unmöglich, dass dieser Hund mit der Stelle
des deutlichen Sehens am besten gesehen hat.
Jedem, der diese literarischen Kämpfe verfolgt hat, ist es klar,
dass Loeb in der Leidenschaftlichkeit, mit der er die allerdings unrich-
tige Behauptung Muuk's, dass die Stelle A^ der Stelle des deutlichen
Sehens entspräche, als absurd darzustellen beflissen war, Dinge bewiesen
hat, welche weit über das hinausgehen, was überhaupt bewiesen wer-
den kann. Wie Loeb zu dieser Behauptung gekommen und was an
ihr als begründet anzusehen ist, das wird sich aus den nachfolgenden
Untersuchungen klar ergeben. Leider hat sich auch Goltz jenen Be-
hauptungen von Loeb angeschlossen. Früher (vergl. z. B. Gesammelte
Abhandlungen 1881. S. 27.) hatte er mir zugegeben, dass die Thiere
auf dem kranken Auge (zuerst) blind seien und dann nachgewiesen,
dass sich ihr Sehvermögen allmählich wieder einstelle. Später, im Jahre
1884, sagt er: „In Uebereinstimmung mit Loeb finde ich, dass diese
Grenze einer Linie in der Netzhaut entspricht, die senkrecht durch die
Stelle des deutlichsten Sehens hindurchgeht. — — — Ich weiche
jedoch in einigen Funkten von Munk's Darstellung ab: Erstlich finde
ich mit Loeb, dass das Stück der rechten Netzhaut, dessen Bilder nach
Zerstörung des linken Hinterhanptlappens noch sicher wahrgenommen
werden, viel grösser ist als Munk angiebt. Loeb und ich nehmen an,
dass dasselbe mindestens noch einen Theil der Stelle des deutlichsten
Sehens enthält." i)
Ich habe eine Stelle, an der Loeb ausdrücklich sagt, die Grenze
entspräche einer Linie in der Netzhaut, die senkrecht durch die Stelle
des deutlichsten Sehens hindurchgehe, in seiner allein in Betracht kom-
menden Abhandlung aus dem Jahre 1884 vergeblich gesucht. Fände
sie sich aber auch wirklich darin, so würde sie nur einen neuen Wider-
spruch gegenüber einem Theil der experimentellen, sowie der darauf
gegründeten Angaben Loeb 's über den Zusammenhang der einzelnen
1) F. Goltz, Ueber die Verrichtungen des Grosshirns. 5. Abhandlung.
Pflüg er 's Archiv 1884. Bd. .34. S. 488.
— 295 —
Segmente der Netzhaut mit jeder der beiden Hemisphären enthalten.
Munk^) hat sich dagegen unter Betonung der groben Widersprüche
und der Unverständlichkeit der Angaben Loeb's bereits verwahrt, je-
doch ohne seiner bequemen Gewohnheit gemäss sein nur zu gerecht-
fertigtes Urtheil näher zu begründen.
Ich selbst habe es für richtig gehalten, im Vorstehenden den ge-
nauen Nachweis dafür beizubringen, dass die Behauptungen Loeb's in
sich ebenso unmöglich sind, wie die Lehren Munk's. Niemand kann
die hier herrschenden Meinungsverschiedenheiten ohne zusammenfassende
Kenntniss dieser Einzelheiten verstehen; ihr volles Verständniss wird
freilich erst dann ermöglicht werden, wenn man gesehen haben wird,
dass die Lehre Munk's von der partiellen Rindenblindheit auf Irrthum
beruht und dass keiner dieser Autoren, wie überhaupt niemand den
Decursus der corticalen Sehstörungen verfolgt hat.
Die Exstirpation der medialen Partie der Sehsphäre und
nur diese, soll nach Munk zu einer lateralen Rindenblindheit führen.
Laterale Hemiamblyopie sah Loeb aber bei wenigstens 20 Versuchen, bei
denen gerade der fragliche Abschnitt der Sehsphäre unberührt gelassen
war, eintreten. Umgekehrt sah er bei einem Hunde, dem er jene Partie
entfernt hatte, allerdings gleichfalls eine laterale Hemiamblyopie: diese
war aber wenig ausgesprochen und bereits nach 6 Tagen wieder ver-
schwunden. In einem anderen Falle führte die Exstirpation dieser Partie
zu einer Sehstörung des inneren Abschnittes des gleichnamigen Gesichts-
feldes, nachdem die vorgängige Entfernung der lateralen Partie der
gleichen Sehsphäre diesen Erfolg nicht gehabt hatte. Da der Hund nur
einäugig war, gehört der Versuch streng genommen gar nicht hierher.
Ferner führt Loeb noch 4 Fälle an, bei denen mit der ganzen Seli-
sphäre auch die mediale Partie entfernt worden war und bei denen
immer laterale Hemiamblyopie die Folge war. Es bleibt also nur ein
Versuch dieser Reihe übrig, der wenigstens nichts gegen Munk be-
weist: aber auch die Versuche der ersten Reihe beweisen nicht mehr,
da auf keine Weise der Nachweis geführt worden ist, dass die Wir-
kungen des . Eingriffs sich nicht auf Markstrahlnngen aus dem medialen
Abschnitt der „Sehsphäre" erstreckt hatten.
Bei 15 Thieren, denen Loeb die vordere Partie der „Seh-
sphäre" theils einseitig, theils doppelseitig — wieder ohne alle näheren
Angaben — exstirpirte, konnte er keine der von Munk gemachten
Beobachtungen bestätigen, insbesondere bestreitet er, dass solche Hunde
auf der oberen Hälfte der Retina blind oder gar rindenblind würden.
1) H. Munk a. a. 0. S. 79. Anra. 59.
— 29ß —
Die von ihm bei diesem Anlasse ausgesprochene Vermntliung „die An-
nahme einer Blindheit der oberen Partie der Retina könnte dadurch
veranlasst sein, dass viele Thiere, weil sie gewohnt sind aus der Hand
des Beobachters Nahrung zu empfangen, auch die Gewohnheit haben,
ihre Aufmerksamkeit mehr den Dingen in der Höhe als auf dem Boden
zuzuwenden und darum Gegenstände am Boden leichter übersehen",
muss ich mit aller Bestimmtheit als irrthümlich bezeichnen. Das Auge
des Hundes ist für das Aufsuchen der Nahrung auf dem Boden con-
struirt und daran vermag eine vorübergehende Gewöhnung nichts zu
ändern. Wenn ein Hund auf dem Boden liegende FJeischstücke nicht
sofort findet, so hat er sicherlich eine hochgradige Sehstörung min-
destens auf dem oberen, vielleicht auch noch auf anderen Abschnitten
der Netzhaut.
Versuche über isolirte Ausschaltung der hinteren Abschnitte
der „Sehsphäre" hat Loeb nicht angestellt.
Ich will noch anführen, dass Loeb bei diesen und einigen anderen
nicht erwähnten Versuchen mit besonderem Nachdruck hervorhebt, dass
keins von allen denjenigen Thieren, welche nach Munk wegen Aus-
schaltung dieser oder jener Retinapartie, insbesondere der Macula, eine
hochgradige Divergenz der Augenachsen hätte zeigen müssen, jemals
eine solche Divergenz wirklich gezeigt hätte.
n. Operationsmethoden.
Die von mir beschriebenen und noch zu beschreibenden Ausschal-
tungen habe ich, wie bereits früher erwähnt, auf dem Wege der An-
ätzung, der Unterschneidung, der Scarification und der Abtragung be-
stimmter Rindenstücke vorgenonmien. Bei dem letzteren Verfahren habe
ich mich theils allein eines Präparatenhebers, der eine lauge schmale
und eine kurze breite Schaufel besitzt, in der Weise bedient, dass das
herauszubefördernde Stück der Windungen an der Knochenlücke entlang
mit der schmalen Seite des Instrumentes umrissen und dann mit dessen
breiter Seite als ein compactes Stück herausgehoben wurde. Theils
bediente ich mich für den ersten Act der Operation ein^s mit einer
Wachsmarke versehenen Messerchens, worauf dann die Heraushebung
des umschnittenen Stückes wie bei der ersten Operation folgte, oder aber
ein Zipfel des umschnittenen Rindenstückes wurde mit der Hakenpincette
erfasst und das umschnittene Areal alsdann mit einer kleinen Cooper-
schen Schere abgetragen. In einer Anzahl von Fällen, in denen an
der Falx und am Tentorium operirt wurde, ohne dass die Knochenlücke
die Naht vollkommen erreichte, wurde entweder der Präparatenheber
oder der scharfe Löffel bis an die Hirnhaut herangeführt und das etwa
^- 297 —
stehengebliebene Stück Hirnsubstanz zerquetscht und, soweit es erreich-
bar war, herausbefördert.
Alle Operationen, von denen hier die Rede sein wird, erstreckten
sich nicht auf die ganze „Sehsphäre", ja sie hatten auch meistens nicht
einmal den Zweck, besonders grosse Theile der Convexität auszuschal-
ten, da die uns hier beschäftigenden Fragen meiner Ansicht nach durch
solche Exstirpationen nicht zu lösen waren.
Die Tiefe der vorzunehmenden Ausschaltungen bedurfte einer be-
sonderen Erwägung. Munk hatte seiner Zeit wiederholt gefordert
(z. B. und zuletzt wohl a. a. 0. S. 250. 1886), dass die Tiefe der Ab-
tragung 2 — 3 mm Dicke nicht zu überschreiten habe, wenn es nicht
zum Durchbruch in den Ventrikel und damit zum Tode des Thieres
kommen solle. Nachdem er dann durch Goltz und Loeb deswegen
verspottet worden war, weil nicht nur die Eröffnung des Ventrikels
keineswegs zum Tode führe, sondern uaraentlich auch, weil er bei einer
Ausschaltung von nur 2-3 mra Dicke in der Tiefe der Furchen massen-
haft graue Substanz zurücklassen müsse, wobei er gleichwohl den Effect
erzielt habe, als wenn die Reste von Substanz entfernt worden seien,
und nachdem selbst v. Monakow, der im Lager Munk 's steht und
dessen Hundegehirne anatomisch untersuchte, vom anatomischen Stand-
punkte aus erklärt hatte, dass die zurückgelassenen Partieen ihm func-
tionsfähig schienen, hat Munk sich in sehr befremdlicher Weise zu
retten versucht. Er sagt (a. a. 0. S. 273. 1890): „Da ich durch ge-
sperrten Druck den Ton auf „Sehsphäre" legte, wollte ich natürlich
sagen — und ich war wohl auch nicht gut anders zu verstehen — dass,
wenn wirklich doch in der Tiefe der Furchen centrale Elemente func-
tionsfähig zurückblieben, diese Elemente jedenfalls nicht der der Ge-
sichtswahrnehmung dienenden Rinde zugehörten. In der Rinde müssen
ja noch viele andere centrale Elemente gelegen sein ausser denjenigen,
welche meine Untersuchungen überhaupt allein in's Auge gefasst haben,
ausser den Elementen, welche den Sinneswahrnehmungeu und den zu-
nächst aus diesen hervorgehenden Sinnesvorstellungen dienen." Was
Munk bei dieser Gelegenheit hat sagen wollen, kann niemand wissen.
Dagegen ist es falsch, dass er nicht gut anders zu verstehen gewesen
sei. Der gesperrte Druck des Wortes „Sehsphäre", besagt schon des-
halb nichts, weil niemand dadurch auf die Vorstellung kommen konnte,
dass Munk der Ansicht sei, dass die graue Substanz in den Tiefen der
Furchen derjenigen Region, die er immer als „Sehsphäre" bezeichnet
hatte, nicht zur Gesichtswahrnehmung diene und thatsächlich hat ihn
nicht einmal v. Monakow so verstanden. Wollte er dem Leser eine solche
Ansicht vortragen, so hatte er dies mit dürren Worten und nicht mit
— 298 —
Räthseln zu thiin. In der That hat Muiik aber (a. a. 0. S. 250. 1886)
wörtlich gesagt „auch müsseu die etwa noch in den Furchen verblie-
benen centralen Elemente in Folge der Zerstörung der von der Ober-
fläche eindringenden ernährendenGefässe fuactionsunfähig werden." Dieser
Satz gestattete also die Annahme, dass Munk jene Elemente als nicht
zur Seh Sphäre gerechnet wissen wollte, garnicht. Noch mehr! Munk
sagt sogar noch 3 Jahre später (a. a. 0. S. 313. 1889) „Der ungefähr
dreieckige Zipfel, welchen nach meinen Abbildungen der vordere und
der laterale Rand der Sehsphäre von der 111. Windung abschneiden, hat
aus der Sehsphäre auszuscheiden; offenbar ist nur für die Totalexstir-
pation der Sehsphäre die Mitnahme des Zipfels erforderlich, damit
von der Rinde der IL Windung in der Furche zwischen dieser
und der III. Windung nichts zurückgelassen werde." An dieser
Stelle schreibt er den in der Tiefe der Furchen liegenden Elementen
also wieder optische Functionen zu, nachdem er soeben behauptet
hatte, man hätte ihn 3 Jahre vorher garnicht anders verstehen können,
als dass sie seiner Ansicht nach keine optischen Functionen besässen!
Schliesslich entsteht die Frage, woher Munk denn weiss, dass die
nicht der optischen Function dienenden Elemente der „Sehsphäre" sich
gerade in der Tiefe der Furchen angesiedelt haben. Wahrscheinlich ist
dies gerade nicht. Aber ein Beweis dafür oder dawider lässt sich auf
physiologischem Wege, soviel ich sehe, gar nicht erbringen. Wenn
Munk (a. a. 0. S. 250) sagt „und schliesslich wird unter allen Umstän-
den die Totalexstirpation der Sehsphäre einfach durch den Erfolg
des Versuches verbürgt", so würde er dies als einen Beweis nicht ver-
werthen können. Einmal wird die Gesetzmässigkeit dieses Erfolges,
nämlich totale Blindheit, bekanntlich bestritten und ferner ist es sowohl
für die Ernährung als auch für die Function jener Rindengebiete natür-
lich etwas ganz anderes, ob man die ganze Sehsphäre oder nur eineii
beschränkten Theil derselben abträgt. In dem ersteren Falle können
beide aufgehoben, in dem letzteren Falle können beide erhalten sein.
Und endlich, um das Maass vollzumachen, finden wir auf S. 73 der
Gesammelten Mittheilungen Muuk's eine Abbildung, auf der er die
Selifasern von allen Theilen des Graus unter anderem aucli von der
tiefsten Tiefe der Windungen entspringen lässt!
Die vorstehende Zusammenstellung von Citaten aus den Arbeiten
Munk's habe ich nicht deshalb gegeben, um an einem Beispiel zu
zeigen, wie zweideutig dieser Autor ist, und wie er an seinen eigenen
Worten herumdentelt, wenn es sich darum handelt, recht zu behalten;
ein ganz anderes Motiv leitete mich. Nach meiner Keuntniss der pole-
mischen Tactik Munk's war ich von vornherein darauf srefasst, dass
— 2i)9 —
or jedes mit seinen Theorieen in Widerspriicli stehende Resiiltnt damit
erklären würde, dass die angerichtete Verletzung entweder zu gross
oder zu klein war, und eijien wie vortrefflichen Angriffspunkt bot ihm
da nicht die graue Substanz in den Tiefen der Windungen! ]n der
That hat mich meine Annahme auch keineswegs getäuscht, ja, Herr
Munk^) hat in dieser Hinsicht nocli bevor ihm mein Material vorlag meine
kühnsten Erwartungen bereits übertreffen. Ich will deshalb an dieser
Stelle nur hervorheben, dass die sämmtlichen Resultate dieses
Autors, von denen im Nachfolgenden die Rede sein wird,
sich auf solche Versuche stützen, bei denen die Rinde auf
2 — 3 mm Tiefe abgetragen war, und dass er aus diesem Grunde
keinerlei Recht zur Bemängelung von solchen Versuchen,
bei denen die gleiche Grenze innegehalten wurde, aus dem
Umstände herleiten kann, dass dieselben zu oberflächlich
waren. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob die die Tiefen der Win-
dungen auskleidende Rinde diese oder jene Function besitzt. Da ich
meine Untersuchungen jedoch keineswegs allein mit Rücksicht auf die
von Herrn Munk zu erwartenden Angriffe, sondern vornehmlich zur
Erweiterung unserer Kenntnisse, sowie zu meiner eigejien und zur Ueber-
zeugung des wissenschaftlichen Leserkreises vornahm, so habe ich min-
destens ebensoviel tiefgreifende, wie oberflächliche Exstirpationen ange-
stellt, nur dass sich die Zahl der einen mit der der anderen nicht mit
Bezug auf jede Localität deckt. Ich, möchte aber doch schon hier
darauf aufmerksam machen, dass sich die oberflächlicheji von den tief-
greifenden Eingriffen weit mehr, als es den Anschein hat, unterscheiden.
Bei den letzteren gehen nicht nur viel mehr Associationsbahnen, sondern
auch viel mehr Projectionsbahnen als solche, die zu den direct ausge-
schalteten Winduugsgebieten gehören, zu Grunde, ganz abgesehen davon,
dass bei ihnen viel mehr Gelegenheit zur Entwicklung von Erweichungs-
herden, in Folge von Durchtrennung arterieller Gefässe gegeben ist als
bei jenen. Infolgedessen können die positiven Resultate, welche bei
solchen Läsionen auftreten, mit noch weniger Sicherheit auf den direct
ausgeschalteten Rindenbezirk bezogen werden, von um so grösserer
Wichtigkeit sind aber die auf diese Weise erhaltenen negativen Re-
sultate.
III. Untersuchungsmethoden.
Als vornehmlichste Untersuchuugsraethode kam bei allen diesen
Versuchen die wiederholt beschriebene und erwähnte Periraetriruna; des
1) H. Munk, Zur Physiologie der Grosshirnrinde. Verhandlungen der
liysioi. Gesellschaft etc. 1902.
— 300 —
schwebenden Hundes in Betracht. Munk^) hat sich erlaubt, ohne aber
auch nur den geringsten Grund dafür anzuführen, dem Leser den Ver-
dacht zu suggeriren, dass ich thatsächlich vorhandene Sehstörungen nicht
aufzufinden vermöchte, während er selbst die von Exner, mir und An-
deren in Folge von frontalen Eingriffen entstehenden Sehstörungen nicht
aufzufinden vermochte. Dies veranlasst mich, auf diese, wie überhaupt
auf die angewendeten üntersuchungsmethoden nochmals näher einzu-
gehen, übrigens nicht zur üeberzeugung des Herni Munk, denn dies
habe ich ein für alle Mal aufgegeben.
Das angewendete Verfahren besteht also darin, dass der Hund zu-
nächst dadurch an die Schwebe gewöhnt wird, dass er anfänglich sein
Futter ausnahmslos in derselben hängend empfängt. Bei den mit dem
so abgerichteten Hunde vorgenommenen Untersuchungen waren in der
Regel 3 Personen thätig, von denen die eine die Fleischstückchen zu-
reichte, die zweite das Gesichtsfeld absuchte und dabei das Auge beob-
achtete, die dritte das Auge gleichfalls beobachtete und ausserdem die
entsprechenden Notizen machte und das Protokoll führte. Diese dritte
Person ist in den letzten Jahren mit Ausnahme von Behindcrungsf allen
regelmässig mein Assistent, Herr Dr. Kalberiah, gewesen. Mutatis
mutandis wurde in ähnlicher Weise mit der Prüfung der Reaction auf
Licht und auf die Wirkung der reflectorischen Reize verfahren.
Die Art der Reaction des Hundes auf das in seinem Gesichtsfeld
erscheinende Fleisch ist nun das Product einer Anzahl verschiedener
Factoren. Schon der normale Hund reagirt verschieden je nach seinem
Naturell, seiner Aufmerksamkeit, seiner Fresslust und je nach der Ge-
duld und dem Geschick, mit dem der Wärter ihn an die Schwebe ge-
wöhnt hat. Einzelne Hunde, und namentlich solche, welche vorher
nicht genügend an die Schwebe gewöhnt waren, werden durch die Ope-
ration so eingeschüchtert, dass sie nun auf kürzere oder längere Zeit
oder gar nicht ihre Nahrung in der Schwebe nehmen. Sie müssen
dann selbstverständlich während dieser Zeit in anderer Weise untersucht
werden. Dieser hemmende Einfluss der ungewohnten Situation dient
aber in anderen Fällen gerade als üntersuchungsmittel. Es giebt Grade
und Stadien der corticalen Sehstörung, während deren die schwebenden
Hunde auf den Reiz des in dem normal functionirenden Theile des Ge-
sichtsfeldes erscheinenden Fleisches sofort und mit Energie reagiren,
während die Reaction von dem amblyopischen Theil des Gesichtsfeldes
aus nur zögernd erfolgt. Untersucht man die gleichen Hunde ausser-
halb der Schwebe, so findet man die Ersclieinung verwischt oder ver-
1) H. Munk, Zur Physiologie der Grosshirnrinde etc.
— -301 —
loren. Eine fernere Rolle spielt natürlich die Frcsslust des Thieres und
bei den Operirten die Grösse und die Art des Gesichtsfelddefectes.
p]ndlich kommt auch in vielen Fällen die Schnelligkeit, mit der das
Object in das Gesichtsfeld eingeführt oder in ihm bewegt wird, in Be-
tracht.
Sehr oft bin ich gefragt worden, ob der Hund das ihm präsentirte
Fleisch nicht röche. Diese Frage beruht auf einer ganz falschen Vor-
stellung von der olfactiven Thätigkeit des Hundes. Verbindet man ihm
ein Auge, so kann man nicht nur gewöhnliches, sondern auch mit
riechenden Substanzen gewürztes Fleisch, wie Klops u. dergl. von der
Nasenwurzel bis zur Nasenspitze langsam herabführen, ohne dass der
Hund irgendwie reagirt; sobald man aber damit vor die Nasenspitze
gelangt, schnappt er zu oder beginnt zu schnüffeln. Etwas anderes ist
es, wenn man solches Fleisch schnell vor dem verbundenen Auge hin
und her bewegt; in diesem Falle werden die Riechstoffe durch den
Luftstrom der Nase zugeführt und lösen eine Reaction aus.
Erscheint nun ein Stück Fleisch in dem normalen Gesichtsfeld oder
in dem überhaupt sehenden Theil des Gesichtsfeldes, so verändert sich
regelmässig der gleichgültige Ausdruck der bis dahin in's Leere sehen-
den xAugen. Die Pupille erweitert sich, die Augen fixiren, abgesehen
von gewissen, später zu erwähnenden Ausnahmen regelmässig das Ge-
sichtsobject und der Hund schnappt zu. Da sein Kopf in der Höhe
des Auges des Untersuchers hängt, so- lassen sich alle diese Erschei-
nungen mit Leichtigkeit beobachten.
Nach dem Gesagten ist es zwar möglich, dass ein Hund, welcher
auf ein in seinem Gesichtsfelde erscheinendes Stück Fleisch nicht rea-
girt, keine Sehstörung hat, aber es ist absolut unmöglich, dass
ein Hund, welcher auf ein in einem beliebigen T h e i 1 e seines
Gesichtsfeldes erscheinendes Stück Fleisch in der vorgedach-
ten Weise reagirt, auf dem entsprechenden Theile seiner
Retina rindenblind ist; jede Täuschung darüber ist bei einiger-
maassen ausreichender Uebung des Untersuchers gänzlich ausgeschlossen.
Bei solchen Hemden, welche in der Schwebe nicht oder nicht hin-
reichend zu untersuchen waren, sowie ausserdem auch bei vielen anderen
in der beschriebenen Weise gut zu untersuchenden Hunden wurde die
Absuchung des Gesichtsfeldes in der Weise vorgenommen, dass grössere
Hunde stehend zwischen den Knieen, kleinere auf dem Schoosse fest-
gehalten wurden, oder dass man den Thieren, während sie auf dem
Tische an einer Schüssel Gemüse frassen , Fleisch in das Gesichtsfeld
einführte.
Kam es darauf an die untere Gesichtsfeldpartie zu prüfen, so hatte
— 302 —
der Huiul auf dem Boden liegendes Fleisch mit einem offenen Auge
oder auch mit beiden Augen zu suchen und wenn die obere Gesichts-
feldpartie geprüft werden sollte, so zeigte ein Beobachter dem Hunde
von vorn ein grosses Sti^ick Fleisch, vt'ähreud ein zweiter ihm von hin-
ten her ein kleines Stück Fleisch in jenen Theil des Gesichtsfeldes
einführte.
Ausserdem wurde auch das Werfen von Fleisch in der viel be-
schriebenen Weise geübt.
Viele der nachstehenden Beobachtungen sind durch Gesichtsfeld-
zeichnnngen illustrirt. Ebenso wie beim Menschen ist dies auch beim
Hunde ein ausgezeichnetes Mittel die auftretenden Scotome zu demonstriren
und sie theils in ihrem eigenen Decursus, theils mit den Scotomen an-
derer Beobachtungen zu vergleichen. Gewonnen wurden diese, sämmt-
lich von Herrn Dr. Kalberiah ausgeführten Zeichnungen dadurch, dass
dem Hunde an jedem einzelnen Versuchstage in Dutzenden von Einzel-
versuchen das Gesichtsfeld in der vorher beschriebenen Weise so lange
abgesucht wurde, bis über die Grenzen vorhandener Scotome oder über
ihr Fehlen eine Einigung zwischen uns beiden erzielt war. Das Resul-
tat wurde alsbald graphisch fixirt. Die mit diesen Aufnahmen verbun-
denen Schwierigkeiten können Niemandem, der jemals periiuetrische
Aufnahmen am Menschen gemacht hat, entgehen und es versteht sich
von selbst, dass sie auf absolute Genauigkeit, auf die es aber auch
gar nicht ankommt, keinen Anspruch erheben können. Bern heimer i)
hat mit grossem Nachdruck betont, dass „kleine, besonders das directe
Sehen betreffende Defecte und theilweise Ausfallserscheinungen an ope-
rirten Thieren zu bestimmen, geradezu ein Ding der Unmöglichkeit sei."
Und ferner an einer anderen Stelle des gleichen Referates „ich möchte
doch die Schwierigkeit, ja, ich möchte sagen: die Unmöglichkeit her-
vorheben, bei einem Thiere Theildefecte im Gesichtsfelde mit Bestimmt-
heit festzustellen."
Für den Hund ist dies gewiss nicht richtig. Schon diejenigen der
früher angewendeten Methoden, bei denen man vermittelst eines Drahtes
oder Fadens Fleisch in das Gesichtsfeld einführte, gestatteten die unge-
fähre Erkennung und Abgrenzung von Gesichtsfelddefecten , während
andere, wie z. B. das Werfen oder Hinlegen von Fleisch der Willkür
des Beobachters allerdings einen viel zu breiten Spielraum Hessen. Uiul
speciell mit Bezug auf die Angaben Munk\s, gegen die sich Beru-
he im er wendet, scheint es diesem ebenso wie mir gegangen zu sein.
1) Bernheimer, Die corticalen Sehcentren. Referat auf dem Pariser
(yongress 190Q. Wiener klin. Wochenschr. Jahrgang 1900. No. 42.
— 308 —
icli habe iiiclit iiachm;icli(!ii oder verstehen l<r)iiiieii, \vi(; man auf die;
freilich nur sehr oberflächlich angegebene Weise zur Bestimmung eines
umschriebenen GJesichtsfelddefectes gelangen kann.
Aber gerade mit Bezug auf diese noch ganz neue Ansicht vmi
Bernheimer erscheint die von mir angegebene Methode insofern als
ein entschiedener Fortschritt, als sie die Abgrenzung circumscripter Ge-
sichtsfeld defecte bei der Majorität der Hunde mit grosser Sicherheit
gestattet, ja noch mehr, dass es sogar, wie wir noch sehen werden,
nicht selten gelingt, Unterschiede in dem Grade der Sehstörung zu
erkennen.
Am schwierigsten bleibt natürlich die Erkennung eines centralen
Scotoms, weil der Hund eben Fleisch, dessen Bild auf periphere Netz-
hautabschnitte fällt, sieht und darauf mit Augenbewegungen antwortet.
Um dieser Schwierigkeit zu begegnen, habe ich bei einem von mir im
Folgenden sogenannten „Stossversuch" ganz kleine mit einer Pincette
gefasste Stückchen Fleisch in senkrechter Richtung mit einem kurzen
Ruck so auf das Auge zugestossen, dass ihr Bild auf die Macula fallen
musste.
Aber absolut genau geben diese Gesichtsfeldzeichnungen, wie ge-
sagt, den Sachverhalt allerdings nicht wieder. Zunächst ist das Ge-
sichtsfeld des Hundes nicht rund wie die Zeichnungen und dann ist in
diesen von jeder Graduirung absichtlich Abstand genommen. Aber auch
darüber hinaus wird der aufmerksame Leser in diesen Zeichnungen
Unregelmässigkeiten finden, die zum Theil auf Fehlerquellen zurückzu-
führen sind, zum Theil auch nicht. Beispielsweise erscheint ein blinder
oder amblyopischer Kreisabschnitt an einem Tage mehr in dem oberen
und am darauffolgenden Tage weiter in den unteren Quadranten hin-
einreichend, oder ein Sector nimmt an einem Tage nur ein Drittel, am
darauffolgenden Tage zwei Drittel und am 3. Tage wieder nur ein
Drittel eines Quadranten ein, oder es ereignet sich, dass ein fast blinder
Hund scheinbar nur durch ein Loch sieht, welches an dem einen Tage
aber mehr temporal und an dem folgenden Tage mehr nasal gelegen ist.
Ja, es kann sich ereignen, dass ein früher amblyopischer Streifen an einem
Tage normal sehend, an dem folgenden Tage und vielleicht auch länger
wieder amblyopisch erscheint, bis dann die Sehstöiung dauernd und
gänzlich verschwindet.
Ein Theil dieser Unregelmässigkeiten entspricht analogen, beim
Menschen zu machenden Beobachtungen und ist auf Unaufmerksamkeit
zurückzuführen, ein anderer Theil entspricht gleichfalls bei Menschen
zu machenden Beobachtungen und beruht sicherlich auf Schwankungen
im Zustande des Gehirns, wie sich dies in einer Anzahl von Fällen
— 304 —
überzeugend nachweisen lässt. Endlich aber giebt es auch Fälle, in
öenen die Methode selbst versagt, d. h. nicht die wünsclienswerthe
Feinheit und Sicherheit besitzt. Allemal dann, wenn die Grenzen der
Scotome ersichtlich aus diesem Grunde nicht hinreichend genau abge-
grenzt werden konnten, sind sie durch eine punktirte Linie angedeutet,
während der unsichere Grenzbezirk in blasserer Schattirung gehalten ist.
^l* Casuistik.
Vorbemerkungen.
Ich habe mich zwar der Uebersichtlichkeit halber veranlasst ge-
sehen, das angehäufte Material nach den durch die M unk 'sehe Projec-
tionslehre gegebenen Gesichtspunkten einzutheilen und ich habe ferner
die so entstandenen Theile dadurch in Unterabtheilungen zerlegt, dass
ich zwischen typischen und atypischen Operationen unterschied,
aber ich möchte doch ausdrücklich und auf das Entschiedenste
hervorheben, dass die Art der Eintheilung gar keinen anderen Sinn und
Zweck hat, als den eben angegebenen. Wenn ich also von typischen
Operationen an der Stelle A^ rede, so soll dies nur besagen, dass die
Operation die Stelle A^ ganz oder fast ganz ausgeschaltet und nebenbei
nicht allzuviel von der Nachbarschaft offensichtlich geschädigt hat.
Und wenn ich von atypischen Operationen in dem lateralen Drittel etc.
der sogenaiuiten „Sehsphäre" rede, so kann dies bedeuten, dass ent-
weder nur ein Theil dieser Region oder die ganze Region, dann aber
mit verhältnissniässig grosser primärer Beschädigung der Nachbarschaft
direct ausgeschaltet worden war. Die Grenzen dieser einzelnen Theile
sind also durchaus fliessend, sodass es in vielen Fällen rein willkürlich
war, wenn eine Operation beispielsweise zu den atypischen der Stelle
Ai und nicht zu denjenigen der hinteren (caudaleu) Hälfte der Seh-
sphäre gerecluiet worden ist. Aus diesem Grunde habe ich denn auch
in der Ueberschrift den Ausdruck „centrale" Operationen gewählt und
die Bezeichnung der Stelle Ai nur zur Erläuterung in Klammern bei-
gefügt.
Die centralen Operationen habe ich wieder in zwei Theilen als pri-
märe und secundäre Operationen behandelt, d.h. solche, bei denen
vorgängig keine und solche, bei denen vorgängig eine oder mehrere
Operationen im Frontalhirn gemacht worden waren.
Bei der Mittheilung der in der vorderen (oralen) Hälfte der Seh-
sphäre ausgeführten Operationen habe ich nicht das Priucip der Loca-
lisation, sondern das des operativen Erfolges für die Sehstörung der
Eintheilung in typische und atypische zu Grunde gelegt.
— 305 —
a. Centrale Läsionen (Stelle A^).
Nach der Behauptung Munk's soll die Stelle A^ der Stelle des
deutlichen Sehens zugeordnet sein. Diese letztere Stelle befindet sich
nach den von Munk acceptirten Angaben von Grossmann und Mayer-
hausen beim Hunde auf der äusseren Hälfte der Retina und zwar in
deren medialem und oberem Viertel. Wenn es also gelänge die Stelle
kx der Rinde isolirt und gänzlich zu exstirpiren, so müsste etwa das
in der Figur 95 a. dargestellte Scotom entstehen. Nun ist aber eine
Fig. 95a.
reine und zugleich vollständige Ausschaltung der Stelle A^ aus den
Gründen, welche ich früher angeführt habe und auf die ich später noch
ausführlich zurückzukommen gedenke, gänzlich unmöglich. War diese
Stelle nur theilweise direct zerstört, so mochte es sein, dass der
stehengebliebene Rest noch functionstüchtig war; wahrscheinlicher war
es aber, dass er seine Function theilweise oder gänzlich eingebüsst
hatte. Unter allen Umständen musste aber darauf gerechnet werden,
dass Theile der anderweitigen Nachbarschaft diesem Schicksal anheim-
gefallen waren. War die Stelle A^ aber ganz und rein ausgeschaltet
worden, so musste wieder unter allen Umständen darauf gerechnet wer-
den, dass ein geringerer oder grösserer Theil der oberflächlichen corti-
calen und der tiefen Nachbarschaft von zunächst gar nicht zu be-
stimmender Ausdehnung in den Bereich der Zerstörung hineinge-
zogen war.
Unter der Voraussetzung, dass die Lehre Munk's begründet wäre,
hätte in allen diesen Fällen ein grösserer oder geringerer Theil oder
die ganze Stelle des deutlichen Sehens ihre Function „für alle Folge"
eingebüsst haben müssen, sie hätte mit einem Worte rindenblind sein
müssen. Dazu konnten dann je nach der anderweitigen Localisation
der corticalen und subcorticalen Zerstörung noch anders geartete Sco-
tome kommen; aber die nothwendige Folgerung aus der Hypothese
Munk's war doch, dass in allen diesen Fällen der in P'ig. 95a.
abgebildete Fleck sein Sehvermögen theilweise oder gänz-
lich dauernd eingebüsst hatte. Wir werden im Folgenden sehen,
inwieweit die Wirklichkeit dieser Hypothese entspricht.
Hitzig, Gesammelte Abhandl. 11. Tlieil. 20
306
Genau ebenso verhält es sich mit allen unseren anderen Angriffen
auf die Rinde, mögen diese nun vorwiegend lateral oder medial, vorn
oder hinten localisirt sein.
A. Typische Operationen.
c(. Primäroperationen.
Aufdeckung- der Stelle Aj^ links 10 mm von der Lambdanaht und 6 mm
von der Mittellinie entfernt auf-sagittal 12,5 mm, frontal 14,5 mm. Die frei-
liegende Rinde wird ca. 3 mm tief umschnitten und dann mit dem Präparaten-
heber herausgeholt.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Rechts: Am2. Tage blind bis auf nasalen
Streifen, am 3. Tage bis auf das nasale Drittel, am 4. Tage im oberen latera-
len Quadranten, unsicher ob auch im unteren Quadranten; am 5. Tage nur im
08'
(zu Beob. 65.^
307
oberen lateralen Qnadranten, am 7. Tage nur noch in einer oberen lateralen
Ecke, vom 8. Tage an keine Sehstörung mehr, auch der in der Folge wieder-
holt voroenommeno Stossversuch ergab keine Sehstörung. Links: medialer
links
rechts
Fig. 98.
Streifen blind bezw. amblyopisch bis incl. 9. Tag. Am 4. und 5. Tage war
es fraglich, ob der Hund auf der unteren Hälfte dieses Streifens sah oder nicht.
Gegen Licht: Entsprechend der Sehstörung gegen Fleisch.
Optische Pveflexe: Fehlen rechts gegen flache Hand bis zum 23. Tage,
an einzelnen Tagen jedoch angedeutet nachweisbar.
Nasenlidreflex abgeschwächt bis zum 7. Tage, dann beiderseits gleich.
Getödtet nach ca. 4 Wochen, nachdem inzwischen eine 2. symmetrische
Operation ausgeführt worden war.
20*
— 308 —
Section: Häute normal. Die Auflagerung sitzt in der lateralen Hälfte
der I. und im medialen Schenkel der H. Urwindung, den lateralen Schenkel
der letzteren nur eben berührend. Sie misst sagittal 8 mm, frontal 11 mm,
bleibt mit der Mitte ihres hinteren Pvandes 8,5 mm vom hinteren Pol, der hier
stark eingezogen ist, und von der Mittellinie 4,5 mm entfernt. Der vordere
Kand schneidet mit «iner Senkrechten: Falx — hinterer Rand der IV. Urwin-
dung ab. Durchschnitt dicht hinter der Mitte der Narbe: Die Rinde des me-
dialen Schenkeln der II. Urwindung ist völlig zerstört, ebenso der laterale
Rand der 1. Urwindung. Das Grau des Sulcus ectolateralis ist abgeblasst und
rings umgeben von grau-röthlicher Narbenmasse. Ebenso ist das Markweiss
der I. Urwindung, deren dorsale Rinde deutlich abgeblasst ist, durch Narben-
gewebe substituirt.
Die Läsion betraf die Stelle A^. Die Stelle des deutlichen Sehens
hätte also dauernd rindenblind sein sollen. Die Sehstörung war aber
hemianopischer Natur und begriff die Stelle des deutlichen
Sehens nur bis zum 3. Tage in sich; am längsten war der obere
äussere Quadrant betroffen, aber auch dieser nur bis zum 7. Tage. Das
linke Auge, welches hätte frei sein sollen, zeigte bis zum 9. Tage die
gewohnte Sehstörung.
Beobaelxtimg' 66.
Aufdeckung der Stelle A^ links. Der mediale Rand der Knochenlücke
bleibt 7 mm von der Mittellinie, der hintere ebensoviel von der Lambdanaht
entfernt. Frei liegt der mediale Schenkel der IL Urwindung und noch je
einige Millimeter vom Randwulst und dem lateralen Schenkel der IL Urwin-
dung. Exstirpation der freiliegenden Rinde auf ca. 3 — 4 mm Tiefe.
Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung: Gegen Fleisch: Bis zum 3. Tage rechts blind bis auf
einen schmalen nasalen Streifen, links sehend bis auf einen ebensolchen Strei-
Fig. 99.
fen. Von diesem Tage an bis zum 19. Tage nimmt die Sehstörung rechts
oberhalb des Aequators '^3— '74) unterhalb desselben Va — '^/2 des Gesichtsfel-
— 309 —
des ein, links besteht immer der schmale nasale Streifen, der aber am 19. Tage
sich za einem oberen Kreisabschnitt verengt hat. So in der Schwebe. Auf
dem Schosse Hess sich vom 14. Tage an unterhalb des Aequators eine Seh-
störung nicht mehr nachweisen. Am 22. Tage ist auch in der Schwebe rechts
nur noch der obere äussere Quadrant blind während links wieder der ganze
Fiff. 100.
links
rechts
Fig. 101.
mediale Streifen reactionslos erscheint. Nachher war der Hund wegen Staupe
nicht mehr zu untersuchen. Nach Aufhellung der Stelle des deutlichen Sehens
wies auch der Stoss versuch keine Sehstörung mehr nach. Gegen Licht: Bis
zum 8. Tage entsprechend der Sehstörung gegen Fleisch, von da an scheut
der Hund auch rechts schon weit aussen.
Optische Pveflexe: Fehlen rechts gänzlich bis zum 6. Tage, dann
allmählich wiederkehrend, am 10. Tage beiderseits gleich.
— 310 —
Nasenlidreflex ungestört.
Gestorben am 30. Tage an Staupe, an der er an ca. 8 Tagen gelitten hatte.
Section: Häute normal. Die Auflagerung nimmt die Stelle Aj ein.
Sie misst sagittal 12,5 mm, frontal reichlich 11 mm. Mit dem medialen Rande
bleibt sie 7 mm von der Mittellinie, mit dem hinteren Rande reichlich 8 mm
von dem hinteren Pol und nach vorn 4—5 mm von einer Senkrechten: Palx
— hinterer Rand der IV. Urwindung entfernt. Durchschnitt durch die
Mitte der Narbe: Die Rinde ist unter der Auflagerung in den medialen drei
Vierteln durch ein derbes weissliches, im lateralen Viertel durch ein bräun-
lich gefärbtes maschiges Närbengewebe ersetzt. Beide zusammen bilden
eine dreieckige Masse, welche auch die darunter liegende weisse Substanz er-
setzt. Mitzerstört ist die graue Substanz der III. Urwindung in der Furche
zwischen ihr und der IL Urwindung. Dagegen ist die weisse Substanz der
ersteren makroskopisch ziemlich gut erhalten. Von der Spitze der trichterför-
migen Narbe zieht sich an der inneren Fläche der medialen grauen Substanz
ein feiner, sich basalwärts verbreiternder, braunroth gefärbter Spalt noch 11mm
weiter basalwärts.
Die Stelle Ai war zerstört. Die Stelle des deutlichen Sehens,
welche dauernd rindenblind hätte sein sollen, war aber bereits am
4. Tage wieder functionstüchtig. Die Sehstörung hatte einen
hemianopischen Charakter mit besonderer Bevorzugung des oberen
äusseren Quadranten.
BeobachtviTig;' 6T^.
Aufdeckung der Stelle A^ links auf sagittal 14 mm, frontal 19 mm, so
dass etwa 4 mm von der I. Urwindung und etwa 2 mm von dem lateralen
Schenkel der II. Urwindung frei liegen. Der hintere Rand der Knochenlücke
ist ca. 7 mm vom Tentorium entfernt. Die freiliegende Rinde wird bis auf einen
medialen ca. 2 mm breiten Rindenstreifen auf ca. 3 mm Tiefe glatt abgetragen.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Reagirt am 2. Tage gegen Fleisch nicht,
giebt die Pfote, aber nur, wenn das Bild der Hand auf das linke Auge fällt,
am 3. Tage giebt er die Pfote auch dann, wenn das Bild der Hand auf die
mediale Partie des rechten Auges fällt; an diesem Tage reagirt er gegen
Fleisch oberhalb des Aequators auf ca. Yg, unterhalb auf ca. ^/g des Gesichts-
feldes. Am 5. Tage hat die sehende Partie sich verbreitert, sodass unterhalb
des Aequators nur noch etwa Yg des Gesichtsfeldes blind erscheint. Vom
G. — 8. Tage ist nur noch der obere äussere Quadrant blind, von da bis zum
15. Tage reagirt der Hund auf einem oberen lateralen Kreisabschnitt unsicher,
derart, dass er das Fleisch nicht immer bemerkt, oder es, wenn er es bemerkt,
nur fixirt, ohne danach zu schnappen. Am 17. Tage keine Sehstörung mehr.
Der Stossversuch erweist bereits am 6. Tage die Stelle des deutlichen Sehens
als functionstüchtig. In der Periode vom 7.— 16. Tage ist die Sehstörung in
der Schwebe stets deutlicher nachzuweisen als ausserhalb derselben, wo sie
— 311 —
nicht selten ganz fehlt. In der gleichen Periode ergeben Versuche mit .ib-
wechselnder Darreichung von Fleisch und Watte auf beiden Augen gleich-
massig Folgendes : Der Hund schnappt, nachdem er Pleischstücke erhalten
hat, auch nach Watte, sogar mehrere Male nacheinander, verweigert dann aber
(zu
Beob. 71)
23,
Fiff. 102.
Fig. 103.
— 312 —
auch Fleisch, bis es ihm unter die Nase gehalten wird. Wird nun wieder Watte
gereicht, so schnappt der Hund wieder danach. Diese Prüfung war zuerst
rechts gemacht. Links schnappt er aber auch, ohne dass sogar vorher Fleisch
gereicht war, sogleich nach Watte. Links ist ein schmaler nasaler Streifen
links WL ■ Xk rechts
Fig. 104.
bis 7Aim 8. Tage, wenn auch vom 6. Tage an unsicher werdend, nachzuweisen.
Gegen Licht: Reaction im allgemeinen beiderseits schwach, aber doch erkenn-
bar, entprechend der Sehstörung gegen Fleisch. Gegen Ende der Beobachtung
ist die Reaction gegen Licht beiderseits sehr lebhaft.
Optische Reflexe: Fehlen rechts gänzlich bis zum 6. Tage. An die-
sem Tage gelegentlich andeutungsweise, am folgenden Tage wieder fehlend.
Am 8. Tage wieder vorhanden, dann allmählich zunehmend, aber am 20. Tage
(Schluss der Beob.) noch schwächer als links, gegen schmale Hand fehlend.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet nach ca. 7 Wochen, nachdem inzwischen eine 2. symmetrische
Operation ausgeführt worden war.
Section: Häute normal. Die sagittal 12,5 mm, frontal 10,5 mm mes-
sende Auflagerung reicht hinten medial bis an den hinteren Pol, mit ihrem
medialen Rande bleibt sie etwa 5 mm von der Mittellinie und mit ihrem vor-
deren Rande 6mm von einer Senkrechten: Falx — hinterer Rand derlV.Urwin-
dung entfernt. Medial vorn und in der vorderen Hälfte der lateralen Grenze
ist sie von einem stark zerklüfteten Hofe von gelblicher Farbe umgeben, der-
art, dass der gesammte sagittale Durchmesser zerstörter Rinde 16 mm beträgt.
Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Die Rinde und das Mark fehlen unter
der Auflagerung gänzlich mit Ausnahme der medialen Partie des Randwulstes.
In diesen zieht sich von der medialen Ecke der Hirnnarbe bogenförmig ein
bräunlicher Erweichungsstreifen tief bis fast an den Sulcus calloso-marginalis
— 313 —
hinan. Im Uebrigen findet sich unter der Auflagerung ein niaschiges bräun-
liches Gewebe.
Die Stelle des deutlichen Sehens, welche hätte dauernd rin-
denblind sein sollen, Avar bereits am 3. Tage frei. Am 17. Tage
war überhaupt jede Spur von Sehstörung verschwunden. Vornehmlich
betroffen war der obere äussere Quadrant, was in Beziehung dazu ge-
bracht werden könnte, dass die hintere Partie der Sehsphäre stärker
als die vordere geschädigt war.
JE5eofcȣiclJitii.iig" 6S.
Derselbe Hund von Beob. 72. Aufdeckung der Stelle Aj^ rechts auf sagit-
tal 12,5 mrn, frontal 13 mm. Der mediale Rand der Knochenlücke bleibt
4 mm von der Mittellinie, der hintere Rand 10 mm von der Lambdanaht ent-
fernt. Die freiliegende Rinde wird ca. 3 mm tief umschnitten und dann flach
mit der Scheere exstirpirt.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Rechts: Ein anfänglich breiterer, schnell
abnehmender nasaler Streifen, sodass es am 7. und 8. Tage zweifelhaft ist, ob
noch eine Sehstörung besteht; am 10. Tage sicher keine Sehstöruno- mehr.
(zu
Beob. 72)
(zu
Beob. 68)
Fig. 105.
Links: Am 2. und 3. Tage oberhalb des Aequators schmaler sehender medialer
Streifen, unterhalb ist etwa der mediale Quadrant frei. Die Freiheit der Stelle
des deutlichen Sehens wird jetzt und später auch durch den Stossversuch er-
wiesen. Vom 4.-6. Tage: Medialer sehender Streifen oberhalb des Aequators
verbreitert, vom 7.— 10. Tage laterale Hälfte des Gesichtsfeldes blind. Von
diesem Tage an beginnt dieSehstöiung unterhalb des Aequators zurückzugehen,
sodass am 16. Tage nur noch der obere äussere Quadrant blind ist. Am
— 314 —
17. Tage ist die Sehstörnng auch dort zurücligegangen. Am 18. Tage erscheint
sie in der Sehwebe dort unverändert, auf dem Schosse aber nicht mehr nach-
Fiff. IOC).
links
rechts
Fig. 107.
weisbar. Am 22. Tage Sehstörung verschwunden. Gegen Licht: Entsprechend
der Sehstörung gegen Fleisch bis zum 16. Tage. Von diesem Tage an scheut
der Hund auch links schon weit aussen.
Optische Reflexe: Fehlen bis zum Schluss der Beobachtung gänz-
lich. Auch auf dem rechten Auge erweisen sie sich bis zu diesem Zeitpunkte
gegen flache Hand abgeschwächt, gegen schmale Hand fehlend.
Nasenlidreflex ungestört.
— 315 -
Getödtet nach ca. 4 Wochen.
Section: Häute normal. Die Auflag-erung nimmt die laterale Hälfte der
L, den medialen Schenkel der 11. und die mediale Hälfte des lateralen Schen-
kels der n. Urwindung ein. Sie misst sagittal 11 mm, frontal 14 mm, bleibt
von dem sehr stark eingezogenen hinteren Pol in der Mitte 9 mm und mit ihrem
medialen Rande 6 mm von der Mittellinie entfernt. Hir vorderer Rand schnei-
det etwa mit einer Senkrechten: Falx — hinterer Rand der IV. Urwindung ab.
Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Die Rinde ist unter der Auflagerung
gänzlich zerstört; die letztere setzt sich mit einer grau-bräunliclien Masse von
etwa dreieckiger Gestalt ziemlich tief in das Marklager fort. Lateral davon
finden sich noch einige isolirte bräunliche Streifen. Die Spitze des Keils reicht
bis etwa 4 mm von der Spitze des hier angeschnittenen Seitenventrikels.
Die Stelle Ai war zerstört. Die Stelle des deutlichen Sehens,
welche allein hätte betroffen sein sollen, erwies sich von Anfang an
frei. Die Sehstörung zeigte einen vorwiegend hemianopischen Charakter
mit Bevorzugung des oberen äusseren Quadranten, ohne dass zu letzterer
durch die Localisation der Ausschaltung eine besondere Veranlassung
gegeben gewesen wäre.
Beobachtiziijär ÖO.
Aufdeckung hinten links auf 13,5 mm sagittal, 16 mm frontal. Abtra-
gung der Dura im ganzen Gebiet. Die freiliegende Rinde wird auf 1 cm Tiefe
mit dem schmalen Präparatenheber umstochen, unterschnitten und dann mit
dem breiten Präparatenheber und der Schere abgetragen. Die medial davon
bis zur Falx unter dem medialen Knochenrand liegende Partie wird sodann
mit dem Daviel' sehen Löffel unterlöffelf und ausgiebig zerstört.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. und 3. Tage sieht der Hund nur
im schmalen nasalen Streifen (stösst auch mit der rechten Seite des Kopfes
an), am 4. — 6. Tage noch 2/3 — ^/4 des Gesichtsfeldes, am 6. Tage im unteren
Quadranten etwas weiter aufgehellt, am 7. Tage im oberen äusseren Quadran-
ten, im unteren weiter aufgehellt. Vom 8. — 10. Tage anscheinend im oberen
Quadranten etwa Va» ii» unteren weniger als ^/s, am 11. Tage (Hund ruhiger)
reicht die Sehstörung im oberen Quadranten noch etwas über den verticalen
Meridian hinaus. Vom 12. — 14. Tage temporaler Streifen, am 15. Tage schma-
ler temporaler Streifen, am 16. und 17. Tage unsicher, ob noch Sehstörung, am
18. Tage normal. Gegen Licht: Reaction fehlt vom 2.-4 Tage, am 5. Tage im
sehenden Theile des Gesichtsfeldes vorhanden, am 6. Tage beiderseits gleich.
Optische Reflexe: Fehlen vom 2.— 18. Tage (Schluss der Beobach-
tung), obschon es vorher an einzelnen Tagen schien, als wenn sie gegen flache
Hand andeutungsweise vorhanden wären.
Nase nlidreflex intact.
Getödtet nach 10 Wochen, nachdem inzwischen eine 2. Operation an der
anderen Hemisphäre ausgeführt worden war.
Section: Dura und Pia frei, Dura nur an den Rändern der Auflagerung
adhärent. Die vordere Grenze der Auflagerung schneidet mit einer Linie ab,
316
\.; ..' "v
/ \ /
J ^
/f'
^1.
ia
ti.
zu Beob. 69)
— 317 —
die vom hinteren Rande der Sylvi'schen Windung senkrecht auf die Falx ge-
zogen wird. Der mediale Rand reicht noch ein wenig in die I. Urwindung
hinein, der hintere Rand bleibt vom hinteren Pol 6 mm entfernt. Der laterale
Rand berührt eben den oberen Rand der TU. Urwindung, Durchschnitt durch
Pia-. 109.
links
rechts
Pig. 110.
die Mitte der Auflagerung: Rinde und Mark der ganzen II. und grössten Theils
der 1. Urwindung zerstört. Von der Auflagerung erstreckt sich ca. 3 mm weit
in die Tiefe reichend, ein schmaler, gelblicher Streifen in die Markstrahlung
hinein. Der Seitenventrikel ist, wie sich auf einem 2. Schnitt dicht vor der
Auflagerung ergiebt, dreieckig in die Höhe gezogen; die diesen dorsal und
medial begrenzende Markschicht (Forceps) ist äusserst atrophisch.
318
In dem vorliegenden Falle hätte, da die Stelle A^ gänzlich und
der angrenzende Theil der I. Urwindung grösstentheils zerstört worden
war, die Stelle des deutlichen Sehens und ein Theil des temporalen
Gesichtsfeldes dauernd rindenblind sein müssen. Es trat aber zunächst
eine typische temporale Hemianopsie auf, die sich derart verlor, dass
gerade die Stelle des deutlichen Sehens bereits am 6. Tage
wieder functions fähig war, während Rindenblindheit irgend eines
Theiles des Gesichtsfeldes überhaupt ausblieb.
Beol>aclitimg- TO.
Aufdeckung- links fast ganz hinten, dicht neben der Mittelünie auf ID mm
sagittal, 12 mm frontal. Umstechung und Exstirpation der freiliegenden Kinde
ca. ^U cm tief, medial bis zur Falx, nach vorn noch etwa o mm unter dem
Knochenrand.
M 0 1 i 1 i t ä t s s t ö r u n g e n fehlen .
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage sieht er bei verbundenem
linken Auge in einem schmalen nasalen Streifen, wobei nicht auszumachen ist,
ob er in dem oberen Drittel sieht. Links sieht er in einem schmalen nasalen
Fig. 111.
Streifen nichts. Auf dem Boden findet er rechts Fleisch nicht. 3. Tag: Der
sehende Streifen rechts ist etwas breiter geworden; links und auf dem Boden
unverändert. 4. Tag: Rechts ist der blinde Theil des Gesichtsfeldes wieder
etwas geringer geworden, unten anscheinend nur noch ein Viertel des Gesichts-
feldes, oben reicht der blinde Theil noch über die Mittellinie hinaus. Links
unverändert. 5. Tag: Rechts noch ein lateraler Streifen, der oben bis zur
Mitte reicht, reactionslos. Links besteht noch immer oben nasal ein blinder
Streifen. Auf dem Boden findet er bei verbundenem linken Aug-e vorgeworfenes
Fleisch ziemlich gut. 6. Tag: Rechts lässt sich bei gewöhnlicher Absuchung
des Gesichtsfeldes keine Störung mehr constatiren, wenn man dagegen kleine
Stückchen Fleisch mit der Pincette senkrecht auf das Auge zustösst, so reagirt
er anfangs in der unteren Hälfte nicht, nachher aber immer, in der oberen
Hälfte des Gesichtsfeldes reagirt er hierauf stets. Gleich grosse Stückchen
){ork nimmt er das 1, und 2. Mal ins Maul, das 3. Mal beriecht er sie, das
— 319 —
4. Mal wendet er sich entrüstet ab. 7. Tag: Es ist nichts Sicheres nachzuwei-
sen; zuweilen scheint es so, als ob oben aussen noch ein ganz schmaler Streifen
bestände, doch reagirt er andere Male wieder ganz lateral. Links besteht keine
Sehstörung mehr. Vom 8. Tage an beiderseits, sowohl in der Schwebe, wie
auf dem Boden normal. Gegen Licht: Bis zum 5. Tage beiderseits indifferent,
fixirt es am 3. Tage aber mit dem rechten Auge, nachher wendet er sich stets
beiderseits ab.
Fio-. 112.
Fig. 113.
Optische Reflexe: Fehlen rechts bis zum S.Tage gänzlich, am
9. Tage gegen flache Hand immer, gegen schmale Hand zuweilen, vom
13. Tage an auch gegen schmale Hand immer vorhanden. Links in den ersten
Tagen gleichfalls schwach.
— 320 —
Gestorben nach 3 Wochen, während einer 2. Operation in der Narkose.
Section: Häute normal. Die Narbe sitzt zum grössten Theil in der
I. Urwindung und reicht fast bis an den medialen Rand, der stark eingezogen
ist. Sie nimmt dann die mediale Hälfte der II. Urwindung ein, nach hinten
bleibt sie 7 mm vom hinteren Pol entfernt. Nach vorn reicht sie etwa bis zum
vorderen Rand der Munk' sehen Sehsphäre. Durchschnitt durch die Mitte der
Narbe: Die Rinde, sowie das Mark fehlen an der bezeichneten Stelle ganz.
Die oberflächliche Narbe endet mit zwei braunen erweichten Zipfeln in dem
benachbarten Markweiss und im Gyrus fornicatus.
Die Zerstörung betraf die Stelle A^, welche nebst dem darunter
liegenden Marklager gänzlich ausgeschaltet war, ferner ein erhebliches
Stück des medialen Theiles des vorderen Abschnittes der Sehsphäre,
während der laterale Abschnitt gänzlich frei und der hintere Abschnitt,
wenn überhaupt, nur wenig in Mitleidenschaft gezogen war.
Die Exstirpation hätte also zur dauernden Rindenblindheit der Stelle
des deutlichen Sehens und eines Theiles des unteren Abschnittes des
rechtsseitigen Gesichtsfeldes führen, dagegen das linksseitige Gesichts-
feld vollkommen freilassen müssen: letzteres wäre in diesem Falle um
so mehr zu erwarten gewesen, als sich die secundären Erweichungen
nicht in den lateralen, sondernin den medialen Abschnitt der Hemisphäre
erstreckten. Thatsächlich bestand eine typische Hemiamblyopie, so dass
die Stelle des deutlichen Sehens bereits am 4. Tage wieder
fuuctionsfähig war und so, dass die Aufhellung nicht von oben nach
unten, sondern von unten nach oben erfolgte. Dagegen muss erwähnt
werden, dass der Hund an einem, dem 6. Tage gegen den sogenannten
Stossversuch in dem oberen Theil des Gesichtsfeldes besser als in dem
unteren zu reagiren schien. Auch fehlte keineswegs der blinde Streifen
auf dem gleichseitigen Auge, sondern war ungefähr ebenso lange als
die rechtsseitige Sehstörung nachweisbar.
Beofeaelitnng" T'l.
Derselbe Hund von Beob. 67 (vergl. dort die Figuren). Aufdeckung der
Stelle Aj rechts auf 14 mm sagittal, 15 mm frontal. Die freiliegende Rinde
wird ganz flach mit dem Präparatenheber unterschnitten und exstirpirt.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Links: Am 2. Tage ein schmaler media-
ler unterer Kreisabschnitt sehend, der sich bis zum 6. Tage etwas erweitert
hat. Während dieser Zeit ist die Sehstörung auf dem übrigen Areal des Ge-
sichtsfeldes zwar in der Schwebe, nicht auf dem Schosse vollkommen, dort
sieht der Hund etwas, aber unsicher. Am 10. Tage ist diese Art von Amblyo-
pie auch in der Schwebe auf dem dort vorher gar nicht reagirenden Areal
nachzuweisen. Der Hund erscheint auf der bisher blinden Partie nicht mehr
völlig blind, sondern dieser Theil leicht aufgehellt. Der Hund reagirt oft
— 321 —
schon weit aussen, localisirt aber falsch, meist schnuppert er nur etwas. Am
12. Tage starke, nicht deutlich abgrenzbare Unsicherheit im Gebiete der late-
ralen Hälfte. Stelle des deutlichen Sehens ist ganz frei, eine völlig blinde
Zone besteht überhaupt nicht mehr. Vom 13.— 22. Tage beschränkt sich diese
Art von Sehstörung auf den oberen äusseren Quadranten, später keine Sehstö-
rung mehr. Rechts: Schmaler nasaler Streifen bis zum 12. Tage, dann nicht
mehr blind. Gegen Licht: Reaction von Anfang an überall vorhanden, am
13. Tage hält der schwebende Hund auf den Lichtreiz sich immer die Augen zu.
Optische Reflexe: Fehlen anfänglich gänzlich und sind noch am
26. Tage (Schluss der Beob.) gegen flache Hand nur angedeutet, gegen schmale
Hand gar nicht vorhanden, auch rechts sind sie noch abgeschwächt.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet am 26. Tage.
Section: Häute normal. Die sagittal 12,5mm, frontal 15mm messende
Aullagerung reicht hinten medial bis an den hinteren Pol, mit ihrem medialen
Rande bleibt sie 5 mm von der Mittellinie und mit ihrem vorderen Rande 4 mm
von einer Senkrechten: Falx — hinterer Rand der IV. Urwindung entfernt. Nach
lateral greift die Auflagerung noch gerade auf den lateralen Schenkel der
II. Urwindung über. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Rinde und Mark
fehlen unter der ganzen Auflagerung und lateralwärts noch etwa 2 mm darüber
hinaus. Darunter zieht eine kegelförmige Narbe, deren medialer Rand dem
medialen Grau anliegt, bis ca. 2 mm von der Spitze des Seitenventrikels. An
der Spitze dieser Narbe findet sich eine stark linsengrosse Höhle mit bräunlich
verfärbtem blutigem Inhalt jüngeren Datums.
Die Stelle des deutlichen Sehens, welche dauernd rindenblind
hätte sein sollen, war überhaupt nicht blind, sondern von Anfang
an wie das ganze afficirte Gesichtsfeld nur amblyopisch. Vom 12. Tage
an war sie ganz frei, am stärksten war die Sehstörung lateral und oben.
Beobachtung; ^2.
Derselbe Hund von Beob. 68 (vergl. dort die Figuren).
Aufdeckung der Stelle A^ links auf sagittal 11,5 mm, frontal 16,5 mm.
Der mediale Rand der Lücke bleibt ca. 3 mm von der Medianspalte, der hintere
Rand 7 mm vom Tentorium entfernt. Da etwas mehr als erforderlich von der
I. Urwindung aufgedeckt war, wird die Stelle A^^ auf ca. 5 mm Tiefe so ex-
stirpirt, dass ca. 3—4 mm von dem aufgedeckten Randwulst stehen bleiben.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Links: Am 2. Tage ein etwas breiterer,
am 3. und 4. Tage ein schmaler nasaler Streifen, am 5. Tage nur noch ein
oberer nasaler Fleck blind, auf dem an den nächsten Tagen die Reaction noch
etwas unsicher ist. Rechts: Am 2.-4. Tage die laterale Hälfte blind, am
5. Tage nur noch etwa das laterale Viertel mit unsicherer Abgrenzung; am
9. Tage diese Stelle unsicher, am 11. Tage Sehstörung verschwunden. Gegen
Licht rechts entsprechend der Sehstörung gegen Fleisch, doch scheut er vom
6. Tage an schon weit aussen.
Hitzig, Gesammelte Abliandl. II. Theil. 21
122
Optische Pveflexe: Fehlen rechts bis zum 5. Tage, auch an diesem
Tage in der Schwebe; auf dem Schosse jedoch gegen flache Hand abge-
schwächt vorhanden. So bleibt es bis zum 19. Tage (Schluss der Beob,).
Fig. 114.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet nach ca. 7 Wochen, nachdem inzwischen eine 2. symmetrische
Operation ausgeführt worden war.
Section: Häute normal. Die Auflagerung nimmt den lateralen Schen-
kel der I., den medialen Schenkel der H. und das mediale Drittel des lateralen
Schenkels der ll.Urwindung ein. Sie misst sagittal 11mm, frontal 15 mm. Sie
bleibt mit ihrem hinteren Rand in der Mitte von dem sehr stark eingezogenen
hinteren Pol 10 mm und mit ihrem medialen Rande 7 mm von der Mittellinie
entfernt. Ihr vorderer Rand schneidet etwa mit einer Senkrechten: Falx —
hinterer Rand der IV. Urwindung ab. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe:
Die Rinde fehlt unter der Auflagerung gänzlich. Unter ihr beginnt eine an-
nähernd dreieckige graubräunliche Masse, welche sich ziemlich tief in die
Markstrahlung und in die laterale Partie des Graues des Randwulstes einsenkt.
Die Stelle Ai war zerstört. Die Stelle des deutlichen Sehens,
welche dauernd rindenblind hätte sein sollen, war aber überhaupt
nicht betroffen, sondern wurde bereits am 2. Tage frei gefunden.
Die Sehstörung trug wie immer einen hemianopischen Charakter.
Beobaclitixnjs: T^S.
Derselbe Hund von Beob. 65 (vergl. dort die Figuren). Aufdeckung der
Stelle A^ rechts auf ca. 15 mm frontal und 13 mm sagittal. Hinterer Rand
der Lücke 10 mm von der Lambdanaht, medialer Rand 8 mm von der Mittel-
— 323 —
linie entfernt. Abtragung der Rinde in einer Tiefe von ca. 3—4 mm mit Aus-
nahme der lateralsten ca. 2 mm.
Der Hund wurde am 10. Tage mit allen anderen zur Zeit im Stall be-
findlichen Thieren von der Staupe befallen und litt in Folge dessen vom
15. bis excl. 32. Tage an einer Cornealtrübung, die die Untersuchung des
Sehverrpögens nicht zuliess.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Rechts: Anfänglich schmaler nasaler
Streifen, am 8. Tage nur noch undeutlich nachweisbar, amblyopisch. Links:
Anfänglich schmaler nasaler Streifen, am 6. Tage fast, am 8. Tage die ganze
Fig. 115.
mediale Hälfte sehend, am 13. Tage noch das laterale Drittel amblyopisch,
dann nicht zu untersuchen bis zum 32. Tage, wo keine Sehstörung mehr nach-
weisbar ist. Gegen Licht: Beiderseits kein sicheres Resultat zu erhalten.
Optische Reflexe: Fehlen links während der ersten Periode der Beob-
achtung und sind am 32. Tage nur gegen flache Hand, immer noch schwächer
als rechts zu erhalten. Rechts waren sie in der ersten Periode gegen flache
Hand angedeutet oder schwach vorhanden, am 32. Tage auch noch abge-
schwächt, während sie gegen schmale Hand dauernd fehlten.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet am 36. Tage.
Section: Häute normal. Die Auflagerung nimmt die laterale Hälfte der
L, den medialen Schenkel der II. und das mediale Drittel des lateralen Schen-
kels der letztgenannten Urwindung ein. Sie misst frontal 16 mm, sagittal
13 mm, bleibt von dem sehr stark eingezogenen hinteren Pol 9 mm, von der
Mittellinie 6 mm entfernt. Der vordere Rand schneidet ab mit einer Senkrech-
ten: Falx — hinterer Rand der IV. Urwindung. Durchschnitt durch die Mitte
der Narbe: Die Rinde fehlt unter der ganzen Auflagerung und lateral noch
2 mm weiter. Unterhalb der Auflagerung erstreckt sich ein annähernd drei-
21*
— 324 —
eckiger, bräunlich gelber, maschiger Herd bis tief in die weisse Substanz hin-
ein, so dass er überall die Grenzen des medialen Graues streift. Ausserdem
zieht sich ein kleiner Erweichungsstreifen in das Grau des Randwulstes hinein.
Die Läsion umschloss die Stelle A^. Die Stelle des deutlichen
Sehens hätte also dauernd rindenblind sein sollen. Die Sehstörung war
aber hemianopischer Natur und begriff die Stelle des deutlichen
Sehens nur längstens bis zum 7. Tage in sich. Das gleichseitige
Auge, welches hätte frei sein sollen, zeigte gleichfalls die gewohnte
Selistörung, mindestens bis zum 6. Tage iucl.
Beot>a,clit«.iija^ 'V^.
Derselbe Hund von Beob. 75. Aufdeckung der Stelle A^^ rechts auf
sagittal 15 mm, frontal 17 mm. Exstirpation der Rinde ca 4 mm tief.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Rechts: Von 14tägiger Dauer, betrifft,
wie üblich, den nasalen Streifen. Links: An den beiden ersten Tagen nicht
(zu Beob. 74)
Fig. 116.
— 325 —
zu untersuchen, am 4. und 5. Tage ist der grössere Theil des Gesichtsfeldes
blind, amblyopisch die obere Hälfte des nasalen Streifens und unterhalb des
Aequators die mediale Grenzzone des blinden Feldes; normal reagirt nur ein
schmaler, unterer Kreisabschnitt. Vom 7.— 11, Tage nimmt die Sehstörung
oberhalb des Aequators ca. ^/^^ unterhalb Yg ein. Die Stelle des deutlichen
Sehens ist frei. Am 12. Tage oberer äusserer Quadrant und unterhalb des
Fig. 117.
links
rechts
Fig. 118.
Aequators noch ein Streifen blind.. Vom 14.— 17. Tage erfolgt die Reaction
auf der bis dahin blinden Stelle noch unsicher, vom 17. Tage an ist keine
Sehstörung mehr nachweisbar. Gegen Licht: Noch am 12. Tage wendet er
sich links nur medial ab, rechts schon weit aussen. Am 17. Tage beider-
seits gleich.
— 326 —
Optische Pveflexe: Fehlen gänzlich bis zum 14. Tage, an diesem
Tage gegen flache Hand 'angedeutet, dann langsam stärker werdend, gegen
schmale Hand noch am Schluss der Beobachtung (29. Tag) fehlend; auch
rechterseits sind zu dieser Zeit die optischen Reflexe noch abgeschwächt, wäh-
rend der Hund sich bei Annäherung der Hand abwendet.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet am 30. Tage.
Section: Häute normal. Die Auflagerung sitzt im lateralen Theil derl.,
im medialen Schenkel der II. Urwindung und greift noch mehrere Millimeter
auf den lateralen Schenkel dieser Windung über. Sie misst sagittal 11,5 mm,
frontal 13 mm, bleibt von der Mittellinie 4 mm und vom hinteren Pol 8 mm
entfernt. Nach vorn bleibt sie 7 mm hinter einer Senkrechten: Falx — hinterer
Rand der IV. Urwindung zurück. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe:
Rinde und Mark fehlen unter der Auflagerung gänzlich. Etwa von der Mitte
der Auflagerung zieht sich ein spaltförmiger ca. 10 mm langer Erweichungs-
herd lateralwärts in die weisse Substanz. Daneben lateral finden sich noch
einige kleine Herde im absteigenden Theile der II. Urwindung.
Die Stelle des deutlichen Sehens, welche dauernd hätte rindenblind
sein sollen, gehörte im Gegentheil zu denjenigen Theilen des Gesichts-
feldes, welche — bei annähernd typischer Hemianopie — zuerst wieder
functionstüchtig waren. Stärker betroffen war der obere äussere Qua-
drant. Dem gänzlichen Verschwinden der Sehstörung ging eine länger
dauernde Unsicherheit auf dem zuletzt blinden Areal voran. Die Seh-
störung des gleichseitigen Auges dauerte verhältnissmässig lange.
Derselbe Hund von Beob. 74 (vergl. dort die Figuren).
Aufdeckung der Stelle Aj links und der lateral und vorn darüber hinaus-
reichenden Partie in einer Ausdehnung von 15 : 15 mm. Die Rinde wird in
dieser Ausdehnung mit dem Messer umschnitten und flach ca. 3 mm tief mit
der Scheere abgetragen.
Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung: Gegen Fleisch (In den ersten Tagen durch einen Unfall
eingeschüchtert, daher schwer zu untersuchen.): Links: Nasaler Streifen bis
zum 11. Tage, vom 8. Tage an nur noch in der Mitte nachweisbar, oben und
unten nicht. Rechts: Am 2. Tage wahrscheinlich ganz blind, am 3. Tage die
obere Hälfte des nasalen Streifens unsicher, die untere aufgehellt, an die letz-
tere schliesst sich eine unsichere Zone. Am 4. Tage erscheint etwa ein Drittel
des Gesichtsfeldes blind, am 5. und 6. Tage findet sich neben einem breiten
nasalen Streifen eine etwa das mittlere Drittel der oberen Hälfte des Gesichts-
feldes einnehmende unsichere Zone, der Rest ist blind. Am 7. und 8. Tage
ist nur noch der untere äussere Quadrant blind und die Stelle des deutlichen
Sehens unsicher. Später wurde diese Stelle auch gegen den Stossversuch
sehend gefunden. Vom 9.— 14. Tage ist eine Sehstörung nur noch in einem
Theilo des unteren lateralen Quadranten nachweisbar, von da an bis zum
— 327 ■ —
17. Tage bestellt hier noch eine gewisse Unsicherheit, am 18. Tage keine Seh-
störung mehr. Am 11. Tage nahm er beiderseits Watte und Fleisch in gleicher
Weise, wenn entsprechend abgewechselt wurde, d. h. zuerst ergriff er die
Watte 2— 3 mal, dann besah er sie sich langsam und boroch sie, endlich igno-
rirte er sie. Hatte man dann wieder mehrere Male hintereinander Fleisch ge-
geben, so ergriff er wieder ohne Besinnen die Watte. Auf das erste Stück Fleisch
Fig. 119.
reagirte er dann zwar schneller als auf die Watte, aber doch'^uoch vorsichtig.
Gegen Licht: Am 2. Tage links wenig, rechts gar nicht scheuend, am 4. Tage
rechts nur medial, am 8. Tage rechts indifferent, links wendet er sich ab, am
11. Tage links wenig, rechts nur medial etwas scheuend, am 15. Tage beider-
seits gleich.
Optische Reflexe: Fehlen gänzlich bis zum 6. Tage, vom 7. Tage an
kehren sie gegen flache Hand, vom 9. Tage an auch gegen schmale Hand all-
mählich wieder, noch am Schlüsse der Beob. (21. Tag) abgeschwächt.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet nach ca. 7 Wochen, nachdem inzwischen eine 2. symmetrische
Operation ausgeführt worden war.
Section: Häute normal. Die Autlagerung sitzt im lateralen Theil der
I. und in der ganzen IL Urwindung. Sie bleibt von der Mittellinie 4 mm,
vom hinteren Fol 8 mm, nach vorn 4 — 5 mm von einer Senkrechten: Falx —
hinterer Rand der IV. Urwindung entfernt, misst sagittal 14mm, frontal 16mm.
Vor der Auflagerung findet sich ein ca. 8 mm sagittal und 5 mm frontal
grosser flacher Erweichungsherd, der die Rinde hier ganz oberflächlich zerstört
hat. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Rinde und Mark fehlen unter
der Auflagerung gänzlich. Sie sind durch eine kegelförmige, leicht bräunliche
Masse ersetzt.
— 328 —
Die Stelle des deutlichen Sehens, welche dauernd rindenblind hätte
sein sollen, war dies zwar nicht, vielmehr war schon am 18. Tage jede
Spur von Sehstörang verschwunden; sie war aber am 7. und 8. Tage
in einer die Grenzen der sonst vorhandenen Sehstörung überschreiten-
den Zone amblyopisch. Ferner betraf die Sehstörung mehr den unteren
lateralen Quadranten, was auf die theils durch die Operation, theils
durch die darauffolgende Erweichung der Rinde gesetzte Zerstörung der
vorderen Partie der „Sehspliäre" bezogen werden könnte.
Beobaditung' T'G.
Aufdeclmng der Stelle A^ links auf 13 mm sagittal, 16 mm frontal. Es
liegen einige laterale Millimeter der L, der mediale Schenkel der II. und einige
Millimeter des lateralen Schenkels der IL Urwindung frei. Die freiliegende
Rinde wird flach exstirpirt.
Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage ist die laterale Hälfte des
rechten Auges und ein medialer Streifen des linken Auges blind. Von da an
bis zum Schluss der Beobachtung lässt sich auch bei der genauesten und
immer wiederholten Untersuchung keinerlei Sehstörung mehr nachweisen,
ausser dass am 3. Tage die Sehstörung auf dem medialen Streifen des linken
Fig. 120.
Auges noch nicht ganz sicher auszuschliessen war. Insbesondere verfolgt der
Hund alle Bewegungen der ihn umgebenden Personen, wo dieselben sich auch
immer befinden mögen, mit grosser Sicherheit; bewegt man, während ihn eine
2. Person von vorn her füttert, die Hand im äussersten Theile des rechten
Gesichtsfeldes nach dem Schwanz zu, um diesen zu fassen, so schnappt der
Hund sicher nach der Hand. Der Hund findet auch bei einseitig- verbundenen
— 329 —
Augen auf dem Boden liegendes Fleisch mit unfehlbarer Sicherheit, er verfolgt
dasselbe, gleichviel von welcher Seite man es nähert, regelmässig, er fängt
es, gleichviel bei welchem Auge es vorbeifliegt, fast stets und bei unverbun-
denen Augen stets. Er reagirt auf den Stossversuch, selbst wenn die Pincette
die kleinsten Stückchen Fleisch hält, ausnahmslos. Irgend ein Unterschied zu
Ungunsten des rechten Auges besteht nicht. Gegen Licht entsprechend der
Sehstörung gegen Fleisch.
rechts
Fig. 121.
Optische Reflexe: Fehlen rechts gänzlich bis zum 16. Tage, von da
bis zum Schluss der Beobachtung nur gegen schmale Hand, gegen flehe Haand
abgeschwächt, allmählich zunehmend, vorhanden.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet nach 3 Wochen.
Section: Häute normal. Die 11,5 mm sagittal, 12,5 mm frontal mes-
sende Narbe sitzt besonders im medialen Schenkel der II. Urwindung und
greift noch wenig auf den lateralen Schenkel dieser Windung, etwas mehr auf
die I. Urwindung über. Der hintere Rand bleibt 5 mm vom deutlich einge-
zogenen hinteren Pol, der vordere ca. 7 mm von einer Senkrechten : Falx —
Spitze der Fossa Sylvii entfernt. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe:
Die Rinde fehlt unter der Auflagerung und zwar der laterale Rand der I. Ur-
windung, das Grau des hier einschneidenden Sulcus, das ganze Grau des
medialen Schenkels der II. und einige Millimeter vom medialen Theil des late-
ralen Schenkels dieser Windung. Unter der derben Narbenkappe findet sich
ein schwammiges, röthliches Gewebe in der Breite der Narbe, das basalwärts
bis zum Grau des Sulcus call. marg. reicht, das Markweiss unter der Narbe
also völlig zerstört hat. Von der medialen Ecke dieses Herdes gehen einige
feine blutige Streifen nach medial zu in die deutlich atrophische I. Urwin-
dung, deren Mark so gut wie ganz fehlt.
Vollkommene Zerstörung der Stelle A^ ohne nennenswerthe Seh-
störune:.
— 330 —
Tabelle IVa.
Centrale Läsionen. Primäroperationen.
Art der
Operation
Ort der Operation
(Section)
S e h s t ö r u n g
gegen Fleisch
Licht
Nasen-
Optische
lid-
Reflexe
reflex
jemerkuntii
Oberfläch-
liche Ex-
stii'pation.
Oberfläch-
liche Ex-
stirpation.
Oberfläch-
liche Ex-
stirpation.
Oberfläch-
liche Ex-
stirpation,
69 Exstirpa-
tion ca.
cm. tief.
Links. Ziemlich tief-|Daucr 9 Tage. Bis
greifender Defect. i zum 3. Tage typisch
hemianopisch, dann
rechts nur im obe-
ren äusseren Qua-
dranten.
Links. Sagittal 12,5
mm, frontal 11 mm
Tiefgreifende Zerstö-
rung im ganzen Ge-
biet der Auflage-
rung. Tiefer Spalt
in der lateralen
Grenze des media-
len Graues.
Links. Sagittal 12,5
mm, frontal 10,5 mm.
Ausserdem Erwei-
chung medial vorn
und in d. vorderen
Hälfte der lateralen
Grenze von 3V2 ™iti
sagittalem Durch-
messer. Zieml. tiefe
Zerstörung v. Rinde
und Mark u. Erwei-
chungsstreifen im
Randwulst.
Rechts. Sagittal 1 1
mm, frontal 14 mm.
Tiefgreifende Zer-
störung im ganzen
Gebiet der Auflage-
rung.
Links. Zerstörung der
I. u. IL Urwindung.
Typisch hemianopisch
mit stärkerer Be-
theiligung der oberen
Hälfte bezw. des
oberen Quadranten.
Dauer mindestens
22 Tage.
Hemianopisch mit vor-
wiegender Bethei-
ligung des oberen
Quadranten. Ab-
klingen mit Un-
sicherheit desselben.
Dauer 16 Tage.
Wie gegen
Fleisch.
Wie gegen
Fleisch.
Dauer je-
doch nur 7
Tage.
Ungefähr
wie gegen
Fleisch.
Links : Hemianopisch
mit stärkerer Bethei-
ligung der oberen
Hälfte bezw. des
oberen Quadranten.
Dauer 21 Tage.
Typische Hemianop-
sie, sich unten schnel-
ler aufhellend.
Dauer 17 Tage.
Wie gegen
Fleisch.
Darier aber
nur 15
Tage.
Bis zum 4,
Tage.
Fehlen
Abge-
bis zum
schwächt
23. Tage.
7. Ta^e.
Fehlen
Unge-
gänzlich
stört.
5 Tage,
dann abge-
schwächt
bis incl.
9. Tag.
Fehlen
Unge-
gänzlich
stört.
bis zum
6. Tage,
dann all-
mählich
wiederkeh-
rend, ab-
ge-
schwächt
noch am
46. Tage.
Fehlen
Unge-
gänzlich.
stört.
Fehlen.
Unge-
stört.
Fehlen d. o]
Refl. von lö
gerer Dar
als Sehs-
rung.
Störung d. 0
Refl. von ki
zerer Dai
als Sehs
Abschwä-
chung d. 0
Refl. von läj
gerer Dar
als Sehsi
Fehlen d. O]
Refl. von lä
gerer Dan
als Sehsl
Fehlen d. o|
Refl. von la
gerer Dau
als Sehsl
— 331 —
Art der
Operation
Ort der Operation
(Section)
S ehstörung
gegen Fleisch
gegen
Licht
Optische
Reflexe
Nasen-
lid-
reflex
Bemerkungen
Exstirpa-
tion ca. ^ji
cm. tief.
Oberfläch-
liche Ex-
stirpation.
Oberfläch-
liche Ex-
stirpation.
Oberfläch
liehe Ex-
stirpation.
Links. Nach vorn etw.
über die Stelle Aj
hinausreichend.
Rechts. Sagittal 12,5
mm, frontal 15 mm.
Tiefgreifende Zerstö-
rung unterhalb der
Auflagerung, lateral
noch darüberhinaus.
Links. Sagittal 11 mm,
frontal 14 mm. Tief-
greifende Zerstörung
im ganzen Gebiet
der Auflagerung.
Rechts. Ausgedehnter
u. tiefgreifender De-
fect d. dorsalen Rin-
den- u. Markschicht.
Linkes Auge: Typi-
scher nasaler Strei-
fen bis zum 6. Tage,
zuletzt noch oben
nachweisbar. Rech-
tes Auge: Typische
Hemianopsie von un-
ten innen nach oben
aussen verschwin-
dend. Dauer 7 Tage.
6. Tag: Stossver-
such weist in der un-
teren, scheinbar freien
Hälfte des Gesichts-
feldes noch Ambly-
opie nach.
Dauer 22 Tage. Zuerst
nur einen unteren
Abschnitt, dann die
mediale Hälfte frei-
lassend, schliesslich
nur im oberen Qua
dranten. Niemals
Blindheit, sondern
nur Amblyopie im
befallenen Gebiet.
Rechts: Vom 2.-4
Tage laterale Hälfte
des Gesichtsfeldes
blind, am 5. Tage
nur noch ein Viertel,
am 11. Tage nichts
mehr.
Dauer mindestens 13
Tage, wahrscheinlich
länger, typische He
mianopsie.
Nichts
Sicheres.
Fehlen bis
zum 8.
Tage gänz-
lich, bis
zum 13.
Tage abge-
schwächt.
Nicht
nachweis-
bar.
Fehlen an-
fänglich
gänzlich,
dauernd
abge-
schwächt.
Wie gegen
Fleisch.
Dauer aber
nur 5 Tage.
Fehlen
gänzlich
bis zum 5
Tage, von
da an bis
zum
Schluss d.
Beob.
abge-
schwächt.
Fehlen in
der ersten
Periode,
am33.Tage
noch abge-
schwächt.
Unge-
stört.
Unge-
stört.
Unge-
stört.
Sehstörung
umgekehrt wie
das Schema;
siehe jedoch
Stossversuch.
Abschwä-
chung d. opt.
Refl. von län-
gerer Dauer
als S ehstö-
rung.
Nur Amblyo-
pie, Störung d.
opt. Refl. viel
ausgesproche-
ner als Seh-
störung.
Störung d. opt.
Refl. von län-
gerer Dauer
als Sehstö-
rung.
Störung d. opt.
Refl. von län-
gerer Dauer
als Sehstö-
rung. Staupe.
— 332
o
o
Sehstörung
Nasen-
pq
Art der
Ort der Operation
1
Optische
lid-
Bemerkungen
:^
Operation
(Scction)
gegen Fleisch
gegen
Licht
Reflexe
reflex
74
Oberfläch-
Rechts. Sagittal 11,5
Hemianopisch mit
Ungefähr
Fehlen
Unge-
Störung d. opt.
liche Ex-
mm, frontal 13 mm.
vorwiegender Bethei-
wie gegen
gänzlich
stört.
Refl. von län-
stirpation.
Massig tiefgreifende
ligung des oberen
Fleisch.
bis zum 14.
gerer Dauer
Zerstörung unterhalb
Quadi:anten. Abklin-
Tage, abge-
als Sehstö-
d. Auflagerung. Tief-
gend mit lateraler
schwächt
rung.
greifende Spaltbil-
Unsicherheit. Dauer
bis zum
dung in der weissen
16 Tage.
Schluss
Substanz.
der Beob.
75
Oberfläch- Links. Sagittal 14mm,
Zuerst typisch hemi-
Aehnlich
Fehlen
Unge-
Sehstörung z.
liehe Ex-
frontal 16 mm. Da-
anopisch, später auf
wie gegen
gänzlich
stört.
Theil dem
stirpation.
vor noch eine sagit-
den unteren Qua-
Fleisch.
bis zum
Schema ent-
tal 8 mm, fi'ontal 5
dranten beschränkt.
6. Tage,
sprechend.
mm messende Er-
Dauer 17 Tage.
dann all-
Unsichere
weichung der Rinde.
mählich
Randzone. Stö-
Tiefgreifende kegel-
wiederkeh-
rung d. opt.
förmige Zerstörung
rend, am
Refl. von län-
^
im ganzen Gebiet der
21., ja noch
gerer Dauer
Auflagerung.
am 50.
Tage abge-
schwächt.
als Sehstö-
rung.
76
Flache Ex-
Links. Sagittal 11,5
Nur am 2. Tage.
Wie gegen
Fehlen bis
Unge-
Störung d. opt.
stirpation.
mm, frontal 12,5 mm.
Ziemlich tiefgrei-
fende Zerstörung d.
ganzen Rinde und
des oberflächlichen
Marklagers.
Fleisch.
zum 16.
Tage, dann
abge-
schwächt
bis zum
Schluss
der Beob.
stört.
Refl. von län-
gerer Dauer
als Sehstö-
rung.
Z u s a m m e 11 f a s s u n g.
I. Selistörungen (aa Reaction gegen Fleisch): In erster
Linie interessirt natürlich die Frage, ob bei allen diesen Versuchen
die Stelle des deutlichen Sehens vorzugsweise geschädigt
und ob sie rindenblind, d.h. „für alle Folge" total blind war.
Letzteres ist zunächst für alle hier angeführten Versuche zu verneinen.
Die überhaupt nachweisbare Sehstörung dauerte in keinem bis zu
Ende beobachteten Falle länger als 22 Tage (Beob. 71), in einem Falle,
bei dem Sehstörung wegen Staupe nicht bis zu Ende verfolgt werden
konnte (Beob. 66) war am 22. Tage noch der obere äussere Quadrant blind.
Dabei ist noch die Frage, auf die ich alsbald zurückkomme, ob die Stelle
des deutlichen Sehens so lange blind war, ausser Acht gelassen.
Ersteres ist gleichfalls für alle diese Versuche mit einer einzigen
— 333 —
Ausnahme zu verneinen. Diese Ausnahme betrift't die Beob. 75, l>ei
der die Selistörung einen von dem sonst bei dieser Versuchsreihe zu
beobachtenden Typus abweichenden Verlauf nahm. Zuerst freilich trug
das Skotom einen typisch hemianopischen Charakter. Am 5. und 6. Tage
aber hellte sich das mittlere Drittel der oberen Gesichtsfeldhälfte mehr
und mehr auf imd am 7. Tage war die ganze obere Gesichtsfeldhälfte
frei, so dass nur der untere' äussere Quadrant blind erschien. An diesen
schloss sich aber eine annähernd kreisrunde unsichere Zone, welche
die Stelle des deutlichen Sehens einnahm und sich noch etwas in den
oberen inneren Quadranten hineinerstreckte. An dieser Stelle reagirte
der Hund manchmal auf ganz kleine, ihm mittelst des Stossversuches
gezeigte. Stückchen Fleisch, manchmal reagirte er nicht. Am 8. Tage
hatte sich diese Stelle dadurch etwas verkleinert, dass der obere innere
Quadrant nunmehr auch von dieser Unsicherheit ganz frei geworden
war und vom 9.— 17. Tage war dann nur noch ein sich allmählich ver-
kleinernder und aufhellender unterer lateraler Sector amblyopisch. Vom
18. Tage an war auch in diesem Falle, weder an der Stelle des deut-
lichen Sehens, noch an irgend einer anderen Stelle des Gesichtsfeldes
eine Sehstörung mehr nachweisbar. In allen anderen Fällen zeigte die
Sehstörung im Allgemeinen denjenigen Typus und Verlauf, den ich als
für den Hund typisch hemianopisch zu bezeichnen pflege, d. h. das
vornehmlich geschädigte Auge war anfänglich bis auf einen mehr oder
minder breiten nasalen Streifen, dem ein blinder nasaler Streifen des
anderen Auges entsprach, blind. Dann verkleinerte sich das Scotom
allmählich in der Richtung von unten innen nach oben aussen, so dass
jedenfalls zunächst der untere innere Quadrant wieder functionstüchtig
wurde, während in einer Anzahl von Fällen die Sehstörung sich dann
auf den oberen äusseren Quadranten zurückzog, in anderen Fällen aber
mehr eine sichelförmige oder streifenförmige, die temporale Partie des
Gesichtsfeldes einnehmende Gestalt zeigte. Ich habe die einzelnen Be-
obachtungen nach der Form der Scotome in der angegebenen Reihen-
folge geordnet, ohne jedoch den letztgedachten Verschiedenheiten eine
besondere Bedeutung beizumessen. Von Wichtigkeit ist meiner Ansicht nach
nur die constant und ausnahmslos gefundene Thatsache, dass die un-
tere nasale Partie des geschädigten Gesichtsfeldantheiles
sich stets zuerst wieder aufhellte, so dass sie den ungeschä-
digten nasalen Antheil dieses Gesichtsfeldes vergrössern half.
Auf diese Weise war natürlich in der Regel, wenn auch nicht;
immer (s. Beobb. 67, 68, 72) anfänglich die Stelle des deutlichen Sehens
blind, weil eben der ganze der verletzten Hemisphäre zugeordnete Ge-
sichtsfeldanthcil blind war. Aber sie war niclit nur nicht vor-
— 334 —
zugsweise geschädigt, sondern gerade sie hellte sich immer
zu allererst wieder auf. Eine Ausnahme macht nur die er-
wähnte Beob. 75.
Eine besondere Stellung nimmt die Beob. 76 ein. Hier war die
Stelle Ai sicherlich sehr ausgiebig zerstört worden und nichts desto-
weniger war nicht nur die Stelle des deutlichen Sehens vom 2. Tage
an und zwar dauernd fimctionstüchtig, sondern eine Sehstörung des in
Frage kommenden Auges war überhaupt nur am 2. Tage und da auch
nur auf der lateralen Hälfte des Gesichtsfeldes nachweisbar.
Besonders zu erwähnen bleibt noch, dass in einer Anzahl von
Fällen, ähnlich wie bei der oben erwähnten Beob. 75 der gänzlichen
Aufhellung einzelner Gesichtsfeldpartien eine unsichere Reaction der-
selben vorausging (Beobb. 65, 67, 68, 71, 73 und 74), d. h. die Hunde
schnappten nach Fleisch, das ihnen in den fraglichen Abschnitten des
Gesichtsfeldes gezeigt wurde, nicht regelmässig, sondern nur zuweilen,
oder aber sie schnappten überhaupt nicht danach, sondern fixirten das-
selbe bloss. Sobald das Bild des Fleisphes jedoch die Grenzen einer
solchen Zone überschritt, erfolgte sofort die Reaction. Ersteres ist also
eine verhältnissmässig sehr häufig zu beobachtende Erscheinung. Ausser-
dem fand sich bei der Beob. 75 noch etwas Aehnliches auf dem nasalen
Streifen des hauptsächlich geschädigten rechten Auges, insofern der
Hund am 2. Tage auf diesem Streifen nur höchst unsicher reagirte,
während am 3. Tage diese unsichere Reaction nur noch die obere Hälfte
dieses Streifens betraf, sich aber nach unten noch als Randzone des
dort schon zurückgewichenen Scotoms erkennen Hess. Da dieser Hund
anfänglich in Folge eines durch Strampeln verursachten Falles vom
Schooss sehr eingeschüchtert war, würde ich dieser. Erscheinung kein
besonderes Gewicht beilegen, wenn sie nicht auch sonst häufig genug
zu beobachten gewesen wäre.
Die Dauer der Sehstörung betrug, wie oben bereits erwähnt,
längstens nicht viel über 20 Tage. Erscheint dieser Zeitraum mit Rück-
sicht auf den Umfang und die Tiefe der angerichteten Zerstörungen
schon ausserordentlich kurz, so frappirt dieser Umstand noch viel mehr,
wenn wir berücksichtigen, dass die Sehstörung in den Beobb. 70, 65
und 72 nur je 7, 9 und 10 Tage nachzuweisen war; dazu kommt dann
noch die Beob. 76 mit einer nur einen Tag nachweisbaren Sehstörung.
bb. Die Sehstörung gegen Licht verhielt sich im Allgemeinen
wie die Sehstörung gegen Fleisch, d. h. die gegen Fleisch reactionslosen
Theile des Gesichtsfeldes zeigten auch bei Belichtung mit der ruhigen
oder oscillirenden Flamme keine Reaction, nur dass die Abgrenzung
dieser Zonen entsprechend der Natur der Untersuchungsmittel weniger
— 335 —
geuau vorzunehmen war. Ausserdem hatte die Schstörung gegen Licht
im Allgemeinen eine kürzere Dauer als die gegen Fleisch, was viel-
leicht auf den gleichen umstand zurückzuführen ist. Eine Bevorzugung
der Stelle des deutlichen Sehens in der Reactionslosigkeit gegen Licht
konnte gleichfalls in keinem Falle nachgewiesen werden.
2. Die optischen Reflexe waren in den 12 uns hier beschäf-
tigenden Fällen 11 mal länger gestört als das Sehvermögen des yor-
nehmlich geschädigten Auges; in dem 12. Falle (Beob. 66) dauerte di)
Sebstörung mindestens 22 Tage, nachher war der Hund bis zu seinem
Tode wegen Staupe nicht mebr zu untersuchen gewesen. Die opti-
schen Reflexe fehlten aber gänzlich nur 6 Tage lang und waren dann
noch 3 Tage abgeschwächt. Zu jener Zeit sah der Hund aber bereits
wieder auf dem vornehmlich in Betracht kommenden Theile des Ge-
sichtsfeldes, nämlich der Stelle des deutlichen Sehens und den medialen
zwei Dritteln der unteren Hälfte. Von den übrigen 11 Hunden war in
einem Falle wegen Staupe nicht zu bestimmen, wie lange die totale
Aufhebung der optischen Reflexe dauerte, während eine Abschwächung
derselben noch am 32. Tage, zu einer Zeit als der genesene Hund sicher
bereits überall wieder sah, zu constatiren war. Dabei war das Sehver-
mögen des ganzen medialen Gesichtsfeldabschnittes bereits am 8. Tage
wiedergekehrt.
Bei den noch bleibenden 10 Fällen dauerte die Störung der opti-
schen Reflexe stets länger als die Sehstörung und zwar verliefen 5 von
ihnen so, dass die totale Aufhebung der optischen Reflexe von kür-
zerer Dauer, und 5 so, dass sie von längerer Dauer war als die Seh-
störung. Die 1. Gruppe umfasst die Beobb. 67, 71, 72, 74 und 75.
In allen diesen Fällen mit Ausnahme der Beob. 75 war die Stelle des
deutlichen Sehens bereits kürzere oder längere Zeit frei, während die
optischen Reflexe noch total fehlten und gleichfalls bei allen war die
Störung der optischen Reflexe mit dem Ende der Beobachtung noch
nicht abgelaufen. Diese Abschwächung dauerte also beispielsweise bei
dem Object der Beobb. 67 und 71 noch bei dem Tode des Thieres am
47. Tage an, also 30 Tage länger als die Sehstörung des betreffenden
Auges. Die 2. Gruppe umfasst die Beobb. 65, 68, 69, 70 und 76.
Unter diesen ist zunächst die Beob. 76 zu erwähnen, bei der eine Seh-
störung überhaupt nur am 2. Tage zu erkennen war, während die opti-
schen Reflexe 16 Tage total fehlten und dann noch bis zum Tode des
Thieres am 21. Tage abgeschwächt waren. In einem Falle (Beob. 70)
dauerte das totale Fehlen der Reflexe ungefähr gleich lang wie die
Sehstörung, ihre Abschwächung noch 5 Tage länger. In der Beob. 65
fehlten die optischen Reflexe 14 Tage länger als die Dauer der Seh'
— 336 —
Störung betrug. Bei der Beob. 68 waren es mindestens 7 Tage und
bei der Beob. 69 war ebensowenig wie bei der Beob. 68 diese Zeit-
dauer zu bestimmen, da jener Hund am 28. Tage getödtet wurde, wäh-
rend an diesem eine 2., das fragliche Auge in Mitleidenschaft ziehende
Operation vorgenommen wurde. Jedenfalls waren die optischen Reflexe
bei dem letzteren noch ca. 3 Monate nach der 1. Operation überhaupt
nicht oder nur andeutungsweise vorhanden. Es ist nicht ohne In-
teresse darauf hinzuweisen, dass eine solche andeutungsweise Reac-
tion, d. h. ein leichtes Zucken des oberen oder des unteren Lides bei
der Annäherung der flachen Hand auch bei dem Hunde der Beob. 65 zu
beobachten war.
Alles in allem ergiebt sich also, dass die Schädigung
der optischen Reflexe fast ausnahmslos weiter reicht als die
Sehstörung und dass sie ausnahmslos weiter reicht als die
Blindheit der Stelle des deutlichen Sehens.
3. Der Nasenlid reflex war nur einmal (Beob. 65), und zwar
auf die Dauer von 7 Tagen gestört. Gerade in diesem Falle hielt sich
die vordere Grenze der Narbe bei intacten Hirnhäuten sehr weit von
dem Orbiculariscentrum entfernt.
ß. Secundäroperationen.
BeobachtuMS"" '^'^•
Tertiävoperation. 1. Operation im Planum seraicirculare vor 5Yo Monaten
mit Sehstörung; als unrein nicht verwerthet, 2. Operation im Gyrus sigmoides
vor ca. 2 Monaten ohne Sehstörung. Aufdeckung linl(s hinten über Stelle A^
und Nachbarschaft. Die Dura ist stellenweise mit der Pia verwachsen. Mehr-
fache ziemlich tief gehende Unterschneidung der freigelegten Rindenpartie
senkrecht auf die Falx zu.
Motilitätsstörungen fehlen.
Pia'. 122.
— 337 —
Sehstörung: Gegen Fleisch fehlt. Gegen Licht häufig scheuend, reclits
eher noch empfindlicher.
Optische Reflexe: Abgeschwächt, aber auch links schwach bis zum
Schluss der Beobachtung.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet am 8. Tage.
Section: Zwischen vorderer, mittlerer und. hinterer Operationsstelle
innige, unlösbare Verwachsungen zwischen Dura und Pia. Die Aullagerung
sitzt der Stelle A^, sowie deren vorderer, medialer und lateraler Nachbarschaft
auf. Auf dem Durchschnitt zeigt sich, etwa ^/^ cm nach innen gehend, eine
Zerstörung der Rinde, nur eines Theiles der Marksubstanz, theilweise bis in
die Gegend der Calcarina gehend. Dieser Bezirk ist blutig imbibirt und auf-
gelockert. Ganze Hemisphäre atrophisch.
Tertiäroperation mit Zerstörung der Stelle A^ ohne Sehstörung.
Beoba.clitiiiig' T'S.
Secundäroperation. 1. Operation vor ca. ö'/g Wochen im Orbiculariscen-
trum. Aufdeckung links hinten, wobei der Knochen bis in die vordere Ope-
rationslücke fortbricht. Abtragung der Dura auf 14 mm frontal, 11 mm sagit-
tal. Unterschneidung der Rinde mit Präparatenheber.
Fig. 123.
Motilitätsstörungen fehlen .
Seh Störung fehlt.
Optische Reflexe: Fehlen bis zum 5. Tage; von diesem Tage an bis
zum Schluss der Beobachtung abgeschwächt vorhanden.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet nach ca. 3^2 Wochen.
Section: Häute normal. Die Auflagerung bedeckt die Stelle Aj, nach
hinten nicht ganz, nach vorn etwas darüber hinausreichend. Auf dem Durch-
schnitt sieht man ausgezeichnet deutlich die Unterschneidungsspalte, die ziem-
lich tief unter der Rindenoberfläche nach medial bis in die Längsspalte reicht,
hier aber die Pia nicht durchstossen hat. Von der Mitte der Spalte geht etwa
Hitzig, Gesammelte Abliamll. II. Tlieil. 22
— 338 —
1/2 cm lief ein spaliförmiger Erweichungsherd in der weissen Substanz nach
unten. Rinde der unterschnittenen Stelle heller verfärbt.
links
rechts
Fig. 124.
Untersclmeidung der Stelle A^^ als Seciiiidäroperation ohne Seh-
stöning.
Derselbe Hund von Beob. 26. Aufdeckung links ganz hinten auf 18 mm
frontal, 16 mm sagittal. Unterschneidung durch 3 Einstiche mit dem Präpa-
ratenheber senkrecht und schräg auf die Falx.
Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung fehlt.
Optische Reflexe: Vor der Operation beiderseits schwach und oft
fehlend, sind sie nach der Operation links veränderlich, fehlen rechts immer
bis zum 8. Tage, dann schwächer als links.
Fig. 125.
Nasenlid reflex: Von der I.Operation her dauernd wenig abgeschwächt.
Getödtet am 23. Tage.
— 339 —
Scclion: Pia und Dura zwischen vorderer und hinterer Operationsstello
verwachsen; vorn leicht, vor der hinteren Stelle etwa 1 cm breit so fest, dass
die Trennung nur mit Verletzung der Hirnoberfläche möglich gewesen wäre.
Die Aullagerung reicht medial bis an die Medianspalte, nach vorn nicht ganz
bis an die vordere Grenze der „Sehsphäre", doch geht die innige Verwachsung
der Dura noch 1 cm nach vorn, nach lateral bis etwa an die laterale Grenze
der „Sehsphäre", nach hinten bis an den hinteren Pol. Auf dem Durchschnitt
zeigt sich dieUnterschneidungsspalte von lateral nach medial im Bogen gehend
etwa an der Grenze zwischen grauer und weisser Substanz. Die Spalte geht
nicht ganz bis an die mediale Fläche der Hemisphäre. Hemisphäre deutlich
atrophisch.
Untersclmeidung der Stelle A^ als Secuiidäroperation. Schädigung
fast der gesammten Convexität der „Sehsphäre" ohne Sehstörung.
Derselbe Hund von Beob. 63. Aufdeckung links hinten auf 16 mm sagit-
tal, 14 mm frontal. Unterschneidung der Rinde von lateral nach medial und
schräg nach vorn zu.
Fig. 126.
Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung fehlt.
Optische Reflexe nur am 4. Tage etwas abgeschwächt.
JSfasenlidreflex ungestört.
Getödtet am 9, Tage.
Section: Häute normal. Die Auflagerung nimmt die Stelle A^ ein, nur
medial bis an die Medianspalte darüber hinausgreifend. Auf dem Durchschnitt
sieht man eine tiefe Narbe, die die Rinde in der ganzen Ausdehnung der eben
92*
— 340 —
beschriebenen Fläche ersetzt und sich verschmälernd etwa ^4 ci^^ tief in die
weisse Substanz erstreckt.
links
rechts
Fig. 127.
Zerstörung der Stelle Ai als Secundäroperation. Keine Sehstörung;
kaum Störung der optischen Reflexe.
Beobachtviug,' Sl.
Derselbe Hund von Beob. 53. Aufdeckung links hinten, ünterschnei-
dung der freigelegten Rinde.
Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung fehlt.
Fig. 128.
Optische Reflexe: Am Schluss der ersten Beobachtung nur noch eine
Abschwächung gegen schmale Hand zeigend, fehlen sie jetzt bis zum Schluss
der Beobachtung.
Nasenlidreflex: Fehlt am 2. Tage, dann schwächer, vom 8. Tage an
noch minimale Differenz,
— 341 —
Getödtet am 23. Tage.
Section: Häute uormal. Die Audagerung entspricht der Stelle A^^,
greift aber nach vorn und hinten etwas darüber hinaus. Auf dem Durchschnitt
links
rechts
Fig. 129.
zeigt sich ein blutig verfärbter narbiger Zug, der theilweise von kleinen Er-
vpeichungsherden umgeben sich von der Narbe nach innen etwa 1 Y^ cm tief
bis weit in die Marksubstanz hinein erstreckt; die Rinde fehlt im Bezirk der
Narbenkappe. Ganze Hemisphäre atrophisch.
Stelle Ai und Umgebung als Secundäroperation. Keine Sehstörung.
Keobachtiiiig,- SS.
Derselbe Hund von Beob. 31. Anätzung der Stelle A^ und ihrer nächsten
Umgebung in einer Ausdehnung von 16 mm sagittal, 15 mm frontal mit öproc.
Fig. 130.
— 342 —
Carbolsäure. Die Dura fand sich normal und nicht adhärent, die Pia injicirt
(vorangegangen waren 2 Operationen im Gyrus sigmoides, Scarificationen des
vorderen Schenkels — Beob. 31 — und eine Exstirpation, die 2. Operation
mehr als 3 Monate vor der 3. Operation).
Motilitätsstörungen: Am Schluss des 2. Versuches kaum noch nach-
M-eisbar, waren bereits 5 Stunden nach der Operation in verstärktem Grade
vorhanden, nahmen nur allmählich ab und waren noch bei Schluss der Beob-
achtung deutlicher als vor Beginn desselben nachweisbar.
inks H i ^H rechts
Fig. 131.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Hierüber ist wörtlich Folgendes notirt:
2. Tag: Offenbar nur ganz lateral eine Sehstörung; 3. Tag: Deutliche Seh-
störung fehlt, doch scheint er links mit grösserer Energie nach Fleisch zu
schnappen; 5. Tag: Vielleicht rechts ganz aussen eine geringe Sehstörung,
aber nicht deutlich. An den übrigen Tagen konnte überhaupt keine Sehstörung
entdeckt werden. Gegen Licht war die Reaction am 12. Tage beiderseits
gleich, vorher wegen Gleichgültigkeit gegen diesen Reiz nicht zu bestimmen.
Optische Reflexe ungestört.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet nach 4 Wochen mit Curare.
Section: Dura zwischen vorderer und hinterer Operationsslelle leicht
mit der Pia verwachsen. Die derbe narbige Auflagerung bedeckt die Stelle A^^,
vielleicht deren lateralsten Streifen freilassend und nach hinten darüber hin-
ausreichend. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Die Rinde besonders in
der II. Urwindung vollständig durch Narbengewebe ersetzt. Etwa Y2 ^^ unter
der Oberfläche 2 blutig infiltrirte Erweichungsherde, die beide bereits in der
weissen Substanz liegen. Die ganze linke Hemisphäre atrophisch.
Anätzung der Stelle A^ und ihrer nächsten Umgebung. Sehstörung,
wenn überhaupt vorhanden, nur angedeutet. Keiue Störung der opti-
schen Reflexe. Verstärkung des von der 2. Operation gebliebenen Restes
der Motilitätsstörungen. Die leichte Verwachsung der Hirnhäute kann
— 343 —
natürlich auf jode der 3 Operationen bezogen werden. Ebenso kann
die Injection der Pia auf jede der beiden vorangegangenen Operationen
bezogen werden.
Beobacli-tung- S3.
Derselbe Hund von Beob. 52. Aufdecliung- liinten links auf 30 mm sagit-
tal, 16 mm frontal. Auslöffelung wegen colossaler Blutung aus Knochen und
Dura nicht genau zu localisiren.
Motilitätsstörungen: Setzt anfänglich Verschiebungsversuchen der
Pfoten rechts geringeren Widerstand entgegen als links.
Seh Störung fehlt.
Optische Reflexe fehlen bis zum Schluss der Beobachtung.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet am 11. Tage.
Section: Die Narbe reicht nach vorn sehr weit, bis etwa ^/4 cm hinter den
hinteren Schenkel des Gyrus sigmoides, nach hinten bis etwa in die Mitte der
Fig. 132.
Stelle A-^, nach lateral fast bis an den Rand der III. Urwindung, nach medial
setzt sich die Narbe auf die mediale Fläche der Hemisphäre fort. Von der
vorderen nach der hinteren Narbe zieht sich ein Streifen, wo die Dura unlös-
bar mit der Pia verwachsen ist. Durchschnitt zeigt eine tiefgehende Zerstörung
der Gehirnmasse. Von der lateralen Begrenzung der Stelle A-^ bis zur medialen
Fläche der Hemisphäre durchgehend Rinde und weisse Substanz völlig zer-
stört und durch blutig imbibirtes Narbengewebe ersetzt.
Tiefgreifende Zerstörung der vorderen Hälfte der Stelle Ai, der
vorderen Hälfte und der medialen Partie der Sehsphäre als Secundär-
operation. Keine Sehstörung.
Derselbe Hund von Beob. 30. Aufdeckung der Stelle A^ links, nach
hinten, medial und lateral darüber hinausreichend, auf 17 mm sagittal, 16 mm
— 344 —
frontal. Auslöffelung mit Da^iel'schem Löffel unter Führung des Praparaten-
hebers auf 2 — 3 mm Tiefe. Stehen bleiben ca. 2 mm Dura und Hirn am media-
len Rand der Lücke.
Motilitätsstörungen: AmSchluss der Beobachtung 30 kaum noch nach-
weisbar, treten aber post operationem am 2. Tage wieder in erheblicher Stärke
auf und verlieren sich nur langsam, so dass sie erst am 21. Tage gänzlich
verschwunden waren.
Fig. 133.
links
rechts
Fig. 134.
Sehstörung fehlt (Pveaction gegen Licht gelegentlich mit Blinzeln).
Optische Reflexe: Am Schluss der 1. Operation gegen flache Hand
beiderseits gleich, gegen schmale Hand tageweise schwächer. Am 2. Tage
post operationem gegen flache Hand schwächer, aber vorhanden, gegen schmale
Hand fehlend; allmählich wiederkehrend, am 21. Tage kaum noch different.
I
345
Nasenlidveflex ungestört.
Getödtet am 30. Tage.
Section: Vor der hinteren Operationsstelle leichte Verklebung zwischen
Dura und Pia, sonst beide Häute normal. Die Narbe reicht medial bis an den
medialen Rand, nach hinten bis ziemlich an den hinteren Pol, lateral etwa
Y2 cm über die Stelle A-^ hinaus, nach vorn bedeckt sie sie nicht ganz.
Durchschnitt durch die Mitte der Narbe zeigt eine Zerstörung in Form eines
Pilzes; der Hut wird durch eine grössere Narbenkappe gebildet, die das Rin-
dengrau in Ausbreitung des eben beschriebenen Gebietes ersetzt, von diesem
aus geht ein breiter Stiel nach innen 5,4 mm in die weisse Substanz.
Tiefgreifende Zerstörung der Stelle A^. Keine Sehstörung. Ver-
stärkung des von der 1. Operation gebliebenen Restes der Motilitäts-
störungen.
Vorher4 (nicht 3, wie in Bd. 36, H. 1, S. 230 gesagt) Versuche an dem
frontalen resp. mittleren Theil der gleichen Hemisphäre (vgl. Beobb. 44 und
45). Aufdeckung hinten links auf sagittal 14 mm, frontal 13 mm. Ausserdem
grosses Knochenstück nach vorn weggebrochen, unter dem die Dura aber in-
tact gelasssen wird. Der freiliegende Rindenbezirk wird mit der schmalen
Seite des Präparatenhebers von lateral nach medial (lateral ziemlich tief gehend)
unterschnitten.
Pia-. 135.
Motilitätsstörungen: Vor dieser Operation noch deutlich, erfahren
sie jetzt eine erhebliche und langanhaltende Verstärkung.
Sehstörung: Gegen Fleisch fehlend. Gegen Licht: 6 Stunden nach
der Operation rechts völlig gleichgültig, links starkes Blinzeln. Reaction
— 346 —
durch Abwenden vom 2.-8. Tage links vorhanden, rechts fehlend, dann bei-
derseits gleich.
Optische Reflexe: Vorder Operation noch abgeschwächt, fehlen bis
zum Schluss der Beobachtung.
Nasenlidreflex: Vor der Operation abgeschwächt, bleibt bis zum
.Schluss der Beobachtung abgeschwächt.
Gelödtet am 23. Tage mit Curare.
Section: Dura nicht verdickt, mit Pia nur zwischen vorderer und hin-
terer Operationsstelle leicht verwachsen. Der narbige Verschluss der hinteren
Knochenlücke ist nur locker m'it der llirnmasse in Zusammenhang, löst sich
rechts
Fio-. 136.
sofort los, sobald die etwas geschwellten und aufgelockerten Einstich- resp.
Ausstichstellen der Unterschneidung freiliegen. Die Operation hat genau die
M unk 'sehe Stelle A^ unterschnitten. Der Einstich ist noch etwas lateral von
der lateralen Begrenzung dieser Stelle, der Ausstich etwas lateraler als die
mediale Begrenzung der Stelle. Die Rinde zeigt sich in dem unterschnittenen
Theil entfärbt. Diese Veränderung findet sich auch ein Stück lateral resp.
medial von der Einstich- resp, Ausstichöffnung. Von der Unterschneidungs-
spalte geht ein bräunlicher, leicht erweichter Herd etwa Y4 cm weiter ins
Mark. Hemisphäre wenig atrophisch.
Die Stelle A^ war durch Untersclmeidung gänzlich, vielleicht mit
Ausnahme ihres medialsten Randes ausgeschaltet. Der Hund hätte also
mit der Stelle des deutlichen Sehens dauernd rindenblind sein müssen.
Er reagirte gegen Fleisch aber stets auf allen Theilen seines Gesichts-
feldes. Gegen Licht fehlte die Reaction freilich, aber nur bis zum
8. Tage; dauernd blind war er also auch gegen diesen Reiz nicht.
Verstärkung des von der 4. Operation gebliebenen Restes der Motili-
tätsstörungen und der Störung der optischen Reflexe.
— 347 —
BeobaclitMiis' So.
Derselbe Hund von Beob. 25. (ünterschneidung des Gynis sigraoides.)
Aufdeckung der Stelle A-^ linlcs. Schädellüclie sagittal 17, frontal 14 mm.
Flache ünterschneidung dieser Stelle mit dem Präparatenheber fast bis zur
Palx reichend.
Motilitätsstörungen: Bis zum 7. Tage, abnehmend, etvvas^stärker
als vor Beginn der Operation.
Sehstörung: Gegen Fleisch fehlt im Uebrigen, nur am 3. Tage wird
beobachtet, dass der Hund zwar, sobald das Fleisch im Gesichtsfelde erscheint,
lixirt, aber erst zuschnappt, Avenn es in die Stelle des deutlichen Sehens ein-
V\<r. 137.
links
rechts
Fig. 138.
tritt. Gegen Licht: Bis zum 4. Tage indifferent; von diesem Tage an wendet
er sich beiderseits gleichmässig wenig energisch ab.
Optische Reflexe: 6 Stunden nach der Operation rechts fehlend,
links deutlich. Am 2. Tage beiderseits fehlend, vom 3.-5. Tage rechts feh-
— 348 —
lend, links schwacli. Vom 6. — 12. Tage rechts abgeschwächt vorhanden, am
13. Tage gegen flache Hand beiderseits gleich, gegen schmale Hand noch ab-
geschwächt, dann beiderseits gleich.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet am 23. Tage mit Curare.
Section: Häute normal. Die Auflagerung entspricht ziemlich genau
der Stelle A^ ; der Einstich, der die Rinde der Stelle A^ flach abgetrennt hat,
beginnt an deren lateraler Grenze und reicht bis fast zur Medianspalte. An
der Umschlagstelle des Randwulstes befindet sich ein kleiner Erweichungs-
herd. Die Rinde ist ziemlich ausgedehnt zerstört. Die durch die Unterschnei-
dung entstandene Spalte sieht man noch deutlich, nur lose Verwachsung. In
die Markstrahlung herunter zieht sich ein spaltförmiger Erweichungsherd, der
in der Tiefe etwas ausgedehnter wird.
Flache Unterschneidung der Stelle A^. Fehlen der Sehstörung bis
auf leichte Amblyopie, dagegen Störung der optischen Reflexe. Ver-
stärkung des von der 1. Operation gebliebenen Restes der Motilitäts-
störungen.
Beobaclituiigj" ST'.
Derselbe Hund von Beob. 48. Aufdeckung ganz hinten links auf 15 mm
sagittal, 17 mm frontal. Dura verdickt, zeigt dicke flockige zottige Auflage-
rungen auf der äusseren Seite. Innenseite glatt, glänzend. Pia zart. Unter-
schneidung der freiliegenden Rinde.
Motilitätsstörungen fehlen.
Pia-. 139.
Seh Störung: Gegen Fleisch: Am 2. und 3. Tage bis auf einen schma-
len nasalen Streifen. Am 4. Tage bis auf Yg zurückgegangen: am 5. Tage
fast ganz, am 6. Tage ganz verschwunden. Gee:en Licht: Unmittelbar nach
— 349 —
der Operation fehlend, am 2. Tage unregelmässige und schwache Kcaclion,
wahrscheinlich durch Wärme (links wüthend), später wie gegen Fleisch.
inlis m ^' ' ß -.- "^ ^H rechts
Fig. 140.
Optische Reflexe: Gleich nach der Operation deutlich, am 2. und
3. Tage nur angedeutet vorhanden, am 4. Tage völliger Lidschluss.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet nach. ca. 4 Wochen.
Section: Häute normal. Dem hinteren Pol sitzt eine 14 mm im Durch-
messer grosse Auflagerung auf, die auch die Stelle k^ vollständig bedeckt.
Durchschnitt: Von der Rindenoberfläche erstreckt sich die Narbe etwa 5 mm
tief, theilweise blutig verfärbt, Rindencontouren völlig zerstörend ; ausserdem
erstreckt sich bandförmig ein Erweichungsstreifen centralwärts, um dann plötz-
lich im Markweiss umzubiegen und dann lateral sich bis zur Rinde zu er-
strecken.
Stelle A| und Umgebung als Secimdäroperation. Selistörung von
fünftägiger Dauer.
I3eol>a,ehtxiiig- ÄS.
Derselbe Hund von Beob. 33. Autdeckung links hinten auf sagittal
19 mm, frontal 18 mm, Aetzung mit 5proc. Carbolsäure.
Wund verlauf: Der Hund kratzte sich die Wunde wiederholt auf, vom
9. Tage an war sie nicht zu schliessen, sondern granulirte unter oberfläch-
licher Eiterung langsam zu.
Motilitätsstörungen: Nach der 1. Operation verschwunden, leben
sie jetzt wieder auf; nachweisbar bis zum 14. Tage. Die rechte Lidspalte war
bis zum 7. Tage erweitert.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage unsicher, scheint medial
besser zu sehen, sonst fehlend. Gegen Licht: Am 2. und 3. Tage Reaction
abgeschwächt, aber vorhanden.
Optische Reflexe: Fehlen oder sind abgeschwächt ca. 5 Wochen.
Nasenlidreflex abgeschwächt bis zum 6. Tage.
Getödtet nach ca. 6 Wochen.
350
Section: Häute normal. Die Auflagerang reicht medial bis an die
Längsspalte und nimmt die vordere Hälfte der „Sehsphäre", sowie einen Theil
w
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■
Fig. 141.
der „Augenregion" ein. kMi dem Durchschnitt zeigt sich die Rinde in diesem
Gebiete zerstört und durch Narbengewebe ersetzt. Die weisse Substanz ist
nicht getroffen. Der Ventrikel ziemlich stark nach der Narbe ausgezogen.
Oberflächliche Zerstörung der vorderen Hälfte der „Sehsphäre" als
Secundäroperation ohne nennenswerthe Sehstörung.
i3eol>aclitrmg; @0.
Primäroperation vor ca. 9 Wochen im medialen Theile der sogenannten
Augenregion nebst angrenzendem Theil der vordersten Partie der „Sehsphäre."
Fig. 142.
Freilegung und Auslöffelung der medialen Partie der Sehsphäre bis zum hin-
teren Pol incl. der Stelle A^.
Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage bis zur Mitte des Gesichts-
feldes reichend, vom 3.-6. Tage ausserdem noch eine angrenzende mediale
unsichere Zone. Am 7. Tage noch das laterale Drittel einnehmend, dann all-
— 351 —
mählich weiter verschwindend, am 11. Tage nicht mehr naciiwcisbar. Gegen
Licht keine Störung nachweisbar.
Optische Reflexe: Bis zum 5. Tage fehlend, dann bis zum Schluss
der Beobachtung abgeschwächt.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet am 12. Tage.
Section: Häute normal. Die von der 2. Operation herrührende Auf-
lagerung nimmt die I. Urwindung ganz und die mediale Hälfte der ungega-
bolten II. Urwindung ein. Der hintere Rand reicht bis zum hinteren Fol, der
mediale bis zur Medianspalte. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: llin-
dengrau im Bezirk der Narbenkappe zerstört. Die Marksubstanz darunter ist
blutig verfärbt und aufgelockert; der Herd geht durch die weisse .Substanz
hindurch weit in die Tiefe.
Ziemlich tiefgreifende Zerstörung dei* Stelle A^ und Nachbarschaft
als Secundäroperation. Sehstörung von lOtägiger Dauer. Optische
Reflexe länger als Sehen gestört.
Beol3aclxtiuiig' 90.
Einem Hunde war in einer 1. Operation die Gegend der Stelle A^^ auf
ca. 17 mm sagittal, 16 mm frontal freigelegt und mit 5proc. Carbolsäure ge-
ätzt worden. Eine typische, allmählich von medial nach lateral verschwin-
dende Hemiarablyopie, bei der an den späteren Tagen die in den amblyopischen
Fig. 143.
Gesichtsfeldpartien erscheinenden Fleischstückchen zunächst nur fixirt. aber
erst ergritfen wurden, nachdem das Thier mehrere gefressen hatte, war die
Folge gewesen. Darauf waren 2 Operationen im Gyrus sigmoides gefolgt. In
einer 4. Operation wurde die hintere Knochenlücke auf einige Millimeter erwei-
tert und die freigelegte Stelle mit Präparatenheber mehrere Millimeter tief
exstirpirt.
Motilitätsstörungen als Residuum der 2. und 3. Operation: Noch
3 Monate nach der 4. Operation deutlich nachweisbar. Hängt auch noch ge-
streckt, beim Begreifen reactionslos.
— 352 —
Seh Störung: Gegen Fleisch bis zum 15. Tage nur auf schmalem nasa-
len Streifen sehend. Gegen Licht bis dahin fehlend. Bis zum 24. Tage Seh-
störung gegen Fleisch allmählich abnehmend, sodass an diesem Tage Reaction
nur noch aussen unsicher. Gegen Licht Reaction bis dahin allmählich wieder-
kehrend; am 26. Tage Sehstörung nicht nachweisbar, bis auf eine noch nach
3 Monaten erkennbare Abschwächung gegen Licht.
Optische Reflexe: Schon 2 Stunden post operationem und bis min-
destens 4 Wochen nachher gänzlich fehlend, noch nach 3 Monaten schwächer.
Nasenlidreflex ungestört.
Gestorben ö^/g Monate nach der letzten Operation.
links ^»-'^v " *<»■ I / ^ ^^^H i-echts
Fig. 144.
Section: Pia und Dura zart, keine xidbärenz. Die Narbe reicht medial
bis zur medialen Begrenzung der Stelle A^^, ebenso nach hinten und vorn ent-
sprechend dieser Stelle, nach lateral etwa 1 cm über die laterale Grenze der
Stelle A-^ hinaus. Durchschnitt: Die Rinde ist hier völlig zerstört, von der
weissen Substanz ist kaum etwas übrig geblieben, da die Narbenmasse bis zur
Wand des Ventrikels reicht, der sehr stark erweitert und vor allem nach oben
ausgezogen ist. Die ganze linke Hemisphäre ist deutlich atrophisch. Vorn
lateral von der vorderen und hinten lateral von der hinteren Operationsstelle
finden sich schmale, flache erweichte Stellen.
Die Stelle A^ nebst ihrer lateralen Umgebung war einschliesslich
des tiefen Marklagers bis an die Spitze des Seiteuventrikels zerstört.
Dauernde Rindenblindheit der Stelle des deutlichen Sehens auf dem
rechten Auge und des medialen Streifens auf dem linken Auge hätte
die Folge sein müssen. Es bestand zwar eine hochgradige und über-
haupt nicht ganz verschwindende Sehstörung, jedoch war die an-
dauernde Sehstörung keine Rindenblindheit, sondern nur eine, durch
schwächere Reaction gegen Licht sich manifestirende Amblyopie.
353 —
Tabelle IVb.
Centrale Läsionen. Secundäroperationcn.
'o
Seh Störung
Art der
Operation
Ort der Operation
(Section)
o'Cf'en
Optische
Reflexe
Nascnlid-
reflex
Bemerkungen
6
gegen Fleisch
Licht
77
Unter-
Links. Stelle A, und
Fehlt.
Fehlt.
Abgeschwächt
Ungestört.
Keine Schädi-
schnei-
Nachbarschaft.
bis z. Schluss
gung der Re-
dung.
der Beob.
flexe von der
1. Operation
her.
78
Unter-
Links. Stelle Aj. Aus-
Fehlt.
Fehlt.
Bis zum 5. Tage
Ungestört.
Opt. Reflexe
schnei-
schaltung der Rinde.
fehlend, dann
von der Pri-
dung.
abgeschwächt
bis z. Schluss
der Beob.
märoperation
her geschä-
digt.
79
Unter-
Links. Stelle Ai und
Fehlt.
Fehlt.
Vor d. Op. bei-
Wenig
—
schnei-
Umgebung. Aus-
derseits ab-
abge-
dung.
schaltung der Rinde.
Schädigung fast der
ganzen „Sehsphäre".
geschwächt
u. oft fehlend,
nach der Op.
links verän-
derlich, rechts
bis z. 8. Tage
fehlend, bis
z. Schluss der
Beob. abge-
schwächt.
schwächt
von der
1. Opera-
tion her.
80
Unter-
Links. Stelle Aj.
Fehlt.
Fehlt.
Nur am 4. Tage
Ungestört.
—
schnei-
abgeschwächt.
dung.
81 Unter-
Links. Stelle A, und
Fehlt.
Fehlt.
Vor der Op.
Massige
—
schnei-
Umgebung. Tiefgrei-
nur noch ab-
Abschwä-
dung.
fende Zerstörung
auch des Markes.
geschwächt,
fehlen sie jetzt
bis z. Schluss
der Beob.
chung.
82
Anätzung.
Links. Stelle Aj nach
hinten darüber hin-
aus, lateral viel-
leicht einen Streifen
freilassend. Tiefgrei-
fende Zerstörung un-
ter der Auflagerung.
Undeutlich.
V
Ungestört.
Ungestört.
Verstärkung
des von der
1. Operation
gebliebenen
Restes d. Mo-
tilitätsstö-
rung.
83
Auslöffe-
Links. Vordere Hälfte
Fehlt.
Fehlt.
Fehlen gänz-
Ungestört.
Opt. Reflexe
lung.
der Stelle A, und
Nachbarschaft. Tief-
greifende Zerstö-
rung.
lich.
vor der Ope-
ration nor-
mal.
Hitzig, Gesammelte Abhandl. II. Theil.
23
— 354 —
o
S e h s t ö r u n g
Art der
Ort der Operation
Optische
Nasenlid-
Bemerkungen
^
Operation
(Section)
_
,., • 1 gegen
gegen Meisch If^^^^
Reflexe
reflex
84
Oberfläch-
Links. Stelle Ai und
Fehlt.
Fehlt.
Anfänglich
Ungestört.
Lichtreaction
liche Ex-
Umgebung. Ziemlich
Verstärkung d.
gelegentlich
stirpation.
tiefgreifende Zerstö-
rung unter der Auf-
lagerung. ^
'
vorher incon-
stanten Ab-
schwächung,
allmählich
wiederkeh-
Blinzeln. Ver-
stärkung des
von der 1.0p.
gebliebenen
Restes der
~
rend.
Motilitätsstö-
rungen.
85
Unter-
Links. Stelle Ai mit
Fehlt.
8 Tage.
Vor der Op.! Vor der
Verstärkung d.
schnei-
Ausnahme ihres me-
noch abge- Op. abge-
von der 4.
dung.
dialsten Theiles. Er-
schwächt, fch-l schwächt.
Oper, her ge-
weichungsherd unter
len bis zum
bleiben bis! bliebenen
der Operationsstelle.
Schluss der
Beob.
z. Schluss
der Beob.
abge-
schwächt.
Restes der
Motilitätsstö-
rungen u. d.
Störung der
opt. Reflexe.
sn
Flache
Links. Stelle Ai.
Fehlt bis auf
Fehlt.
Fehlend, bzw.
Ungestört.
Reflexe vor der
Unter-
Flache Zerstörung
7\.mblyopie
abge-
Operation
schnci-
unter der Auflage-
am 3. Tage.
schwächt.
normal; Stö-
duug.
rung.
rung der opt.
Reflexe. Ver-
stärkung des
von d. 1. Op,
gebliebenen
Restes der
Motilitätsstö-
rungen.
87
Untci'-
Links. Stelle A, und
llciiiiauo|jisch.
Nur am
Abgcscluväehl
Ungestört.
Bei der Pri-
sch nei-
Umgebung. Tiefgrei-
Dauer 5 Tage.
2. Tage.
bis zum 3.
märoperation
dung.
fende Zerstörung.
Tage.
keine Sehstö-
rung.
88
.Xnätzuug.
Links. Vordere Hälfte
Minimal, nur
Minimal,
Anhaltend ge-
Abge-
Oberflächliche
der „Schsphäre".
am 2. Tage.
am 2. und
stört.
schwächt
Eiterung.
Oberflächliche Zer-
3. Tage.
bis zum
^
störung der Rinde.
6. Tage.
89
Au.slöJTe-
Links. Stelle Ai und
llemianopisch,
Fehlt.
Bis zum 5.
Ungestört.
Opt. Reflexe.
lung.
NacJibarschaft. Ziem-
nach lateral
Tage fehlend,
länger al||
lich tiefgreifende Zer-
verschwin-
dann bis zum
Sehen gesti^
störung.
dend, Dauer
10 Tage.
Schluss abge-
schwächt.
...
— 855
o
o
Sohs töru ng
Art dei"
Ort der Operation
(.)p tische
Nasen lid-
Ueinerkiingcii
d
Operation
(Section)
gegen Fleisch i f .'*^,'-'"
lieJlexc
rellex
)0
Exstirpa-
Links. Stelle Ai und
Typische He-
Wie gegen
Ani'iinglich
Ungestört.
Nach d. 1. Op.
tion.
Nachbarschaft als 2.
mianopsie bis
Fleisch,
fehlend, dau-
zeitweise nur
Dp. an der gleichen
zum 15. Tage,
al)cr dau-
ernd abge-
vVmblyopic.
Stelle. Zerstörung
dann allmäh-
enid Ah-
schwächt.
Dauernde Ab-
der dorsalen Rinde
lich a,bi)eh- scliwii-
schwächung
und des Markes bis
mend. Daueri chung.
des Sehens.
an den Ventrikel.
25 Tage.
Zusammenfassung.
1. Selistörungen. (aa. Reaction gegen Fleisch): Bei den in
der Tabelle IV b angeführten 14 Beobachtungen fehlte jede Sehstörung
gegen Fleisch 8mal (Beobb. 77—81, 83—85), bei der Beob. 82 war
das Resultat undeutlich. Zweimal, in den Beobb. 86 und 88 war eine
minimale Sehstörung nur am 3. bezw. am 2. Tage nachweisbar. Bei
den 3 Beobb. 87, 89 und 90 bestand eine hemianopisclie Sehstörung
von 5-, 10- bezw. 25tägiger Dauer. Von diesen war die Sehstönnig
der Beob. 1)0 eine ungewöhnlich schwere und langdauerndo gewesen,
worauf zurückzukommen sein wird.
bb. Die Sehstörung gegen Licht verhielt sich im Allgemeinen
wie die Sehstörung gegen Fleisch, jedoch war sie bei der Beob. 85
auf die Dauer von 8 Tagen nachweisbai", während sie gegen Fleisch
fehlte; andererseits fehlte sie bei den Beobb. 86 und 8U, bei mehr oder
minder deutlicher Sehstörung gegen Fleisch. Bei der Beob. 90 blieb
die Reaction gegen Licht dauernd (5^/2 Monate nach der letzten Ope-
ration) abgeschwächt.
2. Die optischen Reflexe zeigten eine mehr oder minder deut-
liche Alteration in allen Fällen, auch in denjenigen, bei denen keine
Sehstörung nachweisbar war, nur in dem Falle 82, bei dem das Bestehen
einer Sehstörung kurze Zeit fraglich war, waren sie ungestört. Und
zwar fehlten sie total in 5 von den 8 Fällen ohne Sehstörung gegen
Fleisch auf die Daner von 5 — 23 Tagen. Darüber hinaus bestand eine
Abschwächung von in maximum mindestens 19 Tagen (der Hund wurdj
dann getödtet) bei Beob. 78. Von den übrigen 3 hierher gehörenden
Fällen war eine Absciiwächung von unsicherem Werthe (Beob. 80) nur
am 4. Tage nachweisbar; bei d<!n Beobb. 77 und 84 war eine Ab-
schwächung mindestens 8, l)ezw. 21 Tage vorhanden. Von den übrig
bleibenden 5 Beobachtungen mit Sehstörung waren die oi)tischen Reflexe
23*
— 356 —
bei den Beobb. 88 und 90 wahrscheinlich dauernd abgeschwächt, bei
der Beob. 89 wurde der Hund am 12. Tage vor Ablauf der Abschwächung
getödtet. Der totale Ausfall der optischen Reflexe entsprach bei Beob. 86
mit 5 Tagen einer Sehstörnng von nur einem Tage und bei Beob. 90
mit 28 Tagen einer Sehstörung von 25 Tagen. Auch hier reichte also
der totale Ausfall des optischen Reflexes weiter als die Selistörung.
Eine Abweichung zeigt nur die Beob. 87, bei der die Selistörung 5 Tage
anhielt, während die optischen Reflexe nur 2 Tage abgeschwächt waren.
Von denjenigen Beobachtungen, bei denen zwar keine Sehstörung,
wohl aber eine Störimg der optischen Reflexe zu beobachten war, sind
die Beobachtungen 77, 79, 83 und 85 insofern nicht eindeutig, als sich
bei ihnen eine mehr oder minder ausgesprochene Verwachsung der
Häute, also Zeichen einer vorangegangenen Meningitis fanden. Da nicht
festzustellen ist, ob diese Meningitis von der ersten oder zweiten Ope-
ration herrührt und inwieweit sie die Function meines Facialiscentrums
beeinträchtigte, so können diese Fälle für die Beurtheilung der Ab-
hängigkeit des optischen Reflexes von der Apperception der Gesichts-
objecte nicht verwerthet werden.
Andere Einwendungen mit Bezug auf den fraglichen Punkt lassen
sich gegen die Beobachtungen 78, 80, 81 und 88 insofern erheben, als
bei den 8 ersten von ihnen die Primäroperation in meinem Orbicularis-
centrum und in den beiden andern in dessen Nachbarschaft mit dem
Erfolge vorgenommen worden war, dass eine Schädigung der optischen
Reflexe auf kürzere oder längere Zeit eintrat. Allerdings hatte sicli
dieser Defect zur Zeit der Secundäroperation gänzlich oder fast gänzlich
wieder verloren, sodass die nun erscheinende hochgradige Störung der
Function auf jene Operation direct nicht zurückgeführt werden kann.
Jedoch kann man einwenden, dass das Wiederaufleben der Störung der
optischen Reflexe in ähnlicher Weise zu erklären sei, wie das wieder-
holt beobachtete Wiederaufleben der Motilitätsstörungen in den Extre-
mitäten als Folge von Secundäroperationen im Occipitallappen.
Wenn ich auch diese Einwände keineswegs durchgehends als be-
rechtigt anzusehen vermöchte, so erscheint es mir doch vorsichtiger, von
der Verwerthung derjenigen Beobachtungen, bei denen eine Primärope-
ration in der motorischen Region ausgeführt worden war, für die Be-
urtheilung des Verhältnisses der Störung der optischen Reflexe zur Seh-
störung abzusehen.
3. Der Nasenlidreflex war bei den 14 hier in Frage kommen-
den Operationen 10 mal ungestört, 2 mal bestand von der Primäropera-
tion her eine Abschwächung, der eine Abschwächung der optischen
Reflexe parallel lief. In einem 3. Falle (Beob. 81) bestand gleichfalls
— 357 —
eine Abschwächuiig der optischen Reflexe von der Primäroperation her,
während der Nasenlidreflex nach den vorhandenen Aufzeichnungen am
Schluss der primären Beobachtung keine Differenz mehr zeigte, am
2. Tage nach der Secundäroperation fehlte und dann noch eine allmäh-
lich abnehmende, schliesslich geringe Differenz erkennen liess. Ich
lasse dahingestellt, ob diese nicht noch von der 1. Operation herrührte,
sich der Beobachtung entzogen hatte und durch die 2. Operation nur
eine vorübergehende Verschlimmerung erfuhr. Bei der Beob. 88 end-
lich war der Nasonlidreflex auf die Dauer von G Tagen abgeschwächt,
ohne dass diese Störung auf die Primäroperation bezogen werden durfte.
In diesem Falle reichte die Läsion weiter nach vorn bis in die „Augen-
i'egion" hinein.
B. Atypische Operationen.
Beolbaclxtung" 91.
Derselbe Hund von Beob. 69 (vergl. dort die Figuren). Trepanation
rechts hinten. Hinterer Rand der Knochenlücke 1 cm vor der Lambdanaht,
18 mm sagittal, etwas weniger frontal; medialer Rand ca. ^4 cm von der
Mittellinie. Abtragung der ganzen freiliegenden Rinde ca. 1 cm tief und der
verdeckten Partie bis zur Falx.
Fig. 145.
Motilitätsstörungen: Am 2. Tage auf dem Tisch etwas geringerer
Widerstand gegen üislocationsversuche linkerseits.
Sehstörung: Am 3. Tage stösst der Hund beim Laufen rechts und
links mit dem Kopfe an, fixirt nie deutlich, scheint Futter nur mit Hülfe des
Geruchs zu finden, läuft dabei Treppen ganz geschickt dem Rufe oder Gc-
— 358 —
rauschen folgend auf und ab, ohne jemals gegen die Wand von vorn her an-
zustossen. Bindet man ihm das rechte Auge zu, so läuft er ganz hülfios um-
her, rennt mit der Schnauze gegen die Wand, stolpert die Treppenstufen hin-
unter, weil er den Anfang der Stufen nicht bemerkt etc. Gegen Fleisch: Am
2. Tage linl<s amaurotisch, rechts ein breiter nasaler, etwa bis /.ur Mittellinie
linlis B - A * \ m rechts
Fig. 146.
gehender Streifen blind; 3. Tag: Links amaurotisch, rechts nur eine im un-
teren lateralen Quadranten liegende, von blinden Partieen umgebene centrale
Zone sehend. Am 4. Tage links schmaler nasaler, etwa den vierten Theil des
Gesichtsfeldes einnehmender Streifen sehend, rechts unverändert. Am 6. bis
8. Tage links unverändert, rechts etwa der untere äussere Quadrant sehend.
Am 9. Tage links nur über dem Nasenrücken sehend, kein wesentlicher Unter-
schied zwischen oben und unten, rechts hat sich der sehende Theil vom un-
teren äusseren Quadranten aus nach innen und oben vergrössert. 11. nnd
12. Tag: Sehstörung rechts etwas zurückgegangen. Am 13. Tage scheint
rechts in der temporalen Gesichtsfeldhälfte keine Sehstörung mehr zu bestehen,
links nimmt sie noch etwa ^/g ein, doch ist der innere untere Quadrant wieder
am wenigsten betheiligt. 14. Tag: Genaues wiederholtes Nachprüfen ergiebt
heute, dass rechts der obere äussere Quadrant doch noch nicht frei ist, links
Sehstörung etwas zurückgegangen zwischen Y2 ^^^^ Vs' ^^- '^''S- Deutliches
Zurückgehen der Sehstörung links. Am 16. Tage erscheinen nur die mittleren
und unteren ^/g der Gesichtsfelder ganz frei, vom 17. Tage an ist rechts nur eine
obere halbmondförmige Zone amblyopisch, links hat sich an diesem Tage der
mittlere sehende Theil vergrössert. Am 19. Tage ähnelt die Gestalt der linken
der fast unverändert gebliebenen rechten amblyopischen Zone; bis zum 22. Tage
besteht beiderseits eine allmählich kleiner werdende halbmondförmige amblyo-
pische Zone im obersten Theil der rechten Gesichtsfelder. Am 22. Tage ist
dieselbe links verschwunden, während sie rechts nunmehr lateral noch bis zum
36. Tage nachzuweisen ist. Von da an bis zum 68. Tage fehlt jede Sehstö-
— 359 --
rung. Gegen Licht: Bis zum 9. Tage links nicht rcagirend, vom 9.— 22.'l'age
links weniger scheuend als rechts, von da an beiderseits gleich.
Optische Reflexe: Gegen flache Hand links bis zum 14. Tage fehlend,
rechts angedeutet, mit Ausnahme des 3. Tages, wo sie gänzlich fehlen, von
da an beiderseits angedeutet oder fehlend, am 68. Tage fehlen sie.
Nasenlid refl ex intact.
Getödtet am 74. Tage.
Section: Dura und Pia frei. Dura nur an den Rändern der Auflage-
rung adhärent. Die Auflagerung reicht mit ihrem vorderen Rande bis in die
Höhe der vordersten Spitze des Bogens der Sylvischen Windung, mit ihrem
lateralen Rande nicht ganz bis an den medialen Rand der Hl, Urwindung,
mit ihrem medialen Rande ziemlich weit in die I. Urwindung hinein, mit ihrem
hinteren Rande bleibt sie 15 mm vom hinteren Pol entfernt. Durchschnitt
durch die Mitte der Auflagerung: Rinde und Mark der 11. Urwindung fehlen
so gut wie ganz, nur ein lateraler Streifen der Rinde ist erhalten, ebenso fehlt
über die Hälfte von Rinde und Mark der I. Urwindung. Von der Auflagerung
zieht sich ein narbiger Streifen über die Balkenstrahlung hinweg bis an die
eingezogene mediale Fläche; dieser Streifen ist von Erweichungsherden um-
geben, die sich noch in die I. und 11. Urwindung erstrecken und setzt sich
noch in einer hinter der Auflagerung liegenden Schnittfläche fort. Der dorsale
Theil des Marklagers ist zerstört, nur der ventrale Theil desselben und ein
Theil der zu der II. Urwindung gehörigen Strahlung ist erhalten. Der Seiten-
ventrikel ist dreieckig nach oben verzogen.
Die Exstirpation nahm die vordere und mittlere Partie der Seh-
sphäre ein. Demnach hätte dauernd rindenblind sein müssen ein Theil
der Stelle des deutlichen Sehens und der grössere Theil der unteren
Hälfte des linken Gesichtsfeldes. Thatsächlich bestand zuerst eine typische
Hemianopsie, die sich derart verlor, dass sich zuerst gerade diejenigen
Theile, welche rindenblind hätten sein sollen, nämlich die Stelle des
deutlichen Sehens und die unteren Partien des Gesichtsfeldes aufhellten,
während die oberen Partien, die intact hätten sein sollen, noch länger
blind blieben. Ausserdem lebte die Sehstörung des rechten Auges wie-
der auf. Auch sie verschwand in der Weise, dass zuerst die unteren
Partien des Gesichtsfeldes wieder functionstüchtig wurden. Der letzte
Rest der Seh Störung betraf die obere äussere Peripherie.
Beobadituiig- 9S.
Aufdeckung links hinten, hinterer Rand ^/^ cm vor der Lambdanaht,
medialer Rand ca. 3 mm von der Mittellinie. Knochenlücke 19 mm sagittal,
15 mm frontal. Abtragung der Dura bis auf einen schmalen Streifen am hin-
teren Rand der Lücke. Das freiliegende Rindenstück wird dann ca. 1 cm tief
umschnitten und dann ebenso tief exslirpirt, dabei auch die mediale unter dem
— 360 —
Knochen liegende Rindenpartie bis zur Falx soweit als möglich zerstört und
entfernt. Starke Blutung.
Motilitätsstörungen: Am 2. Tage auf dem Boden dreht er nach
links, sonst keine deutlichen Motilitätsstörungen: auf dem Tische rutscht er
mit den rechten Beinen davon, lässt dieselben auch mit dem Dorsum aufsetzen,
Fie-. 148.
sobald er genügend beruhigt ist, und über den Tischrand hängen. Am 4. Tage
lässt er nur noch etwas dislociren und setzt besonders vorn die Pfote nicht
weg, wenn man sie berührt; am 5. Tage nur noch spurweise.
In der Schwebe: Hängt an den ersten Tagen leicht different und
reagirt rechts auf Begreifen weniger, dann nicht mehr.
Seil Störung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage rechts überhaupt keine.
i
— 361 —
links in nasalem, sich nach oben verbreiterndem Streifen keine Reaction. Am 3. Tage
sieht er rechts unten nasal, links ist die Sehstörung oben etwas zurückgegangen ;
am 4. Tage sieht er rechts in schmalem nasalen Streifen, links ist das Ge-
sichtsfeld ganz unten frei, sonst noch schmaler nasaler Streifen amblyopisch.
5. Tag: Rechts hat sich der sehende Streifen etwas verbreitert, links Sehstö-
rung kaum noch nachzuweisen. 6. Tag: Rechts Sehstörang ca. ^j^, unten ist
der sehende Streifen etwas breiter als oben. Vom 7. — 9. Tage Sehstörung ca.
links ■ ^1 rechts
Fig. 149.
die Hälfte des Gesichtsfeldes, vom 10. — 14. Tage gänzlich ohne Reaction nur
noch etwa Ys) dann kommt eine unsichere Zone, in der der Hund fixirt. Vom
15. Tage an geht die Sehstörung weiter zurück, am 23. Tage verschwunden.
Gegen Licht: Rechts am 2. Tage ohne Reaction, am 7. Tage auf der medialen
Hälfte scheuend, am 10. Tage normal, links von Anfang an stark scheuend.
Optische Reflexe fehlen rechts bis zum Schluss der Beobachtung.
Nasenlid refl ex intact.
Getödtet wegen Räude nach 6 Wochen, nachdem eine 2. Operation rech-
tcrseits wegen starker Knochenblutung unterbrochen worden war.
Section: Häute normal, nur an den Rändern der Narbe verwachsen.
Die Narbe sitzt genau in der II. Urwindung, reicht nach hinten bis ca. 9 mm
von dem hinteren Pol der Hemisphäre, nach vorn ca. 3 mm über eine, von
der Spitze der Fossa Sylvii nach der Falx gezogene Linie hinaus. Sie bleibt
in ihrem mittleren Theile, wo sie sich der Medianspalte am meisten nähert,
6 mm davon entfernt. 1. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Die Rinde
der n. Urwindung ist ganz zerstört, ebenso der laterale Rand der I,, während
die TU. Urwindung ganz intact geblieben ist. Die Narbe erstreckt sich keil-
förmig im Markweiss der IL Urwindung nach unten, dasselbe fast ganz aus-
füllend. Vom medialen Rand der Narbenkappe zieht ein Erweichungsstreifen
bis zur medialen Wand des Ventrikels, der hier ausgezogen und erweitert ist.
2, Durchschnitt durch das vordere Viertel der Narbe: Lateral von der Narbe
ist die R,inde der IIL Urwindung bis etwa zur Mitte flach durch eine von der
— 362 —
Narbe nach lateral sich crstreclconde Spalte abgehoben. Dieser abgehobene
Rindentheil und der lateral angrenzende sind abgeblasst. Vom lateralen Rande
der Narbe steigt in der III. Urwindung an der Grenze von Mark und Rinde
ein Erweichungsstreifen einige Millimeter nach unten. Die Rinde der II. Ur-
windung und der laterale Theil der I. sind durch Narbengewebo ersetzt. Im
Markweiss der II. Urwindung steigt ebenfalls ein ganz feiner Erweichungs-
streifen basalwärls, um in einem an die Ventrikelwand anstossenden, etwa
hirsekorngrossen Herd zu enden. Die dem Sulcns zwischen der 1. und II. Ur-
windung folgende, noch unter dem lateralen Rand der Narbenkappe liegende
Rinde ist aufgehellt.
In diesem Falle war die Stelle A^ nebst dem darunter liegenden
Marklnger jedenfalls völlig zerstört; ausserdem aber noch ein beträcht-
liches Stück der vorderen Partie der Sehsphäre, auch der I. Urwindung.
Die Sebstörung hätte also in einer Rindenblindheit der Stelle des deut-
lichen Sehens und eines Tlieiles der unteren und lateralen Gesiclitsfeld-
liälfte bestehen müssen. Beobachtet wurde eine typische Hemianopsie,
die in der Weise zurückging, dass die Stelle des deutlichen Sehens
schon am 7. Tage frei war, während in der Folge sich gerade die un-
teren, anstatt der oberen Gesichtsfeldpartien zuerst aufhellten. Bemer-
kenswerth ist, dass die Sehstörung des linken gleichseitigen Auges in
diesem Falle weit über die ihr zugewiesenen und in der Regel auch
von ihr innegehaltenen Grenzen hinausreichte.
Beobaclitiiiigj- 93.
Kleiner junger Hund, kleiner Schädel. Aufdeckung links hinten auf
sagittal 17 mm, frontal 16 mm. Umschneidung und Exstirpation des freiliegen-
den Rindentheils ca. 1 cm tief; dann wiid mit der breiten Seite des Präpara-
tenhebers die unter dem stehengebliebenen medialen Knochenrande liegende
Rindenpartie bis zur Falx unterschnitten und nach Möglichkeit zerstört.
Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung: Gegen Fleisch: Am 2. und 3. Tage sieht er nur im
grösseren Theil des unteren inneren Quadranten (links schmaler nasaler Strei-
fen ausgeschaltet). Am 4. und 5. Tage Reaction im schmalen nasalen Strei-
fen, am 6. Tage auf dem nasalen Drittel, am 7. Tage auf den nasalen zwei
Dritteln, reagirt aber rechts weniger energisch als links, am 14. Tage nur
noch schmaler temporaler Streifen reactionslos, am 18. Tage keine Sehstörung
mehr. Gegen Licht: Reaction fehlt am 2. Tage, links scheut der Hund ent-
setzt, vom 3. — 5. Tage Reaction nur bei Belichtung des sehenden Theils der
Netzhaut, vom 7. Tage an beiderseits gleiche energische Reaction.
Optische Reflexe fehlen rechts bis zum Ende der Beobachtung.
Getödtet nach einer 2. Operation 4 Monate nach der 1.
Section: Häute normal. Hinterer Pol stark eingezogen. Auflagerung
C) mm vom hinteren Pol und ebensoviel von der Medianlinie entfernt. Sagil-
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363 -
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90,
vV vl^^' v_^^^
ii 11. 15. li.
(zu Beob. 94)
Ficr. 150.
?-2
— 364 —
talev Durchmesser 15 mm, frontaler 11 mm. Ihr vorderer Theil sitzt auf der
II. Urwindung und berührt den medialen Rand der III. Urwindung, ihr hin-
terer Theil reicht bis zur I. Urwindung heran. Vordere Grenze reicht bis zu
Fio;. 151.
reell ts
Fig. 152.
einer Linie, welche senkrecht von der Spitze der Fossa Sylvii zur Falx gezogen
ist. Durchschnitt mitten durch dieAuflagerung: Die graue und weisse Substanz
der II. Urwindung fehlt gänzlich. An ihre Stelle ist eine oben weissliche,
unten gelbliche Narbenkappe getreten; und darunter die von der medialen
Fläche her hineingezogenen Windungen (Randwulst und Gyrus fornicatus).
Zwischen dieser und der Narbenkappe eine Höhle. 2. Durchschnitt 3 mm nach
vorn durch das vordere Drittel der Narbe: Die ganze II. Urwindung ist an
365
dieser Stelle durch Narbengewebe ersetzt, welches bis an die Spitze des sehr
stark nach oben ausgezogenen Seitenventrikels reicht; auch das laterale Grau
der I. Urwindung ist verloren gegangen.
Hier war die Stelle A^ mit dem subcorticalen Marklager, ferner
ein grosser Tlieil besonders ihrer vorderen, dann ihrer hinteren und
lateralen Cmgebung gänzlich mid der angrenzende Theil der I. Urwin-
dung theilweise zerstört worden. Dauernde Rindenblindheit der Stelle
des deutlichen Sehens, sowie des grösseren Theiles des Gesichtsfeldes
hätte nach Munk die Folge sein müssen. Die Stelle des deut-
lichen Sehens fungirte aber bereits am 7. Tage wieder. Die
Sehstörung bestand in einer typischen Hemianopsie. Kein Theil des
Gesichtsfeldes war dauernd rindenblind.
Derselbe Hund von Beob. 93 (vergl. dort die Figuren). Aufdeckung hin-
ten rechts auf 19 mm sagittal, 16 mm frontal. Hinterer Rand des Trepans
3/4 cm vor der Mitte der Lambdanaht; medialer Rand der Lücke ca. 3 mm
von der Mittellinie entfernt. Tiefe Unterschneidung des freiliegenden Rinden-
Fig. 153.
denstücks mit Präparatenheber und Abtragung desselben mit der Scheere, auch
der medialen Partie. Dagegen wird die Dura in einer Breite von ca. 2 mm am
hinteren Rande der Lücke stehen gelassen.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage rechtes Auge fast die ganze
laterale Hälfte des Gesichtsfeldes und ein breiter (fast ein Drittel des Gesichts-
feldes einnehmender) nasaler Streifen amblyopisch. Linkes Auge: Annähernd das
— 366 —
obere Drittel der nasalen und die temporale Hälfte des Gesichtsfeldes. 3. Tag:
Rechts unverändert, links anscheinend vollkommen blind. Stösst bei verbun-
denem rechten Auge überall an. 4. Tag: Rechts gleiche Figur wie am 2. Tage,
nur ist die obere Partie des sehenden Quadranten unsicher; der Hund fixirt
hier erscheinendes Fleisch, schnappt aber nicht zu. Links sieht ein schmaler
mittlerer Sector der unteren Hälfte des Gesichtsfeldes. 6. — 9. Tag: Auf
beiden Augen symmetrisch ein grösserer mittlerer Sector im unteren Theil
des Gesichtsfeldes sehend. Auf dem Boden ist er äusserst unsicher beim
Suchen nach Fleisch. 10. Tag: Rechts unverändert, links schliesst sich an
die laterale Grenze des sehenden ein unsicherer, bis zum Aeqnator reichender
Sector an, auf dem der Hund zwar fixirt, aber nicht zuschnappt. 13. Tag:
Rechts unverändert, links reicht der unsichere Sector über den Aequator hin-
aus. 15. Tag: Rechts kaum verändert, links stark aufgehellt, doch besteht
temporal und oben und nasal noch ein unsicheres Gebiet, auf dem der Hund
fixirt, aber nie prompt zuschnappt. 17. Tag: Rechts hat sich der sehende
Sector nach oben vergrössert. Links hat sich die amblyopische Partie nach
allen Seiten eingeengt; ganz prompt reagirt der Hund aber auch hier nur auf
einem, dem rechten Sector entsprechenden Felde. 19. Tag: Rechts erreicht
der sehende Sector fast die obere Grenze des Gesichtsfeldes, links ziemlich
unverändert, doch ist die amblyopische Partie etwas kleiner geworden, 'iö-'i^ag:
Links gar keine Sehstörung mehr, rechts lateraler ziemlich breiter, medial ein
schmaler Streifen reactionslos. 29. Tag: Rechts Sehstörung lateral ein schma-
ler Streifen. 32. Tag: Rechts etwas mehr als der obere äussere Quadrant
amblyopisch. 34. Tag: Die Sehstörung ist medial oben und lateral unten
etwas zurückgegangen, am 38. Tage nimmt sie noch oben aussen eine wenn
auch kleine, doch deutlich nachweisbare nicht sehende Stelle ein. Am 43. Tage
Sehstörung nicht mehr sicher nachzuweisen, am 46. Tage oben lateral noch
eine amblyopische Stelle, unverändert bis zum 61. Tage. An diesem Tage
findet er auf der Erde vorgeworfene Fleischstückchen schlecht, sucht längere
Zeit herum, und findet sie nur mehr zufällig, wenn sie nicht weisses Fett ent-
halten. 63. Tag: Gegen Fleisch in der Schwebe lateral und nasal oben ein
amblyopischer Fleck. Der Unterschied in der Reaction zwischen rechts und
links ist erheblich; links sieht der Hund schon ganz lateral und reagirt
schneller. 66. Tag: Auf dem Boden findet er Fleisch mit dem linken Auge
gut, bei verbundenem linken Auge findet er es durch den Geruch. In der
Schwebe ist das ganze rechte Gesichtsfeld amblyopisch, scheint überhaupt
wenig Hunger zu haben, da er auch gegen Fleisch vor dem linken Auge und
vor der Nase mit geringerer Energie reagirt. 67. Tag: Auf dem Boden findet
er bei verbundenem linken Auge nur langsam oder gar nicht vorgeworfenes
Fleisch, er orientirt sich mit Gehör und Geruch. Wiederholt nimmt er ein auf
dem Boden liegendes (weisses!) Stück Watte in das Maul. Mit dem linken
Auge findet er (bei verbundenem rechten) Fleisch sofort. In der Schwebe sieht
er rechts in der ganzen oberen Hälfte und einem nasalen Streifen der unteren
Hälfte nichts. Ermüdet leicht. Figur ähnlich wie am 2. Tage. 71. Tag: Auf
f-|em Boden findet er bei verbundenem linken Auge Fleisch nur langsam, orien-
— 367 —
liri sich durch Geruch, linlvs etwas besser. Am Boden liegende Walle nininil
er nicht in das Maul. In der Schwebe sieht er rechts in der ganzen unteren
Hälfte und nasal oben. Links Ixcine Sehslörung. 72. Tag: Auf denn Boden
unverändert. In der Schwebe scheint die Sehstörung etwas abgenommen zu
haben. 75. Tag: Die Sehstörung hat etwas weiter abgenommen, sonst unver-
ändert. 78. Tag: Auf dem Boden findet der Hund mit dem rechten Auge
schlechter als mit dem linken vorgeworfenes Fleisch. In der Schwebe ist oben
aussen ein nicht sehr breiter amblyopischer Streifen. 82. Tag: Auf der Erde
sieht der Hund mit dem rechten Auge noch immer ziemlich schlecht. In der
Schwebe besieht anscheinend keine Sehstörung mehr. 85. Tag: Bei verbun-
denem rechten Auge findet er Fleischstücke besser als bei verbundenem linken.
In der Schwebe reagirt er links schon ganz aussen und sehr lebhaft, rechts
scheint oben aussen noch eine Sehstörung zu bestehen, jedenfalls reagirt er in
dem oberen äusseren Quadranten weniger regelmässig und energisch. 90. Tag:
Auf dem Boden reagirt er rechts schlechter als links. In der Schwebe rechts
bei gewöhnlicher Absuchung des Gesichtsfeldes keine Sehstörung, doch reagirt
er gegen senkrecht auf das Auge zugeführte und ruhig gehaltene kleine
Fleischslückchen erst nach gewisser Zeit. Links fehlt das Symptom. 92. Tag:
Keine Sehstörung mehr, sieht sofort, auch senkrecht gegen das Auge zuge-
führtes Fleisch. Gegen Licht: Am 2. Tage beiderseits scheuend, am 3, Tage
rechts scheuend, links ganz indifferent. Am 5. Tage beiderseits scheuend;
10. Tag: Scheut nur im sehenden unteren Sector. 13. Tag: Rechts genau dem
Sector entsprechend, links über der ganzen temporalen Hälfte; 15. ^i'ag: Links
fast über dem ganzen Gesichtsfeld heftig scheuend, rechts unten stärker als
oben. 17. Tag: Beiderseits ohne deutlichen Unterschied schon weit aussen
reagirend. 19. Tag: Es lässt sich immer noch zeigen, dass der Hund unten
stärker reagirt als oben. 22. Tage: Reagirt beiderseits unten schon weit
aussen, oben beiderseits erst weiter medial. Führt man das Licht von oben nach
unten, so merkt er zwar im oberen Theil des Gesichtsfeldes bereits auf, scheut
aber erst deutlich, wenn man unter den Aequator kommt. Vom 25. Tage an bis
zum Schluss der Beobachtung unter unwesentlichen Schwankungen stets beider-
seits stark scheuend.
Optische Reflexe: Fehlen bis zum 58. Tage beiderseits mit Ausnahme
eines Tages gänzlich, doch wird er bereits am 52. Tage bei jedem Versuch
sehr unruhig, sodann fehlen sie rechts noch bis zum 92. Tage; an diesem
Tage und am Schluss der Beobachtung (96. Tag) sind sie gegen flache Hand
vorhanden, fehlen gegen schmale Hand. Links fehlten sie gleichfalls fast
während der ganzen Beobachtungszeit gänzlich, doch waren sie am 46., 59.,
71., 72., 75. und 78. Tage auf flache Hand, vom 82. Tage an auf flache Hand
immer, auf schmale Hand gewöhnlich vorhanden.
Getödtet nach 3^/2 Monaten.
Section: Häute normal. Die Auflagerung ist vom hinteren Fol 10 mm,
von der Medianlinie 6 mm entfernt. Sagittaler Durchmesser 12 mm, frontaler
13 mm. Vordere Grenze reicht bis zur vorderen Grenze der Munk'scheq
— 368 —
Selisphäre. Sie sitzt auf der lateralen Hälfte der I. ürwlndung und der ganzen
11. Urwindung und reicht bis an den medialen Rand der III. Urwindung.
Durchschnitt mitten durch die Narbe zeigt ein sehr ähnliches Bild wie Beob.
93, doch ist hier mehr von der allerdings unterschnittenen I. Urwindung und
von der weissen Substanz des grossen Marklagers erhalten. 2. Durchschnitt
ca. 3 mm vor dem ersten, etwa den vorderen Rand der Narbe treffend, zeigt
ein ähnliches Bild wie links, wenn auch die Zerstörung nicht ganz so hoch-
gradig ist.
Bei dieser Beobachtung war die Stelle Ai und das darunter liegende
Mark gänzlich oder fast gänzlich ausgeschaltet; ich will nicht entschei-
den, ob nicht ein Stückchen ihrer hinteren Peripherie stehen geblieben
ist. Ausserdem fehlte ein grosser Tlieil der vorderen und lateralen
Partie der Sehsphäre, während der Randwulst gleichfalls schwer ge-
schädigt war. Die durcli diese Verletzungen hervorgebrachte Sehstö-
rung hätte also nach Mitnk in Rindenblindheit der Stelle des deutlichen
Sehens oder doch des grösseren Theiles dieser Stelle, sowie eines Theiles
der unteren Hälfte des Gesichtsfeldes bestehen müssen. Da der Eingriff
hier mehr den lateralen Theil der Sehsphäre betraf, so hätte sich die
dadurch bedingte Sehstörung des linken Auges mehr auf den medialen
Theil des Gesichtsfeldes beschränken müssen. Andererseits sollte der
Eingriff" in die I. Ui'windung aber auch eine temporale Sehstörung zur
Folge haben. Thatsächiich war am 2. Tage gerade die Stelle des deut-
lichen Sehens und der grössere Theil des medialen Gesichtsfeldes des
linken Auges frei von einer Sehstörung. Am 3. Tage war dieses Auge
ganz blind. Dann aber erwies sich gerade ein unterer mittlerer Sector
dieses Auges an Stelle eines oberen Ausschnittes als sehend imd dieser
Sector vergrösserte sich nach beiden Seiten derart, dass das amblyopische
Gesichtsfeld noch bis zuletzt eine obere Zone in sich schloss, welche schon
ganz zu Anfang hatte sehend werden, wenn nicht überhaupt bleiben
sollen. Was die seitlichen Theile des Gesichtsfeldes dieses Auges an-
geht, so entsprach ihr Verhalten gleichfalls nicht dem Munk' sehen
Schema, zunächst insofern nicht, als sich auch hier die Sehstörung,
wenn schon längsam, d. h. bis zum 26. Tage verlor, also Rindenblind-
heit nicht bestand, dann aber auch, weil die Figur des gesetzten Sco-
tomes, insoweit die anatomische Läsion sich verfolgen liess, sich mit
den Forderungen Munk 's nicht deckte. Der mediale Theil dieses De-
fectes ist wie in anderen Fällen auf ein Wiederaufleben des durch die
linksseitige Operation gesetzten Gesichtsfelddefectes aufzufassen.
Ganz absonderlich verlief die Sehstörung auf dem gleichseitigen
rechten Auge. Zunächst sind hier die wiederholt eintretenden Ver-
schlimmerungen zu beobachten. Eine erste erschien am 4. Tage; eine
— 369 —
zweite aber erst am 66. Tage, nachdem die Sehstörung bereits fast ganz
zurückgegangeil war, mid zwar in so erheblichem Maasse, dass der
Hund an diesem Tage auf dem rechten Auge überhaupt nicht sah. Am
78. Tage nahm die Sehstörung immer noch einen grösseren Raum ein
als am 38. Tage. Offenbar setzte sich diese Sehstörung aus dem durch
den 2. Eingriff gesetzten medialen Gesichtsfelddefect (A^ergl. besonders
den 19.— 26. Tag) und dem Wiederaufleben des durch die linksseitige
Operation bedingten Defectes zusammen. Auch hier erschien übrigens
die Stelle des deutlichen Sehens bereits gegen (\en 17. Tag wieder frei,
um nur am 66. Tage einmal in der allgemeinen Blindheit zu verschwin-
den. Endlich bestand eine sehr lang anhaltende Amblyopie der unteren
Hälfte des Gesichtsfeldes (Fleischsuchen).
Altes Thier mit dickem harten Schädel. Aufdeckung hinten links ca.
■^/^ cm vor der Lambdanaht, 2—3 mm von der Mittellinie, auf 17 mm sagitlal,
16 mm frontal im Mittel. Die Oeffnung ist medial breiter und lateral schma-
ler. Das freiliegende Hirnstück wird auf ca. 1 cm Tiefe umschnitten, dann
mit der breiten Seite des Präparatenhebers unterschnitten, wobei die Schneide,
weil sie schwer die lateral zu enge Lücke passirte, versehentlich zu tief gerieth
und offenbar die Falx durchtrennte; wenigstens scheint der später eingeführte
Daviel'sche Löffel weit auf die andere Seitezu gelangen. Das um- und un-
terschnittene Hirnstück wird mit der Schere abgetragen.
Motilitätsstörungen fehlen in den Extremitäten. Dreht am 3. Tage
viel nach links.
Sensibilitätsstörungen im rechten Nasenloch noch am 8. Tage
nachweisbar.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Bis zum 4. Tage rechts bis auf schmalen
nasalen Streifen, links nur am 2. Tage auf schmalem nasalen Streifen, am
3. Tage unsicher, am 4. Tage fehlend. Der ca. vom 30. Tage an wegen
Unruhe, namentlich i n d e r S c h w e b e s e h r s c h w e r z u u n t e r s u c h e n d e
Hund reagirtbei verschiedenen Un tersuchungsracth öden auf den
geschädigten Theilen seines Ges ich tsfeldes verschieden. In der
Schwebe nimmt die Sehstörung vom 5. — 18. Tage anscheinend entsprechend
den Abbildungen allmählich von medial nach lateral derart ab, dass sich zu-
erst eine mediale Zone mit zunächst unsicherer Reaction aufhellt, wobei die
untere Hälfte bevorzugt wird. Am 19. Tage bemerkt er Fleisch nur auf der
medialen Hälfte; am 25. Tage bemerkt er es auf dem Tische rechts auf der
temporalen Hälfte nicht. In der Schwebe ist Auge und Kopf sehr schwer zu
fixiren; gelingt dies, so schnappt er nach Fleisch erst auf dem nasalen Strei-
fen. Am 27. Tage lässt er auf dem Boden die rechts liegenden Fleischstücke
liegen, sonst die gleichen Resultate. Vom 39. — 50. Tage ist eine allmählich
verschwindende Sehstörung entsprechend den vVbbildungen, dann wenn der
Hitzig, Gesammelte Al)hancU. 11. Theil. 24
370
Hund sich ruhig hält, in der Schwebe zu constatiren. Damit ist der wirkliche
Thatbestand aber nicht erschöpft. Am 40. Tage erscheint die Amblyopie,
wenn auch nicht abgrenzbar, doch hochgradiger als am Vortage gezeichnet.
Am 45. Tage wird der Hund unruhig, sowie das Fleisch im Gesichtsfelde er-
scheint; er localisirt anscheinend nicht richtig, denn er fährt mit der Schnauze
in der Luft herum bis er das Fleisch findet. Der untere laterale Quadrant sieht
besser als der obere. Am 54. Tage ist zwar in der Schwebe keine Sehstörung
mehr nachzuweisen, dagegen findet er graues, sich von der grauen Diele wenig
unterscheidendesFleisch auf dem Boden erst nach längerem Suchen, Fett schnel-
ler, aber auch nicht sofort. Am 60. Tage die gleichen Resultate. Ausserdem zeigt
sich aber, dass er auch bei verbundenem rechten Auge Fleisch auf dem Boden
nicht sofort findet. Ferner ergreift er daselbst bei verbundenem linken Auge
wiederholt ein vorgeworfenes Stück Watte. In der Schwebe wird er rechts sofort
aufmerksam, sobald man in das Gesichtsfeld kommt, schnappt auch zu; manch-
mal hat es den Anschein, als wenn er nicht richtig projicire. Vom 82.— 89. Tage
findet er auf dem Boden vorgeworfenes Fleisch rechts schlechter als links. In
der Schwebe reagirt er rechts im ganzen Gesichtsfeld, wenn das Fleisch be-
371
wegt wird; werden kleine Pleischstückchen mit der Pinceite senkrecht auf das
Auge zugeführt und dann ruhig gehalten, so schnappt er immer erst nach
einiger Zeit zu. Links ist dieses Phänomen nicht nachzuweisen, der Hund
reagirt sofort. Gegen Licht: Reaction rechts bis zum 6. Tage nur auf schma-
lem, nasalen Streifen, links scheut er stark. Bis zum 10. Tage Reaction auf
der medialen deutlich stärker als auf der lateralen Gesichtsfeldhälfte. Bis zum
Fig. 155.
links
rechts
Fig. 156.
19. Tage ist das gleiche Phänomen bald nachweisbar, bald nicht nachweisbar,
später ist keine deutliche Differenz zwischen beiden Augen zu constatiren.
Die Sehstörung bleibt bis zum Tode des Hundes ca. 4Monate nach dieser
Operation unverändert.
Optische Reflexe: Fehlen rechts bis zum Ende der Beobachtung,
links vom 60. Tage an ebenfalls bis zum Ende der Beobachtung.
Nasenlidreflex ungestört.
24*
— 372 —
Getödtet nach 4 Monaten; inzwischen eine zweite symmetrische Operation.
Section: Die beiden Hemisphären sind in ihren hinteren, zwischen den
Operationsstellen liegenden Theilen mit der Falx und dem Tentorium fest ver-
wachsen. Die ungefähr 11 mm sagittal und 12 mm frontal messende Narbe
nimmt einen grossen Theil der Sehsphäre ein und bedeckt jedenfalls die
Stelle A]^ gänzlich. Ueberdies reicht sie nach vorn genau bis zum vorderen
Rand der Sehsphäre; ihr hinterer Rand bleibt 5 mm vom hinteren Hemisphä^
renrand entfernt. Ein schmaler medialer, sowie der caudale Streifen der Hemi-
sphäre sind narbig eingezogen und oberflächlich erweicht und zerfetzt. Lateral
reicht die Narbe bis zum lateralen Rand der 11. Urwindung. Hinterer Durch-
schnitt durch die Mitte der Narbe: Seitenventrikel stark erweitert, sodass von
dem dorsalen Markweiss so gut Avie nichts übrig geblieben ist; die ganze
Hemisphäre ist stark atrophisch. Die Rinde und das darunter liegende Mark
unterhalb der Narbenkappe fehlen grösstentheils und sind durch Narbengewebe
ersetzt. Die sich von lateral her in den Defect hineingelagert habende Rinde
ist deutlich abgeblasst. Die mediale Rinde ist entweder gänzlich zerstört oder
narbig verändert. Vom Fusse der Hirnnarbe zieht sich ein breiter mit Blut-
farbstoff durchsetzter Erweichungsstreifen nach. der Falx zu. Der Aquaeductus
Sylvii ist namentlich in seiner linken Hälfte sehr erheblicli dilatirt. Vorderer
Durchschnitt 2 mm hinter dem vorderen Rand der Narbe: Die Rinde unter der
Narbenkappe ist vorhanden, aber gelblich verfärbt und erweicht; vom medialen
Rand der Narbenkappe zieht ein Erweichungsstreifen medial-basal bis zur
Ventrikelwand und nach der Medianfläche der Hemisphäre zu, das Rindengrau
daselbst fächerig durchsetzend und zerstörend. Die an die Narbenkappe an-
grenzenden Rindenpartien medial und lateral davon sind aufgehellt.
Hier war der grössere Theil der Convexität der Sehsphäre, jeden-
falls aber die Stelle A^ und die vordere Partie vollständig ausgeschaltet,
am wenigsten betheiligt war noch die hintere Partie. Neben der Stelle
des deutlichen Sehens hätte also fast das ganze Gesichtsfeld am wenig-
sten seine obere Partie rindenblind sein müssen. Obschon die Sehstü-
rung, cn; sprechend der Grösse der Zerstörung von langer Dauer war,
über 50 Tage, war doch kein Theil der Retina, namentlich nicht
die Stelle des deutlichen Sehens, dauernd rindenblind. Sie ver-
lief als typische Hemianopsie, sich typisch von nasal unten nach tem-
poral oben aufhellend, sodass also nicht der untere, sondern der obere
Theil des Gesichtsfeldes stärker betroffen ei'schien.
Beobaclitiivijs: 06.
Aufdeckung ganz hinten links auf 18 mm sagittal, 19 mm frontal. Der
mediale Rand der Knochenlücke reicht etwa bis zur Mittellinie; hinten unten
liegt der Sinus transversus frei. Exstirpation des aufgedeckten Rindenstückes
mit dem Präparatenheber ca. 1 cm tief. Sehr starke, aber nicht lange anhal-
tende Blutun«?.
— 373 —
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: In den ersten Tagen hochgradig, aber
nicht maximal, wegen Unruhe des Hundes nicht genau abzugrenzen. Am
4. Tage Sehstörung hochgradig, es scheint nur ein schmaler nasaler Streifen
frei zu sein, nach unten temporalwärts breiter werdend. 5. Tag. Sehstörung
zurückgegangen, oben ca. Y2 unten Yg. Vom 6. — 26. Tage ein sehr allmäh-
lich sich einengender und verschwindender temporaler Streifen ; links noch am
23. Tage schmaler nasaler Streifen. Gegen Licht: Reaction bis zum 4. Tage
Fiff. 157.
Fiff. 158.
rechts fehlend, links deutlich, von da an auf den sehenden Partien vorhanden,
aber rechts schwächer als links. Am 11. Tage beiderseits scheuend, aber links
schon etwas weiter aussen, später beiderseits gleich.
Optische Reflexe: Am 2. Tage rechts gegen flache Hand vorhanden,
gegen schmale Hand fehlend, dann bis zum 6. Tage gänzlich fehlend. Vom
6,-12. Tage angedeutet, von da an bis zum 31. Tage gegen flache Hand all-
— 374 -^
mählich zunehmend, an diesem Tage und später beiderseits gleich und gegen
schmale Hand angedeutet.
Getödtet nach ca. 8 Wochen, wegen zahlreicher Krampfanfälle, die nach
einer am 43. Tage ausgeführten symmetrischen Operation auftraten.
Sectio n: Die Pia ist von der Operationsstelle an nach hinten bis an
den hinteren Pol, nach vorn und medial in der nächsten Umgebung der Narbe
und bis an die Medianspalte der Dura fest adhärent. Die Hirnnarbe sitzt ganz
hinten im Bereich der I. und H. Urwindung. Hinterer Querschnitt: Die Rinde
und die anstossende Marksubstan;; fehlen im Bereiche der H. Urwindung gänz-
links
rechts
Fig. 159.
lieh, im Bereiche der 1. Urwindung fast gänzlich und sind durch eine Narben-
kappe ersetzt. In der weissen Substanz unterhalb des lateralen Endet der
Narbe eine Erweichungscyste. Von da dorsal eine zweite grössere mit der vor-
erwähnten durch einen kleinen Spalt communizirende Höhle. Von da dorsal
lateral ist die weisse Substanz gelbbräunlich verfärbt und im Bereich der
n. Urwindung ohne Dazwischentreten von grauer Substanz direct in das Nar-
bengewebe übergehend. Vorderer Querschnitt: Links: 2 mm hinter dem vor-
deren Rande der Narbe: In der weissen Substanz makroskopisch nichts mehr.
Ventrikel etwas nach oben verzogen. Die Rinde der II. und I. Urwindung
zum Theil fehlend, zum Theil (in der Tiefe der Furche) verschmälert.
Die Stelle A^ und die hintere Hälfte der Selisphäre waren zerstört.
Die Stelle des deutlichen Sehens und der grössere Theil der oberen
Hälfte des Gesichtsfeldes hätten dauernd rindenblind sein sollen. Die
Stelle des deutlichen Sehens functionirte jedoch bereits am 5. Tage
wieder, während die anfänglich vorhandene Hemianopsie gerade aus den
oberen Theilen des Gesichtsfeldes ungewöhnlich früh verschwand und
sich mehr in dessen lateralstem Theil aufhielt.
375
Derselbe Hund von Beobachtung 100. Aufdeckung rechts hinten, einige
mm vor der Mitte der Lambdanaht auf 16 mm sagittal und 14 mm frontal.
Medialer Rand der Lücke ca. 3 mm von der Mittellinie entfernt. Exstirpation
ca. ^4 cm tief, medial noch etwas über den Rand der Lücke hinaus.
Motilitätsstörungen: Fehlen, ausser, dass er am 4. Tage mit Vor-
liebe nach rechts dreht.
K^-i k"'
Fig. 160.
In der Schwebe: Vorübergehend am 4. Tage beim Begreifen links vorn
keine, rechts vorn geringe, hinten beiderseits lebhafte Reaction. Hängt vorn
links etwas gestreckt, beiderseits schlaff. Bei Pumpbewegungen beiderseits
gleich, links stärker als vorher gestreckt.
— 376 —
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage auf beiden Augen, am
4. Tage rechts keine Reaction, links auf einer nicht ganz dem inneren unteren
Quadranten entsprechenden Stelle. Auf dem Boden findet er Fleisch nur
durch den Geruch, stösst mit dem Kopfe an; läuft dabei aber ganz munter
umher. 5. Tag: In der Schwebe unverändert, auf dem Boden sieht er grosse
Stücke vorgehaltenes Fleisch nicht. 6. Tag: In der Schwebe reagirt er rechts
Fig. 161.
links
rechts
Fig. 162.
unten innen, gleichviel ob man von unten aussen oder von oben ionen kommt,
links nur in einem medialen unteren Sector. Auf dem Boden sieht er vorge-
haltenes Fleisch nur, wenn man damit vor den linken unteren inneren Qua-
dranten gelangt. Sonst tänzelt er auf den Hinterbeinen umher, die Nase in
der Luft, schnüffelnd und schnappend, dabei dem Fleisch häufig den Rücken
— 877 —
zudrehend. Stösst nicht melir an. 7. Tag: In der Schwebe rechts hat sich
die amblyopische Partie in einen lateralen, oberhalb des Aequators fast bis zur
Mittellinie reichenden, unten nur etwa die laterale Hälfte des unteren Qua-
dranten einnehmenden und einen zweiten halbmondförmigen breiten nasalen
Teil geteilt. Links hat sich der Sector gegen gestern vergrössert. 8. Tag:
Rechts hat sich die sehende Partie sowohl nach medial als auch nach lateral
vergrössert, links unverändert. 11. Tag: Rechts betrifft die amblyopische
Stelle ungefähr den lateralen oberen Quadranten und einen medialen, sich
nach unten verbreiternden Streifen. Links ist der obere laterale und die obere
Hälfte des unteren lateralen Quadranten amblyopisch; im oberen medialen
(Quadranten ermüdet er leicht. Beim Hinunterlaufen in den Stall stösst er mit
der Nasenspitze an einen an ungewohnter Stelle stehenden Waschkorb an.
12. Tag: Rechts medial unverändert, lateral hat sich die amblyopische Stelle
unten etwas verkleinert, dagegen scheint sie nach oben mit der medialen am-
blyopischen Stelle zusammenzulaufen. Links hat sich der sehende Sector etwas
vergrössert. Auf dem Boden findet er Fleisch nicht sofort, namentlich, wenn
sich dasselbe rechts von ihm befindet. 13. Tag: Rechts ist lateral die am-
blyopische Zone kleiner geworden; in der Mitte scheint keine Störung mehr zu
bestellen. Links hat sich medial die amblyopische Stelle etwas verkleinert.
14. Tag: Rechts besteht lateral oben, wenn überhaupt noch etwas, nur eine
sehr kleine amblyopische Zone. Nasal ist ebenfalls nichts Sicheres mehr nach-
zuweisen. Links unverändert. 15. Tag: Rechts ist lateral oben ein amblyo-
pischer Fleck noch deutlich nachzuweisen, nasal ist anscheinend nichts mehr.
Links befindet sich temporal und oben eine schmale nicht sehende Zone, im
Uebrigen sieht er. Auf dem Boden dauert es immer längere Zeit bis er ein
liingeworfenes Stückchen gekochtes Fleisch, das er fallen hört, findet. 16. Tag:
Links ist der amblyopische Streifen etwas kleiner geworden. 18. Tag: Rechts
keine deutliche Sehstörung mehr, links ist oben lateral und nasal, je noch ein
ambl3'opischer Fleck, ohne dass sie in einander übergingen. Auf dem Boden
findet er vorgeworfenes Fleisch, das links fällt, nicht sogleich. 22. Tag: Pcrl-
bohnengrosse, mit einer Pincette in senkrechter Richtung plötzlich vor das
Auge geführte Stückchen Fleisch beachtet er, solange sie ruhig gehalten werden,
im ganzen Gesichtsfelde nicht, bei der geringsten Bewegung, die das
Fleisch oder der Kopf macht, schnappt er aber danach. (Stossversuch.) Links
ansclieinend keine Störung mehr. Auf dem Boden findet er vorgeworfenes
Fleisch nicht sofort, scheint sich mit Gehör und Geruch zu orientieren. 26. Tag:
Links besteht lateral oben ein kleiner amblyopischer Fleck. Rechts Stoss-
versuch positiv. Auf dem Boden findet er vorgeworfenes Fleisch nicht sofort.
35. Tag: Rechts und links ist wieder eine, den oberen lateralen Quadranten
einnehmende Anopsie nachzuweisen. Auf dem Boden sieht er rechts ziemlich
schlecht, mit der Pincette wagerecht vorgehaltenes Fleisch findet er erst, indem
er sich an derselben entlang schnüffelt. 39. Tag: Rechts wie links unver-
ändert. Auf dem Boden sieht er etwas besser, findet Fleisch ziemlich bald.
41. Tag: Rechts keine Sehstörung mehr, links ist der amblyopische Fleck
schmäler geworden. Auf dem Boden mit dem rechten Auge immer noch sehr
— 378 —
unsicher. Gegen Licht: Am 2. Tage scheute er rechts sehr stark, links gar-
nioht. 4. Tag: Rechts unsicher, links keine Reaction, macht aber mit der
Pfote eine Abwehrbewegung; links nur unten innen Reaction. 6.und7.Tag:
Links nur innerhalb des sehenden Sectors, rechts im ganzen Gesichtsfeld
scheuend. 8. Tag: Reaction beiderseits, aber links schwächer als rechts; vom
10. Tage an bis zum Ende der Beobachtung reagirt er beiderseits höchst lebhaft.
Optische Reflexe: Fehlen bis zum Schluss der Beobachtung gänzlich,
doch ist am 13. und 15. Tage notirt, dass er bei diesen Versuchen un-
ruhig wird.
Gestorben nach ungefähr 6 Wochen.
Section: Häute normal. Auflagerung ziemlich symmetrisch der in
Beobachtung 100 beschriebenen, doch weniger weit nach vorn reichend.
Durchschnitt durch die Mitte der Narbe zeigt ein ganz ähnliches Bild wie
Beobachtung 100, nur ist hier die Balkenstrahlung nicht unterbrochen und
überhaupt etwas mächtiger, als auf der anderen Seite. Dagegen reicht die
gelatinöse Veränderung der Convexität etwas mehr lateral. Der Ventrikel ist
massig nach oben ausgezogen. 2. Durchschnitt durch den vorderen Rand der
Narbe am gehärteten Präparat zeigt die dorsale Rinde der II. Urwindung gänz-
lich fehlend. Seitenventrikel stark erweitert.
Die Läsion begriff hier die ganze hintere Hälfte der Sehsphäre in
sich und reichte mit ihrem vorderen Winkel noch erheblich in die
vordere Hälfte hinein. Die Stelle Ai einschliesslich des darunter
liegenden Marklagers war gänzlich zerstört.
Die Stelle des deutlichen Sehens, sowie der obere und der laterale
Theil des Gesichtsfeldes des linken Auges, ferner der obere Theil des
medialen Abschnittes des rechten Gesichtsfeldes hätten also dauernd
rindenblind sein müssen. In der That betraf die Sehstörung des linken
Auges den oberen und den lateralen Theil des Gesichtsfeldes insofern
erheblich stärker, als die Aufhellung desselben im unteren und medialen
Teil begann und dann nach oben und medial fortschritt, sodass beim
Tode des Thieres nur noch ein oberer temporaler Kreisausschnitt blind
war. Indessen würde sich vermuthlich, wie in zahlreichen anderen
Fällen auch dieser noch aufgehellt haben. Die übrigen Theile des
Gesichtsfeldes, insbesondere die Stelle des deutlichen Sehens waren je-
doch in keinem Falle rindenblind.
Besonders bemerkenswert ist das hochgradige Wiederaufleben der
von der I.Operation herrührenden Sehstörung. Das gleichnamige rechte
Auge war bis zum 5. Tage ganz blind. In den späteren Stadien Hess
sich nach Aufhellung der mittleren Partie je eine auf die linke und
auf die rechte Hemisphäre zu beziehende Sehstörung unterscheiden,
wobei wiederum bemerkenswert war, dass die zu der 1. Operation in
Beziehung stehende Sehstörung länger anhielt als die andere. Auch
— 379 —
auf dem linken Auge trat jlie erstmalige mediale Sehstörunf.; und zwar
vornehmlich in dem oberen Abschnitt des Streifens wieder auf.
lieobacliLtulija- OS.
Derselbe Hund von Beobachtung 95 (vergl. dort die Figuren). Auf-
deckung rechts fast ganz hinten auf 16mm sagittal, 17mm frontal. ExsLirpation
der Rinde im ganzen Bezirk, medial bis zur Falx mit Präparatenheber and
üaviel'schem Löffel.
Moti litätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage reagirt er in der Schwebe
links oberhalb des Aequators und ganz lateral unten, sowie medial unten
gewöhnlich nicht. Zeitweise reagirt er jedoch auf der medialen Partie unter-
halb des Aequators. Gegen kleine Stückchen Fleisch, die senkrecht auf nicht
sehende Teile zugcstossen werden, reagirt er nicht. Am 3. Tage besteht rechts
ein schmaler nasaler nicht sehender Streifen; senkrecht gegen das Auge ge-
führte kleine Stückchen Fleisch sieht er erst nach einiger Zeit. Links sieht er
oberhalb des Aequators nichts, desgleichen unterhalb lateral auf einem
schmalen Streifen. Am 4. Tage rechts nur noch ein ganz schmaler nasaler
Streifen blind, links nur noch ein nicht sehr breiter lateraler Streifen, sonst
oben keine Sehstörung mehr. 9. Tag: In der Schwebe gegen Fleisch ist links
nichts Sicheres mehr nachzuweisen; rechts besteht bei gewöhnlicher Absuchung
des Gesichtsfeldes keine Sehstörung, doch sieht er senkrecht gegen das Auge
geführte Fleischstücke immer erst, wenn sie bewegt werden. Später keine
Aenderung mehr. Gegen Licht: Keine erkennbare Sehstörung, wird stets
unruhig.
(Die geringere Ausdehnung und Dauer der Sehstörung erklärt sich viel-
leicht daraus, dass die Zerstörung rechts weniger weit nach vorn in die Tiefe
gedrungen ist.)
Optische Reflexe: Links überhaupt ungestört, rechts beginnen
sie am 4. Tage, also nach mehr als 3 Monaten nach der 1. Operation wieder-
zukehren und sind am 23. Tage gegen flache und schmale Hand vorhanden.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet nach ungefähr 4^/2 Wochen.
Section: Auf der Mitte der Convexität dicht lateral und hinter dem
Gyrus sigmoides ist die Dura leicht mit der Pia verklebt. Die 13mm sagittal
und 18mm frontal messende Narbe sitzt weiter nach hinten und medial als
links. Sie reicht bis an die Medianspalte des Gehirns und medial bis an den
hinteren Pol, lateral bleibt sie 5mm vom hinteren Hemisphärenrand entfernt.
Der vordere Rand bleibt 6mm hinter dem vorderen Rand der Sehsphäre zurück.
Hinterer Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Die Rinde unter der Narben-
kappe ist breit zerstört, medial finden sich noch Reste des Rindengraues, die
aber stark abgeblasst und durch einen von medial her eindringenden Er-
weichungsherd durchsetzt sind. Von dem Fusse der Hirnnarbe aus zieht ein
breiter Erweichungsstreifen nach der vorerwähnten medialen Narbe zu, den
Gyrus fornicatus an dieser Stelle eher noch stärker als links vollkommen zer-
— 380 —
störend. Vorderer Durchschnitt nahe dem vorderen Rande der Narbe: Unter
der lateralen Partie der Narbenltappe ist die Rinde abgeblasst, unter der
medialen völlig zerstört, der schmale medial davon stehengebliebene Rinden-
streifen des Randwulstes stark abgeblasst. Diese Narbe erstreckt sich breit
ca. 5 mm basalwärts und sendet ausserdem Erweichungsstreifen weiter basal
bis zur Ventrikelwand und nach medial nach der Medianfläche der Hemisphäre,
deren Rindengrau sie hier fächerig durchsetzt und im Wesentlichen zerstört,
sodass nur noch kleine abgeblasste Inseln zwischen den Narbenmassen übrig
sind. 3. Durchschnitt dicht voj der Narbe: Rinde völlig intact bis auf ein
paar punktförmige Erweichungen im Rindengrau resp. an der Grenze von
Rindengrau und Markweiss der Medianfläche der Hemisphäre.
Hier war die Stelle A^ gänzlich zerstört, ausserdem aber noch der
entsprechende Teil des Randwulstes und ein grosser Theil des hinteren,
sowie des lateralen Abschnittes der Sehsphäre.
Die Sehstörung hätte folglich nach Munk einmal die Stelle des
deutlichen Sehens, dann aber den oberen und lateralen Teil des Ge-
sichtsfeldes des linken Auges, sowie einen grossen Teil des der rechten
Hemisphäre zugeordneten Abschnittes des rechten Gesichtsfeldes treffen
müssen. Alle diese Teile hätten dauernd rindenblind sein sollen. Nun
war aber die Stelle des deutlichen Sehens bereits am 2. Tage frei. Der.
obere Theil des Gesichtsfeldes zeigte sich allerdings hochgradig betheiligt;
aber diese Störung war nur am 2. und 3. Tage nachweisbar. Dann
bestand die Sehstöruiig, solange sie überhaupt noch beobachtet werden
konnte, wie in den meisten anderen Fällen nur no©h in einem tempo-
ralen Streifen fort. Auch auf dem rcciitcn Auge verschwand die
tyi)ische mediale Selistörung gänzlich, sodass auch hier von llindcn-
Idiiulhcit keine Rede war. Dagegeii bestand die residuäre Sclistiirnng
der ]. Operation in Gestalt einer Hemiamblyojjie fort.
tJcolbsxelitiiiij»;- OO.
/Vufdeckung ganz hinten links. Knochenlücko 18 mm sagitUil, IG mm
frontal. Die freiliegende Hirnpartic wird mehr als .1cm tief abgetragen, d;uni
auch die nach der Falx zuliegendc vom Knochen bedeckte Rinde ausgiebig
unterschnitten und von ihren seitlichen Verbindungen getrennt, Minimale
Blutung.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch mehrfach, namentlich in den ersten Tagen
wegen Unaufmerksamkeit nicht deutlich abzugrenzen. Am 4. Tage bis auf
schmalen, nasalen Streifen reaotionslos. Am 6. Tage über der Horizontalen
Sehstörung noch über ^/s, unter derselben weiter nach aussen aufgehellt; auch
im schmalen nasalen Streifen links nachweisbar. Am 7. Tage noch über ^/a,
am 8. bis 10. Tage die Hälfte des Gesichtsfeldes, am 11. Tage nur noch im
schmalen, temporalen Streifen, vom 12. Tage an keine Sehstörung mehr nach-
— 381 —
zuweisen. Gegen Licht: Bis zum 6. Tage abgeschwächt, scheinbar nur in
nasalen Partie vorhanden, nachher normal.
Opt. Reflexe fehlen bis zum Schluss der Beobachtung (22. 'rag).
Nasenlidreflex ungestört.
Am 22. Tage symmetrische Operation mit Eröffnung des Ventrilcels.
Am 23. Tage getödtet im agonalen Zustand.
Piff. 163.
links
rechts
Fig. 164.
Section: Dem Hinterhauptslappen sitzt eine ca. 17mm sagittal und
15 mm frontal messende Narbenkappe auf, die nach hinten fast bis zum
hinteren Pol reicht; nach medial steht noch eine ca. 3 mm breite Brücke
glatter Pvinde bis zur Medianspalte. Hinterer Durchschnitt durch die Mitte der
Narbe: Ventrikel erweitert, von Blutcoagulum erfüllt. Unter der Narbenkappe
findet sich bis zur Ventrikelwand kein normales Hirngewebe mehr; dasselbe
— 382 —
ist aufgehellt, narbig verändert, von blutigen Erweichungsherden durchsetzt.
Ebenso zeigt sich die mediale Rindenbrücke unterschnitten bis zur Median-
spalte, aufgehellt. Der Einstich hat die Ventrikelwand lädirt, dieselbe zeigt
sich, wenn man das Blutcoagulum abhebt, narbig eingezogen. Die unter der
Kappe liegende blutig durchsetzte Narbe zieht sich an der medialen Be-
grenzung des Ventrikels entlang ziemlich weit basalwärts. Beim 2. Durch-
schnitt (vorderer Rand der Narbe) zeigt sich der mit frischem Blutcoagulum
erfüllte Ventrikel sehr stark erweitert. Der Gyrus fornicatus etc. ist hier ganz
zerstört. Das im Ventrikel befindliche Blut ist durch diesen Defect von der
rechtsseitigen Operationsstelle nach links durchgebrochen. Unter der nur noch
kleinen Narbenkappe finden sich die Reste der blutig durchsetzten Hirnnarbc,
die aber auch hier noch bis zum Ventrikel reicht.
Hier war der grössere Theil der Sehsphäre, namentlich die Stelle
Ai vollständig, die hintere Partie fast vollständig und die vordere
Partie in ihrem mittleren Theil zerstört. Die Zerstörung reichte bis nn
die Ventrikel wand.
Die Sehstörung bestand in einer typischen Hemiamblyopie von
lltägiger Dauer. Rindenblind war also kein Theil des Gesichtsfeldes,
insbesondere nicht die Stelle des deutlichen Sehens.
BeobaditiMigj- lOO.
Derselbe Hund von Beobachtung 97 (vergl. dort die Figuren). Auf-
deckung hinten links einige Millimeter vor der Lambdanaht auf sagittal 15mm,
frontal 16 mm. Medialer Rand der Lücke etwa 3 mm von der Mittellinie ent-
fernt. Exstirpation der Rinde ca. ^/^ cm tief bis zur Medianspalte.
Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung: Gegen Fleisch: In den ersten 4 Tagen in der Schwebe
l^nicht zu untersuchen; er scheint am 3. Tage auf dem rechten Auge ganz
lind, da er bei verbundenem linken Auge überall anrennt und vorgeworfenes
Fleisch nirgends findet. Am 5. Tage reagirt er rechts in einem, in seiner
Ausdehnung nicht näher bestimmbaren schmalen nasalen Streifen, wahr-
scheinlich aber unter der Horizontalen besser als oben. Links reagirt er auf
einem schmalen nasalen Streifen nicht. Vom 11. — 21. Tage: Sehstörung
rechts oben reichlich bis zur Mitte, unten nicht ganz soweit reichend wie
oben, am 22. Tage noch deutlich nachweisbar, vom 23. — 26. Tage nicht mehr
sicher nachzuweisen, dann verschwunden. Gegen Licht: Vom 2. — 4. Tage
rechts ohne Reaction, links blinzelt er entweder stark oder scheut; vom 5. Tage
an scheut er, auch bei verbundenem linken Auge, bei Belichtung des sehenden
Areals.
Optische Reflexe: Fehlen rechts während der ganzen Beobachtungs-
zeit gänzlich, sind links sehr stark.
Gestorben nach 2Y2 Monaten, 6 Wochen nach einer 2. Operation.
Section; Häute normal. Die Narbe schneidet nach vorn mit einer
■ — 383 —
Senlirecliien S|HLze der Fossa Sylvii — Falx ab; medial reicht sie bis zu dem
stark eingezogenen medialen Hand der I. ürwindung; lateral umgrenzt sie den
medialen Rand der III. Ürwindung, nach hinten bleibt sie medial 2mm, lateral
5mm vom hinteren Pol entfernt. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Es
fehlt die Rinde der Convexität unter der ganzen von der Narbe bedeckten
Stelle gänzlich, stellenweise ist sie durch eine gallertige Masse ersetzt, auch
der Randwulst ist zerstört. Ebenso fehlt die weisse Substanz unter der Narbe,
Fig. 165.
sodass nur ein Theil der Balkenstrahlung erhalten geblieben ist. Auch diese
ist lateral über dem Kopf des Nucleus caudatus durch einen hämorrhagischen
Erweichungsherd so gut vi^ie gänzlich unterbrochen. Der Ventrikel ist massig
nach oben ausgezogen. 2. Durchschnitt durch den vorderen Rand der Narbe
am gehärteten Präparat zeigt die dorsale Funde der I. und II. ürwindung ober-
flächlich zerstört. Seitenventrikel stark erweitert.
Die narbige Auflagerung reichte hier erheblich über den vorderen
Rand der Exstirpation hinaus. Die gesetzte Zerstörung betruf also
neben der gänzlich ausgeschalteten Stelle A^ vornehmlich den Rand-
wulst und den mittleren Theil der IL ürwindung.
Rindenblind hätten also sein müssen einmal die Stelle des deut-
lichen Sehens, ferner die laterale und ein Theil der oberen Partie des
Gesichtsfeldes. Thatsächlich war kein Theil desselben rindenblind, in-
sofern die Sehstörung am 27. Tage gänzlich verschwunden und insbe-
sondere die Stelle des deutlichen Sehens bereits am 11. Tage frei war.
Dagegen waren allerdings die lateralen und oberen Theile des Gesichts-
feldes stärker und länger betroffen als die medialen und unteren.
— 384 —
Tabelle V.
Centrale Läsionen. Atypisclic.
o
S e h s t ö r 1.1 n g
m
Art der
Ort
der Operation
-
Optische
3
Bemer
vungen
6
Operation
(Section)
gegen Fleisch
gegen
Licht
Reflexe
G
o
CT
91
92
Exstirpa-
tion ca. 1
cm tief.
Exstirpa-
tion des
aufgedeck-
ten Rin-
dentheils
ca. 1 cm
tiefu. Zer
Störung der
medialen
Partie.
Rechts. Vom hinteren
Pol 1 5 mm entfernt.
Medialer Rand nahe
der Medianspalte ;
lateraler Rand nahe
dem medialen Rand
der III. Urwindung.
VordereGrenze -. Vor-
derste Spitze des
Bogens der Sylvi-
schen Windung.
Links. Vom hinteren
Pol 9 mm, von der
Mittellinie 6 mm ent-
fernt. Vordere Grenze
reicht über Senk-
rechte Spitze der
Fossa Sylvii — Falx
3 mm hinaus.
Rechtes Auge: Wie-^Bis zum 9.
deraufleben der Seh-|Tage links
Störung. Verschlim- total, bis
merung am 3. Tage; zum 22.
Aufhellung des hoch- Tage abge
gradigen Defectes schwächt,
zuerst unten lateral,
schliesslich zuletzt
oben lateral. Dauer
16 Tage länger als
links.
Linkes Auge : Bis
zum 3. Tage total,
bis zum 11. Tage
typisch hemiano-
pisch, dann Aufhel-
lung von unten me-
dial nach oben. Zu-
letzt mehr halbmond-
förmiger oberer De-
fect. Dauer 21 Tage.
Linkes Auge: Am 2
Tage oben bis zur
Mittellinie, am 3.
Tage fast bis zur
Mittellinie reichend.
Dauer 5 Tage, oben
immer stärker.
Rechtes Auge: Am
2. Tage ganz blind,
dann eine typische,
allmählich von unten
innen nach oben
aussen zurückwei-
chende Hemianopie.
Längere Zeit unsi-
cherer Grenzstreifen.
Dauer 22 Tage.
Wie gegen
Fleisch.
In der Re-
gel fehlend
bis zum
68. Tage.
Fehlen
noch am
29. Tage
gänzlich.
Unge-
stört.
Unge-
stört.
Rechts u. link
Wiederauf le
ben der altci
Sehstörung.
Motilitätsstö
rungen bis :}
5. Tage.
Rechtes Aug^
unsicherer
Grenzstreife)
LIngewöhn-,
liehe Bethej
ligung drs
linken Aw'f
385
:q
Art der
Operation
Ort der Operation
(Section)
S e h s t ü r u n o-
gegen Fleisch
gegen
Licht
Optische
Red exe
<5
Bemerkungen
14
Exstirpa-
tion des
aufgedeck-
ten Rin-
dentheils
ca. 1 cm
tief u. Zer-
störung
der medi-
alen Par-
tie.
Exstirpa-
tion mit
Zerstörung
der me-
dialen
Rinde.
Links. Vom hinteren
Pol und von der Me-
dianlinie 6 mm ent-
fernt. Vordere Grenze
schneidet an einer
Senkrechten Spitze
der Fossa Sylvii —
Falx ab , laterale
Grenze : IIL Urwin-
dung. Frontal 1 1
mm, sagittal 15 mm.
Rechts. Vom hinteren
Pol 10 mm, von der
Medianlinie 6 mm
entfernt. Voi'dere
Grenze reicht bis
zum vorderen Rand
der „Sehsphäre", la-
teraleGrenze : IILUr-
windung. Frontal
18 mm, sagittal
12 mm.
Zuerst nur den unte-
ren inneren Qua-
dranten freilassend,
dann allmählich zu-
rückweichende late-
rale Hemianopie,
Dauer 17 Tage.
Rechtes Auge: Bis
zum 4. Tage etwas
mehr als lateralen
unteren Quadranten,
bis zum 15. Tage
unteren Sector frei-
lassend; dann nach
oben zurückwei-
chend; am 26. Tage
auf medialen und
lateralen Streifen be-
schränkt; dann- bis
gegen den 43. Tag
im oberen Quadran-
ten allmählich zu-
rückweichend. Bis
zum 61. Tage theils
an der gleichen
Stelle, theils nicht
nachweisbar. Vom
63. Tage an 2. Ver-
schlimmerung, die
allmählich von un-
ten innen nach oben
aussen zurückweicht,
dabei immer Am-
blyopie der unteren
Gesichtsfeldhälfte.
Dauer 91 Tage.
Linkes Auge : Am
2. Tage etwas mehr als unteren medialen
Quadranten freilassend, am 3. Tage
total, bis zum 14. Tage unteren mitt-
leren Sector freilassend, dann allmäh-
lich nach oben zurückweichend, so-
dass mediale und laterale Ränder
übrig bleiben. Dauer 24 Tage.
Hitzig, Gesammelte Abhaiidl. II. Theil.
Am 2. Tage
allgemein,
bis zum 5.
Tage nur
auf dem
nicht-
sehenden
Theil, am
T.Tage ver-
schwun-
den.
Stärker re-
agirend als
gegen
Fleisch, im
Allgemei-
nen jedoch
den dabei
zu beob-
achtenden
Grenzen
entspre-
chend.
Fehlen
dauernd.
Fehlen bis
zum 58.
Tage bei-
derseits u.
rechts bis
zum 92.
Tage gänz-
lich; von
diesem
Tage an
rechts, vom
58. Tage
an links
allmählich
wiederkeh-
rend. Am
52. Tage
beiderseits
anderwei-
tige moto-
rische
Reaction.
Rechtes Auge :
Wiederauf-
leben der al-
ten Sehstö-
rung, wieder-
holte Ver-
schlimmerun-
gen. Restliche
Amblyopie in
aufgehellten
Gesichtsfeld-
partien.
25
386
K
S e h s t ö r u D g
Art der j
Operation
Ort der Operation
(Section)
gegen
Licht
Optisclie
Reflexe
Bemerkungen
95
96
97
Exstirpa-
tion ca.
1 cm tief.
Links. Der grössere
Theil der Sehsphäre.
Vom hinteren Pol
5 mm entfernt. Me-
dialer Rand nahe der
Medianlinie, laterale
Grenze : lateralerRand
der IL LTrwindung.
Vordere Grenze : vor-
derer Rand der Seh-
sphäre. Frontal 12
mm, sagittal 11 mm.
Exstirpa-
tion ca.
1 cm tief.
Exstirpa-
tion ca.
V4 cm tief.
Links. Hinterer Al3-
schnitt d. Sehsphäre,
1. undll.Urwindung
Hinterer Pol. Me-
dialer Rand nahe d
Medianspalte; late-
rale Grenze : media-
ler Rand der III. Ur-
-Windung.
Rechts. Annähernd
Beob. 100 symrae
frisch, reicht aber
medial nicht so weit
nach vorn. Zerstö
rung der ganzen I.
und IL Urwindung
und der Marksub-
stanz mit Ausnahme
derBaikenstrahlunff.
Linkes Auge: Am 2.
Tage auf schmalem
nasalen Streifen, am
3. Tag£ unsicher, am
4. Tage fehlend.
Rechtes Auge: Bis
zum 4. Tage typisch
hemianopisch, dann
medial lateral zu-
rückgehend, zuletzt
oberer lateral. Fleck.
Beim Stossversuch
und beim Fleisch-
suchen auf dem Bo-
den noch am 89.
Tage hochgradige
Amblyopie.
Linkes Auge: Schma
1er nasaler Streifen.
Dauer 23 Tage.
Rechtes Auge : Ty^
pische Hemiopie,
vom 6. Tage an late-
raler halbmondför
miger Defect. Dauer
26 Tage.
Anfänglich beiderseits
total blind. Aufhel-
lung rechts vom 6.
Tage an, in der Mitte
nach beiden Seiten
zunehmend, zuletzt
im lateralen oberen
Quadranten; links vom
4. Tage an zuerst
in der Mitte unten,
dann nach oben zu-
nehmend, zuletzt im
lateralen oberen
Quadranten. Ambly-
opie bei Stossver
such und auf dem
Boden bis zum
Schluss.
Anschei-
nend wie
gegen
Fleisch.
Fehlen
rechts
dauernd,
aber auch
links vom
60. Tage
an.
Rechts bis
zum 4.
Tage total,
allmählich
wieder-
kehrend.
Nur bis
zum
10. Tage.
Bis zum
6. Tage
gänzlich
fehlend,
dann all-
mählich
wieder-
kehrend.
Fehlen.
Unge-
stört.
] Tage lang j
Sensibilitäts-
störungen im
rechten Na-
senloch.
— 387
m
Art der j
Operation
Ort der Operation
(Section)
S ö h s t ö r u n o-
gegen Fleisch
gegen
Licht
Optische
Reflexe
•^ Bemerkungen
^
98
Exstirpa-
tion.
99
Exstirpa-
tion über
1 cm tief.
1100
Exstirpa-
tion ca.
V4 cm tief.
Rechts. Hinten me-
dial bis an den hin-
teren Pol , lateral
5 mm entfernt, me-
dial bis an die Me-
dianspalte reichend.
Laterale Grenze :
medialer Rand der
Ill.Urwindung. Vor-
dere Grenze: 6 mm
hinter dem vorderen
Rand der Sehsphäre.
Frontal 18 mm, sa-
gittal 13 mm.
Linlis. Hintere Grenze
fast hinterer Pol;
medial ca. 3 mm
von der Medianspalte
entfernt bleibend
Vordere Grenze nahe
dem vorderen Rand
der Sehsphäre; late
rale Grenze nahe dem
lateralen Rand der
IL Urwindung.
Links. Hinten medial
2 mm, lateral 5 mm
vom hinteren Pol,
medial bis an die
Medianspalte rei-
chend. Laterale
Grenze: medialer
Rand der IlL Ur
Windung; vordere
Grenze : Senkrechte
Spitze der Fossa Syl
vii — Falx.
Rechtes Auge: Dau-
ernde Aniblyopie von
der 1. Operation, bis
gegen den 9. Tag
schmaler nasaler
Streifen blind.
Linkes Auge : Bis
zum 3. Tage ober-
halb des Aequators
und auf einem tem-
poralen Streifen
blind. Vom 4. bis
gegen den 9. Tag
nur noch tempora
1er Streifen.
Hund unaufmerksam
Am 4. Tage hemi-
anopisch. Am 6.
Tage ca. Vs^^is z. 10,
Tage Hälfte des Ge-
sichtsfeldes, 11. Tag
schmaler temporaler
Streifen, 12. Tag
verschwunden.
Lintes Auge : Bis zum
5. Tage nasaler Strei-
fen blind.
Rechtes Auge: Bis
zum 4. Tage total,
nachher hcmiano-
pisch von unten me-
dial nach oben lateral
abnehmend. Dauer
höch.stens 26 Tage
Fehlt.
Bis zum
6. Tage.
Bis zum
4. Tage to
tal, dann
auf der
amblyopi-
sehen
Partie.
Links
überhaupt
ungestört;
rechts be-
ginnen sie
am 4. Tage,
also nach
mehr als
3 Monaten
nach der
1. Opera-
tion wie-
derzukeh-
ren und
sind am 23.
Tage gegen
flache und
schmale
Hand vor-
handen.
Fehlen
dauernd.
Fehlen.
Unge-
stört.
Unge-
stört.
Nach Opera-
tion hinten
Intactheit der
opt. Reflexe.
Zusammenfassung.
1. Sehstörungen, (aa. Reaction gegen Fleisch): Den in
der Tabelle Y vereinigten 10 Versuchen wohnt deshalb ein besonderes
25*
~ 388 —
Interesse bei, weil bei ihnen neben der Stelle A^ noch andere benach-
barte Theile der Convexität in grösserer Ausdehnung zerstört waren.
Wenn also die Lehre Munk's begründet wäre, so hätte man je nach der
Lage des nachbarlichen Rindendefectes einen der Stelle des deutlichen
Sehens benachbarten Gesichtsfelddefect entweder medial, lateral, oben
oder unten entdecken müssen, und da ausserdem noch die Stelle des
deutlichen Sehens unbrauchbar geworden sein sollte, so hätte ein in
dieser Weise vergrössertes Scotom der wesentlichsten Theile des Ge-
sichtsfeldes der Beobachtung ' um so weniger leicht entgehen dürfen.
Gleichzeitig konnte aber die Beobachtung der Folgen, welche die ver-
schiedenartig um die Stelle A^ localisirten Läsionen für die einzelnen
Theile des Gesichtsfeldes gehabt hatten als Prüfstein für die Richtig-
keit der Projectionslehre von Munk mit Bezug auf die fraglichen
Regionen dienen. Aus diesem Grunde habe ich die einzelnen Beobach-
tungen der Tabelle V derart angeordnet, dass den Anfang machen die-
jenigen Beobachtungen, bei denen die Läsion im Anschluss an die ähn-
lich localisirte Beob. 75 der Tabelle IV a den vorderen Abschnitt der
Hemisphäre mit in ihren Bereich zog, hieran schliessen sich die mehr
hinten und an diese eine mehr medial localisirte Operation. Die Mit-
verletzungen des lateralen Abschnittes habe ich nicht besonders berück-
sichtigt. Zunächst haben wir wieder die Frage zu beantworten „ob
die Stelle des deutlichen Sehens vorzugsweise geschädigt
und ob sie rindenblind war". Wiederum ergiebt sich für alle diese
Fälle ausnahmslos, dass kein Theil des Gesichtsfeldes dieser
Hunde, insbesondere niciit die Stelle des deutlichen Sehens
durch die Operation rindenbliud geworden war, sondern
dass alle, auf allen Theilen ihrer Gesichtsfelder das Seh-
vermögen wieder erlangten, nur der Hund der Beobb. 97 und 100
starb am 42. Tage, bevor sich ein noch restirender. lateraler oberer
Sector des betreffenden (linken) Auges aufgehellt hatte.
Sehen wir ferner zu, wann die Stelle des deutlichen Sehens im
Verhältniss zu anderen Theilen des Gesichtsfeldes^) wieder functions-
tüchtig wurde, so ergiebt sich Folgendes: Beob. 98 ungestört (17);
Beob. 96—5 (28); Beob. 92—7 (23); Beob. 93—7 (18); Beob. 99—8
(12); Beob. 100—11 (23—27); Beob. 91— 14 (38); Beob. 94—15 (92).
Die Stelle des deutlichen Sehens war also auch in diesen
Fällen keineswegs vorzugsweise geschädigt, sondern sie
wurde auch hier mit zuerst wieder functionstüchtie;.
1) Die eingeldammerte Zahl zeigt den Tag an, an dem das Verschwin-
den des Scotoms aus dem Gesichtsfeld zuerst notivt ist.
— 389 —
Einer besonderen Erwähnung bedürfen die Beobb. 95 und 97. Bei
der ersteren konnte der Hund mit der Stelle des deutlichen Sehens
zwar relativ früh, am 6. Tage wieder sehen, d. h. er schnappte nach
kleinen Fleischstücken, sobald sie von der Seite her eingeführt, die
Grenze des hvteralen Scotoms medialwärts überschritten hatten, und
ebenso reagirte schliesslich, nachdem das Scotom sich gänzlich ver-
loren hatte (am 54. Tage) das ganze Gesichtsfeld; aber es bestand noch
eine deutlich wahrnehmbare und nicht wieder verschwindende Amblyopie
fort, auf die dann näher einzugehen sein wird, wenn von der Art der
Sehstörung gesprochen werden soll.
Aehnlich, aber doch noch in gewisser Beziehung anders war die
Sachlage bei der Beob. 97. Anders insofern, als der Versuch einer
2. symmetrischen Operation galt und als die restirende Amblyopie am
stärksten auf der der Operation gleichnamigen Seite hervortrat. (Dass
auf der gegenüberliegenden Seite noch ein lateraler blinder Fleck bei
dem Tode des Thieres vorhanden war, habe ich oben bereits augeführt.)
Im Uebrigen aber war eine der Art nach gleiche Amblyopie des ganzen
Gesichtsfeldes beiderseits während eines verhältnissmässig langen Zeit-
ramns unschwer zu erkennen. Auch hierauf werde ich später zurück-
kommen.
Zu denjenigen Operationen, welche neben der Stelle A^ den
vorderen Theil oder besonders den vorderen Theil der Seh-
sphäre in Mitleidenschaft zogen, rechne ich die Beobb. 91 — 95. Bei
der Beob. 91 nahm die Operation die vordere und mittlere Partie der
Sehsphäre Munk's, sowie die caudale Partie seiner Angenregion, also
die vordere Partie der Sehsphäre nach der Begrenzung v. Monakow's
ein. Die Zerstörung war, wie der Durchschnitt lehrt, eine sehr hoch-
gradige und tiefgreifende. Demnach hätte dauernd rindenblind sein
müssen ein Theil der Stelle des deutlichen Sehens und der grössere
Theil der unteren Hälfte des linken Gesichtsfeldes. Tliatsächlich be-
stand zuerst eine typische Hemianopsie, die sich derart verlor, dass sich
zuerst gerade diejenigen Theile, welche rindenblind hätten sein sollen,
nämlich die Stelle des deutlichen Sehens und die unteren Partien des
Gesichtsfeldes aufhellten, während die oberen Partien, die intakt hätten
sein sollen, noch länger blind blieben. Es folgt die Beob. 92. Hier
reichte die Zerstörung in frontaler Richtung gleichfalls bis in die Augen-
region hinein, und hatte fast die ganze dorsale Partie des Markes zer-
stört, sodass das Scotom nach der Theorie Munk's ähnlich wie beider
Beob. 91 postulirt hätte aussehen müssen. Tliatsächlich aber verlief die
Sehstörung wieder gerade umgekehrt, also ähnlich wie bei der Beob. 91,
derart, dass eine typische Hemianopsie beobachtet wurde, die in der
- 390 —
Weise zurückging, dnss die Stelle des deutlichen Sehens schon am
7. Tage frei war, während in der Folge sich gerade die unteren an-
statt der oberen Gesichtsfeldpartien zuerst aufhellten. Bei der Beob. 93
betraf die Ausschaltung gleichfalls noch den caudalen Theil der Augen-
region; ausserdem hatte sie aber dem Anscheine nach auch noch den
caudal von der Stelle Aj liegenden Abschnitt mit in ihren Bereich ge-
zogen. Das dorsale Mark war gänzlich zu Grunde gegangen und von
der lateralen und medialen Nachbarschaft der Auflagerung, keinesfalls
viel functionsfähige Substanz übrig geblieben. Auch hier hätte die
Sehstörung also, um dem Schema zu entsprechen, neben der Stelle des
deutlichen Sehens vornehmlich den unteren Theil des Gesichtsfeldes,
abgesehen von dem, was sonst noch hätte fehlen müssen, einnehmen
sollen. Die Stelle des deutlichen Sehens fungirte aber bereits am
7. Tage wieder. Die Sehstörung bestand in einer typischen Hemianopsie,
und wenn ein Theil des Gesichtsfeldes weniger betroffen war, so war
es gerade der untere Theil desselben. Bemerkenswert!! ist ferner im
Gegensatz zu der Grösse der angerichteten Zerstörung der schnelle Ab-
lauf der Sehstörung. Bei der Beob. 94 reichte die Zerstörung nur bis
an die vordere Grenze der sogenannten Sehsphäre und nahm daselbst
wenigstens oberflächlich in frontaler Richtung nicht deren ganzes Areal
ein. Der Durchschnitt zeigte allerdings, dass in der Tiefe mehr als
nach dem oberflächlichen Ansehen vermuthet werden durfte, ausgeschaltet
war. Da fast die ganze hintere Hälfte der Sehsphäre intact gelassen
war, so hätte wenigstens die obere Hälfte des linken Gesichtsfeldes
freibleiben müssen, und da, wenn überhaupt ein Theil der vorderen
Hälfte der Sehsphäre functionsfähig geblieben war, dies von ihrer me-
dialen Partie galt, so hätte die laterale Partie des linken Gesichtsfeldes
sehend bleiben müssen. Andererseits sollte der Eingriff in die 1. Ur-
wiudung aber auch eine temporale Sehstörung zur Folge haben. That-
sächlich war, abgesehen von den Beobachtungen der ersten Tage, gerade
ein unterer mittlerer Sector des linken Auges an Stelle eines oberen
Ausschnittes sehend und dieser Sector vergrösserte sich nach beiden
Seiten derart, dass das amblyopische Gesichtsfeld noch bis zuletzt eine
obere Zone in sich schloss, welche schon ganz zu Anfang hätte sehend
werden, wenn nicht überhaupt bleiben sollen. Bei der Beob. 95 war
der grössere Theil der Convexität der Sehsphäre, jedenfalls aber die
Stelle Ai und die vordere Partie vollständig ausgeschaltet, am wenig-
sten betheiligt war noch die hintere Partie. Neben der Stelle des deut-
lichen Sehens hätte also fast das ganze Gesichtsfeld, am wenigsten
seine obere Partie rindenblind sein müssen. Obschon die Sehstürung
entsprechend der Grösse der Zerstörung von langer Dauer war, über
— 391 —
50 Tage, war doch kein Theil der Retina, namentlich nicht die Stelle
des deuth'chen Sehens, danernd rindenbiind. Die SeJistörung verlief als
typische Hemianopsie, sich typisch von nasal unten nach temporal oben
aufhellend, sodass also nicht der untere, sondern der obere Theil des
Gesichtsfeldes stärker betroffen erschien.
Wenn sich also bei der Beob. 75 eine wenigstens oberflächliche
Congnienz der Sehstörung mit den Behauptungen Mnnk's insofern er-
kennen liess, als das Scotom, obschon nur vorübergehend, doch die
unteren Partien des Gesichtsfeldes vorwiegend betheiligte, so traf dies
bei den soeben besprochenen Beobachtungen nicht nur nicht zu, son-
dern in so gut wie allen Fällen trat gerade das Gegentheil
in die Erscheinung: die untere Gesichtsfeldpartie war am
wenigsten betroffen.
Zu denjenigen Operationen, welche neben der Stelle A^ den
hinteren oder besonders den hinteren Theil der Sehsphäre
in Mitleidenschaft zogen, rechne ich die Beobb. 96 — 99. Bei der Beob. 96
war die Stelle A^ und die hintere Hälfte der Selisphäre zerstört. Die
Stelle des deutlichen Sehens und der grössere Theil der oberen Hälfte
des Gesichtsfeldes hätten dauernd rindenblind sein sollen. Die Stelle
des deutlichen Sehens functionirte jedoch bereits am 5. Tage wieder,
während die anfänglich vorhandene Hemianopsie gerade aus den oberen
Theilen des Gesichtsfeldes ungewöhnlich früh verschwand und sich mehr
in dessen lateralstem Theil aufhielt. Bei der Beob. 97 begriff die Lä-
sion die ganze hintere Hälfte der Sehsphäre in sich und reichte mit
ihrem vorderen Winkel noch erheblich in die vordere Hälfte hinein.
Die Stelle A^ einschliesslich des darunter liegenden Marklagers war
gänzlich zerstört. Die Stelle des deutlichen Sehens, sowie der obere
und der laterale Theil des Gesichtsfeldes des linken Auges hätten also
dauernd rindenblind sein müssen. In der That betraf die Sehstörnng
des linken Auges den oberen und den lateralen Theil des Gesichts-
feldes insofern erheblich stärker, als die Aufhellung desselben ira unte-
ren und medialen Theil begann und dann nach oben und medial fort-
schritt, sodass beim Tode des Thieres nur noch ein oberer temporaler
Kreisansschnitt blind war. Indessen würde sich vermuthlich, wie in
zahlreichen anderen Fällen auch dieser noch aufgehellt haben. Die
übrigen Theile des Gesichtsfeldes, insbesondere die Stelle des deutlichen
Sehens, waren jedoch in keinem Falle rindenblind. Bei der Beob. 98
war die Stelle Ai gänzlich zerstört, ausserdem aber noch der ent-
sprechende Theil des Randwulstes und ein grosser Theil des hinteren,
sowie des lateralen Abschnittes der Sehsphäre. Die Sehstörung hätte
folglich nach Mnnk auf dem linken Ange einmal die Stelle des deut-
— 392 —
liehen Sehens, dann aber den oberen nnd lateralen Theil des Gesichts-
feldes betreffen müssen. Alle diese Theile hätten dauernd rindeublind
sein sollen. Nun war aber die Stelle des deutlichen Sehens bereits
am 2. Tage frei. Der obere Theil des Gesichtsfeldes zeigte sich aller-
dings hochgradig betheiligt; aber diese Sehstörung war nur am 2. und
3. Tage nachweisbar. Dann bestand die Sehstörung, so lange sie über-
haupt noch beobachtet werden konnte, wie in den meisten anderen
Fällen, nur noch in einem temporalen Streifen fort. Bei der Beob. 99
war der grössere Theil der -Sehsphäre, namentlich die Stelle Aj voll-
ständig, die hintere Partie fast vollständig und die vordere Partie in
ihrem mittleren Theil zerstört. Die Zerstörung reichte bis an die Ven-
trikelwand. Die Stelle des deutlichen Sehens, welche rindenblind hätte
sein sollen, hatte sich bereits am 8. Tage wieder erholt; die obere Partie
des Gesichtsfeldes, welche vorwiegend hätte betroffen sein sollen, war
vorwiegend betroffen, war aber gleichfalls nicht rindenblind, sondern
functionirte am 12. Tage bereits wieder in ihrer ganzen Ausdehnung.
Die Beob. 100 führe ich als eine solche an, bei der neben der
Stelle Ai vornehmlich die mediale Partie der Sehsphäre zer-
stört war. Die gesetzte Zerstörung betraf also neben der gänzlich
ausgeschalteten Stelle Ai vornehmlich den Randwulst und den mittleren
Theil der II. Urwindiing. Rindenblind hätten also sein müssen einmal
die Stelle des deutlichen Sehens, ferner die laterale und ein Theil der
oberen Partie des Gesichtsfeldes. Thatsächlich war kein Theil desselben
rindenblind, insofern die Sehstörung am 27. Tage gänzlich verschwun-
den und insbesondere die Stelle des deutlichen Sehens bereits am
11. Tage frei war. Dagegen waren allerdings die lateralen und oberen
Theile des Gesichtsfeldes stärker und länger betroffen als die medialen
und unteren.
Die Dauer der Sehstörung war hier entsprechend der Grösse der
Verletzung im Allgemeinen grösser als bei den Objecten der vorigen
Versuchsreihe. Eine besondere Stellung nehmen dabei die Versuche 97,
94 und 91 ein, bei denen die Verletzung des anderseitigen Hinterhaupt-
lappens ein Wiederaufleben der erstmaligen Sehstörung zur Folge hatte,
worauf ich später zurückzukommen beabsichtige. Aber auch abgesehen
von diesen Versuchen, betrug die Dauer der nachweisbaren Sehstörung
bei den übriggebliebenen 6 Beobachtungen 12, 37, 18, 23, 27, 28 Tage.
bb. Die Sehstörung gegen Licht A^erhielt sich auch in diesen
Fällen annähernd wie die gegen Fleisch. Besonders zu erwähnen ist
nur die Beob. 94, bei der der Hund auf den oberen, gegen Fleisch
noch reactionslosen Partien mit einer abgeschwächten Reaction, mit
Fixiren anstatt mit Scheuen antwortete, ferner die Beob. 96, bei der
— 393 —
noch eine residuale Abschwäclmng der normalen Reaction mit Scheuen
auf den vorher blinden Partien zu erkennen war und endlich die ßeob. 94
und 97, bei denen die Reaction gegen Licht ausgesprochener war als
die gegen Fleisch.
2. Die optischen Reflexe waren bei einer von den 10 liier in
Frage kommenden Beobachtungen (Beob. 98) überhaupt nicht gestört.
Bei dieser war die Stelle des deutlichen Sehens und der grössere Theil
der unteren Hälfte des Gesichtsfeldes von Anfang an frei von einer
Sehstörung. Der Hund der Beob. 97 starb vor gänzlichem Ablauf der
Sehstörung. Zu dieser Zeit, am 41. Tage, fehlten die optischen Reflexe
noch gänzlich, während die Sehstörung des betreffenden Auges sich
schon seit längerer Zeit auf die lateralsten Partien des Gesichtsfeldes
zurückgezogen hatte. Bei den noch verbleibenden 8 Fällen hielt die
Störung der optischen Reflexe gerade wie bei der vorigen Serie stets
länger an als die Sehstörung und zwar dauerte ihre totale Aufhebung
in allen Fällen mit Ausnahme der Beob. 96 länger als die Sehstörung,
obwohl in allen diesen Fällen die Stelle des deutlichen Sehens und
deren nasale und untere Nachbarschaft schon längst wieder functionirten.
Bei der Beob. 96 verschwand die totale Aufhebung der optischen Re-
flexe gleichzeitig mit der totalen Blindheit jener Partien am 5. Tage;
ihre Abschwächung wurde aber bis zum Ende der Beobachtung min-
destens 11 Tage länger als die Sehstörung verfolgt. Bei allen diesen
Beobachtungen mit Ausnahme der Beob. 95 war ihre Störung bei Schluss
der Beobachtungszeit noch nicht abgelaufen, obwohl die letztere in
maximo 116 Tage dauerte. Besonders zu erwähnen bleibt nur noch,
dass die Hunde der Beobb. 93, 94 und 97 zeitweise bei Annäherung
der flachen Hand unruhig wurden, also bekundeten, dass sie sahen,
während der optische Reflex ausblieb, sowie dass der Hund der Beob. 91
zeitweise mehr oder minder deutliche Reflexe erkennen liess, während
sie an anderen dazwischen liegenden und darauffolgenden Tagen wieder
fehlten.
Alles in allem ergiebt sich, dass die Störung der opti-
schen Reflexe auch in diesen Fällen mit wenigen Ausnahmen
erheblich weiter reichte als selbst die Reste der Sehstörung
und dass sie entsprechend der grösseren Erheblichkeit der
Läsion von viel längerer Dauer war als in der vorigen Serie
unserer Beobachtungen.
3. Der Nasenlidreflex war in keinem dieser Fälle als gestört
angemerkt.
4. Das Verhältniss der Läsionen zur Sehstörung. Von den
36 centralen Operationen interessiren uns in erster Linie diejenigen
— 394 —
8 Beobachtungen, bei denen gar keine Sehstörung gegen Fleisch (in
einem Falle eine vorübergehende Sehstörung gegen Licht) zu beobachten
gewesen war. An diese reihen sich an die Beobb. 76, 82, 86 und 88,
bei denen nur eine undeutliche, bezw. nur am 2. oder 3. Tage wahr-
nehmbare Sehstörung nachweisbar war. Von diesen zusammen 12 Ope-
rationen betrafen 7 Unterschneidungen, 2 Anätzungen, 1 Auslöffelung
und 2 anderweitige Exstirpationen. Alle mit Ausnahme der Beob. 76
waren als Secundäroperationen an solchen Gehirnen ausgeführt worden,
bei denen schon eine oder mehrere andere Operationen ausserhalb des
Occipitalhirus ausgeführt worden waren.
Naturgemäss war weder der corticale Umfang, noch die Tiefe
des Eingriffs bei allen diesen Versuchen gleich. Jedoch war die
Rinde der Stelle AI sicherlich in allen Fällen mindestens bis auf kleine
Grenzbezirke, in der Regel aber über diese Grenzen hinaus ausge-
schaltet worden und selbst wenn man, z. B. bezüglich der Unter-
schneidungen, unterstellen sollte, dass die Rinde nicht vollständig ver-
nichtet gewesen wäre, sondern dass von ihr aus noch irgendwelche
brauchbare hypothetische Wege bestanden hätten, was übrigens so un-
wahrscheinlich wie möglich ist, so wäre die Grösse des Trauma doch
immer eine derartige gewesen, dass die Function der angegriffenen
Rinde und ihrer nächsten Umgebung mindestens für längere Zeit hätte
aufgehoben sein müssen. Indessen war auch die Tiefe der ange-
richteten Zerstörungen keineswegs gleichmässig oder vorwiegend un-
erheblich, wenn auch, wie z. B. bei der Beobachtung 86 gelegentlich
nur die Rinde selbst unterschnitten war, ohne dass sich auf dem
Frontalschnitt makroskopisch tiefergehende I^äsionen hätten erkennen
lassen. In anderen Fällen wie z. B. in den Beobachtungen <si und 76
waren dagegen recht tiefgreifende Zerstörungen der weissen Substanz
angerichtet worden.
Aus diesen Versuchen geht jedenfalls soviel mit Sicherheit hervoi',
dass der Hund der Stelle A^ beraubt werden kann, ohne dass
daraus nothwendig eine nachweisbare Einbusse an seinem Seh-
vermögen, insbesondere an dem Sehvermögen der Stelle des
deutlichen Sehens folgen müsste. Diese Stelle kann deshalb
der Rinde der Stelle A^ unmöglich coordinirt sein, ja, sie muss,
wenn sie überhaupt zum Sehact in Beziehungen steht, was ich
nicht bezweifeln will, durch andere corticale Gebiete voll-
kommen vertretbar sein. Ebensowenig kann ein Theil der
örtlich zu ihr in Beziehung stehenden weissen Substanz eine
besondere Wichtigkeit für den ungestörten Ablauf des Seh-
actes in Anspruch nehmen.
— 395 —
Die Beobachtung 76 betrifft eine der zu allerletzt von mir ausge
führten Operationen. Sie ist von ganz besonderer Wichtigkeit. Ich
hatte bis dabin geglaubt, dass das Ausbleiben der Sehstörung nach
Verletzungen der Stelle A^ nur bei Secundäroperationen zu beobachten
sei; diese Beobachtung hat mir bewiesen, dass dies auch bei Primär-
operationen an dieser Stelle vorkommen kann, denn das, was hier ganz
passager an Sehstörung in die Erscheinung trat, kommt in viel höherem
Grade bei Operationen ausserhalb der Sebsphäre vor.
Angesichts der durch diese Beobachtungen geschaffenen Sachlage
sind die sämmtlichen anderen Operationen mit positivem Erfolg von
geringerer Wichtigkeit. Man muss von vornherein sagen, dass dieser
positive Erfolg zwar nicht als unbedingt unabhängig von der Aus-
schaltung der grauen Rinde der Stelle A^ angesehen werden muss, dass
die Wahrscheinlichkeit jedoch bei Weitem grösser ist, dass er haupt-
sächlich von irgendwelchen, einstweilen nicht näher bekannten Neben-
verletzungen der Sehbahn abhängt. Durchmustert man die Querschnitte
dieser Gehirne mit ihren ausgedehnten Zerstörungen des grossen Mark-
lagers und ihren vielfach weit in die Tiefe reichenden Erweichungs-
streifen, so erscheint dies ohne Weiteres verständlich. Indessen kann
etwas Näheres und Sicheres über den hier vorliegenden Mechanismus
doch auf Grund einer so oberflächlichen anatomischen Betrachtung, wie
sie ein oder mehrere Querschnitte gestatten, nicht gesagt werden; erst
die Untersuchung durch das Studium von Serienschnitten, welche in
guten Händen ist, kann und wird vielleicht Aufklärung schaffen.
b) Laterale Läsionen.
Da die Ausschaltung des lateralen Drittels der Sehsphäre nur Blind-
heit des medialen Viertels des gleichseitigen Auges und Ausschaltung
der lateralen Hälfte der Sehsphäre daneben noch Blindheit des medial-
sten Streifens des dem s-eerenüberliegenden Auge zukommenden Gesichts-
links
rechts
links
Fig. 95b.
feldantheiles zur Folge haben sollte, so musste der Typus der durch
solche Ausschaltungen entstehenden Scotome sich wie in den Figuren 95 b
— 396 —
darstellen. Fraglich war also zunächst, ob durch Ausschaltung des
lateralen Drittels wirklich nur das gleichseitige Auge oder doch minde-
stens dieses vornehmlich geschädigt würde, und ferner, da bei der
Natur dieser Eingriffe ein Uebergreifen so grosser Läsionen auf den
Selisphärenrest mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten stand, ob wenig-
stens durch Partialexstirpationen innerhalb des lateralen Drittels ein
ausschliesslich gleichseitiger Gesichtsfelddefect zu erzielen wäre. Dann
aber war hier noch eine andere Möglichkeit gegeben, den Werth dieser
ganzen Projectionslehre durch einen einfachen Doppelversuch in absolut
entscheidender Weise zu prüfen.
Nahm man das laterale Drittel z. B. der linken Sehsphäre fort, so
sollte darauf Blindheit des medialen Viertels des linken Gesichtsfeldes
folgen. Nahm man dann gleichzeitig oder in einer 2. Sitzung die late-
rale Hälfte der rechten Sehsphäre fort, so musste darauf, abgesehen
von der rechtsseitigen Sehstörung, ein Ausfall des dem nasalen Viertel
anliegenden Gesichtsfeldstreifens folgen, sodass der Hund nunmehr auf
dem linken Auge eine dauernde nasale Hemianopsie haben musste. Nahm
man beiderseitig die laterale Hälfte der Sehsphäre fort, so musste eine
doppelseitige dauernde nasale Hemianopsie die Folge sein. Zwar war
es dann Sache des Zufalls, ob diese Scotome gerade mit dem vertica-
len Meridian abschnitten oder nicht, aber jedenfalls mussten doch die
nasalen Hälften beider Gesichtsfelder fehlen, und da sonst in der Regel
die temporalen Hälften der Gesichtsfelder zu fehlen pflegen, so musste
ein derartiges ungewöhnliches Ereigniss um so mehr in die Augen
springen.
Das zur Entscheidung dieser 3 Fragen angesammelte Material habe
ich gemäss den 3 Abtheilungen der Tabelle VI angeordnet.
A. Atypische Operationen.
Von den 4 hier angeführten Operationen hat keine rein das ihr
zugewiesene Gebiet betroffen. Ich halte dies bei der Kleinheit des Areals
und der Tendenz dieser Läsionen zum Uebergreifen auf Nachbargebiete
auch für so gut wie unmöglich, jedenfalls aber Mühe und Zeitverlust
nicht lohnend. Unter diesen Umständen beschränke ich mich auf Wieder-
gabe der Abbildungen und die tabellarische Zusammenstellung der ge-
wonnenen Resultate.
397
I?eol>aoHtiiiisr lOl xiiirt lOQ.
Fig. 167.
Fig. 168.
— 398
13eol>a,clitimsr 103 uiidL 104.
©0
5.
Fiff. 169.
Fiff. 170.
Fig. 171.
3<J9 —
T ;i, bell 0 Via.
Laterale Läsionen. Atyp isclif.
m
Art der
Operation
Ort der Operation
(Seetion)
10
102
Exstirpa-
tion ca. s/,
cm tief.
Exstirpa-
tion ca. 7
mm tief.
03
Exstirpa-
tion ca. ^/^
cm. tief.
04
Links. Hinterer Theil
der IL Urwindung
und nach lateral um-
biegender Tlieil der
I. Urwindung. Sagit-
tal 14 mm, frontal
6 mm. Annähernd
parallel der Mittel-
linie.
Rechts. Absteigender
Theil der I. und hin-
terer Theil der IL
Urwindung. Sagittal
1 1 mm, frontal 6 mm.
Annähernd paralle
der Mittellinie.
Sehstörung
i;egen Fleisch
gegen
Licht
Links: Oberer nasa-
ler Kreisabschnitt,
allmählich kleiner
werdend, blind. Dauer
8 Tage.
Rechts : Vornehm-
lich oberhalb, nur
am 2. und 3. Tage
lateral unterhalb des
Aequators; typisch
abnehmend. Dauer
13 Tage.
Fehlt.
Wie gege
Fleisch.
Optische
Reflexe
Exstirpa-
tion ca. ^/^
cm tief.
I
Links. Vorderer Theil
der nach unten um-
biegenden gegabel
ten I. Urwindung u
hinterer Rand der IL
Urwindung Laterale
Ecke 11,5 mm vom
hinteren Pol, vor-
dere Ecke 16 mm
von der Median-
spalte. Sagittal 7,5
mm, frontal d mm.
Rechts. Beide Sehen
kel der IL Urwin
düng. Sagittal 8 mm,
frontal 7 mm. Hin-
terer Rand 10,5 mm
vom hinteren Pol,
vordere mediale Ecke
17,5 mm von der
Mittellinie entfernt.
Fehlt.
Rechts an-
fangs fehlend,
vom 8. Tage
an bis zum.
Schluss der
Beob. gegen
flache Hand
normal, gegen
schmale Hand
fehlend oder
abge-
schwächt.
Ungestört.
Nasen lid-
reilex
m
Ungestört.
Links: Nasaler blin-
der Streifen nur am
3. Tage.
Rechts: Am 3. Tage
fast der ganze obere
Antheil des Gesichts-
feldes, am 5. Tage
nur noch oberer
äussscrer Quadrant.
Dauer 6 Tage.
Fehlt vom 5. Tage
an; vorher nicht zu
untersuchen.
Nur am 3
Tage Ab-.
Schwä-
chung der
Reaction.
Fehlen bis zum
7. Tage,
dann abge-
schwächt.
Ungestört.
Abge-
schwächt
bis zum
5. Tage.
Wie gegen
Fleisch.
Ungestört.
Ungestört
400 —
inks ^M ^ ' ,1-, " m rechts
Fig. 172. (Zu Beob. 103 und 104 gehörig.)
Z US a m m en f as s u n g.
1. Sehstörungeii (an. Reaction gegen Fleisch): Die Auf-
lagerung der Beob. 101 sitzt grösstentlieils in der hinteren Partie des
lateralen Drittels der Sehsphäre und greift mit ihrer vorderen Ecke in
den medialen Streifen der lateralen Hälfte über. Die Sehstörung des
gleichseitigen Auges würde also, wenu sie andauernd gewesen wäre,
insofern sie nur den oberen Abschnitt des medialen Streifens betraf,
dem Postulat entsprochen haben, sie war aber nicht andauernd, son-
dern bereits am 9. Tage, 5 Tage früher als die des gegenüberliegenden
Auges verschwunden. Diese hätte nur ein kleines Stück des nasalsten
Streifens des linksseitigen Hemisphärenautheils betreffen sollen. That-
sächlich war jedoch zunächst der ganze oberhalb des Aequators liegende
Abschnitt blind und dann hellte sich dieser Antheil wie gewöhnlich von
nasal nach temporal auf, sodass der Abschnitt, welcher hätte blind
bleibeji sollen, zuerst wieder frei wurde.
Die 3 anderen Operationen, ßeobb. 102, 103 und 104, haben das
mit einander gemein, dass sie mehr den medialsten Abschnitt der late-
ralen Hälfte und nur wenig den medialen Streifen des lateralen Drittels
der Sehsphäre betreffen. Dabei reicht die Läsion der Beob. 102 bis
an den hinteren Pol, während der hintere Rand der Läsionen der
ßeobb. 103 und 104 11,5 und 10,5 mm vom hinleren Pol entfernt
blieben.
Die Sehstörung hätte also bei allen 3 Operationen ein Stück des
medialsten Streifens des gegenseitigen Gesichtsfeldantheils und ein Stück
des nasalen Gesichtsfeldes der gleichen Seite betreffen müssen. Statt
dessen fehlte die Sehstörnng bei der Beob. 102 überhaupt und bei der
Beob. 104, wenn nicht überhaupt, jedenfalls vom 5. Tage an. Bei der
Beob. 103 aber, wo sie auf dem rechten Auge, entsprechend dem Ab-
— 401 —
Stande der Liision vom hinteren Pol und der Mittellinie den oberston
lateralen Abschnitt des Gesichtsfeldes hätte freilassen sollen, nahm sie
gerade diesen vorzugsweise ein, während der nasale Streifen des gleich-
namigen Auges nur bis zum 4. Tage blind war.
2. Die optischen Reflexe fehlen bei den Beobb. 101 und 103,
während der ersten 7 bezw. 6 Tage gänzlich und waren dann bis zum
Schluss der betreffenden Beobachtungen abgeschwächt; bei den Beobb.
102 und 104 (annähernd symmetrischen Operationen an der 2. Hemi-
sphäre) waren sie (ebenso wie das Sehvermögen) nicht altcrirt.
3. Der Nasenlidreflex war nur bei der Beob. 103 bis zum 5. Tage
abgeschwächt.
B. Typische Operationen.
fi'. Laterales Drittel.
Aufdeckung eines lateralen Streifens links von sagittal 20 mm, frontal-
vorn 6,5mm, frontal-hinten 7mm. Der laterale Rand der Lücke ist vorn 20mm,
hinten 23 mm von der Mittellinie und der hintere Rand 1—2 mm von der
Lambdanaht entfernt. Exstirpation auf ca. 7 mm Tiefe mit Messer und Präpa-
ratenheber.
Motilitätsstörungen: In der rechten Vorderpfote bis zum 13. Tage,
insofern der Hund anfänglich dislociren und mit dem Dorsum aufsetzen lässt
und später den sogenannten Defect der Willensenergie zeigt. Keine Störungen
der Sensibilität und in der Schwebe.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Links: Nur am 2. Tage schmaler nasaler,
oben etwas breiterer Streifen. Rechts: Am 2. Tage blind bis auf schmalen
nasalen Streifen, der sich am 3. Tage unten, vom 4. — 6. Tage unten und oben
mehr verbreitert, während am 7. Tage nur noch etwas mehr als der obere
laterale Quadrant und ein lateraler Streifen im unteren Quadranten und am
8. Tage neben dem letzteren nur der obere laterale Quadrant auf Fleisch nicht
reagirt. Am 9. Tage reagirt nur noch der obere laterale Quadrant, am 10. Tage
nur noch ein Kreisabschnitt auf Fleisch nicht. Am 13. Tage ist die Reaction
daselbst noch unsicher, am 16. Tage keine Sehstörung mehr nachweisbar.
Gegen Licht: Entsprechend der Sehstörung gegen Fleisch, sehr gut abgrenzbar;
am 16. Tage scheut der Hund schon weit aussen.
Optische Reflexe: Links: Gegen schmale Hand fehlend oder nur an-
gedeutet, gegen flache Hand normal. Rechts: Fehlend bis zum 10. Tage,
dann bis zum Schluss der Beobachtung gegen flache Hand normal.
Nasenlidreflex: Eine während der ganzen Beobachtungszeit anfäng-
lich stärkere, allmählich abnehmende Abschwächung nachweisbar.
Getödtet nach ca. 6 Y2 Wochen, nachdem inzwischen eine 2. symmetrische
Operation ausgeführt worden war.
Section: Häute normal. Die 20mm sagittal und 6mm frontal messende
Hitzig, Gesammelte Abhandl. II. Tlieil. 26
— 402
Fio-. 173.
Fie-. 174.
— 403 —
Nai'benkappe sitzt dem lateralen Schenkel der II. Urwindung und dem ab-
steigenden Schenkel der I. Urwindung auf und reicht vorn gerade bis an den
hinteren Rand der III. Urwindung. Der hintere Rand reicht bis dicht an den
hinteren Pol, der mediale bleibt vorn 16mm, hinten 15 mm von der Median-
spalte entfernt. 1. Durchschnitt am vorderen Rande der Narbe zeigt keine
links H H rechts
Fig. 175.
Veränderungen. 2. Durchschnitt 8 mm weiter nach hinten: Rinde in der
Breite der Narbe zerstört, angrenzende Rinde abgeblasst. Von der Narbe aus
erstrecl<t sich ein rötlicher Erweichungsstreifen ins Markweiss bis ins Grau
des von gegenüber medialbasal einschneidenden Sulcus calloso-marginalis.
Die Ausschaltung nahm das laterale Drittel der Sehsphäre ein.
Die Sehstörung hätte also auf dem linken Auge den nasalen Streifen
dauernd und auf dem rechten Auge höchstens den medialsten Gesichts-
feldantheil betreffen dürfen. Thatsächlich war sie auf dem linken Auge
nur am 2. Tage vorhanden, während sie auf dem rechten Auge als
typische Hemianopsie verlief.
Beobaclii^iing- 106.
Derselbe Hund von Beobachtung 105 (vergl. dort die Figuren). Auf-
deckung eines lateralen Streifens rechts auf sagittal 20,5 mm, frontal vorn
6 mm, frontal hinten 8 mm. Der laterale Rand der Lücke ist vorn 20 mm,
hinten 23 mm von der Mittellinie und der hintere Rand 1—2 mm von der
Lambdanaht entfernt. Exstirpation ca. 7 mm tief. Die Rinde drängt sich von
medial in die Lücke hinein.
Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung: Gegen Fleisch: Fehlt auf dem rechten Auge vom 2. Tage
bis zum Schluss der Beobachtung gänzlich. Auf dem linken Auge am 2. Tage
Blindheit bis auf eine schmale Zone im unteren inneren Quadranten, am S.Tage
26*
404
oberhalb des Aequators mit Ausnahme eines nasalen Streifens; vom 4. — S.Tage
im oberen lateralen Quadranten, am 9. Tage dort unsicher, vom 10. Tage bis
zum Schluss der Beobachtung (28 Tage) keine Sehstörung mehr, auch nicht
beim Stossversuch und beim Fleischsuchen. Gegen Licht: Fehlt auf dem
rechten Auge überhaupt. Auf dem linlcen Auge Keaction am 2. und 3. Tage
Fiff. 176.
nur nasal vorhanden; von da an auf dem ganzen Gesichtsfelde in Gestalt von
starkem Scheuen.
Optische Reflexe: Fehlen am 2. Tage beiderseits, vom 3. — 11. Tage
nur links, dann bis zum Schluss der Beobachtung gegen Hache Hand abge-
schwächt, gegen schmale Hand fehlend.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet nach 4 Wochen.
Section: Häute normal. Die Narbenkappe sitzt breit der II. IJrwindung
und dem absteigenden Schenkel der I. ürwindung auf. Sie misst sagittal
20 mm, frontal in der Mitte 10 mm, läuft aber vorn und hinten spitz aus. Sie
reicht hinten bis dicht an den hier strahlig eingezogenen hinteren Pol und
bleibt vorn 3 mm von der Senkrechten Falx — hinterer Rand der IV. Ür-
windung entfernt. Der mediale Rand bleibt vorn 17 mm, in der Mitte 10 mm
und hinten 9 mm von der Medianspalte entfernt. 1. Durchschnitt am vorderen
Rand der Narbe: Die lateralste Kante der IL Ürwindung zeigt einen sich bis
ins Mark fortsetzenden feinsten Erweichungsstreifen. 2. Durchschnitt 8 mm
weiter nach hinten : Die Rinde ist in der ganzen Breite der Narbe zerstört und
von dort erstrecktsich ein fast quadratischer breiter Zapfen von rötlich durch-
setzter Narbenmasse quer durch das Markweiss bis fast an 'das gegenüber-
liegende Grau der medialen Fläche heran.
— 405 —
Die Ausschaltung betraf das laterale Drittel, wenn auch im
vordersten und hintersten Abschnitt niclit gänzlich, dafür war die
mediale Nachbarschaft der mittleren Partie incl. eines Theiles der
Stelle Ai zerstört. Der nasale Streifen rechts, der zum grösseren
Theil hätte ausfallen sollen, war gänzlich frei, links betraf die Seh-
störung vornehmlich die obere Hälfte des Gesichtsfeldes, was sich
allenfalls mit der Lehre Munk's vereinigen Hess, sie war aber bereits
am 10. Tage verschwunden.
Beobaclitung' lOT'.
Schädellücke links lateral parallel der Mittellinie, sagittal 24 mm, frontal
vorn 7 mm, frontal hinten 12mm. Der Trepan rutscht bei Durchbohrung des
sehr dünnen Schädels etwas aus und dringt soeben in die Schädelhöhle ein.
Die Dura wird deshalb nicht eröffnet, sondern der Versuch abgebrochen und
die Wunde aseptisch geschlossen. Wiedereröffnung der Wunde 4 Tage später,
nachdem sich inzwischen keinerlei Störungen gezeigt haben. Die Dura zeigt
sich innerhalb der Knochenlücke verdickt und mit Auflagerungen bedeckt. Die
Hirnoberfläche wird in einer Breite von 7 mm freigelegt und auf 7 mm Tiefe
nach Umschneidung mit dem Messer incl. des hinteren Pols herausgehoben.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Links: Schmaler nasaler Streifen bis
— 406 —
zum 4. Tage, am 5. Tage nur noch oben medial ein blinder Fleck, am 6. Tage
keine Sehstöning mehr. Rechts: Bis zum 5. Tage deutlich der obere temporale
Quadrant, am 6. Tage anscheinend etwas weniger als dieser, am 7. Tage
wieder annähernd der ganze Quadrant reactionslos, am 9. Tage lässt sich die
deiche Sehstörung nur in der Schwebe, aber nicht mehr auf dem Schoosse
Fig. 178.
link?
rechts
Fig. 179.
nachweisen; am 11. Tage fehlt sie gänzlich. Gegen Licht: Vom 2.-5. Tage
Keaction beiderseits- fehlend, vom 5.-7. Tage links wenig vorhanden, rechts
fehlend; vom 7.— 11. Tage rechts medial, links über dem ganzen Gesichtsfeld
vorhanden, dann beiderseits gleich.
Optische Reflexe: Fehlen rechts bis zum 10. Tage, am 11. Tage ab-
geschwächt vorhanden.
— 407 —
Nasenlid refl ex ungestört.
Getödtet nach ca. 5 Wochen, nachdem inzwischen eine 2. symmetrische
Operation ausgeführt worden war.
Section: Häute normal. Die Narbe misst sagittal 17mm, frontal in der
Mitte 8 mm und verjüngt sich nach vorn und hinten etwas. Sie sitzt der
IL Urwindung und dem absteigenden Schenkel der I. Urwindung auf und
reicht mit ihrer vordersten lateralen Kante gerade bis an den hinteren Rand
der [II. Urwindung. Der hinterste Rand der Narbe reicht bis an den hinteren
Pol, der mediale Rand bleibt vorn 16 mm, hinten 14 mm von der Medianspalte
entfernt. 1. Durchschnitt am vorderen Rande der Narbe: Rinde und Mark intact.
2. Durchschnitt 6mm hinter dem vorderen Rand der Narbe: Die Rinde ist in
der Breite der Narbe völlig zerstört. Von der Narbe geht ein röthlicher Er-
weichungsstreifen basal-medialwärts mehrereMillimeter in dasMarkweiss hinein.
Nach der Aussclialtung des lateralen Drittels der Sehsphäre hätte
Rindenblindheit des gleichseitigen Gesichtsfeldantheiles und allenfalls
noch eine Sehstörang des medialsteii Streifens des gegenseitigen Ge-
sichtsfeldantheiles eintreten sollen. Während nun dei- Letztere ganz
frei blieb, wurde eine bis zum 11. Tage dauernde Sehstörung des
lateralen oberen Quadranten, welcher seinerseits hätte frei bleiben sollen,
beobachtet. Der nasale Streifen der gleichen Seite war nur vom 2. bis
4. Tage blind, am 5. Tage bestand nur noch ein kleiner blinder Fleck
in der oberen Ecke dieses Streifens, der am G. Tage gleichfalls ver-
schwunden war.
Beobaclitiiiig: lOS.
Derselbe Hund von Beobachtung 107 (vergl. dort die Figuren). Schädel-
lücke rechts lateral parallel der Mittellinie sagittal 24 mm, frontal 7 mm.
Umschneidung der freiliegenden Rinde mit dem Messer ca. 7 mm tief und
Heraushebung mit dem Präparatenheber.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. und 3. Tage keine Sehstörung
nachweisbar, am 4. Tage und nur an diesem besteht rechts ein schmaler
nasaler nicht sehender Streifen und links eine den oberen temporalen Qua-
dranten einnehmende Sehstörung. Am 5. Tage ist die Pveaction an letzterer
Stelle unsicher, am 6. Tage normal. Gegen Licht besteht von Anfang bis Ende
der Beobachtung eine intensive, gegen rechts nicht abgeschwächte Reaction.
Optische Reflexe: Verhalten sich rechts bis zum Schluss der Beob-
achtung ebenso wie sie aus der Beobachtung 107 übernommen waren, d. h.
gegen flache Hand abgeschwächt, gegen schmale Hand fehlend. Links: Am
2. und 3. Tage unverändert, fehlen am 4. Tage, sind am 5. Tage nur ange-
deutet, dann wieder normal vorhanden.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet nach ca. 31/2 Wochen.
— 408 —
Section: Häute normal. Die eigentliche Narbenkappe misst 15 mm
sagittal, 7 mm frontal. Sie sitzt im Wesentlichen dem lateralen Schenkel und
hinten auch etwas dem medialen Schenkel der II. Urwindung auf und reicht
vorn bis gerade an den hinteren Kand der III. Urwindung. Der hintere Rand
der Narbenkappe schliesst mit dem vorderen Pvande des absteigenden Schenkels
der I. Urwindung ab und bleibt so 9 mm von dem hinteren Pol entfernt.
Dieser Rindentheil ist aber in der Breite der Narbenkappe grob zerklüftet oder
Fig. 180.
oberflächlich bis zum Pol zerstört. Der vordere Rand der Narbe bleibt circa
2,5 mm von einer Senkrechten Falx — hinterer Rand der IV. Urwindung ent-
fernt, der mediale Rand der Zerstörung bleibt vorn 17 mm, hinten 12 mm von
der Medianspalte entfernt. 1. Durchschnitt 3 mm hinter dem vorderen Rand
der Narbe: Die lateralste Kante der II. und die medialste der III. Urwindung
sind zerstört und von der Narbenkappe gehen Erweichungsstreifen einige Milli-
meter weit in das Mark der II. und III. Urwindung hinein. 2. Durchschnitt
4mm weiter nach hinten: Die Rinde unter der Narbenkappe, insoweit sie nicht
fehlt, ist abgeblasst; von der Mitte derselben geht ein rother Erweichungs-
streifen im Mark der IL Urwindung 7 mm basal -medialwärts, eine kleine
Höhle bildend.
Nach der Ausschaltung des lateralen Drittels der Sehsphäre hätte
Rindenblindheit des gleichseitigen Gesichtsfeldantheiles und allenfalls
noch eine Sehstörung des medialsten Streifens des gegenseitigen Ge-
sichtsfeldantheiles eintreten sollen. Thatsächlich bestand nichts von
alledem. Vielmehr war eine deutliche Sehstörung überhaupt nur am
4. Tage und zwar in Gestalt eines nasalen Streifens des gleichseitigen
und eines Scotomes des oberen lateralen Quadranten des gegenseitigen
Auges nachweisbar.
— 409 —
13 e ob «eil tun JE*- lOO.
Kleiner Hund; Aufdeckung links hinten auf 20nim sagittal, 7mm frontal.
Der laterale Rand der Lücke bleibt vorn und hinten 25mm von der Median-
linie entfernt, während der hintere Rand dicht an der Lambdanaht liegt,
Excision 7mm tief in der ganzen Ausdehnung der freiffelefften Rinde.
Fiff. 181.
Fig. 182.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage wegen mangelnder Reaction
nicht, am 3. Tage nur insoweit zu untersuchen, als sich feststellen lässt, dass
beiderseits oberhalb des Aequators eine hochgradige Sehstörung besteht, die
wahrscheinlich die ganze obere Gesichtsfeldhälfte einnimmt. Ausserdem besteht
— 410 —
links auch unterhalb ein nasaler Streifen. 4. Tag: Hund reagirt an diesem
Tage sehr scharf. Rechts die ganze obere Gesichtsfeldhälfte mit dem Aequator
abschneidend blind, links ausserdem noch ein breiter nasaler Streifen unter-
halb des Aequators. Am 5. Tage auf dem Schoosse fehlt rechts der obere Theil
des Gesichtsfeldes mit Ausnahme eines breiten nasalen Streifens; links er-
scheint ein breiter nasaler Streifen blind. In der Schwebe schliesst sich rechts
an die nichtsehende Partie noch eine ziemlich breite Grenzzone an, in der der
Hund zwar aufmerkt und fixirt, aber nur träge zuschnappt. Am 6. Tage rechts
nur insoicrn verändert, als er auf der gestern träge reagirenden nasalen Partie
heute hastig zuschnappt; links ist die amblyopische Partie, namentlich unten
links I m^~ fl rechts
Fig. 183.
schmaler und undeutlicher geworden. Am 7. Tage hat die Sehstörung nach
unten medial etwas abgenommen, es befindet sich hier eine unsichere Zone;
links noch ein nasaler Streifen, der aber nicht ganz deutlich abzugrenzen ist.
Am 8. Tage ist rechts noch eine Sehstörung nachzuweisen, die nicht ganz dem
oberen äusseren Quadranten entspricht; links nasaler Streifen. Am 9. Tage hat
sich die blinde laterale Partie etwas aufgehellt, der Hund sieht hier offenbar
nur undeutlich; links keine Sehstörung. Vom 10. Tage an beiderseits keine
Schstörung mehr.
Optische Reflexe: Fehlen rechts gänzlich bis zum 5. Tage. Vom G.
bis 10. Tage gegen flache Hand abgeschwächt, gegen schmale Hand garnicht
vorhanden. Von da an bis zum 28. Tage (Schluss der Beobachtung) auch gegen
schmale Hand allmählich wiederkehrend, aber gegen beide Arten der Reizung
abgeschwächt,
Nasenlidrefl ex nur am 4. Tage rechts abgeschwächt.
Getödtet nach ca. 5 Wochen, nachdem inzwischen eine 2. symmetrische
Operation, die in Vereiterung auslief, ausgeführt worden war.
Section: Auf der rechten (2. Operationsseite) Seite grosse subcutane
Eiterhöhle. Operationslücke durch Blutgerinnsel geschlossen. Häute normal.
Die Auflagerung sitzt auf der I. und II. Urwindung und reicht vom hinteren
— 411 —
Pol bis eben in die Spitze des oberen Bogens der 111. Urvvindung hinein. Sie
misst sagittal 21mm, an ihrer breitesten Stelle frontal 9mm und verjüngt sich
in ihrem vorderen Theile. Mit ihrem medialen Rande bleibt sie vorn 16mm,
hinten 10 mm von der Medianlinie entfernt, von der stark eingezogenen
hintersten medialen Ecke aber nur 7 mm. 1. Durchschnitt durch die Mille der
Nnrl)e: Die dorsale Rinde der 11. Urwindnng fehlt in der Breite der Narben-
knppc, von der sich im Markweiss ein gclbröthlich gefärbter, narbiger Streifen
basal-mcdialwärts crstreclit. 2. Durchschnitt durch das vordere DriUel der
Narbe: Die laterale Ilälfic der II. Urwindung fehlt, von dort steigt ein Ev-
weichungsstreifcn bi.i nahe an den Rand des Ventrikels. Derselbe ist mit JMter
gclullL und die Stanimganglien sind zum grossen Theil erweicht.
Der I'jngriff hatte (his laterale Drittel, hinten aber die laterale
Hälfte zerstört. Ivs liätte also Kindenblindlieit des gleichseitigen Ge-
siclitsfeldantiieils und des medialen Streifens des gegenseitigen Gesichts-
feldantheils in seiner oberen Partie eintreten müssen. Thatsächlicli war
fler gleichseitige Gesiclitsfeldantheil, jedoch nur bis incl. des 8. Tages
blind: auf dem gegenseitigen Auge nahm die Selistörung aber an-
fänglich die ganze obere Gesichtsfcldhälfte ein und hellte sich dann
von innen nach aussen auf, sodass der mediale Streifen zuerst wieder
frei war.
Beobaditiiiigj- HO.
Aufdeckung des lateralen Drittels der Sehsphäre links auf sagittal 24mm,
frontal hinten 6,5mm, frontal vorn 7,5mm. Der mediale Rand der Lücke ist
vorn 22mm von der Mittellinie, hinten 24mm von der Höhe der Prot. occ. ext.
entfernt; der hintere Rand liegt dicht an der Lambdanaht. Umschneidung
der freiliegenden Rinde mit dem Messer, Aushebung mit dem Präparatenlicber.
Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung: Gegen Fleisch: Links: Am 2. Tage ein schmaler nasaler
Streifen blind, an den folgenden Tagen bis zum 6. Tage ist jede Sehstörung
mit voller Sicherheit auszuschliessen, mit der gleichen Sicherheit ist aber an
diesem Tage der schmale nasale blinde Streifen nachzuweisen. Nachher bis
zum Schluss der Beobachtung fehlt jedoch diese Sehstörung wieder gänzlich.
Rechts: Am 2. Tage blind bis auf sclimalcn nasalen Streifen, auf dem er sieht,
aber oft sehr unsicher projicirt. Am 3. Tage ist das Auge noch ganz blind
bis auf einen schmalen nasalen Streifen, der sich unten lateralwärts halbmond-
förmig fortsetzt. Am 4. Tage hat sich der sehende Streifen allgemein, be-
sonders aber unten lateral erweitert; am 5, Tage hat sich das Gesichtsfeld in
den gleichen Richtungen weiter vergrössert, doch reicht das Scotom noch so-
wohl über den Meridian als über den Äequator hinaus. Am 6. und 7. Tage
erreicht die Sehstörung nach unten eben den Äequator, während sie medial
noch etwas über den Meridian hinausreicht. Die Sehstörung bleibt so bis
zum 50. Tage, an dem sie nur noch den oberen äusseren Quadranten einnimmt,
— 412 —
um sich dann bis zum Schluss der Beobachtung (84. Tag) bald etwas grösser,
bald etwas kleiner, immer innerhalb der Grenzen des oberen äusseren Qua-
(zu Beob. 110.),
Fig. 184.
dranten zu präsentiren. Gegen Licht: Genau entsprechend der Sehstörung
gegen Fleisch, doch gab es einige Tage während der 2. Hiilfle der Beob-
— 413 —
achtung, an denen der sonst sehr lebhaft reagirende TTund auf heidcn Seilen
garnicht reagirte.
Optische Reflexe: Fehlen rechts gänzlich bis zum 8. Tage; von
diesem Tage an kehrten sie allmählich wieder, zeigten aber bis zum Schluss
is.O.
links
rechts
Fig. 186.
der Beobachtung insofern eine Abschwächung, als sie auch dann noch gegen
schmale Hand gänzlich fehlten.
Nasenlidreflex: Abgeschwächt mindestens bis zum 3. Tage, dann
fehlen Notizen bis zum 13. Tage, wo keine Differenz mehr bestand.
Gestorben nach 41/2 Monaten an Krämpfen, wegen derer Beobachtung 113
einzusehen ist, nachdem inzwischen eine 2. Operation am rechten Occipitalhirn
ausgeführt worden war.
Section: Pia beider Hemisphären sehr blutreich. Links medial von der
— 414 —
Narbe leicht krisselig, Dura an dieser Stelle ganz leicht adhärent. Die Auf-
lagerung nimmt den absteigenden Bogen der I. und IL ürwindung und den
hinteren Winkel des Gipfels der III. ein. Sie misst sagittal 20,5 mm, frontal
10 mm. Mit ihrem hinteren Rande reicht sie bis an den hinteren Pol, mit
ihrem medialen Rande bleibt sie hinten 15 mm, vorn 19 mm von der Median-
spalte entfernt. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Die Rinde fehlt unter
der ganzen Auflagerung; darunter erstreckt sich ein graubräunlicher Herd in
Gestalt eines Pilzslieles bis an den Seitenventril(el.
Da knapp das laterale Drittel der linken Hemisphäre entfernt war.
hätte die Sehstörung — ' dauernde Rindenbliudheit — nur das gleich-
seitige Auge betreffen dürfen. Gerade dieses Auge zeigte aber eine
kaum neunenswerthe Sehstörung nur am 2. und dann wieder ganz vor-
übergehend am 6. Tage, während das rechte Auge, welches hätte frei
bleiben sollen, eine hochgradige und im oberen äusseren Quadranten
ungewöhnlich lange fortbestehende Sehstörung von hemianopischem
Charakter erkennen liess.
Beobsxchtviiig: 111.
Aufdeckung links hinten lateral auf 7mm frontal, 23 mm sagittal. Der
laterale Rand bleibt 26mm von der Medianspalte, der vordere 26 mm von der
Lambdanaht entfernt. Exstirpation des freiliegenden Rindenstückes mit voll-
ständiger Zerstörung des noch unter dem hinteren Rande liegenden Hemi-
sphärenpols in der Breite des Streifens auf ^4 cm Tiefe.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Links: Nasaler Streifen bis zum
13. Tage. Vom 14. — 18. Tage zweifelhaft, dann keine Sehstörung mehr.
Rechts: Vom 2.-6. Tage totale Blindheit bis auf einen kleinen medialen
unteren Kreisabschnitt; vom 7. — 9. Tage typische Hemianopsie, von da an
geht die Sehstörung von medial nach lateral allmählich zurück und zwar so,
dass der untere Quadrant sich immer zuerst bessert. Am 25. Tage sieht nur
noch ein oberer lateraler Kreisabschnitt nicht; vom 29. Tage an ist an dieser
Stelle bald eine deutliche, bald eine undeutliche Sehstörung zu erkennen.
Vom 58. Tage an besteht keine Sehstörung mehr. Gegen Licht: Sehstörung
in den ersten Tagen entsprechend der gegen Fleisch. Vom 10. Tage an reagirt
der Hund schon weit aussen mit Scheuen, aber stets schwächer als medial bis
zum 26. Tage, dann ist die Reaction beiderseits gleich.
Optische Reflexe: Fehlen gänzlich bis zum 45. Tage, von diesem
Tage an bis zum Schluss der Beobachtung allmählich zunehmend, ab-
geschwächt.
Nasenlid refl ex nur am 2. Tage abgeschwächt.
Getödtet nach ca. 4 Monaten, nachdem inzwischen eine 2. symmetrische
Operation ausgeführt worden war.
Section: Häute normal. Die sagittal 18 mm, frontal-hinten 8 mm,
frontal-vorn 6,5 mm messende Auflagerung, welche nur locker mit der dar-
415
unterliegenden Substanz zusammenhängt, findet sich im lateralen Theil der
Sehsphäre, genau entsprechend dem von Munk bezeichneten lateralen Drittel.
Unter ihr befindet sich eine ziemlich tiefe Grube. Die Narbe reicht bis an den
hinteren Pol, medial-hinten bleibt sie 17 mm, medial-vorn 2Ümm von der
57.
Fig. 187.
Medianspalte entfernt. Durchschnitt etwa durch die Mitte der Narbe: Die
Ivinde fehlt unter der Auflagerung gänzlich. Von da aus zieht sich ein breiter
narbiger Spalt nach dem Ventrikel zu. Zwischen ihm und der Spitze des sehr
— 416 —
stark erweiterten Ventrikels findet sich ein Ideinlinsengrosser graubrauner Er-
weichungsherd.
Die Operation hatte das laterale Drittel der Munk'schen Sehsphäre
zerstört und war mit ihren Folgen bis an die Spitze des Seiten-
ventrikels vorgedrungen. Der Rest der Hemisphäre erschien aber
makroskopisch nicht geschädigt. Die Störung des Sehvermögens hätte
Fig. 188.
links
rechts
Fig. 189.
sich also auf den medialen Streifen des linken Gesichtsfeldes be-
schränken müssen, dieser aber hätte dauernd rindenblind sein müssen.
Thatsächlich war er aber nur bis zum 13. Tage blind und vom 19. Tage
an konnte hier überhaupt keine Sehstörung mehr nachgewiesen werden.
Dagegen erschien das rechte Auge, welches hätte normal sein sollen,
anfänglich fast maximal geschädigt und Hess dann eine langanhaltende,
in der Form der typischen Hemianopsie ablaufende Sehstörung erkennen.
— 417
Tabelle Vlb.
Laterales Drittel
o
Seh'störung
bD
C
PQ
Art der
Ort der Operation
Optische
Nasenlid-
r^
d
Operation
(Section)
gegen Fleisch
gegen
Licht
Reflexe
reflex
s
pq
105
Exstirpa-
Links. Lateraler Strei-
Links: Nur am 2.
Wie gegen
Fehlend
Während
Motili-
tion ca. 7
fen im lateralen
Tage. Rechts. Dauer
Fleisch.
bis zum
der ganzen
tätsstö-
mm tief.
Schenkel der IL und
ca. 15 Tage, typi-
10. Tage,
Beobach-
rungen
dem absteigenden
sche Hemianopsie,
dann nor-
tungszeit
bis zum
Bogen der I. Urwin-
von unten nasal nach
mal.
abge-
13. Tage.
dung. Sagittal 20
oben temporal all-
schwächt.
mm, frontal 6 mm
mählich verschwin-
15 — 16 mm von der
dend.
Mittellinie entfernt.
106
Exstirpa-
Rechts. Lateraler
Rechts gänzlich feh-
Fehlt
Bis zum
Unge-
—
tion ca. 7
Streifen im lateralen
lend.
rechts ;
11. Tage
stört.
mm tief.
Schenkel der II. u.
Links: Dauer 9 Tage;
links nur
fehlend.
im absteigenden
am 2. Tage nur un-
am 2. u. 3.
dann abge-
Schenkel der I. Ur-
terer nasaler Kreis-
Tage nach-
schwächt.
windung. Sagittal 20
abschnitt sehend,
weisbar.
mm, frontal in der
dann Sehstörung ober-
Mitte 10 mm, sich
halb des Aequators,
nach vorn und hin-
von nasal nach tem-
ten verjüngend. 9
poral abnehmend.
bis 17 mm von der
Mittellinie entfernt.
107
Exstirpa-
Links. Laterales Drit-
Links: Dauer 5 Tage ;
Vom 2.— 5.
Fehlen
Unge-
—
tion ca. 7
tel der Sehsphäre,
am 5. Tage nur noch
Tage bei-
rechts bis
stört.
mm tief.
excl. vorderster Win-
oben medial.
derseits
zum 10.
kel. Sagittal 17 mm,
Rechts. Dauer 10
vollstän-
Tage, am
frontal in der Mitte
Tage; nur im oberen
dig, vom
11. Tage
8 mm, sich nach hin-
temporalen Quadran-
5.-7.
abge-
ten und vorn ver-
ten, nach oben tem-
Tage links
schwächt
jüngend.
1
poral verschwindend.
wenig,
rechts gar
keine Re-
action,vom
7.— 10.
Tage
rechts me-
dial, links
über dem
ganzen Ge-
sichtsfeld
scheuend,
dann nor-
mal.
vorhanden.
Hitzig, Gesammelte Abhandl. II. Theil.
27
— 418 -
o
Sehstörung
c
p
o
CO
Art der
Ort der Operation
Optische
Nasenlid-
3
M
6
Operation
(Section)
gegen Fleisch
gegen
Licht
Reflexe
reflex
108
Exstirpa-
Rechts. Etwas mehr
Nur am 4. Tage rechts
Fehlt.
Links: Am
Unge-
tion ca. 7
als das laterale Drit-
nasal, links oben
4. und 5.
stört.
mm tief.
tel der Sehsphäre,
temporal.
Tage feh-
hinten vielleicht nicht
lend, bzw.
ganz vollsländig. Sa-
abge-
gittal 15 mm, fron-
schwächt.
tal 7 mm.
dann nor-
mal.
Rechts :
Wie vor der
Operation.
109
Exstirpa-
Links. In der IL und
Links: Biszum4.Tage
, —
Fehlen
Nur am 4.
Eiterung
tion ca. 7
im absteigenden Bo-
ganze obere Hälfte
gänzlich
Tage
bei der
mm tief.
gen der I. Urwin-
und medialer unte-
bis zum
rechts
2. Opera
dung. Sagittal 21
rer Streifen, dann bis
5. Tage,
abge-
tion.
mm, frontal an der
incl. 8. Tage nur me-
dann bis
schwächt.
breitesten Stelle 9
dialer Streifen.
Schluss d.
mm. Mit dem me-
Rechts; Bis zum 4.
Beob (28.
dialen Rand vorn 16
Tage ganze obere
Tag) all-
mm, hinten 10 mm
Gesichtsfeldhälfte,
mählich
von der Mittellinie
dann bis zum 9. Tage
wieder-
entfernt.
typisch abnehmend,
obere temporale He-
mianopsie.
kehrend.
110
Exstir-
Links. Laterales Drit-
Links: Nur am 2. und
Wie gegen
Fehlen
Anfänglich
—
pation.
tel der Schsphäre;
6. Tage nasaler
Fleisch.
gänzlich
abge-
sagittal 20,5 mm.
Streifen.
bis , zum
schwächt.
frontal 10 mm. Mit
Rechts : Typische
8. Tage,
dem medialen Rand
Hemianopsie, typisch
dann all-
15 — 19 mm von der
zurückgehend, oben
mählich
Medianspalte ent-
lateral in die Beob.
wiederkeh-
fernt.
113 hineinreichend.
rend, dau-
ernd abge-
schwächt.
111
Exstirpa-
Links. Ijatcraics Drit-
Links: Dauer 1 7 Tage.
Dauer 26
Fehlen bis
Nur am 2.
—
tion ca. ''^
tel der Sehsphäre;
Rechts: Langdau-
Tage. An-
zum 45.
Tage
cm lief.
sagittal 18mm, fron-
erndc typisch ver-
fänglich
Tage, dann
abge-
tal 6,5—8 mm.
laufende Hemianop-
sie. Dauer 57 Tage.
wie gegen
Fleisch.
bis zum
Schluss
abge-
schwächt.
schwächt.
1
Z u s a m m e n f a s s u ii g.
1. Seh Störungen: Die 7 Beobachtungen der 2. Reihe dieses Ab-
seil
littes haben das m
t einander gemein,
dass die
bei ihnen
vorgenom-
— 419 —
inenen Eingriffe das laterale Drittel der Sehsphäre gänzlich, nur aus-
nahmsweise nicht total ausschalteten, während die Nachbarregionen nur
verhältnissraässig wenig betheiligt waren. Es kam nun darauf an, ob
wirklich der nasale Streifen des gleichseitigen Gesichtsfeldes gänzlich
oder fast gänzlich rindenblind sein würde; wenn eine Sehstörung auf
dem gegenseitigen Auge auftrat — was ja selbstverständlich auch bei
Innehaltung der vorbezeichneten Grenzen nicht auszuschliessen war —
so niusste sie nach der Lehre Munk"s wieder den medialsten Abschnitt
des gegenseitigen Gesichtsfeldantheils betreffen und musste verhältniss-
mässig unbedeutend sein.
Auf dem gleichnamigen Auge war gar keine Sehstörung vor-
handen einmal bei der Beob. 106 (gegenseitiges Auge 8 Tage), an einem
Tage einmal, Beob. 105 (gegenseitiges Auge 15 Tage), einmal, aber
nicht am 2., sondern am 4. Tage, Beob. 108 (gegenseitiges Auge am
4. und 5. Tage), an 2 Tagen einmal, Beob. 110 und zwar am 2. und
6. Tage (gegenseitiges Auge ca. 4 Monate), an 4 Tagen einmal Beob. 107
(gegenseitiges Auge 9 Tage), an 7 Tagen einmal, Beob. 109 (gegen-
seitiges Auge 8 Tage), an 16 Tagen einmal Beob. 111 (gegenseitiges
Auge 56 Tage).
Rindenblindheit des gleichnamigen Gesichtsfeldantheils
wurde also in keinem einzigen dieser Fälle beobachtet. Dort,
wo überhaupt eine Sehstörung zu beobachten war — in einem
Falle fehlte sie gänzlich — dauerte sie ausnahmslos kürzere,
meist sogar sehr viel kürzere Zeit als die des gegenüber-
liegenden Auges. Aber auch diese fehlte in einem Falle (Beob. 108)
so gut wie gänzlich.
Bezüglich der Form des zu beobachtenden Scotoms ist zunächst
hervorzuheben, dass dasselbe bei der Beob. 109 am 3. und 4. Tage in-
sofern eine ganz ungewöhnliche Configuration zeigte, als es neben dem
gewöhnlichen nasalen Streifen noch die ganze obere Gesichtsfeldhälfte
einnahm. Gleichzeitig war aber auch auf dem gegenüberliegenden Auge
die obere Hälfte des nasalen Streifens, die unbetheiligt hätte sein sollen,
blind, während andererseits die untere Hälfte des lateralen Abschnittes,
welche gewöhnlich blind zu sein pflegt, frei war. Im Uebrigen verhielt
sich die Figur des Scotoms so, dass entweder nur das nasale Viertel
oder nur dessen oberer Abschnitt oder dieser in etwas grösserer Aus-
dehnung blind war und dass das Scotom sich entweder plötzlich verlor
oder sich von unten nach oben allmählich verkleinerte.
Während also die Sehstörung des gleichnamigen Auges, welche zur
Rindenblindheit hätte führen sollen, von geringer Bedeutung war, wenn
sie nicht etwa gänzlich oder so gut wie gänzlich fehlte, war die Seh-
27*
— 420 —
Störung des gegenüberliegenden Auges, welche von geringer Bedeutung
hätte sein sollen, in der Regel — wenn auch nicht ausnahmslos —
hochgradig, von verhältnissmässig langer Dauer, und gelegentlich ver-
schwand sie sogar überhaupt nicht. Aber dort, wo sie überhaupt nicht
verschwand, betraf sie ebenso wenig, wie in den anderen Fällen, wo
sie wieder verschwand, ausschliesslich oder doch vorwiegend den vor-
erwähnten mittleren Streifen des Gesichtsfeldes, sondern sie verlief
wiederum als typische temporale Hemianopsie mit vorwiegender Be-
theiligung des oberen temporalen Quadranten.
Vergleicht man auf den Querschnitten die durch diese Operationen
gesetzten Zerstörungen, so ergiebt sich, dass dieselben mit verhältniss-
mässig sehr unbedeutenden Nebenverletzungen verlaufen sind. Die an-
gegriffenen Windungsabschnitte sind in der Ausdelinung der Läsion
gänzlich zerstört; unter ihnen erstrecken sich dann mehr oder minder
compakte Erweichungsherde in die Tiefe, manchmal bis nahe an den
Ventrikel, aber dies sind Vorkommnisse, welche bei jeder Exstirpation,
auch bei solchen, die sich allein auf den Cortex beschränken, vorkom-
men und die deshalb immer mit in den Kauf genommen werden müssen.
Es versteht sich von selbst, dass diesen Herden eine andere Bedeutung
als den corticalen Herden beigemessen werden muss, wie ich selbst dies
oft genug hervorgehoben habe, aber derartige Nebenverletzungen müssen
bei den Versuchen Munk's gerade ebenso gut wie bei den meinigen
vorgekommen sein. Es ist deshalb nicht angängig, meine abweichen-
den Resultate mit Bezug auf die Betheiligung des contralateralen Ge-
sichtsfeldes auf sie zu beziehen. Ueberdies ist dies der nebensächliche
Punkt. Gleiciiviel wie es sich mit der Betheiligung des anderen Auges
verhalten mochte, immer hätte doch der gleichseitige nasale Streifen
rindenblind sein müssen und dies traf eben nicht zu.
2. Die optischen Reflexe verhielten sich ebenso wie die Seh-
störung bei der Beob. 108 — 2tägige Dauer der Störungen; bei den
Beobb. 105, 109, 110 und 111 dauerte ihre totale Aufhebung kürzere
Zeit als die Sehstörung, indessen functionirte die Stelle des deutlichen
Sehens und deren nasale untere Nachbarschaft bei allen diesen Beob-
achtungen zum Tlieil schon ziemlich lange wieder, als die ersten Zeichen
der Reflexthätigkeit sich wieder einstellten, luir bei der Beob. 109 war
gerade um diese Zeit eine Unsicherheit des Sehens an jener Stelle
wahrzunehmen. Andererseits dauerte die Abschwächung der Reflexe
bei allen diesen Beobachtungen, mit Ausnahme der Beob. 105, bei der
eine Entscheidung ausstand, nicht nur über das Ende der Sehstöruug,
sondern auch über das Ende der Beobachtung hinaus. Bei der Beob. 110
lief, wie gesagt, auch die Sehstöi'ung nicht gänzlich ab,
— 421 —
Zu erwähnen bleibt noch, dass der Hund der ßeob. 105 längere
Zeit eine Motilitätsstörung in der einen Vorderpfote und zwar ohne
entsprechende Sensibilitätsstörung erkennen Hess.
ß. Laterale Hälfte.
£5eot>aclitiiiijjy IIS.
Aufdeckung über der lateralen Hälfte der linken Sehsphäre auf sagittal
22 mm, frontal 12 mm. Der hintere Rand der Lücke bleibt ca. 3 mm von der
Lambdanaht, ihr lateraler Rand 27 mm von der Mittellinie entfernt. In der
Lücke steht eben noch der obere hintere Winkel der III. Urwindung an. Ex-
Fig. 190.
stirpation der freiliegenden Rinde ca. ^/^ cm tief mit völliger Zerstörung des
hinteren Pols in der Breite der Lücke.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Auf dem linken Auge war ein nasaler
blinder Streifen bis zum 18. Tage nachweisbar; an diesem Tage war es un-
sicher, ob dort noch eine Sehstörung bestand; am 20. Tage bestand keine
Sehstörung mehr. Rechts war der Hund bis zum 5. Tage ganz blind. An
diesem Tage fixirte er auf einem nasalen Streifen Fleisch, ohne es aber zu
ergreifen. Am 7. und 8. Tage sieht er auf diesem Streifen deutlich, am 9. Tage
ist die Sehstörung vornehmlich unten etwas zurückgegangen. So bleibt es
bis zum 20. Tage. An diesem Tage nimmt die Sehstörung nur etwas mehr als
^ 42-2 —
die laterale Hälfte des Gesichtsfeldes ein, bleibt so bis zum 31. Tage, wo sie
sich auf die laterale Gesichtsfeldhälfte beschränkt. Vom 35. Tage an beginnt
die Sehstörung unten medial abzunehmen, zeigt jedoch am 42. Tage wieder
eine Verschlimmerung, derart, dass der Hund in einer medialen Grenzzone
unsicher reagirt. So bleibt es mit allmählicher Besserung bis zum 56. Tage,
Fig. 191.
rechts
Fig. 192.
an welchem Tage noch das laterale Drittel blind ist. Noch am 72. Tage
(Schluss der Beobachtung) ist ein blinder Kreisabschnitt im oberen äusseren
Quadranten nachweisbar. Gegen Licht: Entsprechend der Sehstörung gegen
Fleisch, vom 31. Tage ab beiderseits gleich scheuend.
Optische Reflexe: Fehlen vollständig bis zum 70. Tage, an welchem
sie gegen flache Hand abgeschwächt nachweisbar sind.
Nasenlid refl ex ungestört.
— 42^ —
GetÖdtet nach ca. 11 Wochen, nachdem eine 2. symmetrisclie OperatioH,
an der der Hund zu Grunde ging, ausgeführt worden war.
Section: Linke Hemisphäre: Häute normal. Die Auflagerung nimmt
vornehmlich die U., ferner den absteigenden Schenkel der I. Urwindung ein
und schneidet mit der vorderen Ecke einen dreieckigen Zipfel aus dem hinteren
Theil des Bogens der HI. Urwindung ab. Der hintere mediale Theil der I. Ur-
windung ist in einer Länge von sagittal 21 mm sehr stark eingezogen, sodass
der Oberwurm fast gänzlich freiliegt. Der durch die Einziehung entstandene
Defect ist ausgefüllt von einer derben, mit der Falx, aber nicht mit der Pia
des Gehirns verwachsenen Narbenmasse. Die Auflagerung misst sagittal
27 mm, frontal in der Mitte 14 mm, frontal vorn 13 mm, frontal hinten 11,5 mm.
Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Die Rinde der IL Urwindung und die
darunterliegende Marksubstanz fehlen völlig. In den Defect sind die benach-
barten Rindenbezirke, besonders der Bezirk der I. Urwindung, der medialen
Fläche der Hemisphäre und der Sulcus calloso-marginalis hineingezogen und
in ihrer Configuration völlig verzogen. Diese Rindenpartien sind deutlich
abgeblasst, theilweise dicht an der Narbe kaum vom Markweiss zu unter-
scheiden. Von der Narbenkappe geht zwischen den in den Defect hinein-
gezogenen Nachbargebieten hindurch ein feiner röthlicher Erweichungsstroifen
bis zur Wand des Ventrikels.
Die colossale Zerstörung hatte die laterale Hälfte der Sehsphäre
sicherlich gänzlich ausgeschaltet. Der Hund hätte also auf dem nasalen
Streifen seines linken Gesichtsfeldes und ebenso auf dem medialsten,
der linken Hemisphäre entsprechenden Streifen des rechten Gesichts-
feldes dauernd rindenblind sein sollen. Von allem war das Gegentheil
der Fall. Zwar liess er auf dem linken Auge anfänglich den gewöhn-
lichen nasalen Ausfall deutlich erkennen. Dieser war aber bereits am
20. Tage gänzlich verschwunden. Ebenso verhielt sich die Sehstörung
des rechten Auges ganz analog den bei anders localisirten Läsionen zu
beobachtenden Sehstörungen. Schliesslich war nicht jener medialste
Streifen, sondern ein lateralster oberer Kreisabschnitt „rindenblind".
Beobaclituug: 113.
Derselbe Hund von Beobachtung 110 (vergi. dort die Figuren). Auf-
deckung der ganzen lateralen Hälfte der Sehsphäre rechts auf sagittal 24 mm,
frontal 12 ^/^ mm, genau rechteckig. Medialer Rand vorn 15 mm, hinten 16 mm
von der Mittellinie, hinterer Rand einige Millimeter von derLambdanaht entfernt.
Soweit zu beurtheilen, liegt eine Ecke von der III. Urwindung und die IL Ur-
windung noch bis einige Millimeter medial von dem Sulcus, der sie hälftet,
frei. Die freiliegende Rinde wird ca. 3 mm tief umschnitten und flach mit
dem Präparatenheber abgetragen, wobei auch der gerade noch unter dem
hinteren Knochenrande liegende Pol der Hemisphäre möglichst gründlich zer-
stört wird.
=- 424 —
Motilitätsstörungen; Hängt bis zum 5. Tage, abnehmend, links ge-
streckter als rechts; beim Begreifen links reactionslos, vom 6. Tage an nicht
mehr. Während der gleichen Periode dreht der Hund viel nach rechts, ohne
in seinen Bewegungen nach links behindert zu sein. 53. Tag: Der Hund war
mehrmals vom Stuhl, auf den er immerfort hinaufsprang, heruntergeworfen
worden; bekommt plötzlich einen doppelseitigen Facialiskrarapf. 54. Tag: Die
Krämpfe haben sich oft wiederholt. An diesem Tage besonders rechtsseitige
Fig. 193.
Facialiskrämpfe mit ßetheiligung der Kau-, Nacken-, Hals- und Schlund-
musculatur. Speicheln. 1,5 Chloral per Klysma. 56. Tag: Anhalten der
Krämpfe. Einmal ein allgemeiner epileptischer Krampfanfall; hinterher eigen-
thümlich verwirrt, ängstlich verstörter Gesichtsausdruck; halluzinirt offenbar:
sucht bei der klinischen Demonstration die Wände hinaufzulaufen.
Sehstörung: Gegen Fleisch : Rechts: Die alte Sehstörung besteht im
oberen äusseren Quadranten bis zum 24. Tage so gut wie unverändert fort,
um am 27. Tage undeutliche Grenzen zu bekommen und bis zum 36. Tage
gänzlich zu verschwinden. Die von der neuen Operation herrührende Seh-
störung dauert bis zum 8. Tage; sie erscheint bis zu diesem Tage in Gestalt
eines oberhalb ■ des Aequators ziemlich breiten, unterhalb sich zuspitzenden
medialen Streifens; an diesem Tage ist nur noch ein einfacher medialer
Streifen nachweisbar. Links: Auf dem Boden findet er am 2. Tage Fleisch
nur, wenn es rechts seitlich von ihm liegt. In der Schwebe: Am 2. Tage nimmt
die Sehstörung das ganze Gesichtsfeld ein, doch ist medial unten die Blind-
heit nicht total, Hund schnuppert hier sofort, projicirt auch richtig. Am
3. Tage hat sich die vorbezeichnete untere nasale Stelle vielleicht noch etwas
vergrössert, doch besteht auch da immer noch eine Sehstörung. Am 4. Tage
schmaler nasaler sehender Streifen, am 5. Tage hat sich die Sehstörung bereits
erheblich aufgehellt, völlig sehend erscheint aber nur ein schmaler nasaler,
— 425 —
sich unterhalb des Aequators fast bis zum Meridian verbreiternder Streifen.
Am 6. Tage scheint nur noch ein breiter lateraler Streifen blind, an diesen
schliesst sich eine unsichere, medial bis über den Meridian hinausreichende
Zone. Am 8. Tage nur noch ein breiter lateraler Streifen; vom 9. — 15. Tage
besteht keine Blindheit mehr, doch reagirt er über der ganzen lateralen Partie
weniger prompt und vielfach unsicher tastend und ungenau localisirend.
Dieser Zustand verblasst allmählich, sodass er am 17. Tage gänzlich ver-
schwunden ist. Von da an bis zum Eintritt der Krämpfe keine Sehstörung
mehr. 53. Tag: Der Hund, der während der Untersuchung der anderen noch
ganz munter ist, wird plötzlich scheu und sieht links am Auge vorbei-
geworfenes Fleisch nicht (war mehrmals vom Stuhl, auf den er immerfort
hinaufsprang, heruntergeworfen worden). Bei der Untersuchung ergiebt sich
links eine Sehstörung, die die ganze obere Gesichtsfeldhälfle einnimmt und
unten einen schmalen lateralen Streifen. Während der Untersuciiung in der
Schwebe tritt plötzlich ein doppelseitiger Facialiskrampf auf. Gegen Licht:
Entspricht bis zum 10. Tage der Sehstörung gegen Fleisch; von diesem Tage
an scheut der Hund schon weit aussen.
Optische Reflexe: Fehlen am 2. Tage beiderseits, dann nur links bis
zum 14. Tage, wo sie gegen flache Hand vorhanden sind; vom 17. Tage an
sind sie auch gegen schmale Hand nachweisbar.
Nasenliilreflex: Fehlt gänzlicli am 2. Tage und ist dann noch einige
Tage abgeschwächt.
Gestorben nach ca. 8 Wochen.
Sectio n: Pia beider Hemisphären sehr blutreich. Die Auflagerung
nimmt die lateralen zwei Drittel dos Occipitallappens ein. Sie misst sagittal
24 mm, frontal-vorn 13,5 mm, frontal-hinten 9,5 mm. Mit ihrem medialen
Rande reicht sie bis in den lateralen Rand der I. Urwindung hinein und bleibt
von der Medianlinie vorn 11,5 mm, nicht ganz hinten 10 mm entfernt. Durch-
schnitt durch die Mitte der Narbe: Rinde und Mark fehlen fast im ganzen
Gebiete der Auflagerung überhaupt, fast im ganzen dorsalen Gebiete fehlt das
Mark gänzlich und ist durch einen bräunlichen gallertigen Herd ersetzt. Nur
innerhalb der lateralen Grenze der Auflagerung ist ein schmaler und innerhalb
der 1. Urwindung ein etwas breiterer Markzug erhalten.
Eiji Durchschnitt durch das Orbiculariscentrum zeigt keine makros-
kopischen Anomalien.
Durch die vorangegangene linksseitige Operation hätte dauernde
Rindenblindheit des nasalen Streifens des linken Gesichtsfeldes und
durch die darauffolgende rechtsseitige Operation dauernde Rinden-
blindheit des anschliessenden medialen Streifens gesetzt werden sollen,
sodass der Hund nunmehr auf der ganzen medialen Hälfte seines
linken Gesichtsfeldes dauernd rindenblind hätte sein müssen; ausser-
dem rausste er noch auf dem nasalen Streifen seines rechten Gesichts-
feldes dauernd rindenblind sein.
Thatsächlich traf aber nichts dergleichen zu, ausser dass der
— 426 -"
gleichseitige mediale Streifen wie gewöhnlich vorübergehend, nicht
dauernd blind war. Schon am 2. Tage sah der Hund auf dem linken
Auge medial etwas und die Sehstörung hellte sich alsdann in der ge-
wöhnlichen Weise von innen nach aussen auf, sodass wieder der obere
äussere Quadrant noch zuletzt geschädigt blieb.
Beobaclitviiijs' 114.
Derselbe Hund von Beobachtung 111 (vevgl. dort die Figuren). Auf-
deckung rechts hinten lateral auf 22 mm sagittal, 16 mm frontal. Der hintere
Rand bleibt ca. 3 — 4 mm von der Lambdanaht, der mediale vorn 15 mm,
hinten 16 mm von der Mittellinie entfernt. Die freiliegende Rinde (lateraler
Rand des medialen Schenkels, sowie lateraler Schenkel der II. Urwindung
und Winkel der III. Urwindung) wird flach ca. 3 mm tief abgetragen mit mög-
lichst ausgiebiger Zerstörung des hinteren Pols.
Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung: Gegen Fleisch: Rechts: In Gestalt einer nasalen Hemi-
anopsie bis zum 20. Tage, jedoch so, dass diese bereits am 5. Tage ver-
Fig. 194.
schwunden schien, während vom 6.- -12. Tage der obere Theil des nasalen
Streifens unsicher appercipirte und dieser dann vom 13. — 20. Tage wieder in
seiner ganzen Ausdehnung nachweisbar war. Links: Vom 2.-4. Tage blind
bis auf schmalen nasalen Streifen, der oben noch unsicher ist, vom 5. --8. Tage
sehende Partie nach unten lateral verbreitert. Vom 9. — 12. Tage: Die me-
dialste Partie oberhalb des Aequators ist immer noch nicht ganz frei, der
Hund greift hier nicht immer und wenig prompt zu. Am 10. Tage schnappt
er über den Partien, über denen er auf Fleisch reagirt, auch stets mehrmals
nach Watte, dann beachtet er sie nicht mehr. Am 13. Tage ist die Sehstörung
zurückgegangen; medialer Streifen oberhalb des Aequators noch unsicher.
— 427 —
Unterer medialer Quadrant frei bis über den verticalen Meridian hinaus, sodass
jetzt die früher blinde Stelle des deutlichen Sehens functionstüchtig ist. Vom
15.— 21. Tage: Medialer sehender Streifen oberhalb des Aequators noch
schmal, aber ganz frei. Unterhalb reicht die sehende Partie bis weit lateral,
doch bleibt immer noch ein blinder lateraler Streifen. Vom 21. — 25. Tage ist
die Sehstörung nur noch oberhalb des Aequators nachzuweisen, während unter-
halb nur noch ein lateraler Streifen unsicher ist. Vom 27. — 38. Tage ist
daselbst noch ein grösserer Sector blind, in dessen Areal noch bis zum Schluss
der Beobachtung Unsicherheit besteht. Gegen Licht: Entsprechend der Seh-
störung gegen Fleisch; auf den gegen Fleisch reagirenden Theilen stark
scheuend.
Optische Pveflexe: Fehlen links bis zum Schluss der Beobachtung
gänzlich, auf dem rechten Auge sind sie von der I. Operation her auch zu
dieser Zeit noch abgeschwächt.
Nasenlidreflex nur am 2. Tage abgeschwächt.
Getödtet nach ca. 9 Wochen.
Section: Häute normal. Die Auflagerung sitztauf dem absteigenden
Schenkel der I. und IL Urwindung und greift lateral noch etwas auf die
III. Urwindung über. Sie misst sagittal und frontal je 14 mm, reicht hinten
bis zum hinteren Pol und bleibt von der Mittellinie vorn 22 mm, in der Mitte
15 mm entfernt. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Bei der Anlegung
des Querschnittes ist die sehr derbe Auflagerung mit der darunter befindlichen
Narbe herausgebrochen. Dabei zeigt sich, dass die Narbe bis an die Wand
des ausserordentlich stark erweiterten Seitenventrikels gereicht hat. Ausser-
dem steigt noch ein schmaler Erweichungsspalt von der lateralen Basis der
Narbe im Gebiete der IlL Urwindung nach der lateralen Wand des Seiten-
ventrikels.
Bei der ersten Operation war das laterale Drittel der linken Seh-
sphäre entfernt worden; dauernde Rindenblindheit des nasalen Abschnittes
des linken Gesichtsfeldes hätte die Folge sein sollen. Bei der zweiten
Operation war die laterale Hälfte der rechten Sehsphäre entfernt worden;
abgesehen von der Schädigung des rechten Auges hätte nunmehr auch
der mittlere Streifen des linken Gesichtsfeldes dauernd rindenblind sein
sollen, sodass aus der Summe der Folgen der beiden Operationen eine
linksseitige, dauernde nasale Hemianopsie resulliren musste. Anstatt
dessen trat gerade umgekehrt die bei den meisten Operationen inner-
halb der Sehsphäre zu beobachtende typisch ablaufende temporale
Hemianopsie ein.
Keobaclituiig- US.
Aufdeckung beiderseits zur Freilegung der lateralen Hälften beider Seh-
sphären auf links sagittal 22 mm, frontal 16 mm, rechts sagittal 21,5 mm,
frontal 15,5 mm. Die Knochenlücken bleiben mit ihren hinteren Rändern bei-
derseits mehrere Millimeter von der Lambdanaht und mit ihren lateralen Ivän-
— 428 —
dern beiderseits vorn 27 mm, hinten 28 mm von der Mittellinie entfernt. Soviel
zu erkennen, steht beiderseits die laterale Hälfte des medialen Schenkels und
der ganze laterale Schenkel der IL Urwindung und der Winkel der III. Urwin-
dung an. Exstirpation ca. 3—4 mm tief.
Fig. 195.
Fig. 196.
[ Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung: Bis zum 14. Tage bewegt sich der Hund spontan nicht,
wird er zum Laufen gezwungen, so stösst er mit beiden Seiten überall an.
Dann beginnt er allmählich immer sicherer, aber stets vorsichtig, den Kopf
weit vorgestreckt, spontan zu laufen. Gegen Fleiscii: Am 2. Tage nimmt er
Fleisch nur, wenn man es an die Nase stösst. Am 3. und 4. Tage rechts ganz
blind, links am 3. Tage medial ganz unten scheinbar ein sehender Fleck, der
429
sicli am 4. Tage auch deutlich gegen Papier und Watte nachweisen lässt. Vom
5.-8. Tage in der Schwebe unverändert, nur ist links der mediale sehende
Fleck weniger sicher nachzuweisen. Wenn auf dem Boden oder auf dem Tiscli
am 7. Tage lange Streifen Pferdefleisch vor seinen Augen hin und her bewegt
werden, so merkt er weder auf, noch folgt er je mit den Augen. Am 9. Tage
nimmt er kein Fleisch aus der Hand, zerbeisst aber auf dem Boden aufgelesene
Knochen, die er fallen hört. Scheut links unten vor einem Glasgefäss mit
Wasser, sodass er nicht daraus trinkt, leckt aber eine Lache auf dem Boden
Fia-. 197.
links
rechts
Piff. 198.
befindliches Wasser gierig. Am 10. und IL Tage sieht er rechts undeutlich
medial ganz unten, links medial unten auf schmalem Streifen. 12. und 13.
Tag: Rechts nimmt die sehende Stelle nicht ganz den unteren medialen Qua-
— 430 —
dranten ein, reicht nach lateral bis zum verticalen Meridian, nach oben nicht
ganz bis zum Aeqnator. Links medial und unten ganz peripher liegender
schmaler sehender Streifen. Vom 15.— 31. Tage rechts unverändert, links hat
sich der medial unten befindliche Streifen verbreitert. Vom 32. — 37. Tage
links noch etwas weiter aufgehellt, sodass jetzt beide Gesichtsfelder etwa ein
gleiches Bild bieten. Vom 38. — 98. Tage (Schluss der Beob.) rechts unver-
ändert, links von medial her, nicht genau abgrenzbar aufgehellt. Stelle des
deutlichen Sehens noch beiderseits blind. 98. Tag: Hund orientirt sich gut
im Raum, läuft allein vom Stall ins Laboratorium, stösst an seitliche Hinder-
nisse nicht an, wohl aber an solche, die in die obere Gesichtsfeldhälfte fallen,
z. B. an einen horizontalen Gitterstab, der sich 50 cm über der Erde befindet.
Auf der Erde liegendes Fleisch findet er nur, wenn es beim eifrigen Hin- und
Herschnuppern unmittelbar vor seine Nase zu liegen kommt, wahrscheinlich
im Wesentlichen nur mit Hülfe des Geruchs. Watte ignorirt er. Gegen Licht:
Im Allgemeinen wie gegen Fleisch.
Optische Reflexe: Fehlen im Allgemeinen beiderseits, sind jedoch
manchmal hervorzurufen, wenn man die Hand von unten innen her auf den
sehenden Theil des Auges zuführt.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet am 98. Tage.
Section: Häute normal. Links: Die Auflagerung misst sagittal 25 mm,
frontal 16 mm. Sie sitzt der I. und IL ürwindung auf und schneidet gerade
noch ein dreieckiges Stück von der III. Ürwindung ab. Mit ihrer vorderen
medialen Ecke bleibt sie 11,5 mm von der Medianspalte entfernt, während der
hintere Rand dem sehr stark eingezogenen hinteren Pol anliegt. Rechts: Die
Auflagerung misst sagittal 20 mm, frontal 15,5 mm. Sie reicht medial an-
nähernd bis an den Sulcus lateralis (9 mm von der Medianspalte), nach vorn
schneidet sie gerade noch ein dreieckiges Stück von der III. Ürwindung ab.
Vorderer Rand links, eine Senkrechte: Falx — vorderer Rand der Auflagerung
schneidet noch ein Stück des hinteren Bogens der IV. ürwindung ab. Rechts
fällt die Linie um ein Geringes weiter nach hinten. Durchschnitt beiderseits
annähernd durch die Mitte der Auflagerungen. Links: Die gesammte dorsale
Partie zwischen Auflagerung und Ventrikel, welcher ausserordentlich stark
erweitert nach oben gezogen und in seiner ependymären Spitze bräunlich ver-
färbt ist, ist in eine derbe Narbenmasse verwandelt. Rechts: Das Bild ist
genau dasselbe, nur dass der Ventrikel nicht ganz so stark erweitert ist (der
Schnitt liegt um ein Geringes weiter nach hinten) und dass entsprechend der
besser conservirten I. ürwindung etwas von dem medialen Markweiss, das
links ganz zu Grunde gegangen ist, übrig geblieben ist.
Da beiderseits mindestens die ganze laterale Hälfte der Sehsphäre
total zerstört, während die mediale Hälfte, wenn auch nur theilweise
erhalten geblieben war, so hätte unter allen Umständen mindestens
dauernde bilaterale mediale Rindenblindheit die Folge sein soUen; da-
gegen durfte ein mehr oder minder breiter lateraler Streifen sehend
431
bleiben. Thatsächlich waren beide Augen fast ganz biind geworden,
aber statt eines lateralen Streifens war beiderseits ein unterer media-
ler Abschnitt erhalten geblieben.
Zu bemerken ist in diesem Falle noch die ausserordentlich starke
Schrumpfung vornehmlich des hinteren Theiles der linken I. Urwindnng.
Tabelle Vlc.
L a t e r a 1 e H ä 1 f t e.
m
112
Art der
Operation
Exstirpa-
tion ca. ^/^
cm tief.
113
114
Exstirpa-
tion ca. 3
mm tief.
Ort der Operation
(Scction)
Sehstörung
gegen Fleisch
gegen
Licht
Optische
Reflexe
Nasen-
lid-
reflex
Bemer-
kungen
Links : LateraleHälfte;
sagittal 27 mm, fron-
tal 11.5 — 14 mm
Exstirpa-
tion ca. 3
mm tief.
115
Exstirpa-
tion ca. S
bis 4 mm
tief.
Rechts: Laterale zwei
Drittel d. Sehsphäre;
sagittal 24 mm, fron-
tal 9,5 — 13,5 mm.
Mit dem medialen
Rand vorn 11,5 mm
nicht ganz hinten
10 mm entfernt.
Rechts : Laterale
Hälfte derSehsphäre;
sagittal 14 mm, fron-
tal 14 mm.
Beiderseits laterale
Hälfte der Sehsphäre ;
Links: sagittal 25
mm, frontal 16 mm;
rechts: sagittal 20
mm, frontal 15,5 mm.
Links: Dauer 19 Tage.
Rechts: Typische
Hemianopsie, typisch
verschwindend; an-
fänglich auch der
mediale Streifen
blind. Am 70. Tage
noch lateraler Fleck
blind.
Rechts: Nasaleroben
breiterer Streifen bis
zum 7. Tage.' Am
8. Tage Streifen von
gleicher Breite.
Links : Anfänglich
mit Ausnahme der
unteren nasalen Ecke
blind, dann typisch
hemianopisch , ty
pisch zurückgehend.
Dauer ] 6 Tage
Rechts : Dauer 20 Tage
bei wechselnder In-
tensität,
Links : Temporale
Hemianopsie, typisch
ablaufend und von
sehr langer Dauer.
Anfänglich total, dann
hellt sich beiderseits
ein unterer innerer
Sector auf. Keine
weitere Besserung.
Wie gegen
Fleisch.
Dauer
30 Tage
Wie gegen
Fleisch bis
zum 10
Tage, dann
fehlend.
Fehlen bis
70. Tage,
dann abge
schwächt.
Wie gegen
Fleisch ;
auf den
gegen
Fleisch re-
agir enden
Theilen
stark
scheuend.
Im Allge-
meinen wie
gegen
Fleisch.
Fehlen bis
zum 14.
Tage, dann
bisincl. 16
Tag abge-
schwächt.
Unge-
stört.
Anfäng-
lich ge-
stört.
Fehlen
dauernd.
Fehlen so
gut wie
ganz.
Nur am
2. Tage
abge -
schwächt.
Unge-
stört.
Schrum-
pfung des
hinteren
Abschnit-
tes des
Seh Sphä-
renrestes.
Unsichere
Grenzzone.
Krämpfe.
Wieder-
auftreten
der Seh-
störung.
Am 2. und
13. Tage
Andjlyopie
des oberen
Abschnit-
tes des me-
dialen
Streifens
links.
Hochgra-
dige
Schrum-
pfung des
hinteren
Pols links.
— 432 —
Zusammenfassung.
]. Sehstörungen (aa. Reaction gegen Fleisch): Bei den
Beobb. 112 — 115 war regelmässig die laterale Hälfte oder mehr der
Sehspbäre ausgeschaltet worden, nachdem bei 3 von diesen Operationen
vorher oder gleichzeitig mindestens das laterale Drittel der anderen
Hemisphäre in gleicher Weise geschädigt worden war.
Der Hund der 4. Beobachtung (112) ging bei einer symmetrischen
Operation zu Grunde. Bei- diesem Hunde hätte also nach der Lehre
Munk"s das linke gleichseitige Auge den gewöhnlichen nasalen rinden-
blinden Streifen, das gegenseitige rechte Auge aber luir einen die late-
rale Hälfte des medialen Abschnittes des Gesichtsfeldes einnehmenden Strei-
fen zeigen dürfen. Nun deckte die Section eine überaus starke Retraction
von mehr als der hinteren Hälfte des medialen Restes der Sehsphäre auf.
Unzweifelhaft war diese dadurch verschuldet, dass die zu ihr verlaufen-
den Antheile der Sehstrahlung durch die Folgen der Ojjeration ver-
ni.chtet waren. Rindenblind hätten also sein müssen, wenn man dies
zugiebt, auf dem linken Auge der nasale Streifen, auf dem rechten
Auge der vorbezeichnete mittlere Streifen, die Stelle des deutlichen
Sehens ganz oder zum grössten Theil und die obere Hälfte des Gesichts-
feldes ganz oder zum grössten Theil; dagegen musste die untere laterale
Partie des Gesichtsfeldes erhalten sein. Thatsächlich war die Sehstö-
rung auf dem linken Auge ungeachtet dieser colossalen Zerstörung
bereits am 20. Tage wieder gänzlich verschwunden, während am 31. Tage
die ganze mediale Hälfte des rechteu Gesichtsfeldes incl. jenes mittleren
Streifens wieder functionirte. Nur insofern deckt sich das Resultat
dieser Beobachtungen mit deji Postulaten Munk's als ein oberer late-
raler Kreisabschnitt, wie eben auch bei anders localisirten Läsionen bis
zuletzt blind blieb. Bemerkenswerth ist noch, dass dieser Hund bis
zum 7. Tage auch auf dem medialen Streifen des rechten Auges eine
Sehstörung erkennen Hess.
Fassen wir die Resultate der beiden Beobb. 113 und 114 zusam-
men, so ergiebt sich, dass ungeachtet der immensen, bei ihnen an-
gerichteten Zerstörungen der nasale Streifen des gleichseitigen Auges
bei der ersteren bereits am 11. und bei der letzteren definitiv vom
21. Tage an wieder functionirte. Die Sehstörung des gegenüberliegen-
den linken Auges aber, welche wie gesagt in einer nasalen Hemianopsie
hätte bestehen sollen, stellte sich thatsächlich gerade umgekehrt heraus,
sodass beide Male zuerst die untere nasale Partie frei wurde und sich
die Sehstörung alsdann nach dem Typus der temporalen Hemianopsie
zurückbildete. Rindenblind war ungeachtet der Ausschaltung etwa der
Hälfte beider Sehsphären kein Theil der Gesichtsfelder, wenn auch
— 433 —
Beob. 114 im oberen lateralen Quadranten bis zum Schluss der Beob-
achtung Unsicherheit erkennen Hess. Hervorzuheben ist noch, dass die
Sehstörung der Beob. 113 Infolge von Krampfanfällen wieder activ wurde.
Von besonderem Interesse ist die Beob. 115. Zunächst zeigte die
linke Hemisphäre infolge der Schrumpfung vornehmlich des hinteren
Abschnittes des stehengebliebenen Sehsphärenrestes ein ganz ähnliches
Bild wie die linke Hemisphäre der Beob. 112. Sodann kam es bei
diesem Hunde wirklich zur Rindenblindheit fast des ganzen Gesichts-
feldes beiderseits. Functionsfähig wurden nur die untersten und nasal-
sten Theile beider Gesichtsfelder. Aber gerade diese hätten nach dem
Schema Munk's nebst dem Reste der nasalen Hälfte beider Gesichts-
felder rindenblind sein sollen, während die temporalen Hälften, welche
mindestens zum Theil hätten functionsfähig bleiben dürfen, noch am
98. Tage blind waren, sodass an eine fernere Besserung nicht mehr zu
denken war. Die Stelle des deutlichen Sehens war beiderseits nicht
wieder functionsfähig geworden. Mit den wieder sehend gewordenen
kleinen nasalen Partien konnte der Hund Gegenstände zwar sehen, aber
nicht deutlich erkennen. Wenn auch nicht mit mathematischer Sicher-
heit bewiesen, so halte ich es doch für ganz unzweifelhaft, dass der
Hund auf diesen Theilen seines Gesichtsfeldes nur einen Theil der ihnen
zukommenden Sehschärfe wieder erlangt hatte.
bb. Die Sehstörung gegen Licht verhielt sich im Allgemeinen
wie die gegen Fleisch.
2. Die optischen Reflexe fehlten bei der Beob. 112 bis zum
70. Tage, zu einer Zeit als noch ein lateraler oberer Kreisabschnitt
blind war, dann waren sie abgeschwächt vorhanden; bei der Beob. 113
fehlten sie 13 Tage gänzlich und waren dann anfänglich gegen flache,
dann auch gegen schmale Hand vorhanden, während die Sehstöruug
etwa um die gleiche Zeit verschwand. Bei den ßeobb. 114 und 115
fehlten sie bis zum Schluss der Beobachtungen gänzlich, nur dass bei
der letzteren in der späteren Periode manchmal bei der Reizung des
sehenden Abschnittes eine Reaction hervorzurufen war.
3. Der Nasenlidreflex war bei den Beobb. 112 und 115 un-
gestört, während er bei den Beobb. 113 und 114 eine schnell vorüber-
gehende Störung erkennen Hess.
4. Sehen wir auch von den Beobb. 101—104 ab, die für sich allein
zu einem bestimmten Schlüsse nicht ausreichen würden, so lässt sich
doch auf Grund des gesammten hier angeführten Materials die gestellte
Frage mit aller wünschenswerthen Sicherheit dahin beantworten, dass
das laterale Drittel der Sehsphäre keineswegs ausschliess-
lich zur Innervation der gleichseitigen Retina dient, dass
Hitzig, Gesammelte AbhaiuU- II. Theil. 28
434
diese auch von anderen Theilen der Sehspliäre innervirt
wird und dass auch der ihm anliegende Abschnitt der Seh-
sphäre nicht als Projectionsfeld für den medialen Abschnitt
der lateralen Hälfte der gegenseitigen Retina anzusehen ist.
Derjenige Theil des Gesichtsfeldes, dessen Sehkraft immer
entweder von vornherein erhalten ist oder zuerst oder allein
wiederkehrt, ist auch bei Ausschaltung der lateralen Ab-
schnitte der Sehsphäre .sein nasaler unterer Theil.
c. Mediale Läsionen.
Nach den Behauptungen Munk's sollen durch Ausschaltung des
medialen Drittels oder der medialen Hälfte der Sehsphäre, gleichviel
wie es sich mit den auf S. 306, 307 erwähnten Widersprüchen verhalten
mag, der Fig. 95c entsprechende Scotome des gegenseitigen Auges ent-
links rechts links
Fig. 95 c.
stehen, während das gleichseitige Auge nicht geschädigt sein dürfte.
Demnach gab die Exstirpation dieser Theile, namentlich wenn sie sich
nicht zu weit lateral erstreckte, ein ferneres gutes Mittel für die Ent-
scheidung der im vorstehenden Abschnitt aufgeworfenen Frage ab, ob
das gleichseitige Auge wirklich nur von der einen Hemisphäre inner-
virt werde. Dasselbe durfte bei so localisirten Eingriffen entweder
überhaupt keine Schädigung erkennen lassen oder diese musste wenig-
stens ganz vorübergehend und jedenfalls viel geringer sein als die
Schädigung des gegenüberliegenden Auges.
Bei den nachfolgenden Untersuchungen habe ich von einer Unter-
scheidung zwischen Ausschaltungen des medialen Drittels und der medi-
alen Hälfte von vornherein abgesehen, denn es ist mir nach den Ergeb-
nissen der vorgetragenen Experimente gänzlich unerfindlich, auf welche
Weise eine solche Unterscheidung auch bei der grössten operativen
Technik practisch durchführbar sein sollte.
Oeolbaclitxiiig" 116.
Ziemlich grosser Hund von 11 kg Gewicht. Aufdeckung des Randwulstes
links auf sagittal 27 irnn, frontal 8 mm. Derselbe wird ca. 1 cm tief mit dem
— 435 —
Messer uiuschnittcn und mit dem Präparate nli eher bis an die Falx und das
Tentorium herausffeliohen.
Fla-. 199.
Fis-. 200.
links
rechts
Fig. 201.
Wundheilung: Bis zum 5. Tage normal, an diesem Tage hat sich der
Hund den Verband abgerissen und die Wunde aufgekratzt, sodass eine ver-
eiternde Phlegmone der weichen Schädeldecken entsteht, deretwegen der Hund
am 8. Tage getödtet wird.
28*
— 436 —
Motilitätsstörungen felilen.
Seh Störung: Gegen Fleisch: Links: Bis zum 4. Tage unverändert,
nasaler Streifen blind. Rechts: Am 2. Tage deutlich laterale Blindheit, oben
breiter als unten, ausserdem über dem ganzen Gesichtsfeld bis auf die medialste
Partie Unsicherheit. Am 3. Tage oben lateral unsicher, unten anscheinend
sehend, am 4. Tage lateraler Streifen ainblyopisch. Gegen Licht: Nur am
2. Tage mit Ausnahme des medialen Streifens reactionslos, dann normal.
Optische Reflexe: Links ungestört. Rechts am 2. Tage fehlend, am
3. Tage desgleichen, doch knurrt der Hund jedesmal, wenn man ihm mit der
Hand vor das Auge kommt, wüthend. Am 4. Tage gegen flache Hand ange-
deutet, gegen schmale Hand fehlend.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet am S.Tage, nachdem der Hund in den letzten STagen kränkelte.
Section: Knochenlücke durch organisirte Auflagerungen völlig abge-
schlossen. Hirnhäute normal. Die sagittal 26mm, frontal9,5mm messende Narbe
sitzt ganz medial lediglich in der I. ürwindung, nur den Rand der H. etwas
betheiligend. Medial derb mit der Falx verwachsen. Sie reicht hinten bis
zum hinteren Pol, vorn bis zu einer Senkrechten Falx — Spitze der Fossa
Sylvii, 1. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Der dorsale Theil der
L Ürwindung fehlt gänzlich. Die Zerstörung nimmt aber noch die mediale
Hälfte der IL Ürwindung ein und erstreckt sich mit einem breiten bajonettför-
migen Ausläufer in deren laterale Hälfte hinein. 2. Durchschnitt dicht vor
dem vorderen Rande der Narbe: Das Bild ist ungefähr dasselbe, nur ist der
bajonettförmige Ausläufer breiter und es findet sich ein bräunlicher Erwei-
chungsherd dicht an dem Seitenventrikel im Bereich des Gyrus fornicatus.
Die Zerstörung hatte das mediale Drittel der Selisphäre ausge-
schaltet. Das gleichseitige Auge hätte also frei sein, das gegenseitige
Gesichtsfeld aber in seinem lateralen Abschnitt rindenblind sein sollen.
Thatsächlich war das gegenseitige Gesichtsfeld aber bereits vom 3. Tage
an nur sehr wenig betroffen, während sich auf dem gleichseitigen Auge bis
zum 4. Tage (Schluss der Beobachtung) der gewöhnliche nasale Streifen
beobachten liess.
Oeobachtving- IIT'.
Ziemlich grosser (IOY2 kg schwerer) Hund. Aufdeckung eines medialen
Streifens von sagittal 22 mm, frontal 8 mm links. Der hintere Rand bleibt
nur einige Millimeter von der Lambdanaht entfernt; der mediale Rand liegt
. dicht an der Medianspalte. Umschneidung der freigelegten Partie und Heraus-
hebung bis zum Tentorium und der Falx mit Präparatenheber.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Links: Auf einem nasalen Streifen bis
zum 7. Tage, am 8. Tage verschwunden; am 5. Tage fraglich, ob die uutere
Hälfte noch amblyopisch ist. Rechts: Am 2. Tage ca. zwei Drittel lateral
blind, im Schooss sclieint die blinde Partie nicht ganz so breit. Am 3. Tage
— 437 —
unterhalb desAequators ca. ^4) oberhalb unsicher. Am 4; Tage entspricht 'die
Sehstörung dem äusseren oberen Quadranten und dem halben unteren. Auf
dem Boden findet er mit dem rechten Auge lateral liegendes Fleisch nicht.
Fig. 202.
Fig. 203.
Am 5. Tage ist die Sehstörung oben zurückgegangen, so dass nur noch das
laterale Drittel blind ist. Am 6. und 7. Tage ist nur noch lateral oben ein
kleiner amblyopischer Fleck nachzuweisen, der am 8. Tage verschwunden ist.
Gegen Licht keine Sehstörung.
Optische Reflexe: Am 2. Tage rechts fehlend, bis zum 6. Tage nur
gegen schmale Hand fehlend, dann beiderseits gleich.
Nasenlidr eflex ungestört.
Getödtet nach ca. 8 Y2 Wochen, nachdem inzwischen eine 2. symmetrische
Operation ausgeführt worden war.
Section: Häute normal. Die sagittal 18 mm, frontal 10 mm messende
-— 438 -^
ISTarbe sitzt der sehr schmalen I. und dem medialen Schenl^el der II. ürwin-
dung'^auf, genau bis zum Sulcus ectolateralis reichend. Ihr hinteres mediales
Ende bleibt vom hinteren Pol 5 mm zurück. Medial ist die Narbe mit der Falx
verwachsen, sodass man die genaue Ausdehnung der Zerstörung nicht sehen
kann. 1. Durchschnitt am vorderen Rande der Narbe: Die Rinde der I. Ur-
windung erscheint an der convexen Fläche leicht röthlich verförbt; das Mark-
links ^m f '^^H rechts
Fig. 204.
lager dieser Windung ist ersetzt durch einen rothen Erweichungsherd. 2. Durch-
schnitt 11 mm weiter nach hinten an der Grenze des hinteren Drittels: Die
I. Urwindung ist durch derbes Narbengewebe ersetzt, zwischen dem sich ein
Rest der Rinde stark narbig verändert noch abhebt. Von der Narbe geht late-
ral basal ein rother Erweichungsstreifen bis an den Fuss der 11. Urwindung.
Die Zerstörung nahm mit Ausnahme des hinteren Pols reichlich
das mediale Drittel der Sehsphäre ein. Das gleichseitige Auge hätte
frei von Sehstörung sein sollen; es zeigte den gewöhnlichen nasalen
Streifen bis einschliesslich des 7. Tages; das gegenseitige Auge zeigte,
der Forderung entsprechend, wie gewöhnlich eine temporale Sehstörung.
Beobaclitvingf IIS.
Derselbe Hund von Beobachtung 117 (vergl. dort die Figuren). Auf-
deckung eines medialen Streifens von sagittal 22 mm, frontal-hinten 7 mm,
frontal-vorn 12 mm. Der mediale Rand liegt dicht an der Medianspalte, der
hintere Rand dicht am Ansatz des Tentoriums. Die schmale Knochenspange
zwischen linkem und rechtem Schädeldefect bricht dabei durch. Es wird 1 cm
tief entlang dem Sulcus zwischen I. und II. Urwindung eine Umschneidung
mit dem Messer vorgenommen und dann der Randwulst nach der Falx zu mit
dem Präparatenheber herausgelöffelt. Es bleibt auf diese Weise in den
vorderen Partien der Lücke, wo diese 12 mm breit ist, ein Streifen Rinde, der
der 11. Urwindung angehört, lateral stehen. ■
— 439 —
Motilitätsstörungen fehlen. ' '
Sehstörung fehlt gegen Fleisch und Licht.
Optische Reflexe ungestört.
Nasenlid refl ex ungestört.
Getödtet am 5. Tage.
Sectio n: Häute normal. Die 17,5 mm sagittal, 8,5 mm frontal messende
Narbe sitzt ganz im Bereich der I. Urwindung und reicht fast bis an den
hinteren Pol. Die von der Dura entblösste, nicht exstirpirte, lateral vorn von
der Narbe liegende Rindenpartie sieht röthlich tingirt aus. An der medialen
Fläche der Hemisphäre ist die Rinde in der Länge der Narbe bis fast an den
Sulcus calloso-marginalis heran zertrümmert und blutig durchsetzt. 1. Durch-
schnitt am vorderen Rande der Narbe: Die ganze 1. ürwindang mit Ausnahme
des lateralen Drittels ist von blutigen Erweichungsherden durchsetzt, die sich
in Form eines Streifens bis in den Balken fortsetzen. 2. Durchschnitt 11 mm
weiter nach hinten an der Grenze des hinteren Drittels: Die ganze I. Ur-
windung mit Ausnahme der lateralsten, dem Sulcus zwischen l. und II. Ur-
windung folgenden Rinde fehlt. Die blutige Erweichung geht nach lateral
basal zum Fuss der II. Urwindung.
Das mediale Drittel der Sehsphäre war und zwar in grösserer
Tiefe als bei der Beobachtung 117 und mit stärkeren secundären Ver-
änderungen als dort zerstört. Die geforderte und überhaupt jede Seli-
störiing; blieb aus.
Beobaclitwng" HO.
Ziemlich grosser Hund von 14,5 kg Gewicht. Aufdeckung eines medialen
Streifens links auf sagittal 29mm, frontal-vorn 8mm, frontal in der Mitte 9mm,
frontal-hinten 10 mm. Der mediale Rand liegt dicht an der Medianspalte, der
(zu Beob. 119.
(zu Beob. 120.)
hintere Rand liegt am Ansatz des Tentoriums. Es liegt die I. Urwindung
frei. Umschneidung der I. Urwindung auf 1 cm tief mit dem Messer, Heraus-
hebung der umschnittenen Partie mit dem Präparatenheber gegen Falx und
Tentorium.
Die Wundheilung erfuhr insofern eine Störung, als die beim Vernähen
_ 440 —
ümgeldappten Wundränder am 7. Tage angefrischt werden mussten, worauf
die Wunde unter aseptischem Verbände ohne Eiterung bis zum 25. Tage lang-
sam zugranulirte.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Der Hund ist sehr unruhig, sodass genaue
Untersuchung gelegentlich nur in der Schwebe möglich ist. Links: Am 2. Tage
nasaler Streifen, nicht deutlich nachweisbar, ebenso am 4. Tage anscheinend
Fig. 206.
linl(s
rechts
Fig. 207.
nur oben nasal ein blinder Fleck. Am 3. und 5. Tage deutlicher nasaler
Streifen, am 6. Tage keine deutliche Sehstörung mehr, Rechts: Weder in der
— 441 —
Schwebe noch durch anderweitige Untersuchungsmethöde eine' Sehstörung
nachzuweisen. Gegen Licht wendet er sich am 4. Tage rechts vielleicht etwas
weniger energisch ab als links, sonst keine Sehstörung.
Optische Reflexe: Am 2. Tage gegen flache Hand beiderseits gleich,
gegen schmale Hand rechts fehlend oder angedeutet, links vorhanden. Am
3. Tage rechts gänzlich fehlend, am 4. Tage gegen flache Hand abgeschwächt
vorhanden, gegen schmale Hand fehlend, dann abgeschwächt bis zum 30. Tage
(Schluss der Beobachtung), zu welcher Zeit noch eine zweifelhafte Differenz
bestand.
Nasenlid refl ex ungestört.
Getödtet nach ca. 3 Monaten, nachdem inzwischen eine 2. symmetrische
Operation ausgeführt worden war.
Section: Häute normal. Die Narbe liegt ganz im Randwulst. Sie
misst sagittal 24 mm, frontal-hinten 11 mm, frontal-vorn 4,5 mm. Am hinteren
Pol ist die Windung von der Mittellinie bis zum Sulcus lateralis gänzlich
zerstört. Hier greift die Zerstörung auch erheblich auf die mediale Fläche
über. Vorn bleibt zwischen der letzteren und der Narbe, wie auch zwischen
dieser und dem Gyrus ectolateralis noch etwas äusserlich unversehrte Substanz
übrig. Der vordere Rand der Narbe reicht bis an eine Senkrechte: Falx-Spitze
der Fossa sylvii. 1. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Die Rinde im
Bereiche der medialen oberen Hälfte der Kante des Randwulstes fehlt. 2. Durch-
schnitt durch den vorderen Rand der Narbe: Hier fehlt nur eben die dorsale
Rinde in der Mitte des Randwulstes.
Bei dem vorstehenden Versuch war der mediale Rand der Seli-
spliäre in ihrem hinteren Tlieile gänzlich, in ihrem vorderen Theile
theilweise mrd zwar so zerstört, dass der stehengebliebene mediale
Rest der Rinde dem Anscheine nach von seiner Markstrahlmig abge-
trennt war.
Unter allen Umständen hätte eine partielle Rindenblindheit im
lateralen Theile des rechten Gesichtsfeldes die Folge sein müssen; da-
gegen durfte das linke Gesichtsfeld in keiner Weise geschädigt sein.
Thatsächlich fand sich gerade umgekehrt das rechtsseitige Gesichtsfeld
ungeschädigt, während sich im linken Gesichtsfeld bis zum 5. Tage eine
mehr oder minder deutliche nasale Sehstörung erkennen liess.
KeobsiohtiMig" ISO.
Derselbe Hund von Beobachtung 119 (vergl. dort die Figuren). Auf-
deckung des rechten Randwulstes auf sagittal 29 mm, frontal 8 mm bis zum
Sulcus lateralis. Exstirpation der Rinde ca. 1 cm tief.
Die Wundheilung erfuhr bei diesem Versuch insofern eine Störung, als
sich der Hund am 5. Tage die Wunde breit aufgekratzt hatte, in welcher die
Knochenlücke vollkommen geschlossen erschien. Die Heilung erfolgte unter
aseptischem Verband, indem die Wunde langsam zugranulirte.
— 442 —
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Der sehr muntere, leicht zu untersuchende
Hund lässt keinerlei Sehstörung erkennen, nur am 54, Tage, am Tage vor der
Tödtung, reagirt der Hund auf einem nasalen Streifen des rechten Gesichts-
feldes sowohl gegen den symmetrischen Streifen des linken Gesichtsfeldes,
als auch gegen den Rest des rechten Gesichtsfeldes langsamer und unsicherer.
Gegen Licht: Fehlt, der Hund scheut beiderseits schon weit aussen.
Optische Pveflexe ungestört.
Nasenlidreflex ungestört.
Gotödtet am 55. Tage.
Section.: Häute normal. Die Narbe liegt gänzlich im Randwulst, misst
sagittal 25,5 mm, an der breitesten in ihrer Mitte gelegenen Stelle misst sie
frontal 9 mm, vorn, wo sie sich allmählich zuspitzt 4,5 mm. Hier bleibt der
mediale Rand frei. Die Rinde ist im Bereiche der Narbe, ausgenommen eine
ca. 7 mm lange, der vordersten Spitze der Narbe entsprechende Partie, bis
zum Sulcus calloso-marginalis zerstört. 1. Durchschnitt durch die Mitte der
Narbe: Die ganze mediale Kante bis zum Sulcus calloso-marginalis fehlt.
2. Durchschnitt durch den vorderen Rand der Narbe: Die Rinde fehlt über
mehr als der mittleren Hälfte des Randwulstes. Ferner sieht man einen ocker-
farbigen Herd in der dorsalen Umgebung des Sulcus calloso-marginalis. Die
Seitenventrikel sind beide erweitert.
Der Randwulst war innerhalb der Sehsphäre fast in deren ganzem
Umfange bis auf den Sulcus calloso-marginalis derart zerstört, dass die
Markstrahlung verhältnissmässig wenig betheiligt erschien. Ein Theil
der lateralen Hälfte des linken Gesichtsfeldes hätte dauernd rinden-
blind sein sollen, während das rechte Gesichtsfeld keinerlei Schädigung
erfahren haben dürfte. Das linke Gesichtsfeld erschien aber während
der ganzen Dauer der Beobachtung vollkommen normal, während sich
auf dem rechten Gesichtsfelde bei Aufnahme des Schlussstatus eine
nasale amblyopische Zone erkennen Hess. Es muss unentschieden ge-
lassen werden, ob diese schon früher vorhanden war.
(Tabelle VII. s. nebenseitig.)
443 —
Tabelle VIT.
Mediale Läsionen.
pq
Art der
Operation
Ort der Operation
(Section)
S e h s t ö r II n ff
gegen Fleisch
gegen
Licht
Optische
Reflexe
Bcmerlfungcn
116
Exstirpa-
tion ca. 1
cm tief.
117
Exstirpa-
tion ca. 1
cm tief.
118
119
|120
Links. ßandwLiIst
mit Betheil Lgung der
II. Urwindung und
ihres Marlilagers. Sa
gittal 26 mm, fron
tal 9,5 mm. Hintere
Grenze: hinterer Pol;
vordere Grenze:
Senkrechte Spitze
der Fossa Sylvii —
Falx.
Links. Medialer Strei-
fen. Sagittal 18 mm,
frontal 10 mm. Hin-
teres mediales Ende
5 mm vom hinteren
Pol; vordere Grenze:
vorderer Rand der
Sehsphäre ; laterale
Grenze: Sulcus ecto-
lateralis. Zerstörung
der I. Urwindung
mit Betheiligung des
grossen Marklagers.
Exstirpa- Rechts Medialer Strei- Fehlt,
tion ca. 1 fen. Sagittal 17,5
cm tief. mm, frontal 8,5 mm.
Hinterer Rand fast am hinteren
Vordere Grenze: Vorderer Rand der Sehshpäre.
Störung fast der ganzen I. Urwindung und des me
dialen Marklagers bis in den Balken hinein
Links : Medialer
Streifen.
Rechts : Lateraler
Streifen. Am 2. Tage
auch sonst bis auf
medialen Streifen
amblyopisch.
Dauer?
Links : Medialer Strei-
fen bis zum 6. Tage
ebenso lange wie
rechts.
Rechts : Dauer 6 Tage;
laterale Hemiano-
pie, zuletzt lateral
oben amblyopischer
Fleck.
Nur am 2. 2 Tage
Tage. fehlend,
dann abge-
schwächt.
Fehlt.
Pol.
Zer-
Exstirpa-
tion ca. 1
cm tief.
Exstirpa-
tion ca. 1
cm tief.
Links. Randwulst mit
Conservirung schma-
ler medialer und la-
teraler Streifen vorn.
Sagittal 21 mm, fron-
tal-hinten 1 1 mm,
frontal-vorn 4,5 mm.
Rechts. Randwulst
und Rinde bis zum
Sulcus calloso-mar-
ginalis. Sagittal 25,5
mm, frontal 4,5 — 9
mm. Freibleiben des
vorderen Randes.
Rechts gänzlich feh-
lend.
Links : Nasale Hemi-
anopsie bis inclusive
5. Tag.
Fehlt; nur am Ende
der Beob. rechtssei-
seitige nasale Am-
blyopie..
Fehlt.
Nur am 4.
Tage an-
gedeutet.
Fehlt.
Am 2. Tage
rechts feh-
lend, dann
allmählich
wiederkeh-
rend.
Dauer 5
Tage.
Ungestört.
Gänzliches
Fehlen am
3. Tage,
dann Ab-
schwä-
chungnoch
am 30.'
Tage.
Ungestört.
Unge-
stört.
Knurren bei
Fehlen der
opt. Rellexe.
Phlegmone,
Unge-
stört.
Unge-
stört.
Unge-
stört.
Unge-
stört.
Störung der
opt. Reflexe
bei Fehlen der
Sehstörung.
Wundheilung.
— 444 —
Zusammenfassung.
1. Selistörungen (aa. Reaction gegen Fleisch): Betrachten
wir zunächst das Verhalten des gleichseitigen Auges, welches bei
diesen 5 Beobachtungen hätte frei bleiben sollen, so ergiebt sich, dass
dasselbe in der That bei den Beobb. 118 und 120 frei blieb. Bei der
letzteren fand sich freilich bei der Aufnahme des Schlussstatus am
54. Tage ein nasaler amblyopischer Streifen vor, wie er übrigens schon
zu Anfang zu erwarten gewesen wäre und es konnte nun nicht mit
Sicherheit gesagt werden, wie lange dieser Streifen schon bestand; denn
der Hund hatte von Anfang an und schon so lange keine Sehstörung
gehabt, dass er schliesslich nicht mehr regelmässig untersucht worden
war. Wir wollen also auf diese Amblyopie, welche der Hund nach
Munk nicht hätte haben dürfen, kein besonderes Gewicht legen. Ande-
rerseits fehlte aber bei diesen beiden Beobachtungen, welche wiederum
beide die 2. Hemisphäre betrafen, auf dem gegenseitigen Auge, wo sie
das laterale Drittel oder die laterale Hälfte hätte einnehmen sollen,
die Sehstörung gleichfalls gänzlich.
Bei den 3 anderen Beobachtungen war regelmässig eine Sehstörung
des gleichnamigen Auges vorhanden. Bei der Beob. 116, welche wegen
Erkrankung des Thieres nicht zu Ende verfolgt werden konnte, war sie
während der Beobachtungszeit — 4 Tage — und zwar, abgesehen vom
2. Tage, stärker als auf dem gegenseitigen Auge nachweisbar; bei der
Beob. 117 war sie bis zum 7. Tage — ebensolange wie auf dem gegen-
seitigen und zwar zuletzt stärker als dort — nachweisbar. Bei der
Beob. 119 endlich fehlte die Sehstörung auf dem gegenüber-
liegenden Auge, dessen laterales Drittel sie mindestens hätte ein-
nehmen sollen, gänzlich, während sie auf dem gleichseitigen Auge, wo
sie hätte fehlen sollen, bis zum 5. Tage nachweisbar war.
Die Sehstörung des gegenüberliegenden Auges betheiligte in
den 2 Fällen, in denen sie überhaupt nachweisbar war, allerdings die
laterale Seite des Gesichtsfeldes, indessen nahm sie doch weder dessen
laterale Hälfte, noch sein laterales Drittel ein, noch bestand sie in
Rindenblindheit, sondern sie bestand und verlief, wie in der grossen
Mehrzahl aller unserer Fälle, als typische Hemianopsie.
Von besonderem Interesse sind die Beobb. 119 und 120, bei denen
die Sehstörung auf beiden Augen entweder ganz fehlte oder nur un-
bedeutend und von kurzer Dauer war. Vergleichen wir damit den
Sectionsbefund, so ergiebt sich, dass die Marksubstanz bei diesen Ver-
— 445 —
suchen äiLSserst wenig geschädigt war, während ein grosser Tlifil di-r
medialen grauen Substanz abgetragen war.
bb. Eine Sehstörung gegen Licht war entsprechend dem ge-
ringen Grade der Sehstörung gegen Fleisch in diesen Fällen kaum oder
nicht nachweisbar, nur bei der Beob. 116 war sie am 2. Tage und
spurweise bei der Beob. 119 am 4. Tage nachweisbar.
2. Die optischen Reflexe waren in den beiden Fällen, in denen
keine Sehstörnng bestand, gleichfalls ungestört. Bei der Beob. 116
fehlten sie 2 Tage und waren am folgenden Tage, dem letzten der
Beobachtungszeit, abgeschwächt vorhanden; bei der Beob. 117 fehlten
sie einen Tag gänzlich und waren dann noch 4 Tage abgeschwächt,
die Störung dauerte ebensolange wie die Sehstörung. Bei der Beob. 119
endlich fand sich ungeachtet des Fehlens einer Sehstörung eine anfäng-
lich hochgradige und ca. 30 Tage lang anhaltende, allmählich abneh-
mende Störung des optischen Reflexes. Bemerkenswerth ist in dieser'
Beziehung auch, dass der Hund der Beob. 116, zu einer Zeit, als ihm
die optischen Reflexe gänzlich fehlten, jedesmal wüthend knurrte, sobald
man ihm mit der Hand vor das Auge kam, wodurch er jedenfalls be-
kundete, dass er die drohende Hand sah.
3. Der Nasenlidreflex war in allen diesen Fällen ungestört.
4. Aus den vorstehenden 5 Beobachtungen ergiebt sich zu-
nächst, dass die mediale Partie der Sehsphäre in ziemlich
grosser Ausdehnung ohne nachweisbare Beeinträchtigung
des Sehactes abgetragen werden kann. Ferner, dass eine
Sehstörung, wenn es überhaupt dazu kommt, das gleich-
seitige Auge mindestens mit derselben, wenn nicht mit
grösserer Intensität befällt, wie das gegenüberliegende, und
dass sie sich im Uebrigen in der Form und im Verlaufe des
Scotoms nicht wesentlich von den durch anderweitig locali-
sirte Läsionen hervorgebrachten Scotomen unterscheidet.
Auch diese Beobachtungsreihe spricht also entschieden
gegen die alleinige Projection des gleichseitigen Retina-
antheils auf das laterale Drittel der Sehsphäre.
d) Caudale Läsionen.
Die Beobachtungen dieses Abschnittes habe ich wieder in typische
und atypische eingetheilt, je nachdem nur die Spitze des Occipitallappens
ganz oder fast ganz abgeschnitten war oder anderweitige, vornehmlich
den caudalen Abschnitt betreffende Ausschaltnngen vorlasen. Zu den
— 446 —
ei'sterou rechne ich die Beobachtungen 121 — 125, zu den anderen die
Beobachtungen 126 — 132.
Die bei diesen Operationen auftretenden Scotome sollten nach der
Lehre M unk 's dem Typus der Abbildungen 95 d entsprechen, jedoch
linlis
rechts
links
1
Fig. 95 d.
so, dass die als typisch bezeichneten ein kleineres als das angegebene
Areal einnahmen, Nvährend die Configuration der bei den atypischen
auftretenden Scotome natürlich der jedesmaligen Läsion hätte ent-
sprechen sollen.
A. Typische Operationen.
Keolbaclitxiujs- ISl.
Aufdeckung ganz hinten links auf 10 mm sagitial, 18 mm frontal. Der
mediale Knochenrand liegt dicht an der Medianlinie, der hintere Rand dicht
an der Lambdanaht. Exstirpation der freiliegenden Rinde ca. ^4 ^^'^ ^i^A
auch der medialste Antheil des hinteren Pols wird mitentfernt. Langanhaltende
Blulung zwisclien Dura und lateralem Knochenrande, die auf Wachs und Ele-
valion des Kopfes steht.
Fig. 208.
Wundh eilung: Nachdem der Hund sich die ziemlich stark geschwellte
Wunde an ihrer lateralen Ecke am 5. Tage aufgekratzt hatte, sodass sich ein
bluti'»' seröses Seci'ct entleerte und ein einfacher NYiederverschluss derselben
— 447 —
nicht zur Vereinigung der Wundränder geführt hatte, wurden die Wundrändof
am 6. Tage angefrischt und genäht, sowie am Halse eine Gegenöffnung ge-
macht, in die ein Drain eingelegt wurde. Sodann vollständiger Kopfverband.
Fig. 209.
Fig. 210.
Die Wunde heilte allmählich, indem sich gleichzeitig durch den Drain eine
seröse leicht getrübte Flüssigkeit entleerte.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch. Auf dem Boden lässt sich durch Fleisch-
suchen keine Sehstörung nachweisen. Am 2. Tage auf dem Tische wahr-
scheinlich rechts oben lateraler Quadrant, unten schmaler Streifen amblyo-
pisch, links, wenn überhaupt, nur ein schmaler nasaler Fleck oben. In der
Schwebe; Am 2. Tage nicht sicher zu prüfen, da der Hund zu träge reagirt..
— 448 —
Am 3. Tage rechts Sehstörung oberhalb des Aequators etwa zwei Drittel, un-
terhalb vielleicht ein ganz schmaler lateraler Streifen amblyopisch. Links
schmaler oben wenig breiterer nasaler Streifen. Am 4. Tage entspricht die
Sehstörung rechts nicht mehr ganz dem oberen äusseren Quadranten, links
nichts mehr nachzuweisen. Am 5. Tage auch rechts überall Reaction. Gegen
Licht: Am 2. Tage rechts medial stark scheuend, lateral nicht; links schon
weit aussen. Nachher Störungen fehlend.
Optische Reflexe: Rechts gegen schmale Hand bis zum 27. Tage ab-
geschwächt, manchmal auch gegen flache Hand versagend, später normal.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet nach ca. 7 Wochen, nachdem inzwischen eine 2. symmetrische
Operation ausgeführt worden war.
Section: Häute normal, zwischen Dura und Gehirn eine Quantität
Wachs, die dort eine deutliche Impression verursacht hat. Die Narbe sitzt dem
hinteren Pol auf, fast dessen mediales Ende erreichend. Sie beschränkt sich
auf die L und II. ürwindung, misst frontal 18 mm, sagittal in der Mitte
11,5 mm, medial 7 mm, lateral spitzt sie sich zu. Auf einem Sagittalschnitt,
der die II. Ürwindung hälftet, sieht man, dass die Zerstörung sich mit einer
annähernd quadratischen Fläche, deren Diagonale annähernd 11,5mm beträgt,
in die Gehirnsubstanz hineinerstreckt.
Die Zerstörung betraf etwa das hintere Drittel der Sehsphäre.
Die Sehstörung fand sich, der Forderung entsprechend, vornehmlich in
der oberen Hälfte des Gesichtsfeldes. Sie war aber von ganz flüchtiger
Dauer, am 5. Tage bereits verschwunden.
Beobachtviiig,- ISS.
Derselbe Hund von Beob. 121. Aufdeckung rechts hinten symmetrisch
auf 10 mm sagittal, 18 mm frontal. Der mediale Rand der Knochenlücke bleibt
ca. 5— 6mm von der Medianlinie entfernt. Exstirpation der freiliegenden Rinde
durch Umschneidung mit dem Messer auf 1 cm Tiefe und Heraushebung mit
dem Präparatenheber. Die schmalen unter den medialen und hinteren Knochen-
brücken liegenden Rindenstreifen werden noch mit dem Löffel ausgiebig zer-
stört und ausgelöffelt.
Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung: Gegen Fleisch: Auf dem Boden lässt sich durch
Fleischsuchen keine Sehstörung nachweisen. In der Schwebe und auf dem
Schoosse: Am 2. Tage frisst der Hund nicht, am 3. Tage keine Sehstörung
nachzuweisen, nur scheint der Hund links aussen weniger prompt und ener-
gisch zuzuschnappen als rechts. Später lässt sich absolut keine Sehstörung
nachweisen, auch dann nicht, wenn ein Beobachter dem auf dem Boden sitzen-
den Hunde ein Stück Fleisch vorhält, dass dieser fixirt, während ein zweiter
Beobachter von hinten oben her ein zweites Stück Fleisch langsam in das Ge-
sichtsfeld vorschiebt. Vielmehr fixirt der Hund dieses zweite Stück Fleisch
und springt darnach, sobald es in dem Gesichtsfelde erscheint genau mit der-
— 449 —
selben Sicherheit, wie bei der Absuchung aller anderen Partien des Gesichts-
feldes. Gegen Licht: Am 2. Tage scheut er links nur über der medialen Ge-
sichtsfeldhälfte, später beiderseits schon weit aussen reagirend.
Fig. 211.
Fig. 212.
Optische Reflexe ungestört,
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet am 10. Tage.
Section: Häute normal. Die sagittal 8 mm, frontal 15 mm messende
Auflagerung sitzt der der Beob, 121 symmetrisch, nur bleibt die mediale Kante
auf 3 mm frei. Die Zerstörung reicht in der Diagonale gemessen ca. 9 mm in
das Gehirn hinein und ist mehr keilförmig gestaltet, als auf der anderen
Hitzig, Gesammelte Abhandl. II. Theil. 29
— 450 —
Seite, sodass ein geringerer Theil der weissen Substanz zerstört erscheint
als dort.
Die Zerstörung betraf mit Ausnalime der medialen Ecke des hinteren
Pols das hintere Drittel der Sehsphäre. Annähernd das obere Drittel
des gegenseitigen Gesichtsfeldantheils hätte rindenblind sein sollen; es
trat aber gar keine, wenigstens keine deutliche Störung ein.
Mittelgrosser Hund; Aufdeckung über dem hinteren Pol auf 10 mm
sagittal, 20 mm frontal. Umschneidung ca. ^4 cm tief mit dem Messer und
Heraushebung der freigelegten Partie bis an die Falx und das Tentorium.
Fig. 213.
Motilitätsstörungen iehlen .
Seh Störung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage besteht links ein schmaler
nasaler amblyopischer Streifen, dessen Ausdehnung nicht ganz sicher zu be-
stimmen ist, rechts ist die obere Hälfte des Gesichtsfeldes blind, unterhalb des
Aequators nur ein schmaler lateraler Streifen. Am 3. Tage links noch ein
blinder nasaler, oben etwas breiterer Streifen, rechts lateral oben noch ein
blinder Fleck. Am 4. Tage links nasal noch eine Sehstörung, die aber nicht
genau abzugrenzen ist, rechts keine Sehstörung mehr; am 5. Tage ist auch
— 451 —
die Sehstörung linlcs verschwunden. Gegen Licht: Rcaction ohne nennens-
werthe Störung.
Optische Reflexe: Rechts am 2. Tage gegen flache Hand deutlich,
gegen schmale Hand gar nicht vorhanden, am 3. Tage gegen flache Hand an-
Fiff. 214.
Fi2-. 215.
gedeutet, gegen schmale Hand fehlend, vom 4. — 9. Tage gänzlich fehlend, vom
10. Tage an wieder normal.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet nach ca. 51/2 Wochen, nachdem inzwischen eine 2, symmetrische
Operation ausgeführt worden war.
29*
— 452 —
Section: Häute normal. Die Auflagerung sitzt genau dem hinteren Pol
auf, erreicht medial die Medianlinie und mit ihrem lateralen Ende die laterale
Grenze des medialen Schenkels der II. ürwindung. Sie misst sagittal 7 mm,
frontal 16 mm. Sagittalschnitt durch die Mitte der Narbe im Gebiete der
IL ürwindung: Der hintere Pol fehlt. An seiner Stelle sitzt ein bräunlich
verfärbter Keil, der mit seinen Ausläufern 8 mm tief in die weisse Substanz
hineinreicht.
Die Zerstörung nahm ungefähr das hintere Drittel der Sehsyhäre
ein. Ungefähr das obere Drittel des gegenseitigen Gesichtsfeldes hätte
rindenblind sein sollen. Die Sehstörung betraf allerdings mehr die
obere Hälfte des Gesichtsfeldes, sie war aber am 4. Tage bereits ver-
schwunden.
Derselbe Hund von Beob. 123 (vgl. dort die Figuren). Aufdeckung rechts
Medialer Rand der
Der laterale und vordere Rand wird
über dem hinteren Pol auf 8 mm sagittal, 18,5 mm frontal
Knochenlücke dicht an der Medianlinie.
Fig. 216.
ca. 1 cm tief mit dem Messer umschnitten und dann das freiliegende Rinden-
stück mit dem Präparatenheber nach Tentorium und Falx zu exstirpirt. Hin-
terster Rand und Randwulst werden ausgiebig herausgelöffelt.
Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung: Gegen Fleisch: An den beiden ersten Tagen reagirt der
Hund bei übrigens gutem Befinden so träge, dass sich nur eine nicht genau
abzugrenzende nasale Sehstörung rechts und eine mehr temporale und obere
Schstörung links erkennen lässt. Rechts am 4.-6. Tage ein deutlicher, am
7. Tage ein undeutlicher nasaler blinder Streifen. Links fandet er auf dem
Boden Fleisch immer gut. Auf dem Schosse und in der Schwebe, vornehm-
— 453 —
lieh in letzterer schwer zu untersuchen, am 4. Tage oberhalb des Aequators
unsicher, unterhalb stets sicher reagirend; am 5. Tage in der oberen Gesichts-
feldhälfte, besonders in den lateralen Partien noch eine Unsicherheit, wenn
auch offenbar keine völlige Blindheit, am 7. Tage Unsicherheit, aber nicht
völlige Blindheit oben aussen, medial oben nicht mehr. Am 8. Tage beider-
seits keine Sehstörung mehr.
Optische Reflexe: Links Anfangs gänzlich fehlend, vom 10. Tage bis
zum Schluss der Beobachtung gegen flache Hand beiderseits gleich, gegen
schmale Hand fehlend.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet am 16. Tage.
Section: Häute normal. Die Narbe sitzt genau dem hinteren Pol auf,
erreicht medial die Medianlinie und mit ihrem lateralen Ende das mediale
Drittel der H. Urwindung. Da hier die I. ürwindung gegabelt ist, sitzt die
Narbe vornehmlich in dieser. Sie misst sagittal 9,5 mm, frontal 17 mm.
Sagittalschnitt durch die Mitte der Narbe im Gebiete der II. Urwindung: Der
hintere Pol fehlt. An seiner Stelle sitzt ein bräunlich verfärbter Keil, der mit
seinen Ausläufern 8 mm tief in die weisse Substanz hineinreicht.
Das hintere Drittel der Sehsphäre war grösstentheils zerstört. Das
obere Drittel des gegenseitigen Gesichtsfeldantheiles hätte rindenblind
sein sollen. Die Sehstörung war allerdings nur in der oberen Hälfte
des Gesichtsfeldes nachweisbar; sie bestand aber überhaupt nur in Ani-
l)lyopie, nicht in Blindheit und war bereits am 8. Tage verschwunden.
Beobadituiijss" ISS.
Ziemlich grosser Hund. Aufdeckung der Rinde auf sagittal 9 mm,
frontal 19 mm, unmittelbar vor der Lambdanaht, sodass der hintere Rand der
Lücke noch 1 mm hinter dem Ansatz des Tentoriums, ihr medialer Rand un-
mittelbar an der Medianlinie liegt. Der Knochen war lateral vorn noch 3 mm
weiter weggebrochen worden. Die freiliegende Rinde wird vorn und lateral
1 cm tief mit dem Messer umschnitten und dann mit dem Präparatenheber
nach Tentorium und Falx zu ausgehoben. Goringe Blutung.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Links besteht ein anfänglich ziemlich
breiter nasaler blinder Streifen, der, allmählich schmäler werdend, noch am
49. Tage kurz vor dem Tode des Hundes, sich nachweisen lässt. Rechts: Am
2. und 3. Tage wegen träger Reaction schwer zu untersuchen, doch lässt sich
am 3. Tage feststellen, dass nur ein medialer halbmondförmiger, sich mehr im
unteren Quadranten befindender Streifen frei ist. In den nächsten Tagen ist
der Hund vornehmlich auf dem Schosse sehr gut zu untersuchen, am 4. Tage
ist der obere laterale Quadrant und die medial und unten angrenzende Partie
und vom 5.— 13. Tage nur der obere laterale Quadrant blind. Vom 14. bis
27. Tage erscheint diese Stelle insofern amblyopisch, als der Hund Fleisch,
dessen Bild dorthin fällt, zwar fixirt, aber nicht zuschnappt. Am 27. Tage er-
^ 454 —
scheint diese Stelle kleiner und schlecht abgegrenzt, am 34. Tage ist es frag-
lich, ob dort überhaupt noch eine Sehstörung existirt. Am 36. Tage ist sie
sicher verschwunden. Gegen Licht: Die Reaction fehlt in den ersten vier Tagen
Fig. 218.
beiderseits. Vom 5. Tage an ist sie links vorhanden, fehlt rechts bis zum
17. Tage, an welchem Tage sie dort eher stärker als links erscheint. Später
war sie beiderseits gleichmässig vorhanden.
Optische Reflexe: Fehlen rechts bis zum 4. Tage; von diesem Tage
an gegen flache Hand vorhanden, gegen schmale Hand fehlend bis zum
27. Tage, dann beiderseits gleich.
Nasenlidreflex uno-estört.
— 455 —
Gestorben am 51. Tage ohne besondere Vorboten nach kurzem allge-
meinem epileptischem Anfall.
Section: Häute normal. Die sagittal-lateral 11 mm, sagittal-medial
14 mm und frontal 23 mm messende Narbe hat den hinteren Pol bis zur me-
dialen Ecke zerstört. Sie sitzt dem absteigenden Theil der I. und II, Urwin-
dung in der Weise auf, dass sie mit ihrer vorderen lateralen Ecke noch 4 mm
Fig. 219.
vom hinteren Rand der III. ürwindung entfernt bleibt. Sagittalschnitt 1 mm
lateral von dem Sulcus lateralis. Die Narbenmasse reicht entsprechend der
Ausdehnung der oberflächlichen Auflagerung ca. 7 mm tief bis ins Markweiss.
(Die dunkle Färbung in der Scheitel-Hinterhauptsgegend ist ein durch blutige
Imbibition bei der Section und Nachdunkelung in Formol hervorgebrachtes
Kunstproduct.)
Der hintere Abschnitt des Occipitallappens war bis zur Längsspalte
gänzlich ausgeschaltet worden. Der Defect reichte noch etwas in die
weisse Substanz hinein. Der Hund hätte also auf den obersten Ab-
schnitten seiner beiden Retinae dauernd rindenblind sein müssen. That-
sächlich betraf die Sehstörung mehr den oberen lateralen Quadranten
des rechten Auges, aber sie war am 36. Tage gänzlich verschwunden
nachdem sie bereits vom 14. Tage an sich in eine Amblyopie verwan-
delt hatte. Auf dem linken Auge, auf dem sie erheblich dauerhafter
als rechts war, betraf sie dagegen keineswegs allein den oberen, son-
dern ebensowohl den unteren Theil des medialen Streifens des Ge-
sichtsfeldes.
■- 456
Tabelle Villa.
Caudale Läsionen. Typische.
m
'^
Art der
Operation
Ort der Operation
(Section)
Sehstörung
gegen Fleisch
gegen
Licht
Optische
Reflexe
^
Bemerkungen
121
12-2
123
124
125
Exstirpa
tion ca.
3/4 cm tief.
Exstirpa-
tion ca.
1 cm tief.
Exstirpa-
tion ca.
2/4 cm tief,
Exstirpa-
tion ca.
1 cm tief.
Links. Hinterer Pul
der I. und IL Urwin-
dung: sagittal 11,5
mm, frontal 18 mm.
Exstirpa-
tion ca.
1 cm tief.
der I. und des me
dialen Schenkels der
IL Urwindung; sa-
gittal 7 mm, frontal
16 mm.
Rechts. Hinterer Pol
der I. und des me-
dialen Drittels der
IL Urwindung; sa-
gittal 9,5 mm, fron-
tal 17 mm.
Links :' Nasaler Strei-
fen von nur 3 tägiger
Dauer, mehr oben.
Rechts: Vornehmlich
oberer lateraler Qua-
drant von nur 4 tägi'
ger Dauer.
Rechts. Hinterer Pol Keine deutliche Seh-
der I. und IL Ur- Störung.
Windung; medialster
Theil der I. Urwin-
dung stehen geblie-
ben; sagittal 8 mm,
frontal 15 mm.
Links. Hinterer Pol Links : Nasaler Strei-
Links. Hinterer Pol
der 1. und IL Urwin-
dung; frontal hinten
23 mm, sagittall 11
bis 14 mm bis 4 mm
nach hinten vom hin-
teren Rand der III.
Urwindung.
fen bis incl. 4. Tag.
Rechts: Am 2. Tage
obere Hälfte und la
teraler Streifen. Am
3. oberer lateraler
Kreisabschnitt, dann
verschwunden.
Rechts: Bis zum 6.
Tage ein deutlicher,
am 7. Tage undeut-
licher nasaler Strei-
fen, dann nichts mehr.
Links: Nur Amblyo-
pie, keine Blindheit
bis zum 4. Tage
oberhalb des Aequa-
tors, bis zum 7. Tage
im oberen lateralen
Quadranten , dann
nichts mehr.
Links: Nasaler Strei-
fen, am 49. Tage
noch vorhanden.
Rechts: Typische He-
mianopsie am 36.
Tage verschwunden.
Nur rechts
am 2. Tage
lateral.
Nur links
am 2. Tage
lateral.
Undeut-
lich.
Nur abge-
schwächt.
Unge-
stört.
Total bis
zum 4.
Tage bei-
derseits,
bis zum
17. Tage
rechts,
dann vei'-
schwun-
den.
Bis zum
10. Tage
gestört,
dann, nor-
mal.
Links bis
zum 10.
Tage gänz-
lich feh-
lend, dann
abge-
schwächt.
Fehlen bis
zum 4.
Tage, bis
zum 27.
Tage abge
schwächt.
Unge-
stört.
Unge-
stört.
Unge- Gleichzeitige
stört. Sehstörung
von längerer
Dauer.
Unge-
stört.
Unge-
stört.
Gleichzeitige
Sehstörung
von längerer
Dauer.
— 457 —
Zusammenfassung.
Bei den 5 hier in Betracht kommenden Beobachtungen war die
Spitze des Hinterhauptlappens in einer Ausdehnung von je
sagittal frontal
7—11,5 mm 18 mm
8 „ ,15 „
7 „ 16 „
9,ö „ 17 „
11-14 „ 23 „
fortgeschnitten worden. Diese Maasse unterscheiden sich nicht sehr
wesentlich von einander, nur diejenigen der Beob. 125 sind um etwas
grösser. Noch weniger wäre dies der Fall gewesen, wenn ich die bei
den Operationen gewählten Dimensionen, anstatt wie geschehen, die bei
den Sectionen gefundenen eingerückt hätte.
1. Die Sehstörung (aa. Reaction gegen Fleisch) zeigt un-
geachtet dieser anscheinenden Uebereinstimmung des Eingriffes sehr
wesentliche Verschiedenheiten. Am bemerk enswerthesten ist der Um-
stand, dass bei der Beob. 122, welche eine 2. symmetrische Operation
zu der Beob. 121 darstellt, die Sehstörung gegen Fleisch ganz fehlte,
während bei der 1. Operation an dem gleichen Hunde eine, wenn auch
gleichfalls nicht erhebliche Sehstörung constatirt werden konnte. Bei
diesem Hunde waren die Maasse der Auflagerung bei der 2. Operation
allerdings etwas kleiner, auch zeigte die Section, dass die mediale
Spitze des hinteren Pols entsprechend den über die Operation gemachten
Angaben stehen geblieben war. Indessen waren die Maasse beider
Operationen genau gleich und der stehengebliebene Rest des hinteren
Pols kann nach der umfänglichen in ihni vorgenommenen Auslöffelung
unmöglich noch irgend eine P'unction besessen haben. Während somit
die Ausschaltung der grauen Substanz auf beiden Seiten so gut wie
identisch war, zeigte die Zerstörung der weissen Substanz bei der 1. Ope-
ration eine, wenn auch nur um 2^/2 mm grössere Ausdehnung. Ebenso
sind die Ausschaltungen bei den Beobb. 123 und 124 so gut wie identisch,
obschon die Maasse der Auflagerungen sowohl unter einander als mit
Bezug auf die bei der Operation gewählten Maasse etwas von einander
differireti. Hier ist auch die Masse des zerstörten Keils in beiden Fällen
etwa gleich, jedoch ist seine Configuration in dem einen Falle etwas
anders wie in dem anderen. Bei beiden Beobachtungen war die Seh-
störung wieder relativ unerheblich und besonders bei der Beob. 124,
wo sie allerdings erst vom 4. Tage an controlirt werden konnte, nur in
Gestalt einer Amblyopie nachweissbar. Ganz anders stellt sich die
Sache bei der Beob. 125, obschon die Operation selbst in sagittaler
— 458 —
Richtung kaum mehr als bei den vorhergehenden Operationen entfernt
hatte. Bei der Section fand sich allerdings, dass die Auflagerung und
die ihr entsprechende Zerstörung um mehrere Millimeter weiter nach
vorn reichte als bei jenen. Vermuthlich ist dies darauf zu beziehen,
dass bei conservirter Dura der Knochen um einige Millimeter weiter
nach vorn abgebroclie)i war. Jedenfalls besass die Sehstörung hier,
und zwar auf dem gleichseitigen Auge eine Dauer von 49 Tagen,
während ihre längste Dauer bei den anderen fraglichen Operationen
nur 7 Tage betrug.
Betrachten wir nun die Sehstörung des gleichnamigen Auges, so
ergiebt sich, dass sie dort, wo das gegenüber liegende Auge geschädigt
war, gleichfalls nachzuweisen war, und dann immer den nasalen Streifen,
nicht nur dessen obersten Winkel einnahm; letzteres traf nur am 2. Tage
der Beob. 121 zu.
Die Sehstörung des gegenüber liegenden Auges entsprach insofern
dem Postulate Munks, als sie immer den oberen lateralen Quadranten
einnahm. Wenn sie sich ausserdem bei der Beob. 121 am 2. und S.Tage,
bei der Beob. 123 am 2. Tage und bei der Beob. 125 am 3. und 4. Tage
noch in die untere Hälfte des Gesichtsfeldes hinein erstreckte, so kann
dies sehr wohl auf Nebenwirkungen bezogen werden. Dagegen entsprach
sie wegen ihrer Vergänglichkeit nicht diesen Postulaten. Die graue
Substanz war an der Convexität und an der hinteren unteren Fläche
zusammen in einer Ausdehnung von ca. 20 mm zerstört worden. Man
hätte danach Rindenblindheit einer sehr ausgedehnten Partie des unteren
Abschnittes der Netzhäute erwarten sollen. Dies traf aber nicht zu;
die Sehstörung hatte sich vielmehr bei der Beob. 121 bereits am 5.,
bei der Beob. 123 am 4. und sogar bei der Beob. 125 am 36. Tage
wieder vollkommen ausgeglichen.
Auffällig ist noch das üebergreifen der Sehstörung auf den oberen
Theil des nasalen Streifens bei der Beob. 123 und die bereits erwähnte,
um mindestens 14 Tage längere Dauer der Sehstörung des gleichnamigen
Auges bei der Beob. 125.
bb. Die Sehstörung gegen Licht giebt zu besonderen Be-
merkungen keinen Anlass.
2. Die optischen Reflexe waren bei der Beob. 122, bei der
auch eine Sehstörung fehlte, ungestört. Bei den anderen 4 Beobachtun-
gen waren sie mehr oder minder lange Zeit gestört, meist länger als
das Sehvermögen, jedenfalls immer länger als das Sehen mit der Stelle
des deutlichen Sehens und ihrer Umgebung.
— 459 —
B. Atypische Operationen.
Es folgen nun 3 Beobaclitungen, bei denen grössere Exstii-pationen
in der caudalen Partie beider Sehsphären in einer Sit/AUig ausgfjt'iilu-t
wurden. Von diesen entlief das Object der Beob. 128, sodass der
Sectionsbericht fehlt. Gleichwohl habe ich diese Beobachtung nicht
auslassen wollen, weil sie innerhalb gewisser Grenzen den Behauptungen
Munks entspricht. Den Schluss des Abschnittes bilden 4 Beobachtungen
mit mehr oder minder grossen, verschieden gestalteten coudalen Zer-
störungen.
Beobaclitixiig- IS 6.
Aufdeckung beiderseits in einer Sitzung ganz hinten, dicht an der
Lambdanaht auf links sagittal 16 mm, frontal 12 mm; rechts sagittal 16 mm,
frontal 15 mm. Abtragung der Dura, doch wird beiderseits vorn ein schmaler
Fi ff. 220.
Fig. 221.
— 460 —
Streifen Dura stehen gelassen, rechts etwa 2 mm, links etwa 1 mm. Exstir-
pation der freiliegenden Rinde etwa ^/^ cm tief. Zerstörung der Rinde nnter-
halb der medialen Knochenränder bis zur Falx, links noch etwas ausgiebiger
als rechts.
Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage beiderseits blind bis auf
einen unteren links mittleren, rechts mehr mittleren-lateralen Sector, auf dessen
Fig. 222.
links
rechts
Fig. 223.
lateralem Drittel die Reaction unsicher ist. Auf dem Boden findet er beider-
seits bei einseitig verbundenem Auge Fleisch nach kurzem Suchen. 3. Tag:
Er nimmt Kork, nachdem er Fleisch erhalten hat, einise Male in das Maul.
— 461 —
kaut und lässt ihn dann fallen; als ihm dann Fleisch o'cgeben wird, nimmt
er es das erste Mal erst, nachdem er es berochon hat, später fällt er dann
wieder auf den Kork hinein. 4. Tag: Rechts ist die Sehstörung etwas zurück-
gegangen, er reagirt schon sofort unterhalb des Aequators; es besteht dort
nur noch ein nasaler Streifen. Oberhalb des Aequators und links unverändert.
6. Tag; Beide Gesichtsfelder haben sich nach oben, links auch nach beiden
Seiten erweitert; auf dem Boden findet er Fleisch ziemlich schnell. 7. Tag:
Links ist nur noch die Partie oberhalb des Aequators blind, rechts lateral und
medial je ein, lateral etwas weit herunterreichender Streifen, die oben zusammen-
laufen. Auf dem Boden findet er Fleisch sofort. 8. Tag: Beiderseits nur noch
je eine, links grössere blinde Sichel im oberen Gesichtsfelde. Vom 10. Tage
an Sehslörung nicht mehr nachzuweisen. Gegen Licht: Am 2. Tage indifferent,
doch schnüffelt er, wenn das Licht auf die sehenden Partieen fällt. Am S.Tage
reagirt er, sobald es auf die sehenden Partieen fällt, ziemlich lebhaft. Unver-
ändert bis zum 8. Tage, von da an beiderseits sehr lebhafte Reaction.
Optische Reflexe: Fehlen beiderseits bis zum 8. Tage, an diesem
Tage links vorübergehend auf flache Hand vorhanden, dann wieder fehlend
bis zum 15. Tage, von da an beiderseits auf flache fland stets, auf schmale
Hand zuweilen vorhanden.
Getödtet am 17. Tage.
Section: Häute normal. Links: Die Auflagerung erreicht den hinteren
Pol, reicht medial und hinten ganz über die I. Urwindung, deren medialer
R,and eingezogen ist und der gegen die andere Hemisphäre um 7 mm nach
vorn verschoben ist. Lateral reicht sie bis über den medialen Schenkel der
IL Urwindung nur wenig in den lateralen Schenkel hinein, der vordere Rand
schneidet in der Höhe der hinteren Grenze der IIL Urwindung ab. Frontaler
Durchmesser der Auflagerung 16 mm, darüber hinaus medialwärts noch ca.
1 mm Verwachsung der Dura mit der 1. Urwindung. Sagittaler Durchmesser
14 mm. Rechts: Die Auflagerung reicht gleichfalls bis an den hinteren Pol,
dessen untere Fläche atrophisch ist. Sie ist von der Medianlinie vorn 9 mm,
hinten G mm entfernt. Sie sitzt auf der ganzen II. Urwindung und reicht nur
wenig in die I. hinein, nach vorn reicht sie bis zu einer Senkrechten hintere
Grenze der III. Urwindung-Falx. Frontaler Durchmesser 14,5 mm, sagittaler
Durchmesser 14 mm. Schrägschnitt durch die Mitte der Auflagerung: Links
fehlt der mediale Schenkel der IL Urwindung und der laterale Theil der I. Ur-
windung gänzlich, der laterale Schenkel der IL Urwindung, welcher aber
unterschnitten ist, hat sich in dem senkrecht verlaufenden Theil der Narbe
hineingelegt. Medial erstreckt sich ein erweichter Spalt in den oberen Theil
des Randwulstes hinein, dessen unterer Theil sich auch in die Narbe hinein-
gezogen hat. Diese endet mit einem ziemlich grossen Erweichungsherd 2 mm
über der stark ausgezogenen Spitze des Seitenventrikels. Rechts: Die unter
der Auflagerung liegende Partie ist gleichfalls zerstört. Das Bild ist dem der
anderen Seite sehr ähnlich; nur ist der laterale Schenkel der IL Urwindung
mit zerstört. Von dem an der Umbiegungsstelle der Windung liegenden Theil
fehlt nur die Rinde medial, der laterale Theil ist dort bei abgeblasster Rinde
— 462 —
erhalten. Grosse Erweichuiigsherde sind im Grau des Gyrus fornicatus und
ziehen sich bis an die Spitze des Seitenventrikels hin. 2. Durchschnitt durch
den vorderen Rand der Narbe: Links: Unter der Narbenkappe ist die Rinde
flach zerstört, doch ist das Rindengrau der lateral und medial von der 11. Ur-
windung einschneidenden Sulci, soweit am Müll er -Präparat zu erkennen, in-
tact. Im Markweiss der II. Urwindung steigt ein Erweichungsstreifen basal-
wärts und biegt, sich immer an die Grenzen des Graues haltend, in das Mark
der HI. Urwindung um und bildet hier einen unregelmässig gestalteten, das
Markweiss der Windung nicht ganz ausfüllenden Herd. Ebenso steigt ein
feiner Streifen im Markweiss der I, Urwindung herab und endet durch eine
feine Verbindung im oben erwähnten Erweichungsherd der IL Urwindung.
Rechts: Die Rinde ist hier nur oberflächlich unter der Narbenkappe zerstört.
Am Markweiss des Randwulstes findet sich noch ein kleiner Erweichungs-
herd, der einen Ausläufer nach dem Fuss der IL Urwindung sendet. Auf
sagittalen Durchschnitten durch die hinteren Pole der Hemisphären erweist
sich das Gewebe unter den Auflagerungen bis zu den hinteren Polen narbig
verändert.
Da die Sehspliären in mehr als ihren hinteren Hälften zerstört oder
unbrauchbar gemacht waren, mussten mindestens die oberen Hälften
beider Gesichtsfelder rindenblind sein. Thatsächlicli betraf die Seh-
störung vornehmlich die oberen Hälften, sie waren aber nicht rinden-
blind, sondern sahen bereits am 10. Tage beide wieder.
Keol>aclitii.iig- IST'.
Aufdeckung beiderseits ganz hinten, rechts auf sagittal 10 mm, frontal
14 mm; links sagittal 10 mm, frontal 15,5 mm. Medialer Rand der Knochen-
lücke beiderseits 3 mm von der Mittellinie entfernt. Exstirpation der freilie-
genden Rinde ca. ^4 cm tief hinten bis an das Tentorium.
M 0 1 i 1 i t ä t s s t ö r u n g e n f e h 1 e n .
Sehstörung: Auf dem Boden vom 2. Tage an ohne jede Störung. In
der Schwebe gegen Fleisch : v\.m 2. Tage üxirt er es links, mag es auch ge-
lialten werden, wo es will, schnappt aber erst zu, wenn es ihm in die Gegend
der Nase gehalten wird. Rechts reagirt er überhaupt nicht. (Hund hält sich
plötzlich mit beiden Pfoten die Augen zu.) Am 3. Tage reagirt er in der
Schwebe nicht; auf dem Boden keinerlei Zeichen von Sehstörung; auf dem
Scliosse anscheinend, doch wegen unregelmässiger Reaction unsicher, auf bei-
den Augen schon aussen reagirend, links oben innen anscheinend amblyopi-
463
sclier Streifen. Am 4. Tage in fler Scliwebe auf dem obersten Viertel des
rechten Gesichtsfeldes keine Reaction, links schmaler nasaler Streifen, das
untere Drittel verschonend, blind. Am 5. Tage keine Störung mehr. Gegen
Licht: Fehlt Reaction am 2. Tage, ist dann bis zum 8. Tage gering, später
gewöhnlich lebhaft.
Piff. 225.
links
reclits
Fig. 226.
Optische Reflexe: Bereits am 2. Tage beiderseits auf tlaehe Hand
vorhanden, dann links auch gewöhnlich auf schmale, rechts vom 15. Tage an
auf schmale Hand vorhanden.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet nach ungefähr 2^/2 Wochen.
— 464 —
Section: Häute normal. Linke Hemisphäre: Die 8 mm sagittal und
lo mm frontal messende Narbe sitzt am hinteren Rande des Hinterhauptlap-
pens, den sie stark narbig eingezogen hat. Von der Medianspalte bleibt sie
7— 8 mm entfernt, sitzt fast ausschliesslich der II. Urwindung auf, kaum noch
in den lateralen Theil der I. Urwindung übergreifend. Rechte Hemisphäre:
Die 12 mm sagittal, 16 mm frontal messende Narbe reicht medial bis fast an
die Medianspalte, dagegen bleibt sie vom hinteren Pol 4 mm entfernt. Durch-
schnitt durch das vordere Viertel der linken Narbe: Rinde nur flach erodirt,
sonst intact. Im Markvveiss finden sich mehrere blutig verfärbte Erweichungs-
herde, die theilweise die ganze Breite des Marklagers einnehmen. 2, Durch-
schnitt durch das hintere Drittel: Rinde ist in der ganzen Ausdehnung der
Narbe zerstört, ebenso das darunterliegende, hier nur millimeterbreite Mark-
lager bis zum gegenüberliegenden Rindengrau der Basalfläche des Hinterhaupt-
lappens. Durchschnitt durch die Mitte der rechten Narbe : Unter der medialen
Hälfte der Narbenkappe ist die Rinde völlig zerstört, die laterale Hälfte der
Narbe besteht aus Dura, die der Rinde adhärent ist, das Rindengrau darunter
ist makroskopisch intact. In den Defect sind nämlich die lateralen Partieen
hereingezogen. Der schmale Streifen Gehirn , der sich noch medial von der
Narbe findet, ist aufgehellt und narbig verzogen. Von dem Narbendefect aus
geht ein breiter blutiger Erweichungsherd medial-basalwärts bis zur medialen
Fläche der Hemisphäre, die Pia durchbrechend. An dieser Stelle ist die Dura
adhärent.
Durch die Operation war beiderseits ein ziemlich grosser Abschnitt
der hinteren Hälfte der Sehsphäre zerstört, bezw. von seinen Verbin-
dungen abgetrennt worden. Rindenblindheit eines grösseren Theiles der
oberen Gesichtsliälfte hätte die Folge sein müssen. Die Sehstörung
dauerte aber nur 4 Tage. Innerhalb, dieser Zeit schien sie rechts mehr,
links weniger dieser Forderung zu entsprechen.
Beobaclitnng: ISl^.
Aufdeckung beiderseits ganz hinten auf links 10 nun sagittal, 19,5 mm
frontal; rechts 11 mm sagittal, 18 mm frontal. Medialer Rand der Lücke dicht
an der Mittellinie. Exstirpation der freiliegenden Rinde ca. ^4 cm tief, ausser-
dem beiderseits Zerstörung der Rinde unter dem medialen Knochenrande.
Links liegt der Sinus transversus frei.
Wundheilung: Wunde wurde nach dem 11. Tage mehrmals aufge-
bissen, eitert dann einige Tage oberflächlich.
Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung: Auf dem Boden findet er Fleisch von Anfang an sofort.
In der Schwebe gegen Fleisch: Am 2. Tage wegen Apathie nur zu bestimmen,
dass er von unten kommendes Fleisch gewöhnlich, von oben kommendes nie
fixirt. Am 3. Tage sieht ein mittlerer unterer Sector regelmässig, ein lateral
daneben liegender schmalerer Sector unregelraässig; auf dem linken Auge
siclit die untere Hälfte des Gesichtsfeldes mit Ausnahme einer breitereii tem-
— 465 —
portalen und einer schmaleren nasalen Zone. Am 4. Tage reagiri er auf dem
rechten Auge auf je einem breiten temporalen und nasalen Streifen nie, sowie
auf dem oberen mittleren Drittel des Gesichtsfeldes unregelmässig; auf dem
linken Auge fehlt Reaction auf der ganzen oberen Hälfte und auf einem schmalen
nasalen Streifen. Am 5. Tage reagirt er rechts auf einen ziemlich breiten
lateralen und einen schmalen nasalen Streifen nicht; links unterhalb des
Aequators überall, oberhalb nur auf einem schmalen nasalen Streifen
Fig. 227.
Reaction. Am 6. Tage besteht auf beiden Augen nur noch ein oberer
lateraler, links etwas weiter herunterreichender blinder Streifen. Auf dem
ganzen Reste der Gesichtsfelder gelingt sogar der Stossversuch. Kork
nimmt er, wenn zuerst Fleisch gegeben wird, das 1. Mal gierig, kaut
ihn, das 2. Mal kaut er ihn weniger lange, das 3. Mal speit er ihn sofort
aus, das 4. Mal wendet er sich unwillig ab. Wird dann Fleisch wieder
gegeben, so nimmt er den folgenden Kork wohl das 1. Mal ins Maul, kaut ihn
aber nicht und das 2. Mal versagt er. Am 7. Tage ist die Sehstörung auf dem
linken Auge verschwunden. Auf dem rechten Auge erscheint die Sehstörung
grösser, sie nimmt fast den ganzen oberen temporalen Quadranten ein und
bleibt annähernd so bis zum 17. Tage. Am 19. Tage besteht nur noch lateral
oben ein amblyopischer Fleck, der am 21. Tage nur noch unsicher nachzu-
weisen ist, dann entlief der Hund. Gegen Licht keine Störung.
Optische Reflexe: Auf flache Hand beiderseits vom 2. Tage an, auf
schmale Hand links vom 10. Tage an abwechselnd vorhanden.
Nasenlidreflex ungestört.
Section fehlt, da der Hund entlief.
Die Operation hatte beiderseits das hintere Drittel bis die hintere
Hälfte der Sehsphäre zerstört. Der grössere Theil der oberen Hälfte
beider Gesichtsfelder hätte rindenblind sein sollen. Thatsächlich ent-
Hitzig, Gesammelte Abhandl. II. Theil. 30
— 466 —
sprach die Localisatiou der Sehstörung dieser Forderung, aber ihre
Dauer betrug links nur 6, rechts etwa 21 Tage.
Beobachfung- ISO.
Aufdeckung ganz hinten links auf 17 mm sagittal, 13 mm frontal. Ein
o mm breiter Streifen der Dura am hinteren Rande der Lücke wird stehen ge-
lassen. Exstirpation der freiliegenden Rinde ca. ^j^ cm tief; ferner Zerstörung
der Rinde mit Präparatenheber unterhalb des medialen Knochenrandes ca. 3mm
bis zur Falx.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Auf dem Boden hat er beim Auffinden von Fleisch bis
zum 13. Tage immer Schwierigkeiten, die grösser sind, wenn das Fleisch ruhig
liegt, geringer, wenn es geworfen wird und mit Geräusch zu Boden fällt. In
der Schwebe gegenFleisch: Am 2. Tage Reaction rechts nur auf einem schmalen
Fig. 228.
nasalen Streifen, links überall bis auf einen nicht sehr breiten nasalen Streifen.
Am 3. Tage ist die Störung rechts unten etwas zurückgegangen. Das rechte
Auge ist am 8. Tage noch unverändert; links besteht an diesem Tage oben
nasal noch ein schmaler amblyopischer Streifen. Inzwischen wird beobachtet,
dass der Hund auf weisses Fleisch und Fett besser und weiter nach aussen
reagirt, als auf gekochtes Fleisch und rohes Pferdefleisch. Am 16. Tage be-
steht nur noch ein lateraler amblyopischer Streifen, der oben etwas breiler als
— 467 —
unten ist; links keine Sohstörung mehr, am 21. Tage beiderseits keine Seli-
störung mehr. Gegen Licht beiderseits indifferent.
Optische Reflexe: Fehlen rechts bereits l^/o Stunden nach der Ope-
ration und bis zum 8. Tage gänzlicli, von da an gegen flache Hand, besonders
wenn diese von der Nase herkommt, Anfangs schwach vorhanden, links von
Anfang an auch gegen schmale Hand vorhanden.
Fig. 229.
links
rechts
Fig. 230.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet ungefähr nach öYg Wochen.
Section: Häute normal. Die in ihrem grössten sagittalen Durchmesser
14, frontal 10 mm messende Narbe, bleibt mit ihrer hinteren Spitze 3 mm vom
hinteren Fol, mit ihrem medialen Rande 7 mm von der Mittellinie entfernt,
mit ihrer vorderen Spitze 2—3 mm hinter einer Linie zurück, die man vom
30*
— 468 —
hinteren Rand der IV. Urwindung senkrecht auf die Palx ziehen kann. Sie
sitzt vornehmlich in der lateralen Hälfte der I. und der medialen der IL Ur-
windung. Durchschnitt mitten durch die Narbe: In der Substanz der IL Ur-
windung gewahrt man eine gallertige Narbe, deren Ausläufer sich tief in die
I. Urwindung hineinerstrecken, dagegen die weisse Substanz der lateralen
Hälfte der IL Urwindung nur wenig beschädigt haben.
Die Zerstörung betraf excl. des hinteren Pols den grösseren Theil
der hinteren und einen medialen Theil der lateralen Hälfte der Seh-
sphäre, sowie einen Theil der Stelle Ai. Die Sehstörung hätte also vor-
nehmlich, abgesehen vom linken Auge, den oberen und medialen Theil
des rechten Gesichtsfeldes betreffen müssen. Sie hatte jedoch einen
typisch hemianopischen Charakter und verlor sich auch in typischer
Weise. Das linke Auge war am 16. Tage frei. Rindenblindbeit be-
stand überhaupt nicht.
BeobaclitTing' 130.
Derselbe Hund von Beob.129 (vgl. dort die Figuren). Aufdeckung rechts
ganz hinten auf sagittal-lateral 6 mm, sagittal-medial 9, frontal 11mm-. Hin-
terer Knochenrand 1—2 mm von der Lambdanaht entfernt. Exstirpation der
Rinde im ganzen freiliegenden Bezirk; hinten berührt der Präparatenheber das
Tentorium.
M 0 1 i 1 i t ä t s s t ö r u n g e n f eh 1 e n .
Sehstörung: Beim Fleischsuchen auf dem Boden sind kaum Störungen
zu bemerken. In der Schwebe gegen Fleisch: Am 2. Tage rechts schmaler
Fig. 231.
nasaler Streifen blind, links sieht er nur auf dem mittleren Theil des Gesichts-
feldes unterhalb des Aequators. Am 3. Tage reagirt der Hund links oberhalb
des Aequators nicht, unten reagirt er; rechts besteht anscheinend oben nasal
— 469 —
noch ein ziemlich breiter blinder Streifen. Am 4. Tage Reaction links in der
ganzen unteren Gesichtsfeldhälfte, in der oberen nur medial etwa bis zu einem
Drittel, rechts bis auf einen oben nasal gelegenen Streifen. Am 9. Tage be-
steht rechts anscheinend keine Störung mehr, links besteht noch eine Störung,
die einen schmalen Streifen im obersten Theil des Gesichtsfeldes einnimmt.
Später keine deutliche Sehstörung mehr. Gegen Licht: Keine Differenz in der
überhaupt nur geringen Reaction nachweisbar.
Optische Reflexe fehlen links gänzlich bis zum 6. Tage, dann auf
flache Hand vorhanden ; rechts auf flache Hand ungestört.
Nasenlid refl ex ungestört.
Getödtet nach 14 Tagen.
Section: Häute normal. Die in ihrem grössten Durchmesser sagittal
8 mm, frontal 7 mm messende Narbe sitzt der Convexität so auf, dass sie mit
ihrem hinteren medialen Rande 5 mm vom hinteren Pol entfernt bleibt, wäh-
rend sie ihn mit ihrem lateralen Rande erreicht. Mit ihrer vorderen Spitze
bleibt sie 8 mm von der Mittellinie entfernt. Sie sitzt gänzlich in dem me-
dialen Schenkel der H. Urwindung und bleibt mit ihrem vorderen Rande um
8 mm hinter der links erwähnten Linie zurück. Der Durchschnitt lässt nicht
viel Veränderungen erkennen; erst auf einem sagittalen Schnitte durch die
Mitte des hinteren Abschnittes sieht man, dass eine 9 mm tiefe Höhle vor-
handen ist, die bis ganz an die hintere Fläche des Hinterhauptlappens
reicht.
Zerstört war der hintere Abschnitt des medialen Schenkels der
IL Urwindung bis an den hinteren Pol. Demnach hätte vornehmlich
das Sehvermögen im oberen Theil des linken Gesichtsfeldes geschädigt
sein sollen. Dies traf auch zu, denn die Sehstörung betraf vornehmlich
den oberen Theil des linken Gesichtsfeldes; sie war aber bereits am
11. Tage gänzlich verschwunden.
Beolbaclitung' 131.
Aufdeckung hinten rechts auf 16 mm sagittal, 13 mm frontal. Medialer
Knochenrand ca. 4 mm von der Mittellinie entfernt. Exstirpation der frei-
liegenden Rinde, sowie Zerstörung der Rinde unterhalb der medialen Knochen-
brücke.
Wundheilung: Wunde am 14. Tage aufgebissen, secernirt am 17. Tage
etwas, am 22. Tage verheilt.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Auf dem Boden ist eine nennenswerthe Störung nicht
nachweisbar. In der Schwebe gegen Fleisch: Am 2. Tage zu indifferent, am
S.Tage links schmaler lateraler blinder Streifen. Später und rechts überhaupt
keine Störung mehr nachweisbar. Gegen Licht keine Störung zu erkennen.
Optische Reflexe: Gegen flache Hand links ungestört, gegen schmale
Hand rechts überhaupt, links vom 5. Tage an vorhanden.
Nasenlidreflex ungestört.
— 470 —
Getödtet 6Wochen nach der I.Operation, nachdem inzwischen noch eine
2. symmetrische Operation ausgeführt worden war.
Section: Häute normal. Die sagittal 13, frontal 10mm messende Narbe
sitzt der Hauptsache nach auf der 1. Urwindung, bleibt 3 mm vom medialen
Fiff. 232.
Fi.
rechts
Fig. 234.
•Rand, der deutlich narbig eingezogen ist und 6 mm vom hinteren Pol entfernt.
Durchschnitt durch das hintere Drittel der Narbe: Die unter der Operations-
stelle befindliche Rinde ist zerstört, die angrenzenden Partien offenbar in die
Wunde hineingezogen. Von der Narbenkappe gehen mehrere blutig durch-
— 471 —
setzte Erweichungsstreifen aus: basal-lateral unter dem llindengrau der II. Ur-
windung entlang, das darüber deutlich abgeblasst ist und medial-basal bis an
das Grau der Medianfläche der Hemisphäre. Die medial von der Narbe liegende
Rinde ist stark aufgehellt.
Ein Tlieil der hintersten Partie der Selisphäre war zerstört. Dauernde
Rindenblindheit eines Theiles der oberen Gesichtsfeldhälfte hätte die
Folge sein sollen. Thatsächlich bestand nur eine kurzdauernde Blind-
heit auf einer schmalen lateralen Sichel des linken Gesichtsfeldes.
Beobaclxtwiijsy 13S.
Derselbe Hund von Beobachtung 131 (vgl. dort die Figuren).
Aufdeckung ganz hinten links auf 16 mm sagittal, 17 mm frontal. Me-
dialer Rand der Knochenlücke 4 mm von der Mittellinie entfernt. Exstirpation
der freiliegenden Rinde ca. ^4 c™ ^ief- Es wird diesmal nicht die unterhalb
der medialen Knochenbrücke liegende Rinde zerstört. Der Präparatenheber
dringt bis an das Tentorium.
Fig. 235.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Fehlt auf dem Boden, ebenso in der Schwebe gegen
Fleisch gänzlich ; desgl. gegen Licht.
Optische Reflexe: Fehlen rechts nur am 2. Tage, vom 3. Tage an
gegen flache, vom 8. Tage an auch gegen schmale Hand vorhanden.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet 2Y2 Wochen nach der Operation.
Section: Die ca. 15 mm sagittal und 10 mm frontal messende Narbe
reicht nach hinten bis zum Pol des Hinterbauptlappens, nach medial hinten bis
zur Medianspalte, vorn 6 mm entfernt bleibend. Nach vorn von der Narbenkappe
erstreckt sich auf der Gehirnoberfläche eine ca. 1 cm grosse flache Impres-
sion, die von einer darüber gelagert gewesenen fibrösen Verdickung der Dura
herrührt. (Organisirtes Blutgerinsel?) Häute sonst normal. Auch auf einem
-^ 472 —
durch diese Stelle gelegten Querschnitt ist die Impression deutlich , die Rinde
zeigt hier jedoch keine besonderen Veränderungen. Durchschnitt durch die
Mitte der Narbe: Unter der Narbenkappe ist die Rinde entsprechend dem
grössten Theil der I. und der ganzen II. Urwindung völlig zerstört, ausserdem
erstreckt sich von dort ein fast wie die Narbe breiter blutig durchsetzter Er-
weichungsherd basal, resp. medialwärts, bis an das gegenüberliegende Rinden-
grau, das Markweiss ausgedehnt zerstörend. Das Rindengrau lateral und be-
sonders deutlich medial von der, Narbe ist aufgehellt.
Die hintere Hälfte der Sehspliäre einschliesslich des zugehörigen
Theiles der Stelle A^ war grösstentheils zerstört. Der grössere Theil
der oberen Hälfte des rechten Gesichtsfeldes nebst dem zugehörigen
Theil der Stelle des deutlichen Sehens hätte also dauernd rindenblind
sein sollen. Thatsächlich bestand aber gar keine Sehstörung.
Tabelle VHIb.
Caudale Läsionen. Atypische.
r^
Sehstörung
IX]
0
ngen
m
Art der
Ort der Operation
Optische
r§
g
6
Operation
(Section)
gegen Fleisch
gegen
Licht
Reflexe
g
S
pq
1-26
Exstirpa-
Doppelseitig. Hintere
Nicht ganz symme-
Entspre-
Fehlen beider-
tion ca. 3/4
zwei Drittel der Seh-
trisch, doch beider-
chend der
seits bis zum
cm tief.
sphäre. Links : Sa-
seits von Anfang an
Sehstö-
15. Tage,
gittal 14 mm, fron-
den unteren Theil
rung gegen
dann noch ab-
tal 16 mm. Rechts:
freilassend, nach
Fleisch.
geschwächt.
Sagittal 14 mm, fron-
ob. zurückweichend.
Dauer 8
tal 14,5 mm. Zei'stö-
am 10. Tage ver-
Tage.
rung: Links haupt-
schwunden.
sächlich des media-
len Schenkels der II. und des lateralen
Theiles der I. Urwindung; rechts ausser-
dem noch stärkere Zerstörung des media-
len Theils des lateralen Schenkels der
11. Urwindung.
127
Exstirpa-
Doppelseitig. Links-.
Beiderseits nur 4 Tage
Beiderseits
Nur abge-
Unge-
—
tion ca. ^/^
Vornehmlich im me-
dauernd, rechts am
am 2. Tage
ges eh wacht.
stört.
cm. tief.
dialen Schenkel der
11. Urwindung, nur
wenig in die Nach-
barwindung über-
greifend. Sagittal 8
mm, frontal 13 mm.
Rechts: I. und II.
Urwindung. Sagittal
12 mm, frontal 16
mm.
oberen, links im obe-
ren medialen Theil
des Gesichtsfeldes.
gänzlich,
dann bis
zum 8.
TageReac-
tion abge-
schwächt.
.-
473
pq
Art der
Operation
Ort der Operation
(Section)
SehstörunK
gegen Fleisch
gegen
Licht
Optische
Reflexe
m
128
Exstirpa-
tion ca. ^/^
cm tief.
129
130
Exstirpa-
tion ca. ^/,
cm tief.
Exstirpa
tion bis an
den hinte-
ren Pol
131
132
Doppelseitig. Sagittal
10 u. 11 mm, fron-
tal 18 u. 19,5 mm
bis an den hinteren
Pol und zur Medi-
dianlinie.
Links. Hinterer Theil
der IL und I. Urwin-
dung mit Schonung
des hinteren Pols.
Sagittal 14 mm,
frontal 10 mm.
Rechts. Hinterer Theil
des medialen Schen-
kels der IL Ui'win-
dung, 5 mm vom hin-
teren Pol, 8 mm von
der Mittellinie. Sa-
gittal 8 mm, fron-
tal 7 mm.
Anfänglich beiderseits
nur die untere me-
diale Partie frei-
lassend, dann sich
nach oben verlie-
rend, sodass schliess-
lich nur laterale Par-
tien blind bleiben.
L. am 7., r. am 21.
Tage verschwunden.
Links: Nasaler Strei-
fen bis incl. 15. Tag;
zuletzt nur noch
oben.
Rechts ;
pisch,
mehr
Hemiano
oben immer
als unten,
Exstirpa-
tion.
Exstirpa-
tion ca. 2/4
cm tieL
Dauer 20 Tage.
Rechts: Nasaler Strei- Keine Dif-
fen, am 4. Tage nur ferenz, Re-
noch oben, am 9. action
Tage nicht ' mehr überhaupt
nachweisbar. gering,
Links: Am 2. Tage
nur im unteren mitt-
leren Theil, am 3.
Tage die ganze un-
_^__ "tere Hälfte des Ge- ___
Sichtsfeldes sehend. 4. Tag: Reaction in der ganzen
unteren und ungefähr im medialen Drittel der oberen
Gesichtsfeldhälfte. Am 9. Tage noch oberer Ring
amblyopisch am 11. Tage normal.
Fehlt.
Beiderseits
indifferent.
Rechts. HintererTheil
der I. Urwindung,
3 mm von der Me-
dianlinie, 6 mm vom
hinteren Pol. Sagit-
tal 13 mm, frontal
10 mm.
Links.Medialer Schen-
kel der IL grösster
Theil der I. Urwin-
dung, lateral. Schen-
kel der IL Urwin-
dung zu einem klei-
nen Theil. Sagittal
15 mm, frontal 10 mm.
Links: Nur am 3.
Tage schmaler late-
raler Streifen blind,
später, sowie rechts
keine.
Fehlt.
Fehlt.
Nur abge-
gesehwächt.
Unge- Ifiind
stört. 1 entlief.
Fehlen rechts Unge-
gänzlich bis stört.
S.Tage, dann
allmählich
wieder
kehrend.
Fehlen links
gänzlich bis
zum 6. Tage,
dann auf
flache Hand
voi'handen.
Fehlt.
Abgeschwächt
bis zum 5.
Tage, dann
normal.
Fehlen ganz
lieh einen Tag,
dann noch
5 Tage abge^
schwächt,
Unge-
stört.
Unge-
stört.
Unge-
stört.
Vorüber-
gehendes
Wieder-
aufleben
der gleich-
seitigen
Sehstö-
rung der
1. Ope-
ration.
— 474 —
Zusammenfassung.
1. Sehstörungen (aa. Reaction gegen Fleisch): Bei der
Beob. 126 war reichlich die hintere Hälfte der Sehsphären zerstört
oder doch unbrauchbar gemacht, das Scotom musste also dem auf
Fig. 95 d wiedergegebenen Typus beiderseits entsprechen, mit anderen
Worten beide oberen Gesichtsfeldhälften mussten rindenblind sein; auf
das, was darüber hinaus noch blind war, konnte es deshalb nicht an-
kommen, weil sowohl die -ursprüngliche Läsiou, als auch secundäre
Erweichungen sich über die vorgezeicbneten Grenzen huiaus erstreckten.
Thatsächlich erschienen nun zu Anfang der Beobachtungszeit, d. h. in
den ersten 5 — 6 Tagen die unteren Gesichtsfeldpartien theilweise frei
und die oberhalb des Aeqiiators belegenen blind; aber schon am 7. Tage
hatte sich die Sehstörung des rechten Auges auf eine obere Sichel
zurückgezogen, am 8. Tage traf dies auch für das linke Auge zu und
am 10. Tage war die Sehstörung auf beiden Augen verschwunden.
Bei der Beob. 127 war beiderseits ein schmaler Streifen des hinteren
Pols und linkerseits ein medialer Streifen stehengeblieben. Ausserdem
war die Ausschaltung etwas weniger umfangreich als bei der Beob. 126;
immerhin war der Defect ziemlich gross, um so mehr, da der hintere
Pol wenigstens linkerseits nicht mehr functionsfähig sein konnte. Jedoch
musste er auch rechterseits von seinem Marklager getrennt sein. Die
Sehstörung, welche wenig ausgesprochen und von kurzer Dauer war,
entsprach am 4. Tage, dem ersten nnd einzigen Tage, an dem sie zu
fixiren war, auf dem rechten Auge wenigstens insofern dem Schema
M unk 's, als sie sich nur in der oberen Gesichtshälfte hielt und dort
den obersten Kreisabschnitt einnahm. Auf dem linken Auge fehlte
jedoch ein in dieser Weise characteristisches Symptom. Hier war nur
am 2. Tage eine allgemeine Amblyopie und dann bis zum 4. Tage ein
schmaler oberer nasaler blinder Streifen nachzuweisen. Am 5. Tage
war die Sehstörung beiderseits verschwunden. Bei der Beob. 128, zu
der die Section fehlt, entsprach die Form des Scotoms am meisten dem
Schema Munk's. Auf dem linken Auge fehlte bis zum 5. Tag wirklich
die ganze obere Hälfte des Gesichtsfeldes zuzüglich des von der gleich-
seitigen Operation herrührenden medialen Streifens. An diesem Tage
war letzterer verschwunden, sodass die schematische Figur rein in die
Erscheinung trat. Aber schon am 6. Tage war nur noch ein oberer lateraler
Streifen blind, und am folgenden Tage auch dieser verschwunden. Noch
deutlicher trat die Figur des Schemas auf dem rechten Auge hervor,
insofern daselbst der laterale obere Quadrant bis zum 17. Tage, wenn
auch in etwas schwankender Ausdehnung blind blieb. Indessen war
auch hier die Sehstörung am 21. Tage bis auf etwas Unsicherheit vor-
— 475 —
scliwunden. Bei der Beob. 129 war der hintere Pol zwar stehen so-
blieben, aber wahrscheinlich von seiner Markstrahlung grösstentheil.s
abgetrennt. Der zwischen der Hinuiarbe und der Mittellinie liegende
Streifen war grösstentheils zerstört worden, ausserdem reichte die Zer-
störung nach vorn erheblich in die Stelle Ai hinein. Das Scotom hatte
hier den typisch liemiauopischen Charakter, verlor sich auch in dieser Weise,
Meiner Ansicht nach trägt diese Beobachtung zur ErkUlrung der
vorhergehenden und mehrerer anderen früheren bei. Bei der Beob. 120
reichte die Zerstörung ebenso wie bei einer Anzahl ähnlicher Eingriffe
weiter nach vorn und nahm überhaupt einen grösseren Raum ein als
bei anderen, sonst ähnlichen Exstirpationen. Infolgedessen war die
Sehstörung von längerer Dauer und dehnte sich auf grosse Theile, ins-
besondere die unteren Partien des Gesichtsfeldes aus. Auf diese Weise
wurde die typische Figur des Scotoms maskirt, sodass dieselben eben
jene typisch hemianopische Form annahm und bei der überhaupt nur
kurzen Dauer dieser Störungen auch unter Beibehaltung dieser Form
verschwand. Bei der Beob. 130 war der hintere Abschnitt des medialen
Schenkels der II. Ürwindung bis an den hinteren Pol zerstört. Dem-
nach hätte vornehmlich das Sehvermögen im oberen Theil des linken
Gesichtsfeldes geschädigt sein sollen. Dies traf auch, entsprechend der
soeben gegebenen Auseinandersetzung zu, denn die Sehstörung betraf
vornehmlich den oberen Theil des linken Gesichtsfeldes, sie war aber
bereits am 11. Tage gänzlich verschwunden. Ausserdem wurde noch
ein, mehrere Tage anhaltendes Wiederaufleben der Sehstörung des
medialen Streifens dieses Gesichtsfeldes beobachtet. Bei der Beob. 131
war vornehmlich der hintere Theil des Randwulstes mit Schonung des
hinteren Pols ausgeschaltet worden, doch reichte die Zerstörung noch
erheblich in die II. ürwindung hinein. Dauernde Rindenblindheit eines
Theiles der oberen Gesichtsfeld half te hätte die Folge sein sollen. Tliat-
sächlich bestand nur eine kurzdauernde Blindheit auf einer schmalen
lateralen Sichel des linken Gesichtsfeldes. Bei der Beob. 132 be-
traf die Zerstörung den bei weitem grössten Theil der Stelle Aj.
Obschon ihr lateraler Theil und ein Stück des medialsten Theils des Rand-
vvulstes geschont war, erwiesen diese Partien sich doch schon makroskopisch
als erheblich geschädigt. Der grössere Theil der oberen Hälfte des
rechten Gesichtsfeldes nebst dem dazu gehörigen Theil der Stelle des
deutlichen Sehens hätte also dauernd rindenblind sein sollen. Thatsäch-
licli bestand aber gar keine Sehstörung.
Die Resultate dieser beiden letzten Beobachtungen stehen wieder
in entschiedenstem Widerspruche zu der Projectionslehre Munk's und
den Ergebnissen der vorher angeführten Beobachtungen, insofern diese
— 476 —
sich, wenigstens was die Oertliclikeit der producirten Selistörung anging,
einigermaassen mit jener Lehre in Einklang bringen liessen.
bb. Die Sehstörung gegen Licht verhielt sich im Allgemeinen
wie die gegen Fleisch, ohne jedoch überall ebenso deutlich nachweisbar
zu sein, ja, bei der Beob. 128 schien sie überhaupt gänzlich zu fehlen.
2. Die optischen Reflexe verhielten sich bei dieser Reihe von
Beobachtungen sehr verschieden. Bei der Beob. 126 fehlten sie ent-
sprechend der grossen Ausddmung der Sehstörung 13 Tage gänzlich,
um dann noch 3 Tage bis zum Abschluss der Beobachtung abgeschwächt
zu bleiben. Umgekehrt bestand bei den Beobb. 127, 131 und 132 ent-
sprechend dem geringen Grade, bezw. dem vollständigen Fehlen der
Sehstörung eine kaum nenneuswerthe Störung der optischen Reflexe. Li
allen diesen Fällen war die Stelle des deutlichen Sehens und ihre Um-
gebung von vornherein frei gewesen. Bei der Beob. 128 andererseits
fehlten die optischen Reflexe ungeachtet der grossen Ausdehnung der
Scotome niemals gänzlich, während sie allerdings insofern mit der Seh-
störung parallel liefen, als sie auf dem rechten Auge, auf dem die
Sehstörung erheblich länger anhielt, während der ganzen Dauer der
Beobachtung gestört blieben.
Bei den Beobb. 128 und 130 endlich fehlten sie 8 bezw. 6 Tage
gänzlich, um dann noch bis zum Schluss der Beobachtung abgeschwächt
zu bleiben. La dem ersteren Falle war die Stelle des deutlichen Sehens
bis zu diesem Zeitpunkte blind, in dem anderen war sie es von Anfang
an nicht.
3. Der Nasenlidreflex war bei allen diesen Beobachtungen
ungestört.
e) Orale Läsionen.
Die in diesem Abschnitte mitgetheilten 23 Beobachtungen habe ich
in 2 Gruppen, typische und atypische, nicht nach dem Orte der Opera-
tion, wie in den anderen Abschnitten, sondern nach der Art des opera-
tiven Erfolges, also derart geordnet, dass die 8 typischen Beobachtungen
einen der M unk 'sehen Forderung wenigstens bis zu einem gewissen Grade
entsprechenden Erfolg hatten, während die 15 atypischen Beobachtungen
einen dieser Forderung nicht entsprechenden oder gerade den entgegen-
gesetzten Erfolg hatten.
Die Abtragung der vorderen Hälfte der Sehsphäre hätte nach der
Lehre Munk's Rindenblindheit in Form der in der Fig. 95c dargestell-
ten Scotome zur Folge haben sollen. War die laterale Partie dieses
Gebietes stehen gelassen worden, so durfte das gleichseitige Auge kein
Scotom zeigen; war dagegen die mediale Partie dieses Gebietes frei-
gelassen worden, so musste der lateralste Abschnitt des gegenseitigen
— 477 —
Gesichtsfeldes frei bleiben. Meine Versuche erstrecken sich sowohl ;mf
Operationen, bei denen die ganze vordere Hälfte, als auch auf solche,
bei denen nur einzelne Abschnitte derselben fortgenommeu waren.
links rechts links
u,
Fig. 95e.
A. Typische Operationen.
Beobachtiiiig: 133.
Aufdeckung links hinten auf sagittal 12 mm, frontal 24 mm. Der vor-
dere Rand bleibt 27 mm von der Lambdanaht entfernt, der mediale liegt dicht
an der Medianspalte. Exstirpation der freiliegenden Rinde 2—3 mm tief.
(zu ßeob. 144.)
Fig. 236.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage typische Hemianopsie, linker
Streifen verhcältnissmässig breit; am 3. Tage, dann unverändert bis inclusive
— 478 —
9. Tag, Aufhellung der unteren nasalen Partie; am 10. Tage beginnt die Stelle
des deutlichen Sehens sich aufzuhellen, daran schliesst sich eine unsichere
Grenzzone. Am 1.3. Tage ist die Selistörung aus dem ganzen Gesichtsfeld bis
Fig. 2.37.
links
rechte
Fiff. 238.
auf den unteren lateralen Quadranten, welcher blind ist, verschwunden,
am 19. Tage daselbst nur noch ein blinder Kreisabschnitt, am 20. Tage keine
Sehslörung mehr. Auf dem linken Auge war der mediale Streifen nur bis zum
9. Tage blind, vom 10.— 13. Tage daselbst Unsicherheit, dann keine Sehstörung
mehr. Gegen Licht im Allgemeinen wie gegen Fleisch.
Optische Reflexe fehlen rechts gänzlich.
f^asenlidretlex am 2. Tage leicht abgeschwächt.
— 479 —
Gctödtet nach ca. 7 Wochen, nachdem inzvvisclicn eine 2. syiiuiii-lrisclic
Operation ausgeführt worden war.
Section: Häute normal, nur erscheint die Pia der hinteren Sehsphären-
hälfte etwas rauh. Die genau rechtwinklige 23 mm frontal, 12 mm sagillal
messende Narbe reicht medial bis an die Medianspalte. Der hinlere Rand
bleibt lateral 10 mm, medial 8 mm vom hinteren Pol entfernt. Der vordere
Rand schneidet genau mit einer Senkrechten Falx-hinteror Rand der IV. ür-
windung ab; die vordere laterale Ecke schneidet noch einen Winkel aus der
III. ürwindung aus, Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Es fehlt die
Rinde vom medialsten Theil der III. Ürwindung, die ganze Rinde der 11. incl.
die der Sulci zwischen I. und IL, II. und III. und die dorsale Rinde der
I. Ürwindung, deren Markweiss grösstentheils zerstört ist. Die Zerstörung
reicht kegelförmig ziemlich tief in die weisse Substanz hinein.
Ausgeschaltet war die ganze vordere Hälfte der Sehsphäre, sccundär
noch ein vorderer Abschnitt der hinteren Hälfte mit in den Bereich der
Zerstörung hineingezogen. Die Stelle A^ war grösstentheils vernichtet.
Hiernach hätte die untere Hälfte des Gesichtsfeldes incl. der Stelle des
deutlichen Sehens rindenblind sein sollen, die obere Hälfte des Gesicht-
feldes hätte nur in ihren unteren Abschnitten betroffen seiu dürfen.
Thatsächlich bestand zunächst eine typische Hemianopsie, dann aber
war in der Zeit vom 33. — 19. Tage Blindheit des unteren lateralen
Quadranten allmählich von oben innen nach aussen unten verschwindend
nachzuweisen. Die Stelle des deutlichen Sehens fungirte bereits am
13. Tage wieder vollkommen.
Beolbaclxtiiiig: 134.
Aufdeckung links hinten 15 mm vor der Mitte der Lambdanaht auf
12 mm sagittal, 22 mm frontal. Die Lücke reicht fast bis an die Medianlinie
und liegt etwas von lateral hinten schräg nach medial vorn. Exstirpation der
freigelegten Rinde auf ca. ^/^ cm tief, sodass auch das noch unter dem me-
dialen Knochenrande liegende Stück soweit als möglich zerstört wird.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: In der Schwebe links bis zum 4. Tage
ein schmaler nasaler Streifen amblyopisch, der am 5. Tage noch unsicher,
später normal reagirt. Rechts am 2. Tage blind bis auf eine schmale undeut-
lich abgegrenzte nasale Zone, über der der Hund stets schnuppert, aber nie
zuschnappt. Am 3. Tage sieht der Hund nasal oberhalb des Aequators auf
einem nasalen Streifen, der sich unterhalb des Aequators fast bis zum verti-
calen Meridian verbreitert. Am 4. Tage ist die Reaction auf dem bis dahin
blinden oberen medialen Theil des Gesichtsfeldes unregelmässig vorhanden.
Am 5. Tage sind die lateralen zwei Drittel unterhalb des Aequators deutlich
blind, oberhalb des Aequators ist die Reaction nur auf einem schmalen late-
ralen Streifen unsicher, Am 6. Tage ist eine Sehstörung nicht deutlich zu
— 480 —
constatiren. am 7. Tage ist nur noch etwas weniger als der untere laterale
Quadrant blind; am 8. Tage nur noch ein lateraler Fleck ebenda und am
IJ. Tage ist keine Sehstörung mehr nachweisbar. Am 20. Tage gelingt auch
der Stossversuch nicht, d. h. er ergreiftMdeine, plötzlich gegen das Auge zuge-
Fig. 239.
stossenc Fleischstücke sofort. Gegen Licht: Keaction fehlt bis zum 3. Tage
lechts gänzlich, am 4. und 5. Tage ist sie auf einem schmalen nasalen Streifen
vorhanden, am 8. und 9. Tage scheut der Hund nur über der nasalen Hälfte.
Links ist dieReaction nur ausnahmsweise energisch, im Allgemeinen aber träge.
Optische Reflexe fehlen bis zum Schluss der Beobachtung.
Nasenlid refl ex nur am. 2. Tage abgeschwächt.
Getödtet nach 7 Wochen, nachdem inzwischen eine 2. Operation an der
anderen Hemisphäre ausgeführt worden war.
Section: Häute normal. Die Narbe sitzt der ganzen IL, der lateralen
Hälfte der I. und dem medialen Rande der III. Urwindung auf und vorläuft in
ihrem langen 19 mm messenden Durchmesser schräg von lateral hinten nach
medial vorn. Der sagittale Durchmesser beträgt 9 mm. Der vordere Rand der
— 481 —
Ilirnnarbe reicht bis in die Hölie der Fossa Sylvii, der liintorc laterale Rand der
Narbe bleibt 13 mm, der hintere mediale 19 mm vom hinteren Toi entfernt. Hin-
terer Durchschnitt durch die hintere Ecke der Auflagerung: Eine dreieckige
bräunliche Narbe in der Mitte der IL ürwindung. 2. Durchschnitt 2 mm weiter
Fig. 240.
links
rechts
Fiff. 241.
nach vorn durch die vordere Grenze des hinteren Drittels der Narbe: Die II. Ür-
windung und der laterale Theil der I. ürwindung sind im Gebiete der Narbe
gänzlich zerstört. Die Narbe reicht bis 2 mm von der Spitze des Seitenven-
trikels. Dieser ist stark erweitert und nach oben ausgezogen. .3. Durchschnitt
durch den vorderen Rand der Narbe: Hier ist nur noch ein feiner Spalt zu
sehen, der sich von der lateralen Partie der I. ürwindung medialwärts durch
das Grau hindurchzieht.
Hitzig, Geaammelte Abiiandl. II. Theil. 31
482
Zerstörung einer schräg verlaufenden Partie im vorderen Tlieil der
Sehsphäre incl. des marginalen Abschnittes dieses Theils. Lateral bleibt
die hintere Hälfte, medial die hinteren drei Viertel frei. Anfänglich
typische Hemianopsie, die sich aber nicht typisch zurückbildet, sondern
sich vom 5. — 10. Tage in der unteren Gesichtsfeldhälfte insoweit ent-
sprechend der Forderung Munk's localisirt. Rindenblind war der Hund
daselbst aber nicht.
Beobadituiig" 13^.
Aufdeckung links hinten auf lo mm sagittal, 16 mm frontal. Der hintere
Rand der Knochenlücke ist 16 mm von der Lambdanaht entfernt, der mediale
liegt dicht an der Medianlinie, Richtung der Lücke senkrecht zur Medianlinie.
Exstirpation der ganzen freigelegten Rinde bis zur Falx ca. ^/^ cm tief, excl.
ca. 1 — 2 mm des vordersten Streifens.
Fig. 243.
— 483 —
Motilitätsstörungen fohlen.
Sehstörung-: Gegen Fleisch: Am 2. Tage links höclistcns ein ganz
schmaler nasaler Streifen Sehstörung. Rechts: In der Schwebe ist deutlich
ersichtlich, dass die Sehstörung das ganze Auge einnimmt, dagegen zeigt
links
rechts
Pio-. 244.
links
rechts
Fig. 245.
sich, wenn man den Hund zwischen die Kniee nimmt, dass totale Sehstörung
nur in der lateralen Hälfte besteht, während von der medialen der ganze obere
Quadrant und ein bezüglich der Breite nicht sicher bestimmbarer Streifen des
unteren Quadranten weniger intensiv betroffen ist. Am 3. Tage links, wenn
überhaupt, nur ein ganz schmaler nasaler Streifen amblyopisch, reagirt bereits
über der Mitte des Nasenrückens. Rechts etwas träge, anscheinend nur auf
einem nasalen Streifen sehend. Am 4. Tage ist die Sehstörung links ver-
schwunden , rechts auf dem unteren äusseren und auf einem anliegenden
31*
— 484 —
Streifen des inneren Quadranten reactionslos. Am 5. Tage unterhalb des
Aequators wie am 4. Tage, ausserdem oberhalb des Aequators auf dem late-
ralen Drittel. 6. Tag: Unterhalb des Aequators unverändert, oberhalb des
Aequators noch auf dem lateralen Viertel. Am 7. Tage ist nur noch lateral
unten eine kleine unsichere amblyopische Zone nachzuweisen. Später keine
Sehstöruug mehr. Er findet auch auf dem Boden Fleisch sofort und reagirt
auch auf kleine schnell auf das Auge zugestossene Fleischstücke regelmässig.
(Stossversuch.) Gegen Licht: Bis zum 4, Tage entsprechend der Sehstörung
gegen Fleisch, später scheut er schon weit aussen heftig.
Optische Reflexe: Fehlen bis zum 4. Tage, dann gegen flache Hand
stets abgeschwächt vorhanden, gegen schmale Hand fehlend.
Nasenlid refl ex ungestört,
Getödtet nach l'^j^ Wochen, nachdem inzwischen eine 2. Operation an
der anderen Hemisphäre ausgeführt worden war.
Section: Häute normal. Die 13 mm sagittal, 15 mm frontal messende
Narbe sitzt der I. und II. ürwindung auf, reicht medial bis an den Rand der
Hemisphäre und lateral bis über die Mitte der sehr breiten II. Ürwindung hin-
aus. Mit ihrer am weitesten vorspringenden hinteren Ecke bleibt sie 11 mm,
ganz lateral 17 mm vom hinteren Pol entfernt; nach vorn reicht sie etwa 1 bis
2 mm über eine Senkrechte Falx — hinterer Rand der IV. Ürwindung hinaus.
Von der Narbe nach der Medianspalte zieht sich eine narbige Einschnürung.
1. Durchschnitt durch das vordere Drittel der Auflagerung zeigt Fehlen des
dorsalen Graues und einen mehr medialen breiteren, wie einen lateralen
schmalen Erweichungsstreifen, die sich in der Höhe der Basis der I. und
IL Ürwindung vereinigen. Die hauptsächliche, hier nicht sehr ausgedehnte
corticale Zerstörung erstreckt sich in den Markkegel der I. ürwindung hinein.
2. Durchschnitt durch das hintere Drittel der Auflagerung: Die Autlagerung
sitzt der Rinde nur auf, diese selbst ist scheinbar erhalten, jedoch offenbar
durch den nach hinten liegenden Theil der Windung substituirt. Dagegen
sieht man über der Spitze des Seitenventrikels eine ziemlich lange und breite
eingesunkene Stelle im grossen Marklager, welches hochgradig atrophisch ist.
Ebenso ist der mediale Theil der IL ürwindung stark atrophisch, der Seiten-
ventrikel ist sehr stark nach oben ausgezogen.
Ausschaltung der vorderen Hälfte der Sehsphäre mit Ausnahme
ihres lateralen Drittels. Die Sehstörung sollte vornehmlich die untere
Hälfte des Gesichtsfeldes und die Stelle des deutlichen Sehens betreffen.
Thatsächlich traf dies bis incl. des 6. Tages zu, wenn auch am 2. Tage
ausserdem noch der ganze mediale Theil des Gesichtsfeldes amblyo-
pisch, der obere laterale Theil an diesem, am 5. und 6. Tage blind
war und wenn anch am 3. Tage die Sehstörung genau wie eine Hemi-
anopsie aussah. Am 7. Tage war nur noch ein unterer lateraler Kreis-
abschnitt blind und am 10. Tage keine Sehstörung mehr nachweisbar.
— 485 —
Beobachtuiig' 130.
Aufdeclmng hinten links auf 11 mm sagittal, 17 mm frontal. Der hintere
Rand der Knochenlücke bleibt 17 mm von der Lambdanaht, der mediale 3 mm
von der Mittellinie entfernt. Exstirpation der freiliegenden Rinde ca. '^j^ cm
tief und ausgiebige Zerstörung des unter dem medialen Knochenrande liegenden
Streifens.
Motilitätsstörungen: Bis zum 10. Tage, an diesem Tage durch
„Defect der Willensenergie" nachweisbar. Anfänglich lässt er auch die rechte
Hinterpfote aufsetzen und zeigt in der Schwebe differente Reaction.
zu Beob.
136.)
Fig. 246.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage nicht zu untersuchen. Am
3. Tage auf dem Schoosse links schmaler nasaler amblyopischer Streifen, rechts
Reaction nur im medialen oberen Quadranten und schmalem nasalen Antheil
vom medialen unteren. Am 4. und 5. Tage kein sicheres Resultat zu erlangen.
Vom 6.— 11. Tage der untere laterale Quadrant mehr minder deutlich ambly-
opisch oder blind. Findet auf dem Boden Fleisch, dessen Bild auf diesen
Theil des Gesichtsfeldes fällt abnorm langsam und unsicher. Am 14. Tage
auf dem Schooss keine Sehstörung zu ermitteln, in der Schwebe nur noch eine
ganz geringe unten aussen. Am 16. Tage auch beim Stossversuch keine Seh-
störung mehr. Gegen L'cht: Reaction rechts am 2. Tage gänzlich, dann bis
zum 11. Tage entsprechend dem gegen Fleisch reactionslosen Bezirke fehlend.
Nachher über dem ganzen Auge vorhanden.
486
Optische Pveflexc: Fehlen rechts bis zum 7. Tage gänzlich, an diesem
Tage gegen flache Hand schwächer als links, gegen schmale Hand fehlend,
vom 14. Tage an gegen flache Hand gleich stark, gegen schmale Hand fehlend,
dann allmählich auch gegen schmale Hand wiederkehrend.
Fig. 247.
links
rechts
Fig. 248.
Nasenlidreflex: Abgeschwächt bis zum 26. Tage, dann beiderseits
gleich.
Getödtet nach ca. 7 Wochen, nachdem inzwischen eine 2. Operation an
der anderen Seite ausgeführt worden war.
Section: Häute normal. Die sagittal an der breitesten Stelle in der
Mitte 10 mm, frontal 16 mm messende Narbe sitzt der ganzen I. und II. Urwin-
dung auf, der mediale Rand der Hemisphäre ist stark eingezogen. Der hintere
— 487 —
Rand bleibt medial 18,5 mm, an dem hintersten Vorspränge 15,5 mm, ganz
lateral 18 mm von dem hinteren Pol entfernt. Vorderer Hand entspricht einer
Senkrechten Falx-Mitte des hinteren Schenkels der IV. Urwindung. An der
medialen Fläche entsprechend der Mitte der Auflagerung eine narbige Ein-
ziehung. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Die 11. Urwindung, sowie
der laterale Theil der 1. Urwindung fehlen gänzlich, der mediale Theil der
I. Urwindung ist noch theilweise erhalten, jedoch fehlt die Rinde dort zum
Theil, theilweise ist sie entfärbt. Von der Auflagerung zieht sich eine drei-
eckige Narbe in die Tiefe, wo sie, sich immer mehr verjüngend, mit einem feinen
Spalt dicht an der Spitze des Seitenventrikels endigt. Ein 2. Durchschnitt
am vorderen Rande der Auflagerung zeigt auf der hinteren Schnittfläche noch
ein dem eben beschriebenen sehr ähnliches Bild, auf der vorderen Schnitt-
fläche fast nichts mehr.
Exstirpation des vorderen Drittels der Sehsphäre und der an-
liegenden Partie der Aiigenregiou unter Erhaltung des lateralen Drittels
der Sehsphäre. Die Sehstörung sollte vornehmlich, wenn nicht aus-
schliesslich die untere Hälfte des Gesichtsfeldes betreffen. Dies traf zu,
wenn auch noch am 3. Tage die obere laterale Hälfte des Gesichts-
feldes blind erschien. Am 16. Tage war jedoch jede Sehstörung ver-
schwunden.
lieobachtniig' IST'.
Aufdeckung links hinten auf 12 mm sagittal, 16 mm frontal. Der hintere
Rand der Lücke bleibt 17 mm von der Lambdanaht, der mediale, da die Ab-
sicht bestand, den Randwulst zu schonen, 7 mm von der Mittellinie entfernt.
Die freiliegende Rinde wird etwa ^4 cm tief mit dem Präparatenheber ex-
stirpirt.
Motilitätsstörungen: Am 2. und 3. Tage beim Begreifen Reflex links
gesteigert.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Links: Am 2. Tage sicherer, am 3. und
4. Tage unsicherer nasaler Streifen amblyopisch. Rechts: Am 2. und 3. Tage
das ganze Gesichtsfeld mit Ausnahme eines schmalen nasalen Streifens am-
Myopisch; am 4. Tage hat sich das obere Drittel des Gesichtsfeldes mit Aus*
nähme eines lateralen Streifens aufgehellt, der nasale sehende Streifen hat
sich etwas verbreitert. Am 5. Tage besteht nur noch eine Sehstörang, die
nicht mehr ganz den unteren lateralen Quadranten einnimmt, an diesen beiden
Fia-. 250.
linlis
rechts
Fig. 251.
Tagen findet er bereits Fleisch auf dem Boden ziemlich schnell und sicher.
Vom 6. — 31. Tage (Schluss der Beobachtung) keine Sehstörung mehr; auch
der ,,Stossversuch" gelingt nicht. Gegen Licht verhält sich die Reaction bis
zum 5. Tage wie die Reaction gegen Fleisch. Vom 6. — 8. Tage fehlt die Re-
action im unteren äusseren Quadraten, vom 9. Tage an besteht kein Unter-
schied mehr gegen links.
Optische Reflexe: Fehlen rechts bis zum 19. Tage gänzlich, an diesem
— 489 —
Tage gegen flache Hand vorhanden, gegen schmale Hand felilend, ;ini ^^.Tage
gegen flache und schmale Hand beiderseits gleich.
Nasenlidreflex nur am 3. Tage abgeschwtächt.
Getödtet nach ca. ö^/g Wochen, nachdem inzwischen eine symmetrische
mit Vereiterung endende Operation ausgeführt worden war.
Section: Die rechte Hemisphäre ist mit Blutgerinnseln bedeckt und die
Pia getrübt. Ausgesprochene Basalmeningitis. Die Pia der linken Convexität
ist normal. Die sagittal 14 mm, frontal 15 mm messende Auflagerung nimmt
die lateralen zwei Drittel der I. und die ganze II. ürwindung ein; sie reicht
mit ihrem vorderen Rande bis etwas nach vorn von einer Senkrechten Palx —
hinterer Rand der IV. ürwindung, mit ihrem medialen Rande bleibt sie 6 mm
von der Medianlinie, mit ihrem hinteren Rande medial 12 mm, lateral 14 mm
vom hinteren Pol entfernt. 1. Durchschnitt durch die Mitte der Auflagerung:
Die Zerstörung betrifft das laterale Drittel der I. und die ganze II. Ürwindung.
Von der Auflagerung erstrecken sich kleinere und grössere Erweichungsherde
in die Tiefe bis ungefflhr 2 mm von der Spitze des Seitenventrikels. 2. Durch-
schnitt am vorderen Rande der Auflagerung: Die Rinde der II. Ürwindung ist
flach erodirt, die Windung selbst atrophisch. 3. Durchschnitt durch den hin-
teren Rand der Auflagerung: Es setzt sich die oberflächliche und namentlich
die tieferliegende Erweichung in Gestalt einer diffus grau bräunlich verfärbten,
ziemlich grossen Partie in den vorderen Rand der hinteren Schnittfläche fort.
Beide Seitenventrikel enthalten Eiter.
Ausgeschaltet war etwa die vordere Hälfte der Sehsphäre mit Aus-
nahme eines medialen Streifens und die caudale Partie der Augen-
region. Die Sehstörung sollte den unteren Theil des Gesichtsfeldes
betreffen. Thatsächlich traf dies für den 4. und 5. Tag zu. Am 2.
und 3. Tage bestand typische Hemianopsie, von der am 4. Tage rest-
lich noch ein schmaler lateraler Streifen im oberen Gesichtsfeld nach-
zuweisen war.
Beobachtniig- 13S.
Aufdeckung links hinten auf 9 mm sagittal, 15 mm frontal. Der mediale
Rand der Lücke bleibt 6 mm von der Mittellinie, der hintere Rand 15 mm von
der Lambdanaht entfernt. Exstirpation des freiliegenden Rindenstückes ca.
1 cm tief mit Schonung des Randwulstes.
Motilitätsstörungen: Während der ganzen Dauer der Beobachtung,
besonders im Hinterbein, allmählich abnehmend in geringem Grade nach-
weisbar.
In der Schwebe: Hängt bis zum 11. Tage (allmählich abnehmend)
leicht gestreckt. Reaction auf Begreifen fehlt dauernd.
Seh Störung: 2. Tag: Auf dem Boden legt er sich, wenn Binde vor
dem linken Auge, sofort auf die Erde und rührt sich nicht; am 3. Tage findet
er Fleisch bei verbundenem linken Auge nur, wenn dasselbe zufällig dicht
vor die Nase zu liegen kommt, während er schnuppernd ziellos hin und her
— 490 —
sucht; läuft oft ganz dicht vorbei. Auch am 4. Tage findet er Fleisch nur
schlecht. In den folgenden Tagen bis zum 10. Tage findet er nur noch lateral
liegendes Fleisch schlecht, dann kein Unterschied mehr zwischen rechts und
links. In der Schwebe gegen Fleisch: Links besteht ein schmaler nasaler am-
blyopischer Streifen bis zum 5. Tage, am 6. Tage nicht mehr nachweisbar.
Fig. 253.
Rechts: Am 2. Tage nicht zu untersuchen; sehend: Am 3. Tage schmaler
nasaler Streifen, am 4. Tage nicht ganz nasales Drittel, vom 5. — 8. Tage na-
sale Hälfte, am 9. Tage zwei Drittel. Am 10. und 11. Tage achtet er zwar
über dem ganzen Gesichtsfelde auf, reagirt aber nur träge. Am 12. Tage,
nicht am 13. Tage, ist links wieder ein schmaler nasaler amblyopischer Streifen
nachweisbar; rechts besteht am 12. Tage eine Sehstörung in dem unteren
lateralen Quadranten, die sich als Sichel in den oberen Qaadranten fortsetzt.
Am 13. Tage beginnt rechts eine Cornealtrübung, die eine weitere Verfolgung
der Sehstörung unmöglich macht, aber an diesem Tage noch Amblyopie in der
unteren lateralen Ecke zu erkennen gestattet. Gegen Licht: Reaction ist auf
— 491 —
der linken Seite stets sehr lebhaft, rechts fehlt sie am 2. Tage gänzlicli, dann
ist sie auf der gegen Fleisch reagirenden Partie stets deutlich und gut ab-
grenzbar vorhanden.
Optische Reflexe: Fehlen bis zum 13. Tage rechts gänzlich, an diesem
Tage anscheinend gegen flache Hand schwach vorhanden.
Nasenlidreflex bis zum 8. Tage abgeschv^^ächt, später nicht mehr
verfolgt.
Gestorben am 19. Tage, nachdem er sich am 18. Tage die bereits voll-
kommen geheilte Wunde aufgekratzt hatte.
rechts
Fig. -254.
Section: Häute normal. Die sagittal 10 mm, frontal 12 mm messende
Narbe sitzt der IL ürwindung auf und berührt die beiden Nachbarwindungen
nur mit ihren beiden Rändern. Ihr vorderer Rand liegt genau in einer Senk-
rechten Falx — hinterer Rand der IV. Ürwindung, medial bleibt sie 9mm von
der Medianspalte, hinten in der Mitte und an der medialen Ecke 14 mm, an
der lateralen Ecke 15,5 mm vom hinteren Pol entfernt. Die Convexität der
Hemisphäre ist in ihrer ganzen hinteren Hälfte deutlich gegen rechts einge-
sunken. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe. Vordere Schnittfläche: Die
Hirnnarbe hat eine keilförmige Gestalt und erreicht mit ihrer Spitze den Sei-
tenventrikel, eine Blutung in diesen hat nicht stattgefunden. Das Grau der
I. Ürwindung ist intact bis auf die Rinde des zwischen der I. und II. Ürwin-
dung einschneidenden Sulcus, die völlig zerstört ist. In bei Weitem höheren
Grade ist die mediale Hälfte der III. Ürwindung zerstört, vor allem auch hier
das Grau der zwischen der H. und III. ürwindung einschneidenden Furche.
Die IL Ürwindung ist ganz zerstört. Die der Gehirnnarbe gegenüberliegende
Ventrikelwand erscheint eingekerbt, so dass die Möglichkeit, dass bei der Ope-
ration hier eine Nebenverletzung stattgefunden hat, nicht auszuschliessen ist,
zumal dieser Kerb genau der Stelle gegenüberliegt, wo auch dorsal die Ven-
trikelwand zerstört ist. Auf der hinteren Schnittfläche desselben Durchschnittes
ist das Bild insofern ein anderes, als die Oberfläche in der Narbengegend be-
— 492 —
sonders stark eingesunken ist und sich von dem lateralen Winkel der Hirn-
uarbe, die eine mehr viereckige Gestalt hat, ein langer Zipfel an dem dorsalen
Rande des Ventrikels entlang zieht. Medial erstreckt sich die Erweichung
unter der I. Urwindung, die auch ziemlich stark zerstört ist, in den Gyrus
fornicatus und den hinteren Forceps hinein. Ein Durchschnitt am hinteren
Rande der Narhe zeigt keine sichtbaren Veränderungen mehr.
Die von E ding er vorgenommene mikroskopische Untersuchung nach
Marchi ergab „bei Freibleiben der primären Endstätten eine nicht unbedeu-
tende Degeneration des linksseitigen Tractus".
Ungefähr die vordere Hälfte der Sehsphäre excl. des grösseren
Theiles des Randwulstes, der aber auch stark geschädigt war, war aus-
geschaltet worden. Die Sehstörung sollte deu unteren Theil des Ge-
sichtsfeldes betreffen. Thatsächlich trug sie bis zum 12. Tage excl.
einen ausgesprochen hemianopischen Charakter. An diesem Tage war
nur noch etwa der untere laterale Quadrant und ein oberer lateraler
Streifen blind. Eine Keratitis machte zwar die fernere Verfolgung der
Sehstörung unmöglich, indessen ist mit Sicherheit anzunehmen, dass sie
analog den ähnlichen Fällen, z. B. Beobachtung 136, abgelaufen wäre.
In welchen Beziehungen die Affectiou des Tractus zu ihr stand, muss
zunächst dahingestellt bleiben.
Beobachtviiigf 130.
Aufdeckung links hinten 15 mm vor der Lambdanaht, dicht an der Mittel-
linie auf 16 mm Quadrat. Exstirpation der freiliegenden Rinde ca. ^j^ cm tief.
Motilitätsstörungen fehlen,
Sehstörung: Bei oberflächlicher Betrachtung erscheint der Hund zu-
nächst auf dem rechten Äuge, abgesehen von einem schmalen nasalen Streifen,
ganz blind, da er auch bei unverbundenem linken Auge mit dem rechten
Vorderbein über den Tischrand tritt und bis zum 6. Tage überall anstösst,
auch auf dem Boden vorgeworfenes Fleisch nicht oder nur durch den Geruch
fmdet. Doch ist er nicht ganz blind. Reaction gegen Fleisch: Schon am
2, Tage folgt er rechts kleinen Fleischstücken, die man mit einer gewissen
Geschwindigkeit von unten nach oben oder von oben nach unten bewegt, mit
dem Auge, besser auf dem nasalen Streifen, dort schnappt er bei öfterer
Wiederholung auch zu; links ist ein ziemlich breiter nasaler Streifen amblyo-
pisch. Am 3. Tage steckt er bei den erwähnten Versuchen manchmal die
Nase in die Luft, aber ohne das Fleisch zu finden, auf dem nasalen Streifen
findet er es bis bisweilen. Am 5. Tage ergreift er ein nasal vorgehaltenes
Stück Kork, kaut es und speit es dann aus; beim 2. Versuche riecht er nur
daran, das 3. Mal ignorirt er es, ein gleich darauf vorgehaltenes Stück Fleisch
ergreift er. Er erkennt das Fleisch also durch das Gesicht. 12. Tag: In der
Schwebe ist der rechte sehende Streifen etwas breiter geworden. Auf dem
Aequator etwa ein Drittel des Gesichtsfeldes betragend, unten fast die Hälfte.
— 493 —
(Zu Beob. 139.)
(zu Beob. 140.)
Links ist eine Sehstörung nicht mehr sicher nachzuweisen. 13. Tag: Rechts
reagirt er auf einem nasalen Streifen, der in der Mitte breiter ist als unten ;
jedenfalls vermag er unten nur sehr unsicher zu localisiren. Links sieht er
auf einem schmalen nasalen Streifen nicht. Auf dem Boden beginnt er seit
dem 7. Tage vorgeworfenes Fleisch allmählich besser zu finden, am 13. Tage
— 494 —
findet er es nach einigem Suchen, sobald es in den sehenden Theil des
Gesichtsfeldes kommt. Am 16. Tage Reaction rechts auf dem nasalen Drittel
immer, auf dem mittleren ungefähr in der Hälfte der Fälle, oben besser als
unten, auf dem lateralen Drittel nie; links anscheinend keine Störung mehr.
18. Tag: Auf dem Boden findet er beiderseits vorgeworfenes Fleisch fast so-
fort. In der Schwebe reagirt er rechts oberhalb des xiequators oft schon ganz
lateral, zeitweise aber erst von der Mittellinie an, unterhalb des Aequators nur
Fiff. 256.
links
rechts
Fig. 257.
auf der medialen Hälfte, links nasal unten eher als oben. Zwischen den
Knieen, auf dem Boden stehend, sieht er Fleischstücke, die von unten kommen,
nicht sofort. Fleisch, das von oben her kommt, sieht er sofort. Am 19. Tage
reagirt er rechts oben nur auf einem schmalen lateralen Streifen nicht, unten
etwa auf dem äusseren Drittel noch nicht; links anscheinend überall Reaction.
Sonst wie gestern. Am 20. Tage Sehstörung nicht mehr sicher nachzuweisen,
ai]a 21. Tage verschwunden. Gegen Licht fehlt die Reaction rechts bis zum
495
13. Tage gänzlich, von da an, anfänglicli schwacli, nachweisbar, am 21. Tage
wie links.
Optische Reflexe: Fehlen rechts bis zum 20. Tage gänzlich, an
diesem Tage gegen flache Hand vorhanden, am 21. Tage auch gegen sclimale
Hand.
Nasenlidreflexe ungestört.
Gestorben nach ca. 2 Monaten; inzwischen eine 2. Operation der an-
deren Seite.
Section: Häute normal. Die sagittal 19, frontal 16 mm messende
Narbe sitzt der Convexität so auf, dass der mediale Rand derselben bis an die
Medianspalte reicht, der hintere vom hinteren Pol noch ca. 10 mm entfernt
bleibt. Sie nimmt also die vordere Hälfte der Stelle A^ ein, reicht aber hier
medial bis zur Medianspalte, lateral bis zum lateralen Rand der 11. Urwin-
links
rechts
Fig. 258.
düng und nach vorn bis annähernd zur vorderen Grenze der sogenannten
Augenregion. Hinterer Durchschnitt durch das hintere Drittel der Narbe:
Die Narbe sitzt dem Rindengrau auf, dasselbe scheinbar grösstcntheils un-
versehrt lassend bis auf eine schmale Partie ungefähr in der Mitte der Narben-
kappe, wo ein feiner gelblich-rother Erweichungsstreifen, welcher der gänzlich
fehlenden Tl. ürwindung entspricht, die Rinde durchsetzt und in der nur ganz
schmalen Markleiste medial-basalwärts verläuft, um sich etwas tiefer im Mark-
weiss der Hemisphäre lateral und medial zu gabeln, so dass durch den medial
gerichteten Streifen das Mark der L Ürwindung völlig substituirt ist. Die Er-
weichung hält sich dabei aber genau an die Grenzen des Markes und lässt das
Grau wenigstens makroscopisch unlädirt. Vorderer Durchschnitt durch das vor-
dere Drittel der Narbe: Die Rinde ist hier, entsprechend der medialen Hälfte
der Narbenkappe, gänzlich zerstört, auch die unter der lateralen Hälfte ge-
legene, sichtlich von lateral her in die Lücke hineingezogene Rindenpartie ist
aufgehellt. An Stelle der zerstörten Rinde befindet sich ein ziemlich derbes
Narbengewebe, das sich weiter basal in Form eines breiten Zapfens bis zur
Wand des Ventrikels, der erweitert und nach oben ausgezogen ist, fortsetzt.
— 496 —
Auch die Ausstrahlung des Balkens ist dadurch quer durchschnitten und die
linke Hälfte des Balkens selbst nach oben verzogen. Von dem Zapfen trennt
sich nach lateral ein schmaler Erweichungsstreifen ab, der zuerst zwischen der
Rinde und der lateralen Wand des Ventrikels dicht an dieser entlang zieht,
sich dann von ihr entfernt und das Markweiss der III. Urwindung grobfächerig
durchsetzt.
Die vordere Hälfte der Sehsphäre und die vordere Hälfte der
Stelle Ai waren zerstört. Die untere Hälfte des rechten Gesichtsfeldes
und ein Theil der Stelle des deutlichen Sehens sollten demnach dauernd
rindenblind sein. Thatsächlich war zunächst eine wohlcharakterisirte
hemianopische Selistörung zu beobachten, die in der gewöhnlichen
Weise zurückging. Am 18. und 19. Tage jedoch eine stärkere Bethei-
ligung, wenn auch nur des lateralen Theiles der unteren Gesichtsfeld-
hälfte erkennen liess. Die Stelle des deutlichen Sehens war nur etwa
bis zum 16., 17. Tage ausgeschaltet.
Bemerkenswerth ist, dass in diesem Falle die Läsion ziemlich weit
über die vordere Grenze der Sehsphäre hinausreichte.
Keobaclxtviiig: 140.
Derselbe Hund von Beobachtung 139 (vergl. dort die Figuren). Auf-
deckung rechts hinten 15 mm vor der Mitte der Lambdanaht auf 16 mm Qua-
drat. Exstirpation der freiliegenden Rinde ^/^ cm tief und ausgiebige Zer-
störung derselben unterhalb des medialen Knochenrandes bis zur Falx.
Motilitätsstörungen fehlen bis zum 36. Tage. An diesem Tage
allgemeine Krämpfe, in Folge deren der Hund am 38. Tage stirbt.
Seh Störung: Am 2. Tage Hund sehr munter. Findet auf dem Boden
Fleisch nur durch den Geruch. Dieses Verhalten wird noch bis zu Ende der
Beobachtung, wenn auch allmählich abnehmend, constatii't. Vom 4. Tage an
wird beobachtet, dass der Hund auf Stühle springt, um sich des auf dem
Tische stehenden Fleisches, das er also sehen muss, zu bemächtigen. In der
Schwebe: Am 2. Tage sieht er durch ein Loch, das lateral etwa in der Höhe
der Schnauze liegt. Anscheinend ist dies auf beiden Seiten ziemlich genau
symmetrisch. Am 3. Tage sieht er links nur auf dem unteren inneren Qua-
dranten; rechts lässt sich über die Sehstörung schwer entscheiden. Jeden-
falls reagirt er nie, wenn man von unten kommt; wenn man von oben kommt,
scheint es, als wenn er unten medial sieht (auf der Zeichnung durch Punkti-
rung angedeutet). 4. Tag: Links sieht er auf der ganzen lateralen Hälfte des
Gesichtsfeldes nichts, oben reicht die Störung noch über den Meridian hinaus;
oben nasal ebenfalls ein schmaler Streifen amblyopisch. Rechts siebter ober-
halb des Aequators nur medial und lateral nichts, unterhalb überhaupt nichts.
6. Tag: Links Reaction auf der ganzen oberen Hälfte des Gesichtsfeldes, auf
der unteren nie: rechts ganz medial und lateral oberhalb des Aequators,
ebenso unterhalb keine, in der Mitte oberhalb gute Reaction. 7. Tag: Rechts
— 497 —
reagirt er auch oben medial; links unterhalb des Aoquators und oben lateral
keine Reaction. 8. Tag: Rechts: Keine lleaction auf dem ganzen unteren
lateralen und dem lateralen Drittel des unteren medialen Quadranten, sowie
auf einem schmalen oberen lateralen Streifen. Auf dem Reste des Gesichts-
feldes reagirt er. Links ein ziemlich breiter lateraler Streifen oben wie unten
blind; oben ist dieser Streifen etwas breiter als unten. Eine genauere Ab-
suchung wird durch die Ermüdung des Hundes vereitelt. 9. Tag: Links oben
ist die Sehstörung geringer geworden, sie reicht jedoch noch über den Aequator
hinaus. Rechts unverändert. 11. Tag: Links ist nur noch der äussere untere
Fig. 259.
Quadrant blind. Rechts sieht er oberhalb des Aequators überall, unterhalb
nur auf einem etwa ein Drittel des Gesichtsfeldes einnehmenden nasalen Theil.
Bis zum 14, Tage fehlen beiderseits noch die unteren äusseren Quadranten,
am 17. Tage nur noch rechts der untere äussere Quadrant und links unten
lateral eine schmale Zone. Am 19. Tage ist beiderseits eine Sehstörung nicht
mehr nachzuweisen; im unteren Theil des Gesichtsfeldes besinnt er sich zu-
weilen, ehe er zuschnappt. Kork nimmt er Anfangs mehrere Male, verschmäht
ihn aber dann. Gleich darauf gezeigtes Fleisch nimmt er aber sofort wieder.
Bis zum Ende der Beobachtung sieht er auf der unteren Hälfte der Gesichts-
felder weisses Fleisch oder Fett zwar sofort, dunkles aber nur, wenn es bewegt
wird, auf der oberen Hälfte der Gesichtsfelder sieht er auch dunkles Fleisch
sofort. Gegen Licht: Fehlt Reaction bis zum 7. Tage beiderseits, von da an
beiderseits unruhig.
Optische Reflexe: Fehlen bis zum 19. Tage beiderseits, von da
an rechts auf flache Hand vorhanden, auf schmale Hand und links dauernd
fehlend.
Nasenlidreflex ungestört.
Gestorben nach 51/2 Wochen.
Hitzig, Gesarameitc Abhandl. II. Tlieil. 33
— 498 —
Section: Häute normal. Die 15 mm im Durchmesser grosse, ungefähr
runde Narbe sitzt der Convexität der Hemisphäre ungefähr so auf, dass sie
sowohl vom hinteren Rand, als von der Medianspalte 5 mm entfernt bleibt.
Zur Stelle A^^ verhält sie sich so, dass sie lateral darüber hinausreicht, wäh-
rend sie medial noch einen schmalen Streifen intact lässt. Der vordere Rand
bleibt ca. 5 mm hinter einer Senkrechten Falx — Spitze der Fossa Sylvii zurück.
Hinterer Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Die Rinde ist unter der
medialen Hälfte der Narbenkappe völlig, unter der lateralen zum grössten
Theil zerstört. Das theils erweichte Narbengewebe zieht breit medial -basal-
wärts, jedoch noch 3 — 4 mm von der Ventrikelwand entfernt bleibend und mit
einem feinen Erweichungsstreifen sich bis zur medialen Fläche der Hemisphäre
fortsetzend, so dass der medial von der Narbenkappe gelegene Rindenstreifen
völlig von seiner Verbindung mit dem übrigen Markweiss abgetrennt ist, auch
sind die Markleisten dieses Theiles von ganz feinen Erweichungsherden durch-
setzt, die Rinde jedoch makroskopisch nicht wesentlich verändert. Vorderer
Durchschnitt 2 mm vor der Narbe zeigt nur noch einen ganz kleinen blutigen
Streifen im Markweiss des Theiles des Randwulstes, der nach der Medianfläche
der Hemisphäre zu gewandt ist.
Zerstört war der grössere Theil der vorderen Hälfte der Sehsphäre
und fast die ganze Stelle A^. Die untere Hälfte des Gesichtsfeldes und
die Stelle des deutlichen Sehens hätten grösstentheils dauernd rinden-
blind sein sollen. Thatsächlich zeigte sich ein höchst auffälliger Wechsel
der Erscheinungen. Zunächst hellten sich Partien der unteren Gesichts-
feldhälfte auf, dann verdunkelten sich diese, während die obere Ge-
sichtsfeldhälfte frei wurde. Vorübergehend erschien jedoch hier wieder
ein stärkeres Scotom, während der äussere untere Quadrant schliesslich
bis zum 18. Tage eine allmählich kleiner werdende Sehstörung erkennen
liess. Während von dauernder Rindenblindheit also auch hier keine
Rede war, und die Stelle des deutlichen Sehens bereits vom 8. Tage
an functionirte, entsprach die Lagerung des Scotoms sonst im All-
gemeinen dem M unk 'sehen Schema. Die Sehstörung hätte auf dem
rechten Auge nur den unteren Theil des medialen Streifens betreffen
dürfen. Thatsächlich blieb dieser, aber nur einen, den 7. Tag, länger
blind als der obere Theil dieses Streifens. Ausserdem lebte die von
der 1. Operation herrührende Sehstörung wieder auf und zwar so, dass
vornehmlich die untere Hälfte des Gesichtsfeldes, später bis zum 18. Tage
nur der untere äussere Quadrant blind blieb. Amblyopie beider Augen
auf den früher blinden Partien bestand bis zum Ende der Beobachtung.
— 499 —
Tabelle IXa.
Orale L ä s i o n e n. Typische.
O
0
S e h s t ö r u n g
Nasen -
pq
Art der
Ort der Operation
Optische
lid-
reflex
Bemer-
d
Operation
(Section)
gegen Fleisch
gegen
Licht
Reilexc
kungen
133
Exstirpa-
Links. Vordere Hälfte
Rechts: Typische He-
Wie gegen
Fehlen.
Am
tion 2 — 3
der Sehsphäre ; sa-
mianopsie bis zum
Fleisch.
2. Tage
mm tief.
gittal 1 2 mm, frontal
23 mm bis an die
Mittellinie.
12. Tage; vom 13.
bis 19. Tage nur im
unteren lateralen
Quadranten.
Links : -Medialer Strei-
fen; am 13. Tage
verschwunden.
abge-
schwächt.
134
Exstirpa-
Links. Schräg verlau-
Rechts: Anfänglich
Bis zum
Fehlen.
Am
—
tion ca. ^/^
fende Ausschaltung
typische Hemianop-
3. Tage
2. Tage
cm tief.
im oberen Theii der
sie, vom5. — 10. Tage
tolal, dann
abge-
Sehsphäre; sagittal
nur in der unteren
Reaction
schwächt.
9 mm, schräg-fron-
Hälfte des Gesichts-
immer nur
tal 19 mm.
feldes.
Links : Dauer bis zum
6. Tage.
medial.
135
Exstirpa-
Links. Vorderer Theil
Rechts: Bis zum 9.
Bis zum
Fehlen bis
Unge-
—
tion ca. ^ji
der Sehsphäre in die
Tage vornehmlich,
4. Tage
zum
stört.
cm tief.
Augenregion über-
doch nicht aus-
wie gegen
4. Tage,
i
greifend; sagittal 13
schliesslich in der
Fleisch.
dann dau-
mm, frontal 15 mm.
unteren Hälfte des
Gesichtsfeldes.
Links: Dauer 2 Tage.
ernd abge-
schwächt.
13G
Exstirpa-
Links. Vorderes und
Rechts : In der unteren
Am 2.Ta.ge
Fehlen bis
Abge-
Motilitäts-
tion ca. 3/4
mediales Drittel der
Hälfte des Gesichts-
total, dann
zum
schwächt
störungen
cm tief.
Sehsphäre übergrei-
feldes, bezw. im un-
wie gegen
7. Tage
bis zum
bis zum
fend in die Augen-
teren lateralen Qua-
Fleisch.
gänzlich.
26. Tage
10. Tage.
region; sagittal 10
mm, frontal 16 mm.
dranten. Dauer 15
Tage.
dann sehr
langsam verschwin-
Links: Dauer 4 Tage.
dende Abschwächung.
137
Exstirpa-
Links. Vordere Hälfte
Rechts: Bis zum 3.
Im Allge-
Fehlen bis
Am
Sehstörung
tion ca. ■V4
der Sehsphäre excl.
Tage Hemianopsie,
meinen wie
zum 19.,
3. Tage
gegen
cm tief.
Randwulst ; sagittal
bis zum 5. Tage obe-
gegen
sind abge-
abge-
Licht von
14 mm, frontal 15
rer Theil des Ge-
Fleisch,
schwächt
schwächt.
längerer
mm.
sichtsfeldes freiblei-
jedoch von
bis zum
Dauer als
bend.
längerer
24. Tage.
gegen
Links : Dauer 3 Tage.
Dauer.
Fleisch.
138
Exstirpa-
Links. Vordere Hälfte
Rechts : Hemianopisch
Am 2. Tage
Fehlen
Anfäng-
VomlS.Tg.
tion ca.
der Sehsphäre excl.
bis zum 11. Tage,
total, dann
bis zum
lich
an krank.
1 cm tief.
Randwulst, sagittal
später oberer Theil
wie gegen
12. Tage
abge-
Motilitäts-
10 mm, frontal 12
des Gesichtsfeldes
Fleisch.
incL
schwächt.
störungen
mm.
grösstentheils frei.
Links: Noch am 12.
Tage.
dauernd in
geringem
Grade.
32*
500 —
o
m
6
Art der
Operation
Ort der Operation
(Section)
S e h s t ö r u n
gegen Fleisch
g
gegen
Licht
Optische
Reflexe
Nasen-
lid-
reflex
Bemer-
kungen
139
140
Exstirpa-
tion ca. 3/4
cm tief.
Exstirpa-
tion ca. ^/^
cm tief mit
Zerquet-
schung des
Rand-
wulstes.
Links. Vordere Hälfte
der Sehsphäre, in die
Augenregion weit
übergreifend ; sagit-
tal 19 mm, frontal
16 mm.
Rechts. Vordere Hälfte
der Sehsphäre und
fast die ganze Stelle
Aj ; sagittal 15 mm,
frontal 15 mm.
Rechts: Bis zum 17.
Tage typisch hemia-
nopisch, am 18. und
19. Tage mehr in
der unteren Hälfte
des Gesichtsfeldes,
am 20. Tage ver-
schwunden.
Links : Dauer gleich
rechts.
Links : Bis zum 3. Tage
nur kleinere Partien
im unteren Gesichts-
feld freilassend, spä-
ter fast das ganze
obere Gesichtsfeld,
endlich auch den un-
Ungefähr
wie gegen
Fleisch.
Total bis
zum
7. Tage,
dannReac-
tion vor-
handen.
Fehlen
19 Tage
gänzlich,
dann 1 Tag
abge-
schwächt.
Fehlen
links dau-
ernd,
rechts bis
zum
19. Tage.
Unge-
stört.
Unge-
stört.
Dauernde
Ambly-
opie.
Wieder-
autleben
der rechts
seitigen-
teren inneren Quadranten. Am 19. Tage verschwunden.
Rechts: Anfänglich anscheinend auf Theilen des unteren Gesichtsfeldes
besser sehend. Vom 4. Tage an oberes Gesichtsfeld zuerst in der Mitte,
dann medial, schliesslich lateral freiwerdend. Blindheit endlich bis zum
18. Tage nur im unteren lateralen Quadranten, dauernde Ambh'opie.
Seh-
störung.
B. Atypische Operationen.
Beolba.clxtu.iig: 141.
Derselbe Hund von Beobachtung 135 (vergl. dort die Figuren). 4 Wochen
nach der 1. Operation. Aufdeckung rechts hinten auf 13 mm sagittal, 17 mm
frontal. Der hintere Rand der Lücke bleibt 16 mm von der Lambdanaht, der
mediale einige Millimeter von der Medianlinie entfernt. Exstirpation der frei-
liegenden Rinde etwa ^/^ cm tief mit völliger Zerstörung des Randwulstes,
soweit er medial noch von Knochen bedeckt ist.
Wunde am 5. Tage lateral aufgekratzt, entleert etwas serös blutige
Flüssigkeit, ist aber am 7. Tage unter geeigneter Behandlung wieder verheilt.
Motilität: Am 2. Tage leicht gestört, dann normal.
Sehstörung: Fehlt gegen Fleisch und Licht; der Hund findet auch
auf dem Boden Fleisch sofort.
Optische Reflexe: Fehlen links gänzlich nur am 2. Tage, sind aber
bereits am 3. Tage gegen flache und am 7. Tage auch gegen schmale Hand
vorhanden.
Nasenlidreflex nur am 2. Tage abgeschwächt.
Getödtet nach ca. 3Y2 Wochen.
— 501 —
Section: Häute normal. Der vordere Rand der sagiUiil 1» mm, frontal
12 mm messenden Narbe schneidet genau mit einer Senlcrecliten hinterer Rand
der IV. Urwindung— Falx ab, der hintere Rand bleibt iiljorall 21 mm vom hin-
teren Pol, der mediale 4 mm von der Medianlinie entfernt. Der hintere Pol
der Hemisphäre und der hinter der Narbe gelegene Theil des lateralen Schen-
kels der IL Urwindung ist deutlich eingesunken. Von der Auflagerung nach
der Medianspalte zieht sich eine narbige Einschnürung. 1. Durchschnitt durch
die Mitte der Auflagerung: Die dorsale Partie der Hemisphäre ist stark ab-
Fig. 260.
geflacht. Die Basis der Hirnnarbe hat die Grösse der Auflagerung, die Narbe
selbst eine dreieckige Gestalt und reicht mit ihrer Spitze bis an den Seiten-
ventrikel, wo sie die ßalkenstrahlung vollkommen durchbrochen hat. Sie hat
ebenso wie das Ependym des Seitenventrikels eine grau gelatinöse Färbung.
Von ihr aus zieht sich ein Spalt durch den Randwulst bis in die Medianspalte.
Der Seitenventrikel ist stark dilatirt und nach oben ausgezogen. 2. Durch-
schnitt durch den hinteren Rand der Narbe: An der Grenze zwischen 1. und
II. Urwindung befindet sich von der Furche ausgehend ein ziemlich grosser
Erweichungsherd, der etwas mehr medial in die Tiefe zieht, während lateral
von demselben eine ähnliche, aber noch erheblich grössere eingesunkene Stelle
als links sich zeigt.
Das vordere Drittel der Sehsphäre excl. des lateralsten Streifens
war ausgeschaltet. Das untere Drittel des zugehörigen Gesichtsfeldes
hätte fehlen sollen; thatsächlich bestand gar keine Sehstörung.
Beobaclitniig: 14S.
Derselbe Hund von Beobachtung 134 (vergl. dort die Figuren). Circa
3 Wochen nach der 1. Operation. Aufdeckung rechts hinten auf 11mm
— 502 —
sagittal, 16 mm frontal. Die rechteckige Lücke, die senkrecht auf der Mittel-
linie steht, bleibt mit ihrem hinteren Rande 15 mm von der Lambdanaht, mit
ihrem medialen Rande 2 — 3 mm von der Falx entfernt. Exstirpation der Rinde
ca. 3/4 cm tief, wobei der Randwulst mit Präparatenheber und Löffel möglichst
vollständig entfernt wird.
Motilitätsstörungen: In geringem Grade in der linken Hinterpfote
bis zum 8. Tage nachweisbar.
Seh Störung: Gegen Fleisch: 2. Tag: Auf dem Boden findet er bei
unverbundenem rechten Auge Fleischstücke, auch ganz weisses Fett, nur, wenn
er bei eifrigem Schnüffeln zufällig mit der Nase anstösst. In der Schwebe
Fig. 261.
links schmaler nasaler, unten etwas breiterer, sehender Streifen; rechts schmaler
nasaler amblyopischer Streifen 3. Tag: Auf dem Boden findet er bei verbun-
denem rechten Auge nur solche Fleischstücke, die in der Richtung seiner
Körperaxe und nicht zu weit entfernt liegen, also entsprechend dem sehenden
Theil seines Gesichtsfeldes, wie er in der Schwebe festgestellt ist. In der
Schwebe links oben nur schmaler nasaler sehender Streifen, unterhalb des
Aequators sich verbreiternd bis über den verticalen Meridian hinaus. Rechts
unverändert. 6. Tag: Auf dem Boden findet er Fleisch rechts besser als links.
In der Schwebe rechts ziemlich unverändert, links nasal oben fast bis zum
verticalen Meridian, unterhalb des Aequators über denselben hinaussehend.
7. Tag: Auf dem Boden findet er Fleisch links nur, wenn es unmittelbar vor
seinen nasalen Gesichtsfeldtheil zu liegen kommt. In der Schwebe ist links
keine sichere Sehstörung mehr nachzuweisen, doch schnappt er hier auch nach
Kork und Watte. 8. Tag: Auf dem Boden unverändert. In der Schwebe
links lateral etwas unsicher, aber keine sicher abgrenzbare Sehstörung mehr;
rechts keine Sehstörung mehr nachzuweisen. Am 9. Tage ist auch die Seh-
störung links verschwunden. Auf dem Boden findet er Fleisch mit ziemlicher
— 503 —
Sicherheil, auch wenn es ganz lateral liegt. 26. Tag: Seither keine Sehstörung.
Auf dem Boden findet er Fleisch mit normaler Schnelligkeit, beschnuppert
zwar dazwischengeworfene Korkstücke, nimmt sie aber nicht. Gegen Licht
scheut er am 2. Tage auf dem linken Auge nicht, später in der Regel auf der
gegen Fleisch reagirenden Partie des Gesichtsfeldes, jedoch am S. Tage nur
auf der medialen Gesichtsfeldhälfte, am 26. Tage überall sehr empfindlicli.
Optische Reflexe: Anfangs gänzlich fehlend, später und noch am
26. Tage links gegen scbmale Hand fehlend, gegen Hache Hand angedeutet;
rechts während der ganzen Dauer der Beobachtung fehlend.
Nasenlidreflex nur am 2. Tage etwas abgeschwächt.
Getödtet nach ca. 4 Wochen.
Section: Häute normal. Die Narbe sitzt den beiden medialen ürwin-
dungen auf und verletzt den medialen Rand der HI. Urwindung noch etwas.
Sie misst frontal 17 mm, sagittal in der Mitte 8,5 mm und verjüngt sich so-
wohl lateral wie medial erheblich. In der Mitte bleibt ihr vorderer Rand von
der Linie Spitze der Fossa Sylvii — Falx 4 mm, an der Medianspalte 8 mm, an
der lateralen Ecke 6 mm zurück. Der hintere Rand bleibt lateral 12 mm, in
der Mitte 9 mm, ganz medial fast 6 mm von dem stark eingezogenen hinteren
Pol zurück. Hinterer Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Der Defect
erstreckt sich auf die l. und II. Urwindung, von der I. Urwindung fehlt medial
nur die dorsale Partie, das mediale basale Grau dieser Windung ist erhalten;
lateral nimmt die Hirnnarbe eine trichterförmige Gestalt an und erstreckt sich
mit einem feinen Erweichungsstreifen bis an das dorsale Marklager. Vorderer
Durchschnitt durch die vordere Grenze, der Narbe: Die Narbe sitzt ganz in der
I. Urwindung und hat deren mediales und laterales Grau zum Theil unversehrt
gelassen. Ein rother Erweichungsstreifen zieht sich in das mediale Markweiss
hinein. Der Ventrikel ist erweitert.
Etwas mehr als etwa das vordere Drittel der Sehsphäre war aus-
geschaltet. Mehr als das untere Drittel des Gesichtsfeldes hätte fehlen,
die obere Partie hätte erhalten sein sollen. Die Sehstörung betraf aber
vornehmlich den oberen Theil des Gesichtsfeldes und war am 9. Tage
bereits verschwunden.
Beobaclitniig- 143.
Derselbe Hund von Beob. 136 (vgl. dort die Figuren), 41/2 Wochen nach
der 1. Operation. Aufdeckung rechts hinten auf 11 mm sagittal, 17 mm fron-
tal. Der hintere Rand der Knochenlücke liegt 17 mm vor der Lambdanaht,
der mediale nur einige Millimeter von der Mittellinie entfernt. Exstirpation
der freiliegenden Rinde mindestens 1 cm tief, auch die Hirnpartie unter dem
medialen Knochenrande wird bis zur Falx zerstört.
Wunde nässt vom 4.-7. Tage oberflächlich, heilt dann aber unter einem
Kopfverband schnell.
Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage kein sicheres Urtheil zu er-
— 504 —
zielen. Rechts am 3. Tage unsicher, am 4. Tage deutlich ein schmaler, oben
breiterer lateraler und ein breiterer nasaler Streifen amblyopisch. Am 3. Tage
findet er Fleisch auf dem Boden sehr gut; in der Schwebe ermüdet er schnell
und achtet bald nicht mehr darauf; jedenfalls sieht er links unterhalb des
Aequators sicher gut bis höchstens auf einen schmalen lateralen Streifen. Da-
gegen lässt es sich nicht sicher sagen, ob die Sehstörung oberhalb nur den
äusseren Quadranten oder sogar die ganze obere Gesichtsfeldhälfte einnimmt.
Fig. 262.
4. Tag: Auf dem Boden findet er jetzt und später Fleisch schnell und sicher.
In der Schwebe links oberhalb des Aequators ca. zwei Drittel, unterhalb ein
unsicherer lateraler Streifen blind. Am 5. Tage ist links noch lateral ein
kleiner Fleck oben, rechts keine Sehstörung mehr zu constatiren. Vom 6. — 14.
Tage eine unter Calomel gut heilende Cornealtrübung; vom 14. — 18. Tage
keine Sehstörung mehr. Gegen Licht unerheblich, am 4. Tage bereits weit
aussen, unten jedoch stärker als oben reagirend.
Optische Reflexe: Am 2. Tage links fehlend, von 3.— 18. Tage gegen
flache Hand angedeutet, gegen schmale Hand fehlend. Am 18. Tage gegen
flache und schmale Hand beiderseits gleich.
Nasenlid refl ex ungestört.
Getödtet nach ca. 2Y2 Wochen.
Section: Häute normal. Die frontal 18 mm, sagittal an der breitesten
lateralen Stelle 9 mm messende Narbe sitzt der I. und II. Urwindung auf, so-
dass sie gerade noch den medialen Rand der III. Urwindung erreicht. Sie
bleibt mit ihrem hinteren Rande medial 16 mm, lateral 14 mm vom hinteren
Pol entfernt; eine senkrechte: Falx — hinterer Rand der IV. Urwindung trifft
den vorderen Rand der Narbe. An der medialen Fläche entsprechend der Mitte
— 505 —
der Aul'lagemng eine narbige Einziehung. Beide 7Vul'lag(;i'iingen, sowohl <iie
rechte wie die linke convergiren etwas nach der Mittellinie in der Jlichtung von
hinten nach vorn. Durchschnitt ganz wenig schräg, von hinten lateral, nach
vorn medial, etwa in der Richtung des grössten Längsdurchmessers der Auf-
lagerung: Die Zerstörung betrifft die ganze II. und den grössten Theil der
1. Urwindung. Unter der Auflagerung ist ein ungefähr dreiecl<iger Kaum, der
die Spitze des Seitenventriliels mit seiner Spitze erreicht, mit maschigem Ge-
webe ausgefüllt. Von ihm aus geht medialwärts in den Gyrus fornicatus hin-
ein ein spaltartiger Fortsatz. Auf der hinteren Fläche desselben Schnittes ist
dieser Fortsatz breiter, erweitert sich zu einer Höhle.
Etwa das vordere Drittel der Selisphäre war ausgeschaltet worden.
Etwa das untere Drittel des Gesichtsfeldes hätte rinden blind sein sollen.
Die Selistöruug betraf aber vornehmlich die obere Hälfte des Gesichts-
feldes und war bereits am 5. Tage grösstentheils, spätestens am 14. Tage
vollständig versehwunden.
Derselbe Hund von Beob. 133 (vgl. dort die Figuren) Aufdeckung rechts
hinten auf sagittal 12 mm, frontal 22 mm. Der vordere Rand bleibt 27 mm
von der Lambdanaht entfernt, der mediale Rand liegt dicht an der Median-
spalte. Exstirpation der fi'eiligenden Rinde ca. 2 — 3 mm tief.
Motilitätsstörungen am 2. Tage angedeutet, dann fehlend.
Fi er. 263.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Rechts: Medialer Streifen bis zum 5. Tage
blind, an diesem Tage unsicher, am folgenden Tage anscheinend normal.
Links: Am 2. Tage auf nasalem Streifen unsicher, sonst blind. Am 3. und 4.
— 506 —
Tage typisch hemianopisch, am 5. Tage vorher blinde Partie nur noch unsicher,
fixirt fast immer, schnappt aber nur selten und träge zu; am G.Tage nur noch
lateraler oberer Kreisabschnitt unsicher, am 7. Tage Sehstörung verschwunden.
Schlussuntersuchung am 9. Tage: Hund findet Fleisch prompt auf dem Boden,
folgt geworfenem Fleisch rechts wie links absolut sicher und fängt es. Schnappt
fast momentan in der Schwebe und auf dem Boden nach Fleisch, das von
aussen in sein Gesichtsfeld geführt wird. Stelle des deutlichen Sehens intact,
sicher keine Sehstörung mehr. Gegen Licht wie gegen Fleisch.
Optische Reflexe fehlen beiderseits gänzlich.
Nasenlidreflex ungestört,
Getödtet am 10. Tage.
Section: Häute normal. Die genau rechtwinklige 23mm frontal, 12 mm
sagittal messende Narbe reicht medial bis an die Medianspalte. Der hintere
Rand bleibt lateral 13 mm, medial 10 mm vom hinteren Pol entfernt. Der
vordere Rand schneidet genau mit einer Senkrechten Falx — hinterer Rand der
IV. Urwindung ab; die vordere laterale Ecke schneidet noch einen Winkel aus
der III. Urwindung aus. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Es fehlt die
Rinde vom medialen Theil der III. Urwindung, die ganze Rinde der II. incl.
die der Sulci zwischen I. und II., II. und III. und die dorsale Rinde der I. Ur-
windung, welche überhaupt bis nahe an den Sulcus calloso-marginalis fast
gänzlich vernichtet ist. Die Zerstörung reicht so tief in die Hemisphäre hin-
ein, dass fast nichts von dem dorsalen Mark oberhalb der Ebene des Sulcus
calloso-marginalis übrig geblieben ist.
Ausgeschaltet war die ganze vordere Hälfte der Sehsphäre, secundär
noch ein, wenn auch etwas kleinerer vorderer Abschnitt der hinteren
Hälfte als bei Beob. 133 mit in den Bereich der Zerstörung gezogen.
Die Stelle Ai war zu einem grossen Theil vernichtet. Hiernach hätte
die untere Hälfte des Gesichtsfeldes incl. der Stelle des deutlichen
Sehens rindenblind sein sollen, die obere Hälfte des Gesichtsfeldes hätte
nur in ihrem untersten Abschnitt betroffen sein dürfen. Thatsächlich
bestand eine typische Hemianopsie, die sich in typischer Weise verlor
und sich nur durch ihre höchst auffallende schnelle Vergänglichkeit
auszeichnete.
Beofeaclituiig- 14S-
Aufdeckung links hinten auf sagittal 12 mm, frontal 20 mm. DieKnocben-
lücke bleibt mit ihrem vorderen Rande 27 mm von der Lambdanaht, mit ihrem
medialen Rande einige Millimeter von der Mittellinie entfernt. Die freiliegende
Rinde incl. des gerade noch anstehenden Winkels der III. Urwindung und des
schmalen noch vom Knochen bedeckten Randes der I. Urwindung werden
ca. 3 mm tief abgetragen bezw. zerstört.
Wundheilung: Am 6. Tage hatte sich eine pralle Geschwulst ge-
bildet, aus der eine ziemliche Menge blutig seröser Flüssigkeit entleert wurde,
flcilung der Wunde unter aseptischem Verband,
507 —
Moliliiätsstörungcn ca. 6 Tage lang angedeutet.
Seh Störung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage auf beiden Augen typische
Hemianopsie, rechts auch auf dem nasalen Gesichtsfeld nur undeutiiciie
Reaction. Am 3. Tage auf diesem Streifen deutliche Rcaction, sonst unvor-
(zu Beob. 146.)
Fig. 264.
ändert. Von da an und bis zum 68. Tage unverändert. Gegen Licht: Im
Allgemeinen wie gegen Fleisch, nur dass der Hund an einzelnen Tagen rechts
überhaupt nicht reagirt.
Optische Reflexe: Fehlen rechts dauernd, sind links ungestört.
Nasenlidreflex anfänglich abgeschwächt.
Getödtet am 84. Tage, nachdem inzwischen eine 2. symmetrische Opera-
tion ausgeführt worden war.
Section: Häute normal. Die 20 mm frontal, sagittal- lateral 8 mm,
in der Mitte 12 mm, medial 10 mm messende Narbe bleibt mit ihrem medialen
Rande noch 5 mm von der Medianspalte (die hier stehen gebliebene Rinde ist
aber oberflächlich erodirt), mit ihrem hinteren Rande lateral 12 mm, medial
nur 3 mm vom hinteren Pol, dessen mediale Hälfte sehr stark eingezogen ist,
entfernt. Vorderer Rand entspricht einer Senkrechten Falx — hinterer Rand
der IV. Urwindung; vordere laterale Ecke schneidet einen Winkel aus der
IIl. Urwindung aus. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Es fehlt die
Rinde vom medialsten Theil der III. Urwindung, die ganze Rinde der II. incl.
der zwischen der I. und IL, IL und 111. Urwindung einschneidenden Sulci
und die Rinde der lateralen Hälfte der I. Urwindung, während die mediale
508
Hälfte nur abgeblasst ist. Die Zerstörung reicht bis an den Sulcus calloso-
marginalis, dessen Rinde noch theilweise zerstört ist, und tief in das Mark-
lager hinein. Ein Sagittalschnitt zeigt, dass die basale mediale Rinde zwar
Fio-. 265.
links
rechts
Fig. 266.
makroskopisch intact, aber derart nach vorn oben gezogen ist und der Narben-
tlcäche derart breit anliegt, dass schlechterdings nicht abgesehen werden kann,
auf welchem Wege Faserzüge von hier noch ausgehen könnten.
Zerstörung der vorderen Hälfte der Selisphäre, secundäre Betheili-
gung der hinteren Hälfte, dauernde typische Hemianopsie.
— 509 —
13eol>a,cJhLtiiiij>: l'l-tJ.
Derselbe Hund von Beobachtung 145 (vergl. dort die Figuren). Auf-
deckung rechts hinten auf sagittal 12 mm, frontal 21 mm. Der vordere liand
der Knochenlücke bleibt 27 mm von der Lambdanaht, der mediale 4—5 mm
von der Medianspalte entfernt. Abtragung der freiliegenden und des unter
dem medialen Knochenrande liegenden Stückes Rinde ca. 3 mm tief.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Auf dem rechten Auge verlief sie so,
dass zu der von der I. Operation herrührenden Hemianopsie bis incl. dem
7. Tage noch die oberen zwei Drittel des nasalen Gesichtsfeldes blind waren,
v^rährend das untere Drittel bis zu diesem Tage undeutlich, dann deutlich sah.
Von da an bestand bis zum Schluss der Beobachtung die von der I. Operation
Fig. 267.
herrührende Hemianopsie weiter. Auf dem linken Auge sah der Hund bis zum
7. Tage gleichfalls nur, und zwar undeutlich, auf einem dem rechten Gesichts-
feld symmetrischen unteren nasalen Abschnitt. Am 8. Tage reagirte der Hund
auf dem medialen Drittel, wobei es zweifelhaft blieb, jedenfalls nicht mit
Sicherheit nachweisbar war, ob der durch die I. Operation geschädigte nasale
Streifen noch beeinträchtigt war. Am 9. Tage war die Sehstörung auf die
Hälfte zurückgegangen, am 11. Tage hatte sich die untere Partie bis zu einem
noch restirenden Viertel aufgehellt, am 12. Tage bestand noch ein oberer late-
raler blinder Kreisabschnitt und am 14. Tage war auch dieser verschwunden.
Gegen Licht wie gegen Fleisch.
Optische Reflexe: Fehlen anfänglich und sind links erst am 12. Tage
andeutungsweise vorhanden.
— 510 —
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet am 15. Tage.
Section: Häute normal. Die 23 mm frontal, sagittal- lateral 12 mm,
sagittal-medial 10 mm messende Narbe bleibt mit ihrem medialen Rande 1 bis
2 mm von der Medianspalte entfernt, doch ist die stehen gebliebene Rinde des
Randwulstes stark zerfetzt und stark eingezogen. Der hintere Rand bleibt
lateral 11 mm, medial 9 mm vom hinteren Pol entfernt. Die vordere laterale
Ecke schneidet noch gerade einen Winkel aus der III. Urwindung aus. Vor-
derer Rand entspricht einer Senkrechten Falx— hinterer Rand der IV. Urwin-
dung. Durchschnitt im Allgemeinen wie bei Beobachtung 145, nur ist das
stehen gebliebene Stück Randwulst bis zur Medianspalte unterminirt und zer-
fetzt. Die Zerstörung reicht in der Tiefe nicht bis zum Sulcus calloso-mar-
ginalis und nicht soweit in die weisse Substanz hinein,
Zerstörung der vorderen Hälfte der Sehsphäre, secimdäre Betheili-
gung der hinteren Hälfte, typisch ablaufende Hemianopsie, derart, dass die
untere Hälfte des Gesichtsfeldes, welche rindenblind hätte werden sollen,
nicht nur nicht rindenblind war, sondern sich zuerst wieder erholte.
Beobadituiig- \-4JT'.
Aufdeckung links hinten auf 11 mm sagittal, 25 mm frontal, in der Mitte
ist die Lücke um ca. 1 mm nach hinten zu breiter. Der vordere Rand der
Knochenlücke bleibt 27 mm von der Lambdanaht entfernt, der mediale Rand
reicht bis an die Medianspalte. Die freiliegende Rinde wird ca. 2 mm tief ab-
getragen.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Links: In den ersten 3—4 Tagen be-
stand ein oben breiterer, unten schmalerer nasaler blinder Streifen, am 5. und
6. Tage nur noch ein oberer Kreisabschnitt, der am 7. Tage undeutlich, am
8. Tage verschwunden war. Rechts: Am 2. Tage lässt die Sehstörung den
nasalen Streifen ganz frei und besteht in dem anliegenden Streifen bis zum
Meridian und Aequator nur in Amblyopie; am 3. und 4. Tage hat sie sich
lateralwärts weiter aufgehellt, die Stelle des deutlichen Sehens ist noch blind.
Vom 5.-7. Tage reicht sie oberhalb des Aeqaators noch über den Meridian
hinaus, unterhalb des Aequators besteht noch Amblyopie von ca. der Hälfte
des linksseitigen Hemisphärenantheils. Vom 8. — 10. Tage reicht die blinde
Partie lateral noch bis etwas unter den Aequator, medial schliesst sich eine
amblyopische Zone an. Am 11, Tag iest die letztere verschwunden. So bleibt
es bis zum 16. Tage, an welchem nur noch ein lateraler blinder oberer Kreis-
abschnitt nachzuweisen ist. Vom 21. Tage an besteht daselbst nur noch Un-
sicherheit, die am 24. Tage verschwunden ist. Gegen Licht entsprechend der
Sehstörung gegen Fleisch.
Optische Reflexe: Fehlen bis zum 7. Tage, von diesem Tage an bis
zum Schluss der Beob. angedeutet vorhanden,
Nasenlidreflex abgeschwächt bis zum 8, Tage.
511
Z5
(Zu Beob. 148.
Fia-. 268.
Getödtet nach ca. 5 Wochen, nachdem inzwischen eine 2. symmetrische
Operation ausgeführt worden war.
Section: Häute normal. Der hintere Pol ist stark eingezogen, nament-
lich in seiner mittleren, weniger in seiner medialen, am wenigsten in seiner
lateralen Partie. Die frontal 23 mm, sagittal-lateral 12 mm, sagittal-medial
— 512 —
10 mm messende Narbe bleibt medial ca. 1 mm von der Medianspalte, liinten-
medial 8 mm, hinten-lateral 11 mm vom hinteren Pol entfernt. Die vordere
Grenze entspricht einer Senkrechten Falx — hinterer Rand der IV.Urwindung;
die vordere laterale Ecke schneidet noch gerade einen Winkel aus der III. Ur-
windung heraus. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Es fehlt die Rinde
vom medialsten Theil der IIl. Urwindung, der ganzen II. und die der I. bis
Fig. 269.
links
rechts
Fig. 270.
auf den medialsten Rand derselben. Der schmale, stehen gebliebene Rand ist
aber abgeblasst, die Markleiste fast völlig zerstört. Die Zerstörung reicht
kegelförmig bis ca. 1 mm von der Spitze des stark ausgezogenen Seitenventri-
kels und bis in das Grau des Sulcus calloso-marginalis hinein. Der Gyrus
fornicatus ist stark lateralwärts nach der Narbe zu verzogen.
— 513 —
Die vordere Hälfte der Sehsphäre war gänzlich ausgciscliultet
worden; secundär war auch noch der Rest der Stelle A^ zu Grunde ge-
gangen. Die untere Hälfte des Gesichtsfeldes und die Stelle des deut-
lichen Sehens hätten rindenblind sein sollen. Nichts von alledem traf
aber zu. Die untere Hälfte des Gesichtsfeldes fiel nicht einmal am
2. Tage gänzlich aus, vielmehr war schon an diesem Tage und später
während der ganzen Beobachtungszeit die obere Hälfte stärker ge-
schädigt. Bereits am 8. Tage fehlte von der unteren Hälfte nur nocli
ein kleiner oberer Sector, der aber am 16. Tage auch schon wieder
fungirte, während am 24. Tage die Function auf dem ganzen Gesichts-
felde ungeachtet der Grösse der angerichteten Zerstörung wiedergekehrt
war. Die Macula functionirte bereits am 5. Tage wieder.
Beobachtung; l-4rS.
Derselbe Hund von Beob. 147 (vgl. dort die Figuren). Aufdeckung rechts
hinten auf 12 mm sagittal, 25 mm frontal. Der vordere Hand der Knochen-
lücke bleibt 27 mm von der Lambdanaht entfernt, der mediale Rand reicht bis
an die Medianspalte. Exstirpation der freiliegenden Rinde 2 — 3 mm tief.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Rechts: Am 2. Tage fällt ein lateraler
und medialer Streifen aus, letzterer noch bis zum 8. Tage, vom 9. — 24. Tage
bestand eine deutliche Unsicherheit an dieser Stelle, dann sah der Hund da
wieder anscheinend normal. Links: Bis zum 7. Tage fehlte jede Reaction, an
diesem und am 8. Tage war die Reaction auf dem nasalen Streifen undeutlich
vorhanden. Diese undeutliche Reaction, welche sich in der Art documentirte,
dass der Hund auf den Reiz des in diesen Theileu erscheinenden Fleisches
zwar aufblickte, das Fleisch aber zuerst nicht und dann nur unregelmässig er-
griff, es also offenbar nicht erkannte, erstreckte sich, während die totale Blind-
heit allmählich zurückwich, bis zum 15. Tage auf den ganzen oberen Gesichts-
feldabschnitt, von diesem Tage an wich sie gleichfalls lateral zurück, sodass nun-
mehrder obere innere Quadrant ganz frei war. Inzwischen war die totale Blindheit
bis zum 16. Tage auf die temporaleHälfte des Gesichtsfeldes zurückgewichen. Vom
17. Tage an hellt sich auch der temporale untere Quadrant auf, sodass am
25. Tage die ganze untere Gesichtsfeldhälfte frei war, während an diesem und
den nächsten Tagen die blinde Partie wieder etwa zwei Drittel der oberen Ge-
sichtsfeldhälfte einnahm. Vom 28.— 31. Tage (Schluss der Beob.) fand sich
nur noch eine Unsicherheit im oberen Theil des Gesichtsfeldes. Gegen Licht:
Schon anfänglich Reaction auf dem ganzen Gesichtsfelde links.
Optische Reflexe: Fehlen links bis zum Schluss der Beob. total,
während sie rechts stets angedeutet vorhanden sind.
Getödtet am 32, Tage.
Section: Häute normal. Der hintere Pol ist von medial nach lateral
abnehmend stark retrahirt. Die frontal 25 mm, sagittal 12 mm messende Narbe
reicht medial bis ganz zur Medianspalte und bleibt mit ihrem hinteren Rande
Hitzi!^, Gesammelte Abhandl. 11. Theil. 33
— 514 —
medial 7 mm, lateral 10 mm vom liint.ereü Pol entfernt. Die laterale vordere
Ecke schneidet einen Winkel aus der HI. Urwindung heraus; die vordere
Grenze entspricht genau einer Senkrechten Falx — hinterer Rand der IV. Ur-
windung. Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Es fehlt der medialste Theil
der Rinde der III. Urwindung. die ganze Rindo der If. incl. der zwischen 1.
Fig. 271.
und IL, IL und III. Urvvindung einschneidenden Sulci und die ganze dorsale
Rinde der I. Urwindung, deren Markweiss auch fast völlig zerstört ist. Die
Zerstörung reicht bis in das Grau des Sulcus calloso-marginalis hinein und
bis an den Seitenventrikel, der erweitert ist und in den ein Spalt von der ober-
tlächlichen Hirnwunde aus hineinreicht. Ausserdem finden .^ich zur Seite
dieser Höhle noch zahlreiche kleinere Erweichungsherde.
Die vordere Hälfte der Sehsphäre war gänzlich ausgeschaltet worden;
secuüdär war auch noch der Rest der Stelle A^ mindestens grössten-
theils zu Grunde gegangen. Die untere Hälfte des Gesichtsfeldes und
die Stelle des deutlichen Sehens hätten rindenblind sein sollen. Nichts
von alledem traf aber zu. Die Sehstörung verlief im Allgemeinen als
typische Hemianopsie und zwar so, dass sich die unteren Partien des
Gesichtsfeldes immer zuerst aufhellten und dass zuletzt nur noch eine
unsichere Partie temporal oben zurückblieb. Bemerkenswert!! ist das
vorübergehende Wiederaufleben der von der 1. Operation herrührenden
Sehstörung auf beiden Augen. Die Stelle des deutlichen Sehens war
bereits am 12. Tage wieder frei.
Beobsiclxtunjsr 140.
Aufdeckung links hinten zur Freilegung der vorderen Hälfte der Seh-
sphäre. Die frontal 24 mm und sagittal 13 mm messende, genau rechteckige
— 515 —
Knochenlücko bleibt mit ihrem Rande 27 mm von der fjambdanalil und mil
ihrem medialen Rande 1—2 mm von der Mittellinie entfernt. Es liefet die
I. Urwindung bis auf ca. 1 mm, die 11. und der Winkel der lll. Urwindung
Fiff. 272.
Pig-. 273.
frei. Diese Partie wird ca. 3 mm tief umschnitten und ganz flach exstirpirt.
Auch der noch unter dem medialen Knochenrande liegende medialste Streifen
des Randwulstes wird herausgelöffelt.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Pleisch: Am 2. Tage rechts ganz blind, links
schmaler nasaler Streifen, vom 3. — 17. Tage unverändert typische rechtsseitige
homonyme Hemianopsie. Gegen Licht: Entsprechend gegen Fleisch.
Optische Reflexe fehlen gänzlich.
Nasenlid refl ex ungestört.
Gestorben am 18. Tage.
Section: Häute normal. Die Auflagerung reicht von der Mittellinie bis
in die III. Urwindung hinein, deren medialen Winkel abschneidend. Sic misst
sagittal-medial 12 mm, sagittal-lateral 9 mm, frontal 22 mm. Auf diese Weise
reicht die mediale vordere Spitze noch etwas in die Augenregion hinein. Durch-
schnitt (annähernd diagonal zur Narbe, aber senkrecht zur Medianspalte):
Rinde und Mark fehlen unter der Auflagerung gänzlich. Medial ist nur die
dorsale Rindenschicht abgetragen, andererseits zieht sich ein Erweichungs-
streifen von der Narbe in das mediale Grau hinein. Das grosse Marklager
33*
— 516 —
fehlt dorsal gänzlich; die Narbe setzt sich mit einer multiloculären Höhlenbil-
dung bis in den Ventrikel fort, dessen dorsale Wand in grosser Ausdehnung
verfärbt erscheint. Der Ventrikel ist hochgradig erweitert.
links
rechts
Fig. 274.
Da die vordere Hälfte der Sehsphäre lateral ganz und medial fast
ganz exstirpirt war, hätte die untere Hälfte beider Gesichtsfelder dauernd
rindenblind, die obere Hälfte aber intact sein sollen. Thatsächlich be-
stand eine bilaterale homonyme Hemianopsie gerade so, als wenn die
ganze linke Sehsphäre extirpirt worden wäre, so lauge die Beobachtung
reicht, d. h. bis zum 17. Tage.
Beobachtiing" ISO.
Aufdeckung beiderseits hinten auf 9 mm sagittal, 13 mm frontal. Vorderer
Rand der Lücke 23 mm vor der Lambdanaht, medialer Rand links 10 mm,
rechts 7 mm von der Mittellinie entfernt. Exstirpation der freiliegenden Rinde
0,,5 cm tief.
Motilitätsstörungen fehlen.
517
Sehstörung: Gegen Fleisch in der Schwebe: Am 2. Tage auf beiden
Augen reactionslos, am 3. Tage, nachdem er Fleisch erhalten hat, feiiit die
Reaction rechts oberhalb des Aeciuators gänzlich, vinicrlialb des Ao(|uators auf
Fiff. 276.
Fig. 277.
einem breiteren nasalen und einem schmaleren temporalen Streifen. Links
Reaction auf einem unteren nasalen Sector. Am 4. Tage reagirt er rechts auf
einem etwas kleineren, links auf einem etwas grösseren, ähnlich gelagerten
Felde. Am 5. Tage ist beiderseits die ganze mediale Hälfte und das mediale
Drittel des unteren äusseren Quadranten anscheinend symmetrisch aufgehellt.
Ob die Sehstörung im linken oberen äusseren Quadranten noch hochgradig ist,
erscheint fraglich. Am 10. Tage ist rechts, wenn überhaupt noch, dann nur
sehr wenig nachzuweisen, links besteht lateral oben noch eine schmale ambly-
^ 518 —
opische Zone; am 14, Tage beiderseits keine Störung mehr zu constatiren.
Gegen Licht ohne Reaction bis zum 5. Tage, von diesem Tage an alimählich
wiederkehrend.
Optische Reflexe: Fehlen bis zum 4. Tage, sind rechts vom 5., links
vom 8. Tage an gegen flache Hand, vom 17. Tage an beiderseits auch gegen
schmale Hand vorhanden.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet nach 31/2 Wochen.
Section: Häute normal. Linke Hemisphäre: Die ca. 13 mm sagittal,
15 mm frontal messende Narbe sitzt vornehmlich in der II., ebenso wie die T.,
rechts
Fig. 278.
gegabelten Urwindung, den medialen Schenkel dieser und fast ebenso den la-
teralen Schenkel der I. Urwindung einnehmend, in der Mitte 7 mm vom hin-
teren Rand und medial in der Mitte gleichfalls 7 mm von der Medianspalte
entfernt bleibend. Der vordere Rand bleibt ca. 2 mm von einer Senkrechten
Falx — hinterer Rand der IV. Urwindung entfernt. Rechte Hemisphäre: Die
ungefähr ebenso grosse Narbe sitzt symmetrisch. Die hinter der Narbe liegende
Hirnpartie erscheint nach der Narbe zu eingezogen. Durchschnitt links durch
die Mitte der Narbe: Ventrikel erweitert. Rinde unter der Operationsstelle
breit zerstört, die benachbarten Partien sind in den Defect hineingezogen, so-
dass der Querschnitt der Hemisphäre links etM^as flacher und schmäler erscheint
als rechts. Von der Narbe zieht ein feiner Erweichungsstreifen im Markweiss
nach medial, ausserdem erstreckt sich ein breiter Zapfen fast bis an die Wand
des Ventrikels. Die Narbe reicht bis zum Rindengrau des Sulcus calloso.-mar-
ginalis, sodass vom Markweiss nichts mehr übrig ist. Durchschnitt rechts
durch die Mitte der Narbe: Ventrikel erweitert. Unter der Narbe ist die Rinde^
völlig zerstört, der Defect durch derbes Narbengewebe. ersetzt. Der narbige,
theilweise blutig erweichte Zapfen erstreckt sich von der Kappe aus weit
— 519 —
medial-basalwärts bis an das Grau des Sulcus calloso-marf^inalis und Ms an
den Ventrikel, dessen Rand nach der Narbe ausgezogen ist.
Der grössere Theil der vorderen Hüfte der Sehsphäre mit Schonung
ihres vordersten und eines breiten medialen Streifens und die Stelle Ai
war beiderseits tief bis dicht an den Ventrikel reichend und das dorsale
Mark fast ganz vernichtend, ausgeschaltet worden. Vornehmlich der
untere Theil der Gesichtsfelder mit Ausnahme der untersten lateralsten
Ecke hätte rindenblind sein sollen. Thatsächlich war aber anfänglich nur
ein Theil der unteren Gesichtsfelder und zwar nicht ihrer lateralen Ecken
sehend geblieben. Vom 5. Tage an zeigte die Sehstörung den Charakter der
typischen Hemianopsie, so dass sie zuletzt nur noch lateral oben bestand.
Beobaclitung- 151.
Dem Hund war bei einer 1. Operation links, auf die sich die erste Serie
der Gesichtsfelder Fig. 279 bezieht, 4 Wochen vorher eine grössere Exstir-
pation, vornehmlich die vordere Hälfte, mit Ausschluss des Randwulstes, be-
treffend, gemacht worden. Aufdeckung rechts hinten auf 15 mm sagittal,
16 mm frontal. Die Knochenlücke ist mit ihrem hinteren Rande 15 mm von
der Mitte der Lambdanaht, mit ihrem medialen Rande 5 mm von der Mittel-
linie entfernt. Exstirpation der freiliegenden Rinde ca. ^4 cm tief.
Motilitätsstörungen fehlen.
Seh Störung: Auf dem Boden findet er Fleisch vor dem 20. Tage nicht
oder nur durch den Geruch, am 22. Tage schon besser, am 30. Tage ziemlich
bald, am 36. Tage sofort. In der Schwebe gegen Fleisch : Am 2. und 3. Tage
sieht er links auf einem unteren mittleren Sector, der beiderseits von einem
unsicher reagirenden Sector begrenzt wird; rechts bestellt an beiden Tagen in
der Mitte des Gesichtsfeldes eine sehende Zone, die nach oben vom Aequator
und nasal wie temporal von einem nicht sehenden Streifen begrenzt wird. Un-
verändert bis zum 12. Tage. An diesem Tage fehlt rechts noch die ganze
obere Hälfte des Gesichtsfeldes und ein lateraler, in den unteren Quadranten
hineinreichender Zipfel; links entspricht die blinde Stelle noch ungefähr der-
jenigen, auf der er am 3. Tage garnicht sah. Dann unverändert bis zum
19. Tage; an diesem Tage links auch noch unverändert, rechts besteht noch
eine annähernd ringförmige blinde Zone an der oberen Grenze des Gesichts-
feldes. Am 20. Tage ist links noch die ganze obere Hälfte des Gesichtsfeldes
blind, rechts besteht nur noch ein breiter lateraler Streifen im oberen Qua-
dranten. Am 22. Tage ist die Sehstörung rechts unverändert, links besteht
noch eine annähernd halbmondförmige Zone im oberen lateralen Quadranten,
die sich noch etwas in den medialen hineinerstreckt. Am 30. Tage besteht
rechts lateral oben noch ein amblyopischer Fleck, links noch ein schmaler
lateraler Streifen. Am 32. Tage rechts unverändert, links ist nichts Sicheres
mehr nachzuweisen, am 36. Tage Störung beiderseits verschwunden. Gegen
Licht: Indifferent bis zum 7. Tage, dann lebhaft reagirend, sobald das Licht
auf den sehenden Abschnitt fällt.
— 520 —
Optische Reflexe: Fehlen bis zum 36. Tage gänzlich, dann rechts
manchmal auf flache Hand vorhanden.
(Zu Beob. 151.)
Fig. 279.
Nasenlidreflex ungestört,
Getödtet nach 6 Wochen.
Section: Häute normal. Die 12 mm im Durchmesser grosse etwa runde
Narbe sitzt der Convexität so auf, dass der vordere Rand ungefähr bis an eine
Linie, die senkrecht von der Spitze der Fossa Sylvii nach der Falx gezogen
ist — genau symmetrisch wie links — reicht. Der hintere Rand bleibt etwa
16 mm vom hinteren Pol der Hemisphäre, der mediale 10 mm von der Median-
spalte entfernt. Die Narbe bedeckt damit die Stelle A^ nur in der lateralen
vorderen Partie und liegt sonst vornehmlich im vorderen Theil der Sehsphäre.
- 521 —
Durchschnitt durch die Mitte der Narbe: Die Rinde und das darunterliegende
Mark ist in der Ausdehnung der Narbe völlig zerstört und durch Narbengewebe
ersetzt, das blutig durchsetzt, sich breit medial-basal erstreckt und fast bis an
die Ventrikel wand reicht. Der Randwulst wird dadurch völlig von seiner Mark-
faserung abgetrennt. Vorderer Durchschnitt ca. 2 — 3 mm hinter dem vorderen
Rande der Narbe: Die unter der Narbe liegende Rinde der II. Urwindung ist
Fiff. 280.
links
rechts
Fig. 281.
theils narbig verändert, theils zerstört; sie quer durchtrennend geht ein Er-
weichungsstreifen basal-medialwärts und erfüllt fast das ganze Markweiss der
II. Urwindung. Ein zweiter feiner Erweichungsstreifen geht von der Narben-
kappe aus durch die hier narbig veränderte Rinde der III. Urwindung, in diese
hinein und zwar an der Grenze von Rinde und Markweiss entlang bis zur Tiefe
des einschneidenden Sulcus. Sagittalschnitte durch die Narbe zeigen, dass die
Zerstörung hinten soweit wie die Narbe, vorn nicht ganz soweit reicht.
— 522 —
Zerstört war der grössere Theil der vorderen Partie der Sehspliärd,
etwa ihr vorderes Drittel excl. des medialen Antheils, in die Augen-
region übergreifend, imd ein Stück der Stelle A^. Die Sehstörung des
linken Auges hätte demnach, da der Rest der Sehsphäre intact war,
ausschliesslich den unteren Theil des Gesichtsfeldes excl. der lateralen
Ecke betreffen dürfen; dieser hätte aber dauernd rindenblind sein
müssen. Thatsäclilich war aber bei einer übrigens sehr hoch-
gradigen Sehstörung dieses Auges gerade die untere Hälfte des Ge-
sichtsfeldes schon am 2. Tage theilweise frei und hellte sich dann
derart auf, dass am 20. Tage die ganze untere Hälfte functions-
tüchtig und die obere Hälfte blind war. Bemerkenswerth ist
das Wiederaufleben der Sehstörung auf dem rechten Auge, welches
zu einer mehr als einen Monat dauernden Sehstörung dieses Auges
führte.
Beobaclitiuig,' ISS.
Aufdeckung links 14 mm vor der Mitte der Lambdanaht, auf 18 mm
Quadrat. Medialer Rand ca. 3 mm von der Mittellinie entfernt. Exstirpation
mit dem Präparatenheber und der Schere im Centrum ca. ^/^ cm tief, an den
Rändern flacher, ferner Zerstörung der P\.inde noch ca. 2 mm unter dem late-
ralen Knochenrande.
Motilitätsstörungen: Läuft 2 Stunden nach der Operation bereits
umher, Volte mit grossem Radius nach links. Neigung zum Voltelaufen bis
zum 4. Tage.
In der Schwebe: Hängt beiderseits gleich; giebt am 2. Tage beim Be-
greifen die rechte Vorderpfote, Abschwächung der Reaction beim Begreifen am
3. und 4, Tage.
Sehstörung: Gegen Fleisch: am 2. Tage auf dem ganzen rechten Ge-
sichtsfelde amblyopisch, auf einem schmalen nasalen Streifen reagirt er häufig,
nicht immer, durch Hinsehen. Links ein schmaler, nicht genau abgrenzbarer,
nasaler amblyopischer Streifen. 3. Tag: rechts hat sich der nasale Streifen
etwas verbreitert, namentlich unten. Links Sehstörung anscheinend ver-
schwunden. Am 4. Tage hat sich der sehende Theil des Gesichtsfeldes nach
unten etwas vergrössert. Am 5. und 6. Tage weitere Abnahme der Sehstörung
von schwankender Intensität, dann. Sehstörung verschwunden. Gegen Licht:
Am 2. und 3. Tage fehlt rechts die links starke Reaction , vom 4. Tage an
Reaction auch rechts vorhanden, jedoch bei verbundenem linken Auge rechts
immer deutlich scwächer als links bis zum 21. Tage.
Optische Reflexe: Gänzlich fehlend bis zum 9. Tage, dann tage-
weise gegen flache Hand abgeschwächt vorhanden bis zum 18. Tage, vom
19. Tage gegen flache Hand gut, gegen schmale Hand fehlend.
Getödtet nach ca. 10 Wochen, nach einer 2. Operation. ' ■
Section: Häute normal. Die Auflaoeruns: ist vom hinteren Pol 14
— 528 —
bis 15 mm entfernt, von der Medianlinie 6 mm; misst sagittal^l4 mm, frontal
11 mm. Sie erstreckt sich medial auf den lateralen Thoil der i. Urwindung und
sitzt fast auf der ganzen II. Urwindung, vorderer Rand reicht bis an die vor-
(Zu Beob. 153.)
Fig. 282.
dere Grenze der Munk'schen Sehsphäre. Durchschnitt durch die Mitte der
Auflagerung: Die Zerstörung betrifft den ganzen von der Auflagerung be-
deckten Theil und erstreckt sich mit einem breiten Zipfel bis nahe an den dor-
salen Rand des Seiten Ventrikels, lateral geht eine Erweichungshöhle bis dicht
an den Rand der II. Urwindung.
Da die vordere Partie der linken Sehsphäre mit Ausnahme ihrer
lateralen und medialen Partie ausgeschaltet war, so hätte die Seh-
störung auf dem rechten Auge die untere Hälfte des Gesichtsfeldes
mit Ausnahme seiner lateralsten Partie betreffen sollen, während das
linke Auge freibleiben sollte. Letzteres traf allerdings annähernd zu,
obwohl die Erweichung bis in das lateralste Drittel der Sehsphäre
vorgedrungen war, dagegen verhielt sich die Sehstörung des recliten
524 —
Fis:. 283.
links
rechts
Fig-. 284.
Auges gerade umgekehrt. Nicht die untere, sondern die obere Hälfte
und nicht die mediale, sondern die laterale Partie war vornehmlich
afficirt,
Beobaclituiig' lö3.
Derselbe Hund von Beobachtung 152 (vergi. dort die Figuren). Auf-
decltung rechts 15 mm vor der Mitte der Lambdanaht auf 18 mm sagittal,
16 mm frontal. Medialer Rand der Lücke ca. 3 mm von der Mittellinie ent-
fernt. Exstirpation der Rinde ^4 cm tief. Zerquetschung und Hervorholung
der Rinde ca. 2 mm unterhalb des lateralen und medialen Knochenrandes.
— 525 —
Wunde am 4. Tage geschwellt und druckempfindlich, dann nicht mehr
druckempfindlich, aber geschwellt, sodass am 5. und i). Tage eine massige
Menge blutig seröser Flüssigkeit entleert wird. Wunde wieder durch Jodoform-
collodium geschlossen.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage in der Schwebe links bis auf
einen schmalen nasalen Fleck unten, rechts besteht nasal ein ziemlich breiter,
lateral und oben ein schmaler Streifen, der mit dem nasalen zusammenläuft.
Auf der Erde findet er am 2. und 3. Tage vorgeworfene Fleischstücke erst nach
längerer Zeit und zwar erst dann, wenn sie vor das rechte Auge zu liegen
Fiff. 285.
kommen. 3. und 4. Tag: in der Schwebe links unverändert, rechts besteht
noch oben lateral und nasal ein Streifen, der aber nicht in der Mitte zusammen-
läuft. Am 4. Tage läuft er am Boden nur langsam umher, stösst wiederholt
mit dem Kopfe an; findet bei verbundenem rechten Auge vorgeworfenes Fleisch
nicht, schnappt nach vorgehaltenem Fleisch nicht. Ist das rechte Auge nicht
verbunden, findet er das Fleisch, aber nicht sofort. 5. Tag: In der Schwebe
links sieht der untere nasale Quadrant, rechts besteht oben temporal eine Seh-
störung, die nicht genauer abgrenzbar ist, da der von anderer Seite gefütterte
Hund nicht scharf aufpasst. Auf dem Boden findet er bei verbundenem linken
Auge vorgeworfenes Fleisch, wenn auch nicht sofort, desgleichen vorgehaltenes
Fleisch, wenn es unter die Horizontale kommt; mit dem linken Auge sieht er
es, wenn man in den Bereich der sehenden nasalen Zone damit gelangt.
8. Tag: In der Schwebe reagirt der Hund, wie immer in den letzten Tagen,
entschieden träge. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass er oftmals die
ihm vorgehaltenen Stückchen Fleisch, nach denen er nicht schnappt, sieht, da er
oft unter ganz gleichen Umständen danach schnappt. Immer reagirt er auffällig
— 526 —
langsam. Im Uebiigen erscheint rechts der temporale obere Quadrant ambly-
opisch, das Scotom reicht noch etwas über die Mitte hinaus. Links hat sich
°die sehende Zone erweitert, sodass er in einer nasalen Zone, die noch nicht
bis zur Mitte reicht, oben und unten sieht. Auf dem Boden verhält er sich wie
am 4. Tage. 12. Tag: Die Sehstörung rechts betrifft nur noch einen kleinen
Kreisabschnitt im oberen lateralen Quadranten, sonst keine Aenderung. 13. Tag:
Rechts keine Sehstörung mehr, links nur noch im oberen Gesichtsfeld ein am-
blyopischer Sector. 19. Tag: Links nur noch oben lateral ein kleiner ambly-
opischcr Kreisabschnitt. 26. Tag: Sehstörung verschwunden. Gegen Licht:
In den ersten Tagen sehr indifferent, am 5. Tage unruhig, links in der sehenden
Zone, rechts im ganzen Gesichtsfelde. Vom 8. Tage an beiderseits unruhig.
Optische Reflexe: Fehlen bis zum 13. Tage beiderseits gänzlich, dann
links zuweilen auf flache Hand vorhanden.
Getödtet nach ca. 7 Wochen.
Section: Häute normal. Die Auflagerung ist vom hinteren Pol 10 mm,
von der Medianlinie 8,5 mm entfernt. Sagittaler Durchmesser 15 mm, frontaler
14 mm. Die Narbe sitzt auf der IL Urwindung, reicht medial etwas in die
I. Urwindung, lateral noch etwas in die III. Urwindung, vorn reicht sie bis
zur vorderen Grenze der M unk 'sehen Sehsphäre, ein Zipfel noch weiter nach
vorn. Durchschnitt durch die Mitte der Auflagerung: Alles unter der Auf-
lagerung liegende ist gänzlich zerstört. Die Zerstörung reicht noch etwas
weiter über die II. Urwindung hinaus in die III. hinein. Von ihr geht eine sich
gabelförmig theilende Erweichungshöhle aus in die weisse Substanz hinein, bis
oberhalb der dorsalen Spitze des Seitenventrikels.
Zerstört waren die vordere Hälfte der Sehsphäre mit Ausnahme
ihres medialen Theiles und die Stelle A^. Demnach hätten dauernd
rindenblind sein müssen die untere Hälfte des linken Gesichtsfeldes mit
Ausnahme der lateralen Ecke und die Stelle des deutlichen Sehens.
Thatsächlich war die untere Hälfte des linken Gesichtsfeldes von An-
fang an ara wenigsten betroffen, bereits am 5. Tage zur Hälfte und am
13. Tage gänzlich frei, während die letzten Spuren der Sehstörung auf
der oberen Hälfte erst am 26. Tage gänzlich verschwunden waren. Die
Stelle des deutlichen Sehens war bereits am 8. Tage frei.
JE?eol>a-chtviiig' 1S»4,
Einem Hunde war bei einer 1. Operation links, zu der die 1. Serie der
Gesichtsfelder gehört, ca. 7 Wochen vorher, eine grössere Exstirpation, den
vorderen Theil der Stelle A^^ und ein nach vorn angrenzendes Gebiet betreffend,
gemacht worden. Eine typische Hemianopsie war die Folge gewesen. Auf-
.deckung rechts hinten auf 10,5mm sagittal, 15mm frontal. Der mediale Rand
bleibt 7 mm von der Mittellinie, der hintere Rand 16 mm von der Lambdanaht
entfernt. Exstirpation der freiliegenden Rinde ca. Y2 ^™ ^'^^j Schonung des
Rand Wulstes.
Motilitätsstörungen fehlen.
— 527
Sehstörung: Gegen Fleisch: Am 2. Tage nicht zu iintcr.siiciien.
Hechts: Am 3. Tage nasal oben ein: unsicherer Heck, der später nicht mein-
nachzuweisen ist. Links: Am 3. und 4. Tage die obere lläll'te des Gosiclits-
l'eldes mit Ausnahme eines nasalen Streifens reactionslos; am3.Tage aucli unter-
halb des Aequators ein schmaler lateraler Streifen von zweifelhafter Ivcaction.
(zu Beob. 1540
Fig. 286.
Vom 5. — 7. Tage beschränkt sich die Sehstörung auf den oberen lateralen Qua-
dranten, an letzterem Tage reagirt er auf dem Schoosse schon weit aussen;
am 8. Tage fehlt die Reaction in der Schwebe nur noch auf der lateralen
Hälfte des oberen lateralen Quadranten gänzlich, über der medialen Hälfte ist
sie unsicher. Am 9. Tage besteht noch oben aussen ein amblyopischer Fleck,
am 10. Tage reagirt er schon weit aussen, aber offenbar etwas unsicher; er
fixirt zwar sofort, schnappt aber erst nach einigen Secunden zu. Am 13. Tage
ist die Sehstörung verschwunden. Alle späteren Sehprüfungen,, auch die mit
dem „Stossversuch" ergaben niemals eine Sehstörung. Auf dem Boden findet
der Hund am' 5. Tage Fleisch vielleicht nicht mit ganz normaler Sicherheit,
an demselben Tage schnappt der hastig und gierig zugreifende Hund in der
— 528 —
Schwebe zuerst auch nach Kork, den er kaut; nachdem er sich mehrmals ge-
täuscht, thut er es nur noch, wenn man ihm dazwischen Fleisch gereicht hat.
Kork, Watte und Fleisch zwischen einander auf den Boden gestreut, werden in
Fig. 287.
links
rechts
Fiff. 288.
gleicher Weise beschnuppert und gelegentlich beim hastigen Fressen auch
Korkstücke mitverschluckt. Gegen Licht ist der Hund sehr empfindlich, so
dass sich die gegen Fleisch vorhandene Sehstörung, aber nur bei äusserster
Vorsicht, auch gegen Licht abgrenzen lässt.
Optische Reflexe: Fehlen links gänzlich bis zum 4. Tage; vom
5. an allmählich wiederkehrend, vom 8. Tage an gegen flache Hand beiderseits
— 529 —
gleich, auch gegen schmale ITand vorhamlen und spalcr nui' gelfgfDlIich ein-
mal schwächer als rechts.
N as e n 1 i d r e fl e X ungestört.
Getödtet nach ca. 4 Wochen.
Sectio n: Häute normal. Die sagittal 7,5 mm, Irontal II mm messende
Narbe sitzt der lateralen Hälfte der 11. und der medialen Hälfte der IJI. Ur-
liüks I ■ ,S rechts
Fig. 289.
Windung auf; sie bleibt mit ihrem medialen Rande 12 mm von der Mittellinie,
mit ihrem hinteren Rande in der Mitte 1'6 mm vom hinteren Pol entfernt. Ihr
vorderer R,and schneidet genau mit einer Senkrechten Falx — hinterer Rand der
IV. Urwindung ab. 1. Durchschnitt etwas vor der Mitte der Narbe: Die Zer-
störung betrifft die laterale Hälfte der II. und die mediale Hälfte der III. Ur-
windung; die Narbe reicht ziemlich weit in die Tiefe. Der Ventrikel ist aus-
gezogen. 2. Durchschnitt durch die vordere Grenze der Narbe zeigt, dass an
dieser Stelle die Zerstörung erheblich weiter in die Tiefe reicht, so dass fast
die Spitze des Ventrikels erreicht wird. 3. Durchschnitt 2 mm vor der vor-
deren Grenze der Narbe: Der Schnitt schneidet die IV. Urwindung an; keine
Veränderungen mehr.
Reichlich die laterale Hälfte von etwa der vorderen Hälfte der
Sehsphäre war ausgeschaltet worden. Rindenblind hätte sein sollen
auf dem linken Auge die mediale Partie der unteren Hälfte des zu-
gehörigen Gesichtsfeldes, auf dem rechten Auge die untere Partie des
medialen Streifens. Thatsächlich war nicht nur nichts rindenblind,
sondern die Sehstörung war auch gerade umgekehrt localisirt, sodass
sie auf dem linken Auge die obere Hälfte des Gesichtsfeldes und
zwar vornehmlich deren lateralen Quadraten und auf dem rechten,
überhaupt kaum nennenswerth betroffenen Auge den obersten Abschnitt
des medialen Streifens einnahm.
Hitzig, Gesammelte Abhandl. 11. Theil. 34
- 530
Beol>aclitiiiigr ISS.
Einem Hunde war bei einer 1. Operation links, zu der die 1. Serie der
Gesichtsfelder gehört, ca. 3 Wochen vorher ungefähr die vordere Hälfte der
Sehsphäre exstirpift vporden. Eine schnell ablaufende, mehr den oberen late-
ralen Quadranten betreffende Hemianopsie war die Folge gewesen. Aufdeckung
rechts hinten auf 10,5 mm sagittal, 15,5mm frontal. Medialer Rand der Lücke
6 mm von der Medianlinie, hintei-er Rand ca. 16 mm von der Lambdanaht ent-
fernt. Umschneidung der Rinde 7 mm tief mit dem Messer, Heraushebung mit
dem Präparatenheber.
'<? (zu Beob. 155.)
Fig. 290.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: Rechts am 2. Tage nichts Sicheres. Am
3. Tage temporal oben ein Scotom, von dem nicht sicher ist, ob es die tem-
porale Grenze erreicht, ausserdem ein deutlicher medialer Streifen, am 4. Tage
temporaler oberer Sector und medialer Streifen deutlich. Vom 5. — 7. Tage nur
noch medialer oberer Fleck deutlich, am 8. Tage undeutlich amblyopisch,
— 531 —
dann verschwunden. Links: Am 2. Tage oberhalb des Aoquators starke Seli-
störung, nicht sicher, wie weit medial gehend; unterhalb schmaler blinder
Streifen. Auf dem Boden findet er Fleisch bei verbundenem rechten Auge'gut,
wenn es medial vor seinem Cjesichtsfelde liegt, sonst nicht. .3. Tag: Die nicht
sehende Partie ist grösser geworden, so dass sie nur einen unteren nasalen
Fio-. 291.
links
rechts
Fiff. 292.
Sector freilässt. Auf dem Boden findet der Hund Fleisch nur entsprechend
diesem Sector. Am 4. Tage hat sich die sehende Partie etwas vergrössert.
Am 5. Tage ist nur noch die ganze obere Hälfte des Gesichtsfeldes blind und
noch unterhalb des Aequators lateral ein blinder Streifen. Auf dem Boden
findet er Fleisch tadellos schnell und sicher. Am 7. Tage ist unterhalb des
Aequators keinerlei Sehstörung mehr nachzuweisen, dagegen besteht oberhalb
— 532 —
überall zum mindesten eine starke Unsicherheit. Gelegentlich fixirt der Hund
hier schon überall, vielfach kann man aber auch das Fleisch hin und her be-
wegen, ohne dass er zuschnappt, was stets geschieht, wenn man unterhalb des
Aequators geht. In den mittleren Partien scheint der Ausfall noch stärker zu
sein. Am 8. Tage im Wesentlichen unverändert, gänzlicher Ausfall der Reac-
tion nur lateral oben. Auf dem Boden liegendes Fleisch findet er sehr gut,
dagegen entspricht die Reaction gegen Fleisch, das von hinten und oben her
dem auf dem Boden stehenden Hund in das Gesichtsfeld eingeführt wird der
anderweitigen Reaction dieser Partie. Vom 9. — 17. Tage ein oberer lateraler
blinder Fleck, der am 18. Tage auch verschwunden ist. Gegen Licht: Genau
entsprechend der Sehstörung gegen Fleisch.
Optische Reflexe: Links bis zum 7. Tage gänzlich fehlend, vom
8. Tage an gegen flache Hand wiederkehrend, am 14. Tage gegen flache Hand
beiderseits gleich, gegen schmale Hand bis zum Schluss der Beobachtung
fehlend, übrigens auch rechts nur wechselnd und schwach vorhanden.
Nasenlidreflex ungestört.
Getödtet nach 19 Tagen.
Section: Häute normal. Die Auflagerung sitzt in der IL Urwindung
und schneidet noch ein Stück des Bogens der III. Urwindung ab, medial reicht
sie gerade bis an den Rand der I. Urwindung. Der vordere Rand der Narbe
schneidet eine Senkrechte Falx — Mitte des hinteren Schenkels der IV. Urwin-
dung. Sie misst frontal 12,5 mm, sagittal 10 mm, medial verjüngt sie sich
etwas. Mit ihrem medialen Rande bleibt sie 6 mm von der Medianlinie, mit
ihrem hinteren Rande lateral 12 mm, medial 11 mm vom hinteren Pol ent-
fernt. Dieser ist zwischen beiden Punkten etwas eingezogen. 1. Durchschnitt
durch das vordere Viertel der Narbe: An der Rinde ist nur eine Abblassung
zu bemerken, dagegen befindet sich in der III. Urwindung im tiefen Markweiss
fast bis an den Ventrikel reichend ein grosser Erweichungsherd. 2. Durch-
schnitt etwas hinter der Mitte der Narbe: Das Grau der I. Urwindung ist
abgeblasst. Die Rinde der IL und der mediale Theil der III. Urwindung ist
zerstört bis auf das Grau. des zwischen IL und III. Urwindung einschneidenden
Sulcus. Von den oberflächlichen Zerstörungen gehen Erweichungsherde basal-
wärts, das stehengebliebene Grau des erwähnten Sulcus, welches sich wahr-
scheinlich von vorn her in die Lücke hineingeschoben hat, völlig um-
schliessend.
Zerstört war etwas mehr als die vordere Hälfte der Sehsphäre,
ausschliesslich des Randwulstes. Rindenbliud hätte sein solleu auf dem
linken Auge die mediale Partie der unteren Hälfte des zugehörigen
Gesichtsfeldes auf dem rechten Auge die untere Partie des medialen
Streifens. Thatsächlich verhielt sich die Sehstörung genau umgekehrt.
Schon in den ersten 4 Tagen zeigte die mediale Partie des linken
Auges keine oder weniger erhebliche Sehstörungen, während der ganze
Rest des Gesichtsfeldes blind war; vom 7. Tage an localisirte sich
die Sehstörimg ausschliesslich im oberen Tliell des Gesichtsfeldes und
— 583
scliliesslich vornehmlicli in dessen lateralem Sector. Auch auf dem
rechten Auge war vornehmlich der oberemediale Abschnitt betrofl'en.
Bemerkenswerth ist das Wiederaufleben der von (l(;r I. Operation hei--
rührenden Sehstörung auf beiden Augen.
Oral(
Tabelle IX b.
Läsionen. Atypische.
m
^
Art der
Operation
Ort der Operation
(Section)
S e h s t ö r u n p-
geg-en Fleisch
Licht
Optische
Reflexe
Nasen-
lid-
reflex
Bemer-
kungen
141
142
141
Exstirpa-
tion ca. ^4
cm tief.
Exstirpa-
tion ca. 2/4
cm tief.
Exstirpa-
tion ca. 1
cm tief.
Rechts. Etwa vorde-
res Drittel der Seh-
sphäre excl. des la-
teralsten Streifens ;
sagittal 9 mm, fron-
tal 12 mm.
Rechts. Etwas mehr
als etwa das vordere
Drittel d. Sehsphäre;
sagittal 8,5 mm, fron-
tal 17 mm.
Fehlt.
Rechts. Etwa vorde-
res Drittel der Seh-
sphäre; sagittal 9
mm, frontal 18 mm.
Typische und typisch
verlaufende Hemi-
anopsie. Dauer 8
Tage. Amblyopie
noch auf sehenden
Partien nachweisbar.
Fehlt.
Am 2. Tage
total, dann
im Allge-
meinen wie
gegen
Fleisch.
Links : Bis zum 4.
Tage obere Hälfte
des Gesichtsfeldes
und unterer latera-
ler Streifen, vom 5
Tage an nur noch
oberer lateraler
Kreisabschnitt.
Rechts: Wiederauf-
leben der von der
1. Operation herrüh-
renden Sehstörung
in einem lateralen
Streifen, vornehm-
lich unterhalb des
Aequators.
Unerheb-
lich.
Fehlen nur
am 2. Tage,
gegen
flache
Hand be-
reits am 3.,
gegen
schmale
Hand am
T.Tage vor-
handen.
Anfangs
ganz feh-
lend, vom
20. Tage
an und
später
stark abge-
schwächt
vorhanden;
rechts dau-
ernd feh
lend.
Am 2. Tage
fehlend,
dann bis
zum 18.
Tage abge-
schwächt,
an diesem
Tage nor
mal.
Am 2.Tag
abge-
schwächt.
Motilitäts-
störungen
am 2.Tae;c.
Am 2.Tag
abge-
schwächt
Unge-
stöi-t.
Leichte
Motilitäts-
störungen
bis zum
8. Tage.
Vom
6. Tage an
Corneal-
trübuno;.
534
o
Seh Störung
Nasen-
CO
Art der
Ort der Operation
Optische
lid-
Bemer-
Operation
(.Section)
gegen Fleisch
gegen
Licht
Reflexe
reflex
kungen
144
Exstirpa-
Rechts. Vordere
Typische Hemianop-
Wie gegen
Fehlen bei-
Unge-
. .
tiou 2 — 3
Hälfte der Sehsphäre
sie bis zum 4. Tage,
Fleisch.
derseits
stört.
mm tief.
und ein Theil der
Stelle Ai; sagittal 12
mm, frontal 23 mm.
Hemiamblyopie am
5. Tage, oberer late-
raler Streifen am-
blyopisch am 6. Tage.
gänzlich.
145
Exstirpa-
Links. Vordere Hälfte
Dauernde typische
Im Allge-
Fehlen.
Anfäng-
—
tion ca. 3
der Sehsphäre; sa-
Hemianopsie.
meinen wie
lich ab-
mm tief.
gittal 8 — 12 mm,
frontal 20 mm. Se-
cundäre Betheiligung
der hinteren Hälfte.
gegen
Fleisch.
ge-
schwächt.
146
Exstirpa-
. Rechts. Vordere
Typisch ablaufende
Wie gegen
Fehlen bis
Unge-
.—
tion ca. 3
Hälfte der Seh-
Hemianopsie, derart.
Fleisch.
zum 11.
stört.
mm tief.
sphäre; sagittal 10
bis 12 mm, frontal
23 mm. Massige se-
cundäre Betheiligung
der hinteren Hälfte.
dass die untere Hälfte
des Gesichtsfeldes
sich zuerst wieder
erholte.
Tage incL,
dann an-
deutungs-
weise vor-
handen.
147
Exstirpa-
Links. Vordere Hälfte
Hemianop)sie mit
Wie gegen
Fehlen bis
Abge-
Nasaler
tion ca. 2
der Sehsphäre; sa-
schnellerer Aufhel-
Fleisch.
incl.e.Tag,
schwächt
Streifen
mm tief.
gittal 10—12 mm,
lung der unteren
dann an-
bis zum
links an-
frontal 23 mm. Se-
Gesichtsfeldhälfte
deutungs -
8. Tage.
fänglich
cundäre Betheili-
ablaufend.
weise vor-
etwas
gung der Stelle Aj
handen.
breiter als
und der hinteren
gewöhn 1.
Hälfte.
148
Exstirpa-
Rechts. Vordere
Links: Blindheit, bzw.
Fehlt auf
Fehlen
—
Wieder-
tion ca. 2
Hälfte der Sehsphäre;
Amblyopie des gan-
dem gan-
links.
aufleben
bis 3 mm
sagittal 12 mm, fron-
zen Gesichtsfeldes
zen Ge-
rechts an-
der von der
tief.
tal 25 mm. Secun-
bis zum 8. Tage;
sichtsfeld.
gedeutet
1. Operat.
däre Betheiligung
dann typisch ablau-
vorhanden.
herrühren-
der Stelle A, und
fende Hemianopsie,
den Seh-
der hinteren Hälfte.
jedoch so, dass die
ganze obere Hälfte
dss Gesichtsfeldes
erheblich stärker u.
länger betroffen war
als die untere.
störung auf
beiden
Augen.
Differentc
Reaction
gegen
Fleisch
und Licht.
149
Exstirpa-
Links. Vordere Hälfte
Typische Hemianop-
Wie gegen
Fehlen
Unge-
Dauernde
tion ca. 3
der Sehsphäre; sa-
sie bis zum 17. Tage.
Fleisch.
gänzlich.
stört.
Hemi-
mm tief.
gittal 9—12 mm,
frontal 22 nun.
(Schluss der Beob.)
anopsie.
— 535 —
O
Schstörung
1
A U,s( "U-
pq
Art der
Ort der Operation
Optische
\](\-
Bemer-
d
Operation
(Section)
gegen Fleisch
gegen
Licht
Reflexe
1 l'.l-
rcllex
kungen
150
Exstirpa-
Beiderseits. Theil der
Bis zum 4. Tage nur
Total bis
Fehlen
Unge-
tion ca. V2
vorderen Hälfte der
den mittleren Theil
zum 5.
rechts bis
stört.
cm tief.
Sehsphäre und Stelle
beider Gesichtsfelder
Tage, dann
zum 5.,
Aj ; sagittal 1 3 mm,
freilassend, dann bei-
Reaction
links bis
frontal 15 mm.
derseits in Gestalt
typischer Hemian-
opsie verschwindend.
allmählich
wieder-
kehrend.
zum 8.
Tage, dann
abge-
schwächt
bis zum
17. Tage.
151
Exstirpa-
Rechts. Etwa vorde-
Vornehmlich, vom 20.
Vom 7.
Fehlen
Unge-
Anfänglich
tion ca. 3/4
res Drittel der Seh-
Tage an ausschliess-
Tage an
dauernd.
stört. .
amblyo-
cm tief.
sphäre, exclus. des
lich, im oberen Theil
wie gegen
pische
Randwulstes ; sagit-
des Gesichtsfeldes.
Fleisch.
Randzone.
tal 12 mm, frontal
Wieder-
12 mm.
aufleben
der rechts-
seitigen
Sehstörung
152
Exstirpa-
Links. Vordere Hälfte
Hemianopisch mit ty-
Am 2. und
Bis zum
—
Volte-
tion ca. ^/^
der Sehsphäre mit
pischem Ablauf,
3. Tage
9. Tage
laufen.
cm tief.
Ausnahme ihrer me-
dialsten und late-
ralsten Partie ; sa-
gittal 14 mm, fron-
11 mm.
Dauer 20 Tage.
vollstän-
dig, dann
Abschwä-
chung der
Reaction
bis incl.
20. Tag.
gänzlich
fehlend,
dann abge-
schwächt
bis zum
Schluss d.
Beobacht.
153
Exstirpa-
Rechts. Vordere Par-
Links: Im Allgemei-
Vom 5.— 7.! Fehlen
—
Wieder-
tion ca. 2/4
tie der Sehsphäre,
nen hemianopisch.
Tage incl.
12 Tage
aufleben
cm tief.
medial nicht voll-
doch ist der obere
wie gegen
beiderseits
der rechts-
ständig, und Stelle
Theil des Gesichts-
Fleisch,
gänzlich.
seitigen
Ai; sagittal 15 mm.
feldes stärker als
dann ver-
dann links
Sehstö-
frontal 14 mm.
gewöhnlich betroffen.
Dauer 25 Tage.
Rechts: Nasaler Strei-
schwun-
den.
abge-
schwächt.
rung.
fen von nur 4tägigei
Dauer, dagegen theil-
weises Wiederaufleben der alten Seh-
•
störung von 12tägig
er Dauer.
154
Exstirpa-
Rechts. Laterale
Links: Bis zum 4.
Wie gegen
Fehlen bis
Unge-
—
tioD ca. 1/2
Hälfte etwa der vor-
Tage obere Hälfte
Fleisch.
zum
stört.
cm tief.
deren Partie der Seh-
sphäre; sagittal 7,5
mm, frontal 11 mm.
des Gesichtsfeldes,
vom 5. — 12. Tage
oberer lateraler Qua-
drant , allmählich
verschwindend.
4. Tage, bis
zum S.Tage
abge-
schwächt.
Rechts: Nur am 3.
1
Tage spurenweise.
1
— 536 -
-
o
ü
Sehstörung
Nasen-
m
Art der
Art der Operation
Optische
lid-
Bemer-
6
Operation
(Section)
gegen Fleisch
gegen
Licht
Reflexe
IJIU.
reflex
kungen
155
Exstirpa-
Rechts. Etwas mehr|Links: Vornehmlich
Wie gegen
Fehlen bis
Unge-
Wieder- '
tion ca. 7
als die vordere Hälfte
die obere Gesichts-
Fleisch.
zum
stört.
aufleben
mm tief.
der Sehsphäre excl.
feldhälfte, vom 2.
7. Tage,
der von der
1
Randwulst; sagittal
bis &. Tage auch
abge-
1. Operat.
10 mm. frontal 12,5
noch kleinere oder
schwächt
herrühren-
,
mm.
grössere laterale Ab-
schnitte der unteren
min-
destens bis
den Seh-
störung auf
Hälfte. Dauer 17
zum
beiden
Tage.
14. Tage.
Augen ;
Rechts: Gleichfalls
unsichere
Yornehmlich in der
Zonen.
oberen Partie.
Verschlim-
merung
rechts am
3. u. 4. Tag.
Zusammenfassung.
1. Sehstörungen (aa. Reaction gegen Fleisch). Zunächst
interessirt wieder die Frage, ob alle diese Thiere oder einzelne
von ihnen partiell rindenblind wurden und ob diese Blind-
heit die untere Hälfte des betreffenden Gesichtsfeldes ganz
oder theilweise einnahm.
Bei 4 von diesen Versuchen (Beobb. 138, 145, 148 und 149) war
die Sehstörung bei Schluss der Beobachtung nicht abgelaufen. Indessen
kommt die Beob. 138 deshalb nicht in Betracht, weil der Hund vom
13. Tage an wegen Cornealtrübung nicht weiter beobachtet werden
konnte und am 19. Tage bereits verstarb. Diese Beobachtung habe ich
den typischen zugezählt, weil das Scotom am 12. Tage, nachdem an-
fänglich eine typische Hemianopsie bestanden hatte, vornehmlich, wenn
auch nicht ausschliesslich, den unteren lateralen Quadranten des gegen-
seitigen Auges eingenommen hatte. Zu den Rindenblinden kann der
Fall aber deshalb nicht gerechnet werden, weil das restliche Scotom
sich nach dem ganzen Verlauf bestimmt in kurzer Zeit verloren hätte.
Ebenso wenig kann die Beob. 148, die zu den atypischen gehört, hier-
her gerechnet werden, denn dieser Hund musste aus äusseren Gründen
getödtet werden, bevor die restliche Amblyopie — nicht Blindheit —
aus dem oberen lateralen Theil des Gesichtsfeldes gänzlich verschwunden
war, was aller Wahrscheinlichkeit nach noch geschehen wäre.
Dagegen bestand eine dauernde Blindheit des einen Auges that-
sächlich in den Beobb. 145 und 149. In dem ersteren Falle blieb das
— 537 —
Scotom vom 3. — ft2. Tage voUkonimeii unv(M-:iiHlcrl', in (l(;iii 2. I'';illc
blieb es vom 3. — 18. Tage uiivenindcrt, an \v<!lcliem Tage ihn- llinid.
ohne vorher krank gewesen zu sein, starb. In beitkin Fällen k;nni inii
Sicherheit angenommen werden, dass die Blindheit eine (hiucrndc war,
denn in denjenigen Fällen, in denen sie sich überhaupt verliert, tritt
eine mehr minder erhebliche Abnahme in dem Umfange des Scotoms
zwischen dem 3. und 18. Tage immer ein. "Von Interesse ist, dass das
Scotom in beiden Fällen den Charakter einer typischen homonymen
Hemianopsie an sich trug. Bei der Beob. 145 verlief das Scotom des
medialen Streifens der zuerst operirten Seite in eigenthümiicher Weise,
worauf wir noch zurückkommen.
Fragen wir, was diese beiden Beobachtungen in anatomischer Be-
ziehung Besonderes und Eigenthümlicbes haben, so ergiebt sich, dass
in beiden Fällen das dorsale Mark bis zur Höhe des Seitenventrikels
ganz oder fast ganz fehlte, während bei der Beob. 145 der bei der
Beob. 149 stark geschädigte Randwulst möglicherweise weniger ge-
schädigt war. Indessen muss doch gleich gesagt werden, dass ähnliche
Zerstörungen des dorsalen Marklagers auch ohne den gleichen Erfolg
für das Sehvermögen zur Beobachtung kamen.
Die Configuration des Scotoms entsprach also in keinem
dieser beiden Fälle der Forderung Munk's.
Andererseits kam ein Fall zur Beobachtung (Beob. 141), bei dem
Partialexstirpation dieses Gebietes gär keine Sehstörung zur Folge hatte.
Die nächste Frage ist, ob das Scotom in den übrig blei-
benden 20 Fällen thatsächlich wenigstens vorübergehend,
die untere Hälfte des Gesichtsfeldes oder einen Theil der-
selben einnahm. Dies traf nur in 8 von diesen Beobachtungen zu.
Hierzu kommt noch die Beob. 75 (atypische centrale Läsion), womit
die Gesammtzahl aller von mir beobachteten Scotome dieser Art er-
schöpft ist.
Bei 6 von diesen Beobachtungen war der Verlauf derart, dass das
Scotom in der ersten Zeit (12, 4, 3, 11, 17 und 3 Tage) wie eine
typische Hemianopsie aussah und die Sehstörung sich erst dann ledig-
lich in der unteren Hälfte des Gesichtsfeldes localisirte, ähnlich wie wir
das in umgekehrter Weise bei einzelnen caudalen Operationen gesehen
haben. In einem Falle (Beob. 140) war sogar der mediale Abschnitt
der unteren Hälfte des Gesichtsfeldes am 4. und 5. Tage bereits frei
gewesen, um sodann am 6. und 7. Tage gänzlich verdunkelt zu
erscheinen, bis das Scotom des 8. Tages wieder demjenigen des
4. Tages glich.
Bei den Beobb. 135 und 136 trat die stärkere ßetheiligung der
— 538 —
unteren Gesichtsfeldhälfte sofort bei Beginn der Beobachtung am 2.
bezw. am 3. Tage in die Erscheinung.
In allen Fällen, gleichviel wie sie sonst beschaffen waren, zog sich
das Scotom von innen nach aussen derart zurück, dass schliesslich nur
noch ein unterer lateraler Kreisabschnitt als verdunkelt zu erkennen war.
Bemerkenswerth ist Folgendes: Von den 8 typischen Beobachtungen
haben 5 das mit einander gemein, dass sie eine von 2 an je einem der
beiden Occipitallappen ausgeführten Operationen ausmachen. Bei 4 von
diesen (Beobb. 133 — 136) betraf nun das operative Resultat der 1. Ope-
ration die untere Hälfte des Gesichtsfeldes, sodass sie zu den Typischen
zu rechnen waren, während das operative Resultat der 2. Operation
umgekehrt die untere Hälfte des Gesichtsfeldes nicht oder nicht vor-
wiegend betraf, sodass sie zu den Atypischen zu rechnen waren, nur
in einem Falle (Beobb. 139, 140) war das operative Resultat auch der
2. Beobachtung und zwar in weit höherem Grade als bei der 1. Opera-
tion von gleicher Art. Vergleicht man diese operativen Erfolge mit
der Localisation der durch die Operation gesetzten Läsionen, so ergiebt
sich zunächst, was die beiden zuletzt angeführten Beobachtungen an-
geht, dass die Läsionen ungeachtet der ungewöhnlichen Gleichförmig-
keit der Scotome bei der Beob. 140 keineswegs symmetrisch sassen,
sondern dass die Läsion der Beob. 139 sich nach vorn annähernd bis
an die vordere Grenze der Augenregion erstreckte und auch nach hinten
secundär noch einen Theil der caudalen Hälfte der Sehsphäre mit in
ihren Bereich gezogen hatte, während die Läsion der Beob. 140 die
Augenregion mindestens grösstentheils frei Hess. In beiden Fällen be-
stand übrigens eine sehr hochgradige, fast maximale Zerstörung des
dorsalen Marklagers. Umgekehrt finden wir bei den Beobb. 133 und
144 bei ganz verschiedenem operativem Erfolg eine so grosse Symmetrie
der Läsion, wie sie überhaupt zu erreichen ist und bei den Beobb. 134/142,
135/141 und 136/143 wenigstens eine annähernde Symmetrie in dem
hauptsächlich in Betracht kommenden Areal.
So hat es wider Erwarten den Anschein, als ob die Aus-
führung einer symmetrischen Operation den Ausfall der sym-
metrischen Gesichtsfeldpartie nicht begünstigte, sondern
eher verhinderte.
Vergleichen wir sodann die atypischen Beobachtungen
mit Bezug auf die Localisation der Läsion einerseits und
der Sehstörung andererseits mit den typischen Beobachtun-
gen, so begegnen wir gleichfalls keineswegs irgend einer
Gesetzmässigkeit. Bis auf geringe, nicht in Betracht kommende
Einzelheiten entspricht die Localisation der Läsionen in den Beobb. 145
— 539 —
bis 149 derjenigen der Beob. 133 (übrigens luicii 144), und docli ist
der operative Erfolg gerade entgegengesetzt. Ks ist zwar richtig, dass
die Ausschaltung der Rinde in dem einen Falle etwas weiter nac^h
vom, in dem anderen Falle etwas weiter nach hinten reicht, wie dies
überhaupt bei allen derartigen experimentellen Läsionen unvermeidlich
ist. Indessen würde darauf doch nur dann etwas ankommen, wenn auf
das Stehenbleiben einer bestimmten, z. B. der vorderen Ecke oder eines
medialen Streifens gesetzmässig der ungestörte Fortbestand des Seh-
vermögens auf einem bestimmten Abschnitte des Gesichtsfeldes folgte
oder wenn ein solcher gesetzmässiger Einfluss auf die Configuration des
Scotoms zu erkennen wäre. Dies ist aber keineswegs der Fall. Und
gerade um diesen Tlieil der Streitfrage zu beleuchten sind die Partial-
exstirpationen ausgeführt worden. Sie haben ebenfalls keiner-
lei gesetzmässige Beziehungen einzelner Theile der vorderen
Hälfte der Sehsphäre zu bestimmten Segmenten der Retina
im Sinne Munk"s, in vielen B^ällen sogar das gerade Gegen-
theil ergeben. Wegen der näheren Details verweise ich auf die zu
den einzelnen Beobachtungen gegebenen Resumes. Ausserdem macht
die Tiefe, bis zu der die Läsion in allen diesen Fällen vorgedrungen
ist, es bereits a priori im allerhöchsten Grade unwahrscheinlich, dass
ein stehengebliebener oraler oder medialer Rest noch Verbindungen
nach medialen Centren hin gefunden haben könnte.
bb. Die Sehstörung gegen Licht verhielt sich auch bei diesen
Beobachtungen im Allgemeinen wie die gegen Fleisch. Hervorzuheben
bleibt nur, dass die Reaction gegen Licht bei der Beobachtung 137
länger fehlte als die Reaction gegen Fleisch und dass sie umgekehrt
bei der Beobachtung 143 überhaupt nur wenig abgeschwächt war und
namentlich auch auf den gegen Fleisch unempfindlichen Partien früher
wieder erschien als die Reaction gegen letzteres; endlich dass sie bei
der Beobachtung 148 von Anfang an auf dem ganzen gegen Fleisch
vollkommen reactionslosen Gesichtsfelde vorhanden war, so dass dieses
Gesichtsfeld jedenfalls nur als amblyopisch angesehen werden darf.
2. Die optischen Reflexe fehlten dauernd gänzlich bei den
beiden Beobachtungen 145 und 149, bei denen sich auch die Hemi-
anopsie nicht wieder verlor. Der Hund der Beobachtung 148 wurde
getödtet, der Hund der Beobachtung 138 bekam eine Cornealtrübung,
bevor die Sehstörung ganz abgelaufen war. In beiden Fällen waren
zu der Zeit, als sie zuletzt mit Sicherheit geprüft werden konnten,
die optischen Reflexe noch nicht wiedergekehrt, obschon die Stelle
des deutlichen Sehens und ihre Umgebung schon längere Zeit wieder
fungirte.
— 540 —
Sie kehrten bis zum Sclilnsse der Beobachtung ferner nicht wieder,
obschon das Sehvermögen sich im ganzen Gesichtsfelde bereits wieder
eingestellt hatte, bei den Beobachtungen 133, 144, 134, 140 und 151.
Bei den beiden erstgedachten Beobachtungen reichte die Exstirpation
der Rinde in frontaler Richtung über die ganze Sehsphäre hinweg, bei
der Beobachtung 140 hatte die Exstirpation zwar den medialen Rand
stehen lassen, dieser war aber bei der Operation thnnlichst zertrümmert
worden. In diesem Falle bestand aber dauernde Amblyopie. Von der
Beobachtung 134 gilt in operativer Hinsicht, abgesehen davon, dass
die Exstirpation schräg verlief, dasselbe. Dagegen war bei der Beob-
achtung 151 der Randwulst absichtlich intact gelassen worden, während
-die Zerstörung allerdings bis an den Ventrikel reichte, so dass von dem
dorsalen Mark in ihrem Niveau nichts mehr zu sehen war.
Der Hund der beiden ersten Beobachtungen wurde am 10. Tage
nach der 2. Operation getödtet, so dass es immerhin möglich, wenn
auch nicht wahrscheinlich war, dass sich die optischen Reflexe auf
seinem linken Auge bei längerem Leben noch eingestellt hätten. Bei
den Beobachtungen 140, 134 und 151 kommt dieser Punkt nicht in
Frage.
Bei einer Beobachtung (154) dauerte die Störung der optischen
Reflexe mit 6 Tagen, wovon nur 3 Tage total, kürzere Zeit als die
Sehstörung mit 12 Tagen. In diesem Falle sass die Läsion gänzlich
in der vorderen Hälfte der Sehsphäre, der Randwulst war aber ab-
sichtlich geschont worden, auch war das dorsale Mark nicht ganz ver-
nichtet. Das Scotom hatte, indem es sich auf die obere Hälfte des
Gesichtsfeldes beschränkte, die Stelle des deutlichen Sehens von vorn
herein frei gelassen.
Ausserdem verlor sich die Störung der optischen Reflexe vor Ab-
schluss der Beobachtung des Thieres in 6 Fällen. Bei der Beobach-
tung 136 fehlten sie mit 7 Tagen total kürzere Zeit als die Dauer der
Sehstörung (15 Tage) betrug; normal waren sie erst am 49. Tage.
Die Zerstörung sass in diesem Falle ganz in der vorderen Hälfte der
Sehsphäre, reichte bis an den Ventrikel, der Randwulst war mit zer-
trümmert Avorden. Die Sehstörung, welche sich vom 6. Tage an im
unteren lateralen (^)uadranten gehalten hatte, hatte von diesem Tage
an die Stelle des deutlichen Sehens frei gelassen. Bei der Beobach-
tung ]37, bei der die Sehstörung nur 5 Tage dauerte, fehlten die opti-
schen Reflexe 19 Tage gänzlich und blieben noch 5 Tage abgeschwächt.
Die Läsion erstreckte sich in der Sehsphäre auch hier nur auf deren
vordere Hälfte; der Randwulst war zwar geschont worden, erschien
aber durch die Operation dennoch g^eschädigt. Bei der Beobach-
— 541 —
tuiig 139 dauerte die totale Aufhel)niig der opti.sclieii Reflexe cibensc»
lange wie die Sehstörung, tleren Abscliwäcliuiig nur um eiiKJu Tag
länger. In diesem Falle reichte die Zerstörung nach vorn und hinten
über die Grenzen der vorderen Hälfte der Sehsphäre hinaus, der lland-
wulst war mit zerstört worden und von der ganzen dorsalen Substanz
der Sehsphäre innerhalb der bezeichneten Stelle nicht viel übrig ge-
blieben. Bei der Beobachtung 141 war eine 6 tägige Störung der opti-
schen Reflexe zu beobachten, obwohl jede Sehstörung fehlte. Die Kx-
stirpation betraf ausschliesslich die vordere Hälfte der Sehsphäre,
reichte bis an den Ventrikel und hatte von deren Randwulst kaum
etwas übrig gelassen. Bei der Beobachtung 143 hatte die Läsion den
gleichen Charakter wie bei der eben erwähnten, die Sehstörung und die
fast gänzliche Aufhebung der optischen Reflexe hielt 16 Tage an, die
Stelle des deutlichen Sehens war von Anfang an nicht in Mitleiden-
schaft gezogen. Bei der Beobachtung 150 (Doppeloperation) war die
Störung der optischen Reflexe auf beiden Augen am 17. Tage ver-
schW'Unden, nachdem die letzten Spuren der Sehstörung ebenfalls gleich-
zeitig am 14. Tage nicht mehr nachweisbar gewesen waren. Hier hatte
die Zerstörung beiderseits die vordersten und medialsten Partien der
Sehsphäre intact gelassen.
Die restirenden 7 Beobachtungen (135, 142, 146, 147, 152, 153,
und 155) haben das mit einander gemein, dass die Störung der opti-
schen Reflexe sich bei Abschluss der Beobachtung noch nicht verloren
hatte und die 6 ersten von ihnen das, dass der herausgeschnittene
Theil einen Streifen über die ganze Breite der vorderen Hälfte der
Sehsphäre, incl. des Randwulstes, zog, oder dass dieser letztere wenig-
stens zertrümmert war, während der Hund der Beobachtung 155, bei
dem der Randwulst erhalten geblieben war, bereits am 19. Tage, einem
Tage nach Ablauf der Sehstörung, getödtet wurde. Von den anderen
Hunden dieser Gruppe wurde nur der der Beobachtung 146 unmittelbar
nach Ablauf der Sehstörung (15. Tag) getödtet. In allen diesen Fällen
-dauerte also die Störung der optischen Reflexe mehr oder minder er-
heblich länger als die Sehstörung.
Fassen wir das Verhältniss der Störung, bezw. des Wiederauftretens
der optischen Reflexe zu der Art der Läsion ins Auge, so scheiden zu-
nächst die 6 Beobachtungen (145, 149, 138, 148, 146 und 155) aas der
Betrachtung aus. Von den übrigbleibenden 17 Beob. fehlten die optischen
Reflexe bis zum Schluss der Beob. gänzlich bei den Beob. 133, 144,
140, 134 und 151; sie waren bis zum Schluss der Beobachtung mehr
oder minder abgeschwächt bei den Beobb. 135, 142, 147, 152 und 153.
Bei 7 von diesen 10 Beobachtungen reichte die Zerstörung in frontaler
— 542 —
Richtung über die ganze Sehsphäre hinaus: bei der Beob. 151 der
1. Gruppe war der Randwulst geschont worden, bei den Beobb. 152,
153 der 2. Gruppe war er unvollkommen zerstört und bei der ersteren
von diesen beiden auch ein laterales Stück der II. Urwindung nicht
zerstört worden. In wieweit dennoch eine Zerstörung oder Leituugs-
unterbrechuug innerhalb dieser Gebiete stattgefunden hatte, liess sich
durch die makroskopische Besichtigung eines einzelnen Frontalschnittes
natürlich nicht entscheiden.
Bei den 7 Beobb. 136, 137, 139, 141, 143, 150 und 154 waren
die optischen Reflexe bei Schluss der Beobachtung wieder normal; nur
bei zweien von ihnen (Beobb. 150 und 154) reichte die Zerstörung
ersichtlichlich nicht über die ganze Breite der Sehsphäre hinweg, viel-
mehr war beide Male der Randwulst erhalten, bei den anderen 5 Beob-
achtungen erstreckte sich dem Anscheine nach ein zerstörter Streifen
von der Mittellinie bis zur lateralen Grenze der Sehsphäre.
Aus der vorstehenden Zusammenstellung geht in üebereinstimmung
mit den früher angeführten Erfahrungen hervor, dass die Störung der
optischen Reflexe fast regelmässig länger dauert als die Seh-
störuug, dass sie in Ausnahmefällen aber (Beob. 154) auch
schneller ablaufen kann, sowie dass eine, die ganze Breite
der Sehsphäre in frontaler Richtung einnehmende Läsion
das Zustandekommen der optischen Reflexe zwar in vielen,
aber nicht in allen Fällen dauernd verhindert oder sie in
ihrer Intensität abschwächt.
3. Der Nasenlidreflex war in 9 Fällen abgeschwächt, in
5 Fällen dauerte das Symptom nur 1 Tag, war also sicher als Nachbar-
schaftsymptom zu deuten. Bei der Beob. 145 wurde es nicht hinläng-
lich lange verfolgt. Bei der Beob. 136 dauerte die Störung des Nasenlid-
reflexes 26, die der optischen Reflexe 49 Tage; bei der Beob. 138 dauerte
die Störung des Nasenlidrefleexs mindestens 8 Tage, wurde dann nicht
weiter verfolgt und bei der Beob. 147 7 Tage, bei dauernder Störung
der optischen Reflexe. In allen diesen Fällen blieb die vordere Grenze
der Läsion weit hinter dem Orbiculariscentrum zurück; auch zeigten
die Hirnhäute keine Zeichen einer Entzündung, die sich etwa auf dieses
Centrum ausgebreitet hätte.
^. Ergebnisse.
1. Die Rindenbliiidheit und die Projectionslehre.
Wir haben bereits wiederholt erörtert, was Munk unter Rinden-
blindlieit versteht. Es ist kurz gesagt, der gänzliche und dauernde
— 543 —
Verlust der Lichtempflndlichkeit einer beliebigen Stelle der Nctzli;iut,
verursacht durch Ausschaltung einer mit dieser Steile in directcni ana-
tomischem Zusammenhang stehenden Partien der Rinde. Ebenso wie
der Verlust der Lichtempfindlich keit einer solchen Stelle aus der ana-
tomischen und physiologischen Ausschaltung einzelner mit ihnen in
Zusammenhang stehender Rindenelemente, setzt sich die totale Rinden-
blindheit der Retina aus der totalen Ausschaltung sämmtlicher der
Sehfunction dienender Elemente der zugehörigen Sehsphäre zusammen.
Im Princip müsste man also, wenn man eine genügend feine Unter-
suchungsmethode hätte, den Ausfall eines jeden einzelnen Rindenelementes
auf der Netzhaut nachweisen können. Eine solche Untersuchungs-
methode giebt es aber selbstverständlich nicht und wird es auch nicht
einmal für den Menschen, geschweige denn für den Hund jemals geben.
Da jedoch noch nach der letzten hierhergehörigen Auslassung Munk's^)
„die centralen Elemente der Sehsphäre, in welchen die Opticusfasern
enden imd die Gesichtswahrnehmung statthatt, regelmässig und con-
tinuirlich angeordnet sind wie die lichtempfindlichen Netzhautelemente,
von welchen die Opticusfasern entspringen, derart, dass benachbarten
Netzhautelementen immer benachbarte wahrnehmende Rindenelemente
entsprechen", so muss „mit der Exstirpation einer zusammenhängenden
Rindenpartie immer die Wahrnehmung für eine zusammenhängende
Partie der lichtempfindlichen Netzhautelemente" ausfallen und es wird
demnach nur von der Feinheit der Untersuchuugsmethode abhängen, wie
gross ein solcher Ausfall einer Netzhautpartie sein muss, um der Aufmerk-
samkeit nicht zu entgehen. Wie weit die von mir angewendeten Unter-
suchungsmethoden in dieser Beziehung reichen, soll später noch erörtert
werden. Für jetzt wollen wir nur die vorstehend beschriebenen 91 Ver-
suche mit Bezug auf die Frage der „Rindenblindheit" in diesem Sinne
ins Auge fassen.
Dabei stellt sich nun heraus, dass bei diesen 91 Beobachtungen
6 mal „Blindheit" bei Abschluss der Beobachtung noch vorhanden
war. Zu diesen 91 Beobachtungen kommen noch einige, die sich auf
Operationen an der anderen Hemisphäre von solchen Hunden beziehen,
deren Krankengeschichte hier nur rücksichtlich der 2. Operation mit-
getheilt worden ist, sowie zahlreiche andere aus den letzten und
früheren Jahren herrührende Partialextirpationen, von deren Mittheilung
ich abgesehen habe, und bei denen sämmtlich „Rindenblindheit" bei
Abschluss der Beobachtung nicht vorhanden war.
Betrachten wir den Grad der bei diesen 6 Beobachtungen
1) H. Munk, Gesammelte Mittheilungen 1890. S, 293, 294,
— 544 —
gesetzten anatomischen Veränderungen, so ergiebt sich Fol-
gendes:
1. Beob. 97. Operation der 2. Seite. Grosser Tlieil der Sehsphäre
und zwar grosser Theil der dorsalen Partie der Rinde und des Markes
zerstört; Tod am 42. Tage. Totale Restitution noch nicht ausgeschlossen.
2. Beob. 112. Laterale Hälfte der Sehsphäre mit Schrumpfung
des hinteren Pols; totale Zerstörung des dorsalen Markes.
3. Beob. 115. Beiderseits mehr als die laterale Hälfte der Seh-
sphäre, links Einziehung des hinteren Pols. Zerstörung links bis an
den Ventrikel, rechts bis fast an den Ventrikel.
4. Beob. 145. Mehr als die vordere Hälfte der Sehsphäre,
Schrumpfung der hinteren Hälfte. P'ast gänzliche Zerstörung der dor-
salen Rinde und des dorsalen Markes. Etwas Randwailst erhalten.
5. Beob. 149. Vordere Hälfte der Sehsphäre fast ganz und Theil
der Augenregion. Fast gänzliche Zerstörung der dorsalen Rinde und
des dorsalen Markes bis an den Ventrikel.
Bei diesen 5 Beobachtungen waren also nicht nur sehr grosse
Ausschaltungen der optischen Rinde vorgenommen worden, sondern
das occipitale Mark war auch, mindestens auf den angelegten Quer-
schnitten ganz oder so gut wie ganz, meist bis an den Ventrikel zi«
Grunde gegangen. Dabei war bei der Beob. 97 die gänzliche Restitu-
tion deshalb noch nicht ganz ausgeschlossen, weil die überhaupt
schwankende Sehstörung der oberen äusseren Gesichtsfeldpartie noch
in der letzen Woche vor dem Tode eine Abnahme erfahren hatte.
Anders liegen die anatomischen Verhältnisse und der experimentelle
Erfolg bei der Beob. 125. Hier war gleichfalls ein recht erheblicher
Theil und zwar sowohl der dorsalen als der basalen Rinde des Occipital-
Jappens ausgeschaltet worden; aber die Markstrahlung war in viel ge-
ringerem Grade als bei den vorerwähnten Beobachtungen geschädigt
worden. Die restirende Sehstörung betraf in diesem einzigen Falle, als
der Hund am 51. Tage starb, ausschliesslich das gleichseitige Auge,
während sie auf dem gegenseitigen Auge bereits am 36. Tage ver-
schwunden war.
Auch in diesem Falle war eine totale Restitution von der bei der
letzten Untersuchung in der Abnahme begriffenen SehstCtrung nicht aus-
geschlossen.
Rücksichtlicb der Localisation der Ausschaltungen auf der
Seh Sphäre gehört die Beob. 97 zu der Gruppe der atypischen cen-
tralen Läsionen. Sie nahm aber, wie gesagt, einen grossen Theil der
Rinde ein. Die Beobb. 112 und 115 gehören zu der Gruppe der
lateralen Läsionen und die Beobb. 145 und 149 zu der der oralen
— 545 —
Läsionen; die Beob. 125 endlich zu der der caudaien l^äsioiien. Dabei
darf nicht unerwähnt bleiben, dass bei 3 von diesen Beobachtungen (112,
115 und 145) eine hochgradige Schrumpfung der ausserhalb der Ope-
rationsgegend liegenden Antheile der Sehsphäre, der hinteren Hälfte,
des hinteren, bezw. hinteren und medialen Abschnittes schon makro-
skopisch in die Augen fiel.
Aus diesen Beobachtungen geht mindestens soviel hervor,
dass die bei ihnen zu beobachtende residuäre Blindheit eben-
sowohl auf die Ausschaltung des tieferen Markes, als auf die
der Rinde und des M arkes der Windungen bezogen werden kann.
Bei der ungeheuren Mehrzahl meiner Beobachtungen bestand aber
überhaupt keine residuäre Blindheit. Von diesen interessiren
in erster Linie diejenigen, bei denen überhaupt keine Sehstöruug
in dem Sinne zu beobachten war, dass die Reaction gegen Fleisch auf
bestimmten Theilen des Gesichtsfeldes gänzlich ausfiel. Es sind dies
bei den centralen Läsionen die Beobb. 77 — 81, 83 — 85; hierzu
kommen noch die Beobb. 76, 82, 86 und 88, bei denen die Sehstörung
so unerheblich und vorübergehend war, dass sie nicht in Betracht ge-
zogen werden kann.
Ausser bei diesen 12 den centralen Läsiouen zugerechneten Beob-
achtungen fehlte die Sehstörung in diesem Sinne noch bei 6 ander-
weitigen Beobachtungen, von denen je eine Beobachtung (102 und 141)
in die laterale und in die orale Hälfte fiel und je 2 (Beobb. 118 u. 120,
sowie Beobb. 122 u. 132) den medialen, bezw. den caudaien Läsionen
zugerechnet wurden. Alle diese Beobachtungen betrafen ausnahmslos
Paralleloperationen an der 2. Hemisphäre, sodass sich damit die
Zahl derjenigen Beobachtungen, bei denen eine Sehstörung als Folge einer
zweiten Operation in der Sehsphäre nicht beobachtet wurde, auf 17
beläuft. In diese Zahl sind die 3 erwähnten Beobachtungen mit mini-
malen und schnell vorübergehenden Sehstörungen mit einbegriffen.
Ausserdem gehört noch hierher die Beob. 119 (Paralleloperation zu
Beob. 120), bei der die Sehstörung das gegenüberliegende Auge freiliess
und nur den medialen Streifen der gleichen Seite betraf, den sie hätte
freilassen sollen, während andererseits bei der Beob. 120, am Ende der
Beobachtung der frühere intacte Streifen des gleichseitigen Auges,
welcher hätte freibleiben sollen noch eine Amblyopie erkeanen Hess.
Unerwähnt lasse ich dabei noch eine grössere Zahl von Beobachtungen,
bei denen sich gleichfalls eine nur wenige Tage dauernde, aber immer-
hin ausgesprochene Sehstörung erkennen Hess.
Aus der Summe der angeführten Beobachtungen geht
hervor, dass man recht erhebliche Ausschaltungen der Rinde
Hitzig, Gesammelte Abhandl. II. Theil. 35
— 546 —
innerhalb jeder einzelnen Region der Convexität der „Seh-
sphäre" vornehmen kann, ohne dass darauf Rindenblindheit,
ja, ohne dass dar auf auch nur vor über gehen de Blindheit irgend
eines Abschnittes der Retina nothwendig folgen muss. Und
es geht ferner aus der Summe dieser und der ersterwähnten
Beobachtungen hervor, dass die bei jenen und bei analogen
Operationen beobachtete „Rindenblindheit" überhaupt nicht
auf den partiellen Verlust der Rinde, sondern auf einen
äquivalenten Ausfall der Sehstrahlung zurückzuführen ist.
Das Ausbleiben der Sehstörung nach secundären Ausschaltungen
der Stelle Aj hatte ich in zwei Vorträgen i) kurz behandelt. Kurz
gesagt, hatte ich mitgetheilt, dass Sehstörungen nach Eingriffen in das
Occipitalhirn in der Regel dann ausbleiben, wenn ihnen einige Zeit vor-
her ein Eingriff in den Gyrus sigm. der gleichen Seite vorangegangeu
ist. Noch bevor ich die verheissene und hier gegebene ausführliche
Mittheilung meiner Versuche folgen lassen konnte, hat Munk^) die-
selben, meine anderweitigen Arbeiten und mich persönlich in maassloser
Weise angegriffen. Ich hatte damals auf jenen Theil dieser Angriffe
erwidert 3): „Wenn das entsprechende Material vorliegt, wird sich darT
über discutiren lassen, jetzt nicht." Hören wir also, was Herr Munk
an Einwendungen vorzubringen hat. Er erklärt die Ergebnisse meiner
Versuche kurzweg für „grundfalsch", ohne diese Versuche auch nur zu
kennen und stützt sich zum Beweise seiner Behauptungen darauf, dass
er solche Secundäroperationen in der Stelle A^, wie ich sie angegeben
hatte, 8 Mal ausgeführt habe, ohne dass eine Sehstörung ausgeblieben
sei. Es kommt indessen darauf garnichts an, ob jener Autor bei seineu 8
oder beliebig vielen Versuchen eine Sehstörung erhalten hat, sondern,
wie derselbe ganz genau weiss, lediglich darauf, ob diese Sehstörung
als nothwendige Folge der Ausschaltung der Stelle A^ (oder eines
beliebigen anderen Theiles der Sehsphäre) eintreten muss. Meine Mit-
theilungen bezogen sich nur auf oberflächliche Zerstörungen; dass
Zerstörungen, welche die Sehstrahlung in beliebiger Ausdehnung unter-
brechen, auch unter den angegebenen Umständen zu Sehstörungen führen
1) E. Hitzig, ,,üeber das corticale Sehen des Hundes". Archiv für
Psychiatrie Bd. 33. und ,,Ueber den Mechanismus gewisser corticaler Sehstö-
rungen des Hundes". Berl. klin. Wochenschr. 1900. No. 45.
2) H. Munk, Zur Physiologie der Grosshirnrinde. Verhandl. d. physiol.
GeseUsch. zu Berlin. No. 10—11. 1902.
3) E. Hitzig, Ueber die motorische l^'unction des Hundehinis und über
die Polemik des Herrn Munk. Archiv für Psychiatrie Bd. 36. H. 2.
— 547 —
können, versteht sich von selbst; ich habe selbst in der vorstellenden
Casuistik solche Beispiele angeführt. Nun sollen aber die fraglichen
Sehstörungen nach der Behauptung Munk's durch jede Ausschaltung
•der Rinde der Stelle A^ auf 2 — 3 mm Tiefe gesetzmässig bedingt sein.
Dieser operativen Forderung habe ich entsprochen, ohne dass der als
noth wendig hingestellte Erfolg eintrat.
Das Angeführte ist nun alles, was Munk gegen mich vorzubringen
hat. Er schliesst daraus ohne Weiteres, dass ich mich getäuscht habe
und benutzt dieses auf so wohlfeile Weise gewonnene Resultat — charak-
teristisch für seine Polemik — um an einer späteren Stelle seines Auf-
satzes das Misstrauen des Lesers gegen meine Feststellung des Fehlens
von Sehstörungen auch bei anderen Gelegenheiten zu ervpecken, indem
•er gerade so als ob er etwas Positives bewiesen hätte, sagt: „Nach den
Erfahrungen, die wir bei den Doppeloperationen machten, lässt sich
dem nicht vertrauen, dass keine Sehstörung bestand, wo Herr Hitzig
keine fand." Solche Erfahrungen hatte Herr Munk aber eben nicht
gemacht. Bei diesem Anlass spricht er auch die Vermuthung aus, dass
gewisse Ergebnisse, auf die ich später zu sprechen kommen werde,
darauf beruhen möchten, dass meine Ausschaltungen nicht gross oder
nicht tief genug gewesen seien. Es erscheint deshalb erforderlich, noch
einmal, wie angekündigt, auf die relative Sicherheit der Unter-
suchungsmethoden zurückzukommen und den anatomischen
Wert der vorgenommenen Zerstörungen zu besprechen.
Soviel ich ersehe, bestanden die zu den verschiedenen Zeiten seiner
Publicationen mitgetheilten Untersuchungsmethoden Munk's, insoweit
die partielle Rindenblindheit in Frage kommt, darin, dass er Hunden,
von denen nicht gesagt ist, dass sie unter besondere Bedingungen ver-
setzt worden wären, Stücke Fleisch, deren Grösse nicht angegeben ist,
vor dem Auge vorüberführte, dass er Stücke Fleisch vor dem einen
oder dem anderen Auge vorbeiwarf, oder solche so vor den Hund hin-
legte, oder ihm so vor das Auge hielt, dass ihr Bild auf die Macula
fallen musste oder darin, dass er den Hund auf grössere Mengen am
Boden liegender Fleischstücke losliess, oder dass er ihm Licht vor das
Auge brachte, oder dass er die Kopfhaltung der an verschiedenen
Stellen der Sehsphäre operirten Hunde beobachtete, und dass er dann
aus der Veränderung der Reaction auf das gänzliche Ausfallen der
Lichtempfindung schloss. Solche Untersuchungen, bei denen es sich
nur um Feststellung eines kleinen Restes von Lichtempfindung bei nicht
ganz gelungener Totalexstirpation der Sehsphäre handelt, interessiren
hier nicht.
Ich habe Eingangs dieser Abhandlung angeführt, dass Bern-
— 548 —
lieimer es neuerdings als unmöglich erklärt hat, bei Thieren Theil-
defecte im Gesichtsfeld mit Bestimmtheit festzustellen und in der That
sehe ich nicht, wie dies mit Hülfe der sonst gebräuchlichen, insbesondere
der von Munk angegebenen Methoden möglich sein sollte. Wenn ein
Hund z. B. ein schnell bei seinem Auge vorüberfliegendes Stück Fleisch
nicht beachtet, so lässt dies zwar mit Sicherheit auf das Vorhandensein
einer Sehstörung, aber keineswegs auf das gänzliche Ausfallen der
Lichtempfindung auf irgend einem Theile der Retina schliessen, ge-
schweige denn, dass sich ein solcher Theil abgrenzen Hesse, denn das
Resultat kann sehr wohl lediglich auf einer Abschwächuug ihrer
Lichtempfindlichkeit beruhen. In welcher Weise es zu ermöglichen ist,
dass das Bild eines vor einem Hunde liegenden Stückes Fleisch oder das
Bild eines Stückes Fleisch, welches man dem Hund auf die der Macula
entsprechende Stelle des Gesichtsfeldes hält, gerade auf die Macula und
nur auf diese fällt, ist mir, wenn man nicht die von mir angewendeten
Cautelen anwendet, unerklärlich etc. Üeber das Vorhandensein, wenn
auch nicht über den Umfang oberer oder unterer Gesichtsfelddefecte
könnte die veränderte Kopfhaltung der Hunde vielleicht Aufschluss
geben, indessen habe ich auch bei solchen Hunden, deren Scotome am
meisten zur Production solcher Symptome disponirt hätten, nichts davon
beobachten können. Es bleibt also lediglich die Prüfung der Reaction
der einzelnen Theile des Gesichtsfeldes durch Vorbeiführung von Fleisch
oder Licht in dieselben übrig. Wird diese Methode aber ohne weitere
Cautelen angewendet, so führt sie überhaupt nur bei einer beschränkten
Anzahl von Thieren zu einem Resultate und unter allen Umständen ist
sie viel roher als die von mir angegebene Modification, bei der der
schwebende und auf diese Weise ruhig gehaltene Hund nur die Spitze
der mit einem ganz kleinen Stückchen Fleisch armirten Pincette zu
sehen bekommt. Im Uebrigen verweise ich auf das auf S. 300 Gesagte
und kann nur wiederholen, dass es bei dieser Methode zwar möglich
ist, „dass ein Hund, welcher auf ein in seinem Gesichtsfeld erscheinen-
des Stück Fleisch nicht reagirt, keine Sehstörung hat, dass es aber
absolut unmöglich ist, dass ein Hund, welcher auf ein in einem belie-
bigen Theile seines Gesichtsfeldes erscheinendes Stück Fleisch reagirt,
auf dem entsprechenden Theile seiner Retina rindenblind ist."
Munk hat in dem vorerwähnten Angriffe gegen mich behauptet,
ich hätte mich getäuscht und durchblicken lassen, er hege bestimmte
Vermuthungen, wie dies geschehen sei, wolle diese aber unterdrücken,
damit ich nicht bogenlang dagegen polemisire. Ohne ein Wort über
diese Art der Polemik zu verlieren, bemerke ich nur, dass ich eine
lange Reihe von Jahren hindurch jeden einzelnen Hund mit vielen
— 549 —
hunderten, ja tausenden einzelner Prüfungen untersucht liabo, sodass ein
Irrthum über das rein Thatsächliche meiner Eeobaclitungen über die von mir
selbst angegebenen Grenzen hinaus vollkommen ausgeschlossen ist.
Prüfen wir die Resultate unser beiderseitigen Untersuchungen
näher, so muss die Dürftigkeit der Angaben Munk's über das, was er
partielle Rindenblindheit nennt und die Falschheit, ja die Unmöglichkeit
seiner Behauptungen aufs Aeusserste befremden. Ebensowenig wie wir
von ihm etwas Genaueres über die theoretisch zu erwartenden Scotome
erfahren haben, finden wir etwas Genaueres über den Umfang der that-
sächlich eingetretenen Gesichtsfelddefecte und vornehmlich über ihren
Decursus. Wir erfahren nur, dass der operirte Hund anfänglich z. B. seelen-
blind war und nachdem er von diesem Symptom durch die Erziehung des
Herrn Munk curirt worden war, auf einer bestimmten Stelle seiner
Retina rindenblind ist. Was das Trauma der Sehsphäre sonst noch für
Folgen für das Sehen gehabt, wie sie sich von der sog. Seelenbliudheit
haben unterscheiden lassen und wie sie sich verloren, davon weiss der
Autor uns nichts zu berichten. Nun ist der Hund partiell rindenblind,
er hat nach der Behauptung Munks einen zweiten blinden Fleck, der
unter Umständen recht gross sein und die Stelle des deutlichen Sehens
einschliessen kann. Goltz und Loeb haben bemerkt, dass solche
Hunde, denen man nach den eigenen Angaben Munk's von ihrer par-
tiellen Rindenblindheit ohne nähere Prüfung nichts anmerken soll,
colossal schielen müssten, während sie thatsächlich nicht schielten.
Wirklich hat auch niemand, auch Munk nicht, behauptet, dass Hunde
nach Eingriff in ihre Sehsphären dauernd an Strabismus litten. Dies hat
ihn aber weder dazu veranlasst, etwas auf jenen Einwand zu erwidern,
noch seine Behauptungen fallen zu lassen.
Vergleichen wir dagegen damit die Resultate der vorstehenden
Untersuchungen, so ergiebt sich, dass es uns nicht nur gelungen ist,
die operativ erzeugten einzelnen Gesichtsfelddefecte in ihrer
Entstehung und ihrem Verlaufe im Groben nachzuweisen,
sondern dass wir damit auch zu weiterer Einsicht in die
Art der gesetzten Sehstörung gelangt sind. Ich bestreite hier-
nach Herrn Munk, und jedem, wer es auch sein mag, das Recht, die
Richtigkeit meiner thatsächlichen Angaben zu bezweifeln, insbesondere
aber zu behaupten: „Es Hesse sich dem nicht vertrauen, dass keine
Sehstörung bestand, wo ich keine fand". Wer meine Untersuchungen
in dem erforderlichen Umfange und mit dem unerlässlichen Geschick
wiederholt, der wird sie bestätigen i).
1) Ich habe gegründete Veranlassung zu der Annahme, dass dies, seit-
dem ich das vorstehende schrieb, bereits geschehen ist.
— 550 —
Was den Umfang der von mir in diesen Fällen angerichteten
Zerstörungen angeht, so befinden sich unter den mitgetheilten Beob-
achtungen ohne dauernde, ja selbst vorübergehende Sehstörung genug
solche, bei denen die Stelle A^ in dem vom Munk angegebenen Um-
fange und in grösserer Tiefe gänzlich zerstört war und anders localisirte
Beobachtungen von gleichem und grösserem Umfange. Statt alles
weiteren verweise ich nur auf die Beob. 76, bei der die Stelle A^ bis
tief in das Marklager hinein zerstört war.
Munk wird zwar nicht beanspruchen dürfen, dass die Läsionen
der Versuche anderer grösser sein müssen als die Läsionen, durch die
er selbst Rindenblindheit hervorbrachte, indessen sind in den vor-
stehenden Untersuchungen zahlreiche Fälle, in denen erheblich grössere
Läsionen solche Folgen nicht hatten, mitgetheilt worden. Der Ein-
wand, die von mir vorgenommenen Eingriffe hätten nicht
den vorgeschriebenen Um fang oder die vorgeschriebene Tiefe
gehabt, wird damit hinfällig. ,
Wir haben uns bisher nur mit der Minorität jener Fälle beschäftigt,
bei denen entweder ausnahmsweise Rindenblindheit eintrat, oder die
postulirte Sehstörung ganz ausblieb. Unter der Majorität derjenigen
Fälle, bei denen eine anfänglich vorhandene Blindheit sich wieder
ausglich, befinden sich aber auch solche, bei denen, wie z. B. Beobb. 133,
144 und 146, durch colossale Zerstörung mehr als die halbe Sehsphäre
ausgeschaltet worden war, ohne dass (dauernde) partielle Rindenblindheit
eintrat. Es mag dies genügen, um einem solchen Einwände, mag er sich
nun gegen die bereits erwähnten oder gegen die ferner zu erwähnenden
Resultate richten, zu begegnen. Die Versuche Munk 's über die Pro-
duetion partieller Rindenblindheit haben meines Wissens von keiner
Seite eine Bestätigung in dem Sinne erfahren, dass dieses Symptom
infolge partieller Ausschaltung der Rinde eintreten müsse. Selbst
solche Autoreu, die wie v. Monakow^) sich soweit als irgend möglich
auf Seite Munk 's stellen, treten ihm mit Bezug auf diesen Punkt auf
das Entschiedenste entgegen. Andererseits hatte ich 2) die Angaben
Loeb's, welcher schon vor langer Zeit behauptete ,,es könne jede
Stelle der Rinde des Hinterhauptlappens weggenommen werden, ohne
dass die geringste Sehstörung darauf erfolge", indem ich sie als im
höchsten Grade verdächtig bezeichnete, stark bezweifelt. Ich war hierzu
nicht allein durch die von mir nachgewiesene Unzuverlässigkeit der
1) V. Monakow, Ueber den gegenwärtigen Stand der Frage nach der
Localisation ita Grosshirn. z. ß. 8. 655.
2) E. Hitzig, Historisches, Kritisches etc. Diese Untersuchungen S.53flf.
— 551 —
Angabeil dieses Autors in der LocalisutionsIVage überliaupt, sondern insbe-
sondere durch seine Angaben über diejenigen Operationen (vergi. a. a. ().),
bei denen keinerlei Sehstörung eingetreten sein sollte, veranlasst worden.
Diese Zweifel kann ich jetzt nur in verstärktem Maasse aus-
sprechen; sicherlich haben die Hunde nach diesen Eingriffen zeitweise
schwere Sehstörungen gehabt; aber deshalb bleibt die so ailgemoiu
ausgesprochene Behauptung, „dass jede Stelle der Rinde des Hinter-
hauptlappens weggenommen werden könne, ohne dass die geringste Seh-
störung darauf erfolge" doch richtig; unrichtig ist sie nur mit Bezug auf
Operationen, von dem ihnen durch Loeb gegebenen Umfange, nament-
lich sofern es sich um Primäroperationen handelt'
Eine andere Frage ist die, ob die totale Entfernung der
Sehsphäre totale, dauernde Blindheit — Rindenblindheit —
zur Folge hat. Diese Frage bin ich geneigt in dem Sinne zu be-
jahen, dass nach totaler Entfernung der Sehsphären, bewusste Licht-
empfindungen nicht mehr zu Stande kommen. Indessen fragt es sich
weiter, was man unter „Sehsphäre" verstehen will. v. Monakow^)
hatte diese Grenzen auf Grund von Untersuchungen, die er au ihm von
Munk selbst gelieferten Gehirnen vorgenommen hatte, soweit über die
von Letzterem gezogene vordere Grenze hinaus nach vorn gelegt, dass
noch der grössere Theil der Augenregion ihr zufiel. Munk^) hat dieser
Ansicht v. Monakow's, indem er sich im Wesentlichen auf seine par-
tiellen Exstirpationsversuche in dieser Gegend stützte, lebhaft wider-
sprochen. Welche Bedeutung den Resultaten dieser partiellen Exstir-
pationsversuche beizumessen ist, haben wir bereits gesehen und werden
wir noch ferner sehen. Wie eine Ironie klingt aber das fernere
Schicksal dieser Frage. Munk hatte a. a. 0. den Wunsch nach Fort-
setzung der „ausgezeichneten Versuche v. Monakow's", zu denen er
das Material liefern wolle, ausgesprochen. Dies ist nun mit dem Erfolge
geschehen, dass v. Monakow in jeder seiner späteren Arbeiten den
bezeichneten Standpunkt mit Entschiedenheit aufrecht erhalten hat,
ohne aber die Einwendungen Munk's zu erwähnen, während Letzterer 3),
ohne sich wieder mit dem Standpunkte v. Monakow's zu beschäftigen,
noch in seiner letzten Arbeit die Richtigkeit seiner alten Begrenzung
1) V. Monakow, Experimentelle und pathologisch-anatomische Unter-
suchungen über die optischen Centren und Bahnen. Archiv für Psychiatrie.
Bd. XX. Heft 3.
2) H. Munk, Gesammelte Mittheilungen 1890. S. 313 ff. Anm. 167.
3) H. Munk, Ueber die Ausdehnung der Sinnessphären. Sitzungsberichte
1899. II.
— 552 —
versichert. Die von mir mitgetheilteii Versuche haben mir zwar den sehr
bestimmten Eindruck, dass v. Monalvow gegen Munk Recht hat,
hinterlassen, sie sind aber zur definitiven Entscheidung dieser Frage
nicht geeignet; ich habe deshalb Herrn Dr. Kalberiah zu ihrer weiteren
Verfolgung angeregt, dessen Arbeit wird dem vorliegenden Aufsatze
unmittelbar folgen; der Leser wird also alsbald Gelegenheit haben, sich
eingehender mit dieser Frage zu beschäftigen.
Die Lehre Munk's von der Projection der Retina auf die
Sehsphären habe ich im Vorhergehenden ausführlich dargelegt. Das
Princip derselben besteht darin, dass jedes wahrnehmende Rindenelement
mit einem Retinaelement direct^) verbunden sei und Munk hat diese
Vorstellung noch durch sein bekanntes in alle Lehrbücher übergegangenes
Schema 2) besonders bekräftigt. Demgegenüber hatte v. Monakow
schon 1889 und dann immer wieder die sich wohl Jedem aufdrängende
Meinung betont, dass eine solche Projection, wenn sie überhaupt statt-
hätte, auf die primären Opticuscentren, in denen die Sehfasern bekannt-
lich eine Unterbrechung erfahren, geschehen müsste. Ich werde auf die
Theorie v. Monakow's später zurückkommen. An dieser Stelle be-
gnüge ich mich, darauf hinzuweisen, dass ein gesetzmässiger Ausfall
bestimmt localisirter Retinaelemente in Folge von Ausschaltung corre-
spondirender Rindenelemente unmöglich ist, wenn eine Unterbrechung
durch eingeschaltete Ganglien statthat.
Indess noch aus einem anderen experimentell anatomischen Grunde
erscheint die Behauptung Munk's, dass auf Ausschaltung eines be-
stimmten Rindenbezirkes regelmässig Ausfall eines bestimmten und nur
dieses Bezirkes der Retina folge, unmöglich. Sie wäre nur dann mög-
lich, wenn es thatsächlich gelänge die Zerstörung auf die Rinde und
allenfalls auf die zugehörige innerhalb der Windung aufsteigende Mark-
strahlung zu beschränken. Dies gelingt aber, wie ich bereits in einer
der ersten dieser Abhandlungen 3) nachgewiesen habe, wegen des Ein-
1) In einer späteren Anmerkung (Gesammelte Mittheilungen Anmerk. 62,
S. 79) hat Munk den Sinn seiner ursprünglichen Auslassungen etwas zu mo-
dificiren gesucht, indem er sagt: „Dass von correspondirenden Punkten die
Rede ist, besagt natürlich nicht, dass von jedem einzelnen Retinaelemente eine
Opticusfaser zu einem einzelnen Rindenelemente verläuft; sondern es können
an oder vor den Rindenelementen sowohl, wie auch an oder hinter den Retina-
elementen netzförmige Anastomosen bestehen und die Opticusfasern nur die
Verbindungen zwischen den Netzen herstellen". An der Hauptsache wird da-
durch ersichtlich nichts geändert.
2) Munk a. a. 0. S. 73, 74.
3) E. Hitzig, Historisches, Kritisches etc. Diese Untersuchungen S.41ff.
— 553 —
tretens secuudärer Erweichungen und Blutungen in den tiofor gelegenen
Markmassen des Gehirns nicht. Ich verweise auf das a. a. 0. darüber
Gesagte. Die Bedingungen für das Auftreten solcher secundärer Er-
weichungen und Blutungen sind aber bei Eingriffen in den Occipital-
lappen wegen der grösseren Ausdehnung, die sie dort haben müssen,
bei Weitem günstiger, als bei Eingriffen in das Frontalhirn.
Ich habe eine grosse Anzahl der von mir operirten Gehirne Herrn
Prof. Edinger in Frankfurt a. M. zur anatomischen Untersuchung über-
lassen. Dieser, der über das anderweitige Resultat seiner Unter-
suchungen voraussichtlich später berichten wird, schreibt mir über den
fraglichen Punkt Folgendes: „Wir haben bei allen Hunden fast den
gleichen Befund erheben können. Die Rinde ist ganz rein abgeschält,
aber unter den Läsionen befindet sich jedes Mal, bald rechts, bald
links, bald doppelseitig ein Spalt, der mit lockerem Gewebe erfüllt ist,
manchmal auch eine Cyste, und dieser geht bis dicht an den Ventrikel
heran. Dabei erreicht er immer den dorsalen Abschnitt der
aus dem Hinterhauptslappen zum Thalamus und zum Geni-
culatum laterale ziehenden Fasermengen. Ich lege Ihnen hier
eine Zeichnung (s. die Tafel) bei, welche das besonders schön zeigt.
Die Rinde in der Umgebung der Läsion zeigt immer Blutpunkte und
kann für reichlich 1 cm frontalwärts keineswegs als intact angesehen
werden. Ausserordentlich flach ist immer die Abtragung, so dass
gerade immer das Marklager erreicht wird. In dieser Beziehung sind
also die Operationen ideal.
So bestätigt sich also vollständig Ihre Vermuthung von der Be-
deutung der Verletzung für das Mark, wenn bei so kleinen, vorsichtigen
Operationen, wie sie an diesen Hunden vorlagen, traumatische Ver-
änderungen bis in die Sehstrahlung eintreten, dann wird es wohl den
von anderen Forschern operirten Hunden auch nicht besser gegangen
sein."
Und „ich glaube, man könnte irgendwo in der occipitalen Hälfte
operiren, man müsste immer Sehstörung bekommen, weil es offenbar
garnicht möglich ist — das zeigen ja Ihre flachen Abtragungen — diese
tiefen Cysten etc. zu vermeiden. Die aber erreichen bei der relativen
Dünne des occipitalen Markes immer dessen Strahlung.
Da in keinem Falle die Rindenverletzung grösser war, als sich aus
Ihrer nach dem Präparat aufgenommenen Schilderung ergiebt etc."
An der Mehrzahl der Gehirne, auf die Edinger sich hier bezieht,
waren flache Abtragungen — „auf 2 -3 mm Tiefe" — vorgenommen
worden. Da es nun schon bei diesen zu tief greifenden ungewollten
Neben Verletzungen kommt, wie ich das seit vielen Jahren weiss, so
— 554 —
habe ich, wie bereits erwähnt, vorgezogen, bei einer grösseren Zahl von
Versuchen die Rinde gleich bis auf den Grund der Windungen abzu-
tragen, wenigstens war dann der Versuch unzweideutig und ich vor dem
richtig von mir vorausgesehenen Einwand, dass der functionsfähig ge-
bliebene Grund der Windungen steilengeblieben sei, gesichert. Natür-
lich entstehen auf diese Weise noch grössere Verwüstungen als die
eben geschilderten; ich verweise in dieser Beziehung einfach auf die
von mir gegebenen Abbildungen von Frontalschnitten. Jedoch schützt
auch, wie wir eben gehört haben, die Innehaltung der von Mtink vor-
geschriebenen Grenze von 2 — 3 mm Tiefe keineswegs vor solchen, ins-
besondere dann nicht, wenn die Abtragungen, die von Munk vorge-
schriebene Flächenausdehnung auf eine ganze Hälfte einer Sehsphäre
besitzen. Man vergleiche hierzu die Abbildungen zu den Beobb. 133,
144 und 145, bei denen die vordere Hälfte der Sehsphäre abgetragen,
die hintere Hälfte aber partiell oder gänzlich mit in den Defect hinein-
gezogen war. Besonders stark treten diese Veränderungen in den Ab-
bildungen zu den Beobb. 112 und 115 mit lateralen Ausschaltungen
hervor, bei deren letzterer die directe Verletzung etwa 3 — 4 mm tief
reichte, während die erstere bis auf 0,75 cm in die Tiefe drang. Bei
der Beob. 149 war die directe Läsion wieder oberflächlich gewesen und
dennoch war das ganze dorsale Mark bis an den Ventrikel zerstört,
während der hintere Pol bei äusserer Besichtigung nicht eingezogen
erschien. Oberflächlich war die Läsion auch bei den Beobb. 147 und
148 (orale Hälfte) gev^'esen. Wie bei der letztgedachten Beobachtung
war das dorsale Mark, obschon noch nicht einmal in der gleichen
Ausdehnung zerstört und dennoch war hier die caudale Hälfte der
Sehsphäre bei Beob. 147 besonders stark in ihrer Mitte, bei Beob. 148
besonders stark in ihrem medialen Abschnitt in die Vernichtung mit
hineingezogen worden.
Es ist ganz klar, dass man, mag man operiren wie man will, die
Ausdehnung des Eingriffes nicht in der Hand hat. Bei grösserer
Flächen ausdehnung der Läsion nehmen auch die secundären Zerstörungen
in der Tiefe an Umfang zu. Dadurch werden Markstrahlungen zu ent-
fernten Windungen unterbrochen, sie degeneriren und nach Maassgabe
dieses Processes legen sich immer mehr und mehr Nachbartheile in die
Hirnlücke hinein, sodass es eben zu solchen allgemeinen oder partiellen
Retractionen einzelner Abschnitte kommt, wie sie die von mir ange-
führten und zahlreiche andere Abbildungen zeigen. Wer vermag aber
im Einzelfalle ohne Untersuchung durch Schnittserien zu übersehen und
vorauszusagen, welche Abschnitte der Sehstrahlung auf diese Weise zu
Grunde gegangen sind!
— 555 —
Von allen diesen grundlegenden Verhältnissen linden wir Ijoi Muiik
kein Wort. Sie sind auch mit seiner Lehre unvereinbar. Ks kann sich
also nur fragen, ob er sie nicht gekajint oder sich ihre Bedeutung nicht
klar gemacht hat und damit blind in die gröbsten Schlingen gegangen
ist, oder ob er sie nicht hat sehen wollen.
Ich schliesse hieran noch einige Bemerkungen über die anderwei-
tigen anatomischen Verhältnisse unserer Beobachtungen. Die Hirnnarbe
und die ihr aufsitzende narbige Auflagerung ist in der Regel vor dem
Photographiren mit einer Anilinfarbe gefärbt worden, um ihre Abgren-
zung von dem umgebenden Gewebe besser hervortreten zu lassen. Üiese
Farbe dringt auch, wenn hinlängliche Mengen aufgetragen sind, in die
Tiefe der Hirnnarbe ein, färbt aber das umgebende Hirngewebe niclit
mit, so dass auf der Platte ein sehr genaues Bild der auf dem Quer-
schnitt angerichteten Zerstörung erscheint.
Die Herstellung der Photographien ist und konnte auch leider mit
Rücksicht auf die Perspective nicht immer nach denselben Gesichts-
punkten erfolgen, da die Absicht, die Narbe selbst möglichst genau zur
Anschauung zu bringen, im Vordergrunde stehen musste. Auf diese
Weise erscheint deren Verhältniss zam hinteren oder medialen Rand
nicht selten unrichtig, die Zwischenräume perspectivisch verkürzt. In-
dessen ergaben sich auch an den Präparaten selbst überaus zahlreiche,
ich möchte sagen, regelmässig Differenzen zwischen den bei der Opera-
tion eingehaltenen und bei der Section ermittelten Maassen, die auf
verschiedene Umstände zurückzuführen sind. Alle diese Maasse sind
am Schädel, der Knochenlücke und am Präparat mit einem spitzen
Zirkel abgegriffen worden und die Umschneidung bezw. Umstechung der
auszuschaltenden Partie hat an den Rändern der Knochenlücke bezw.
der Dura stattgefunden, so dass ein Irrthum in dieser Beziehung nicht
möglich ist. Dagegen sind einige Irrthümer in der beabsichtigten Loca-
lisation der Eingriffe durch folgende Umstände bedingt worden. Viel-
fach sind die Maasse von der Höhe der Lambdanaht aus genommen
worden. Da sich auf dieser nun meistens ein Knochenwulst von sehr
verschiedener Mächtigkeit befindet, kann man sich über die Grösse des
sagittalen Durchmessers des abgegriffenen Knochenstückes leicht täuschen.
Man niisst deshalb besser vom vorderen Rande der Naht. Jedoch sind
auch dann noch Täuschungen möglich, weil der Sinus transversus bald
mehr vor, bald mehr unter der Naht liegt, oder weil diese Naht sich
in ihrem lateralen Theile bald mehr, bald weniger nach hinten krümmt.
Aus ähnlichen Gründen können Irrthümer auch an der medialen Grenze
entstehen. Und endlich kommen hier die individuellen Abweichungen
— 556 —
in der Configuration des Gehirns selbst, auf die ich schon in meinen
ersten Arbeiten aufmerksam gemacht habe, in Betracht.
Andere Differenzen werden durch die Art des Eingriffs, die Art
und die Zeit des Heilungsprocesses bedingt. Im Allgemeinen erscheint
die Narbe eines grossen Eingriffes natürlich grösser als die eines kleinen,
indessen ist das Verhältniss zwischen der Grösse des Eingriffes und der
Narbe keineswegs constant. Man wird auf Querschnitten nicht selten
ganz kleinen Narben begegnen, während die Ausschaltung sich gleich-
wohl über mehrere Windungen erstreckte. In diesem Falle hat die
Narbe sich also retrahirt und entsprechend erscheint auch die corticale
Auflagerung kleiner. In anderen Fällen erscheint die letztere aber nach
der einen und der anderen Richtung hin grösser, wenn die Narben-
bildung sich z. B. unter ein der Schädeldecke beraubtes Stück Dura
oder auf ein in Folge der Vernarbung eingesunkenes Stück Gehirn hat
vorschieben können. Besonders auffällig wirkt es, wenn man auf einem
Frontalschnitt, der einer Steile entspricht, an welcher man ein com-
pactes Stück Gehirn entfernt hat, einen auf den ersten Anblick nicht
gröblich verletzten Gyrus antrifft, wie z. B. auf dem hinteren Durch-
schnitt zu Beobachtung 135. Hier hatte sich das hinter der Lücke
befindliche Stück Gyrus, dessen Markstrahlung verloren gegangen war,
in die Lücke hineingelegt. So gewann es den Anschein, als ob die
Auflagerung der Convexität nur aufsitze. Natürlich können auf diese
Weise wieder allerhand Complicationen entstehen. Nicht immer liegen
die Verhältnisse so klar wie in dem angführten Falle. Mit Bezug hier-
auf hat mir Herr Edinger auf meine Anfrage berichtet, dass bei den
von ihm untersuchten Gehirnen die unter der Auflagerung gelegene
Rinde, auch wenn sie makroskopisch nicht hochgradig verändert er-
schien, sich mikroskopisch doch als Narbengewebe oder nur aus Glia
bestehend erwies. Aehnliche Verhältnisse liegen unzweifelhaft in den-
jenigen Fällen vor, bei denen ich von der Hirnwunde aus medial mit
dem Spatel und dem Löfl^el so weit vordrang, bis ich den Widerstand
der Falx fühlte, dann das über dem Instrument liegende Stück Gehirn
herausholte und zerstörte und dann gleichwohl auf dem Frontalschnitt
einen scheinbar intacten Randwulst vorfand. Auch hier hatte sich
offenbar die hinter oder vor dem Durchschnitt liegende Partie in die
-gesetzte Lücke hineingelegt.
Ich habe alle diese Umstände dargelegt, weil ich nach der zur
Genüge bekannten Kampfweise von Munk darauf gefasst sein muss,
dass er, der die gesammlen Umstände und den Verlauf auch nicht
einer einzigen Beobachtung beschrieben hat und sich mit seinen An-
gaben somit in ein undurchdringliches Dunkel hüllt, sich gegenüber
- 557 —
der vernichtenden Wucht der gegen ihn sprecheiulcii Th;it.s:iclieii durun
klammert, dass bei dieser oder jener Operation ein Stückchen Rinde
stehen geblieben, oder diese oder jene Operation nicht nach seinen
Wünschen ausgeführt sei. Ich habe jede einzelne meiner Beobachtungen
mit sehr kritischen Augen betrachtet und sie da, wo sie einen Punkt
unentschieden Hess, durch andere Beobachtungen ergänzt, so dass ich
jeder beliebigen Art von Kritik mit Seelenruhe entgegensehen darf.
Indessen sind diese Darlegungen auch, abgesehen hiervon, für den
objectiv urtheilenden Leser und ganz besonders für Nacharbeiter nicht
ohne Interesse.
Eine Projection in dem Sinne, dass bestimmte Elemente
oder Abschnitte der Retina nur vermittelst bestimmter
Elemente oder Abschnitte des Cortex sehen könnten, existirt
also, wie sich gezeigt hat, nicht. Es wäre aber möglich, dass
eine Art von Projection in dem Sinne stattfände, dass die von den
einzelnen Abschnitten der Retina zuströmenden Lichtreize gesetz-
mässig zu bestimmten Abschnitten des Cortex geleitet würden, dass
diese Abschnitte des Cortex aber nach ihrer Eliminirung durch andere
Abschnitte vertreten werden könnten. In diesem Falle würde zwar
gesetzmässig Blindheit correspondirender Netzhautabschnitte entstehen,
aber es würde das eben nur eine vorübergehende, keine Rindenblindheit
sein. V. Monakow hat eine solche Ansicht ausgesprochen, auf die ich
alsbald eingehen werde. Zuvor wollen wir jedoch sehen, was uns das
eigene angehäufte Material lehrt. Wir können dabei, auch wenn die
gedachte Voraussetzung zuträfe, wie ich wiederhole, nicht darauf
rechnen, dass der vorübergehende Gesichtsfelddefect jederzeit die
schematisch vorgeschriebene Figur darstelle; denn die Hirndefecte
lassen sich eben nicht in der dazu erforderlichen Weise abgrenzen, und
ferner verändert der beschriebene Decursus der Sehstörung fast täglich
etwas an dem Aussehen des Gesichtsfeldes. Aber unter allen Um-
ständen müsste unter der angenommenen Voraussetzung der
fragliche Theil des Gesichtsfeldes von Anfang an ganz oder
zu dem entsprechenden Theile in die Figur des Scotoms
hineingezogen sein und darin entsprechend seiner relativen
Grösse bis zum gänzlichen Ablauf der Sehstörung verharren
Fassen wir von diesem Standpunkte aus zunächst wieder die sechs
Beobachtungen mit residuärer Blindheit bei Abschluss der Beobachtung
ins Auge, so haben aus dieser Zahl die beiden Beobb. 145 und 149
deshalb auszuscheiden, weil eine homonyme bilaterale Hemianopsie
zurückblieb. Obschon beide Male nur der A^ordere Theil der Sehsphäre
ausgeschaltet war, musste nämlich nach Lage der Sache doch an-
— 558 —
genommen werden, dass die ganze Sehstrahlung unterbrochen war. Bei
den Beobb. 97 und 112 bestand die residuäre Sehstörung in einem
oberen lateralen Fleck, der von Anfang an blind war. Da die Aus-
schaltung in beiden Fällen den hinteren Pol ganz oder grösstentheils
in sich schloss, so sprechen jene Beobachtungen insoweit wenigstens
nicht gegen jene Voraussetzung, obschon die fragliche Stelle bei
Läsionen von sehr verschiedener Localisation, hauptsächlich und am
längsten geschädigt zu sein pflegt. Dagegen entsprach die anderweitige
Localisation der Sehstörung bei der Beob. 112 nicht der Localisation
der Verletzung, sondern sie widersprach ihr (vgl. Resume zu Beob. 112).
Bei der Beob. 115 wurden die unteren medialen Theile beider Gesichts-
felder zuerst wieder sehend, und nur sie erlangten überhaupt das
Sehvermögen wieder, während gerade sie dauernd rindenblind hätten
sein sollen. Bei der Beob. 125 lässt sich die Sehstörung des gegen-
überliegenden Auges mit jener Annahme vereinigen, die Sehstörung
des gleichseitigen jedoch nur insoweit, als nur der obere Theil des
Streifens hätte rindenblind sein dürfen, während der ganze mediale
Streifen gleichmässig geschädigt erschien.
Die 20 auf S. 545 f. erwähnten Beobachtungen, bei denen gar
keine Sehstörung zu beobachten war, einschliesslich der a. a. 0. dazu
gerechneten Beobachtungen, stehen gleichfalls im Widerspruch mit jener
Voraussetzung.
Die typischen centralen Läsionen verliefen in der Regel als
typische Hemianopsien. Die Stelle des deutlichen Sehens war deshalb
in der Regel an der Sehstörung zunächst mitbetheiligt, sie war es
aber nicht vorwiegend und vornehmlich nicht bis zu Ende, sondern sie
ei'langte im Gegentheil mit zuerst ihre Sehkraft wieder. Man könnte
also die Mehrzahl dieser Operationen als direct gegen die fragliche
Annahme sprechend anführen. Sehen wir jedoch von der Betheiligung
der Stelle des deutlichen Sehens ab, so bleiben folgende Beobachtungen
zu erwähnen. Bei der Beob. 65 entsprach die stärkere Betheiligung
des oberen lateralen Quadranten des gegenüberliegenden Auges der
stärkeren Betheiligung des hinteren Pols, während die Betheiligung des
gleichseitigen Gesichtsfeldes der Voraussetzung widersprach. Anderer-
seits zeigen die Gesichtsfelder der Beobb. 66 und 68 ganz ähnliche
Bilder wie die Beob. 65, ohne dass jene stärkere Betheiligung des
hinteren Pols vorlag. Endlich ist die mehrerwähnte Beob. 75 insofern
als für die Voraussetzung sprechend anzuführen, als nicht nur die
ganz ausnahmsweise stärkere Betheiligung der Stelle des deutlichen
Sehens, sondern auch die seltene vorwiegende Betheiligung des unteren
lateralen Quadranten, ja sogar die vorwiegende Betheiligung des
— 559 —
mittleren Theiles des gleichseitigen nasalen Streifens entsprechend der
Localisation der Liision vorlag. Geradezu ein Musterhund; hjider ist
es der einzige seiner Art!
Von den atypischen centralen Läsionen gilt sowohl rücksicht-
lich der Form, sowie des Verlaufes des Scotoms, als rücksichtlich der
Betheiligung der Stelle des deutlichen Sehens im Allgemeinen dasselbe,
was von den typischen Operationen gesagt ist; jedoch spricht der
Verlauf des Scotoms in seiner Beziehung zu der Ausschaltung in viel
mehr Fällen direct gegen die fragliche Voraussetzung. Insbesondere
wurde in keinem einzigen Falle eine stärkere Betheiligung des unteren
äusseren Quadranten gefunden, obwohl die Läsion wiederholt den oralen
Abschnitt der Sehsphäre neben der Stelle A^ in sich schloss. Nament-
lich fand sich bei den Beobb. 91 und 94, bei denen der hintere Ab-
schnitt der Sehsphäre stehen gelassen worden war, in directem Wider-
spruch zu der Voraussetzung das Scotom vornehmlich in den oberen
Theilen des Gesichtsfeldes localisirt, während dessen untere Abschnitte
verhältnissmässig früh frei wurden. Jedoch stehen auch die Resultate
der Beobb. 92, 96 und 98, wegen deren ich auf die Resumes verweise,
nicht im Einklang mit der Hypothese.
Bezüglich der atypischen lateralen Läsionen verweise ich
auf das auf S. 400 f. zusammenfassend Gesagte. Es geht daraus her-
vor, dass alle diese Resultate im Widerspruch mit der Voraussetzung
stehen.
Ebenso verweise ich bezüglich der typischen lateralen
Läsionen auf die entsprechenden Zusammenfassungen auf S. 418 ff.
Es erhellt aus ihnen, dass die Sehstörung des gleichnamigen Auges,
wo sie überhaupt vorhanden war, schneller ablief, als die des gegen-
überliegenden Auges, während eine ausschliessliche Betheiligung des
lateralen Streifens der medialen Hälfte dieses Auges in keinem einzigen
Falle in die Erscheinung ti'at. Diese Beobachtungen sprechen also
sämmtlich gegen die Hypothese, insbesondere gegen eine auch nur
relative Projection des lateralen Abschnittes der Retina auf die gleich-
namige Hemisphäre.
Die medialen Läsionen ergeben gleichfalls nichts für, dagegen
viel gegen die Annahme Sprechendes. Aus den Resumes S. 434 ff. hebe
ich nur das Resultat der Beob. 119 hervor, bei der die Sehstörung des
gegenüberliegenden Auges, welche hätte vorhanden sein sollen, fehlte,
während die auf dem medialen Streifen des gleichseitigen Auges vor-
übergehend nachweisbare Sehstörung hätte fehlen sollen.
Bei den caudalen Operationen ist die Sachlage anders. Was
zunächst die typischen Operationen angeht, so ergiebt sich, dass bei
— 560 —
den noch in Betracht kommenden Beobachtungen das gegenüberliegende
Auge — von dem gleichseitigen wollen wir absehen — thatsächlich
vorwiegend, wenn auch nicht ausschliesslich hi der oberen Hälfte seines
Gesichtsfeldes geschädigt war. Von den atypischen Operationen
(vgl. S. 474 ff.) spricht die Beob. 131, bei der statt eines oberen ein
laterales Scotom in die Erscheinung trat, gegen die Hypothese, die
Beob. 129, welche entsprechend einer ausgedehnten Ausschaltung eine
typische Hemianopsie erkennen liess, spricht mindestens nicht dagegen,
die anderen Beobb. 126, 127, 128 und 130 sprechen aber mit ihrer
vorwiegenden Betbeiligung der oberen Hälfte des Gesichtsfeldes bei —
wie noch besonders erwähnt zu werden verdient — relativ geringer
Betheiligung des lateralen Streifens für dieselbe.
Die oralen Läsionen habe ich bereits im Sinne der jetzt dis-
cutirten Hypothese in typische und atypische Beobachtungen eingetheilt
(vergl. S. 476 ff.), sodass hier nur anzuführen bleibt, dass 8 von
ihnen für diese und 12 gegen sie sprechen. Unter den letzteren be-
finden sich nicht nur solche mit typisch ablaufender Hemianopsie,
sondern (Beob. 151, 154 und 155) auch solche, bei denen die
untere Gesichtsfeldhälfte in exquisiter Weise verschont blieb, während
die obere Gesichtsfeldhälfte in hohem Grade geschädigt war, obwohl
über die Localisation der Zerstörung in der oralen Hälfte der Seh-
sphäre kein Zweifel bestehen konnte. Alle drei Beobachtungen be-
ziehen sich übrigens auf zweite Operationen.
Andererseits habe ich unter den typischen Beobachtungen unter
Berücksichtigung des Umstandes, dass das operative Resultat durch
Nebenverletzungen und Fernewirkungen zeitweise verdunkelt werden
kann, auch solche Beobachtungen angeführt, bei denen die stärkere
Betheiligung der unteren Hälfte des Gesichtsfeldes nur die kürzeste
Zeit, sei es auch nur einen Tag, in die Erscheinung trat. Alle diese
Beobachtungen beziehen sich übrigens auf erste Operationen mit Aus-
nahme der Beob. 140, bei der die Läsion asymmetrisch sass.
Fassen wir die im Einzelnen discutirten Resultate kurz zusammen,
so ergiebt sich, dass von den 91 Beobachtungen, insoweit sie überhaupt
für die gestellte Frage verwerthbar sind, 16 dafür und 59 dagegen
sprechen. Nehmen wir aber auch an, dass aus jenen 59 alle Beob-
achtungen, die irgend einen Zweifel zulassen, ausgeschieden und diese
sowie alle Beobachtungen, die sich weder nach der einen noch nach
der anderen Richtung hin mit Bestimmtheit verwerthen lassen, den für
die Hypothese sprechenden zuzurechnen seien, so würde immer noch
eine Majorität von gegen sie sprechenden Beobachtungen übrig bleiben.
Von einer solchen Gesetzmässigkeit in den Beziehungen
— 561 —
zwischen Retina und Cortex, wie sie die Grundlage jener
Voraussetzung v. Monakow's bildet, kann also nicht die
Rede sein. M^ohl aber ist anzuerkennen, dass die temporäre
Blindheit der unteren Hälfte des Gesichtsfeldes ausschliess-
lich auf Läsionen der vorderen Hälfte der Sehsphäre folgt,
und dass Läsionen des hinteren Abschnittes der Sehsphäre
öfter Scotome in dem oberen Segment des Gesichtsfeldes
unter Schonung des sonst fast regelmässig betheiligten late-
ralen Segments zur Folge haben.
Sehen wir uns nunmehr die Feststellungen v. Monakow's über
die bisher beleuchteten Punkte und die Hypothese näher an, ver-
mittelst deren er die sich überall aufdrängenden anatomischen und
physiologischen Widersprüche wenigstens einigermaassen mit den Be-
hauptungen Munk's zu vereinbaren sucht, indem wir damit gleich-
zeitig die Resultate, welche Bernheim er aus seinen anatomischen
und experimentellen Untersuchungen geschöpft hat, zusammenhalten!
Ueber die Congruenz der Stelle Ai^ mit der Stelle des deutlichen
Sehens äussert sich v. Monakow wie folgt: ., Diese und andere
(auch eigene) Beobachtungen hatten mich zu der Annahme geführt, dass
die Stelle des deutlichsten Sehens überhaupt nicht in einer engen
corticalen Zone repräsentirt sein könne. — • Bei der indirecten
Repräsentation der Macula in der Rinde muss vielmehr dem Umstände
Rechnung getragen werden, dass die einzelnen Punkte der Stelle des
deutlichsten Sehens, ihren weittragenden Aufgaben entsprechend, in
möglichst reicher und ausgedehnter Weise mit der Masse
der occipitalen Rindenoberfläche, weniger aber mit ganz
distincten Stellen der letzteren in enge Verbindung treten"^).
Genau auf demselben Standpunkt steht Bernheimer^). Ueber
1) Ich citire zwar hier und in dem Folgenden nach v. Monakow „Ueber
den gegenwärtigen Stand der Frage nach der Localisation im Grosshirn. Er-
gebnisse der Physiologie. Erster Jahrgang" und nach meinem dazugehörigen
Aufsatz „Einige Bemerkungen zu der Arbeit C. v. Monakow's etc. Dieses
Arch. Bd. 36. H. 3"; es ist aber nicht ohne Interesse, dass v. Monakow
die gleichen Ansichten schon seit einer Reihe von Jahren ausgesprochen und
durch neue Untersuchungen immer und immer wieder bestätigt hat, ohne dass
Munk sich je zu einer Rectificirung seiner Behauptungen bewogen gefunden
hätte. Zuerst finde ich die hier erwähnte Ansicht (Archiv für Psychiatrie. 1892.
Bd. XXIV. H. 1. S. 91, 92) ausgesprochen.
2) St. Bernheim er, Anatomische und experimentelle Untersuchungen'
über die corticalen Sehcentren. Xlin. Monatsblätter f. Augenheilk. 1900 und
Hitzig , Gesammelte Abhanrtl. II. Theü. ■ 36
— 562 —
die Zugehörigkeit der lateralen Parthie der Sehsphäre zu der late-
ralen Parthie der Netzhaut des gleichseitigen Auges heisst es bei
V. Monakow a. a. 0.: „Munk hat meines Wissens in der weiteren
Folge seiner Untersuchungen an der Lehre, dass das laterale dem un-
gekreuzten N.-opt. Bündel entsprechende Retinafeld ausschliesslich der
lateralen Parthie seiner Sehsphäre angehöre, nicht mehr festgehalten."
Diese Aeiisserung v. Monakow's habe ich nicht ohne einige Ver-
wunderung gelesen. Es konnte ihm doch unmöglich entgehen, dass
die ganze Lehre Munk's von der Projection der Netzhäute auf die
Rinde, sogar in den Augen Munk's in sich zusammenstürzen musste,
sobald er ihre Anwendbarkeit auf den lateralen Abschnitt des Occi-
pitalhirns oder einen beliebigen anderen Abschnitt desselben nicht mehr
aufrecht hielt. Thatsächlich hat Munk aber nichts von dem, was er
einmal gesagt hatte, in klarer und unzweideutiger Weise widerrufen
oder sonst zu erkennen gegeben, dass er irgend etwas Nennenswerthes
davon nicht mehr aufrecht halte. Wäre dies aber geschehen, so
würde sich v. Monakow eines so erstaunlichen Ereignisses sicherlich
genau erinnern und die Quelle anzugeben wissen. Jedenfalls geht
aus dem Gesagten hervor, dass er auch in diesem Punkte der Ansicht
Munk's nicht ist."
Zu den gleichen Resultaten wie rücksichtlich der Beziehungen der
Stelle Ai und der lateralen Parthie der Sehsphäre zur Retina gelangt
v. Monakow aber consequenter Weise auch bezüglich aller anderen
Theile der Sehsphäre. Diese Auffassung gipfelt bereits in folgender
charakteristischen Aeusserung aus dem Jahre 1892: „Zur Erklärung
all dieser Widersprüche müsste man womöglich für jeden ein-
zelnen Fall eine besondere Art der Projection der Netzhaut auf die
Sehsphäre annehmen, und selbst dann wäre es noch keine leichte Auf-
gabe, die Verhältnisse so zu construiren, dass Alles stimmen würde."
(a. a. 0. Bd. XXIV. H. I. S. 86.)
V. Monakow und Bernheimer kommen hiernach zu der über-
einstimmenden, entschiedenen, zuerst von dem ersteren ausgesprochenen
Ansicht, dass alle Theile der Retina, insbesondere aber die
Macula, durch Vermittelung der primären Opticuscentreu
mit allen Theilen der Sehrinde in Verbindung treten können.
Wenn wir von der Frage der Restitution sprechen, werden wir den
vorausgesetzten anatomischen Mechanismus dieser Function erörtern.
Dagegen gehen ihre Ansichten mit Bezug auf eine relative in-
Dio Wurzelgebiete der Augennerven etc. Handbuch d. Augenheilk. 2. Aufl-
Bd. 1. S. 100 des Sep.-Abdr.
— 563 —
directe Projection, welche v. Monakow annehiruiii zu dürfen
glaubt, auseinander. Letztereri) meint, „es sei nicht daran zu zweiCehi,
dass die verschiedenen Quadranten der Retina bei den höheren Säugern
zu bestimmten Abschnitten der Sehsphäre in viel engeren Be-
ziehungen stehen als zu anderen." Diese Projection muss seiner
Ansicht nach „in dem Sinne vorhanden sein, dass die von Jugend an
für Reizaufnahme aus einer bestimmten Richtung benutzten Wege resp.
Abschnitte im Corpus gen. ext. und dann auch in der Seh-
sphäre auch später noch vor allen anderen bevorzugt
werden. So bilden sich relativ feste Innervationswege in
ganz bestimmten Richtungen und im Sinne der raschesten Beförderung
in der Richtung des geringsten Widerstandes." Bernheimer^) ist
dagegen der Ansicht, dass in der topographischen Projection auf das
Corpus gen. keine unbedingte Regelmässigkeit bestehe. Jedenfalls sei
sie bei höheren Säugethieren (Affen) und beim Menschen keine be-
stimmte und vermuthlich eine individuell verschiedene.
V. Monakow hat sich, abgesehen von den Angaben M unk 's,
durch einige klinische Beobachtungen von Henschen, welche mit
Bezug auf die vorderen und caudalen Abschnitte jene Angaben zu
stützen schienen, ferner durch einen Versuch Schäfer's, der nach
einer caudalen Exstirpation beim Affen das untere Segment des Ge-
sichtsfeldes noch sehend fand und endlich durch die bei Faradisirung
der einzelnen Abschnitte der Sehsphäre auftretenden Augenbeweguugen
leiten lassen.
Zwingend sind diese Beweise einstweilen keineswegs. Die klini-
schen Beobachtungen am Menschen führten Bernheimer zu dem ent-
gegengesetzten Resultate wie Henschen. Das eine positive Resultat,
zu dem Schäfer beim Aifen gelangte, könnte zwar an seiner an und
für sich geringen Beweiskraft durch meine vorstehend mitgetheilten
Beobachtungen zu gewinnen scheinen. Denn meines Wissens hat bisher
Niemand eine so grosse Zahl von experimentell auf die obere und
namentlich auf die untere Gesichtsfeld hälfte localisirten Scotomen nach-
gewiesen. Diesen bestätigenden Resultaten steht aber jene immense
Majorität von widersprechenden Resultaten gegenüber.
Die Beziehungen der durch occipitale Reizung hervorgebrachten
Augenbewegungen zu der Projectionslehre, auf die ich im Einzelnen
nicht eingehen kann, sind bisher nichts weniger als klar. Nachdem
bereits Tamburini und Sepilli einen Theil dieser Bewegungen richtig
1) V. Monakow, Ergebnisse S. 656 f. und 660.
2) St. Bernheimer, Die Wurzelgebiete etc. a. a. 0. Kap. VI.
36*
— 564 —
beschrieben hatten und Schäfer, der sie eingehend studirte, die Auf-
merksamkeit wieder darauf gelenkt hatte, waren sie schon von Danillo,
Bechterew und P. Rosenbach zum Gegenstand besonderer Arbeiten
gemacht worden, als H. Munk^) diese Untersuchungen nach den von
diesen Autoren angegebenen Methoden wiederholte und ihre Resultate
als eine Bestätigung seiner Projectionslehre für sich in Anspruch nahm.
Im Wesentlichen ergiebt sich als die Ansicht dieses Forschers, der
meisten seiner Vorgänger und auch des neuesten Arbeiters auf diesem
Gebiete Berger 's 2), dass die meist conjugirten Augenbewegungen,
welche je nach dem Orte der Reizung nach der gegenüberliegenden
Seite, nach oben, nach unten etc. auftreten, als Folgen subjectiver
Lichtempfindungen, denen das Auge folgt, aufzufassen sind, und dass
sie ihren Weg nicht auf einem associatorischen Umwege über das
Frontalhirn, sondern direct nach den subcorticalen motorischen Augen-
muskelcentren nehmen. Nun findet sich n. A. aber, dass Munk durch
jene Reizversuche von Neuem den Nachweis für die Coordination der
Stelle Ai zu der Macula und des lateralen Drittels der Sehsphäre zu
der gleichnamigen Retina führt, obwohl die Stelle A^ sicherlich allen
anderen Regionen eher als der Macula coordinirt ist und obwohl Munk
an die Zugehörigkeit des lateralen Drittels der Sehsphäre zur gleich-
namigen Retina nach v. Monakow selbst nicht mehr glauben soll.
Aber auch abgesehen davon, schliessen die Resultate meiner eigenen
Untersuchungen es aus, dass die Dinge sich in der von Munk gewollten
Weise abspielen. Wenn z. B. ein Hund nach Abtragung der caudalen
Partie der Sehsphäre auf dem oberen Segment des Gesichtsfeldes nicht
nur wieder sehen lernt, sondern auch Stücke Fleisch, vy eiche in diesem
Theile seines Gesichtsfeldes erscheinen, fixirt und sicher ergreift, so
muss deren Bild nicht nur auf andere Theile der Sehsphäre projicirt
und dort appercipirt werden, sondern es müssen auch von dort, nicht
allein von den exstirpirten Abschnirten, motorische Radiärfasern ent-
springen, welche den Impuls zu den subcorticalen Centren der Augen-
nerven fortleiten. Da sich nun dieses Schauspiel nach Exstirpation jedes
einzelnen Gebietes der Rinde wiederholt, so muss nicht nur jeder ein-
1) Mit welchem Rechte Munk, der die Arbeiten jener Autoren natürlich
(abgesehzn von den im Texte behandelten Arbeiten Schäfer 's) nur in einer
Anmerkung zu einem Vortrage citirt, von einem ,, Streifzug in ein jungfräu-
liches Gebiet" reden konnte, nachdem dieses Gebiet schon von so vielen
Autoren befruchtet worden war, ist meinem Verständniss entgangen.
2) H. Berger, Experimentelle Untersuchungen über die von der Seh-
sphäre aus ausgelösten Augenbewegungen. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol.
Bd. IX, Heft. 3.
— 565 —
zelne Abschnitt der Sehsphäre jeden anderen in seincsr optisclien,
sondern auch in seiner motorischen Leistung vertreten können. Immer-
hin würde ja dieses Ergebniss unter der letztgedachten Voraussetzung,
Avenn auch nicht mit der Projectionslehre Munk's, so doch mit der
Hypothese v. Monakow 's vereinbar sein, wenn wirklich eine auch nur
vorübergehende Abhängigkeit des Sehvermögens bestimmter Abschnitte
der Retina von bestimmten Abschnitten der Sehsphäre bestünde. Dies
triiTt aber, wie wir gesehen haben, nicht zu.
unter diesen umständen besitzt die frühere Ansicht
V. Monakow's, dass man für jeden einzelnen Fall eine be-
sondere Art der Projection würde construiren müssen und
die jetzige Ansicht ßernheimer's, dass die Fortleitung der
optischen Reizwellen von dem Corpus gen. zur Sehsphäre
individuellen Schwankungen unterliege, eine bei Weitem
grössere Wahrscheinlichkeit. Jedoch hat es den Anschein,
als ob unter diesen Schwankungen nähere Beziehungen der
vorderen Abschnitte der Sehsphäre zu den oberen und solche
der hinteren Abschnitte der Sehsphäre zu den unteren Ab-
schnitten der Retina eine gewisse Rolle spielten. —
Fassen wir hiernach das Resultat dieses Abschnittes unserer Unter-
suchungen in wenige Worte zusammen, so ergiebt sich:
1. Rindenblindheit irgend welcher, geschweige denn in
einem gesetzmässigen Yerhältniss stehender Abschnitte der
Retina tritt nach Partialexstirpationen der Sehrinde in
keinem Falle ein. Wird sie beobachtet, so ist sie eine Folge
von ausgedehnten Verletzungen der Sehstrahlung.
2. Eine gesetzmässige Abhängigkeit der Lichtempfind-
lichkeit bestimmter Stellen der Retina von bestimmten
Theilen der'Sehrinde ist auch nicht einmal mit Bezug auf
den vorübergehenden Ausfall des Sehvermögens nach Par-
tialexstirpationen gegeben; vielmehr bestehen allem An-
scheine nach in dieser Beziehung weitgehende individuelle
Verschiedenheiten.
3. Insbesondere steht die Stelle A^ in keinen näheren
Beziehungen zur Macula, so dass ihre Ausschaltung zu einer
besonders schweren Schädigung des Sehactes führte. Im
Gegentheil kann gerade sie leichter als irgend eine andere,
gleich grosse Stelle der Sehrinde ohne irgend erhebliche
Störung des Sehactes ausgeschaltet werden.
566 —
2. Die Seeleubliudlieit und die BescliafFenlieit der corticalen
Sehstörimg.
Munk hat die Seeleablindlieit, welche als Folge der einseitigen i)
oder doppelseitigen Exstirpation der Stelle A^ entstehen soll, in Kurzem
so charakterisirt, dass der Hund alle Erinnerungsbilder der früheren
Gesichtswahrnehmungen derart verloren hat, dass er die einzelnen Ge-
sichtsobjecte, obwohl er sie s'ieht, nicht mehr erkennt, sie also nicht
mehr zu identificiren vermag. Insbesondere auch „machen ihn Finger
und Feuer, dem Auge genähert, nicht mehr blinzeln". Indessen lernt
der Hund innerhalb eines Zeitraumes von 3 — 5 Wochen mit den ihm
verbliebenen Theilen seiner Sehrinde, deren Zellen nunmehr von Neuem
mit Erinnerungsbildern besetzt werden, wieder erkennen. Welche
Gegenstände und wann er sie wiedererkennen lernt, ist insofern in die
Hand des Experimentators gelegt, als der Hund nur diejenigen Gegen-
stände wiedererkennt, welche ihm vorher mit ihren ihn interessirenden
Eigenschaften bekannt gegeben worden sind. „Fährt man im Verlaufe
der 1. Woche mehrmals mit dem Finger an oder in die Augen des
Hundes, so tritt von der Zeit an regelmässig Blinzeln auf Näherung
des Fingers ein; sonst kommt dieses Blinzeln ohne alles Zuthun erst
in der 2. oder 3. Woche zur Beobachtung. Drückt man in der
2. Woche ein brennendes Streichholz, nachdem man es vor den Augen
gehalten, an die Nase des Hundes, so dass es ihn schmerzt, so weicht
der Hund fernerhin stets mit dem Kopfe zurück, sobald er wieder das
Feuer sieht; brennt man ihn ebenso erst in der 5. Woche, so hat ihn
bis dahin das Feuer nicht genirt und er kennt es erst jetzt." (Ges.
Abh. S. 93, 94.)
Goltz und Loeb haben von einer so beschaffenen Seelenblindheit
als Folge von Abtragungen innerhalb der Sehregion ebensowenig wie
von dem Auftreten von Rindenblindheit etwas auffinden können. Der
erstere nannte die von ihm beobachtete Sehstörung, vi'elche mit Stö-
rungen auf den anderen Sinnesgebieten und übrigens auch mit psychi-
schen Störungen vergesellschaft war, „Hirnsehschwäche" und erklärte
sie, insoweit sie nicht das Product von Demenz ist, durch einen „ausser-
1) V. Monakow (Ergebnisse, S. 657) irrt sich mit der Angabe, dass
Munk die Seelenblindheit nur nach doppelseitiger Exstirpation der Stelle Aj^
entstehen liesse. Vielmehr sitzen die Erinnerungsbilder nach Munk (Ges.
Abh. S. 23) in jeder Hemisphäre gesondert und können aus ihr gesondert
herausgeschnitten werden.
— 5G7 —
ordentlich geringen Farbensinn und auch einen sehr vorsehloclitertea
Ortssinn der Netzhaut" i).
In der Annahme von dem Fehlen einer totalen Schstr.niiig nach
solchen Abtragmigen (Reaction auf Schütteln des Fleisches \ov dem
amblyopischen Abschnitt) bezeichnete Loeb die zu beobachtende Stö-
rung als Hemiamblyopie und wies übrigens nach, dass die von ihr ge-
setzten Symptome sich „auch ohne alles Zuthun des Experimentators"
derart wieder verlieren können, dass der Hund auch dann alsbald Alles
wiedererkennt, wenn man ihn eine gewisse Zeit im Dunkeln gehalten
und ihm garnichts von den ihn interessirenden Gesichtsobjecten gezeigt
hat. Zu dem gleichen Resultat kam Bernheimer^) beim Affen und
er sowohl wie a'. Monakow und Andere bestreiten, dass die Seelen-
blindheit, insofern sie überhaupt vorkommt und sich erkennen lässt,
ein Product der Zerstörung der Rinde der Stelle A^ oder anderer be-
stimmter Theile der Rinde des Sehcentrums sein könne; vielmehr hänge
ihr Auftreten von dem Maasse der Zerstörung kurzer oder langer Asso-
ciationsbahnen ab.
Unsere eigenen Versuche lehren uns, was die Dauer der
Sehstörung angeht, wenn wir nur die typischen Läsionen der Stelle A^,
insoweit sie überhaupt zu Sehstörungen führten, und nur die Reaction
gegen Fleisch ins Auge fassen, dass diese Dauer 9, 22, 16, 21, 17, 7,
22, 10, 13, 16, 17 und 1 Tag betrug. Obschon hierbei auch diejenigen
Reste der Sehstörang, welche nur die obere laterale Ecke des Gesichts-
feldes einnahmen, die also mit „Seelenblindheit" gar nichts zu thun
haben, und die Munk bei seiner Art der Untersuchung garnicht finden
konnte, berücksichtigt worden sind, blieb die Dauer der Sehstörung im
Durchschnitt weit hinter dem von Munk angegebenen Zeitraum von
3- — 5 Wochen zurück. Den Zeitraum von 3 Wochen überschritt sie mit
22 Tagen nur 2 mal, dagegen verschwand die Sehstöruug in 5 Fällen
vor Ablauf der 2. Woche. Es geht also auch hieraus hervor, dass die
von mir angewendeten Methoden der Untersuchung bei w^eitem besser
geeignet sind, die Wiederkehr des Sehvermögens nachzuweisen, ebenso
wie sie besser geeignet sind, kleine umschriebene Reste von Scotomen
aufzudecken. Noch mehr würde dies hervortreten, wenn ich anstatt
des Zeitpunktes des gänzlichen Verschwindens der Sehstörang nur den-
jenigen Zeitpunkt berücksichtigt hätte, zu dem der Hund auf der Stelle
des deutlichen Sehens Fleisch wieder sah und erkannte.
1) Goltz, Gesammelte Abhandlungen. 1881. S. 175.
2) Bern heim er. Anatomische und experimentelle Untersuchungen über
die corticalen Sehcentren. Klin. Monatsblätter für Augenheilkunde. 1900.
— 568 —
Die Dauer der Sehstörung bei den anders localisirten Läsionen
war sehr verschieden. Manchmal verschwand letztere überhaupt nicht,
oder sie war von sehr langer Dauer. Andererseits fehlte sie in zahl-
reichen Fällen gänzlich, oder sie war von sehr kurzer Dauer. Für
unsere späteren Erörterungen interessirt uns nur die letztere Gruppe.
Aus dieser haben wir bereits die Läsionen mit fehlender Sehstörung
herausgehoben; hier führe ich nur noch einige anderweitige Beobach-
tungen an, bei denen die Sehstörung nicht über eine Woche hinaus
dauerte (die Zahl der Tage eingeklammert): Beobachtungen 117 (6),
121 (4), 123 (3), 124 (7), 127 (4), 131 (2) und 144 (6). Munk pflegt,
wenn er von der Sehstörung spricht, immer nur von dem zu reden,
was man nach dem 3. — 5. Tage beobachten könne und hat mich aufs
heftigste angegriffen, weil ich meine Beobachtungen mit der Operation
selbst beginnen lasse. Hätte ich das, was vor dem 5. Tage zu sehen
ist, unberücksichtigt gelassen, so würde die Zahl der Läsionen der Seh-
sphäre, nach denen eine Sehstörung nicht nachweisbar war, noch recht
erheblich anwachsen.
Ueber die Vertheilung des Scotoms auf beide Augen habe
ich bereits früher gesagt, dass sie im Allgemeinen der Angabe Munk's
entspricht, also auf dem gleichseitigen Auge das mediale Viertel ein-
nimmt, welches sie auf dem gegenseitigen Ange freilässt, indessen
kommen doch nicht uninteressante Ausnahmen vor. In einzelnen Fällen
war — den Munk 'sehen Angaben entsprechend oder widersprechend —
nur der obere Abschnitt des gleichseitigen Auges blind, in einem Falle
(Beobachtung 75) war es nur ein mittlerer Ausschnitt. Vielfach erschien
der gleichseitige Ausfall kleiner, in einigen Fällen aber und dann stets
in der oberen Hälfte (Beobachtungen 92, 113, 147) grösser als in der
Norm. In einem Falle (Beobachtung 109) war aber vor dem 5. Tage,
ausser dem medialen Streifen, noch die ganze obere Gesichtsfeldhälfte
und ausserdem gleichfalls abnormer Weise auch die obere Hälfte des
gegenseitigen medialen Streifens blind. Entsprechend dieser ungleichen
Empfindlichkeit der oberen und unteren Hälfte verlor sich die Sehstö-
rung ausnahmslos zuerst unten und in den spärlichen Fällen, in denen
nur ein Fiest von Sehvermögen dauernd erhalten blieb, war die untere
mediale Ecke so begünstigt. Von gleichem Interesse ist die mehr-
fach gemachte Beobachtung, dass auch bei einseitigen Operationen, bei
denen es sich also nicht um ein Wiederaufleben einer anscheinend ver-
schwundenen Sehstörung handeln konnte, irgend welche Lichtempfind-
lichkeit des medialen Streifens des gegenüber liegenden Auges in den
ersten Tagen nicht oder nur partiell nachweisbar war (Beobachtung 92),
— 569 —
oder dass dieser Streifen zuerst aniblyopisch crs(;lii(;ii (Heobiiclitun^cii
135, 145).
Im Zusammenhang hiermit stehen die sehr merkwürdigen Beobb.
145 mid 146. Hier war infolge der linksseitigen Läsion eine homo-
nyme rechtsseitige Hemianopsie, also auch auf dem linken Auge, zu-
rückgeblieben. Als der Hund nun nach ca. 10 Wochen rechts operirt
wurde, war dadurch sicherlich kein Grund zur Restitution des schein-
bar „rindenblinden" linksseitigen Streifens gegeben. Nichtsdestoweniger
sah der Hund schon am 2. Tage, wenn auch undeutlich, mit der unteren
Ecke dieses Streifens wieder imd am 9. Tage schien er auf dem
ganzen Streifen wieder deutlich zu sehen. Ebenso war die symmetrische
rechte Ecke, welche durch die 2. Operation hätte rindenblind sein
sollen, schon am 2. Tage amblyopisch und am 8. Tage der ganze
Streifen wieder functionstüchtig. Schrader^) und Stefani machten
ganz constante Beobachtungen an Vögeln, welche diesen scheinbar
dunklen Sachverhalt vollkommen aufklären. Nahmen sie einem Vogel
die linke Hemisphäre, so wurde das rechte Auge scheinbar ganz blind;
nahmen sie ihm aber auch noch das linke Auge, so wurde das rechte
Auge wieder scheinbar normal sehend. Wie man diesen Vorgang nun
auch sonst in seinen Einzelheiten erklären mag, so ist doch soviel im
höchsten Grade wahrscheinlich, dass der gesammte Sehapparat des
rechten Auges auch zu der Zeit, da dieses Auge anscheinend nicht sah,
nicht gänzlich von der Function ausgeschlossen war, sondern dass diese der
Aufmerksamkeit nur entging und dass seine Sehkraft wieder erstarkte, nach-
dem das Thier auf seine alleinige Benutzung angewiesen war. Ganz das
Gleiche gilt für die fraglichen Erscheinungen in unseren Beobb. 145 u. 146,
bei deren letzterer das Thier eben zunächst auf beiden Augen mit Aus-
nahme der beiden unteren medialen Ecken blind war, sodass es zur
Benutzung dieser gezwungen wurde. Ferner geht aber aus den ange-
führten Tliatsachen mit Sicherheit hervor, dass bei dem Hunde
individuelle Verschiedenheiten mit Bezug auf die Zuord-
nung der beiden Netzhautabschnitte auf die beiden Hemi-
sphären bestehen und mit grosser Wahrscheinlichkeit, dass
die lateralen Streifen beider Retinae von beiden Hemi-
sphären innervirt werden.
Der Decursus der Sehstörungen ist bisher meines Wissens
von Niemandem beschrieben worden. Dieser Decursus vollzieht sich
1) Schrader, Ueber die Stellung des Grosshirns im Reflexmechanismus
des centralen Nervensystems der Wirbelthiere. Archiv für experimentelle Patho-
logie und Pharmakologie. Bd. XXIX.
— 570 —
so, dass die Aufhellung der Verdunkelung, wenn sie nicht überhaupt
ausbleibt, ausnahmslos von medial nach lateral und in der Mehrzahl
der Fälle (ausgenommen sind die Scotome der unteren Hälfte des Ge-
sichtsfeldes) gleichzeitig von unten nach oben erfolgt. Der vollständigen
Wiederkehr des Sehvermögens ging in zahlreichen Fällen (Beobb. 94,
109, 113, 133, 135, 144, 147, 148, 151, 154 und 155) entweder auf
einer Randzone oder auf einem Quadranten oder auf dem ganzen Scotom
die von mir oben S. 300 beschriebene Unsicherheit der Reaction
vorher.
In diesen Fällen liess sich also ohne Weiteres das Vorhandensein
einer Amblyopie auf einzelnen Theilen oder auf dem ganzen ge-
schädigten Gesichtsfeldantheil nachweisen. Dies gelang jedoch noch
auf mannigfache andere Weise. In ziemlich zahlreichen Fällen (Beobb.
71, 89, 98, 117, 128 und 148) reagirten die Hunde auf Theilen ihrer
Gesichtsfelder, welche keinerlei Reaction gegen Fleisch erkennen Hessen,
gegen Licht sehr ausgesprochen und zwar sogar gelegentlich von An-
fang der Beobachtung an. Bemerkenswerth ist nach dieser Richtung
hin die Beob. 148, insofern dort das infolge Wiederauflebens der Seh-
störung des medialen Streifens des linken Auges anfänglich gegen
Fleisch gänzlich blinde Gesichtsfeld gegen Licht von Anfang an eine
sehr ausgesprochene Reaction erkennen liess. Andererseits nahm in den
Beobb. 98 und 117 die Sehstörung gegen Fleisch überhaupt nur einen
Theil des der verletzten Hemisphäre zugeordneten Areals des Gesichts-
feldes ein. Das umgekehrte Verhalten, nämlich das Fehlen einer Seh-
störung gegen Fleisch bei gleichzeitigem Vorhandensein einer einseitigen
Sehstörung gegen Licht, habe ich nur in einem Falle (Beob. 85) beob-
achtet, gelegentlich (Beob. 94) merkt der Hund auf früher gegen
Fleisch reactionslosen Segmenten zwar auf, wenn dort Licht erscheint,
scheut aber erst, wenn es in besser sehende Segmente eintritt.
Vorübergehende Sehschwäche einzelner Segmente trat auch da-
durch hervor, dass einzelne Hunde (Beobb. 66, 67, 68 und 71) in der
Schwebe auf diesen Segmenten und nur auf diesen gegen Fleisch nicht
reagirten, während auf dem Schoosse das ganze Gesichtsfeld frei er-
schien. Unzweifelhaft wirkte in diesen Fällen das Aufhängen als eine
Hemmung, welche auf den besser sehenden Stellen den Reiz des
Fleisches nicht überwog, ihn auf den schlechter sehenden Stellen aber
überwog. Es sei bemerkt, dass das Gleiche in einzelnen Fällen auch
rücksichtlich des optischen Reflexes beobachtet wurde.
Andererseits gelang es in einigen Fällen (z. B. Beob. 95) eine ein-
seitige, sonst nicht erkennbare partielle Hypaesthesie der Netzhaut da-
durch nachzuweisen, dass man dem Hund, während er aus einer Schüssel
— 571 —
Gemüse frass, oder in der Schwebe eine luiher golialteiic llniid fixirte
kleine Fleischstückchen in das Gesichtsfeld einführte. Auf der gesunden
Seite reagirte er in diesen Fällen, sobald das Fleisch in das Gesichts-
feld eintrat, auf der kranken Seite erst, wenn es den medialen Ab-
schnitt des Gesichtsfeldes erreichte.
Noch von grösserem Intere^sse ist eine andere Art von Beob-
achtungen. Ich habe bereits bei einer früheren Gelegenheit i) gezeigt,
dass aus den Resultaten der Untersuchung von Hunden mit Gesichtsob-
jecten verschiedener Natur wegen des maassgebenden Einflusses der
Aufmerksamkeit die Diagnose einer Amblyopie nicht sicher zu stellen
ist. Unverletzte Hunde springen z. B. ebenso gut nach einer leeren
wie nach einer Fleischpincette auf, nachdem sie vorher Fleisch von der
gleichen Stelle erhalten haben. Ganz dieselben Erfahrungen macht
man auch in der Schwebe. Es giebt zwar kluge und misstrauische
Hunde, die ein Gesichtsobject regelmässig erst beriechen, ehe sie da-
nach schnappen, besonders wenn sie nicht zu hungrig sind ; aber
solche Thiere sind verhältnissmässig selten. Lässt man in dem Ge-
sichtsfeld eines schwebenden Hundes irgend einen Gegenstand, Fleisch,
Kork oder Watte von der Seite her auftauchen, nachdem er von daher
Fleisch erhalten hat, so schnappt er danach. War es ein Fremd-
körper, so speit er ihn aus, häufig, nachdem er erst daran gekaut
hat. Sieht der Hund sich so betrogen, so untersucht er das Object,
manchmal schon bei dem zweiten Versuche, manchmal aber erst nach
wiederholten Täuschungen. Giebt man ihm dann zwischendurch wieder
Fleisch, so schnappt er wieder ohne Besinnen nach dem nächsten Ge-
sichtsobject, gleichviel welcher Natur es ist, und so kann man das
Spiel nicht selten beliebig oft wiederholen. Natürlich verhalten sich
die Hunde in Einzelheiten verschieden, aber es kommt dabei auf den
Charakter des Hundes und seine Gier, nicht darauf an, ob man ein
gesundes oder krankes Auge, oder einen überhaupt nicht operirten
Hund untersucht. Solche Versuche habe ich sehr oft gemacht und sie
auch bei einigen der oben referirten Beobachtungen angeführt.
Nichtsdestoweniger führt die Untersuchung mit Gesichtsobjecten
von verschiedener Farbe nicht selten zu bestimmten Resultaten. Man
beobachtet Hunde (Beobb. 94 und 95), bei denen die Untersuchung in
der Schwebe local und allgemein keine Sehstörung mehr ergiebt,
während sie auf dem Boden graues Fleisch entweder nicht oder nur
durch den Geruch, weisses Fleisch, Fett oder Watte aber sofort bezw.
schneller auffinden und ergreifen. Ebenso sehen gelegentlich Hunde
1) E. Hitzig, Der Versuch Loeb's. Diese Untersuchungen S. 28.
— 572 —
weisse Objecte auf sonst noch amblyopischen Segmenten. (Beobb. 129,
140.)
Im Ferneren lassen sich amblyopische Sebstörungen auf scheinbar
restituirten Segmenten des Gesichtsfeldes noch durch den Stossversuch
nachweisen, insofern bei diesem ein kleines plötzlich in das Gesichtsfeld
eingeführtes Fleischstück erst nach längerer Zeit (Beobb. 94, 95), oder
wenn es oder der Kopf bewegt wird, berücksichtigt wird, oder insofern
der Hund Fleisch erst berücksichtigt, nachdem er es auf diese Weise
mehrmals erhalten hat (Beob. 70). Dieses Verhalten zeigt sich übrigens
sehr häufig auch bei gesunden Hunden, wenn man ihnen von oben la-
teral ein Stück Fleisch zeigt; sie vernachlässigen das erste, schnappen
aber regelmässig nach dem zweiten Stück. Dies ist nur so zu erklären, dass
der Hund das Fleisch zwar sieht, aber dass er es nur undeutlich sieht,
sodass er es überhaupt nicht zu identificiren vermag ; auch wenn er
endlich danach schnappt, geschieht es nicht, weil er das Fleisch nun
erkennt, sondern weil er aus der Gegend des amblyopischen oder des
indirecten Sehens schon Fleisch erhalten hat. Mit der Seelenblindheit
hat das Phänomen schon deshalb nichts zu thun, weil es eben auch
bei unverletzten Hunden beobachtet wird, und weil man die gleichen
Versuche an verschiedenen aufeinander folgenden Tagen mit Erfolg
wiederholen kann.
Anzeichen vonDefect des Ortssinnes der Netzhaut, welche
sich dadurch documentirten, dass der Hund zu bestimmten Perioden auf
das in seinem Gesichtsfelde erscheinende Fleisch zwar sofort aufmerk-
sam wurde, dann aber nicht sogleich fixirte, und entsprechend" der
Einstellung zuschnappte, sondern ziellos in der Luft herumschnüffelte
oder herumschnappte, wurden in zahlreichen Fällen dann beobachtet,
wenn das übrigens reactionslose Gesichtsfeld in seinem medialen
Streifen nur amblyopisch erschien, gelegentlich (Beob. 95), auch von
peripheren Segmenten des Gesichtsfeldes aus.
Aus den vorstehenden Beobachtungen geht mit Sicher-
heit hervor, dass der Hund zunächst eine Periode durch-
machen kann, während deren er auf den in den Abbildungen
angedeuteten Theilen seines Gesichtsfeldes Gegenstände
überhaupt nicht wahrnimmt. Dann folgt eine zweite Periode,
während deren er auf diesen Theilen seines Gesichtsfeldes
Gegenstände zwar wahrnimmt, aber nicht erkennt und
schlecht localisirt. Hängt er in der Schwebe, so nimmt er einen
zwischen seinem Auge und dem Fenster erscheinenden dunklen Gegen-
stand zwar wahr, aber er vermag denselben Gegenstand auch bei
darauf gerichteter Aufmerksamkeit nicht zu erkennen, ja, unter ver-
— 573 —
Huderteii Versuchsbedingungen nicht einmal zu sehen. Wenn er den-
noch danach schnappt, so geschieht es, weil er weiss, dass ihm bei
diesen Versuchen Fleisch gereicht wird. Aber er findet es schlecht,
geht nicht direct auf den bestimmten Punkt im Räume los, sondern
schnappt planlos in der Luft herum. Ferner ergiebt sich für mich
unzweifelhaft, dass der üefect in der Identificirang der Gegenstände darauf
beruht, dass der Hund sie undeutlicher und lichtschwächer wahrnimmt,
mit einem Worte, dass die Schwelle für die Erregbarkeit der Netzhaut
höher liegt. Dies ergiebt sich aus einer Reihe verschiedener Umstände; er-
stens daraus, dass er Fleischstücke, welche sich nicht, wie bei dem Versuch
in der Schwebe als dunkler Fleck im Sehraum abzeichnen, sondern auf
dem annähernd gleichfarbigen Fussboden liegen, überhaupt nicht bemerkt,
sodass er sie nur durch Zufall findet, sowie daraus, dass er weisses,
also das Licht stärker reiiectirendes Fleisch oder Fett leichter findet
als gekochtes Fleisch und daraus, dass es ihm mit der Watte ähnlich
geht. Da er diese aber ins Maul nimmt, so ist klar, dass er sie zwar
besser als Fleisch sieht, aber dennoch nicht gut genug, um sie durch
das Auge als Fremdkörper zu erkennen. Zweitens wird dies durch die
entscheidende Rolle bewiesen, welche die Aufmerksamkeit bei dem Ge-
lingen der Versuche spielt. Wird die Aufmerksamkeit des Hundes
nicht abgelenkt, so appercipirt er auf den früher nicht sehenden und
noch jetzt amblyopischen Teilen seines Gesichtsfeldes ohne Weiteres,
wird sie aber dadurch abgelenkt, dass man ihm auf dem Tische eine
mit Futter gefüllte Schüssel vorhält, oder ihn in der Schwebe die er-
hobene Hand fixiren lässt, so appercipirt er Fleischstücke nicht, schlecht
oder besser, je nachdem man von lateralwärts nach der Medianebene
zu vorrückt. Ein Beweis für die geringere Empfindlichkeit des Seh-
appavates liegt auch darin, dass der Hund kleine, ihm plötzlich in das
Gesichtsfeld gebrachte Stückchen Fleisch erst nach längerer Zeit, oder
erst, wenn sie bewegt werden, wahrnimmt. Letzteres Verhalten braucht
nicht auf einen bestimmten Fleck der Netzhaut localisirt zu sein,
sondern kann sich auf die ganze, von der verletzten Hemisphäre inner-
virte Netzhautparthie erstrecken, sodass auch von partieller „Rinden-
blindheit" nicht die Rede sein kann. Ebensowenig entspricht es der
Seelenblindheit.
Die vorstehend angeführten Ansichten von Goltz und Loeb
über die Art der Sehstörung haben sich ^ also nach einer gewissen
Richtung hin, aber eben doch nur theilweise als zutreifend erwiesen
Richtig sind sie insofern, als das Wesen der Sehstörung bei sehr vielen
Hunden während gewisser Perioden und bei anderen Hunden dauernd
— 574 —
in einer Amblyopie (Loeb), die sich aus einem Defect des Farben-
uud Ortssinnes der Netzhaut (Goltz) zusammensetzt, besteht.
Dagegen ist Goltz nicht im Recht, wenn er in einem späteren
Aufsatze diese seine eigene Erklärung nur auf einseitig operirte Hunde
angewendet wissen will, während bei doppelseitig operirten die Demenz
die Hauptrolle spiele. Dies mag für solche Hunde gelten, welche nach
den Methoden oder mit den colossalen Verstümmelungen von Goltz
operirt worden sind. Ich muss sehr nachdrücklich hervorheben, dass
fast sämmtliche von mir doppelseitig im Occipitallappen operirte
Hunde ihre gelegentlich recht grossen Verstümmelungen ohne oder nur
mit ganz vorübergehenden Zeichen von Demenz ertrugen. Ferner ist
die Ansicht beider Forscher, dass die Sehstörung nur in „Hirnseh-
schwäche", nicht aber in vorübergehender oder dauernder partieller
Blindheit bestehe, auch in der Formulirung Loeb's. dass eine solche
Blindheit nur ein unf;lücklicher Zufall wie etwa der Tod sei, meiner
Ansicht nach unzutreffend. Die Thatsache, dass Hunde nach Aus-
schaltung der ganzen Sehrinde oder einer ganzen Sehstrahlung dauernd
blind werden müssen und nicht nur blind werden können, halte ich
für ausgemacht. Nun kann zwar niemand wissen, ob Hunde, welche
von einem geschädigten Segment aus zeitweise garnicht reagireu, dort
garnichts sehen. Noch viel weniger kann aber jemand wissen, ob sie
dort etwas sehen. Denn die Beobachtung Loeb's, dass solche Hunde
von den fraglichen Stellen aus zwar nicht auf ruhig gehaltenes, wohl
aber auf bewegtes Fleisch reagiren, findet allerdings in mancherlei von
mir erwähnten Beobachtungen ihi'e Bestätigung, aber sie ist nichts
weniger als allgemein gültig. Die Mehrzahl dieser Hunde bleibt zeit-
weise absolut ruhig, man mag welche Vorgänge auch immer sich vor
dem anscheinend blinden Segment abspielen lassen.
Jedoch haben beide Autoren und mit ihnen v. Monakow,
Bernheimer u. a. wieder darin recht, dass die Gesammtheit dieser
Symptome mit dem als „Seelenblindheit" bezeichneten Phänomen nicht
das Mindeste gemein hat. Es handelt sich dabei eben nicht um eine
Störung der Association, sondern um eine Störung der Wahrnehmung.
Den Eintritt der Seelenblindheit nach Ausschaltung der Stelle A^,
hat Munk auch insbesondere dadurch zu beweisen gesucht, dass er
angab, der normal auf Annäherung des Fingers, der Faust oder des
Lichtes erfolgende Lidschluss bliebe nach der gedachten Operation aus
(a. a. 0. S. 22), sei aber dadurch, dass man dem Thiere mit dem
Finger vor oder in das Auge fahre oder es an der Nase brenne wieder
hervorzurufen, auch wende der Hund nach einer späteren Angabe den
Kopf auf Lichtreiz erst dann ab, wenn man diese Procedur mit ihm
— 575 —
vorgenommen habe. Sonst aber komme dieses Blinzeln ohne alles
Zuthnn erst in der zweiten oder dritten Wociie zur Beobachtung. Das
Abwenden des Kopfes auf den Lichtreiz trete aber erst dann ein, z. B.
in der 5. Woche, wenn man den Hund durch Brennen an der Nase
genirt habe. Von allen phantasievollen Schilderungen M unk 's gehört
diese vielleicht am meisten, noch mehr wie jede andere in das Gebiet
der eigenen Vorstellungstliätigkeit. Die Richtigstellung des wirklichen
Sachverhaltes erscheint aber umso nothwendiger. als noch die neuesten
italienischen Experimentatoren aus dem Ausbleiben des optischen Re-
flexes (Gesticulationsversuche Luciani's) zu Unrecht auf das Bestehen
oder Fortbestehen einer Sehstörung schliessen.
Man hat hier zu unterscheiden zwischen den optischen Reflexen
und dem Abwenden des Kopfes auf den Lichtreiz. Nach den vorstehend
referirten Angaben Munks soll die erste Reaction auch ohne alles Zu-
thun des Experimentators, aber dann verspätet, in der 2. — 3. Woche,
die letztere Reaction, aber nur wenn man den Hund mit dem Feuer ge-
nirt hat, z. B. in der 5. Woche eintreten. Sehen wir nun zunächst von
dem „Zutliun" des Experimentators ab, so ist es unzutreffend, dass die
Hunde im Allgemeinen in der 2. — 3. Woche wieder in den Besitz des
optischen Reflexes gelangten. Bei manchen stellt er sich viel früher
wieder ein und bei sehr vielen viel später oder überhaupt nicht. Noch
unzutreffender ist die Angabe, dass das Scheuen des Hundes vor dem
Lichte später und erst nach Vornahme unangenehmer Proceduren einträte.
Wenn man diese beiden Reactionen mit einander vergleicht, ist es im
Gegentheil höchst auffällig, wieviel eher der Hund auf den Lichtreiz mit
Abwenden des Kopfes, als auf die Annäherung der flachen Hand oder
gar des Fingers mit Lidschluss reagirt. Richtig ist nur, dass operirte
Hunde, gleichviel ob die Operation die Stelle Ai getroffen hat oder nicht,
manchmal zu einer gewissen Zeit den Kopf auf den Lichtzeiz einseitig erst
abwenden, wenn man sie an der Nase gebrannt hat, genau so, wie die
vorher erwähnten Hunde auf Fleisch erst reagieren, wenn sie etwas da-
von erhalten haben. Daraus geht aber nur hervor, dass sie das Ge-
sichtsobject (wegen Amblyopie) undeutlich, gleichwohl aber deutlich
genug sehen, um es nach dem Verbrennen wiedererkennen zu können. Für
die Annahme, dass die herausgeschnittenen Vorstellungen durch neue er-
setzt worden seien, lässt sich schon deshalb nichts daraus ableiten, weil
der Versuch nicht selten mehrere Tage hintereinander mit dem gleichen
Erfolge wiederholt werden kaiui, und weil die Thiere in der Regel jene
Reaction auf Licht und zwar unter Umständen sehr früh wiederge-
winnen, auch wenn sie niemals gebrannt worden sind. Endlich ist es mehr
als fraglich, ob das Scheuen der Hunde überhaupt auf der Erfahrung,
— 576 —
dass das Licht ihnen Schmerzen bereitet, beruht, denn frisch in das
Laboratorium gebrachte Hunde, die doch voraussichtlich nicht sämmt-
lich von ihren Vorbesitzern an der Nase gebrannt worden sind, pflegen
auch vor dem Lichte zu scheuen, ja, jeder glänzende Gegenstand, z. B.
eine Flasche (Goltz), kann sie mit demselben Abscheu erfüllen.
Unrichtig ist dagegen wieder der ganze Rest der Angabe Munks.
Schon die Schilderung des physiologischen Verhaltens der Hunde ist un-
zutreffend. Auf die plötzliche Annäherung des Fingers folgt der Lid-
schluss verhältuissmässig selten, ja, er bleibt sogar häufig auf die plötz-
liche Annäherung der Schmalseite der Hand aus; nur auf die plötz-
liche Annäherung der flachen Hand habe ich regelmässig Lidschluss
erfolgen sehen. In einer früheren Arbeit i) habe ich bereits angeführt,
dass Böen sei zwar mit der Angabe, dass Lidschluss auf den Lichtreiz
überhaupt nicht eintrete, zu weit geht, aber noch weniger richtig ist es,
wenn Munk Blinzeln gleichsam als die regelmässige physiologische Re-
action auf den Lichtreiz anführt.
„Grundfalsch" sind weiter, um mich der Ausdrucksweise Munks
zu bedienen, dessen Angaben über die Abhängigkeit der Restitution der
optischen Reflexe von der vorgängigen Application der vorerwähnten
Reize auf das Auge oder die Nase. Ich habe den Decursus der op-
tischen Reflexe, welcher Munk gänzlich unbekannt ist, und ihr Ver-
halten zur Sehstörung in den zusammenfassenden Besprechungen der
einzelnen Serien meiner Beobachtungen bereits einer Prüfung unterzogen
und kann deshalb auf diese verweisen. Im Allgemeinen ist darüber zu
sagen, dass die zu beobachtenden Erscheinungen bei gleicher Grösse der
Läsion keinen wesentlichen Unterschied erkennen lassen, gleichviel an
welchem Theile der Convexität dieselbe angebracht wird, nur dass viel-
leicht grosse Ausschaltungen des vorderen Abschnittes die Restitution
erschweren. In der Regel, aber nicht immer, tritt die Störung gemein-
schaftlich mit der Sehstörung auf, sie kann sich dann an sich und gegen-
über der Sehstörung längere Zeit sehr verschieden verhalten und ihre
Wiederkehr kann schliesslich ganz plötzlich oder derart erfolgen, dass,
unter Schwankungen, ein sehr allmähliches Anwachsen des Reizeffectes
— leichtes Zucken besonders des oberen Lides (wobei es sein Bewenden
haben kann), wenig energischer, manchmal bei Wiederholung sich ab-
schwächender Lidschluss gegen flache Hand, Zunahme der Energie des
Lidschlusses, Eintritt der Reaction auf schmale Hand — sich einstellt.
Dabei hat ganz allgemein gesprochen die Störung der optischen Reflexe
1) E. Hitzig, Historisches, Kritisches etc. Diese Untersuchungen.
S. 101.
— 577 —
eine längere Dauer als die Selistöruiig. Auf (licsou l)(;(uirsus hat die
Anbringung der mehrfach erwähnten Reize Mii iiks inclit den gering.st(;n
bestimmenden Rinfluss, obschon es sich ebenso wie bei den vorher er-
wähnten Versuchen mit Fleisch und Licht gelegentlich ereignen mag —
ich habe es nicht gesehen — , dass ein nur noch leicht aniblyopischer
Hund, dessen motorische Bahnen von der Sehsphäre abwärts wieder offen
sind, erst dann das Auge schliesst, wenn man ihm mit dem Finger hin-
eingefahren ist. In allen Fällen, die ich beobachtet habe, konnte mau
mit den Hunden, selbst wenn sie dem Anscheine nach wieder normal
sahen, machen was man wollte, ohne dass dadurch etwas an dem Ver-
halten des optischen Reflexes geändert worden wäre.
Die Störung der optischen Reflexe erweist sich also als ein bis zu
einem gewissen Grade selbständiges Symptom. Mit Bezug hierauf und
mit Bezug auf die sonst dabei zu beobachtenden Eigenthümlichkeiten
hatte ichi) früher gesagt: „. . . Die optischen Reflexe . . . können unge-
achtet einer gleichseitigen hochgradigen Sehstörung vorhanden sein und
sie können fehlen, obwohl keine Sehstörung mehr besteht."
Munk^) hat auf diese in einem Vortrage enthaltenen Bemerkungen
ohne die Vorlegung des zugehörigen Materials abzuwarten. Folgendes er-
widert: „Da ist nun zu beachten, dass ich nur nach der Exstirpation
der Stelle A^ und noch grösseren Exstirpationen, wenn Seelenblindheit
bis Rindenblindheit herbeigeführt war, nicht nach kleineren Exstirpa-
tionen der Sehsphäre regelmässig den Reflex ausbleiben sah. Demge-
mäss ist, weil Herr Hitzig weder darüber Auskunft giebt, was er unter
„hochgradiger Sehstörung" versteht, noch die Grösse seiner Exstirpationen
anzeigt, und weil er sogar hervorhebt, dass es oberflächliche Verletziingen
waren, die er ausführte, die Auffassung wohlbegründet, dass die Hitzig-
scheu Exstirpationen in den betreffenden Fällen einfach zu wenig aus-
gedehnt gewesen sind, um den Reflex verschwinden zu machen. Anderer-
seits lässt sich nicht nur nach den Erfahrungen, die wir bei den Doppel-
operationen machten, dem nicht vertrauen, dass keine Sehstörung bestand,
wo Herr Hitzig keine fand, sondern geht es auch gerade aus den paar
Notizen, die Herr Hitzig über seine einschlägigen Versuche mitgetheilt
hat, hervor, dass die Versuche nicht ohne Entzündungen abliefen und
daher dort, wo bei anscheinendem Fehlen einer Sehstörung der Reflex
gestört war, ausser der Sehsphäre noch die Rinde des Gyrus coronalis,
die dem Sphincter palpebrarum zugeordnet ist, geschädigt sein koimte."
1) E. Hitzig, Ueber den Mechanismus etc. Berl. klin. Wochenschrift.
1900. Nr. 45.
2) H. Munk, Zar Physiologie der Grosshirnrinde, Verhandlungen der
physiol. Gesellschaft zu Berlin. 1901/02. Nr. 10—11.
Hitzig, Gesammelte Abliaiull. IL Thcll. 37
— 578 —
Alles, was Munk hier anführt, ist „unrichtig" und schwebt in der
Luft. Er hatte das Ausbleiben des optischen Reflexes und seine Wieder-
kehr nach meinem vorstehenden Referat von dem Auftreten und Ver-
schwinden der Seelenblindheit abhängig gemacht. Nur um die Erörte-
rung dieser Frage, d. h. um die Beziehungen der optischen Reflexe zur
Seelenblindheit und zum Sehen überhaupt handelt es sich.
Durch den Versuch war also einfach die Frage zu entscheiden,
läuft der einseitige Verlust der optischen Reflexe immer parallel einer
einseitigen temporären oder 'dauernden Blindheit des Hundes, wie dies
nach der Behauptung Munk's sein soll, oder besteht ein solcher Pa-
rallelismus nicht, hat der sehende Hund immer und zu allen Zeiten
seinen ungeschädigten optischen Reflex, und hat der nicht sehende zu
der Zeit, da er nicht sieht, keinen optischen Reflex. Damit wird auch
der sonderbare Einwand Munk's, dass ich nicht angegeben habe, was
ich unter hochgradiger Sehstörung verstehe, hinfällig. Munk hat mir
entgegen gehalten, er habe den optischen Reflex nur dann regelmässig
fehlen sehen, wenn Seelenblindheit bis Riudenblindheit bestand. Dass
der total rindenblinde Hund seine optischen Reflexe besässe, habe ich
nicht behauptet und Seelenblindheit nach circumscripten Eingriffen in
den Occipitallappen des Hundes giebt es nicht. Aber darauf kommt es
auch hier garnicht an. Zur Kritik der Lehre Munk's kam es einzig
und allein darauf an, ob die fraglichen Hunde auf die gewöhnlichen
Reize anderweitig in der gewöhnlichen Weise reagirten und dadurch
bewiesen, dass sie die Natur der Reizobjecte erkannten oder nicht.
Munk's seelenblinde Hunde . sollen ja sehen und die Gesichtsobjeete
nur nicht erkennen; der von mir erwähnte eine Hund mit hochgradiger
Sehstörung sah zeitweise nicht oder gab wenigstens zeitweise kein
Zeichen, dass er Gesichtsobjeete erkannte und hatte dennoch seinen
optischen Reflex conservirt.
Die Beobachtung, von der damals die Rede war, wüU ich hier kurz
referiren.
Beobachtung- 1S6,
Aufdeckung links hinten auf 19 mm sagittal, 15 mm frontal, einige mm
von der Mittellinie; Aetzung mit 5 proc. Carbolsäure.
Motilitätsstörungen fehlen .
Sehstörung: Am 2. Tage blind bis auf nasalen Streifen, auf welchem
er auf Fleisch und Licht reagirt. 7\.bnahme schon am 3. Tage; Reaction gegen
Licht manchmal schon bis zur Mitte des Gesichtsfeldes; am 9. Tage unsicher
ob noch Sehstörung; am 11. Tage keine Sehstörung mehr.
Optische Reflexe ungestört.
Naseniidreflex ung-estört.
— 579 —
Getödtet nach ca. 5 Wochen.
Sectio n: Häute normal. Die Auflagerung misst sagittal 19, frontal
12,5mm; sie reicht medial bis an den lateralen Rand des Randwulstos, lateral
bis fast an den medialen Rand der III. Urwindung und erreicht mit ihrer hin-
teren Spitze den hinteren Pol.
In diesem Falle war also — und lediglich darauf kommt es an
— der optische Reflex erhalten, obwohl der Hund, dem die Stelle A^
hochgradig geschädigt worden war, am zweiten Tage auf dem ganzen
von der linken Hemisphäre abhängigen Abschnitt des Gesichtsfeldes
Fleisch und Licht sicherlich nicht erkannte. Von geringerem Interesse
sind die nächsten Tage, riicksichtlich deren man ja darüber streiten
könnte, ob er nicht mit der Stelle des deutlichen Sehens die drohende
Hand erkannte, obschon der daselbst auf Fleisch niemals und auf Licht
nur unregelmässig reagirte.
Von den anderweitigen für die relative Unabhängigkeit der Störung
der optischen Eeflexe von der Sehstörang sprechenden Beobachtungen
führe ich die folgenden an.
Beobachtung IST^.
Aufdeckung hinten links auf sagittal 20mm, frontal 16mm. Anätzung mit
5proc. Carbolsäure.
Motilitätsstörungen fehlen.
Sehstörung: Gegen Fleisch: am zweiten Tage rechts überhaupt keine
Reaction, vom 3. — 5. Tage wird von lateral kommendes Fleisch schon vor der
Mitte des Gesichtsfeldes fixirt, ergriffen aber erst nach Ueberschreitung der
Mitte. Am 6. Tage erst im nasalen Rand, am 7. Tage im nasalen Rand und
im ganzen unteren inneren Quadranten, vom 9. — 11. Tage sieht er nur im
nasalen Streifen, am 13. Tage Fixiren gelegentlich auch im temporalen Ge-
sichtsfeld, Zugreifen aber erst dicht an der Nase; am 14. Tage beobachtet er
es rechts schon aussen, greift aber erst auf breitem nasalen Streifen danach,
am 15. Tage im nasalen Streifen, am 16. Tage bis zur Mitte des Gesichtsfeldes
Reaction, am 17. Tage auch im temporalen Gesichtsfeld, vom 19. Tage an
normal. Gegen Licht: am 2. Tage fehlt die Reaction rechts, von da an beider-
seits gleich.
Optische Pveflexe: Am 2. Tage gegen flache und schmale Hand
normal, vom 3. — 5. Tage gegen flache Hand vorhanden, gegen schmale Hand
fehlend, am 6. Tage gegen flache Hand abgeschwächt, gegen schmale Hand
fehlend, vom 7.-9. Tage fehlend, am 11. Tage gegen flache Hand spurweise,
gegen schmale Hand 0; vom 13. — 17. Tage gegen flache Hand abgeschwächt,
gegen schmale Hand fehlend; bis zum 35. Tage gegen flache und schmale Hand
abgeschwächt, später normal.
Nasenlidreflex ungestört.
Gestorben nach ca. 2Y2 Monaten in Folge einer 2. Operation.
37*
— 580 —
Section: Hirnhäute normal. Die Auflagerung reicht lateral etwas über
die StelleAj und medial etwas über die Mitte des Randwulstes hinaus, wo sie
in ein durch eine Erweichung gebildetes, bis an die Medianspalte reichendes
Loch endet.
Auch in diesem Falle gab der Hund also am ersten Tage kein
Zeichen davon, dass er anderweitige Reize erkannte, während die
optischen Reflexe nicht gestört erschienen. Dann folgte eine ziemlich
langdauernde Periode von Amblyopie schwankender Intensität, während
deren die optischen Reflexe eine bis zum temporären gänzlichen Verlust
gehende Abschwächung erfuhren. Auch hier liegt das hauptsächliche
Interesse in deu Beobachtungen des zweiten Tages.
Sodann ist hier die Beob. 76, auf deren Wortlaut ich verweise,
anzuführen. Bei ihr war die Macula von Anfang an frei, eine Seh-
störung bestand überhaupt nur am 2. Tage und dann nur auf der
lateralen Hälfte des Gesichtsfeldes. Gleichwohl fehlten die optischen
Reflexe bis zum 16. Tage gänzlich und blieben noch bis zum Tode des
Thieres abgeschwächt. Endlich verweise ich noch auf die Beob. 123,
bei der zwar eine Sehstörung von 2 tägiger Dauer vorhanden, die
Macula aber gleichfalls von Anfang an frei war, während die optischen
Reflexe an den beiden ersten Beobachlungstagen mit abnehmender
Intensität vorhanden waren und sich dann, obschon das Sehen in-
zwischen keine Störung mehr erkennen Hess, auf längere Zeit gänzlich
verloren.
In allen diesen Fällen war weder der Naseulidreflex zu irgend
einer Zeit gestört, noch liess die Section irgend welche Veränderungen
der Hirnhäute, auf die die Störung der optischen Reflexe hätte bezogen
werden können, erkennen.
Naturgemäss sind Beobachtungen dieser Art verhältnissniässig
selten, wenn ich auch noch einige andere Gleiches bedeutende besitze.
Unendlich viel zahlreicher als diese Fälle, bei denen die Sehstörung
entweder ganz fehlte oder nur auf die kürzeste Zeit eben angedeutet
erschien, während die optischeu Reflexe eine mehr oder minder hoch-
gradige und anhaltende Störung erfuhren, sind in jeder einzelnen Gruppe
diejenigen Fälle, bei denen zwar anfänglich eine hochgradigere Seh-
störung bestand, bei denen aber der optische Reflex nach Verschwinden
der Sehstörung noch sehr lange oder dauernd gestört blieb, und diese
Beobachtungen allein würden schon die Hinfälligkeit dieses Theiles der
M unk 'sehen Lehre erweisen.
Ueber die Einwendungen, dass ich thatsächlich vorhandene Seh-
störungen nicht habe auffinden können, und dass das Orbicularis-
centrum durch secundäre Entzündungen beschädigt gewesen sei, habe
— 581 —
ich mich bereits im Vorstehenden, S. 300 ff., mid an anderem Orte
geäussert. Ich recapitulire nur, dass Munk in ersterer Beziehung als
einzigen Beweis gegen mich nur Vermuthungen besitzt, die er aber
nicht aussprechen will und mm hier mit der auf so woldfeile Weise
gewonnenen Gewissheit als Beweis operirt. Ueberdies fehlt es in den
vorstehenden Beobachtungen nicht an Beispielen, bei denen die Hunde
nach dem Licht oder der drohenden Hand bissen, wüthend knurrten,
sich die Augen zuhielten, unruhig wurden oder das Licht mit der Pfote
ausschlugen (ßeobb. 71, 94, 116), also den unzweideutigsten Beweis für
Sehen und Erkennen des ihnen unbequemen Gesichtsobjectes gaben und
dennoch keinen, optischen Reflex besassen.
Was aber den Einwand, es habe sich eine Entzündung von der
Operationsstelle auf den Gyrus coronalis ausgedehnt, angeht, so besitzt
Munk als einzigen Beweis dafür nur die allerdings unbestrittene That-
sache, dass meine Beobachtungen mit den seinigen im Widerspruch
stehen. Wenn ein anderer Beobachter solche abweichenden Beob-
achtungen macht, „so kann es nicht anders sein", als dass beliebige
andere Regionen durch die Operation geschädigt worden sind. Wenn
dieser Beweis genügt, „so sehe ich nicht ein, aus welchem Grunde
andere Leute noch zu experimentiren brauchen, sie können dies Ge-
schäft einfach Herrn Munk überlassen, der sie dann schon ex cathedra
belehren wird."
Im Uebrigen habe ich zur Entkräftung des letztgedachten Ein-
wandes, den ich sehr wohl verausgesehen habe, das Verhalten des
Nasenlidreflexes bei allen meinen Beobachtungen verfolgt und referirt
und überdies den Zustand der Hirnhäute beschrieben. Der Leser kann
sich ja ohne Weiteres überzeugen, ob ich in dieser Hinsicht mit der
nötigen Sorgfalt und Vorsicht verfahren bin oder nicht.
Ich hatte in dem angefochtenen Vortrag die Frage aufgeworfen:
„Besteht eine solche unbedingte Abhängigkeit des optischen Reflexes
von der Sehstörung in allen Fällen experimenteller corticaler Seh-
störung oder besteht sie nicht?" Diese Frage ist nach dem Vorge-
tragenen, was Munk auch immer dagegen einwenden mag, in ver-
neinendem Sinne zu beantworten und es folgt daraus, dass ein
Schluss auf das Vorhandensein oder die Beseitigung von
„Seelenblindheit" aus dem Fehlen oder Vorhandensein des
optischen Reflexes nicht gezogen werden kann.
Eine Frage für sich ist es, ob mit den vorstehend erwähnten Beob-
achtungen der Beweis zu führen ist, dass der optische Reflex auch
subcortical ausgelösst werden kann — eine Frage, die ich für unent-
schieden hielt. Auf diese Frage komme ich weiter unten kurz zurück.
— 582 —
Hier handelt es sich um die Entscheidung der Frage, ob meine eigenen
Beobachtungen oder die Behauptungen von Munk, dass das Fehlen
des optischen Reflexes ein Zeichen von Seelenblindheit sei und mit der
erwähnten Cur der Seeleublindheit gleichfalls curirt werde, mit dem,
was wir sonst über die Physiologie der Sehrinde wissen, besser ver-
einbar ist. Nun geht aus den oben erwähnten Arbeiten über die durch
die Faradisirung des Occipitalhirns entstehenden Augenbeweguugen her-
vor, dass jedenfalls ein directer Weg von dort nach den motorischen
Kernen der Augenmuskeln — auch des Orbicularis palp. — besteht,
während eine Verbindung der Sehregion mit dem corticalen Orbicularis-
centrum durch Associationsbahnen aus andern Gründen so gut wie
sichergestellt erscheint. Wird nun ein Theil des Occipitalhirns ausge-
schaltet, so können diese centrifugalen oder associatorischen Wege un-
zweifelhaft mehr oder minder hochgradig geschädigt sein und es wäre
absolut nicht zu begreifen, welchen Einfluss unter diesen Umständen
die manchmal ausserordentlich schnelle Wiederkehr des Sehvermögens
oder, wenn man sich auf den Staudpunkt Munk 's stellen will, das
Verschwinden der Seelenblindheit auf die Wiederkehr des optischen
Reflexes ausüben könnte. Dagegen entspricht die in so zahlreichen
Fällen beobachtete, ganz allmähliche Wiederkehr dieses Reflexes, sowie
seine nicht selten dauernde Abschwächung — Erscheinungen, von
denen Munk garnichts weiss — durchaus unseren anderweitigen Er-
fahrungen über die Erstarkuug zeitweilig verlegter oder collateraler
Bahnen.
Meiner Meinung nach lassen sich aus dem Vorgetragenen die
nachstehenden Schlüsse ziehen:
1. Da wir aus den anatomischen Untersuchungen v. Mo-
nakow's und Anderer wissen, dass jede Ausschaltung eines
Theiles seiner Sehsphäre zu einer secundären Degeneration
bestimmter Zellgruppen der primären Opticuscentren führt,
so ist es sehr wahrscheinlich, dass dadurch jedesmal eine
Veränderung des Sehactes bedingt wird, auch wenn diese,
ebenso wie beim Menschen, auch beim Hunde und Affen sich
der Erkennung entzieht. Dies gilt natürlich auch A^on den-
jenigen Zeiträumen, in denen eine vorher nachweisbare Seh-
störung keine erkennbaren Zeichen mehr hinterlassen hat.
2. Keinerlei Anzeichen bestehen dafür, dass diese Ver-
änderung des Sehactes beim Hunde, wenn und solange sie
nachweisbar ist in „ Seelenblindheit", also in einem Verluste
der Erinnerungsbilder der Gesichtsobjecte bestehe, oder dass
die Restitution durch Wiedererwerb verloren gegangener Ge-
— 583 —
Sichtsvorstellungen bedingt und durch das Eingreifen des
Experimentators zu vermitteln s(!i. Vielmehr lassen sich
alle zu beobachtenden Erscheinungen, insoweit sie mit dem
Sehact zusammenhängen, durch eine Herabsetzung der Licht-
empfindlichkeit, des Farbensinnes und des Ortssinnes der
Sehorgane erklären.
3. Diese Functionsschwäche tritt, abgesehen von ge-
wissen individuellen Verschiedenheiten, ausnahmslos am
stärksten in den oberen lateralen und am schwächsten in
den unteren medialen Abschnitten des Gesichtsfeldes her-
vor, derart, dass die medialen, namentlich deren unterste
Abschnitte, sowohl von Anfang an weniger geschädigt er-
scheinen, als auch sich von ihrer Schädigung am schnellsten
und in der Diagonale von unten innen nach oben aussen
wieder erholen.
4. Wendet man auf diese Erfahrungen die bezüglich der
Vertretung der Macula des Menschen in der Rinde von
V. Monakow avifgesteli te und von Bernheimer acceptirte
Theorie an, so wäre daraus zu schliessen, einmal, dass die
Bedeutung der Retina für das Sehen des Hundes in der
Richtung dieser Diagonale nach den unteren und nasalen
Theilen des Gesichtsfeldes zu anwächst und zweitens, dass
die einzelnen Segmente der Retina entsprechend dieser ihrer
verschiedenen Wichtigkeit für die Existenzbedingungen des
Hundes mit verschiedener Mächtigkeit in den einzelnen
Segmenten der Sehsphäre vertreten sind. Unzweifelhaft
trifft diese erste Folgerung für den Hund deshalb zu, weil
für ihn, indem er für das Aufsuchen seiner Nahrung auf dem
Boden und mit Hülfe der Nase angewiesen ist, die unteren
und nasalen Abschnitte des Gesichtsfeldes die grösste, und
die oberen lateralen Abschnitte desselben die geringste
Wichtigkeit besitzen. Im Zusammenhang hiermit steht auch
die Thatsache, dass die Trennungslinie der beiden Gesichts-
feldhälften nicht in deren Meridian, sondern erheblich weiter
medianwärts liegt. Dagegen steht mit dieser Auffassung
nicht im Widerspruch, dass die Macula selbstverständlich
auch beim Hunde die Stelle des deutlichen Sehens und Er-
kennens für die einmal aufgespürten und fixirten Objecto
bleibt. Sie participirt, wenn auch nicht in erster Linie, an
der Bevorzugung dieses Theiles des Gesichtsfeldes. —
Ich habe oben S. 290 ff. die Behauptung Loeb's, dass der operirte
— 584 —
Hund immer mit der Stelle des deutlichen Sehens am Besten sehe, eine
Behauptung, der sich Goltz angeschlossen hatte, ausführlich erörtert
und nachgewiesen, dass das von ihm behauptete Verhalten nach seiner
eigenen Schilderung des Sachverhaltes in sich unmöglich sei. Aus dem
Vorgetragenen ergiebt sich nun, dass der Irrthum von Loeb und
Goltz aus ihrer Unbekanntschaft mit dem Decursus der operativen
Sehstörung fliesst.
Der eine Theil der von ihm mitgetheilten Beobachtungen, welcher
die Angaben Munk's über 'die Betheiligung jeder der beiden Hemi-
sphären au der Innervation der beiden Ptetinae betrifft, entspricht
— wenn auch nicht in allen Fällen — der Wirklichkeit, aber dieser
Theil widerspricht wieder der Angabe, dass die Stelle des deutlichen
Sehens immer am Besten sehe. Der andere Theil dieser Angaben, der
sich also auf das Sehen der lateralen ^/^ des Gesichtsfeldes bezieht, ist
deshalb unrichtig, weil er sich offenbar auf die Untersuchung von
solchen Hunden stützt, bei denen die Sehstörung sich bereits in oder
über die Stelle des deutlichen Sehens zurückgezogen hatte. Diese
Stelle wird, wie wir gesehen haben, relativ früh frei, und um so leichter
konnte deshalb jener Irrthum entstehen; aber in der Majorität aller
Fälle von grösseren Ausschaltungen der Sehrinde, auch wenn diese
nicht zur Rindeublindheit führen, ist sie anfänglich mit in das Scotom
einbezogen, so dass davon, dass sie immer am Besten sehe, nicht wohl
die Rede sein kann.
III. Der Mechanismus des Sehens, der Sehstörung und der
Restitution.
Weiui selbst tiefgreifende Läsionen der Sehsphäre in der Regel
vorübergehende, aber eben nur solche und manchmal gar keine erkenn-
baren Sehstörungen zur Folge haben, so müssen ausserhalb der Seh-
sphäre solche Organe vorhanden sein, welche in der Norm das Sehen
und in der Pathologie die Aufhebung und die Wiederkehr des Sehens
vermitteln. Ganz besonders wird diese Auffassung dadurch zu einer
zwingenden Nothwendigkeit, dass es sowohl nach occipitalen als auch
— wenngleich seltener — nach frontalen Eingriffen gew^öhnlich zu
totaler homonymer Hemianopsie oder Hemiamblyopie kommt, welche
sich dann nach den in dem A^orstehenden geschilderten Gesetzen wieder
verliert. Welchen Antheil man auch immer den Einflüssen der sog.
Nebenwirkungen an diesen Erscheinungen zuschreiben mag, sie reichen
zu ihrer vollständigen und befriedigenden Aufklärung nicht hin, so dass
ich von ihrer Erörterung um so mehr absehen kann, als davon auch in
— 585 —
meinen Arbeiten schon oft genug die llede gewesen ist. Goltz und
seine Schüler waren durch diese Erfahrungen bekanntlich dazu vci'-
anlasst worden, die subcorticalen Ganglien zur Erklärung dieser Phä-
nomene heranzuziehen; sie gingen jedoch darin insofern zu weit, als
sie — wie ich dies schon in den vorstehenden Abhandlungen erläutert
habe — dem Grosshirn und namentlich dessen einzelnen Regionen
keinerlei specifische Verrichtungen zugestehen wollten, während seine
Gegner — Munlv u. A. — wieder in den entgegengesetzten Fehler
verfielen.
V. Monakow') hat nun neuerdings eine Theorie entwickelt, welche
den erwähnten Voraussetzungen in fruchtbarer, wenn auch noch nicht
überall befriedigender Weise Rechnung trägt; wir wissen, vornehmlich
durch seine eigenen Versuche, dass ein System von Ganglienzellen der
primären Opticuscentren, insbesondere des Corpus geniculatum laterale,
nach Ausschaltungen innerhalb der Sehsphäre degenerirt. xVndererseits
degenerirt in Folge von Enucleation eines Auges die gelatinöse Sub-
stanz dieses Ganglion, in welche sich die Endbäumchen der centri-
petalen Opticusfasern einsenken. Verschont bleibt in dem einen wie
in dem anderen Falle ein von Golgi entdecktes, aber von ihm irrthüm-
lich für sensibel gehaltenes System von Zellen, welches mit seinen
Endbäumchen, ohne centripetal oder centrifugal markhaltige Nerven-
fasern zu versenden, mit den Endbäumchen der Opticusfasern und jenem
anderen System von Ganglienzellen in Contact tritt. Diese Ganglien-
zellen hat V. Monakow als Schaltzellen bezeichnet und ihnen die
Fähigkeit zugesprochen, „Erregungen von verschiedenen Seiten zu em-
pfangen und sie nach verschiedenen Richtungen zu übertragen und dies
alles durch Vermittelung der Substantia gelatinosa". In der Regel
erfolgt die Weiterbeförderung der Reize auf dem kürzesten Wege, also
durch die den einzelnen Opticusfasern zunächst gelegenen Zellencom-
plexe. Wird aber die Function einer grösseren oder geringeren Zahl
von Neuronen des Projectionssystems Ganglion geniculatum — Rinde
durch einen Herd in der Sehsphäre ausgeschaltet, so können gleich-
wohl die Reize, welche durch Vermittelung der nächst betheiligten
Opticusfasern anlangen, auf dem Wege durch die Substantia gelatinosa
und die Schaltzellen noch sämmtiich auf die Rinde projicirt werden.
1) V. Monakow, Ueber den gegenwärtigen Stcand der Frage nach der
Localisation im Grosshirn. Ergebnisse der Physiologie. Erster Jahrgang.
S. 647 f., 659 etc. und Experimentelle und pathologisch-anatomische Unter-
suchungen über die optischen Centren und Bahnen nebst klinischen Beiträgen
zur corticalen Hemianopsie und Alexie. Archiv für Psychiatrie. Bd. XXIV.
H. 1. 8.87 ff.
— 586 —
Auf diese Weise würde sich allerdings jene relative Projection der
Netzhaut auf die Sehsphäre, von der oben S. 562 ff. die Rede war und
die Tbatsache erklären, dass partielle Rindenblindheit, wie V.Monakow
selbst zugiebt, nicht nothwendig auf Partialexstirpationen der Sehsphäre
folgt. Indessen steht der allgemeinen Anwendbarkeit dieser Lehre doch
die Majorität meiner Beobachtungen entgegen, da aus diesen hervor-
geht, dass selbst so lockere Beziehungen zwischen den einzelnen Seg-
menten der Retina und denen der Rinde nur in einer Minderzahl von
Fällen und nur mit Bezug auf einzelne corticale Areale bestehen. Zu
dieser Majorität gehören namentlich auch diejenigen Beobachtungen,
bei denen eine erkennbare oder eine nennenswerthe Sehstörung in Folge
von ausgedehnten Rindenexstirpationen nicht eintrat. M'ie ich aus
physiologischen, nimmt ßernheimer, der im Uebrigen gleichfalls die
Auffassung v. Monakow 's theilt, aus anatomischen Gründen an, dass
in dieser Beziehung die grössten individuellen Verschiedenheiten be-
stehen.
Nach der Theorie v. Monakow's^) würde sich „eine acute Hemi-
amblyopie, wie sie Hitzig nach Abtragung der Stelle Ai^) erhalten
hat, so erklären, dass die in der Zone Ai (von Munk) normaliter
ziehenden Sehstrahlungsfasern bereits in ihren Ursprungszelleu im
Corp. gen. ext. (in Folge der Continuitätstrennung) nicht nur lahm
gelegt würden und secundär degenerirten, sondern durch ihre plötz
liehe Ausscheidung aus dem gesammten optischen Verband
die ganze Leitungsorganisation im Corp. gen. ext. vorüber-
gehend derart beeinträchtigen würden, dass auch die ausser
directer Beziehung mit A^ stehenden Nervenzellen des Corp.
gen. ext. (Nachbarzellen) vorübergehend (bis zur Neuorganisation
der Umschaltung) ihre Thätigkeit ganz einstellten". Diesen Vor-
gang nennt er „Diaschisis". In gleicher Weise erklärt v. Monakow
auch die nach anderweitigen Eingriffen in den Cortex auftretenden
Erscheinungen, z. B. die motorischen Lähmungserscheinungen und deren
partielle Restitution. Der Annahme der Mitwirkung von besonderen
Hemmungsnerven bei diesen Vorgängen steht er ablehnend — wie
übrigens auch ich — gegenüber, während er die Betheiligung anderer
Nebenwirkungen, auf die ich mich hier nicht nochmals einlassen will,
zulässt. Das hauptsächliche Bindeglied zwischen dem Ein-
griff und der vorübergehenden Störung findet er aber „in
1) V. Monakow, Ergebnisse. S. 570 f.
2) Solche Hemiamblyopien oder Hemianopsien treten übrigens, wie man
gesehen hat, keineswegs allein nach Abtragung der Stelle A^^ auf.
— 587 —
der Entziehung einer wesentlichen Erregungs(iuelle der
Uebertrngungszelle durch den Wegfall" eines bestimniten
Zuleitungsweges, durch welche eben die Diaschisis bewirkt wird.
V. Monakow exemplificirt hier mit den bei den frontalen Schädi-
gungen gemachten Erfahrungen und demgemäss ist ihm die Pyramiden-
bahn jener bei den motorischen Erscheinungen in Betracht kommende
Zuleitungsweg. Aber abgesehen davon, ob man den optischen Theil
der Sehstrahlung als einen solchen Erregungsweg für die Zeilen des
Ganglion geniculatum laterale betrachten kann, beweist gerade das
gewählte Beispiel das Gegentheil von dem, was es beweisen soll, denn
nach den Versuchen von Stärlinge r^) und seiner Nacharbeiter
kann die Durchschneidung der Pyramiden so gut wie symptomlos
bleiben, oder sie hat wenigstens keineswegs adäquate Symptome zur
Folge; ungeachtet der Durchschneidung des Stranges, in dem all diese
ErreguDgswege zusammenliegen, tritt also keine solche Diaschisis ein,
mit anderen Worten, es fehlen die höchst auffälligen Erscheinungen,
durch welche die ersten dem corticalen Eingriff folgenden Tage cha-
rakterisirt werden. Danach hat es nicht den Anschein, als wenn das
Wesentliche des Vorganges in dem Ausfalle der Bahn und der sie
durchlaufenden Erregungen bestehe, sondern es ist für den motorischen
Theil dieser Störungen jedenfalls in der veränderten Function der
Rinde zu suchen. Ich^) habe mich über diese Frage vor einiger Zeit
wie folgt geäussert: „Wenn bei dem cortical verstümmelten Hunde und
im gewissen Sinne auch beim Affen zunächst ein wirres Durcheinander
oder wohl auch ein gänzliches Fehleu der motorischen Aeusserungen
zu beobachten ist, so erklärt sich dies, insoweit nicht Hemmungs-Shok-
Wirkungen Platz greifen, dadurch, dass die restirenden motorischen
Impulse in einer ungewohnten und regellosen Form abgegeben werden.
Allmälig findet dann mit dem Aufhören der Shokwirkungen eine An-
passung an die neuen Verhältnisse und gleichzeitig eine Bahnnng noch
vorhandener Leitungswege statt." Ich will nun dahingestellt sein
lassen, ob der Process sich physiologisch oder psychologisch betrachtet,
bei einem centripetalen Vorgange genau parallel jenem centrifugalen
Vorgange abspielen muss, ich lege auch nicht das gleiche Gewicht wie
v. Monakow darauf, ob man die temporäre Hemmung der Function
jener Organe als Product einer Reizung oder einer Lähmung, oder
1) Starlinger, „Die Durchschneidung beider Pyramiden beim Hunde".
Jahrbuch für Psychiatrie. Bd. XV. H. 1.
2) E. Hitzig, Hughlings Jackson und die motorischen Rindencentren.
Berlin 1900. S. 37.
— 588 —
beider auffassen will. Aber rein thatsächlich sprechen die neuen von
mir beigebrachten Erfahrungen über die Folgen von operativen Ein-
griffen in die Sehrinde doch ebenso gegen die Hypothese v. Monakow's
über die Gründe der „Diaschisis", wie die oben erwähnten Erfahrungen
über die Folgen operativer Eingriffe in das cortico-musculäre Gebiet.
Denn diese Hypothese reicht nur für die von v. Monakow erwähnten Fälle
mit positivem Resultate aus, sie versagt aber für alle jene Fälle, in
denen die Sehstörung ausblieb. Denn hier sieht man keine optischen
Wirkungen der Diaschisis eintreten, obschon hier ganz der gleiche
Wegfall einer wesentlichen Erregungsquelle der üebertragungszelle, wie
bei jenen anderen Fällen angenommen werden muss.
Ich stimme mit v. Monakow also insofern überein, dass jeder
Eingriff in die Sehrinde eine solche Störung der Leitungsorganisation
im Corpus geniculatum extern, zur Folge haben kann, dass sämmtliche
Nervenzellen desselben ihre Thätigkeit vorübergehend, d. h. bis zur
Neuorganisation der Leitung einstellen, ich kann aber nicht zugeben,
dass eine zutreffende, auf alle Beobachtungen passende Erklärung dieses
Vorganges, den ich dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend als
Hemmung bezeichne, bisher erbracht sei.
Ebenso wenig kann- ich eine Polemik, welche v. Monakow vor
Kurzem gegen eine von mir mit allem Vorbehalt i) geäusserte Hypo-
these gerichtet hat, als berechtigt anerkennen. Ich hatte eine Anzahl
der nach corticalen Eingriffen zu beobachtenden Erscheinungen durch
Veränderxmgen in den subcorticalen Centren erklärt und hatte dann ge-
meint, diese seien „vielleicht" auf secundäre Degeneration zurückzu-
führen; diese Veränderungen müssten sich aber in jedem Falle von
dem einen auf das andere subcorticale Centrum ausdehnen, v. Mona-
kow hat dagegen eingewendet, diese nur von mir bisher beobachteten
Erscheinungen bedürften der sorgfältigen Nachprüfung auf ihre That-
sächlichkeit und meine Erklärung baute sich auf zwei unerwiesenen
anatomischen Voraussetzungen auf, „a) auf die, dass die secundären
Zerfallsproducte der Nervenfasern einen Reiz auf ihre Nachbarschaft
ausüben, und b) dass centrifugale Fasern vom Gyrus sigmoides und von A^
zu den primären, subcorticalen optischen Centren ziehen". Von beiden wisse
man aber nichts. Ich leugne nun durchaus nicht ab, dass ich auch in diesem
Falle, wie schon recht oft, von mir zuerst und allein beobachtete Thatsachen
1) Ich sagte mit Bezug darauf wörtlich: Ich verkenne keineswegs, dass
sich zahlreiche anderweitige Fragen bei dem Studium dieser Thatsachen auf-
drängen und dass auch die hier erläuterten Fragen einer verschiedenen Be-
trachtungsweise zugänglich sind. (Ueber den Mechanismus etc.)
— 589 —
veröffentlicht habe, und Niemuiul wird sic^li nudir IVoueii :ds icli, wcmi
dieselben auch diesmal auf ihre „ThatsiichlichUeit" nachgeprüft werden,
indessen glaube ich doch, dass die Resultate früherer Nachprüfmigen
eine besondere Veranlassung zu einer solchen Bemerkung nicht gegeben
haben. Die Voraussetzung ad a) habe ich aber garnicht ausgesprochen,
sondern v. Monakow vermuthet sie nur bei mir, ich kann also billig
dahingestellt sein lassen, was es damit auf sich hat. Was die Voraus-
setzung ad b) angeht, so weiss ^ abgesehen von strittigen anatomischen
Fragen — Niemand besser als v. Monakow, dass markhaltige Ver-
bindungen von dem Gyrus sigmoides nach dem Thalamus opticus führen
und welche marklosen Verbindungen von dort nach andern subcorticalen
Centren führen, weiss vermuthlich Niemand.
Indessen war dies eine Hypothese oder eigentlich der Theil einer
Hypothese, auf die ich, wie erwähnt, ein besonderes Gewicht nicht
legte. Es kam mir nur auf den Nachweis an, dass die zu beob-
achtenden Erscheinungen durch die alleinige Inanspruch-
nahme der Rinde nicht zu erklären seien und hierin stimme ich
ja mit V. Monakow überein. Beide nehmen wir an, dass corticale
Eingriffe zu organischen und functionellen Veränderungen in den pri-
mären Gentren führen. Die Differenz besteht nur darin, dass die Er-
gebnisse meiner Versuche mich zur Annahme einer weiteren Ausbreitung
der Folgen des Eingriffes durch das Centralnervensystem zwingen, als
dies den Anschauungen v. Mouakow's entspricht.
Die damalige Fragestellung gründete sich auf folgende üeberlegung.
Wenn die durch verschiedene Eingriffe in das Grosshirn entstehenden
Sehstörungen sämmtlich auf die Rinde zu beziehen waren, so w-aren
einzig zwei Dinge möglich i), „entweder der Hund hatte nur ein corti-
cales, im Hinterhauptslappen belegenes Sehcentram, oder er besass
deren mehrere, von denen mindestens eines im Vorderlappen belegen
sein musste. War die letztere Annahme zutreffend, so musste eine suc-
cessive Verletzung der verschiedeneu, dem Sehen dienenden corticalen
Gebiete mit Nothwendigkeit eine Summirung vorhandener oder ein
erneutes Wiederaufleben bereits verschwundener Sehstörungen herbeiführen.
War die erstere Annahme zutreffend, so brauchten solche Erscheinungen
bei successiven Eingriffen keineswegs einzutreffen; aber über das, was
man dabei zu sehen bekommen würde, konnte man zunächst nur Ver-
muthungen hegen". Bei den zur Entscheidung dieser Frage ange-
1) E. Hitzig, „Ueber das corticale Sehen des Hundes". Vortrag,
gehalten in der Section für Neurologie des 13. internationalen medicinischen
Congresses zu Paris. Archiv für Psychiatrie. Bd. 33. 1900.
— 590 —
stellteil Versuchen hatte ich dann gefunden, dass schon nach einfacher
Aufdeckung des Gyrus sigmoides, sowie nach anderen Schädigungen seiner
Rinde oder seiner Markstrahlung Sehstörungen eintreten können, dass
diese Sehstörungen aber ausbleiben können, wenn eine
Operation innerhalb der Sehsphäre, die selbst Sehstörungen
zur Folge hatte, vorangegangen ist, ferner, dass auch Seh-
störungen nach Verletzungen des Occipitalhirns ausbleiben
können, wenn eine Verletzung des Gyrus signi. vorange-
gangen war. Von jener -Suramirung vorhandener oder dem
Wiederaufleben verschwundener Sehstörungen war also erst
recht gar keine Rede.
Die letzteren Beobachtungen habe ich in der Casuistik der vor-
liegenden Abhandlung unter dem Abschnitt „centrale secundäre Opera-
tionen" mit den notwendigen Einzelheiten raitgetheilt Aus den Resul-
taten dieser Versuche hatte ich den Schluss gezogen, dass der Gyrus
sigm. überh.'iupt kein Sehcentrum und die damals hauptsächlich ins
Auge gefasste Stelle A^ kein Sehcentrum im Sinae Munk's sei.
Da die Sehstörung in allen diesen Fällen, so ausgedehnt sie auch
sein mochte, immer vergänglich war, so fasste ich sie dem Sprachge-
brauch gemäss, als Folge einer Hemmung auf und bezeichnete als
Ursache dieser Hemmung einen Reiz. Ich wiederhole aber, dass es mir
auf diese beiden Bezeichnungen ganz und gar nicht ankommt. Ausge-
schlossen war dabei aber keineswegs, dass ein Theil der durch den
Eingriff in die Sehsphäre entstehenden Sehstörung direct auf den Aus-
fall des ausgeschalteten Stückes Rinde zu beziehen sei: denn dass die
Sehrinde zur Apperception der optischen Wahrnehmungen bestimmt sei,
habe ich natürlich nie bezweifelt. Nur allein auf die Rinde, wne
Munk dies gethan hatte, oder hauptsächlich auf die Rinde konnte
sie unmöglich bezogen werden.
Auf eine Erschütterung oder eine Beleidigung der Sehsphäre
konnten die frontalen Sehstörungen schon deshalb nicht zurückgeführt
werden, weil der Eingriff bei einfacher Aufdeckung zu geringfügig war
und weil diese Sehstörungen, wenn sie vielfach auch nur von kurzer
Dauer waren, unter Umständen auch eine längere Dauer, 22 — 24 Tage,
besassen, während es genug P'älle von directen Verletzungen der Seh-
sphäre giebt, bei denen die Sehstörung von erheblich kürzerer Dauer ist.
Munk (a. a. 0. S. 3) hat mir unter anderem seither eingevvendet:
„Es konnte nicht anders sein", als dass sich eine Encephalitis oder
Encephalomeningitis eingestellt und sich später wieder zurückgebildet
hatte, ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen. Wenn Herr Munk die
von ihm mit Vorliebe gebrauchte Redewendung „es konnte nicht anders
— 591 —
sein" anwendet, so ist es immer anders und dies trifft aiicli im \fir-
liegenden Falle zu. Encophalitidcn oder Encophalomeningitiden sind
mir natürlich auch vorgekommen, aber ich habe sie dann beschrieben
und sachgemäss gewürdigt. In den zum Beweise benutzten Fällen
waren sie jedoch nicht aufzufinden und dass solche Vorgänge sich
zurückbilden sollten, ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen, ist nichts
als eine willkürliche Behauptung des Herrn Munk, welche man deshalb
ganz unberücksichtigt lassen kann, weil niemand ausser ihm selbst an
sie glauben wird, dafern er selbst dies etwa thun sollte i).
Wenn der Gyrus sigm. kein optisches Centrum war, obschon seine
Verletzung nicht selten zu Sehstörungen führt, während eine Behelligung
der Sehsphäre nicht zur Erklärung benutzt werden kann, so war bei
Weitem das Wahrscheinlichste, dass die wesentliche Rolle bei dem Zu-
standekommen der fraglichen Erscheinungen die subcorticalen Ganglien
spielen.
Auch der Umstand, dass die frontale, wie die occipitale Sehstörung
jedesmal den hemianopischen Charakter trug, sprach in diesem Sinne
und endlich bestärkte das Verhalten der optischen Reflexe in dieser
Auffassung. Ich schloss unter diesen Umständen, dass die subcorticalen
Centren jedesmal bei der zeitweisen Einstellung der Function eine
wesentliche Rolle spielten und dass dabei, je nach dem Orte des Ein-
griffs, das eine Mal eine Uebertragung des Reizes von dem motorischen
auf das optische oder von dem optischen auf das motorische Centrum
statthätte.
Zu den eben recapitulirten Thatsachen kommen nun die neuen
Thatsachen hinzu, erstens, dass die Sehstörung selbst nach grossen und
tiefgreifenden Ausschaltungen von Stücken des Occipitalhirns relativ
häufig fehlen oder minimal sein kann, wenn eine Zerstörung
innerhalb der anderen Hemisphäre vorangegangen ist.
Zweitens, dass sogar, in allerdings selteneren Fällen, eine flächenhaft,
nicht unerhebliche Ausschaltung innerhalb des Occipitalhirns, auch
wenn keine andere Operation vorhergegangen ist, keine oder doch nur
eine kaum nachweisbare Sehstörung zur Folge hat; drittens, dass die
Vornahme einer symmetrischen Operation innerhalb des Occipitalhirns
das Auftreten eines symmetrisch gestalteten Scotoms nicht begünstigt,
sondern eher zu verhindern scheint.
1) Vergl. hierzu den ersten Theii dieser Abhandlung, frontale Läsionen
diese Untersuchungen S. 181, meinen Aufsatz „Ueber die motorische Region
des Hundehirns und über die Polemik des Herrn Munk 's". Archiv für Psy-
chiatrie Bd. XXXVI. Heft 2.
— 592 —
Bleiben wir uiin zunächst bei der oben entwickelten Theorie von
der Rolle, welche die snbcorticale Schaltvorrichtung beim Sehen und
bei der Entstehung der Sehstörung spielt, stehen, so ist nicht zu be-
zweifehi, dass sie durch diese Thatsachen die festeste Begründung er-
fährt. Denn wenn grosse Stücke der Sehrinde einer vorher unberührten
Hemisphäre ohne erkennbare Sehstörung ausgeschaltet werden können,
so ist klar, dass der bewusste Sehact, wenn auch keinenfalls in seiner
normalen Schärfe ohne Mitwirkung dieses Stückes Sehrinde vor sich
gehen kann, dass also di'e in anderen Fällen, z. B. bei der vorange-
gangenen symmetrischen Operation auftretende Sehstörang überhaupt
nicht nothwendig auf den Ausfall dieses Stückes Rinde bezogen werden
muss und auch nicht auf _eine Erschütterung des Restes der Sehsphäre
bezogen werden kann, sondern mindestens zu einem grossen Theile,
wenn nicht ganz auf eine Störung des subcorticalen Mechanismus zu
beziehen ist.
Ich möchte hierzu jedoch erläuternd hervorheben, dass hier nur
von der Convexität und einem Theile der medialen und basalen Fläche
die Rede ist. Wie sich die Gegend der Calcarina mit ihrer medialen
und basalen Nachbarschaft verhält, in der nach neueren Untersuchungen
CHen scheu, v. Monakow, Beruheimer u. a.) das haupt-
sächliche Sehcentrum zu vermuthen ist, will ich unerörtert lassen.
Wir haben also die jeder aprioristischen Annahme zuwiderlaufende
Thatsache vor uns, dass das Auftreten einer Seh Störung sowohl durch
eine vorgängige Beschädigung der gleichen, als auch der 2. Hemi-
sphäre erschwert werden kann, und die Erklärung dafür ist in keiner
anderen Weise zu finden, als dass die Zustände, die Lei-
tung s v o r r i c h t u n g e n der subcorticalen C e n t r e n
durch die v o r g ä n g i g e Operation in e n t s p i- e c h e n d e r
Weise verändert worden sind.
Vergegenwärtigen wir uns nun die oben ad 3 und 2 angeführten
Thatsachen, so scheint sich das Folgende über die Leitungsverhält-
nisse in den subcorticalen optischen Centren (vornehmlich also dem
Ganglion geniculatum laterale) zu ergeben. Die Schaltungsvorrichtung
hat im Allgemeinen den Zweck, eine gleichmässige Vertheilung der
Lichtreize auf die gesammte corticale Sehfläche nach Maassgabe der
Dichte der in die einzelnen Segmente einmündenden Fasern der Seh-
strahlung zu bewirken. Besonders intime Leitungsverhältnisse zwischen
einzelnen Opticusfasern und einzelnen ürsprungszellen des corticalen
Neurons im Ganglion geniculatum laterale brauchen in der Norm nicht
zu existiren. Deshalb kann unter günstigen Umständen ein Theil der
Sehrinde ausgeschaltet werden, ohne dass die von irgend einem Theile
— 593 —
der Netzhaut hen-ühreiuleu Liclitreize dem ßewusstseiii verloren zu
gehen brauchen. (Hierdurch unterscheidet sich die Sehrinde sehr
wesentlich von der motorischen Rinde.) In weniger günstigen Fällen
bewirkt der durch den Eingriff gesetzte Reiz, oder wie man es sonst
nennen will, eine Hemmung der Thätigkeit des Ganglion, welche sich
zwar gleichmässig auf alle Theile desselben erstreckt, al)cr naturgemäss
auf denjenigen Segmenten der Retina am leichtesten erkennbar wird,
welche die wenigsten Fasern in das Ganglion entsenden. Dies sind
ihre medialen und unteren Parthien, sodass in der iMehrzahl der Fälle
als Folge solcher Eingriffe eine vorübergehende Schädigung der ein-
zelnen Segmente des Gesichtsfeldes zunehmend in der Richtung der
Diagonale von unten nasal nach oben temporal eintritt. In Ausnahme-
fällen vermag sich jedoch diese Hemmung einseitig in oder durch
die Schaltungsvorrichtung derart auszubreiten, dass andere Theile des
Gesichtsfeldes zeitweise stumpfer oder garnicht wahrnehmen, wobei mir
Jceiueswegs ausgeschlossen erscheint, dass diese Veränderung der Erreg-
barkeit sich durch die Substantia gelatinosa auf die Endbäumchen in
der Nachbarschaft endigender Retinafasern fortsetzt. In dieser Weise
würde sich also die ausnahmsweise stärker hervortretende Betheiligung
der untersten oder der obersten Segmente des Gesichtsfeldes erklären.
Erscheint also in diesem Falle die Leitungsfähigkeit innerhalb des
Ganglion vorübergehend partiell beschränkt, so kann man sich umge-
kehrt vorstellen, dass sie durch eine vorangehende Operation, gleich-
viel ob diese den frontalen Abschnitt der gleichen oder den occipitalen
Abschnitt der entgegengesetzten Hemisphäre betrifft, derart verändert
wird, dass ihre Zugänglichkeit gegen hemmende Einflüsse abnimmt,
sodass nunmehr der Einfluss einer Ausschaltung sich deshalb nicht
oder weniger geltend machen kann, weil die Vertheilung der Lichtreize
auf den ganzen Rest der Hemisphäre ungestört gleichmässig erfolgt.
Auch für diejenigen Fälle, bei denen die erste Operation eine indi-
viduell verschiedene Vulnerabilität einzelner — ich meine hier die
oberen — Netzhautsegmente ergab, resultirt daraus für den Erfolg der
zweiten Operation, dass nunmehr die Schädigung der einzelnen Seg-
mente der Netzhaut wieder nach Maassgabe des Reichthums ihrer Ver-
tretung im Ganglion stattfindet.
Welche Einflüsse in dieser Weise wirksam werden, entzieht sich
zunächst unserer Beurtheilung. Jedenfalls ergiebt sich aber, dass die
einzelnen subcorticalen Ganglien in sehr nahen Beziehungen zu ein-
ander stehen. Mit Rücksicht auf die Beziehungen der primären Opticus-
centren der beiden Hemisphären zu einander könnte man die ge-
wonnenen Erfahrungen auf commissurale Verbindungen zur Vermittelung
Hitzig, Gesammelte Abfiandl. II. Theil. 38
— 594 —
des gemeinschaftlichen Sehactes bezieheu. Weichen Zwecli die Ver-
bindungen innerhalb der gleichen Hemisphäre haben könnten, versage
ich mir zu erörtern.
Nur auf einen hierhergehörigen Punkt muss ich kurz zurück-
kommen. Ich meine die bei unseren Beobachtungen so häufig vor-
kommende Störung des optischen Reflexes. Wir haben oben S. 581 f.
bereits erörtert, dass dieses Symptom durch eine corticale Unter-
brechung oder Behinderung der associatorischen oder centrifugalen
Bahnen bedingt sein kann. Wir haben aber ferner gesehen, dass sich
nicht alle beobachteten Erscheinungen auf diese W^eise erklären lassen.
Es liegt deshalb der Gedanke nahe, dass der optische Reflex, nicht
wie Munk will, ausschliesslich ein Rindenreflex ist, sondern, dass
er auch subcortical ausgelöst und ebenfalls subcortical durch Ueber-
tragung von Reizen von einem auf das andere Centrum geschädigt
werden kann.
Das Wiederaufleben einer längst verschwundenen Seh-
störung nach einem Eingriff in die zweite Hemisphäre kann
nicht ohne Zuhülfenahme der soeben gewonnenen Erfahrungen be-
trachtet werden. Luciani und Tamburini^) hatten bereits ähnliche
Beobachtungen gemacht. Soweit meine Kenntniss der Literatur reicht,
haben die meisten Autoren, wie z. B. auch Munk, diese Thatsachen mit
Stillschweigen übergangen, oder die wenig zahlreichen unter ihnen,
welche das Symptom kennen, haben es als einen Beweis für die Ver-
tretung beider Gesichtsfeldhälften in beiden Hemisphären angesehen und
auf diese Anschauung auch ihre Theorien über die Restitution gegründet.
Durch meine Beobachtungen wird aber die Möglichkeit, dass die
zweite Hemisphäre für die zuerst geschädigte eintrete und das Wieder-
aufleben der Sehstörung nach ihrer Verletzung demgemäss auf die
Entfernung des vicariirenden Stückes Rinde zu beziehen sei, gänzlich
ausgeschlossen. Denn wenn dies zuträfe, so raüsste die Sehstörung
natürlich bei jeder symmetrischen Operation wieder aufleben. Dies
ist aber nicht nur nicht der Fall, denn ich habe das Symptom bei
den hier angeführten Operationen im Ganzen nur 8 mal beobachtet,
sondern die symmetrischen Operationen zeichneten sich gerade dadurch
aus, dass sogar die Sehstörung des contralateralen Auges neben der
des gleichseitigen Auges nicht selten ausblieb.
Es bleiben also nur zwei Möglichkeiten übrig. Entweder wird
durch die Schädlichkeiten der zweiten Operation ein neuer Herd in der
zuerst operirten Hemisphäre gesetzt, oder aber die Beeinflussung der
1) Luciani und Tamburini, Centri psico-sensori corticali. 1879.
— 595 —
subcorticalen Ganglien durch die zweite Operation überträgt sich auf
die Ganglien der anderen Seite.
Spontane Verschlimmerungen einzelner Symptome, namentlicli der
Sehstörung kommen bei unseren Hunden nicht ganz selten vor. Munk
hat Derartiges bereits beobachtet und auf Verschlimmerung des ablau-
fenden Entzündungsprocesses bezogen. Auch ich selbst habe ähnliche
Bemerkiuigen in den vorstehenden Beobachtungen angeführt. Wenn
solche Ereignisse spontan vorkommen, so ist es natürlich erst recht
nicht ausgeschlossen, dass sie sich in Folge der durch eine Trepanation
mit Ausschaltung von Hirnsubstanz unter gleichzeitiger Aether- Mor-
phiumnarkose gesetzten Schädlichkeiten einfinden können. In der That
habe ich auch anlässlich der Secuudäroperationen an der gleichen
Hemisphäre bei einzelnen Fällen erwähnt, dass sich früher vorhanden
gewesene motorische Symptome wieder eingestellt oder verschlimmert
hatten. Andererseits sind dies seltene Ereignisse und namentlich hat
sich gezeigt, dass niemals eine durch eine occipitale Läsion gesetzte
Sehstöruug wieder auflebte, wenn darauf eine frontale Secundäropera-
tion folgte. Wenn somit aus diesen allgemeinen Gründen nicht zu
beweisen, aber auch nicht auszuschliessen ist, dass das Wiederaufleben
■der Sehstörung auf einer Wiedererkrankung der zuerst geschädigten
Hemisphäre beruht, so gilt das Gleiche von der Annahme, dass es
■darauf zu beziehen ist. dass das zuerst geschädigte Corpus geniculatum
laterale etc. durch die zweite Operation in Mitleidenschaft gezogen wird.
Besteht ein solcher Zusammenhang der vitalen Eigenschaften der sub-
corticalen Ganglien beider Seiten, wie wir ihn oben anzunehmen ge-
zwungen waren, überhaupt, so kann er sich natürlich auch nach der
fraglichen Richtung hin äussern.
Ich habe versucht, den Ursachen der Erscheinung durch Verglei-
chung der Scotome der hier in Frage kommenden Beobachtungen näher
zu kommen, ohne dabei glücklicher zu sein. Es ergiebt sich dabei nur,
dass in 3 Fällen (Beobachtungen 143, 148 und 153) die Dauer des
Symptoms so kurz war — 3,1 und 3 Tage — , dass man Mühe hat,
dabei an das Auftreten von neuen Entzündungsherden zu denken; in-
dessen ist dies keineswegs entscheidend. Im Uebrigen ergiebt sich aus
der Betrachtung dieser Scotome, entsprechend dem, was wir über die
primär entstehenden Scotome gelernt haben, dass wieder, mit einer
Ausnahme, die hauptsächlich exponirten oberen lateralen Segmente des
Gesichtsfeldes am meisten und am längsten verdunkelt waren. Die
eine Ausnahme betrifft die Beobachtung 140, bei der nach einer nicht
vollkommen symmetrischen zweiten Operation unter Schwankungen
vornehmlich die untere Hälfte des Gesichtsfeldes geschädigt war, und
88*
— 596 —
schliesslich der untere laterale Sector desselben am längsten geschädigt
blieb. Aus alledem lässt sich also irgend etwas Bestimmtes nicht ab-
leiten.
IV. Rückblicke und Schlüsse auf die Entstehung der optischen
Apperceptionen.
Die Fragestell ang, welche ich diesem Abschnitte meiner Unter-
suchungen vorausschickte, hatte folgenden Wortlaut:
1. Entstehen corticale Sehstörungen tliatsächlich nur durch Eingriffe
in die von Munk sog. Sehsphäre, oder können sie auch durch Eingriffe
in andere corticale Gebiete hervorgebracht werden und welches sind
diese Gebiete?
2. Welcher Art sind die durch corticale Läsionen hervorgebrachten
Sehstörungen, sind sie hemianopischer Natur oder nicht, insbesondere
entsprechen sie den Lehren Munks?
3. Sind diese Sehstörungen sämmtlich oder zum Theil auf die Ver-
letzung der Rinde zu beziehen, oder entstehen sie sämmtlich oder zum
Theil durch Vermittelung der subcorticalen Gebilde?
Wenn die Frage 3. in letzterem Sinne zu beantworten war, so waren
4. die Bedingungen dieser Art von Fernewirkung (Hemmung der Thätig-
keit subcorticaler optischer Centren), ihre Stellung im cerebralen Me-
chanismus und ihre Bedeutung durch fernere Versuche nocb festzu-
stellen.
Die erste dieser Fragen erforderte eine Würdigung nach zwei
verschiedenen Richtungen hin. Ich habe dargelegt, dass die occipitale
Sehregion nach den anatomischen Untersuchungen v. Monakows ausser
der Sehsphäre Munks noch den caudalen Theil der sog. Augenregion
des Letzteren, welcher dieser Autor inzwischen andere als Sehfunctionen
zugewiesen hatte, in sich begreift. Diese anatomischen Untersuchungen
mussten durch physiologische Versuche controlirt werden. Da die im
Vorstehenden mitgetheilten Operationen zwar vielfach über die vorderen
Grenzen der sog. Sehsphäre in die sog. Augenregion hineinreichten,
während keine von ihnen sich gänzlich innerhalb des streitigen Grenz-
feldes hielt, so konnten zwar aus ihnen gewisse Eindrücke resultiren,
die Frage selbst aber nicht endgültig entschieden werden. Die nach-
stehende Arbeit des Herr Dr. Kalberlah hat nun die Entscheidung im
Sinne v. Monakows getroffen.
Nach der andern Richtung hin war zu untersuchen, ob wirklich nur
die Schädigung der occipitalen Region zu Sehstörungen führe, oder
ob der gleiche Erfols auch bei Läsiouen anderer und zwar welcher cor-
— 597 —
ticaler Gebiete einträte. Diese Untersucliungsreibe hübe ich bis zu dem
Nachweise geführt, dass Verletzungen nicht nur der Kinde, sondern auch
der Markstrahlung des Gyrus sigm. Sehstörungen zur Folge haben können,
wähi-end Verletzungen der lateralen Nachbarwindungen dieses Gyrus und
des unter ihnen liegenden Marklagers keine solche Folgen nach sich
ziehen. Auch diese Untersuchungen sind nicht zu Ende geführt, da
einige Gebiete des Cortex einer systematischen Prüfung nicht unter-
zogen wurden.
Für die Würdigung dieser Ergebnisse gegenüber den von Munk
gegen sie erhobenen Angriffen kommen namentlich folgende Umstände
in Betracht: Frontale Sehstörungeu traten nicht nur in Folge von
schweren, sondern auch von verhältnissmässig leichten Eingriffen, wie
die einfache Freilegung der Rinde auf, während die sog. Sehsphäre,
namentlich bei Secundäroperationen, schweren Verletzungen unterzogen
werden kann, ohne dass eine deutliche oder eine überhaupt nachweis-
bare Sehstörung aufzutreten braucht. Ausserdem kamen zahlreiche occi-
pitale Verletzungen zur Beobachtung, bei denen die Sehstörung nicht
länger dauerte oder ausgesprochener war, als bei einer Anzahl von fron-
talen Verletzungen. Der positive Erfolg frontaler Eingriffe konnte also
auf eine Erschütterung der ganzen Hemisphäre oder ihrer Sehrinde nicht
bezogen werden. Anderweitige von Munk vorgebrachte Einwendungen
sind sowohl in der vorstehenden Abhandlung, als auch in dem Auf-
satze „üeber die Function der motorischen Region des Hundehirns etc."
(Archiv für Psychiatrie Bd. 36. H. 3) ausführlich widerlegt worden.
Die zweite Frage hatte eine Reihe verschiedener, zu einem System
geordneter Behauptungen zum Gegenstand, welche man in ihrer Totalität
als die Projectionslehre Munks bezeichnen kann.
Zunächst war die Richtigkeit der Angabe zu prüfen, ob das late-
rale Viertel einer jeden Retina regelmässig der gleichnamigen Hemi-
sphäre und der Rest jeder Retina der ungleichnamigen Hemisphäre zu-
geordnet ist. Diese Angabe hat sich im grossen ganzen als richtig
erwiesen, so jedoch, dass der gleichnamige Antheil manchmal grösser,
manchmal, vornehmlich in seinen unteren Abschnitten, kleiner als an-
gegeben erscheint. In einzelnen Fällen wurde die ganze obere Hälfte
oder sogar das ganze oder fast das ganze gegenseitige Gesichtsfeld vor-
übergehend geschädigt. Im Allgemeinen resultirte der Eindruck als ob,
abgesehen von individuellen Verschiedenheiten, das laterale Viertel der
Retina von beiden Hemisphären, stärker allerdings von der gleich-
namigen, innervirt werde.
Sodann fragte es sich, ob dieser gleichseitige Autheil der Retina
thatsächlich nur von dem lateralen Drittel der Hemisphäre innervirt
— 598 —
werde und ob dieser occipitale Abschnitt ausschliesslich den Zwecken
dieser Innervation diene, wie Munk wollte, oder ob die centralen End-
stätten dieser Retinafasern in anderer Weise augeordnet seien. Der Ver-
such hat hier ganz und gar gegen Munk entschieden. Nicht nur hatte
die Ausschaltung dieses Theiles der Sehregion niemals dauernde Blind-
heit des lateralen Viertels der gleichseitigen Retina zur Folge, sondern
es zeigte sich sogar, dass die gegenseitige Retina durch so localisirte
Eingriffe stärker und anhaltender geschädigt wurde als die gleichnamige.
Ebenso trat das gleiche Scotom des gleichnamigen Auges so gut wie
regelmässig als Folge von anders localisirten, selbst von Eingriffen in
den medialsten Abschnitt der Hemisphäre ein.
Ein zweiter Punkt von besonderer Wichtigkeit war die Erforschung
der Function der Stelle A^. Eine lange Reihe von Versuchen lehrte,
dass diese Stelle keineswegs eine Projection der Maculafasern in sich
birgt, oder überhaupt in besonders nahen Beziehungen zum Sehact
steht. Im Gegentheil kann man sagen, dass diese Beziehungen be-
sonders lockere sind. Denn die Verletzung oder Ausschaltung dieser
Stelle kann zwar zu Sehstörungen führen, indessen können diese aus-
bleiben, oder doch von ganz geringer Intensität und Dauer sein. Treten
sie aber ein, so haben sie nichts gemein mit dem Krankheitszustande
der „Seelenblindheit", sie bestehen keineswegs in dem Verlust aller
oder der meisten Erinnerungsbilder, sondern in mehr oder minder hoch-
gradiger Sehschwäche.
. Zu den gleichen Resultaten führen Partialexstirpationen des medi-
alen, des hinteren und des vorderen Abschnittes der Sehsphäre. Immer
resultirt daraus eine je nach dem Umfange und der Tiefe der Ausschal-
tung mehr oder minder anhaltende Sehschwäche. Diese Sehschwäche
besteht also nicht wie Munk will, in dauernder partieller Rindenblind-
heit, aber sie localisirt sich auch keineswegs gesetzmässig auf be-
stimmte, bestimmten Partien der „Sehsphäre" correspondirende Ab-
schnitte der Retina, sondern sie besteht im Allgemeinen in einer tem-
poralen von nasal unten nach temporal oben zurückweichenden Hemianop-
sie oder Hemiamblyopie. Jedoch giebt es auch hier insofern individuelle
Verschiedenheiten, als Partialexstirpationen ohne oder ohne nennens-
■werthe Sehstörungen verlaufen können und insofern als Partialexstir-
pationen des vorderen Abschnittes der „Sehsphäre" in einer Minorität
von Fällen die oberen und Partialexstirpationen des hinteren Abschnittes
gleichfalls in einer Minorität von Fällen die untere Hälfte der Retina
vorwiegend betreffen.
Eine Projection der Retina auf die Convexität der „Seh-
— 599 —
Sphäre" im Sinne Munk's Tindet also in kciiiior Weise statt.
Das Krankheitsbild der Seeleuhl i iidhei t ist diireti Aus-
schaltungen innerhalb dieser Region niemals, das Krank-
heitsbild der partiellen Rindenblindheit, wenn überhaupt,
dann keinenfalls durch partielle Zerstörung der Sehrinde
hervorzurufen.
Diese Resultate entsprechen nicht nur in vielen Punkten den An-
gaben V. Monakow's, Bernheimer's, Goltz', Lüb's und Anderer,
sondern die widersprechenden Angaben Munk's sind auch aus dem
aprioristischen Grunde gänzlich unglaubwürdig, weil jede grössere Aus-
schaltung der Rinde zu secundären Erweichungen oder sonstigen Aus-
schaltungen der Sehstrahlung führt.
Die Lehre von dem Zusammenhange bestimmter Retina — und be-
stimmter Rindenelemente, mag man sich ihn nun als einen directen
oder durch vorgelagerte Fasernetze vermittelten vorstellen, wie auch
die Lehre von den local deponirten Erinnerungsbildern, verschwindet
deshalb schon aus diesen rein thatsächlichen Gründen, ganz abgesehen
von dem, was sich aus anatomischen und psychologischen Gründen da-
gegen sagen lässt, aus dem Bereiche der Möglichkeit.
Eine Anzahl der „Irrthümer" Munk's mag sich daraus erklären,
dass er mit seinen unzulänglichen Uiitersuchungsmethoden die nach
grösseren Exstirpationen verbliebenen Reste von Lichtempfindung am-
blyopischer Gesichtsfeldpartien nicht zu entdecken vermochte : oder*
daraus, dass er die ausnahmsweise zu beobachtenden Resultate einzelner
localisirter Verletzungen generalisirte. Dennoch bleibt es unbegreiflich
Avie er bei Jahrzehnte lang fortgesetzten Untersuchungen ungeachtet des
Widerspruches selbst seiner besten Freunde seine „Irrthümer" aufrecht
zu erhalten vermochte. Die Haltung v. Monakow's — und er steht
mit ihr nicht allein — zwingt mich dazu, ausdrücklich hervorzuheben,
dass seine rein thatsächlichen Angaben, sowie die aus ihnen gezogenen
Schlüsse in allen wesentlichen Punkten der Lehre Munk's direct zu-
widerlaufen ; ausgenommen davon ist nur die Lehre von der partiellen
Decussation (Luciani) und die von der Existenz einer occipital be-
grenzten Sehregion im Allgemeinen.
Auch diese Reihe von Untersuchungen habe ich nicht ihrem voll-
ständigen Abschlüsse zuführen können. Es ist im höchsten Grade
wahrscheinlich, dass derjenige Theil des Hundehirns, welcher der
menschlichlichen Calcarina entspricht, in besonders nahen Beziehungen
zum Sehact steht, oder vielleicht richtiger ausgedrückt, dass Zerstö-
rungen innerhalb dieses Gebietes besonders schwere und anhaltende
— 600 —
Sehstörungen nach sich ziehen. Diese Seite der Frage habe ich nicht
mehr bearbeiten können.
Die Beantwortung der dritten Frage erwächst zunächst auf
einem gewissermaassen hypothetischen Boden. Es hat sich als unmög-
lich erwiesen, die graue Rinde auf 2 — 3 mm Tiefe, wie Munk will,
so zu zerstören, dass dabei Verletzungen des Markes, insbesondere der
Sehstrahlung und der Associationsbahnen ausgeschlossen wären und
diese Unmöglichkeit wird um so grösser, wenn die Zerstörung sich auf
die den Grund der Windungen auskleidende Rinde ausdehnen soll.
Freilich hat Munk den Versuch gemacht, diesem letzteren Theile der
Rinde andere als optische Functionen zu vindiciren; er hat aber nicht
den Versuch gemacht, diese Behauptung zu begründen. Wenn nuji
Verletzungen der weissen Substanz untrennbar mit solchen der grauen
Substanz verknüpft sind, so wird man mit Sicherheit den Antheil oder
das Maass des Antheils, den die Eine und die Andere an der Function
und an der Functionsstörung hat, nicht abmessen können. Um nur auf
eine Möglichkeit, die geltend gemacht werden könnte, hinzuweisen,
wäre es denkbar, dass die Functionsstörung am letzten Ende darauf
beruhe, dass die auf kurzen markhaltigen Bahnen vor sich gehende
Association zwischen benachbarten corticalen Gebieten eine Unterbrechung
erfahren hätte.
Wir stossen hier also genau auf dieselbe Schwierigkeit, der wir
bereits im Jahre 1870 bei den ersten Versuchen am Gyrus sigm. be-
gegneten, und wir können über dieselbe auch jetzt nur mit der gleichen
Argumentation wie damals hinwegkommen: Man kann nicht einsehen,
welchem Zwecke die Fasern der Sehstrahlung bei ihrer Auflösung in
die occipitale Rinde dienen könnten, wenn nicht der Vermittlung der
corticalen Aufgaben des Sehactes. Man würde somit doch nur aus den
bereits bekannten Eigenschaften der Sehstrahlung auf die noch unbe-
kannten Eigenschaften ihrer Ursprungs- oder Endstätten, der Sehrinde,
schliessen. Ja, mau befindet sich hier bei genauerer Betrachtung in
einer noch ungünstigeren Lage als bei der Beurtheilung der Folgen
frontaler Eingriffe. Denn bei diesen tolgt mit unfehlbarer Sicherheit
auf jede Beleidigung der Rinde eine combinirte Motiiitäts- und Sensi-
bilitätsstörung, während Sehstörungen keiueswegs mit unfehlbarer
Sicherheit auf Eingriffe in die Convexität des Occipitalhirns folgen.
Indessen liegt vielleicht gerade in dieser Schwierigkeit ein Fingerzeig
für die Auffindung des Weges, auf dem die Lösung der uns beschäfti-
genden Frage gelingen mag, nur wird mau sich vorher von dem tief
eingewurzelten Glauben an die Projectionslehre, welcher bisher ein
— 601 —
Hindernis alles weiteren Fortschreitens der Krkeiuitniss aiil' diesem Ge-
biete gewesen ist, frei machen müssen.
Es unterliegt für mich keinem Zweifel, dass der gesammte MecJia-
nismus des Vorstellens und WoUens nach grossen einheitlichen Principien
aufgebaut ist. Wenn aber auch die einzelnen diesen Aufgaben dienen-
den Apparate in den einzelnen zu Systemen vereinigten Abschnitten
der Ccntralorgane dem Principe nach wiederkehren, so werden sie sich
doch in den Einzelheiten ihres Aufbaues und ihrer Zusammenordnung
den jedesmaligen Bedürfnissen der einzelnen Functionen anzupassen
haben.
In dieser Beziehung begegnen wir einem grundsätzhchen Unter-
schiede zwischen dem motorischen and dem optischen Felde. In diesem
ist die Function an sich einheitlich; sie besteht, kurz gesagt, in der
psychischen Verwerthung der durch den Sehapparat centripetal proji-
cirten Lichtwellen. In jenen ist sie zusammengesetzt; denn sie besteht,
kurz gesagt, in der psychischen 'Verwerthung der Bewegungsantriebe
verschiedensten Ursprunges für alle einzelnen unsern Organismus zu-
sammensetzenden Bewegungsapparate. Ein zutreffender Vergleich kann
deshalb nur zwischen der einzelnen motorischen Provinz einerseits und
dem gesammten optischen Felde andererseits gezogen werden.
Betrachten wir nun die Eigenschaften einer jeden solchen Provinz,
wie sie seiner Zeit schon von Fritsch und mir aufgedeckt, aber
seitdem mit Beharrlichkeit ignorirt worden sind, so finden wir,
dass schon beim Hunde, deutlicher beim Affen, die eigentlichen
Foci, d. h. die Stellen der grössten Erregbarkeit von Gebieten exceu-
trisch abnehmender Erregbarkeit eingefasst werden. Diese Erfahrung,
welche seither von Sherrington an grösseren Affen bestätigt worden
ist, hat mich schon an allem Anfange meiner Untersuchungen zur
Aeusserung der Vermuthung veranlasst, dass jene Centren nur Sammel-
plätze abgeben, durch deren Vermitteluug die Lebensäusserungen
weiterer Gebiete der Rinde in die Peripiierie geworfen würden. Ist
dieser Vergleich also zutreffend, dann würde die Gesammtheit der cor-
ticalen Sehreg;ion mit ihren corticalen und extracorticalen Verbindungen
der Vollziehung des Sehactes in seiner idealen Vollkommenheit derart
dienen, dass hier ein centraler Focus existirte, der für die optischen
Geschehnisse in ähnlicher Weise einen Sammelplatz abgebe, wie jene
motorischen Foci für jede einzelne Provinz der motorischen Rinde.
Es könnte scheinen, dass Munk einen solchen P'ocus in seiner
Stelle Ai gefunden hätte oder doch hätte finden wollen. Indessen be-
sitzt diese Stelle, wie wir gesehen haben, weder die ihr zugeschriebene
noch die von ihr geforderte Bedeutung für den Sehact. Und weiterhin
— 602 —
hat die vergängliche Seelenblindheit, welche aus ihrer Ausschaltung
resultiren soll, keinerlei Aehnlichkeit mit denjenigen Erscheinungen,
welche ich von der Ausschaltung eines solchen Focus erwarten würde.
Wohl aber finde ich diese Erscheinungen in demjenigen Krankheitsbilde
wieder, welches uns die Ausschaltungen, namentlich die doppelseitigen
Ausschaltungen der Wände der Calcarina beim Menschen liefern, sodass
diese Frage in dem mir vorschwebenden Sinne eine befriedigende Er-
ledigung fände, wenn sich die Erfahrungen der menschlichen Pathologie
ohne weiteres in die Ergebnisse der experimentellen Pathologie des
Hundehirns einfügen Hessen. Immerhin spricht der Parallelismus der
vergänglichen Sehstörungen kleinerer anderweitig localisirter occipitaler
Läsionen beim Menschen und beim Himde mindestens nicht gegen diese
Weiterführung des Vergleiches ihrer anatomisch-physiologischen Con-
struction.
Diese Vergänglichkeit der Sehstörung einerseits, ihre temporäre
Totalität andererseits haben mit Nothwendigkeit zu der Ueberzeugung
führen müssen, dass ein Theil der Ursachen dieser Sehstörung ausser-
halb der Rinde zu suchen sei. Wenn wir nun weiter sehen, dass
kleinere Ausschaltungen innerhalb der Sehregion die optische Vor-
stellungsthätigkeit des Thieres dauernd nicht nachweisbar alteriren,
während grosse Ausschaltungen, insoweit sich ihre Wirkung überhaupt
erkennen lässt, immer eine quantitative Veränderung der Vorstellungs-
thätigkeit, also eine mehr oder minder deutliche Abschwächung der
Sehfunction bis zu ihrem gänzlichen Verluste nach sich ziehen, so
lassen sich daraus auf directem Wege nur begrenzte und bedingte
Schlüsse ziehen.
Zunächst hat es den Anschein, was ja auch begreiflich genug ist,
als ob die gesammte Sehrinde des Hundes mehr einheitlichen Func-
tionen diene, während sich die des Menschen durch Einschiebung von
neuen associatorischen Organisationen zu einem Complex von Provinzen
von qualitativ verschiedener Bedeutung entwickelt, die ihr gemein-
schaftliches Bindeglied nur in dem allen gemeinschaftlichen optischen
Factor besitzen.
Weiterhin aber erscheint es unmöglich, die Entstehung der
optischen Vorstellung auf directem Wege örtlich in ihre verschiedenen
Componenten zu zerlegen, denn da die Eliminirung eines bestimmten
corticalen Areals regelmässig die Eliminirung eines correspondirendea
subcorticalen Areals zur Folge hat, so wird sich niemals entscheiden
lassen, ob die eigentliche Ursache des nachweisbaren optischen Defectes
in der Rinde oder in den subcorticalen Ganglien zu suchen ist. Da-
— 603 —
gegen kann man versuchen, sich den psychisclicn Vorgang auf iiidii-ec-
tem Wege khar zu machen.
Die Vorstellung, dass die Rinde das Organ der Vorstellnngs-
thätigkeit im engeren und höheren Sinne und dass sie nur dieses
Organ sei, war früher allgemein verbreitet. Munk hat freilich ver-
sucht, aus ihr etwas anderes zu machen, nämlich ein Organ, in dem
auch die ersten Sinnesempfindungen und -Wahrnehmungen statthaben,
indessen können wir diesen Versuch wohl als der Vergangenheit an-
gehörig betrachten. Man kann sich deshalb wohl des von mir früher
angewendeten Bildes bedienen, dass die Rinde so auf das in den
primären Opticuscentren entworfene Bild wie das Auge auf das in der
Camera obscura entworfene Bild herabblickt. In weiterer Ausführung
dieses Gedankenganges und in der Ueberzeugung von der grundsätz-
lichen Einheitlichkeit innerhalb der einzelnen Organisationen unseres
psychischen Mechanismus sei mir ferner die Reproduction einer früher
von mir gegebenen Darlegung über die allgemeine Einrichtung dieses
Mechanismus gestattet i):
„Die vollkommene Beherrschung der feinsten Einzelheiten der
Muskelbewegungen durch das Sensorium, ohne dass dieses doch zu
einer bewussten Kenntniss der Muskelzustände gelangt, ist immer als
Thatsache hingenommen worden, ohne je verstanden zu werden. Diese
Thatsache wird aber unserem Verständnisse näher gerückt, wenn wir
annehmen, dass das Cerebellum im Verein mit den ihm beigeordneten
subcorticalen Organen, vermöge der sich in jenen grauen Massen voll-
ziehenden anatomischen und functionellen Vereinigung einer Reihe von
Sinnesnerven, zur Bildung von Vorstellungen niederer Ordnung
befähigt ist und dass es diese Vorstellungen dem Grosshirn als ein
Ganzes übermittelt. Das Grosshirn als ' alleiniges Organ des Bewusst-
seius vermag zw'ar mit diesem Vorproduct der Vorstellungen zu rechnen,
es vermag aber nicht in die Einzelheiten der diesem zu Grunde liegen-
den, unter der Schwelle des Bewusstseins verlaufenden Vorgänge ein-
zudringen. Nach meiner Auffassung der Hirnfunctionen stehen die
Coordinationsorgane mit dieser Form der Bethätigung dem Bewusst-
seinsorgane gegenüber nicht allein, sondern die Bethätigung der anderen
Sinnesorgane, diejenige des Gesichts, des Gehörs etc., vollzieht sich in
gleicher Weise, derart, dass die auf den nach aussen gewendeten
Bahnen anlangenden Sinnesreize in den grauen Massen der Basis
sämmtlich zu den von mir so genannten Vorstellungen niederer Ordnung
1) E. Hitzig, „Der Schwindel". Nothnagers, Specielle Pathologie
und Therapie Bd. XII, II, III. S. 46.
— 604 —
ausgearbeitet und in dieser Form erst dem Bevvusstseinsorgan über-
mittelt werden."
Fragen wir uns nun nach der Herkunft und der Zusammensetzung
dieses primären optischen Bildes, mit dem die Vorstellungsthätigkeit
der Rinde za rechnen hat, so ist natürlich die allererste Frage die, an
welcher Stelle diejenige Trausformirung der Aetherwellen in ein solches
Vorproduct psychischen Geschehens erfolgt, mit dem die bewusste Vor-
stellungsthätigkeit zu rechnen vermag.
Diese optischen Bilder stellen nach der allgemeinen Auffassung
nichts Einfaches, sondern vielmehr Bilder dar, die aus dem Zusammen-
wirken von Lichtempfindungen und anderen, vornehmlich räumlichen
Empfindungen hervorgehen. Sie besitzen in dieser Beziehmig also
jene Eigenschaft, welche sie denjenigen Bildern parallel setzt, die in
dem Coordinationsorgan- entstehen und von diesem dem Vorstelluugs-
organ als Vorproduct seiner bewussten Vorstellungsthätigkeit geliefert
werden. Fraglich kann nur erscheinen, ob diese Formation des
optischen Gesammtbildes erst in der Rinde oder bereits in den hinter
derselben gelegenen Organen vor sich geht.
Wenn diese Frage vielleicht auch nicht mit absoluter Sicherheit
zu beantworten ist, so können wir doch ans der vergleichenden Ana-
tomie und der experimentellen Physiologie eine Anzahl von Thatsachen
entnehmen, die einen Schluss von ziemlich grosser Wahrscheinlichkeit
gestatten. Ich gehe bei dieser Auseinandersetzung von den überaus
interessanten Beobachtungen aus, die Schrader^) an Falken in ihrem
Verhältniss zu bewegten Gegenständen, besonders zu weissen Mäusen,
machte. In der Periode vor der Entwickelung des Grosshirns reagirten
die Thiere auf den Anblick zappelnder Mäuse oder anderer bewegter
Gegenstände mit Geschrei und Festkrallen rein reflectorisch. Nach
Entwickelung des Grossbirns hatten sie erst Furcht vor den Thieren
und mussten die Mäusejagd erst lernen. Wurden ihnen alsdann beide
Grosshirnhemisphären genommen, so verfolgten sie nach Ablauf einer
Periode der Hemmung die Mäuse wie vorher unter Geschrei und be-
arbeiteten sie mit den Krallen, nachdem sie sie ergriffen hatten, solange
sie sich bewegten. Hörten die Bewegungen aber wegen des Todes der
Mäuse oder aus anderen Gründen auf, so hüpften die Falken davon,
ohne sich weiter um ihre Beute zu bekümmern, anstatt sie, wie un-
verstümmelte Falken, zu verspeisen. Aus diesen Beobachtungen geht
1) M. Schrader, „Ueber die Stellung des Grosshirns im Reflexmecha-
nismus des centralen Nervensystems der Wirbelthiere". Archiv für exp. Path.
und Pharmak. Bd. XIX.
— 605 —
hervor, class bei den Falken unterhalb dos (irossiiii'ns, also t)cvor das-
selbe entwickelt oder nachdem es abgetragen worden ist, (]iosiclitsl)ild(!r
entstehen, welche mit den zur Hervorbringung einer coinplicirten lieiJH!
von Bewegungen erforderlichen Eigenscliarten ausgestattet sind. Dagegen
associiren sich diese Gesichtsbilder mangels des Grosshirns niclit infhr
mit Vorstellungen beliebiger Herkunft, so dass z. B. aus ihnen der auf
die Verwerthung der Beute als Nahrung gerichtete Impuls nicht mehr
abgeleitet zu werden vermag, wie sich denn die Falken um das Treiben
der Mäuse, soweit sie deren Bewegungen nicht sehen oder mit ihren
Krallen fühlen, nicht weiter kümmern.
Dieser Rest von psychischen Fähigkeiten ist, insofern er eine
durch Sinneseindrücke anzuregende, dem Bewusstsein fremde Kette von
vorgebildeten Bewegungen in sich begreift, den Leistungen des infra-
corticalen Coordinationsapparates durchaus parallel zu setzen. Er ist
bei den Falken an die Existenz der bei ihnen wie bei den Vögeln
überhaupt mächtig entwickelten Lobi optici (Corpora bigemina anteriora)
gebunden. Steigen wir weiter in der Thierreihe hinab, so begegnen
wir sehr bald gar keinem wahrnehmbaren Einfluss der Abtragung des
Grosshirns auf die Abwickelung der optisch-motorischen Function;
steigen wir in dieser Reihe weiter hinauf, so nimmt dieser Einfluss
alsbald derart zu, dass es schwer fällt oder vielleicht überhaupt nicht
mehr gelingt, neben der Pupillarreaction noch andere Antworts-
bewegungen auf den Lichtreiz gesetzmässig hervorzubringen.
Diese Reihe von Erfahrungen findet ihre Erklärung nach der einen
Richtung hin unzweifelhaft darin, dass die allereinfachsten, sich ledig-
lich auf dem Reflexwege abspielenden optisch-motorischen Lebens-
erscheinungen auch nur bestimmter, nach dem allereinfachsten Reflex-
typus gebauter anatomischer Vorrichtungen bedürfen, die sich auch
örtlich immer mehr und mehr dem Rückenmark nähern; während nach
der anderen Richtung hin die reichere Angliederung aus immer mehr
und mehr Sinnesgebieten herstammender associatorischer Vorgänge die
Abwickelung der optisch-motorischen Lebenserscheinungen immer mehr
und mehr nach dem Grosshirn vorschiebt. Ich stimme v. Monakow
in der Annahme vollkommen bei, dass die phylogenetisch älteren Pro-
vinzen, von denen er namentlich das Dach des Mittelhirns (im ge-
wählten Beispiele die Lobi optici) anführt, ihre ursprüngliche Function
im Princip nicht ganz verlieren, also auch in der höchsten Entwicke-
lungsstufe noch zur Production des endlichen optischen Bildes beitragen;
ich stimme ihm aber insoweit nicht bei, als er diese Mitwirkung als
einen Rest bewusster Lichtempfindung bezeichnet. Diese Art der
Lichtempfindung wie der extracorticalen Empfindung überhaupt liegt für
— 606 —
mich unter der Schwelle des ßewusstseiiis — wo ein solches existirt —
denn ich vermuthe ein extracorticales Bewusstsein weder beim Menschen
noch bei irgendwelchen Thieren. Alles in Allem erwächst aber aus
diesen Erfahrungen die grösste Wahrscheinlichkeit, dass nur die Wahr-
nehmung des optischen Bildes und dessen associatorische Verarbeitung
bei den höheren Säugethieren cortical localisirt, dessen Entstehung und
einfache reflectorische Verarbeitung aber auch bei ihnen wie bei den
nächst niederen Thierspecies infracortical von Statten gehe.
Fassen wir nun jene extracorticalen, dem Sehact dienenden Organi-
sationen ins Auge, so hat es nach dem heutigen Standpunkt des
Wissens den Anschein, als wenn es von den primären Sehcentren das
Corpus geniculatum laterale wäre, welches für den reinen optischen
Sehact vornehmlich, wenn nicht ausschliesslich, in Betracht käme.
Diesem Ganglion hat nun v. Monakow, wie wir gesehen haben, die
Aufgaben einer Schaltungsvorrichtung zugeschrieben, ohne dass er sich
hinreichend unzweideutig darüber ausliesse, welchen Antheil an der
Entstehung des optischen Bildes er bei ihm, den primären Opticus-
centren überhaupt und bei dem Cortex vermutheti). Während er sich
einerseits zu Gunsten Munk's gegen die soeben von mir entwickelte
Anschauung wendet, nach der die Rinde das fertige Bild nur apper-
cipirt und associirt, gesteht er andererseits, wie angeführt, sogar dem
Mittelhirndach einen Rest bewusster Lichtempfindung zu. Das sind
unvereinbare Widersprüche, die sich lediglich aus seiner schwankenden
Haltung gegenüber M unk erklären und die überhaupt aus der Literatur
erst dann verschwinden w^erden, wenn man sich daran gewöhnt,
zwischen Empfindung, hier also Lichtempfindung, und Bewusstsein, hier
also bewusste Lichtempfindung, scharf zu unterscheiden und das Be-
wusstsein eben ausschliesslich im Grosshirnmantel zu suchen.
Das Corpus geniculatum laterale setzt sich nach seinen Unter-
suchungen einmal aus dem phylogenetisch jungen Sehsphärenantheil,
den Ursprüngen des corticalen Neurons, zusammen, dem das optische
Bild nach meinen bisherigen Auseinandersetzungen bereits fertig über-
liefert werden muss; in der That sehen wir auch, dass dieses fertige
Bild selbst nach relativ grossen, einen grossen Theil dieser Neuronen-
gruppe vernichtenden corticalen Ausschaltungen ohne wahrnehmbare
Veränderung cortical weiter verarbeitet werden kann. Andererseits be-
steht neben dem Einstrahlungsbezirk der Opticusfasern, welcher, wenn
1) Vergl. meinen Aufsatz: „Einige Bemerkungen zu der Arbeit C. v. Mo-
w's „Ueber den gegenwärtigen Stand nach d
tion im Grossliirn". Archiv für Psychiatrie Bd. 36.
nakow's „Ueber den gegenwärtigen Stand nach der Frage von der Localisa-
— 607 —
auch unter örtlichen Verschiedenheiten, die notliwendige Voraussetzung
eines jeden Sehactes ist, nur nocli eine rehitiv kleine Gruppe; von
Zellen, denen v. Monakow eben die Function der Vcrtheilung der
Lichtreize zuschreibt und es entsteht nun die Frage, ob diesen Ge-
])ilden nebenher ein wesentlicher Antheil an jener Transformation der
Aetherwellen in ein optisches Bild zukommt. Diese Frage wird sich
ohne Weiteres nicht entscheiden lassen, wenngleich die ältere Schule
und ich mit ihr bisher geneigt war, der Gesammtheit der primären
Opticuscentren ohne nähere Differenzirung eine solche Function zuzu-
schreiben. Wenn wir aber berücksichtigen, dass ein optisches Bild
den niederen mit Augen begabten Thierspecies ohne Vermittelung so
complicirter Vorrichtungen fertig zugeführt wird, so lässt dies sehr
wohl die Frage aufwerfen, ob das Wesentliche des Processes
nicht überhaupt ganz und gar in die Peripherie, d. h. in die
Retina zu verlegen ist. Die Retina wird wegen ihrer Structur ana-
tomisch und ferner entwicklungsgeschichtlich von jeher als ein extra
cerebraler Theil des Gehirns betrachtet, und es ist nur consequent,
wenn man sie auch physiologisch nicht anders ansieht. Der Sehact
würde sich dann bei allen Geschöpfen, von denen angefangen, die nur
mit einem lichtempfindlichen Pigmentfleck begabt sind, bis zu dem mit
dem vollkommensten optischen Apparate ausgestatteten Menschen hinauf,
in der Weise abspielen, dass die aus Lichtwellen hervorgehenden Bilder
der Aussenwelt, insoweit das Lidividuum zu deren Aufnahme und Ver-
werthung überhaupt befähigt ist, bereits in der Peripherie in organische,
mit Bezug auf ihren optischen Theil fertige Bilder überführt werden, deren
weitere Zusammensetzung und associatorische Verwerthung dann wieder von
dem Hinzukommen neuer und höher entwickelter Organisationen abhängt.
Diese Auffassung mag den Einen vielleicht aJs eine nicht hin-
reichend bewiesene Hypothese, den Andern heut oder doch in einer
nahen Zukunft als eine triviale Nothwendigkeit erscheinen. Ich kann
daran nichts ändern, ich gebe eben nur meine eigene Auffassung
wieder. Wie wenig selbstverständlich diese aber bis heute war, das
mag die folgende Auslassung Munk's^) beweisen: „Die Lehre vom
Grosshirn, wie ich sie vorfand, ist damit hinsichtlich der niedersten
Functionen des Grosshirns als unrichtig dargethan. Nicht schon das
Sehen, nicht der Gesichtseindruck sollte an das Grosshirn gebunden
sein, sondern erst die geistige Auffassung des Gesichtseindruckes: in
niederen Hirntheilen (subcorticalen Sinnescentren) sollten die Gesichts-
empfindungen entstehen und für Bewegungen Verwerthung finden, und
1) H. Munk, „Gesammelte Mittheilungen". S. 280/Sl.
— 608 —
erst die aus den Gesichtsempfindungen gebildeten Vorstellungen, das
Erkennen oder Verstehen und die Erinnerung des Gesehenen, sollten
Leistungen des Grosshirns, seiner Rinde sein. Beim Säugethier ist
schon der Anfang alles Sehens, die Lichtempfinduug, eine Function
seines Grosshirns." Und ein fernerer Beweis hierfür liegt in der oben
skizzirten Haltung v. Monakow 's, eines der besten Kenner der Hirn-
physiologie.
Um den Gegensatz noch einmal mit aller Schärfe zu charakteri-
siren: Für mich besteht der Anfang alles Sehens in der Er-
zeugung des fertigen optischen Bildes in der Retina, die
Fortsetzung des Sehens in der Combination dieses optischen
Bildes mit motorischen, vielleicht auch noch anderen Inner-
vationsgefühlen zu Vorstellungen niederer Ordnung in den
infracorticalen Centren und die höchste, an die Existenz
eines Cortex gebundene Entwickelung des Sehens in der
Apperception dieser Vorstellungen niederer Ordnung und
ihrer Association mit Vorstellungen und Gefühlen (Gefühls-
vorstellungen) anderer Herkunft.
Erklärung der Tafel Seite 553. Die untere Hälfte des Schnittes ist
schematisch gezeichnet.
Anmerkung.
36) Zur Begründung dieses Vorwurfs gebe ich den hierher gehörigen Theil
aus meiner Vertheidigung gegen die Angriffe des Herrn H. Munk wieder. Er
diene zugleich zur Begründung meiner eigenen Ansprüche. Den Rest dieser
Polemik, in soweit sie nicht Aufnahme in den Text gefunden hat, unter-
drücke ich.
Aus: „Ueber die Function der motorischen Region des Hunde-
hirns und über die Polemik des Herrn H. Munk."
"Die nach Eingriffen in den Gyrus sigmoides auftretenden Bewegungs-
störungen sind bekanntlich zuerst in der von Fritsch und mir gemeinschaftlich
publicirten Abhandlung beschrieben worden. Wir hatten damals einen Theil
der Hemisphäre als motorisch „im Sinne von Schiff" bezeichnet, indem wir
dabei die Lehre dieses Forschers, dass es neben einer sensiblen und ästheso-
dischen Substanz eine motorische und kinesodische Substanz gäbe, im Auge
hatten. Um so mehr erschien diese Bezeichnung gerechtfertigt, als jener Theil
der Hemisphäre nicht nur auf den elektrischen Reiz mit Bewegungen antwortete,
sondern auch seinen Zusammenhang mit dem anderweitigen motorischen
Apparat eben durch das Eintreten jener Bewegungsstörungen erkennen Hess.
Auch die späteren Beobachtungen an aufgehängten Hunden, sowie manches
Andere sprachen in dem gleichen Sinne. Indessen galt uns doch schon damals
jene Bezeichnung „motorisch" nur als etwas rein Aeusserliches, indem wir uns
über die Bedeutung der Function, die wir jenen Hirntheilen zuschrieben, soweit
es damals möglich war, gleichzeitig in nicht misszuverstehender Weise aus-
sprachen. Ich habe in meinen späteren Arbeiten ungeachtet dessen, was fremde
und eigene Untersuchungen an neuen Thatsachen über die Eigenschaften dieses
Hirntheils beibrachten, den Namen „motorische Pvegion" beibehalten, weil ich
einen besseren, der nicht zugleich eine langathmige Umschreibung enthalten
hätte, nicht wusste.
Nun hat Herr Munk sich 8 Jahre nach unserer ersten Mittheilung
in dieser Beziehung folgendermaassen ausgesprochen i) : „Der eiyenthümliche
Weg, auf ivelchem wir zu unserer jetzigen Kenntniss von der Grosshirn-
rinde gelangt sind, hat auch einen eigenthiimlichen Nachtlieil mit sich ge-
1) H. Munk, Gesammelte Mittheilungen 1890. S. 47, 48.
Hitzig, Gesammelte Abhandl, IL Theil. 39
— 610 — .
bracht. Die Reizversuche ., welchen wir die Erschliessung des früher unzu-
gänglichen Gebietes verdanken, haben den Glauben an motorische Centra oder,
tvie diejenigen sie lieber nenrien, welche den physiologisch w^fassbaren
„ Willen'"'' dort angreifen lassen, an psychomotorische Centra in der Gross-
hirnrinde rasch so fest einwurzeln lassen, dass es eine schwere Aufgabe ge-
lüorden ist, den Glauben zu beseitigen. Und wenn ich auch selber, seitdem
das Verständniss der Fühlsphäre sich mir eröffnet hat, mit der Annahme
von Gentren, wie sie sonst der Bewegungsanregung dietien, innerhalb der
Grosshirnrinde gurnichts mehr anzufangen weiss, so habe ich es mir doch
nicht verhehlt, dass ein ganz umfassender Nachweis des Wesens der Fühl-
sphäre verlangt werden könnte, um die Existenz eines motorischen Abschnittes
der Grosshirnrinde zu widerlegen. — dass man es in dem als Fühl-
sphäre bezeichneten Abschnitte der Grosshirnrinde bloss mit Wahrnehmungen
und Vorstellungen, die aus den Gefühlsempfindungen fliessen, zu thun hat,
und dass demgemäss mir die Bewegungsvorstellungen in der Fühlsphäre die
Ursachen aer sogenannten icillkürlichen Beivegungen sind.'"'' Und an einer
früheren Stelle dieser Mittheilungen i) heisst es ferner: „Wenn es trotzdem
hinsichtlich der Functionen dieses Bindenabschnittes nicht zur Klarheit ge-
kommen war, so war der Grund vornehmlich darin gelegen, dass noch die
leitenden Gesichtspunkte für die richtige Beurtheilung der Versuchsergebnisse
fehlten, und wenn ich iyn vorigen Jahr mich darauf hatte beschränken
müssen, Ihnen unseren Rindenab schnitt als die motorische Sphäre den hin-
teren sensoriellen Sphären gegenüberzustellen, so glaube ich Sie heute zu einem
tieferen Verständnisse auch dieses Rindenabschnittes führen zu können.'"''
Herr Munk sucht also bei seinen Lesern den Glauben zu erwecken, dass
es vor ihm an Klarheit über die Functionen dieses Rindenabschnittes, an ihrem
tieferen Verständniss gefehlt habe, indem man sie als motorische oder psycho-
motorische Regionen bezeichnete und dass die Schuld daran gelegen hätte,
dass man von den Resultaten der Reizversuche ausgegangen sei. Er selbst
habe, nachdem er zu jenem tieferen Verständniss gelangt sei mit der Annahme
von Centren, wie sie sonst der Bewegungsanregung dienen, innerhalb der
Grosshirnrinde garnichts mehr anzufangen gewusst. Zunächst enthalten die
beiden letzten Sätze nichts als Unrichtigkeit und Spiegelfechterei. Es ist un-
richtig, dass die Reizversuche den Anlass zu der von mir gegebenen Erklärung
der Functionen jenes Hirnabschnittes geliefert haben. Wir haben schon in jener
ersten Abhandlung ausdrücklich hervorgehoben, dass sie zur Lösung solcher
Fragen nicht geeignet seien und dann wörtlich hinzugefügt: „Indessen giebt
es einen anderen Weg, die Frage nach der Bedeutung der einzelneji Theile
der Binde experimentell zu lösen; es ist die Exstirpation circum-
scripter und genau bekannter Theile derselben^).''' Und wenn Herr
Munk nun den Glauben zu erwecken versucht, irgend jemand oder gar ich
-hätte an die Existenz von solchen motorischen Centren in der Hirnrinde ge-
glaubt, wie sie sich etwa im Rückenmark oder sonst wo finden, so beruht dies
auf einer willkürlichen Fiction, die keinen anderen Zweck haben kann, als den
1) H. Munk a. a. 0. S. 32.
2) E. Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. 1874. S. 28.
— 611 —
Leser über den wahren Sachverhalt zu täuschen unrl ein nicht existirendes
Verdienst des Herrn Munk zu construiren.
Es ist ja gewiss nicht angenehm für einen wissenschaftlichen Forscher,
wenn er sich sagen lassen muss, es habe ihm an einem tieferen Verständniss
und an der nöthigen Klarheit mit Bezug auf die eigenen Entdeckungen gefehlt.
Wäre es aber richtig, könnte der Beweis dafür erbracht werden, so würde man
es sich schon müssen gefallen lassen, doch nur unter dieser Bedingung; aber
schon zu dieser Zeit verfuhr Herr Munk nach der von mir bereits gekenn-
zeichneten Manier, er macht dem Gegner Vorwürfe, ohne sie zu begründen, da
sonst alsbald die Nichtigkeit dieser Vorwürfe erkenntlich werden würde. That-
sächlich reducirt sich aber das tiefere Verständniss, die grössere Klarheit des
Herrn Munk der Hauptsache nach lediglich auf eine Umtaufe, auf eine Aende-
rung der bis dahin üblichen Namengebung. Er führt in gar keiner Weise an,
was er an meiner Auffassung auszusetzen hat und wodurch sich die seinige
im Princip von ihr unterscheidet. Zum Verständniss ist es nöthig, dasjenige,
was ich selbst vor den angeführten Arbeiten des Herrn Munk in dieser Sache
gesagt habe, mit dem Inhalte derselben zu vergleichen.
In der citirten Arbeit aus dem Jahre 1870 definirten wir den Zustand
der operirten Thiere mit folgenden Worten : „Sie hatten offenbar nur ein
mangelhaftes Bewusstsein von den Zuständen dieses Gliedes, die Fähig-
keit, sich vollkommene Vorstellungen über dasselbe zu bilden, war
ihnen abhanden gekommen.'^ Dann wird ihr Zustand mit der tabischen Ataxie
verglichen.
Bei jenen ersten Versuchen waren mir, wegen der Kleinheit der bei ihnen
angerichteten Zerstörungen, die sonst . bei Eingriffen in den Gyrus sigmoides
zu beobachtenden Störungen der Hautsensibilität entgangen. Schiff, der viel
grössere Zerstörungen anrichtete, hat das Verdienst sie aufgefunden und zuerst
genauer studirt zu haben, aber er beging den Fehler, nun die sämmtlichen
durch jene Eingriffe hervorgebrachten Symptome auf Störungen der Hautsensi-
bilität zu beziehen und daran andere unhaltbare Theorien anzuknüpfen, durch
die die ganze Localisationslehre in Frage gestellt wurde. Es ist nöthig, dies
zu wissen und zu berücksichtigen, wenn man den Gedankengang und den
Wortlaut meiner Publicationen aus jener Zeit, deren Aufgabe zum Theil in der
Widerlegung der Theorien Schiffs, denen sich bis zu einem gewissen Grade
auch Goltz angeschlossen hatte, bestand, richtig auffassen will.
Es kam mir zunächst darauf an, die Ableitung der Gesammtheit jener
Störungen aus der Hautanästhesie als unrichtig darzuthun. Zu diesem Zwecke
habe ich damals^) schon auf die Nothwendigkeit der Unterscheidung zwischen
der Hautsensibilität und den sensiblen Eigenschaften des Bewegungsapparates
hingewiesen. Ich habe dann ausführlich erörtert und durch Versuche bewiesen,
dass die hauptsächlichsten jener Bewegungsstörungen deshalb nicht durch
Störungen der Hautsensibilität erkärt werden können, weil sie zu einer Zeit
1) E. Hitzig, Ueber die Einwände des Herrn Prof. Goltz in Strass-
burg. Fveichert's und du Bois-Reymond's Arch. 1876. Heft 6.
39*
— 612 —
nachweisbar sind, zu der Störungen der Hautsensibilität nicht oder nicht mehr
nachgewiesen werden können i). Dazu kam noch, dass die Störung der iso-
lirten intentioneilen Bewegung, ferner die von mir gefundene eigen thümliche
Deviation der Extremitäten schwächender Hunde und meine Beobachtung, dass
solche Hunde blindlings mit der kranken Pfote über den Tischrand ins Leere
treten, unmöglich zu der Störung der Hautsensibilität in Beziehung ge-
bracht werden konnten. Diese letztere Erscheinung hatte ich so gedeutet,
„rfass die Bunde sich mit der kranken Vorderpfote so benehmen, als ob jür
dieses Glied die Gesichtseindrücke nicht existiren oder als ob die Gesichts-
eindrücke nicht zur Bildung von Vorsielhmgen für dasselbe veriverthet würden''''.
Es handelt sich hierbei also um einen Defect der Vorstellungsthätigkeit
mit Bezug auf die afficirte Extremität, gerade so wie ich einen solchen
rücksichtlich der anderen seiner Zeit von mir als Störung des Muskel-
bewusstseins bezeichneten Bewegungsstörungen angenommen hatte. Und in
gleicher Weise erklärte ich den von Goltz zuerst gefundenen Verlust der
Fähigkeit isolirter intentioneller Bewegung, indem ich sagte: Meiner Ansicht
nach reicht der Bund die Pfote darum nicht, toeil er sich keine oder nur
unvollkommene Vorstellungen von dem Zustande der Bewegungsorgane dieses
Gliedes bilden kann. Denn wenn er die Zustände seiner Bewegungsorgane
auf Grund eines Willensaktes isolirt und in zweckmässiger Weise ändern
soll, so ist erforderlich, dass sein Sensorium von diesen Zuständen, wenn
auch nur in der hier die Regel bildenden unklaren V/eise Kenntniss hat."
Ich sagte dann ferner, indem ich annahm, dass auch die Störungen der Haut-
sensibilität einer analogen Deutung unterliegen, dass „alle diese Phäno-
mene das Gemeinschaftliche besitzeri, dass äusserliche Zustände
— — — vom Sensorium für die Bewegungen des kranken Gliedes
aber nur für dieses nicht in Rechnung gestellt werden'"''.
Alles, was ich hier gesagt habe, stellt sich damit nur als eine
Ausdehnung der bereits in meiner ersten Arbeit gegebenen
Deutung auf andere Vorstellungsquellen in dem Sinne dar,
dass es sich bei allen jenen Symptomen nur um eine Bewusst-
seinsstörung, eine Alteration, eine theilweise Aufhebung der
Vorstellungsthätigkeit handle. Davon, dass ich irgend welche, den
subcorticalen ähnliche Apparate in der Hirnrinde gesucht hätte, ist nie und
nirgends die Rede gewesen.
Sehen wir nun zu, was Herr Munk an die Stelle der vorgetragenen Lehre
gesetzt hat, so mögen zunächst hier einige wörtliche Citate Platz finden:
a)2) „Doch sind die Störungen als Motilitäts- und Sensibilüätsstörungen
1) Ich bemerke übrigens, dass ich Beobachtungen, bei denen die Hunde
die afficirte Vorderpfote auf die leiseste Berührung fortsetzten, dieselbe Pfote
aber gleichwohl dislociren und mit dem Dorsum aufsetzen Hessen, sehr oft ge-
macht habe.
2) Ich versehe die einzelnen Citate mit Buchstaben, um in der Folge
einfacher darauf verweisen zu können.
— 613 —
überhaupt nur schlecht charakterisirt und (jerade auf eine bessere Avffassuug
u?id Würdigung derselben kommt es an}'' ^)
Dies war, wie aus dem Vorstehenden hervorgeht, längst, zum Theil von
Anfang an geschehen, so dass sich der Anspruch des Herrn Munk als eine
grundlose Ueberhebung darstellt,
b) „Nichts anderes aber ist es nun, das nach Exstirpationen im Be-
reiche unseres Rindenabschnittes CDE zur Beobachtung kommt, als der Ver-
lust und die allmähliche Restitution derjenigen Vorstellungen, in den schwe-
reren Fällen auch der Verlust derjenigen Wahrnehmurigen^ von welchen eben
die Rede war}' (a. a. 0. S. 33).
Was Herr Munk unter Vorstellungen und Wahrnehmungen versteht,
erhellt aus einem Satze auf der vorhergehenden Seite, wo er mit Bezug
auf seine Sehsphäre sagt c) „und wie dort, so ist auch hier der Ort, wo
die Wahrnehmung statthat und die Vorstellungen, die Erinnerungsbilder der
Wahrnehmungen ihren Sitz haben." Und auf Seite 32 ebenda heisst es:
d) „Indem die Hautempfindungen zum Bewusstsein kommen, führen
sie zu zweierlei Wahrnehmungen oder, wie wir in diesem Gebiete die Wahr-
nehmungen gut bezeichnen., Gefühlen: dem Berührungs- oder Druckgefühle
und dem Temperaturgefühle — — — . Aus den ersteren ■ — — — gehen
die Berührungs- oder Druckvorstellungen hervor — — — . Dazu kommen
die M%iskelemp>findungen, die Muskelgefühle — — — . Endlich bilden eine
letzte Gruppe von Gefühlen die Innervationsgefühle."
e) „Dass die Neubildung gerade so vorschreitet , wie ich Ihnen vorher
die Entstehung aller Gefühlsvorstellungen zergliedert habe, dass nämlich erst
die einfachere?!, dann die verwickeiteren Vorstellungen sich wieder einfinden,
das ist Ihrer Aufmerksamkeit sicher nicht entgangen" (ebenda S. 37).
f) ,, Jetzt nun, nachdem durch geschlossene Versuchsreihen dargethan ist,
wie im Falle der Restitution in der Fühlsphäre immer erst die einfacheren
und dann die verwickeiteren Gefühlsvorstellungen sich wieder einstellten, erst
die Druckvorstellungen, dann die Lagevorstellungen, endlich die Tast- und
Bewegungsvorstellungen wiederkehren, und wie weiter durch grosse Exstir-
pationen in der Fühlsphäre die Tast- und Bewegungsvorstellungen allein,
durch grössere Exstirpationen mit ihnen die Lagevorstellungen, endlich durch
noch grössere Exstirpationen auch die Druckvorstellungen für die Dauer
zum Verschwinden gebracht werden: jetzt, meine ich, wird man sich nicht
mehr der Erkenntniss verschliessen können, dass man es in dem als Fühl-
spliäre bezeichneten Abschnitt der Grosshirnrinde bloss mit Wahrnehmungen
und Vorstellungen, die aus den Gefühlsempfindungen fliessen, zu thun hat,
und dass demgemäss nur die Bewegungsvorstellungen in der Fühlsphäre die
Ursachen der sogenannten willkürlichen Bewegungen sind^'' (ebenda S. 48).
Endlich heisst es ebenda S. 60 g) „und damit erklärte ich das
höchste, das hier überhaupt zu erzielen wäre, erreicht, indem aus
dem bleibenden Verluste aller Gefühlsvorstellungen des Körpertheiles auch auf
den Untergang aller die Gefühlsvorstellungen constituirender Gefühlsivahr-
nehmungen oder Gefühle sich schliessen Hesse.'''
1) H. Miink a.a.O. S. 34.
— 614 —
Ich habe mich oft gefragt, ob sich wohl einer von denjenigen Autoren,
die die Lehre von den Fühlsphären des Herrn Munk so bereitwillig über-
nommen und ihm jenes von ihm in Anspruch genommene „tiefere Verständniss"
ohne Weiteres zugesprochen haben, die Mühe gegeben hat, über den Unter-
schied zwischen dieser und meiner eigenen Lehre nachzudenken und ob über-
haupt ein Forscher dieser Lehre soweit auf den Leib gerückt ist, dass er die
Richtigkeit ihrer Begründung und die von ihr verheissene Klarheit mit seinen
eigenen Augen erkennen konnte. Da ich die psychologische Literatur nicht zu
verfolgen vermag, habe ich mir diese Frage nie vollständig beantworten
können; sonst habe ich aber nichts Dergleichen gefunden. Ich hatte eigentlich
die Absicht, mich hier dieser Aufgabe zu unterziehen, bin aber aus Zweck-
mässigkeitsgründen davon zurückgekommen; dagegen empfehle ich sie der
Aufmerksamkeit eines Psychologen mit naturwissenschaftlicher Vorbildung,
Ich selbst beschränke mich auf die Erwähnung einiger weniger Punkte.
Dabei wird es auf die Beleuchtung der Frage ankommen, ob die Behauptungen
des Herrn Munk richtig, bewiesen, erweisbar sind und dann gleichviel, ob
richtig oder unrichtig, ob sie ihn dazu berechtigten, seine Lehre als etwas
grundsätzlich Neues und Anderes der meinigen gegenüber zu stellen. Vorerst
interessirt uns die Frage, wie Herr Munk zu der Erkenntniss gekommen ist,
und wie er den Beweis zu führen vermag, dass nicht nur alle Gefiihlsvor-
stellungen, sondern auch alle Gefühle in seiner Gefühlssphäre ihren Sitz haben
und mit ihr vernichtet werden. Der einzige Beweis, den er dafür beizubringen
vermag, soll aber (g) in dem bleibenden Verluste aller Gefühls Vorstellungen
des Körpertheiles bestehen, aus dem er einen Rückschluss auch auf die Ver-
nichtung aller Gefühle macht. Hierdurch wird aber nicht das Geringste be-
wiesen. Denn von dem Vorhandensein von Gefühlen, man mag diesen Aus-
druck definiren, wie man will, erfahren wir nur etwas durch die Beobachtung
der aus Vorstellungen fliessenden willkürlichen Bewegungen und der reflec-
torischen Bewegungen. Nun werden die letzteren, insoweit sie hier in Betracht
kommen, auch durch Zerstörung beider „Fühlsphären" nicht dauernd ver-
nichtet. In welcher Weise Herr Munk also erkennen will, ob ein Thier, welches
seiner Annahme nach keine Gefühlsvorstellungen mehr, hat, zu irgend einer
Zeit bei grösseren oder kleineren Verletzungen noch isolirte Wahrnehmungen
oder Gefühle besitzt oder nicht, in welcher Weise die von ihm des Breiteren ge-
schilderte Restitution der Function jener Gefühlsvorstellung zu Stande kommen
soll, wie sie bei seinen anatomischen Annahmen von Wahrnehmungs- und Vor-
stellungszellen überhaupt denkbar ist, das bleibt sein Geheimniss.
Besonderes Gewicht legt Herr Munk (e und f) auf den angeblich ge-
führten Nachweis des gesetzmässigen Verschwindens und Wiederkehrens der
einzelnen Gefühle und Gefühlsvorstellungon. Ich will jetzt dahingestellt sein
lassen, ob sich diese physiologischen Vorstellungen des Herrn Munk mit seinen
anatomischen Vorstellungen über die Rinde überhaupt vereinigen lassen.
Thatsächlich ist jener Nachweis aber weder geführt, noch sind die Behaup-
tungen des Herrn Munk zutreflend. Bei der Restitution bessern sich alle Func-
tionen der Extremität gleichzeitig, am weitesten zurück bleibt aber immer die
— 615 —
Kestitution der liauptsächlichstea Function jenes RindenabscliniLtes, der Vcr-
mittelung des Bewusstseins von den Zuständen der Musculatur (vielleicht auch
der Gelenke), wie ich dies von jeher betont habe. Und gerade dasjenige
Moment, auf dessen Constatirung Herr Munk sich am meisten zu Gute thut,
nämlich dass erst die einfacheren, dann die verwickeiteren Vorstellungen sicli
wieder herstellten, existirt in Wirklichkeit nicht. Wäre Herr Munk klar ge-
wesen, so hätte er sehen müssen, dass es hier gar keine verwickeiteren Vor-
stellungen im Gegensatz zu einfacheren giebt, sondern dass nur Vorstellungen
verschiedener Herkunft zu der normalen Ausführung eines complicirten Actes,
der geordneten willkürlichen Bewegungen, zusammenwirken.
Ich hatte 1) mich über die Entstehung der willkürlichen Muskelbewegung
mit Bezug auf die motorische Region, Avie folgt geäussert:
„D/e UehermiUeluny von solchen, grossentheüs unbewussten Vorstellungen
über jede einzelne Bewegungs]phase bildet eine der nothio endigen Vorbedin-
gungen für den normalen Ablauf der ihr folgenden Phase, und man hat
hiernach, wenn man auch die scheinbare Muskelruhe als eine Bewegungs-
phase auffasst, ganz allgemein in den Muslcelzuständen eine der verschiedenen
Ursachen zu erkennen, welche den Organismus zu den loillkürlichen Bewe-
gu7igen vera7ilassen, und diese selbst reguliren. Nehmen icir an, es gäbe
keine anderen Sinnesreize und Wahrnehmungen, und wir hätten es vielmehr
mit einer einfachen, mit dem Impulse versehenen Bewegungsmaschine der
gedachten Art zu thun, so können ivir uns auf Grund des eben Entwickelten
sehr wohl vorstellen, dass eine solche zur Ausführung zweckmässiger Bewe-
gungen ausreicht."
Und ferner^):
„Denn wenn er die Zustände seiner Bewegungsorgane auf Grund eines
Willensaktes isolirt und in zweckmässiger Weise ändern soll, so ist erfor-
derlich, dass sein Sensorium von diesen Zuständen, wenn auch nur in der
hier die Regel bildenden unklaren Weise Kenntniss hat. — — — •
Zur Auslösung von Bewegungen ganz allgemein gesprochen, also z. B.
von Ortsbewegungen, ist die Gesammtsumme dieser Kenntniss, welche sich
nämlich aus den einzelnen Factoren der die einzelnen Glieder betreffenden
Bewusstseinsvorgänge zusammensetzt, nicht erforderlich. Es genügt hier, dass
der Bewegunqsimptds überha-upt von der Grosshirnrinde zu den niederen
Bewegungscentren gelange, um ihre Maschinerie in Thättgkeit zu setzen. Die
kranken Glieder spielen dann so gut es ohne das ihnen angehörende Theil
Grosshirnrinde gehen will, eben mit. Sofort macht sich aber der Defect im
Grossliirn bei der Bewegung bemerklich dadurch, dass der Hund die Pfote
in den einzelnen Gelenken ungeschickt bewegt, sie nach innen oder aussen
setzt, sie mit dem Dorsum aufsetzt u. s.w. — Es ist 'nur ein Zu-
fall, wenn die Pfote normale Beioegungen macht, in der Regel fällt die der
Norm adaequate Begrenzung der einzelnen BewegungsgVeder^ die nur aus
der unaufhörlichen Kenntnissnahme jeder einzelnen Bewegungsphase resul-
tiren kann, dahin.''''
1) E. Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. 1874. S. 61.
2) E. Hitzig, Ueber die Einwände des Herrn Prof. Goltz, a. a. 0.
S. 405.
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Herr Munk hat als höchstes und letztes Endergebniss seiner Unter-
suchungen und Ueberlegungen den Satz aufgestellt (f), „dass nur die Be-
wegung-worsteliungen in der Fühlsphäre die Ursachen der sogenannten willkür-
lichen Bewegungen sind'"''. Dieser Satz ist an sich falsch, was an ihm aber
richtig ist, war theils bekannt, theils längst vor Herrn Munk durch mich aus
meinen eigenen Versuchen abgeleitet worden. Längst bekannt, ja eine triviale
Nothwendigkeit ist es, dass nur die Bewegungsvorstellungen die Ursache der
willkürlichen Bewegungen sind. Falsch ist es aber, dass nur die Bewegungs-
vorstellungen in der „Fühlsphäre" ihre Ursachen sind^).
Die Ursache einer Bewegungsvorstellung kann z. B. der Anblick eines
Stückes Fleisch sein, sodass der Hund infolge der Gesichtsvorstellung sich auf
das Fleisch zu bewegt. Unzweifelhaft ist dies eine infolge einer Bewegungs-
vorstellung auftretende willkürliche Bewegung, und doch kann sie sich ohne
Mitwirkung der entsprechenden Abschnitte der motorischen Region vollziehen.
Natürlich entsteht die Vorstellung des Fleisches, sowie der Trieb, sich seiner
zu bemächtigen, in der optischen Region und vielleicht noch an anderen Orten.
Natürlich bildet er eine Componente der Bewegungsvorstellung, thatsächlich
bewegt sich der Hund auch nach Verlust der entsprechenden moto-
rischen Centren auf das Fleisch zu und aus allen diesen Gründen ist das
falsch, was Herr Munk behauptet. Richtig ist nur das, was ich in den vor-
stehenden Citaten angeführt und oft genug wiederholt und zusaramengefasst
habe, nämlich, dass jene Hirnprovinzen zur Bildung von Vor-
stellungen von den gesammten Zuständen des Körpertheiles be-
stimmt sind und dass deshalb die Ausführung nicht nur zweck-
mässiger, sondern gleichzeitig auch normaler Bewegungen ohne
ihre Mitwirkung nicht von statten gehen kann.
Herr Munk mag nun mit den Einzelheiten, von denen hier die Rede war.
Recht haben oder nicht. Der Hauptsache nach gipfelt sein ganzes Raisonnement
in dem Satze, dass meine motorische Region, die er für seine Zwecke
„Fühlsphäre" zu taufen beliebt hat, zur Bildung vonVorstellungen
dient, aus denen er wiederum für seine Zwecke Gefühle und Ge-
fühlsvorstellungen gemacht hat, und dass die Ausschaltung
dieser Region die Vorstellungen von den Zuständen der zuge-
hörigen Körpertheile und damit auch deren Bewegungen stört.
Dies ist aber in allem Wesentlichen genau dasselbe, was ich
Jahre vor Herrn Munk bereits dargelegt hatte, sodass wahrlich ein
nicht geringer Muth dazu gehört, dem wissenschaftlichen Publicum die Fabel
vorzusetzen, er habe erst zu dem wirklichen Verständniss meiner Entdeckungen
1) Es ist unmöglich, dass Herr Munk dies nicht ebenso gut gewusst hat,
wie jedermann. Wenn er nichtsdestoweniger mit den angeführten Worten
etwas ganz Widersinniges behauptete, so ist dies offensichtlich auf die Ver-
blendung zurückzuführen, in die er mit dem Bestreben gerathen war, doch
lioch eine zündende Entdeckung zu machen, wo nichts mehr zu entdecken war.
— (;i7 —
verholfeii, um sich dann, wenn ich zu proteslircn wat^o, darüber zu beschweren,
dass ich ihn seines Eigenthums beraube.
Herr Munk hat sich hiermit aber nicht begnügt. Ich hatte seiner
Zeit die einzelnen corticalen Regionen für die Innervation der einzelnen Miis-
kelgebiete unter Aufwendung unsäglicher Mühe auf das Genaueste abgegrenzt.
Herr Munk hat sich dann später bemüssigt gefanden, diese Abgrenzung in an-
derer Weise vorzunehmen. Das Nähere darüber möge der Leser in meinen
früheren Abhandlungen i) nachlesen. Er sagt aber nie und nirgends, in wel-
cher Weise er diese Grenzen bestimmt hat und aus welchen Gründen er meine
Abgrenzung für unrichtig hielt. Dabei musste es ihm sogar passiren, dass er
seine eigenen Grenzen wieder abänderte, wobei er sich gelegentlich in die von
mir gezogenen Grenzen zurückfand. Für alles Dieses fehlt jede Spur einer
Erklärung. Ich glaube nicht, dass irgend ein Forscher und vornehmlich ein
Forscher auf dem Gebiete der Physiologie es billigen wird, dass man so mit
den Angaben derjenigen Autoren umgeht, auf deren Schultern man zu stehen
glaubt, und dass man überhaupt seine Untersuchungsergebnisse in einer so
unordentlichen Weise vorträgt.
Ich habe mich an den angeführten Orten bereits bedauernd darüber ge-
äussert, dass Herr Munk in dieser Weise verfahren sei and es mag sein, dass
er mit den Worten, „dass ich über diese und jeneAngabe, die mir widersprach,
mich nicht geäussert habe", diese Stellen im Auge gehabt hat; andere als diese
Stellen und die vorher erwähnte Arbeit von Exner können ihm wenigstens
meines Erinnerns keine Veranlassung zu diesen W^orten gegeben haben. Die
Thatsachen, von denen hier die Rede ist, habe ich längst vor Herrn Munk 's
ersten Arbeiten festgestellt; wenn er also den Mangel jeder Erläuterung, wie
es den Anschein hat, damit hätte entschuldigen wollen, dass er seitdem auf
die Sache nicht zurückgekommen sei, so wäre dies wieder eine grundlose Be-
hauptung.
Herr Munk, dem es niemals an Scheingründen fehlt, wird voraussicht-
lich einwenden, dass es sich bei mir um Reizversuche und bei ihm um Läh-
mungsversuche handele. Dies wäre indessen thatsächlich nur ein Scheingrand.
Für eine vollständige Erforschung der physiologischen Function der Hinrinde
müssen Reiz- und Lähmungsversuche selbstverständlich zusammenwirken; für
die Abgrenzung der einzelnen Gebiete innerhalb der motorischen Region —
und nur auf diese, nicht auf die benutzten Mittel kommt es an — verdienen
Reizversache jedoch in jedem Falle den Vorzug und in keinem Falle durfte
Herr Munk diese Versuche einfach bei Seite schieben. Aber freilich mit einigen
Abänderungen dieser Ahgrenzungen und mit Verschweigung einer Anzahl von
localisatorischen Angaben, die ich auf diesem Gebiete gemacht habe, liess sich
um so leichter die Transformirung meiner motorischen Region in die ,,Pühl-
sphäre" des Herrn Munk vornehmen. Und so hat Herr Munk es dann glück-
lich erreicht, dass im Laufe der Jahre allmählich bei immer mehr Autoren
]) E. Hitzig, Alte und neue Untersuchungen etc. Archiv f. Psychiatrie
Bd. 34. S. 6 ff. und Bd. 36. S. 45 ff,
— 618 —
dasjenige als ,, Fühlsphäre" von Munk bezeichnet wird, was man früher als
„motorische Region" von Hitzig bezeichnete.
In der Hoffnung, dass die wissenschaftliche Forschung mir im Laufe der
Zeit gerecht werden würde, habe ich lange Jahre zu diesen Machenschaften
geduldig geschwiegen. Es kam dazu die Abneigung gegen eine Polemik, die
nicht mit der Publication der Fortsetzung meiner Arbeiten Hand in Hand ging.
Meine Hoffnung hat mich aber getäuscht. Immer mehr, namentlich in Deutsch-
land, hat man meine Betheiligung an der Gründung und dem Ausbau der
Localisationslehre auf die Entdeckung der elektrischen Erregbarkeit des Gross-
hirns zurückgedrängt und Herrn Munk alles weitere Verdienst zugeschrieben.
Ungeachtet dessen würde ich mich mit der bei der Wiederaufnahme der Ver-
öffentlichung meiner selbstständigen Arbeiten von selbst gegebenen einfachen
Darlegung des Sachverhaltes begnügt haben, wenn Herr Munk nicht die Kühn-
heit besessen hätte, mir die Beraubung Anderer vorzuwerfen. Man kann ja nun
ermessen, wer den Anderen beraubt hat, Herr Munk oder ich.
Druck vi>n L. Scliumacher in Berlin N. 24.
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