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Full text of "Physiologische und klinische Untersuchungen über das Gehirn, gesammelte Abhandlungen"

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http://www.archive.org/details/physiologischeunOOhitz 


Physiologische  und   klinische  Untersuchungen 


über  das 


GEHIRN. 


Gesammelte  Abhandlungen 


von 


Dr.  Eduard  Hitzig, 

Gell.   Med.-liutli,  o.  Piolessor  dei    Modichi   an   dei-  Uiiivoj-sität   Halle 


TheJl  I:    Untersuchungen  über  das  Gehirn. 

Theil  II:  Alte  und  neue  Untersuchungen  über  das  Gehirn. 


M\t  1   Tafel  Hvä  .120  Abbildungen  im  Tecct. 


Berlin  1904. 

Verlag  von   August   liirsch  wald. 

NW.    Unter  den  Linden  68. 


qq<^ 


I.  THEIL. 


UntersLichungeii 

über  das 

Gehirn. 

Abhandlungen 

physiologischen  und  pathologischen  Inhalts 

II.  vermehrte  Auflag-e 

von 

Di.  Eduard  Hitzig. 


Vorwort. 


V  on  den  in  diesem  Buche  gesammelten  Abhandlungen  ist  die  Mehrzahl 
der  den  ersten  Theil  zusammensetzenden  Arbeiten  im  Jahre  1874  in 
erster  Auflage  veröffentlicht  worden.  Ihnen  habe  ich,  als  ich  mich  auf 
den  seit  Jahren  geäusserten  Wnnscli  des  Herrn  Verlegers  zur  Veran- 
staltung einer  zweiten  Auflage  entschloss,  einige  der  inzwischen  von 
mir  publizirten  Aufsätze  über  die  Physiologie  und  Pathologie  des  Ge- 
hirns angereiht.  Dieses  Material  habe  ich  so  angeordnet,  dass  die  Loca- 
lisationsfragen  gewidmeten  Arbeiten  mit  den  Abhandlungen  II  —  XII 
den  Anfang  machen;  an  sie  schliessen  sich  drei  stotilich  nahe  verwandte 
Arbeiten  aus  dem  Gebiete  der  Hirnchirurgie;  ihnen  folgen  zwei  kleinere 
Aufsätze,  deren  Inhalt  theils  in  physiologischer,  theils  in  klinischer 
Beziehung  mehr  das  Grosshirn  angeht;  die  Abhandlungen  XVIII  und 
XIX  beschäftigen  sich  mit  den  Organen  des  Gleichgewichts,  während 
die  den  Schluss  dieses  Theiles  bildenden  Abhandinngen  XX  und  XXI 
rein  klinische  Fragen  behandeln. 

Einzelne  dieser  Arbeiten,  vornehmlich  die  der  Localisation  im  Gross- 
hirn gewidmeten,  aber  nicht  sie  allein,  haben  im  Laufe  der  Jahre  die 
Production  einer  gewaltigen  Literatur  angeregt.  Kein  Mensch  wäre  im 
Stande,  die  Richtigkeit  der  in  ihr  wiedergegebenen  experimentellen 
Untersuchungen  nachzuprüfen.  Aber  auch  die  rein  referirende  Wieder- 
gabe der  sich  an  meine  Arbeiten  unmittelbar  anschliessenden  Unter- 
suchungen wäre  mit  der  Reproduction  meiner  selbstständigen  Arbeiten 
aus  verschiedenen  Gründen  gänzlich  unvereinbar  gewesen.  So  habe  ich 
mich  denn  darauf  beschränken  müssen,  einige  wenige  Punkte,  über  die 
ich  nicht  glaubte  schweigend  hinweggehen  zu  dürfen,  in  einigen,  den 
einzelnen  Abhandlungen    angehängten  Anmerkungen   kurz   zu  erwähnen. 

Der  Titel  des  zweiten  Theiles  dieser  in  den  Jahren  1901  —  1903 
zuerst  im  Archiv  für  Psychiafcie  und  Nervenkrankheiten  veröffentlichten 


—     VIII     — 

Arbeiten  bedarf  einer  Erläuterung.  Es  sollte  damals  damit  nicht  gesagt 
werden,  dass  neue  Untersuchungen  neben  der  Reproduction  älterer 
Arbeiten  zur  Veröffentlichung  kämen;  vielmehr  handelte  es  sich  um 
die  Wiedergabe  einer  langen  Reihe  von  Untersuchungen,  welche  sich 
über  viele  Jahre  hinziehen,  vielfach  unterbrochen  worden  sind  und 
nunmehr  ihren  Abschluss  finden  sollten.  Begonnen  wurden  diese  Ver- 
suche nach  Vollendung  der  Reorganisation  der  Provinzialirrenanstalt 
Nietleben  bereits  im  Jahre  1883.  Sie  fanden  dann  eine  erste  Unter- 
brechung durch  die  Gründung  der  provisorischen  Klinik  in  Halle  im 
Jahre  1885,  der  bald  weitere  Unterbrechungen  durch  die  mit  der  Grün- 
dung und  Organisation  der  definitiven  Klinik  verbundenen  Arbeiten  und 
die  Aufgaben  folgten,  die  mir  von  einer  Anzahl  von  zeitraubenden 
Gelegenheitsschriften  1)  gestellt  wurden.  Inzwischen  war  ein  Theil  der 
Resultate  jener  früher  angestellten  Versuche  bereits  Anfangs  der  90  er 
Jahre  zu  Papier  gebracht,  ja  grösstentheils  bereits  zum  Druck  fertig- 
gestellt worden,  während  ich  an  ihrer  Beendigung  bis  nach  Abschluss 
jener  anderen  Arbeiten  behindert  war.  Erst  im  Jahre  1899  gelang  es 
mir,  meine  Experimentaluntersuchungen  wieder  aufzunehmen.  Unge- 
achtet der  zahllosen  inzwischen  auf  diesem  Gebiete  publicirten  Arbeiten 
liess  es  sich  doch,  wenn  auch  nicht  ohne  eine  gewisse  Selbstbeschrän- 
kung ermöglichen,  das  früher  Niedergeschriebene  unter  Vornahme 
einiger  Aenderungen,  Umstellungen  und  Zusätze  zu  benutzen. 

Der  Stoff  im  Ganzen  behandelt  wieder  Localisationsfragen.  Die 
eine  von  diesen  Fragen  hatte  ich  vor  Decennien  selbst  aufgeworfen: 
es  handelt  sich  um  den  Eintritt  von  Motilitätsstörungen  nach  Eingriffen 
in  die  sogenannte  Sehsphäre.  Diese  Frage  musste  in  jedem  Falle,  nament- 
lich aber  mit  Rücksicht  auf  die  widersprechenden  Angaben  der  Autoren, 
endlich  einmal  aus  der  Welt  geschafft  werden.  Ich  hoffe,  es  ist  mir 
gelungen. 

Eine  andere  nicht  minder  wichtige,  ja  noch  wichtigere  Frage  betrifft 
im  Gegensatz  hierzu  den  Eintritt,  das  Verhalten  und  den  Verlauf  von 
Sehstörungen  nach  Eingriffen  in  die  motorische  Zone,  ferner  die  Prü- 
fung der  viel  umstrittenen  Lehre  Munk's  von  der  Function  des  Occi- 
pitalhirns  durch  umfassende  Versuchsreihen  sowie  die  Einfügung  der 
auf  diesem  Gebiete  gefundenen  experimentellen  Erfahrungen  in  unsere 
theoretischen  Anschauungen  von  der  Gehirnmechanik.  Mehrere  und  zwar 
die  umfangreichsten  Abhandlungen  sind  diesen  letzteren  Aufgaben  gewidmet. 


1)  üeber  traumatische  Tabes.  Berlin  1894.  lieber  den  (Juerujantenwahn- 
sinn.  Leipzig  1895.  Die  Kostordnung  der  Psychiatrischen  und  Nervenkliuik. 
Jena  1897.    Der  Schwindel.    Wien  1898. 


-      IX     — 

Dabei  galt  es  unter  anderem  sich  auch  mit  der  oxporinusn teilen  xMetliudilv 
zu  beschäftigen,  welche  von  jeher  mancherlei  Angriffen  ausgesetzt  gewesen 
ist,  Angriffen,  welche  noch  vor  Kurzem  durch  einen  Forscher,  Herrn 
Loeb,  dahin  zugespitzt  wurden,  dass  er  die  gesammten  Differenzen, 
welclie  zwischen  der  Schule  von  Goltz  und  den  Anhängern  der  Loca- 
lisationslehre  bestehen,  auf  die  Nichtbeachtung  von  Fehlern  und  Diffe- 
renzen in  der  Methodik  zurückführen  wollte.  Mir  schien  es,  dass  jede 
Einigung  über  diese  Streitpunkte  von  der  grössten  Tragweite  solange 
ausgeschlossen  bleiben  musste,  bis  man  sich  nicht  über  den  Werth  der 
complicirten  Bedingungen,  unter  denen  man  am  Grosshirn  operirt  und 
die  operativen  Resultate  feststellt,  geeinigt  iiatte.  — 

Ich  benutze  diese  Gelegenheit,  um  meinem  bisherigen  Assistenten 
Herrn  Dr.  K alberiah  nochmals  für  seine  mir  bei  meinen  jüngsten 
Arbeiten  geleistete  Hülfe,  sowie  Fräulein  Dr.  Irma  Klausner  zu  Berlin 
dafür  meinen  aufrichtigen  Dank  auszusprechen,  dass  sie  fast  die  sämmt- 
lichen  Correcturen  dieses  Buches  gelesen  hat. 


Als  ein  gütiges  Geschick  mich  im  Jahre  1870  die  Entdeckung  der 
elektrischen  Erregbarkeit  des  Grosshirns  machen  Hess,  versprach  ich 
mir  selbst,  meinen  Dank  durch  gewissenhafte  Arbeit  an  dem  Auibau 
der  Physiologie  und  Pathologie  des  Gehirns  abzutragen.  Wie  man  sieht, 
bin  ich  diesem  Versprechen  nicht  untreu  geworden.  Aber  doch  hat 
sich  der  Verlauf  der  Dinge  ganz  anders  gestaltet,  als  ich  ihn  mir  vor- 
stellte. Einmal  wurden  meine  Kräfte  durch  den  Krieg,  durch  die 
mannigfaltigsten  und  manchmal  unerfreulichsten  Berufsgeschäfte,  und, 
wie  gesagt,  durch  andere  wissenschaftliche  Aufgaben  derart  absorbirt,  dass 
diese  Untersuchungen  überhaupt  zurücktreten  mussten.  Dann  aber  wurde 
ich  einerseits  durch  den  Widerspruch,  den  die  Localisationsfrage  erfuhr, 
andererseits  durch  die  Ausdehnung  und  Anwendung,  die  ihr  im  Gegen- 
satz zu  meinen  eigenen  Erfahrungen  gegeben  wurde,  in  Bahnen  ge- 
drängt, die  meinen  Absichten  und  Neigungen  fern  lagen.  An  sich  ist 
der  Kampf  der  Findung  der  wissenschaftlichen  Wahrheit  förderlich, 
ja  unentbehrlich.  Das  ist  eine  alte  Wahrheit,  deren  Richtigkeit 
sich  auch  auf  unserem  Gebiete  wieder  bewährt  hat.  Ich  habe  aus 
diesem  Grunde  den  Gegner  niemals  mit  der  Sache  verwechselt,  die  ich 
bekämpfen  musste;  viele  meiner  Mitarbeiter  auf  diesem  Gebiete  sind 
denn  auch,  selbst  wenn  unsere  Ansichten  mehr  oder  weniger  divergirten, 
meine  Freunde  geworden. 

Jedoch  nicht  immer  hatte  ich  den  Kampf  lediglich  um  die  Fin- 
dung der  wissenschaftlichen  Wahrheit  zu  führen;  anders  geartete 
Tendenzen  galt  es  von  Zeit  zu  Zeit  zu  bekämpfen.    Ganz  besonders  ist 


—     X     — 

mir  die  reine  Freude  an  der  Arbeit  durch  die  Erfahrung  verdorben 
worden,  dass  ein  Forscher  unter  der  Maske  der  Anerkennung  meine 
eigenen  Resultate  und  Betrachtungen  zurückdrängte,  um  sie  unter  ver- 
ändertem Namen  und  mit  anderen  äusserlichen  Veränderungen,  die  er 
nicht  einmal  zu  begründen  für  gut  fand,  als  Erzeugnisse  seiner  höheren 
Einsicht  vorzutragen  3^) ;  und  ferner  dadurch,  dass  derselbe  Forscher  seine 
Lehre  über  die  Art  der  Localisation  des  Sehens  im  Occipitalhirn  in 
einer  Weise  aufrecht  erhalten  und  vertheidigt  hat,  die  die  Beibringung 
eines  sehr  umfassenden  casuistischen  Materials  erforderlich  machte.  In- 
dessen schien  mir  nur  auf  diese  Weise  die  Widerlegung  jener  in  alle  Lehr- 
bücher und  in  die  Vorstellungskreise  der  Meisten  eingedrungenen  Theo- 
rien möglich,  Theorien,  deren  Festhaltung  jeden  Fortschritt  in  der  Er- 
kenntniss  der  Hirnmechanik  verhinderten.  Auf  diese  Weise  wurde  mir 
ein  ungeheurer  und  mir  unersetzlicher  Aufwand  an  Zeit  und  Mühe  nicht 
nur  nach  der  experimentellen,  sondern  auch  nach  der  redactionellen 
Seite  hin  verursacht.  Durch  alle  diese  und  manche  andere,  hier  nicht 
zu  erwähnende  Momente  ist  es  gekommen,  dass  ich  mein  Arbeitspro- 
gramm theils  in  anderer  als  der  geplanten  Weise,  theils  überhaupt  nicht 
zur  Ausführung  bringen  konnte. 

Unbesiegt  von  meinen  Gegnern,  besiegt  von  dem  allgewaltigen 
Schicksal,  das  mich  der  Sehkraft  bereits  fast  gänzlich  beraubte,  lege  ich 
jetzt  das  Messer,  die  Feder  und  das  Schwert  aus  der  Hand,  in  der 
Absicht,  sie  nicht  wieder  aufzunehmen.  Jedermann  wird  es  begreiflich 
finden,  dass  ich  zu  einer  solchen  Fortsetzung  meiner  literarischen  Thä- 
tigkeit,  welche  lediglich  im  Federkampf,  ohne  Beibringung  neuen  Mate- 
rials bestehen  könnte,  nicht  geneigt  bin.  Wenn  ich  also  ferner  schweigen 
werde,  so  liegt  darin  der  Grund,  sollte  ich  aber  wider  Willen  reden 
müssen,  so  würde  dies  unter  dem  Zwange  einer  Art  der  Polemik  ge- 
schehen, wie  ich  sie  nach  meinen  bisherigen  Erfahrungen  allerdings 
nicht  für  unmöglich  halten  muss.  Unter  meinem  Schweigen  wird  die 
Sache  nicht  zu  leiden  haben.  Weder  die  Beurtheilung  des  Werthes 
meiner  eigenen  Arbeiten,  noch  die  endliche  Findung  der  Wahrheit  hängt 
von  dem  Willen  des  Einzelnen  ab;  diese  Untersuchungen  werden  wie- 
derholt werden  und  das  Endergebniss  ist  mir  nicht  zweifelhaft. 

Halle,  im  September  1903. 

Der  Verfasser. 


Inhalt  des  I.  Theiles. 


Seite 

Vorwort ^^^ 

I.  Ehileitiiiig ^ 

IL  Ueber  die  elektrische  Erregbarkeit  des  (^rosshirns  8 

(Diese    Abhandlung    wurde    zuerst    gedruckt    in 
Reichert's  und  du  Bois-Reymond's  Archiv.    1870. 
H.  3). 
III.  IJiitersuclmiigen  zur  Physiologie  des  Grosshiriis       36-62 

1.  Polare  Einflüsse 36 

2.  Einflüsse  des  Aethers  und  Morphiums     .    .  39 

3.  Einfluss  der  Apnoe 42 

4.  Augenmuskeln  und  Facialis    .    ." 45 

5.  Umfang  und    erregbare  Verbindungen    der 
Centren 4< 

6.  Reflexionen ^3 

(Diese    Abhandlung    wurde    zuerst    gedruckt    in 
Reichert's  und  du  Bois-Reymond's  Archiv.    1873. 
H.  3  u.  4.) 
IV.  Ueber  Productioii  von  Epilepsie  durch  experi- 
mentelle Verletzung  der  Hirnrinde ......  63 

(Diese   Abhandlung    wurde    zuerst    gedruckt    in 
„Untersuchungen  über  das  Gehirn".   1.  Aufl.) 

V.  Lähmungsversuche  am  Grosshirn •  ^^ 

(Diese  Abhandlung  wurde  zuerst  gedruckt  in  Rei- 
chert's und  du  Bois-Reymond's  Archiv.  1874.  H.4.) 

VI.  Kritische  und  experimentelle  Untersuchungen 
zur  Physiologie  des  Orosshirns  im  Anschluss 
an    die  Untersuchungen    des   Herrn  Professor 

D.  Ferrier  in  London 114—158 

Vorbemerkungen 

A,  Die  Methode  Ferrier's 1^^ 


XII  Inhalt  des  I.  Theiles. 

Soite 

B.  Die  Resultate  Ferrier's: 

1.  Allgemeine    Differenzen    zwischen    den    Reiz- 

effecten  Ferrier's  und  den  meinigen  ....  122 

2.  Spezielle  Differenzen  zwischen  den  Reizeffecten 
Ferrier's  und  den  meinigen 124 

1.  Versuche  an  Hunden 124 

a)  Unerregbare  Zone 125 

b)  Erregbare  Zone 132 

2.  Versuche  an  Katzen 140 

a)  ün erregbare  Zone 141 

b)  Erregbare  Zone    .......  144 

3.  Versuche  an  Meerschweinchen  ....  147 

C.  Die  Schlüsse  Ferrier's 153 

(Diese   Abhandlung   wurde    zuerst    gedruckt    in 
„üntersuchungenüber  das  Gehirn".   I.  Autl.) 

VII.  Ueber  einen  interessanten  Abscess  der  Hirnrinde  159 

(Diese  Abhandlung    wurde    zuerst    gedruckt    im 

Arch.f.Psychiatr.  u.  Nervenkrankh.  Bd.  III.   H.2,) 

VIII.  Ueber    äqnivalente    Regionen    am   (jehirn    des 

Hnndes,  des  Aifen  und  des  Menschen 170 

(Diese    Abhandlung    wurde    zuerst    gedruckt    in 

„Untersuchungen  über  das  Gehirn".   1.  Aufl.) 

IX.  Kritische    und  experimentelle   Untersuchungen 

zur  Physiologie    des  Orosshirns,    im  Anschluss 

an  die  Untersucliungen  der  Herren  L,  Hermann, 

H.  Braun,  (1.  Carville  und  H.  Duret 193 

(Diese    Abhandlung    wurde    zuerst   gedruckt    in 
Reichert's  und  du  Bois-Reymond's  Archiv.    1875. 
H.  4.) 
X.  Ueber  die  Einwände  des  Herrn  Prof.  Goltz  .    .  214 

(Diese  Abhandlung  wurde  zuerst  gedrückt  in  Rei- 
chert's und  du  Bois-Reymond'sArchiv.  1876.  II.6.) 

XL  Zur  Physiologie  des  (jrosshirns .  230 

(Diese   Abhandlung   wurde    zuerst    gedruckt   im 

x\rch.  f.  Psych,  u.  Nervenkrankh.  Bd.  XV.   H.  1.) 

XII.  Ueber  die  Functionen  des  (jrosshirns     ....  238 

(Diese    Abhandlung    wurde    zuerst    gedruckt    in 
der  Berl.  klin.  Wochenschr.    1886.  No.  40. 

XIII.  Ein  Beitrag  zur  Hirnchirurgie  I '247 

(Diese  Abhandlung  wurde  zuerst  gedruckt  in  der 
Berl.  klin.  Wochenschr.   1892.  No.  29.) 

XIV.  Ein  Beitrag  zur  Hirucliirurgie  II.   Ueber  hirn- 
chirurgische Missert'olge 264 

(Diese  Abhandlung  wurde  zuerst  gedruckt  in  der 
Therapeut.  Wochenschr.   No.  19  u.  20.) 


Inhalt  des  L  Tliciles.  '    Xlll 

.Soito 

XV.  Rill  H«itraft-  zur  Hiriicliirurj^ie  NF.     294 

(Diese  Abliandlunj>'  wni'de  zuerst  j^'edruclvt  in  den 
Mittheilungen  aus  den  Grenzgeb.  der  Medizin  und 
Chirurgie.    189S.) 

XVI.  Ein  Kiuesiüsthesiometer    nebst  einigen  Henier- 

knn2,en  über  den  Muskelsinn ;^li 

(Diese  Abhandlung  wurde  zuerst  gedruckt  im 
neurologischen  Centralblatt.    188S.) 

XVTl.  üeber  den  Ort  der  extraventricularen  Cerebral- 

flüssigkeit 328 

(Diese  Abhandlung  wurde  zuerst  gedruckt  in  Rei- 
chert's und  du Bois-Reymond's  Archiv.  1874.  H..3.) 

XVIIT.  lieber   die    beim  Galvanisiren  des  Kopfes    ent- 
stehenden Störnngen  der  Muskelinnervation  und 
der  Vorstellungen  vom  Verhalten  im  Räume  .     3.3^—385 
I.   Literatur 33G 

IL    üeber    die  beim   Galvanisiren    des    Kopfes 

eintretenden  Erscheinungen  von  Schwindel  339 

III.  Ueber  die  beim  Galvanisiren  des  Kopfes 
eintretenden  Augenbewegungen 347 

IV.  Ueber  die  Art  der  Einwirkung  des  Galva- 
nismus 352 

V.  Ueber  das  Verhältniss  der  beim  Galvani- 
sieren des  Kopfes  eintretenden  Reizer- 
scheinungen zu  einander     355 

VL   Schluss 373 

1.  Ueber  den  Ort  der  Einwirkung  des  Galvanismus  374 

2.  Ueber   das  Verhältniss  des  Drehschwindels  zu 

zu  den  galvanischen  Reizeflfecten    .    .    .    .    ;  377 

(Diese    Abhandlung    wurde    zuerst    gedruckt    in 
Reichert's  und  du  Bois-Reymond's  Archiv.    1871. 
H.  5  u.  6.) 
XIX.  Untersuchungen  zur  Physiologie  des  Kleinhirns  386 

(Diese  Abhandlung  wurde  zuerst  gedruckt  in 
„Untersuchungen  über  das  Gehirn".   I.  Aufl.) 

XX.  Ueber    die  Auffassung    einiger  Anomalien    der 

3Iuskelinnervation  1 394 

(Diese  Abhandlung  wurde  zuerst  gedruckt  im 
Arch.  für  Psych,  u.  Nervenkr.    Bd.  III.   H.  2.) 

Anmerkung  35:   Ueber  das  Wesen  und  die  Ent- 
stehung der  hemiplegischen  Contraktur. 

XXI.  Ueber    die  Auffassung    einiger  Anomalien    der 

Muskelinnervation  II 409 

(Diese  Abhandlung  wurde  zuerst  gedruckt  im 
Arch.  für  Psych,  u.  Nervenkr.    Bd.  III.   H.  3.) 


Inhalt  des  11.  Theiles. 


I.  lieber    die    nach    Verletzung    des    Hinterliirns 
eintretenden    Störungen    der    Bewegung    und 

Empfindung 1 

II.  Der  Versuch  Loeb's 23 

III.  Historisches,  Kritisches  und  Experimentelles 
über  Methoden  und  Theorien  der  Grosshirn- 
forschung 37—154 

T.  Ueber  Operationsmethoden.  Princip  der  Lo- 
calisation  und  Gründe  für  den  Streit  um  dieses 
Princip  S.  38.  Secundäre  Erweichungen  und  Blu- 
tungen S.  41.  LähmuKgsversuche  S.  44.  Die  Me- 
thoden von  Goltz  S.  46.  Die  Methoden  von  Loeb 
S.  53.  Die  Methoden  von  Luciani  S.  63.  Die  Me- 
thoden von  Tonnini  S.  67 38 

II,  Untersuchungsmethoden.  Die  elektrische 
Untersuchung  S.  68.  Die  Untersuchung  der  Be- 
wegung und  Empfindung  S.  75.  Die  Untersuchung 
der  Reflexe  S.  97 68 

III.  Theorien.  A.  Theorien  des  corticalen  Sehens  und 
der  corticalen  Sehstörung  S.  102.  B.  Theorien  der 
Gehirnmechanik  S.  111.  Munk  S.  112.  Die 
italienische  Schule  S.  115.    Goltz  S.  116.    Loeb 

S.  127 102 

IV.  Schlussbetrachtungen 151 

IV.  Ueber  die  Beziehungen  der  Rinde  und  der 
subcorticaleu  Grauglien  zum  Sehact  des  Hundes  155 

I.  Die  Beziehungen  einzelner  Regionen  der 
Hirnrinde  zur  Hervorbringung  von  Seh- 
störungen. 

A.   Einfache  Preilegung   der  Pia.      a)  Versuche 
am  Gyrus   sigmoides    S.  162.      b)  Versuche  im 


Inhalt  des  II.  Theiles.  XV 

Seite 

Bereiche  des  Hinterlappens  S.  168.  c)  Versuche 
in  der  mittleren  Region  S.  172.  Zusammen- 
fassung S.  174  . 158 

IL  Welcher  Art  sind  die  durch  corticale  Lä- 
sioaen  hervorgebrachten  Sehstörungen, 
sind  sie  hemianopischer  Natur  oder  nicht, 
insbesondere  entsprechen  sie  den  Lehren 
Munk's? 

Abschnitt  I:   Frontale  Läsionen. 

a)  A.  Gyrus  sigmoides  .S.  183.  B.  Anätzungen 
S.  183.  C.  Unterschneidungen.  a)  Einseitige 
Operationen  S.  185.  ß)  Operationen  der  zweiten 
Seiten  S.  189.  D.  Scarificationen  S.  192.  E.  Ex- 
stirpationen.  «)  Einseitige  Operationen  S.  195. 
ß)  Operationen  der  zweiten  Seite  S.  205.  F. 
Doppelseitige  frontale  Durchtrennung  des  vorderen 
Schenkels  des  Gyrus  sygmoides  S.  210.  1.  Seh- 
störungen, aa)  Reaktion  gegen  Fleisch  S.  212. 
bb)  R,eaction  gegen  Licht  S.  213.  2.  Optische 
Reflexe  S.  218.  3.  Das  Verhältniss  der  Seh- 
störungen  zu   den   optischen   Reflexen    S.   219. 

4.  Störungen  des  Nasenlidreflexes  S.  220.  5.  Der 
ursächliche  Zusammenhang  zwischen  den  Stö- 
rungen des  Sehactes  und  der  durch  den  Opticus 
und    den  Trigeminus  angeregten  Reflexthätigkeit 

5.  222.  6.  Motilitätsstörungen  S.  223.  7.  Sec- 
tionsbefunde  S.  223 181 

b)  Laterale  Nachbarwindungen  des  Gyrus 
sigmoides  S.  224.  A;  Versuche  ohne  motorische 
Folgen  S.  229.  1.  Sehstörungen  S.  240.  2.  Op- 
tische Reflexe  S.  241.    3.  Nasenlidreflex  S.  241. 

4.  Motilitätsstörungen  S.  241.  5.  Operationen 
und  Sectionen  S.  242.  6.  Das  Verhältniss  der 
Symptome  zu  dem  Ort  der  Verletzung  S.  243. 
B.  Versuche  mit  motorischen  Folgen  S.  249. 
1.    Sehstörungen    S.  265.     2.   Optische   Reflexe 

5.  267.  3.  Nasenlidreflex  S.  268.  4.  Das  gegen- 
seitige Verhältniss  der  Sehstörung,  der  optischen 
Reflexe     und      des     Nasenlidreflexes      S.     268. 

5.   Schlussfolgerungen  S.  274 224 

Abschnitt  II:   Occipetale  Läsionen. 

1.  Historisches  und  Kritisches 278 

IL   Operationsmethoden 296 

IIL   Untersuch  ungsmethoden 299 


XVI         •  Inhalt  des  IL  Theiles. 

Seite 

21.   Casuistik. 
Vorbemerkungen 304 

a)  Centrale  Läsionen  S.  305.  A.  Typische 
Operationen  S.306.  «)  Primäroperationen  S.306. 
Zusammenfassung.  1 .  Sehstörangen.  aa)  Reaction 
gegen  Fleisch  S.  332.  bb)  Reaction  gegen  Licht 
S.  334.  2.  Optische  Reflexe  S.  335.  3.  Nasen- 
lidreflex  S.  336.  ß)  Secundäroperationen.  Zu- 
sammenfassung. 1.  Sehstörungen,  aa)  Reaction 
gegen  Fleisch  S.  355.  bb)  Reaction  gegen  Licht 
S.  355.  2.  Optische  Reflexe  S.  355.  3.  Nasen- 
lidreflex  S.  356.  B.  Atypische  Operationen 
S.  357.  Zusammenfassung.  Sehstörungen,  aa) 
Reaction  gegen  Fleisch  S.  387.  bb)  Reaction 
gegen  Licht  S.  392.  2.  Optische  Reflexe  S.  393. 
3.   Nasenlidreflex    S.  393.      4.    Das  Verhältniss 

der  Läsionen  zur  Sehstörung  S.  393 305 

b)  Laterale  Läsionen  S.  395.  A.  Atypische 
Operationen  S.  396.  Zusammenfassung.  1.  Seh- 
störungen S.  400.  2.  Optische  Reflexe  S.  401. 
3.  Nasenlidreflex  S.  401.  B.  Typische  Ope- 
rationen, a)  Laterales  Drittel  S.  401.  Zu- 
sammenfassung. 1.  Sehstörungen  S.  418.  2.  Op- 
tische Reflexe  S.  420.  ß)  Laterale  Hälfte  S.  421. 
Zusammenfassung.  1.  Sehstörungen,  aa)  Reac- 
tion gegen  Fleisch  S.  432.  bb)  Reaction  gegen 
Licht  S.  433.  2.  Optische  Reflexe  S.  433. 
3.  Nasenlidreflex  S.  433.  4.  Die  Projektions- 
frage S.  433 395 

c)  Mediale  Läsionen  S.  434.    Zusammenfassung. 

1.  Sehstörungen,      aa)    Reaction   gegen    Fleisch 
S.    444.      bb)     Reaction    gegen    Licht    S.    445. 

2.  Optische  Reflexe    S.  445.     3.   Nasenlidreflex 
S.  445.    4.    Die  Projectionsfrage   S.  445. 

d)  Caudale  Läsionen  S.  445.  A.  Typische 
Operationen  S.  446.  Zusammenfassung.  1.  Seh- 
störungen, aa)  Reaction  gegen  Fleisch  S.  457. 
bb)  Reaction  gegen  Licht  S.  458.  2.  Optische 
Reflexe  S.  458.  B.  Atypische  Operationen  S.  459. 
Zusammenfassung.  1.  Sehstörungen,  aa)  Reac- 
tion gegen  Fleisch  S.  474.  bb)  Reaction  gegen 
Licht    S.    476.      2.     Optische   Reflexe    S.   476. 

3.  Nasenlidreflex  S.  476 434 

e)  Orale  Läsionen  S.  476.  A.  Typische  Ope- 
perationen    S.    477.      B.    Atypische  Operationen 


Inhalt  des  II.  Theiles.  XVIT 

.Soitf 

S.    5ü().     Zusammenfassung.      1.    Sehstörungen, 
aa)  Reaction  gegen  Fleisch  S.  536.    bb)  Reaction 
gegen  Licht  S.  539.     2. Optische  Rellexe  S.  539. 
3.   Nasenlidreflex  S.  542 476 

33.   Ergebnisse. 

1.  Die    Rindenblindheit    und     die    Projec- 
tions  lehre • 

2.  Die  Seelenblindheit  und  die  Beschaffen- 
heit der  corticalen  Sehstörung 566 

m.  Der  Mechanismus  des  Sehens,  der  Seh- 
störung und  der  Restitution    

IV.  Rückblicke  und  Schlüsse  auf  die  Entstehung 

der  optischen  Apperception 

Anmerkung  36  aus:  Ueber  die  Funktion  der 
motorischen  Region  des  Hundehirns  und  über  die 
Polemik  des  Herrn  H.  Munk ö09 


542 


584 
596 


I.  Einleitung. 


Der  in  dem  vorliegenden  Buche  behandelte  Stoff  hätte  eine  Ein- 
theilung  nach  verschiedenen  Priucipien  zugelassen.  Ich  hielt  die  Ver- 
wandtschaft des  Inhalts  für  das  Wichtigste.  Deshalb  ist  in  der  Reihen- 
folge dieser,  zu  einem  Theile  reproducirten  Abhandlungen  das  chrono- 
logische Princip  nur  nebenher  in  Anwendung  gebracht,  und  von  einer, 
überdies  ja  nur  künstlichen  Trennung  zwischen  den  physiologischen  und 
pathologischen  Untersuchungen  ganz  abgesehen  worden. 

So  umfasst  die  erste  Abtheilung  die  Abhandlangen  I — V,  in  denen 
die,  bis  vor  Kurzem  unbestimmten  Vorstellungen  von  der  Localisation 
im  Grosshirn  eine  greifbarere  Gestalt  erhalten;  in  der  zweiten  Abthei- 
lung, bestehend  aus  den  Nummern  VI-  VIII,  habe  ich  die  Aufmerksam- 
keit auf  eine  bisher  viel  zu  wenig  berücksichtigte  Form  der  krank- 
haften Muskelthätigkeit,  die  abnormen  Mitbewegungen  zu  richten  ge- 
sucht; die  dritte  Gruppe  IX— XI  beschäftigt  sich  mit  den  Organen  des 
Gleichgewichts.  Der  die  einzelnen  Theile  des  Werkes  zusammenhal- 
tende Kitt  besteht  in  ihrer  gemeinsamen  Beziehung  zu  der  centralen 
Innervation  des  Muskelsystems. 

Der  zwölfte  Aufsatz  gehört  sachlich  zur  ersten  Abtheilung.  Er 
nimmt  die  letzte  Stelle  ein,  weil  ich  mich  erst  spät,  nach  langem 
Schwanken  zu  seiner  Publication  entschloss.  Nicht  dass  mir  sein  In- 
halt an  und  für  sich  das  leiseste  Bedenken  bereitet  hätte.  Aber  ich 
wünschte  die  Fülle  der  aus  diesen  Beobachtungen  fast  von  selbst  er- 
wachsenden Consequenzen  durch  eigene  Arbeit  in  die  mir  vorschwebende 
Form  zu  bringen.  Nun  ich  sehe,  dass  ich  durch  Obliegenheiten,  deren 
Abwälzung  mir  nicht  gelingen  will,  daran  vielleicht  auf  lange  gehindert 
sein  werde,  halte  ich  mich  nicht  für  berechtigt,  diese  Gelegenheit  zur 
Publication  vorübergehen  zu  lassen*). 


*)  In  der  IL  Auflage  hat  sich   die  Anordnung  des  Stoffes  aus  verschie- 
denen Gründen  anders  gestaltet. 

Hitzig,  Gesammelte  Abiiandl.     I.  Theil.  1 


—       2       — 

Wie  die  Eintheilung,  konnte  aucli  die  anderweitige  Behandlung 
der  äusseren  Form  in  Frage  kommen.  Die  mitgetheilten  Untersuchungen 
haben  sich  in  mancher  Beziehung  auf  neue  Wege  begeben.  Selbst- 
verständlich können  diese  nur  Schritt  für  Schritt  durchmessen  werden; 
jede  einzelne  Aufgabe  entspricht  einem  Theile  des  Weges,  aber  nicht 
einem  Abschnitte;  sie  hat  ihre  Verbindungen  nach  vor-  und  rückwärts; 
das  Ende  entzieht  sich  dem  Blicke.  So  gewinnt  die  Lösung  jeder  Auf- 
gabe in  der  Form  nicht  den,  als  Endziel  erstrebenswerthen  Charakter 
der  Abgeschlossenheit.  Doch  wird  dieser  Maugel  meinen  Bestrebungen 
von  selbstständigen  Forschern  am  Wenigsten  zum  Vorwurf  gemacht 
werden.  Denn  nichts  ist  wohlfeiler  und  vielleicht  auch  mehr  äusseren 
Gewinn  bringend  als  die  Unterdrückung  der  Zweifel,  so  dass  das  Bild 
für  die  grosse  Menge  bis  auf  Weiteres  das  Ansehen  der  Vollendung 
erhält. 

Hierin  liegen  die  Gründe,  welche  mich  dazu  bestimmten,  die  ein- 
zelnen Capitel  in  der  Form  der  Abhandlung  zu  belassen,  anstatt  sie 
unter  Herbeiziehung  fremder  Untersuchungen  über  die  Verrichtungen 
des  Gehirns  zu  einem,  die  Gestalt  eines  Lehrbuches  annehmenden 
Werke  zu  verarbeiten.  Für  ein  Solches  scheint  mir  die  Zeit  weder  be- 
reits gekommen  noch  sobald  zu  erwarten.  Und  doch  war  es  geboten, 
die  Zugänglichkeit,  mindestens  des  physiologischen  Theiles  dieser  Ab- 
handlungen, ohne  Verzug  zu  vergrössern. 

Man  wird  aus  der  dritten  Abhandlung  ersehen,  wie  leicht  es  einem 
Forscher  durch  Berufung  auf  unsere  Untersuchungen  geworden  ist,  Re- 
sultate in  die  Wissenschaft  einzuführen,  welche  durch  ganz  fehlerhafte 
Anwendung  ähnlicher  Methoden  gewonnen  waren.  Der  Gedanke  lag  zu 
nahe,  dass  mancher  Nacharbeiter  nur  den  späteren  Autor  einsehen 
würde,  da  dieser  ja  die  Annahme  für  sich  hatte,  auf  Grund  des  früher 
Geleisteten  Vollkommeneres  in  Methode  und  Resultaten  zu  bieten.  Richtig 
ist  diese  fragmentarische  Benutzung  der  Literatur  freilich  nicht,  aber 
dafür  um  so  häufiger,  und  aus  dieser  Erwägung  ging  die  Wahl  des 
Zeitpunktes  für  die,  wie  man  begreifen  wird,  stets  beabsichtigte  Zu- 
sammenstellung meiner  Untersuchungen  hervor. 

Wie  wenig  [ich  mich  mit  jener  Befürchtung  und  der  Berechnung 
freilich  ebenso  naheliegender  Consequenzen  getäuscht  hatte,  lehren  zwei 
französische  Publicationen,  für  die  mein  kleines  Werk  doch  nicht  schnell 
genug  gedruckt  werden  konnte.  Beide  haben  das  gemeinschaftlich, 
dass  ihre  Autoren  unsere  früheren  Arbeiten  nicht  gelesen  haben.  Nichts- 
destoweniger trägt  die  eine  derselben  den  Titel  Critique  experimentale 
des  travaux  de  MM.  Fritsch,  Hitzig,  Ferrier.  Sie  ist  von  den 
Herren  Carville   und  Duret   in    den  Verhandlungen    der  Societe    de 


—      3      — 

Biologie  (Gazette  medicale,  1874,  No.  2)  publicirt,  und  soll  beweisen, 
dass  sich  der  elektrische  Strom  in  der  Masse  des  Gehirns  verbreitet. 

Der  Leser  wird  schon  aus  der  ersten,  noch  mehr  aber  ans  der 
dritten  Abhandlung  ersehen,  dass  diese  Bemühungen,  was  uns  angeht, 
an  eine  falsche  Adresse  gerichtet  sind.  Da  das  Gehirn  ein  feuchter 
Leiter  ist,  so  haben  wir  von  vornherein  geschlossen,  dass  es  sich  ebenso 
verhalten  würde,  wie  alle  anderen  feuchten  Leiter,  und  nach  dieser 
Voraussetzung  unsere  Versuche  und  unsere  Schlussfolgerungen  einge- 
gerichtet.  Wenn  also  die  Herren  Carville  und  Duret  den  Gegen- 
stand ihrer  Kritik  zunächst  hätten  lesen  wollen,  so  würden  sie  das  End- 
resultat ihrer  Untersuchungen  überall  als  Prämisse  benutzt  gefunden 
haben. 

Die  andere,  den  Inhalt  einer  These  ausmachende  Arbeit  will  unsere 
Untersuchungen  wiederholen  und  deren  Schlussfolgerungen  widerlegen. 
Wenn  die  erste  Absicht  in  irgend  einem  Punkte  ausgeführt  wäre,  so 
würde  sich  über  das  Gelingen  der  zweiten  discutiren  lassen.  Bis  dahin 
halte  ich  aber  jede  Discussion  für  nutzlos. 


Das  Thema  des  ersten  Theiles  dieser  Untersuchungen  ist  nicht  nur 
wegen  seiner  Beziehungen  zu  allen  Zweigen  der  theoretischen  und  prak- 
tischen Medizin  von  jeher  Gegenstand  allgemeineren  Interesses  gewesen. 
Vielmehr  wurde  ziemlich  allseitig  zugegeben,  dass  die  Erkenntniss  der 
Eigenschaften  der  Hirnrinde  eigentlich  wohl  das  unterste  Fundament 
auch  der  Psychologie  ausmachen  solle,  und  in  der  That  hat  diese 
Wissenschaft  nur  ungern  auf  einen  so  erheblichen  Theil  des  physiolo- 
gischen Materiales  verzichtet.  Wie  gross  aber  das  allgemein  mensch- 
liche Bedürfniss  nach  einem  Einblick  in  diese  Vorgänge  ist,  das  be- 
weisen wohl  am  Besten  die  erstaunlichen  äusseren  Erfolge,  welche  die 
Phrenologie,  trotz  ihrer  unwissenschaftlichen  Methode,  in  weiten  Kreisen 
gefeiert  hat. 

Ich  habe  deshalb  einige  Veranlassung  darauf  zu  rechnen,  dass  die 
Discussion  über  den  Sinn  der  mitgetheilten  Thatsachen  sich  auf  mancherlei 
Kreise  erstrecken  wird,  ohne  dass  grade  jeder  Theilnehmer  sich  vorher 
die  Mühe  nahm,  meinem  Gedankengang  überall  nachzugehen;  ohne  dass 
mancher  Andere  geneigt  wäre,  die  von  mir,  in  dem  Bestreben,  mit  der 
Deutung  den  Thatsachen  nicht  voranzueilen,  gelassenen  Lücken,  in  einer 
meinen  eigenen  Ideen  homogenen  W^eise  zu  ergänzen.  Vielleicht  in  Folge 
unausgesetzter  Beschäftigung  mit  diesen  Dingen  ist  es  gekommen,  dass 
ich  eine  bestimmte  Auffassung  für  selbstverständlich  genug  hielt,  um 
einer  besonderen  Auseinandersetzung  entbehren  zu  können.    Glücklicher- 

1* 


weise  überzeuge  ich  mich  noch  rechtzeitig,  dass  ich  mich  getäuscht 
habe,  und  kann  so  meinen  Fehler  durch  einige  einleitende,  besonders 
den  beiden  ersten  Abhandlungen  geltende  Worte  wieder  gut  machen. 

Meine  Untersuchungen  haben  sich  in  einen  principiellen  Gegensatz 
zu  der  früher  ziemlich  allgemein  acceptirten  Fl ourens'schen  Lehre 
gesetzt,  dass  die  Hirnlappen  mit  ihrer  ganzen  Masse  für  die  unge- 
schmälerte Ausübung  ihrer  Functionen  einti-eten,  und'  dass  es  keinen 
gesonderten  Sitz  weder  für  die  verschiedenen  Fähigkeiten  noch  für 
die  verschiedeneu  Wahrnehmungen  gäbe.  Daraus  ist  wohl  bei  Manchen 
die  Meinung  entstanden,  als  ob  ich  —  ausgehend  von  den  elektrisch 
reizbaren  „Centren"  —  eine  ähnliche  Art  von  circumscripten  Fähig- 
keitsheerden,  wie  die  der  Fhrenologen  in  die  Wissenschaft  einführen 
wollte.     Nichts  kann  irrthümlicher  sein. 

Grade  die  Art  der  elektrischen  Reaction  der  Hirnrinde  würde  mich 
nie  zu  einer  solchen  Idee  haben  kommen  lassen.  Wenn  ich  die  Strom- 
stärke des  wirklichen  Zuckungsminimums  aufsuche,  reagirt  nur  die  Stelle, 
wo  meine  Stecknadelkopf  grosse  Anode  sitzt.  Bei  der  geringsten  Orts- 
veränderung verschwindet  die  Reaction.  Könnte  ich  dieser  Anode  nun 
die  Kleinheit  einer  Ganglienzelle  geben,  so  würde  das  Verhältniss  sich 
wohl  kaum  ändern.  Dann  wäre  also  diese  Ganglienzelle  das  wahre 
Centrum!  Gegen  die  Widersinnigkeit,  welche  dieser  Schluss  herbei- 
führen würde,  bedarf  es  keiner  Beweise. 

Man  kann  sich  die  ganze  Rinde  des  grossen  Gehirns  in  eine  Zahl 
gleich  grosser  Felder  zerlegt,  und  diese  Felder  sowohl  unter  sich  als 
mit  den  Zusammenfassungen  der  grossen  Ganglien  durch  Leitungen 
verbunden  denken.  Ihr  Areal  würde  das  materielle  Substrat  für  alle 
die  Kräfte  bilden,  deren  Erscheinungsweise  uns  unter  dem  Namen 
psychische  Functionen  bekannt  ist.  Bis  hierher  geht  die  Ansicht 
Flourens'  mit  der  meinigen,  welche  in  dieser  Form  wohl  zuerst  von 
Meynert  ausgesprochen  wurde,  zusammen,  von  hier  ab  weichen  die 
Ansichten  auseinander. 

Nach  Flourens  tritt  die  Gesammtheit  des  Grosshirns  für  alle 
Functionen  ein,  gesonderte  Functionsherde  existiren  nicht;  wir  würden 
also  jedes  einzelne  Feld  als  ein  kleines  Grosshirn  für  sich  zu  betrachten 
haben.  Wir  würden  mit  jedem  einzelnen  Felde  alle  Sinneswahrneh- 
mungen verrichten,  alle  Vorstellungen  herleiten  und  alle  Willensimpulse 
produciren  können,  und  die  complicirte,  Solches  vollbringende,  jedem 
kleinsten  Theile  innewohnende  Kraft  würde  etwas  Specifisches,  eine  be- 
sondere Grosshirnkraft  sein. 

Nach  meiner  Auffassung  ist  die  Einführung  dieses  Factors,  mit  dem 
sich  schwer  würde  weiter  rechnen  lassen,  nicht  erforderlich.    Ich  nehme 


an,  dass  eine  grössere  oder  geringere,  vorläufig  noch  nicht  abzugren- 
zende Zahl  von  Feldern,  mit  unter  sich  ähnlichen  Fähigkeiten  aus- 
gestattet, zur  Vollbringung  des  gleichen  Zweckes  zusammenwirkt,  und 
lasse  eine  unbestimmte  Zahl  verschiedenen  Zwecken  dienender  Com- 
plexe  existiren. 

Sehen  wir  nun  zu,  wie  sich  jede  Einzelne  dieser  beiden  Ansichten 
mit  dem,  was  wir  über  die  Lebensäusserungen  des  Grosshirns  wissen, 
vereinigen  lässt,  so  finden  wir,  dass  die  zuerst  erläuterte  doch  nur 
einen  geringen  Theil  der  Erscheinungen  deckt,  während  der  anderen 
nichts  widerspricht.  Gehen  wir  von  den  einfachsten  Verhältnissen,  dem 
elektrischen  Reizversuche  aus,  so  reagirt  das  Substrat  jeuer  hypothe- 
tischen Grosshirnkraft  an  den  verschiedensten  Stellen  des  Gehirns  ver- 
schieden, hier  bewegt  sich  ein  Arm,  dort  ein  Bein,  dort  nichts.  Nach 
jener  Annahme  müsste   sich    aber    überall  Alles   oder  nichts  bewegen. 

Ebenso  entstehen  zweifellos  Paresen  in  Folge  von  Desorganisationen 
einzelner  Felder  der  Rinde,  während  andere  Felder  ohne  erkennbare 
motorische  Symptome  zu  Grunde  gehen.  Dasselbe  Resultat  ergeben 
Lähmungsversuche,  wegen  deren  ich  den  Leser  noch  besonders  auf  die 
höchst  interessanten,  in  Virchow 's  Archiv  vorgetragenen  Untersuchungen 
Nothnagel's  verweise.  Nach  jener  Annahme  müssten  Paresen  bei 
Verletzung  jedes  einzelnen  oder  keines  Feldes  entstehen. 

Trotz  Allem,  was  man  dagegen  vorgebracht  hat  und  vorbringt,  ge- 
bührt endlich  den  Erfahrungen  über  Aphasie  ein  hervorragender  Platz 
in  dieser  Beweisführung.  Es  ist  durch  eine  jetzt  kaum  noch  zu  über- 
sehende Casuistik  festgestellt,  dass  dieses  Symptom  durch  die  Ver- 
letzung eines  bestimmten  Rindenbezirkes  producirt  wird.  Wenn  man 
nun  gegen  diese  Erfahrungen  anführt,  dass  auch  die  Verletzung  anderer 
Hirntheile  ähnliche  oder  gleiche  Erscheinungen  bedingt  hat,  so  würde 
dies  nur  dann  als  ein  Beweis  gegen  die  Localisation  im  Grosshirn  benutzt 
werden  können,  wenn  man  die  Sprache  als  etwas  Einfaches  dargestellt 
hätte,  und  dieses  Einfache,  nach  Analogie  der  Phrenologen,  auf  einem 
kleinen  Bezirke  alle  Existenzbedingungen  finden  Hesse.  Aber  selbst 
dann  würden  diese  Erfahrungen  noch  gegen  die  Theorie  von  Flou- 
rens  sprechen.  Man  würde  mit  ihnen  doch  nur  zu  dem  Niemand  er- 
wünschten Schlüsse  kommen,  dass  die  fragliche  Fähigkeit  bei  neunzig 
Menschen  in  der  dritten  Stirnwindung  und  bei  zehn  vom  Hundert  an 
einer  anderen  Stelle  ihren  Sitz  habe,  nicht  aber  dass  sie  auf  jedem 
einzelnen  Felde  erwüchse. 

Nimmt  man  aber  an,  dass  die  Wortbildung  etwas  Complicirtes, 
auf  regelrechtes  Zusammenwirken  mehrerer  Complexe  von  Feldern  An- 
gewiesenes   sei,    so   werden    die  Ausnahmen  neben  der  Regel  verstand- 


—      6      — 

lieh.  In  diesem  Falle  würde  die  Trennung  sämmtlicher  oder  der 
wesentlichen  Verbindungen  zwischen  je  zwei  Complexen  analoge  Er- 
scheinungen bedingen  können,  wie  die  Vernichtung  des  Einen  von  ihnen, 
oder  was  dasselbe  sagen  will,  wie  die  Abtrennung  seiner  Bahnen  nach 
der  Peripherie^). 

In  ganz  ähnlicher  Weise  lässt  man  auch  die  Entstehung  willkür- 
licher Bewegungen  oder  besser  Handlungen  vor  sich  gehen. 

Jede  Handlung,  auch  die  fast  automatische,  kann  auf  frühere  und 
gegenwärtige  Sinneseindrücke  zurückgeführt  werden.  Aus  der  Summe 
der  durch  die  ursprüngliche  Thätigkeit  der  Sinnesorgane  im  weitereu 
Sinne  gebildeten  Vorstellungen  erwächst  der  die  Bewegung  zur  Fulge 
habende  Trieb.  Die  Bewegungen  wurzeln  insofern  in  den  eigentlichen 
Feldern  der  Sinnesfläche,  und  ich  könnte  mir  demnach  vorstellen,  dass 
ein  Beweguugscentrum  selbst  intact  und  doch  durch  Isolirung  von  den 
zusammenwirkenden  Factoren  ausser  Function  gesetzt  ist.  Ja  ich 
würde  es  nicht  erstaunlich  finden,  wenn  namentlich  an  psychisch  nie- 
deren Thieren  nachgewiesen  würde,  dass  die  Zerstörung  einer  als  reine 
Sinnesfläche  erkannten  Region  eine  Bewegungsstörung  mit  herbeizieht, 
ohne  dass  je  die  Reizung  derselben  Stelle  zu  einer  Bewegung  geführt 
hätte. 

Am  einfachsten  zu  erklären  ist  endlich  der  Umstand,  dass  be- 
stimmte Stellen  auf  Eingriffe  reizender  oder  lähmender  Art  leichter 
antworten  als  andere.  Was  auch  immer  auf  der  Hirnrinde  geschehen 
möge,  es  muss  centrifugale  und  centripetale  Bahnen  zur  Verfügung 
haben.  Knotenpunkte  dieser  Bahnen  werden  die  Folgen  des  Eingriffes 
leichter,  alle  anderen  Partieen  schwerer  in  die  Erscheinung  treten 
lassen.  — 

Mit  diesen  und  meinen  früheren  Ausführungen  wünsche  ich  mich 
weder  in  das  Lager  der  Materialisten  noch  in  das  der  Spiritualisten 
zu  begeben.  Man  kann  so  sehr  Spiritualist  sein  als  man  will,  immer 
bleiben  Orgaue,  in  welchen  die  scheinbar  über  Allem  schwebende  Seele 
arbeitet,  eine  Forderung  der  Vernunft.  Unserer  Beschäftigung  mit  den 
nächsten  körperlichen  Verrichtungen  dieser  Organe,  wolle  der  Leser 
seine  wohlwollende  Theilnahme  schenken.  Betrachtungen,  ob  das  darüber 
Schwebende  die  unsterbliche  Seele  oder  eine,  auch  anderer  Erschei- 
nungsweisen fähige  Naturkraft  sei,  überlassen  wir  Anderen. 


Anmerkung. 

1)   Diese  Stelle  wurde   vor   der  Publikation   der  bahnbrechenden  Arbeit 
Wernicke's,  Ueber  den  aphasischen  Symptomenkomplex,  Breslau  1874  nie- 


—      7       — 

dergesclirieben.  Wie  man  siebt,  geht  sie  rein  theoretisch  und  aprioristiscii 
von  denselben  fundamentalen  Anschauungen  aus,  zu  denen  Wernici^e  auf 
Grund  seiner  klinischen  Beobachtungen  gelangt  ist.  Es  ist  vielleicht  nicht 
ohne  Interesse,  dasjenige  zu  lesen,  was  dieser  Autor  in  einem  Nachtrage  zu 
seiner  citirten  Arbeit  über  diesen  Punkt  selbst  sagt:  ,,In  der  Vorrede  von 
Hitzig' s  gesammelten  Abhandlungen,  die  während  des  Druckes  der  hier  vor- 
liegenden Arbeit  erschienen  sind,  finde  ich  zu  meiner  Ueberraschung  über  die 
Bedeutung  der  Grosshirnoberiläche  und  sogar  über  die  Aphasie  Ansichten  aus- 
gesprochen, welche  mit  den  meinigen  fast  vollkommen  identisch  sind.  Es  mag 
daher  nicht  überflüssig  erscheinen  zu  constatiren,  dass  ich  meine  Theorie  der 
Aphasie  schon  im  November  vorigen  Jahres  vor  einer  Anzahl  von  Collegen, 
welchen  ich  einzelne  Abschnitte  der  Gehirnanatomie  demonstrirte,  vorgetragen 
habe.  Diese  Uebereinstimmung  unserer  Ansichten  erfüllt  mich  übrigens  mit 
um  so  grösserer  Genugthuung,  als  wir  auf  gänzlich  verschiedenen  Wegen  dazu 
gelangt  sind,  und  als  sie  beweist,  dass  die  Anatomie  und  das  physiologische 
Experiment  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Kenntniss  des  Gehirns  sich  mindestens 
ebenbürtig  gegenüberstehen." 


II.   lieber  die  elektrische  Erregbarkeit  des  Orosshirns*). 

Die  Physiologie  vindicirt  allen  Nerven  als  eine  nothwendige  Be- 
dingung des  Begriffes  die  Eigenschaft  der  Erregbarkeit,  d.  h.  die  Fähig- 
keit, mit  ihrer  specifischen  Energie  auf  alle  Einflüsse  zu  antworten, 
durch  welche  ihr  Zustand  in  einer  gewissen  Geschwindigkeit  geändert 
wird.  Nur  für  die  Centraltheile  des  Nervensystems  herrschen  andere, 
freilich  nur  in  wenigen  Punkten  allgemein  acceptirte  Ansichten.  Es 
würde  zu  weit  führen  und  au3h  dem  speciellen  Zweck  der  gegenwärtigen 
Arbeit  nicht  dienen,  wenn  wir  aus  der  ungeheuren  einschlägigen  Literatur 
auch  nur  die  uns  zuverlässig  scheinenden  Resultate  anführen  wollten, 
welche  durch  die  Reizversuche  an  allen  einzelnen  Theilen  des  Central- 
nervensystems  gewonnen  sind.  Während  jedoch  rücksiclitlich  der  Erreg- 
barkeit der  den  Hirnstock  zusammensetzenden  Organe  durch  andere  als 
die  organischen  Reize  die  grösste  Meinungsverschiedenheit  besteht,  wäh- 
rend in  neuester  Zeit  ein  heftiger  Streit  über  die  Erregbarkeit  des 
Rückenmarkes  entbrannt  ist,  hat  seit  dem  Anfang  des  Jahrhunderts  die 
Ueberzeugung  ganz  allgemein  Platz  gegriffen,  dass  die  Hemisphären 
des  grossen  Gehirns  durch  alle  den  Physiologen  geläufigen 
Reize  absolut  unerregbar  seien. 

Haller  und  Zinn**)  freilich  wollten  bei  Verletzung  der  Mark- 
substanz des  Grosshirns  convulsivische  Bewegungen  gesehen  haben. 
Indessen  war  man  zu  jener  Zeit  an  eine  strenge  Begrenzung  der  ange- 
wandten Reize,  welche  freilich  am  Gehirn  fast  unüberwindlichen  Hinder- 
nissen begegnet,  zu  wenig  gewöhnt,  als  dass  diese  Angaben  später  Glauben 
gefunden  hätten.     Vielmehr  ist  es,    wie  schon  Longe t  bemerkt,   wahr- 


*)  Die  in  dieser  Abhandlung  erwähnten  Versuche  wurden  gemeinschaft- 
lich mit  Herrn  Dr.  G.  Fritsch,  Privatdocenten  an  der  hiesigen  Universität, 
angestellt  und  publicirt. 

**)   Hall  er  und  Zinn,   M^moires   sur  la  nature  sensible  et  irritable  du 
Corps  animal.    Lausanne  1756.  t.  I.   p.  201  et  suiv. 


scheinlicli,  dass  jene  Experimentatoien  mit  ihren  Instrumenten  bis  zur 
Medulla  oblougata  vorgedruugen  waren. 

Longet*)  selbst  aber  spricht  sich    hierüber    folgendermasseii   aus: 

„Sur  des  chiens  et  des  lapins,  sur  quelques  chevreaux,  nous  avons 
„irrite  avec  le  scalpel  la  substance  blanche  des  lobes  cerebraux;  nous 
„l'avons  cauterisee  avec  la  potasse,  l'acide  azotique  etc.,  nous  y  avons 
„fait  passer  des  courants  galvauiques  en  tout  seus,  sans 
„parvenir  ä  mettre  en  jeu  la  contractilite  musculaire  in- 
„volontaire,  ä  developper  des  secousses  convulsives:  meme  resultat 
„negatif,  en  dirigeant  les  memes  agents  sur  la  substance  grise  ou 
„corticale." 

Zu  den  gleichen  Resultaten  führten  die  Vivisectionen  von  Ma- 
gendie**). 

Auf  die  übrigens  ziemlich  gleichlautenden  Schlüsse  von  Flourens, 
welche  sich  auf  die  Ergebnisse  von  Durchschneidungen  und  Abtragungen 
stützten,  werden  wir  in  der  Folge  einzugehen  haben. 

Auch  Matteucci***)  fand  das  grosse  imd  kleine  Gehirn  des  Ka- 
ninchens gegen  elektrische  Reize  vollkommen  unerregbar. 

Van  Deeuf),  mit  dessen  Namen  man  in  neuerer  Zeit  die  Lehre 
von  der  Unerregbarkeit  der  Cerebrospinalcentra  verknüpft  hat,  ging  in 
seinen  Schlüssen  noch  beträchtlich  weiter  als  alle  Experimentatoren  vor 
ihm  und  die  meisten  nach  ihm.  Während  man  früher  neben  dem 
Rückenmarke  wenigstens  einigen  basalen  Hirntheilen  die  Eigenschaft 
der  Erregbarkeit  gelassen  hatte,  sprach  er  dieselbe  dem  ganzen  Central- 
nerveusystem  auf  Grund  seiner,  für  das  Kaninchen  übrigens  höchst 
mangelhaft  beschriebenen  Versuche,  gänzlich  ab. 

Desgleichen  sah  Eduard  Weberff)  bei  Experimenten  mit  dem 
Rotationsapparate  am  Grosshirn  der  Frösche  keine  Muskelzuckungen 
eintreten. 

Budgefff),  der  auch  selbst  eine  äusserst  grosse  Zahl  von  Säugern 

*)  Longet,  Anatomie  et  physiologie  du  Systeme  nerveux  de  l'homme  et 
des  animaux  vertebres.    Paris  ]842.   t.  I.  p.  644  u.  a.  and.  0. 

**)  Magen  die,  Legons  sur  les  fonctions  et  les  maladies  du  Systeme 
nerveux.    Paris  1839.   t.  L   p.  175  u.  a.  and.  0. 

***)  Matteucci,  Traite  des  phenomenes   electrophysiologiques  des  ani- 
maux. Paris  1843.  p.  242. 

f)  Van  Deen,  Moleschott's  Untersuchungen  etc.  Bd.  VII.  H.  IV. 
8.  381. 

ff)  Eduard  Weber,  R.  Wagner's  Handwörterb.  d.  Physiol.  Bd.  III. 
Abthl.  IL    S.  16. 

fff)  Budge,  Untersuchungen  über  das  Nervensystem.   Frankf.  a,  M.  1842. 
H.  IL  S.  84. 


-      10     — 

opferte,  spricht  sich,  abgesehen  von  vielen  anderen  ähnlich  lau.tenclen 
Stellen,  folgendermassen  aus: 

„Wenn  man  nach  dem  jetzigen  Standpunkte  der  Wissenschaft 
„schliessen  darf,  dass  in  einem  Nerventheile,  in  welchem  nach  einer 
„Reizung  keine  Zuckungen  eintreten,  die  Bewegungsfasern  fehlen,  so 
„kann  man  mit  der  grössten  Bestimmtheit  behaupten,  dass  nicht  eine 
,.einzige  Faser  solcher  Nerven,  die  zu  willkürlichen  Muskeln  hingehen, 
„in  den  Hemisphären  des  grossen  Gehirns  verlaufe.  Nicht  ein  einziger 
„Beobachter  sah  Bewegung  solcher  Muskeln  nach  Reizung  der  genannten 
„Centraltheile." 

Endlich  führen  wir  noch  die  Meinimg  Schiffs*),  eines  der  er- 
fahrensten Vivisectoren,  an: 

„Üass  die  Reizung  der  Hirnlappen,  der  Streifenhügel  und  des 
„kleinen  Gehirns  keine  Spur  von  Zuckung  in  allen  freien  Körpermuskeln 
„hervorruft,  kann  ich  nach  der  Angabe  Adeler  Forscher  bestätigen.  Auch 
„die  Eingeweide  blieben  bei  der  Reizung  dieser  Theile  ruhig,  wenn 
„ich  —  wie  dies  bei  solchen  Versuchen  unumgänglich  nöthig  ist  —  die 
„Circulation  erhalten  hatte." 

Man  sieht,  auch  in  einer  anderen  Wissenschaft  als  der  Physiologie 
dürfte  es  kaum  eine  Frage  geben,  über  die  die  Ansichten  so  überein- 
stimmend lauteten,  die  so  vollkommen  abgeschlossen  schien,  als  die 
Frage  von  der  Erregbarkeit  der  Grosshirnhemisphären.  Uebrigens  wäre 
es  ein  Leichtes,  noch  mehr  gleichlautende  Citate  zu  häufen,  wenn  dies 
irgend  einen  Nutzen  verspräche. 

Nur  ein  Autor  neben  Hai  1er  und  Zinn  hat,  so  viel  uns  bekannt 
geworden,  etwas  Abweichendes  gesehen,  und  dessen  Angabe  erregte  bei 
Eckhard**),  der  die  Thatsache  citirt,  so  wenig  Glauben,  dass  er  Namen 
und  Quelle  verschweigt.  Die  betreffende  Stelle  lautet:  „Bei  scheiben- 
„ weiser  Abtragung  der  vorderen  Gehirnlappen  giebt  man  au,  lebhafte 
„Bewegungen  in  den  Vorderbeinen  gesehen  zu  haben."  An  und  für 
sich  ist  dies  freilich  nicht  viel;  denn  man  kann  daraus  nicht  ersehen, 
wie  der  Versuch  angestellt  ist.  Wäre  er  indessen  mit  den  nöthigen 
Cautelen  angestellt,  so  würde  er  ein  wichtiges  Princip  beweisen,  das 
Princip,  dass  man  durch  irgend  einen  Reiz,  sei  es  der  des  Scalpells, 
oder  der  des  Sauerstoffs,  oder  der  des  Blutes,  von  den  Vorderlappen 
aus  Bewegungen  willkürlicher  Muskeln  hervorbringen  kann.     Jedenfalls 


*)  Schiff,    Lehrbuch  der  Physiologie  des  Menschen.     Lahr  1858—59. 
Bd.  I.    8.  362. 

**)  Eckhard,  Experimentalphysiologie  des  Nervensystems.  Giessen  1867. 
S.  157. 


—    11    — 

scheint  dieser  vereinzelten  Beobachtung  von  keiner  Seite  weitere  Folge 
gegeben  zu  sein;  denn  jene  Stelle  bei  Kckhard  ist  die  einzige  von  ihr 
hinterlassene  Spur. 

Ehe  wir  nun  zu  unseren  eigenen  Versuclien  übergehen,  ist  es  er- 
forderlich, diejenige  Ansicht  über  die  motorischen  Vorgänge  in  den 
Centralorganen  darzulegen,  welche  sich  in  Folge  der  oben  erwähnten 
Versuche  und  der  berühmten  Hirnabtragungen  von  Flourens*)  heran- 
gebildet hatte. 

Diesem  geistreichen  und  glücklichen  Forscher  gelang  es,  durch 
Anwendung  wenigstens  möglichst  reiner  Methoden  zu  Resultaten  zu  ge- 
langen, die  als  Basis  für  fast  alle  hierher  gehörigen  später  gewonnenen 
Kenntnisse  betrachtet  zu  werden   verdienen. 

Nach  zahlreichen  Abtragungen  des  Grosshirns,  die  meist  an  Vögeln, 
doch  auch  an  Säugethieren  vorgenommen  waren,  sah  Flourens  alle 
Zeichen  des  Willens  und  des  Bewusstwerdens  der  Empfindungen  ver- 
löschen; während  gleichwohl  durch  von  Aussen  eindringende  Reize  nun 
ganz  maschinenmässig  gewordene  Bewegungen  in  allen  Körpermuskeln 
ausgelöst  werden  konnten.  Solche  Thiere  halten  sich  sehr  wohl  auf 
ihren  Füssen,  sie  laufen,  wenn  man  sie  anstösst,  Vögel  fliegen,  wenn 
man  sie  in  die  Luft  wirft,  sie  wehren  sich,  wenn  mau  sie  neckt,  sie 
verschlucken  in  den  Mund  gebrachte  Gegenstände  und  auch  die  Iris 
contrahirt  sich  auf  den  Lichtreiz.  Niemals  aber  treten  solche  Bewe- 
gungen ohne  Einwirkung  eines  äusseren  Reizes  ein.  Des  Grosshirns  be- 
raubte Thiere  sitzen  stets  wie  in  sich  versunken,  wie  schlafend  da,  und 
man  ändert  nichts  an  diesem  Zustande,  setzte  man  sie  auch  dem  Ver- 
hungern nahe  auf  einen  Berg  von  Nahrungsmitteln. 

Flourens  schloss  hieraus,  dass  die  Grosshirnhemisphären  nicht 
der  Sitz  des  unmittelbaren  Princips  (principe  immediat)  der  Muskel- 
bewegungen, aber  der  einzige  Sitz  des  Willens  und  der  Empfindungen 
seien**). 

So  befriedigend  diese  Versuchsreihe  und  die  aus  ihr  gezogenen 
Schlüsse  nun  auch  scheinen,  so  wenig  lassen  sich  die  gleich  anzufüh- 
renden ferneren  Resultate  und  Schlüsse  Flourens  mit  auf  anderen 
Wegen  gewonnenen  Erfahrungen  vereinigen. 

Wenn  Flourens  Thieren  nur  eine  Hemisphäre  abtrug,  so  wurden 
sie  zwar  auf  dem  Auge  der  gegenüber  liegenden  Seite  blind,  sie  be- 
hielten aber  ihre  volle  Willensherrschaft  über  sämmtliche  willkürliche 


*)  Flourens,  Recherches  experimentales  sur  les  proprietes  et  les  fonc- 
tions  du  Systeme  nerveux  dans  les  animaux  vertebres.     2®  edit.     Paris  1842. 
**)  A.  a.  0.  S.  35. 


—     12     — 

Muskeln  und  nach  Ueberwindung  einer  nicht  einmal  immer  auftretenden 
Schwäche  der  gegenüberliegenden  Körperhälfte  unterschieden  sie  sich 
in  nichts  von  nicht  verstümmelten  Thieren.  Wenn  er  ferner  anderen 
Thieren  das  Grosshirn  scheibenweise,  sei  es  von  vorn  nach  hinten  oder 
von  hinten  nach  vorn,  sei  es  von  oben  nach  unten  oder  von  aussen 
nach  innen,  abtrug,  so  bemerkte  er  unter  allen  diesen  Bedingungen 
eine  gleichmässige,  allmählige  Abnahme  der  sinnlichen  Wahrnehmungen 
und  des  Willens.  Ueberschritt  er  aber  eine  gewisse  Grenze,  so  waren 
plötzlich  alle  diese  der  Seele  zugeschriebenen  Eigenschaften  auf  einmal 
erloschen  und  das  Thier  versank  in  den  geschilderten  traumhaften 
Zustand. 

Ja  noch  mehr,  wenn  er  mit  der  Abtragung  an  jener  Grenze  inne- 
hielt, so  erlangte  das  Thier  innerhalb  weniger  Tage  die  schon  verlorenen 
Fähigkeiten  wieder  und  konnte  dann  noch  lange  mit  denselben  seelischen 
Eigenschaften  fortexistiren,  als  wenn  es  nichts  von  seiner  Gehirnsubstanz 
eingebüsst  hätte.  Flourens  schloss  hieraus*),  dass  die  Hirnlappen 
mit  ihrer  ganzen  Masse  für  die  ungeschmälerte  Ausübung 
ihrer  Functionen  eintreten,  und  dass  es  keinen  gesonderten 
Sitz,  weder  für  die  verschiedenen  Fähigkeiten',  noch  für  die 
verschiedenen  Wahrnehmungen  gäbe.  Er  schloss  ferner,  dieses 
im  Widerspruch  mit  dem  ersten  Schlüsse,  dass  ein  zurückgelassener 
Theil  der  Hemisphären  den  vollen  Gebrauch  sämmtlicher 
Functionen  wiedererlangen  könne. 

Am  auffallendsten  unter  allen  angeführten  Versuchen  ist  jedenfalls 
der'  a.  a.  0.  S.  101  unter  II.  beschriebene.  Hier  hatte  Flourens  einer 
Taube  offenbar  die  ganze  erreichbare  Rinde  des  Grosshirns  beider 
Seiten,  also  den  gangliösen  Theil  abgetragen,  den  Theil,  welchen  man 
noch  immer  als  den  wesentlichen,  als  den  die  ersten  Werkzeuge  der 
Seele  bergenden  zu  betrachten  gewohnt  war.  Nichtsdestoweniger  be- 
gann diese  Taube  schon  vom  3.  Tage  an  ihre  seelischen  Functionen 
wieder  auszuüben,  und  am  6.  Tage  hatte  sie  Alles  wiedererlangt,  was 
ihr  durch  die  Operation  gänzlich  genommen  schien.  —  Gleichwohl  hat 
man  diese  Versuche  oder  ihre  Anwendbarkeit  auf  höhere  Thiere  noch 
wenig  oder  nicht  angegriffen,  und  noch  Schiff**)  referirt  darüber  in 
demselben  Sinne;  wenn  auch  dieser  Forscher  wohl  auf  zu  Tage  liegende 
Verschiedenheiten  in  Bau  und  Function  zwischen  Thier-  und  Menschen- 
hirn aufmerksam  macht. 

Es  hatte  sich    also    nach    diesen    und    späteren,    nur    ausbauenden 


*)  A.  a.  0.  S.  99  u.  101. 
**)  A.  a.  0.  S.  336. 


—     13     — 

Forschungen  etwa  folgende  Ansicht  über  die  centralen  Stätten  der 
Muskelbewegung  gebildet: 

In  den  meisten  Theilen  des  Hirnstammes,  dann  auch  hinab  bis 
in  das  Rückenmark  giebt  es  eine  Anzahl  von  vorgebildeten  Mechanis- 
men, die  einer  normalen  Erregung  in  ihrem  Ganzen  auf  zwei  Bahnen 
fähig  sind.  Die  Eine  verläuft  von  der  Peripherie  aus  —  die  Bahn  des 
Reflexes;  die  Andere  strahlt  vom  Centrum  her  ein  —  die  Bahn  des 
"Willens,  der  seelischen  Impulse.  Dieses  Centrum  liegt  vermuth- 
lich  in  der  gangliösen  Substanz  der  Grosshirnhemisphären, 
ohne  dass  jedoch  die  einzelnen  Theile  des  psychischen  auf 
die  einzelnen  Theile  des  organischen  Centrums  localisirt 
wären.  Aber  seine  Erforschung,  die  Erforschung  des  wahr- 
scheinlichen Sitzes,  oder  doch  der  nächsten  Werkzeuge  der 
Seele  bleibt  uns  zunächst  verschlossen,  da  das  Substrat  auf 
die  uns  geläufigen  Reize  mit  keiner  in  die  Erscheinung  tre- 
tenden Reaction  antwortet*).  —  Was  gegen  diese  Anschauungen 
von  Seiten  der  klinischen  Beobachtung  etwa  eingewendet  werden  konnte, 
wurde  mit  dem  vielfach  nicht  ungerechten  Hinweis  auf  die  Mangel- 
haftigkeit und  Vieldeutigkeit  der  Sectionen  und  auf  die  Einfachheit  und 
Durchsichtigkeit  jener  Vivisectionen  bald  abgefertigt.  Man  führte  end- 
lich Fälle  von  angeborenem  oder  erworbenem  Defect  einzelner  Hirn- 
partieen  ohne  entsprechende  Störung  cerebraler  Functionen  zum  Beweise 
an,  wie  unwesentlich  doch  das  Hirn  zum  Leben  sei. 

Diese  Anschauungen  wurden  selbst  durch  eine  Reihe  wohl  con- 
statirter,  andere  Verhältnisse  voraussetzender  Thatsachen  nur  in  be- 
schränkten Kreisen  allmählig  modificirt.  Seit  lange  (1825)  war  durch 
Bouillaud  bekannt,  dass  der  jetzt  Aphasie  benannte  Symptomen- 
complex  durch  Zerstörung  einer  kleinen  excentrischen  Grosshirnpartie 
bedingt  werden  kann.  In  neuerer  Zeit  haben  zahlreiche  Autoren  zur 
näheren  Definirung  dieses  Satzes  beigetragen.  —  Es  existirt  ferner  eine 
nicht  geringe  Zahl  von  Fällen  in  der  Literatur,  die  im  Leben  Lähmung 
eines  Armes,  auch  wohl  eines  Beines,  bei  der  Section  kleine  Des- 
organisationen des  Grosshirns  zeigten.  Leider  ist  aus  den  durch  An- 
dral**)  von  seiner  bekannten  Zusammenstellung  gezogeneu  Summen  nicht 
zu  ersehen,    wie  viel  derartige  Fälle  auf  das  Grosshiru  selbst  und   wie 


*)  Vgl.  hierzu  die  neuesten  Lehrbücher  der  Physiologie,  z.  B.  Ranke, 
Grundzüge  u.  s.  w.  S.  750  ff.  —  L.  Hermann,  Grundriss  u.  s.  w.  3.  (übri- 
gens auch  4.)  Aufl.   1870.  S.  426  u.  436  f.  u.  s.  w. 

**)  Andral,  Clinique  medicale.    Paris  1834.    T.  V,   p.  357  et  suiv. 


—     14     — 

viele  auf  seine  grossen  Ganglien  kommen.  Indessen  muss  man  sich 
vollkomraen  dem  anschliessen,  was  er  am  Ende  dieser  Betrachtung  sagt: 

„De  ces  faits  comment  ne  pas  conclure,  que  dans  l'etat  actuel  de 
„la  science  on  ne  peut  encore  assigner  dans  le  cerveau  un  siege  distinct 
„aux  mouvements  des  membres  superieur  et  inferieur?  Sans  doute  ce 
„siege  distinct  existe,  puisque  chacun  de  ces  membres  peut  se  paralyser 
„isolement,  mais  nous  ne  !e  connaissons  point  encore." 

Dem  wäre  nur  noch  hinzuzufügen,  dass  man  von  den  das  Corp. 
striat.  und  den  Thalam.  optic.  betreibenden  Fällen  abzusehen  hat,  sobald 
man  diese  Statistik  zur  Bestimmung  des  ersten  Entstehungsortes  der 
ausgefallenen  Bewegung  verwenden  will,  da  in  diesen  beiden  grossen 
Ganglien  bereits  Leitungsbahnen  von  den  Hemisphären  zur  Peripherie 
gelagert  sind.  —  Solche  Tlia1;sachen  wiesen  allerdings  darauf  hin,  dass 
der  Ursprung  wenigstens  einzelner  seelischer  Functionen  an  umschriebene 
Hirntheile  geknüpft  ist.  Zu  dem  gleichen  Schluss  kam  auch  Goltz 
dadurch,  dass  er  bei  Fröschen,  denen  er  das  Grosshirn  exstirpirt  hatte, 
noch  einen  an  die  Lobi  optici  gebundenen  Rest  von  Intelligenz  nachwies. 

Ebenso  nahmen  auch  einzelne  Anatomen,  unter  denen  besonders 
Meynert  genannt  zu  werden  verdient,  auf  Grund  morphologischer  Unter- 
suchungen einen  von  der  herrschenden  Meinung  durchaus  abweichenden, 
aber  ganz  entschiedenen  Standpunkt  ein.  Nach  Meynert  zerfällt  aller- 
dings die  als  Heerd  der  Vorstellungen  zu  betrachtende  Grosshirnrinde 
in  viele  mehr  weniger  umschriebene  Gebiete,  deren  Bedeutung  für  die 
einzelnen  Arten  der  Vorstellungen  durch  die  in  ihre  Ganglienzellen 
einmündenden  Nervenfasern  seines  sogenannten  Projectionssystems  be- 
dingt wird. 

Inzwischen  werden  durch  die  Resultate  unserer  eigenen  Unter- 
suchungen die  Prämissen  für  viele  auf  die  Grundeigenschaften  des 
Grosshirns  zu  ziehende  Schlüsse  nicht  wenig  verändert. 


Den  Ausgangspunkt  für  diese  Untersuchungen  bildeten  Beobach- 
tungen, welche  ich  am  Menschen  zu  machen  Gelegenheit  hatte*),  und 
die  die  ersten  durch  directe  Reizung  der  Centralorgane  am  Menschen 
hervorgebrachten  und  beobachteten  Bewegungen  willkürlicher  Muskeln 
betreffen 2).  Ich  fand  nämlich,  dass  man  bei  Durchleitung  constan- 
ter    galvanischer    Ströme    durch    den    hinteren    Theil    des    Kopfes    mit 


*)  Vgl.  meine  Abhandlung:  Ueber  die  beim  Galvanisiren  des  Kopfes 
entstehenden  Störungen  der  Muskelinnervation  und  der  Vorstellungen  vom  Ver- 
halten im  Räume, 


—     15     — 

Leichtigkeit  Bewegungen  der  Augen  erhält,  die  ihrer  Natur  nach 
nur  durch  directe  Reizung  cerebraler  Centren  ausgelöst  sein  können. 
Insoweit  nun  diese  Bewegungen  nur  bei  Galvanisirung  jener  Kopfgegend 
auftreten,  konnte  man  sie  als  bedingt  durch  Reizung  der  Vierhügel, 
worauf  Manches  hinwies,  oder  benachbarter  Tlieile  betrachten.  Da  in- 
dessen bei  Anwendung  gewisser,  die  Erregbarkeit  erhöhender  Kunst- 
griffe sich  solche  Augenbewegungen  auch  bei  Galvanisirung  durch  die 
Schläfengegeud  zeigten,  entstand  die  Frage,  ob  bei  der  letzteren  Me- 
thode bis  zur  Basis  vordringende  Stromschleifen  die  Veranlassung  der 
Augenbewegungen  seien,  oder  ob  das  Grosshirn  im  Widerspruch 
mit  der  allgemeinen  Ansicht  doch  elektrische  Erregbarkeit 
besässe. 

Nachdem  mir  ein  vorläufiger  Versuch  ein  rücksichtlich  des  Kanin- 
chens generell  positives  Resultat  ergeben  hatte,  schlug  ich  in  Gemein- 
schaft mit  Herrn  Fritsch,  zur  definitiven  Lösung  der  letzteren  Frage, 
den  folgenden  Weg  ein. 

Den  bei  den  ersten  Versuchen  nicht  narkotisirten,  später  aber  nar- 
kotisirten  Thieren,  Hunden,  wurde  durch  eine  Trepankrone  der  Schädel 
an  einer  möglichst  planen  Stelle  eröffnet.  Dann  wurde  mit  einer  schnei- 
denden, vorn  gerundeten  Knochenzange  entweder  die  eine  ganze  Hälfte 
des  Schädeldachs  oder  nur  dessen  den  Vorderlappen  bedeckender  Theil 
entfernt.  In  den  meisten  Fällen  wurde  nach  Benutzung  der  einen  Hemi- 
sphäre mit  der  anderen  Hälfte  des  Schädeldachs  in  genau  derselben 
Weise  verfahren.  In  allen  diesen  Fällen  Hessen  wir  jedoch,  nachdem 
uns  einmal  ein  Hund  aus  einer  leichten  Verletzung  des  Sin.  longitud. 
verblutet  war,  eine  diesen  Blutleiter  schützende  mediane  Knochenbrücke 
vollkommen  intact.  Nun  wurde  die  bis  dahin  unversehrte  Dura  leicht 
incidirt,  mit  der  Piucette  erfasst  und  bis  zu  den  Knochenrändern  voll- 
ständig abgetragen.  Hierbei  schon  äussern  die  Hunde  durch  Schreien 
und  charakteristische  Reflexbewegungen  lebhaften  Schmerz.  Später  aber, 
wenn  der  Luftreiz  erst  längere  Zeit  eingewirkt  hat,  werden  die  Reste 
der  harten  Hirnhaut  noch  bei  Weitem  empfindlicher,  ein  Umstand,  der 
bei  Anordnung  der  Reizversuche  auf  das  Sorgfältigste  in  Betracht  ge- 
zogen werden  musste.  Die  Pia  konnten  wir  jedoch  durch  mechanische 
oder  irgend  welche  andere  Reize  in  jedem  Grade  beleidigen,  ohne  dass 
das  Thier  ein  Zeichen  von  Empfindung  von  sich  gab. 

Die  elektrischen  Reizvorrichtungen  waren  in  folgender  Weise  an- 
geordnet: die  Pole  einer  Kette  von  10  Daniell  gingen  über  einen  Commu- 
tator  nach  zwei  Klemmschrauben  einer  Pohl'schen  Wippe,  aus  der  das 
Kreuz  entfernt  war.  An  den  beiden  gegenüberliegenden  Klemmschrauben 
mündeten  die  den  Strom  einer  secundären  luductionsspirale  zuführenden 


—      16     — 

Leitungsdrähte.  Von  dem  mittleren  Klemmschraubenpaar  führten  zwei 
Drähte  zu  einem  als  Nebenschliessung  eingeschalteten  Rheostaten  von 
0 — 2100  S.  E.  Widerstand.  Die  Hauptschliessung  setzte  sich  über  einen 
du  Bois'schen  Schlüssel  zu  zwei  kleinen,  isolirten,  walzenförmigen 
Klemmschrauben  fort,  die  andererseits  die  Elektroden  in  Gestalt  von 
sehr  feinen,  vorn  mit  einem  ganz  kleinen  Knöpfchen  versehenen  Platin- 
drähten trugen.  Diese  Platindrähte  liefen  durch  zwei  Korkstückchen, 
vermittelst  deren  man  die  Entfernung  der  Knöpfchen  von  einander 
schnell  ändern  konnte.  In  der  Regel  betrug  diese  Entfernung  etwa 
2 — 3  Mm.  Es  war  nothw endig,  den  Platindrähten  einen  imr  geringen 
mechanischen  Widerstand  und  die  Knöpfchen  zu  geben,  da  sonst  jede 
Unsicherheit  der  Hand,  ja  selbst  die  Respirationsbewegungen  des  Ge- 
hirnes sofort  zu  Verletzung-en  der  weichen  Masse  des  Centralorganes 
geführt  hätten. 

Die  benutzte  Kette  bestand  aus  Siemens- Halske'schen  Papp- 
elementen, die  nach  einer  früher  angestellten  Untersuchung  nicht  die 
volle  elektromotorische  Kraft  eines  Daniell  und  je  einen  Widerstand  von 
etwa  5  S.  E.  hatten.  In  der  Regel  war  der  Widerstand  der  Neben- 
schliessung nur  niedrig,  nämlich  auf  30—40  S.  E.  bemessen.  Die  Strom- 
stärke war  dabei  so  gering,  dass  metallische  Schliessung  nur  eben  eine 
Gefühlssensation  auf  der  mit  den  Knöpfeben  berührten  Zunge  hervor- 
rief. Beträchtlich  höhere  Stromstärken,  sowie  die  Ausschaltung  der 
Nebenschliessung  wurden  nur  zu  Controlversuchen  benutzt.  —  Bei  den 
übrigens  viel  seltener  vorgenommenen  Reizversuchen  mit  dem  Induc- 
tionsstrome  hing  der  Widerstand  der  Nebenschliessung  natürlich  von 
der  jedesmaligen  Spiralenstelluüg  ab.  Wir  benutzten  zu  den  meisten 
Versuchen  ebenfalls  einen  Strom,  der  gerade  eine  Gefühlssensation  auf 
der  Zunge  hervorbrachte. 

Unter  Anwendung  dieser  Methode  gelangten  wir  zu  folgenden  Re- 
sultaten, die  wir  als  Ergebniss  einer  sehr  grossen  Zahl  für  das  Gehirn 
des  Huades  grösstentheils  bis  in  die  kleinsten  Einzelheiten  überein- 
stimmender Versuche  vortragen,  ohne  alle  Versuchsprotocolle  selbst 
abzudrucken.  Bei  der  gegebenen  genauen  Beschreibung  der  Methode 
und  bei  Berücksichtigung  der  noch  im  Folgenden  zu  erwähnenden  Mo- 
mente ist  die  Wiederholung  unserer  Versuche  ohnedies  so  leicht,  dass 
Bestätigungen  nicht  lange  werden  auf  sich  warten  lassen. 

Ein  Theil  der  Couvexität  des  grossen  Gehirnes  des  Hundes 
ist  motorisch  (diesen  Ausdruck  im  Sinne  von  Schiff  gebraucht),  ein 
anderer  Theil  ist  nicht  motorisch. 

Der  motorische  Theil  liegt,  allgemein  ausgedrückt,  mehr 
nach  vorn,  der  nicht  motorische  liegt  nach  hinten.  —  Durch 


—      17     — 

elektrische  Reizung  des  motorischen  Tlieiles  erhält  man 
combinirte  Muskelcontractioncn  der  gegenüberliegenden 
Körperhälfte. 

Diese  Muskelcontractioncn  lassen  sich  bei  Anwendung 
ganz  schwacher  Ströme  auf  bestimmte,  engbegrenzte  Muskel- 
gruppen localisiren.  Auf  stärkere  Ströme  betheiligen  sich 
bei  Reizung  der  gleichen  oder  sehr  benachbarter  Stellen 
sofort  andere  Muskeln  und  zwar  auch  Muskeln  der  corre- 
spondirenden  Körperhälfte.  Die  Möglichkeit  isolirter  Er- 
regung einer  begrenzten  Muskelgruppe  ist  indessen  bei  An- 
wendung ganz  schwacher  Ströme  auf  sehr  kleine  Stellen,  die 
wir  der  Kürze  wegen  Centra  nennen  wollen,  beschränkt.  Ganz  ge- 
ringe Verschiebung  der  Elektroden  setzt  zwar  in  der  Regel  noch  die 
gleiche  Extremität  in  Bewegung;  wenn  indessen  zuerst  z.  B.  Streckung 
erfolgte,  so  ergiebt  die  Verschiebung  Beugung  oder  Rotation.  Die 
zwischen  den  von  uns  so  bezeichneten  Centren  liegenden  Theile  der 
Hirnoberfläche  fanden  wir  zwar  bei  der  beschriebenen  Reizmethode  und 
bei  Verwendung  der  minimalen  Stromstärke  unerregbar.  Wenn  wir 
indessen  entweder  die  Entfernung  der  beiden  Elektroden  von  einander 
oder  die  Stromstärke  vergrösserten,  so  Messen  sich  dennoch  Zuckungen 
hervorbringen;  aber  diese  Muskelcontractioncn  crgrifl^en  den  ganzen 
Körper  derart,  dass  sich  nicht  einmal  wohl  unterscheiden  Hess,  ob  sie 
einseitig  oder  doppelseitig  waren. 

Beim  Hunde  ist  die  Ocrtlichkcit  der  bald  näher  zu  bezeichnenden 
Centra  sehr  constant.  Die  genaue  Constatirimg  dieser  Thatsache  unter- 
lag zuerst  einigen  Schwierigkeiten.  Wir  haben  dieselben  indessen  da- 
durch beseitigt,  dass  wir  zuerst  diejenige  Stelle  aufsuchten,  die  bei  der 
geringsten  noch  erregenden  Stromstärke  die  stärkste  Zuckung  der  be- 
treffenden Gruppe  ergab.  Dann  senkten  wir  eine  Stecknadel  zwischen 
den  beiden  Elektroden  in  das  Gehirn  des  noch  lebenden  Thieres  ein 
imd  verglichen  nach  Herausnahme  des  Gehirns  die  einzelnen  so  mar- 
kirten  Punkte  mit  denen  der  Spirituspräparate  früherer  Versuche.  Wie 
constant  die  gleichen  Centra  gelagert  sind,  ergiebt  sich  am  besten  aus 
der  Thatsache,  dass  es  uns  zu  wiederholten  Malen  gelungen  ist,  das 
gewollte  Centrum  ohne  anderweite  Eröffnung  des  Schädels  im  Mittel- 
punkt einer  einzelnen  aufgesetzten  Trepankrone  zu  finden.  Nach  Ab- 
tragung der  Dura  zuckten  die  von  dort  abhängigen  Muskeln  mit  der- 
selben Sicherheit,  als  wenn  die  ganze  Hemisphäre  freigelegt  gewesen 
wäre.  Im  Anfang  freilich  hatten  wir  auch  bei  ganz  freiem  Operations- 
felde   grössere    Schwierigkeiten.      Denn    wenn    auch    wie  bekannt,    die 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     I.  Tlieil.  2 


—     18     — 

einzelnen  Hirnwindungen  ganz  constant  sind  3),  so  zeigt  doch  ihre 
Entwickelung  in  ihren  einzelnen  Theilen  und  ihre  Lagerung  zu  einander 
bedeutende  Verschiedenheiten.  Es  findet  sich  sogar  eher  als  Regel,  wie 
als  Ausnahme,  dass  die  correspondirenden  Gyri  der  beiden  Hemisphären 
desselben  Thieres  in  einzelnen  Theilen  verschieden  gebildet  sind.  Ausser- 
dem ist  einmal  die  mittlere  Partie  der  Convexität  mehr  entwickelt,  ein 
anderesmal  sind  es  die  nach  vorn  oder  nach  hinten  gelagerten  Theile*). 
Rechnet  man  dazu  die  Nöthigung,  dem  Gehirn  in  nicht  geringer 
Ausdehnung  seine  Hüllen  zu  lassen,  ferner  die  Verdunkelung  des  Bildes 
durch  die  jedesmal  andere,  aber  die  Gyri  manchmal  sehr  undeutlich 
machende  Gefässvertheilung,  so  wird  man  sich,  wenn  es  nun  leicht  geht, 
über  die  anfänglich  von  uns  gefundenen  Schwierigkeiten  gerade  nicht 
wundern. 

Um  die  Wiederholung  unserer  Versuche  ferner  zu  erleichtern,  geben 
wir  nachstehende  genauere  Daten  über  die  Oertlichkeit  der  einzelnen 
motorischen  Centra,  wobei  wir  uns  der  Nomenclatur  von  Owen**)  an- 
schliessen. 

Das  Centrum  für  die  Nackenmuskeln  (s.  /\  Fig.  1)  liegt  im  late- 
ralen Theile  des  praefrontalen  Gyrus,  dort  wo  die  Oberfläche  dieser 
Windung  den  steilen  Abfall  nach  unten  nimmt.  Das  äusserste  Ende 
des  postfrontalen  Gyrus  birgt  in  der  Gegend  des  lateralen  Endes  der 
frontalen  Fissur  (s.  -f*  Fig.  1)  das  Centrum  für  die  Extensoren  und 
Adductoren  des  Vorderbeines.  Etwas  nach  rückwäi'ts  davon  und  mehr 
der  Coronalfissur  genähert  (s.  -|-  Fig.  1)  liegen  die  der  Beugung  und 
Rotation  des  Gliedes  vorstehenden  Centralgebiete.  Die  Stelle  für  das 
Hinterbein  (s.  :^  B'ig.  1)  befindet  sich  ebenfalls  im  postfrontalen  Gyrus, 
aber  medianwärts  von  der  für  das  Vorderbein  und  etwas  mehr  nach 
hinten.  Der  Facialis  (s.  0  Fig.  1)  wird  von  dem  mittleren  Theile  der 
II.  ürwindung  innervirt.  Die  betreffende  Stelle  übertrifft  häufig  an 
Ausdehnung  0,5  cm  und  erstreckt  sich  von  der  Hauptknickung  oberhalb 
der  sylvischen  Furche  aus  nach  vor-  und  abwärts. 

Wir  müssen  hinzufügen,  dass  es  nicht  in  allen  Fällen  gelang,  von 
der  erstgenannten  Stelle  aus  die  Nackenmuskeln  in  Bewegung  zu  setzen. 
Die  Rücken-,  Schwanz-  und  Bauchmuskeln  haben  wir  zwar  oft  genug 
von  den  zwischen  den  bezeichneten  Punkten  liegenden  Partieen  ans  zur 
Contraction  gebracht,  indessen  Hess  sich  eine  circumscripte  Stelle,  von 
der  aus  sie  isolirt  zu  reizen  waren,  nicht  mit  Bestimmtheit  feststellen. 


*)  Vgl,   hierzu  auch  Reichert,   Der  Bau    des  menschlichen  Gehirns. 
Leipzig  1861.  AbtM.  IL   S.  77. 

**)  Owen,  On  the  anatomy  of  vertebrates.  Vol. 111.   London  1868.  p.  118. 


—     19     — 

Die    ganze    nacli    rückwärts   von    dem   Faci;i,lis-C(!nirum    liegende   Partie 
der  Convexität*)  fanden  wir  aucli  gegen  ganz  unverliältnissmässige  Strom- 
Figur  1. 


Intensitäten  absolut  unerregbar.  Selbst  bei  Ausschaltung  der  Neben- 
schliessung, also  bei  Einwirkung  eines  Stromes  von  10  Daniell  erfolgte 
keine  Muskelzuckuug. 

Der  Charakter  der  durch  Reizung  dieser  motorischen  Ceutren 
hervorgebrachten  Zuckungen  ist  je  nach  Art  der  Reizung  ein  verschie- 
dener. Die  Reizung  durch  einfache  metallische  Schliessung  des 
K.ettenstromes  giebt  nur  eine  einfache,  ziemlich  schnell  vorübei'- 
gehende  Zuckung.  Wenn  man,  anstatt'  die  Kette  in  ihrem  metallischen 
Theile  zu  schliessen,  dies  durch  Aufsetzen  der  Elektroden  thut,  so  be- 
darf man  zur  Erzielung  des  gleichen  Effectes  grösserer  Stromstärken. 
Also  auch  hier  gilt  das  Gesetz  von  du  Bois-Reymond.  Die  metal- 
lische Wendung  ergiebt  stets  einen  ceteris  paribus  grösseren  Reizeffect 
als  die  blosse  Schliessung,  ohne  dass  jedoch  dabei  zwei  Zuckungen  (die 
zweite  für  die  Oeffnung)  einträten.  Nicht  selten  zeigte  sich  aber  bei 
dieser  Art  der  Reizung    auch  Tetanus    der    betreffenden  Muskelgruppe, 


*)  Wir  vermeiden  absichtlich  die  Bezeichnung  nach  Lappen,  da  beim 
Hunde  weder  eine  deutliche  Lappenbildung  existirt,  noch  auch  das,  was  man 
etwa  dafür  ansehen  kann,  den  menschlichen  Hirnlappen  der  Lagerung  nach 
entspricht,  endlich  auch,  weil  man  bisher  so  gut  wie  gar  nicht  weiss,  welche 
Theile  beim  Hunde  als  bestimmten  Theilen  des  Menschen  adaequat  zu  be- 
trachten sind. 

2* 


—     20     — 

namentlich  wenn  es  sich  um  die  Zehenbeuger  handelte,  obwohl  weitere 
Reizmomente  nicht  Platz  griffen.  —  Hatte  zuerst  die  eine  Elektrode, 
sei  es  auch  nur-  kurze  Zeit,  eingewirkt,  so  brachte  gleich  darauf  die 
andere  an  derselben  Stelle  einen  grösseren  Reizeffect  hervor,  als  sie 
vorher  und  bald  darauf  vermochte. 

Während  nun  dies  ganz  übereinstimmt  mit  dem,  was  man  von  den 
Eigenschaften  peripherischer  Nerven  weiss,  können  wir  aus  einem  gleich 
zu  nennenden  Grunde  nicht  unterlassen,  auf  ein  hiervon  abweichendes, 
übrigens  physiologisch  höchst  interessantes  Reizmoment  kurz  aufmerksam 
zu  machen.  Es  handelt  sich  um  ein  durchaus  constantes  Vorwiegen 
der  Anode.  Ja  es  scheint  so  als  ob  innerhalb  der  minimalen 
Stromstärken  nur  die  Anode  Zuckungen  auslöst.  Wir  haben  zur 
Feststellung  dieses  Punktes,  zunächst  weil  seine  Kenntniss  zur  Erleich- 
terung der  Untersuchung  sehr  nothwendig  ist,  folgende  Versuche  ge- 
macht und  oft  wiederholt. 

1)  Bei  der  gewöhnlichen  Entfernung  der  Elektroden  von  einander 
wurde  diejenige  Stelle  aufgesucht,  von  der  aus  man  mit  der  minimalen 
Stromstärke  Zuckungen  auslöste,  und  um  ganz  sicher  zu  gehen,  wurde 
erst  mehrmals  metallisch  geschlossen.  Alsdann  wurde  bei  offener  Kette 
der  Strom  gewendet,  ohne  dass  die  Elektroden  ihren  Platz  veränderten 
und  von  Neuem  geschlossen.  Nun  blieb  die  Zuckung  aus.  Wurde  nun 
wieder  geöffnet,  gewendet,  geschlossen,  so  war  der  Reizeffect  etwas 
grösser  als  bei  den  ersten  Schliessungen.  Dies  Hess  sich  beliebig  oft 
wiederholen.  Wenn  nun  die  eine  oder  die  andere  der  Elektroden  unter 
wiederholten  Kettenschliessungen  ihren  Platz  verliess,  so  konnte  dies 
die  Kathode  sein,  ohne  dem  Reizeffect  Abbruch  zu  thun.  Die  Anode 
dürfte  sich  aber  nicht  weit  von  dem  Reizpunkt  entfernen,  ohne  dass 
entweder  Ruhe  oder  Zuckungen  in  anderen  Muskelgruppen  auftraten. 

2)  Die  Anode  ruhte  auf  dem  Streckcentrum,  die  Kathode  auf  dem 
Beugecentrum  für  die  vordere  Extremität.  Schliessung  gab  Streckung, 
Wendung  —  (bei  geschlossener  Kette)  Beugung,  Wendung  —  Streckung, 
Wendung  —  Beugung  und  so  fort.  Es  wurde  also  jedesmal  das  der 
Anode  entsprechende  Centrum  erregt. 

Wir  ziehen  vor,  uns  der  Betrachtungen  über  den  Zusammenhang 
der  zuletzt  angeführten  Erscheinungen  für  jetzt  zu  enthalten.  Die  neuen 
Thatsachen,  welche  sich  uns  bei  dieser  Untersuchung  zeigten,  sind  so 
mannigfaltig,  und  ihre  Consequenzen  erstrecken  sich  nach  so  vielen 
Richtungen  hin,  dass  es  für  die  Sache  wohl  von  geringem  Vortheil 
wäre,  alle  diese  einer  genauen  Durchforschung  bedürfenden  Pfade  auf 
einmal  wandeln  zu  wollen^). 

Hier  müssen  wir  indessen  noch  anfügen,    dass    bei    etwas  längerer 


—     21     — 

Kettenschliessimg  die  stärker  erregende  Wirkung  des  Wechsels  der 
p]lektrodeii  sich  auch  in  folgender  Art  äussert.  Hatten  wir  eine  Zuckung 
hervorgebracht,  dadurch  dass  die  Anode  sich  auf  einem  Centrum,  die 
Kathode  auf  einer,  bei  der  benutzten  Stromstärke  indifferenten  Stelle 
befand,  und  Hessen  wir  die  Kette  etwas  länger  geschlossen,  so  löste 
manchmal  nach  vorgängiger  Oeffnung  die  Schliessung  des  gewendeten 
Stromes  eine  einzehie,  sehr  selten  eine  einmal  wiederholte  Zuckung  aus. 
Dass  heisst  nach  etwas  längerer  Einwirkung  der  Anode  reagirt  die  cen- 
trale Nervensubstanz  eine  kurze  Zeit  lang  selbst  bei  minimalen  Strömen 
auch  auf  die  Kathode.  Man  muss  für  diesen  Versuch  aus  mehreren 
Gründen  nur  ganz  schwache  Ströme  verwenden,  namentlich  auch  weil 
stärkere  Ströme  durch  Elektrolyse  die  Substanz  sofort  zerstören.  — 

Bei  der  Reizung  mit  tetanisirenden  Inductionsströmen*) 
sind  die  Reizeff'ecte  ihrer  Art  nach  nicht  ganz  so  constant.  Häufig 
treten  tonische.  Contractionen  der  betreffenden  Muskelmassen  ein,  die 
erst  nach  längerer  Zeit  in  ihrer  Intensität  nachlassen.  Häufig  ist  ein 
anfängliches  Contractionsmaximum  vorhanden,  dem  schon  nach  secunden- 
langer  Dauer  des  Stromes  ein  so  beträchtlicher  Nachlass  folgt,  dass 
man  die  Contraction  für  ganz  erloschen  halten  könnte,  wenn  nicht  im 
Momente  der  Oeffnung  noch  eine  geringe  Bewegung  im  Sinne  der  nach- 
lassenden Contraction  erfolgte.  Zu  diesen  Verschiedenheiten,  sowie  zu 
einigen  gleich  zu  erwähnenden  Erscheinungen  scheint  die  Individualität 
des  Versuchsthieres  —  seine  grössere  oder  geringere  Reizbarkeit  in  ur- 
sächlichem Verhältniss  zu  stehen. 

Bei  anhaltender  Verwendung  stärkerer  Ströme  nämlich  treten  wohl 
Symptome  der  Erschöpfung  auf,  —  die  Erforderniss  stärkerer  Ströme 
zur  Erzielung  desselben  Effectes,  auch  wohl  gänzliches  Ausbleiben  der 
Zuckungen.  Sehr  oft  kommt  es  dabei  zu  blutigen  Suffusionen  der  Rindeu- 
substanz.  Häufiger  jedoch  beobachtet  man  namentlich  auch  nach 
schwachen  Strömen  eine  Reihe  von  Erscheinungen,  denen  der  entgegen- 
gesetzte Sinn  miterlegt  werden  muss. 

Eduard  Weber**)  hatte  bereits  angegeben,  dass  nach  Oeffnung 
eines  das  Froschrückenmark  tetanisirenden  Stromes  Nachbeweguugen  in 


*)  Der  folgende  Passus,  den  ich  übrigens  ganz  unverändert  abdrucke, 
hat  mehrfach  zu  Missverstäudnissen  Veranlassung  gegeben.  Ich  bemerke  des- 
halb schon  hier,  dass  die  in  demselben  enthaltene  Schilderung  sich  selbst- 
verständlich nur  auf  die  von  uns  für  beweisende  Versuche  benutzte  Methode, 
Reizung  mit  der  Stomstärke  des  Zuckungsminimums  bezieht. 

**)  Eduard  Weber,   K.  Wagner's  Handwörterbuch  der  Physiologie. 
Bd.  III.   Abthl.  II.   S.  15. 


—     22     — 

allen  Körpermuskeln  eintreten.  Diese  Thatsaclie  scheint  ganz  in  Ver- 
gessenheit gerathen  zu  sein.  Wenigstens  sollten  wir  meinen,  hätte  sie 
sonst  von  den  Vertheidigern  der  Erregbarkeit  des  Rückenmarks  wohl 
als  ein  Argument  benutzt  werden  können. 

Etwas  ganz  Aehnliches  findet  sich  nun  nach  Tetanisiren  der  Hirn- 
substanz. Schon  nach  einer  Reizung  von  wenig  Secunden  Dauer  treten 
Nachbewegungen  in  der  abhängigen  Musculatur  ein,  die  im  Gebiet  des 
Facialis  einen  deutlich  zitternden  Charakter  tragen.  Die  Extremitäten 
zeigen  mehr  das  Bild  klonischer  Krampfbewegungen  —  Unterschiede, 
die  jedenfalls,  von  der  verschiedenen  Art  der  Muskelanheftung  ab- 
hängig sind.  Diese  localen  Krampfanfälle  können  sich,  auch  wenn  man 
dem  Gehirn  Ruhe  lässt,  mehrfach  wiederholen.  In  einzelnen  Fällen 
traten  sie  auch  nach  Misshandlung  der  Hirnsubstauz  mit  Schliessungen 
des  Kettenstromes  auf.  In  der  Regel  wurden  sie  aber  nach  Reizung 
mit  diesen  Strömen  nicht  beobachtet.  Bei  zweien  unserer  Ver- 
suchsthiere  bildeten  sich  aus  diesen  Nachbewegungen  wohl- 
charakterisirte  epileptische  Anfälle  heraus.  Der  Anfall  be- 
gann halbseitig  mit  Zuckungen  in  der  vorher  gereizten  Musculatur, 
breitete  sich  aber  dann  auf  alle  Körpermuskeln  aus,  so  dass  es  zu  einem 
vollständigen  Strecktetanus  kam.  Die  Pupillen  waren  dabei  ad  maxi- 
mum  erweitert.  Eins  von  den  Thieren  hatte  zwei,  das  andere  drei 
solcher  Anfälle.  Man  könnte  einwenden,  dass  die  Hunde  schon  früher 
epileptisch  gewesen  seien.  Der  eine  Hund  hatte  sich  aber  bereits 
6  Jahre  lang  bei  derselben  Herrin  befunden,  ohne  je  an  Krämpfen  ge- 
litten zu  haben.    Die  Antecedentien  des  anderen  blieben  unbekannt.  — 

Wir  gehen  nun  zur  Widerlegung  der  Einwände  über,  die  man  gegen 
unsere  Versuche  erheben  könnte. 

Der  erste  Einwand,  der  bei  elektrischen  Reizversuchen  immer  von 
Sachverständigen*)  und  Nicht-Sachverständigen  vorgebracht  wird,  stützt 
sich  auf  die  Stromschleifen,  welche  zu  entfernteren  Theilen  gelangeii 
können.  Dieser  Einwand  ist,  wenn  wir  von  der  Frage  absehen,  ob 
Rinden-  oder  Marksubstanz  des  Grosshirns  erregbar  sei  leichter  als 
irgend  ein  anderer  zu  beseitigen.  Einmal  waren  die  von  uns  zu  den 
beweisenden  Experimenten  verwandten  Ströme  überhaupt  nur  schwach. 
Da  aber  die  Substanz  des  Gehirns    einen    sehr   grossen  Widerstand  be- 


*')  Üebrigens  dürfte  es  für  den  einen  oder  den  anderen  Leser  nicht  über- 
llüssig  sein,  zu  bemerken,  dass  unter  den  vielen  Aerzten,  denen  wir  unsere 
Versuche  demonstrirt  haben,  sich  auch  mehrere  gerade  in  dieser  Beziehung 
sehr  competente  Fachgelehrte  befanden.  z.B.  die  Herren  Prof.Nasse  (Marburg) 
und  Munk  (Berlin). 


—     23     — 

sitzt,  da  ferner  andere,  leitende  Thcile  nicht  in  der  Nähe  lagen,  da  endlicli 
die  Entfernung  der  Elektroden  von  einander  nur  gering  war,  so  konnte 
nach  den  Gesetzen  der  Stromvertheilung  in  uiclit  prismatischen  Leitern 
die  Strom  dichte  schon  in  sehr  geringer  Entfernung  von  den  Einströ- 
mungsstelleu nur  eine  minimale  sein.  Dies  würde  schon  a  priori  den 
fraglichen  Einwand  widerlegen.  Indessen  haben  wir  noch  eine  grosse 
Reihe  directer  Beweise  für  uns.  Sollten  die  Stromschleifen  erstens  zu 
den  peripherischen  Nerven  gelangen,  so  lagen  ihnen  immer  die  Nerven 
der  gleichnamigen  Seite  näher,  und  sie  hatten  nicht  den  entferntesten 
Grund  sich  ausschliesslich  zu  der  anderen  Seite  zu  begeben.  Ferner 
lagen  ihnen  noch  sehr  viel  näher  als  irgend  welche  andere  in  Frage 
kommenden  Nerven,  die  motorischen  Augennerven  derselben  Seite.  Der 
so  bewegliche,  so  im  labilen  Gleichgewicht  balancirte  Bulbus  bildet 
ohne  Präparation  zu  erfordern  das  vorzüglichste  physiologische  Rheo- 
skop,  er  würde  sich  auch  bei  minimalen  Stromschleifen  viel  eher  be- 
wegen, als  eine  Vorderextremität,  von  den  Hinterextremitäten  gar  nicht 
zu  reden.  Es  giebt  aber  an  der  ganzen  Convexität,  so  weit  man  sie 
freilegen  kann,  nicht  eine  einzige  Stelle,  von  der  aus  man  selbst  mit 
stärkeren,  als  den  von  uns  gewöhnlich  benutzten  Strömen,  irgend  eine 
Bulbusbewegung  erzielen  kann.  Hiermit  wäre  auch  ein  Theil  der- 
jenigen Frage,  welche  mich  zur  Aufnahme  dieser  Untersuchungen  ver- 
anlasste, erledigt*). 

Endlich  führen  wir  noch  eine  Thatsache  von  hohem  physiologischen 
und  pathologischen  Interesse  an.  Es  ist  die,  dass  mit  der  Verblu- 
tung die  Erregbarkeit  des  Gehirns  ungemein  schnell  sinkt, 
um  schon  vor  dem  Tode  fast  ganz  zu  erlöschen.  Un- 
mittelbar nach  dem  Tode  ist  sie  auch  gegen  die  stärksten 
Ströme  sofort  ganz  verloren,  während  Muskeln  und  Nerven 
vortrefflich  reagiren.  Dies  scheint  uns  zu  erfordern,  dass  Versuche 
über  die  Erregbarkeit  der  Centralorgane  bei  ungestörter  Circulation 
vorgenommen  werden.  — 

Man  könnte  zweitens  meinen,  wenn  auch  nicht  peripherische  Nerven 
oder  das  Rückenmark,  von  dem  genau  dasselbe  zu  sagen  wäre,  wie  von 
jenen,  so  würden  doch  andere.  Hirnprovinzen  als  die  grossen  Hemi- 
sphären von  Stromschleifen  getroffen.  Wenn  sich  dies  so  verhielte,  so 
würde  auch  der  Nachweis  der  elektrischen  Erregbarkeit  anderer  Hirn- 
provinzen ein  wichtiger  Fund  sein.  Denn  auch  von  den  Meisten  unter 
ihnen  wird  ja  gegenwärtig  allgemein  behauptet,    dass    sie  der  directen 


*)  Rücksichtlich   des  Centrums  für  die  graden  Augenmuskeln  verweise 
ich  auf  die  folgende  Abhandlung. 


—     24     — 

Erregung  unzugängig  seien.  Indessen  verhält  es  sich,  wie  selbst  für 
die  elektrische  Reizung  bewiesen  werden  kann,  eben  nicht  so.  Die- 
jenigen Theile,  denen  überhaupt,  wenn  auch  von  wenigen  Forschern, 
directe  Erregbarkeit  vindicirt  worden  war,  sind  hinterer  Theil  (Cauda) 
des  Nucleus  caudatus,  Thalam.  optic,  Hirnschenkel,  Vierhügel,  Brücke. 
Sehen  wir  einmal  vom  Nucleus  caudatus  ab,  so  liegen  die  sämmtlichen 
übrigen  eben  angeführten  morphologischen  Bestandtheile  des  Gehirns  so 
weit  nach  hinten,  dass  sie  alle  bei  Frontalschnitten  erst  getroffen  wer- 
den, wenn  man  nach  rückwärts  bei  den  nicht  mehr  reagirenden  Theil en 
des  Grosshirns  anlangt.  Einzig  ausgenommen  ist  der  Nucleus  caudatus, 
dessen  Cauda  gleichwohl  auch  schon  im  Bereich  der  unerregbaren *) 
Zone  liegt.  Es  wäre  also  möglich,  dass  gerade  der  vordere  oder  mitt- 
lere Theil  dieses  Ganglions,,  der  Theil,  welcher  unerregbar  sein  sollte, 
erregbar  und  die  Ursprungsstätte  unserer  Reizeffecte  wäre.  Von  vorn- 
herein war  Letzteres  schon  darum  unwahrscheinlich,  weil  bei  gleicher 
Stromstärke  die  Zuckungen  schon  aufhörten,  sobald  die  Elektroden  um 
wenige  Millimeter  ihren  Ort  veränderten. 

Nicht  zufrieden  mit  diesen,  wenn  auch  schlagenden  aprioristischen 
Beweisen,  betraten  wir  auch  den  Weg  des  directen  Beweises.  Zu  diesem 
Zwecke  gaben  wir  Karlsbader  Insectennadehi  eine  dichte  isolirende  Hülle 
dadurch,  dass  wir  sie  wiederholt  in  eine  Lösung  von  Gutta  percha  in 
Chloroform  tauchten.  Nur  die  Spitze  und  der  Kopf  wurde  leitend  er- 
halten. Senkten  wir  diese  Nadeln  nun  in  den  nach  rückwärts  ge- 
legenen Theil  des  Grosshirns  ein,  so  erhielten  wir  selbst  bei  unendlich 
viel  stärkeren  Strömen  keine  Spur  einer  Zuckung,  bis  die  dann  meh- 
rere Centimeter  tief  eingedrungenen  Rheophoren  die  Hirnschenkel  be- 
rührten. Dann  aber  bekam  das  Thier  unter  einem  heftigen  Sprunge 
allgemeine  Muskelerschütterungen.  Anders  wenn  in  gleicher  Weise  die 
vordere  Hälfte  des  Hirns  erregt  wurde.  Hätte  man  anzunehmen,  dass 
bis  zum  Nucleus  caudatus  gelangende  Stromschleifen  die  bei  oberfläch- 
licher Reizung  auftretenden  Zuckungen  auslösten,  so  müssten  die  letz- 
teren beim  Eindringen  der  Elektroden  sich  einfach  allmählich  ver- 
stärken. Dies  war  indessen  nicht  der  Fall,  sondern  die  Zuckungen  ver- 
breiteten sich  vielmehr  auf  andere  Muskeln  und  zeigten  überhaupt  ein 
anderes  Verhalten,  welches  noch  einer  besonderen  Untersuchung  bedarf s). 
Folglich  lässt  sich  mit  Bestimmtheit  annehmen,  dass  weder  das  ge- 
nannte Ganglion  noch  die  den  Hirnstock  zusammensetzenden  Gebilde 
an  den  von  der  Convexität  aus  erregten  Zuckungen  einen  Antheil  hatten. 


*)   Unerregbar  nennen  wir  hier  ohne  Präjudiz  alle  diejenigen  Gebiete, 
von  denen  aus  keine  Zuckungen  hervorzubringen  sind. 


-^     25     — 

Ein  anderer  Einwand,  der  erliotxii  werden  kcinntc^  und  (!(!(•  gegen 
alle  früheren  erfolgreichen  Reizversuche  an  den  Centralorganen  (Rücken- 
mark, Hirnstock)  erhoben  worden  ist,  würde;  sich  auf  rcflectorisches  Zu- 
standekommen der  Contractionen  stützen.  Auch  dieser  Einwand  lässt 
sich  durch  schlagende  Beweise  entkräften. 

Reflexe  könnten  ausgelöst  werden  durch  die  Nerven  der  Dura  und 
die  der  Pia  mater,  denn  vor  Erregungen  benachbarter  Nerven  der 
Schädelbedeckungen  waren  wir  durch  ausgiebige  Freilegung  der  Hirn- 
oberfläche geschützt.  Ausserdem  lagen  an  dem  einen  Wundrande  die 
theilweise  abgelösten  temporalen  Muskelmassen.  Diese  ihre  Erregbar- 
keit wohl  bewahrenden  Gebilde  hätten  uns  schon  schwache  Strom- 
schleifen sofort  verrathen  müssen.  Sensible  Fasejn  im  Grosshirn  selbst 
sind  aber  noch  nicht  nachgewiesen  oder  überhaupt  angenommen 
worden*).  Auch  giebt  die  gänzliche  ünempfindlichkeit  seiner  Substanz 
nicht  den  geringsten  Anhaltspunkt  für  eine  solche  Annahme. 

Was  nun  die  Dura  angeht,  so  haben  wir  schon  oben  (in  Ueberein- 
stiramung  mit  Longet  u.  A.)  angeführt,  dass  ihr  eine  gewisse  Empfind- 
lichkeit schon  im  physiologischen  Zustande  innewohnt,  dass  dieselbe 
sich  aber  nach  Eröffnung  der  Schädelkapsel  sehr  schnell  steigert.  Es 
empfiehlt  sich  deshalb  auch,  hurtig  zu  operiren,  weil  anderenfalls  das 
Versuchsthier,  selbst  wenn  es  festgebunden  ist,  durch  die  gewaltigsten 
Sprünge  die  Schonung  der  Hirnsubstanz  bei  Abtragung  dieser  Membran 
sehr  erschwert.  Hat  man  sie  aber  einmal  bis  zu  den  Knochenrändern 
abgetragen,  so  ist  man  vor  Reflexen  von  ihren  Nerven  aus  hinreichend 
geschützt.  Wir  versicherten  uns  dessen  auf  verschiedene  Weise.  Erstens 
lösten  wir  bei  unseren  Reizversuchen  ja  gekreuzte  Zuckungen  aus, 
während  Reflexe  immer  zuerst  auf  derselben  Seite  auftreten  (Pflueger). 
Zweitens  hörten  die  Zuckungen  bei  geringer  Orts  Veränderung  aber  bei 
gleicher  Entfernung  von  den  Resten  der  Dura  auf.  Drittens  hörten  sie 
selbst  dann  auf,  wenn  wir  der  Dura  näher  rückten,  vorausgesetzt,  dass 
wir    nicht    gerade    motorische  Centra  trafen.     Ja  wir   erhielten,    immer 

/  *)  Der  zweite  Theil  dieses  Satzes  ist  nicht  mehr  richtig.  Schiff  glaubt 
seither  auf  Grund  unserer,  von  ihm  bestätigter,  sowie  sehr  mannichfach  variirter 
eigener  Versuche  das  Vorhandensein  von  sensiblen  Muskelnerven  im  Grosshirn 
annehmen  zu  sollen.  Er  fasst  danach  unsere  Reizeffecte  als  Reflexe  auf, 
welche  durch  Reizung  jener  sensiblen  Muskelnerven  ausgelöst  würden.  Ich 
meinerseits  habe  die  thatsächliche  Uebereinstimmung  zwischen  einzelnen  Ver- 
suchen Schiffs  und  meinen  eigenen  Parallelversuchen  noch  nicht  herbei- 
führen können.  Unter  diesen  Umständen  halte  ich  es  für  besser  die  Discussion 
über  die  Deutung  auf  die  Zeit  zu  verschieben,  zu  der  über  ihre  nothwendige 
Basis  kein  Zweifel  mehr  bestehen  kann. 


—     26     — 

unter  der  zuletzt  genannten  Voraussetzung,  niclit  einmal  Zuckungen, 
wenn  die  Elektroden  dicht  an  der  Dura  aber  noch  auf  der  Hirnsubstanz 
standen.  Berührten  wir  jedoch  viertens  die  Dura  selbst,  so  traten  in 
vielen  Fällen,  auch  wenn  kein  Strom  sie  durchfloss,  auf  den  elektrischen 
Reiz  aber  immer  die  heftigsten  Reflexbewegungen  in  einer  höchst 
charakteristischen  Form  auf.  Diese  sahen  aber  ganz  anders  aus,  wie 
unsere  anderweiten  Reizeffecte.  Zunächst  trugen  sie  immer  das  Bild 
der  Zweckmässigkeit:  Zurückwerfen  des  Kopfes,  Contractionen  der 
Rückeurauskeln,  Geschrei  und  Winseln  selbst  in  der  Morphium-Narkose, 
selten  Bewegungen  der  F]xtr emitäten.  Ganz  anders  das  Bild  unserer 
Reizversuche.  Hier  liegen  häufig  selbst  nicht  narkotisirte  Thiere  unbe- 
weglich, gleichgültig  da,  während  wir  bald  eine  vordere,  bald  eine 
hintere  Extremität  durch  den  elektrischen  Reiz  in  Bewegung  setzen. 

Die  Pia  kann  man  freilich  nicht  in  gleicher  Weise  zurückpräpa- 
riren;  im  Gegentheil  muss  man  mit  ihr  so  schonend  wie  möglich  um- 
gehen. Denn  die  Verletzung  eines  einzigen  ihrer  zahllosen,  strotzenden 
Gefässe  überströmt  das  Operationsfeld  mit  Blut  und  kann  den  ganzen 
Versuch  scheitern,  das  Thier  nutzlos  geopfert  sein  lassen.  Indessen 
hindert  dies  nicht  den  Beweis  ihrer  Unwesentlichkeit  für  das  Zustande- 
kommen unserer  Reizeffecte.  Abgesehen  von  allen  den  Gründen,  die 
wir  schon  gelegentlich  der  Besprechung  der  Dura  anführten,  ist  Fol- 
gendes mehr  als  genügend.  Wir  fanden  die  Pia  (wie  auch  Longe t 
u.  A.)  unempfindlich.  Wir  umschnitten  sie  über  einem  motorischen 
Centrum  mit  Schonung  der  grösseren  Gefässe,  ohne  dass  der  Reizeffect 
sich  änderte.  Wir  trugen  sie  an  einer  solchen  Stelle  ab  ■ —  die  Zuckungen 
blieben  nie  aus.  Wir  stachen  isolirte  Nadeln  in  die  Hirnsubstanz  ein, 
auch  dann  noch  zuckten  die  Muskeln ,  wenn  es  im  Bereich  der  motori- 
schen Sphäre  geschah,  sie  zuckten  unter  keiner  von  allen  diesen  Be- 
dingungen, wenn  wir  die  hintere  Grenze  dieser  Sphäre  überschritten. 
Es  dürfte  übrigens  von  Interesse  sein,  an  dieser  Stelle  einzuschalten, 
dass  weder  die  Morphium-  noch  die  Aether-Narkose  einen  wesent- 
lichen Einfluss  auf  das  Gelingen  der  Versuche  hat. 

Endlich  wird  man  fragen,  wie  es  denn  kam,  dass  so  viele  frühere 
Forscher,  darunter  die  glänzendsten  Namen,  zu  entgegengesetzten  Re- 
sultaten gelangten.  Hierauf  haben  wir  nur  eine  Antwort:  „Die  Methode 
schafft  die  Resultate."  Es  ist  unmöglich,  dass  unsere  Vorgänger  die 
ganze  Convexität  freigelegt  haben,  denn  sonst  hätten  sie  Zuckungen  er- 
halten müssen.  Die  hintere  seitliche  Wand  des  Schädeldachs  des 
Hundes,  unter  der  allerdings  keine  motorischen  Theile  liegen,  empfiehlt 
sich  durch  ihre  Formation  für  das  Aufsetzen  der  ersten  Trepankrone. 
Hier    begann    man    wahrscheinlich  die  Operation    und    versäumte  nach 


—     27     — 

vorn  aufzubrechen,  indem  man  von  der  irrigen  Ansicht  ausging,  dass 
die  einzelnen  Felder  der  Oberfläche  gleichwerthig  seien.  Man  fusste 
auf  der  Eingangs  entwickelten,  noch  heut  weit  verbreiteten  Annahme  von 
der  Allgegenwärtigkeit  aller  seelischen  Functionen  in  allen  Theilen  der 
Grosshirnrinde.  Hätte  man  an  eine  Localisation  der  seelischen  Func- 
tionen auch  nur  gedacht,  so  würde  man  die  scheinbare  Unerregbarkeit 
einzelner  Theile  des  Substrats  als  etwas  Selbstverständliches  betrachtet 
und  keinen  seiner  Theile  ununtersucht  gelassen  haben.  Denn  dass  wir 
mit  unsereu  Reizen  Vorstellungen  zu  erwecken  oder  doch  etwa  erweckte 
am  vivisecirten  Thiere  zur  Anschauung  zu  bringen  vermöchten,  hat  wohl 
keiner  der  bisherigen  Forscher  vorausgesetzt. 

Dies  führt  uns  zur  Besprechung  einer  Frage,  die  wiewohl  unberech- 
tigter Weise  an  uns  gerichtet  werden  könnte.  Man  könnte  die  Erklärung 
der  Beobachtungen  von  uns  verlangen,  die  in  hinreichender  Zahl  über 
chirurgische  Verletzungen  des  Gehirns  ohne  Störung  irgend  welcher 
Functionen  vorliegen*).  Es  wäre  zunächst  gar  nicht  unsere  Sache, 
diesen  anscheinenden  Widerspruch  zu  lösen.  Denn  ehe  diese  Verpflich- 
tung uns  obläge,  müsste  maiT  uns  nachweisen,  dass  gerade  die  Partieen, 
von  denen  wir  reden,  verletzt  oder  verloren  waren  —  ein  etwas  schwie- 
riges Unternehmen.  Von  anderen  Theilen  der  CouA-exität  wissen  aber 
weder  wir  noch  Andere  etwas  Genaueres;  ausgenommen  etwa  das,  was 
man  von  der  dritten  Stirnwindung  weiss,  und  das  spricht  gerade  für 
uns.  Wie  gesagt,  der  Widerspruch  ist  nur  ein  scheinbarer,  die  Theile 
des  Grosshirns  sind  nicht  gleichwerthig. 

Es  scheint  uns  weiterhin  sehr  am  Platze,  an  folgende  diesen  Punkt 
vollkommen  treffende  Bemerkung  Griesinger's**)  zu  erinnern. 

„Gegen  die  meisten  dieser  Beobachtungen  Hessen  sich  mancherlei 
„Bedenken  erheben.  In  fast  allen-  Fällen  ist  nur  die  Intelligenz  im 
„engeren  Sinne  beachtet,    die  Gemüthsbeschaffenheit    und    der  Willeus- 


*)  Auch  ich  habe  einen  solchen  Fall  während  meiner  Thätigkeit  als  diri- 
girender  Arzt  am  allgemeinen  Garnisonlazareth  zu  Berlin  im  Jahre  1866  beob- 
achtet. Einem  Soldaten  (Angelmeier)  war  ein  Granatsplitter  genau  in  die 
Glabella  gedrungen  und  hatte  dort  ein  dreieckiges  Loch  gemacht.  Aus  diesem 
Loche  entleerte  sich  während  wenigstens  14  Tagen  immerwährend  Gehirnsub- 
stanz. Schliesslich  heilte  die  Wunde  von  selbst  zu.  Sehr  geistreich  war  dieser 
Kranke  nicht,  im  Gegentheil  schien  er  trägen  Verstandes.  Da  man  ihn  in- 
dessen vorher  nicht  gekannt  hatte,  so  war  nicht  zu  entscheiden,  ob  er  nicht 
von  Natur  geistig  arm  war.  Grobe  motorische  oder  sensible  Störungen  bot  er 
jedenfalls  nicht  dar. 

**)   Griesinger,  Die  Pathologie  und  Therapie  der  psychischen  Krank- 
heiten.   2.  Aufl.    Stuttgart  1861.   S.  4. 


—     28     — 

„zustand  ganz  unbeaclitct  geblieben .  und  auch  an  die  Intelligenz  wur- 
„den  gewöhnlich  nur  die  geringsten  Anforderungen  gemacht,  z.  B.  die 
„Beantwortung  einfacher,  ärztlicher  Fragen,  um  sie  für  unverletzt  zu 
„erklären.  In  keiner  dieser  Beobachtungen  ist  die  Intelligenz  in  ihrem 
„ganzen  Un;fange  geprüft  worden,  und  in  vielen  derselben,  nämlich  in 
„allen  Hospitalbeobachtungen  war  eine  Vergleichung  des  Geisteszustan- 
„des  nach  der  Erkrankung  oder  dem  Substanz  Verluste  mit  dem  früheren 
„schlechterdings  unmöglich  u.  s.  w." 

Griesinger  hat  hier,  wie  es  seine  Materie  erheischt,  lediglich  den 
psychischen  Zustand  im  Auge.  Genau  das,  was  er  von  der  Erforschung 
des  Zustandes  der  Seele  verlangt,  können  wir  mit  noch  grösserem  Recht 
rücksichtlich  somatischer  Functionen  fordern.  Wo  sind  die  Untersuchun- 
gen über  Muskeleigenschaften  oder  die  Qualitäten  der  Empfindung,  die 
gerade  hier  mehr  am  Platze  wären,  als  an  manchen  anderen  Orten,  an 
denen  sie  einen  sachlichen  Zweck  kaum  erkennen  lassen!  Wie  wohl 
begründet  diese  unsere  Forderung  ist,  das  werden  einige  Versuche 
lehren,  von  denen  im  Folgenden  noch  die  Rede  sein  wird. 

Blicken  wir  nun  auf  die  bisherigen  Resultate  unserer  Untersuchungen 
zurück  und  fragen  wir  uns,  was  durch  dieselben  an  Kenntniss  der  Eigen- 
schaften des  Centralorgans  gewonnen  ist,  so  liegt  uns  die  Pflicht  ob  zu 
unterscheiden  zwischen  dem,  was  mit  Recht  als  sicher  gefolgert  werden 
darf,  und  dem  was  nur  wahrscheinlich  gemacht  worden  ist. 

Als  einen  sicheren  Erwerb  können  wir  die  zweifellos  be- 
wiesene, in  jedem  Augenblick  zu  reproducirende  Thatsache 
bezeichnen,  dass  auch  centrale  Nervengebilde  zunächst  auf 
einen  unserer  Reize  mit  einer  in  die  Erscheinung  tretenden 
Reaction  antworten.  Dies  allein  hätte  schon  eine  nicht  geringe 
principielle  Bedeutung  für  die  Physiologie  insofern  damit  der  Widerspruch 
in  der  Definition  beseitigt  wird,  auf  den  neuerdings  Fick  mit  Recht 
hingewiesen  hat  und  an  den  der  Anfang  dieser  Arbeit  anknüpft. 

Ebenso  sichergestellt  ist  die  Thatsache,  dass  ein  beträcht- 
licher Theil  der  die  grossen  Hemisphären  zusammensetzen- 
den Nervenmassen,  man  kann  sagen  fast  ihre  eine  Hälfte, 
in  unmittelbarer  Beziehung  zur  Muskelbewegung  steht,  wäh- 
rend ein  anderer  Theil  offenbar  wenigstens  direct  nichts  da- 
mit zu  schaffen  hat.  So  einfach,  so  selbstverständlich  dies  nun 
scheinen  mag,  so  wenig  war  man  bisher  hierüber  in's  Klare  gekommen. 
Wir  beziehen  uns  zu  diesem  Zwecke  auf  das  gelegentlich  des  histori- 
schen Ueberblickes  Gesagte.  Sprach  man  von  solchen  Centren  im  Ge- 
hirn,   so  wurden    noch    in  neuester  Zeit  nur  basale  Theile,  Pons,  Tha- 


—     29     — 

lami  etc.  angeführt*),  und  bei  der  Erklärung  jener  Hcctionsbefuiido  hielt 
man  sich  vorsichtig  in  möglichst  allgemeinen  Ausdrücken.  Nur  wenige 
Gehirnanatomen,  unter  denen  namentlich  Meynert  zu  nennen,  hatten 
sich  bisher,  allerdings  in  anderer  Weise  als  Gall,  für  eine  strenge 
Localisation  der  einzelnen  psychischen  Facultäten  ausgesprochen. 

Werfen  wir  jedoch  die  Frage  auf,  ob  die  von  uns  ausgelösten  Reiz- 
effecte  durch  directe  Einwirkung  auf  diejenigen  Centren  der  grauen 
Rinde,  in  denen  der  motorische  Willensimpuls  entsteht,  hervorgebracht 
werden,  oder  ob  man  an  Reizung  der  Markfaserung  zu  denken  hat,  oder 
ob  noch  ein  Drittes  möglich  ist,  so  muss  unsere  Antwort  bei  Weitem 
reservirter  gehalten  werden. 

Nehmen  wir  selbst  an,  der  Beweis  für  Auslösung  der  fraglichen 
Bewegungserscheinungen  durch  die  gangliöse  Substanz  sei  geliefert  — 
und  er  ist  es  nicht  —  so  wäre  damit  noch  nicht  bewiesen,  dass  nun  bei 
denjenigen  Bewegungserscheinungen,  die  durch  inneres  Geschehen  frei 
werden,  gerade  dieser  Theil  der  Rinde  das  Substrat  abgiebt  für  das 
erste  nach  aussen  gerichtete  Glied  in  der  Kette,  welche  beginnt 
mit  dem  ersten  Entstehen  eines  sinnlichen  Eindruckes,  und  ihr  vor- 
läufiges Ende  findet  mit  dem  als  Muskelbewegung  erscheinenden  Aus- 
druck des  Wollens. 

Es  ist  vielmehr  nicht  undenkbar,  und  kann  namentlich  durch  das, 
was  wir  in  anatomischer  Beziehung  über  den  anastomosirenden  Bau 
dieser  Theile  wissen,  nicht  ausgeschlossen  werden,  dass  der  Hirntheil, 
welcher  die  Geburtsstätte  des  Wollens  der  Bewegung  einschliesst, 
noch  ein  anderer  oder  vielleicht  ein  vielfacher  ist,  dass  die  von  uns 
Centra  genannten  Gebiete  nur  Vermittler  abgeben,  Sammelplätze,  auf 
denen  ähnliche  aber  zweckmässigere  Anordnungen  der  Muskelbewe- 
gungen geschehen,  als  in  der  grauen  Substanz  des  Rückenmarks  und 
der  Hirnbasis.  In  wie  weit  sogar  eine  gewisse  physiologische  Berech- 
tigung, dieser  Anschauung  einen  Platz  zu  lassen,  von  uns  aufgedeckt 
ist,  werden  wir  bald  sehen. 

Nachdem  wir  in  dieser  Zurückhaltung  den  rein  psychologischen 
Möglichkeiten  den  weitesten  Spielraum  gegönnt  haben,  und  wir 
heben  dies  ausdrücklich  hervor,  wenden  wir  uns  zu  der  Erörterung  der 
Frage  nach  dem  Werthe  der  grauen  und  der  weissen  Substanz  für  das 
Zustandekommen  der  von  uns  beschriebenen  Reizeffecte.  Wird  die 
Frage    in    dieser  Form    gestellt,    so    dürfte    es   zu    einem  Theil  bereits 


*)  Vgl.  z.  B.  Griesinger  a,  a.  0.  S.  4  und  viele  andere  Autoren,  doch 
auch  derselbe  S.  23. 


—     30     — 

jetzt  möglich  sein  sie  befriedigend  zu  beantworten.  Wollte  man  aber 
statt  der  allgemeineren  Begriffe  graue  und  weisse  Substanz  die  Worte 
Fasern  und  Zellen  sich,  einander  gegenüberstellen,  so  Hesse  sich  auch 
die  Möglichkeit  einer  Lösung  bisher  nicht  absehen.  Denn  da  sich  in 
der  grauen  Substanz  Fasern  und  Zellen  untrennbar  mischen,  ist  eine 
isolirte  Untersuchung  der  einzelnen  morphologischen  ßestandtheile  un- 
ausführbar. Selbst  wenn  also  der  directe  Beweis  der  Erregbarkeit  auch 
für  die  graue  Substanz  geführt  worden  wäre,  würde  man  immer  noch 
einwenden  können,  dass  nicht  die  Ganglienzellen,  sondern  die  zwischen 
ihnen  verlaufenden  Nervenfasern  dieser  Substanz  den  eigentlich  erregten 
Theil  abgäben.  —  Für  den  Augenblick  steht  die  Frage  so,  dass  wir 
durch  die  oben  angeführten  Versuche  über  das  Einstechen  isolirter 
Nadeln  die  Erregbarkeit  der  Marksubstanz  hinlänglich  bewiesen  haben. 
Da  nun  die  wesentlichen  nervösen  ßestandtheile  der  Marksubstanz  — 
die  Nervenfasen  —  sich  mit  den  gleichen  anatomischen  Eigenschaften 
in  die  Rindensubstanz  fortsetzen,  liegt  kein  Grund  vor  eine  wesent- 
liche Aenderung  ihrer  physiologischen  Eigenschaften  eher  anzunehmen 
als  ihre  anatomische  Continuität  durch  neue  Gebilde  unterbrochen  wird. 
Aus  diesem  Grunde  lässt  sich  die  Erregbarkeit  eines  Theiles  der  Fasern, 
auch  der  Rinde,  mit  Recht  voraussetzen.  Ob  dieselben  nun  allein  oder 
ob  auch  die  Zellen  erregbar  sind,  das  ist,  wie  gesagt,  mit  den  bis- 
herigen Mitteln  nicht  hinlänglich  sicher  zu  entscheiden. 

Gleichwohl  lässt  sich  auf  indirecteni  Wege  ein  einigermaassen 
wahrscheinlicher  Schluss  auf  die  Function,  wenn  auch  nicht  auf  die 
Erregbarkeit  des  zelligen  Theiles  der  Rinde  ziehen.  Wir  sahen  bei 
Beschreibung  unserer  Experimente,  dass  auf  die  minimale  Stromstärke 
Muskelcontractionen  nur  eintreten,  wenn  die  Elektroden  sich  auf  ganz 
bestimmten  Stellen  befinden  und  dass  sie  aufhören  oder  in  anderen 
Muskeln  erscheinen,  wenn  die  Elektroden  sich  von  den  gedachten 
Stellen  auch  nur  um  ein  Geringes  entfernen.  Dies  Verhalten  lässt  nur 
zwei  Möglichkeiten  zu.  Entweder  der  Reiz  wird  durch  die  in  unmittel- 
barer Nähe  der  Elektroden  liegenden  Ganglienzellen  selbst  aufgenommen 
und  durch  sie  in  Muskelbewegung  umgesetzt,  oder  gerade  an  diesen 
Stellen  treten  reizbare  Markfasern  besonders  nahe  an  die  Oberfläche, 
so  dass  sie  für  die  Erregung  besonders  günstig  gelagert  sind.  Da  nun 
kein  anderer  Grund  zu  erkeimen  ist,  wegen  dessen  die  fraglichen 
Markfasern  sich  gerade  hier  den  Ganglienzellen  am  Meisten  nähern 
sollten,  als  um  ihrem  Schicksale,  in  jene  einzutreten,  entgegenzugehen, 
so  kann  man  allerdings  annehmen,  dass  gerade  jene  Ganglienmassen 
zur  Production  organischer  Reize  für  gerade  jene  Nervenfasern  be- 
stimmt sind, 


—     31     — 

Ob  nun  eine  gewisse  gewöhnlich  zusammenwirkende  Summe  dieser 
organischen  Reize  genau  dieselbe  Bewegungsäusserung  hervorbringt  wie 
unser  elektrischer  Reiz,  das  lässt  sich  durch  die  bisher  angewendeten 
Methoden  ganz  und  gar  nicht  entscheiden.  Denn  die  einfache  Lehre 
von  den  specifischen  Energieen  genügt  hier  nicht,  wir  müssen  vielmehr 
für  die  gefundenen  neuen  Thatsachen  einen  neuen  Gesichtspunkt  ent- 
wickeln. Wir  haben  hier  nicht  Nervenfasern,  die  geraden  Weges  zum 
Endorgan  verlaufen,  sondern  ehe  von  der  centralsten  Stelle  des  Gross- 
hirns entspringende  Fasern  dorthin  gelangen  können,  haben  sie  erst 
eine  Anzahl  von  mehr  und  mehr  peripher  gelegenen  Stationen  zu 
passiren,  in  deren  jeder  ihre  frei  gewordenen  Spannkräfte  in  einer  be- 
stimmten, nicht  genauer  bekannten  Weise  umgesetzt  werden,  damit  da- 
raus das  werde,  was  wir  eine  zweckmässige  Bewegung  nennen.  Es  ist 
nun  selbstverständlich,  dass  wir  durch  einen,  auf  irgend  einem  Punkte 
dieser  Bahn  angebrachten  Reiz  höchstens  nur  das  zur  Anschauung 
bringen  können,  was  auf  der  mehr  peripher  gelegenen  Strecke  und  den 
mehr  peripher  gelegenen  Stationen  vor  sich  zu  gehen  pflegt,  während 
die  Functionen  der  centraleren  Stationen  sich  der  Beobachtung  entziehen. 
Ja  selbst  dies  lässt  sich  nur  mit  einer  gewissen  Beschränkung  aus- 
sprechen, insofern  als  zur  Hervorbringung  einer  bestimmten  Bewegungs- 
modalität die  Erregung  einer  grösseren  Summe  von  Fasern  erforder- 
lich ist,  die  gleichwohl  in  den  Centralorganen  nicht  so  bequem  bei- 
sammen liegen,  als  im  Stamm  eines  peripheren  Nerven.  Indessen  giebt 
es  einen  anderen  Weg,  die  Frage  nach  der  Bedeutung  der  einzelnen 
Theile  der  Rinde  experimentell  zu  lösen:  es  ist  die  Exstirpation 
circumscripter  und  genau  bekannter  Theile  derselben.  Auch 
diesen  langwiei'igen  Weg  haben  wir  in  folgender  Weise  zu  betreten  be- 
gonnen. 

Zwei  Hunden  wurde,  nachdem  die  Weichtheile  zurückpräparirt 
waren,  der  Schädel  durch  eine  Trepankrone  an  der  Stelle  eröffnet,  wo 
wir  das  Centrum  für  die  rechte  vordere  Extremität  vermutheten.  Wir 
wählten  das  Centrum  für  eine  Extremität,  weil  an  einer  solchen  etwaige 
motorische  Erscheinungen  am  deutlichsten  hervorti-eten  mussten,  und 
wir  wählten  nicht  das  Centrum  für  die  hintere  Extremität,  weil  dessen 
Lage  uns  möglicherweise  der  Eröffnung  des  Sin.  longitudin.  ausgesetzt 
hätte.  Alsdann  wurde  die  Dura  der  freigelegten  Stelle  entfernt,  es 
wurde  durch  elektrische  Reizung  festgestellt,  dass  wir  die  gewollte 
Stelle  getroffen  hatten,  die  Pia  wurde  soweit  als  erforderlich  um- 
schnitten und  nun  mit  einem  feinen  Scalpellstiel  ein  wenig  von  der 
Rindensubstanz  herausgehoben.  In  dem  einen  Falle  war  das  entfernte 
Stück  etwa  so  gross  wie  eine  kleine  Linse,  in  dem  anderen  Falle  etwas 


—     32     — 

grösser.  Dann  wurde  die  Hautwunde  diu'ch  Knoi)fnähte  vereinigt.  In 
dem  ersten  Falle  hatte  das  Thier  bei  der  ganzen  Operation  nur  einige 
Tropfen  Blut  verloren,  in  dem  anderen  Falle  war  die  Blutung  nicht 
unbeträchtlich.  Der  erste  Fall  heilte  per  primam,  der  andere  Fall  nicht. 
Beide  Versuchsthiere  boten  nur  dem  Grade  nach  verschiedene  Symptome 
dar.  Der  Art  nach  war  ihr  Krankheitsbild  rücksichtlich  der  motorischen 
Störungen  so  conform  als  möglich.  Diese  vollkommene  Uebereinstim- 
mung  dei'  Resultate  beider  Versuche  und  deren  Wichtigkeit  für  sämmt- 
liche  aus  unsern  anderen  Versuchen  entspringenden  Anschauungen  ver- 
anlasst uns,  ihrer  hier  schon  Erwähnung  zu  thun,  obwohl  wir  vor 
irgend  einer  Publication  gern  noch  mehr  gleichlautende  Erfahrungen 
gesammelt  hätten.  Die  Nothwendigkeit,  dieser  Arbeit  einen  vorläufigen 
Abschluss  zu  geben,  verhinderte  uns  bisher  daran,  und  im  Uebrigen 
wird  mau  sehen,  dass  für  die  von  uns  ad  hoc  zu  ziehenden  Schlüsse 
schon  ein  einziger  gelungener  Versuch  genügt. 

Beide  Versuchsthiere  zeigten  nun  unmittelbar  nach  der  in  der  Mor- 
phium-Narkose vorgenommenen  Operation  etwas  allgemeine  Schwäche, 
die  bald  vorüberging.  Dann  aber  beobachtete  man  in  Kurzem  Fol- 
gendes: 

I.  Beim  Laufen  setzten  die  Thiere  die  rechte  Vorderpfote  unzweck- 
mässig auf,  bald  mehr  nach  innen,  bald  mehr  nach  aussen  als  die 
andere,  und  rutschten  mit  dieser  Pfote,  nie  mit  der  anderen,  leicht  nach 
aussen  davon,  so  dass  sie  zur  Erde  fielen.  Keine  Bewegung  fiel  ganz 
aus,  indessen  wurde  das  rechte  Bein  etwas  schwächer  angezogen. 

II.  Beim  Stehen  ganz  ähnliche  Erscheinungen.  Ausserdem  kommt 
es  vor,  dass  die  Vorderpfote  mit  dem  Dorsum  statt  mit  der  Sohle  auf- 
gesetzt wird,  ohne  dass  der  Hund  etwas  davon  merkt. 

III.  Beim  Sitzen  auf  dem  Hintertheil,  wenn  beide  Vorderpfoten  auf 
der  Erde  stehen,  rutscht  das  rechte  Vorderbein  allmählig  nach  Aussen 
davon,  bis  der  Hund  ganz  auf  der  rechten  Seite  liegt. 

Unter  allen  Umständen  kann  er  sich  aber  sofort  wieder  aufrichten. 
Die  Hautsensibilität  und  die  Sensibilität  auf  tiefen  Druck  zeigt  an  der 
rechten  Vorderpfote  keine  nachweisbaren  Abweichungen. 

Am  schlagendsten  fiel  bei  dem  ersten  Hunde*)  noch  zu  einer  Zeit, 
als  die  Wunde  längst  geheilt,  alle  Reaction  vorbei  war,  am  15.  und 
sogar  noch  am  28.  Tage  nach  der  Operation  folgender  Versuch  aus. 

Man  setzte  dem  Hunde,  während  er  stand,  die  rechte  Vorderpfote 
auf  ihren  vorderen,    oberen  Rand  so  nach  innen  und    hinten,    dass    sie 


*)  Der  zweite  wird  bei  diesem  Versuche  nicht  erwähnt,   da  er  aus  ex- 
perimentellen Gründen  nur  dreibeinig  war 6). 


—     33     — 

zwischen  den  anderen  drei  Beinen  stand.  Verhinderte  man  niui  durch 
Streicheln  den  Hund,  Ortsbewegungen  vorzunehmen,  so  liess  er  die  Pfote 
beliebig  lange  in  dieser  unbequemen  Stellung.  Kam  aber  irgend  ein 
Bewegungsimpuls  über  ihn,  so  lief  er  davon,  sein  krankes  Bein  last 
ebenso  munter  bewegend,  wie  die  anderen  drei.  Derselbe  Versuch  war 
mit  dem  linken  Beine  gar  nicht  zu  machen,  da  das  Thierchen  dieses 
Glied  immer  schon  wieder  zurückzog  und  in  seine  frühere  bequeme 
Stellung  brachte,  ehe  man  damit  in  die  gewollte  Stellung  kommen 
konnte.  — 

Wir  ersparen  uns  auch  hier  alle  weiteren  Schlüsse  und  Betrach- 
tungen, namentlich  gewisse  Vergleiche  mit  der  menschlichen  Pathologie 
für  eine  andere  Gelegenheit,  und  constatiren  nur  Folgendes  als  wesent- 
lich für  die  vorliegende  Arbeit.  Die  beiden  Versuchstliiere  hatten  durch 
Exstirpation  eines  Theils  des  von  uns  sogenannten  Ceutrums  für  die 
Vorderextremität  die  Möglichkeit,  die  letztere  zu  bewegen,  nur  unvoll- 
kommen verloren,  und  an  der  Sensibilität  w^ahrscheinlich  gar  nichts 
eingebüsst.  Aber  sie  hatten  offenbar  nur  ein  mangelhaftes  Bewusst- 
sein  von  den  Zuständen  dieses  Gliedes,  die  Fähigkeit,  sich  voll- 
kommene Vorstellungen  über  dasselbe  zu  bilden,  war  ihnen  ab- 
handen gekommen;  sie  litten  also  an  einem  Symptome,  welches  in  einer 
sehr  ähnlichen  Weise  bei  einer  Form  der  Krankheitsgruppe  Tabes  vor- 
kommt, nur  dass  Verletzung  einer  sensiblen  Leitungsbahn  hier  sicher 
nicht  vorlag.  Man  könnte  sich,  um  diesen  Zustand  näher  zu  bezeich- 
nen, vielleicht  so  ausdrücken:  Es  bestand  noch  irgend  eine  moto- 
rische Leitung  von  der  Seele  zum  Muskel,  während  in  der  Leitung  vom 
Muskel  zur  Seele  irgendwo  eine  Unterbrechung  vorhanden  war.  Mög- 
licherweise betraf  diese  Unterbrechung  die  Endstation  der  hypothetischen 
Bahn  für  den  Muskelsinn,  jedenfalls  hatte  sie  aber  ihren  Sitz  an  Stelle 
des  von  uns  verletzten  Centrums. 

Wie  dem  nun  auch  sei,  es  ist  gewiss,  dass  eine  Verletzung  dieses 
Centrums  die  willkürliche  Bewegung  des  von  ihm  sicher  in  einer  ge- 
wissen Abhängigkeit  stehenden  Gliedes  nur  alterirt,  nicht  aufhebt,  dass 
also  irgend  einem  motorischen  Impulse  noch  andere  Stätten  und  Bahnen 
offen  stehen,  um  geboren  zu  wei'den  und  um  zu  den  Muskeln  jenes 
Beines  zu  eilen,  dass  unsere  Reservation  (siehe  oben  S.  31)  vollkom- 
men am  Platze  war.  Es  ist  aber  ferner  ebenso  sicher,  dass  eine 
solche  Verletzung,  obwohl  ihre  Erheblichkeit  gegen  die  Abtragungen 
von  Flourens,  Hertwig  u.  A.  A'erschwindet,  sehr  deutlich  wahr- 
nehmbare Symptome  hervorbringt,  wenn  man  nur  den  rechten  Ort 
trifft;  und  zwar  sind  die  Symptome  gerade  an  demjenigen  Gliede  wahr- 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     I.  Theil.  3 


—     34     — 

nehmbar,    dessen  Muskeln  sich  vorher  auf   elektrische  Reizung  der  mm 
zerstörten  Massen  contrahirten. 

Hieraus  geht  zur  Evidenz  hervor,  dass  bei  den  früheren  colossalen 
Verstümmelungen  des  Hirns  entweder  andere  Theile  gewählt  worden 
sind,  oder  dass  den  feineren  Verrichtungen  der  Bewegungsmechanismen 
nicht  die  nöthige  Aufmerksamkeit  geschenkt  wurde.  Es  geht  ferner 
aus  der  Summe  aller  unserer  Versuche  hervor,  dass  keineswegs,  wie 
Flourens  und  die  Meisten  nach  ihm  meinten,  die  Seele  eine  Art  Ge- 
sammtfunction  der  Gesammtbeit  des  Grosshirns  ist,  deren  Ausdruck  man 
wohl  im  Ganzen,  aber  nicht  in  seinen  einzelnen  Theilen  durch  mecha- 
nische Mittel  aufzuheben  vermag,  sondern  dass  vielmehr  sicher 
einzelne  seelische  Functionen,  wahrscheinlich  alle,  zu  ihrem 
Eintritt  in  die  Materie  joder  zur  Entstehung  aus  derselben  auf 
circumscripte  Centra  der  Grosshirnrinde  angewiesen  sind.  — 


Anmerkungen. 

2)  In  der  Folge  hat  sich  gezeigt,  dass  der  Schluss,  welcher  mich  zur 
Anstellung  dieser  Versuche  anregte,  unrichtig  war.  Die  fraglichen  Augen- 
bewegungen werden  nicht  durch  directe  Reizung  des  Gehirns,  sondern  indirect 
durch  Elektrotonisirung  der  Nervi  vestibuläres  hervorgebracht.  Es  ist  nicht  das 
erste  oder  einzige  Mal,  dass  eine  falsche  Prämisse  zur  Aufdeckung  richtiger 
Thatsachen  führte.  Meinen  gegenwärtigen  Standpunkt  in  dieser  Frage  habe 
ich  in  meiner  Arbeit  über  den  Schwindel  in  Nothnagel's  Specieller  Patho- 
logie und  Therapie,  Bd.  XII.  2.  dargelegt. 

3)  Ich  habe  mich  später  überzeugt,  dass  es  Ausnahmen  von  der  Regel 
giebt.  In  der  Regel  findet  man  vier  Windungsbogen,  die  sich  um  die  Fossa 
Sylvii  lagern;  der  hintere  Schenkel  der  einen  oder  der  anderen  von  ihnen 
gabelt  sich  gewöhnlich.  Es  kommt  aber  vor,  dass  man,  sei  es  vor,  sei  es  hin- 
ter der  Sylvischen  Grube  nur  3  Bogen  auseinanderhalten  kann.  Diese  That- 
sache  hat  eine  über  die  Morphologie  hinausreichende  Wichtigkeit. 

4)  Diese  Beobachtungen  haben,  soviel  ich  sehe,  nur  durch  Paul  Ger- 
ber, welcher  unter  Leitung  L.  Hermann 's  arbeitete,  eine  Nachprüfung  er- 
fahren. (Beiträge  zur  Lehre  von  der  elektrischen  Reizung  des  Grosshirns. 
Pflüger's  Archiv.  Bd.  39.  S.  397 ff.  1886.)  Er  fand  zunächst,  „dass  in 
den  meisten  Versuchen  in  scheinbar  regelloser  Weise  bald  die  Anode,  bald  die 
Kathode  in  der  Wirkung  überwog.  Allein  allmählich  wurde  bemerkt,  dass  in 
ganz  frischem  Zustande  der  eben  blossgelegten  Hirnoberfläche  in  der  Regel 
die  Kathodenseite  die  niedrigere  Reizschwelle  hatte,  während  längere  Zeit 
nach  der  Blosslegung  und  nach  dem  Beginn  der  Reizungen  in  der  Regel  das 
von  Hitzig  angegebene  Verhalten  stattfand".  „In  einigen  Fällen  gelang  es, 
das  üeberwiegen  der  Kathode  künstlich  dadurch  zu  beseitigen,  dass  die  Rinde 


—     35     — 

der  betreffenden  Seite  (es  wurde  doppelseitig  das  Centrurn  für  den  Lidschluss 
untersucht)  mit  Kreosot  angeätzt  wurde."  Wurde  die  geätzte  und  die  un- 
geätzte  Seite  durch  unpolarisirbare  Elektroden  mit  den  Hydrorollcn  einer 
Spiegelbussole  verbunden,  so  erwies  sich  die  geätzte  Stolle  stark  negativ  gegen 
die  ungeätzte. 

Auf  die  Veränderungen,  denen  das  blossgelegte  Hirn  ausgesetzt  ist,  hatte 
ich  bereits  (S.  unten  S.  37)  aufmerksam  gemaciit. 

5)  Das  „andere  Verhalten",  von  dem  hier  die  Rede  ist,  besteht  in  einer 
Verkürzung  der  Latenzzeit  gegenüber  der  bei  Reizung  der  unversehrten  Rinde 
zu  beobachtenden  Latenzzeit.  Auch  der 'Ablauf  der  Zuckungen  erschien  in 
beiden  Fällen  nicht  gleichartig.  Diese  Erscheinungen  Hessen  sich  mit  blossem 
Auge  rein  qualitativ  sehr  wohl  erkennen.  Ihre  weitere  Verfolgung,  die  nur 
auf  dem  graphischen  Wege  geschehen  konnte,  musste  ich  mir  aber  versagen, 
da  in  dem  damaligen  physiologischen  Institute  an  Warmblütern  nicht  operirt 
werden  durfte  und  ich  somit  mit  diesen  Versuchen  auf  meine  Privatwohnung 
und  meine  eigenen  Hülfsmittel  angewiesen  war.  Später  haben  Bubnoff  und 
Heidenhain,  sowie  Prangois-Prank  und  Pitres  den  Gegenstand  in  der 
bezeichneten  Weise  bekanntlich  weiter  verfolgt.  Vgl.  übrigens  die  folgende 
Abhandlung  S.  54. 

6)  Goltz  hat  später  Versuche  angestellt,  bei  denen  er  einem  Hunde 
das  eine  gesunde  Bein  an  dem  Halsband  befestigte,  um  zu  constatiren,  dass 
ein  im  Gyrus  sigmoides  operirter  Hund  auch  auf  drei  Beinen  laufen  könne. 
Uns  war  dies  schon  damals  nicht  unbekannt.  Ja,  bei  dem  erwähnten  Hunde 
war  sogar  das  Hinterbein  der  gleichen  Seite  durch  eine  Gontractur,  die  das- 
selbe gegen  den  Rumpf  zog,  zum  Gebrauch  untüchtig  geworden.  Gleichwohl 
konnte  er  laufen. 


III.    Untersuchungen  zur  Physiologie  des  Orosshirns. 

Die  vorliegenden  Untersuchungen  schliessen  sich  unmittelbar  dem 
Inhalte  der  vorstehenden  Arbeit  an.  Die  in  jener  mitgetheilten  Ver- 
suche mussten  sich  insofern  sie  ein  ganz  neues  Gebiet  eröffneten,  natür- 
lich nur  auf  eine  mehr  allgemeine  Bearbeitung  der  wichtigsten  Fragen 
beschränken.  Dass  das  Detailstudium  jeder  Einzelnen  derselben  wieder 
das  Object  besonderer  Arbeit  würde  sein  müssen,  war  vorauszusehen. 

Nachdem  sich  nun  der  Fortsetzung  der  von  Fritsch  und  mir  zum 
ersten  Male  mit  nachgewiesenem  Erfolg  am  Grosshirn  ausgeführten 
Lähmungsversuche  ein  anderer  Forscher  mit  vielem  Glücke  zugewendet 
hat,  werde,  ich  mich  vorerst  auf  die  Mittheilung  von  Reizversuchen  be- 
schränken. Ich  begann  dieselben  bereits  im  Jahre  1870,  konnte  sie  je- 
doch erst  mit  Beginn  des  Jahres  1873  wieder  aufnehmen.  Auch  mit 
ihnen  beanspruche  ich  nicht  etwas  Abgeschlossenes,  sondern  lediglich 
die  Resultate  einer  längeren  Arbeitsperiode  zu  geben. 

1.    Polare  Einflüsse. 

Wir  hatten  in  jener  Abhandlung  bereits  ein  constantes  Vorwiegen 
der  Anode  erwähnt.  Wir  fanden,  dass  innerhalb  der  minimalen  Strom- 
stärke nur  die  Anode,  nicht  aber  die  Kathode  eine  Zuckung  auslöst, 
ferner  dass  durch  eine  vorgängige  Wendung  die  Erregbarkeit  gegen 
beide  Elektroden  erhöht  wird. 

Da  die  beiden  Elektroden  sich  hier  ganz  anders  verhalten,  wie  an 
peripheren  Nerven,  so  war  es  unerlässlich,  wenigstens  die  Kenntniss  von 
den  Thatsachen  so  weit  als  möglich  zu  befestigen  und  zu  vervollstän- 
digen, wenn  sich  auch  eine  Erklärung  derselben  vielleicht  noch  nicht 
geben  liess.  Den  hierauf  gerichteten  Bemühungen  standen  grosse  ex- 
perimentelle Schwierigkeiten  entgegen,  die  sich  bei  einem  Theile  der 
später  anzuführenden  Versuche  wiederholten  und  die  ich  deshalb  hier 
ein  für  alle  Mal  erwähne.  Das  Eintreten  oder  Ausbleiben  eines  Reiz- 
effectes  ist  immer  abhängig  einmal  von    dem  eigenen  Verhalten  des  zu 


—     37     — 

reizenden  Organcs,  dann  von  der  Art  und  Grösse  der  erzielten  elektri- 
schen Dichtigkeitsschwankungen.  Mit  Sicherheit  vergleichbare  Resultate 
lassen  sich  nur  erreichen,  wenn  der  eine  Factor  wenigstens  constant  er- 
halten werden  kann.  Die  Reizversuche  am  Grosshirn  haben  aber  den 
Uebelstand,  dass  beide  Factoren  unbeabsichtigten  Veränderungen  unter- 
worfen sind. 

Die  Veränderungen  am  Gehirn  selbst  beginnen,  namentlich  wenn 
das  Versuchsthier  nicht  narkotisirt  ist,  mit  und  durch  die  vorbereitende 
Operation.  Ist  das  Gehirn  freigelegt,  so  beginnt  es  zu  erkalten  und  zu 
betrocknen,  allmählich  auch  zu  collabiren.  Diese  letzteren  Verände- 
rungen gehen  indessen  mit  einer  gewissen  Stetigkeit  und  Langsamkeit 
vor  sich,  so  dass  man  sie  allenfalls  controliren  kann.  Der  plötzlichen 
üeberfluthung  des  Versuchsfeldes  durch  Cerebrospinalflüssigkeit  lässt 
sich  begegnen,  wenn  man  einen  kleinen  von  Zeit  zu  Zeit  zu  erneuern- 
den Schwamm  an  einer  basalwärts  gelegenen  Stelle  zwischen  Hirn  und 
M.  temporalis  anbringt.  Unberechenbar  sind  jedoch  die  in  jedem 
Augenblicke  wechselnden  Veränderungen,  durch  welche  die  reizenden 
Stromstösse  in  ihrem  absoluten  Reizwerthe  beeinflusst  werden.  Ein  zu 
untersuchender  Nerv  liegt  den  Elektroden  gleichmässig  an;  das  Gehirn 
aber  befindet  sich  in  fortwährender  Bewegung  sowohl  durch  die  Respi- 
ration als  durch  die  arterielle  Pulsation.  (Die  durch  letztere  bewirkten 
Bewegungen  lassen  sich  in  der  Apnoe,  als  die  Gesammtmasse  des  Ge- 
hirns verschiebend,  vortrefflich  beobachten.)  Da  man  mit  der  Strom- 
stärke des  Zuckungsminimums  zu  untersuchen  hat,  so  kommt  dieser 
Umstand  wesentlich  in  Betracht. 

Ferner  machen  die  Thiere  nicht  selten  mit  dem  ganzen  Körper  un- 
vermuthete  Bewegungen.  Wenn  man  nun  auch  durch  grosse  Aufmerk- 
samkeit das  Eindringen  der  Elektroden  in's  Gehirn  und  die  dadurch 
gesetzte  Vereitelung  des  Versuches  vermeiden  kann,  so  muss  man  sich 
doch  nach  jeder  willkürlichen  Bewegung  die  eben  inne  gehabte  Stelle 
von  Neuem  aufsuchen  imd  damit  den  Versuch  von  Neuem  beginnen. 
Endlich  gewinnt  auch  die  zum  Halten  des  Elektrodenpaares  unentbehr- 
liche menschliche  Hand  nicht  annähernd  die  gleichmässige  Sicherheit 
einer  mechanischen  Vorrichtung. 

Unter  diesen  Umständen  ist  die  am  Nerven  immer  zu  erzielende 
Gleichmässigkeit  der  Erscheinungen  am  Hirn  um  so  weniger  zu  er- 
reichen, als,  wie  wir  sehen  werden,  durch  jeden  Reizversuch  selbst  er- 
hebliche Veränderungen  der  Erregbarkeit  entstehen.  Wahrscheinlich 
spielen  obenein  die  Lebeusvorgänge  innerhalb  des  Organes  eine  Rolle, 
von  der  wir  uns  keine  Vorstellung  machen  können. 

So  musste  ich  denn  zufrieden  sein,  wenn  ich  durch  häufige  Wieder- 


~     38     — 

boliing    derselben  Versuche  dahin  kam,    die  eintretenden  Zufälligkeiten 
auf  ihren  wahren  Werth  zurückzuführen. 

Die  Anordnung  der  Versuche  war  ähnlich  der  in  der  vorstehenden 
Abhandlung  beschriebenen.  Nur  benutzte  ich  diesmal  eine  10 gliederige 
Kette  von  kleinen  Meidingern,  die  einen  etwas  schwächeren  Strom 
gaben  als  die  Pappelemente,  ferner  konnte  der  Widei'stand  der  Neben- 
schliessung um  einzelne  S.  EE.  verändert  werden,  endlich  war  die 
Leitung  überall  durch  Schrauben  oder  Quecksilber  vermittelt.  Die  Ver- 
suche wurden  an  Hunden  ausgeführt.  — 

Wenn  man  die  Reaction  eines  beliebigen  Centrums  von  den 
schwächsten  Strömen  ausgehend  untersucht,  so  findet  man  regelmässig, 
dass  bei  zunehmender  Stromintensität  die  erste  Zuckung  durch  die 
Stromwendung  hervorgebracht  wird,  und  zwar  wenn  dabei  die  Anode 
auf  das  Cen,trum  kommt.  Dann  fängt  die  einfache  Anoden-Schliessung 
au,  wirksam  zu  werden,  dann  die  Wendung  auf  die  Kathode,  endlich 
die  Kathoden-Schliessung. 

Untersucht  man  mit  jeder  der  beiden  Elektroden  einzeln,  ohne 
Wendungen  dazwischen  zu  schieben,  so  findet  man  Folgendes:  Bei  der 
niedrigsten  überhaupt  erregenden  Stromintensität  löst  nur  die  erste 
Anoden-Schliessung  eine  Zuckung  aus,  die  folgenden  erzielen  Ruhe. 
Wächst  die  Stromstärke  genügend,  so  steigt  die  Zahl  der  aufeinander- 
folgenden Zuckungen,  aber  so,  dass  die  erste  immer  am  stärksten  aus- 
fällt und  die  Ausgiebigkeit  der  späteren  gleichmässig  abnimmt,  bis  sie 
endlich  ganz  ausbleiben.  Schliesslich  erreicht  man  eine  Stromstärke, 
bei  der  die  Zuckungen  überhaupt  nicht  mehr  ausbleiben,  mögen  auch 
noch  so  viele  Erregungen  mit  der  gleichen  Elektrode  auf  einander  folgen. 
Gleichwohl  kann  man  dabei  noch  die  mit  der  Zahl  der  auf  einander- 
folgenden  Zuckungen  Hand  in  Hand  gehende  Abnahme  ihrer  Intensität 
erkennen. 

Die  Kathode  verhält  sich  ganz  ähnlich,  nur  dass  das  Zuckungs- 
minimum stets  viel  höher  liegt  und  die  Zahl  der  bei  gleicher  Stfom- 
intensität  auftretenden  Zuckungen  immer  hinter  der  durch  die  Anode 
hervorgebrachten  zurückbleibt. 

Schiebt  man  eine  Wendung  dazwischen,  so  steigt  bei  beiden  Elek- 
troden das  Zuckungsminiraum  sofort  auf  eine  sehr  viel  niedrigere  Strom- 
stärke herab. 

Namentlich  dieser  Umstand  ist  es,  der  den  Gedanken  an  einen  be- 
stimmenden Einfluss  der  Polarisation  sofort  wachruft.  Unpolarisirbare 
Elektroden  Hessen  sich  nicht  anwenden,  so  wurden  denn  während  einer 
Reihe  von  Versuchen  die  Platinknöpf chen  nach  jeder  Reizung  abge- 
wischt,   bei    einer  anderen  Reihe    auch    die    gereizte  Stelle    mit    einem 


—     39     — 

feuchten  Schwämme  überstrichen,  ohne  dass  (huhircli  alj(;r  die  eigen- 
thüniliche  Folge  der  Reizeffecte  geändert  worden  wäre.  Es  änderte 
auch  nichts,  wenn  ich  zwischen  je  zwei  Reizungen  einen  Zeitraum  von 
2  Minuten  verstreichen  liess.  Hingegen  trat  häufig  Aenderung  ein, 
wenn  ich  auf  eine  Anzahl  wirkungsloser  Reizungen  eine  solche  mit 
einem  um  Vieles  stärkeren,  zuckungserregenden  Strome,  natürlich  mit 
derselben  Elektrode  folgen  liess.  Dann  ging  das  Zuckungsminimum 
gegen  den  Reiz  der  gleichen  Elektrode  nicht  selten  sehr  erheblich  herab. 
Alles  dieses  spricht  wohl  nicht  für  einen  bestimmenden  Einfluss  der 
Polarisation. 

Die  Anode  wirkt  also  durchgehends  stärker  als  die  Ka- 
thode; eine  noch  so  kurze  Schliessung  der  Kette  setzt  inner- 
halb schwacher  und  mittlerer  Stromstärken  die  Erregbarkeit 
gegen  dieselbe  Elektrode  herab  und  erhöht  sie  gegen  die 
andere.  Das  letztere  Verhalten  lässt  sich  aber  einem  analogen  Ver- 
halten der  motorischen  Nerven  wegen  der  Kürze  der  erforderlichen 
Stromdauer  und  wegen  der  enormen  Abschwächung  des  Reizeffectes 
durchaus  nicht  parallel  setzen. 

Wenn  man  sich  auf  der  Hirnrinde  orientiren  will,  so  muss  man 
diese  Thatsachen  durchaus  kennen  und  in  Rechnung  ziehen. 

Einige  der  hierher  gehörigen  Versuche  waren  ohne  jede  Narkose 
angestellt  worden.  Indessen  ist  dies  wegen  der  willkürlichen  Bewegungen 
und  der  stossweisen  unregelmässigen  Respiration  der  Hunde  ausser- 
ordentlich beschwerlich.  Ich  untersuchte  deshalb  zuvörderst  dasselbe 
Thier  unmittelbar  nach  einander  ohne  und  mit  Morphium-Narkose. 
Nachdem  sich  die  hierbei  etwa  vorhandenen  Differenzen  als  durchaus 
in  der  Breite  der  Fehlerquellen  liegend  gezeigt  hatten,  wurden  alle 
ferneren  Versuche  in  der  Morphium-Narkose  angestellt. 

2.  Einfluss  des  Aethers  und  des  Morphiums. 
Wir  hatten  a.  a.  0.  beiläufig  erwähnt,  dass  weder  die  Aether- 
noch  die  Morphium-Narkose  einen  wesentlichen  Einfluss  auf  das  Ge- 
lingen der  Versuche  hat,  und  dieser  Satz  ist  allerdings  in  der  ihm  ge- 
gebenen beschränkenden  Fassung  richtig.  Indessen  hatte  ich  bereits  im 
Jahre  1870  gefunden,  und  dies  auch  auf  der  Naturforscherversammluug 
in  Leipzig  ausgesprochen*),  dass  man  durch  sehr  grosse  Gaben  Aether 
die  Zuckungen    zum    Schweigen    bringen    kann**).     Genaueres  Studium 


*)  S.  das  Tageblatt  S.  75. 

**)  Am   27.   April  1873    erhielt   ich    von  Hrn.  Professor  Schiff   einen 
Bogen  (S.529 — 544)  aus  einem  noch  nicht  publicirten,  in  italienischer  Sprache 


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ergab  einen,  nicht  nur  wegen  der  ferneren  darauf  zu  basirenden 
Schlüsse,  sondern  auch  an  und  für  sich  sehr  interessanten  Sacli- 
verhalt. 

Wenn  man  ein  Thier  so  tief  ätherisirt,  dass  jede  Spur 
von  Reflexen  aufgehört  hat,  so  findet  man  die  elektrische 
Erregbarkeit  des  Gehirns  theils  erhalten,  theils  verloren. 
Ich  untersuchte  den  Zustand  der  Reflexerregbarkeit  stets  von  der  Con- 
junctiva  aus,  und  wandte  ausserdem  noch  irgend  eine  intensive  sensible 
Reizung  an,  Zerrung  au  den  Resten  der  Dura,  Application  eines  sehr 
starken  Inductionsstromes  innerhalb  der  Nase  oder  an  einer  kleinen 
Hautwunde  zwischen  den  Zehen  einer  Hinterpfote.  Wenn  nirgends  mehr 
Reflexe  auftraten,  und  das  Thier  mit  Ausnahme  der  respiratorischen 
Bewegungen  absolut  ruhig  lag,  so  reagirte  das  Grosshirn  au  der  einen 
oder  der  anderen  Stelle  auch  auf  die  stärksten  Ströme  nicht,  während 
irgend  eine  andere  Stelle  sofort  mit  einer  Reaction  antwortete.  Gab 
ich  nun  noch  mehr  Aether,  so  gelang  es  für  kurze  Zeit,  aber  in  der 
That  nur  für  ganz  kurze  Zeit,  jede  Reaction  aufzuheben.  Sobald  aber 
mit  der  weiteren  Zufuhr  von  Aether  nachgelassen  wurde,  dauerte  es  nur 
Secunden,  bis  wieder  Zuckungen  zu  erregen  waren. 

Von  dem  geschilderten  Verfahren  habe  ich  nie  auch  nur  eine  ein- 
zige Ausnahme  beobachtet.  Es  liegt  aber  auf  der  Hand,  dass  man, 
wie  es  geschehen  ist,  zu  irrthümlichen  Ansichten  von  den  Wirkungen 
der  Aether-Narkose  gelangen  kann,  wenn  man  den  Schädel  nur  mittelst 


geschriebenen  Buche.  An  dieser  Stelle  ist  von  ähnlichen  Versuchen  die  Rede, 
wie  die,  von  denen  ich  in  diesem  und  dem  nächsten  Capitel  berichten  werde. 
Schiff  kam  aber  zu  ganz  anderen  Resultaten  und  Schlüssen.  Ich  bemerke, 
dass  ich  am  26.  April  1873  32  Vivisectionen,  von  denen  beinahe  jede  mehrere 
Versuchsreihen  umfasst,  bereits  angestellt  hatte,  und  35  fernere  noch  anstellte, 
und  sage  Herrn  Professor  Schiff  für  die  gehabte  Aufmerksamkeit  meinen 
Dank,  — 

Nachträglicher  Zusatz:  Das  fragliche  Werk  ist  mir  inzwischen  zu- 
gegangen; es  ist  die  zweite  Auflage  von  Schiffs  Lezioni  di  Fisiologia  speri- 
mentale  sul  sistema  nervoso  encefalico.  Ich  hege  keinen  Zweifel,  dass  Schiff 
zu  denselben  Resultaten  wie  ich  kommen  wird,  wenn  er  die  gleichen  Versuchs- 
bedingungen herstellt.  Uebrigens  hat  derselbe  unsere  Bemerkungen  über  die 
Wirkung  der  Inductionsströme  nicht  aufmerksam  gelesen.  Er  citirt  dieselben 
so,  als  hätten  wir  das  Vorkommen  tetanischer  Contractionen  bei  Reizung  mit 
Strömen  der  äusseren  Spirale  in  Abrede  gestellt.  Man  wolle  sich  auf  S.  21 
überzeugen,  dass  wir  dasselbe  vielmehr  ausdrücklich  und  zwar  an  der  Spitze 
jenes  Passus  erwähnt  haben.  Damit  würden  auch  die  Schlüsse  hinfällig 
werden,  welche  auf  ein  solches,  lediglich  vorausgesetztes  Verhalten  basirt  sind. 


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einer  einfaclien  Trepankrone  eröfl'net,  und  damit  zulallig  auf  eine  un- 
erregbar gewordene  Stelle  geräth. 

Von  der  Anwendung  des  Chloroforms  habe  ich  abgesehen,  nachdem 
mir  mehrere  Hunde  hintereinander  bereits  bei  Beginn  der  Inhalation 
todt  geblieben  waren. 

Das  Morphium  verhält  sich  in  jeder  Beziehung  ganz  anders  wie 
der  Aether.  Man  hat  in  neuerer  Zeit  den  Satz  aufgestellt,  das  Mor- 
phium erhöhe  die  Reflexerregbarkeit.  Dieser  Satz  ist  in  dieser  allge- 
meinen Fassung  nicht  genau,  wie  überhaupt  durch  die  Beschreibungen 
die  wirklich  vorhandenen  Symptome  der  Morphium-Narkose  nicht  er- 
schöpft werden.  Hierbei  spielt  die  Dosirung  und  die  Dauer  der  Ver- 
giftung eine  wichtige  Rolle.  Ich  selbst  bringe  nur  das  für  die  gegen- 
wärtige Untersuchung  zu  wissen  Nothwendige  bei,  indem  ich  mich  auf 
die  Schilderung  eines  bestimmten  Stadiums  der  Vergiftung  beschränke 
und  mir  nähere  Angaben  vorbehalte.  Schmerzhafte  Eingriffe  werden 
von  einem  gut  durch  Morphium  narkotisirten  Thiere  selten  mit  Schreien 
und  Versuchen  sich  loszureissen  beantwortet,  auch  die  plötzlichen  Rucke 
mit  Kopf  und  Körper,  welche  sonst  schon  bei  geringen  Beleidigungen 
der  Dura  eintreten,  fehlen  bei  diesen.  Insbesondere  beantworten  die 
Thiere  den  von  der  Operationswunde  herrührenden  contiuuirlichen 
heftigen  Reiz  nicht  in  der  angeführten  Art.  Hingegen  ist  der  reflec- 
torische  Lidschluss  stets  ungestört,  die  Extremitäten  werden  auf  schmerz- 
hafte Eingriffe  in  der  Regel  zurückgezogen,  und  auf  heftige  Insultirung 
der  Nase  folgt  in  der  Regel  eine  Wischbewegung  mit  der  Vorder- 
extremität. 

Mit  mittleren  Gaben  Morphium  betäubte  Hunde  verhalten  sich 
also  gegen  Reflexreize  ähnlich,  wie  Thiere,  denen  man  das  Grosshirn 
genommen  hat.  Reflexversuche  und  Reizversuche  an  ätherisirten 
Thieren  lassen  andererseits  den  sicheren  Schluss  auf  eine  vorüber- 
gehende Lähmung  einer  sich  durch  das  ganze  Gehirn  und  Rückenmark 
hindurchziehenden  Organenkette  zu. 

Ebenso  verschieden  gestaltet  sich  die  Reaction  des  Grosshirns  auf 
den  elektrischen  Reiz.  Man  kann  den  Hunden  verhältnissmässig 
grosse  Dosen  Morphium,  sei  es  subcutan,  sei  es  durch  die 
Venen,  beibringen,  ohne  dass  die  Reaction  je  aufhörte.  Im 
Gegentheil  scheinen  die  Reizeffecte  schwacher  Ströme  bei  mittelstarken 
Vergiftungen  regelmässiger  einzutreten,  insofern  als  die  die  Erregbarkeit 
für  die  gleiche  Elektrode  herabsetzende  Wirkung  des  Stromes  nicht 
ganz  so  bedeutend  ist. 

Wenn  man  sich  der  jetzt  wohl  allgemein  acceptirten  Ansicht,  dass 
die  Hirnrinde    das    Feld    der  Vorstellungen    sei,    anschliessen    will,    so 


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stimmen  diese  Reizversuche  mit  den  am  Menschen  gesammelten  Erfah- 
rungen über  den  Eiufluss  dieser  beiden  Mittel  auf  das  Fortbestehen  der 
Vorstellungen  gut  überein.  Der  Aetherschlaf  führt  eine  absolute  Pause 
in  den  psychischen  Thätigkeiten  herbei.  Die  Morphium-Narkose  kann 
hingegen  A^on  Träumen  belebt  sein,  die  eine  hinreichende  Intensität  ge- 
winnen, um  Erinnerungsbilder  zurückzulassen. 

3.    Einfluss  der  Apnoe. 

Aus  aprioristischen  Gründen  glaubte  ich  einen  Einfluss  der  Apnoe 
auf  die  elektrische  Erregbarkeit  des  Grosshirns  annehmen  zu  sollen. 
Für  diesesmal  beschränkten  sich  meine  Versuche  darauf,  den  Zustand 
der  Reflexerregbarkeit  während  der  Apnoe  und  das  gleichzeitige  Vor- 
handensein oder  Nichtvorhandensein  der  elektrischen  Erregbarkeit  zu 
constatiren,  während  ich  auf  die  genauere  Feststellung  gradueller 
Difl^erenzen  Verzicht  leisten  musste. 

Rosenthal*)  hatte  ursprünglich  die  Reflexe  auch  in  der  Apnoe 
fortbestehen  sehen.  Später  wollte  jedoch  üspensky**)  ihr  Ausbleiben 
beobachtet  haben. 

Den  von  mir  untersuchten  Thieren  wurde  nach  dem  Schlage  eines 
Metronoms  durch  einen  ziemlich  grossen  und  gut  schliessenden  Blase- 
balg Luft  verschieden  lange  Zeit  eingeblasen.  Unmittelbar  vor  der 
gläsernen  in  der  Trachea  befestigten  Canüle  befand  sich  in  dem  Kaut- 
schuckschlauche ein  viereckiges  Loch,  dessen  zwei  senkrecht  auf  die 
Längsaxe  des  Rohres  stehende  Seiten  durch  Einschnitte  verlängert  waren. 
Auf  diese  Weise  war  neben  dem  Loche  ein  federndes  Ventil  vorhanden, 
das  bei  der  häufig  angewendeten  Steigerung  des  Druckes  doch  ein  über- 
mässiges Anschwellen  desselben  verhinderte. 

Die  Respirationsfrequenz  der  Thiere  wurde  vor  Beginn  der  Luft- 
einblasung beobachtet***),  dann  mit  einer  um  etwas  höher  liegenden 
Zahl  von  Stössen  begonnen  und  innerhalb  der  ersten  3 — 5  Minuten  auf 
120 — 150  Stösse  gestiegen.  Alsdann  wurde  der  Druck  allmählich  ge- 
steigert. 


*)  J.  Rosenthal,    Die  Athembewegungen  und  ihre  Beziehungen   zum 
Nervus  vagus.   Berlin  1862.   S.  152. 

**)   üspensky,  Der  Einfluss  der  künstlichen  Respiration  auf  die  Reflexe. 
Archiv  für  Anatomie  und  Physiologie  1869.   S.  401. 

***)  Dabei  sah  ich,  dass  man  den  schnellen  oberflächlichen  Respirations- 
rhythmus geängstigter  Thiere  durch  Ansatz  eines  verschieden  langen  Rohres 
nach  Belieben  verlangsamen,  meist  auch  regelmässig  machen  kann.  Bei 
manchen  physiologischen  Versuchen  dürfte  sich  dies  mit  Vortheil  verwerthen 
lassen. 


—     43     — 

Waren  nun  die  Tliierc  niolit  narkotisirt,  so  niiichten  .sie  während 
der  Ventilation,  nicht  selten  schon  während  der  Periode  des  niedrigen 
Druckes  und  sowohl  bei  geringer  als  bei  grosser  l'^-equenz  der  Ein- 
blasungen, fast  regelmässig  aber  während  des  höheren  Druckes  willkür- 
liche Respirationsbewegungen,  die  im  letzteren  Falle  beim  Pausiren  des 
Blasebalges  mit  einer  tiefen  Exspiration  endigten.  Ausserdem  suchten 
sie  sich  wohl  mit  aller  Kraft  loszureissen.  Wenn  man  nun  unmittelbar 
nach  diesen  willkürlichen  Actionen  die  hinreichend  lange  fortgesetzte 
Ventilation  unterbrach,  so  war  gleichwohl  Apnoe  vorhanden.  Dass 
unter  diesen  Umständen  die  Reflexerregbarkeit  unversehrt  war,  bedarf 
keiner  Erwähnung. 

Waren  aber  dieselben  Thiere  durch  Morphium  betäubt,  so  lagen 
sie  still  und  die  Apnoe  dauerte  länger  —  bis  zu  6  Minuten.  Nichts- 
destoweniger zeigte  die  Reflexthätigkeit  keine  erhebliche  Veränderung. 
Höchstens  trat  auf  Berührung  der  Wimpern  kein  Lidscliluss  ein,  wenn 
man  die  Lider  sanft  mit  den  Fingern  fixirte.  Liess  man  jedoch  die 
Finger  fort,  oder  berührte  die  Conjunctiva,  so  war  der  Lidschluss  so- 
fort da. 

Ich  gebe  auf  der  folgenden  Seite  das  Protokoll  eines  derartigen 
Parallelversuches.  Nachdem  das  in  demselben  erwähnte  Thier  29  Mi- 
nuten lang  ohne  gleichzeitige  Narkose  ventilirt  worden  war,  trat  eine 
unvollständige  Apnoe  von  90  Secunden  ein,  während  eine  Ventilation 
von  nur  16  Minuten  das  narkotisirte  Thier  in  eine  Apnoe  von  205 
Secunden,  die  während  140  Secunden  vollständig  war,  versetzte. 

Die  Erklärung  für  das  fragliche  Verhalten  liegt  auf  der  Hand. 
Furcht  und  Schmerz,  hier  hervorgerufen  durch  die  Reizung  der  Nerv, 
laryng.  inferr.,  vermehren  das  Respirationsbedürfniss  namentlich  kleinerer 
Thiere  bekanntlich  ganz  enorm,  durch  das  Morphium  aber  wird  das 
Zustandekommen  dieser  Affecte  verhindert. 

Ich  brauche  wohl  kaum  hinzuzusetzen,  dass  ich  mich  durch  Con- 
trolversuche  überzeugte,  dass  nicht  etwa  die  Wiederholung  der  künst- 
lichen Respiration  als  solche,  sondern  in  der  That  das  Narkoticum  den 
erwähnten  Einfluss  ausübte. 

Wenn  man  nun  ein  Thier  zur  künstlichen  Respiration  vorbereitet, 
es  alsdann  in  tiefe  Aether-Narkose  versetzt  und  endlich  die  künstliche 
Respiration  einleitet,  so  verhält  es  sich  so  lange  die  Aetherwirkung 
dauert,  nämlich  5 — 10  Minuten  lang  wie  ein  narkotisirtes,  alsdann  aber 
wie  ein  nichtnarkotisirtes  Thier,  d.  h.  die  Apnoe  kommt  schwer  und 
unvollkommen  zu  Stande  —  die  Reflexe  hören  nur  während  der  tiefen 
Narkose  gänzlich,  nachher  ganz  und  gar  nicht  auf. 

Man    mag    aber    ein    Thier    auf    welche    Weise    man    will 


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—     45     — 

apnoisch  machen,  niemals  ist  während  der  Apnoe  ein  Auf- 
hören oder  deutliches  Nachlassen  der  elektrischen  Erreg- 
barkeit des  Grosshirns  zu  beobachten.  Geringere  Schwankungen 
der  Erregbarkeit,  sowohl  positive  als  negative,  habe  ich  allerdings  ge- 
funden. "Wie  viel  auf  diese  jedoch  zu  geben  ist,  lehren  die  ad  1  er- 
wähnten Verhältnisse. 

Die  bisher  angeführten  Versuche  wurden  hauptsächlich  in  der  Ab- 
sicht angestellt,  das  Material  zu  vermehren,  auf  Grund  dessen  man  sich 
ein  genaueres  und  mehr  motivirtes  Urtheil  wird  bilden  können  über  die 
Art,  wie  die  von  uns  beschriebenen  cerebralen  Zuckungen  zu  Stande 
kommen. 

4.    Augenmuskeln  und  Facialis. 

F ritsch  und  ich  hatten  früher  vergeblich  nach  einem  Centrum 
für  die  Augenmuskeln  gesucht.  Gleichwohl  schien  mir  ein  Centrum 
auch  für  diese  Muskeln  im  Grosshirn  existiren  zu  müssen.  Man  kennt 
zwar  bereits  verschiedene  Hirnprovinzen,  deren  Reizung  die  Bulbi  in 
Bewegung  setzt.  Da  diese  Bewegungen  aber  sämmtlich  combinirte 
beider  Augen  sind,  so  durfte  man  wohl  annehmen,  wie  ich  dies  ander- 
weitig*) bereits  ausgesprochen  habe,  dass  sie  nicht  von  Vorstellungs-, 
sondern  vielmehr  von  Reflex-  oder  Coordinationsorganen  abhingen.  Es 
musste  also  der  Analogie  nach  noch  irgendwo,  vermuthlich  in  der 
Grosshirnrinde,  ein  Organ  für  isolirte  Augenbewegungeu  mit  ähnlicher 
Dignität,  wie  die  übrigen  von  uns  gefundenen  Centren,  existiren. 

Meine  Voraussetzung  fand  sich  durch  die  Wirklichkeit  auf  das 
Vollständigste  gerechtfertigt.  Nachdem  ich  der  Sache  auf  die  Spur  ge- 
kommen war,  sah  ich  auch  sogleich,  warum  wir  früher  weniger  glück- 
lich gewesen  waren.  Das  Ceutrum  für  die  Augenmuskeln  fällt  nämlich 
mit  einem  Theile  des  Facialis-Centrums  zusammen  s.  Fig.  2  Q,  Wir 
wurden  also  durch  den  Lidschluss,  und  bei  Verhinderung  desselben 
durch  die  dennoch  stattfindende  Contraction  des  Orbicularis  palpebrarum 
gestört.  Ausserdem  sind  die  Excursionen  des  Bulbus  bei  dieser  Form 
des  Versuches  manchmal  selbst  auf  starke  Ströme  nur  gering. 

Zur  Beseitigung  dieser  Hindernisse  machte  ich,  als  ich  sie  erst 
einmal  kannte,  den  Versuchsthieren  die  Neurotomie  des  Facialis  und 
stach  ausserdem  eine  Carlsbader  Nadel,  an  deren  Kopf  eine  senkrechte 
Papierfahue  befestigt  war,  als  Fühlhebel  durch  das  Centrum  der  Cornea 
in  den  Glaskörper. 

Als    ich  nun  die  Centren  so    hergerichteter  Thiere    reizte,    mächte 


*)  Reichert's  und  du  Bois-Reymond's  Archiv  1871.   S.  756. 


—     46     — 

der  Fühlhebel  synchronisch  eine  Bewegung  in  der  Regel  nach  einer 
Richtung,  manchmal  aber  auch  zwei  ausserordentlich  schnell  aufein- 
ander folgende  Bewegungen  nach  entgegengesetzten  Richtungen,  so  dass 
der  zweite  Theil  der  ersten  Bewegung  von  der  zweiten  gleichsam  ver- 
schlungen wurde.  Ferner  war  sehr  auffallend,  dass  man  bei  der  einen 
Reihe  von  'Versuchen  immer  dieselbe  Muskel-  und  zwar  mit  Vorliebe 
Superior- Wirkung  bekam  und  keine  andere,  und  dass  dann  bei  einer 
anderen  Reihe  ein  anderer  Muskel,  insbesondere  der  Abducens  an  die 
Stelle  des  Superior  trat. 

Die  Erwägung    der    eben    angeführten    Umstände    Hess    mich    den 


Fig.  2. 


Schluss  ziehen,  dass  die  Innervation  der  Augenmuskeln  ebenso  um 
einen  relativ  kleinen  Herd  gruppirt  sei,  wie  wir  das  von  den  einzelnen 
Muskelmechanismen  der  Extremitäten  nachgewiesen  haben,  und  wie  ich 
es  gelegentlich  der  vorliegenden  Arbeit  noch  mehr  im  Detail  studirte. 
Wenn  dieser  Schluss  richtig  war,  so  erklärte  sich  das  Zustandekommen 
der  zuerst  angeführten  Doppelbewegung  daraus,  dass  der  Verlauf  der 
Stromcurve  in  dem  Centrum  für  den  einen  Augenmuskel  ein  um  etwas 
anderer  war,  als  in  dem  Gebiete  des  Antagonisten.  Das  sodann  ange- 
führte gänzliche  Ausbleiben  der  Bewegung  nach  drei  von  den  vier 
Seiten  hin  war  andererseits  dadurch  zu  erklären,  dass  Lagerungs  und 
tveitungsverhältnisse    im    gegebenen    F'alle    auch    bei  Verschiebung    der 


—      47     — 

Elektroden  für  das  nach  der  vierten  Seite  hin  (h-ehende  Centrum  so 
besonders  günstig  blieben,  dass  in  Folge  stärkerer  Erregung  dieses 
Centrums  die  Erregung  der  anderen  Centren  latent  blieb.  Mit  der  Vor- 
aussetzung gemeinschaftlicher  Erregung  sämmtJicher  Centren  war  auch 
die  Geringfügigkeit  der  Excursionen  überhaupt  leicht  verständlich. 

Der  Nachweis  für  die  Richtigkeit  meiner  Annahme  war  leicht  zu 
führen.  Ich  durchschnitt  einfach  den  einen  der  Augenmuskeln  nach 
dem  anderen,  je  nach  der  Reihenfolge,  in  der  ihr  Reizeffect  zu  Tage 
trat,  und  hielt  den  Bulbus  an  einem  durch  die  Conjunctiva  gezogenen 
Faden  in  der  Mittelstellung.  So  gelang  es  mir,  die  Wirkung  der  vier 
graden  Augenmuskeln  nach  einander  zur  Anschauung  zu  bringen,  mit 
den  schiefen  habe  ich  mich  nicht  beschäftigt.  Der  Index  des  Auges 
der  gleichen  Seite  blieb  inzwischen,  wie  ich  noch  hervorhebe,  stets  in 
Ruhe. 

Diese  Thatsachen  sind  in  verschiedener  Beziehung  von  Interesse. 
Erstens  erkennen  wir  dort  ein  Organ,  von  dem  aus  man  in  der  That 
einseitige  Bewegungen  jedes  Auges  hervorbringen  kann,  also  Bewegungen, 
die  wesentlich  unterschieden  sind  von  den  Reizeffecten  anderer  Central- 
gebiete  der  Augenmuskeln. 

Zweitens  erklärt  sich  aus  dem  Ineinandergreifen  der  Innervations- 
gebiete  des  Facialis  und  der  Augenmuskeln  rein  anatomisch  der  längst 
bekannte  Consensus  zwischen  Lid-  und  Bnlbusbewegungen,  der  nun  bei 
undurchschnittenem  Facialis  von  dem  elektrischen  Reize  nachgeahmt, 
reproducirt  wird.  Wir  müssen  bekanntlich  bei  Hebung  oder  Senkung 
der  Blickebene  das  obere  Lid  zwangsmässig  ebenfalls  heben  oder  senken, 
während  andererseits  eine  kräftige  Innervirung  des  Sphincter  palpebra- 
rum den  Bulbus  in  die  Höhe  steigen  lässt. 

Diese  Thatsache  gewinnt  aber  drittens  an  Gewicht,  wenn  ich  hin- 
zufüge, dass  von  dem  angeführten  Innervationscomplexe  aus,  was  den 
Facialis  angeht,  auch  nur  die  um  das  Auge  gelagerten  Muskeln  ver- 
sorgt werden.  Die  Muskeln  der  unteren  Gesichtshälfte  lassen  sich  hin- 
gegen von  einer  mehr  lateral  und  basalwärts  gelegenen  Partie  aus  reizen. 
Man  kann  deswegen  diesen  eben  in  Frage  kommenden  Heerd,  unbe- 
kümmert um  den  Verlauf  der  von  ihm  abhängigen  peripheren  Bahnen, 
als  ein  für  die  Bewegung  und  den  Schutz  der  Augen  bestimmtes  Cen- 
ti'um  auffassen. 

5.    Umfang  und  erregbare  Verbindungen  der  Centren. 

Aus  dem,  was  unter  1.  über  die  herabstimmende  Wirkung  der 
Pole  gesagt  worden  ist,  erhellt,  dass  die  i'äumliche  Ausdehnung  der 
von  uns  sogenannten  Centren,  sowie  ihre  erregbaren  Verbindungen  und 


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Verbindungsbahnen  mit  einiger  Sicherheit  nur  durch  metallische  Strom- 
wendungen erforscht  werden  können.  Ich  benutzte  zu  diesem  Zwecke 
die  Po  hl 'sehe  Wippe.  Die  sonst  ja  so  viel  bequemeren  tetanisirenden 
Inductionsströme  darf  man  nicht  anwenden,  da  schon  ganz  schwache 
Ströme  zu  Nachbewegungen  und  epileptiformen  Anfällen  führen.  Jeder 
epileptiforme  Anfall  lässt  das  Gehirn  in  einem  für  diese  Versuche  un- 
brauchbaren Zustande  zurück. 

Für  eine  richtige  Beurtheilung  der  von  der  Convexität  aus  hervor- 
gebrachten Reizeffecte  müssen  die  Blutgefässe  der  Pia  in  Rechnung  ge- 
zogen werden.  Wenn  überhaupt  keine  Blutgefässe  vorhanden  wären, 
sondern  das  Reizobject  eine  gleichmässig  feuchte  Masse  ausmachte,  so 
könnte  man  sich  das  bei  schwachen  Strömen  von  wirksamen  Schleifen 
durchzogene  Gebiet  etwa  in  der  Form  einer  Halbkugel  vorstellen,  deren 
Schnittfläche  auf  der  Convexität  läge.  Dass  die  Radien  dieser  Halb- 
kugel nur  klein  sind,  geht  aus  dem  bei  geringer  Verschiebung  der  Elek- 
troden vorhandenen  Aufhören  der  Reizeffecte  und  aus  anderen  in  der 
Folge  anzuführenden  Umständen  hervor.  Sobald  aber  ein  Blutgefäss 
der  Pia  jene  imaginäre  Schnittfläche  kreuzt,  blendet  es  als  gutleitende 
Nebenschliessung  alle  sonst  jenseits  seiner  Bahn  fallenden  Strom- 
schleifen ab. 

Der  Gyrus  d  der  Fig.  3  (vorderer  Schenkel  des  Gyrus  sigmoides)  ist 
in  einem  lateralen  Tlieile  motorisch,  in  den  übrigen  Theilen  ist  er  nicht 
motorisch.  Die  ihn  bedeckende  Pia  enthält  eine  kleine  Vene,  welche  sich 
an  der  Grenze  des  lateralen  Viertels  dieses  Gyrus  in  den  von  der  Fissura 
frontalis  (Sulcus  cruciatus)  aufgenommenen  Stamm  ergiesst.  (Entsprechend 
der  medialen  Grenze  der  Schraffirung  Fig.  2  u.  3.)  Dieser  Ast  liegt  in 
seltenen  Fällen  mehr  lateralwärts,  so  dass  er  eine  fast  gradlinige  Fort- 
setzung des  Stammes  zu  bilden  scheint.  Befindet  sich  dieser  Ast  an  der 
gewöhnlichen  Stelle,  und  placirt  man  die  Elektroden  selbst  unmittel- 
bar neben  seinen  medialen  Rand,  so  kann  man  mit  unverhältnissmässig 
starken  Strömen  reizen,  ohne  dass  ein  Roizeffect  eintritt.  Befindet  sich 
der  Ast  aber  an  der  ungewöhnlichen  Stelle,  so  führt  bei  Wahl  der  gleichen 
Einströmungsstellen  schon  eine  massige  Verstärkung  des  Stromes  über 
den  Werth  des  Zuckungsminiraums  zu  Muskelcontractionen.  Man  wird 
also  annehmen  dürfen,  dass  die  erregbare  Zone  mit  dem  lateralen  Viertel 
des  durch  d  Fig.  3  bezeichneten  Gyrus  abschneidet.  Nach  der  gleichen 
Methode  wurde  die  hintere  Grenze  der  erregbaren  Zone  bestimmt. 

Eine  wesentliche  Erleichterung  für  das  Auffinden  der  erregbarsten 
Stellen  bietet  der  Umstand,  dass  diese  immer  in  einem  Räume  liegen, 
welcher  von  kleinsten,  für  das  blosse  Auge  sichtbaren  Gefässen  freige- 
blieben,   ringsum    durch    die  Verästelungen  mehrerer  Gefässzweige  ein- 


—     49     — 

gefasst  wird.  Wäre  mir  dieses,  namentlich  im  supersylvischen  Gyriis 
(Owen)  deutliche  Verhalten  früher  bekannt  gewesen,  so  würde  mir 
viele  Mühe  erspart  worden  sein. 

Da  der  Verbreituugsbezirk  wirksamer  Stromschleifen,  wie  schon 
angeführt,  bei  schwachen  Strömen  klein  ist,  so  kann  man  den  Schluss 
ziehen,  dass  Reizeffecte,  welche  auftreten,  nachdem  man  sich  um  etwas 
von  dem  eigentlichen  Centrum  entfernt,  und  den  Strom  um  ein  Ge- 
ringes über  den  Werth  des  Zuckungsminimums  verstärkt  hat,  von  solchen 
Gebilden  abhängig  sind,  die  nicht  tief  unter  der  Oberfläche  und  zwar 
der  jedesmal  erforderlichen  Stromverstärkung  entsprechend  tief  unter 
ihr  gelagert  sind.  Freilich  ist  es  in  jedem  einzelnen  Falle  nöthig,  diese 
Annahme  dadurch  zu  controliren,  dass  man  die  Elektroden  bei  gleicher 

Fiff.  3. 


5  Possa  Sylvii.     14  Pissura  frontal.  (Owen),   cruciata  (Leuret).     12  Piss. 
coron.  (Owen),     a-d  Stirnwindungen,    e-h  Scheitelwindungen,    m-o  Hinter- 
hauptswindungen,  i-l  Schläfenwindungen. 


Stromstärke  gleichweit  in  anderer  Richtung  von  den  Centren,  welche 
durch  Schleifen  gereizt  sein  könnten,  nach  einem  nicht  von  grösseren 
Gefässen  durchzogenen  Terrain  dislocirt.  Wegen  der  mit  Sicherheit 
nicht  berechenbaren  Gefässeinflüsse  haben  derartige  Schlüsse  jedoch 
immer  nur  den  Werth  der  Wahrscheinlichkeit,  nicht  den  der 
Sicherheit. 

Auf  Grund  dieser  Anschauungen  und  Methoden  wurden  die  auf  der 
Figur  2  und  3  markirten  Grenzen  gezeichnet.  Am  Weitesten  nach 
Hinten  liegt  das  Centrum  für  Facialis  und  Augenmuskeln.  Die  doppelt 
geschwänzten  Punkte  fassen  den  von  mir  sogenannten  Heerd  für  Be- 
wegung   und    Schutz    des  Auges    ein.     Die    durchkreuzten    Punkte    be- 

Hitzig,   GesammeJte  AbliaTidl.     I.  Theil.  a 


—     50     — 

zeichnen  einen  Heerd  für  die  untere  Hälfte  des  Gesichtsnerven.*)  Die 
zwischen  beiden  liegenden  einfachen  Pnnkte  begrenzen  ein  Gebiet, 
welches  weniger  erregbar  als  die  eben  genannten,  aber  erregbarer  als 
die  nach  vorn  liegenden  iSlachbargebiete  ist  und  zum  Facialis  in  Be- 
ziehung steht. 

Im  üebrigen  sollen  die  Zeichen  die  Mittelijunkte  der  erregbarsten 
Stellen,  und  die  Stärke  der  sie  umgebenden  Schraffirung  den  Grad  der 
Erregbarkeit  von  der  Oberfläche  aus  andeuten.  In  Folge  der  variablen 
Form  der  Gyri  wird  man  die  einzelnen  Centren  gelegentlich  etwas  ver- 
schoben finden.  Der  Strich  im  Gyrus  e  (hinterer  Schenkel  des  Gyrus 
sigmoides)  Fig.  2  (vgl.  Fig.  3)  bedeutfet  einen  Punkt,  welcher  gleich- 
zeitige Innervation  der  beiden  rechten  Extremitäten  setzt.  Zwischen  ihm 
und  dem  Centram  -j-  liegt  .wieder  eine  weniger  erregbare  Strecke. 

Bei  /\  bedarf  man  überhaupt  etwas  stärkerer  Ströme.  Je  nach 
der  gewählten  Stromintensität  und  je  nach  geringen  Ortsveränderungen 
bewegen  sich  bei  Reizung  dieser  Stelle  nur  Nacken-  oder  Hals-  oder 
Rumpfmuskeln  gemeinschaftlich.  Wenn  man  durch  Zurück präparirung 
der  Haut  die  oberflächlichen  Nackenmuskeln  entblösst,  so  kann  man 
sich  ferner  durch  das  Gesicht  und  durch  Zufühlen  überzeugen,  dass 
sich  bald  einmal  diese,  bald  wieder  die  tiefen  Schichten  contrahiren. 
Ausserdem  sieht  man  aber,  dass  die  Zusammenziehung  bald  einseitig 
bald  doppelseitig  und  zwar  mit  gleicher  Stärke,  oder  auch  bald  einmal 
rechts  bald  einmal  links  stärker,  ferner  mit  einer  gewissen  Langsamkeit 
vor  sich  geht.  Ebenso  contrahiren  sich  die  sämmtlichen  Muskeln  des 
Rumpfes  bei  einseitiger  Reizung  doppelseitig. 

Wenn  man  mit  einem  Lanzeurheophor**)  am  lateralen  Ende  der  Furche 
14  (Sulcus  cruciatus)  bei  o  bis  zu  einer  Tiefe  von  9 — 12 — 18  mm  einsticht 
imd  dann  reizt,  so  erhält  man  1)  doppelseitige  starke  Contractionen  sämmt- 
licher  Stammmuskeln,  2)  ausgedehnte  und  starke  Contractionen  an 
beiden  gegenüberliegenden  Extremitäten,  3)  beschränktere  aber  kräftige 
Contractionen  der  hinteren  gleichseitigen  Extremität,  4)  schwache  und 
beschränkte  Contractionen  der  gleichseitigen  Vorderextremität.  Geht 
man  noch  tiefer  und  bis  auf  die  Basis  ein,  so  hören  selbst  bei  viel 
stärkeren  Strömen  die  Zuckungen  wieder  gänzlich  auf.  Auch  dies 
spricht  dafür,  dass  der  Leitungswiderstand  der  Hirnsubstanz  gross,    der 

*)  Ergänzende  Untersuchungen  über  diese  Aggregate  des  Facialis  finden 
sich  in  einer  späteren  Abhandlung. 

**)  So  nenne  ich  ein  Instrument,  welches  aus  einer  starken,  durchbohrten, 
stählernen  Lanzennadel   besteht,    die  in  der  Bohrung   einen  isolirten  PJatin- 
iiht  führt.     Nadel  und  Draht  sind  mit  je  einem  Pole  verbunden.     Aeussere 
i^S^    Mü^^iftic  der  Lanze  ist  nicht  erforderlich. 


iN  121111    ^ 


.  «'if 


—     51     — 

Verbreitungsbezirk  wirksamer  Stromschleifeii  bei  schwachen  Strömen 
klein  ist. 

Meine  Untersuchungen  über  Reizung  mit  dem  Lanzenrheophor  sind 
nicht  weit  genug  gediehen,  um  detaillirte  Angaben  machen  zu  können. 
Es  sei  jedoch  erwähnt,  dass  man  bei  Einstichen  innerhalb  der  erreg- 
baren Zone  gleichzeitige  Zusammenziehungen  einer  meist  grösseren  An- 
zahl von  Muskeln  erhält,  welche  je  nach  der  Oertlichkeit  und  Tiefe  des 
Einstiches,  sowie  je  nach  der  Stärke  des  Stromes  sehr  verschieden 
gruppirt  sind.  Aehnliche  Resultate  erliält  man  bei  Anwendung  starker 
Ströme  von  der  Couvexität  aus.  Andererseits  gelingt  es  dort  auch 
durch  vorsichtige  Abstufung  des  Stromes  bei  geringer  Verschiebung  der 
Elektroden  einzelne  Muskeln  und  selbst  Theile  von  Muskeln  in  Be- 
wegung zu  setzen.  Doch  scheint  mir  die  Aufzählung  der  zahlreichen 
nach  beiden  Richtungen  gemachten  Beobachtungen  von  geringem  Inter- 
esse. Im  Allgemeinen  kommt  es,  wie  früher  erwähnt,  leichter  zu  com- 
binirten  Actionen.  Es  gelingt  so  auch  im  vorderen  Theile  der  erreg- 
baren Zone  ähnlich  wie  im  supersyl vischen  Gyrus  eine  Gruppirung  von 
in  der  Peripherie  benachbarten  Muskelmechanismen  um  einen  centralen 
Punkt  zu  erkennen. 

Aus  den  anderweitigen  Reizefl'ecten,  wie  ich  sie  geschildert  und 
gezeichnet  habe,  geht  hervor,  dass  diese  centralen  Gebiete  noch  inner- 
halb der  erregbaren  Zone  mannichfaltige  Verbindungen  unter  einander 
eingehen,  bis  sie  sich  im  Linsenkern  zu  einem  grossen  gemeinsamen 
Innervationscomplexe  vereinigen.'')  Wenn  nun  von  dieser  Stelle  aus 
doppelseitige  Erregungen  gesetzt  werden,  so  entspricht  dies,  insbesondere 
die  Vertheilung  der  Erregungen  in  einer  überaus  schönen  Weise  ander- 
weitig gewonnenen  Erfahrungen  und  Voraussetzungen. 

Henle  hat  seit  Jahren  wiederholt  darauf  aufmerksam  gemacht, 
dass  die  Kreuzung  der  Fasern  nur  dann  einen  Sinn  habe,  wenn  dadurch 
Vertheilung  der  Faserung  an  beide  Hemisphären  bewirkt  werde.*)  Den 
angeführten  Thatsachen  entsprechend  giebt  ferner  Schiff  an,  dass 
dauernde  cerebrale  Hemiplegie  bei  Thieren  nicht,  wohl  aber  Lähmung 
der  gleichnamigen  hinteren  Extremität  häufiger  als  beim  Menschen  vor- 
komme. In  der  That  drohte  ja  schon  das,  wenngleich  ausserordentlich 
seltene  Vorkommen  uugekreuzter  Lähmung  beim  Menschen  die  grösste 
Verwirrung  der  Anschauungen  hervorzubringen. 

Andererseits  sehen  wir,  dass  in  der  gewöhnlichen  Form  der  Hemi- 
plegie des  Menschen  die  Stammmuskeln    frei    bleiben,    oder    sich    bald 


*)  Vgl.  auch  die  Lähmungsversuche  Nothnagel's.  Experimentelle  Unter- 
suchungen über  die  Functionen  des  Gehirns.    Virchow's  Archiv.   Bd.  57. 


—     52     — 

erholen,  insbesondere  auch  nie  von  secundären  centralen  Contracturen 
befallen  werden.  Ich  habe  an  einem  anderen  Orte*)  bereits  nachge- 
wiesen, wie  die  Häufigkeit  und  Stärke  dieser  Contracturen  in  gradem 
Verhältnisse  steht  zu  der  Complicirtheit  der  motorischen  Verrichtungen, 
welche  jedem  Körpertheil  zufallen,  so  dass  eben  Thiere  und  diejenigen 
menschlichen  Mechanismen,  welche  denen  der  Thiere  in  nichts  über- 
legen sind,  von  dieser  Affection  verschont  bleiben. 

Wenn  wir  nun  erkennen,  dass  beim  Hunde  doppelseitige  centrale 
Innervation  im  umgekehrten  Verhältuiss  zur  Complicirtheit  der  Auf- 
gaben, aber  in  gradem  Verhältniss  zu  der  vorhandenen  Zwangsmässig- 
keit  des  Zusammenwirkens  der  Motoren  präformirt  ist,  so  wird  es  ge- 
stattet sein,  einen  inneren  Zusammenhang  der  angeführten  Erscheinungen 
anzunehmen.  Ebenso  wird  man  in  diesen  mehr  oder  weniger  doppelten 
Innervationsheerden  niedere,  sich  mehr  und  mehr  an  den  Rückenmarks- 
typus anlehnende  Organisationen  suchen  dürfen.  — 

Meine  Absicht  war  ferner,  den  Innervationsbezirk  jedes  einzelneu 
Körpertheils  in  jeder  einzelnen  Hemisphäre  festzustellen.  Ich  machte 
deshalb  Versuche  an  curarisirten  Hunden,  denen  vor  der  Vergiftung  ein 
Haupt-Arterienstamm  verschlossen  war.  Leider  war  in  wenigen  Minuten 
die  fragliche  Extremität  durch  collaterale  Verbindungen  mit  vergiftet, 
so  dass  diese  Bemühungen  vor  der  Hand  scheiterten.  Denn  wenn  man 
die  anderen  Körpertheile  von  der  Reizwirkung  nicht  ausschliesst,  so  be- 
reiten die  in  ihnen  entstehenden  Muskelzusammenziehungen  der  Beob- 
achtung allerlei  Schwierigkeiten.  — 

Nachträglicher  Zusatz:  Fast  sämmtliche  dieser  zuletzt  ange- 
führten Versuche  wurden  mit  Unterbindung  der  rechten  Subclavia  un- 
mittelbar an  der  Theilungsstelle  der  Anonyma  begonnen,  nachdem  die 
Trachea  bereits  vorher  freigelegt  worden  war.  Wenn  nun  auch  die  Zeit 
bis  zur  Mitvergiftung  der  rechten  Vorderextremität  für  die  Erreichung 
des  eigentlichen  Versuchszweckes  zu  kurz  war,  so  konnten  doch  einige 
anderweite,  der  Erwähnung  werthe  Beobachtungen  gemacht  werden. 

Zunächst  war  das  Aussehen  des  freigelegten  Gehirns  höchst  auf- 
fallend. Sowohl  die  Pia  als  die  Hirnsubstanz  erschienen  absolut  blass, 
weiss;  die  Gefässe  der  Pia  waren  stark  collabirt,  enthielten  sehr  wenig 
Blut  und  zwar  Avar  dessen  Farbe  sowohl  in  den  Venen,  als  in  den  Arterien 
mehr  als  hellroth  geworden,  eigentlich  richtiger  als  rosa  zu  bezeichnen. 


*)  Archiv  für  Psychiatrie  und  Nervenkrankheiten.  Bd.  III.  Aus  einem 
Citat  Ferrier's  ersehe  ich  zu  meiner  Freude,  dass  Dr.  Broadbent  auf  an- 
derem Wege  als  ich  zu  ähnlichen  Schlussfolgerungen  gekommen  ist.  Med. 
chir.  Review.  April  1866. 


—     53     — 

Bei  hinreichend  starker  Vergiftung  ging  die  Erregbarkeit  des 
Gehirns  selbst  schnell  verloren,  schneller  als  die  der  intramusculären 
Nervenendigungen  der  rechten  Vorderextremität.  Der  Erregbarkeitsver- 
lust schritt  in  centrifugaler  Richtung  fort.  Wenn  nämlich  Reizung  der 
Rinde  mit  beliebig  starken  Strömen  keine  Zuckungen  in  der  rechten 
Vorderextremität  mehr  auslöste,  erhielt  man  solche  noch  durch  Reizung 
mit  dem  tief  in  die  Hirnmasse  eingesenkten  Lanzenrheophor  mit  galva- 
nischen Strömen,  während  der  Inductionsstrom  gelegentlich  auch  schon 
den  Dienst  versagte. 

Endlich  benutzte  ich  diese  Gelegenheit  um  eine  sehr  interessante 
Angabe  von  Paul  Bert*)  zu  prüfen.  Bert  hatte  an  einem  curarisirten 
Hunde,  dessen  Leben  er  10  Stunden  lang  unterhielt,  gefunden,  dass 
während  dieser  ganzen  Zeit  durch  Reizung,  nicht  nur  der  sensiblen 
Spinalnerven  (Ischiadicus,  Medianus)  sondern  auch  des  Infraorbitalis 
Coutractionen  der  Harnblase  auszulösen  waren,  so  dass  sich  bei 
jeder  Reizung  eine  geringe  Menge  Urin  entleerte.  Dem  entsprechend 
konnte  Budge**)  durch  directe  Reizung  des  Rückenmarks  und  des 
Hirnstammes  bis  hinauf  zu  den  Hirnschenkeln  ähnliche,  übrigens  sehr 
eingehend  studirte  Phänomene  produciren.  Da  die  reflectorische  Urin- 
entleerung von  Bert  nur  an  einem  Thiere  geprüft  war,  so  untersuchte 
ich  nebenher  einige  Hunde  auf  diesen  Punkt  und  fand  in  der  That 
Bert 's  Angaben  vollständig  richtig.  "Während  Reizung  der  Nerven- 
stämme an  den  nicht  aus  dem  Kreislaufe  ausgeschlossenen  Extremitäten 
bei  drei  Hunden  nicht  mit  Zuckungen  der  abhängigen  Muskeln  beant- 
wortet wurde,  entleerte  sich  jedesmal  etwas  Urin.  Derselbe  Erfolg  trat 
ein  bei  Reizung  der  Schwimmhäute,  der  Bauchhaut,  der  Gesichtshaut, 
des  Infraorbitalis,  nicht  aber  der  Conjunctiva.  Bei  einem  dieser  drei 
Hunde  erfolgte  übrigens  auch  etwas  Kothentleerung.  Da  bei  dem 
Stande  der  Vergiftung  von  einer  Wirkung  der  Bauchpresse  nicht  die 
Rede  war,  so  ist  diese  reflectorische  Defäcation  wohl  auf  peristaltische 
Bewegungen  zu  beziehen.  Meinen  anderweitigen  Untersuchungen  lag 
diese  Frage  aber  zu  fern,  um  eine  weitere  Verfolgung  zu  rechtfertigen. 

6.    Reflexionen. 
Fechner  sagt  irgendwo:    „Die  Sicherstellung,    Fruchtbarkeit    und 
Tiefe  einer  allgemeinen  Ansicht  hängt  überhaupt  nicht  am  Allgemeinen, 
sondern    am    Elementaren.     Entsprechend    wird    es    gelten,    Elementar- 


*)  Paul  Bert,  Observations  faites  sur  un  chien  curare.    Arch.  de  Phy- 
siolog.  Bd.  II.   (1869)  650-51. 

**)  Budge,  P  flu  eg  er 's  Archiv  1869.   S.  511  ff. 


—     54     — 

gesetze  zwischen  Körper  und  Geisteswelt  zu  finden,  um  statt  einer  all- 
gemeinen Ansicht  eine  haltbare  und  entwickelte  Lehre  davon  zu  ge- 
winnen; jene  aber  werden  hier  wie  dort  nu.r  auf  elementare  Thatsachen 
begründet  werden  können."  Damit  ■  sind  die  Gründe  A^ollkommen  an- 
gegeben, welche  mich  abhielten,  schon  jetzt  Folgerungen  von  grösserer 
Tragweite  aus  den  von  mir  über  Veränderung  der  Reaction  angestellten 
und  oben  beschriebenen  Versuchen  zu  ziehen,  obschon  ich  glaube,  dass 
gerade  sie  einen  Theil,  aber  allerdings  nur  einen  Theil  der  elementaren 
Thatsachen  enthalten,  die  für  eins  jener  Elementargesetze  erfordert 
werden.  Speculationen  über  Gehirn-  und  Geistesthätigkeiten  sind  mit 
Recht  in  so  grossen  Misscredit  gekommen,  dass  man  in  der  That  auch 
mit  einem  Uebermaass  von  Vorsicht  noch  richtig  handeln  würde. 

Wenn  wir  uns  nun  von-  Anfang  an  trotz  der  Versuchung,  welche 
nicht  nur  in  der  Materie  an  und  für  sich,  sondern  auch  in  der  Natur 
der  von  uns  gefundenen  überraschenden  Thatsachen  lag,  in  den  vor- 
sichtigsten Ausdrücken  bewegten  und  fern  von  Verallgemeinerungen 
hielten,  so  hofften  wir,  dass  dadurch  nach  keiner  von  beiden  Seiten  hin 
Anlass  zu  irrthümlichen  Auffassungen  würde  gegeben  werden.  Im 
Gegentheil  setzten  wir  voraus,  dass  das  von  uns  eingeschlagene  Ver- 
fahren von  den  nach  uns  Arbeitenden,  wie  es  gemeint  war,  aufgefasst 
und  als  zweckmässig  adoptirt  werden  würde.  Hätten  wir  es  für  nütz- 
lich gehalten  Consequenzen  zu  ziehen,  so  würde  uns  das  um  Vieles 
leichter  geworden  sein,  als  das  Aufsuchen  der  bezüglichen  Thatsachen. 
Um  so  weniger  erwarteten  wir,  die  unmittelbar  aus  den  Versuchen 
resultir'enden  Folgerungen  angefochten  zu  sehen.  Diese  Hoffnungen  sind 
nicht  überall  in  Erfüllung  gegangen,  so  dass  es  nöthig  wdrd,  den  früher 
gefundenen  Thatsachen  sowohl  als  den  neu  gefundenen  einige  Erläute- 
rungen hinzuzufügen.  — 

Wir  sind  in  den  vorgetragenen  Studien  sehr  wesentlichen  Diffe- 
renzen zwischen  der  centi-alen  und  peripheren  motorischen  Reaction  be- 
gegnet. Die  beiden  Pole  wirken  hier  ganz  und  gar  anders  wie  dort, 
und  ebenso  ist,  wie  ich  hier  wiederhole,  der  Verlauf  der  Zuckungen 
ein  anderer.  Sie  sind  lang  hingezogen,  etwa  wie  die  eines  dem  Nerven- 
einflusse  entzogenen  Muskels.  Wir  hatten  schon  früher  vermieden,  eine 
bestimmte  Meinung  darüber  auszusprechen,  ob  wir  Zellen  oder  Fasern, 
Endstationen  oder  Zwischenstationen  der  psychomotorischen  Kette  reizten, 
und  wir  enthalten  uns  dessen  noch  jetzt.  Dagegen  hatten  wir  nachge- 
wiesen, dass  der  Reiz  bekannte  reflectorische  Bahnen  nicht  beschritte. 
Wenn  nun  jemand  den  Schluss  ziehen  wollte,  die  ursprünglich  gereizten 
Theile  seien  wegen  jener  Differenzen  keine  centralen  Ausbreitungen 
der  motorischen  Nerven,    so    ist    es    klar,    dass    ihm   zu  einem  solchen 


—     55     — 

Schlüsse  jede  Basis  fehlen  würde.  Denn  es  ist  durch  nichts  erwiesen, 
dass  centrale  Fasern  oder  wenn  man  will  Zellen,  die  iin  Zusammen- 
.hange  mit  peripheren  stehen,  ebenso  reagiren  müsseji,  wie  diese.  Es 
ist  im  Gegentheil  nach  Allem,  was  wir  wissen,  wahrscheinlich,  dass  sie 
anders  reagiren.  Endlich  haben  die  geschilderten  Vorgänge  überhaupt 
keine  Analogie  in  der  Peripherie.  Man  wird  sich  also  zunächst  wohl 
jnit  der  Annahme  begnügen  müssen,  dass  ihre  ßesonderheit  auf  beson- 
deren Eigenschaften  des  Centralorgans  beruht.  — 

Das  ätherisirte  Gehirn  zeigt  ferner  eine  gewisse  oberflächliche 
Aehnlichkeit  in  seinem  Verhalten  gegen  elektrische  und  gegen  Reflex- 
reize, während  periphere  motorische  Nerven  durch  die  Einverleibung 
des  Aethers  bekanntlich  nicht  afficirt  werden.  Wenn  man  nun  deshalb 
annehmen  wollte,  der  Reizeffect  käme  auf  dem  Wege  eines  unbe- 
kannten hypothetischen  Reflexbogens  zu  Stande,  so  wäre  das  nicht 
minder  falsch,  selbst  wenn  vollkommen  gleiches  Verhalten  des  ätheri- 
sirten  Gehirns  gegen  den  elektrischen  und  den  Reflexreiz  bestände,  w-as 
keineswegs  der  Fall    ist,    wie  ich  oben  ausführlich  nachgewiesen  habe. 

Das  Aufhören  der  Reflexbew'egung  bedeutet  einfach  Ausfallen  des- 
jenigen centralen  Mechanismus,  dessen  der  äussere  Reiz  zur  Ueber- 
tragung  bedarf.  Ein  ähnlicher  Sinn,  nur  für  ein  anderes  Organ,  ist 
dem  Aufhören  der  elektrischen  Erregbarkeit  der  Centren  unterzulegen. 
Nun  sehen  wir,  dass  die  einzelnen  Centralapparate  durch  die  verschie- 
denen Narkotica  selten  sämmtlich  gleichzeitig  oder  in  gleichem  Grade, 
sondern  in  den  verschiedensten  Gruppirungen  ausser  Thätigkeit  gesetzt 
werden.  Das  Athmungscentrum  z.  B.  functionirt  in  vielen  Fällen  bis 
zuletzt.  In  anderen  Fällen  wird  es  dagegen  gleich  zu  Anfang  afficirt, 
wie  im  Menschen  bei  Verunreinigung  des  Chloroforms.  An  Hunden  zu- 
mal ist  Chloroformtod  gleich  bei  Beginn  der  Inhalation  sehr  gewöhn- 
lich. Grade  die  Centralapparate  der  bewussten,  willkürlichen  Bewegung 
pflegen  aber  bei  der  Chloroformirung  und  Aetherisirung  schon  vor  den 
Reflexapparaten  ihre  Function  einzustellen.  Es  würde  also  schon  des- 
halb Nichts  bewiesen  sein,  wenn  schliesslich  beide  auch  gegen  den 
elektrischen  Reiz  gleichmässig  unempfindlich  gefunden  würden.  Nun 
habe  ich  aber  nachgewiesen,  dass  die  Grosshirncentra  schwerer  und 
ungleichmässiger,  jedenfalls  also  in  anderer  Weise  unempfindlich  werden,, 
als  die  eigentlichen  Reflexcentra,  soweit  man  überhaupt  die  ange- 
wendeten Reizmethoden  nebeneinander  stellen  kann.  Alles  in  Allem 
bedeuten  also  die  vorhandenen  Erscheinungen  nach  der  einen  wie  nach 
der  anderen  Seite  hin  nichts  Anderes  als  zeitweise  Eliminirung  einer 
Anzahl  von  Centralapparaten,  die  wir  selbst  durch  das  Experiment  nur 
höchst  unvollkommen  abgrenzen  können.    Damit  glaube  ich  hinreichend 


—     56      - 

bewiesen  zu  haben,  dass  man  vorläufig  und  bis  neue  unzweideutige 
Thatsachen  beigebracht  sein  werden,  mit  der  Deutung  vorsichtiger  Weise 
nicht  weiter  gehen  kann,  als  wir  gegangen  sind,  während  die  Mit- 
wirlfung  von  reflectorischen  Vorgängen  schon  durch  das,  was  wir  wissen, 
ausgeschlossen  scheint.  — 

In  unserer  mehrfach  citirten  Abhandlung  (S.  32,  33)  hatten  wir 
die  Resultate  zweier  an  Hunden  ausgeführten,  streng  localisirten  Ex- 
stirpationsversuche  beschrieben.  Die  Verletzung  war  in  dem  von  uns 
sogenannten  Centrum  für  die  rechte  Vorderextremität  angebracht  worden. 
Der  Erfolg  war,  dass  die  Thiere  die  genannte  Extremität  zwar  noch 
gebrauchten,  dass  sie  dieselbe  aber  unzweckmässig  aufsetzten  und,  wie 
sich  aus  allerlei  Versuchen  schliessen  liess,  nur  noch  ein  mangelhaftes 
Bewusstsein  von  ihren  Zuständen  besassen.  Ich  selbst  habe  diese  Ver- 
suche bereits  im  Jahre  1870  mit  ähnlichem  Erfolge  vervielfältigt  und 
variirt. 

Nothnagel*)  hat  in  neuester  Zeit  von  einer  gleichen  Idee  aus- 
gehend, aber  nach  einer  anderen  Methode,  fast  das  gesammte  Grosshirn 
localisirten  Verletzungen  unterworfen  und  ist  damit  zu  einer  Reihe 
interessanter  Resultate  gelangt.  In  der  ersten  Abtheilung  seiner  Arbeit 
beschreibt  er  nun  auch  die  Erfolge  von  Läsionen  der  von  uns  gewählten 
Region.  Ich  constatire  mit  Freuden,  dass  die  Schilderung  NothnageTs 
der  unsrigen  auf  das  Haar  gleicht.  Die  einzigen  scheinbaren  Differenzen 
bestehen  darin,  dass  die  von  uns  hervorgebrachten  Krankheitssymptome 
länger  anhielten,  und  dass  Nothnagel  andererseits  auch  die  gleich- 
namige Hinterextremität  mit  .  betroffen  fand.  Der  erste  Punkt  erklärt 
sich  einfach  aus  der  in  Folge  der  Trepanation  bei  uns  grösseren  Er- 
heblichkeit der  Verletzung.  Mitbetheiligung  der  hinteren  Extremität 
habe  ich  allerdings  ebenfalls,  indessen  nicht  constant  und  sehr  vorüber- 
gehend beobachtet.  Wenn  man  die  von  mir  in  der  vorliegenden  Ab- 
handlung S.  50  angeführten  Thatsachen  berücksichtigt,  so  wird  man 
das  begreiflich  finden. 

Ungeachtet  dieser  so  gut  wie  vollständigen  üebereiustimmung  der 
Versuchsergebnisse  und  ungeachtet  dessen,  dass  Nothnagel  unsere 
Auffassung  des  gesetzten  pathologischen  Zustandes  vollkommen  adoptirt, 
bestehen  aber  Meinungsverschiedenheiten  in  der  Deutung  zwischen 
Nothnagel  und  uns,  die  auf  Missverständnissen  beruhen  und  die  ich 
lebhaft  bedauere. 

Wir  hatten  nicht  ohne  Absicht  gerade  an  den  Schluss  unserer 
Arbeit    folgenden  Satz  gestellt:    „Es    geht    ferner  aus  der  Summe  aller 

*)  A.  a.  0. 


—     57     — 

unserer  Versuche  hervor,  dass  keineswegs,  wie  Flourens  und  die 
Meisten  nach  ilini  meinten,  die  Seele  eine  Art  Gesammtfunction  der 
Gesammtheit  des  Grosshirns  ist,  deren  Ausdruck  man  wohl  im  Ganzen 
aber  nicht  in  seinen  einzelnen  Theilen  durch  mechanische  Mittel  aufzu- 
heben vermag,  sondern  dass  vielmehr  sicher  einzelne  seelische 
Functionen,  wahrscheinlich  alle,  zu  ihrem  Eintritt  in  die 
Materie  oder  zur  Entstehung  aus  derselben  auf  circumscripte 
Centra  der  Grosshirnrinde  angewiesen  sind."  Denn  in  der 
That  folgt  die  Wahrheit  dieses  Satzes  mit  aller  wünschenswerthen 
logischen  Schärfe  aus  unseren  Versuchen  und  wir  betrachteten  diese 
Wahrheit  als  die  werthvoUste  Errungenschaft  unserer  Arbeit. 

Wenn  Reizung  bestimmter  Stelleu  bestimmte  Muskeln  in  Bewegung 
setzt,  und  Zerstörung  dieser  Stellen  die  Innervation  derselben  Muskehi 
alterirt,  wenn  Reizung  und  Zerstörung  anderer  Stellen  ganz  und  gar 
keinen  Einfiuss  auf  die  Muskelinnervation  ausübt,  so  scheint  mir  das 
hinreichend  beweisend  zu  sein  für  den  Satz,  dass  die  einzelnen  Theile 
des  Grosshirns  nicht  gleichwerthig  sind;  nnd  diesen  Satz  wollten  wir 
beweisen. 

Nothnagel  wendet  sich  hingegen  wieder  der  alten  Ansicht  zu, 
obwohl  seine  Versuche  gerade  unsere  Ansicht  durch  Vervollständigung 
des  Beweismaterials  unterstützen.  Er  kommt  zu  dem  Schlüsse,  „dass 
eine  strenge  Localisation  der  geistigen  Functionen  auf  be- 
stimmte Ceutren  der  Grosshirnrinde  nicht  vorhanden  ist." 
Ich  setze  den  Fall,  Nothnagel  hätte  neue  Beweise  für  diesen  Satz 
beigebracht,  so  würde  ich  ihm  dennoch  nicht  zustimmen  können,  son- 
dern irgendwo  einen  Irrthum  vermuthen  und  nicht  ruhen,  bis  ich  den- 
selben gefunden  hätte.  Denn  die  Ansicht  Flourens'  ist  a  priori  un- 
möglich, wenn  unsere  sonstigen  Anschauungen  von  den  Functionen 
dieser  und  besser  bekannter  Theile  des  Nervensystems  richtig  sein 
sollen.  Sie  setzt  voraus,  dass  wir  heute  Ganglien  und  Fasermassen 
zum  Gehen  gebrauchen  können,  die  uns  gestern  nicht  zum  Gehen,  son- 
dern vielleicht  zum  Hören  oder  Riechen,  jedenfalls  zu  anderen  Zwecken, 
gedient  haben.  Sie  setzt  voraus,  dass  die  centralen  Endorgane  eines 
Nerven,  z.  B.  des  Hörnerven,  plötzlich  zum  Theil  ihrer  ursprünglichen 
Function  entfremdet  und  zu  etwas  Anderem,  z.  B.  zur  Muskelbewegung, 
verwendet  werden  könnten.  Und  was  w^ürde  inzwischen  aus  dem  Hören? 
Oder  aber,  um  uns  eines  ganz  abstracten  Ausdruckes  zu  bedienen,  sie 
setzt  voraus,  dass  das  materielle  Substrat  für  sämmtliche  nach  Innen 
und  sämmtliche  nach  Aussen  gerichtete  Functionen,  sowie  für  etwaige 
Zwischenfunctionen  ein  einheitliches  sei,  obwohl  schon  die  morpholo- 
gische Betrachtung    lehrte,    dass    jenes  Substrat    als    ein  Complex    von 


—     58     — 

Endorgauen  peiüpherer  Mechanismen  verschiedenen  Werthes  aufzu- 
fassen ist. 

Indem  wir  den  exacten  Beweis  führten,  dass  die  VorsteHung,  die 
man  sich  von  vornherein  bilden  muss,  der  Wirklichkeit  entspricht, 
glauben  wir  einen  Schritt  vorwärts  gethan  zu  haben.  Durch  seine  Ver- 
suche thut  JSIothnagel  diesen  Schritt  mit  uns,  durch  seinen  Schluss 
würde  er  ihn  rückwärts  thun,  wenn  er  diesen  bewiesen  oder  ihn  in 
dem  Sinne  Flourens'  gezogen  hätte. 

Der  einzige  von  Nothnagel  erbrachte  Beweis  besteht  aber  in  dem 
mir  freilich  schon  damals  bekannten  Umstände,  dass  die  gesetzten 
Krankheitssymptome  sich  allmählich  verlieren.*)  Daraus  lässt  sich  aber 
nicht  das  Geringste  schliossen,  denn  der  sich  eröffnenden  Möglichkeiten 
sind  zu  viele.  Eine  sehr  einfache  Annahme  ist  z.  B.  die,  dass  man 
durch  den  Eingriff  nicht  das  ganze  Centrum  (nehmen  wir  an,  es  sei  ein 
Centrum),  sondern  nur  einen  Theil  zerstört  hat,  und  dass  der  Rest 
nach  geschehener  Heilung  zur  Ausfüllung  der  Function  hinreicht.  Wenn 
man  in  Rechnung  zieht,  dass  Nothnagel  durch  kleinere  Läsionen  drei- 
tägige, und  vi'ir  durch  etwas  grössere  Läsionen  achtundzwanzig  Tage 
und  länger  dauernde  Störungen  producirten,  so  drängt  sich  dieser  Ge- 
danke allerdings  um  so  mehr  auf,  als  eben  durch  den  Eingriff  zweifel- 
los die  Nachbarregionen  des  Heerdes  in  geringerem,  also  leichter  heil- 
barem Grade  alterirt  werden.  Dennoch  bin  ich  weit  entfernt,  ihn  für 
den  einzig  richtigen  auszugeben. 

Ferner  scheint  Nothnagel  das  Flourens'sche  Werk  nicht  im 
Original  auf  diesen  Punkt  hin  eingesehen  zu  haben,  denn  ich  glaube 
doch  nicht,  dass  er  dasselbe  meint  wie  Flourens.  Das  Missverständ- 
niss  ist  wahrscheinlich  aus  einer  verschiedenen  Auffassung  des  W^ortes 
„circumscript"  hervorgegangen.  Wir  haben  dasselbe  im  weitesten  Sinne 
gefasst**),  während  Nothnagel  ihm  einen  sehr  engen  Sinn  unterlegt. 
Wir  haben  nicht  daran  gedacht,  in  dieser  Beziehung  irgend  welche 
Grenzen  für  irgend  ein  Ceutrum  anzugeben,  noch  die  Möglichkeit  zu 
behaupten    oder    auszuschliessen,    dass    ein    Solches    doppelt    vorkäme, 

*)  S.  auch  die  Abhandlung:  üeber  die  Auffassung  einiger  Anomalien 
der  Muskelinnervation.  I. 

**)  Man  vergleiche  dazu  den  Text  unserer  Abhandlung  an  anderen 
Stellen,  z.  B.  S.  17  u.  29.  Der  mit  allem  Vorbehalt  gebrauchte  Ausdruck 
,, Centrum"  hat  nur  zur  Bezeichnung  der  erregbarsten  Stelleu  gedient.  Dass 
die  zwischen  diesen  Centren  liegenden  weniger  erregbaren  Theile  ebenfalls  in 
Beziehung  zur  Muskelbewegung  ständen,  haben  wir  zwar  als  selbstverständ- 
lich angenommen  (S.  28),  haben  aber  ans  Mangel  an  einem  directen  Beweise 
.nicht  ausführlicher  darüber  gehandelt. 


—     59      — 

sondern  wir  haben  nur  den  Satz  aufstellen  wollen  und  wir  erhalten  ihn 
aufrecht,  dass  die  einzelnen  in  Frage  stehenden  Hirnfunctionen  sieh 
bestimmter,  irgendwo  aber  wohlbegrenzter  Hirnorgane  als  centraler 
Eudorgane  peripherer  Nervenausbreitungen  bedienen,  sowie  dass  diese 
Organe  nur  für  jene  und  keine  anderen  Functionen  tauglich  sind  und 
bleiben. 

Auf  eine  ähnliche  Weise  erledigt  sich  auch  der  Zweifel  Noth- 
nagel's,  ob  wir  eine  directe  motorische  Lähmung  annehmen  oder 
nicht?  Wir  hatten  nämlich  nach  einer  detaillirten  Beschreibung  der 
vorhandenen  Bewegungsstörung  gesagt:  „Das  Thier  hatte  die  Möglich- 
keit, die  Vorderextremität  zu  bewegen  nur  unvollkommen  verloren." 
Allerdings  war  ihm  die  Möglichkeit  sein  Bein  normal  zu  bewegen  aus 
den  angeführten  Gründen  verloren  gegangen.  Ob  indessen  die  grobe 
Kraft  eine  Einbusse  erlitten  hatte,  darüber  haben  wir  uns  überhaupt 
nicht  auslassen  wollen.  Denn  es  schien  uns  zweifelhaft  und  ohne 
weitergehende  Deductionen  kaum  zu  entscheiden,  ob  die  nachweisbare 
und  von  uns  angeführte  geringe  Schwächung  einzelner  Functionen  ledig- 
lich von  der  Beeinträchtigung  der  Vorstellungen  über  die  Zustände 
dieses  Beines  abhinge,  oder  ein  selbstständiges  Symptom  sei. 

Freilich  hatten  wir  hieran  einen  Satz  geknüpft,  der  mit  dem,  was 
von  uns  auf  Seite  13  der  Abhandlung  recapitulirend  über  die  centralen 
Stätten  der  Muskelbewegung  gesagt  war*),  wohl  einen  Schluss  auf 
unsere  Ansicht  über  den  Zusammenhang  der  Erscheinungen  gestattete, 
und  wie  mir  scheint  unter  einer  bestimmten  Voraussetzung  auch 
eine  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  unanfechtbare  Erklärung  in  sich 
schliesst.  Dieser  Satz  lautet:  „Es  bestand  noch  irgend  eine  motorische 
Leitung  von  der  Seele  zum  Muskel,  während  in  der  Leitung  vom  Muskel 
zur  Seele  irgendwo  eine  Unterbrechung  vorhanden  war.  Möglicherweise 
betraf  diese  Unterbrechung  die  Endstation  der  hypothetischen  Bahn  für 
den  Muskelsinn." 

Die  erwähnte  Voraussetzung  war  für  uns  damals  aber  noch  nicht 
hinreichend  durch  den  Versuch  erwiesen,  sie  besteht  in  dem  exacteu 
und  durch  den  Lihalt  der  vorliegenden  Abhandlung  gelieferten  Nach- 
weise, dass  die  Erregung  jener  basalen  Mechanismen  auch  von  der 
gleichnamigen  Hirnhälfte  aus  geschehen  könne.     In  Ermangelung  dieses 


*)  In  den  meisten  Theilen  des  Hirnstammes,  dann  auch  hinab  bis  in  das 
Rückenmark  giebt  es  eine  Anzahl  vorgebildeter  Mechanismen,  die  einer  nor- 
malen Erregung  in  ihrem  Ganzen  auf  zwei  Bahnen  fähig  sind.  Die  Eine  ver- 
läuft von  der  Peripherie  aus  —  die  Bahn  des  Reflexes;  die  Andere  strahlt 
vom  Centrum  her  ein  —  die  Bahn  des  Willens,  der  seelischen  Impulse. 


—     60     — 

Nachweises  gebot  die  Vorsicht,  unserer  Meinung  jene  abstracto  Form  zu 
geben.  Und  dennoch  bedauere  ich  noch,  damals  das  Wort  „Muskel- 
siun"  gebraucht  zu  haben,  insofern  dasselbe  von  jeher  zu  allerlei  Miss- 
verständnissen Veranlassung  gegeben  hat.  Nothnagel  hat  indessen  in 
weit  bestimmterer  Form  die  fraglichen  Symptome  als  Störungen  des 
„Muskelsinnes"  bezeichnet.  Dies  bestimmt  mich,  meine  eigene  Auf- 
fassung derselben  näher  zu  präcisiren,  obwohl  ich  aus  der  bisher  inne 
gehaltenen  Reserve  nur  ungern,  selbst  um  wenige  Schritte  heraustrete. 
Denn  in  jede  Rechnung  mit  diesen  uns  mehr  und  mehr  bekannt  werden- 
den Factoren,  drängt  sich  eine  unbekannte  und  kaum  zu  eliminirende 
Grösse  —  der  Wille  —  ein.  Ihm  gegenüber  stehen  wir,  wie  zu  den 
Elementarkräften,  wir  kennen  nur  seine  Erscheinungsweisen,  nicht  sein 
Wesen  und  seine  innere  Begrenzung. 

Wir  hatten  den  Zustand  unserer  Versuchsthiere  folgendermaassen 
charakterisirt:  „sie  hatten  offenbar  imr  ein  mangelhaftes  Bewusstsein 
von  den  Zuständen  dieses  Gliedes,  die  Fähigkeit  sich  vollkommene 
Vorstellungen  über  dasselbe  zu  bilden,  war  ihnen  abhanden  ge- 
kommen," und  wir  konnten  dies  mit  Sicherheit  schliessen  aus  der  Ana- 
lyse der  Bewegungsstörungen,  die  nach  Zertrümmerung  derjenigen 
Rindenstelle  entstanden,  deren  Reizung  die  nun  gestörten  Muskeln  in 
Bewegung  setzte.  Die  nun  zu  beantwortende  Frage  lässt  sich  sehr  ein- 
fach folgendermaassen  präcisiren:  Ist  das  ausgeschlossene  Centrum 
dasjenige  Organ,  welches  die  fragliche  Muskelbewegung 
allein  beherrscht,  oder  giebt  es  noch  neben  dem  allgemeinen 
Willensorgane  —  ein  solches  vorausgesetzt  —  ein  anderes 
centrales  motorisches  Organ  innerhalb  derselben  Auslösungs- 
kette? 

Wir  können,  indem  wir  uns  übrigens  der  äussersten  Kürze*)  be- 
fleissigen,  auf  bekannte  Erfahrungen  über  massige  Bewegungen  mit 
nicht  ermüdeten  Muskeln  zurückgehen.  Man  weiss,  dass  die  durch  die 
Muskelaction  in  unserem  Bewusstsein  entworfenen  Bewegungsbilder 
ausserordentlich  scharf  sind.  Ein  geschickter  Maler  würde  z.  B.  eine 
von  ihm  selbst  bei  geschlossenen  Augen  eingenommene  Positur  genau 
wiederzugeben  im  Stande  sein.  Dennoch  weiss  das  Bewusstsein  von 
den  bewegenden  Factoren  Nichts;  auch  die  durch  unmittelbare  An- 
schauung oder  anderweites  Studium  gewonnenen  Vorstellungen  fallen  so 
sehr  in  ein  anderes  Gebiet  hinein,  dass  sie  zur  Erkennung  der  jedesmal 


*)  Vgl.  hierzu  meine  Abhandlungen:  üeber  die  Auffassung  einiger  Ano- 
malien der  Muskelinnervation.  I.  und:  Ueber  die  beim  Galvanisiren  des 
Kopfes  u.  s.  w. 


—     61     — 

in  der  Peripherie  wirkenden  Bewegungskräfte  wenig  genug  beitragen. 
Diese  sind  für  die  einzelnen  Bewegungsformen  bisher  noch  nicht  einmal 
hinreichend  bekannt  und  müssen  jedesmal  erst  durch  Induction  ge- 
funden werden.  Dazu  hilft  z.  B.  das  Zufühlen  mit  dem  Finger  weit 
mehr,  als  die  noch  so  oftmalige  Wiederholung  der  Bewegung. 

Gleichwohl  ist  es  klar,  dass  sehr  genaue  Vorstellungen  über  die 
Zustände  der  Muskeln  entstehen  müssen  —  das  lehren  uns  eben  jene 
genauen  Bewegungsbilder,  —  und  gleicherweise  ist  es  klar,  dass  diese 
Bewegungsbilder  vorwiegend  auf  die  Perception  der  Muskelzustände 
weniger  also  auf  Gelenke,  Haut  u.  dgl.  zurückzuführen  sind  —  das  lehren 
uns  die  bekannten  Bewegungstäuschungen  bei  den  Augenmuskellähmungeu. 

Wenn  nun  unsere  Vorstellungen  über  die  Muskelzustände  des  eigenen 
Körpers  dennoch  nicht  die  Schwelle  des  klaren  Bewusstseins  über- 
schreiten und  uns  hierdurch  den  Einblick  in  das  wahre  Wesen  der  Vor- 
gänge gestatten,  so  ist  dies  auf  ein  allgemein  gültiges  Gesetz  zurück- 
zuführen. Wir  vermögen  ganz  allgemein  von  Innen  heraus  die  Zustände 
der  einzelnen  Organe  nur  insoweit  zu  erkennen,  als  es  für  die  Benutzung 
derselben  zur  Erhaltung  des  gleichmässigen  Flusses  der  von  ihnen  ab- 
hängenden Reihe  von  Lebenserscheinungen  erforderlich  und  ausreichend  ist. 

Innerhalb  der  damit  gezogenen  Grenze  bildet  aber  die  Uebermitt- 
lung  von  solchen,  grossentheils  unbewussten  Vorstellungen  über  jede 
einzelne  Bewegungsphase  eine  der  nothwendigen  Vorbedingungen  für 
den  normalen  Ablauf  der  ihr  folgenden  Phase,  und  man  hat  hiernach, 
wenn  man  auch  die  scheinbare  Muskelruhe  als  eine  Bewegungsphase 
auffasst,  ganz  allgemein  in  den  Muskelzuständeu  eine  der  verschiedener], 
Ursachen  zu  erkennen,  welche  den  Organismus  zu  den  willkürlichen 
Bewegungen  veranlassen  und  diese  selbst  reguliren.  Nehmen  wir  an, 
es  gäbe  keine  anderen  Sinnesreize  und  Wahrnehmungen,  und  wir  hätten 
es  Aäelmehr  mit  einer  einfachen,  mit  dem  Impulse  versehenen  Bewegungs- 
maschine der  gedachten  Art  zu  thun,  so  können  wir  uns  auf  Grund 
des  eben  Entwickelten  sehr  wohl  vorstellen,  dass  eine  solche  zur  Aus- 
führung zw^eckmässiger  Bewegungen  ausreicht. 

Da  wir  nun  in  den  von  uns  bezeichneten  Rindentheileu  ein  Organ 
erkennen,  welches  mit  seiner  Function  den  geschilderten  Theil  des  psy- 
chischen Vorganges  deckt,  so  sehe  ich  nicht  die  Nothwendigkeit, 
dass  der  Wille  als  Solcher  noch  ein  besonderes  und  anderes  motorisches 
Organ  in  sich  schliesse.  Wenn  in  Folge  des  Zusammenwirkens  einer 
Anzahl  neu  anlangender  oder  aufbewahrter  Sinneseindrücke  die  Forde- 
rung einer  Bewegung  entsteht,  so  gewinnt  diese  Forderung  niemals  ihre 
Gestalt  etwa  in  dem  Antriebe:  innervire  Muskel  a,  &,  c,  damit  Arm  n 
den  Winkel  x  mache,    sondern  es  heisst  „nimm",    „schreibe",    „sprich" 


—     62     — 

u.  s.  w.  Die  Organe,  welche  wir  mm  kemien,  scheinen  mir  zu  ge- 
nügen, um  das  normale  Vonstattengehen  der  so  einmal  in  Fluss  ge- 
brachten Bewegung  im  Allgemeinen  zu  begreifen.  Im  Einzelnen  bestehen 
freilich  noch  Unklarheiten  genug. 

Brüc-ke^)  hat  vor  Kurzem  die  von  uns  erzielten  Bewegungsstörun- 
gen in  bündiger  Weise  der  Aphasie  an  die  Seite  gestellt.  Wenn  man 
den  Ablauf  des  Redens  und  seine  Störung  durch  jene  einzige  noch  ver- 
folgbare Rindenerkrankung  sich  vergegenwärtigen  will,  so  braucht  mau 
in  der  That  nur  die  entsprechenden  Begriffe  in  die  eben  vorgetragene 
Erwägung  einzufügen.  9) 

Die  in  der  vorstehenden  Arbeit  beschriebenen  Untersuchungen  wur- 
den zum  grössten  Theile  in  dem  Zimmer  der  Assistenten  des  anatomi- 
schen Instituts  zu  Berlin  angestellt.  Ich  sage  diesen  Herren,  insbe- 
sondere Hrn.  Fritsch,  sowie  dem  Dirigenten  des  Instituts  Hrn.  Geh. 
Rath  Reichert  für  die  mir  auf  lange  Zeit  bereitwillig  gewährte  Ueber- 
lassung  dieses  Arbeitsraumes  meinen  verbindlichen  Dank.  Ebenso  kann 
ich  nicht  unterlassen  Herrn  Dr.  Fischer,  derzeit  klinischem  Assistenten 
in  Erlangen  und  Hrn.  stud.  Prawitz,  welche  theils  im  Winter-,  theils 
im  Sommersemester  1872-73  diesen  Untersuchungen  mit  grosser  Auf- 
opferung an  Zeit  und  Mühe  assistirten,  auch  an  dieser  Stelle  meinen 
Dank  auszusprechen. 


Anmerkungen. 

7)  Ich  beziehe  diese  combinirten  Reizeffecte  nicht  mehr  auf  den  Linsen- 
kern, sondern  auf  die  innere  Kapsel. 

8)  ,,Es  haben-  diese  Versuche  einigermassen  einen  Schlüssel  zu  einer 
anderen  räthselhaften  Erscheinung  gegeben,  die  man  vor  längerer  Zeit  beob- 
achtet hat,  nämlich  der  Erscheinung  der  Aphasie." ,,Wenn  man  das 

in  derselben  Weise  betrachtet,  wie  diese  Bewegungserscheinungen,  so  kann 
man  sich  sagen:  Die  Zunge  des  Menschen  ist  nicht  gelähmt,  er  hat  auch  im 
Allgemeinen  noch  seinen  Verstand,  aber  es  fehlen  ihm  die  Mittelglieder 
zwischen  seinen  Vorstellungen  und  zwischen  den  Sprachbewegungen.  Er  kann 
die  mit  seinen  Vorstellungen  verknüpften  Impulse  nicht  auf  diejenigen  Nerven- 
bahnen übertragen,  welche  eben  die  Zunge  in  die  entsprechenden  Bewegungen 
versetzen  können,  und  darin  ist  dieser  an  und  für  sich  so  räthselhafte  und 
seltsame  Zustand  der  Aphasie  begründet."  Ernst  Brücke,  Vorlesungen  über 
Physiologie,  Bd.  II  S.  56,  57.   1873. 

9)  Die  Schicksale,  welche  meine  Deutung  der  hier  besprochenen  Er- 
scheinungen erfahren  haben,  haben  mir  Veranlassung  zur  Einschiebung  eines 
später  folgenden  Aufsatzes  gegeben. 


IV.  lieber  Production  von  Epilepsie  durch  experimentelle 
Verletzung"  der  Hirnrinde. 

Die  epileptiformen  Anfälle,  von  denen  einige  Versuchstliiere  der 
ersten  Reihe  dieser  Untersuchungen  nach  localisirter  elektrischer  Rei- 
zung der  Hirnrinde  befallen  wurden,  regten  eine  interessante  Frage  an. 
Durch  die  Versuche  von  Sir  Astley  Cooper,  Kussmaul  und  Tenner, 
Nothnagel  u.  A.,  sowie  durch  klinische  Forschungen,  unter  denen 
namentlich  die  von  Schröder  van  der  Kolk  hervorzuheben  sind,  hat 
die  Ansicht,  dass  der  epileptische  Insult  als  ein  von  der  Medulla  ob- 
longata  aufsteigender  Gefässkvampf  zu  deuten  sei,  eine  genügende  und 
für  eine  grosse  Zahl  von  Fällen  befriedigende  Basis  gefunden. 

Für  eine  andere  zur  Epilepsie  gehörende  Gruppe  befriedigt  jene 
Erklärung  aber  nicht.  Das  experimentelle  Material,  welches  ich  zur 
Aufklärung  dieser  Fragen  bringen  kann,  ist  zu  klein,  um  ein  genaueres 
Eingehen  auf  Einzelheiten  zu  rechtfertigen.  Ich  beschränke  mich  des- 
halb darauf,  an  diejenigen  Krampf  formen  anzuknüpfen,  welche  unter 
einem,  den  experimentell  hervorgerufenen  Krämpfen  ähnlichen  Bilde 
auftreten. 

Eine  Klasse  von  Epileptikern  hat  schon  vor  Zeiten  die  besondere 
Aufmerksamkeit  der  Beobachter  erregt:  ich  meine  diejenige,  bei  denen 
locale  Krämpfe  in  einem  Gliede  erst  die  Krankheit,  später  als  moto- 
rische Aura  den  Anfall  ankündigen.  Von  höchstem  Interesse  schien 
mir  stets  ein  von  Romberg*)  citirter  Fall  Odier's**).  In  Folge  eines 
Säbelhiebes  auf  das  linke  Scheitelbein  hatten  sich,  wie  es  scheint, 
Osteophyten  der  Tabula  vitrea  und  eine  Apfelgrosse  Geschwulst  in  den 
äusseren  Schichten  dieser  Theile  des  Ceutralorganes  entwickelt.  Bei 
Lebzeiten  bestanden  krampfhafte  Zusammenziehungen  der  Muskeln  des 
kleineu  Fingers  der  rechten  Hand,    die  sich  allmählich  auf  die  übrigen 


*)  Romberg,  Lehrbuch  der  Nervenkrankheiten.   3.  Aufl.   S.  691. 
**)   Odier,  Medicine  pratique  p.  181. 


—     64     — 

Muskeln  des  Gliedes  ausdehnten  und  endlich  die  jedesmalige  Einleitung 
zu  einem  epileptischen  Anfalle  machten.  In  neuerer  Zeit  hat  Hugh- 
lings  Jackson*)  mit  Vorliebe  dieses  Thema  bearbeitet  und  eine 
ziemlich  reichhaltige  Zusammenstellung  von  eigener  und  fremder 
Casuistik,  die  ich  der  Aufmerksamkeit  empfehle,  gegeben.  Wenn  bei 
derselben  auch  leider  meist  der  Sectionsbefund  fehlt,  so  ist  doch  überall 
soviel  klar,  dass  die  von  ihm  beschriebenen  Anfälle  localisirter  Natur, 
ähnlich  wie  die  Odier's,  nicht  direct  etwas  mit  dem  verlängerten 
Marke  zu  thun  haben  können.  Vielmehr  wird  man  zu  der  Annahme 
gedrängt,  dass  sie  auf  Läsionen  des  Grosshirns,  wahrscheinlich  der 
Rinde  zurückgeführt  werden  müssen. 

Vergleichen  wir  damit  nun  auch  die  von  Wem  her  und  mir  publi- 
cirten  Fälle,**)  berücksichtigen  wir  die  Entwickelung  jedes  einzelnen 
durch  Elektrisirung  der  Rinde  hervorgerufenen  Anfalles,  ferner  die  Art 
und  Weise  wie  sich  die  Epilepsie  nicht  selten  mit  dem  Irresein  com- 
plicirt,  so  fragte  es  sich,  ob  man  nicht  durch  künstliche  Pro- 
duction  von  Krankheitsprocessen  auf  der  Hirnrinde  spon- 
tane, vielleicht  habituelle  Epilepsie  würde  hervorbringen 
können. 

Denn  unsere  Krankheitsfälle,  insbesondere  der  Meinige,  zeigten 
schon  mancherlei  Symptome,  welche  stark  an  die  Epilepsie  erinnerten. 
Ich  verweise  namentlich  auf  die  in  dieser  Abhandlung  ausführlich  ge- 
schilderten vasomotorischen  Erscheinungen.  —  Bei  der  Elektrisirung 
der  Hirnrinde  begann  jeder  einzelne  Anfall  mit  Zuckungen  in  den  vor- 
her künstlich  innervirten  Muskeln,  um  sich  von  ihnen  aus  auf  das 
übrige  System  auszubreiten,  wie  es  von  Odier,  Hughlings  Jackson 
und  Anderen  geschildert  wird.  —  Für  einzelne  Formen  des  epileptischen 
Irreseins  endlich  kann  man  sich  nicht  mit  einer  Auffassung  begnügen, 
welche  dem  grossen  Gehirne  in  der  Aufeinanderfolge  der  Erscheinungen 
die  zweite  Stelle  anweist. 

In  vielen  Fällen  mag  freilich  der  vom  verlängerten  Mark  her  auf- 
steigende Anfall  so  mächtige  Erschütterungen  in  den  psychischen  Or- 
ganen hervorbringen,    dass    deren  Gefüge    der  Reibenfolge  von  Insulten 

*)  Hughlings  Jackson,  A  study  of  convulsions.  Separatabdr.  aus 
Transactions  of  the  St.  Andrews  Medic.  Grad.  Associat.  Vol.  IIL  1870.  Ferner 
The  West  Riding  lunatic  Asyl.  Medic.  Reports.  Vol.  III.  1873  und  an  anderen 
Orten.  (Vgl.  auch  meine  Lecture:  Hughlings  Jackson  und  die  motorischen 
Rindencentren  im  Lichte  physiologischer  Forschung.  Berlin  1901  und  Brain, 
Winter  Number,  1900.) 

**)  Vgl.  die  unten  folgende  Abhandlung:  Ueber  äquivalente  Regionen 
am  Gehirn  des  Hundes,  des  Affen  und  des  Menschen. 


—     65     — 

nicht  widersteht.  Aber  diejenigen  Fälle,  bei  denen  die  psychische  Er- 
krankung der  epileptischen,  psychische  Alterationen  den  einzelnen  An- 
fällen vorhergehen,  machen  es  wahrscheinlich,  dass  auch  der  umge- 
kehrte Weg,  der  vom  Grosshirn  nach  der  Medulla  obh)ngata  beschritten 
werden  kann. 

Allerdings  weist  alles  darauf  hin,  dass  auch  bei  dieser  Reihenfolge 
der  Erscheinungen  das  eigentliche  Wesen  des  Anfalles  im  vasomotori- 
schen Krämpfe  besteht.  War  es  aber  möglich,  die  auslösende  Kraft  auf 
einen  chronischen  Reiz  im  Grosshirn  experimentell  zurückzuführen? 
Auf  diese  Frage  werden  die  nachstehenden  Versuche  Antwort  geben. 

Versuch  I.  Einem  Ideinen,  schwarzen,  weiblichen  Pinscher  wurde  am 
2.  IV.  70  in  der  Morphiumnarkose  nach  Aufsetzung  einer  Trepankrone  ein 
linsengrosses  Stück  des  Centrums  für  die  rechte  Vorderextremität  ex- 
stirpirt  und  die  Hautwunde  alsdann  durch  Knopfnähte  vereinigt.  Nach  be- 
endigter Operation  wurden  die  früher  beschriebenen  Störungen  des  Muskel- 
bewusstseins  der  rechten  Vorderpfote  beobachtet.  Die  Nase  war  den  Tag  über 
kalt,  Schwanz  eingeklemmt. 

3.  IV.  Nase  warm.  Puls  140,  unregelmässig,  Respiration  sehr  tief,  18. 
Frostschauder,  Schwanz  zwischen  den  Beinen;  frisst  jedoch  etwas. 

4.  IV.  Hat  noch  Fieber,  frisst  und  säuft  jedoch,  die  Wunde  per  primam 
geschlossen.  Die  Anomalieen  der  Bewegungen  der  rechten  Vorderpfote  sind 
noch  mehr  ausgesprochen  als  an  den  vorigen  Tagen. 

5.  IV.  Kein  Fieber  mehr,  leiser  Druck  auf  die  etwas  geschwollene  Ope- 
rationsstelle sehr  empfindlich  und  von  Zuckungen  in  der  rechten  Vor- 
derextremität gefolgt,  nachher  liegt  der  Hund  eine  Weile  apathisch  da. 

6.  IV.  Die  Störungen  des  Muskelbewusstseins  beginnen  etwas  zurückzu- 
treten. 

16.  IV.  Scheinbar  ganz  gesund  und  trächtig;  nur  die  auf  Seite  32,  33 
erwähnten  Störungen  des  Muskelbewusstseins  noch  vorhanden. 

Wirft  im  Mai  drei  Junge. 

Am  26.  VI.  nachdem  er  sich  bis  dahin  ganz  wohl  befunden  hat,  ein 
me-hrere  Stunden  dauernder,  epileptischer  Anfall;  nachher  ist  er 
sehr  verstört,  schreckhaft  und  frisst  nicht.  Derartige  Anfälle  wiederholen  sich 
von  da  an  täglich  oder  mindestens  alle  zwei  Tage,  manchmal  treten  sogar 
mehrere  Anfälle  an  einem  Tage  auf.  Ausserdem  nahm  ein,  bereits  seit  Mitte 
Juni  bemerkter  Räudeähnlicher  Ausschlag  immer  mehr  zu,  so  dass  der  Hund 
am  8.  Juli  getödtet  wurde. 

Section :  An  Stelle  des  heraus  trepanirten  Knochenstücks  eine  sehr  derbe 
bindegewebige  Masse  die  der  Haut,  den  Rändern  des  Knochens  und  der  Dura, 
sowie  dem  Gehirne  fest  adhärirte;  darunter  ein  bräunlicher  Erweichungsheerd 
von  einer  weissen,  erweichten  fast  Haselnussgrossen  Partie  umgeben.  Ander- 
weitige Veränderungen,  insbesondere  an  den  Häuten  fehlen. 

Versuch    IL     Einem  kleinen  Hunde  wurde  am    30.  VIR  71    das    durch 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     I.  Tlieil.  F. 


—     66     — 

Trepanation  frei  gelegte  Centrum  für  die  rechte  Vord  erextremität 
kauterisirt,*)  ohne  dass  die  Pia  vorher  abgetragen  worden  wäre;  sodann 
wurde  die  Wunde  mit  xiusnahme  des  unteren  Wundwinlcels  zugenäht.  Un- 
mittelbar nach  der  Operation  zeigt  das  Thierchen  auf  dem  rechten  Vorder- 
beine die  gewöhnlichen  Störungen  des  Muslcelbewusstseins,  ausserordentlich 
stark  ausgeprägt.  Ausserdem  werden  etwa  Y2  Stunde  lang  absatzweise, 
tonische  Extensionsbewegungen  der  Extremität  beobachtet.  Die 
hintere  Extremität  zeigt  geringe  Störungen  des  Muskelbewusstseins. 
31.  VIT.   Kein  Fieber,  Fresslust,  das  Secret  hat  freien  Abfluss. 

2.  VIII.  Das  Hinterbein  zeigt  nichts  Abnormes  mehr,  das  Vorderbein  wie 
früher. 

3.  VIII.  Vorderbein  wird  schon  nicht  mehr  so  ungeschickt  aufgesetzt, 
die  Wunde  ist  heute  zum  Theil  aufgebrochen. 

18.  VIII.  Nach  längerer  Eiterung  die  Wunde  allmählich  geheilt,  die 
Störungen  des  Muskelbewusstseins  auch  in  der  vorderen  Extremität  ziemlich 
geschwunden.  Nur  ist  dieselbe  immer  etwas  mehr  nach  innen  rotirt,  so  dass 
das  Kniegelenk  mehr  nach  aussen  vom  Rumpfe  absteht,  ausserdem  rutscht  das 
Thier  stets  mit  dem  rechten  Beine  nach  aussen  und  vorn  davon,  wenn  es, 
durch  die  Leine  zurückgehalten,  nach  der  Speise  drängt.  Plötzlich  ein 
wohlcharakterisirter,  circa  eine  Viertelstunde  dauernder  epi- 
leptischer Anfall.  Nach  Beendigung  desselben  stundenlang 
Krämpfe  in  der  rechten  Vorderextremität. 

In  den  nächsten  Tagen  ist  der  Hund  ausserordentlich  schwach,  hält  die 
Vorderextremität  meist  gegen  den  Leib  gezogen  und  verweigert  die  Nahrung 
gänzlich. 

21.  Vm.    Tod. 

Section  22.  VHI. :  Dura  und  Pia  der  Convexität  links  sehr  injicirt, 
Schädelhaut  an  der  Operationsstelle  durch  eine  bindegewebige  Masse  mit  dem 
Gehirne  verwachsen.  Andere  Verwachsungen,  Auflagerungen  oder  Ergüsse 
fehlen.  An  der  Operationsstelle  weisse  Erweichung,  in  der  Mitte  keilförmiger 
brauner  Heerd. 

Versuch  III.  Einem  kleinen  braunen  Hunde  wurde  am  13.  IX.  71  ein 
Theil  des  durch  Trepanation  freigelegten  Centrums  für  die  rechte  Vor- 
derextremität exstirpirt  und  die  Wunde  durch  die  Naht  vereinigt. 

14.  IX.  Aeusserst  heftige  Krämpfe,  an  denen  sich  immer  alle 
Muskeln  der  rechten  Körperhälfte,  die  Kau-  und  Pvespirations- 
muskeln  und  die  Augenmuskeln  beider  Seiten  betheiligen,  so  dass 
ein  nach  unten  gerichteter  Nystagmus  entsteht.  Die  Muskeln  der  linken 
Körperhälfte  betheiligen  sich  ausnahmsweise.  Die  Anfälle  werden  durch  kurzes 
Geschrei  und  Bellen  eino-eleitet  und  unterbrochen,  während  derselben  Schaum 


*)  Ueber  die  von  mir  angewandte  Methode  der  chemischen  und  mecha- 
nischen Reizung,  sowie  deren  Resultate  werde  ich  an  einem  anderen  Orte  aus- 
führlicher berichten.  ^^) 


—     67      — 

vor  der  Schnauze.  Auf  die  Pupillen  wurde  nicht  geachtet.  Tod  an  demselben 
Tage  um  2  Uhr  Mittags. 

Section  um  3  Uhr.  Etwas  aber  sehr  wenig  blutig-wässerige  Flüssigkeit 
zwischen  Schädel  und  Haut,  so  dass  nicht  einmal  eine  Anschwellung  der 
Stelle  äusserlich  wahrzunehmen  war.  Die  Schädelwunde  durch  einen  geringen 
Prolapsus  cerebri  ausgefüllt. 

Im  Gehirn  selbst  und  an  den  Häuten  mit  Ausnahme  einer  Ideinen  rothen  Er- 
Aveichung  an  der  Operationsstelle  absolut  nichts,  nicht  einmal  stärkere  Injection. 

Versuch  IV.  Einem  etwa  5  Monate  alten  kleinen  Hunde  wurde  am  30. 
IV.  73  ein  Theil  des  durch  Trepanation  freigelegten  Centrums  für  die 
Hinterextremität  exstirpirt  und  die  Wunde  durch  die  Naht  vereinigt. 
Störungen  des  Muskelbewusstseins  sind  nach  der  Operation  sehr  unbedeutend, 
übrigens  in  der  Vorderextremität  noch  eher  deutlich  als  an  der  hinteren  Ex- 
tremität. 

Die  Wunde  heilt  unter  Eiterung  langsam. 

16.  V.  Anfall  von  wohlcharakterisirten ,  epileptischen  Kräm- 
pfen, der  sich  am  17.  und  von  da  an  bis  zum  18.  Morgens,  wo  der 
Tod  erfolgte,  fast  unaufhörlich  wiederholte. 

Section:  18.  V.  Hautwunde  fast  vernarbt.  An  der  Stelle  des  Knochen- 
defects  noch  weiches  Granulationsgewebe.  Die  Dura  der  rechten  Schädel- 
hälfte nirgends  adhärent  und  auch  sonst  durchaus  normal.  Die  Dura  der 
linken  Schädelhälfte  überall,  besonders  nach  hinten  zu  weisslich  getrübt, 
erheblich  verdickt,  an  der  Innenfläche  mit  sehr  zahlreichen  kleineren  und 
grösseren  Blutextravasaten  und  Gefässramificationen  bedeckt,  jedoch  der  Pia 
nicht  adhärent.  Beim  Anschneiden  der  Merabr.  atlanto-occip.  fliesst  eine 
nicht  erhebliche  Menge  Cerebrospinalflüssigkeit  und  etwas  Blut  ab.  Ueber 
dem  linken  Kleinhirn  dicht  am  Tentorium  und  der  Mittellinie  ein  etwa  2,5  cm 
langes,  3  mm  breites  Coagulum.  Die  Pia  der  Basis  ebenfalls  getrübt,  um  die 
grösseren  Gefässe  herum  etwas  serös  infiltrirt. 

Entsprechend  der  Trepanationsstelle  gelbliche  Färbung  der  Rinde  und 
im  Centrum  derselben  ein  braunröthlicher  4 — 5  mm  in  die  Tiefe  reichender 
Infarct.   In  den  Ventrikeln  keine  Flüssigkeit,  deren  Ependym  rein  weiss. 

Bei  drei  von  diesen  vier  Versuch  stilleren  liegen  die  Verhältnisse 
so  klar  und  uncomplicirt  wie  möglich.  Der  Heerd  in  der  Rinde  zog 
nach  kürzerer  oder  längerer  Zeit  den  epüeptiformen  Anfall  nach  sich, 
die  Section  ergab  makroskopisch  keine  anderen  Resultate,  welche  das 
Krankheitsbild  hätten  erklären  können.  In  dem  vierten  Falle  fand  sich 
freilich  eine  frische  hämorrhagische  Meningitis,  indessen  geht  aus  dem 
Befunde  der  drei  anderen  Sectionen  hervor,  dass  die  Entzündung  der 
Häute  nicht  den  nothwendigen  Factor  ausmacht,  sondern  als  accidentell 
zu  betrachten  ist. 

Ich  glaube,  dass  die  Resultate  dieser  Versuche  in  der  That  dazu 
ausreichen,    die  gestellte  Frage  bejahend  zu  beantworten:   Verletzung 

5* 


—     68     — 

der  Hiruriade  kann  Epilepsie  nach  sich  ziehen.  Aber  hiermit 
ist  der  Gegenstand  nicht  erschöpft,  sondern  erst  augeregt.  Welche 
Theile  der  Rinde  reagiren  in  dieser  Weise?  Welches  sind  die  Bahnen 
der  secundären  Degeneration?  Führen  diese,  wie  nach  Meynert  zu 
erwarten  wäre,  durch  das  Ammonshorn?  Lässt  sich  der  Weg  anato- 
misch in  die  Medulla  oblongata  verfolgen?  Das  sind  die  nächsten 
Fragen  von  brennendstem  Interesse,  welche  sich  aufdrängen.  Ich  hoffte 
ihre  Lösung  wenigstens  zum  Theil  selbst  unternehmen  zu  können.  Da 
die  Aussicht  hierauf  indessen  gering  wird,  begnüge  ich  mich  mit  dem 
bescheideneren  Verdienste,  sie  anzuregen. 


-Anmerkungen. 

10)  Ich  bin  auf  diese  Frage  nur  noch  einmal  in  meinem  Vortrage  vom 
9.  Dezember  1876:  „Ueber  den  heutigen  Stand  der  Frage  von  der  Localisation 
im  Grosshirn",  R.  Volkmann 's  Sammlung  klinischer  Vorträge,  No.  112, 
1877,  zurückgekommen.  Es  heisst  daselbst  S.  969f. :  „Ferner  gelingt  es 
gleichfalls  in  Ausnahmefällen,  wiederholte  tonische  und  klonische  Zuckungen 
in  der  Vorderextremität  hervorzubringen,  wenn  man  auf  der  frisch  verletzten 
Stelle  ein  Stück  Feuerschwamm  eintrocknen  lässt."  —  ■ —  ■ — 

„Aehuliche  Reizetfecte  gewahrt  man,  wenn  man  Essigsäure  und  dann  Liq. 
ferri  sesquichlor.  vorsichtig  vermittelst  kleiner  Schwammstückchen  auf  die  Pia 
applicirt." 

Im  zweiten  Theile  dieses  Buches  habe  ich  dann  noch  ähnliche,  in  Folge 
von  Aetzung  mit  ö^^/giger  Carbolsäure  auftretende  Reizeffecte  erwähnt. 

11)  Die  vorstehende  Arbeit  und  die  in  der  von  Fritsch  und  mir  ge- 
meinschaftlich publicirten  Abhandlung  enthaltenen  Befunde  über  corticale  Er- 
regung von  Epilepsie  haben  zu  zahllosen  Arbeiten  über  diesen  Gegenstand 
geführt.  Es  ist  dabei  manchmal  sonderbar  zugegangen.  Ich  will  darauf  nicht 
näher  eingehen:  indessen  halte  ich  es  doch  nicht  für  überflüssig  meinen  nach- 
stehenden Aufsatz  der  Vergessenheit  zu  entreissen. 

Zur  Geschichte  der  Epilepsie. 
Auf  dem  jüngst  zu  Berlin  abgehaltenen  XV.  Congress  für  innere  Medicin 
hat  eine  Meinungsverschiedenheit  zwischen  Herrn  Prof.  ünverricht  und  mir 
über  meinen  Antheil  an  der  Aufklärung  der  Pathogenese  der  Epilepsie  ihren 
Ausdruck  gefunden.  Herr  Ünverricht  hatte  ein  Referat  über  die  Epilepsie 
übernommen  und  seine  Aufgabe  derart  gelöst,  dass  er  im  Wesentlichen  nur 
über  seine  eigenen,  seit  dem  Jahre  1883  unternommenen  Arbeiten  und  die- 
jenigen seiner  Schüler  referirte.  Dabei  ergab  es  sich,  dass  er  meiner  Betheili- 
gung bei  der  Lösung  der  einschlägigen  Fragen  nicht  nur  überhaupt  nicht  ge- 
dachte, wogegen  ich  nichts  einzuwenden  gehabt  hätte,  sondern  dass  er  auch 
die  Behauptung  aufstellte,  dass  erst  durch  seine  und  seiner  Schüler 
Arbeiten  die  corticale  Entstehung  der  Epilepsie  nachgewiesen  sei. 


—     69     — 

Eine  Erwiderung  hierauf  war  mir  an  sich  nicht  sympathisch  und  ich 
glaubte  auch,  um  so  eher  darauf  verzichten  zu  l<önnen,  als  der  Vortragende 
durch  die  Herren  Binswanger  und  Jolly  hinreichend  deutlich  darauf  hin- 
gewiesen worden  war,  dass  er  mich  eigentlich  doch  wohl  hätte  nennen  sollen. 
Ich  schwieg  also  zunächst.  Nachdem  Herr  Unverricht  aber  in  seinem 
Schlussworte  die  ihm  gemachten  Vorhaltungen  zurückgewiesen  und  ausdrück- 
lich die  Berechtigung  seines  Anspruches  aufrecht  erhalten,  den  oben  ange- 
führten Satz  wiederholt  und  hinzugefügt  hatte,  er  glaube  gegen  die  historische 
Gerechtigkeit  nicht  Verstössen  zu  haben,  so  sah  ich  mich  wohl  oder  übel  ge- 
nöthigt,  doch  noch  auf  die  Sache  zurückzukommen,  und  ich  that  dies  anläss- 
licli  der  Discussion  über  den  Vortrag  des  Herrn  Richard  Ewald.  Aus  diesem 
Theile  der  Discussion  will  ich  nur  hervorheben,  dass  ich  ausdrücklich  erklärte, 
ich  hielte  das  Verlangen,  dass  jeder  Aator  bei  jeder  Gelegenheit,  zumal  bei 
einem  Vortrage,  genannt  werde,  für  gänzlich  unberechtigt,  und  so  würde  ich 
auch  im  vorliegenden  Falle  nichts  dagegen  einzuwenden  gefunden  haben,  wenn 
Herr  Unverricht  mich  einfach  nicht  genannt  hätte,  ebenso  wenig,  wie  ich 
etwas  dagegen  zu  erinnern  hatte,  dass  dies  auch  von  Seiten  des  Herrn  Ewald 
unterlassen  worden  sei.  Herr  Unverricht  habe  aber  sich  selbst  die  Fest- 
stellung von  Thatsachen  zugeschrieben,  die  in  Wirklichkeit  theils  von  mir 
allein,  theils  von  mir  im  Verein  mit  Herrn  Fritsch  festgestellt  worden  waren. 
Hiermit  sei  er  weiter  gegangen,  als  er  hätte  gehen  dürfen,  und  dagegen  müsse 
ich  mich  verwahren.  Nun  hat  Herr  Unverricht  sich  auch  damit  nicht  zu- 
frieden gegeben,  sondern  seine  Ansprüche  weiter  aufrecht  erhalten,  so  dass  ich 
den  Schluss  ziehen  muss,  er  werde  dies  auch  bei  seinen  ferneren  Publicationen 
thun,  und  dies  nöthigt  mich,  sehr  gegen  meinen  Willen,  den  Sachverhalt  in 
Kürze  klarzulegen. 

Hughlings  Jackson*)  hatte  bekanntlich  schon  früher  auf  Grund  klini- 
scher Beobachtungen  die  Ansicht  ausgesprochen,  dass  sich  in  der  Hirnrinde 
motorische  Centren  befinden  möchten,  und  dass  deren  krankhafte  Entladung 
zu  der  später  nach  ihm  benannten  sogenannten  Rindenepilepsie  führe.  Er 
suchte  dieselben  in  der  Gegend  des  Corpus  striatum  oder  der  Arteria  fossae 
Sylvii.  Indessen  war  weder  durch  diese  noch  durch  andere  klinische  oder  ex- 
perimentelle Untersuchungen  bis  zu  dem  Jahre  1870  auch  nur  der  geringste, 
überzeugende  Beweis  für  die  Auslösung  epileptischer  Krämpfe  durch  die  Hirn- 
rinde geliefert  worden. 

Im  Frühjahre  dieses  Jahres  erschien  die  von  mir  gemeinschaftlich  mit 
Herrn  Fritsch  publicirte  Arbeit  „über  die  elektrische  Erregbarkeit  des  Gross- 
hirns"**), aus  der  ich  die  nachstehenden  Sätze  citire. 


*)  Hughlings  Jackson,  A  study  of  convulsions.  Separatabdruck 
aus  Transactions  of  the  St.  Andrews  Medic.  Grad.  Associat.  Vol.  111.  1870. 
Clinical  and  physiological  researches  on  the  nervous  system.  Repr.  from 
„The  Lanzet".   1873. 

**)  Fritsch  und  Hitzig,  Reichert's  und  du  Bois-Reymond's 
Archiv  1870.   H.  3. 


_      70     — 

„Schon  nach  einer  Reizung  (mit  tetanisirenden  Strömen)  von  wenig* 
Secunden  Dauer  treten  Nachbewegungen  in  der  abhängigen  Muskulatur 
ein,  die  im  Gebiet  des  Facialis  einen  deutlich  zitternden  Charakter  tragen.  Die 
Extremitäten  zeigen  mehr  das  Bild  klonischer  Krampfbewegungen  —  Unter- 
schiede, die  jedenfalls  von  der  verschiedenen  Art  der  Muskelanheftung  ab- 
hängig sind.     Diese  localen  Krampfanfälle  können  sich,   auch  wenn  man  dem 

Gehirn  Ruhe   lässt,    mehrfach    wiederholen. Bei   zweien  unserer 

Versuch  sthiere  bildeten  sich  aus  diesen  Nachbewegungen  wohl- 
charakterisirte  epileptische  Anfälle  heraus*).  Der  Anfall  begann 
halbseitig  mit  Zuckungen  in  der  vorher  gereizten  Muskulatur,  breitete  sich 
aber  dann  auf  alle  Körpermuskeln  aus,  so  dass  es  zu  einem  vollständigen 
Strecktetanus  kam.  Die  Pupillen  waren  dabei  ad  maximum  erweitert.  Eins 
von  den  Thieren  hatte  zwei,  das  andere  drei  solcher  Anfälle". 

Es  geht  hieraus  unbestreitbar  hervor,  dass  wir  bereits  im  Jahre  1870 
nachgewiesen  hatten, 

1.  dass  epileptiforme  Anfälle  durch  elektrische  Reizung  der  Hirnrinde 
erzeugt  werden  können; 

2.  dass  diese  Anfälle  in  der  gereizten  Muskulatur  beginnen; 

3.  dass  sie  alsdann  die  gleichnamige  Seite  befallen; 

4.  dass  sie  sich  weiter  auf  die  gesammte  Körpermuskulatur  ausbreiten 
können ; 

5.  dass  die  Erscheinungen  der  sogenannten  Jackson'schen  Epilepsie 
einer  kurzdauernden  Rindenreizung,  als  sich  mehrfach  wieder- 
holende Nachbewegungen  folgen  können; 

6.  dass  diese  künstlich  erzeugten  Jackson'schen  Anfälle  sich  zu  voll- 
ständigen und  sich  mehrfach  wiederholenden,  epileptiformen 
einfallen  entwickeln  können. 

Jackson  ist  übrigens  der  Erste  gewesen,  welcher  die  Bedeutung  dieser 
neuen  Thatsachen  für  die  von  ihm  vertretene  Lehre  in  einer  mir  und  Ferrier 
gewidmeten,  oben  citirten  Abhandlung  in  vollem  Maasse  anerkannt  hat. 

So  viel  von  den  Resultaten  der  elektrischen  Reizmethode.  Ich  will  nur 
kurz  hinzufügen,  dass  ich  den  eben  angeführten  Beobachtungen  analoge, 
später  noch  in  zahllosen  Fällen  gemacht  habe,  wie  z.  B.  aus  S.  71/72  meines 
Buches**)  hervorgeht.  Indessen  kann  man  aus  Reizversuchen,  auf  die,  so  viel 
ich  sehe,  sich  die  wissenschaftlichen  Ansprüche  des  Herrn  ün verriebt  allein 
stützen,  wohl  etwas  über  den  Ursprung,  die  Verbreitungsweise  und  die  Natur 
des  epileptischen  Anfalls,  aber  nichts  über  die  Epilepsie  beweisen. 

Mit  dieser  Frage  beschäftigt  sich  eine  kleine,  unter  dem  Titel:  „Ueber 
Production  von  Epilepsie  durch  experimentelle  Verletzung  der  Hinrinde"  in 
dem  angeführten  Buche  (S.  271/76),  also  im  Jahre  1874  publicirte  Abhand- 
lung. Ich  hebe  aus  derselben  das  Nachstehende  hervor:  Den  Ausgangspunkt 
für   die  Fragestellung    bildete    die  Gegenüberstellung    der   für    die    medulläre 

*)  Im  Original  gesperrt. 
**)  E.  Hitzig,  Untersuchungen  über  das  Gehirn.  Berlin  1874, 


—     71      — 

Theorie  sprechenden  Errahriingen  und  der  soeben  erörterten  llcizversuohe, 
welche  ebenso  wie  eineAnzalil  von  klinischen  Beobachtungen  (Odier,  liugli- 
lings  Jackson,  Hitzig,  Wernher)  für  die  corticale  Entstellung  gewisser 
Formen  von  Epilepsie  sprachen.  Es  heisst  dann:  „Berücksichtigen  wir  die 
Entwicklung  jedes  einzelnen  durch  Elektrisiren  der  liinde  hervorgerufenen  An- 
falles, ferner  die  Art  und  Weise,  wie  sich  die  Epilepsie  nicht  selten  mit  dem 
Irresein  complicirt,  so  fragte  es  sich,  ob  man  nicht  durch  künstliche 
Production  von  Kran kheitsprocessen  auf  der  Hirnrinde  spontane, 
vielleicht  habituelle  Epilepsie  würde  hervorbringen   können"*). 

,,Bei  der  Elektrisirung  der  Hirnrinde  begann  jeder  einzelne  Anfall  mit 
Zuckungen  in  den  vorher  künstlich  innervirten  Muskeln,  um  sich  von  ihnen 
aus  auf  das  übrige  S3'Stem  auszubreiten,  wie  es  von  Odier,  Hughlings 
Jackson  und  Anderen  geschildert  wird.  —  Für  einzelne  Formen  des  epilep- 
tischen Irreseins  kann  man  sich  nicht  mit  einer  Auffassung  begnügen,  welche 
d^m  grossen  Gehirne  in  der  Aufeinanderfolge  der  Erscheinungen  die  zweite 
Stelle  anweist. Diejenigen  Fälle,  bei  denen  die  psychische  Erkran- 
kung der  epileptischen,  psychische  Alterationen  den  einzelnen  Anfällen  vor- 
hergehen, machen  es  wahrscheinlich,  dass  auch  der  umgekehrte  Weg,  der  vom 
Grosshirn  nach  der  MeduUa  oblongata,  beschritten  werden  kann". 

Die  gestellte  Frage  wurde  dann  durch  vier  Versuche  beantwortet,  bei 
denen  dreimal  eine  Exstirpation,  einmal  eine  Cauterisation  im  Bereiche  der 
Centren  für  die  Extremitäten  vorgenommen  war.  Alle  vier  Hunde  wurden  epi- 
leptisch, bei  zweien  von  ihnen  trat  der  Tod  im  Status  epilepticus  ein.  Ich 
schloss  daraus:  ,,Ich  glaube,  dass  die  Resultate  dieser  Versuche  in  der  That 
ausreichen,  die  gestellte  Frage  bejahend  zu  beantworten:  Verletzung  der 
Hirnrinde  kann  Epilepsie  nach  sich  ziehen*).  Aber  hiermit  ist  der 
Gegenstand  nicht  erschöpft,  sondern  erst  angeregt.  Welche  Theile  der  Rinde 
reagiren  in  dieser  Weise?  Welches  sind  die  Bahnen  der  secundären  Degenera- 
tion? Führen  diese,  wie  nach  Meynert  zu  erwarten  wäre,  durch  das  Ammons- 
horn?  Lässt  sich  der  Weg  anatomisch  in  die  Medulla  oblongata  verfolgen?  Das 
sind  die  nächsten  Fragen  von  brennendstem  Interesse,  welche  sich  aufdrängen". 

Man  sieht,  ich  bin  weit  davon  entfernt  gewesen,  den  Gegenstand  durch 
meine  eigenen  Untersuchungen  für  abgeschlossen  zu  halten,  und  so  bin  ich 
auch  heute  gern  bereit,  die  Arbeiten  meiner  Nachfolger,  unter  ihnen  auch  die 
des  Herrn  Unverricht,  zu  schätzen  und  anzuerkennen.  Indessen  ist  es  mir 
nach  allem  Diesem  ganz  unverständlich,  wie  dieser  Autor  das  Verdienst,  die 
corticale  Entstehung  der  Epilepsie  nachgewiesen  zu  haben,  für  sich 
und  seine  Schüler  in  Anspruch  nehmen  konnte;  es  ist  mir  um  so  unver- 
ständlicher, als  er  in  seiner  1883,  also  dreizehn  Jahre  nach  unserer  ersten  Ar- 
beit publicirten  Habilitationsschrift**)  die  Resultate  unserer  vorgedachten 
Untersuchungen  angeführt  hat. 


*)  Im  Original  gesperrt. 
**)   Unverricht,  Experimentelle  und  klinische  Untersuchungen  über  die 
Epilepsie.    Archiv  f.  Psychiatrie  u.  Nervenkrankheiten  Bd.  XIV. 


—     72     — 

Ich  hatte  in  meiner  zuletzt  erwähnten  Abhandlung  die  corticale  Ent- 
stehung der  Epilepsie  nur  für  eine  bestimmte  Gruppe  von  Krankheitsfällen 
in  Anspruch  genommen  und  auch  für  diese  Gruppe  die  Vermuthung  ausge- 
sprochen, dass  dabei  Gefässkrämpfe  eine  wesentliche  Rolle  spielten.  Beiläufig 
gesagt,  verwies  ich  in  dieser  Abhandlung,  was  mit  Bezug  auf  die  von  Unver- 
richt  constatirte  vasomotorische  Epilepsie  nicht  ohne  Interesse  ist,  auf 
S.  116/117  meines  Buches,  an  welcher  Stelle  sehr  auffällige  und  bis  dahin 
meines  Wissens  nicht  beschriebene  Erscheinungen  von  vasomotorischem  Krampf 
bei  einem  Fall  von  Rindenepilepsie  angeführt  worden  sind.  Wenn  Herr  ün- 
verricht  sich  also  mit  der  Behauptung  begnügt  hätte,  er  habe  nachgewiesen, 
dass  nicht  nur  eine  Gruppe,  sondern  alle  Fälle  von  Epilepsie  ihren  Aus- 
gangspunkt von  der  Rinde  nähmen,  so  würde  es  sich  lediglich  um  eine  sach- 
liche Meinungsverschiedenheit  handeln.  Er  ist  aber  weiter  gegangen  und  dazu 
hatte  er  kein  Recht. 

Herr  Unverricht  hat  sich  damit  zu  entschuldigen  versucht,  dass  meine 
Untersuchungen  so  bekannt  wären,  dass  er  sie  auf  dem  Congress  für  innere 
Medicin  nicht  erst  anzuführen  brauche.  Ich  wünschte,  er  hätte  Recht.  Aber 
wenn  dies  auch  zuträfe,  so  würde  ihm  doch  nicht  erlaubt  sein,  sich  selbst  die 
Entdeckung  von  Thatsachen  zuzuschreiben,  welche  ich  gefunden  habe.  Er  hat 
aber  leider  nur  insofern  Recht,  als  er  etwa  die  Entdeckung  der  elektrischen 
Erregbarkeit  des  Grosshirns  meint.  In  meinem  mehrfach  citirten  Buche  stehen 
aber  sonst  noch  recht  viele  neue  Thatsachen,  die  ich  mir  gern  als  mein 
Eigenthum  bewahren  möchte,  deren  Entdeckung  aber  von  Deutschen  und  Aus- 
ländern bald  Diesem,  bald  Jenem  zugeschrieben  wird.  Vor  Kurzem  erst  habe 
ich  auf  einen  solchen  Irrthum  v.  Bergmann's  aufmerksam  gemacht.  Das 
jüngst  in  deutscher  Uebersetzung  erschienene  Buch  von  Fere*)  könnte  mir 
zu  ähnlichen  Einwendungen  Veranlassung  geben,  wenn  ich  überhaupt  die  Ab- 
sicht hätte,  solche  ,, Verstösse  gegen  die  historische  Gerechtigkeit"  regelmässig 
zu  verfolgen.  Mir  genügt  es,  bei  gegebenem  Anlass  die  Thatsache  zu  consta- 
tiren;  soll  ich  aber  sonst  in  eigener  Sache  das  Wort  ergreifen,  so  bedarf  es 
schon  so  besonderer  Umstände,  wie  sie  z.  B.  die  Beharrlichkeit,  mit  der  Herr 
Unverricht  seinen  unbegründeten  Anspruch  aufrecht  erhielt,   kennzeichnen. 


*)  Fere,  Die  Epilepsie.   Uebersetzt  von  Paul  Ebers.   1896. 


V.  Lälimimg'sversiiche  am  Grrosshirii. 

Die  erste  Reihe  dieser  Untersuchungen  beschäftigte  sich,  insoweit 
die  Erforschung  des  Grossbinis  angestrebt  wurde,  vornehmlich  mit  Reiz- 
versuchen. Wenn  mir  auch  die  vielfachen  Lücken  und  Unvollkommen- 
heiten  jener  Arbeiten  nicht  entgehen,  so  glaube  ich  doch,  dass  in  den- 
selben der  Stoff  zu  einem  gewissen  Abschlüsse  gebracht  und  einem 
Punkte  zugeführt  worden  ist,  bei  Avelcheni  die  Herbeiziehung  anderer 
Methoden  anfängt,  dringender  zu  werden  als  die  gleichwohl  nothwendige 
Fortführung  der  bisher  geübten. 

Bereits  in  der  mit  Hrn.  Fritsch  gemeinschaftlich  publicirten  Ab- 
handlung waren  die  Resultate  von  zwei  localisirten  Lähmungsversuchen 
berichtet.  Aus  einer  Zahl  später  nach  derselben  Methode  angestellter 
Versuche  habe  ich  ferner  in  dem  erwähnten  Buche  einige  Fälle  mit- 
getheilt,  bei  denen  ähnliche  Verletzungen  im  Laufe  der  Zeit  epilepti- 
forme  Anfälle  herbeigezogen  hatten.  Bei  allen  diesen  Thieren  hatten 
sich  im  unmittelbaren  Gefolge  der  Hirnverletzung  Anomalien  der  Be- 
wegung gezeigt,  welche  ich  mit  dem  Namen  „Störung  des  Muskel- 
bewusstseins"  bezeichnete,  und  welche  seither  so  vielfach  besprochen 
worden  sind,  dass  ich  mich  an  dieser  Stelle  auf  ihre  Erwähnung  be- 
schränken darf.  Später  werden  wir  ihrer  noch  eingehender  zu  gedenken 
haben.  Ausgehend  von  diesen  Versuchen  hatte  ich  unter  Benutzung 
der  Reizversuche  den  Schluss  gezogen,  dass  die  ziemlich  allgemein  ver- 
breitete, ursprünglich  von  Flourens  herrührende  Ansicht  von  dem  Ver- 
hältniss  der  Substanz  des  Grosshirnes  zu  den  ihm  zugeschriebenen 
Functionen  irrig  sei.  Ich  behauptete,  dass  die  Hirnlappen  nicht,  wie 
Flourens  wollte,  mit  ihrer  ganzen  Masse  für  .die  ungeschmälerte  Aus- 
übung ihrer  Functionen  einträten,  ohne  dass  es  gesonderte  Gebiete 
für  die  verschiedenen  Fähigkeiten,  oder  für  die  verschiedenen  Wahr- 
nehmungen gäbe;  ich  schloss  vielmehr,  „dass  sicher  einzelne  seelische 
Functionen,    wahrscheinlich  alle,   zu  ihrem  Eintritt  in  die  Materie,  oder 


—     74     — 

zur  Entstehung  aus  derselben,  auf  circumscripte  Centra  der  Grosshirn- 
rinde angewiesen  seien". 

Insovveit  dieser  Scliliiss  sich  lediglich  auf  meine  eigenen  Versiiche 
stützte,  konnte  man  ihm  eine  Lücke  in  der  Beweisführung  vorwerfen. 
Sämmtliche  Versuche  waren  im  Gyrus  e  meiner  Figuren  (Gyr.  postfront. 
Owen,  hinterer  Schenkel  des  Gyrus  sigmoides)  ausgeführt  worden. 
Wenn  nun  durch  dieselben  auch  die  Reaction  einer  bestimmten  Stelle 
gegen  lähmende  Einflüsse  festgestellt  schien,  so  fehlten  doch  die  Parallel- 
versuche au  den  übrigen  Theilen  der  Hirnrinde,  und  es  wäre  immerhin 
möglich  gewesen,  dass  von  dort  aus  dieselben  Erscheinungen  hätten 
hervorgebracht  werden  können.  War  doch  den  früheren  Beobachtern 
jene  Störung  des  Muskelbewusstseins,  als  Folge  von  Hirnverletzungen, 
überhaupt  entgangen.  Man  konnte  also  nicht  wissen,  ob  sie  das  Vorder- 
hirn nur  nicht  untersucht,  oder  ob  sie  an  die  Aufsuchung  der  fraglichen 
Anomalie  überhaupt  nicht  gedacht  hatten.  Dieser  Einwand  gewann 
unstreitig  an  Gewicht  durch  den  Umstand,  dass  in  neuester  Zeit  wenn 
auch  unberechtigte  Zweifel  gegen  die  von  mir  behauptete  Auslösung 
der  Reizphänomene  von  den  excentrischen  Partien  des  Grosshirns  vor- 
gebracht worden  sind. 

Freilich  hat  Nothnagel  in  seinen  experimentellen  Untersuchungen 
über  die  Functionen  des  Gehirns*)  Lähmungsversuche  an  den  ver- 
schiedensten Stellen  der  Rinde  vorgenommen,  indem  er  dort  Chrom- 
säureherde von  Hirsekorngrösse  schuf.  Lidessen  scheinen  mir  diese  an 
und  für  sich  sehr  werthvollen  Versuche  die  aufgeworfene  Frage  zwar 
wesentlich  zu  fördern,  aber  nicht  gänzlich  zu  erledigen.  Nothnagel 
erhielt  zunächst  an  Kaninchen  und  dann  auch  an  einigen  Hunden  die- 
selben Störungen  des  Muskelbewusstseins,  welche  wir  beschrieben  hatten. 
Bei  den  Hunden  war  es  in  der  That  die  gleiche,  bei  den  Kaninchen, 
wenigstens  scheinbar,  eine  analoge  Stelle,  welche  so  reagirte.  Aber 
Nothnagel  fügt  seiner  Schilderung  folgenden  Passus  hinzu:  „Ich  habe 
„selbstverständlich  die  verschiedenartigsten  Punkte  der  Hirnoberfläche 
„untersucht  — ,  aber  von  keinem  aus,  jenen  beschriebenen  ausgenommen, 
„habe  ich  etwas  Analoges  beobachtet.  Sehr  oft  sieht  man  allerdings, 
„namentlich  wenn  man  sich  in  der  Nähe  unseres  Herdes  befindet,  die 
„Störung  eintreten;  aber  sie  ist  nur  transitorisch,  in  den  ersten  Stunden 
„nach  der  Operation  vorhanden.  Längerdauernd  erscheint  sie 
„allein  bei  der  Verletzung  jener  begrenzten  Hirnpartio**)". 
Hieraus    ist  nicht  deutlich  zu  ersehen,    ob  jene  Störung  nicht  auch  bei 


'^)  Nothnagel,  Virchow's  Archiv.   Bd.  57. 
**)  A.  a.  0.   S.  13  d.  Sep.-Abd. 


—     75     — 

Verletzung'  entfernter  ilirni):u"tien  erscheint,  und  ferner  ist  nicht  uus- 
gesprochen,  welcher  ursächliche  Zusummenhaiig  zwischen  derartigen 
vorühergehenden  Störungen  und  Verletzungen  irgend  welcher  anderer 
Kindenbezirke  anzunehmen  sei. 

Insbesondere  vermisse  ich  hier  die  ausdrückliche  Erwähimng  des 
ümstandes,  ob  alle  vier  Extremitäten,  oder  nur  eine  Körperseite  be- 
troffen war,  denn  wenn  etwa  jener  eigenthiim liehe  Zustand  von  Stupor, 
in  Avelchem  sich  soeben  operirte  Thiere,  wahrscheinlich  vorzugsweise 
in  Folge  ,  der  eben  bestandenen  deprimirenden  Affecte,  gelegentlich  be- 
finden, die  Ursache  gewesen  wäre,  so  konnte  die  Störung  der  normalen 
Bewegung  unmöglich  nur  in  einem  Beine  oder  nur  in  einer  Körperseite 
Platz  greifen.  Im  anderen  Falle  aber  hätte  diese  scheinbar  neben- 
sächliche Bemerkung  N  othnagel's  mancherlei  zu  denken  gegeben  und 
erforderte  jedenfalls  eine  weitere  Aufklärung. 

Ich  habe  an  dieser  Stelle  auch  noch  die  Bemerkung  einzuschalten, 
dass  die  Ansichten  Nothnagel's  über  den  Werth  der  Symptome  mit 
Rücksicht  auf  die  Periode  des  Krankheitsverlaufes  mindestens  für  die 
von  mir  angewendete  Methode  nicht  zutreffen.  Nothnagel  legt  einen 
sehr  geringen  Werth  auf  das,  was  man  gleich  nach  vollbrachter  Operation 
sieht.  Dem  gegenüber  habe  ich  geglaubt,  mir  die  grösste  Mühe  geben  zu 
.sollen,  gerade  das  unmittelbare  Resultat  der  Verletzung  festzuhalten. 

Natürlich  werden  Störungen  in  dem  allgemeinen  Verhalten  des 
Versuchsthieres  nicht  auf  den  localen  Insult  bezogen  werden  dürfen. 
Es  wird  nichts  beweisen,  wenn  ein  auf's  Aeusserste  deprimirtes  Geschöpf 
mit  allen  seineu  Gliedern  geduldig  allerlei  Ungewöhnliches  vornehmen 
lässt  oder  selbst  vornimmt.  Wenn  aber  locale  Veränderungen  der 
Muskelwirkung  in  Theilen  der  gegenüberliegenden  Körperhälfte  auf- 
treten, so  werde  ich  diese  mit  grösserem  Rechte  dann  auf  die  verletzte 
Region  selbst  beziehen,  wenn  sie  sofort  nachzuweisen  sind,  als  wenn 
sie  erst  nach  Verlauf  irgend  einer  Zeit  in  die  Erscheinung  treten. 
Eigentlich  bedarf  es  hierfür  keines  Beweises.  Wer  aber  nach  solchen 
dennoch  begierig  ist,  der  wird  eine  Fülle  derselben  in  den  unten 
folgenden  Beobachtungen  finden.  Ich  wenigstens  war  und  bin  von 
dieser  Ueberzeugung  so  durchdrungen,  dass  ich  lediglich  ihretwegen 
von  der  Anwendung  der  Narkotica  fast  durchgehends  absah,  obwohl 
dadurch  mein  Werk  viel  mühsamer  und  langwieriger  wurde,  und  ob- 
wohl ich  den  Hunden  gern  ihre  Qual  erspart  hätte. 

Erschien  die  Fortführung  dieser  Lähmungsversuche  nun  schon  durch 
die  angeführten  Erwägungen  geboten,  so  war  ja  offenbar  die  Möglichkeit 
fernerer  Erkenntniss  der  besonderen  Eigenschaften  der  Hirnrinde  durch 
die  Auffindung  unseres  Herdes  für  das  Muskelbewusstsein  und  desjenigen 


—     76     — 

Herdes,  welcher  Nothnagel  mit  eigentlichen  Lähmungen  antwortete*), 
nicht  erschöpft.  Es  fragte  sich  vielmehr,  ob  man  nicht  noch  andere 
Störungen  im  Verhalten  der  Tliiere  durch  Verletzungen  der  Grosshirn- 
rinde würde  hervorbringen  können.  Die  Muskelbewegungen,  welche  der 
einzige  äusserlich  wahrnehmbare  Ausdruck  des  inneren  Geschehens  sind, 
erscheinen  freilich  und  nicht  nur  den  ganz  oberflächlichen  Beobachtern 
als  etwas  relativ  Einfaches.  Sobald  man  sich  jedoch  in  die  Details  der 
pathologischen  Bilder  vertieft,  ahnt  man,  wie  complicirt,  wie  mannich- 
faltig  die  Bedingungen  sind,  welche  sich  zur  Auslösung  der  Action 
gruppiren,  welche  sie  bei  ihrem  Verlaufe  begleiten.  Ein  Theil  der 
organischen  Unterlagen  jener  Bedingungen  liegt  gewiss  im  Grosshirn. 
Würde  es  gelingen,  noch  etwas  von  denselben  zu  erkennen?  Wenn 
Nothnagel  bei  der  von  ihm  benutzten  Methode  nichts  Weiteres  fand, 
so  konnte  dies  theils  eben  an  jener  Methode  theils  an  der  Individualität 
des  gewählten  Versuchsthieres  liegen;  denn  dieser  Forscher  untersuchte 
fast  ausschliesslich  Kaninchen. 

Ich  entschloss  mi^h,  die  früher  eingeschlagene  Methode  der 
Trepanation  und  Exstirpation  kleinerer  oder  grösserer  Hirnabschnitte 
vor  der  Hand  beizubehalten,  und  ebenso  bediente  ich  mich  desselben 
Versuchsthieres,  des  Hundes.  Nothnagel  hat  im  Eingange  seiner 
ersten  Abhandlung  die  Vorzüge  seiner  eigenen,  gegenüber  den  älteren 
Methoden  abgewogen.  Allerdings  ist  für  bestimmte  Zwecke,  nämlich 
für  die  Erforschung  tiefer  gelegener  Theile,  die  interstitielle  In- 
jection  unersetzlich,  und  gerade  Nothnagel's  Versuche  beweisen,  wie 
fruchtbar  sie  werden  kann.  Für  eine  ausgiebige  Erforschung  der  ober- 
flächlichen Schichten  hingegen  scheint  mir  die  von  mir  angewendete 
Methode,  oder  eine  ähnliche,  mit  herangezogen  werden  zu  müssen. 
Wenn  auf  die  Zerstörung  sehr  kleiner  Stellen  irgend  eine  wohl 
charakterisirte  Anomalie  folgt,  so  hat  man  freilich  einen  grossen  Schritt 
relativ  schnell  vorwärts  gethan.  Wenn  das  Resultat  aber  ein  negatives 
ist,  so  mtiss  immer  der  Einwand  erhoben  werden,  dasS'  die  Zerstörung 
zu  klein  war,  um  nennenswerthe  Gebiete  irgend  welcher  Functionsherde 
auszuschalten.  Ich  hätte  deshalb  an  und  für  sich  vorgezogen,  erst 
grössere  Gebiete  der  Rinde  zu  zerstören  und  dann  nachzusehen,  ob 
sich  die  erlangten  Resultate  mit  der  feineren  Methode  genauer  localisiren 
Hessen.  Es  würde  sich  nur  fragen,  ob  die  von  Alters  her  gegen  die 
Sicherheit  meiner  Methode  erhobenen  Einwürfe  in  der  That  wesentlich 
sind,  ob  wirklich  mit  derselben  das  Versuchsergebniss  alterirende  Fehler 
eingeführt  werden.     Ich  muss  dies  bestreiten. 

*)  A.  a.  0.   S.  18. 


—     77     — 

Man  hat  den  Blutverlust,  die  Erkältung  der  Gehirnoberttäche  und 
die  Veränderung  der  Druckverhältnisse  innerhalb  der  Schädelkapsel 
angeführt.  iJie  Menge  Blutes,  welche  ein  Hund  bei  der  Eröffnung  des 
Schädeldaches  verlieren  wird,  ist  freilich  vorher  nicht  zu  bestimmen, 
ihre  Grösse  hängt  neben  der  Uebung  des  Experimentators  von  Zufällig- 
keiten ab.  Muss  man  zu  Anfang  der  Trepanation  ein  grosses  Knochen- 
gefäss  durchschneiden,  so  kann  der  Blutverlust  allerdings  ganz  enorm 
sein.  Der  Hund  ist  dann  nach  Beendigung  der  Operation  sehr  schwach, 
die  Schleimhäute  sind  blass,  und  in  diesem  Falle  sind  irgend  welche 
sichere  Wahrnehmungen  während  des  ersten  Tages  von  ihm  nicht  zu 
gewinnen;  dann  aber  erholt  er  sich  wieder  und  bietet  ein  brauchbares 
Beobachtungsobject  dar,  sobald  nicht  noch  andere  Umstände  dazu  treten. 
So  erhebliche  Blutungen  sind  aber  eben  nur  seltene  Unfälle,  wie  sie 
wohl  bei  allen  Thierversuchen  vorkommen.  In  der  Regel  lässt  sich  der 
Blutverlust  auf  ein  Maass  beschränken,  welches  bei  der  relativen  Grösse 
der  Versuchsthiere  nicht  in  Betracht  kommt.  —  Die  Erkältung  der 
Gehirnoberfläche  und  das  Abfliessen  der  Cerebralflüssigkeit  sind  hin- 
gegen für  Versuche  am  Grosshirn  gänzlich  indifferent.  Davon  habe 
ich  mich  durch  eine  lange  Reihe  von  Vivisectionen  mit  negativem 
Resultate  überzeugt.  Solche  Versuchsthiere  springen,  auch  wenn  sie 
eine  ziemliche  Quantität  Blut  dazu  verloren  haben,  mit  vollkommener 
Sicherheit  vom  Tisch  und  benehmen  sich  überhaupt,  als  wenn  sie  ge- 
sund wären.  Im  höchsten  Grade  störend  kann  jedoch  der  deprimirende 
Affect  sein,  welchen  die  Erduldung  der  Fesselung  und  des  Schmerzes 
hervorbringt,  wenn  er,  wie  das  in  einzelnen  Fällen  vorkommt,  das  ge- 
wöhnliche Maass  weit  übersteigt.  Es  ereignet  sich,  dass  so  erschreckte, 
misstrauisch  gewordene  Thiere  sich  noch  am  zweiten  oder  dritten  Tage 
nach  der  Operation  bei  jeder  Annäherung  des  Beobachtenden  nieder- 
kauern, nicht  zum  Stehen  oder  Sitzen  zu  bewegen  sind  und  in 
ihrer  Angst  allerlei  Dinge  gediddig  mit  sich  vornehmen  lassen,  gegen 
die  ein  gesunder  Hund  reagirt.  Ich  muss  dahingestellt  sein  lassen, 
ob  dieser  Uebelstand  bei  der  einfachen  Durchbohrung  des  Schädels 
fortfällt. 

Im  Uebrigen  wird  die  Eröft'uung  des  Schädels  und  die  Fortnahme 
selbst  grosser  Theile  des  Gehirns  von  den  Hunden  vortrefi'lich  ertragen, 
sobald  man  dem  Wundsecret  freien  Abfluss  lässt.  Letzteres  ist  indessen 
unbedingt  nöthig.  Ich  habe  mehrere  Thiere  deshalb  verloren,  weil  die 
Hautwunde  primär  verklebte.  Einige  andere  Thiere  wurden  von  einer 
halbseitigen,  fibrinösen,  fibrösen,  manchmal  auch  hämorrhagischen 
Pachymeningitis  befallen,  welche  als  nebensächliches  Sectionsergebniss 
zu   notiren  war.     Bald  verlief  diese  Krankheit  ohne  äussere  Symptome, 


bnld  trat  ähnlich  wie  beim  Menschen  allgemeine  Hyperästhesie  deutlich 
hervor^2^. 

Wenn  nun  auch  die  erwähnten  Einwände  unwesentlich  erscheinen, 
so  existiren  doch  andere  umstände,  welche  diese  Methode  und  die  Ver- 
wendung von  Hunden  überhaupt  statt  der  Kaninchen  höchst  beschwer- 
lich machen.  Ich  will  nicht  von  der  Kostspieligkeit  der  Beschaffung 
und  Erhaltung  des  Materiales  reden.  Aber  die  Ausführung  jeder 
einzelnen  Operation,  die  Sorge  für  Beobachtung  und  Pflege  einer  schnell 
anwachsenden  Hundeklinik,  ferner  die  Ausführung  der  häufig  recht 
mühsamen  Section  sind  unsäglich  viel  zeitraubender,  als  wenn  man 
sich  an  die  Kaninchen  hielte.  Ich  konnte  endlich  kaum  10  Hunde  auf 
einmal  unterbringen,  und  doch  ist  ihre  Zahl  nicht  selten  bis  auf  15 
gestiegen.  So  bestimmte  mich  denn  nur  die  Rücksicht  auf  die  höhere 
Organisation  des  Versuchsthieres  zum  Ausharren  bei  diesem. 

Sämmtlicbe  Operationen,  bei  denen  nicht  ausdrücklich  etwas  Anderes 
gesagt  ist,  beziehen  sich  auf  die  linke  Hemisphäre  und  folgerecht  die 
entstehenden  Symptome  auf  die  Extremitäten  der  rechten  Seite.  Es  ist 
wohl  selbstverständlich,  dass  auch  die  Extremitäten  der  anderen  Seite, 
ebenso  wie  auch  der  Zustand  der  Pupillen  und  des  Sehorgans  über- 
haupt mit  untersucht  wurden.  Der  grösseren  üebersichtlichkeit  wegen 
habe  ich  aber  die  Einzelberichte  über  negative  Befunde,  ebenso  wie  die 
durch  vorstehende  Bemerkung  unnöthig  gewordene  Bezeichnung  der 
Körperhälften  möglichst  imterdrückt.  Wenn  ich  so  durch  Weglasse« 
alles  irgend  Entbehrlichen  die  grösste  Kürze  anstrebte,  so  hielt  ich 
doch  die  Wiedergabe  meiner  Beobachtungsprotocolle  diesmal  für  er- 
forderlich, und  ich  darf  hoffen,  dass  der  Leser  nach  Kenntnissnahme 
derselben  mir  zustimmen  wird. 

Einige  andere  die  Operation  selbst  und  die  Wundheilung  betreffende 
Details  schicke  ich  voraus.  Die  Pia  wurde  in  der  früher  beschriebenen 
Weise  frei  gelegt  imd  sodann  das  zu  entfernende  Stück  Hirn  mit  dem 
Kystotom  des  Daviel'schen  Löffels  umschnitten.  Eine  kleine  Siegel- 
lackmarke diente  dazu,  die  Innehaltung  der  beabsichtigten  Tiefe  zu 
sichern.  Grössere  Venen  wurden  möglichst  geschont,  und  deimoch  ent- 
stehende stärkere  Blutungen,  wenn  es  anging,  zuvörderst  gestillt.  Dann 
wurde,  wenn  ausgedehntere  Flächen  ausgeschaltet  werden  sollten,  ein 
etwas  grösserer  Staarlöffel  in  die  Hirnwunde  eingeführt,  und  auf  diesem 
mit  dem  kleineren  Daviel'schen  Löffel  das  umschnittene  Stück  ent- 
fernt. So  gelingt  es  leichter,  das  Herauszerren  der  Marksubstanz  zu 
vermeiden  und  die  Wunde  auf  die  gewollte  Region  zu  begrenzen. 
Manchmal  jedoch  machten  erhebliche  Blutungen  die  Verwendung  des 
zweiten  Staarlöff'els    unmöjrlich.     Blutete    die  Hirnwunde    nachher  noch 


—     79     — 

nennenswerth,  so  drückte  ich  einige  Streifchen  Feuerschwamm  auf  und 
liess  dieselben  gewöhnlich  so  hinge  liegen,  bis  sie  durch  (h'c  Eiterung 
oder  die  Schwellung  der  Hirnmasse  an  das  Niveau  der  Hautwunde  be- 
fördert waren.  Meistens  erscheint  in  den  nächsten  Tagen  ein  mehr 
oder  weniger  grosser  Prolaps  in  der  Wunde,  der  sich  in  gleichem 
Schritte  mit  der  Heilung  der  Hautwunde  mit  Granulationen  bedeckt, 
verkleinert  und  endlich  in  der  Knochenlücke  eine  bindegewebige,  stellen- 
weise gallertige,  bräunlich -gelbliche  Masse  zurücklässt.  Diese  iiängt 
einerseits  mit  der  Hautnarbe,  andererseits  mit  der  Hirnsubstanz  und  an 
ihren  Rändern  mit  den  Hirnhäuten  zusammen.  Manchmal  erscheint 
aber  auch  kein  Prolaps  und  bei  der  Sectiou  nur  eine  sehr  unbedeutende 
Adhäsion.  In  einem  Falle  war  die  Knochenlücke  durch  neugebiideten 
Knorpel  und  Knochen  vollständig  ausgefüllt. 

Ich  habe  schon  früher  darauf  hingewiesen,  dass  es  im  höchsten 
Grade  interessant  sein  würde,  nachzusehen,  ob  und  nach  welchen  Theilen 
hin  sich  secundäre  Degenerationen  im  Gefolge  excentrischer  Verletzungen 
entwickeln.  Reichte  auch  für  dieses  Mal  meine  Zeit  zur  gleichzeitigen 
Lösung  dieser  Aufgabe  nicht  aus,  so  wünschte  ich  doch,  dass  das  einmal 
vorhandene  Material  hierfür  verwerthet  v^'ürde.  Deshalb  hielt  ich  denn 
viele  meiner  Hunde,  nachdem  sie  längst  gesundet  waren,  bis  zum  Schlüsse 
des  Semesters  am  Leben  und  übergab  dann  ihre  Gehirüe  Hrn.  Fritsch, 
der  sich  zur  mikroskopischen  Untersuchung  derselben  gern  bereit  er- 
klärte. Hr.  Fritsch  wohnte  zu  diesem  Endzwecke  den  betreffenden 
Sectionen  bei,  unterstützte  mich  bei  denselben  und  fertigte  die  Zeichnungen 
zu  den  Gehirnen  an,  welche  unmittelbar  in  seinen  Besitz  übergingen. 
Dies  gilt  rücksichtlich  der  vorliegenden  Arbeit  von  den  Figg.  1,  3,  4, 
5,  8.  Hierfür  bin  ich  ihm  zu  Danke  verpflichtet.  Hoffentlich  werden 
auch  die  von  mir  berichteten  Resultate  durch  die  seinerseits  zu  er- 
wartende genauere  Beschreibung  der  Präparate  an  Beweiskraft  noch 
gewinnen.  Bei  den  anderen  Versuchen  fixirte  ich  die  Verletzung  durch 
Eintragungen  in  gedruckte  Schemata,  wozu  mir  die  Figg.  1  und  10 
meines  Buches  gute  Dienste  leisteten.  Einen  Theil  der  nach  dem 
1.  August  gewonnenen  Gehirne  habe  ich  mir  selbst  zur  mikroskopischen 
Untersuchung  aufbewahrt. 

L  Gruppe,  Verletzungen  der  Gyri  a.  b.  c. 
Bei  den  hier  in  Frage  stehenden  Operationen  wird  man  in  der 
Regel  entweder  die  Stirnhöhle  eröffnen,  oder  ein  Stück  des  Gyi'us  d 
mit  aufdecken  müssen.  Allerdings  lässt  sich  Beides  durch  Verwendung 
einer  sehr  kleinen,  unmittelbar  neben  der  Mittellinie  aufzusetzenden 
Trephine     vermeiden.      Indessen     ist     dieses    Verfahren     nicht    gerade 


—     80     — 

empfehleuswerth.  Wenn  die  Schädelknochen  einigermaasseu  dick  sind, 
lässt  sich  von  einer  so  kleinen  Lücke  aus  schlecht  weiter  arbeiten, 
zudem  riskirt  man  entweder  den  Sin.  longit.  zu  verletzen  oder  doch 
in  die  Stirnhöhle  zu  gerathen.  Diese  üebelstände  fallen  um  so  mehr 
in's  Gewicht,  als  die  Eröffnung  der  Stirnhöhle,  auch  wenn  sie  vereitert, 
ganz  gut  ertragen  wird,  und  die  Aufdeckung  des  medialen  Endes  des 
Gyrus  d  das  Resultat  nicht  complicirt.  Eine  Trephine  von  11  mm 
Durchmesser  hat  sich  mir  als  zweckmässig  erwiesen. 

Zur  Orientirung  bei  allen  das  Vorderhirn  betreffenden  Operationen 
niuss  man  sich  an  den  Process.  zygom.  ossis  frontis  halten.  Die  Grösse 
des  Hundehirns  steht  durchaus  nicht  in  gradem  Yerhältniss  zur  Grösse 
des  Kopfes;  sondern  die  Volumzunahme  des  Kopfes  grosser  Hunde  wird 
hauptsächlich  durch  zunehmende  Entwicklung  der  Stirnhöhlen  gedeckt, 
so  dass  man  sich  ohne  einen  festen  Anhaltspunkt  .ganz  erstaunlich  ver- 
irren kann.  Als  solcher  dient  am  Besten  der  Process.  zygom.  mit  dem 
zwischen  ihm  und  dem  rudimentären  Process.  frontal,  des  Jochbogens 
befestigten  Augenbogenbaude.  Letzteres  tritt  beim  Hunde  an  die  Stelle 
des  Process.  front,  ossis  zygom.  hominis  und  ist  wie  eine  scharfe  Leiste 
durch  die  Bedeckungen  durchzufühlen.  Das  mediale  Ende  des  Sulc. 
cruciatus  trifft  man  nun  bei  kleinen  und  mittelgrossen  Hunden  ziemlich 
genau,  wenn  man  13  — 15  mm  nach  hinten  von.  der  Verbindungslinie 
der  frontalen  Lisertion  beider  Augenbogenbänder  abmisst.  Von  diesem 
Punkte  aus  lässt  sich  unter  Zuhülfenahme  eines  Spiritusgehirns  der 
jedesmalige  Ort  für  die  Trepanation  unschwer  berechnen. 

Versuch  I.     Oberflächliche  Verletzung    des    Gyrus  a.     Keine 
Anomalien  der  Motilität.     Fibrinöse  Pachymeningitis. 

Fio-.  4. 


F.  S.  Fossa  Sylvii.     S.  c.  Sulcus  cruciatus.     1.   Reizpunkt  für  das  Hinterbein. 
2;  Ungefähre  Lage  der  Reizpunkte  für  das  Vorderbein.     3.   Reizpunkt  für  Be- 
wegung und  Schluss  des  Auges.    4.  Reizpunkt  für  Fressbewegungen.     Schraf- 
firte  Stelle  hinter  S.  c.  erregbare  Zone.   N.  Narbe. 


—     81     — 

Einer  mittelgrossen,  sclivvarzgelbeii  Hündin  wurde  :im  1.  Juni  ].s74: 
unter  geringem  Blutverlust  eine  oberfliichliche  Verletzung  in  der  Aus- 
dehnung von  1/4  des  Lumens  einer  14  mm  Trephine  an  der  hinteren 
Grenze  des  Gyrus  a  dicht  an  d  beigebracht.  Nach  der  Operation  ist 
der  Hund  sehr  lebhaft,  wenn  auch  etwas  eingeschüchtert,  springt  leicht 
vom  Tische  und  zeigt  keinerlei  Störung. 

2.  Juni.  Sehr  munter,  etwas  furchtsam.  Wunde  durch  einen  braun- 
schwarzen, leicht  blutenden  Prolaps  ausgefüllt.  Linksseitige  eitrige 
Conjunctivitis,  sonst  keine  Störung. 

3.  Juli.  Status  idem,  ausserdem  bei  jeder  Berührung  Geschrei. 
Die  Heilung  der  Wunde  verlief  in  der  gewöhnlichen  Weise.  —  Die 
Empfindlichkeit  gegen  jede  Berührung  dauerte  noch  mehrere  Wochen 
an,  während  die  Conjunctivitis  bald  heilte.  Anderweitige  Störungen 
zeigten  sich  nicht. 

22.  Juli.  Der  Hund  ist  sehr  munter,  zeigt  keinerlei  Anomalien, 
insbesondere  nicht  in  der  Motilität  und  am  Auge.  Vergiftung  durch 
Cyankalium. 

Section.  Schädellücke  durch  eine  sehr  derbe,  bindegewebige, 
zum  Theii  sehr  blutreiche,  gelbbraun  gefärbte  und  mit  der  äusseren 
Haut  verwachsene  Masse  verschlossen,  12  mm  in  sagittaler,  13  mm  in 
frontaler  Richtung  im  Durchmesser  haltend.  Die  bindegewebige  Auf- 
lagerung hat  8  mm  in  sagittaler  und  10  mm  in  frontaler  Richtung  im 
Durchmesser  und  reicht  genau  bis  an  die  Medianspalte.  Die  Dura  zeigt 
an  ihrer  Innenfläche  über  der  linken  Convexität  eine  dünne,  weiche, 
gelbliche,  fibrinöse  Auflagerung  und  adhärirt  durch  dieselbe  locker  der 
Pia;  rechte  Convexität  normal.  Die  Markstrahlung  unterhalb  des  Hirn- 
defects,  sowie  die  Rindenschicht  der  Umgebung,  besonders  die  der 
medialen  Fläche  sehr  atrophisch.  Namentlich  auch  ist  der  Einschnitt, 
welchen  die  vordere  Verlängerung  des  Sulcus  calloso-marginalis  macht, 
kaum  angedeutet.  Die  lateralwärts  von  dem  Hirndefect  liegende  Rinden- 
substanz ist  durchscheinend,  verwaschen,  weniger  grau  als  auf  der 
anderen  Seite.  In  der  weissen  Masse  finden  sich  punktförmige,  linear 
angeordnete,  etwas  deprimirte,  ziemlich  weit  in  die  Substanz  hinein- 
reichende, rothbraune  Stelleu.  An  der  Exstirpationsstelle  selbst  ist  die 
Stelle  der  Hirnsubstanz  auf  ca.  4  mm  tief  von  einer  derben,  bräun- 
lichen mit  einigen  Blutpunkten  durchsetzten  Masse  eingenommen.  Das 
sonst  normale  Corpus  striatum  ist  deutlich  nach  oben  dislocirt. 


Hitzig,  Gesammelte  Ahhandl.     I.  Theil. 


—     82     — 

Versuch  IL  Oberflächliclie  Verletzung  des  Gyrus  a.  Keine 
Anomalien  der  Motilität.  Ophthalmie  des  rechten,  Con- 
junctivitis des  linken  Auges.    Eczeme.    Fibrinöse  Meningitis. 

Ficr.  5. 


Einem  kleinen,  gelbweissen  Hunde  wurde  am  22.  Mai  1874  mit 
der  14  mm  Trephine  ein  Theil  des  Vorderlappens  und  des  Sinus  frontalis 
aufgedeckt.  Exstirpatiou  eines  keilförmigen  Stückes  des  Gyrus  a  in  der 
Tiefe  von  etwa  4  mm.  Blutung  massig.  Unmittelbar  nachher  zeigt 
der  Hund  keine  Anomalien. 

23.  Mai.  Keine  Spur  von  Störung  des  Muskelbewusstseins,  weder 
in  der  Vorder-  noch  in  der  Hinterextremität. 

24. — 27.  Mai  wurde  der  Hund  wegen  einer  Reise  nicht  beobachtet. 

28.  Mai.  Wunde  verklebt;  nach  Entfernung  des  Schorfes  erscheint 
eine  massige  Quantität  gelben  Eiters;  darunter  geringer  Prolaps.  All- 
gemeine Depression,  der  Kopf  hängt  herab.  Der  Hund  sitzt  regungslos, 
sehr  tiefe,  langsame  Respiration.  Beide  Lidspalten  verklebt,  die  Bulbi 
mit  dickem,  gelbem  Eiter  bedeckt,  nach  Aasspülung  desselben  erscheint 
die  linke  Cornea  leicht  sammtartig,  die  rechte  fast  ganz  undurchsichtig, 
grau,  in  ihrem  Centrum  ein  fast  linsengrosser  Herd  mit  einer  kleinen 
Perforation,  die  Iris,  wie  durch  die  noch  durchsichtige  Randzone  zu 
bemerken,  leicht  verfärbt.  Nach  Ausspülung  der  Lidspalten  läuft  der 
Hund  in  der  Stube  herum,  ohne  andere  Motilitätsstörungen  zu  zeigen, 
als  etwas  allgemeine  Schwäche.  Auf  dem  rechten  Hinterkopf  quillt 
zwischen  den  Haaren  dicker  gelber  Eiter  hervor,  bei  der  Reinigung 
dieser  Stelle  gehen  sämmtliche  Haare  aus,  so  dass  eine  kreisrunde, 
zweigroschengrosse  granulireude,  leicht  blutende  Wunde  zurückbleibt. 

30.  Mai.  Hat  seit  gestern  nicht  gefressen,  Wunde  verklebt,  grosse 
Schwäche,  mühsamer  Husten.  Auf  der  rechten  Hinterbacke  ein  groschen- 
grosser,  auf  der  linken  ein  thalergrosser,  auf  dem  Os  sacrum  ein  acht- 
groschengrosser  Hautdefect  mit  den  oben  beschriebenen  Eigenschaften, 
nur  fehlt  die  Eiterung  und  die  Wunden  sehen  blass  aus.   Die  Perforation 


—     83     — 

der  rechten  Cornea  hat  sich  vergrössert,  etwas  Prolaps,  die  Cornea  ist 
abgeplattet  und  sehr  weich,  die  Conjunctiva  nur  massig  injicirt;  das 
linke  Auge  ist  fast  normal,  nm*  leicht  verklebt.  Hauttemperatur  für 
die  zufühlende  Hand  sehr  kühl.     Das  Thier  wird  getödtet. 

Sectio n:  Schädelknochen  auf  etwa  1  cm  hinter  der  Trepanations- 
stelle aussen  etwas  missfarbig,  innen  rauh  und  vascularisirt.  Dura 
beiderseits,  mehr  noch  rechts  mit  starken  fleckweisen  Vascularisirungen, 
Falx  sehr  verdickt,  von  gelblicher  Farbe  mit  zahlreichen  Gefässen  durch- 
setzt. Die  Wurzeln  des  Trigeminus  rechts  vielleicht  weicher  als  links. 
Am  Ganglion  Gasseri  und  seiner  Umhüllung  keine  Anomalien.  Pia 
rechts  normal,  links  von  einer  dünnen,  leicht  abziehbaren,  fibrinösen 
Auflagerung  bedeckt,  am  Pons  leicht  gelblich  gefärbt,  ohne  Substanz- 
verlust abziehbar.  Die  Zerstörung  des  Hirns  ist  relativ  gering,  hat 
kaum  die  Rinde  durchdrungen,  keinen  Keil  hinterlassen.  An  der  medialen 
Fläche  des  Vorderlappens  im  Zusammenhange  mit  dem  Herd  erscheint 
die  Pia  trüb,  gelblich  gefärbt,  mit  vielen  Gefässen  versehen.  Im  mittleren 
Lappen  der  linken  Lunge  haselnussgrosse,  schiefergraue  Hepatisation,  in 
beiden  oberen  Lappen  auf  beiden  Seiten,  hauptsächlich  an  den  Rändern 
zahlreiche  über  Linsengrosse  uüd  kleinere,  frische  subpleurale  Ekchymosen. 

Versuch  HL  Tiefgreifende  Auslöffelung  der  Gyri  a.  b.  c. 
.Spurweise  Alteration   der  Bewegung  in  der  Vorderpfote  vom 

4.  bis  6.  Tage. 

Pij?.  6. 


Dislocation    des   Sulc.  cruc.  und  seiner  Nachbarwindungen.     Wucherung    der 
Auflafferung;  über  die  aufgedeckte  Zone  hinaus. 


Einer  mittelgrossen,  graugelben,  etwas  räudigen  Hündin  wurde  am 
5.  Juni  1874  Gyrus  a  und  ein  Stück  von  d  freigelegt,  die  Knochenwunde 
mit  der  Zange  über  a  etwas  erweitert  und  dieser  Gyrus,  soweit  man 
dazu  kommen  konnte,  tief  exstirpirt.  Nach  der  Operation  keine  Anomalien. 


6* 


—     84     — 

6.  Juni.  Sehr  scheu,  frisst  und  säuft  nicht;  heisse  Haut;  das 
rechte  Auge  secernirt  eine  ziemlich  dünne,  schleimig-eitrige  Flüssigkeit. 
Sonst  keinerlei  Anomalie. 

7.  Juni.     Status  idem. 

8.  Juni.  Immer  noch  sehr  scheu,  beginnender  Prolaps,  lässt  die 
rechten  Extremitäten  spurweise  nach  hinten  verschieben,  was  er  linker- 
seits nicht  leidet. 

11.  Juni.  Sehr  grosser  Prolaps.  Keine  Störungen  der  Bewegung 
mehr  nachweisbar. 

18.  Juni.     Die  Wunde  beginnt  zu  vernarben. 

1.  Juli.  Wunde  ganz  vernarbt,  die  Räude  nimmt  zu,  dabei  ist  der 
Hund  sehr  munter. 

22.  Juli.  Räude  über  den  ganzen  Körper,  sonst  keinerlei  Anomalien. 
Vergiftung  mit  Cyankalium. 

Section.  Hautwunde  fest  vernarbt,  Defect  der  äusseren  Tafel  in 
sagittaler  Richtung  13,  in  frontaler  Richtung  15  mm  im  Durchmesser, 
von  einer  sehr  derben,  nur  hier  und  da  etwas  sulzigen  und  an  diesen 
Stellen  gelb  gefärbten  und  blutreichen,  bindegewebigen  Masse  ausgefüllt. 
Dura  und  Pia  beiderseits  normal,  nur  an  der  Umgebung  der  Hirnnarbe 
adhärent.  Die  bindegewebige  Auflagerung  reicht  A^on  dem  Gyrus  a 
über  d  hinaus  nach  e  zu,  hat  in  frontaler  Richtung  13  mm,  in  sagittaler 
Richtung  7  mm  im  grössten  Durchmesser.  Ihre  allgemeine  Gestalt  ist 
dreieckig,  mit  der  Medianlinie  zugewendeter  Spitze.  Der  Sulcus  cruciatus 
ist  linkerseits  um  stark  3  mm  nach  vorn  dislocirt.  Die  ganze,  den 
Defect  umgebende  Hirnpartie  erscheint  gegen  die  andere  Seite  leicht 
abgeflacht.  Der  Gyrus  a  hat  rechts  eine  durchschnittliche  Breite  von  8, 
links  von  4  und  3  mm,  ausserdem  erscheint  dieser  Gyrus  links  be- 
trächtlich verkürzt.  Eine  genaue  Messung  ist  wegen  der  Verwischung 
seiner  hinteren  Grenze  nicht  ausführbar.  Die  Hirnnarbe  zieht  sich  strang- 
förmig  nach  dem  Vorderhorn  zu.  Dieses,  wie  auch  die  Ganglien  nach 
vorn  dislocirt.     Das  Ependym  normal. 

Versuch  IV.  Tiefgreifende  Auslöffelung  der  Gyri  a.  b.  c. 
Keine  Anomalien  der  Bewegung. 
Einem  mittelgrossen  jungen  Hunde  einer  grossen  Race  wurde  am 
6.  Juli  1874  zunächst  eine  Trepankrone  von  11  mm  dicht  neben  der 
Mittellinie  und  vorn  aufgesetzt.  Da  hiermit  nur  die  Stirnhöhle  eröffnet 
war,  so  wurden  Gyri  a,  b  mit  der  Knochenzange  freigelegt  und  die- 
selben sodann  mit  einem  grossen  Staarlöffel,  soweit  sie  überhaupt  zu 
erreichen  waren,  tief  exstirpirt.  Blutung  massig.  Nachher  zeigt  der 
Hund  keinerlei  Anomalien. 


—     85 


7.  Juli.  Hat  gefressen  und  läuft,  wenn  auch  niisstrauisch,  in  der 
Stube  herum.     Keine  Störung  der  Bewegung. 

18.  Juli.    Wunde  geheilt.    Etwas  Husten,  sonst  sehr  munter. 

24:  Juli.  Viel  Husten,  sonst  sehr  munter.  Vergiftung  durch  Cyankalium. 

Section.  Nach  Abtragung  des  Pericranium  erscheint  an  dem 
vorderen  Ende  des  Schädeldachs,  etwas  auf  die  rechte  Seite  hinüber- 
greifend, eine  etwa  zweigroschengrosse,  tiefe  Depression,  welche  durch 
eine  weisse,  feste  Masse  von  theils  knorpeliger,  theils  knochiger  Con- 
sistenz  ausgefüllt  ist.  Diese  wird  in  ihrer  knöchernen  Umgebung  in 
einem  Stück    zur  näheren  Untersuchung    abgetragen  und  von  der  Dura 


gelöst.  Nach  Zurückschlagung  der  sonst  durchaus  normalen,  nur  an 
einer  ganz  kleinen  Stelle  mit  der  Pia  verwachsenen  Dura  sieht  man 
unter  der  Pia  an  ihrer  der  Falx  zugekehrten  Seite  im  Bereiche  des 
vorderen  Drittels  der  Hemisphäre  ein  dunkelrothes,  frisches,  confluirendes 
Extravasat.  Aehnliche  submeningeale  Extravasate  finden  sich  in  grosser 
Menge  an  der  Basis,  besonders  am  Pons  und  bis  in  den  Wirbelkanal 
hinein.  Die  Gyri  a,  &,  c  sind  ausserordentlich  atrophisch.  Links  be- 
trägt der  kleinste  Durchmesser  in  der  Horizontalebene  4,  rechts  8  mm, 
der  grösste  links  knapp  7,  rechts  15  mm;  beim  Aufgiessen  von  Wasser 
löst  sich  ein  Stück  Falx,  welches  mit  der  medialen  Fläche  des  Rand^ 
Wulstes  verwachsen  war,  ab  und  gewährt  so  den  Einblick  in  eine  den 
Vorderlappen    einnehmende,    von  bräunlich  gefärbten,    fetzigen  Wänden 


—     86     — 

umgebene  Höhle.     Der  Sulciis  cruciatus  links  etwas  nach  vorn  dislocirt 
und  der  Gyrus  d   etwas  verschmälert. 

Versuch    V.       Tiefgreifende    Auslöffelung    der    Gyri    a.    b.    c. 

Allgemeine   Krämpfe    am    5.   und   6.  Tage.     Ausserdem    keine 

Anomalien  der  Bewegung. 

Einem  mittelgrossen,  schwarzen  Hunde  wurde  am  26.  September  1874 
mit  einem  Trepan  von  11  mm  Durchmesser  der  Sinus  frontalis  eröffnet 
und  von  hier  aus  die  Dura  über  Gyrus  a  aufgedeckt.  Bei  Incision  der- 
selben entsteht  eine  beträchtliche,  nicht  zu  stillende  Blutung  aus  einer 
verletzten  Vene.  Auslöffelung  der  Gyri  a,  b,  c,  soweit  sie  zu  erreichen 
waren,  dabei  starke  Blutung.  Tamponade  der  Hirnwunde  mit  zwei 
Schwammstreifen.  Nach  der  Operation  springt  der  Hund  vom  Tische, 
ist  sehr  munter  und  zeigt  keinerlei  Anomalien. 

27.  September.  Die  Wunde  fast  ganz  verklebt,  ein  Schwamm- 
streifen wird  entfernt.     Durchaus  keine  Anomalien. 

28.  September.  Die  Wunde  klafft,  leichter  braunschwarzer  Prolaps; 
der  Rest  des  Feuerschwamm  es  wird  entfernt,  keinerlei  Anomalien. 

29.  September.     Status  idem. 

30.  September.  Bei  der  Untersuchung  war  der  Hund  durchaus 
normal,  hatte  einen  ziemlich  grossen  Prolaps.  Während  er  nachher  in 
der  Stube  umherlief,  trat  plötzlich  ein  kurzdauernder  Anfall  von 
Krämpfen  ein,  durch  die  der  Hund  nach  links  gegen  die  Wand  ge- 
schleudert wurde.  Die  Pupillen  waren  beide  dilatirt  und  beide  Bulbi 
nach  rechts  gedreht.  Die  Dauer  des  Anfalles  war  so  kurz  gewesen, 
dass  über  die  sonst  betheiligten  Muskeln  nichts  Sicheres  beobachtet 
werden  konnte.  Nach  demselben  trat  Erbrechen  einer  flüssigen,  grün- 
lichen Masse  und  starkes  Speicheln  ein,  auch  war  der  Hund,  wie  sich 
aus  seinem  taumelnden  Gange  schliessen  liess,  offenbar  schwindlig. 
Nochmalige  genaue  Untersuchung  wies  die  Abwesenheit  anderweitiger 
Anomalien  nach. 

1.  October.  Schwindlig,  stark  speichelnd,  soll  auch  wieder  ge- 
brochen haben,  so  dass  wahrscheinlich  wieder  ein  Krampfanfall  da- 
gewesen ist.     Sonst  keinerlei  Anomalien. 

2.  October.     Verhält  sich  wieder  normal. 
7.  October.     Wunde  beginnt  zu  vernarben. 
10.  October.     Wunde  vernarbt. 

18.  October.  Der  Hund  hat  sich  bisher  ganz  normal  verhalten. 
Der  Obductionsbericht  über  ihn  wird  gegeben  werden,  wenn  von  den 
doppelseitigen  Exstirpationen  die  Rede  sein  wird. 


—     87     — 

Betrachten  wir  das  Resultat  der  vorstehenden  fünf  Versuche,  so 
ergiebt  sich  zunächst  ganz  übereinstimmend  und  ohne  die  geringste 
Abweichung,  mochte  nun  die  experimentelle  Verletzung  des  Gehirns 
ganz  oberflächlich  sein,  oder  mochte  sie  den  Hirntheil  in  seiner  ganzen 
Tiefe  betreffen,  dass  niemals  irgend  eine  Functionsstörung 
erschien,  welche  auf  die  Hirnwunde  selbst  hätte  bezogen 
werden  dürfen.  Dieses  Resultat  ist  im  höchsten  Grade  bemerkens- 
werth  und  wichtig.  Durch  dasselbe  ist  der  letzte  und  nicht  mehr  an- 
zufechtende Beweis  für  die  Localisation  im  Grosshirn  gegeben.  Wir 
werden  später  noch  sehen  wie  ausserordentlich  gut  sich  Hunde  zum 
Studium  von  Motilitätsstörungen  eignen,  und  wie  schön  man  jede,  den 
normalen  Complex  ihrer  Bewegungseigenthümlichkeiten  alterirende 
Nuance  zur  Anschauung  bringen  kann.  Wenn  nun  in  den  vorstehenden 
Versuchen  keine  primäre  Alteration  der  Motilität  in  die  Erscheinung 
trat,  und  wenn  andererseits  unendlich  viel  kleinere  Läsionen  anderer 
cei'ebraler  Provinzen  unfehlbar  zu  wohlcharakterisirten  Defecten  der 
Motilität  führen,  so  ist  zuvörderst  und  im  Allgemeinen  der  Schluss 
gerechtfertigt,  dass  es  im  grossen  Gehirne  Organgruppen  giebt,  welche 
in  directer  Beziehung  zu  den  Körperbewegungen  stehen,  und  dass  es 
ferner  andere  Organgruppen  giebt,  welche  nicht  in  directer  Beziehung 
zu  den  Körperbewegungen  stehen.  Das  ist  der  Fundamentalsatz,  auf 
dessen  Feststellung  schon  unsere  ersten  Versuche  zielten,  der  durch 
Nothnagel's  Versuche  weiter  gekräftigt  wurde,  und  der  durch  die 
Versuche  dieser  Gruppe  wohl  gegen  jeden  Zw-eifel  gesichert  sein  dürfte. 
Längst  schon  geht  das  Bestreben  der  normalen  und  pathologischen 
Physiologie  dahin,  Vorstellungen  in  ihr  Lehrgebäude  einzufügen,  welche 
auf  sinnlich  wahrnehmbare,  einfache  und  unveränderliche  Dinge  zurück- 
greifen. So  roh  vorläufig  unsere  Abgrenzungen  auch  sein  mögen,  sie 
eröffnen  doch  die  Hoffnung,  dass  sich  das  übrige  Material  mit  der  Zeit 
in  ihnen  und  urn  sie  gruppiren  werde,  während  man  noch  vor  Kurzem 
das  grosse  Gehirn  kaum  als  ein  Object  für  die  Forschung  anerkennen 
wollte. 

Im  Besonderen  dienen  diese  Versuche  zur  Bestätigung  meiner 
Reizversuche,  welche  ihrerseits  ebenfalls  Reactionslosigkeit  dieser  Theile 
ergaben,  während  Ferrier*)  auch  von  hier  aus  allerlei  Bewegungen 
hervorgerufen  hatte. 


*)  The  fourth  Volume  of  the  West  Riding  Lunatic  Asylum  Medical  Re- 
ports, which  has  just  been  published,  contains  (under  Nr.  1)  a  paper  by  Dr. 
William  B.  Carpenter,  entitled  ,^0n  the  Physiological  Import  of  Dr.  Fer- 
rier's  experimental  Investigations  into  the  Functions  of  the  Brain."    Dr.  Car- 


Bei  einem  einzigen  dieser  Hunde  (Versuch  3)  zeigte  sich  am  4.  Tage 
eine  leichte  Motilitätsstörung,  welche  einer  nicht  ganz  genauen  Be- 
obachtung entgangen  wäre,  und  der  wir  in  ausgeprägterer  Form  bei 
anderen  Versuchen  wieder  begegnen  werden.  Der  Hund  Hess  die  Ex- 
tremitäten der  linken  Seite  am  4. — 6.  Tage  spurweise  dislociren.  Gleich- 
zeitig wurde  durch  das  Entstehen  eines  erheblichen  Prolapsus  cerebri 
eine  entzündliche  Schwellung  der  Umgebung  der  Hirnwunde  bezeichnet, 
und  die  endliche  Section  wies  nach,  (S.  den  Sitz  der  bindegewebigen 
Auflagerung  in  Fig.  6),  dass  sich  ihre  hintere  Begrenzung  in  die  ge- 
setzte Lücke  hineingelegt  hatte.  Unter  diesen  Umständen,  namentlich 
da  während  der  ersten  3  Tage  absolut  nichts  davon  wahrzunehmen  ge- 
wesen war,  ist  jene  geringe  und  vorübergehende  Abschwächung  der 
Function  sicherlich  nicht  apf  die  verletzte,  sondern  um  so  mehr  auf 
«ine  benachbarte  Hirnpartie  zu  beziehen,  als  Verletzungen  der  letzteren 
von  der  gleichen  Störung  unmittelbar  und  in  viel  höherem  Grade  ge- 
folgt werden. 

Die  eben  erwähnte  Dislocation  der  benachbarten  Gyri  wurde  auch 
bei  den  späteren  Versuchen  immer  dann  beobachtet,  wenn  grössere 
Mengen  der  Substanz  direct  oder  vermöge  des  Prolapses  entfernt  worden 
w^aren.  Im  Allgemeinen  scheint  der  durch  die  Exstirpation  entstehende 
■Raum  von  Bindegewebe  eingenommen  zu  werden.  Auf  diese  beiden 
Momente,  nämlich  das  sich  Einlegen  der  benachbarten  Hirnmasse  und 
die  Neubildung  von  Bindegewebe  zur  Ausfüllung  von  Lücken  sind  denn 
auch  wohl  die  unerwarteten  autoptischen  Bilder  zu  beziehen,  wie  z.  B. 
Fig.  3  eins  bietet,  bei  denen  die  Auflagerung  noch  ganz  andere  Theile 
als  die  verletzten  bedeckt  und  selbst  über  die  blosgelegten  hinausreicht. 

Besondere  Störungen  scheinen  durch  die  Bindegewebswucherung  an 
und  für  sich  nicht  bedingt  zu  werden.  Dafür  spricht  von  den  vor- 
stehenden Versuchen  grade  auch  der  mehrerwähnte  Versuch  3.  Hier 
erstreckt  sich  die  bindegewebige  Auflagerung  weit  üa  den  Gyrus  e 
hinein,  ohne  dass  nennenswerthe  Störungen  des  Muskelbewusstseins  zu 
Tage  getreten  wären.  Schnitte  durch  diese  Regionen  lehren  übrigens, 
dass  die  Pia  nicht  verdickt  ist,  und  die  graue  Substanz  für  das  un- 
bewaffnete Auge  unverändert  sein  kann.  Von  den  Functionsstörungen, 
welche  dennoch  in  den  benachbarten  Gebieten  entstehen  und  von  ihren 


penter  here,  as  well  as  on  previous  occasions,  commits  the  slight  mistake  to 
use  Dr.  Perrier's  name  where  he  should  say  Fritsch  and  Hitzig.  In  order 
to  assist  him  in  avoiding  similar  errors,  which  ought  to  be  most  unpleasant  to 
himself,  I  write  this  remark  in  his  own  language,  and  I  shall  take  the  liberty 
of  forwarding  him  a  copy  of  this  paper. 


—     89     — 

Ursachen  werden  wir  in  der  Folge  noch  zu  sprechen  haben.  Ebenso 
werden  wir  auch  secundär  erscheinenden  atrophischen  Zuständen  wieder 
begegnen.  Hier  habe  ich  nur  noch  hinzuzufügen,  dass  die  auch  später 
vielfach  beobachteten  frischen  Extravasate  in  und  zwischen  die  Hirn- 
häute mit  dem  pathologischen  Vorgange  direct  weiter  nichts  zu  thun 
haben,  sondern  von  der  Vergiftung  abhängig  sind.  Denn  Thiere,  welche 
durch  Abtrennung  des  Herzens  von  den  grossen  Gefässen  getödtet 
wurden,  hatten  keine  frischen  Blutergüsse. 

2.  Gruppe.     Verletzungen   des   Gyrus  d.     (Vorderer  Schenkel  des 

Gyrus  sigmoides.) 

Die  von  mir  an  dem  Gyrus  d  früher  angestellten  Reizversuche 
hatten  im  Allgemeinen  ein  negatives  Resultat  ergeben.  Nur  von  seinem 
lateralen  Theile  aus  waren  bei  Anwendung  stärkerer  Ströme  Bewegungen 
des  Kopfes,  Zusammenziehungen  der  Nackenmuskeln  hervorzubringen 
gewesen,  und  auf  sehr  starke  Ströme  contrahirten  sich  auch  die  Heber 
der  oberen  Lider  beider  Augen,  während  sich  gleichzeitig  die  Pupille 
der  gegenüberliegenden  Seite  erweiterte.  Die  zuletzt  angeführten  Reiz- 
effecte  konnten  wegen  der  grossen,  zu  ihrer  Sichtbarmachung  erforder- 
lichen Stromiutensität  auf  die  oberflächlichen  Schichten  überhaupt  nicht 
bezogen  werden,  sondern  es  war  von  vornherein  klar,  dass  sie  ihren 
Ursprung  dem  Umstände  verdankten,  dass  die  Bahn  wirksamer  Strom- 
schleifen sich  bis  zu  tiefer  gelegenen  Theilen  verbreitert  hatte.  Doch 
konnte  ich  mich,  wie  schon  früher  erwähnt,  selbst  rücksichtlich  des 
Reizpunktes  für  die  Nackenmuskeln  nicht  von  allen  Zweifeln  frei  machen. 
Neue  Versuche  nach  veränderten  Methoden  haben  nur  dazu  beigetragen 
die  Bedenken,  welche  ich  gegen  das  Vorhandensein  eines  Functions- 
herdes  für  diese  Muskeln  in  den  oberflächlichen  Schichten  gefasst  hatte, 
zu  vermehren,  ohne  dass  ich  mich  jedoch  über  diese  Frage  schon  jetzt 
mit  Bestimmtheit  äussern  möchte. 

Wenn  sich  nun  die  Sachlage  in  diesem  Sinne  gestaltete,  so  würde 
der  ganze  Gyrus  d  incl.  seiner  lateralen  Ecke  gleichfalls  in  keiner 
directen  Beziehung  zu  den  Muskelbewegungen  stehen,  und  so  fragte  es 
sich  bei  Vornahme  der  Lähmungsversuche  nicht  nur,  ob  und  in  wie 
weit  durch  dieselben  das  Resultat  der  Reizversuche  im  Allgemeinen 
auch  hier  bestätigt  werden  würde,  sondern  auch,  ob  sich  für  diesen 
besonderen  Punkt  vielleicht  einige  Anhaltspunkte  würden  gewinnen 
lassen. 


—     90     — 

Versuch  VI.     Oberflächliche  Zerstörung  im  medialen  Drittel 

des    Gyrus    d.      Spur^Yeiser    Defect    der    Willensenergie    vom 

3.  bis  13.  Tage.     Keine  Störung  des  Muskelbewusstseins. 

Fio-.  8. 


Einem  mittelgrossen  grauen  Pinscher  wurde  am  6.  Juni  1874  mit 
Aufdeckung  von  a  ein  Theil  des  medialen  Drittels  des  Gyrus  d  4  mm 
tief  exstirpirt.     Nachher  zeigt  der  Hund  absolut  nichts  Abnormes. 

8.  Juni.  Linksseitiger  Conjunctivalkatarrh.  Passiven  Bewegungen 
des  rechten  Vorderbeins  w'ird  ein  etwas  geringerer  Widerstand  ent- 
gegengesetzt*), keine  Störung  des  Muskelbewusstseins. 

18.  Juni.  Wunde  in  der  Heilung,  das  rechte  Vorderbein  zeigt 
noch  eine  Spur  der  erwähnten  Anomalie. 

19.  Juni.    Normal  bis  auf  geringen  linksseitigen  Conjunctivalkatarrh. 
1.   Juli.      Conjunctivalkatarrh    seit    einigen    Tagen    verschwunden. 

Thier  sehr  munter. 

24.  Juli.  Feste  Vernarbung,  vollkommenes  W^ohlbefinden.  Ver- 
giftung durch  Cyankalium. 

Sectio n.  Unregelmässiger  Schädeldefect  in  der  Richtung  von  der 
Mitte  des  Arcus  superciliaris  nach  der  Medianlinie  zu  15  mm,  in  der 
darauf  senkrechten  Richtung  10  mm  messend.  Die  dem  Hirn  auf- 
sitzende, bindegewebige  Masse  hat  in  sagittaler  Richtung  10,  in  fron- 
taler 8  mm  und  reicht  über  d  weit  hinaus  in  das  Gebiet  von  a  hinein. 
Die  Gyri  a.  h,  c  sind  stark  abgeflacht,  das  linke  Corpus  striatum  ist 
etwas  nach  oben  verschoben. 

Versuch  VII.    Oberflächliche  Zerstörung  im  medialen  Drittel 
des  Gyrus  d.     Keinerlei  Anomalien. 
Einem  mittelgrossen  schwarzen  Hunde  wurde  am  12.  October  1874 
die    Dura    über    dem    medialen    Drittel    des    Gyrus   d    in    dem  Winkel 

*)  Ich  werde  dieses  Symptom  in  der  Folge  mit  dem  Ausdrucke  „Defect 
der  Willensenergie"  bezeichnen. 


—     91     — 

zwischen  Sulcus  cruciat.  und  grosser  Längsspalte  mit  einer  8  mm 
Trephine  freigelegt,  wegen  der  Kleinheit  der  Oeffnung  Dura  und  Pia 
mit  spitzem  Scaipelle  in  Einem  umschnitten  und  die  Hirnmasse  auf 
etwa  3  mm  ausgelöffelt.  Unmittelbar  nachher  springt  der  Hund  vorn 
Tische  und  zeigt  keinerlei  Anomalien. 
13.  14.  October.     Status  idem. 

16.  October.     Vollkommene  Trübung    der  rechten  Cornea,    leichter 
doppelseitiger  Conjunctivalkatarrh,  sonst  keinerlei  Anomalien. 

17.  October.     Status  idem.     Wird  getödtet. 

Section:    In  der  Umgebung  der  Schädellücke  ist  das  Pericranium 
in    eine    dicke,    leicht  gelblich  gefärbte,    von   zahlreichen  kleinen  Blut- 

Fiff.  9. 


extravasaten  durchsetzte  Schwarte  verwandelt.  Aeusserst  wenig  Cerebral- 
und  Spinalflüssigkeit.  Dura  und  Pia  normal.  Ein  braunrother,  kreis- 
runder Prolaps  (P.  Fig.  9)  füllt  eben  die  Schädellücke  aus,  sitzt  sehr 
genau  an  der  oben  bezeichneten  Stelle.  Auf  dem  Durchschnitt  erscheint 
ein  Jbrauurother  Herd,  der  mit  zwei  im  Ganzen  5  mm  langen  Zipfeln 
in  die  weisse  Substanz  hineinreicht.  Die  Zerstörung  des  Hirns  hat  eine 
trichterförmige  Gestalt,  so  dass  in  der  Tiefe  zwischen  Sulc.  cruciat.  und 
Herd  noch  etwas,  wenn  auch  verfärbte  Substanz  erhalten  ist.  Nur  an 
der  Oberfläche  reicht  der  Defect  bis  an  die  Furche. 

Versuch  Vni.    Oberflächliche  Zerstörung  im  mittleren  Drittel 

des  Gyrus  d.     Keinerlei  Anomalien.     Ekzeme    an   den  Beinen. 

Tod  an  Pneumonie. 

Kleiner,  schwarzer  Hund  mit  Ophthalmie  auf  dem  rechten,  Katarrh 
auf  dem  linken  Auge,  rechts  eine  der  Perforation  nahe  Stelle.  15.  Juni 
1874.  Trepanation  nahe  der  Mittellinie  mit  einer  Trephine  von  11  mm 
Durchmesser.  Exstirpation  einige  mm  tief  im  mittleren  Drittel  des 
Gyrus  d.     Nachher  nichts  Abnormes. 

16.,  17.  Juni.     Nichts  Abnormes. 


—     92     — 

18.  Juni.  Zutraulich,  Augen  etwas  besser,  hingegen  entstehen  an 
der  Innenfläche  beider  Kniegelenke  längliche,  oberflächliche  Hautdefecte 
ohne  Eiterung. 

25.  Juni.  Ist  in  den  letzten  Tagen  allmählich  schwächer  ge- 
worden, vermag  sich  schlecht  auf  den  Beinen  zu  halten,  dennoch  lässt 
sich  die  Abwesenheit  von  Störung  des  Muskelbewusstseins  noch  con- 
statiren;  auch  die  Augen  sind  schlechter  geworden.  Die  Wunde  zeigt 
keine  Tendenz  zur  Heilung  und  ist  mit  dünnem,  spärlichem  Secret  be- 
deckt.    Haut  sehr  kühl. 

26.  Juni.     Tod. 

Section.  Schädelknochen  nach  vorn  imd  hinten  von  der  Lücke, 
aussen  etwas  missfarbig,    porös,    innen  mit  vielen  kleinen  Rauhigkeiten 

Piff.  10. 


besetzt.  Diploe  sehr  dick  und  blutreich.  Zwischen  Dura  und  Pia 
linkerseits  über  dem  Scheitellappen  kartenblattdickes,  schwarzes  Extra- 
vasat von  syrupähnlicher  Consistenz;  Pia  beiderseits  massig  vascularisirt. 
Sinus  strotzend  von  halb  geronnenem  Blut.  Hirnsubstanz  sehr  weich, 
der  Defect  nimmt  das  mittlere  und  ein  Stück  des  lateralen  Drittels  des 
Gyrus  d  ein,  zwischen  ihm  und  Sulcus  cruciatus  sieht  man  noch  etwas 
normale  Substanz.  Auf  dem  Durchschnitt  erscheint  ein  Keil,  der  mit 
rotheu,  linearen  Zipfeln  nur  wenige  mm  tief  in  die  weisse  Substanz 
hineinreicht.  Die  unteren  Lappen  der  rechten  Lunge  roth,  der  linken 
schiefrig  hepatisirt. 


—     93     — 


Versuch  IX.  Oberflächliche  Zerstörung  der  zwei  lateralen 
Drittel  des  Gyrus  d.  In  den  ersten  3  Tagen  nach  der  Ope- 
ration keine  Anomalien.  Am  4.  und  5.  Tage  deutliche  Stö- 
rung des  Muskelbewusstseins.  Pachymeningitis  sinistra. 
Leichte  gelbliche  Verfärbung  im  Gyrus  e. 

Fig.  11. 


Einem  kleinen  schwarzen  Hunde  wurde  am  10.  Juni  1874  eine 
Trepankrone  von  14  mm  Durchmesser  mit  Eröffimng  der  Stirnhöhle 
über  Gyrus  d  aufgesetzt  und  derselbe  in  ziemlich  grosser  Ausdehnung 
in  der  Tiefe  von  etwa  4  mm  zerstört.  Unmittelbar  nachher  zeigt  der 
Hund  keine  Anomalien. 

11.,  12.  Juni.     Sehr  munter.     Reine  Anomalien. 

13.  Juni.  Erheblicher  Prolaps,  deutlich  ausgesprochene  Störung 
des  Muskelbewusstseins  in  der  rechten  Vorderpfote;  diese  lässt  sich  in 
allerlei  abnorme  Stellungen  bringen,  ohne  daraus  entfernt  zu  werden. 
Hingegen  setzt  der  Hund  bei  activen  Bewegungen  das  Bein  nicht 
abnorm.     Das  Hinterbein  ist  normal. 

14.  Juni.  Störung  des  Muskelbewusstseins  in  der  Vorderextremität 
weniger  ausgesprochen,  im  Hinterbein  vielleicht  spur  weise  vorhanden, 
insofern  er  letzteres  ein  wenig  nach  vorn  und  innen  bringen  lässt. 

15.  Juni.     Störung  des  Muskelbewusstseins  ganz  verschwunden. 
18.  Juni.  •  Wunde  in  der  Verheilung. 

25.  Juni.     Wunde  vernarbt;  Thier  sehr  munter. 

27.  Juli.  Der  Hund  hat  sich  inzwischen  vollkommen  normal  ver- 
halten.    Vergiftung  mit  Cyankalium. 

Section.  Schädeldefect  misst  schräg  von  vorn  aussen  nach  hinten 
innen  16  mm,  in  der  darauf  senkrechten  Richtung  15  mm.  Die  Knochen- 
lücke durch  eine  bindegewebig-gallertige,  gelblich  gefärbte  Masse  aus- 
gefüllt. Die  Dura  der  linken  Convexität  und  die  der  Basis  der  mittleren 
Schädelgrube  in  eine  sehr  dicke,  knorpel artige  Membran  A^erwandelt, 
von  deren  Innenfläche  sich  noch  eine  weiche,    gelbliche,    fibrinöse,    zu- 


—     94     — 

sammenliäugende  Auflagerung  abtrennen  lässt.  Die  Dura  der  vorderen 
Schädelgrube  ist  von  dieser  Veränderung  frei  geblieben;  zwischen  den 
Lamellen  der  krankhaft  veränderten  Dura  der  mittleren  Schädelgrube 
finden  sich  an  der  Couvexität  einige  kleine,  bis  linsengrosse,  alte 
Extravasate.  Ein  sehr  grosses,  ganz  frisches  Extravasat  an  der  Basis. 
Adhäsionen  zwischen  Dura  und  Pia  finden  sich  nur  an  den  Rändern 
der  Hirunarbe.  Diese  nimmt  sehr  genau  den  lateralen  Theil  des  Gyrus  d 
ein,  die  bindegewebige  Auflagerung  zieht  sich  um  etwas  in  das  laterale 
Ende  des  Gyrus  e  hinein.  Ebenso  erstreckt  sich,  wie  ein  hinter  der 
Narbe  geführter  Schnitt  zeigt,  eine  leichte,  gelbliche  Verfärbung  der 
Rindensubstanz  über  den  Sulcus  cruciatus  hinaus  nach  der  Mitte  des 
Gyrus  e  zu.     Die  Gyri  a,  b,  c  erscheinen  kaum  abgeflacht. 

Versuch  X.    Oberflächliche  Zerstörung  des  lateralen  Drittels 

des  Gyrus  d.    In  den  ersten  4  Tagen  keine  Anomalien.   Massige 

Störung    des  Muskelbewusstseins    in    der  Vorderpfote    am  5., 

geringe  am  6.  Tage. 

Fiff.  12. 


Einer  kleinen,  schwarzen  Hündin  wird  am  9.  Septbr.  1874  in  der 
Morphiumnarkose  die  Stirnhöhle  mit  der  11  mm  Trephine  eröflnet, 
von  hier  aus  das  laterale  Ende  des  Gyrus  d  freigelegt  und  in  dem- 
selben eine  Zerstörung  von  etwa  4  mm  Tiefe  angerichtet.  Beträchtliche 
Blutung  aus  dem  Knochen.  Unmittelbar  nach  der  Operation  schläft 
der  Hund;  3  Stunden  später  ist  er  immer  noch  betäubt. 

10.  September.  Kauert  sich  sofort  nieder,  so  dass  nichts  be- 
obachtet werden  kann.     Wunde  trucken. 

11.  September.     Keinerlei  Anomalien.     Wunde  trocken. 

12.  September.  Nicht  die  Spur  irgend  welcher  Bewegungsstörung. 
Massiger  granitfarbiger  Prolaps. 

13.  September.  Massige  aber  deutliche  Störung  des  Muskelbewusst- 
seins in  der  Vorderpfote.     Diese  lässt  sich  nach  mehreren  vergeblichen 


—     95     — 

Versuchen  mit  dem  Dorsum  der  Zehen  und  des  Kusses  aufsetzen  und 
bleibt  dann  längere  Zeit  in  dieser  Stellung,  ebenso  lässt  sie  sich  nach 
hinten  innen  —  nicht  nach  aussen  —  dislociren.  üeber  den  Tischrand 
lässt  der  Hund  das  Glied  nicht  herabhängen,  sondern  hält  sich  an  dem- 
selben fest.    Keine  Störung  in  der  Hinterpfote.    Prolaps  bräunlich  blutig. 

14.  September.  Kaum  noch  Störung  des  Muskelbewusstseins.  Nur 
nach  vielen  vergeblichen  Versuchen  lässt  er  einmal  auf  kurze  Zeit  die 
Pfote  mit  dem  Dorsum  aufgestellt  und  nach  hinten  dislocirt.  Sonst 
keinerlei  Anomalien. 

15.  September.  Keine  Störung  des  Muskelbewusstseins  mehr  nach- 
zuweisen. Möglicherweise  sträubt  er  sich  gegen  Dislocationsversuche 
mit  der  rechten  Vorderpfote  etwas  weniger  als  mit  der  linken. 

16.  September.     Wunde  in  der  Heilung. 

25.  September.  Verhielt  sich  bisher  normal,  indessen  sträubt  er 
sich  vielleicht  noch  jetzt  etwas  weniger  gegen  Dislocationsversuche  der 
rechten  Vorderpfote.  Wunde  vernarbt,  nur  im  unteren  vorderen  Wund- 
winkel noch  ein  wenig  Eiter.     Wird  getödtet. 

Section:  Die  noch  eiternde  Stelle  führt  in  den  am  Boden  mit 
dickem  grünen  Eiter  bedeckten  Sin.  frontal.  Die  Schädelwunde  durch 
eine  halb  bindegewebige,  halb  sulzige  Masse  erfüllt.  Dura  cerebr.  et 
spin.  beiderseits  durchgehends  stark  weisslich  getrübt,  nirgends  adhärent, 
kaum  in  der  Gegend  der  Narbe.  Die  Hirnnarbe  sitzt  am  lateralen  Ende 
des  Gyrus  d^  reicht  soeben  mit  der  Spitze  bis  an  den  Sulc.  cruc.  Auf 
einem  durch  ihre  Mitte  gelegten  Frontalschnitte  zeigt  sich,  dass  sie 
hinten  die  Rinde  kaum  halb  durchsetzt,  vorn  etwa  5  mm  in  die  Tiefe 
reicht.  Dort  befindet  sich  eine  senkrechte  fast  lineare  Continuitäts- 
trennung,  umgeben  von  kleinen,  röthlichen  Punkten;  auf  der  hinteren 
Schnittfläche  ein  ebenso  langer,  röthlicher,  punktirter  Streifen. 

Versuch  XI.  Oberflächliche  Exstirpation  im  lateralen  Drittel 
des  Gyrus  d  mit  partieller  Aufdeckung  des  Gyrus  e.  Un- 
mittelbar nach  der  Operation  keine  Anomalien.  Häufige 
Insultirung  der  Wunde  —  hochgradige  und  anhaltende  Stö- 
rung des  Muskelbewusstseins.  Hämorrhagische  Zertrümme- 
rung fast  des  ganzen  Gyrus  e  und  eines  grossen  Theiles  von  d. 
Einem  mittelgrossen,  ausgewachsenen,  aber  noch  jungen  schwarzen 
Hunde  wurde  am  11.  September  1874  der  laterale  Theil  des  Gyrus  cl 
und  ein  Stück  von  e  mit  Eröffnung  der  Stirnhöhle  aufgedeckt.  Durch 
den  freigelegten  Theil  liefen  zwei  grosse  Venen  in  annähernd  frontaler 
Richtung,  welche  geschont  werden  sollten.  So  wurde  nur  ein  drei- 
eckiges, nach  vorn  gelegenes  Stück  des  Gyrus  d  in  der  Tiefe  von  4  mm 


—     96 


und  zwar  fast  ohne  Blutung  entfernt.  Unmittelbar  nach  der  Operation 
springt  der  Hund  behend  vom  Tisch  und  zeigt  nicht  die  geringsten  Spuren 
von  Störung  des  Muskelbewusstseins,  noch  ein  verschiedenes  Verhalten  der 
Extremitäten  bei  Dislocationsversuchen,  noch  eine  Deviation  der  Beine  beim 
Emporheben  an  der  Rückenhaut.  Eine  halbe  Stunde  später  Status  idem. 
12.  September.  Die  Wunde  ist  grösstentheils  offen,  secernirt  kaum. 
Der  Hund  läuft  auf  dem  Fussboden,  abgesehen  davon,  dass  er  mit  dem 
rechten  Vorderbeine  bei  schnellen  Wendungen  leicht  ausrutscht,  ganz 
normal,  kann  sich  aber  auf  dem  Tisclie  nicht  aufrecht  halten,  sondern 
fällt  sofort  auf  die  rechte  Seite  und  macht  dann  keinerlei  Anstrengungen, 
sich  wieder  aufzurichten,  noch  versucht  er,  vom  Tische  zu  springen. 
An  der  Rückenhaut  in  die  Höhe  gehoben,  streckt  er  das  linke  Vorder- 

Fiff.  13. 


bein  in  senkrechter  Richtung  von  sich,  das  rechte  hingegen  hält  er 
mehr  gegen  den  Leib  gezogen  und  in  der  Richtung  von  aussen  nach 
innen.  Lässt  man  ihn  dann  auf  den  Tisch  herab,  so. behält  das  Bein 
die  angegebene  Stellung  bei,  und  daher  rührt  das  Umfallen.  Das  rechte 
Hinterbein  hingegen  deviirt  beim  Aufheben  nach  aussen,  und  rutscht 
beim  Herablassen  in  dieser  Richtung  davon.  Beide  Extremitäten  der 
rechten  Seite  können  widerstandslos  in  beliebige  abnorme  Stellungen 
gebracht  werden  und  nehmen  nur  bei  allgemeinen  Bewegungsintentionen 
andere  Stellungen  ein.  Hierbei  wird  die  rechte  Vorderpfote  häufig  mit 
dem  Dorsum  der  Zehen  aufgesetzt. 

13.  September.  Allgemeinbefinden  gut,  noch  kein  Prolaps  sichtbar. 
Der  Hund  kann  heute  auf  dem  Tische  gut  stehen.  An  der  Rückenhaut 
in    die  Höhe    gehoben,    deviirt    nur    die  Hinterpfote    nach    aussen,    die 


—     97     — 

Vorderpfote  verhält  sich  in  dieser  ßezieliung  iiornuil.  Die  Störung  des 
Muskelbewusstseins  ist  in  derselben  schwerer  nachweisbar.  Der  Dis- 
location  wird  bei  den  ersten  Versuchen  Widerstand  entgegengesetzt, 
dann  gelingt  sie,  und  nun  bleibt  das  Glied  in  abnormen  Stellungen. 
Es  wird  auch  spontan  unzweckmässig,  insbesonden;  ])ronii-t  aufgesetzt. 
Auch  lässt  der  Hund  dieses  Bein  beliebig  lange  über  den  Tischrand 
herabhängen  und  setzt  es  spontan  in's  Leere,  so  dass  er  vom  Tische 
stürzen  würde,  wenn  man  ihn  nicht  unterstützte.  Die  Hinterpfote  lässt 
sich  hingegen  beliebig  dislocii'en  und  mit  dem  Dorsum  der  Zeheu  auf- 
setzen,  ohne  dass  sie  repouirt  würde. 

14.  September.  Der  Hund  soll  seit  gestern  sehr  oft  gefallen  sein 
und  sich  dabei  die  Schädelwunde  gestossen  haben;  auch  heute  wird 
dies  mehrfach  beobachtet.  Es  ist  ein  sehr  grosser  Prolaps  erschienen, 
der  obere  Wundrand  etwas  geschwollen.  Allgemeine  Empfindlichkeit. 
Beim  Laufen  in  der  Stube  fällt  er,  oder  rutscht  wenigstens  mit  dem 
rechten  Vorderbein  aus,  überhaupt  ist  die  Störung  des  Muskelbewusst- 
seins in  demselben  erheblich  grösser  als  gestern.  Beim  Aufheben 
deviiren  beide  Vorderbeine  stark  nach  Ihiks,  das  rechte  Hinterbein 
nach   aussen. 

16.  September.  Status  idem.  Der  Prolaps  ist  noch  grösser  ge- 
worden und  wird  durch  häufiges  Fallen  immerwährend  verletzt. 

25.  September.  Sehr  grosser  Prolaps.  Störung  des  Muskelbewusst- 
seins in  der  Hinterpfote  verschwunden,  in  der  Vorderpfote  erheblich 
geringer,  nur  nach  vielen  vergeblichen  Versuchen  kann  man  sie  mit 
der  Spitze  des  Dorsum  der  Zehen  aufsetzen,  sie  wird  aber  sehr  bald 
reponirt.  Der  bei  diesem  Versuche  geleistete  Widerstand  ist  nicht 
schwächer,  als  links.  Hingegen  lässt  der  Hund  die  Pfote  beliebig 
lange  über  den  Tischrand  herabhängen  und  tritt  mit  derselben  wieder- 
holt in's  Leere.  An  der  Rückenhaut  in  die  Höhe  gehoben,  deviirt  das 
rechte  Vorderbein  äusserst  stark  nach  innen,  das  linke  massig  nach 
aussen,  das  rechte  Hinterbein  ziemlich  stark  nach  hinten  aussen. 

28.  September.  Bisher  Status  idem.  Heute  ist  der  Prolaps  wieder 
wmidgestossen  und  die  Störung  des  Muskelbewusstseins  in  der  rechten 
Vorderpfote  wieder  deutlicher. 

30.  September.  Prolaps  sehr  gross.  Störung  des  Muskelbewusst- 
seins in  der  Vorderpfote  sehr  hochgradig,  in  der  Hinterpfote  nicht  vor- 
handen.    Dauernd  allgemeine  Empfindlichkeit. 

2.  October.  Prolaps  im  Abschwellen.  Störung  des  Muskelbewusst- 
seins in  der  Abnahme. 

3.  October.     Wie  gestern.     Stösst  sich  nach  der  Untersuchung  den 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     I.  Theil.  '7 


Prolaps  wieder  blutig  —  sofort  wieder  stärkere  Störung  des  Muskel- 
bewusstseins. 

14.  October.  Prolaps  ziemlich  klein  geworden.  Störung  des 
Muskelbewusstseins  in  beiden  Extremitäten  noch  deutlich. 

17.  October.  Wunde  fast  geschlossen,  blasige  Narbe.  Vorn  immer 
noch  sehr  deutliche  Störung  des  Muskelbewusstseins  und  kein  Wider- 
stand bei  Dislocationsversucheu,  hinten  nur  das  letztere  Symptom.  Ob 
beim  Aufheben  an  der  Rückenhaut  noch  Deviation  besteht,  lässt  sich 
nicht  entscheiden,  da  der  Hund  in  Folge  seiner  allgemeinen  Hyper- 
ästhesie Abwehrbewegungen  macht. 

20.  October.  In  der  Hinterpfote  keine,  in  der  Vorderpfote  massige 
Störung  des  Muskelbewusstseins. 

21.  October.  Der  Hund^  setzt  die  dislocirten  Extremitäten  sofort 
wieder  in  die  vorher  eingenommene  Stellung  zurück,  indessen  setzt  er 
der  Dislocation  selbst  keinen  Widerstand  entgegen.  Dieses  letztere 
Symptom  besteht  auch  in  der  linken  Vorderpfote  und  wird  daselbst 
auch  noch  in  den  nächsten  Tagen  beobachtet,  wie  es  denn  auch  schon 
früher  bemerkt  war,  ohne  dass  jedoch  sein  erstes  Auftreten  notirt 
worden  wäre.  Fasst  man  den  auf  dem  Tische  stehenden  Hund  mit 
einer  Hand  unter  dem  Kopfe  und  hebt  auf  diese  Weise  den  Vorder- 
körper sanft  in  die  Höhe,  so  dreht  sich  das  rechte  Vorderbein  mit 
einer  leichten  Pronationsbewegung  derart  nach  innen,  dass  es  mit  dem 
linken  Beine  convergirt,  und  bleibt  auch  beim  Niederlassen  des  Thieres 
in  dieser  Stellung.  Ferner  lässt  der  Hund  beide  linke  Extremitäten 
noch  über  den  Tischrand  herabhängen. 

23.  October.     Ganz  unverändert.     Vergiftung  mit  Cyankalium. 

Section.  Die  Schädellücke  durch  eine  die  äussere  Haut  über- 
ragende, weissliche,  scheinbar  blasige  Narbe  geschlossen.  Dura  fleck- 
weise weisslich,  sehnig  verdickt,  links  der  Pia  locker  (durch  kleine  Ge- 
fässe?)  anhaftend.  Pia  normal,  nur  an  der  Basis  des  Pons  und  der 
Medulla  obl.  zahlreiche,  ganz  frische  Extravasate  in  ihr  Gewebe.  Die 
Auflagerung  sitzt  der  Hirnmasse  wie  ein  Champagnerkork  auf,  so  dass 
sie  ihre  Verbindung  mit  der  letzteren  ringsum,  namentlich  aber  am 
vorderen  Rande  beträchtlich  überragt,  ohne  dass  diese  aufliegende  Masse 
mit  der  Pia  verwachsen  wäre.  Der  Durchschnitt  lehrt,  dass  ihre  scheinbar 
blasige  Bedeckung  durch  eine  knorpelartige,  wie  eine  Kappe  aufliegende 
Membran  gebildet  wird.  Auf  einem  Frontalschnitte  unmittelbar  vor  dem 
lateralen  Ende  des  Sulc.  cruc.  erscheint  ein  derber,  streifiger,  roth- 
brauner, stellenweise  gelblicher,  mit  kleinen  Höhlen  durchsetzter,  keil- 
förmiger Herd,  der  hier  7  mm  unter  das  Niveau  der  Pia  reicht,  und 
auf    einem  Sagittalschnitte    durch    den    hinteren  Abschnitt  mehrere  die 


—     99     — 

Decke  des  Seitenventrikels  berührende  Zipfel  zeigt.  An  dieser  Stelle, 
wie  auch  an  der  benachbarten  den  Nucleus  caudatus  bedeckenden  Stelle 
ist  das  Ependym  hellbräunlich  gefärbt.  Die  ganze  Hirnhälfte  erscheint 
schmaler,  weisse  wie  graue  Substanz  haben  einen  Stich  in's  Bräunliche, 
Grenze  zwischen  ihnen  undeutlich.  Die  weisse  Substanz  ist  namentlich 
gegen  die  andere  Seite  viel  spärlicher  vorhanden  und  leicht  zernagt, 
Nucleus  caudatus  selbst  schmaler  und  blasser. 


Versuch  XII.  Oberflächliche  Exstirpation  des  mittleren 
Drittels  des  Gyrus  d  mit  Aufdeckung  des  Gyrus  e.  Sofort 
äusserste  Unsicherheit,  hauptsächlich  auf  Störung  des 
Muskelbewusstseins  in  der  Hinterpfote  beruhend.  Tod  am 
8.  Tage.  Erweichungsherde. 
Fig.  14. 


Einem  kleinen,  schwarzen  Hunde  wurde  am  20.  Mai  1874  eine 
Trepankrone  von  14  mm  Durchmesser  so  aufgesetzt,  dass  die  Gyri  d  e 
in  der  Umgebung  des  Sulcus  cruciatus  frei  lagen.  Blutung  gering. 
Exstirpation  des  mittleren  Drittels  des  Gyrus  d  (S.  E.  Fig.  14)  bis  zum 
Sulcus  cruciatus  in  der  Tiefe  von  4  mm.  Nach  der  Operation  befindet 
sich  der  Hund  äusserst  deprimirt,  will  oder  kann  nicht  stehen  und  fällt 
fortwährend,  selbst  aus  der  sitzenden  Stellung  nach  rechts  herüber, 
ohne  dass  wegen  der  grossen  Depression  etwas  Sicheres  über  die  Ur- 
sache des  Umfallens  zu  eruiren  wäre. 

21.  Mai.  Der  Hund  kann  sich  mit  seinen  Extremitäten  ausser- 
ordentlich schlecht  Orientiren,  namentlich  zeigt  sich  dies,  wenn  er  auf 
den    glatteren  Tisch    gesetzt    wird,    jedoch    auch    schon  auf  dem  Fuss- 

7* 


—     100     — 

bodeii.  Er  wirft  danu  die  Extremitäten  regellos  durcheinander  und 
fällt  nach  der  rechten  Seite  herüber.  Beide  rechten  Extremitäten  lassen 
sich,  wenn  man  das  Thier  zurecht  gestellt  hat,  in  abnorme  Stellungen 
bringen,  jedoch  ist  die  Unsicherheit  so  gross,  dass  der  Hund  schon  bei 
geringen  Verschiebungen  der  Glieder  hinstürzt.  Dabei  besteht  noch 
grosse  Depression,  der  Kopf  hängt  nach  vorn,  und  der  Puls  ist  in 
eigenthümlicher  Weise  uuregelmässig,  es  folgen  drei  Schläge  in  langen 
und  vier  in  kurzen  Pausen. 

22.  Mai.  Depression  hat  sich  ziemlich  verloren.  Nun  zeigt  sich, 
dass  die  bisher  beobachtete  Motilitätsstörung  fast  ganz  auf  Rechnung 
des  Hinterbeines  kommt.  Dieses  rutscht  zwischen  den  drei  anderen 
Beinen  nach  vorn  davon,  bis  es  vor  den  Vorderbeinen  angekommen  ist 
und  bis  zur  Schnauze  reicht.  Weil  er  sich  dieses  Beines  schlecht  be- 
dienen kann,  stürzt  der  Hund  bei  jeder  plötzlichen  Veränderung  der 
Stellung  nach  rechts  herüber,  das  Bein  kann  auch  passiv  in  beliebige 
andere  Stellungen  gebracht  werden,  ohne  dass  es  zurückgezogen  würde. 
Das  Vorderbein  hingegen  ist  nur  sehr  wenig  alterirt. 

23.  Mai.  Status  idem,  aber  sehr  reichliche,  chocoladenfarbige 
Eiterung. 

27.  Mai.  Tod,  nachdem  der  Hund  seit  dem  23.  wegen  einer  Reise 
nicht  beobachtet  worden  war. 

Section.  29.  Mai.  Hautwunde  nicht  verklebt.  Schädelwunde 
durch  einen  Prolaps  von  brauner  Farbe  ausgefüllt.  Dura  über  beiden 
Hemisphären  leicht  weisslich  getrübt,  nicht  adhärent.  Pia  über  beiden 
Hinterlappen  leicht  fleckweise  injicirt.  Der  Prolaps  besteht  an  der 
Oberfläche  aus  einer  trockenen,  lederartigen  Masse  (Coagulum),  von 
dieser  aus  geht  ein  rothbrauner  Erweichuugsherd  aus,  der  sich  mit 
einer  keilförmigen  Spitze  vor  dem  Sulcus  cruciatus  her  bis  in  das 
Epeudym  des  Vorderhorns  des  Seitenventrikels  erstreckt,  das  dort  kleine 
bräunliche  Herde  zeigt,  im  üebrigen  normal  ist.  Diese  Spitze  zieht 
dann  median-  und  vorwärts  vom  Kopf  des  Nucleus  caudatus  nach  der 
Basis  und  vorn  zu,  der  Nucleus  caudatus  selbst  ist  intact.  Kleine  frische, 
submeningeale  Blutung  in  die  vordere  Verlängerung  der  Sylvischen  Grube, 
dicht  an  ihrem  medialen  Ende.  Dort  ist  die  Spitze  des  Vorderlappens 
in  der  Rinde  (Gyri  &,  c.)  roth  erweicht. 

Versuch  XIH.  Tiefe  Exstirpation  im  mittleren  Drittel  des 
Gyrus  d  mit  partieller  Aufdeckung  des  Gyrus  e.  Unmittelbar 
nach  der  Operation  deutliche  Störung  des  Muskelbewusst- 
seins  in  der  Hinterpfote,   in  der  Vorderpfote  am  2.  Tage,    am 


101 


7.  Tage  normal.     Rrweichungshorde  im  Gyrus  e.    Beginnende 
Pneumonie.     Hämorrliagischo  Tnfarcte   der  Lunge. 


Einer  mittelgrossen  gelben  Hündin  wurde  am  2.  October  1874  mit 
der  11  mm  -  Trephine  das  laterale  Drittel  von  Gyrus  d  und  ein 
schmaler  Streifen  derselben  Gegend  von  Gyrus  e  aufgedeckt,  die 
Knochenwunde  an  ihrer  vorderen  und  medialen  Peripherie  mit  der 
Zange  etwas  erweitert,  die  Pia  an  der  letztgenannten  Stelle  (S.  E.  Fig.  15) 
umschnitten  und  die  umschnittene  Partie,  welche  unmittelbar  vor  der 
Mitte  des  Sulc.  cruciat.  liegen  muss,  auf  die  Tiefe  von  20  mm  mit  dem 
Staarlöffel  entfernt.  Blutung  ganz  gering..  Unmittelbar  nach  der  Ope- 
ration zeigt  die  Vorderpfote  weder  Störungen  des  Musicelbewusstseins 
noch  einen  geringeren  Widerstand  gegen  Disiocationsversuche.  Die 
Hinterpfote  lässt  sich  hingegen  widerstandslos  nach  hinten  dislociren 
und  mit  dem  Dorsum  aufsetzen,  ohne  dass  sie  reponirt  würde,  während 
der  Hund  Dislocirung  derselben  nach  vorn  innen  zwar  zulässt,  aber 
durch  eine  Bewegung  mit  der  anderen  Seite  sofort  wieder  ausgleicht. 
Er  lässt  die  Hinterpfote  kurze  Zeit  über  den  Tischrand  herunterhängen 
ohne  sie  zurückzuziehen,  die  Vorderpfote  verhält  sich  auch  in  dieser 
Beziehung  normal.  Rechte  Pupille  auf  kurze  Zeit  etwas,  aber  deutlich 
verengert,  jedoch  bei  Lichtwechsel  sowohl  vereugeruugs-  als  erweiterungs- 
fähig. Pupillendifferenz  1/2  Stunde  später  verschwunden.  Ob  Seh 
Störung,  fraglich. 

3.   October.      Sehr    depriniirt.      Der    Prolaps    erfüllt    die    Wunde, 
Störung    des  Muskelbewusstseins    in    beiden    rechten  Extremitäten    sehr 


—     102     — 

deutlich,  ohne  maximal  zu  sein.  Die  über  den  Tischraud  herab- 
hängenden Pfoten  zieht  der  Hund  bald  zurück.  Beim  Emporheben  an 
der  Rückenhaut  deviireu  alle  vier  Extremitäten  nach  links.  Rechte 
Pupille  etwas  erweitert,  reagirt  zwar,  verengert  sich  aber  nicht  in  dem 
Grade  als  die  linke. 

5.  October.  Status  idem.  Beim  Aufheben  an  der  Rückenhaut 
wird  das  rechte  Vorderbein  mehr  angezogen  und  deviirt  stark  nach 
innen,  das  linke  schwach  nach  aussen,  beide  Hinterbeine  schwach  nach 
links. 

6.  October.  Das  rechte  Vorderbein  deviirt  stark  nach  innen,  das 
linke  grade,  beide  Hinterbeine  schwach  nach  links.  Störung  des  Muskel- 
bewusstseins  und  Defect  der  Willensenergie  in  der  Abnahme. 

7.  (Jetober.  Störung  des  JVluskelbewusstseins  und  Defect  der  Willens- 
energie im  Vorderbein  nur  noch  spurweise,  im  Hinterbeine  besser  nach- 
weisbar. Der  Dislocation  des  Vorderbeins  setzt  er  bei  den  ersten  Ver- 
suchen schon  Widerstand  entgegen.     Keine  Deviation  mehr. 

8.  October.  Störung  des  Muskelbewusstseins  und  Defect  der  Willens- 
energie verschwunden.  Keine  Deviation.  Prolaps  eingesunken.  Etwas 
Husten. 

14.  October.  Bisher  normal.  Wunde  fast  vernarbt,  hingegen  viel 
mühsamer  Husten. 

18.  October.  Sehr  viel  in  Anfällen  auftretender  mühsamer  Husten, 
zunehmende  Abmagenmg,  sonst  keine  Anomalien,  Wunde  vernarbt. 
Wird  getödtet. 

Section.  Die  Umgebung  der  SchädeJlücke  etwas  deprimirt,  diese 
selbst  von  einer  an  den  Rändern  knorpligen,  in  der  Mitte  bindegewebig- 
gallertigen  Masse  ausgefüllt.  Knochen  in  der  Umgebung  au  der  Innen- 
fläche rauh,  porös,  Diploe  durch gehends  sehr  reichlich,  Dura  und  Pia 
bis  auf  allgemeine  weissliche  Trübung  der  ersteren  normal.  Die  binde- 
gewebige Auflagerung  nimmt  genau  den  Gyrus  d  ein,  von  ihr  aus  reicht 
aber  (S.  H.  Fig.  15)  eine  violette,  weiche,  eingesunkene  Stelle  über  den 
Sulc.  cruc.  hinaus  nach  Gyrus  e  hinein.  Eine  ähnliche  violette,  ein- 
gesunkene Stelle  findet  sich  auch  an  der  die  Auflagerung  medianwärts 
begrenzenden  Partie  des  Randwulstes.  Auf  einem  unmittelbar  vor  dem 
Sulc.  cruc.  geführten  Frontalschnitte  erscheint  ein  keilförmiger,  rother 
Herd,  dessen  Spitze  nach  hinten  bis  dicht  an  das  Ependym  reicht. 
Dieses  ist  jedoch  rein  weiss.  Weiter  nach  hinten  überragt  der  Herd 
den  Sulc.  cruc.  nur  in  der  Rinde  und  auch  hier  verschwindet  er  gegen 
das  laterale  Ende  der  Furche  hin.  Ein  Sagittalschnitt  durch  den 
vorderen  Abschnitt  des  Hirns  zeigt,  dass  der  Staarlöffel  unmittelbar 
vor  dem  Vorderhorne  20  mm  weit  in  die  Tiefe  gedrungen  ist,  und  hier 


—     103     — 


eiue  von  altem  Extravasat  erfüllte  Furche  zurückgelassen  hat.  Nament- 
lich auf  der  vorderen  Schnittfläche  des  Frontalschnittes  bemerkt  man 
eine  sehr  deutliche  allgemeine  Atrophie  der  Substanz,  insbesondere 
auch  der  grauen  Rinde  der  medialen  Fläche.  Der  linke  Nucleus 
caudatus  ist  reichlich  3,5  mm  höher  als  der  rechte,  so  dass  der  Seiten- 
ventrikel erweitert,  aber  dennoch  durch  das  Ganglion  ganz  ausgefüllt 
erscheint.  —  Beide  untere  Lappen  der  Lungen  dunkler  gefärbt,  derber, 
aber  noch  lufthaltig.  In  den  oberen  Lappen  beiderseits  zahlreiche 
hämorrhagische  Infarcte,  im  Centnun  ein  schwarzrothes  Coagulnm,  in 
der  Peripherie  hellrothere  Färbung  zeigend,  mehrere  mm  in  die  Tiefe 
reichend.  Ursache  für  dieselbe  wurde  nicht  aufgefunden.  An  dem 
Peritonealüberzuge  der  Leber  reichliche  fleck-  und  strichweise  Injection. 

Versuch  XIV.  Tiefe  Exstirpation  des  ganzen  Gyrus  d.  Un- 
mittelbar nach  der  Operation  erheblicher  Defect  der  Willens- 
energie in  der  Vorderpfote.  Am  2.  und  3.  Tage  Störung  des 
Muskelbewusstseins  in  beiden  Extremitäten.  Quetschung 
des    Prolapses:    dauernde    Störung    des    Muskelbewusstseins. 

Fiff.  16. 


Mittelgrosser,  schwarzweisser,  junger  Hund  einer  grossen  Race. 
S.Juli  1874  Trepanation  mit  einer  Krone  von  11  mm  Durchmesser  über 
dem  mittleren  Theile  des  Gyrus  ä,  so  dass  Gyrus  e  nur  ganz  wenig 
aufgedeckt  wird.  Erweiterung  der  Knochenlücke  in  frontaler  Richtung 
nach  beiden  Seiten,  Umschneidung  fast  des  ganzen  Gyrus  cl  bis  fast  auf 
die  Basis,  das  Loch  ist  25  mm  tief.  Auslöffelung  der  umschnittenen 
Partie.  Blutverlust  bei  der  ganzen  Operation  massig.  Unmittelbar 
nachher  bestehen  keine  Störungen  des  Muskelbewusstseins,  hingegen 
ist  der  Widerstand,  welchen  der  Hund  dem  Aufsetzen  der  Vorderpfote 
mit  dem  Dorsum  entgegenbringt,  beträchtlich  geringer,  als  auf  der 
anderen  Seite.  Wird  das  Glied  aber  losgelassen,  so  setzt  er  es  sofort 
in  die  Normalstellung  zurück.  Die  Hinterpfote  verhält  sich  normal, 
ebenso  ist  der  Gang  ganz  ungestört. 


—     104     — 

4.  Juli.  Störung  des  Muskelbewusstseins  in  beiden  rechten  Ex- 
tremitäten deutlich  ausgesprochen,  ohne  jedoch  das  Maximum  zu  er- 
reichen. 

6.  Juli.  Störung  des  Muskelbewusstseins  ganz  verschwunden, 
Hinterbein  überhaupt  normal,  Vorderextremität  lässl  ^.r  widerstandslos 
dislociren,  bringt  sie  aber,  wenn  losgelassen,  sofort  wieder  zurück. 
Durch  eine  Unvorsichtigkeit  quetsche  ich  den  bis  dahin  sehr  geringen 
Prolaps  heftig,  dieser  wird  gleich  nachher  bedeutend  grösser  und  die 
Störung  des  Muskelbewusstseins  sehr  ausgesprochen. 

7.  Juli.  Es  entleert  sich  fortdauernd  Hirnmasse.  Störung  des  Muskel- 
bewusstseins äusserst  hochgradig,  derar\;,  dass  der  Hund  auf  dem  Tische 
mit  beiden  rechten  Beinen  um  sich  wirft  und  nach  rechts  umfällt,  sobald 
die  Sicherheit  seiner  Stellung  nur  im  Geringsten  beeinträchtigt  wird; 
überhaupt  kann  er  auf  dem  Tische  nur  dann  stehen,  wenn  ihm  die 
rechten  Extremitäten  passiv  in  ein  zwecki Rassiges  Yerhältniss  zu  den 
linksseitigen  gebracht  werden.  Auf  wenig,,^r  glattem  Boden  kann  er 
mit  den  gewöhnlichen  Störungen  laufen.        * 

8.  Juli.     Status  idem. 

10.  Juli.     Hält  sich  etwas  besser  auf  den  Beinen. 

18.  Juli.  Störung  des  Muskelbewusstseins  hat  weiter  abgenommen, 
ist  aber  noch  immer  sehr  hochgradig.     Wunde  in  der  Vernarbung. 

20.  Juli.  Störung  des  Muskelbewusstseins  viel  geringer,  aber  immer 
noch  sehr  deutlich.     Wunde  vernarbt. 

30.  Juli.  Der  Hund  ist  sehr  lebhaft,  das  Hinterbein  verhält  sich 
normal,  das  Vorderbein  hat  sich  seit  dem  20.  Juli  nicht  verändert. 
Wenn  er  am  Strick  nach  der  Nahrung  drängt,  rutscht  die  Vorderpfote 
aus;  man  kann  dieselbe  noch  immer  in  allerlei  abnorme  Stellungen 
bi-ingen,  supiniren,  mit  dem  Dorsum  aufsetzen  und  dergl.  Allerdings 
bleibt  sie  nur  kurze  Zeit  in  hochgradigen  Verdrehungen,  bei  der  activen 
Reposition  geräth  sie  aber  fast  regelmässig  mit  dem  Dorsum  der  Zehen 
auf  den  Tisch  und  wird  erst  normal  aufgesetzt,  wenn  ein  neuer  Be- 
wegungsimpuls  eintritt.  Dies  ist  derselbe  Zustand,  wie  er  seit  dem 
20.  Juli  unverändert  bestanden  hat.     Vergiftung  mit  Cyankalium. 

Section.  Der  Schädeldefect  durch  eine  gelbliche,  sehr  blutreiche, 
bindegewebige  Masse  ausgefüllt.  Die  Dura  der  linken  Convexität  über 
dem  Hiuterlappen  in  netzförmiger  Zeichnung  stark  verdickt,  mit  kleinen 
Extravasaten  verschiedenen  Datums  durchsetzt  und  der  Pia  vielfach 
adhärent.  Die  Dura  der  rechten  Hirnhälfte  und  die  Pia  sonst  zeigt 
keine  Anomalien.  Die  bindegewebige  Auflagerung  begreift  den  Gyrus  d. 
mit  Ausnahme  seines  lateralen  M^inkels  und  einen  Theil  von  e  in  sich. 
Beim  Herauspräpariren    trennt    sie    sich    an    ihrer  hinteren  Grenze  von 


—     105     — 

der  Hirnsubstanz.  Ein  durch  diese  iStello  schräg  "nach  vorn  gelegter 
Frontalschnitt  deckt  eine  grosse,  von  maschigem  Gewebe  und  Coaguiis 
verschiedenen  Alters  erfüllte  Höhle  auf.  Der  Seiten  Ventrikel  ist  in  die 
Höhe  gezogen;  der  Kopf  des  Nucleus  caudatas  nach  oben  dislocirt,  hin- 
gegen die  Ganglien  an  der  Durchschnittsstelle  in  ihrer  Substanz  nicht 
verändert.  Die  ganze  vordere  Hirnpartie  erscheint  auf  dem  Durch- 
schnitt stark  atrophisch.  Ausserdem  ist  der  linke  Tractus  olfactorius 
in  seiner  lateralen  Hälfte  durchschnitten  und  die  Schnittenden  durch 
eine  bräunliche  Masse  verklebt. 

Durch  die  vorstehenden  9  Versuche  wird  die  Frage,  ob 
der  Gyrus  d  in  directer  Beziehung  zur  Muskelbewegung  der 
Extremitäten  steht  oder  nicht,  in  negativem  Sinne  beant- 
wortet und  hierdurch  das  Resultat  der  Reizversuche  eben- 
falls bestätigtes). 

Bei  den  drei  ersten  dieser  Hunde  (Versuch  6,  7  u.  8)  kam  es 
überhaupt  nicht  zu  Störungen  des  Muskelbewusstseins.  Die  Objecte  der 
Versuche  9,  10,  11  und  14  zeigten  das  Symptom  unmittelbar  nach  der 
Verletzung  nicht,  es  trat  jedoch  später  auf  kürzere  oder  längere  Zeit 
ein.  Bei  dem  Versuche  13  war  das  Hinterbein  sofort  afficirt,  während 
das  Vorderbein  erst  am  2.  Tage  Spuren  der  Erkrankung  zeigte.  An 
dem  Versuchsthiere  12  war  aber  eine  hochgradige  Störung  des  Muskel- 
bewusstseins, und  zwar  anscheinend  in  beiden  Extremitäten  unmittelbar 
nach  der  Operation  zu  constatiren. 

Analysiren  wir  diese  anscheinend  gruppenweise  divergirenden  Re- 
sultate mit  Rücksicht  auf  den  Ort  und  die  Art  der  Verletzung  einer- 
seits und  den  Verlauf  der  wahrnehmbaren  Störung  andererseits,  so  er- 
giebt  sich  eine  vollkommene  und  sehr  lehrreiche  Harmonie  der  Versuche 
untereinander  sowohl,  als  auch  mit  den  Reizversucheu.  Die  drei  Ver- 
suche, welche  in  dieser  Beziehung  symptomlos  verliefen,  entsprechen 
mit  der  Summe  der  bei  ihnen  zerstörten  Flächen  ziemlich  der  ganzen 
Oberfläche  des  Gyrus  d^  nur  war  jedesmal  zwischen  der  Wunde  und 
dem  Sulc.  cruc.  noch  etwas  Substanz  erhalten  worden,  auch  hatte  ich 
niemals  soviel  Hirnmasse  oder  Knochen  entfernt,  dass  eine  nennens- 
wertlie  Dislocation  des  benachbarten  Gyrus  hätte  eintreten  können.  Wir 
werden  uns  noch  bei  vielen  anderen  Versuchen  überzeugen  und  es 
leuchtet  auch  ganz  von  selbst  ein,  dass  die  unmittelbare  Umgebung 
zerstörter  Stellen  durch  secundäre  Processe  —  Prolaps,  rothe,  hämor- 
rhagische Erweichung  —  ebenfalls  zur  Function  untauglich  gemacht 
wird.  Deshalb  würde  man  die  schmale,  ursprünglich  intact  gelassene 
Grenzzone    des   Sulc.    cruc.    überhaupt    wohl    nicht    weiter    in  Betracht 


—     106     — 

ziehen  wollen.  Ausserdem  ist  aber  das  bei  Versuch  6  verschont  ge- 
bliebene in  Versuch  7,  und  die  erhaltene  Brücke  von  Versuch  8  bei 
Versuch  9  direct  zerstört  worden,  ohne  dass  primäre  Erscheinimgen 
auftraten.  Die  näheren  Resultate  der  anatomischen  Untersuchung  für 
Versuch  6  steheii  noch  zu  erwarten:  das  Gehirn  des  8.  Hundes  ist  bei 
der  Erhärtung  zu  Grunde  gegangen;  die  Section  des  7.  Versuchsthieres 
bewies,  dass  die  Rinde  bis  an  die  Furche  vernichtet  war.  Es  geht  bei 
Berücksichtigung  aller  angeführten  Momente  demnach  schon  aus  diesen 
Versuchen  hervor,  dass  die  Production  derjenigen  Fähigkeit,  welche  ich 
Muskelbewusstsein  nenne,  eine  Function  der  Oberfläche  dieses  Gyrus 
nicht  ist.   — 

Drei  andere  Thiere  zeigten  geringe  und  vorübergehende  Symptome. 
Versuchsobject  9  war  am  4.  und  5.,  Versuchsobject  10  am  5.  und  6.  Tage 
auf  dem  Vorderbeine,  endlich  Versuchsobject  13  auf  dem  Hinterbeine 
vom  1.  und  auf  dem  Vorderbeine  vom  2. — 6.  Tage  mehr  weniger  un- 
sicher. Ich  habe  schon  Eingangs  (S.  75)  darauf  aufmerksam  gemacht, 
wie  wichtig  die  Auffassung  grade  des  unmittelbaren  —  primären  Re- 
sultates der  Operation  gegenüber  den  später  eintretenden  Störungen  ist, 
und  ich  meine  die  eben  in  Frage  stehenden  drei  Versuche  geben  wohl 
die  beste  Hlustration  für  die  Richtigkeit  meiner  Ansicht.  Bei  Versuch  9 
reicht  die  Verletzung  mit  ihrem  hinteren  Ende  eben  bis  au  den  Gyrus  e, 
während  der  Sulc.  cruc.  selbst  noch  durch  eine  schmale  Brücke  Substanz 
geschützt  bleibt.  Das  in  e  zunächst  bedrohte  Centrum  versieht  die  Be- 
wegungen des  Vorderbeins,  und  in  der  That  erscheint  die  charakteristische 
Störung  gerade  in  diesem  Gliede,  jedoch  erst  am  4.  Tage  deutlich  aus- 
gesprochen, während  gleichzeitig  der  vordrängende  Prolapsus  eine  ent- 
zündliche Schwellung  der  Umgebung  andeutet.  Dem  entsprechend  wies 
auch  die  Section  die  Spuren  einer  Encephalitis  im  Gyrus  e  nach.  Das 
Centrum  für  das  Hinterbein  war  durch  seine  Lage  vor  den  Folgen  der 
Verletzung  ziemlich  geschützt,  und  so  war  eine  am  5.  Tage  an  dieser 
Extremität  beobachtete  Anomalie  denn  auch  so  unbedeutend,  dass  man 
über  ihr  Vorhandensein  oder  Fehlen  hätte  streiten  können. 

Dem  Versuch  so  bjecte  10  war  eine  der  Lage  nach  ähnliche  aber 
kleinere  und  den  Gyrus  e  noch  weniger  bedrohende  Verletzung  bei- 
gebracht worden.  Hier  war  das  Muskelbewusstsein  überhaupt  nur  wenig 
gestört,  das  Symptom  erschien  einen  Tag  später,  als  bei  dem  vorigen 
Versuche  und  als  der  Hirnvorfall,  die  Hinterpfote  verhielt  sich  normal, 
und  am  folgenden  Tage  war  aacli  die  Vorderpfote  fast  in  integrum 
restituirt. 

Anders,  wie  der  Ort  und  die  Art,  war  auch  das  Bild  des  13.  Ver- 
suches.    Zunächst    war    ein    schmaler    Streifen    von    e    mit    aufgedeckt 


—     107     — 

wordoMi,  sodann  reichte  die  Zerstörung  last  durcli  die  ganze  Höhe  des 
Gehirns  hindurch,  endlich  war  hier  in  erster  l^inie  das  Ccntrum  für 
das  Hinterbein  bedroht.  Unmittelljar  nach  der  Operation  erschien  eine 
zwar  nicht  maximale,  aber  docli  vollkommen  deutliche  Störung  des 
Muskelbewusstseins  iu  diesem  Gliede  und  erst  am  nächsten  Tage  war 
das  Vorderbein  in  ähnlicher  Weise  afficirt.  '  Eine  bei  der  Section  nach- 
gewiesene rothe  Erweichung  der  Rinde  von  e  gab  die  Erklärung  hierfür 
ab.  Interessant  ist,  dass  die  Störung  im  Hinterbein  ebenso  später  ab- 
nahm, wie  sie  früher  aufgetreten  war.  Uebrigens  muss  darauf  auf- 
merksam gemacht  werden,  dass  bei  diesem,  die  Markstrahlung  stärker 
zerstörenden  Versuche  eine  so  sehr  starke  Deviation  der  Beine  beim 
Aufheben  an  der  Rückenhaut  nachzuweisen  war,  während  eine  andere, 
fast  regelmässige  Theilerscheinung  des  Krankheitsbildes,  das  reactions- 
lose  Herabhängenlassen  der  Pfoten  über  den  Tischrand,  sehr  in  den 
Hintergrund  trat.  Die  Krankheitserscheinungen  hielteji  sämmtlich,  ent- 
sprechend der  grösseren  Erheblichkeit  der  primären  und  der  secundären 
Läsion  länger  an,  aber  doch  war  der  Hund  am  7.  Tage  wieder  normal. 

Die  Versuche  9  und  10,  übrigens  auch  11,  bestätigen  also  lediglich 
das  Ergebniss  der  Versuche  6,  7  und  8;  denn  auch  bei  ihnen  hatte  die 
ursprüngliche  Verletzung  keinerlei  Bewegungsstörungen  zur  Folge, 
Diese  erschienen  erst  am  4.  und  5.  Tage.  — 

Versuch  12,  welchen  ich  zu  der  dritten  Reihe  dieser  9  Versuche 
rechne,  schliesst  sich  uumittelbar  dem  eben  besprochenen  Versuch  13 
an,  und  bildet  eine  Ergänzung  für  ihn.  Die  Zerstörung  betrifft  hier 
mehr  die  Oberfläche,  diese  aber  in  grösserer  Ausdehnung,  sie  erstreckt 
sich  ferner  fast  auf  dieselbe  Region  wie  bei  S  und  9,  und  doch  sind 
die  Symptome  so  ausserordentlich  verschieden.  Bei  jenen  beiden  Fällen 
war  fast  nichts  Abnormes  zu  bemerken,  hier  aber  konnte  sich  der 
Hund  schon  gleich  nach  der  Operation  nur  mühsam  auf  den  Füssen 
erhalten.  Suchen  wir  den  Grund  hierfür,  so  zeigt  sich,  dass  bei  diesem 
Versuche,  wie  bei  13,  die  sonst  gelassene,  den  Sulc.  cruc.  schützende 
Brücke  fehlt,  und  dass  ausserdem  der  Gyrus  e  durch  seine  ausgedehnte 
Freilegung  allen  Schädlichkeiten  ausgesetzt  war. 

Die  beiden  eben  in  Rede  stehenden  Versuche  (12  und  13)  reichen 
natürlich  nicht  aus,  um  die  Rolle  festzustellen,  welche  der  Sulc.  cruc. 
gegenüber  den  in  die  Erscheinung  tretenden  Symptomen  spielen  kann^ 
und  welche  ihm  wahrscheinlich  mit  den  anderen  Furchen  mutatis 
mutandis  gemeinsam  ist.  Berücksichtigt  man  aber  den  Umstand,  dass 
die  Furchen  Ernährungswege  für  ihre  Nachbarwindungen  bilden,  dass 
in  ihren  Spalten  eine  Menge  grösserer  Gefässe  liegen,  so  Vv'ird  man  es 
jedenfalls  nicht  auffallend  finden,    wenn  die  durch  den  Eingriff  hervor- 


—     108     — 

gebrachten  Erscheinungen  A^on  dem  Augenblicke  an  zu  variiren  be- 
ginnen, in  dem  man  sich  ihrem  Zuge  zu  sehr  nähert.  Etwas  mehr  oder 
weniger  Zerrung  oder  Druck,  ein  Seitenast  des  Hauptgefässes,  welcher 
zufällig  von  dem  Löffel  gefasst  wird,  oder  andererseits  die  glückliche 
Vermeidung  dieser  und  anderer  Schädlichkeiten,  das  sind  Bedingungen, 
die  des  entscheidendsten  Einflusses  auf  die  Integrität  des  benachbarten 
Gyrus  geniessen  müssen. 

Einen  Beweis  für  diese  Anschauung  enthält  Versuch  14.  Hier  war 
mit  einem  scharfen,  spitzen  Messerchen  fast  der  ganze  Gyrus  d.,  also 
das  Gebiet  der  vorigen  Versuche  und  noch  viel  mehr,  umschnitten  und 
entfernt  worden,  und  dennoch  gab  es  gleich  nach  der  Operation  zwar 
einen  erheblichen  Defect  der  ^^'^illensenergie,  aber  durchaus  keine  Störung 
des  Muskelbewusstseins.  Fr-eilich  war  eine  solche  am  nächsten  Tage 
deutlich  genug  zu  erkennen;  indessen  haben  wir  diese  secundären 
Symptome  und  ihren  Werth  ja  durch  das  oben  Angeführte  hinlänglich 
gewürdigt,  und  ich  war  über  das  Auftreten  der  Störung  durchaus  nicht, 
sondern  nur  über  ihre  Geringfügigkeit  erstaunt.  Durch  die  absichtslose, 
dem  Prolapsus  zugefügte  Verletzung  tritt  dieser  Hund,  ebenso  wie  der 
des  11.  Versuches,  mit  in  eine  dritte,  später  zu  behandelnde  und  directe 
Zerstörungen  des  Gyrus  e  umfassende  Gruppe. 

Der  Hund  11  war  ausserordentlich  lebhaften  Temperaments  und 
erfreute  sich  namentlich  eines  sehr  regen  Geschlechtstriebes,  so  dass  es 
zu  unaufhörlichen  Balgereien  mit  seinen  Genossen  und  daraus  resultirenden 
wiederholten  Quetschungen  des  Prolapsus  kam.  In  Folge  dessen  trat 
der  eigen thümlicbe  Fall  ein,  dass  ein  ursprünglich  kein  Symptom  er- 
zeugender Eingriff  allmählich  die  grössten  Dimensionen  sowohl  mit 
Rücksicht  auf  die  Intensität  und  Dauer  der  Erscheinungen,  als  des 
autoptischen  Befundes  annahm.  Dieses  Thier  war,  als  ich  es  6  Wochen 
nach  der  Operation  tödtete,  noch  nicht  genesen  und  sein  dem  14.  Ver- 
suche sehr  ähnliches  Verhalten  im  Leben,  wie  auch  der  gleiche  Sections- 
befund  machen  es  ziemlich  wahrscheinlich,  dass  sich  auch  bei  längerer 
Lebensdauer  nicht  mehr  viel  geändert  haben  würde.  — 

Bevor  ich  weitergehe  möchte  ich  auf  einen  schon  mehrfach  be- 
rührten Punkt  wegen  seiner  besonderen  Wichtigkeit  noch  einmal  zurück- 
kommen. Es  ist  nur  zu  sehr  bekannt,  dass  die  Autopsien  von  Menschen, 
welche  bei  Lebzeiten  an  cerebralen  Symptomen  litten,  geradezu  ver- 
wirrende Resultate  ergeben.  Das  Gehirn  findet  sich  häufig  an  denjenigen 
Stellen  mindestens  scheinbar  intact,  welche  man  nach  den  voran- 
gegangenen Symptomen  erkrankt  zu  finden  erwartete.  Ebenso  oft  be- 
gegnet man  immensen  Läsionen,  wo  man  sie  wahrlich  nicht  gesucht 
hätte.     Ich  muss  mich  bestimmt  das:es;en  verwahren,  dass  etwas  Aehn- 


—     109     — 

liches  aus  den  Resultaten  der  bisher  angeführten  Yivisectionen  heraus- 
gedeutet wird.  Wenn  man  bei  Versuchen  an  diesen  Hirntheilen  die 
gleichen  Bedingungen  herstellt,  so  erzielt  man  mit  mathematischer 
Sicherheit  die  gleichen  Erfolge,  und  die  Verschiedenheiten  in  meinen 
Krankengeschichten  sind  dui'ch  Verschiedenheiten  des  Eingriffes  leicht 
und  ungezwungen  zu  verstehen.  Hauptsächlich  damit  diese  Thatsache 
ganz  durchsichtig  hervorträte,  und  damit  sie  nicht  durch  oberflächliche 
Wiederholungen  so  leicht  verdunkelt  würde,  habe  ich  die  Versuchs- 
protokolle mit  abgedruckt  und  sie  durch  die  Zeichnungen  noch  näher 
erläutert.  Aber  freilich  die  Versuchsbedingungen  müssen  identisch  sein. 
Gelegentlich  der  Reizversuche  habe  ich  die  Erfahrung  machen  müssen, 
dass  eine  Anzahl  von  Nacharbeitern  es  für  ausreichend  erachtete,  über- 
haupt am  grossen  Gehirne  zu  elektrisiren,  auf  das  Wie  kam  es  ihnen 
nicht  eben  an.  So  entstehen  unvergleichbare  Grössen,  gegen  deren 
bedingungslose  Verrechnung  ich  sowohl  für  die  Vergangenheit,  als  für 
die  Zukunft  höchst  entschieden  protestire.  Bei  Wiederholung  der  heute 
der  Discussiou  anheim  gegebenen  Versuche  wird  man  zu  berücksichtigen 
und  anzuführen  haben  nicht  nur  was  man  zerstört  und  was  man  sieht, 
sondern  auch  wie  man  zerstört  und  wann  mau  sieht.  Von  der  grössten 
Wichtigkeit  für  den  Krankheitsverlauf  und  seine  Deutung  ist  die  gleich- 
zeitige Aufdeckung  benachbarter,  wenn  auch  nicht  direct  verletzter 
Regionen,  die  Annäherung  an  den  Sulcus  cruciatus,  die  absolute  Grösse 
des  Defectes  im  Hiru  und  im  Schädel,  endlich  der  Zeitpunkt,  während 
dessen  Krankheitszeichen  in  die  Erscheinung  treten. 

Hiermit  sind  die  bei  den  Autopsien  des  Menschen  gemachten  Er- 
fahrungen zwar  nicht  erklärt,  aber  bis  dahin  erstreckt  sich  meine  Auf- 
gabe nicht.  Der  physiologische  Versuch  schafft  absichtlich  die  ein- 
fachsten Bedingungen,  uie  pathologische  Beobachtung  muss  die  compli- 
cirtesten  Verhältnisse  in  den  Kauf  nehmen.  So  ist  die  herrschende 
Dissonanz  leicht  verständlich,  die  Zeit  wird  auch  sie  wohl  zur  Harmonie 
auflösen.  — 

Im  Laufe  der  vorstehenden  Besprechung  der  bisher  mitgetheilten 
14  Versuche  habe  ich  mich  auf  die  einfache  Erwähnung  des  merk- 
würdigen, von  mir  als  Störung  des  Muskelbewusstseins  bezeichneten 
Krankheitszustaudes  und  auf  seine  Localisirung  beschränkt.  Inzwischen 
wird  aber  denjenigen  Lesern,  welche  meine  Untersuchungen  mit  Auf- 
merksamkeit auch  in  den  vorstehenden  Protokollen  verfolgten,  nicht 
entgangen  sein,  dass  das  schon  jetzt  sich  abzeichnende  Krankheitsbild 
von  der  früher  in  Umrissen  gegebenen  Schilderung  nicht  mehr  ge- 
deckt wird. 

In  der  That  setzt  sich  die  aus  schwereren  Verletzungen  des  Gyrus  e 


—     110     - 

resultireiide  Alteration  der  Bewegung  aus  einer  beträchtlichen  Zahl  von 
Factoren  zusammen,  von  denen  wir  denjenigen,  welcher  die  eigenthüm- 
liche  Färbung  des  Bildes  bedingt,  und  welcher  in  den  Extremitäten 
einzig  und  allein  bei  Verletzungen  des  Gyrus  e  erscheint,  auch  fernerhin 
als  Störung  des  Muskelbewusstseins  bezeichnen  wollen.  Dieser  erste 
Factor  ist  damit  abzugrenzen,  dass  der  Hund  seine  Pfote  passiv  in 
xinbequeme  Stellungen  bringen  lässt,  ohne  sie  zu  reponiren,  dass  er 
zweitens  bei  activen  Bewegungen  die  afficirten  Pfoten  ungeschickt  ge- 
braucht. Insbesondere  rutscht  er  mit  ihnen,  zumal  auf  glatterem  Boden 
und  wenn  er  sich  schüttelt  oder  an  der  Leine  nach  dem  Futter  drängt, 
•davon,  er  setzt  sie  gelegentlich  iiiit  dem  Dorsum  statt  mit  der  Sohle 
auf,  er  rotirt  sie  in  den  Schultergelenken  gewöhnlich  mehr  nach  Innen, 
.selten  mehr  nach  Aussen,'  als  dies  auf  der  anderen  Seite  und  von  ge- 
.sunden  Kameraden  überhaupt  geschieht. 

Ein  anderes  Symptom,  welches  ich  in  meinen  Protokollen  Defect 
der  Willensenergie  nannte,  treffen  wir  neben  diesem  Krankheits- 
Tiustande^^).  Seinen  Namen  wolle  der  Leser  als  einen  rein  conventioneilen 
Ausdruck,  nicht  aber  im  Sinne  einer  Definition  auffassen.  Versucht  man 
einem,  durch  Zureden  oder  Streicheln  oder  ähnliche  Mittel  ruhig  ge- 
haltenen Hunde  eine  Extremität  aus  der  einmal  eingenommenen  Stellung 
au  dislociren,  so  wehrt  er  sich.  Bald  fühlt  man  einen  continuirlichen 
Widerstand  in  der  gefassten  Pfote,  bald  ruckweise  Contractionen,  welche 
auch  Wühl  in  allgemeines  Sträuben  übergehen.  Hat  das  Thier  aber 
■einen  „Defect  der  Willensenergie"  erlitten,  so  lässt  es  die  Dislocation 
einer  oder  beider  Pfoten  einer  Körperhälfte  widerstandslos  über  sich 
■ergehen,  sobald  es  jedoch  die  Extremität  wieder  frei  fühlt,  nimmt  es 
mit  maschinenähnlicher  Sicherheit  die  vorher  innegehabte  Stellung 
wieder  ein.  Die  Extremitäten  werden  also  niemals  in  abnormen,  ihnen 
passiv  mitgetheilten  Stellungen  belassen,  noch  werden  sie  activ  in  solche 
Stellungen  gebracht.  Darin  besteht  der  Unterschied  von  der  früher  be- 
.schriebenen  Krankheit. 

Während  nun  die  Störung  des  Muskelbewusstseins  nur  durch  un- 
mittelbare oder  mittelbare  Läsiouen  des  Gyrus  e  zu  erzeugen  ist,  sahen 
wir  den  Defect  der  Willenseuergie  auch  anlässlich  des  6  und  14,  im 
Gyrus  ä  ausgeführten  Versuches  auftreten.  Ich  darf  und  muss  dem 
Gange  meiner  Darstellung  hier  insofern  vorgreifen,  als  ich  hinzufüge, 
■dass  grössere  Verletzungen  des  Hiuterhirns  den  gleichen  Effect  haben. 
Andererseits  ist  dieser  gänzliche  Mangel  an  Widerstand  am  deutlichsten 
wiederum  schon  bei  ganz  kleinen  Verletzungen  des  Gyrus  c  neben 
den  anderen  Erscheinungen  zu  beobachten.  Schlüsse  möchte  ich  vor 
■xler  Hand    aus   diesen  Thatsachen  nicht  ziehen,    aber  es  sei  mir.    unter 


—    111    — 

gleichzeitiger  Verweisung  auf  die  Einleitung  zu  meinem  Buche  erlaubt, 
dem  Leser  einen  Satz  in's  Gedächtniss  zurückzurufen,  welchen  ich  schon 
bei  der  ersten  Entdeckung  jener  Centren  glaubte  aussprechen  zu  sollen. 
„Es  ist  nicht  undenkbar,  und  kann  namentlich  durch  das,  was  wir  in 
anatomischer  Beziehung  über  den  anastomosirenden  Bau  dieser  Theile 
wissen,  nicht  ausgeschlossen  werden,  dass  der  Hirntheil,  welcher  die 
Geburtsstätte  des  Wollens  der  Bewegung  einschliesst,  noch  ein  anderer 
oder  vielleicht  ein  vielfacher  ist;  dass  die  von  uns  Centra  genannten 
Gebiete  nur  Vermittler  abgeben,  Sammelplätze,  auf  denen  ähnliche 
aber  zweckmässigere  Anordnungen  der  Muskelbewegungen  geschehen, 
als  in  der  grauen  Substanz  des  Rückenmarks  und  des  Hirnstammes."  — 

Ein  dritter,  gelegentlich  der  Versuche  11  und  13  notirter  Zug 
unseres  Krankheitsbildes  besteht  darin,  dass  die  Beine  der  operirten 
Tliiere  eine  ganz  veränderte  Stellung  zu  einander  und  zu  dem  Rumpfe 
einnehmen,  sobald  das  Versuchsobject  in  die  Höhe  gehoben  wird.  Man 
sieht  dies  sowohl  dann,  wenn  zwei  Stellen  der  Rückenhaut  erfasst  und 
alle  Viere  vom  Boden  entfernt  werden,  als  auch  dann,  wenn  nur  durch 
Anziehen  des  Kopfes  der  Vorderkörper  etwas  erhoben  wird.  Ist  nun 
die  daneben  vorhandene  Störung  des  Muskelbewusstseins  erheblich,  so 
verharren  die  deviirten  Beine  beim  Herablassen  zuvörderst  in  ihren 
abnormen  Stellungen,  sie  werden  dann  beim  Berühren  des  Bodens  unter 
vergeblichen  Bemühungen,  den  Schwerpunkt  richtig  zu  unterstützen, 
wild  durcheinander  geworfen,  das  Thier  fällt  auf  die  gelähmte  Seite 
und  oft  gelingt  es  ihm,  weder  allein  noch  wenn  ihm  die  Beine  zurecht 
gesetzt  werden,  wieder  festen  Fuss  zu  fassen.  Auf  den  Grund  dieses 
Verhaltens  bin  ich  erst  relativ  spät  aufmerksam  geworden,  habe  mich 
aber  bereits  überzeugt,  dass  dabei  eine  Menge  von  Details,  die  wie  es 
scheint  in  einem  gewissen  Turnus  auftreten,  zu  studiren  sind.  Ob  und 
in  welchem  Zusammenhange  das  Symptom  mit  der  Deviation  steht, 
welche  von  Nothnagel  an  dem  sich  auf  seinen  Beinen  befindenden 
Kaninchen  beobachtet  wurde,  vermag  ich  bis  jetzt  nicht  zu  entscheiden. 

Von  allen  den  angeführten  Beobachtungen  ist  aber  diejenige  bei 
weitem  die  merkwürdigste,  welche  im  Versuchsprotokoll  11  zuerst  er- 
wähnt ist,  der  wir  aber  später  noch  oft  begegnen  werden.  Auch  hier 
handelt  es  sich  um  das  Uebergreifen  einer  Läsion  des  Gyrus  d  in  die 
Nachbarwindung.  Der  fragliche  Hund  litt  an  einer  hochgradigen  Störung 
des  Muskelbewusstseins,  hatte  aber  sein  Sehvermögen  durchaus  nicht 
eingebüsst.  Nichtsdestoweniger  benahm  er  sich  mit  seiner  rechten 
Vorderpfote  so,  als  ob  für  dieses  Glied  das  Sehvermögen  nicht  existire, 
oder  als  ob  die  Gesichtseindrücke  nicht  zur  Bildung  von  Vorstellungen 
für    dasselbe    verwerthet    würden.     Er    setzte  die  Pfote  blindlings  über 


—     112     — 

den  Tischraud  in's  Leere,  und  würde  unendlich  oft  kopfüber  vom  Tische 
gestürzt  sein,  wenn  ich  ihn  nicht  davor  behütet  hätte. 

Hier  habe  ich  nun  wenig  mehr  als  eine  Aufzählung  von  allerdings 
höchst  interessanten  Symptomen  gegeben.  Wir  werden  auf  alle  diese 
Dinge  später  noch  genauer  einzugehen  haben;  bisher  hatten  wir  sie 
eigentlich  nur  accidentell,  als  Folge  von  Nebenverletzungen  zu  be- 
rücksichtigen, so  dass  die  angewendete  Beschränkung  schon  aus  diesem 
Grunde  erforderlich  schien. 

Diese  Untersuchungen  wurden  in  einem,  mir  für  diesen  Zweck  von 
Hrn.  Geh.  Rath  Reichert  in  liberalster  Weise  überlassenen  Arbeits- 
raume  der  königl.  Anatomie  ausgeführt. 

Berlin,  im  October  1874. 


Nachträgliche  Bemerkung. 

Bereits  auf  S.  2  f.  der  Vorrede  zu  diesem  Buche  musste  ich  mein 
Bedauern  darüber  aussprechen,  dass  die  HH.  Carville  und  Duret  in 
Paris  es  nicht  für  zweckmässig  gehalten  hatten,  meine  Arbeiten  zu- 
nächst zu  lesen,  als  sie  eine  experimentelle  Kritik  derselben  unter- 
nahmen. Diesem  Bedauern  muss  ich  heute  erneuten  Ausdruck  geben. 
Die  genannten  Autoren  veröffentlichen  nämlich  in  der  Gaz.  med.  de 
Paris  Nr.  43  vom  24.  Octbr.  in  einem  sehr  ausführlichen  Sitzuugs- 
protocolle  der  Soc.  de  biol.  vom  10.  Octbr.  d.  J.  eine  Arbeit,  welche 
als  wesentlichen  Bestandtheil  eine  Beschreibung  derjenigen  Beobachtungen 
enthält,  die  sie  an  einem  im  Gyrus  e  verletzten  Hunde  machen  konnten. 

Nun  sind  diese  Beobachtungen  sehr  genau,  fast  bis  auf  die  Worte 
identisch  mit  den  von  mir  in  Gemeinschaft  mit  Hrn.  Fritsch  bereits 
im  Jahre  1870  publicirten,  in  meinem  Buche  reproducirten  und  ver- 
mehrten Thatsachen.  Es  handelt  sich  auch  wiederum  um  dieselbe  Ab- 
handlung, über  welche  die  HH.  Carville  und  Duret  eine  Kritik  ge- 
schrieben zu  haben  glauben.  Nichtsdestoweniger  wird  die  ganze  Sache 
als  neu  vorgetragen,  ohne  dass  die  ursprünglichen  Entdecker  mit  einer 
Silbe  erwähnt  würden.  Derselbe  Tribut  des  Schweigens  wird  uns  nun- 
mehr auch  rücksichtlich  der  Reizversuche  gezollt;  hier  kommt  nur 
Hr.  Ferrier  in  Frage,  obwohl  derselbe  rücksichtlich  sämmtiicher,  von 
den  HH.  Carville  und  Duret  diesmal  angeführter  Thatsachen  nur  die 
Rolle  des  Wiederholers  gespielt  hat.  Unter  diesen  Umständen  muss 
ich  annehmen,  dass  den  beiden  Herren,  seitdem  sie  ihre  sogenannte 
Kritik  schrieben,  unser  Antheil  an  diesen  Untersuchungen  überhaupt 
aus  dem  Gedächtniss  entschwunden  ist,  und  es  mag  gerechtfertigt  er- 
scheinen, wenn  ich  sie  an  denselben  erinnere. 

Berlin,  9.  Novbr.  1874.  Dr.  Eduard  Hitzig. 


—     113     — 

Anmerkungen. 

12)  Zu  jener  Zeit  war  die  aseptisclie  Wundbehandlung  niclil  bci<annt  und 
die  antiseptische  Wundbehandlung  mir  wenigstens  nicht  geläufig.  Auch  die 
anderen,  damals  arbeitenden  Experimentatoren  haben  nicht  aseptisch  oder  anti- 
septisch operirt.  Es  mag  sein,  dass  eine  Anzahl  der  von  mir  bei  jenen  Ver- 
suchen beobachteten  Meningitiden  auf  die  Wundbehandlung  zurückzuführen 
ist;  bei  allen  trifft  dies  jedenfalls  nicht  zu,  denn  man  beobachtet,  wie  mich 
die  Erfahrung  gelehrt  hat,  auch  bei  aseptischer  Operation  und  primärer  Heilung 
nicht  ganz  selten  solche  Krankheitsvorgänge. 

Immerhin  würde  ich  Beobachtungen,  die  unter  Eiterung  heilten  oder 
solche,  die  bei  der  Autopsie  meningitische  Erscheinungen  erkennen  Hessen, 
nicht  reproduziren,  wenn  es  sich  bei  diesen  Beobachtungen  nicht  der  Haupt- 
sache nach  darum  handelte,  den  Nachweis  zu  führen,  dass  eine  bestimmte 
Reihe  von  Symptomen  bei  Angriffen  auf  bestimmte  Hirnprovinzen 
fehlt.  Dieses  negatives  Resultat  kann  durch  das  Vorkommen  von  Eiterung  oder 
von  Meningitis  in  seinem  Werthe  nicht  beeinträchtigt  werden.  — 

Die  von  mir  in  diesem  Aufsatze  erwähnten  Symptome  von  allgemeiner 
Hyperästhesie,  von  Ekzemen  und  von  Ophthalmie  hat  Goltz  später  gleichfalls 
beschrieben.  Letztere  bezieht  er  auf  Empfindungslosigkeit  des  Auges  (also 
wohl  neuroparalytische  Ophthalmie).  Es  mag  sich  bei  den  Goltz'schen 
Hunden  wohl  darum  gehandelt  haben.  Indessen  beobachtet  man  bei  Hunden 
gar  nicht  selten  Cornealalfectionen,  die  sicherlich  nichts  mit  der  Empfindungs- 
losigkeit der  Cornea  zu  thun  haben;  ob  sie  etwas  mit  der  Hirnverletzung  zu 
thun  haben,  weiss  ich  nicht. 

13)  Munk  hat  später  andere  und  zwar  zu  verschiedenen  Zeiten  ver- 
schiedene Ansichten  über  die  Function  des  vorderen  Schenkels  des  Gyrus  sig- 
moides  ausgesprochen.  Auf  Seite  5  u.  6  der  ersten  Abhandlung  des  II.  Theiles 
dieses  Buches  habe  ich  angeführt,  welche  Wandlungen  sich  in  dieser  Beziehung 
in  den  Ansichten  Munk's  vollzogen  haben,  ohne  dass  er  je  darüber  eine  Er- 
klärung abgegeben,  oder  auch  nur  mitgetheilt  hätte,  welche  Versuche  ihn  zu 
seiner  ursprünglichen  oder  zu  seinen  späteren  Ansichten  geführt  haben.  Meiner 
Auffassung  nach  war  er  dazu  um  so  mehr  verpflichtet,  als  er  mit  seinen  Be- 
hauptungen von  der  motorischen  Natur  dieses  Rindenabschnittes  meinen  vor- 
stehenden um  vieles  älteren  und  durch  Versuche  gestütz^ten  Angaben  über  ihre 
nichtmotorische  Natur  direct  entgegen  trat,  ohne  dies  jedoch  auch  nur 
zu  erwähnen.  Dieses  Verfahren  hat  wesentlich  dazu  beigetragen,  die  Streitig- 
keiten über  die  Functionen  der  Hirnrinde  zu  verlängern.  Ich  habe  in  der  vor- 
stehenden Abhandlung  gezeigt,  wie  leicht  man  zu  irrthümlichen  Anschauungen 
nach  der  angedeuteten  Richtung  gelangen  kann  und  habe  deshalb  um  so 
weniger  Veranlassung,  meine  Ueberzeugung  aufzugeben. 

14)  Meine  jetzige  Auffassung  über  die  Bedeutung  dieses  Symptoms  habe 
ich  in  dem  ersten  Kapitel  der  ersten  Abhandlung  des  IL  Theiles  dieses  Buches 
„üeber  die  nach  Verletzungen  des  Hinterhirns  auftretenden  Störungen  der  Be- 
wegung und  Empfindung"  dargelegt. 


Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     I.  Tlieil. 


Tl.   Kritische  und  experimentelle  Untersuchungen  zur  Phy- 
siologie des  Grosshirns  im  Anschluss  an  die  Untersuchungen 
des  Herrn  Professor  D.  Ferrier  in  London  i^). 

Vo  r  b  e  m  e  r  k  un  g  e  n. 

Anfang  Oktober  1873  ging  mir  eine  Abhandlung  von  D.  Ferrier*) 
in  London  zu,  welche  grösstentheils  auf  eine  Wiederholung  der  von 
Fritsch  und  mir  veröffentlichten  Versuche**)  basirt  ist.  Ferrier 
äussert  sich  über  unsere  Arbeit  in  folgenden  Worten:  „ —  —  sie  ver- 
suchten, die  Centren  für  solche  Muskelbewegungen  auf  gewisse  be- 
stimmte Punkte  zu  localisiren.  Ihre  Versuche  wurden  nach  dieser  Rich- 
tung nicht  gerade  weit  ausgedehnt,  noch  setzen  sie,  wie  ich  denke,  die 
Natur  und  die  Bedeutung  des  Resultates,  zu  dem  sie  gelangten,  klar 
auseinander.  —  —  —  Inductionsströme  wandten  sie  in  irgend  einer 
Ausdehnung  nicht  an,  und  ihre  durch  diese  Methode  erzielten  Resultate 
ergaben  ihnen  mit  Rücksicht  auf  die  Localisation  der  Functionen  nichts 
gerade  Bestimmtes  oder  Genügendes.  —  —  Bei  meinen  eigenen  Ver- 
suchen habe  ich  die  Faradisation  ausschliesslich  angewendet  und  es 
mit  dieser  Methode  möglich  gefunden,  sowohl  localisirte  Reizung  ver- 
schiedener Hirntheile  mit  der  äussersten  Exactheit  hervorzubringen,  als 
auch    allgemeine  Reizung    der    ganzen  Hemisphäre    herbeizuführen***). 


*)  Experimental  Researches  in  cerebral  physiology  and  pathology  by 
David  Ferrier  etc.  etc.  etc.  The  West  Riding  lunatic  asylum  Medical  Reports 
Vol.  III.   1873. 

**)  Die  Abhandlung  II  dieses  Buches. 
***)  Their  researches  in  this  direction  were  not  carried  very  far,  nor  do 
they,  I  think,  clearly  dehne  the  natm'e  and  signification  of  the  results  at  Avhich 
they  arrived.  They  adduce  ample  evidence  for  regarding  the  movemeuts  that 
took  place  as  dependent  on  irritation  of  the  hemispheres  themselves,  and  they 
also  observed  that  irritation  proceeded  principally,  if  not  exclusively,  from  the 
anode.   Induction  currents  they  did  not  employ  to  any  extent,  and  their  results 


—     115     — 

Ein  Leser,  dem  unsere  Arbeit  nicht  im  Original  bekannt  ist,  muss 
nach  diesem  Referate  Ferrier's  den  Eindruck  mit  hinwegnehmen,  dass 
wir  nur  generell  die  Erregbarkeit  des  Grosshirus  durch  Bestimmung  des 
eiueii  oder  des  anderen  Centrums  nachgewiesen  hätten  und  zu  genauerer 
Localisation,  sowie  zu  anderweiten  Resultaten  nicht  gekommen  wären, 
weil  wir  theils  den  Inductionsstrom  nicht  durchgehends  anwendeten, 
theils  die  Wichtigkeit  unserer  Entdeckung  nicht  erkannten*).  Es  wäre 
erst  Ferrier  vorbehalten  gewesen,  durch  die  Anwendung  inducirter 
Ströme  und  grösserer  Lucidität  diese  Thatsachen  für  die  Physiologie 
und  Pathologie  nutzbar  zu  machen.  In  wie  weit  der  englische 
Autor  durch  Beibringung  neuer  und  zweifelsfreier  That- 
sachen seinerseits  die  Sache  gefördert  hat,  in  wie  weit  also 
auch  die  Ansprüche  gerechtfertigt  sind,  mit  denen  er  seine  Arbeit 
unseren  Bemühungen  entgegensetzt,  das  werden  wir  auf  den  folgenden 
Blättern  untersuchen. 

Zuvor  aber  muss  ich  darauf  aufmerksam  machen,  dass  es  für  Ferrier 

by  this  method  did  not  give  them  anything  very  deflnite  er  satisfactory  as  re- 
gards  localisation  of  function.  In  my  own  experiments  I  have  employed  fara- 
disation  exciusively,  and  have  found  it  possible  by  this  method  to  produce 
localised  irritation  of  various  parts  of  the  brain  with  the  utmost  exactitude, 
as  well  as  to  induce  diifused  irritation  of  the  whole  of  the  hemispheres.  A.  a. 
0.  S.  32. 

*)  Inzwischen  hat  sich  Prof.  Ferrier  in  einem  in  der  British  Medical 
xissociation  gehaltenen  Vortrage  in  dieser  Beziehung  noch  deutlicher  ausge- 
drückt. Er  sagt  dort  ausdrücklich:  Wir  hätten  wohl  die  Bedeutung  der  von 
uns  gefundenen  Thatsachen  nicht  recht  gewürdigt,  hätten  auch  unsere  Unter- 
suchungen nicht  fortgesetzt.  Es  hat  uns  zwar  sehr  leid  gethan,  dass  Professor 
Ferrier  unsere  Zurückhaltung  bei  der  praktischen  Ausbeutung  der  von  uns 
gefundenen  Thatsachen  für  die  Pathologie  so  falsch  auffasste.  Doch  wurden  wir 
beim  Durchlesen  jenes  Vortrages  wieder  beruhigt.  Wir  sahen  dort,  dass  der 
•Gedankengang,  mit  dem  wir  unsere  Entdeckungen  einleiteten  gerade  um  ihre 
Bedeutung  in  das  rechte  Licht  zu  setzen,  den  Beifall  des  Hrn.  Prof.  Ferrier 
in  dem  Grade  gefunden  hat,  dass  er  für  seine  eigene  Einleitung  einen  Besseren 
nicht  glaubte  verwenden  zu  sollen. 

S.  The  Times  Sept.  22:  About  three  years  ago  two  German  physiologists, 
Fritsch  and  Hitzig,  by  passing  galvanic  currents  through  parts  of  the  brains 
of  dogs  obtained  various  movements  of  the  limbs,  such  as  adduction,  flexion 
and  extension.  They  thus  discovered  an  important  method  of  research,  but 
they  did  not  pursue  their  experiments  to  the  extent  that  they  might  have 
done  and  perhaps  did  not  exactly  appreciate  the  significance  of  the  facts  at 
which  they  had  arrived.  —  Ich  würde  übrigens  ein  politisches  Blatt  nicht  ci- 
tiren,  wenn  der  Vortrag  nicht  offenbar  stenographisch  nachgeschrieben,  und 
die  betreffende  Stelle  wörtlich  citirt  wäre. 

8* 


—     116     — 

um  so  mehr  ein  Leichtes  gewesen  wäre,  sich  von  Fortsetzungen  jener 
Arbeit  mindestens  durch  Einsehen  des  nächsten  Bandes  des  Archivs  für 
Anatomie  und  Physiologie  Kenntniss  zu  verschaffen,  als  in  der  von  ihm 
citirten  Arbeit*)  eine  Fortsetzung  bereits  angekündigt  war.  Dennoch 
will  ich  zu  seiner  Entschuldigung  annehmen,  dass  er  diese  Kenntniss 
nicht  gehabt  hat.  Anders  steht  es  mit  einer  Anzahl  von  Ergebnissen, 
welche  bereits  in  jener  ersten  Arbeit  ausführlich  mitgetheilt  waren. 
Ferrier  hat  sich  dieselben  ohne  Weiteres  augeeignet,  indem  er  unsere 
Untersuchungen  mit  keinem  Worte  erwähnt,  obwohl  er  dieselben  kannte. 
Wir  hatten  nachgewiesen,  dass  durch  Tetanisiren  des  Hirns  Nachbe- 
wegungen und  epileptiforme  Anfälle  entstehen  können**).  Ferrier 
behandelt  diesen  Gegenstand  höchst  ausführlich,  jedoch  so,  als  rühre 
diese  Entdeckung  von  ihm '  her.  Aehnlich  verhält  es  sich  mit  dem 
Nachweise,  dass  der  Blutverlust  die  Erregbarkeit  des  Hirns  aufhebt***)  ^0), 
endlich  mit  Allem,  was  nicht  in  dem  englischen  Citat  auf  S.  114,  115 
erwähnt  ist.  Ueberhaupt  werden  unsere  Untersuchungen  von  Ferrier 
nur  noch  zweimal  angeführt:  erstens  bemerkt  er  gelegentlich f):  wir 
hätten  durch  unsere  Exstirpationsversuche  Lähmungen  erzeugt,  was  wir 
keineswegs  behauptet  hatten;  zweitens  beruft  er  sich  auf  unsere  An- 
gaben über  das  Centrum  für  die  Nackenrauskeln,  insofern  er  selbst  ein 
Solches  nur  bei  einem  Versuche  auffinden  konnte.  Dennoch  kommt 
Ferrier  vielfach  zu  anderen  Resultaten  rücksichtlich  der  Localisation 
der  Centren  und  der  Begrenzung  der  erregbaren  Zone.  Er  führt  aber 
in  keinem  einzigen  Falle  an,  dass  er  mit  ims  übereinstimmt  oder  nicht 
übereinstimmt;  noch  controlirt  er  dort,  wo  er  andere  Angaben  macht 
als  wir,    seine  eigenen  Befunde. 

Indem  ich  in  meines  Herrn  Mitarbeiters  und  in  meinem  eigenen 
Namen  auf  das  Entschiedenste,  gegen  ein  solches  Verfahren  protestire, 
bedauern  wir  von  Hrn.  Prof.  Ferrier  hiermit  unser  Eigenthum  zurück- 
fordern zu  müssen. 


A.   Die  Methode  Ferrier's. 

Ferrier  hat  Versuche,  die  sich  rücksichtlich  der  Methode  den 
unseren  parallel  setzen  Hessen,  wie  wir  sehen  werden,  überhaupt  gar 
nicht  angestellt.  Reizversuche  am  Grosshirn  des  Hundes  nach  seiner 
Art  nahm  er  aber  im  Ganzen  zweimal  vor.      Der  eine  von  diesen  zwei 


*)  A.  a.  0.  S.  308. 

**)  Siehe  oben  S.  22. 

***)  Siehe  oben  S.  23. 

j-)  Ferrier,  Experimental  Researches  etc.   S.  77. 


—     117     — 

Versuchen  ist  vollständig  durciigerülirt,  der  Andere  unvollständig.  Beide 
wurden  von  vielen  epileptiformen  Anfällen  unterbrochen. 

Bei  dem  zweiten,  unvollständig  durchgeführten  Versuche  wurden 
die  Effecte  der  Reizung  von  acht  Punkten  notirt.  Sechs  von  diesen 
Reizversuchen  gaben  andere  Resultate  als  die  Parallelversuche  der  ersten 
Vivisection.  Der  siebente  gab  beide  Male  kein  Resultat,  der  achte 
erzielte  aber  beide  Mal  Schluss  des  Auges*).  Da  durch  die  eine  Vivi- 
section die  linke  und  durch  die  andere  Vivisection  die  rechte  Hirnhälfte 
freigelegt  war,  so  hält  sich  Ferrier  auf  Grund  der  angeführten  Reiz- 
effecte  für  berechtigt,  vollkommene  Symmetrie  und  Bestätigung  des 
einen  Versuches  durch  den  anderen  anzunehmen**).  Ich  würde  auf 
Grund  dieses  Beweismateriales  die  entgegengesetzen  Schlüsse  gezogen 
haben. 

Dies  eine  Beispiel  würde  genügen  um  zu  zeigen,  wie  breit  die  ex- 
perimentelle Basis  ist,  welche  Ferrier  für  die  Begründung  seiner 
eigenen  und  die  Erschütterung  fremder  Angaben  genügt.  Indessen  ist 
sein  Versuchsmaterial  in  diesem  Theile  der  Abhandlung  überall  nicht 
grösser.  Nur  für  das  Studium  des  Grosshirns  der  Katze  hat  er  drei 
Thiere  geopfert,  von  denen  zwei  ebenfalls  nicht  vollständig  untersucht 
wurden.  Für  seine  Angaben  über  das  Grosshirn  des  Kaninchens  ge- 
nügen ihm  wiederum  zwei  Vivisectionen,  und  eine  neue  Behauptung  von 
äusserster  Tragweite  gründet  sich  auf  die  Untersuchung  eines  einzigen 
Meerschweinchens. 

Wäre  Ferrier  der  Entdecker  der  von  uns  gefundenen  Thatsachen, 
so  würde  eine  vorläufige  Mittheilung  auf  Grund  eines  so  dürftigen 
Materials  immerhin  ihr  Bedenkliches  gehabt  haben,  aber  verzeihlich  ge- 
wesen sein.  Was  soll  man  aber  dazu  sagen,  nachdem  unsere  ausführliche 
Arbeit  schon  seit  mehr  als  drei  Jahren  publicirt  war? 

Ferrier  (und  nach  ihm  bereits  mehrere  andere  englische  Autoren) 
führen  an,  wir  hätten  den  Inductionsstrom  in  irgend  einer  Ausdehnung 
nicht  angewendet    und  übrigens  mit  demselben  rücksichtlich  der  Loca- 


*)                            A.  B. 

1)  Schluss  des  Auges.  Drehung  des  Kopfes. 

2)  Geschrei.  Drehung  des  Kopfes. 

3)  Beginn   eines  Anfalls  dabei 

Drehung  des  Kopfes.  Drehung  des  Kopfes. 

4)  Vacat.  Erhebung  des  Lides. 

5)  Kein  Reizeffect.  Bewegung  des  Ohrs. 

6)  Kein  Reizeffect.  Bewegung  des  Ohrs. 

**)  Das    übrigens    selbstverständliche  Vorhandensein  symmetrischer  An- 
ordnung dieser  Centren  hatten  wir  schon  nachgewiesen. 


—     118     — 

lisation  der  Functionen  keine  befriedigenden  Resultate  erzielt.  Er  selbst, 
fährt  er  fort,  habe  nur  den  Inductionsstrom  angewendet  und  mit  dem- 
selben die  Function  der  einzelnen  Hirntheile  mit  der  äussersten  Exact- 
heit  localisiren  können.  Zunächst  muss  ich  bemerken,  dass  von  dem, 
was  Ferrier  uns  sagen  lässt,  in  der  fraglichen  Abhandlung  auch  nicht 
ein  einziges  Wort  steht.  (S.  oben  S.  21') 

Wir  haben  allerdings  angeführt,  dass  wir  den  Inductionsstrom  viel 
seltener  als  den  galvanischen  anwandten,  und  wir  durften  voraussetzen, 
dass  die  gewöhnlichen  Leser  des  Archiv's  die  Gründe  dafür  aus  der 
hinterher  folgenden  Schilderung  der  dem  Inductionsstrome  eigenthümlichen 
Reizeffecte  sofort  erkennen  würden.  Aber  wenn  wir  ihn  auch  seltener 
als  den  galvanischen  Strom  anwendeten,  seltener  als  Ferrier  wandten 
wir  ihn  nicht  an,  und  woher  will  dieser  Autor  überhaupt  wissen,  in 
welcher  Ausdehnung  wir  uns  dieses  Reizmittels  bedienten?  Von  der  Un- 
möglichkeit mit  demselben  localisirte  Reizeffecte  hervorzubringen,  haben 
wir  nun  ganz  und  gar  nichts  erwähnt,  sondern  die  Schilderung  beginnt 
mit  dem  das  Gegentheil  besagenden  Satze:  „Häufig  treten  tonische  Be- 
wegungen der  betreffenden  Muskelmassen  ein,  die  erst  nach  längerer 
Zeit  in  ihrer  Intensität  nachlassen."  In  der  That  fanden  wir  den  In- 
ductionsstrom für  die  Controle  und  überhaupt  als  Hülfsmittel  der  Unter- 
suchung ausserordentlich  bequem:  denn  durch  den  Schliessungsschlag 
der  Kette  wird  nur  eine  einzelne  Zuckung  ausgelöst,  deren  Auffassung 
die  angespannteste  Aufmerksamkeit  verlangt,  während  der  Muskeltetanus 
natürlich  sehr  leicht  zu  beobachten  ist.  Nichtsdestoweniger  wird  man 
sich  für  die  eigentlich  beweisenden  Versuche  doch  des  unbeque- 
meren Kettenstromes  bedienen  müssen,  wie  ich  ausführlich  darlegen  will. 

Wenn  Ferrier  aber  wirklich  die  von  uns  nicht  ausgesprochene, 
aber  von  ihm  angeführte  Ansicht  aus  unserer  Abhandlung  herausge- 
lesen hätte,  so  lag  ihm  doch  die  Pflicht  ob,  erst  einmal  diese  Ansicht 
durch  vergleichende  Versuche  zu  prüfen,  ehe  er  sie  ohne  Weiteres  bei 
Seite  schob.  Dann  würden  ihm  vermuthlich  selbst  einige  Bedenken 
gegen  die  Exactheit  seiner  bis  dahin  erzielten  Localisationseffecte  ge- 
kommen sein. 

Wir  hatten  in  der  mehrfach  angeführten  Abhandlung  rücksichtlich 
der  Methode,  vermittelst  deren  wir  unsere  Centren  localisirten,  ange- 
geben, dass  wir  zunächst  die  Stelle  aufsuchten,  welche  bei  der  ge- 
ringsten, überhaupt  noch  erregenden  Stromstärke  die  stärkste  Zuckung 
auslöste,  und  dann  eine  Stecknadel  zwischen  den  beiden  Elektroden  in 
das  Gehirn  des  noch  lebenden  Thieres  einsenkten.  Nachdem  wir  nach- 
gewiesen hatten,  dass  auf  stärkere  Ströme  nicht  nur  die  von  uns  soge- 
nannten Centren,  sondern  auch  die  zwischen  ihnen  liegenden  Theile  des 


—     119     — 

Hinis  mit  einer  motorischen  J;eistun^'  antworteten,  erschien  jede  andere 
Reizmethode  als  die,  welche  sich  in  der  gedachten  Weise  der  Strom- 
stärke des  Zuckungsminimums  bediente,  des  Zweckes  und  Interesses  bar. 
Unsere  und  auch  Ferrier's  ausgesprochene  Absicht  war  ja  zu  locali- 
siren.  Aus  den  angeführten  Thatsachen  geht  aber  ohne  Weiteres  her- 
vor, dass  bei  Anwendung  stärkerer  Ströme  tiefer  gelegene,  sowie  ober- 
flächliche Nachbartheile  mit  in  den  Bereich  der  wirksamen  Reizung  ge- 
zogen werden.  Da  man  nun  weiss,  dass  die  Markstrahlung  von  vorne 
nach  hinten  zieht,  und  da  wir  insbesondere  noch  durcli  Einstechen  iso- 
lirter  Elektroden  die  Erregbarkeit  dieser  Markstrahlung  nachgewiesen 
hatten,  so  musste  sich  jedem  einsichtigen  Experimentator  sofort  der  Ge- 
danke aufdrängen,  dass  die  Reizeffecte  stärkerer  Ströme  einfach  durch 
die  Bethätigung  der  nach  den  Ganglien  ziehenden,  vielleicht  sogar  der 
in  denselben  verlaufenden  Faserung  zu  erklären  seien.  Selbstverständ- 
lich hat  der  Nachweis  derartiger  Leitungsbahnen  mit  der  Localisation 
centraler  Zusammenfassungen  nur  dann  etwas  zu  thun  und  überhaupt 
nur  dann  einen  Sinn,  wenn  es  entweder  gelingt  die  Annäherung  der 
Markstrahlung  an  die  grauen  Massen  nachzuweisen,  oder,  was  noch 
Wünschenswerther  wäre,  den  ganzen  Verlauf  derselben  zu  verfolgen. 
Auf  den  letzteren  Zweck  liefen  meine  Versuche  an  curarisii'ten  Thieren 
hinaus. 

Ueber  diese  Erwägungen  hat  Ferrier  sich  einfach  hinweggesetzt. 
Er  hat  von  der  Anwendung  der  Stromstärke  des  Zuckungsminimums 
Überali  abgesehen  und  einfach  in  der  Mehrzahl  seiner  Versuche  die 
secundäre  Spirale  der  primären  bei  Anwendung  eines  Zinkkohlenele- 
mentes bis  auf  8  cm  genähert.  Hierbei  war  der  Strom  so  stark,  dass 
er  auf  der  Zunge  „without  great  discomfort"  zu  ertragen  war.  Wir 
hatten  nachgewiesen,  dass  schon  ein  Strom,  der  auf  der  Zunge  eben 
empfunden  wird,  zu  Reizeffecten  führen  kann.  Aber  nicht  zufrieden 
mit  den  so  erzielten  Bewegungen  nähert  Ferrier  die  Spiralen  bis  auf 
6,  ja  sogar  bis  auf  4-  cm,  indem  er  das  Ausbleiben  der  Zuckung  bei 
der  ursprünglich  benutzten  enormen  Stromstärke  in  keinem  Falle  aus 
Mangel  motorischer  Elemente  in  den  benachbarten  Hirnpartieen,  sondern 
sobald  ihm  ein  stärkerer  Strom  auch  nur  in  einem  einzigen  Falle 
Muskelleistungen  ergiebt,  auf  Erschöpfung,  auf  Blutverlust  oder  andere 
Versuchsfehler  schiebt.  Er  versäumt,  die  Richtigkeit  dieser  Annahmen 
durch  neue  Versuche  oder,  was  ja  so  einfach  war,  durch  Controle  an 
als  irritabel  bekannten  Feldern  zu  bestätigen.  Natürlicherweise  ist  es 
sehr  leicht  auf  diese  Art  allerlei  Reizeffecte  zu  erzielen,  indessen  wird 
doch  Niemand  denselben  irgend  eine  Wichtigkeit  beimessen  wollen, 
ehe  sie  nicht  in  etwas  vorsichtis;erer  W^eise  verificirt  worden  sind. 


—     120     — 

Ist  die  Anwendung  so  starker  Ströme  überhaupt  schon  bedenklich, 
so  wird  sie  es  doppelt,  wenn  es  sich  um  Inductionsströme  handelt.  Die 
hohe  Spannung  des  Inductionsstromes  lässt  die  Möglichkeit  unipolarer 
Reizung,  weiter  Verbreitung  wirksamer  Schleifen  durch  die  Hirnsubstanz 
selbst  und  durch  Vermittlung  der  Cerebrospinalflüssigkeit  zu.  Man 
kann  sich  leicht  überzeugen,  dass  die  Anwesenheit  einer  Brücke  von 
Flüssigkeit  zwischen  den  auf  dem  Hinterhirn  ruhenden  Elektroden  und 
dem  zurückgeschlagenen  Temporaiis  genügt,  um  entweder  den  genannten 
Muskel  selbst,  oder  beliebige  grosse  Gruppen  von  Motoren  in  Bewegung 
zu  setzen.  Tupft  man  die  Flüssigkeit  fort,  so  verschwinden  sämmtliche 
Reizeffecte.  Ebenso  leicht  gelangen  Schleifen  zu  der  Dura  und  führen 
zu  Reflexbewegungen  aller  erdenklichen  Art. 

Ferrier  hat  indessen  -offenbar  ohne  jede  Kenntniss  der  Gesetze 
der  Strom verth eilung  in  nicht  prismatischen  feuchten  Leitern  gearbeitet; 
das  beweisen  insbesondere  die  von  ihm  zur  Erregung  epileptiformer 
Anfälle  an  der  Katze  angestellten  Versuche.  Die  Spiralen  waren  bei 
diesen  Versuchen  auf  5  cm  genähert.  Bei  einer  von  fünf  Reizungen 
lag  die  ganze  Hirnfläche,  bei  einer  andern  zwei  Drittel  derselben  der 
Länge  nach  zwischen  den  Elektroden,  bei  den  drei  anderen  Reizver- 
suchen wurden  die  Elektroden  in  transversaler  Richtung  aufgesetzt,  so 
jedoch,  dass  mindestens  immer  ein  Sulcus  zwischen  denselben  lag. 
Hieran  schliesst  Ferrier  folgende  Bemerkung:  „Die  Reizung  war  gänz- 
lich auf  die  Oberfläche  der  Hemisphären  begrenzt,  da  die  Elektroden 
einfach  angelegt  wurden,  ohne  irgend  eine  mechanische  oder  tiefere 
Läsion  in  irgend  einem  Falle  zu  verursachen"*).  Dies  mag  genügen, 
um  die  physikalische  Vorbildung,  mit  der  Ferrier  an  so  überaus  diffi- 
cile  Versuche  ging,  darzulegen. 

Es  bleibt  mir  noch  übrig  nachzuweisen,  weshalb  die  Anwendung 
des  Inductionsstromes  als  einzigen  üntersuchungsmittels  zu  verwerfen  ist. 
Der  Hauptgrund  liegt  in  der  bereits  hervorgehobenen  Thatsache,  dass 
die  Stromstärke  des  Zuckungsminimums  keine  recht  gleichmässigen 
Resultate  giebt.  Nimmt  man  dann  stärkere  Ströme,  so  setzt  man  sich 
den  angeführten  und  anderen  Fehlerquellen  aus.  Namentlich  sind  die 
epileptiformen  Anfälle  im  höchsten  Grade  störend.  Während  derselben 
quillt  das  Gehirn  aus  der  Trepanationswunde  heraus  und  gewinnt  ein 
glasiges  Ansehen.      Nachher  ist  seine  Erregbarkeit  enorm  herabgesetzt, 


*)  The  irritation  was  entively  confined  to  the  surface  of  the  hemispheres, 
the  electrodes  being  simply  applied  without  causing  mechanical  or  deep  seated 
lesion  in  any  case.  A.  a.  0.  S.  39. 


—     121     — 

so  dass  auf  längere  Zeit  nur  Ströme,  deren  Verbreitungsbezirk  durch 
die  Hirnmassen  gar  nicht  zu  berechnen  ist,  noch  Zuckung  auslösen. 
Macht  man  au  einem  Gehirne,  welches  einen  epileptit'ormen  Anfall  über- 
standen hat,  Durchschnitte,  so  findet  man  regelmässig  Extravasate  von 
Hirsekorn-  bis  Erbsengrösse,  die  am  häufigsten  ihren  Sitz  an  der  Grenz- 
schicht der  Rinde  haben,  sich  aber  gelegentlich  auch  bis  an  das  Epen- 
dym  der  Ventrikel  verfolgen  lassen.  Es  ist  ziemlich  sicher,  dass  ein 
Theil  dieser  Extravasate  durch  den  Anfall  selbst  entsteht,  indessen  be- 
obachtet man  aber  oberflächlichere  Blutergüsse,  auch  wenn  kein  Anfall 
vorhergegangen  ist.  Ausserdem  bemerke  ich  noch  beiläufig,  dass  man 
regelmässig  an  Gehirnen,  die  einen  epileptiformen  Anfall  durchgemacht 
haben,  bei  der  Section  eine  sehr  deutliche  Injection  der  kleinsten  Ge- 
fässe  der  Pia  an  der  medialen  Fläche  des  A' orderen  Drittels  beider 
Hemisphären  vorfindet.  Dies  scheint  mir  zu  beweisen,  dass  bei  diesen 
durch  Faradisirung  hervorgebrachten  Anfällen  sich,  wie  allerdings  zu 
vermuthen  war,  die  Gefässerregung  auf  das  ganze  Gehirn  ausbreitet. 
Zwischenstufen  scheinen  mir  jene  localen  Anfälle  zu  sein,  von  denen 
wir  schon  a.  a.  0.  gehandelt  haben. 

Wie  dem  nun  auch  sein  möge,  das  ist  wohl  unbestreitbar,  dass 
eine  Reizmethode,  welche  in  allen  Fällen  so  grobe  Zerstörungen  der 
Substanz  setzt  und  ausserdem  noch  anderer,  weniger  leicht  übersehbarer, 
wichtiger  Veränderungen  verdächtig  ist,  dass  eine  solche  Reizmethode  als 
einziges  Untersuchungsmittel  verworfen  werden  muss,  sobald  noch 
irgend  eine  andere  Methode  existirt. 

Höchst  störend  sind  ferner  die  Nachbewegungen,  welche  selbst  bei 
Anwendung  ganz  schwacher  Ströme  aufzutreten  pflegen.  Dieselben 
sehen  manchmal  genau  so  aus  wie  die  ursprünglich  durch  den  Reiz 
hervorgebrachten  Zuckungen  und  sie  können  um  so  eher  zu  Täuschungen 
führen,  als  bei  Anwendung  schwacher  Inductionsströme  manchmal 
mehrere  Secunden  vergehen,  bevor  der  Reizeffect  sichtbar  wird.  Wem 
wird  es  überhaupt  einfallen  eine  Reizmethode,  die  auch  zu  Reizeffecten 
führt,  wenn  nicht  gereizt  wird,  ausschliesslich  anzuwenden?  — ''^) 

Endlich  bedarf  die  Art  der  von  Ferrier  angewendeten  Narkose 
noch  einer  Erwähnung.  Abgesehen  von  Rücksichten  der  Menschlichkeit 
will  Ferrier  dieselbe  benutzt  haben,  um  Reflex-  und  willkürliche  Be- 
wegungen auszuschliessen.  Es  geht  aber  aus  seinen  eigenen  Versuchs- 
protokollen hervor,  dass  er  diesen  Zweck  jedenfalls  höchst  unvoll- 
kommen erreicht  hat.  Seine  Versuchsthiere  machen  nicht  nur  dennoch 
Reflexbewegungen,  sondern  sie  schreien  und  beissen  auch,  sie  nagen 
ihre    eigenen    Pfoten,    sie  wedeln    mit    dem  Schwanz,    sie    sperren   die 


—     122     — 

Schnauze  auf  und  zu  und  stecken  die  Zunge  abwechselnd  heraus  und 
ziehen  sie  wieder  ein.  Dass  in  einer  solchen  Narkose  die  vonFerrier 
gesuchte  Garantie  nicht  liegt,  bedarf  wohl  keines  Beweises. 

Blicken  wir  nun  auf  das  bisher  Angeführte  zurück,  so  dürfen  wir 
wohl  sagen,  dass  selten  jemals  Untersuchungen  über  eines  der  wich- 
tigsten Capitel  der  Nervenphysiologie  auf  Grund  eines  so  überaus 
winzigen  Materiales,  mit  Hülfe  so  geringer  physikalischer  Vorbereitung, 
unter  so  gänzlicher  Vernachlässigung  aller  unbedingt  zu  verlangenden 
Vorsicht  angestellt  worden  sind. 


B.    Die  Resultate  Ferrier's. 

I.    Allgemeine  Differenzen  zwischen   den  Reizeffecten  Ferrier's 
und  den  meinigen. 

Zwischen  den  Resultaten  Ferrier's  und  den  meinigen  existiren 
zwei  principielle  Differenzen:  Erstens  ist  nach  Ferrier  fast  das  ganze 
Grosshirn  erregbar,  insbesondere  die  Gyri  a,  &,  c,  cl  (Stirntheil)  und 
der  grössei'O  Theil  der  von  mir  als  Hinterhaupts-  und  Schläfenlappen 
angesprochenen  Zonen,  während  schon  durch  F ritsch  und  mich  die 
Oberflächen  der  letztgenannten  Theile  als  unerregbar  bezeichnet  waren, 
und  ich  in  der  vorgedruckten  Abhandlung  den  eigentlichen  Stirntheil 
incl.  des  grösseren  Theiles  des  Gyrus  d  als  unerregbar  bezeichne.  Man 
sieht  sofort  ein,  dass  wenn  die  Ferrier'schen  Angaben  richtig  wären, 
man  sich  ein  ganz  anderes  Bild  von  dem  anatomischen  und  physiolo- 
gischen Verhalten  des  Centralorgans  würde  machen  müssen,  als  wenn 
es  bei  den  unsrigen  sein  Bewenden  hätte. 

Wir  hatten  als  eins  unserer  wesentlichsten  Resultate  durch  den 
Druck  und  die  Stellung  des  Satzes  noch  besonders  hervorgehoben  die 
Thatsache,  dass  ein  beträchtlicher  Theil  der  die  grossen  Hemisphären 
zusammensetzenden  Nervenmassen  in  unmittelbarer  Beziehung  zur  Muskel- 
bewegung steht,  während  ein  anderer  Theil  offenbar  wenigstens  direct 
nichts  damit  zu  schaffen  hat.  Wenn  dem  so  war  und  ist,  so  musste 
man  sich  folgerecht  vorstellen,  dass  ähnlich  diesen  motorischen  Projec- 
tionsfeldern  auch  gesonderte  sensible,  und  sensuelle  bestünden.  Wären 
aber  die  Ferrier'schen  Untersuchungen  richtig,  so  würde  diese  An- 
nahme fast  zur  Unmöglichkeit;  denn  für  die  Katze  wenigstens  ist  es 
ihm  gelangen,  Erregbarkeit  fast  des  ganzen  Grosshirns  nachzuweisen. 
Beim  Hunde  freilich  fand  er  einige  Stellen  von  etwas  grösserem  Um- 
fange unerregbar.      Nach    diesen  Ergebnissen    würde    man    also  zu  der 


—     123     — 

Annahme  gedrängt,  dass  die  nach  hinen  und  nach  Auss(!n  gericlitetcn 
seelischen  Vorgänge,  sowie  die  dazwischen  liegenden  Verbiiulungsglioder 
ihr  materielles  Substrat  nicht  in  gesonderten  Hirnabschnitten,  sondern 
durch  einander  gemischt  besässen.  An  und  für  sich  wäre  ein  solches 
Verhalten  ja  nicht  unmöglich.  Es  würde  sich  in  der  That  mehr  der 
Flourens'scheu  neuerdings  wieder  von  Brown-Sequard  vertretenen 
Anschauung  nähern.  Aber  ob  es  so  ist  oder  nicht  ist,  das  festzu- 
stellen ist  eine  der  wichtigsten  Aufgaben,  die  sowohl  in  den  praktischen 
als  ideellen  Wissenschalten,  deren  Object  das  Gehirn  oder  die  Seele 
ist,  je  aufgeworfen  wurden.  Ferrier  will  durch  seine  Versuche  diese 
Aufgabe  nicht  etwa  im  Sinne  jener  beiden  Forscher,  sondern  in  unserem 
Sinne  lösen. 

Die  zweite  principi eile  Differenz  besteht  darin,  dass  Ferrier 
für  die  gleichen  Muskelgruppen  mehrere,  gelegentlich  weit  auseinander- 
liegende Centren  angiebt,  andererseits  aber  von  ein-  und  derselben 
Stelle  aus  verschiedene  Muskelgruppen  in  Bewegung  setzt,  während  wir 
nur  diejenigen  Stellen  als  Centren  betrachteten,  von  denen  aus  man  bei 
einer  ganz  geringen  Stromintensität  localisirte  Muskelinnervation  ver- 
mitteln kann.  Solcher  Centren  fanden  wir  aber  für  jede  Muskelgruppe 
nur  eins. 

Beide  Differenzen  erklären  sich  in  einfacher  Weise  aus  der  ver- 
schiedenen Stärke  der  von  uns  angewendeten  Ströme.  Jeder,  auch  der 
ungeübteste  Experimentator  wird  dies  bei  einer  Wiederholung  der  Ver- 
suche ohne  Weiteres  herausfinden,  üebrigens  stehen  die  Ferrier'schen 
Reizeifecte  nicht  nur  mit  den  unsrigen,  sondern  auch  unter  einander  in 
dem  erdenklichsten  Widerspruche.  Einen  Theil  dieser  Widersprüche 
haben  wir  oben  S.  117  bereits  angeführt,  einige  andei'e  lasse  ich  folgen. 

An  der  Stelle,  wo  beim  Hunde  das  Schwanzcentrum  (9)  Fig.  17, 
S.  127)  liegt,  ist  das  Hirn  der  Katze  (3)  (Fig.  19  u.  20,  S.  142)  uner- 
regbar, wo  die  Katze  (4)  die  Brauen  runzelt  und  das  Ohr  bewegt,  ist 
das  Hirn  des  Hundes  (10)  unerregbar.  Reizung  des  Schläfenlappens 
giebt  bei  der  Katze  Schliessung  und  Oeffnung  der  Kiefer  und  Hervor- 
strecken der  Zunge,  beim  Hunde  nichts.  Hingegen  lässt  Reizung  der 
Stelle,  welche  dem  Hunde  (19)  die  Kiefer  schliesst,  die  Katze  (6)  mit 
der  Pfote  schlagen  und  die  Klauen  hervorstrecken.  Bewegungen  der 
Augäpfel  werden  bei  der  Katze  von  den  bei  mir  mit  /',  «,  und  g  be- 
zeichneten Gyris  ausgelöst.  Drehung  des  Kopfes  nach  der  entgegen- 
gesetzten Seite  erfolgt  auf  Reizung  fast  des  ganzen  Hinterhirns  u.  s.  w. 
u.  s.  w.  —  Das  Hirn  der  Katze  unterscheidet  sich  von  dem  des  Hundes 
nur  wenig.  Der  wesentlichste  Unterschied  besteht  darin,  dass  das  Katzen- 
hirn sehr  viel  kleiner  ist.     Unter  diesen  Umständen  wäre  die  erhebliche 


—     124     — 

Differenz,  \Yelche  Ferrier"s  Versuche  zwischen  den  correspondirenden 
Regionen  beider  Thiere,  wenn  auch  nicht  für  ihn,  so  doch  für  mich 
ergeben,  schon  an  und  für  sich  geeignet,  die  ernstesten  Bedenken  gegen 
die  richtige  Localisation  seiner  Reizeffecte  wachzurufen. 

Ich  habe  zum  üeberfluss  jede  einzelne  seiner  Angaben 
in  soweit  sie  das  Grosshirn  des  Hundes,  der  Katze  und  des 
Meerschweinchens  betreffen,  in  der  eingehendsten  Weise 
experimentell  geprüft  und  ich  werde  in  Folgendem  die  Er- 
gebnisse dieser  vergleichenden  Untersuchungen,  soweit  es 
erforderlich  ist,  im  Detail  vortragen^?). 

Ausser  diesen  Untersuchungen  über  das  Grosshirn  publicirt  Fer- 
rier  in  demselben  Aufsatze  noch  nach  den  gleichen  Grundsätzen  ange- 
stellte Untersuchungen  über,  den  Streifenhügel,  den  Sehhügel,  die  Cor- 
pora quadrigemina  und  das  Kleinhirn.  Bei  allen  diesen  Untersuchungen 
ist  die  Literatur  so  gut  wie  gar  nicht  berücksichtigt,  namentlich  werden 
die  Einwände,  welche  früher  gegen  derartige,  wenig  vorsichtige  Methoden 
erhoben  worden  sind,  nirgends  in  Betracht  gezogen.  Ich  habe  immer 
geglaubt,  dass  so  umfangreiche  Untersuchungen  eine  über  Jahre  ausge- 
dehnte Thätigkeit  erforderten,  und  ich  bin  deswegen  für  jetzt  ausser 
Stande  experimentelle  Thatsachen  neueren  Datums  über  die  Function 
auch  dieser  Hirnprovinzen  beizubringen.  Indessen  verweise  ich,  was 
das  Kleinhirn  betrifft  auf  zwei  unten  folgende,  von  mir  bereits  im  An- 
fang des  Jahres  1872  in  Reichert's  und  du  Bois-Reymond's  Archiv 
zuerst  publicirte  Abhandlungen.  Ausserdem  erinnere  ich  unter  Hinweis 
auf  S.  15,  dass  ich  meine  eigenen  Untersuchungen  mit  dem  generellen 
Nachweise  der  Erregbarkeit  des  Kaninchenhirns  begonnen  habe.  Wegen 
der  Kleinheit  der  Theile  ist  hier  eine  Isolirung  der  Reize  noch  schwerer 
zu  beweisen  als  beim  Katzengehirn.  Es  scheint  mir  deshalb  zwecklos 
vor  der  Hand  auf  Versuche,  welche  Ferrier  auch  an  diesem  Thiere 
angestellt  hat,  überhaupt  einzugehend^). 

II.  Specielle  Differenzen  zwischen  den  Beizeffecten  Ferrier's 
und  den  nieinigen. 

1.    Versuche  an  Hunden. 

Die  Mehrzahl  meiner,  hier  in  Frage  stehenden  Versuche  wurde 
an  Hunden  angestellt,  da  die  Katze,  wie  wir  später  sehen  werden,  sich 
für  dieselben  weniger  eignet.  Ich  opferte  im  Ganzen  diesem  Zwecke 
17  Thiere,  von  denen  eines  in  Folge  von  Anämie,  zwei  andere  in  Folge 
der  angewendeten  Narkotica  unbrauchbar  wurden  oder  zu  Grunde 
gingen.     Es  bleiben  also  14  brauchbare  Vivisectionen. 


—      125     — 

Die  Operation  wurde  bei  dieser  Reihe  von  Versuchen  fast  immer 
ohne  Narkose  angeümgen  und,  wenn  es  möglich  war,  auch  beendet. 
Waren  die  Thiere  hingegen  nach  Freilegung  des  Hirns  entweder  zu  un- 
ruhig oder  bekamen  sie,  was  in  diesem  Stadium  sehr  häufig  der  Fall 
ist,  allgemeines  Zittern,  so  wurde  ihnen  eine  subcutane  Morphium-Injec- 
tion  von  0,02  bis  0,04  g  Morphium  muriaticum  gemacht,  in  Folge 
deren  die  angeführten  Erscheinungen  sich  soweit  verloren,  dass  die 
Untersuchung  fortgeführt  werden  konnte.  Vor  der  Injection  wurde  je- 
doch das  Zuckungsminimum  für  den  Orbicularis  palpebrarum,  womög- 
lich auch  für  die  Vorderextremität  festgestellt  und  nach  der  Injection 
von  Zeit  zu  Zeit  controlirt,  ob  die  Erregbarkeit  erheblich  gesunken  Avar 
oder  nicht.  Ich  überzeugte  mich  A'^on  Neuem,  dass  das  Morphium  unter  den 
gegebenen  Verhältnissen  einen  Einfluss  auf    die  Erregbarkeit  nicht  hat. 

Zur  Blutstillung  pflege  ich  kleine  Streifen  Feuerschwamm  zu  be- 
nutzen, welche  theils  in  die  blutenden  Emissarien  eingeführt,  theils  auf 
die  durchschnittenen  Knochenflächen  aufgedrückt  werden.  Den  Thieren 
wurde  regelmässig  die  Tracheotomie  gemacht,  um  dem  Schreien  vorzu- 
beugen. Der  Inductionsapparat  wurde  durch  ein  sehr  schwaches  Ele- 
ment nach  Leclanche  getrieben.  Im  Uebrigen  verweise  ich  wegen 
der  Methode  auf    die  Angaben   der  beiden  vorstehenden  Abhandlungen. 

a)  Unerregbare  Zone. 
In  der  von  mir  als  unerregbar  bezeichneten  Zone  fand  Ferrier 
zunächst  eine  Reihe  von  Hirnpartieen  erregbar,  welche  nach  hinten  an 
die  von  mir  als  erregbar  bezeichneten  Theile  grenzen.  Der  erste 
Punkt*)  (9)  liegt  im  Gyrus  m.  Ferrier  hat  von  ihm  aus  bei  dem 
einen  seiner  Versuche  am  Hunde  Schwanzbewegungen  hervorgebracht, 
bei  dem  zweiten  Versuche  wurde  dieser  Punkt  nicht  berücksichtigt. 
Dieses  eine  Resultat  genügt  Ferrier,  um  die  betreffende  Partie  nicht 
nur  als  Centrum  für  die  Schwanzbewegungeu  zu  bezeichnen,  sondern 
auch  mit  Rücksicht  auf  die  Ausdehnimg  dieser  Stelle  weittragende 
Schlüsse  zu  ziehen,  von  denen  später  die  Rede  sein  wird^o).  Ich  selbst 
fand  die  fragliche  Stelle  bei  der  Stromstärke  des  Zuckungsmiuimums 
und  beträchtlich  höheren  Stromstärken  stets  unerregbar.  Bei  einzelnen 
Versuchen  konnte  man  sogar  mit  10  Elementen  ohne  Nebenschliessung 
und  mit  beliebig  starken  Inductionsströmen  reizen,  ohne  dass  Zuckungen 
eintraten.  Bei  anderen  Versuchen  hingegen  bewegte  sich  unter  diesen 
Umständen  allerdings  der  Schwanz.  Dann  nahm  die  Stärke  der  Con- 
tractionen  aber  stets  zu,    sobald    die  Elektroden  nach  vorne  in   die  er- 


*)   Die  sämmtlichen  Punkte  sind  auf  Fig.  17  S.  127  reproducirt. 


—     127 


nahmen,  sobald  ich  mich  mit  den  Elektroden  dem  von  uns  als  Centrum 
für  diesen  Muskel  bezeichneten  Punkt  (5)  näherte. 

Ich  kann  deshalb  nur  den  Schluss  ziehen,  dass  auch  hier  die  Reiz- 
effecte  Ferrier's  durch  Stromschleifen,  welche  zu  dem  bezeichneten 
Punkte  (5)  gelangten,  bedingt  sind. 

Der  dritte  Punkt,  welcher  die  erregbare  Zone  nach  hinten  begrenzt 
(16),  liegt  in  dem  Gyrus  o.  Bei  dem  ersten  seiner  zwei  Versuche  fand 
Ferrier  denselben  nicht  erregbar,  bei  dem  zweiten  Versuche  wurde 
das  Ohr  nach  unten  und  hinten  gezogen.  Ich  fand  bei  meinen  Ver- 
suchen die  fragliche  Stelle  unerregbar. 


Fiff.  17. 


Fiü-.  18. 


L.  f.:  Stirnregion.  L.  c:  Hinterhaupts- 
region. F.  S. :  Fossa  Sylvii.  S.  c.  und 
14:  Sulcus  cruciatus  (Leuret),  front. 
(Owen),     e-h    Scheitelwindungen,    m-o 

Hinterhauptswindungen,  i  vordere 

Schläfenwindung,      a-d    Stirnwindungen 

(die Buchstaben  a-c  stehen  vor  den  durch 

sie  bezeichneten  Theilen). 


Die  Buchstaben- wie  auf  Fig.  17.  /X 
Reizpunkt  für  Rumpfmuskeln;  4-° 
und  -j-  für  vordere  Extremität; 
4J:  für  Hinterextremität;  :  für 
Schwanz;  j  für  beide  Extremitäten; 
(')  für  Bewegung  und  Schutz  des 
Auges;  0  für  Zunge;  "für  Kiefer- 
öffnung; unmittelbar  dahinter  zwei 
durch  eine  Linie  verbundene  Punkte 
für  Schluss  der  Kiefer,  Retraction 
der  Mundwinkel  und  Retraction  der 
Zunge;  .j.*^  X  für  Ohrbewegungen. 

Der  vierte  Punkt  (20)  liegt  an  der  Stelle,  wo  Gyrus  h  und  i  zu- 
sammen laufen.  Durch  Reiztmg  desselben  rief  Ferrier  keine  Bewe- 
gungen hervor;  auch  mir  gelang  dies  nicht;  auf  die  Schlüsse,  die  Fer- 
rier zieht,  kommen  wir  zurück. 

Wir  betrachten  die  Punkte  (11),  (12),  (16),  und  (17)  Ferrier's, 
wie  den  dazwischen  gelegenen  Raum  mit  Ferrier  gemeinschaftlich. 
Der  in  Frage  stehende  Raum  umfasst  den  ganzen  Hinterhauptlappen 
bis  zur  Grenze  des  Schläfenlappens,  abgesehen  von  der  äusseren  Fläche 
des  Randwulstes.      Bei    dem    ersten    von    Ferrier's    Versuchen    ergab 


—     126     — 

regbare  Zone  rückten.  Jedoch  reagirte  auch  diese  Stelle  auf  die  Strom- 
stärke des  Zuckungsminimums  und  die  nächst  höheren  Stromstärken 
nicht  mit  Schwanzbewegungen,  während  man  unter  den  letztangeführten 
Bedingungen  deutliche  Zuckungen  von  dem  Centrum  für  die  hintere 
Extremität  aus  auch  in  der  Schwanzmuskulatur  hervorrief.  Wir  hatten  • 
bereits  in  der  ersten  Abhandlung  angegeben,  dass  wir  nicht  nur  diese 
Muskeln,  sondern  auch  die  des  Rumpfes  von  der  erregbaren  Zone  aus 
hätten  in  Bewegung  setzen  können,  dass  uns  jedoch  ihre  Isolirung  nicht 
gelungen  sei.  Gelegentlich  der  in  der  zweiten  Abhandlung  angeführten 
Versuche  hatte  ich  auf  Isolirung  der  Schwanzmuskeln  wiederum  viele 
Mühe  verwendet.  In  der  That  war  es  mir  denn  auch  bei  einigen  Ver- 
suchen gelungen  den  Schwanz  von  der  oben  bezeichneten  Stelle,  dicht 
lateralwärts  neben  dem  Centrum  für  die  hintere  Extremität  aus  isolirt 
in  Bewegung  zu  setzen.  Da  jedoch  dieses  Resultat  nicht  constant  her- 
vorzubringen war,  so  glaubte  ich  auf  die  Wiedergabe  desselben  ver- 
zichten zu  sollen*).  Die  neuerdings  angestellten  Versuche  haben  in  dem 
damals  erreichten  Zahlenverhältniss  so  wenig  geändert,  dass  ich  auch 
jetzt  noch  Anstand  nehme,  die  betreffenden  Theile  als  der  oberfläch- 
lichen Rinde  angehörig  zu  betrachten.  Des  Centrums  für  das  Hinter- 
bein war  bei  Ferrier  merkwürdiger  Weise  nur  in  einer  Anmerkung 
gedacht,  auch  ist  die  Stelle  nicht  mit  einer  Zahl,  wie  die  Uebrigen  be- 
zeichnet. Ferrier  schliesst  sich  mit  seiner  Angabe  der  unsrigen  an. 
macht  aber  von  dort  aus  hervorzurufender  Schwanzbewegungen  keine 
Erwähnung. 

Nach  diesem  muss  ich  schliessen,  dass  die  Reizeffecte,  welche 
Ferrier  bei  Faradisirung  des  Punktes  (9)  sah,  auf  zu  anderen  Theilen 
gelangende  Stromschleifen  zurückzuführen  sind. 

Der  Punkt  (11)  Ferrier's  liegt  unmittelbar  hinter  dem  Centrum 
für  den  Orbicularis  palpebrarum.  Bei  dem  ersten  von  Ferrier's  Ver- 
suchen bewirkte  dessen  Reizung  Schluss  des  Auges,  bei  dem  zweiten 
Drehung  des  Kopfes  nach  der  anderen  Seite.  Reizte  er  bei  dem  zweiten 
Versuche  zwischen  (11)  und  (5)  (Centrum  für  Orbicularis  palpebrarum), 
so  hob  sich  die  Augenbraue;  also  drei  verschiedene  Reizeffecte!  Bei 
meinen  eigenen  Versuchen  fand  ich  diese  Gegend  auf  die  Stromstärke 
des  Zuckungsminimums  und  die  nächst  höheren  Stromstärken  niemals 
mit  einem  Reizeffecte  antwortend.  Bei  beträchtlich  stärkeren  Strömen 
traten  Zuckungen  im  Orbicularis  palpebrarum  ein,  die  an  Intensität  zu- 


*)  Doch  habe  ich  auf  der  Kupfertafel  Fig.  1.  a.  a.  0.  1873  diese  Stelle 
durch  eine  punktirte  Linie  angedeutet  und  dieses  Zeichen  auch  auf  den 
Fig.  2  I.  Auflage  und  Fig.  18  reproducirt. 


—     128     — 

Reizung  dieser  Region  keine  Bewegungen,  nur,  wie  sclion  angeführt, 
traten  auf  Reizung  von  (11)  Contractionen  im  Orbicularis  palpebrarum 
ein  und  bei  Reizung  von  (12)  (Roilenabstand  4  cm!)  eine  Bewegung 
des  Kopfes  nach  der  anderen  Seite,  durch  welche  ein  epileptiformer 
Anfall  eingeleitet  wurde.  Bei  dem  zweiten  Versuche  trat  auf  Reizung 
von  (11),  (12)  und  des  zwischen  (11)  und  (17)  liegenden  Raumes 
Drehung  des  Kopfes  nach  der  anderen  Seite  ein;  (16)  ergab,  wie  schon 
angeführt,  eine  Ohrbewegung  und  (17)  wurde  nicht  gereizt.  Ferrier 
zieht  hieraus  den  Schluss,  dass  diese  ganze  Gegend  die  von  ihm,  ich 
weiss  nicht  aus  welchem  Grunde  zusammengeworfenen,  seitlichen  Be- 
wegungen des  Kopfes  und  Ohres  vermittle. 

Die  Reizung  von  (17)  hat  ihm  in  keinem  Falle  von  seinen  zweien 
ein  Resultat  ergeben.  Ich,  begreife  danach  nicht,  mit  welchem  Recht 
er  auch  diese  Stelle  hier  glaubt  namhaft  machen  zu  dürfen.  Ebenso 
ergab  (11)  bei  dem  einen  Versuche  Schluss  des  Auges  und  nur  beim 
zweiten  Drehung  des  Kopfes.  Nur  (12)  hätte  in  beiden  Fällen  wirklich 
Drehung  des  Kopfes  ergeben,  und  (16)  in  dem  einen  Falle  die  Ohrbe- 
wegung; dazu  war  die  Drehung  des  Kopfes  bei  (12)  in  dem  einen 
Falle  noch  die  Einleitung  zu  einem  epileptiformen  Anfalle. 

Bei  meinen  eigenen  Versuchen  fand  ich,  dass  man  in'  der  grossen 
Mehrzahl  der  Fälle  fast  die  ganze,  nicht,  unmittelbar  an  die  erregbare 
Zone  grenzende  Partie  mit  Strömen  jeder  Intensität  reizen  kann,  ohne 
dass  weder  Bewegungen  des  Kopfes  noch  des  Ohres  eintreten.  In  spär- 
lichen Fällen  beobachtete  ich  jedoch  allerdings  Drehung  des  Kopfes 
nach  der  anderen  Seite,  sowie  Rückwärtsbewegung  des  Ohres  bei  An- 
wendung sehr  starker  Ströme.  Auch  bei  mir  bildete  die  erstere  Be- 
wegung einmal  die  Einleitung  zu  einem  epileptiformen  Anfalle,  während 
ich,  wie  später  gezeigt  werden  wird,  Ohrbewegungen  mit  schwächeren 
Strömen,  aber  nur  in  einer  kleinen  Zahl  von  Fällen,  von  einer  mehr 
nach  vorn  gelegenen  Stelle  aus  hervorbringen  konnte.  Die  Stromstärke 
des  Zuckungsminimums,  sowie  beträchtlich  stärkere  Ströme  ergaben 
aber  von  den  jetzt  in  Rede  stehenden  Punkten  aus  in  keinem  Falle 
eine  Zuckung.  Es  handelt  sich  also  bei  jenen  ausnahmsweise  eintreten- 
den Reizeffecten  zweifelsohne  um  nach  der  Basis  zu  vordringende  Strom- 
schleifen. Die  fraglichen  Partieen  selbst  sind  auf  Grund  der  anderen 
Versuche  mit  Bestimmtheit  als  unerregbar  anzusprechen.  Ich  bemerke 
zur  Stütze  dessen  ausdrücklich,  dass  bei  meinen  Untersuchungen  das 
etwaige  Vorhandensein  eines  Erschöpfungsstadiums  nicht  in  Frage 
kommen  konnte;  denn  bei  jedem  einzelnen  Versuche  wurde  von  Zeit 
zu  Zeit  der  Erregbarkeitszustand  der  genau  bekannten  Centren  contro- 
lirt  und  dann  mit  dem  Erregbarkeitszustande  zweifelhafter  Theile   ver- 


—     121)     — 

glichen.  Sobald  ein  iieiiiicuswoi-thes  Absinken  der  Krregbnrkeit  zu  con- 
statiren  war,  wurde  der  Versuch  Entweder  ohne  Weiteres  aufgegeben, 
oder  die  erhaltenen  Resultate  nur  unter  Reserve  notirt. 

Soviel  von  den  nach  hinten  gelegenen  Partieen.  Nach  vorwärts 
von  den  durch  mich  bezeichneten  Grenzen  fand  Ferrier  den  ganzen 
Rest  des  Hirns  erregbar.  Die  mediale  Partie  des  Gyrus  d^  sowie  dessen 
Vereinigungsstelle  mit  dem  Gyrus  a.  resp.  der  senkrecht  abfallende 
Theil  des  Gyrus  ä.,  (4)  und  (15)  ergaben,  in  dem  einen  Versuche  Er- 
hebung des  oberen  Lides,  bei  dem  anderen  Versuche  wurden  diese 
Punkte  nicht  gereizt.  Ich  mache  darauf  aufmerksam,  dass  bei  jenem 
Versuche  ein  Punkt  in  dem  hinteren  Theile  der  unerregbaren  Zone 
mit  Erhebung  des  oberen  Lides  geantwortet  hatte,  welcher  bei  dem 
ersten  Versuche  seinerseits  nicht  reagirte.  Dieses  schiebt  Ferrier 
darauf,  dass  er  den  rechten  Punkt  nicht  getroffen  habe.  Es  gäbe  also 
zwei  weit  auseinanderliegende  Centralstellen  für  diese  Function. 

Bei  meinen  eigenen  Versuchen  konnte  ich  in  der  Regel  die  frag- 
lichen Stellen  sowohl  mit  Inductions-,  als  auch  galvanischen  Strömen 
jeder  Intensität  reizen,  ohne  dass  die  entsprechende  oder  eine  andere 
Reaction  eintrat.  In  einigen  Versuchen  erfolgte  allerdings  eine,  jedoch 
doppelseitige  Erhebung  des  oberen  Lides,  die  zweifelsohne  auf  eine 
Innervation  des  Levator  palpebrae  superioris  und  nicht  etwa  des  Fron- 
talis zu  beziehen  war.  Indessen  auch  hierzu  war  ein  unverhältniss- 
mässig  starker  Strom  erforderlich:  Das  Zuckungsminimum  trat  nämlich 
im  Orbicularis  palpebrarum  bei  15  S.  EE.  Widerstand  der  Neben- 
schliessung ein,  während  die  fragliche  Stelle  erst  auf  100  Wendung 
deutlich  reagirte,  80  Wendung  ergab  noch  nicht  die  Spur  einer  Zuckung. 
Die  Stromstärke  für  das  Zuckungsminimum  auf  Reizung  mit  dem  In- 
ductionsstrome  war  an  dieser  Stelle  80  Rollenabstand.  Rückte  man 
nun  mit  den  Pjlektroden  mehr  und  mehr  lateralvvärts ,  so  nahm  bei 
gleicher  Stromstärke  die  Intensität  der  Muskelcontraction  mehr  und 
mehr  zu,  auch  wurde  eine  anfangs  undeutliche  Pupillendilatation  deut- 
licher. Die  Reaction  war  am  stärksten  und  das  Zuckungsminimum 
lag  am  Niedrigsten  in  der  Gegend  von  /\  Figg.  1.  2.  18.  Auch  dort 
waren  aber  immer  70  S.  EE.  Wendung  erforderlich  um  überhaupt  eine 
minimale  Bewegung  zu  erzielen. 

Es  kann  sich  also  auch  bei  diesem  Reizeffecte  nur  um  Vordringen 
von  Stromschleifen  nach  tieferen  Theilen  zu  handeln,  und  grade  dieser 
wie  die  zuletzt  angeführten  Versuche  würden  auf's  Deutlichste  beweisen, 
wenn  es  eines  besonderen  Beweises  bedürfte,  nicht  nur  wie  ausserordent- 
lich vorsichtig  man  mit  seinen  Schlüssen  bei  dieser  Materie  sein  muss, 
sondern  auch  wie  dieselben  niemals  allein    auf    solche  Versuche    basirt 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     I.  Tlieil.  g 


—     130     — 

werden  dürfen,  bei  denen  erheblich  grössere  Stromintensitäteu  als  die 
des  Zuckuugsminimums  zur  Anwendung  kommen. 

Die  Untersuchung  des  Vorderlappens  unterliegt  wegen  der  Kleinheit 
der  Theile  besonderen  Schwierigkeiten.  Ausserdem  sammelt  sich  in 
dieser  Gegend  mit  Vorliebe  Cerebrospinalflüssigkeit  an,  so  dass  die 
Untersuchung  dieses  Hirntheiles  mit  doppelter  Vorsicht,  und  die  Schluss- 
folgerungen, soweit  positive  Reizeffecte  erscheinen,  mit  doppelter  Re- 
serve in  die  Hand  genommen  werden  müssen. 

Ferrier  fand  bei  dem  einen  seiner  beiden  Versuche,  (23)  bei  dem 
die  Spiralen  bis  auf  4  cm  genähert  waren,  ein  plötzliches  Zurückziehen 
des  Kopfes  gegen  die  Brust;  bei  dem  zweiten  Versuche  wurde  auch 
dieser  Punkt  nicht  gereizt. 

Bei  meinen  eigenen  Versuchen  sah  ich  ausserordentlich  häufig  auf 
Anwendung  stärkerer  Ströme  Bewegungen  aller  Art  eintreten,  und  zwar 
Hessen  sich  unterscheiden  einfache  Reflexbewegungen  und  solche,  die 
durch  Stromschleifen  zu  anderen  Theilen  bedingt  waren.  Reflexbewe- 
gungen kommen  hier  sehr  leicht  wegen  der  Nähe  der  Dura  zu  Stande 
und  sie  trugen  hier  wie  überall  den  Charakter  zweckmässiger  Flucht- 
bewegungen. Andererseits  traten  manchmal  doppelseitige  Contractionen 
der  zwischen  Sternum  und  Zungenbein,  Kiefer  und  Zunge  verlaufenden 
Muskeln  ein,  welche  an  Intensität  zunahmen,  sobald  man  etwas  mehr 
nach  hinten  ging,  als  man  in  eine  Gegend  kam,  welche  wie  Avir  sehen 
werden,  mit  diesen  Bewegungen  directer  etwas  zn  thun  hat.  Ausser- 
dem habe  ich  durch  starke  Ströme  von  derselben  Gegend  aus  schüttelnde 
Bewegungen  mit  dem  Kopfe,  Verziehung  der  Nase  nach  der  rechten 
Seite  und  andere  Bewegungen  hervorgebracht.  Auf  die  Stromstärke  des 
Zuckungsminimums  und  die  nächst  höher  liegenden  Stromstärken  rea- 
girte  der  Stirnlappen  nie.  Hingegen  gelang  es  sogar  in  einzelnen 
Fällen,  bei  denen  die  Präparatiou  diesen  Theil  in  grösserer  Ausdehnung 
gänzlich  von  flüssigen  und  festen  Umgebungen  isoliren  konnte,  ausser- 
ordentlich starke  Ströme  anzuwenden,  ohne  dass  Zuckungen  eintraten. 
Zu  gleicher  Zeit  reagirten  die  übrigen  Centren  in  der  gewohnten  Weise. 
Wenn  man  aber  bei  Strömen  mittlerer  Intensität  die  Elektroden  in  die 
sich  am  Schädelgrunde  ansammelnde  Flüssigkeit  tauchte,  so  traten  un- 
fehlbar Zuckungen  ein. 

Die  Pimkte  (21)  und  (22)  Ferrier's  liegen  nach  der  Beschreibung 
und  soweit  diese  verständlich  ist,  auch  nach  der  Zeichnung  im  Gyrus  c 
und  an  der  Grenze  des  Gyrus  a  gegen  den  letzteren.  Ferrier  sagt 
Folgendes  über  die  hier  erzielten  Reizeffecte:  „Punkt  (21):  Zurück- 
ziehen des  Kopfes  und  Oeffnen  des  Mundes.  Das  Thier  macht 
einen  schwachen  Versuch  zu  einem  Schrei  oder  Kiuirren.    Das  Thier  war 


—     131     - 

zu  (licsoiii  Z(!it[)Uiiklt'  üussorordoiitlicli  cnschrtplt.  Wicdcirlioltc  A|)|)li<^;i- 
tiou  der  Elektroden  an  diesem  Punkte  und  seintsr  Niicliharscliaft  ver- 
ursachten winselnde  und  knurrende  Geräusche,  wie  sie  ein  träumender 
Hund  macht.  Diese  Laute  wurden  bei  Application  der  F)lektrüdcn  auf 
andere  Theile  des  Gehirns  zu  dieser  Zeit  nicht  ausgestossen."  (Ich  bin 
überzeugt,  wenn  Ferrier  die  Elektroden  zu  gleicher  Zeit  liätte  auf 
andere  Theile  der  Dura  appliciren  wollen,  so  würde  er  gleiche  Laute 
zu  hören  bekommen  haben.)  „Punkt  (22)  Spiralen  auf  4  cm  (!)  da,  die 
Erregbarkeit  des  Gehirns  herabgesetzt  ist;  das  Thier  öffnet  den 
Mund,  zieht  die  Oberlippen  zurück  und  macht  eine  Art  von 
schnüffelndem  oder  brummendem  Geräusch." 

Bei  dem  zweiten  Versuche  wurden  auch  diese  Punkte  nicht  unter- 
sucht, und  dennoch  genügen  jene  einmal  an  einem  „ausserordentlich 
erschöpften  Thiere"  bei  einer  Annäherung  der  Spiralen  auf  4  cm  er- 
reichten Reizeffecte  Ferrier  zu  seinen  Schlussfolgerungen.  Er  fasst 
diese  Punkte  mit  den  in  zwei  anderen  Gyris  liegenden  Punkten  (13), 
(14),  (18).  (19)  und  (probabl}'  20)")  zusammen,  um  ihrer  Gesammtheit 
alle  einseitigen  und  doppelseitigen  Bewegungen  des  Mundes,  der  Zunge, 
des  Kiefers  und  einige  Nackenbewegungen  zuzutheilen. 

Ich  werde  auf  die  fraglichen  Bewegungen  an  einer  anderen  Stelle 
einzugehen  haben  und  darf  mich  hier  wohl  mit  der  Bemerkung  be- 
gnügen, dass  massig  starke  Ströme  auch  von  den  Punkten  (21)  und 
(22)  Ferrier' s  aus  nicht  mit  Zuckungen  beantwortet  werden.  Dennoch 
mache  ich  noch  ausdrücklich  darauf  aufmerksam,  dass  man  an  diesen 
Stellen  sehr  leicht  mit  dem  ersten  und  zweiten  Aste  des  Quintus  in 
CoUision  geräth.  Namentlich  der  Supraorbitalis  liegt  hier  dicht  neben 
den  Elektroden.  Ich  habe  Gelegenheit  genommen  mich  von  seiner 
directen  Betheiligung  bei  den  Reizeffecteu  Ferrier's  zu  überzeugen. 
Andererseits  hat  Ferrier  möglicherweise  die  Reizeffecte  einer  etwas 
mehr  nach  hinten  gelegenen  Fläche  irrthümlich  an  diese  Stellen  loca- 
lisirt  und  sie  an  richtigen  Stellen  beobachtet.  Wenn  man  nur  einen 
Versuch  macht,  sind  derartige  Irrungen  natürlich  unvermeidlich. 

Auf  Grund  dieser  Untersuchung  halte  ich  nach  wie  vor  auch 
den  Stirntheil  des  Hundehirns  für  unerregbar  und  die  Reizeffecte 
Ferrier's  für  Täuschungen  durch  Stromschleifen  ^i). 

Resumiren    wir    diesen    Theil    der    Untersuchung,     so    finden     wir, 


*)  „Probably"  weil  (20)  das  eine  Mal  nicht  gereizt  worden  war  und  das 
andere  Mal  keinen  Reizeffect  gegeben  hatte.  Bei  der  Katze  trat  an  der  ent- 
sprechenden Stelle  Drehung  des  Kopfes  ein.  Punkt  (20)  liegt  aber  an  der  Syl- 
vischen  Grube,  darum  muss  er  wohl  zu  der  Articulation  in  Beziehung  stehen!" 

9* 


-     132     — 

dass  der  vordere  Theil  der  früher  von  mir  als  unerregbar  bezeichneten 
Zone,  welcher  also  die  Grenze  der  erregbaren  Zone  nach  hinten  bildet, 
auf  schwache  Ströme  nie  mit  Muskelcontractionen  antwortet;  dass  er 
auf  stärkere  Ströme  manchmal,  aber  nicht  immer  reagirt,  dass  diese 
Reaction  stärker  wird,  wenn  man  bei  gleicher  Reizgrösse  auf  von  uns 
bezeichnete  Centren  zurückt:  dass  Application  der  Elektroden  auf  den 
noch  weiter  nach  hinten  liegenden  Theil  entweder  überhaupt  keine 
Bewegungen,  oder  nur  dann  solche  auslöst,  wenn  Ströme  von  enormer 
Intensität  zur  Anwendung  kommen.  Dasselbe  finden  wir  rücksicbtlich 
der  vorderen,  von  mir  früher  als  unerregbar  bezeichneten  Zone. 

Es  gelang  mir  bei  einer  Anzahl  dieser  ausnahmsweise  auftreten- 
den Reizeffecte  den  Hergang  der  Täuschung  zu  verfolgen.  Bei  diesen 
lagen  die  Einströmungsstelleu  meist  an  den  Rändern  der  freigelegten 
Hirnfläche.  Der  Mechanismus  einer  anderen  Zahl  ausnahmsweiser  Reiz- 
effecte Hess  sich  nicht  verfolgen.  Hier  lagen  die  Einströmungsstellen 
mehr  nach  der  Mitte  der  freigelegten  Hirnflächen  hin.  Von  beiden 
Species  werden  wir  im  Folgenden  fernere  Beispiele  kennen  lernen  und 
alsdann  Gelegenheit  nehmen,  einige  Worte  über  dieselben  zu  sagen. 

Eine  Förderung  ist  der  Sache  durch  die  bisher  geprüften  Versuche 
Ferrier's  nicht  geworden,  insofern  die  von  ihm  publicirten  Reizeffecte 
Producte  unzulässiger  Methoden  sind  und  ausserdem  inconstant  auftreten. 

b)   Erregbare  Zone''^). 

Die  Versuche  Ferrier's  über  Reizmig  der  von  Fritsch  und  mir 
bezeichneten  Stellen  gaben  im  Allgemeinen  dieselben  Resultate,  welche 
wir  publicirt  hatten.  Nur  sind  die  seinigen  mehr  complicirter  Natur 
als  die  unsrigen.  Er  bekommt  z.  B.  gleichzeitig  Schliessung  des  Auges, 
doppelseitige  Augenbewegungen,  Pupillendilatation  und  Drehung  des 
Kopfes  nach  der  anderen  Seite  von  unserem  Facialis-Centrum,  Punkt  (5) 
aus.  Andererseits  bekommt  er  dieselben  Bewegungen  von  einer  ganz 
anderen  Stelle,  nämlich  von  unserem  Nackenmuskelcentrum,  Punkt  (3) 
aus.  Dies  ist  bei  der  enormen  von  ihm  angewendeten  Strom  Intensität 
leicht  verständlich.     Wir  wollen  darauf  nicht  noch  einmal  eingehen. 

Reizung  seines  Punktes  (1)  ergab  ihm  dieselben  Resultate  wie  uns. 
Die  Stelle  für  das  Hinterbein  hatte  er  bei  den  hier  in  Frage  kommen- 


*)  Sämmtliche  in  diesem  Abschnitte  angeführten  Zeichen  beziehen  sich 
auf  Fig.  18,  die  Zahlen  auf  Fig.  17  S.  127.  Diejenigen  Theile,  welche  Fer- 
rier  als  erregbar  anspricht,  sind  auf  Fig.  17,  und  diejenigen,  welche  ich  für 
erregbar  halte,  auf  Fig.  18  durch  die  Schraffirung  bezeichnet.  Man  vergleiche 
7,ur  ürientinmg  die  SchrafJinme'  der  Fio'g.  2  u,  o. 


—     138     — 

den  Untersuchungen,  wie  es  scheint,  zu  elektrisiren  vergessen.  Ausser- 
dem liegen  in  der  erregbaren  Zone  noch  seine  Punkte  (6),  (7),  (19), 
(18),  (14),  (13)  und  ein  Theil  der  Region  (8). 

Die  Punkte  (6),  (7)  und  (8)  ergaben  ihm  denselben  Reizeffect  wie 
(5),  nämlich  Schluss  des  Auges,  was  sich  durch  ihre  Nachbarschaft  er- 
klärt. Nur  bleibt  eben  bei  schwächeren  Strömen  die  fragliche  Reaction  aus. 

Bei  Reizung  der  Punkte  (13),  (14),  (18)  und  (19)  trat  Verziehung 
eines  oder  beider  Mundwinkel  ein,  bei  (14)  gleichzeitig  eine  Ohrbe- 
wegung, bei  (18)  gleichzeitig  eine  Nackenbewegiing  und  bei  (19)  gleich- 
zeitig Kieferschluss.  In  allen  Fällen  waren  die  Spiralen  einander  bis 
auf  6  cm  e;enähert. 


Fi2-.  17. 


Fig.  18. 


L.  f. :  Stirnregion.  L.  o. :  Hinterhaupts- 
region. F.  S.:  Fossa  Sylvii.  S.  c.  und 
Sulcus   cruciatus   (Leuret),    front. 


14 


(Owen).     e-Ti    Scheitelwindungen,    m-o 

Hinterhauptswindungen,  i  vordere 

Schläfenwindung,      a-d    Stirnwindungen 

(die Buchstaben  a-c  stehen  vor  den  durch 

sie  bezeichneten  Theilen). 


Die  Buchstaben  wie  auf  Fig.  17.  A 
Reizpunkt  für  Rumpfmuskeln ;  +' 
und  -j-  für  vordere  Extremität; 
^  für  Hinterextremität ;  :  für 
Schwanz;  j  für  beide  Extremitäten; 
(")  für  Bewegung  und  Schutz  des 
Auges;  0  für  Zunge;  ••  für  Kiefer- 
öffnung; unmittelbar  dahinter  zwei 
durch  eine  Linie  verbundene  Funkte 
für  Schluss  der  Kiefer,  Retraction 
der  Mundwinkel  und  Retraction  der 
Zunge;  ^*^  X  für  Ohrbewegungen. 

In  der  mit  Herrn  Fritsch  gemeinschaftlich  publicirten  Abhandlung 
war  über  Reizung  dieser  Theile  nichts  gesagt  worden,  da  wir  sie  nicht 
untersucht  hatten.  In  der  vorstehenden  Abhandlung  sind  nur  Reizeffecte 
des  Punktes  (19)  erwähnt.  Die  übrigen  hier  in  Frage  kommenden 
Punkte  hatte  ich  bei  dieser  Gelegenheit  freilich  untersucht,  indessen  aus 
später  zu  erwähnenden  Gründen  von  der  Erwähnung  des  damals  Ge- 
sehenen Abstand  genommen.  Bei  der  jetzigen  Serie  von  Experimenten 
wurde    dieser  Ree;ion    um    deshalb    die    grösste   Aufmerksamkeit    zuge- 


—     134     — 

wendet,  weil  die  von  dort  aus  zu  producirenden  Reizeffecte,  nachdem 
sie  einmal  zur  Sprache  gebracht  sind,  neue  Elemente  in  die  Discussion 
einführen  werden,  übrigens  auch  wegen  gewisser  Beziehungen  zur 
Pathologie  ein  besonderes  Interesse  beanspruchen. 

Dieser  ganzen  Region  kommt  eine  Eigenschaft  zu,  welche  die  Unter- 
suchung nicht  nur,  sondern  auch  die  Beurtheilung  der  erhaltenen  Reiz- 
effecte auf  das  Aeusserste  erschwert,  so  dass  ich  trotz  aller  Mühe  mir 
in  mancher  Beziehung  ein  definitives  Urtheil  auch  jetzt  noch  nicht  habe 
bilden  können  und  mir  dasselbe  bis  nach  Vornahme  neuer  Untersuchungen 
nach  modificirten  Methoden  vorbehalte.  Man  erhält  nämlich  von 
dem  Gyrus  g  und  von  der  nach  vorn  gelegenen,  den  Gyris  /', 
g  und  li  gemeinschaftlichen  Partie  aus  in  einer  Zahl  von 
Fällen  schon  bei  Strömen,  welche  den  \Verth  des  Zuckungs- 
minimums nicht  erheblich  überschreiten,  gut  localisirte 
Zuckungen,  während  in  anderen  Fällen  unter  seh  einbar  ganz 
gleichen  Umständen,  und  nachdem  die  vorbereitende  Operation 
tadellos  vollbracht  war,  zur  Erzielung  derselben  Reizeffecte 
ausserordentlich  viel  grössere  Stromintensitäten  erforder- 
lich sind.  Eine  Ausnahme  macht  der  mit  0  Fig.  18  bezeichnete 
Punkt,  welcher  auf  den  Werth  des  Zuckungsminimums  regelmässig 
mit  einer  doppelseitigen  Zungenbewegung,  bei  stärkeren  Inductions- 
strömen  mit  Herausstecken  der  Zunge  antwortet.  Diese  Bewegungen 
werden  auf  die  gleiche,  höhere  Stromintensität  auch  von  der  ganzen, 
den  Gyris  /',  g  und  h  gemeinschaftlichen  Partie  aus  hervorgerufen. 
Ausserdem  treten  bei  Reizung  der  letztgenannten  Stelle  Kieferbewe- 
gungen und  zwar  sowohl  Oeffhung  als  Schluss  der  Kiefer,  endlich  Be- 
wegungen der  Mundwinkel,  mit  einem  Worte  also  Fressbewegungen  ein. 
Etwas  nach  oben  und  nach  der  Mittellinie  zu  von  dem  ebenerwähnten 
Reizpunkt  für  die  eigentlichen  Zungeumuskeln  lassen  sich  die  Sterno- 
hyoidei  und  thyreoidei  erregen. 

Die  Stelle  für  Oelfnung  der  Kiefer  ist,  auch  wenn  man  zur  An- 
wendung stärkerer  Ströme  schreiten  muss,  immer  gut  zu  localisiren. 
Sie  liegt  unmittelbar  über  dem  Punkt  für  die  Zunge  und  die  von  dort 
aus  mit  dem  Inductionsstrome  erzielte  Bewegung  ist  sehr  charakteristisch. 
Man  kann  den  Hund  die  Kiefer  so  weit  aufreissen  lassen,  wie  er  es 
willkürlich  nie  thut.  Man  sieht,  dass  diese  Stelle  nicht  weit  von 
Ferrier's  Punkt  (22)  liegt,  bei  deren  Reizung  der  Hund  schrie,  winselte 
und  das  Maul  aufsperrte.  Es  ist  also  möglich,  dass  Ferrier's  Reiz- 
effecte zum  Theil  auf  Stromschleifen  beruhten,  welche  nach  jenen  leichter 
.  reizbaren  Theilen  gelangten  und  nur  zum  Theil  auf  gleichzeitige  Reizung 


—     135     — 

der  Dura  zAirückzuführen  sind.  Die  Stelle  ist  auf  Fig.  Ift  mit  zwei  bei 
einanderliegeiiden  Punkten  bezeichnet. 

Weniger  sicher  zu  localisiren  ist  die  Schliessung  der  Kiefer.  In 
der  Mehrzahl  der  Fälle  lässt  sich  dieselbe  von  der  unmittelbaren  Nach- 
barschaft der  letztgenannten  Stelle  aus,  etwas  nach  hinten  in  der 
Richtung  auf  den  Gyrus  g  zu  hervorbringen.  Bei  einer  anderen  kleineren 
Reihe  von  Fällen  braucht  man  aber  hier  stärkere  Ströme  als  bei  dem 
Punkte  (19)*)  Ferrier's  (zwei  durch  eine  Linie  verbundene  Punkte), 
so  dass  derselbe,  was  diese  Fälle  angeht,  mit  seiner  Angabe  Recht 
hätte.  Ebenso  ist  es  richtig,  dass  von  dem  vorderen  Theil  des  Gyrus  (/, 
den  Punkten  (14)  und  (18)  aus  Verziehung  der  Mundwinkel,  übrigens 
auch  gleichzeitige  Depression  der  Unteriippen  (beiderseits)  hervorzu- 
bringen ist.  Aber  abgesehen  davon,  dass  wie  erwähnt  die  erforder- 
lichen Stromintensitäten  variabel  sind,  fallen  auch  alle  von  hier,  näm- 
lich vom  Gyrus  g  und  der  den  Gyris  /",  g  und  li  gemeinschaftlichen 
Partie  aus  resultirenden  Bewegungen,  selbst  auf  die  für  diese  Theile 
geltende  Stromstärke  des  Zuckungsminimums  doppelseitig  aus.  Die 
Contractionen  sind  dabei  auf  beiden  Seiten  gleich  stark.  Eine  Aus- 
nahme von  dieser  Regel  machen  die  Zygomatici,  insofern  als  dieselben 
manchmal  sogar  auf  der  Seite  der  Reizung  viel  stärker  iiniervirt  werden. 
Der  Mund  wird  also  dann,  wenn  z.  B.  links  gereizt  wurde,  sehr  stark 
nach  links  und  schwach    oder  auch  gar  nicht  nach  rechts  verzogen. 

Endlich  muss  ich  noch  eine  Restriction  der  von  mir  früher  bezüg- 
lich der  Reizeffecte  des  Punktes  (19)  gemachten  Angaben  aussprechen. 
Ich*  hatte  in  der  Abhandlung  III  S.  49,  50  diesen  Punkt  als  einen 
solchen  bezeichnet,  von  dem  aus  die  unteren  Aggregate  des  Facialis 
mit  der  Stromstärke  des  Zuckungsminimums  zu  innerviren  wären.  Die 
zwischen  ihm  und  (5)  liegenden  durch  Punkte  eingeschlossenen  Theile 
besässen  geringere  Erregbarkeit,  aber  grössere  als  die  mehr  nach  vorn 
gelegenen  Partieen.  Diese  Resultate  waren  dadurch  gewonnen  worden, 
dass  die  erstgenannten  Stellen  bei  mehreren  übereinstimmenden  Ver- 
suchen mit  der  Stromstärke  des  Zuckungsminimums  und  die  nachher 
markirten  Grenzen  mit  einer  um  etwas  höher  liegenden  Stromstärke 
nach  der  auf  S.  17  f  and  48  beschriebenen  Methode  bezeichnet  wurden. 

Gelegentlich  der  jetzigen,  viel  eingehenderen  Untersuchung,  bei 
der  insbesondere  die  Graduirung  der  Nebenschliessung  um  einzelne  Ein- 


*)  Punkt  (19)  ist  um  etwa  2  mm  zu  weit  nach  hinten  gezeichnet.  Wegen 
der  auf  Fig.  17  und  18  angewendeten  perspectivischen  Verkürzung  scheint 
dieser  Fehler  noch  erheblicher.     Die  Stelle  ist  bei  g  Fig.  3  S.  49  zu  suchen. 


^     136     — 

heiten  viel  häufiger  statt  hatte,  zeigte  sich  nun  erstens  von  Neuem, 
class  der  Reizpunkt  für  das  obere  jener  beiden  Centren,  (ebenso  übrigens 
auch  für  die  Centren  der  Extremitäten),  sobakl  wirklicli  die  niedrigste 
überhaupt  erregende  Stromstärke  in  Anwendung  kommt,  nicht  grösser 
als  ein  Stecknadelkopf  ist.  Es  zeigte  sich  ferner,  dass  in  der  grösseren 
Zahl  von  Fällen  der  Punkt  (19)  nicht  auf  die  Stromstärke  reagirt, 
welche  den  Effect  der  Mundwinkelerhebung  entweder  von  dem  letztge- 
dachten Punkte  (')  oder  von  einem  um  ein  Geringes  nach  vorne  liegen- 
den Punkte  aus  hat.  Diejenigen  Fälle,  in  denen  die  Erhebung  des 
Mundwinkels  von  dem  Punkt  (19)  aus  leichter  eintritt,  als  von  jener 
Region  sind  vielmehr  seltener  und  ich  muss  es  demnach  als  einen  Zu- 
fall betrachten,  dass  mir  damals  mehrere  Versuche  hintereinander  das 
entgegengesetzte  Resultat  ergaben. 

Insofern  als  die  in  Frage  stehenden  Muskeln  —  Emporzieher  der 
Wange  —  ebenfalls  Schutz  des  Auges  bezwecken,  wird  meine  Auf- 
fassung jenes  Innervationsgebietes  als  eines  Heerdes  für  Bewegung 
und  Schutz  des  Auges  durch  die  eben  gegebene  Berichtigung  nicht 
alterirt. 

Wenn  ich  also  das  Resultat  der  über  die  einzelnen  Aggregate  des 
Facialis  angestellten  Reizversuche  resumiren  soll,  so  stellt  sich  heraus, 
dass  auf  den  Werth  des  Zuckungsminimums  regelmässig  Contractionen 
nur  an  der  zuerst  von  uns  bezeichneten  Stelle  (5)  eintreten;  dieselben 
betreffen  den  Orbicularis  palpebrarum  und  meistens  auch  die  Muskehi, 
welche  die  Backe  und  den  Mundwinkel  gegen  das  Auge  emporziehen. 
Manchmal  liegt  der  Reizpunkt  für  die  letztangeführten  Muskeln  um 
wenige  Millimeter  weiter  nach  vor-  und  abwärts,  aber  in  demselben 
Gyrus.  Manchmal  jedoch  liegt  er  im  Gyrus  (7,  entsprechend  dem  Punkte 
(19)  Ferrier's  und  den  durchkreuzten  Punkten  auf  Fig.  2  und  3.  Diese 
Bewegungen  treten  nur  gekreuzt  auf.  Die  mehr  nach  vorn  gelegenen 
Theile  des  Gyrus  g  antworten  hingegen  mit  doppelseitiger  Breitziehung 
des  Mundes  (Zygomatici),  welche  nicht  selten  auf  der  gleichnamigen 
Seite  stärker  ausfällt  und  in  der  Regel  nur  durch  Ströme,  die  den 
Werth  des  Zuckungsminimums  um  ein  Beträchtliches  übersteigen,  aus- 
gelöst wird. 

Was  nun  die  noch  nicht  besprochenen  Ohrmuskeln  angeht,  so  zeigt 
sich  rücksichtlich  derselben  etwas  in  einer  gewissen  Beziehung  Analoges. 
Ferrier  hatte  in  dem  einen  seiner  beiden  Versuche  eine  Rückwärts- 
bewegung des  Ohres  von  seinem  Punkt  (16)  aus  hervorbringen  können. 
Bei  dem  anderen  Versuche  waren  an  dieser  Stelle  überhaupt  keine  Be- 
wegungen aufgetreten.      Obwohl    ein  grosser  Theil  der  von  ihm  berich- 


—     137     — 

teteu  Resultate  sich  lediglich  aul"  nachher  aii  diesem  Tliiere  hervorge- 
rufene Reizeffecte  stützt,  so  schiebt  er  dieses  negative  Ergebniss  doch 
auf  die  Erschöpfung  seines  Versuchsobjectes  und  hält  durch  den  anderen 
Versuch  für  erwiesen,  dass  Punkt  (16)  die  Centralstelle  für  die  Ohrbe- 
wegungen berge.  Ich  habe  schon  früher  angegeben,  dass  Ohrbewegungen 
von  diesem  Punkte  aus  auch  bei  Anwendung  der  stärksten  Ströme  nur 
ausnahmsweise  hervorzubringen  waren,  während  derselbe  auf  einiger- 
massen  schwächere  Ströme  überhaupt  niemals  reagirt.  Nun  giebt  es 
aber  mehrere  andere  Punkte,  deren  Reizung  gelegentlich  auch  bei 
schwächeren  Strömen  mit  Zuckung  beantwortet  wird,  während  in  anderen 
Fällen  wieder  sehr  viel  stärkere  Ströme  erfolglos  bleiben.  Ausser 
diesen  existirt  ein  Punkt,  er  liegt  unmittelbar  hinter  der  Syl  vi  sehen 
Grube  und  ist  mit  einem  X  bezeichnet,  welcher  bei  Ausschaltung  der 
Nebenschliessung,  nicht  aber  bei  100  S.  E.  E.  Wendung,  mit  einer  Rück- 
wärtsbewegung des  Ohres  antwortete.  Die  ersterwähnten  Punkte  liegen 
in  den  Gyris  g  und  /*,  und  sind  mit  .^*..  bezeichnet.  Das  am  meisten 
nach  vorn  liegende  Sternchen  markirt  eine  Stelle,  welche  bei  einem 
Versuche  auf  die  Stromstärke  des  Zuckungsminimums  (15  S.  E.  E. 
Wendung)  mit  Vorwärtsbewegung  des  Ohres,  combinirt  mit  Contraction 
des  Orbicularis  oder  auch  Emporziehen  der  Backe  antwortete.  Tsolirt 
war  die  Ohrbewegung  an  dieser  Stelle  nicht  hervorzubringen;  ging  man  nun 
aber  in  demselben  Gyrus  nach  rückwärts  bis  zu  dem  zweiten  Sternchen, 
so  hörten  zwar  bei  niedrigeren  Stromstärken  die  Zuckungen  gänzlich 
auf,  von  50  S.  EE.  Wendung  an  indessen  trat  dieselbe  Ohrbewegung, 
aber  nun  isolirt  auf.  Es  war  ganz  merkwürdig  zu  sehen,  wie  bei  jeder 
Schliessung  das  Ohr  der  gegenüberliegenden  Seite  isolirt  nach  vorn 
zuckte  in  einer  Art  und  Intensität,  wie  es  willkürlich  und  einseitig 
wohl  kaum  ausgeführt  werden  könnte. 

Mir  schien  von  grossem  Interesse  nachzusehen,  ob  ähnliche  incon- 
stante  Reizeffecte  neben  den  schon  beschriebenen  auch  noch  von  anderen 
Stellen  aus  zu  produciren  sein  würden,  und  es  gelang  mir  auch  noch 
mehreren  gleichartigen  Erscheinungen  auf  die  Spur  zu  kommen.  So 
erzielt  man  bei  Reizung  des  Punktes  (19)  gelegentlich  schon  auf  sehr 
schwache  Ströme,  abgesehen  von  den  früher  erwähnten  Kiefer-  und 
Mundwinkelbewegungen,  auch  noch  Contractionen  der  Nacken-,  Hais- 
und der  übrigen  Gesichtsmuskeln.  Endlich  reagirt  auch  der  Gyrus  A, 
welcher  sonst  ziemlich  starke  Ströme  ohne  Reaction  erträgt,  manchmal 
mit  mehr  weniger  verbreiteten   Muskelzusammenziehungen. 

Durch  die  Ergebnisse  der  zuletzt  vorgetragenen  Untersuchungen 
wird  der  bis  dahin  scheinbar  einfache  Sachverhalt    bei  Weitem  compli- 


_     138     — 

cirter.  Wenn  nur  auf  stärkere  Ströme  inconstante  und  doppelseitige 
Bewegungen  einträten,  so  würde  auf  Grund  meiner  früheren  Unter- 
suchungen die  Erklärung  nahe  liegen,  dass  Stromschleifen  zu  den  mit 
doppelseitigen  Bewegungen  reagirenden  Basalganglien  (Linsenkern)  vor- 
drängen. Schon  das  Verhalten  des  von  uns  sogenannten  Centrums  für 
die  Nackenmuskeln  hatte  mich  in  dieser  Beziehung  misstrauisch  ge- 
macht, denn  wir  hatten  in  der  ersten  Abhandlung  anführen  müssen, 
dass  wir  dasselbe  nicht  immer  auffinden  konnten,  und  in  der  zweiten 
war  erwähnt  worden,  dass  ich  gelegentlich  den  Reizeffect  nur  mit 
stärkeren  Strömen  hätte  sichtbar  machen  können. 

Es  liess  sich  aber  für  diese  Erscheinungsweisen  noch  ein  anderer 
Weg  zur  Erklärung  denken.  Die  Mehrzahl  der  hier  in  Frage  stehen- 
den Bewegungen  setzen  einen  grösseren  Kraftaufwand  voraus,  als  die 
Bewegungen  des  Orbicularis  palpebrarum,  des  Bulbus,  der  Vorderextre- 
mität  und  der  hinteren  Extremität.  Da  nun  schon  bei  Reizung  der 
den  letztgenannten  Muskelgruppen  entsprechenden  Centralgebiete  sich 
eine,  wenn  auch  geringe  und  der  Masse  des  zu  bewegenden  Organes 
proportionale  Verstärkung  der  für  das  Zuckungsminimum  des  Orbicu- 
laris palpebrarum  erforderlichen  Stromintensität  als  nothwendig  ergab, 
so  durfte  man  annehmen,  dass  auch  bei  den  anderen  Körpertheilen  der 
Strom  um  so  stärker  würde  sein  müssen,  je  schwerer  die  zu  bewegende 
Last,  der  zu  überwindende  Widerstand  war.  Aus  diesem  Grunde  habe 
ich,  sobald  ich  von  der  Stromstärke  des  Zuckungsminimums  spreche, 
die  beschränkende  Wendung  „und  die  nächst  höher  liegenden  Strom- 
stärken" gebraucht. 

Um  diese  Frage  zu  entscheiden,  deckte  ich  schon  anlässlich  meiner 
Beschäftigung  mit  den  Nackeumuskeln  dieselben  auf.  Denn  wenn  auch 
der  Kopf  bei  den  schwächsten  Strömen  nicht  in  Bewegung  gesetzt 
wurde,  so  lag  doch  kein  Grund  vor  —  die  Richtigkeit  der  früheren 
Voraussetzungen  angenommen  —  dass  sich  nicht  die  einzelnen  jedesmal 
in  den  Bereich  der  Reizung  gezogenen  Muskeln  contrahiren  sollten.  Ich 
habe  bereits  auf  S.  50  als  Resultat  der  damaligen  Untersuchung  auge- 
geben, dass  diese  Vermuthung  zutraf.  Man  sieht,  wie  ich  dies  auch 
neuerdings  bestätigt  habe,  dass  sich  wirklich  auf  die  Stromstärke  des 
Zuckungsminimums  einzelne  Muskeln  oder  auch  Theile  von  Muskeln  in 
Bewegung  setzen. 

Weder  die  gleiche  Untersuchungsmethode  noch  das  gleiche  Raison- 
nement  liess  sich  auf  die  Production  der  Fressbewegungen  und  der 
Ohrbewegungen  anwenden.  Die  Fressbewegungen  entziehen  sich,  inso- 
weit   es    Kieferbewegungen    sind,    dieser   controlirenden  Untersuchungs- 


—     139     — 

methode,  weil  die  Thiere  zu  häufig  äusserst  kräfti}>;e  willkürlicho  Kiefer- 
bewegungeu  ausführen-,  narkotisirt  man  sie  aber  so  tief,  dass  die  wiJl- 
kürlichen  Bewegungen  aufhören,  so  hebt  das  Absinken  der  Erregbar- 
keit die  Wirkung  scbwaciier  Ströme  an  und  für  sich  auf.  Ich  liabe 
mir  in  dieser  Beziehung  durch  Blosslegung  der  Muskehi  und  Anbringung 
von  Fühlhebehi  die  erdenklichste  Mühe  erfolglos  gegeben,  hoffe  aber 
der  Sache  in  anderer  Art  noch  auf  die  Spur  zu  kommen. 

Dass,  sich  das  gleiche  Raisonnement  auf  die  Verziehung  des  Mundes 
und  des  Ohres  nicht  anwenden  lässt,  ist  ja  klar;  denn  diese  Theile 
sind  gewiss  leichter  in  Bewegung  zu  setzen  als  selbst  die  Zehen  einer 
Vorderpfote.  Ausserdem  treten  noch  als  eine  besondere  Schwierigkeit 
jene  inconstant,  aber  selbst  durch  schwache  Ströme  zu  erzielenden  Be- 
wegungen dazu.  Es  wäre  naöglich,  dass  deren  Auftreten  einer  Reizung 
von  Leitungsbahnen  entspräche,  welche  bei  der  immerhin  variablen 
Form  der  Gyri  in  diesem  oder  jenem  Falle  mehr  oder  weniger  ober- 
flächlich gelagert  sein  könnten.  Ich  bin  aber  principiell  immer  mehr 
geneigt,  derartige  Verhältnisse  auf  Varianten  der  Leitung,  als  auf  Vari- 
anten der  Organisation  zurückzuführen,  denn  dass  die  ersteren  existiren, 
wissen  wir,  während  die  letzteren  vorläufig  doch  rein  hypothetischer 
Natur  sind.  Wenn  zu  irgend  einem  Punkte  in  der  Tiefe  einmal  ein 
etwas  dickeres  Gefäss  hinabsteigt,  so  kann  seine  Umgebung  leicht  von 
dichteren  Schleifen  getroffen  werden,  als  es  in  der  Regel  der  Fall  ist. 
Liegt  dort  ein  motorischer  Theil,  so  v^ird  er  ausnahmsweise  reagiren. 
Dies  wäre  eine  Möglichkeit  der  Erklärung,  ich  kann  aber  nicht  sagen, 
dass  sie  mich  bis  zum  Aufgeben  der  Sache  befriedigte:  Mit  einem  Worte 
halte  ich  den  Modus  und  den  Ort  der  Production  der  Fressbewegungen 
nicht  für  hinlänglich  aufgeklärt,  sondern  fernerer  Untersuchungen  für 
bedürftig,  während  die  Ohrbewegungen  sowie  die  übrigen  ausnahms- 
weise auftretenden  Reizeffecte  wohl  sicher  auf  irgend  welche  zu- 
fällige Leitungsanomalien  zurückzuführen  sind.  Wir  werden  auf  diese 
Fragen  in  einer  der  nachstehenden  Abhandlungen  noch  einmal  zurück- 
kommen. 

Blicken  wir  auf  die  in  dem  letzten  Abschnitte  besprochenen  Unter- 
suchungen zurück,  so  finden  wir,  dass  dieselben  neue  Thatsachen  zu 
Tage  gefördert  haben.  Hierher  sind  die  von  Ferrier  an  dem 
medialen  Theile  der  Convexität  erzielten  Reizeffecte  nicht 
zu  rechnen.  Wir  hatten  bereits  vor  vier  Jahren  ausführlich  be- 
schrieben, von  welchen  Punkten  aus  man  isolirte  Muskelcontractionen 
erzielt,  und  dass  die  von  jenen  eingefassten  Gebiete  auf  stärkere  Ströme 
mit  weiter  und  weiter  verbreiteten  Bewegungen  antworten.      Ferrier 's 


—     140     — 

Untersuchungen  haben    zu  diesen  Thatsachen    weder    etwas  hinzugefügt 
noch  etwas  davon  hinweggenommen*). 

Indessen  hat  der  englische  Autor,  soweit  es  durch  einen 
einzelnen  Versuch  geschehen  kann,  unabhängig  nachge- 
wiesen, dass  von  seinem  Punkte  (19)  aus  Schliessbewegungen 
des  Unterkiefers  und  von  dem  vorderen  Theile  des  Gyrus  g 
aus  Verziehung  der  Mundwinkel  zu  erzielen  sind.  Ausserdem 
hat  er  angegeben,  dass  der  vordere  und  basale  Theil  des  Gehirns 
Oeffnung  der  Schnauze  vermittle.  Wenngleich  die  Art  seiner  auf  den 
letzteren  Punkt  bezüglichen  Notizen  so  wenig  Vertrauen  erweckend  als 
möglich  ist,  so  möchte  ich  ihm  doch  auch  dieses  Verdienst  nicht 
schmälern.  Wundt**)  hat  in  neuester  Zeit  rücksichtlich  der  Kau- 
muskeln eine  ähnliche,  ebenfalls  unabhängig  gewonnene  Angabe  gemacht. 

2.   Versuche  an  Katzen. 

Katzen  eignen  sieb  zu  den  fraglichen  Versuchen  ausserordentlich 
schlecht.  Die  Blutung  bei  Eröffnung  der  Schädelhöhle  ist  viel  stärker, 
als  sie  in  der  Regel  bei  Hunden  von  gleicher  Grösse  zu  sein  pflegt. 
Die  Katze  hat  Emissarien  von  relativ  grösserem  Lumen  als  der  Hund. 
Ausserdem  trägt  auch  die  Wuth,  in  welche  diese  Thiere  durch  die 
Operation  versetzt  werden,  zur  Erhaltung  der  Blutung  bei.  Aber  nicht 
allein,  dass  die  Thiere  stärker  bluten,  so  ertragen  sie  auch  den  Blut- 
verlust schlechter  als  Hunde.  Die  Erregbarkeit  des  Gehirns  nimmt 
äusserst  schnell  ab.  Dies  ist  auch,  wenngleich  in  geringerem  Grade 
dann  der  Fall,    wenn    der  Blutverlust  kein  übermässiger  war. 

Das  Gehirn    der  Katze    ist    ferner  sehr  viel  kleiner,    als    das    des 


*)  Gegenüber  den  Angaben  Ferrier's  rücksichtlich  der  Augenmuskeln 
befinde  ich  mich  in  derselben  Lage,  wie  ich  sie  schon  bei  Besprechung  seiner 
das  Hinterbein  und  die  Fressbewegungen  betreffenden  Notizen  geschildert  habe. 
Ferrier  konnte  zur  Zeit  der Pablication  seiner  Arbeit  meine  hierher  gehörigen, 
in  der  Abhandlung  III  enthaltenen  Untersuchungen  noch  nicht  kennen.  Seine 
Angaben  sind  also  als  ihm  eigenthümliche  zu  betrachten.  Sie  befinden  sich  in 
zwei  Anmerkungen,  beziehen  sich  auf  spätere  Versuche  und  besagen,  dass  bei 
Pv-eizung  unseres  Nackenmuskelcentrums  doppelseitige  Internus-Contraction  und 
bei  Reizung  meines  Augenmuskelcentrums  doppelseitige  Drehung  nach  aussen 
und  unten  eintrat.  Ein  Theil  der  letzten  Angabe  entspricht  dem  wirklichen 
Sachverhalte  zu  einem  Theile.  Der  Rest  ist  ebenso  zu  beurtheilen,  wie  die 
übrigen  Reizeffecte  Ferrier's. 

**)   Wundt,  Grundzüge  der  physiologischen  Psychologie.     Leipzig  1873. 
S.  168.   Anm.  2.   Das  Buch  ging  mir  während  des  Druckes  zu. 


—     141      — 

Hundes  und  eignet  sich '  schon  aus  diesem  Grunde  weniger  zu  Ver- 
suchen, bei  denen  die  Möglichkeit  der  Isolirung  lediglich  auf  der  Grösse 
des  räumlichen  Abstandes  der  Theile  von  einander  beruht.  Mindestens 
wird  deshalb  die  Noth wendigkeit  mit  der  Stromstärke  des  Zuckungs- 
miniraums zu  untersuchen  und  die  Elektroden  einander  möglichst  zu 
nähern,  nur  um  so  dringender. 

Katzen  scheinen  durch  Morphium  schwer  narkotisirt  zu  werden. 
Den  Aether  vertragen  sie  schlechter  als  Hunde,  während  sie  das  Chlo- 
roform gut  ertragen.  Die  Vornahme  der  Operation  hat  also,  wenn  man 
sich  des  Chloroforms  bedienen  will,  und  die  Blutung  massig  ist,  keine 
besonderen  Schwierigkeiten,  wohl  aber  die  Untersuchung  derjenigen 
Theile,  welche  den  Mund,  die  Kiefer  und  die  Zunge  bewegen.  Man 
muss  zu  diesem  Endzwecke  die  Schnauze  losbinden  und  das  Thier  er- 
wachen lassen.  Danu  aber  beisst  die  Katze  mit  solcher  Wuth  um  sich, 
dass  die  Fortsetzung  der  Operation  sowohl  für  Operateur  als  Assistenten 
geradezu  gefährlich  wird,  jedenfalls  ungetheilte  Aufmerksamkeit  nicht 
zulässt. 

Unter  diesen  Umständen  und  da  die  Aehnlichkeit  in  der  Formation 
des  Hunde-  und  Katzengehirns,  wie  oben  angeführt,  sehr  gross  ist,  be- 
gnügte ich  mich  damit,  die  aprioristisch  anzunehmende  Gleichheit  in 
der  Lagerung  der  Centren,  sowie  die  Begrenzung  der  erregbaren  Zone 
nothdürftig  zu  constatiren,  indem  ich  das  Detailstudium  den  später  fort- 
gesetzten Versuchen  an  Hunden  vorbehielt.  Hierzu  waren  im  Ganzen 
genommen  7  Versuche  erforderlich.  Drei  von  diesen  Vivisectionen 
missglückten,  da  die  Thiere  theils  an  Blutung,  theils  in  Folge  der  ange- 
wendeten Narkotica  zu  Grunde  gingen.  Es  bleiben  also  4  Versuche, 
deren  Resultate  mich  übrigens  innerhalb  der  erforderlichen  Grenzen 
vollständig  überzeugten. 

a)  Unerregbare  Zone*). 

Die  von  mir  beim  Hunde  als  unerregbar  bezeichnete  Zone,  deren 
Unerregbarkeit  bei  der  Katze  aus  aprioristischen  Gründen  anzunehmen 
w^ar,  fand  Ferrier  bei  diesem  Thiere  in  noch  grösserer  Ausdehnung 
erregbar,  als  dies  beim  Hunde  der  Fall  gewesen  war. 

Der  Punkt  (3)  ergab  Ferrier  bei  seinem  einen  Hunde  versuche, 
wie  erinnerlich,  Bewegungen  des  Schwanzes;  an  der  Katze  kein  Resultat. 


*)  Die  in  diesem  Abschnitte  angeführten  Zeichen,  Buchstaben  und  Zahlen 
beziehen  sich  auf  Fig.  19  und  20  S.  142.  Diejenigen  Theile,  welche  ich  für 
erregbar  halte,  sind  auf  Fig.  19  durch  die  Schraffirung  bezeichnet.  Nach  Fer- 
rier ist  bis  auf  Punkt  (3)  und  (5)  die  ganze  sichtbare  Fläche  erregbar. 


—      142     — 

Punkt  (8)  unmittelbar  hinter  dem  Centrum  für  Bewegung  und  Schutz 
des  Auges  ergab  ihm  Schluss  des  Auges,  Zurückziehen  des  Ohres,  Her- 
aufziehen der  linken  Backe  und  Nasenhälfte,  sowie  Bewegung  der  Bulbi. 
Bei  einem  zweiten  Versuche  trat  nur  Schluss  des  Auges  ein.  Bei  einem 
dritten  Versuche  erhielt  er  ähnliche  Reizeffecte  wie  beim  ersten. 

Meine  eigenen  Versuche  ergaben  ünerregbarkeit  dieses,  sowie  des 
vorigen  Punktes,  sobald  mit  den  Stromstärken  des  Zuckungsmiuimums 
oder  den  nächst  höheren  Stromstärken  gereizt  wurde.  Bei  Anwendung 
sehr  starker  Ströme  traten  Reizeffecte  ähnlicher  Art  wie  Ferrier  sie 
beschreibt,  ein.  Dieselben  nahmen  zu,  wenn  sich  die  Elektroden  der 
erregbaren  Zone  näherten.  Ich  halte  dieselben  deswegen  für  das  Pro- 
duct  von  Stromschleifen. 


Fio-.  19. 


Fig.  20. 


L.  f.  Stirnregion.  L.  o.  Hinterhauptsregion.  F.  S.  Fossa  Sylvii.  S.  c.  Sulcus 
cruciatus.  -j- Reizpunkt  für  Vorderextremität  und  Rumpfmuskeln;  (2)  für  vordere 
:^  für  hintere  Extremität:  ■;')  für  Bewegung  und  Schutz  des  Auges.  (19), 
(20)   d  Stirnwindungen,   e-h  Scheitelwindungen,   m-o  Hinterhaupts  Windungen. 


Der  Punkt  (4)  Ferrier's  liegt  weiter  nach  hinten  und  würde  der 
Lage  nach,  Ferrier 's  Untersuchungen  am  Hunde  folgend,  theils  dem 
Centrum  für  die  Schwanzmuskeln  entsprechen,  theils  unerregbar  sein. 
Reizung  bei  der  Katze  ergab  bei  dem  einen  Versuche  Runzeln  der 
Augenbraue  und  Ohrbewegungen.    Wiederholt  wurde  der  Versuch  nicht. 

Die  Punkte  (9),  (10),  (11),  (12),  (13),  (14)  und  (16),  welche  fast 
den  ganzen  Hinterlappeu,  den  oberen  Theil  des  Schläfenlappens  und 
den  unmittelbar  vor  der  Sylvischen  Grube  gelegenen  Theil  des  Gyrus  h 
einnehmen,  ergaben  Drehung  des  Kopfes  nach  der  anderen  Seite.  Sie 
liegen  in  vier  verschiedenen  Gyris.  Punkt  (9)  und  (10)  ergaben  ausser- 
dem noch  Augenbewegungen,  Punkt  (13)  Ohrbewegungen,  Punkt  (14) 
Ohr-  und  Lidbewegungen,  Punkt  (16)  endlich  Schluss  des  Auges  und 
Zurückziehen  des  Mundwinkels.     Punkt  (13)  und  (14)   wurden  bei  dem 


—     143     — 

zweiten  Versuclie  und,  wie  es  sclieint,  riuc.li  Ixii  (lein  drittcin  V(!rsiicbe 
mit  ähniicliem  Erfolge  gereizt.  Die  linderen  Punkte  wurden  keiner 
wiederholten  Untersuchung  unterworfen. 

Bei  meinen  eigenen  Untersuchungen  traten  auf  Reizung  mit  der 
Stromstärke  des  Zuckungsminimums,  wie  den  nächst  höher  gelegenen 
Stromstärken  niemals  Zuckungen  irgend  welcher  Muskeln  auf  Reizung 
der  genannten  Theile  ein.  In  einem  Falle  ergab  sogar  die  Reizung  mit 
Ausschaltung  der  Nebenschliessung,  sowie  6  cm  Rollenabstand  von  sämmt- 
lichen  angeführten  Punkten  aus  keine  Drehung  des  Kopfes.  Die  Gegend 
des  Punktes  (4)  und  ihre  Nachbarregionen  antwortete  allerdings  bei 
100  Wendung  mit  Facialis-,  insbesondere  Ohrbewegungen.  Wurde  mit 
der  gleichen  Stromstärke  am  lateralen  Hirnrande  gereizt,  so  zuckte 
regelmässig  der  zurückpräparirte  M.  temporalis.  Wurde  aber  am  vorderen 
Rande  gereizt,  so  zuckte  der  Facialis  der  gleichen  Seite,  sobald  zwischen 
dem  Hirn  und  seinen  Bedeckungen  sich  eine  Brücke  Flüssigkeit  befand. 
Dies  beweist,  wenn  es  überhaupt  eines  Beweises  bedürfte,  wie  gross  der 
Verbreitungsbezirk  so  starker  Ströme  ist.  Wurde  die  Flüssigkeit  weg- 
getupft, so  hörten  alle  Zuckungen  auf.  Ich  kann  deswegen,  und  da 
Ströme  von  erlaubter  Intensität  ohne  jeden  sichtbaren  Erfolg  blieben, 
die  sämmtlichen  eben  angeführten  Reizeffecte  nur  als  Producte  von 
Stromschleifen  auffassen,  welche  zu  tiefer  gelegenen  Theilen  vordrangen. 
Eine  Ausnahme  macht  nur  der  Punkt  (16),  von  dem  aus  ich.  auf  ver- 
hältnissmässig  niedrige  Stromstärken  (20  Wendung)  Zusammenklappen 
der  Kiefer  gleichzeitig  mit  Contractionen  fast  der  ganzen  Muskulatur 
jedoch  nur  bei  einem  Versuche  erhielt*).  Bei  einem  zweiten  Versuche 
ergab  Reizung  derselben  Stelle  nichts.  Die  Protocolle  der  anderen  beiden 
Versuche  enthalten  über  diesen  Punkt  keine  Angaben.  Da  beim  Hunde 
die  Partie  unerregbar  ist,  der  eine  von  meinen  beiden  Versuchen  mir 
mit  grosser  Sicherheit  dasselbe  Resultat  ergeben  hatte,  da  endlich  der 
Mantel  an  dieser  Stelle  eine  nur  dünne  Decke  über  dem  Stammlappen 
bildet,  so  halte  ich  gleichwohl  jene  Stelle  für  unerregbar  und  betrachte 
die  fraglichen  Reizeffecte  um  so  mehr  als  Producte  einer  durch  Zufälle 
bedingten  Fortleitung  von  Stromschleifen,  als  sie  wie  oben  augeführt, 
fast  die  gesammte  Muskulatur  betrafen**). 

Punkt  (15)  am  basalen  Theile  des  Schläfenlappens  gelegen,  in  einer 
beim  Hunde  nach  Ferrier  unerregbaren  Stelle  ergab  ihm  in  zwei  Ver- 


*)  Ferrier  sah  von  dort  aus  Drehung  des  Kopfes,  Schluss  des  Auges 
und  Verziehung  des  Mundwinkels,  also  ebenfalls  complicirte  und  ausserdem 
andere  Bewegungen. 

**)  Vergi.  hierzu  das  auf  S.  136 ff.  Ausgeführte, 


—     144     - 

suchen  Schliessuug  der  Kiefer  (Spiralen  auf  4  cm  genähert,  da  8  cm  Rollen- 
abstand ohne  Erfolg  blieb!).  Bei  dem  dritten  Versuche  wird  dieser 
Punkt  nicht  erwähnt.     (S.  unten  S.  145.) 

Bei  meinen  eigenen  Versuchen  trat  nie  eine  Zuckung  in  irgend 
einem  Muskel  ein,  wenn  sich  nicht  eine  Verbindung  zwischen  den  Elek- 
troden und  der  Cerebrospinalflüssigkeit  nachweisen  Hess.  Dann  freilich 
kam  es  zu  allerlei  Bewegungen,  deren  Aufzählung  einen  Werth  nicht  be- 
anspruchen kann. 

ünerregbar  fand  Ferrier  abgesehen  von  Punkt  (3)  nur  den 
hintersten  Theil  des  Gyrus  m.  Der  ganze  Rest  der  äusseren  Mantel- 
fläche steht  also  nach  ihm  in  Beziehung  zur  Muskelbewegung.  Nach 
meiner  Ueberzeugung  entspricht  die  erregbare  Zone  des  Katzengehirns 
sehr  genau  der  des  Hundehirns,  und  ist  übrigens  durch  die,  bei  der 
Katze  viel  constantere  Formen  zeigende  Furchenbildung  noch  besser 
begrenzt.  Die  Furche  11  gabelt  sich  bei  der  Katze  vorn  so,  dass  die 
beiden  Zinken  dieser  Gabel  die  hintere  und  mediale  Grenze  der  erreg- 
baren Zone  abgeben.  Die  hintere  und  laterale  Grenze  wird  sehr  ge- 
nau durch  die  Furche  8'  gebildet,  welche  bei  der  Katze  regelmässig, 
wie  beim  Hunde  ausnahmsweise,  ohne  in  Continuität  mit  dem  occipi- 
talen  Theile  derselben  Furche  zu  treten,  sich  lateralwärts  halbmondförmig 
nach  vorn  krümmt. 

Die  Erregbarkeit  des  medialen  Theiles  des  Gyrus  d  hat  Ferrier 
nicht  ausdrücklich  behauptet.  Auch  ich  fand  denselben  unerregbar. 
Die  Basis  des  Stirnlappens  gab  bei  Ferrier  auf  Reizung  mit  6  cm 
Rollenabstand  Zurückwerfen  des  Kopfes,  bei  noch  stärkerer  Reizung  Be- 
wegungen des  Hinterbeines  und  Schwanzwedeln  —  Bewegungen,  die 
sieh,  wie  schon  am  Hunde  nachgewiesen,  so  zweifellos  als  Reflexbe- 
wegungen manifestiren,  dass  ich  kaum  nöthig  habe  anzuführen,  dass  die 
Erregung  des  Vorderlappens  mir  ebenso  wie  beim  Hunde  ein  negatives 
Resultat  ergab. 

Das  Resume  dieses  Abschnittes  fällt  dahin  aus,  dass 
sämmtliche  Angaben  Ferrier's  nur  für  unzulässige  Methoden, 
und  auch  dann  nur  ausnahmsweise  dem  Sachverhalte  ent- 
sprechen. 

b)  Erregbare  Zone. 
Die  Resultate  meiner  eigenen  Versuche  stimmen  hier  im  Groben 
mit  denen  Ferrier's  überein.  Nur  hat  Ferrier  auch  an  der  Katze  das 
Centrum  für  das  Hinterbein  nicht  isolirt,  der  Reizpunkt  für  Bewegung 
und  Schutz  des  Auges  liegt  weder  an  der  Stelle  (7),  noch  bei  (8)  wie 
Ferrier  angiebt,  sondern  genau  zwischen  beiden  Punkten,   seine  Reiz- 


—     145     — 

eft'ecte  sind  iininer,  gerade  wie  behn  Hunde,  aus  dei-  Wirkung  mehrerer 
Muskelgruppen  zusammengesetzt;  endlich  zählt  er  bei  Reizung  ver- 
schiedener Punkte  analoge  Effecte  auf.  Dies  ist  leicht  verständlich, 
wenn  man  die  von  ihm  angewendete  Stromintensität  berücksichtigt. 
Anstatt  der  hier  gebotenen  grösseren  Vorsicht  hat  Ferrier  im  Gegen- 
theil  noch  stärkere  Ströme  als  beim  Hunde  benutzt.  Wir  finden  mit 
Vorliebe  den  Rollenabstand  4,  5  und  6  cm  bei  dem  ersten  und  zweiten 
Versuche  notirt;  bei  dem  dritten  Versuche  fehlen  Angaben  über  die 
Rollenabstände. 


Fio-.  19. 


Fiff.  20. 


L.  f.  Stirnregion.  L.  o.  Hinterhauptsregion.  F.  S.  Fossa  Sylvii.  S.  c.  Sulcus 
cruciatus.  -j- Reizpunkt  fürVorderextremität  und  Rumpfmuskeln;  (2)  für  vordere 
#  für  hintere  Extremität;  (")  für  Bewegung  und  Schutz  des  Auges.  (19), 
(20)   d  Stirnwindungen,   e-h  Scheitelwindungen,   m-o  Hinterhauptswindungen. 


Ich  hebe  wieder  ausdrücklich  hervor,  dass  Ferrier  bei  allen  drei 
Versuchen  neu  anführt,  dass  durch  Reizung  basalwärts  und  vorwärts 
gelegener  Theile  Oeffnung  des  Kiefers  und  Bewegungen  der  Zunge  ein- 
traten. Allerdings  sind  diese  Angaben  auch  wieder  nicht  hinlänglich 
kritisch  geprüft,  noch  sind  die  fraglichen  Stellen  ganz  genau  localisirt. 
Die  drei  Punkte  (17),  (18)  und  (20)  sollen  nach  den  Versuchsproto- 
eollen  in  Beziehung  zu  jenen  Functionen  stehen.  Der  letztere  Punkt 
wird  bei  dem  Rückblicke  aber  nicht  erwähnt,  auch  ist  ein  Irrthum  auf 
der  Zeichnung  vorhanden,  so  dass  von  demselben  um  so  mehr  abge- 
sehen werden  kann,  als  er  mit  den  Mund-  und  Zungenbewegungen  nichts 
zu  thun  hat.  Die  Punkte  (17)  und  (18)  sind  hingegen  die  einzigen  von 
Ferrier  gelegentlich  dieser  Arbeit  einigermaasseu  genügend  unter- 
suchten, und  ich  möchte  dies  um  so  mehr  anerkennend  erwähnen,  als 
dadurch  in  der  That  eine  der  Wirklichkeit  entsprechende 
Thatsache  neu  aufgedeckt  worden  ist.  Ich  verzichte  deshalb 
auch  willig  auf  die  Einwürfe,  welche  gegen  mancherlei  Nebeubedingungen 

Hitzig,  Gesammelte  Abhancll.     X.  Theil.  ]^Q 


—     146     — 

zu  erheben  ^Yären.  Denn  ich  wünsche  selbst  den  Schein  zu  vermeiden, 
;ils  ob  die  zaMreichen  Einwände,  die  ich  gegen  Ferrier's  Methode  der 
Untersuchung  und  der  Darstellung  erheben  muss,  mich  gegen  eine  wirk- 
liche Förderung  des  Wissens  ungerecht  gemacht  hätten. 

Bei  meinen  eigenen  Untersuchungen,  soweit  sie  reichen,  fand  ich 
Verhältnisse,  die  denen  am  Hundehirn  ähnlich  sind.  Indessen  würde 
ich  auf  diese  Versuche,  wenn  sie  nicht  ein  Correlat  an  den  Hundever- 
suchen hätten,  überhaupt  nichts  geben.  Einmal  machen  die  Thiere  in 
ihrer  Wuth  so  viele  willkürliche  Kieferbewegungen,  dass  die  Aufsuchung 
des  Zuckungsminimuras  besondere  Schwierigkeiten  findet*).  Dann  aber 
hat  man  dazu  gar  nicht  lange  Zeit.  Denn  wenn  man  den  Bulbus  exstir- 
pirt  und  das  Hirn  freigelegt  hat,  vermindert  sich  die  Erregbarkeit  des 
Hirns  ziemlich  schnell,  und  dann  ist  es,  wie  mehrfach  auseinanderge- 
setzt, mit  aller  Isolirung  vorbei.  Ueberhaupt  ist  diese  bei  der  Klein- 
heit der  Theile  sehr  bedenklich.  Ich  erinnere  an  das,  was  ich  oben 
(S.  143)  über  die  Reizung  des  Punktes  (16)  gesagt  habe. 

Die  Stelle,  von  der  aus  ich  sehr  charakteristisches  Aufsperren  der 
Kiefer,  Retraction  der  Mundwinkel  und  Zungenbewegungen  produciren 
konnte,  entspricht  der  Lage  nach  ziemlich  genau  dem  Punkte  (17) 
Ferrier's  und  dem  ebenso  antwortenden  Centrum  des  Hundes.  Ich 
habe  den  Eindruck  gewonnen,  als  ob  auch  hier  stärkere  Ströme,  als  an 
den  übrigen  Centren  erforderlich  wären,  möchte  aber  Angesichts  der 
vorhandenen  Schwierigkeiten  und  meines  geringen  Versuchsmateriales 
mir  ein  Urtheil  nicht  erlauben. 

Gesichts-  und  Augenbewegungen  erzielte  ich  von  (")  aus,  einem 
Punkte,  welcher  zwischen  den  Ferrier'schen  Centren  (7)  und  (8)  liegt, 
und  dem  gleichnamigen  Centrum  des  Hundehirus  der  Lage  nach  ganz 
genau  entspricht.  Die  beiden  angeführten  Reizpunkte  Ferrier's  waren 
bei  der  Stromstärke  des  Zuckungsminimums  unerregbar;  auf  etwas 
stärkere  Ströme  reagirten  sie  in  der  gedachten  und  von  ihm  erwähnten 
Weise. 

Die  Pfoten  Hessen  sich  von  dem  mit  -f.* ,  (2)  und  4f=  bezeichneten 
Stellen  aus  in  mannichfacher  Art  in  Bewegung  setzen.  Diese  Punkte 
entsprechen  der  Lage  nach  den  äquivalenten  Regionen  des  Hundehirns; 


*)  Ferrier  führt  als  Reizeffect  des  PunMes  (15)  hinter  der  Sylvischen 
Grube  abwechselnde  Schliessung  und  Oeffnung  der  Kiefer  und  abwechselndes 
Herausstecken  und  Zurückziehen  der  Zunge  an.  Diese  Bewegungen  werden 
von  den  gequälten  Thieren  minutenlang  gemacht,  ohne  dass  überhaupt  irgend- 
wo gereizt  wird.  Es  ist  ganz  unbegreiflich,  wie  so  charakteristische  Aeusse- 
i'ungen  der  VerzAveiflung  verkannt  werden  konnten, 


—      147     — 

das  Gleiche  gilt  von  den  uiif  den  Ahbildinif^cii  iiiciit  i-(;])i-<Hliicii'teii 
Centren  |  und  /\. 

Die  Untersuchungen  des  letzten  Abschnittes  lehren  uns  zunäcl)st, 
dass  in  fuuctioneller  Beziehung  die  grösste  Uebereinstiraiuung  zwischen 
den  gleich  gelagerten  Regionen  des  Hunde-  und  Katzengehirns  existirt. 
Auf  die  Stromstärke  des  Zackungsrainimums  reagirt  jeder  einzelne  Punkt 
mit  denselben  wohl  abgegrenzten  Muskelcontractionen.  Solche  Diffe- 
renzen wie  Ferrier  sie  in  seinen  Versuchsprotocollen,  keineswegs  aber 
bei  seinen  Schlüssen  anführt,  existiren  in  der  Wirklichkeit  nicht.  Seine 
Angaben  sind  hier  ebenso  ungenau,  wie  an  den  bereits  besprochenen 
Stellen  seiner  Arbeit. 

Hingegen  hat  Ferrier  auch  an  der  Katze  durch  Elektri- 
sirung  des  Vorderhirns  Fressbewegungen  hervorgerufen, 
und  es  ist  sein  Verdienst  diesen  Befund  zuerst  publicirt  zu  haben. 

3.    Versuche  an  Meerscbweinohen. 

Der  Schädel  des  Meerschweinchens  ist  im  Verhältniss  zur  Grösse 
.  des  Thieres  dick  und  hart;  die  Dura  liegt  ihm  sehr  dicht  an  und  ist 
zart;  die  Menge  der  Cerebrospinalflüssigkeit  ist  gering.  Unter  diesen 
Umständen  bedarf  es  grosser  Sorgfalt  und  Uebung,  wenn  bei  Eröffnung 
der  Schädelkapsel  Verletzungen  der  Hirnrinde  vermieden  werden  sollen. 
Die  Möglichkeit,  dass  die  mit  dem  Durchkneifeu  des  Knochens  noth- 
wendig  verknüpften  Erschütterungen,  sowie  etwaiger  Druck  der  Knochen- 
zange Innervatiousstörungen  hervorbringen  können,  ist  bei  der  grossen 
Vulnerabilität  des  Thieres  nicht  auszuschliessen.  Aus  den  angeführten 
Gründen  ist  auf  nervöse  Reiz-  und  Lähmungserscheinungeu,  welche  in 
Folge  der  Freilegung  der  Hirnoberfläche  auftreten,  nur  bedingungsweise 
etwas  zu  geben. 

Ferrier*)  führt  eiuen  (1  !)  Versuch  an  einem  Meerschweinchen 
an,  dem  in  der  Chloroform-Narkose  die  linke  Schädelhälfte  freigelegt 
war.  Dieses  Thier  krümmte  sich  nach  dem  Erwachen  so  nach  rechts, 
dass  die  rechte  Seite  des  Kopfes  den  Schwanz  berührte.  Ferrier  schloss 
aus  diesem  eineu  Versuche:  „dass  die  durch  die  Freilegung  der 
Hemisphäre  hervorgebrachte  vitale  Reizung  auf  die  Muskeln 
der  entgegengesetzten  Körperhälfte  durch  das  Corp.  striat. 
hindurchwirkend  tetanischen  Krampf  und  Pleurothotonus 
hervorgebracht  hätte." 

Ich  brauche  nicht  zu  sagen,  dass  ein  solcher  Versuch  überhaupt 
nichts  beweist,    am  wenigsten  aber  dann,    wenn  das  Versuchsobject  ein 


^)  Ferrier,  A.  a.  0.  S.  34f. 

10* 


—     148     — 

Meerschweinchen  war.  Es  wäre  aber  möglich,  dass  der  Versuch  zu- 
fällig fehlerfrei  gewesen  v/äre,  und  dann  war  der  Nachweis  der  Erreg- 
barkeit des  Hirns  durch  den  Luftreiz  so  wichtig,  dass  die  Angabe  Fer- 
rier's  allerdings  eine  Prüfung  erforderte.  Ausserdem  hatte  .  ich  selbst 
bereits  im  Jahre  1870  einige  Beobachtungen  gemacht,  welche  zu  dem 
Glauben  an  eine  durch  Muskelcontractionen  in  die  Erscheinung  tretende 
Wirkung  der  Luft  auf  die  Hirnrinde  hätten  verleiten  können.  Bei  einem 
Versuche  ^erieth  nämlich  eine  als  Index  in  den  Glaskörper  gesteckte 
Nadel  in  zitternde  Bewegungen,  nachdem  die  Pia  freigelegt  war.  Bei 
einer  Anzahl  von  fernereu  Versuchen  am  Kaninchen  trat  Nystagmus 
ein,  sobald  ich  die  Schädeldecke  des  kleinen  Gehirns  abgetragen  hatte. 
Die  erstangeführte  Beobachtung  Hess  sich  aber  nicht  reproduciren;  auf 
die  letzteren  kommen  wir -an  einem  anderen  Orte  zurück. 

Immerhin  musste  in  Rechnung  gezogen  werden,  dass  der  Luftreiz 
nicht  direct  auf  die  Hirnsubstanz,  sondei'n  znnächst  auf  die,  mindestens 
bei  grösseren  Thiereu  ziemlich  dicke  Pia  einwirkt.  Bei  Meerschwein- 
chen freilich  ist  die  Pia  sehr  zart,  und  vielleicht  machte  dieser  Um- 
stand gerade  dieses  Thier  trotz  seiner  vorhin  angeführten  Eigenschaften, 
zu  einem  besonders  günstigen  Versuchsobjecte.  Ich  stellte  deswegen 
acht  Versuche  an  Meerschweinchen  an,  denen  in  der  Aether-Narkose  die 
linke  Hirnhälfte  freigelegt  war. 

Versuch  I.  2  Uhr  Beginn  der  Aether-Narkose.  Vor  Beginn  der  Ope- 
ration, während  das  Thier  schon  ziemlich  betäubt  ist,  plötzlich  Kratzbewegung 
mit  der  rechten  Hinterpfote  nach  der  rechten  Gesichtshälfte  und  epileptiformer 
Anfall.  Der  Anfall  wiederholt  sich  während  der  Operation  sehr  häufig,  und 
zM'ar  bald  einmal  linksseitig,  bald  einmal  rechtsseitig  beginnend.  In  der  ab- 
soluten Narkose  keine  Anfälle.  Operation  beendigt  2  Uhr  15  Min.  Die  Rinde 
zeigt  viele  oberflächliche  Verletzungen. 

2  Uhr  15  Min.  bis  2  Uhr  20  Min.  Thier  vollständig  erwacht,  hat  wohl- 
charakterisirte  Anfälle  von  Opisthotonus,  bei  denen  der  Kopf  genau  in  der 
Mittellinie  bleibt. 

.  2  Uhr  25  Min.  bis  30  Min.  3  bis  4  kurzdauernde  Anfälle  von  rechtsseiti- 
gem Pleurothotonus.  Darauf  sitzt  das  Thier  mit  dem  Kopf  in  der  Mittellinie 
still  da  und  hat  alle  2  bis  3  Sek.  einen  Frostschauder, 

Versuch  II.  2  Uhr  8  Min.  Operation  beendigt.  Mehrfache  Verletzung 
der  liinde  im  hinteren  und  mittleren  Theil. 

2  Uhr  12  Min.  Thier  liegt  auf  dem  Bauche,  das  linke  Ohr  nach  unten, 
das  rechte  nach  oben.  2  Uhr  15  Min.  Anfall  von  Opisthotonus  von  3  Sek. 
Dauer.  Nachher  versucht  es  sich  aufzurichten  und  zu  gehen  und 
dreht  sich  dabei  stets  nach  rechts.  Die  rechte  Vorderpfote  wird 
nämlich  nicht  mitbewegt,  derart,  dass  sie  bei  dem  ersten  Geh- 
versuche unter  die  linke  Pfote  geräth.   Bei  diesen  der  Manege  ähnlichen 


—     149     — 

Bewegungen  nUIt  das  Tliior  vom  Tische  und  bekommt  sofort  einen  .'5  Minuten 
dauernden  epiieptil'ormen  Anfall,  der  mit  rechtsseitigen  Körperbewegungen  und 
Nystagmus  beginnt,  in  Opisthotonus  übergeht  und  mit  Emprosthotonus  endigt; 
kein  PleuroLhotonus.  Nachdem  das  Hirn  in  der  Aethor-Narlcose  noch  etwas 
weiter  freigelegt  ,  war,  neues  Manegelaufen  unter  densell)en  Erscheinungen, 
wobei  das  Thier  immer  etwas  nach  rechts  liinübersinkt. 

2  Uhr  55  Min.  Scarificirung  der  Rinde,  Blutung  sehr  gering;  liegt  etwa 
2  Minuten  lang  auf  der  rechten  Seite.  Sitzt  dann  in  der  Mittelstellung.  Man 
kann  das  rechte  Vorderbein  in  beliebige  Stellungen  bringen, 
ohne  dass  es  zurückgezogen  wird.  Die  übrigen  drei  Extremitäten  wer- 
den zurückgezogen. 

Versuch  III.  1  Uhr  19  Min.  Operation  beendigt.  Das  Gehirn  nicht 
verletzt,  jedoch  mit  dem  Schwamm  ein  grosses  Stück  Pia  an  dem  medialen 
und  vorderen  Theile  obeiflachlich  abgestreift. 

1  Uhr  20  Min.  Thier  noch  nicht  ganz  zu  sich  gekommen,  dreht  sich  plötz- 
lich nach  rechts,  unmittelbar  darauf  ein  mehrere  Minuten  dauernder  Anfall  von 
tonischenOpisthotonus-Bewegungen,  darauf  ein  Anfall  von  klonischem Trismus, 
alsdann  einige  Emprosthotonus-Bewegungen,  endlich  klonische  Krämpfe  in  den 
verschiedensten  Muskelgruppirungen,  unter  anderen  auch  (1  Uhr  27  Min.)  ein 
Anfall,  während  dessen  das  Thier  eine  halbe  Minute  lang  mit  der  linken 
Seite  der  Schnauze  die  linke  Hinterbacke  berührt. 

1  Uhr  30  Min.  bis  1  Uhr  45  Min.  Frostsohauder:  Manegebewegungen 
nach  rechts;  der  Körper  etwas  nach  rechts  geneigt;  das  rechte 
Kniegelenk  h  öher  als  das  linke;  das  rechte  Hinterbein  mehr  ab- 
ducirt,  das  rechte  Vorderbein  geräth  wie  bei  Versuch  II  unter 
das  linke.  Wenn  das  Thier  still  sitzt,  bildet  Kopf  und  Rumpf 
eine  gerade  Linie;  wird  es  zum  Gehen  gereizt,  so  wendet  es  sich 
nach  rechts.    Reaction  auf  passive  Bewegungen  nicht  notirt. 

Versuch  IV.  3  Uhr  25  Min.  Operation  beendigt;  Pia  an  einer  ganz 
kleinen  Stelle  ganz  vorn  verletzt. 

3  Uhr  29  Min.  Thier  noch  nicht  ganz  erwacht,  dreht  das  linke  Ohr 
nach  unten. 

3  Uhr  33  Min.  Thier  noch  nicht  ganz  erwacht,  dreht  den  Kopf  einmal 
kurz  nach  hinten. 

3  Uhr  35  Min.  Frostschauder,  sich  später  in  kurzen  Pausen  wieder- 
holend. 

3  Uhr  42  Min.  Dreht  den  Kopf  schraubenförmig  so  nach  links,  dass  der 
Scheitel  auf  den  Tisch  kommt. 

3  Uhr  45  Min.  Hat  sich  nun  soweit  herumgedreht,  dass  es  auf  den 
Rücken  fällt,  während  die  rechte  Seite  der  Schnauze  einen  Augenblick  die 
rechte  Hinterbacke  berührt.  Dann  sitzt  es  gerade,  nur  die  linke  Seite  des 
Kopfes  etwas  herabhängend. 

6  Uhr.    Das  Thier  hat  bisher  ganz  still  den  Kopf  in  der  Mittellinie  hal- 


—     150     — 

tend   gesessen.      An   der  verletzten  Stelle   ein  steclmadelkopfgrosses  und  vier 
punktförmige  Extravasate. 

Versuch  V.  1  Uhr  15  Min.  Operation  beendigt.  Minimale  Verletzung 
der  Pia  im  vorderen  Viertel. 

1  Uhr  16  Min.  Thier  bereits  erwacht,  dreht  sich  plötzlich  so  nach  rechts 
herüber,  dass  die  rechte  Kopfhälfte  den  rechten  Oberschenkel  berührt,  lässt 
sich  leicht  in  die  Mittelstellung  zurückbringen,  dreht  aber  losgelassen  den 
Kopf  sofort  wieder  nach  rechts.  Die  bogenförmige  Krümmung  des 
Körpers  wird  dadurch  hervorgebracht,  dass  das  rechte  Vorder- 
bein sofort  unter  das  linke  geräth,  und  die  beiden  hinteren  Ex- 
tremitäten nicht  mit  bewegt  werden. 

1  Uhr  20  Min.  Thier  verharrt  in  der  Mittellage,  Frostschauder.  Rechte 
Vorderextremität  kann  in  beliebige  Stellungen  gebracht  werden.  Dasselbe 
Verhalten  an  der  hinteren  Extremität  undeutlich. 

1  Uhr  25  Min.    Abstreifen  der  Pia  mit  dem  Schwamm. 

1  Uhr  45  Min.    Mehrere  epileptiforme  Anfälle. 

Versuch  VI.  Während  des  Hautschnittes  dreht  sich  das  Thier 
so  nach  rechts,  dass  der  Scheitel  den  Tisch  berührt.  Gleich  dar- 
auf Kratzbewegung  und  epileptiformer  Anfall. 

2  Uhr.  Operation  beendigt.  Keine  Verletzung  des  Hirns.  Muskelbewusst- 
sein  in  der  rechten  Vorderextremität  im  höchsten  Grade,  in  der  rechten  Hinter- 
extremität  undeutlich  gestört,  hat  eine  Neigung  nach  rechts  hinüber  zu  sinken. 
Frostschauder.  Lässt  sich  auf  beide  Seiten  legen,  ohne  sich  aufzurichten;  sitzt 
im  Uebrigen  still  da,  den  Kopf  in  der  Mittellinie. 

2  Uhr  20  Min.  Abwischen  der  Pia  unter  Geschrei,  nachher  Manegebewe- 
gungen nach  rechts  in  der  mehr  beschriebenen  Weise. 

Versuch  VlI.  1  Uhr  45  Min.  Operation  beendigt.  Keine  Verletzung  der 
Pia.  Störung  des  Muskelbewusstseins  in  beiden  rechten  Extremitäten  schnell 
undeutlich  werdend,  aber  nachweisbar. 

Keine  abnormen  Bewegungen  oder  Körperstellungen. 

2  Uhr  5  Min.  Muskelbewusstsein  wieder  vorhanden:  Abwischen  der  Pia: 
Muskelbewusstsein  gänzlich  verloren. 

Versuch  VHI.  Chloroform-Narkose.  Nachdem  die  linke  Schädelhälfte 
freigelegt  war,  aber  vor  ihrer  Verletzung,  wurde  das  Thier  losgebunden  und 
abgewartet,  bis  es  erwacht  war.  Sobald  es  anfing  zu  erwachen,  drehte  es  den 
Kopf  so  nach  links,  dass  der  Scheitel  auf  den  Tisch  kam,  darauf 
suchte  es  nach  rechts  zu  entweichen,  wobei  die  Hinterbeine  wie  in  frü- 
heren Versuchen  regungslos  blieben,  das  rechte  Vorderbein  aber  nichts 
Abnormes  zeigte.  Neue  Narkose,  Eröffnung  der  Schädelhöhle  mit  Schonung 
der  Dura.  Entfernung  der  Dura  ohne  Verletzung  der  Pia.  Das  zu  sich  gekom- 
mene Thier  sitzt  eine  Zeit  lang  in  der  Mittelstellung  still,  alsdann  wendet  es 
den  Kopf  nach  links  und  sucht  nach  links  zu  entweichen,  was  wegen  der 
Immobilität  der  Hinterbeine  zu  einer  bogenförmigen  Krümmung  nach 


—     151     — 

links  führt,  ohne  dass  das  linke  Vorderbein  unter  das  recJito  geriethc;  sitzt 
dann  lange  in  der  Mittelstellung.  Keine  deutliche  Störung  des  Muskelbowusst- 
seins,  doch  ist  die  rechte  Vorderpfote  etwas  mehr  supinirt,  mehr  mit  der  Planta 
aufgesetzt,  auch  die  Zehen  mehr  gespreizt.  Eine  halbe  Stunde  nach  Eröffnung 
der  Schädelhöhle  die  mehri'ach  er\¥ähntcn  Schüttelfröste.  Eine  halbe  Stunde 
später  Abwischen  der  Pia  des  Vorderhirns  mit  den:i  Schwamm.  Sofort  äusserste 
Störung  des  Muskelbewusstseins  der  rechten  Vorderpfote. 


Bei  den  acht  soeben  referirten  Versuchen  bilden  allerdings  Krämpfe 
den  am  meisten  iu's  Auge  fallenden  Tlieil  der  Erscheinungen.  Fragen 
wir  indessen,  ob  dieselben  auf  eine  Reizung  der  Hirnrinde  durch  die 
Luft  bezogen  werden  dürfen,  so  muss  die  Antwort  entschieden  verneinend 
ausfallen. 

Vor  Allem  muss  der  Umstand,  dass  mehrere  der  Versuchsthiere  all- 
gemeine oder  mehr  localisirte  Krampfanfälle  bekamen,  bevor  der  Schädel 
oder  selbst  die  Haut  verletzt  war,  zur  grössten  Vorsicht  in  der  Deutung 
mahnen.  Unter  solchen  Umständen  gewinnen  sonst  tadellose  Versuche 
mit  negativem  Resultat  doppelt  an  Gewicht.  -Wir  sahen,  dass  mehrere 
Versuchsthiere  entweder  überhaupt  keine  Erscheinungen  von  abnorm 
starker  Innervation  zeigten  oder  dass  diese  lediglich  in  gewissen  Be- 
wegungsstörungen bestanden,  welche  auch  ohne  Eröffnung  der  Schädel- 
höhle auftraten  (Rotation  des  Kopfes),  oder  dass  eine  Art  von  Manege- 
Bewegung  eintrat,  über  deren  Mechanismus  wir  noch  zu  reden  haben 
werden. 

Wenn  nun  auch  ohne  Weiteres  einleuchtet,  dass  bei  einer  Anzahl 
der  Versuchsthiere  Krampferscheinungen  unabhängig  von  der  Freilegnng 
des  Gehirns  eintraten,  so  muss  doch  auf  der  anderen  Seite  zugestanden 
werden,  dass  durch  die  Operation  Krämpfe  und  andere  Anomalien  der 
Muskelinnervation  hervorgebracht  wurden.  Was  zunächst  die  Krämpfe 
angeht,  so  sehen  wir  aber,  dass  dieselben  keineswegs  immer  oder  be- 
sonders häufig  in  rechtsseitigem  Pleurothotonus  bestanden,  obwohl  eine 
bogenförmige  Krümmung  als  Resultat  von  Gehversuchen  in  der  Regel 
beobachtet  wurde.  Wir  sehen  im  Gegentheil,  dass  allgemeine  lang- 
dauernde, epileptiforme  Krämpfe,  Opisthotonus,  Emprosthotonus,  partielle 
Krämpfe  abwechseln,  eigentlicher  Pleurothotonus  hingegen,  d.  h.  eine 
krampfhafte  bogenförmige  Drehung,  in  welche  das  Thier  nach  passiver 
Aenderung  seiner  Stellung  zurückschnellt,  nicht  vorkommt.  Wir  sehen 
ferner,  dass  alle  diese  krampfhaften  Erscheinungen  überhaupt  aus- 
bleiben können  oder  dort,  wo  sie  nicht  als  unabhängig  von  der 
Operation  betrachtet  werden  mussten,  mit  mehr  weniger  erheblichen 
Quetschungen  des  Gehirns  durch  die  Zange  verknüpft  waren. 


—     152     — 

Wenn  wir  nun  dazu  berücksichtigen,  dass,  wie  Westphal  gezeigt 
hat,  ein  eiufaclier  Schlag  auf  den  Kopf  genügt,  um  Meerschweinchen 
epileptisch  zu  machen,  dass  in  anderen  Fällen  Sturz  von  dem  Tische, 
vielleicht  auch  die  Respiration  der  Narkotica  zur  Erzeugung  epilepti- 
former  Anfälle  bei  diesem  Thiere  ausreicht,  so  dürfen  wir  auf  Grund 
der  angeführten  Thatsachen  mit  Bestimmtheit  annehmen,  dass  die  nach 
Entblössung  der  Hirufläche  eintretenden  Krämijfe,  insoweit  es  überhaupt 
Krämpfe  sind,  mit  der  Entblössung  nicht  das  Mindeste  zu  thiui  haben, 
sondern  theils  das  Resultat  von  Nebenverletzungen,  theils  accidenteller 
Natur  sind.  Als  solche  Nebenverletzungen  sind  zu  betrachten  Druck 
und  selbst  oberflächliche  Zertrümmerung  des  Gehirns  durch  die  Zange, 
dann  aber  besonders  auch  Zerrungen  an  der  Dura,  wenn  dieselbe  von 
der  Zange  mitgefasst  wurde.  Diese  Zerrung  kann  ja  natürlich  auf  sehr 
entfernt  gelegene  Hirntheile  wirken,  und  wird  es  nach  Lage  der  Sache 
wahrscheinlicher  Weise  auch  gethan  haben. 

Das  andere  bei  diesen  Versuchen  hauptsächlich  in's  Auge  fallende 
Symptom  war  die  von  den  Thieren  in  der  Richtung  nach  rechts  aus- 
geführte Manege-Bewegung,  welche  nicht  selten  mit  einer  bogenförmigen 
Krümmung  endigte,  so  dass  die  rechte  Seite  der  Schnauze  die  rechte 
Hinterbacke  berührte.  Diese  Stellung  des  Thieres  ist  eigentlich  das 
Wesentliche  ,des  von  Ferrier  Beobachteten  und  von  ihm  irrthümlich 
als  Pleurothotonus  gedeutet.  Es  geht  aus  den  voranstehenden  Versuchen 
mit  aller  wünschenswerthen  Sicherheit  hervor,  ^dass  diese  Erscheinung 
überhaupt  kein  Reizungs-,  sondern  ein  Lähmungssymptom,  und  übrigens 
unabhängig  von  der  Entblössung  der  Pia,  aber  abhängig  von  deren 
Verletzung  oder  von  der  Quetschung  der  Hirnsubstauz  ist.  Denn  die 
Thiere,  welche  die  gedachte  Stellung  einnehmen,  setzen  der  Reduction 
des  Körpers  in  die  Mittelstellung  entweder  keinen  oder  nur  geringen 
Widerstand  entgegen  und  sie  verharren  kürzere  oder  längere  Zeit,  sogar 
stundenlang  in  dieser  ihnen  natürlichen  Haltung.  Reizt  mau  sie  aber 
zu  Gehbewegungen,  dann  drehen  sie  sich  wieder  nach  rechts.  Diese 
sämmtlichen  Manegebewegungen  erklären  sich  aus  den  einzelnen  Mo- 
menten der  Vivisectionen  in  der  einfachsten  Weise.  Die  Thiere  haben 
in  Folge  der  ihnen  zugefügten  Hirnquetschung  oder  in  Folge 
des  Abstreifens  der  Pia  das  Muskelbewusstsein  ihrer  rechten 
Vorderextremität  verloren.  Man  kann  dieselbe  in  beliebige 
Stellungen  bringen,  ohne  dass  das  Meerschweinchen  sich  dagegen  wehrt 
oder  nach  Entfernung  der  Hand  diese  Stellung  ändert.  Dabei  ist  die 
Sensibilität  intact  und  willkürliche  Bewegungen  können  ausgeführt  wer- 
den, wie  sich  sofort  zeigt,  wenn  man  das  Tliier  z.  B.  auf  den  Rücken 
legt.     Will    es    aber    gehen,    so    tritt   in  Folge  des  von    links  her  ein- 


—     153     — 

wirkenden  Reizes  der  Operationswunde  zunüclist  überhaupt  eine  Ten- 
denz zur  Bewegung  nach  rechts  ein,  gelegentlich  entweicht  ein  Thier 
aber  auch  einmal  uacli  linl<s.  Bei  derselben  geräth  nun  wegen  der 
mangelhaften  Innervation  der  rechten  Vorderextremität  dieses  Glied 
unter  die  gleichnamige  linke  Extremität.  Dies  geschieht  manchmal  so 
stark,  dass  das  rechte  Beinchen  auf  der  Aussenseite  des  linken  ganz 
und  gar  hervorsieht. 

Nach  der  früher  von  Schiff  gelegentlich  seiner  Versuche  über 
Durcbschneidung  des  Hirnschenkels  aufgestellten  Erklärung  würde  nun 
dieses  Verhältniss  zu  der  einfachen  Manege-Bewegung  führen.  Indessen 
kommt  es  hierzu  keineswegs  immer,  sondern  viel  häufiger  zu  der  be- 
schriebenen bogenförmigen  Krümmung  wegen  der  eigenthümlichen  Im- 
mobilität, in  der  die  Hinterbeine  verharren.  Auch  dieses  Symptom  ist, 
wie  aus  den  angeführten  Versuchen,  insbesondere  auch  aus  dem  letzten 
derselben  ei'hellt,  als  lediglich  accidenteller  Natur  aufzufassen.  Denn 
in  diesen  wie  auch  in  früheren  Fällen  w'ar  die  Motilität  der  Hinterbeine 
gestört,  ehe  überhaupt  etwas  mit  dem  Schädel  des  Thieres  geschehen 
war.  Die  fragliche  Motilitätsstörung  dürfte  also  wohl  einfach  als  Effect 
der  ümschnürung  der  Beine  und  ihrer  Zerrung  aufzufassen  sein. 

Wir  kommen  also  zu  dem  Endresultate,  dass  die  Annahme 
Ferrier's,  nach  welcher  der  auf  die  Hemisphäre  (die  Pia) 
wirkende  Luftreiz  die  Muskeln  der  entgegengesetzten  Seite 
zur  Contraction  anrege,  irrig  sei;  dass  die  von  ihm  in  seinem 
einzigen  Versuche  beobachtete  bogenförmige  Drehung  des  Körpers  nicht 
als  eine  Reizungs-,  sondern  als  eine  Lähmungserscheinung 
aufzufassen  ist;  endlich,  dass  durch  grobe  Verletzungen  des  Gehirns 
allerdings  Krämpfe  hervorgebracht  werden  können,  ohne  dass  diese  je- 
doch immer  oder  vorwiegend  einen  halbseitigen  Charakter  hätten,  oder 
sich  überhaupt  auf  das  Grosshirn  localisiren  Hessen. 


C.    Die  Schlüsse  Ferrier's. 

Ehe  wir  zu  der  Beleuchtung  der  von  Ferrier  gezogenen  Schluss- 
folgerungen übergehen,  müssen  wir  noch  einen  Augenblick  bei  der 
Art  verweilen,  wie  er  ganz  systematisch  die  Reizeffecte  der  einzelnen 
Versuche  zusammenstellt,  tun  sie  nachher  für  seine  Schlüsse  zu  be- 
nutzen. Charakteristisch  für  die  von  ihm  hierbei  benutzte  Strenge  der 
Kritik  ist  das  Eingangs  angeführte  Beispiel,  welches  von  dem  Nach- 
weise symmetrischer  Anordnung  im  Hundehirn  handelt.  Traten  einmal 
Reizeffecte  auf,  welche  ein  anderes  Mal  ausgeblieben  waren  (wenn  unser 


—     154     — 

Forscher  nämlicli  überhaupt  eine  Wiederholung  für  nöthig  hielt),  so 
heisst  es  „tlie  present  results  are  more  definite",  das  Thier  war  bei 
dem  ersten  Versuche  zu  aufgeregt  oder  zu  erschöpft.  Damit  ist  dann 
die  Sache  zum  ferneren  Schlüsse  reif,  die  Annahme  genügt,  der  Beweis 
durch  neue  Versuche  würde  zu  Weit  führen. 

Auf  derselben  Gleichgültigkeit  gegen  die  sichere  Begründung  durch 
Thatsachen  beruht  es,  wenn  Ferrier  einen  auch  bei  ihm  stets  reac- 
tionslosen  Punkt  unter  Beifügung  des  Wortes  „wahrscheinlich"  mit  einer 
bestimmten  Function  ausstattet,  so  dass  die  ganze  Frage  plötzlich  eine 
andere  Färbung  erhält. 

Nachdem  in  der  beschriebenen  Weise  die  einzelnen  Bezirke  fast  der 
ganzen  Oberfläche  des  Grosshirns  der  verschiedenen  Tiiiere  mit  be- 
stimmten Functionen  ausgestattet  sind,  werden  die  einzelnen  Thiere  mit 
Bezug  auf  diese  Bezirke  unter  einander  verglichen.  Hierzu  dient  ein 
für  alle  Mal  die  Formel:  „Vergleiche  Punkt  a,  &,  c  bei  der  Katze  mit 
Punkt  d,  e,  f  etc.  beim  Hunde."  Wenn  man  nun  dieser  Aufforderung 
folgt,  so  findet  man,  dass  die  Vergleichung  mit  Rücksicht  auf  die  ana- 
tomische Lage  häufig  ganz  unmöglich  ist.  Es  ereignet  sich  sogar,  dass 
Punkte  vor  der  Syl vischen  Grube,  mit  einem  solchen  hinter  dieser 
wichtigsten  Greuzmarke  ohne  jede  Bemerkung  zusammengeworfen  werden, 
und  damit  scheint  für  den,  jener  Aufzählung  nicht  Punkt  für  Punkt 
folgenden  Leser  freilich  alles  in  der  vollkommensten  Harmonie.  — 

Auf  Grund  der  so  gewonnenen  Daten  entsteht  nun  folgender  Schluss. 
„Schlagende  und  mit  den  Gewohnheiten  der  Thiere  correspondirende 
Unterschiede  finden  sich  in  der  Differenzirung  der  Centren.  So  sind 
die  Centren  für  den  Schwanz  beim  Hunde,  die  Vorderpfote  bei  der 
Katze,  für  Lippen  und  Mund  beim  Kaninchen  höchlichst  differenzirt  und 
ausgesprochen*).  Diese  Differenzirung  soll  nun  in  grösserer  Ausdehnung 
und  Zahl  der  Flächen  bestehen,  welche  gleichartige  Bewegungen  ver- 
mitteln. So  muss  der  Schwanz,  mit  dem  er  viel  wedelt,  beim  Hunde, 
die  Vorderpfote,  mit  der  sie  Ball  schlägt,  bei  der  Katze,  die  Fressw'erk- 
zeuge,  welche  es  mehr  als  andere  Thiere  gebraucht,  beim  Kaninchen  im 
Gehirn  besonders  entwickelte  Centralapparate  besitzen.  Wie  es  scheint, 
ist  nicht  nur  von  Ferrier,  sondern  auch  von  anderer  Seite  auf  diesen 
Schluss  besondere  Wichtigkeit  gelegt  worden.  Ich  will  dennoch  dem 
Leser  mit  Allem,  was  sich  gegen  denselben  anführen  Hesse,  nicht  lästig 
fallen  und  nur  zwei  Momente  hervorheben.  Das  eine  besteht  darin, 
dass  ein  solcher  Schluss  nur  dann  begründet  sein  könnte,  wenn  es  ge- 
länge die  Reizeffecte  der  Leitungsbahnen  auszuschliessen  oder  als  solche 


Ferrier,  A.  a.  0.  S.  94  und  anderwärts. 


—     155     — 

zu  erkennen.  An  deren  Existenz  scheint  Ferrier  aber  gar  nicht  ge- 
dacht zuhaben,  und  seine  Versuche  sind  zur  Erreichung  dieses  Zweckes 
gerade  am  Wenigsten  geeignet. 

Der  andere  Punkt  ist,  dass  Ferrier  ganz  wiiikürliclie  und  niclit 
einmal  äusserlich  gerechtfertigte  Schlüsse  aus  jenen  Reizeffecten  gezogen 
hat.  Ich  will  mich  auch  hier  auf  andere  Details  nicht  einlassen  und 
bemerke  nur,  dass,  wenn  ich  einmal  einen  solchen  Schhiss  ziehen  wollte, 
ich  auf  Grund  der  Angaben  Ferrier's  das  Verdrehen  des  Kopfes  als 
hauptsächlichste  Gewohnheit  der  Katze,  und  die  Mimik  als  vorwiegende 
Eigenschaft  des  Hundes  betrachten  würde.  — 

Seine  Versuche  über  symmetrische  Anordnung  der  Centren  führt 
Ferrier  an,  um  damit  einen  Boden  für  eine  nicht  ganz  neue  Theorie 
der  Aphasie  zu  gewinnen.  Auch  hier  ist  die  Voraussetzung,  von  der  er 
ausgeht,  irrthümlich.  Es  hat  Niemand  bezweifelt,  dass  die  motorischen 
Centreu  im  Gehirn  bilateral-symmetrisch  angeordnet  seien,  Niemand 
hat  wegen  des  eigeuthümlichen  Zusammentreffens  der  Aphasie  mit  links- 
seitiger Rindenerkrankung  angenommen,  dass  etwa  in  der  dritten 
Stirnwindung  der  rechten  Seite  irgend  welche  motorische  Organe 
ihren  Sitz  hätten,  welche  linkerseits  fehlten  und  von  Magazinen  für 
Wortbilder  ersetzt  seien.  Nimmermehr  kann  durch  den  bereits  von  uns 
getührten  Nachweis  symmetrischer  Anordnung  der  motorischen  Centren 
etwas  direct  für  Symmetrie  sämmtlicher  Organe  in  functioneller  Be- 
ziehung Sprechendes  abgeleitet  werden.  Wahrscheinlich  ist  die 
durchgreifendste  Symmetrie  allerdings  aus  tausend  anderen  Gründen 
von  jeher  gewesen,  aber  gewisser  scheint  sie  mir  durch  die  fraglichen 
Untersuchungsraethoden  überhaupt  nicht  werden  zu  können. 

Die  nach  häufigerer  Reizung  der'  gleichen  Hirnstellen  entstehenden 
Nachbewegungen  setzt  Ferrier  unbedenklich  in  eine  Linie  mit  der 
Chorea  und  erklärt  diese  für  derselben  Natur,  wie  die  Epilepsie,  weil 
sich  aus  den  Nachbewegungeu  epileptiforme  Anfälle  herausbilden  können. 
Er  übersieht  nur,  dass  diese  choreaähnlichen  Nachbewegungen  ohne 
jeden  willkürlichen  Bewegungsirapuls  und  durchaus  nicht  unter  der 
Form  abnormer  Mitbewegungen  eintreten.  üeberhaupt  lassen  sich  ja 
die  fraglichen  Thatsachen  nicht  ohne  Weiteres  vergleichen.  Wohin 
sollte  es  führen,  wenn  jede  oberflächliche  Aehnlichkeit  das  Recht  zu  so 
weittragenden  Schlüssen  gäbe! 

Kurz  Ferrier  hat  diese  Versuche,  welche  mit  einem  Schlage  die 
Geheimnisse  aller  einzelnen  Hirnprovinzen  entschleiern  sollten,  dazu 
benutzt,  noch  neben  jenen  Folgerungen  für  die  Physiologie  die  weit- 
gehendsten Schlüsse  auf  viele  Gebiete  der  Nervenpathologie  zu  ziehen. 
Wir  waren  damals  von    dem    entgegengesetzten  Principe    ausgegangen, 


—     156     — 

von  der  Üeberzeugung,  dass  die  Schlüsse  sich  leicht  finden,  wenn  nnr 
die  Tiiatsachen  wohl  unterstützt  sind.  Der  Leser  wird  zu  entscheiden 
haben,  durch  welches  Verfahren  die  Sache  mehr  gefördert  wird.  Die 
Resultate  seiner  bisherigen  Untersuchungen  werden  wohl  kaum  an  vielen 
Stellen  den  Wunsch  wachrufen,  dass  Ferrier's  Ingenium  noch  einmal 
unserem  mangelhaften  Verständnisse  zu  Hilfe  komme. 

Ferrier  hat.  um  es  mit  einem  Worte  zu  recapituliren 
nach  einer  allen  Einwürfen  ausgesetzten  Methode  und  in 
ganz  oberflächlicher  Weise  constatirt,  dass  durch  starke 
elektrische  Ströme  von  den  vorderen  und  basalen  Hirn- 
partieen  des  Hundes  und  der  Katze  aus  Fressbewegungen 
hervorzubringen  sind.  Darin  besteht  sein  Verdienst.  Auf 
der  anderen  Seite  hat  er  nicht  einmal  die  von  uns  ange- 
gebenen Reizpunkte  mit  Sicherheit  wiedergefunden;  er  hat 
eine  Menge  von  Angaben  gemacht,  welche  inconstante  oder 
auf  fehlerhafte  Methoden  zurückzuführende  Reizeffecte  be- 
treffen; er  hat  endlich  sein  Werk  ohne  Nameunennung  mit 
Entdeckungen  geschmückt,  die  nicht  ihm,  sondern  uns  an- 
gehörten. 


Bevor  und  während  ich  diese  controlirenden  Versuche  unternahm, 
habe  ich  mich  oft  genug  gefragt,  ob  es  sich  der  Mühe  und  des  unver- 
meidlichen Odiums  lohne,  so  viel  Arbeit  auf  die  Widerlegung  von  Unter- 
suchungen zu  verwenden,  welche  gänzlich  ohne  die  nothwendige  physi- 
kalische Vorbildung,  ohne  Selbstkritik,  ohne  Berücksichtigung  fremder, 
nicht  angefochtener  Angaben  angestellt  wurden;  welche  jede  Einzelne 
den  Charakter  einer  vorläufigen  Mittheilung  über  einen,  bereits  ander- 
weitig ausführlich  bearbeiteten  Gegenstand  trägt.  Ich  war  von  jeher 
der  Ansicht,  dass  die  productive  Thätigkeit  der  rein  kritischen,  zumal 
der  polemischen  unendlich  vorzuziehen  sei,  und  habe  nach  dieser  An- 
sicht gehandelt.  Gerade  in  dieser  Zeit  aber  war  mein  Interesse  durch 
die  Verfolgung    eigener  Ideen  anderweitig  auf  das  Möglichste  gefesselt. 

Unter  diesen  Umständen  war  mir  die  vorliegende  Arbeit  ein  grosses 
Opfer;  ein  Opfer,  zu  dem  mich  nur  die  Wichtigkeit  der  angeregten 
Fragen  und  der  Antheil,  welchen  ich  an  ihrer  ersten  Entstehung  habe, 
veranlassen  konnte.  Dennoch  hätte  ich  die  Discussion  gern  Anderen 
überlassen,  wenn  nicht  die  einer  besseren  Sache  würdige  Geschicklich- 
keit, mit  der  die  Entdeckungen  Ferrier's  auf  alle  Weise  in  Scene  ge- 
setzt wurden,  zur  Eile  mahnte. 

Wenige  Wochen    nach    dem    Auftreten    dieses   Forschers    begannen 


—     157     — 

seine  Irrtliümei-  bereits  in  den  Werken  anderer  Autoren  eine  Holle  zu 
spielen.  Wissenschat'tliclie  und  politisclie  Zeitungen  verkündeten  den 
Beginn  einer  neuen  Aera  für  die  Nervenpathologie.  Kaum  der  Name 
von  Sir  Charles  Bell  schien  glänzend  genug,  um  neben  dem  Ferrier's 
genannt  zu  werden.  So  erhielten  diese  Publicationen  eine  bedenkliche 
Wichtigkeit.  Aber  schlimmer  als  dies,  die  Gefahr  liegt  aller  Analogie 
nach  zu  nahe,  dass  seine  Untersuchungen  einfach  als  Maassstab  für  die 
ünsrigen  benutzt  werden.  Spricht  doch  die  englische  Literatur  sogar 
überall  von  wesentlichen  Verbesserungen,  die  Ferrier  der 
Methode  gegeben  habe.  Damit  würde  aber  wegen  jener  offenkundigen 
Fehler  Alles  von  uns  mühsam  und,  wie  ich  denke,  zur  Förderung  der 
Sache  Erreichte  vor  der  Hand  gänzlich  in  Frage  gestellt  und  der  Polemik 
das  weiteste  Feld  eröffnet  sein. 

Ich  hofte,  dass  diese  Arbeit  noch  zeitig  genug  erscheint,  um  dem 
einen  Damm  zu  setzen.  Jedenfalls  muss  ich  erklären,  dass  wenn  ich 
auch  einmal  zur  detaillirten  Widerlegung  von  Behauptungen  geschritten 
bin,  die  sich  schon  durch  die  angewendete  Methode  richten,  ich  mich 
dieser  Mühe  ein  zweites  Mal  nicht  unterziehen  werde.  — 

Die  Herren  Drr.  Ullrich,  derzeit  Assistent  an  der  psychiatrischen 
Klinik  in  Erlangen,  und  Veit  jun.  in  Berlin  verpflichteten  mich  durch 
ihre  bei  diesen  Versuchen  geleistete  Hülfe  zu  grossem  Danke. 


Anmerkungen. 

15)  Die  nachstehende  Abhandlung  ist  stark  polemischer  Natur.  Der 
Kampf  ist  längst  vorbei  und,  wie  ich  denke,  entschieden.  So  habe  ich  mich 
gefragt,  ob  diese  Arbeit  nicht  einer  Umarbeitung  in  friedlichem  Sinne  zugängig 
sei ;  aber  ich  habe  nach  reiflicher  üeberlegung  eine  solche  Absicht  fallen 
lassen  müssen. 

16)  Ferrier  hat  diesen  Fehler  in  seinem  Buche  „The  Function  of  the 
Brain.  II  Edition,  1886,  S.  224",  durch  eine,  wenn  auch  unvollständige  Er- 
wähnung der  von  uns  gefundenen  Thatsachen  wieder  gut  zu  machen  versucht. 

17)  Ferrier  hat  seine  Art  von  Anwendung  von  Inductionsströmen  und 
die  von  ihm  aus  diesen  Versuchen  gezogenen  Schlüsse  in  seinem  angeführten 
Buche  S.  223  ff  in  sehr  ausführlicher  Weise  zu  rechtfertigen  versucht.  Ich 
habe  mich  über  diese  Fragen  so  oft  (u.  a.  auch  in  meiner  Rede  Hughlings 
Jackson  und  die  motorischen  Rindencentren,  Berlin  1901)  und  so  ausführlich 
geäussert,  dass  ich  es  nicht  für  erforderlich  erachte,  nochmals  darauf  zurück- 
zukommen. 

18)  Ferrier  hat  die  Richtigkeit  auch  dieser  unter  sich  in  Widerspruch 
stehenden  Angaben  (a.  a.  0,  S,  249)   gegen    die  vorstehenden  Einwendungen 


—     158     — 

zu  vertheidigen  gesucht.  Ich  muss  bei  meiner  Auffassung  stehen  bleiben,  ohne 
dass  ich  der  Darlegung  derselben  ein  Wort  hinzuzufügen  hätte. 

19)  Seitdem  hat  sich  eine  grosse  Literatur  über  die  Erregbarkeit,  nicht 
nur  des  Kaninchenhirus,  sondern  auch  der  Gehirne  viel  kleinerer  Thiere,  so- 
gar des  Frosches,  entwickelt.  Auf  deren  Inhalt  kann  ich  hier  selbstverständ- 
lich nicht  eingehen,  aber  ich  glaube  doch  bemerken  zu  sollen,  dass  es  danach 
doch  denAnschein  hat,  als  ob  eine  Isolirung  der  Theile  sich  auch  bei  kleineren 
Hirnen  sehr  wohl  beweisen  Hesse,  üeberall  freilich  bin  ich  davon  nicht 
überzeugt. 

20)  In  seinem  Buche  (S.  250,  251)  lässt  Ferrier  den  Reizpunkt  nach 
vorn  bis  in  den  Gyrus  sigmoides  rücken.  Seine  früheren  Angaben  hätten 
„zweifellos  auf  einem  Zustand  von  hyper-excitability"  beruht. 

21)  Ferrier  hat  sich  inzwischen  wohl  meiner  Ansicht  angeschlossen. 
Er  sagt  wenigstens  (a.  a.  0.  -S.  252,  253),  dass  die  unregelmässigen  Be- 
wegungen des  Kopfes  und  die  V^eränderungen  im  Rythmus  der  Athmung, 
welche  er  bei  Reizung  der  praefrontalen  Region  manchmal  beobachtete  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  durch  Stromschleifen  nach  dem  Bulbus  olfactorius 
bedingt  worden  seien. 

Munk  hat  später  diese  Gegend  in  Beziehung  zu  den  Bewegungen  des 
Stammes  gebracht,  wovon  an  anderen  Stellen  dieses  Buches  die  Rede  ist. 


VII.    lieber  einen  interessanten  Abscess  der  Hirnrinde.  =s=) 

Durch  die  vorstehenden  Abhandlungen  ist  nachgewiesen  worden, 
dass  die  normale  Entstehung  der  Muskelbewegungen  gewissser  Centra 
der  Grosshirnrinde  bedarf.  Ihre  Reizung  mit  elektrischen  Strömen  setzt 
bestimmte  Bezirke  der  willkürlichen  Muskulatur  in  Bewegung,  ihre  Zer- 
störung bringt  eine  Beeintrcächtigung  der  willkürlichen  Bewegung  in 
denselben  Bezirken  hervor. 

Wir  haben  bisher  die  directe  Uebertragung  der  am  Hundegehirn 
gewonnenen  Resultate  auf  bestimmte  Localitäten  des  menschlichen  Ge- 
hirns vermieden.  Denn  hierfür  fehlte  es  an  der  Vorbedingung,  an  der 
Feststellung  derjenigen  Hirntheile  des  Menschen,  welche  den  von  uns 
bezeichneten  Hirntheilen  des  Hundes  gleichwerthlg  sind.  Diese  Aufgabe 
bleibt  noch  zu  lösen. 

Drei  Wege  giebt  es,  auf  denen  die  Lösung  möglich  erscheint:  Die 
histologische  Untersuchung,  die  vergleichend  anatomische  Betrachtung 
und  die  klinische  Beobachtung. 

Man  hatte  bereits  früher  diese  drei  Methoden  zur  Feststellung  der 
physiologischen  Dignität  der  einzelnen  Hirnbezirke  angewandt.  Indessen 
war  man  zu  endgültigen  Resultaten  bisher  kaum  oder  nur  in  beschränk- 
ten Grenzen  gelangt,  obwohl  namentlich  die  moderne  Histologie  manche 
bisher  für  unbesiegbar  gehaltene  Schwierigkeiten  überwunden  hat. 

Der  klinischen  Forschung  und  den  aus  der  Autopsie  zu  ziehenden 
Schlüssen  stellten  sich  gleichfalls  mannigfache  Hindernisse  entgegen. 
Nicht  das  Geringste  bestand  wohl  darin,  dass  der  Kliniker  auf  diesem 
Gebiete  von  dem  Physiologen  im  Stiche  gelassen  wurde.  Bis  in  die 
letzten  Jahre  hatte  man,  wie  von  uns  gezeigt  worden  ist,  über  die 
speciellere  Function  der  Grosshirnrinde  so  unsichere  und  theilweise  irrige 
Ansichten,  dass  die  nächsten  physiologischen  Anhaltspunkte  für  die  Ver- 
werthung  des  am  Krankenbette  und  am  Leichentische  Gefundenen  aus- 
fielen. Wir  dürfen  hoffen  zur  Beseitigung  dieses  Uebelstandes  beige- 
tragen zu  haben. 

*)  Die  Seitenzahlen  der  Citate  meiner  eigenen  Arbeiten  beziehen  sich  auf 
die  hier  vorliegende  II.  Auflage  meines  Buches. 


—     160     — 

Ein  anderer  Uebelstand  wird  aber  bestehen  bleiben.  Es  ist  der, 
dass  man  selbstverständlich  auf  cir  cum  Scripte  Läsionen  des  Gross- 
liirns  zu  fahnden  hat,  während  das  menschliche  Leben  selbst  sehr  aus- 
gedehnte erträgt.  Um  so  reichlicher  und  sorgfältiger  muss  das  kli- 
nische Material  gehäuft  werden.  Man  kann  hoffen,  dass  es  so  durch 
Vergleichung  vieler  analoger  Fälle  gelingen  wird,  das  Unwesentliche 
unter  den  Symptomen  zu  erkennen  und  auszuscheiden. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  habe  ich  mich  während  des  Krieges 
gegen  Frankreich  bemüht,  so  viele  Kopfverletzungen  als  möglich  zu 
Gesichte  zu  bekommen.  Auf  Anregung  Fr e rieh s'  hatte  mir  die  Mili- 
tärverwaltung in  Nancy  gestattet,  alle  die  Stadt  passirenden  Soldaten 
mit  Kopfwunden  auf  meiner  Station  aufzunehmen.  Dies  Hess  sich  aber 
nur  in  der  Art  ausführen,  dass  ich  mir  aus  den  Eisenbahnzügen  die 
verbundenen  Köpfe  heraussuchte.  Man  kann  sich  denken,  dass  ich  so 
niemals  Mangel  an  Parotiten,  cariösen  Zähnen  u.  dgl.  hatte.  Ein  Fall, 
den  ich  nachstehend  mittheile,  belohnte  mich  indessen  für  meine  Be- 
mühungen. Er  ist  wirklich  geeignet  Licht  auf  die  gestellte  Frage  zu 
werfen.  Aber  selbst  dieser  Fall  muss  von  dem  eben  erwähnten  Ge- 
sichtspunkte aus  beurtheilt  werden.  Dann  jedoch  scheint  er  mir  aller- 
dings wichtige  vorläufige  Anhaltspunkte  zu  geben  und  die  Auf- 
merksamkeit des  Klinikers  auf  einen  nun  schon  mehr  umschriebenen 
Rindenbezirk  zu  lenken. 

Der  20  Jahre  alte  Soldat  im  30.  französischen  Liaien-Infanterie-Regiment 
Joseph  Masse  au  wurde  am  14.  Dezember  1870  in  das  Lazareth  der  Tabaks- 
mauufactur  zu  Nancy  aufgenommen.  Er  hatte  am  10.  bei  Orleans  einen  Streif- 
schuss  an  der  rechten  Seite  des  Kopfes  erhalten. 

19.  XII.  70.  Ganz  oberflächliche  Hautabschürfung  au  der  rechten  Seite 
des  Kopfes  durch  Flinteuschuss.    Verband  mit  Carbolwasser  (1  :  100). 

10.  I.  71.  Die  AVunde  beginnt  namentlich  an  der  Peripherie,  weniger 
nach  der  Tiefe  zu  sich  zu  vergrössern,  die  ganze  Wundfläche  hat  ein  schmutzig- 
graues  Ansehen.  Sehr  geringe  Secretion.  Kein  übler  Geruch.  Carbolöl  (1  :  7). 
An  demselben  Tage  erkrankte  ich. 

15.  I.  Als  ich  den  Verwundeten  wiedersah.  Die  Wunde  hat  sich  erheb- 
lich vergrössert,  bildet  eine  kreisnmde  Höhle  von  etwa  4  cm  .Durchmesser, 
stark  gewulsteten,  infiltrirten,  unterminirten,  rothen  Rändern,  schmutzig  grauem 
Grunde,  nur  geringes  Secret  absondernd.  Wird  isolirt  und  mit  Liquor  ferri 
sesquichlor.  behandelt.  Hierdurch  gelang  es  dem  Fortschreiten  des  Processes 
Einhalt  zu  thun,  nachdem  die  Wunde  eine  Länge  von  7  cm  und  eine  Breite 
von  6  cm  erhalten  hatte. 

3.  IL  Der  untere  Wundwinkel,  der  durch  Spaltung  einer  unterminirten 
Stelle  entstanden  war,  befindet  sich  nunmehr  5  cm  oberhalb  der  Mündung  des 
rechten  Meatus  auditor.  extern.,  die  obere  Circuuiferenz  11  cm  über  demselben. 


—     161     — 

Innerhalb  dieser  Grenzen  sind  die  Runder  noch  etwas  unterminirt  und  der 
Knochen  zunächst  in  der  Mitte  der  Wunde  in  nierenförmiger  Gestalt  auf  die 
Länge  von  3  cm  und  die  Breite  von  IY2  cm,  dann  auch  in  dem  hinteren 
Wundwinkel,  zungenförmig  mit  der  erstgenannten  Stelle  zusammenhängend, 
blossgelegt.  Da  übrigens  eine  reichliche,  gute  Granulationsbildung  in  der 
Wunde  begonnen  und  auch  der  Knochen  sich  bereits  zu  bedecken  angefangen 
hat,  das  Allgemeinbefinden  auch  ganz  ungetrübt  ist,  wird  Patient  auf  seinen 
früheren  Platz  zurück  verlegt. 

4.  II.  Die  Wunde  hat  wieder  ein  etwas  schlafferes  Aussehen,  am  vor- 
deren Rande  weisslicher  Belag.    Betupfen  desselben  mit  Liquor  ferri. 

Nachdem  Patient  bereits  amMorgen  etwas  über  Kopfschmerzen  an  der  rechten 
Seite  des  Kopfes  geklagt  hatte,  erfolgte  um  10  Uhr  Vormittags  plötzlich 
ein  Anfall  von  klonischen  Krämpfen  ohne  Verlust  des  Bewusst- 
seins,  hauptsächlich  im  Gebiete  des  linken  Facialis.  Die  Muskeln 
um  Mund  und  Nase  namentlich,  dann  auch  Orbicul.  palpebr.  contrahiren 
sich  mit  äusserster  Heftigkeit,  im  Anfange  des  Anfalls  in  Pausen  von  etwa 
1  Secunde.  Die  Pausen  wurden  im  Verlaufe  des  Anfalles,  während  derselbe 
an  Heftigkeit  noch  zunahm,  kleiner,  so  dass  die  Krämpfe  ein  tetanisches  Aus- 
sehen bekamen,  doch  konnte  man  immer  noch  die  einzelnen  Zuckungen  unter- 
scheiden. An  dem  Anfalle  betheiligten  sich  ferner  die  übrigen  dem  Facialis 
angehörigen  Muskeln,  wenn  auch  in  geringerem  Grade;  die  Muskeln  der 
Zunge  in  hohem  Grad  e,  Respirationsmuskeln,  da  während  des  Anfalles 
ein  mit  den  übrigen  Zuckungen  synchronisches  Schluchzen  statthatte,  und  ein 
vorderer  Halsmuskel,  wahrscheinlich  Sternocleidomastoid.  dexter.  (Wegen  der 
Menge  von  Dingen,  auf  die  schnell  die  Aufmerksamkeit  gerichtet  werden  rausste, 
konnte  dies  nicht  genau  constatirt  werden).  Gleichzeitig  grosse  Aengstlichkeit, 
Gesichtsfarbe  kreideweiss.  Dieser  Anfall  dauerte  im  Ganzen  5  Minuten. 
Unmittelbar  nachher  bestand  eine  passagere,  aber  für  den  Mo- 
ment fast  complete  Lähmung  des  ganzen  linken  Facialis  und  der 
linken  Zungenmuskulatur.  Nach  wenigen  Minuten  bereits  Hess 
diese  Lähmung  zunächst  im  oberen  Aste  des  Facialis,  nachher 
auch  in  den  übrigen  nach  und  zwar  derart,  dass  Patient  willkür- 
liche Bewegungen  im  Anfange  nur  ausführte,  wenn  ihm  geheissen 
wurde,  die  linke  Seite  allein  zu  bewegen,  während  bei  gemein- 
schaftlichen Gesichtsbewegungen  diese  Seite  ruhig  blieb.  Im  Ver- 
laufe einer  halben  Stunde  begannen  auch  gemeinschaftliche  Bewegungen  beider 
Gesichtshälften,  jedoch  blieb  immer  noch  die  linke  Gesichtshälfte  zurück. 

Etwa  10  Minuten  nach  dem  Sistiren  des  soeben  beschriebenen  Anfalles 
iraten  ganz  analoge  klonische  Zuckungen  von  geringer  Intensität  und  Dauer, 
im  Ganzen  etwa  40 — 50  in  sämmtlichen  Beugemuskeln  der  Finger  incl.  des 
Daumens  der  linken  Hand  ein,  während  gleichzeitig  der  Facialis  nur  ein  leich- 
tes Vibriren  zeigte. 

Nach  dem  Anfalle  kehrte  die  normale  Gesichtsfarbe  fast  augenblicklich 
wieder  zurück,  während  Patient  mit  stark  lallender  Zunge  versicherte,  dass  es 
ohne  Zweifel  nichts  gewesen  sei.    Die  Zunge  zeigte  noch  den  ganzen  Tag  über 

Hitzi",  Gesammelte  Abhandl.     I.  Theil.  11 


—     162     — 

und  zwar  beiderseitig,    stärker   jedoch  links,    klonische  Zuckungen  geringeren 
Grades.    An  den  Pupillen  keine  Veränderung. 

Der  Puls  war  während  des  Anfalles  beschleunigt  und  rechts  auf- 
fallend viel  kleiner  als  links;  namentlich  auch  war  das  Arterienrohr  rechts 
weniger  gespannt  als  links.  Nach  dem  Anfalle  war  gerade  das  Ent- 
gegengesetzte der  Fall.  Die  rechte  Radialis  war  nun  drahtähn- 
lich  hart  zu  fühlen. 

12  Uhr  Mittags.  Ein  dem  ersten  ganz  gleicher  Anfall  von  derselben 
Dauer,  aber  vielleicht  noch  etwas  heftiger,  mit  dem  gleichen  Schluchzen  und 
denselben  Arterienerscheinungen,  jedoch  ohne  Betheiligung  der  Armmuskeln. 
—  Gegen  Abend  ist  die  Parese  des  linken  Facialis  fast  ganz  geschwunden. 
Temperatur  39,8.    Puls  120.    Respiration  28. 

5.  IL    Erbrechen,  Klage  über  geringen  Appetit,  gleichwohl  isst  er  alles 
durcheinander.     Sein   ganzer  Gedankengang   bewegt   sich  um  seineu  Appetit 
und   seine   angeblich    davon  abhängige  Wiederherstellung.     Die  Wunde  sieht 
gut  aus,  nachdem  der  Aetzschorf  sich  abgestossen  hat. 
Morgens.  Abends. 

Temp.    39,3  39,9 

Puls        120  120 

Resp.        26  27 

6.  IL 

Temp.    38,9  .     39,8 

Puls        100  120 

Resp.        26  27 

7.11.  Die  Wunde  etwas  trocken;  der  Gedankenkreis  sehr  beschränkt; 
es  ist  schwer  möglich  eine  präcise Antwort  zu  erhalten,  gleichwohl  hat  er  keine 
irrthümlichen  Vorstellungen  über  sein  Verhältniss  zur  Aussenwelt.  Leichte 
Parese,  besonders  des  unteren  Facialisastes,  derart,  dass  bei  ge- 
meinschaftlichen Gesichtsbewegungen  die  linke  Gesichtshälfte 
fast  ganz  zurückbleibt.  Bei  isolirten  Bewegungen  der  letzteren 
contrahiren  sich  die  Muskeln  etwa  mit  derselben  Energie  wie 
rechts.  Das  Auge  wird  gut  geschlossen,  die  Frontalrunzeln  sind  links  hin- 
gegen weniger  tief. 

Gleich  zeitig  besteht  ein  leichter  Kr  am  pf  im  link  enDepressor 
anguli  oris,  Orbicul.  oris  und  den  linken  Nasenmuskeln,  der  sehr 
häufig,  etwa  alle  halbe  Minute,  eintritt  und  durch  den  das  Gesicht  links  einen 
weinerlichen  Ausdruck  erhält.  Die  Zunge  wird  ausserordentlich  schief  heraus- 
gesteckt. Die  Spitze  weicht  nach  links  ab,  kann  aber  willkürlich  fast  ganz  in 
die  Mitte  gebracht  werden.  Die  Uvula  steht  sehr  stark  mit  der  Spitze  nach 
rechts. 

Die  Sensibilität  ist  (auch  auf  der  Zunge)  gegen  leichte  Berührungen  so- 
wohl als  gegen  Nadelstiche  vollkommen  intact. 

T.  38,3,  P.  100. 

3  Uhr  Nm.  Sehr  heftiger  Anfall  im  Gebiet  des  Facialis,  bei  dem  auch 
ein    sehr    heftiger   klonischer  Krampf   des    linken  Abducens   und  des  rechten 


—     163     — 

Rectus  internus  vorhanden  war,  'd'^j^  Uhr  neuer  Anfall  mit  Betheiligung  dos 
linken  Pector.  major  und  der  Bauchmuskeln  beiderseits.  Bald  nachher  noch 
■ein  Anfall,  bei  dem  Folgendes  beobachtet  wurde. 

1)  Mit  Rücksicht  auf  den  Willen:  Der  Kranke  vormag  während  des  An- 
falles normal  zu  gehen,  die  rechte  Hand  zu  reichen  und  mit  ihr  einen  massig 
kräftigen  Druck  auszuüben,  während  er  mit  der  linken  nur  sehr  beschränkte 
und  unbestimmte  Bewegungen  vollbringt.  Den  Mund  vermag  er  willkürlich 
nicht  zu  öffnen. 

2)  Was  die  Krämpfe  betrifft:  dieselben  erstrecken  sich  nunmehr  mit  auf 
■einzelne  Muskelbündel  des  rechten  Frontalis,  auf  den  ganzen  Sternalkopf  des 
rechten  Sternokleido,  während  der  linke  ganz  frei  bleibt;  dagegen  contrahirt 
sich  das  linke  Platysma  sehr  stark,  während  das  rechte  ganz  frei  ist.  Ausser- 
dem contrahiren  sich  beiderseits  sämmtliche  zwischen  Unterkiefer,  Kehl- 
kopf und  Sternum  befindliche  Muskeln.    Im  Arm  keine  Bewegungen. 

3)  Was  das  Sensorium  betrifft:  Er  versteht  die  Worte,  die  man  an  ihn 
richtet,  und  behält  sie  so  im  Gedächtniss,  dass  er  nachher  richtige  Auskunft 
darüber  geben  kann. 

Solche  Anfälle  treten  im  Laufe  des  Nachmittags  noch  mehrmals  ein.  In 
■den  Pausen  stehen  die  Augen  immer  in  den  linken  Winkeln  und  der  Kopf 
•durch  Contractur  des  rechten  Sternokleido  nach  links  gedreht.  Abends  T. 
59,0.    P.  100. 

8.  II.  Anfall  von  einstündiger  Dauer  zwischen  Sy^  und  l'^j^  Uhr  Mor- 
gens. Der  Anfall  begann  mit  Zuckungen  im  Gesicht  und  Ablenkung  der  Bulbi 
wie  bei  früheren  Anfällen,  dann  traten  Krämpfe  im  linken  Arm  und  der  linken 
Thoraxhälfte  ein,  endlich  auf  der  Höhe  des  Anfalles,  während  die  Zuckungen 
im  linken  Arm  ausserordentlich  stark  waren,  auch  im  rechten  Arm.  Das  Be- 
wusstsein  war  wiederum  nicht  verloren.  T.  39,6.  P.  110.  Abends  T.  40,5. 
P.   120. 

9.  IL  T.  39,3.  P.  110.  Abends  schnarchende  Respiration,  Stupor,  gegen 
9Y2  Uhr  Anfall  von  halbstündiger  Dauer,  der  aber  viel  schwächer  als  der 
letzte  und  ohne  Betheiligung  der  rechten  Seite  verlief.    T.  39,6.   P.  120. 

10.  IL  Morgens  10  Uhr  Sopor,  schnarchende  Respiration.  11  Uhr  Tra- 
chealrasseln,  Puls  klein,  häufig,  Arterienrohr  leer,  die  Welle  rechts  viel  kleiner 
als  links.  Die  linke  Pupille  stark  contrahirt,  ganz  reactionslos,  auch  die  rechte 
reagirt  nur  wenig.  Weder  jetzt  noch  früher  war  der  Leib  eingezogen.  Wäh- 
rend der  Agone  bei  jeder  der  tiefen  schnarchenden  Inspirationen  eine  ausgie- 
bige Contraction  in  Muskeln  des  unteren  Astes  des  linken  Facialis,  namentlich 
im  Depressor  anguli  oris.  Puls  des  Morgens  8  Uhr  120,  T.  38,4,  Morgens 
10  Uhr  41,5.  11  Uhr  41,6.  4  Uhr  5  Min.  Nachmittags  erfolgte  der  Tod. 
T.  41,8.  Postmortale  Temperatursteigerung  4  Uhr  15  Min.,  10  Min.  nach  dem 
Tode  42,0. 

Autopsie  11.  11.  zwanzig  Stunden  nach  dem  Tode. 

Schädeldach  massig  dick,  an  der  äusseren  Tafel  des  Scheitelbeins,  ent- 
sprechend der  Wunde  hat  sich  eine  sehr  deutliche  Demarkationslinie  von  ohr- 
muschelförmiger  Gestalt  gebildet,  welche  in  den  grössten  Dimensionen  4,4  cm 

11* 


-  —     164     — 

Länge  (von  oben  nach  unten)  und  2,5  cm  Breite  (von  hinten  nach  vorn)  be- 
sitzt. Der  höchstgelegene  Punkt  dieser  Demarkationslinie  ist  von  der  Pfeilnaht 
6,5  cm  entfernt.  Zieht  man  von  ihm  aus  eine  gerade  Linie  nach  der  Pfeilnaht, 
so  liegt  der  Punkt,  wo  beide  Linien  zusammentreffen,  9,3  cm  von  der  kleinen 
Fontanelle  nach  vorn.  An  der  inneren  Tafel,  entsprechend  der  eben  bezeich- 
neten Stelle,  vi^ar  der  Knochen  mit  dickem,  anhaftendem,  gelblichem  Eiter  be- 
deckt, nach  dessen  Abspiilung  in  der  Ausdehnung  eines  Guldens  grau,  miss- 
farbig, Verlust  des  normalen  Glanzes,  Rauhigkeiten  von  unregelmässiger  Ge- 
stalt, etwas  über  die  Fläche  erhaben  und  von  grösseren  und  kleineren  Poren 
durchsetzt,  zeigend.  Derartige  rauhe  Stellen  finden  sich  noch  vielfach  in  der 
Umgebung*).  An  dem  oberen  Ende  der  erstbezeichneten  Stelle  hat  sich  ein 
Knochenplättchen  von  Linsengrösse  abgestossen,  welches  nur  noch  an  seinem 
oberen  Ende  locker  mit  der  Tabula  vitrea  zusammenhängt.  Ueber  die  ganze 
Schädelhälfte  verbreitet  ausserordentlich  zahlreiche  Vascularisationen,  die  der 
inneren  Fläche  ein  rothgeflecktcs  Aussehen  geben. 

Bei  Eröffnung  des  Schädels  entleert  sich  aus  einem  Loche  der  Dura, 
welches  genau  jenem  Knochenplättchen  entspricht,  etwa  ein  halber  Esslöffel 
grün-gelblichen  Eiters.  Die  ganze  rechte  Hirnhälfte  unter  der  Dura  blaugrün, 
die  linke  roth.  Die  ganze  Dura  der  rechten  Convexität  an  der  inneren  Fläche 
mit  gelbem  Eiter  bedeckt,  ungemein  stark  verdickt.  In  der  Umgebung  des 
erwähnten  aussen  scharfrandigen,  innen  trichterförmigen  Loches,  das  halb 
bohnengross  ist,  beträchtliche  Auflagerung,  die  von  zahlreichen  grösseren  und 
kleineren  mit  der  Pia  zusammenhängenden  Gefässen  durchsetzt  ist  und  ein 
schwärzliches  Aussehen  hat.  Auch  die  linke  Hälfte  der  Dura  mit  zahlreichen, 
kleineren,  neugebildeten  Gefässen  durchsetzt. 

Die  Pia  der  rechten  Convexität  von  vorn  bis  hinten  mit  dickem  Eiter 
bedeckt,  der  nur  zum  Theil  unter  dem  Wasserstrahle  sich  löst,  die  Hirnhaut 
selbst,  mit  Ausnahme  des  hinteren  Drittels,  in  eine  dicke  Schwarte  verwandelt. 
Ihre  Venen  überall  mit  festen  nicht  anhaftenden  Gerinseln  gefüllt,  nur  in 
der  Umgegend  des  gleich  zu  nennenden  Abscesses  flüssigen,  gelben  Eiter 
enthaltend. 

Entsprechend  dem  Substanzverluste  der  Dura  findet  sich  ein  Abscess, 
aus  dem  sich  bei  der  Eröffnung  des  Schädels  der  Eiter  zum  Theil  entleerte. 
Seine  äussere  Oeffnung  hat  l'/g — 2  cm  im  Durchmesser,  seine  Tiefe  beträgt 
knapp  ebensoviel.  Sein  oberer  Rand  liegt  6Y2  cm  von  der  Mittellinie,  sein 
hinterer  Rand  2Y3  cm  nach  vorn  vor  dem  mittleren  Theile  der  Sylvischen 
Grube  und  unmittelbar  am  vorderen  Rande  der  Rolandischen  Furche,  der 
Abscess  selbst  also  zwischen  dem  unteren  Ausläufer  dieser  und  dem  Sulcus 
praecentralis  von  Ecker,  in  der  vorderen  Centralwindung  an  deren  Uebergang 
in  den  Klappdeckel. 


*)  Letztere  wurden  aber  erst  nach  der  Trocknung  des  Knochens  sicht- 
bar; dann  hoben  sie  sich  durch  eine  weissere  Farbe  noch  mehr  von  der 
Umgebung:  ab. 


—     165     — 

Fig.  21. 

R' 


F 


Linke  Hemisphäre  nach  Ecker.  F.  Lobus  frontalis.  P.  Lobus  parietalis. 
0.  Lobus  occipitalis  T.  Lobus  temporalis.  S.  S.'  Fossa  Sylvii.  R.  R.'  Sul- 
cus  Rolando.  S.  p.  Sulcus  praecentralis.  A.  Vordere,  B.  hintere  Gentral- 
windung,  H.  Abscess  von  Hitzig.  W.  Zertrümmerung  von  Wernher.  (H.  ist 
Behufs  leichterer  Vergleichung  auf  die  linke  Hemisphäre  übertragen.) 

Die  Ventrikel  enthalten  nur  eine  ganz  geringe  Menge  seröser  Flüssigkeit. 
Die  Substanz  des  Grosshirns  mehr  noch  rechts  als  links,  am  auffälligsten  in 
der  Marksubstanz  an  der  Grenze  der  Rindensubstanz  ist  mit  vielen  kleinen 
Blutpunkten  durchsetzt.  Ihre  Consistenz  ist  im  Allgemeinen  die  normale,  nur 
in  der  Umgebung  des  Abscesses  ist  die  Hirnsubstanz  sehr  mürbe.  Fast  an  der 
ganzen  rechten  Convexität  haftet  die  Pia  abnorm  der  Rindensubstanz  an,  so 
dass  nach  ihrer  Entfernung  die  Letztere  ein  zernagtes  Aussehen  erhält. 

Die  Dura  der  rechten  Basis  mit  Ausnahme  des  hinteren  Drittels  in 
ähnlichem  Zustande,  wie  die  der  Cont^exität. 

In  dem  linken  Pleurasack  etwa  750  ccm  blutig  seröser  Flüssigkeit.  Die 
linke  Lunge  zeigt  an  der  Basis  die  Zeichen  einer  hypostatischen  Pneumonie, 
die  Spitze  emphysematös.  Andere  Veränderungen  von  Wichtigkeit  fanden  sich 
nicht  vor. 

Rekapituliren  wir  die  wesentlichsten  Punkte  der  vorstehenden  Be- 
obachtung, Es  war  durch  einen  gangränösen  Process  ein  Theil  des 
rechten  Scheitelbehies  blossgelegt  und  der  Berührung  mit  dem  Eisen- 
chlorid ausgesetzt  worden.  Bei  der  Section  fand  sich,  dass  ein  Theil 
der    äusseren  Tafel    an  jener  Stelle  in  der  Sequestration  begriffen  war. 


—     166     — 

Dem  entsprechend  fand  man  ein  Plättchen  der  inneren  Tafel  bereits 
abgestossen,  während  in  der  Umgebung  ähnliche  nekrotisirende  Processe 
den  Knochen  ergriffen  hatten.  Ebenso  war  hier  der  Hauptherd  der 
Erkrankung,  welche  die  Hirnhäute  und  die  Hirnsubstanz  selbst  betraf. 
Die  Häute  waren  hier  der  Sitz  besonders  starker  Verdickungen  und 
Auflagerungen,  in  deren  Centrum  sich  aber  eine  eitrige  Schmelzung 
ihrer  Substanz  fand,  welche  ihrerseits  wieder  mit  einem  Abscesse  des 
Gehirns  communicirte.  Indessen  hatten  sich  die  geschilderten  Ent- 
zündungserscheinungen  der  Hirnhäute  und  des  Gehirns  selbst  nicht  nur 
auf  die  nächste  Umgebung,  sondern  über  weite  Strecken,  endlich  auch 
offenbar  auf  die  andere  Seite  fortgepflanzt.  Dennoch  Hess  sich  aus  der 
Summe  aller  dieser  Erscheinungen,  namentlich  aus  ihrer  örtlich  ver- 
schiedenen Intensität  und  Entwicklungsstufe,  mit  Sicherheit  constatiren, 
dass  der  Anfang  aller  dieser  Processe  an  der  Stelle  des  späteren 
Abscesses  gewesen  war. 

Auch  während  des  Lebens  beobachtete  man  eine  allmähliche  Aus- 
breitung in  den  Symptomen  von  Reizung  der  Hirnsubstanz,  während 
die  Zeichen  der  Lähmung  von  Anfang  au  einen  ziemlich  engum- 
schriebenen Muskelbezirk  betrafen,  bis  endlich  die  Aufhebung  der 
sensorischen  Functionen  auch  der  willkürlichen  Muskelbewegung  im 
Allgemeinen  ein  Ende  machte. 

Es  war  von  Anfang  an  die  Muskulatur  des  linken  Facialis  und 
der  Zunge,  welche  die  Aufmerksamkeit  erregten  und  während  der 
ganzen  Dauer  der  Beobachtung  wach  erhielten.  In  diesen  Muskeln  traten 
die  Krampferscheinungen  zuerst  auf,  und  in  ihnen  fehlten  sie  bei  allen 
späteren  Anfällen  niemals.  Dieselben  Muskeln  zeigten  zu  gleicher  Zeit, 
von  dem  ersten  Augenblicke  an,  als  man  der  cerebralen  Erkrankung 
gewahr  wurde,  eine  allmählich  zunehmende  Beeinträchtigung  der  will- 
kürlichen Innervation.  In  anderen  Muskeln  traten  Lähmungen  über- 
haupt nicht  ein.  Allerdings  konnte  man  während  der  Anfälle  eine 
Störung  der  willkürlichen  Muskelinnervation  auch  in  solchen  Provinzen 
nachweisen,  die  für  den  Augenblick  nicht  der  Sitz  von  Krämpfen 
waren*).  Indessen  waren  dies  Erscheinungen,  die  mit  dem,  was  wir 
Lähmung  zu  nennen  gewohnt  sind,  nichts  gemein  hatten.  Man  sah 
allerdings  ein  theilweises  Abgeschnittensein  der  normalen  Willens- 
impulse, aber  ebenso  gut  könnte  man  die  unbestimmten  Bewegungen, 
die  ein  Schlaftrunkener  auf  Geheiss  macht,  als  die  eines  Gelähmten 
bezeichnen.  Wenn  man  die  äusserst  auffallenden  Differenzen  in  der 
Füllung    der    rechten    und  der  linken  Radialis  in  Betracht  zieht,    wenn 


*)  Siehe  die  Notizen  vom  7.  Februar. 


—     167     — 

man  sich  gleichzeitig  der  ini  Moment  der  Anfälle  auftretenden  Ent- 
färbung des  Gesichtes  erinnert,  so  dürfte  sich  wohl  eine  solche  theil- 
weise  und  vorübergehende  Ausserfunctionsetzung  grösserer  Hirnprovinzen 
durch  plötzliche  Circulationsstörungen  in  ungezwungener  Weise  erklären. 
In  den  zum  Theil  ja  sehr  langen  Pausen  war  eine  Motilitätsstörung  der 
Extremitäten  nicht  vorhanden. 

Noch  einen  Punkt,  sei  es  gestattet,  in  die  Erinnerung  zurück  zu 
rufen.  In  der  Agone  contrahirte  sich  synchronisch  mit  jeder  der  so 
charakteristischen  tiefen  Inspirationen  ein  Theil  von  den  während  des 
Lebens  besonders  afficirten  Muskeln. 

Halten  wir  nun  das  klinische  Bild  mit  dem  anatomischen  Befunde 
zusammen,  so  weit  dies  erlaubt  scheint,  so  unterliegt  es  wohl  keinem 
Zweifel,  dass  man  die  Innervation  derjenigen  Muskelbezirke,  welche 
zuerst  und  am  constan testen  von  Krämpfen  betroffen,  welche  anderer- 
seits von  Anfang  an  gelähmt  waren,  in  Verbindung  zu  setzen  hat  mit 
demjenigen  Hirntheile,  welcher  die  vorgeschrittensten  und  ältesten 
pathologischen  Veränderungen,  welche  einzig  und  allein  eine  Zer- 
trümmerung der  Substanz  zeigte.  Dies  wäre  in  der  Peripherie  der 
Innervationsbereich  des  Facialis  und  des  Hypoglossus,  im  Centrum  die 
obere  und  vordere  Grenze  des  Klappdeckels. 

Wohl  könnte  man  einwenden,  dass  bei  einer  Zertrümmerung  der 
Substanz  zwar  Lähmungen  aber  kein  Krampf  möglich  sei.  Doch  ist 
dieser  Einwand  um  deswillen  hinfällig,  weil  selbst  bei  einer  gänzlichen 
Zertrümmerung  eines  Centrums  der  Rinde,  die  dort  mündenden  Mark- 
fasern intact  und  der  Erregung  zugänglich  bleiben  können.  Dass  aber 
in  der  That  gerade  ein  Centralgebiet  des  Facialis  ausser  Function  ge- 
setzt sein  musste,  das  beweisen  zum  Ueberfluss  die  agonalen  Mit- 
bewegungen im  Bereiche  jenes  Nerven. 

Es  ist  eine  bekannte  und  unbestrittene  Thatsache,  dass  nicht 
degenerirte  Nerven,  deren  Verbindung  mit  der  Innervation  des  Gehirns 
eine  Unterbrechung  erlitten  hat.  der  Ausbreitung  von  Reflexen  und 
motorischen  Irradiationen  in  ihrer  Bahn  ausserordentlich  zugängig  sind. 
Ein  solcher  Fall  lag  hier  vor.  Die  tiefen  Inspirationen  Agonisirender 
werden  sicher  durch  einen  heftigen,  am  letzten  Ende  auf  die  Medulla 
oblongata  einwirkenden  Reiz  hervorgebracht,  und  seiner  Ausbreitung  in 
eine  labilere  Bahn  muss  man  es  zuschreiben,  wenn  in  diesem  Falle 
gerade  diejenigen  Muskeln  sich  noch  einmal  bis  zum  Ende  in  Bewegung 
setzten,  welche  von  Anfang  an  die  Hauptrolle  gespielt  hatten. 

Die  Berechtigung,  die  geschilderten  Functionsstörungen  im  Gebiet 
des  Facialis  und  Hypoglossus  auf  jene  zertrümmerte  Rindenpartie  zu 
beziehen,  wird  noch  unterstützt  durch  das  Verhalten  des  Knochens  und 


—     168     — 

der  Dura  mater.  Man  konnte  sich  leicht  überzeugen,  dass  die  Er- 
krankung der  Schädelcontenta  von  der  mehrerwähnten  Stelle  aus- 
gegangen war,  und  sich  von  hier  aus  erst  allmählich  ausgebreitet  hatte. 

Ich  will  nicht  versuchen,  der  Entstehungsart  der  übrigen  beob- 
achteten Krampferscheinungen  specieller  nachzugehen.  Nur  eine  kurze 
Bemerkung  sei  in  dieser  Beziehung  gestattet.  Man  weiss,  dass  ent- 
wickeltere Entzündungsvorgänge  auf  den  Hirnhäuten  in  der  Regel 
Krämpfe  erzeugen,  und  man  kann  in  Folge  dessen  sämmtliche  beob- 
achtete Krampferscheinungen  auf  diese  im  gegebenen  Falle  mehr  als 
hinreichend  vorhandenen  Processe-  beziehen.  Indessen  ist  noch  eine 
andere  Auffassung  möglich.  .Gelegentlich  unserer  experimentellen  Unter- 
suchungen hatten  wir  nachgewiesen,  dass  beim  Einstechen  von  Nadeln 
in  die  Gehirnsubstanz  sich  andere  Muskeln  auf  den  elektrischen  Reiz 
in  Bewegung  setzten,  als  diejenigen,  welche  bei  der  Reizung  des  ent- 
sprechenden Rindengebietes  zuckten.  Wahrscheinlich  hat  man  dies  als 
eine  Reizung  von  Fasern  aufzufassen,  welche  sich  von  den  vorderen 
Gebieten  der  Hemisphäre  nach  dem  Hirnstamme  zu  begeben. 

Man  darf  also  nicht  vergessen,  dass  bei  Zerstörung  eines  Theiles 
der  Rinde,  sei  es  nun  durch  einen  Abscess  oder  durch  eine  Neubildung, 
sehr  wohl  Leitungsfasern,  die  jenem  Rindentheile  im  Wesentlichen  fremd 
sind,  von  dem  fremden  Körper  in  den  erregten  Zustand  versetzt  werden, 
und  so  Zuckungen  bedingen  können.  Ich  richte  die  Aufmerksamkeit 
auf  diesen  Punkt,  weniger  wegen  des  vorliegenden  Falles,  bei  dem  es 
auf  die  Krampferscheinungen  insofern  nicht  so  sehr  ankommt,  da  ihm 
seine  Wichtigkeit  hauptsächlich  durch  das  correspondirende  Vorkommen 
einer  isolirten  kaum  haselnussgrossen  Zerstörung  der  Rinde  und  einer 
circumscripten  Lähmung  innewohnt.  Aber  für  die  Deutung  anderer 
Fälle,  bei  denen  die  einzelnen  Symptome  sich  noch  schwerer  entwirren 
lassen,  ist  es  doch  vielleicht  gut,  an  die  erwähnte  und  in  der  Wirk- 
lichkeit gewiss  häufig  vorkommende  Möglichkeit  zu  erinnern. 

Wegen  des  Lage -Verhältnisses  unseres  Abscesses  und  des  von 
Fritsch  und  mir  gefundenen  Centrums  für  den  Facialis  verweise  ich 
auf  die  folgende  Abhandlung.  Es  kann  selbstverständlich  nicht  meine 
Absicht  sein,  hiermit  die  Identität  jener  beiden  Regionen  als  bestimmt 
erwiesen  zu  behaupten.  Dazu  sind  weitere  Erfahrungen  und  be- 
stätigende Untersuchungen  auf  den  beiden  eingangs  erwähnten  Wegen 
erforderlich. 

Interessant  ist  der  Vergleich  der  Art  der  motorischen  Störung  bei 
dem  Kranken  Masseau  und  denjenigen  Hunden,  denen  wir  das  Centrum 
für  die  rechte  Vorderextremität  exstirpirt  hatten.  Der  Kranke  Masseau 
hatte  eine  motorische  Hemmung  im  Facialis-Gebiete,  welche  vollkommen 


—     169     — 

oder  fast  vollkommen  war,  sobald  er  gemeinschaftliche  Gesichtsbewegungen 
ausführen,  z.  B.  lachen  sollte.  Wurde  aber  seine  Aufmerksamkeit  auf 
das  Gebiet  des  abnorm  fiuigirenden  Muskels  gerichtet,  Hess  man  ihn 
isolirte  Bewegungen  des  linken  Facialis  vornehmen,  so  zeigte  sich,  dass 
das  Entstehen  der  erforderlichen  Impulse  in  der  That  nicht  so  sehr  ge- 
hemmt war,  als  es  anfänglich  den  Anschein  hatte.  Die  Bewegung  kam 
nun  immer  bis  zu  einem  gewissen  Grade  zu  Stande.  Wie  ausser- 
ordentlich verschieden  hiervon  ist  das  Verhalten  der  Muskeln  bei 
Lähmungen-,  die  ihren  Sitz  z.  B.  im  Corpus  striatum  haben.  Allerdings 
ist  auch  bei  ihnen  selten  die  ganze  Bahn  verlegt,  sondern  der  obere 
Ast  fungirt  mehr  oder  weniger  gut.  Aber  dasjenige,  was  nun  einmal 
gelähmt  ist,  fungirt  in  der  allerersten  Zeit  nach  der  Läsion  einfach  nicht, 
sondern  erholt  sich,  wenn  es  überhaupt  dazu  kommt,  erst  nach  Ablauf 
einer  mehr  weniger  geraumen  Zeit.  Dann  aber  sieht  man  nicht  das 
hier  geschilderte  Verhalten,  sondern  die  Motilität  ist  auch  bei  gemein- 
samen Gesichtsbewegungen  in  den  gegebenen  Grenzen  vorhanden. 

Als  ich  dem  Grunde  für  dies  Zurückbleiben  des  linken  Facialis 
nachging,  so  glaubte  ich  ihn  zuerst  darin  zu  finden,  dass  der  Masseau 
bei  gemeinschaftlichen  Impulsen  sich  keine  richtige  Vorstellung  von 
dem  bilden  konnte,  was  im  Gebiete  dieses  Nerven  geschah.  In  diesem 
Falle  wäre  der  Vorgang  ganz  ähnlich  gewesen  demjenigen,  welchen  wir 
bei  den  operirten  Hunden  voraussetzen  mussten.  Indessen  sprach  doch 
der  Umstand  gegen  die  Annahme  einer  Beraubung  des  Bewusstseins 
jener  Muskelzustände,  dass  gerade  der  bewusste  Wille  einen  sich  der 
Norm  mehr  nähernden  Einfluss  auf .  die  Muskeln  hatte,  während  die 
mehr  maschinenmässig  vor  sich  gehende  gemeinschaftliche  mimische 
Innervation  die  grössere  Abnormität  zeigte. 

Demnach  ist  es  wahrscheinlicher,  dass  der  an  einem  dritten  Orte 
gebildete,  für  beide  Hirnhälften  gleichberechnete  Willensimpuls  wegen 
der  vorhandenen  theilweisen  Zerstörung  rechts  schwächer  aufgenommen 
und  fortgepflanzt  wurde,  dass  aber  doch  noch  hinlänglich  Substanz 
vorhanden  war,  um  bei  Verstärkung  des  Impulses  eine  annähernd 
normale  Bewegung  auszulösen. 


VIII.  lieber  aequivalente  ßegiouen  am  (ireliirii  des  Hundes, 
des  Affen  und  des  Menschen. 

Wenn  die  in  den  vorstehenden  Abhandlungen  gegebene  und  ver- 
theidigte  genauere  Begrenzung  des  motorischen  Gebietes  ihre  volle 
Wichtigkeit  für  die  menschliche  Pathologie  und  die  vergleichende 
Physiologie  gewinnen  soll ,  so  muss  vorher  die  Uebertragung  der  be- 
zeichneten Grenzen  auf  die  äusseren  Flächen  des  menschlichen  Gehirns 
möglich  gemacht  sein. 

Welches  Interesse  das  Gelingen  dieser  Aufgabe  für  sich  in  An- 
spruch nehmen  dürfte,  brauche  ich  kaum  auszuführen.  Inmitten  der 
bisher  räthselvollen  Windungsfelder  des  Menschengehirns  wäre  ähnlich 
wie  am  Hundehirn  ein  Gebiet  abgegrenzt,  das  sich  durch  eine  ihm 
eigenthümliche  Function  nicht  nur  von  den  Nachbargebieten  unter- 
scheidet, sondern  auch  durch  dieselbe  und  vermöge  seiner  Lagerung 
zwischen  den  übrigen  Theileu  des  Mantels  für  diese  wieder,  sei  es  vor- 
dere sei  es  hintere  Grenzen  zeichnet. 

Mau  kann  das  gesteckte  Ziel,  wie  ich  schon  eingangs  der  vor- 
stehenden Abhandlung  andeutete,  auf  verschiedenen  Wegen  anstreben. 
Ich  selbst  versuchte  mir  durch  vergleichend  anatomische  Betrachtung 
ein  Urtheil  zu  bilden,  um  so  mindestens  die  Discussion  herbeizuführen, 
und  mit  derselben  den  Anstoss  zu  neuen  Arbeiten  auf  diesem  Felde 
zu  geben*). 

Vor  Allem  schien  eine  möglichst  genaue  und  sichere  Bestimmung 
der  vorderen  Grenzen  der  erregbaren  Zone  von  Nöthen.  Wenn  nämlich 
nur  auf  Grund  der  in  der  ersten  Abhandlung  von  uns  gemachten  An- 
gaben das  Lageverhältniss  der  als  erregbar  bezeichneten  Mantelmassen 
zum  Schädel  ins  Auge  gefasst  wurde,  so  konnte,  wie  es  geschehen  ist, 
die  Ansicht  entstehen,  dass  dieselben  dem  Stirntheile  des  Menschen 
äquivalent    seien.      Nachdem    ich    indessen    nachgewiesen    hatte,    dass 


*)  E.  Hitzig,  A.  a.  0.   1873.  Gap.  7. 


—     171     — 

nicht  nur  der,  mehr  durch  seine  Flächen-  als  Dickendimensionen  aus- 
gezeichnete, vor  der  Verlängerung  der  Fossa  Sylvii  belegene  Theil, 
sondern  ausserdem  fast  ein  ganzer,  die  hintere  Grenze  dieses  Ein- 
schnittes bildender  Gyrus  {d)  unerregbar  seien,  gewann  der  Gegen- 
stand ein  anderes  Gesicht.  Jetzt  musste  erwogen  werden,  ob 
nicht  vielmehr  dieser,  durch  das  Fehlen  der  motorischen 
Reaction  char  akterisirte  Abschnitt  dem  Stirntheile  ent- 
spräche. 

Eine  dahin  auslaufende  Ansicht  hatte  von  vorne  herein  mancherlei 
für  sich.  Der  in  der  vorstehenden  Abhandlung  beschriebene  Abscess 
sass  nicht  in  der  Stirn-  sondern  in  der  Scheitelregion.  Fälle  von 
Wer n her  und  Loeffler,  welche  im  Anschluss  an  unsere  Untersuchungen 
theils  publicirt,  theils  (durch  Th.  Simon)  reproducirt  wurden,  und  auf 
die  wir  unten  einzugehen  haben,  bestätigen  die  aus  der  Beobachtung 
jenes  Abscesses  geschöpften  Ansichten  im  Allgemeinen,  ohne  jedoch  die 
Details  klarer  zu  legen. 

Die  Intelligenz  im  höheren  Sinne  ist  von  Alters  her  in  den  Stirn- 
lappen verlegt  worden,  und  stets  wurde  mit  dieser  Vorstellung  die  Idee 
mächtigerer  Entwickelung  der  Stirn  und  der  unmittelbar  von  ihr  be- 
deckten Organgruppen  verknüpft.  Nun  nimmt  die  Massenhaftigkeit  des 
Hundehirns  von  vorn  nach  hinten  zu.  An  der  Grenze  des  motorischen 
Abschnittes  findet  ein  plötzlicher  Sprung  in  der  Entwickelung  statt,  so 
dass  man  den  Eindruck  erhält,  als  ob  hier  ein  Organcomplex  für  reich 
ausgestattete  Functionen  mit  einem  spärlich  Bedachten  zusammenstosse. 
Vor  der  vorderen  Verlängerung  der  Sylvischen  Grube  sind  zwar  die 
Flächen  gross,  aber  der  Querdurchmesser  klein.  Der  dahinter  liegende 
motorische  Theil  ist  bereits  beträchtlich,  noch  stärker  der  occipitale 
und  temporale  Theil  entwickelt.  Vergleicht  man  mit  diesem  Verhalten 
des  Substrates  die  Lebensäusseruugen  desselben  —  die  Seelenthätig- 
keiten,  so  scheint  sich  eine  Parallele,  wenn  auch  nur  in  grossen  Zügen, 
fast  von  selbst  aufzudrängen.  Die  geringe  Entwickelung  bei  gleichwohl 
gut  zu  unterscheidender  Anlage  des  Stirnlappens  würde  der  mangel- 
haften Ausbildung  höherer  Seelenthätigkeiten  beim  Hunde  wohl  ent- 
sprechen; in  absteigender  Linie  hat  die  viel  weniger  intelligente  und 
bildungsfähige  Katze  (Vgl.  Figg.  18  und  19)  bereits  einen  beträcht- 
lich reducirten  Stirntheil  aufzuweisen.  Durch  die  plötzliche,  den  mo- 
torischen Theil  betreffende  Massenzunahme  würde  die  Menge  der  dem 
Hunde  zukommenden  Muskelleistungen  gedeckt  werden.  Unvergleichlich 
höher  als  die  Muskelthätigkeiten  sind  aber  die,  nach  anatomischen  Un- 
tersuchungen (Meynert)  in  den  hinteren  Hirnregionen  zu  suchen- 
den sensuellen  Fähigkeiten  dieses  Thieres  veranlagt  und  ausgebildet. 


—     172     — 

Ich  sah  mich  mm  nach  laatürlichen  und  coustanten  Grenzlinien  anf 
der  Mantelfläche  mn,  und  fand  im  Yerhältniss  der  Furchenbildung  zur 
Funktion  in  der  That  gewisse  Anhaltspunkte.  Die  Fossa  Syhdi  erlaubt 
einen  Tlieil  der  hinteren  Abgrenzung  der  Sclieitelregion  ohne  Wei- 
teres zu  erkennen.  Die  mediale  Hälfte  dieser  Grenze,  soweit  sie  auf 
der  Convexität  liegt,  ist  beim  Menschen  nur  zu  einem  Theile  durch  die 
dem  Hunde  fehlende  Fissara  parieto-occipit.  scharf  bestimmt.  Beim 
Hunde  lässt  sich  hingegen  eine  Trennung  bald  mehr  bald  weniger  deut- 
lich durch  die  ganze  Mantelfläche  verfolgen,  wenn  man  eine  Linie  zieht 
von  _  der  Knickungsstelle  der  sylvischen  Windung  durch  die  Knickungen 
der  um  jene  concentrisch  ge-lagerten  Windungen  nach  einer  der  obersten 
Knickung  gegenüberliegenden  und  sich  an  der  inneren  Fläche  des 
Randwulstes  vorfindenden  Einkerbung.  An  Stelle  eines  Theiles  dieser 
Knickungen  findet  man  nicht  selten  Furchenbildung,  wie  ich  in  Fig.  1 
rechte  Hemisphäre  gezeichnet  habe.  Durch  die  angeführten,  tiefgreifen- 
den Einschnitte  und  durch  die  an  oder  mindestens  dicht  vor  ihnen  auf- 
hörende motorische  Reaction  entsteht  nun  eine  natürliche  anatomische 
und  physiologische  Abgrenzung,  welche  durch  den  Umstand  an  Bedeut- 
samkeit gewinnt,  dass  andere  natürliche  Grenzlinien  in  den  mehr  rück- 
wärts gelegenen  Partien  nicht  existiren.  Der  eine  Theil  dieser  Grenz- 
marke, insoweit  er  der  sylvischen  Grube  angehört,  kann  aber  aller 
Analogie  nach,  nur  auf  den  Scheitellappen  bezogen  werden,  so  dass  nun 
die  grösste  Wahrscheinlichkeit  erwächst,  dass  auch  die  medialen  Ein- 
schnitte das  hintere  Ende  dieser  Region  bezeichnen. 

Die  vordere  Grenze  nahm  ich  a.  a.  0.  an  der  vorderen  Verlängerung 
der  sylvischen  Grube  an  imd  sprach  die  Vei-muthung  aus,  dass  der 
Sulcus  cruciatus  (Leuret)  Figg.  17  und  18  S.  127  mit  der  Furche 
Rolando's  zu  identificiren  sei.  Die  nähere  Begründung  dieser  Ansicht 
kann  dort  eingesehen  werden.  Inzwischen  hat  sich  durch  gleich  zu 
erw'ähnende  Untersuchungen  in  der  unzweideutigsten  Weise  heraus- 
gestellt, dass  diese  letztere  Annahme  —  Identificirung  des  Sulcus 
cruciatus  mit  der  Furche  Rolando's  —  irrig  ist,  während  meine  An- 
nahme, dass  die  erregbare  Zone  imd  ihr  bis  zu  der  erst  erwähnten 
Grenze  reichendes  Nachbargebiet  der  menschlichen  Scheitelregion  ent- 
spricht, durch  die  gleichen  Untersuchmigen  bis  zu  an  Gewissheit 
grenzender  Wahrscheinlichkeit  erhoben  wird. 

Aus  der  Vergleichung  der  Figg.  21  und  22  S.  173  und  174  wird 
deutlich,  eine  wie  grosse  Aehulichkeit  zwischen  den  Gehirnen  selbst 
niederer  Affen  und  dem  des  Menschen  besteht.  Während  am  Hirn  des 
Hundes,  der  Katze  und  nahestehender  Typen  nur  die  Sylvische  Grube 
mit  Sicherheit  zu  identificiren  ist,    kann  beim  Affen  die  Rolandische 


173 


Furche  und  der  Sulcus  praecentralis,  um  die  es  sich  hauptsächlich 
handelt,  ohne  Weiteres  erkannt  werden.  So  war  es  von  grösstcm 
Interesse,  Affengehirne  auf  die  Lage  der  Muskelcentren  untersuchen  zu 
können. 

Indessen  ist  es  in  Berlin  schwierig  und  kostspielig,  sich  lebende 
Affen  zu  verschaffen.  Auf  der  anderen  Seite  ist  der  Sprung  in  der 
Gehirnformation,  welcher  zwischen  den  übrigen  Thieren  und  den  Affen 
statthat,  scheinbar  so  gross,  dass  die  Vergleichung  todter  Gehirne,  wie 
ich  sie  bereits  vor  längerer  Zeit  unternahm,  zu  überzeugenden  Resultaten 
nicht  führen  kann.  Endlich  ist  es  mir  durch  die  Güte  des  Herrn 
Director  Bodinus  gelungen,  aus  den  Beständen  des  hiesigen  zoologischen 
Gartens  ein  noch  kräftiges  Exemplar  von  Innuus  Rhesus  für  diesen 
Zweck  zu  erhalten. 


Linke  Hemisphäre  nach  Ecker.  F.  Lobus  h-ontalis.  P.  Lobus  parietalis. 
0.  Lobus  occipitalis.  T.  Lobas  temporalis.  S.  S.'  Fossa  Sylvii.  R.  R.'  Sulcus 
Rolande.  S.  p.  Sulcus  praecentralis.  A.  Vordere,  B.  hintere  Centralwindung. 
H.  Abscess  von  Hitzig.  W.  Zertrümmerung  von  Wernher.  (H.  ist  Behufs 
leichterer  Vergleichung  auf  die  linke  Hemisphäre  übertragen.) 

Bevor  ich  aber  auf  die  Resultate  dieser  in  Gegenwart  mehrerer 
Professoren  und  Aerzte  ausgeführten  Vivisection  näher  eingehe,  will 
ich  erwähnen,  dass  auch  Ferrier  am  Affen  experimentirt  hat.  Die 
Resultate  dieser  Versuche  sind  mir  zum  Theil  aus  einem  in  der  Times 
enthaltenen  Referate  zugänglich  geworden.  Allerdings  lässt  sich  aus 
demselben    nicht    viel    ersehen;    nur    scheint   es,    dass  Ferrier  wieder 


—     174     — 

einen    viel    grösseren  Theil    der  Rinde    als    erregbar   anspricht  und  die 
Centren  überhaupt  mehrfach  anders  localisirt  als  ich. 

Die  Operation  —  Eröffnung  der  linken  Schädelhälfte  —  wurde  in 
der  Aether-Narkose  und  fast  ohne  jeden  Blutverlast  ausgeführt.  Als  der 
Affe  wieder  zu  sich  gekommen  war,  lag  er  so  still,  dass  die  elektrische 
Reizung  mit  viel  grösserer  Leichtigkeit  als  gewöhnlich  an  Hunden  vor- 
genommen werden  konnte.  Da  ich  nicht  die  Hoffnung  hegen  durfte, 
sobald  wieder  in  den  Besitz  eines  Affen  zu  kommen,  so  sollte  mir  dieses 
Thier  in  erster  Linie  zur  Beantwortung  der  Frage  dienen,  an  welchen 
Theilen  seines  Gehirnes  sich  diejenigen  Punkte  befänden, 
deren  Reizung  mit  „sahwachen  Strömen"  beim  Hunde  durch 
Bewegungen  beantwortet  wird.  Die  Untersuchung  der  übrigen 
Rindentheile  wurde  erst  in  zweiter  Linie  in  Aussicht  genommen. 

Fi  ff.  22. 


Das  erhaltene  Resultat  war  im  höchsten  Grade  merkwürdig.  Um 
es  mit  einem  Worte  zu  sagen:  Die  sämratlichen  Centren  fanden 
sich  in  der  vorderen  Centralwindung  wieder,  und  zwar  derart, 
dass  sie  deren  Fläche  von  der  grossen  Längsspalte  an  bis  hinab  zur 
Syl vischen  Grube  einnahmen.  Unmittelbar  neben  der  Mittellinie,  nur 
etwa  3  mm  von  derselben  entfernt  (1  Fig.  22),  fand  sich  das  Ceutrum 
für  die  hintere  Extremität.  Wieder  3  mm  lateralwärts  (2  Fig.  22)  lag 
das  Centrum  für  die  vordere  Extremität.  Fast  7  mm  lateralwärts 
(3  Fig.  22)  wurde  ein  Theil  der  mit  dem  Gesichtsnerven  zusammen- 
hängenden Gebilde,  endlich  dicht  an  der  Fossa  Sylvii,  6  mm  mediau- 
wärts  von  deren  Rande  und  12  mm  von  dem  vorigen  Punkte  entfernt 
(4  Fig.  22)  diejenigen  Stellen  gefunden,  welche  zu  den  Mund-,  Zungen- 
und  Kieferbewegungen  in  Beziehung  stehen. 

Besonders  interessant  war  die  künstliche  Innervation  der  Muskeln 
der  oberen  Extremität,  namentlich  bei  Reizung  mit  Inductionsströmen. 
Man    konnte    dadurch,    dass    man    die  Elektroden   abwechselnd  auf  die 


—     175     — 

verschiedenen  Naclibargebiete  des  bezeichneten  Punktes  applicirte,  eine 
grössere  Zahl  von  entschieden  coordinirten  und  zweckmässigen  Be- 
wegungen hervorrufen,  die  den  willkürlichen  Bewegungen  des  Thieres 
ganz  ausserordentlich  ähnlich  sahen.  Eine  etwas  mehr  nach  vorn  ge- 
legene Stelle  reagirte  mit  Pronation  des  Armes,  wenige  Millimeter 
hinter  derselben  und  etwas  lateralwärts  zwischen  2  und  der  Rolandi- 
schen Furche  ergab  die  Reizung  Extension  des  Carpus  und  Spreizung 
der  Finger.  Dicht  daneben  brachte  man  Greifbewegungen  oder  Zu- 
sammenlegen der  Spitzen  des  Daumens  und  der  beiden  ersten  Finger 
hervor. 

Das  mehr  lateralwärts  gelegene  Centrum  3  antwortete  mit  Re- 
traction  des  Ohres  und  Schluss  des  Auges.  Ging  man  nun  noch  mehr 
lateralwärts,  so  gesellten  sich  zu  den  Ohrbewegungen  noch  Contractionen 
der  Masseteren,  endlich  Lippenbewegungen,  und  an  der  Stelle  unmittelbar 
über  der  Fossa  Sylvii  auf  den  Inductionsstrom  intensives  Aufsperren 
des  Mundes.  Etwas  höher  als  dieser  Centralpunkt,  jedoch  noch  mit 
ihm  zusammenhängend,  trat  Retraction  der  Mundwinkel  und  in  einer 
ebenfalls  sehr  benachbarten,  aber  nicht  genau  bestimmten  Gegend  traten 
Bewegungen  der  Zunge,  sowie  der  übrigen  zwischen  Kiefer,  Zungenbein 
und  Sternum  belegenen  Motoren  ein.  Die  um  den  Punkt  4  gruppirten 
Bewegungen  waren  sämratlich  doppelseitig.  Dicht  bei  dem  Centrum 
für  die  vordere  Extremität  bekam  man  auch  eine  Rotation  des  Kopfes 
von  rechts  nach  links,  während  ein  leichtes  Heben  des  Kopfes  von  einer 
etwas  lateral-  und  rückwärts  von  dem  Centrum  für  den  oberen  Theii 
des  Facialis  gelegenen  Stelle  ausgelöst  wurde.  — 

Das  Zuckungsminimum  lag  im  Allgemeinen  an  diesen  Stellen  sehr 
niedrig;  im  oberen  Theil  des  Facialis  traten  die  Bewegungen  schon  bei 
10  S.  E.  W.  stark,  in  den  Masseteren  spurweise  auf.  Die  Armbewegungen 
erforderten  etwas  stärkere  Ströme  bis  zu  30  S.  E.  W.  Das  Zuckungs- 
minimum bei  Reizung  mit  dem  Inductionsstrome  lag  für  Orbicularis 
palpebrar.-  und  Ohrbewegungen  schon  bei  120  Rollenabstand,  die  Ex- 
tremitäten reagirten  deutlich  auf  110,  die  Oeffnung  der  Kiefer  erfolgte 
hingegen  erst  bei  100  R.  A. 

Es  wurde  leider  versäumt  zu  untersuchen,  ob  von  dem  Centrum 
für  den  Orbicularis  palpebrarum  aus  auch  Augenbewegungen  hervor- 
zubringen wären.  Indessen  ist  dies  nach  Analogie  der  am  Hunde  und 
der  Katze  von  mir  erzielten  Resultate  wohl  mit  Sicherheit  voraus- 
zusetzen. 

Die  eigentliche  Parietal-Region,  sowie  auch  der  Stirnlappen  wurden 
nur  oberflächlich  untersucht,  nachdem  mit  Sicherheit  constatirt  worden 
war,  dass  dieselben  schwache  Ströme  mit  Zuckungen  nicht  beantworteten. 


—     176     — 

Vor  dem  Sulcus  praecentralis  ergab  z.  B.  Ausschaltuug  der  Neben- 
schliessung oder  80  R.  A.  Drehung  des  Kopfes  von  links  nach  rechts 
und  intensive  doppelseitige  Contraction  des  Frontalis,  während  Reizung 
mit  100  S.  E.  W.  unbeantwortet  blieb.  Etwas  leichter,  jedoch  auch  nur 
auf  verhältuissmässig  starke  Ströme  reagirte  die  hinter  der  Rolandi- 
schen Furche  gelegene  Partie  des  Scheitellappens,  am  leichtesten  noch 
der  obere  Theil  der  hinteren  Centralwindung.  Mehr  nach  hinten  zu 
hörten  auch  bei  starken  Strömen  alle  Zuckungen  auf.  üeberall,  wo 
man  überhaupt  Zuckungen  bekam,  betheiligte  sich  übrigens  auf  An- 
wendung stärkerer  Ströme  das  Ohr.  Ausserdem  gewannen  die  Zuckungen 
auf  so  starke  Ströme  immer  einen  mehr  weniger  allgemeinen  Charakter, 
und  es  gelang,  nicht,  so  geartete  Bewegungen  wie  in  der  vorderen 
Centralwindung  auf  ganz  kleine  Stellen  zu  localisiren. 

Ich  stehe  unter  diesen  Umständen  nicht  an,  die  vordere  Central- 
windung als  die  eigentlich  motorische  Partie  der  Hirnrinde 
des  Affen,  oder  vielmehr  als  denjenigen  Theil  zu  bezeichnen, 
welcher  in  sehr  oberflächlicher  Lage  Zusammenfassungen 
fast    sämmtlicher  Körpermuskeln  enthält. ^2) 

Die  Contractionen  der  Ohrmuskeln,  des  M.  frontalis  und  anderer 
mehr  weniger  grosser  Gruppen  von  Muskeln,  die  nur  durch  stärkere 
Ströme,  dann  aber  von  ausgedehnten  Flächen  aus  hervorzurufen  waren, 
betrachte  ich  als  Producte  von  Stromschleifen  nach  tiefer  liegenden 
Theilen.  Aehnlichen  Reizeffecten  sind  wir  bei  Besprechung  der  Ver- 
suche Ferrier's  in  Menge  begegnet.  Ich  erinnere  z.  B.  an  die  bei 
Reizung  des  ganzen  Hinterhirns  der  Katze  entstehende  Drehung  des 
Kopfes  und  die  ein  ähnliches  Verhalten  zeigenden  Augenbewegungen. 
Auf  S.  24  haben  wir  schon  dargelegt,  wie  gerade  die  strenge  Localisa- 
tion  der  Zuckungen  ein  Beweis  für  die  oberflächliche  Lage  unserer 
Centren  ist.  Consequenterweise  wird  das  entgegengesetzte  Verhalten  den 
Schluss  auf  Stromschleifen    nach  tiefer   liegenden  Theilen  bedingen. 

Wesentliche  Differenzen  gegenüber  den  anderweiten  Reizeffecten, 
aber  eine  auffällige  Uebereinstimmung  mit  den  gleichnamigen  Be- 
wegungen beim  Hunde  und  der  Katze  zeigten  die  Fressbewegungen.  Sie 
traten  nicht  nur  grossentheils  doppelseitig  auf,  sondern  sie  erforderten 
auch  wiederum  stärkere  Ströme.  Indessen  muss  doch  hervorgehoben 
werden,  dass  die  Masseteren  sich  hier  schon  auf  den  Reiz  ganz 
schwacher  Ströme  bewegten.  Andererseits  erfordert  die  Kieferöffnung 
neben  Ueberwiudung  eines  beträchtlichen  Widerstandes  das  zweck- 
mässige Zusammenwirken  einer  grösseren  Zahl  von  Muskeln.  'Hierin 
könnten  Momente  zur  Erklärung  jener  Verschiedenheiten  gefunden 
werden.     Die  Doppelseitigkeit    der  Bewegung    bleibt    dabei    aber    ganz 


—     177     — 

unbeleuchtet,  und  sie  darf  um  so  weniger  ausser  Acht  gelassen  werden^ 
als  doppelseitige  Bewegungen  in  einzelnen  Motoren  schon  bei  geringen 
Stromstärken  beobachtet  wurden. 

Man  möge  mir  fernere  Zurückhaltung  über  dieses  Thema  auch  jetzt 
noch  um  so  mehr  gestatten,  als  der  Gesichtskreis  doch  nur  durch  die 
Resultate  eines  Versuches  erweitert  worden  ist.   — 

Betrachten  wir  nun  das  anatomische  Verhältniss  dieser  Region 
zu  denjenigen  Theilen  des  Hundehirns,  welche  ihr  in  physiologischer 
Beziehung  parallel  zu  setzen  sind,  so  stellt  sich  heraus,  dass  meine  An- 
sicht, nach  der  die  erregbaren  Theile  am  Menschenhirn  in  der  parie- 
talen Gegend  zu  suchen  sein  würden,  schon  durch  die  Reaction  des 
Afl'enhirns  Bestätigung  findet.  Ich  sehe  dabei  von  der  unter  den  Anatomen 
herrschenden  Meinungsverschiedenheit,  ob  die  vordere  Centralwindung 
zum  Stirn-  oder  Scheitellappen  zu  rechnen  sei,  übrigens  ab,  und  be- 
rücksichtige nur  ihr  Lageverhältniss  zum  Schädel.  Wie  ßischoff 
nachgewiesen  hat,  wird  die  vordere  Centralwindung  noch  durch  das 
Scheitelbein  mitbedeckt  und  steht  insofern  allerdings  in  einer  natür- 
lichen genetischen  Beziehung  zu  den  anderen  von  dem  gleichen  Knochen 
bedeckten  Windungen. -3) 

Der  Fuvchenbildung  lege  ich  freilich  wichtige  Beziehungen  zu  den 
Hirnfunctionen  unter,  aber  nicht  derart,  dass  ich  aus  dieser  oder  jener 
Variaute  oder  aus  der  Massenhaftigkeit  irgend  welche  Schlüsse  ab- 
zuleiten gedächte.  Eben  so  wenig  erblicke  ich  die  Noth wendigkeit, 
dass  jeder  Lappen  bei  jeder  Species  von  einer  mehr  oder  weniger 
durchschneidenden  Transvc  salfurche  begrenzt  sei.  Wo  aber  derartige 
tiefeinschneidende  Furchen  den  Typus  vervollständigen  und  nicht  etwa 
blos  gelegentlich  als  Anomalien  vorkommen,  scheinen  sie  mir  als  natür- 
liche Grenzen  für  eine  bestimmte  Zahl  grosser  Gruppirungen  von  Func- 
tionen gelten  zu  können.  Es  ist  klar,  dass  Zusammengehöriges  niciit 
durch  tiefe  Furchen  getrennt  sein  darf.  Denn  dadurch  würde  wegen 
der  noth  wendigen  Verbindungsbahnen  eine  unendliche  Verschwendung 
an  Raum  ui/id  Material  veranlasst  werden. 

Von  d«!mselben  Gesichtspunkte  aus  betrachte  ich  die  beim  Menschen 
regelmässig  vorhandenen  Ueberbrückungen  der  vor  der  Centralfurche 
transversal  verlaufenden  Furche,  wodurch  dieselbe  in  mehrere  Frag- 
mente zerrisse;::  wird.  Wahrscheinlich  werden  sehr  nahe  Rindenbezie- 
hungen zwischen,  Stirnlappen  und  vorderer  Centralwindung  von  Nöthen 
sein.  Deshalb  können  aber  doch  die  Functionen  der  Stirn-  und  der 
Scheitelregion  so  sehr  als  möglich  differiren.  Lassen  wir  z.  B.,  um 
einen  nahe  liegenden  Gedanken  aufzugreifen,  ein  der  Sprachbildung 
dienendes  Centralorgan   in   der   dritten  Stirnwindung  existiren,    so  wird 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     I.  Theil.  12 


—     178     — 

allerdings  das  ßedürfiiiss  einer  directen  Verbindung  zwischen  diesem 
Rindenbezirke  und  dem  die  Centralorgane  der  Spreclimuslieln  bergenden 
der  vorderen  Central windung  entstehen.  Es  wäre  ja  im  höchsten  Grade 
umständlich  und  unzvA-eckmässig,  wenn  die  Verbindung  erst  durch  Um- 
gehung der  Furche  hergestellt  werden  sollte. 

Andererseits  denke  ich  nicht  daran  aus  der  verhältnissmässig  glatten 
Oberfläche  der  Stirn-Scheitelregion  unseres  kleinen  Aeffchens  etwa  be- 
sonders innige  Beziehungen  zwischen  irgend  welchen  Rindenorganen- 
ableiten  zu  wollen.  Die  Zahl  und  Complicirtheit  der  Furchen  steht  so 
offenbar  in  directem  Zusammenhange  mit  der  Massenhaftigkeit  des  Ge- 
hirnes, dass  man  aus  ihrem  örtlichen  Fortfalle,  der  Ansicht  Reichert's 
folgend,  nur  schliessen  kann,  dass  die  anderweitigen  Einschnitte  aus- 
reichen, die  Blutgefässe  genügend  tief  in  das  Innere  des  Organes  ein- 
dringen zu  lassen. 

Die  eben  ausgeführten  Anschauungen  werden  anderweitig  unter- 
stützt durch  Vergleichung  der  Lage  der  erregbarsten  Stellen  beim  Affen 
und  beim  Hunde.  Sie  liegen  bei  dem  Letzteren  scheinbar  in  zwei  ver- 
schiedenen Windungen  und  deren  Adnexen,  bei  dem  Ersteren  jedoch  in 
einer  einzigen  Windung.  So  verwirrend  dieser  Umstand  zu  Anfang  war, 
so  sehr  hat  er  nachher,  als  die  Vergleichung  vieler  Gehirne  mir  erst 
den  Schlüssel  gegeben  hatte,  zur  Klärung  meines  eigenen  Urtheils  in 
der  Frage  beigetragen. 

Fiff.  23.  Fiff.  24. 


.  Ich  glaube,  dass  die  Vergleichung  des  unter  Fig.  23  abgebildeten 
Hundehirns  mit  dem  Affenhirne  allseitig  überzeugend  wirken  dürfte. 
Man  sieht  an  demselben  nämlich,  wie  die  beiden  hier  in  Frage 
kommenden,  die  Centren  tragenden  Gyri  breit  in  einander  übergehen, 
so  dass  sie  einen  hakenförmigen  Gyrus  bilden.  Denkt  man  sich  nun 
diesen  Haken  gestreckt,  so  dass  der  nach  vorne  liegende,  laterale  Theil 
(bei  4)  ganz  an  den  lateralen  Rand  und  an  seine  Stelle  der  gekrümmte 


—     179     — 

Theil  des  Hakens  käme,  so  hat  man  das  Lageverliältniss  der 
Centren  zu  einander,  wie  es  beim  Affen  existirt,  vollkommen 
wiederhergestellt.  Von  der  Mittellinie  nach  aussen  gerechnet  würden 
die  Centren  in  derselben  Reihe  auf  einanderfolgen,  nämlich  hintere 
Extremität  1,  vordere  Extremität  2a  und  Nacken-  2  b,  Gesichts-  3,  end- 
lich 4  Fressbewegungen. 

Wenn  nun  diese  beiden  zu  einem  vereinigten  Gyri  als  vordere 
Centralwindung  aufzufassen  sind,  so  muss  folgerecht  die  Rolandische 
Furche  unmittelbar  hinter  ihnen  zu  suchen  sein.  An  dem  auf  Fig.  28 
abgebildeten  Gehirne  existirt  aber  an  dieser  Stelle  wenigstens  linker- 
seits keine  durchschneidende  Furche,  sondern  es  besteht  eine  Brücke 
zwischen  den  zwei  mit  R.  R.  R.  bezeichneten  Fragmenten.  Auf  der 
rechten  Hemisphäre  desselben  Gehirns  fehlt  jedoch  diese  Brücke,  so 
dass  die  beiden  Fragmente  zu  einer  grossen  Furche  [zusammenlaufen. 
Dadurch  entsteht  ein  Bild,  welches  Fig.  3  besonders,  gut  versinnlicht. 
Fig.  1  rechte  Hemisphäre  zeigt  ein  ähnliches  Gehirn  von  oben  gesehen. 

Vergleicht  man  sehr  viele  Hundegehirne  auf  das  Verhäitniss  jener 
beiden  Windungen  und  der  sie  umgebenden  Furchen,  so  sieht  man 
gleiche  oder  ähnliche  Varianten  immer  wiederkehren.  Die  rechte  Hemi- 
sphäre des  Gehirns  Fig.  23  enthält  z.  ß.  eine  Uebergangsstufe  zu  dem 
2usammenfliesseu  der  beiden  Gyri.  Es  besteht  eine  schmalere  secundäre 
W^indung  zwischen  ihnen.  Ebenso  schneidet  an  anderen  Gehirnen  bald 
einmal  die  von  vorn  nach  hinten,  bald  einmal  die  median-lateralwärts 
verlaufende  Furche  durch.  Dies  beweist  nach  meinen  eben  entwickelten 
Anschauungen  nur,  dass  beim  Hunde  die  beiden  Hälften  der  als  Gyrus 
praecentralis  zu  betrachtenden  Windungen  irgend  welche  wichtige 
physiologische  Verbindungen  untereinander  in  der  Rinde  nicht  ein- 
gehen. In  der  That  liegt  auch  auf  der  Hand,  dass  die  in  der  einen 
Hälfte  zusammen  localisirten  Organe  —  Extremitäten  und  Rumpf  — 
gemeinschaftlicher  und  naher  Beziehungen  bedürfen,  imd  dass  dasselbe 
für  die  in  der  anderen  Hälfte  zusammen  liegenden,  nämlich  Gesichts-, 
Augen-,  Zungen-  und  Kieferbewegungen  zutrifft,  während  diese  beiden 
grossen  Complexe  in  relativer  Unabhängigkeit  von  einander  stehen. 

Bei  der  Katze  ist  das  Zusammenfliessen  jener  beiden  Gyri  (e  und  f ) 
die  Regel,  während  die  F'urchen  bei  den  von  mir  untersuchten  Hirnen 
gesondert  bleiben.  Jedenfalls  hat  die  Vergleichung  der  Gehirne  sehr 
vieler  Thiere  derselben  Species  etwas  ungemein  Belehrendes,  und  ich 
glaube,  dass  ich  mit  dieser  Beschäftigung  meine  Ansichten  berichtigt 
und  erweitert  habe.  Indessen  fehlt  mir  das  Material  um  das  gleiche 
■Studium  auf  viele  Species  und  deren  Embryonen  ausdehnen  zu  können, 

12* 


—     180     — 

während  Abbildungen,  die  ja  doch  immer  nur  den  Typus  geben,  wenig 
fördern. 

Deshalb  halte  ich  mich  zu  einer  irgend  weitergehenden  Ausführung 
dieser  vergleichenden  Betrachtang  nicht  für  berechtigt  und  möchte  nur 
gerade  das  feststellen  und  erklären,  was  aus  den  Reizversuchen  direct 
hervorgeht.  Dies  aber  lässt  sich  wohl  mit  einem  Worte  dahin  zu- 
sammen fassen,  dass  die  Gyri  e,  f  (nebst  den  Adnexen  von  /"  in  g 
und  /^)  des  Hundes  und  der  Katze  dem  Gyrus  praecentralis 
des  Affen  wahrscheinlich  entsprechen^^).  Hieraus  folgt  denn 
unmittelbar,  dass  meine  früher  ausgesprochene  Annahme,  nach  der  die 
rudimentären  Gyri  a,  h,  c  und  der  Gyrus  d  des  Hundehirns  die  Anlage 
des  Stirnlappens  enthielten,  und  ihrer  Weiterentwickelung  die  Massen- 
zunahme des  Hirns  der  Primaten  vorwiegend  zu  danken  sei,  dem  wirk- 
lichen Sachverhalte  entspricht.  Denn  die  Weiterentwickelung  des  Stirn- 
hirns lässt  sich  an  der  Stufenleiter  der  Aften  bis  zu  den,  dem  mensch- 
lichen Gehirne  immerhin  sehr  nahestehenden  Gehirnen  der  anthropoiden 
Affen  ohne  Schwierigkeit  nachweisen.  Der  einzige  Punkt,  um  den  sich 
Alles  dreht,  und  der  deshalb  der  ferneren  und  festesten  Begründung 
auf  das  Dringendste  bedarf,  ist  der  eben  angestrebte  Nachweis,  dass 
wirklich  Gyrus  e  und  /  des  flundes  der  vorderen  Central windung  des 
Affen  resp.  des  Menschen  äquivalent  sind.^s)  — 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  sind  pathologische  Beobachtungen 
am  Menschen,  soviel  sich  auch  gegen  deren  zu  unbedingte  Benutzung 
einwenden  lässt,  behufs  weiterer  Förderung  der  Sache  nicht  zu  ver- 
schmähen. Alle  unsere  Beweise  kommen  am  letzten  Ende  darauf  hinaus, 
dass  wir  jeden  Weg  betreten,  der  die  Wahrscheinlichkeit  des  zu  Be- 
weisenden mehr  und  mehr  erhöht.  Bis  zur  Gewissheit  des  mathema- 
tischen Beweises  bleibt  immer  noch  eine  Lücke,  deren  Bedeutsamkeit 
ich,  insbesondere  bei  unserem  Thema,  wahrlich  nicht  unterschätze. 

Ich  habe  in  der  vorigen  Abhandlung  von  den  Schwierigkeiten, 
welche  sich  der  physiologischen  Ausnutzung  klinischer  Beobachtungen 
entgegenthürmen,  bereits  gesprochen.  Um  nicht  durch  ein  leicht  mög- 
liches Missverständniss  noch  neue  Hindernisse  für  die  gleichmässige 
ßeurtheilung  solcher  Thatsachen  entstehen  zu  lassen,  fühle  ich  mich 
verpflichtet,  an  dieser  Stelle,  und  bevor  ich  selbst  auf  derartige  Er- 
örterungen eingehe,  noch  einmal  ausdrücklich  hervorzuheben,  dass  ich 
weder  die  vordere  Centralwindung  des  Affen,  noch  die  Gyri  e,  /'  des 
Hundes  als  die  einzigen  mit  der  Muskelbewegung  in  Zusammenhang 
stehenden  Theile  des  Grosshirns  betrachtet  wissen  will.  Meine  bis- 
herigen Reizversuche  an  der  Rinde  richteten  sich  vielmehr  ganz  allein 
auf  die  Feststellung  derjenigen  centralen  Zusammenfassungen  und  ihrer 


—     181     — 

örtlichen  Anordnung,  welche  am  oberflächlichsten  und  deshalb  für 
die  Reizmittel  des  Untersuchenden  am  zugänglichsten  liegen.  Ausser 
diesen  giebt  es  gewiss  noch  andere  gleichen  Werthes  und  möglicher- 
weise wieder  andere  verschiedenen  Werthes.  Jede  einzelne  der  unter- 
suchten Thierspecies  Hess  bei  Anwendung  massig  starker  Ströme  die 
eine  oder  die  andere  Muskelbewegnng  vermissen.  Es  ist  kein  Grund 
wahrzunehmen,  warum  nicht  auch  diese  Motoren  durchaus  äquivalente 
Zusammenfassungen  im  grossen  Gehirn  besitzen  sollten.  Vielleicht  liegen 
dieselben  in  der  Tiefe  der  von  den  Wülsten  gebildeten  Faltungen.  Viel- 
leicht ist  ihre  Faseranordnung  derart  zerstreut,  dass  schwache  Ströme 
zur  Bethätigung  der  Function  nicht  geeignet  sind.  Man  kann  darüber 
nur  Vermuthungen  haben. 

Diese  Umstände  werden  namentlich  bei  der  Beurtheilung  von 
Läsionen,  welche  die  hintere  Centralwindung  und  den  Rest  der  Scheitel- 
region betrafen,  in  Rechnung  zu  ziehen  sein.  Es  wäre  gewiss  sehr 
wünschenswerth,  wenn  bei  von  aussen  her  eindringenden,  mit  Krämpfen 
oder  Paresen  verknüpften  Processen  dieser  Gegend  besonderer  Fleiss 
auf  makroskopische  und  mikroskopische  Untersuchung  der  Tiefe  ver- 
wendet würde,  bis  zu  der  die  Veränderung  sich  ausgebreitet  hat.  — 

Es  ist  nicht  meine  Absicht,  die  ganze  Literatur  der  Oberflächen- 
Affectionen  des  Grosshirns  in  die  Besprechung  zu  ziehen.  Dahingehende 
Bestrebungen,  die  übrigens  wohl  von  anderer  Seite  her  in  Aussicht  ge- 
nommen sind,  finden  noch  besondere  Schwierigkeiten,  wie  schon  Ecker 
hervorgehoben  hat,  in  der  mangelhaften  Kenntniss,  welche  das  ärztliche 
Publicum  von  den  typischen  Grosshiruwindungen  besass,  und  der  damit 
in  Verbindung  stehenden  mangelhaften  Localisation  der  Krankheitsherde. 
Man  würde  sich  einer  entschiedenen  Förderung  der  Sache  versehen 
können,  wenn  die  verdienstliche  Schrift  von  Ecker:  „Die  Hirnwindungen 
des  Menschen,"  Braunschweig  1869,  durch  welche  die  Orientirung  ausser- 
ordentlich erleichtert  wird,  den  Aerzten  bekannter  würde.  Ich  werde 
also  an  dieser  Stelle  nur  diejenigen  Rinden affectionen  zur  Besprechung 
heranziehen,  welche  seit  der  Veröffentlichung  unserer  ersten  Unter- 
suchungen Gegenstand  der  Discussion  geworden  sind. 

Die  erste  hierhergehörige  Beobachtung  habe  ich  selbst  in  dem 
vorigen  Aufsatze  mitgetheiit,  und  ich  glaube,  dass  sie  trotz  der  com- 
plicirenden  Momente,  welche  durch  die  bei  der  Sectiou  gefundenen 
meningitischen  Producte  dem  an  und  für  sich  klaren.  Sachverhalte  bei- 
gemischt sind,  ein  ungewöhnliches  Interesse  beanspruchen  darf.  Dieses 
Interesse  liegt  in  dem  Umstände  begründet,  dass  einerseits,  die  während 
des  Lebens  wahrnehmbaren  Erscheinungen  von  Rindenreizung  —  Krämpfe 
von  ihrem  ersten  Anfange  an   durch  mich  selbst  in  allen   ihren  Details 


—     182     — 

verfolgt  wurden,  dass  sich  ferner  parallel  dem  äusserlich  wahrnehm- 
baren Ausgangspunkte  der  Krämpfe  auf  der  Hirnrinde  ein  bestimmter 
Ausgangspunkt  der  Ceutralerkrankung  auffinden  Hess,  welcher  seiner- 
seits wieder  durch  das  mit  gleichen  Reizeffecten  antwortende 
Ceutrum  des  Affenhirns  örtlich  gedeckt  wird. 

Der  oben  beschriebene  Abscess  hatte  seinen  Sitz  in  der  vorderen 
Centralwindung  bei  H  (Fig.  21).  Diese  Stelle  liegt  zwischen  dem  Centrum 
3  und  4  (Fig.  22)  des  Affengehirns.  Bei  ihrer  Reizung  „trat  Retraction 
der  Mundwinkel,  Bewegungen  der  Zunge,  sowie  der  übrigen  zur  Zunge 
in  Beziehung  stehenden  zwischen  Kiefer,  Zungenbein  und  Sternum  be- 
legenen Motorenl  ein."  Die  letztangeführten  Bewegungen  waren 
sämmtlich  doppelseitig.  Die  ersten  Krampfanfälle  meines  Patienten 
betrafen  namentlich  die  Muskeln  um  Mund  und  Nase,  die  Muskeln  der 
Zunge  in  hohem  Grade  und  zwar  doppelseitig,  ausserdem  in  geringerem 
Grade  solche  Muskeln,  welche  sowohl  in  der  Peripherie  benachbart 
liegen,  als  [auch  in  der  Hirnrinde  nachbarliche  Innervationsherde  be- 
sitzen —  Orbicularis  palpebrarum  besonders,  dann  vordere  Halsmuskeln. 
Unmittelbar  nach  dem  Anfalle  bestand  eine  sehr  passagere,  aber  für 
den  Moment  fast  coraplete  Lähmung  des  Facialis  und  der  entsprechenden 
Zungenhälfte. 

Schon  bei  diesem  Anfalle  lässt  sich  eine  allmähliche  Verbreitung  des 
Reizes  auf  Muskeln,  deren  Centralorgan  beim  Affen  etwas  mehr  median- 
wärts  liegt,  nachweisen;  zuerst  zuckten  die  Muskeln  um  den  Mund  und 
die  Zungenrauskeln,  nachher  der  Orbicularis  palpebrarum  (Centrum  3). 
Unmittelbar  auf  diesen  Anfall  folgte  ein  anderer,  der  eine  weitere  Ver- 
breitung des  Reizes  nach  der  Mittellinie  zu  andeutet.  „Etwa  10  Minuten 
nach  dem  Sistiren  des  so  eben  beschriebenen  Anfalls  traten  ganz  ana- 
loge klonische  Zuckungen  von  geringer  Intensität  und  Dauer  in  sämmt- 
lichen  Beugemuskeln  der  Finger  inclusive  des  Daumens  der  linken 
Hand  (Centrum  2)  ein,  während  gleichzeitig  der  Facialis  nur  ein 
leichtes  Vibriren  zeigte."  Bald  gesellten  sich  auch  Augenmuskeln  und 
andere  Muskeln  der  oberen  Extremität  dazu,  die  Muskeln  der  unteren 
Extremität  aber,  deren  Centrum  (1)  beim  Affen  am  entferntesten  von 
der  Steile  des  Abscesses  liegt,  blieben  bis  zu  Ende  in  Ruhe.  Diejenigen 
Muskeln,  deren  centraler  Inuervationsherd  nach  unten  unmittelbar  an 
den  Abscess  grenzt,  die  eigentlichen  Herabzieher  des  Unterkiefers 
wurden  ebenfalls  nicht  in  Bewegung  gesetzt.  Man  wird  hierbei  daran 
erinnert,  dass  für  die  künstliche  Kieferöffnung  sowohl  beim  Hunde,  als 
auch  beim  Affen  stärkere  Ströme  erfordert  wurden.  Endlich  findet 
sich,  dass  die  einzige  wirklich  zerstörte  Stelle  im  Gehirn,  der  Abscess, 
genau  dort  sitzt,  wo  die  einzigen  bei  Lebzeiten  gelähmten  Muskeln,  die 


—     183     — 

des  Gesichtes  mul  der  Zunge  i)i  der  Hirnrinde  des  Ail'cn  ihr  motorisches 
('Cntralorgan  haben.  — 

Nicht  lange  nach  der  Publication  meiner  Beobachtung  erschien 
eine  in  mancher  Beziehung  ähnliche  von  Wernher*).  Durch  ein 
Trauma  war  das  linke  Schläfenbein  verletzt,  die  Dura  und  Pia  durch- 
rissen und  die  beiden  Gyri,  welche  die  Sylvische  Grube  begrenzen, 
gegenüber  dem  unteren  Ausläufer  der  Rolandischen  Furche  (W  Fig.  21) 
zerquetscht.  Nachdem  schon  am  zweiten  Tage  eine  leichte  Parese  dei* 
Schliessmuskeln  des  Unterkiefers  und  des  Levator  palpebrae  superioris 
nebst  einer  aphasischen  Sprachstörung  beobachtet  war,  begannen  am 
dritten  Tage  Krämpfe.  Dieselben  gingen  niemals  in  allgemeine  Con- 
vulsionen  über,  sondern  beschränkten  sich  immer  auf  einzelne  Muskel- 
gruppen der  gegenüberliegenden  (rechten)  Körperhälfte.  Insbesondere 
wurde  der  rechte  Mundwinkel,  die  Nasenflügel,  die  Lider,  die  Zunge  in 
Bewegung  gesetzt;  ferner  machten  die  Finger  krampfhafte  Flexions- 
und Extensionsbewegungen;  auch  die  Muskeln  der  rechten  Hals-  und 
Nackenseite  waren  in  ähnlicher  Weise  betheiligt.  Als  der  Kranke  am 
sechsten  Tage  zu  Grunde  gegangen  war,  fand  sich  ausser  den  erwähnten 
Veränderungen,  dass  auf  der  Oberfläche  der  linken  Hemisphäre  ein  im 
Zerfallen  begriflenes  Blutextravasat  lag,  welches  hauptsächlich  den 
linkeil  Stirnlappen  einnahm,  sich  aber  auch  über  den  Scheitel-  und 
Schläfeulappen  erstreckte.  Die  Oberfläche  des  Frontallappeus  war  bis 
zu  ganz  geringer  Tiefe  erweicht,  während  die  Hirnhäute  keine  wesent- 
lichen Veränderungen  zeigten. 

Durch  die  letztan geführten  Befunde,  sowie  dadurch,  dass  die  ur- 
sprüngliche Läsion  sich  über  drei  Windungen  erstreckte,  wird  die  Rein- 
heit der  Beobachtung  wesentlich  getrübt,  ebenso  wie  die  eitrige  Menin- 
gitis in  meinem  Falle  complicirende  Momente  eingeführt  hatte.  Gleich- 
W'ohl  ist  dieser  Publication  eine  grosse  Wichtigkeit  nicht  abzusprechen, 
denn  nach  den  früher  schon  hervorgehobenen  Erfahrungen  zu  schliessen, 
darf  man  kleine  Läsionen  der  Oberfläche  ohne  anderweitige  Zerstörungen 
der  Hirnsubstanz  und  ohne  Betheiligung  der  Häute  nur  höchst  aus- 
nahmsweise auf  dem  Sectionstische  erwarten.  Es  wird  also  wesentlich 
darauf  ankommen  durch  fernere  Autopsien  zu  constatiren,  ob  Verletzungen 
des  Rolandischen  Theiles  der  ersten  Temporalwinduug  oder  des  Sylvi- 
sehen  Theiles  der  hinteren  Centralwindung  partielle  Convulsionen  hervor- 
gebracht   haben.     Vor    der  Hand    aber    dürfte    als    wesentlich    hervor- 


'^)  Wernher,  Verletzung  des  Lobus  frontalis  der  linken  Grosshirnhälfte, 
ein  Beitrag  zur  Pathologie  der  Gehirnverletzungen  und  zur  Localisation  der 
Gehirnfunctionen.    Virchow's  Archiv  Bd.  LVI.   H.  3. 


—     184     — 

zuheben  sein,  dass  wiederum  eine  Verletzung  des  unteren  Areals  der 
vorderen  Centralwindung  localisirte  Krämpfe  auslöste,  welche  das 
Gesicht,  die  Zunge,  die  obere  Extremität  und  den  Hals  in  Bew^egung 
setzten,  während  wie  in  meinem  Falle  die  untere  Extremität,  deren 
Central  punkt  am  weitesten  A'on  dem  Herde  entfernt  liegt,  in  Ruhe 
blieb.   — 

Vergleichen  wir  hiermit  eine  Beobachtung  von  Gr'iesinger*),  auf 
die  M.  Bernhardt  neuerdings  wieder  aufmerksam  gemacht  hat. 

Ein  41  jähriger  Tagelöhner  war  plötzlich  mit  Zuckungen  im 
rechten  Beine,  die  Anfangs  nicht  alle  Tage  kamen  und  nur  ganz 
momentan  waren,  erkrankt..  Später  wurden  die  Anfälle  häufiger,  so 
dass  sie  selbst  mehrmals  täglich  auftraten.  Vier  Wochen  nach  dem 
Beginne  der  Erkrankung  wurde  auch  der  rechte  Arm  convulsivisch 
bewegt,  während  gleichzeitig  eine  leichte  Parese  beider  Extremitäten 
eintrat.  Acht  Tage  später  wurde  Patient  in  die  Griesinger'sche 
Klinik  aufgenommen,  wobei  noch  constatirt  wurde,  dass  durch  willkür- 
liche Bewegungen  des  Beines  sofort  ein  Krampfanfall  hervorgebracht 
werden  konnte.  Dabei  dreht  sich  der  Kopf  stark  nach  rechts  und  es 
tritt  Zittern  und  Zucken  bald  in  den  Flexoren  bald  in  den  Extensoren 
der  rechten  Extremitäten  ein.  Beide  ßulbi  stellen  sich  nach  rechts, 
beide  Pupillen  erweitern  sich  und  reagiren  nicht,  manchmal  beide,  ge- 
wöhnlich ein  Facialis  betheiligen  sich  an  dem  Anfalle;  auch  die  im 
Munde  liegende  Zunge  zittert  am  Ende  des  Anfalls.  Zu  Anfang  seiner 
Krankheit  war  der  Patient  nur  ausnahmsweise  bewusstlos  geworden, 
später  hingegen  immer,  ohne  dass  sich  jedoch  mit  Ausnahme  der  letzten 
Zeit  seines  Lebens  Muskeln  der  andern  Körperhälfte  betheiligt  hätten. 
Hingegen  war  eine  anfangs  kaum  wahrnehmbare  Facialis-Paralyse  noch 
am  Todestage  nicht  recht  deutlich  geworden,  während  die  Extremitäten 
längst  ganz  gelähmt  waren. 

Der  Kranke  starb  80  Stunden  nach  der  Aufnahme.  Bei  der  Section 
fand  sich  zunächst  eine  4  cm  breite,  4,3  cm  lange,  5 — 6  Cysticercus- 
Blasen  enthaltende  Cyste,  w^elche  unmittelbar  der  linken  Seite  der  Falx 
anlag.  Ihr  vorderes  Ende  entsprach  einer  vom  Ohr  heraufgezogenen 
Linie.  Ausser  dieser  Blase  sassen  noch  5  etwa  bohnengrosse  Säcke  an 
der  Oberfläche  derselben  Hemisphäre  und  zwar  sowohl  in  den  hinteren 
Partieen  des  Scheitellappens  als  auch  auf  d'em  Stirnlappen.  Die  bei- 
gegebene Zeichnung  ist  nicht  sehr  deutlich  und  es  fehlt  leider  die  Be- 
nennung   der  Gyri.     Indessen    sind    doch    zwei    transversal   verlaufende 


*)  Griesinger,   Cysticerken  und  ihre  Diagnose.     Gesammelte  Abhand- 
lungen, Berlin,  1872,  Band  I,  S.  399—443. 


—     185     — 

Gyri,  welche  die  Stelle  der  Centralwindungen  einnehmen,  deutlicli  um- 
rissen, und  wenn  ich  mit  der  Zeichnung  die  Bemerkung,  dass  eine  vom 
Ohr  heraufgezogene  Linie  das  vordere  Ende  des  Sackes  getroffen  hätte, 
in  Beziehung  bringe,  so  scheinen  mir  diese  Gyri  allerdings  den  Central- 
windungen zu  entsprechen.  Denn  die  genannte  Cyste  bedeckt  die 
medialen  Ausläufer  derselben  gänzlich  und  dehnt  sich  um  ein  Geringes 
nach  vorne  und  hinten  aus. 

Vergleichen  wir  nun  die  Ausbreitung  der  Krampferscheinungen 
dieses  Falles  und  der  beiden  anderen  augeführten  Beobachtungen,  so 
finden  wir,  dass  die  Reihenfolge  eine  umgekehrte  war.  Hier  wurde 
zuerst  das  Bein,  dann  der  Arm,  dann  die  übrigen  Muskeln  ergriffen. 
So  sass  dann  auch  die  grösste  Cyste  an  dem  medialen  Rande  der 
Hemisphäre  zunächst  dem  Centralpunkte  für  die  untere  Extremität, 
während  in  den  beiden  anderen  Fällen  die  Läsion  den  lateralen  Theil 
einnahm.  Allerdings  ist  auch  diese  Beobachtung  nicht  rein,  denn  nicht 
nur  occupirte  der  Sack  den  Bereich  mehrerer  Windungen,  sondern  es 
fanden  sich  auch  mehrere  andere,  wenn  gleich  viel  kleinere  Blasen  an 
anderen  Stelleu  des  Gehirns.  .  Mit  Bezug  hierauf  könnte  ich  nur  die 
anlässlich  der  vorigen  Beobachtungen  gemachten  Bemerkungen  wieder- 
holen. 

Uebrigens  würden  auch  die  später  auftretenden  linksseitigen  Krampf- 
anfälle ihre  Erklärung  in  einer  stark  haselnussgrossen  Blase  finden, 
welche  offenbar  an  der  unteren  Grenze  des  medialen  Drittels  der 
vorderen  Centralwindung  lag,  wenn  es  nicht  sein  Missliches  hätte, 
Schlüsse  aus  Krampfanfällen  ziehen  zii  wollen,  die  den  Charakter  der 
epileptischen  schon  angenommen  haben.  — 

Grösseres  Literesse  gewinnen  diese  Beobachtungen  noch  durch  einige 
kriegschirurgische  Erfahrungen,  welche  Löffler*)  mittheilt,  und  auf  die 
Th.  Simon**)  bereits  die  Aufmerksamkeit  gelenkt  hat. 

Im  Anschlüsse  an  die  Beobachtung  Griesinger's  isr  zunächst 
Löffler's  Fall  23***)  von  Literesse.  Hier  bestand  eine  Schussfractur 
beider  Scheitelbeine  auf  der  Höhe  des  Scheitels.  Die  Wunde  war 
etwa  8  Groschen  gross,  die  Dura  nicht  verletzt,  hingegen  nach  innen 
gedrückt.  Hier  nun  waren  beide  Beine  gelähmt  und  liy perästhetisch, 
während  anderweitige  Lähmungserscheinungen  nicht  eintraten. 


*)  Löffler,    Generalbericht  über   den  Gesundheitsdienst  im  Feldzuge 
gegen  Dänemark  1864,  Berlin  1867. 

I  «I    ^**)  Th.  Simon,  Zur  Pathologie  der  Grosshirnrinde.  Beii.  Idin.  Wochen- 
schr.  1873.  No.  4  und  5. 

***)  Löffler,  A.  a.  0.  S.  89f.      ■ 


—     1.86     — 

Daran  reiht  sich  der  A'ollkoramen  mit  den  angeführten  Thatsachen 
im  Einklänge  stehende  19.  Fall*).  Ein  dänischer  Untercorporal  war 
am  vorderen  oberen  Winkel  des  linken  Scheitelbeins  nahe  der  Pfeilnaht 
durch  eine  Flintenkugel  verwundet  worden.  Es  bestand  eine  2  Zoll 
lange,  ^/^  Zoll  breite  und  4  Linien  tiefe  Depression.  Bei  der  Trepanation 
wurde  ein  12  Linien  langes,  5  Linien  breites  und  2^/2  Linien  dickes 
Knochenstück  entfernt,  welches  die  Dura  durchbohrt  und  den  Sinus 
longitudinalis  verletzt  hatte.  „Im  Moment  der  Verletzung  war  der 
Soldat  zusammengebrochen  und  nicht  mehr  von  der  Stelle  gegangen, 
weil  das  rechte  Bein  vollkommen  bewegungs-  und  gefühllos 
geworden."  Am  siebenten  Tage  nach  der  Verwundung  dehnte 
sich  die  Lähmung  über  den  rechten  Arm  aus;  verschwand  aber 
aus  diesem  Gliede  bald  wieder,  während  sich  die  Lähmung  des  Beines 
langsam  verbesserte.  Also  auch  in  diesem  Falle  betraf  eine  Läsion  der 
Scheitelhöhe  der  vorderen  Central winduug  (die  vorderste  Partie  des 
Scheitelbeines  deckt  die  vordere  Centralwindung)  zunächst  die  Innervation 
des  Beines  und  breitete  sich  dann  entsprechend  der  Lage  der  Centreu 
auf  den  Arm  aus,  ohne  die  übrigen  Muskeln  des  Körpers,  insbesondere 
die  des  Gesichts  in  ihr  Bereich  zu  ziehen. 

Der  Kranke  des  Falles  11**)  hatte  einen  Splitterbruch  durch  eine 
streifende  Flintenkugel  erhalten.  Das  rechte  Scheitelbein  war  auf 
seiner  Höhe  in  der  Ausdehnung  von  1  Zoll  Länge  und  1/4  Zoll  Breite 
zerschmettert.  Bei  der  Section  fand  sich  ein  Hühnerei  grosser  Abscess. 
Die  Extremitäten  waren  sofort  gelähmt  gewesen,  der  Facialis  wurde 
jedoch  erst  am  11.  Tage  paretisch  und  am  12.  Tage  deutlicher  gelähmt.  — 
Auch  im  Falle  20***)  hatte  eine  Schussfractur  der  Höhe  des  rechten 
Scheitelbeins  ausschliesslich  zu  einer  Parese  der  linken  unteren  Ex- 
tremität geführt.  — 

Th.  Simonf)  endlich  beschreibt  den  Fall  eines  dementen  Knaben, 
der  neben  Aphasie  rechtsseitige  Extremitäten-Lähmung  und  Contractar 
hatte.  Der  Facialis  war  hingegen  bis  zu  Ende  freigeblieben.  Bei  der 
Section  wurde  Atrophie  und  Sklerose  der  linken  Grosshirnrinde  ohne 
Betheiligung  tieferer  Schichten  gefunden.  Der  Process  hatte  die  untere 
Hälfte  der  hinteren  Centralwindung,  die  unterste  Spitze  der  vorderen, 
die  Inselwindungen,  die  ganzen  hinteren  zwei  Drittel  der  dritten  Stirn- 
windung,   die    Parietal -Windungen    mit    Ausnahme    der    obersten    und 


*)  Löffler,  A.  a.  0.  S.  82  ff. 

**)  Löffler,  A.  a.  0.  S.  73. 

***)  Löffler,  A.  a.  0.  S.  88. 

'[)  Th.  Simon,  A.  a.  0.   No.  5. 


—     187     — 

sämmtliclie  Occipital -Windungen  zerstört.  Diejenigen  Tlieilo  indessen 
wo  die  Centralpunkte  für  den  Facialis  und  die  Extremitäten  zu  suchen 
wären,  waren  verschont  geblieben.  Die  während  des  Lebens  an  den 
Extremitäten  beobachteten  Motilitätsstörungen  würden  sich  also  aus  dem 
Leichenbefunde  in  so  einfacher  Weise  nicht  erklären,  während  die  Ver- 
schonung  des  Facialis  immerhin  bemerkenswerth  erscheint.  Simon 
selbst  ist  zu  vorsichtig,  um  aus  einem  chronisch  verlaufenden  Falle, 
der  mit  einem  so  ausgedehnten  Rindendefect  endete,  weitgehende  Schlüsse 
ziehen  zu  wollen.   — 

Wenn  wir  nun  einen  Rückblick  auf  die  angeführte  Casuistik  werfen, 
so  zeigt  sich,  dass  die  üebereinstimmung  in  den  Symptomen  der  einzelnen 
Fälle,  so  klein  ihre  Zahl  auch  sein  mag,  werth volle  Anhaltspunkte  für 
die  uns  beschäftigende  Frage  ergiebt.  üeberall  finden  wir,  dass 
Läsionen  der  Höhe  des  Scheitellappens  von  Motilitäts- 
störungen der  Extremitäten  begleitet  sind,  und  dass  Läsionen 
der  Basis  des  Scheitellappens  Motilitätsstörungen  im  Be- 
reiche der  Mund-  und  Zungenmuskulatur  auslösen.  Werden 
grössere  Abschnitte  der  vorderen  Centralwindung  in  den  Bereich  der 
Affection  gezogen,  so  betheiligen  sich  mehr  und  mehr  Muskelgruppen, 
insbesondere  auch  der  Rest  des  Facialis. 

Auf  der  anderen  Seite  kann  ich  nicht  unterlassen  die  Aufmerksam- 
keit auf  diejenigen  Beobachtungen  zu  lenken,  bei  denen  der  Stirnlappen 
durch  äussere  Gewalt  fast  gänzlich  vernichtet  war,  ohne  dass  irgend 
welche  Motilitätsstörungen  nachgewiesen  werden  konnten.  Diese  Fälle 
sind  so  zahlreich  und  bekannt,  dass  ich  die  Mittheilung  einer  Auslese 
derselben  für  überflüssig  erachte. 

Ich  bin  weit  entfernt  —  das  brauche  ich  wohl  kaum  zu  sagen  — 
hiermit  die  angeregten  Fragen  für  abgeschlossen  zu  erachten.  Indessen 
lehrt  gerade  die  Gegenüberstellung  der  immensen,  von  keinen  Motilitäts- 
störungen begleiteten  Verletzungen  des  Stirnlappens  und  der  kleinen, 
durch  wohlumgreuzte  Alterationen  der  Bewegung  charakterisirten 
Läsionen  des  Scheitellappens,  dass  die  grössere  Wahrscheinlichkeit  für 
die  eingangs  von  mir  entwickelten  Ansichten  spricht.  Es  kann  nicht 
fehlen,  dass  die  von  mir  in  dem  vorigen  Aufsatze  ausgesprochene 
Hoffnung  allmählich  in  Erfüllmig  geht,  dass  es  durch  Vergleichung 
vieler  analoger  Fälle  gelingen  wird,  das  Unwesentliche  in 
den  Symptomen  zu  erkennen  und  auszuscheiden. 


Anmerkungen. 

22)  Die  Localisation  der  motorischen  Function  auf  der  Hirnrinde  des 
Affen  hat  seither  die  merkwürdigsten  Wandlungen  erfahren.  Ferrier  fand  bei 
seinen  Reizversuchen,  dass  die  motorischen  Centren  beide  Centralwindungen 
einnehmen  und  ausserdem  noch  combinirte  Augen-  und  Kopfbewegungen,  sowie 
Ohrbewegungen  von  der  frontalen,  occipitalen  und  sphenoidalen  Nachbarschaft 
der  Centralwindungen  aus  hervorzubringen  sind. 

Weit  ausgedehnter  ist  das  motorische  Gebiet,  von  ihm  bekanntlich  Fühl- 
sphäre genannt,  bei  H.  Munk-*).  Es  nimmt  mit  Ausnahme  des  Hinterhaupts- 
und Schläfenlappens  die  ganze  Convexität  ein.  Namentlich  reicht  die  Region 
für  das  Hinterbein  vom  Sulcus  parieto-occipitalis  bis  zur  vorderen  Grenze  der 
vorderen  Centralwindung  und  die  Vorderbeinregion  über  die  mittleren  Theile 
beider  Centralwindungen  und  die  hintere  Hälfte  des  medialen  Theiles  des 
Stirnlappens  bis  an  die  grosse  Längsspalte.  Das  Orbiculariscentrum,  welches 
sich  bei  ihm  zu  einer  Fühlsphäre  des  Auges  entwickelt  hat,  und  welches  er 
identisch  mit  dem  Orbiculariscentrum  des  Hundes  beschreibt  und  benennt, 
liegt  nicht  in  der  vorderen  Centralwindung,  sondern  nimmt  beim  Atfen  den 
Gyrus  angularis  ein.  Wie  Munk  zu  dieser  Kenntniss  gelangt  ist,  th eilt  er  uns 
ebensowenig  mit,  als  anlässlich  der  betreffenden  Versuche  an  Hundegehirnen; 
wir  erfahren  nur,  dass  es  sich  um  Exstirpatipnsversuche  handelt.  Da  er 
meinen  eigenen  Versuch  und  die  Ansichten,  die  ich  mir  auf  Grund  desselben 
gebildet  hatte,  gar  nicht  erwähnt,  so  konnte  er  ohne  Schwierigkeit  jeder  Er- 
klärung der  Differenzen  zwischen  seinen  Ergebnissen  und  den  meinigen  aus 
dem  Wege  gehn. 

In  einer  späteren  Arbeit**)  wird  dann  mitgetheilt,  dass  er  neben  grösseren 
auch  kleinere  Exstirpationen  vorgenommen  hat  und  dass  „die  Rindenstellen, 
von  welchen  aus  durch  scliAvache  elektrische  Reizung  Bewegungen  eines  Körper- 
theiles  zu  erzielen  sind,  immer  innerhalb  derjenigen  Region  gelegen  sind, 
welcher  derselbe  Körpertheil  nach  den  Ergebnissen  der  Exstirpationen  zu- 
gehört". Aber  auch  hier  fehlt  es  an  jeder  näheren  Angabe  über  den  Ort  und 
den  Grad  der  angewendeten  Reizung  und  die  irt  des  erzielten  Reizeffectes, 
so  dass  wir  z.  B.  nicht  erfahren,  ob  dieselbe  Stromstärke,  welche  in  der  vor- 
deren Centralwindung  das  Hinterbein  in  Bewegung  setzte,  den  gleichen  Reiz- 
eifect  auch  in  der  hinteren  Partie  des  oberen  Scheitelläppchens  hatte,  oder  wie 
dieser  Reizeffect  ausfiel  und  ob  der  Orbicularis  palpebrarum  von  der  vorderen 
Centralwindung  oder  vom  Gyrus  angularis  (Augenregion)  aus  in  Thätigkeit  zu 
versetzen  war. 

Endlich  im  Jahre  1896,    also  16  Jahre  nach  jener  1.  Mittheilung,  giebt 


*)  Munk,  Gesammelte  Mittheilungen.  1890.   S.  50,  51. 
**)  H.  Munk,   Ueber  die  Fühlsphären   der  Grosshirnrinde.     Sitzungsbe- 
richte etc.   1892. 


—      189     — 

Munk*)  nähere  Auskunft  über  den  Erfolg  von  Partialexstirpationen  der  Extre- 
mitätenregionen. Da  aber  auch  diese  immer  grössere  Abschnitte  betreffen,  so 
wird  die  Frage  nach  der  Ausdehnung  dieser  Regionen  keineswegs,  am  aller- 
wenigsten in  seinem  Sinne  entschieden.  Ebensowenig  sind  die  bei  derselben 
Gelegenheit  berichteten  Resultate  von  Reizversuchen,  welche  Munk  wesentlich 
im  Interesse  der  Polemik  gegen  die  gleich  zu  erwähnenden  Versuche  von 
Beevor  und  Horsley  anführt,  da  sie  viel  zu  summarisch  gehalten  sind,  ge- 
eignet, den  hier  in  Frage  gestellten  Sachverhalt  aufzuklären.  Namentlich  geht 
aus  keiner  der  angeführten  Arbeiten  hervor,  ob  er  den  Focus  für  den  Orbicu- 
laris  wie  ich  in  die  vordere  Centralwindung  oder  in  seine  Augenregion,  den 
Gyrus  angularis  localisirt. 

Beevor  und  Horsley  haben  eine  Reihe  von  Untersuchungen  an  Affen- 
gehirnen vorgenommen,  auf  die  wir  hier  nicht  näher  eingehen  können**).  Es 
genügt  hervor  zu  heben,  dass  diese  Autoren  bei  Anwendung  des  Induk- 
tionsstromes  das  wirksame  Reizgebiet  bei  kleineren  Affen  fast  ebenso  gross  als 
Munk  fanden,  während  sie  es  bei  dem  Orang  Utang  der  Hauptsache  nach  auf 
die  vordere  Centralwindung  begrenzen  konnten.  Nur  der  Daumen  fand  sich 
gegenüber  einem  anderen  Focus  für  den  Daumen  auch  in  der  hinteren  Central- 
windung repräsentirt,  ebenso  der  Zeigefinger  gegenüber  den  anderen  Fingern 
und  gleichfalls  der  Orbicularis  palpebrarum  gegenüber  dem  Orbicularis  pal- 
pebrarum sowie  endlich  die  Mundmuskulatur  gegenüber  der  Mundmuskulatur 
in  der  vorderen  Centralwindung.  Im  Uebrigen  liegen  die  einzelnen  Central- 
gebiete :  Untere  Extremität,  obere  Extremität,  Facialis  und  Fresswerkzeuge 
etc.  in  derselben  Reihenfolge  wie  bei  meinem  Versuch  in  der  vorderen  Cen- 
tralwindung. Auf  die  feinere  Detailirung  und  Localisirung  der  einzelnen  Be- 
wegungsformen und  Combinationen,  die  Beevor  und  Horsley  bei  ihren  zahl- 
reichen Versuchen  aufdecken  konnten,  hier  näher  einzugehen,  muss  ich  mir 
versagen. 

Endlich  haben  Grünbaum  und  Sherrington***)  durch  unipolare 
Reizung  an  anthropoiden  Affen,  insbesondere  dem  Schimpansen,  die  Reprä- 
sentation sämmtlicher  von  mir  namhaft  gemachter  Muskelgruppen  und  dazu 
die  der  anderen  mir  entgangenen  Muskeln  in  der  vorderen  Centralwindung 
nachgewiesen    und  zwar  fanden    sie    die    einzelnen  Centren    in    der    gleichen 


*)  H.  Munk,    Ueber   die  Fühlsphären  der  Grosshirnrinde.      Sitzungsbe- 
richte etc.  1896.   S.  17—21. 

**)  Beevor  und  Horsley,  A  minute  analysis  of  the  various  movements 
produced  by  stimulating  etc.  Philosophical  Transactions  1887.  Dieselben: 
A  further  minute  analysis  by  electric  Stimulation  etc.  (Macacus  sinicus).  Ebenda 
1888.  Dieselben:  A  record  of  etc.  Electrical  excitation  etc.  in  an  Orang 
Utang.    Ebenda  1890. 

***)  Grünbaum  und  Sherrington,  Observations  on  the  physiology  of 
the  cerebral  cortex  of  some  of  the  higher  apes.  Proc.  of  the  Royal  Society. 
Vol.  69. 


—     190     — 

Reihenfolge  gelagert,  wie  ich  dies  angegeben  hatte.  Hiernach  scheint  mir 
der  Sachverhalt  so  klar  als  nur  möglich  zu  liegen.  Exstirpationsversuche 
allein  vermögen  zwar  Licht  auf  die  Function  des  angegriffenen  Rindentheils 
zu  werfen,  aber  für  die  Begrenzung  der  einzelnen  Function  auf  die  Rinde 
bedeuten  sie  nur  wenig.  Wenn  eine  Function  durch  Exstirpation  eines  be- 
stimmten Rindenstiiokes  nicht  beeinträchtigt  wird,  so  erwächst  daraus  freilich 
die  Wahrscheinlichkeit,  dass  diese  Parthie  mit  der  fraglichen  Function  nichts 
zu  thun  hat;  wird  sie  aber  beeinträchtigt,  so  lässt  sich  wegen  der  durch  den 
Eingriff  bedingten  Nebenwirkungen  keineswegs  schliessen,  dass  der  zerstörte 
Rindentheil  in  der  Norm  in  directen  Beziehungen  zu  jener  Function  steht  und 
das  um  so  weniger,  als  ein  grosser  Theil  der  durch  kleine  Exstirpationen  ge- 
setzten Störungen  der  Function  höchst  vergänglicher  Natur  ist. 

Es  bleiben  also  die  Reizversuche.  Werden  diese  mit  den  nöthigen  Cau- 
telen  angestellt,  so  gelingt  es  immer,  eine  ganz  kleine  Stelle  ausfindig  zu 
machen,  die  aufStröme  von  minimaler  Stärke  mit  einer  bestimmten  motorischen 
Reaktion  und  nur  mit  dieser  antwortet.  Diese  Stelle  ist  als  der  eigentliche 
Focus  der  Function,  als  der  Mittelpunkt  des  Durchgangspunktes  anzusehen, 
durch  welchen  die  frei  gewordenen  Kräfte  eines  grösseren  benachbarten  Areals 
sich  nach  aussen  entladen.  Wie  gross  die  den  einzelnen  Focis  zugeordneten 
nachbarlichen  Regionen  in  jedem  Einzelfalle  sind,  dürfte  sich  durch  die  uns 
bekannten  Untersuchungsmethoden  kaum  entscheiden  lassen.  Es  kommt  also 
vornehmlich  und  ganz  besonders  auch  in  praktischer  Beziehung  auf  die  Auf- 
suchung jener  Reizpunkte  —  Foci  -■  selbst  an.  Diese  werden  mit  um  so 
grösserer  Sicherheit  aufzufinden  sein,  je  sorgfältiger  die  erforderlichen  Cautelen 
beobachtet  werden.  Bis  zum  Ueberdrusse  habe  ich  wiederholt,  dass  nur  die 
Verwendung  schwacher  Ströme  und  nur  die  Combination  der  galvanischen  und 
der  faradischen  Reizmethode  zu  sicheren  Resultaten  führen  könne,  ohne  dass 
ich  doch  damit  allgemeines  Gehör  gefunden  hätte.  Wie  sehr  ich  im  Rechte 
war,  das  zeigt  wohl  am  besten  der  Ausgang  dieses  Streites.  Wenn  jetzt 
Grüübaum  und  Sherrington  bei  Troglodytes  niger  zu  denselben  Resul- 
taten gekommen  sind,  wie  ich  bei  Innuus  Rhesus,  soviärd  niemand  glauben,  dass 
die  anatomischen  und  physiologischen  Verhältnisse  beim  Orang  und  niedri- 
geren Affen  andere  seien,  d.  h.  also,  dass  die  fraglichen  Centren  in  anderen 
Windungen  lägen,  sondern  man  wird  die  Ursachen  der  abweichenden  Resul- 
tate der  Versuclie  mit  Recht  in  den  angewendeten  Methoden  und  den  ander- 
weitigen Differenzen  der  untersuchten  Gehirne  suchen.  Und  hierin  liegen  sie 
in  der  That.  Hauptsächlich  kommt  die  Grösse  der  untersuchten  Gehirne  in 
Betracht.  Je  kleiner  das  Gehirn,  um  so  weniger  sind  die  einzelnen  Centren 
auseinander  zu  halten  und  um  so  leichter  diffundiren  Ströme  aus  der  Nachbar- 
schaft. So  erklärt  sich  ohne  Weiteres  die  angebliche  motorische  Erregbarkeit 
der  hinteren  Centralwindung  aus  der  Diffusion  von  Strömen  nach  der  hinteren 
oder  auch  der  vorderen  Lippe  der  Centralfurche  oder  gar  der  oberflächlichen 
Substanz  der  vorderen  Centralwindung. 

Ich    bin  wirklich    sehr   weit    entfernt,    den  Werth    jenes    einen   im  Text 


—     191      — 

publizirten  Versuches  am  Affen,  den  ich  später  nur  noch  wenige  Male  be- 
stätigen konnte,  zu  überschätzen;  aber  dieBehandliing  als  quantito  ncgligoable, 
wie  sie  ihm  meistens  zu  Theil  geworden  ist,  hat  er  denn  doch  nicht  verdient. 
Im  Gegentheil  hat  der  Erfolg  gelehrt,  dass  man  bei  Anwendung  richtiger  Me- 
thoden und  genügender  Sorgfalt  auch  an  .kleinen  Affen  alles  Wesentliche  zu 
erkennen  vermag  und  dass  ein  einziger  solcher  Versuch  unter  Umständen 
mehr  werth  sein  kann,  als  zahllose  andere  weniger  vorsichtig  ausgeführte  Ver- 
suche. 

23)  Schon  hier  habe  ich  mich  über  die  Zugehörigkeit  der  vorderen  Cen- 
tralwindung  zum  Scheitellappen  unbestimmt  ausgedrückt,  wenn  ich  auch  in 
dem  Folgenden,  um  überhaupt  einen  descriptiven  Ausdruck  zu  gewinnen,  die 
motorische  Region  als  zum  Scheitellappen  gehörig  bezeichnete.  Sehr  bald 
jedoch,  schon  während  meiner  Züricher  Thätigkeit  (1875 — -79)  habe  ich  mich, 
abweichend  von  den  verschiedenen  damals  üblichen  Nomenclaturen  daran  ge- 
wöhnt, die  Centralwindungen  von  den  anderen  Hirnlappen  abzusondern  und 
sie  als  „Lappen  der  Centralwindungen"  (im  Gegensatz  zum  „Centrallappen", 
Reil'sche  Insel)  zu  bezeichnen. 

24)  Die  Identificirung  von  g  und  h  mit  der  „Scheitelregion",  welche 
sich  ursprünglich  im  Texte  fand,  war  sicherlich  unrichtig. 

25)  Obwohl  ich  meine  Ansichten  über  die  Bedeutung  der  Furchen  noch 
weiter  geändert  habe,  habe  ich  die  vorstehenden  Auslassungen  doch  unver- 
ändert stehen  lassen,  weil  es  unmöglich  gewesen  wäre  den  einmal  vorhandenen 
Text  meinen  gegenwärtigen  Anschauungen  anzupassen.  In  der  Literatur  haben 
sich  mancherlei  Bestrebungen,  die  Centralfurche  mit  dieser  oder  jener  Furche 
der  Gehirne  niederer  Säuger,  z.  B.  der  Carnivoren  zu  identificiren,  geltend  ge- 
macht. Einzelne  haben,  ich  will  jetzt  nicht  erörtern  weshalb,  meine  längst 
aufgegebene  Ansicht,  dass  sie  dem  Sulcus  cruciatus  entspräche,  wieder  auf- 
gegriffen. Andere  haben,  indem  sie  das -Bärengehirn  zum  Vergleich  herbei- 
zogen, ihr  Homologen  in  dem  Sulcus  suprasylvius  anterior  gesucht.  Ich  bin 
der  vielleicht  etwas  ketzerischen  Ansicht,  dass  ein  Homologen  der  Central- 
furche bei  den  niederen  Säugern  überhaupt  nicht  existirt  und  dass  es  auch 
sonst  ein  vergebliches  Beginnen  ist,  die  einzelnen  Furchen  und  Windungen 
verschiedener  Species  mit  Bezug  auf  ihre  physiologische  Function,  so  wie 
dies  von  mir  und  anderen  versucht  worden  ist,  identificiren  zu  wollen. 

Der  im  Text  von  mir  ausgesprochenen  Ansicht  Reichert's,  dass  die 
Furchen  nur  Ernährungswege  darstellen,  auf  denen  die  Gefässe  am  bequemsten 
in  die  Hirnmasse  eindringen  können,  gebe  ich  vielmehr  noch  insofern  eine 
fernere  Folge  und  Erweiterung,  als  ich  annehme,  dass  die  Gestaltung  der 
Furchen  lediglich  durch  die  Gestaltung  der  Schädelkapsel  und  der  damit  in 
Zusammenhang  stehenden  Configuration  des  Gehirns  ist.  Sie  ergiebt  sich  also 
als  etwas  an  sich  Gleichgültiges,  der  grössten  Variation  Zugängliches  und  nur 
insofern  Gesetzmässiges,  als  sie  der  Gesetzmässigkeit  derjenigen  Factoren,  von 
denen  sie  abhängt,  in  grossen  Zügen  folgt.  So  beweist  also  z.  B.  die  ver- 
schiedene Lagerung  des  Sulcus  cruciatus  bei  verschiedenen  Species  an  sich 


—     192     — 

nicht,  dass  sich  die  ihn  bei  der  einen  Species  umgebenden  Centralgebiete  von 
bestimmter  physiologischer  Function  bei  der  anderen  Species  entsprechend  ver- 
schoben haben. 

Dagegen  hat  sich  die  im  Text  gegebene  Identificirnng  der  motorisch  er- 
regbaren Gyri  des  Hunde-  und  Kat^engehirns  einerseits,  mit  einer  bestimmten 
Region  des  Affen-  und  Menschengehirns  andererseits  in  der  glänzendsten  Weise 
als  richtig  erwiesen  (vergl.  oben),  und  gerade  hieraus  ergiebt  sich  auch  die 
Richtigkeit  meiner  vorstehenden  Ansicht  über  den  Werth  oder  den  ünwerth 
der  Furchenbildung. 

Der  Werth  der  Furchenbildung  für  die  Vergrösserung  der  Oberfläche  wird 
natürlich  durch  alle  diese  Auslassungen  garnicht  berührt. 


IX.    Kritische  und  experimentelle  Uiitersiichimgeii  zur  Physiologie 

des  Grosshiriis,  im  Aiischluss  an  die  Untersuchungen  der  Herren 

L.  Hermann,  H.  Braun,  C.  Carville  und  H.  Duret. 

Die  Arbeit  L.  Hermann 's*)  beginnt  mit  folgendem  Satze: 

„Meine  Versuche  hatten  den  Zweck  zu  entscheiden,  inwieweit 
„der  von  verschiedenen  Seiten  erhobene  Einwand  berechtigt  sei, 
„•dass  die  Erfolge  der  Fritsch-Hitzig'schen  Reizversuche  an  der 
„Hirnrinde  nicht  von  Erregung  der  Rindenstellen  selbst,  sondern 
„von  der  tiefer  gelegener  Theile  herrühren." 

Diese  Entscheidung  wäre  nach  Hermann  in  folgender  Weise 
herbeizuführen : 

„ —  —  der  Erfolg  muss  ausbleiben,  wenn  man  die  der  Electroden- 
,.stellung  unmittelbar  anliegende  Hirnpartie  fuuctionsunfähig  macht, 
„Diese  Prüfung  war  die  Hauptaufgabe  meiner  Versuche**)" 

Dem  entsprechend  zerstörte  Hermann  bei  sieben  Hunden  unser 
sogenanntes  Centrum  für  das  Hinterbein  theils  durch  Aetzung,  theils 
durch  Exstirpation,  theils  durch  Combiuation  von  Aetzung  und  Exstir- 
pation,  reizte  von  Neuem  und  da  der  Reizeffect  nun  nicht  ausblieb, 
schliesst  er  seine  Arbeit  mit  folgendem  Satze: 

„Ich    schliesse    mit    der    Behauptung,     dass    die    Versuche    von 
Fritsch  und  Hitzig,    so  interessant  und  schätzbar  sie  sind,    zu 
keinerlei    Schlüssen    hinsichtlich    der    Functionen    der 
Grosshirnrinde  berechtigen ** *) " . 
Zur    Begründung    der    vorstehenden    Behauptung    verwerthet   Her- 
mann   noch    eine    Reihe    anderer  Argumente,    welche     wir    später    ins 
Auge  zu  fassen  haben.     Zuvörderst    erhebt    sich    die  Frage,    einmal  ob 


*)  L.  Hermann,  Ueber  elektrische  Reizversuche  an  der  Grosshirnrinde. 
Pflüger' s  Archiv,  Bd.  X.   S.  77—85. 
**)  A.  a.  0.   S.  79. 
***)  A.  a.  0.   S.  84. 

Hitzig,  Gesammelte  Abhancll.    I.  Theil.  13 


—     194     — 

diejenigen,  von  Hermann  beigebrachten  Thatsachen,  deren  Fest- 
stellung er  selbst  als  die  Hauptaufgabe  seiner  Versuche  bezeichnet, 
richtig  sind,  sodann  ob  sie,  diesen  Fall  vorausgesetzt,  das  be- 
weisen, was  sie  beweisen  sollen. 

Die  erste  Hälfte  dieser  Frage  kann  ich  nun  um  so  mehr  bejahen, 
als  ich  darüber  nicht  nur  eigene,  wiederholt  ausgesprochene*)  Erfah- 
rungen besitze,  sondern  auch,  wie  man  sehen  wird,  eine  andere  Mög- 
lichkeit garnicht  existirt,  gleichviel  wer  mit  seiner  Ansicht  von  dem 
Zustandekommen  der  Reizeffecte  Recht  hat.  Es  ist  also  ganz  richtig, 
dass  nach  Aetzung  oder  Abtragung  der  oberflächlichen  Schichten 
unserer  sogenannten  Centra  ,die  elektrische  Reizung  fernerhin  Zuckungen 
in  den  vorher  bewegten  Motoren  setzt. 

Die  zweite  Hälfte  dieser  Frage  muss  ich  verneinen,  und  die  Be- 
gründung meines  Widerspruches  dürfte  um  so  mehr  ins  Gewicht  fallen, 
als  es  sich  einfach  um  die  Praemisse  für  den  von  Hermann  angetre- 
tenen Beweis  handelt. 

Unter  einer  Bedingung  würde  die  Hermanusche  Argumentation 
zutreffen,  nämlich  dann,  wenn  ich  behauptet  hätte,  in  der  Rinde  lägen 
motorische  Cent ren,  deren  Function  neben  der  vitalen  organischen  Er- 
regung durch  die  elektrische  Erregung  ihrer  eigenen  Substanz 
und  nur  durch  diese  zur  Anschauung  gebracht  werden  könnte. 
Allerdings  müsste  dann  folgerecht  der  Reizeifect  mit  dem  Fortfall 
dieser  Substanz  erlöschen.  Hermann  hat  nun  wirklich  diese  Ansicht 
aus  meinen  Arbeiten  herausgelesen,  obwohl  ich  sie  weder  ausgesprochen 
noch  jemals  gehabt  habe.  Es  liegt  mir  ob,  das  jetzt  zu  beweisen  und 
dabei  soll  nicht  verschwiegen  werden,  welcher  Theil  der  Schuld  an 
diesem  Missverständniss  etwa  mich  selbst  trilft.**) 

Dass  Hermann  glaubte,  Fritsch  und  ich  hätten  die  erzielten 
Reizeffecte  auf  motorische  Centra  selbst  bezogen,  geht  aus  der 
ganzen  Tendenz,  insbesondere  aber  aus  folgendem  Passus  seiner  Arbeit 
hervor : 

„Der  von  den  Verfassern  und  vielen  Anderen  hieraus  (Reiz- 
„versuche)  gezogene  Schluss,  dass  an  diesen  Stellen  motorische 
„Centra  liegen,  ist  gänzlich  ungerechtfertigt.  Ganz  ab- 
„gesehen  von  dem  allgemeinen  Satze,    dass   man   ein  motorisches 


*)  z.  B.  auch  in  dem  Gentralblatt  für  niedic.  Wissensch,  1874.  35. 
Nur  benutzte  ich  den  Da  viel 'sehen  Löffel,  während  Hermann  sich  eines 
Korlcbohrers  bediente. 

**)  Ich  habe  die  Verantwortlichkeit  für  die  Redaction  der  sämmtlichen 
in  meinem  Buche  enthaltenen  Abhandlungen  zu  übernehmen. 


—     195     — 

„Ceiitrum    überhaupt    nie    durch  Reizversuche   erkennen  kann,    ist 
„der  Einwand,  dass  die  Erfolge  von  Reizung  tiefer  gelegener  Theile 
„hergeleitet  werden  können,  nicht  widerlegt.*)" 
Ich    lasse    nun    gern   dahingestellt,    ob  man  motorische  Centra  er- 
regen kann  oder  nicht,    denn    da    ich    denselben    niemals  Erregbarkeit 
vindicirt  habe,    so    ist    das  für  die  vorliegende  Streitfrage  gleichgültig. 
Der  Ausdruck  „Centrum"  ist  in  meinen  Arbeiten  promiscue  mit  Reizpimkt 
gebraucht  worden,  und  was  ich  damit  meinte,  das  habe  ich  sehr  oft  und 
ganz  deutlich  gesagt.     So    steht    z.  B.    S.  17    meines  Buches,    wo    das 
ominöse  Wert  zuerst  vorkommt,  dass  es  nur  der  Kürze  wegen  gebraucht 
wird,    und    S.  58  Anm.    heisst    es    ausdrücklich:    „Der  mit  allem  Vor- 
^,behalt    gebrauchte  Ausdruck  Centrum    hat    nur    zur   Bezeichnung  der 
„erregbarsten  Stellen  gedient." 

Ausserdem  brauche  ich  mich  aber  ebensowenig  wie  irgend  einer 
meiner  Widersacher  an  das  Wort  „Centrum"  und  was  ich  wohl  damit 
gemeint  haben  könnte,  zu  klammern;  "denn  ich  habe  meine  Ansicht 
über  das,  was  etwa  auf  den  Reiz  geantwortet  haben  könnte,  in  meiner 
ersten  hierher  gehörigen  Abhandlung  ebenfalls  höchst  ausführlich  und, 
wie  ich  denke,  hinlänglich  klar  auseinandergesetzt.  Schon  damals  hielt 
ich  Ausdrücke  wie  „Centrum",  „Rinde",  „oberflächliche  Lage"  u.  dgl. 
für  zu  vage,  um  mich  ihnen  allein  für  immer  anzuvertrauen,  und  zog 
es  deswegen  vor,  ein  für  allemal  auch  die  morphologischen  Elemente 
auf  ihre  Erregbarkeit  anzusehen,  um  keinen  Zweifel  über  den  Sinn 
meiner  Redewendungen  aufkommen  zu  lassen.  Bekanntlich  giebt  es 
keine  scharfe  Trennung  zwischen  Rinden-  und  Marksubstanz  des  Gehirns, 
sondern  die  Markfasern  bilden  an  der  untersten  Rindenschicht  durch 
ihr  Einstrahlen  in  die  eigentliche  graue  Substanz  eine  Art  von  üeber- 
gangszone,  welcher  möglicher  und  sogar  wahrscheinlicher  Weise  ge- 
wisse Eigenschaften  sowohl  der  weissen  als  der  grauen  Substanz  zu- 
kommen. Auf  diese  Zone  musste  unter  allen  Umständen  Rücksicht 
genommen  werden,  denn  wenn  die  gangliöse  Substanz  nicht  erregbar 
war,  so  wurde  es  sehr  wahrscheinlich,  dass  gerade  sie  —  weil  von 
Markfasern  führenden  Schichten  den  Einströmungsstellen  am  benach- 
bartesten —  den  Angriffspunkt  des  Reizes  abgäbe.  Nun  habe  ich  aber 
ebensowenig  behauptet,  dass  die  eigentliche  Rinde  —  oder  wie  ich  mich 
vorsichtiger  Weise  ausdrückte,  —  die  gangliöse  Substanz  erregbar 
sei,  als  ich  behauptet  habe,  dass  ich  Centren  zu  erregen  vermöge.  Her- 
mann nimmt  dies  freilich  an,  denn  er  sagt:  „Hitzig  muss  sich  die 
„Lage  seiner  Centren    an  der  all  er  ausser  sten  Oberfläche    vorstellen; 


*)  A.  a.  0.   S.  82.  83. 

13' 


—     196     — 

sonst  könnte  maii  seine  Angaben  vom  „lieber wiegen  der  Anode"  nicht 
verständlich  finden."  Hier  muss  ich  einen  [principiellen  Protest  ein- 
schieben. Meine  Angaben  über  das  üebei'wiegen  der  Anode  waren 
lediglich  objectiver  Natur,  frei  von  jeder  Deutung,  die  Beschreibung 
dessen,  was  ich  gesehen  habe,  und  stehen  darum  für  die  Aussenwelt 
so'  lange  in  gar  keiner  Beziehung  zu  meinen  Vorstellungen  über  Lage 
der  Organe,  welche  gereizt  wurden,  bis  ich  selbst  eine  solche  Bezie- 
hung herstelle.  Es  steht  hingegen  Jedermann  frei,  die  Richtigkeit 
meiner  Angaben  zu  prüfen,  festzustellen,  wo  das  erregte  Organ  liegt, 
und  dann  auf  seine  eigene  Gefahr  weiter  zu  schliessen.  Ich  glaube,  es 
genügt,  wenn  man,  wie  ich,' mit  Bezug  hierauf  sagte:  „Wir  ziehen  vor, 
Ulis  „der  Betrachtungen  über  den  Zusammenhang  der  zuletzt  angeführten 
Erscheinungen  zu  enthalten,"*)  um  mich  vor  jeder  Supposition  von 
Ansichten  zu  schützen,  ebenso  wie  es  eigentlich  genügen  sollte,  wenn 
ich  sagte**):  „Nehmen  wir  selbst  an,  der  Beweis  für  Auslösung  der 
fraglichen  Bewegungserscheinungen  durch  die  gangliöse  Substanz  sei 
geliefert  —  und  er  ist  es  nicht,"***)  um  mich  vor  der  Ansicht  zu 
schützen,  als  hätte  ich  die  Erregbarkeit  gerade  dieser  gangliösen  Sub- 
stanz beweisen  wollen. 

Jetzt  wolle  der  Leser  sich  aber  vergegenwärtigen,  wie  klar  und 
ausführlich, ich f)  meine  Meinung  über  das,^  was  in  dieser  Beziehung 
bewiesen  und  nicht  bewiesen  ist,  ausgedrückt  habe: 

„^  —  wenden  wir  uns  zu  der  Erörterung  der  Frage  nach  dem 
„Werthe  der  grauen. und  weissen  Substanz  für  das  Zustandekommen 
.„der  von  uns  beschriebenen  Reizeffecte.  Wird  die  Frage  in  dieser 
i  ■  „Form,  gestellt,  so  dürfte  es  zu  einem  Tlieile  bereits  jetzt  möglich 
„sein,  sie  befriedigend  zu  beantworten.  Wollte  man  aber  statt  der 
„allgemeineren  Begriffe  graue  und  weisse  Substanz  die  Worte  Fasern 
„und  Zellen  sich  einander  gegenüberstellen,  so  liesse  sich  auch  die 
„Möglichkeit  einer  Lösung  bisher  nicht  absehen.  Demi  da  sich  in 
„der  grauen  Substanz  Fasern  und  Zellen  untrennbar  mischen,  ist 
„eine  isolirte  Untersuchung  der  einzelnen  morphologischen  Bestand- 
„theile  unausführbar.  Selbst  wenn  also  der  directe  Beweis  der  Er- 
„regbarkeit  auch,  für  die  graue  Substanz  geführt  worden  wäre, 
„würde  man  immer  noch  einwenden  können,  dass  nicht  die  Ganglien- 
„zelleiT,  sondern  die  zwischen  ihnen  verlaufenden  Nervenfasern  dieser 


*)  S.  20. 
**)  S.  29. 
***)  Im  Original  nicht  gesperrt, 
t)  S.  29  f. 


—     197     -^ 

„Substanz  den  eigentlich  erregten  Tlieil  abgäben.  Für  den  Augon- 
„blick  stellt  die  Frage  so,  dass  wir  durch  die  oben  angeführten 
„Versuche  über  das  Einstechen  isolirter  Nadehi  die  Erregbarkeit 
„der  Marksubstanz  hinlänglich  bewiesen  haben.  Da  nun  die  wesent- 
„lichen  nervösen  Bestandtheile  der  Marksubstanz  —  die  Nerven- 
„fasern  —  sich  mit  den  gleichen  anatomischen  Eigenschaften  in  die 
„Rindeusubstanz  fortsetzen,  liegt  kein  Grund  vor,  eine  wesentliche 
„Aeiiderung  ihrer  physiologischen  Eigenschaften  eher  anzunehmen, 
„als  ihre  anatomische  Continuität  durch  neue  Gebilde  unterbrochen 
„wird.  Aus  diesem  Grunde  lässt  sich  die  Erregbarkeit  eines  Theiles 
„der  Fasern  auch  der  Rinde  mit  Recht  voraussetzen.  Ob  dieselben 
„nun  allein  oder  ob  auch  die  Zellen  erregbar  sind,  das  ist,  wie  ge- 
„sagt,  mit  den  bisherigen  Mitteln  nicht  hinlänglich  sicher  zu  ent- 
„scheiden." 
Fassen  wir  nun  das    in   diesen  Citaten  Gesagte  zusammen,    so    er- 

giebt    sich    als    meine    Meinung,    die    ich  wirklich  auch   jetzt  motivirt 

kaum  besser  auszudrücken  wüsste: 

1)  Die  Erregbarkeit  der  Marksubstanz  haben  wir  bewiesen. 

2)  Die  Erregbarkeit  der  Rindensubstanz  können  wir  weder  beweisen 
noch  bestreiten. 

3)  Die  Erregbarkeit  des  faserigen  Theils  der  üebergangszone 
halten  wir  —  allerdings  auf  Grund  einer  Deduction  —  für  wahr- 
scheinlich. 

Kurz  und  gut,  der  Angriff  Hermann' s,  insoweit  er  die  von  mir 
angeblich  behauptete  Erregbarkeit  von  Centren  oder  die  ganz  ober- 
flächliche Lage  der  erregten  Theile  betrifft,  ist  durchaus  gegenstandslos. 
Ich  bin  deshalb  auch  der  Besprechung  des  von  Hermann  aus  der 
Widerstandsfähigkeit  der  Rinde  gegen  die  Einflüsse  der  Luft  hergelei- 
teten Einwandes  überhoben. 

Nun  hatte  ich  oben  gesagt,  der  Erfolg  des  Herrn ann'schen  com- 
biuirten  Exstirpatious-  und  Reizversuches  sei  unter  allen  Umständen 
nothw endig.     Mir  scheinen  nur  folgende  Möglichkeiten  zu  existiren: 

1)  Entweder  hätte  Hermann  Recht,  die  erregten  Theile  lägen  in 
der  Tiefe:  dann  ist  natürlich  kein  Grund  vorhanden,  warum  der  Reiz- 
effect  bei  Annäherung  an  dieselben  aufhören  sollte. 

2)  Oder  ich  hätte  mit  der  Ansicht  Recht,  welche  man  bei  mir 
zwischen  den  Zeilen  lesen  konnte,  wenn  man  überhaupt  dort  etwas 
suchen  wollte,  die  erregbare  Substanz  begönne  in  der  üebergangszone: 
so  lag  auch  kein  Grund  vor,  warum  die  Erregbarkeit  nach  Abtragung 
der  Rinde,  selbst  incl.  der  üebergangszone,  aufhören  sollte,  denn  die 
Erregbarkeit  der  Marksubstanz  war  ja  besonders  nachgewiesen  worden, 


—     198     — 

und  die  Uebergangszone  würde    ihre  Erregbarkeit    den  Markfasern  ver- 
danken. 

3)  Endlich  die  von  Hermann  bei  mir  vorausgesetzte  Ansicht  wäre 
richtig  gewesen,  nämlich  die  oberflächliche  Schicht  wäre  erregbar;  so 
war  schon  a  fortiori  wegen  der  mehr  peripheren  Lage  anzmiehmen, 
dass  auch  das  dazu  gehörige  Büschel  von  Leitungsfasern  erregbar  sein 
würde,  selbst  wenn  der  Beweis  dafür  nicht  ausdrücklich  geführt 
worden  wäre.  Daran  hat  Hermann  allerdings  wohl  gedacht.  Denn 
er  sagt*):  „Man  kann  nun  weiter  behaupten,  nach  dieser  Zerstörung 
„treffe  der  Reiz  noch  motorische  Fasern,  die  von  dem  zerstörten  Cen- 
„trum  ausgingen;  aber  wenn'es  solche  Fasern  in  der  Tiefe  giebt,  wo  bleibt 
„der  Beweis  für  das  oberflächliche  Centrum  ?  Kann  nicht  am  unver- 
„sehrten  Hirn  der  Erfolg  durch  ebendieselben  tiefen  Fasern  erklärt 
„werden?"  Gewiss  kann  und  soll  er  das**),  und  der  Beweis  für  ober- 
flächliche Centra,  von  deren  Existenz  ich  freilicli  nach  wie  vor  über- 
zeugt bin,  konnte  und  sollte,  wie  man  sehen  wird,  durch  die  Reiz- 
versuche allein  überhaupt  nicht  geführt  werden. 

Bleiben  wir  indessen  zunächst  noch  bei  unseren  Reizversuchen  und 
den  von  Hermann  gegen  dieselben  gerichteten  Angriffen  stehen.  Wir 
finden  da  auf  S.  77  folgenden  Passus:  „Niemand  konnte  sich  beim  Be- 
„kanntwerden  dieser  Versuche  des  Staunens  erwehren,  dass  die  grosse 
„Mehrzahl  der  erfahrensten  und  sorgfältigsten  Experimentatoren  eine  so 
„leicht  zu  constatirende  Erregbarkeit  der  Hirnrinde  nicht  blos  über- 
„sehen,  sondern  geradezu  bestritten  haben  sollten,  und  dass  nach  den 
„Verfassern  selbst  die  Erregbarkeit,  was  sonst  unerhört  ist,  auf  elek- 
„trischen  Reiz  beschränkt  sein  soll.  Der  Verdacht  lag  ungemein  nahe, 
„dass  die  Verfasser  ihre  positiven  Resultate  einer  von  den  früheren 
,, vermiedenen  oder  nicht  erreichten  Höhe  der  Stromstärken  verdankten, 
„durch  welche  in  der  Tiefe  gelegene  motorische  Apparate  in  Action 
„gesetzt  wurden." 

1)  Thatsächliche  Berichtigung:  Die  Verfasser  haben  niemals  be- 
hauptet, dass  die  Erregbarkeit  auf  elektrische  Reizbarkeit  beschränkt 
sein  soll.  Sie  sagen  vielmehr,  es  sei  bewiesen,  „dass  auch  centrale 
„Nervengebilde  „zunächst"  auf  einen  unserer  Reize  ant- 
worten."***) 


*)  A.  a.  0.   S.  83. 
**)  Freilich  nur,   wenn  ich  darunter  dasselbe  verstehen  sollte,   wie  Her- 
mann.    Es  erschwert  die  Verständigung,   dass  er  sich  gar  nicht  darüber  aus- 
lässt,  wo  er  sich  etwa  diese  tiefen  Fasern  und  ihren  Ursprung  denlvt. 

***)  S.  28. 


—     199     — 

Vorher  war  es  nämlich  noch  nicht  bewiesen.  Das  heisst  aber 
doch  nicht,  dass  auf  die  anderen  Reize  Iceine  Antwort  folgt,  sondern 
nur,  dass  die  Antwort  „zunächst"  noch  Jiicht  gefunden  ist.  Dann  steht 
aber  S.  66*)  der  positive.  Erfolg  eines  Kauterisationsversuches  referirt 
und  in  der  dazu  gehörigen  Anmerkung  heisst  es:  „Ueber  die  von  mir 
„angewandte  Methode  der  chemischen  und  mechanischen  Reizung,  sowie 
„deren  Resultate  werde  ich  an  einem  anderen  Orte  ausführlicher  be- 
„richten." 

2)  Wenn  man  wirklich  Reizeffecte  nur  auf  die  elektrische  Erregung 
eintreten  sähe,  was  würde  das  ausmachen?  Es  wäre  ja  ganz  gut  mög- 
lich, dass  die  Einrichtungen  im  Grosshirn  derart  sind,  dass  neben  den 
vitalen  Reizen  nur  die  Elektricität  zu  ihrer  Bethätigung  geeignet  ist. 
Wir  haben  da  eine  unendliche  Menge  feiner  Formelemente,  deren  Zu- 
sammenwirken unzweifelhaft  gefordert  wird,  wenn  etwas  Sichtbares 
herauskommen  soll.  Wird  dieses  Zusammenwirken  nothwendig  erzielt, 
wenn  ich  mit  einem  Messer  die  Hirnsubstanz  verletze  oder  ein  Kauterium 
auf  blutende  Flächen  applicire?  Ist  es  nicht  vielmehr  mindestens  ebenso 
wahrscheinlich,  dass  eine  Summe  von  Elementen  schon  zerstört  ist,  ehe 
die  andere  gereizt  wird?  Von  diesen  Erwägungen  ging  ich  bei  dem 
Ersinnen  meiner  chemischen  und  mechanischen  Reizversuche  aus.  Leider 
ist  es  mir  noch  nicht  gelungen,  deren  Erfolg  von  Zufälligkeiten  unab- 
hängig zu  machen,  so  dass  ich  die  Methoden  bis  auf  Weiteres  besser 
unbeschrieben  lasse.  Andererseits  benutzte  mid  benutze  ich  diese  Ver- 
suche nach  aussen  hin  auch  zu  keinerlei  Schlüssen,  ja  nicht  einmal 
zur  Stütze  meiner  Ansichten  über  die  excentrische  Lage  von  motorischen 
Centren  und  erhalte  nur  die  Behauptung  aufrecht,  dass  ich  soweit  als 
möglich  entfernt  war,  die  Erregbarkeit  des  Gehirns  durch  andere  als 
elektrische  Reize  zu  bestreiteji. 

3)  ,,Endlich  wird  man  fragen,  wie  es  denn  kam,  dass  so  viele 
„frühere  Forscher,  darunter  die  glänzendsten  Namen,  zu  entgegen- 
„gesetzten  Resultaten  gelangten."**)  So  fragten  wir  uns  nämlich,  und 
antworteten:  sie  haben  wahrscheinlich  nicht  vorn  sondern  hinten  trepanirt, 
weil  das  bequemer  ist,  und  weil  das  Vorurtheil  von  der  Gleichwerthigkeit 
der  Grosshirnsubstanz  damals  florirte.  Hinten  giebt  es  aber  eben  kein 
Resultat.  Hermann  nimmt  freilich  auf  diese  unsere  Hypothese  keine 
Rücksicht,  nach  ihm  hätten  vielmehr  unsere  Vorgänger  keine  so  starken 
Ströme  gehabt  wie  wir,  oder  sie  hätten  sie  vermieden.    Nun  ich  brauche 


"')   Ueber  Production  von  Epilepsie  durch  experimentelle  Verletzung  der 
Hirnrinde. 

**)  S.  26. 


—     200     — 

wohl  Hermann  nicht  an  die  Riesenketten  zu  erinnern,  die  schon  von 
Ritter  und  seinen  Zeitgenossen  gebaut  wurden,  oder  ihn  darauf  auf- 
merksam zu  machen,  welche  Rolle  der  Rotatiousapparat  während  der 
ersten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts  in  den  französischen  Laboratorien  ge- 
spielt hat.  Hätte  Flourens,  Magendie  oder  Longet  etwas  von  dem 
gesehen,  was  wir  entdeckten,  und  ich  wiederhole,  sie  hätten  es  sehen 
müssen,  sobald  sie  am  Vorderhirn  gearbeitet  hätten,  so  würden  sie  es 
ohne  Zweifel  um  so  eher  gesagt  haben,  als  die  Lehre  von  der  Strom- 
vertheilung  in  den  Leitern  und  den  Mitteln  zur  Abstufung  der  Ströme 
damals  noch  recht  sehr  in  den  Windeln  lag. 

Hermann  übersieht  a'ber  ausserdem  ganz  und  gar,  dass  diese 
Autoren,  imd  noch  viele  andere  mit  ihnen,  nicht  etwa  die  Erregbarkeit 
der  Hirnrinde,  wie  er  meint,  sondern  die  „so  leicht  zu  constatirende" 
Erregbarkeit  des  Gehirns  überhaupt  bestritten  haben.  Ganz  ebenso 
haben  sie  aber  auch  die,  doch  genau  ebenso  leicht  zu  constatirenden 
Erfolge  localisirter  Verletzungen  bestritten.  Es  ist  eben  die  immer 
wieder  jung  werdende  Geschichte  vom  Ei  des  Columbus.  Wenn  man 
erst  einmal  weiss,  worauf  es  ankommt,   so  ist  es  ganz  leicht. 

4)  Haben  wir  denn  endlich  so  gewaltig  starke  Ströme  angewendet? 
Wenn  man  die  Arbeit  Hermann's  liest,  sollte  man  allerdings  meinen, 
es  sei  dies  unumgänglich  nöthig,  um  einen  Reizeffect  zu  sehen,  und 
wir  wären  ohne  die  geringste  Kenntniss  von  den  Gesetzen  der  Elek- 
tricitätslehre  blind  in  die  gröblichsten  Schlingen  gegangen.  Nun  was 
den  letzteren  Punkt  angeht,  verweise  ich  den  Leser  sehr  ruhig,  neben 
der  angegriffenen,  auf  meine  übrigen  Arbeiten,  von  denen  sich  ja  einige 
auch  mit  der  Elektricitätslehre  specieller  beschäftigen.  Ich  habe  nur 
einen  directen  Vorwurf  Hermann's  zu  berichtigen,  nach  dem  es  so 
aussieht,  als  ob  ich  dem  Leitungsvermögen  eines  Körpers  einen  directen 
Einfluss  auf  die  in  ihm  entstehenden  ideellen  Strömungscurven  und 
Spannungsflächen  zuschriebe.  Dies  ist  mir  gar  nicht  eingefallen,  sondern 
ich  habe  nur  behauptet:  „da  die  von  uns  zu  den  beweisenden  Experi- 
„menten  verwandten  Ströme  nur  schwach  waren  (ein  Satz,  den  Hermann 
„leider  übersehen  hat),  da  die  Substanz  des  Gehirns  einen  sehr  grossen 
„Widerstand  besitzt"  und  „da  endlich  die  Entfernvmg  der  Elektroden 
„von  einander  nur  gering  war,  so  konnte  ii.  s.  w.  die  Stromdichte 
„schon  in  sehr  geringer  Entfernung  von  den  Einströmungsstellen  nur 
„eine  minimale  sein."  und  das  wird  wohl  gerade  so  lange  wahr 
bleiben,  als  das  Ohm 'sehe  Gesetz  und  das  von  mir  angezogene  Gesetz 
von  der  Stromvertheilung. 

Diese  ganze  Discussion  dreht  sich  aber  obenein  um  eine,  jeden 
praktischen  Interesses  bare    sogenannte  Doctorfrage.     Denn   wir    hatten 


—     201     — 

die  fraglichen  Erwägungen  ausdrücklich  als  aprioristische  bezeichnet 
und  gesondert  von  den  directen  Beweisen  behandelt,  deren  Berück- 
sichtigung ich   bei  Hermann  vermisse. 

Es  besteht  eine  Differenz  zwischen  den  thatsächlichen  Angaben 
Hermann's  und  meinen  eigenen  rücksichtlich  der  nothwendigen  Inten- 
sität der  Ströme.  Bei  uns  heisst  es*)  darüber:  „Die  Stromstärke  war 
„dabei  so  gering,  dass  metallische  Schliessung  nur  eben  eine  Gefühls- 
„sensation  auf  der  mit  den  Knöpfchen  berührten  Zunge  hervorrief." 
Dem  stellt  Hermann  ganz  unvermittelt,  d.  h.  ohne  meine  Angabe  an- 
zuführen und  zu  bekämpfen,  folgenden  Satz  gegenüber:  „Die  zur  Er- 
„reichung  der  Erfolge  nöthigen  Stromstärken  waren  sowohl  bei  con- 
„stanten  als  bei  Inductionsströmen  überraschend  gross,  stets  riefen  sie 
„auf  der  Zunge  sehr  erhebliche  Empfindungen  hervor  und  der  constante 
„Strom  auf  der  Hirnoberfläche  kräftige  Gasbläscheu- Entwicklung."**) 

Hieran  schliesst  sich***)  unmittelbar  eine  Bemerkung,  die  gleich- 
falls behufs  Formulirung  eines  Einwandes  gegen  uns  vorgebracht  wird, 
es  sei  manchmal  ein  kleiner  Sulcus  durch  den  wirksamen  Bereich  ver- 
laufen, daraus  geht  wieder  hervor,  dass  der  wirksame  Bereich  bei 
Hermann  ziemlich  gross  gewesen  sein  muss. 

Dem  gegenüber  bedaure  ich,  einfach  bei  meinen  früheren  Angaben 
stehen  bleiben  zu  müssen.  Ich  bin  mit  schwächereu  Strömen  aus- 
gekommen, habe  stets  und  laut  gegen  die  Anwendung  so  starker  Ströme 
für  den  vorliegenden  Zweck  protestirt  und  bestreite,  dass  bei  der  Strom- 
stärke des  Zuckungsminimums  Sulci  durch  den  wirksamen  Bereich  ver- 
laufen, während  das  bei  starken  Strömen,  welche  Hermann  für  un- 
umgänglich hält,  allerdings  auch  von  mir  beobachtet  und  beschrieben 
worden  ist.  Uebrigens  habe  ich  die  Wirksamkeit  schwacher  Ströme  so 
oft  vor  Physiologen  von  Fach  demonstrirt  und  meine  Versuche  sind 
von  so  vielen  Physiologen  von  Fach  mit  dem  gleichen  Erf(dge  wieder- 
holt worden,  dass  ich  der  Entwickelung  dieser  Frage  ruhig  zusehen  darf. 

Allerdings  müssen  die  Ströme  unverhältnissmässig  viel 
stärker  sein,  als  wenn  man  einen  isolirten  Froschnerven  vor 
sich  hat.  Ich  habe  Gelegenheit  genommen,  mich  hiervon  bei  sonst 
gleicher  Anordnung  des  Versuches  ausdrücklich  zu  überzeugen,  fand  die 
Thatsache  aber  angesichts  meiner  Vorstellungen  über  die  Möglichkeit 
der  anatomischen  Verhältnisse  der  hier  in  Betracht  kommenden  Gebilde 
nur   selbstverständlich.     Abgesehen  von  dem  Einflüsse  der  vorhandenen 


*)  S.  16. 
**)  A.  a.  0.  S.  80. 
***)  A.  a.  0.  S.  83. 


—     202     — 

Nebenscliliessungen  müsste  das  zu  erregende  Organ,  sei  es  nun  ein 
Centrum  oder  der  ideelle  Querschnitt  von  Fasern,  flächenhafte  Aus- 
dehnung besitzen.  Unter  keinen  Umständen,  selbst  wenn  das  Organ 
ganz  oberflächlich  läge,  könnte  also  diejenige  Stromstärke  ausreichen, 
welche  in  dem  kürzesten  Stromfaden  aequivalent  wäre  der  mittleren 
Stromstärke  für  das  Ziickungsminimum  des  motorischen  Nerven,  sondern 
es  war  zu  erwarten,  dass  die  absolute  Intensität  des  Stromes  so  lange 
gesteigert  werden  musste,  bis  jenes  Aequivalent  mindestens  auch  in  den 
übrigen  in  das  sogenannte  Centrum  (sit  venia  verbo!)  fallenden  Curven 
erreicht  war. 

Auch  dann  noch  konnte  der  Reizeffect  latent  bleiben,  denn  die  rein 
mechanischen  Momente,  unter  denen  eine  Zahl  der  einschlägigen  Be- 
wegungen einherzugehen  hat,  sind  hier  ungünstiger,  als  bei  dem  Ver- 
suche am  Froschpräparat.  Dies  gilt  von  den  Extremitäten,  namentlich 
von  der  Hinterextremität,  mit  der  Hermann  experimentirte.  Ich  habe 
schon  früher  hervorgehoben,  dass  wahrscheinlich  aus  diesem  Grunde  der 
Facialis  leichter  zu  innerviren  ist. 

Bevor  wir  weiter  gehen,  habe  ich  noch  die  Frage  zu  beantworten, 
ob  und  welcher  Theil  der  Schuld  mir  selbst  an  den  Hermann  unter- 
gelaufenen Missverständnissen  zufällt.  Ganz  unschuldig  bin  ich  daran 
nicht,  das  geht  schon  daraus  hervor,  dass  Hermann  weder  der  Erste 
noch  der  Einzige  auf  dem  von  ihm  betretenen  Pfade  war.  Thatsächlich 
habe  ich  an  verschiedenen  Stellen  meines  Buches  kurzweg  von  Reiz- 
barkeit, Elektrisirung  und  Reaction  der  Rinde  gesprochen,  z.  B.  Ein- 
leitung S.  4:  „Gerade  die  Art  der  elektrischen  Reaction  der  Hirnrinde 
u.  s.  w."*),  S.  64:  „berücksichtigen  wir  die  Eutwickelung  jedes  einzelneu 
„durch  Elektrisirung  der  Rinde  hervorgerufenen  Anfalles",  und  der- 
gleichen Stellen  mehr. 

Ich  gebe  gern  zu,  dass  das  sehr  wenig  präcise  und  zu  Irrthümern 
Veranlassung  gebende  Ausdrücke  sind.  Auch  habe  ich  in  meiner  letzten, 
übrigens  mehrere  Monate  vor  der  Hermann'schen  erschienenen  Ab- 
handlung**) viel  grössere  Vorsicht  beobachtet.  Dort  heisst  es  auch 
nicht  mehr  Centrum,  sondern  Reizpunkt,  wenn  das  Wort  auf  die  Resultate 
der  elektrischen  Erregung  bezogen  werden  kann,  obwohl  es  meiner  An- 
sicht nach,  wie  wir  sehen  werden,  dort  gerade  so  gut  Centrum  heissen 


*)  Auf  derselben  Seite  steht  noch  folgender  Passus:  „Daraus  ist  wohl 
„bei  Manchem  die  Meinung  entstanden,  als  ob  ich  —  ausgehend  von  den 
„elektrisch  reizbaren  „Centren"  u.  s.  w."  Hier  handelt  es  sich  freilich  nicht 
einmal  um  meine  Meinung,  sondern  um  eine  rhetorische  Piction. 

**)   V.   Lähmungsversuche  am  Grosshirn.    S.  73  ff. 


—     203     — 

könnte.  Indessen  möchte  ich  denn  doch  darauf  aufmerksam  machen, 
dass  ich  ja  an  anderen  Stellen  auf  das  Ausführlichste  aus- 
einandergesetzt habe,  wie  ich  mir  die  Sache  vorstelle,  so  dass 
es  auf  keinen  Fall  gerechtfertigt  war,  sich  mit  der  Formu- 
lirung  der  bei  mir  vorausgesetzten  Ansicht  ohne  Weiteres 
gerade  an  Redewendungen  zu  halten,  die  mit  dem  in  ihnen 
vermutheten  Sinne  in  directem  Widerspruche  mit  jenen  Er- 
läuterungen standen.  Wenn^  man  nicht  den  Umstand  berücksichtigen 
wollte,  dass  ich  von  Letzteren  weder  ausdrücklich  zurückgetreten  bin, 
noch  auch  Thatsachen  beigebracht  habe,'  welche  eine  Sinnesänderung 
motiviren  konnten,  so  hätten  doch  diejenigen  Autoren,  welche  einen 
Widerspruch  bei  mir  vermutheten  —  und  höchstens  um  einen  solchen 
konnte  es  sich  handeln  —  nur  das  Recht  gehabt,  darauf  hinzuweisen, 
anstatt  gerade  auf  Grund  der  zweifelhaften  Stellen  gar  nicht  vorhandene 
Ansichten  anzugreifen. 

Ich  habe  schon  oben  folgenden  Satz  Hermann's  citirt:  „Der  von 
„den  Verfassern  und  vielen  Anderen  hieraus  (Reizversuche)  gezogene 
„Schluss,  dass  an  diesen  Stellen  motorische  Ceutra  liegen,  ist  gänz- 
,.lich  ungerechtfertigt."  Dem  habe  ich  entgegengehalten,  dass  wir  aus 
den  Reizversuchen  allein  ja  überhaupt  nichts  geschlossen  hätten.  Alles, 
was  sich  von  Schlüssen  aus  den  Reizversuchen  auf  die  Function  der 
„Rindencentra"  vorfindet,  steht  auf  S.  30  und  beginnt  mit  folgendem 
Satze:  „Gleichwohl  lässt  sich  auf  indirectem  Wege*)  ein  einiger- 
„maassen  wahrscheinlicher  Schluss  (!)  auf  die  Function,  wenn  auch 
„nicht  auf  die  Erregbarkeit  des  zelligen  Theiles  der  Rinde  ziehen." 
Man  könne  nämlich  nicht  einsehen,  was  die  motorischen  Fasern  dicht 
an  der  Rinde  anders  sollten,  als  deren  Function  fortleiten.  So  könne 
man  durch  die  Reizelfecte  jener  etwas  von  der  Function  dieser  erfahren. 

Den  directen  Weg,  also  den  eigentlichen  Beweisweg,  haben  wir 
aber  doch  auch  eingeschlagen  und  folgenden  Wegweiser  dazu  gesetzt: 
„Indessen  giebt  es  einen  anderen  Weg,  die  Frage  nach  der  Bedeutung 
„der  einzelnen  Theile  der  Rinde  experimentell  zu  lösen;  es  ist  die 
„Exstirpation  circumscripter  und  genau  bekannter  Theile 
„derselben."**)  Also  nicht  der  Reizversuch,  sondern  der  Lähmungs- 
versuch löst  uns  experimentell  diese  Frage.***)    Hermann  hat  eben 


'■^)   Im  Original  nicht  gesperrt. 
**)  S.  31. 

***)  Vgl.   auch  „Ausgehend  von   diesen  Versuchen   (Lähmungsversuche) 
,hatte  ich  unter  Benutzuns-  der  Keizversuche  den  .Schluss  o-ezoffen  u.  s.  w." 


-     204     — 

das,  was  wir  von  der  Erregbarkeit  sagten,  vollkommen  mit  dem  ver- 
mischt, was  wir  von  der  Function  bewiesen.  Hieran  tragen  wir  überall 
da,  wo  unsere  erste  Abhandlung  citirt  wird,  nicht  einmal  formal  irgend 
eine  Schuld:  denn  in  derselben  sind  selbst  die  Redewendungen  nicht 
zu  missdeuten. 

Aber  Hermann  lässt  auch  nicht  einmal  die  Exstirpatiousversuche 
gelten.     Denn    „welche  Vorstellungen    soll    man    sich    von    motorischen 

„Apparaten  machen,  deren  Wegfall  in  etwa  14  Tagen anscheinend 

„spurlos  wieder  ersetzt  wird." 

Nun  einmal  ist  die  Thatsache  irrthümlich;  denn  Hermann's  Thiere 
waren  14  Tage  nach  der  Verletzung  noch  krank,  wenn  er  ihnen  wirk- 
lich 1 — 11/2  cm  tief  Hirnsubstanz  herausgenommen  hatte*),  und  zweitens 
werden  sich  auch  diejenigen  Physiologen,  welche  es  noch  nicht  thaten, 
wohl  an  die  den  Pathologen  längst  bekannten  Erfahrungen  über  auffällig 
schnelle  Restitution  verloren  gegangener  centraler  Functionen  gewöhnen 
müssen. 

Darin  läge  also  überhaupt  kein  Grund  zu  der  Annahme  Hermann's, 
„dass  tiefer  gelegene  Theile  durch  die  Nähe  der  Verletzung  und  eine 
„von  ihr  sich  ausbreitende  entzündliche  Veränderung  vorübergehend  in 
„ihren  Functionen  gestört  sind."**)  Ausserdem  geräth  Hermann  mit 
dieser  Annahme  durchaus  auf  den  Weg  der  Deduction,  der  Hypothese. 
Freilich  kann  er  mir  die  im  voraus  acceptirte  Pflicht  des  directen  Be- 
weises zuschieben.  Aber  da  ihm  „jede  Thatsache,  die  hier  mitspricht, 
„von  so  enormer,  ich  möchte  sagen  mehr  als  physiologischer  Wichtig- 
„keit"**)  ist,  so  hätte  es  doch  vielleicht  auch  für  ihn  der  Mühe  ge- 
lohnt, die  für  die  Stütze  seiner  Hypothese  nothwendigen  Thatsachen 
beizubringen,  selbst  wenn  ihn  dazu  nicht  der  Umstand  bewog,  dass  er 
im  Begriffe  war,  über  eine  fünf  Jahre  lang  fortgesetzte  Arbeit  über  die 
Functionen  der  Grosshirnrinde  das  vernichtende  Endurtheil  zu  fällen, 
„dass  sie  zu  keinerlei  Schlüssen  hinsichtlich  der  Functionen  der  Gross- 
„hirnrinde  berechtige.***) 

Schwer  war  die  Aufklärung  durch  den  directen  Beweis  eben  nicht 
zu  finden,  ja  sie  war  sogar  eigentlich  in  den  Hermann  vorliegenden 
Schriften  bereits  vorhanden.  Es  heisst  da  nämlich  mehrfach,  dass 
oberflächlich  an  der  Hirnrinde  verletzte  Thiere  unmittelbar  nach  der 
Operation  die  betreifenden  Erscheinungen  gezeigt  hätten.  Nun  müsste 
das  eine  curiose    und    jedenfalls   schon  makroskopisch  erkennbare  Ent- 


*)  Vgl.  hierzu  meine  verschiedenen  Arbeiten  über  Lähmungsversuche. 
**)  A.  a.  0.  S.  84. 
***)  A.  a.  0.  S.  84. 


—     205     — 

Zündung  sein,  die  sich  in  wenig  Minuten  von  der  Oberfläche  bis  weit  in 
die  Tiefe  ausbreitete,  und  wenn  die  unbestimmte  Fassung  Herrn ann's 
auch  die  Auslegung  zulässt,  sie  brauche  nicht  weit  in  die  Tiefe  zu 
steigen,  sondern  die  Theile  lägen  oberflächlich,  so  fällt  für  diesen  Fall 
das  Streitobject  weg. 

Ausserdem  beschäftigte  sich  aber  eine  meiner  Arbeiten,  die  zwar 
zur  Zeit  der  Publication  He rm ann's  schon  erschienen  war,  aber  leider 
von  ihm  übersehen  worden  ist,  speciell  mit  dem  Studium  des  secun- 
dären  Einflusses  der  Operation.*)  Im  Allgemeinen  kann  ich  auf  den 
Wortlaut  der  citirten  Abhandlung  einfach  verweisen.  Einige  Haupt- 
resultate möchte  ich  aber  doch  anführen.  Von  einer  langen  Versuchs- 
reihe waren  zwei  Serien  mit  zusammen  14  Versuchen  mitgetheilt,  die 
sämmtlich  sehr  grosse  Exstirpationen  an  dem  nicht  motorischen  Theile 
des  Vorderhirns  betrafen.  Alle  Verletzungen  lagen  entweder  unmittel- 
bar an  der  Grenze  des  motorischen  Theiles  oder  doch  nicht  gar  weit 
ab,  wie  das  durch  die  Kleinheit  der  Spitze  des  Vorderhirns  bedingt  ist. 
Nun  blieben  von  diesen  14  Thieren  8  überhaupt  frei  von  Störungen  des 
Muskelbewusstseins,  bei  zweien  war  die  Erscheinung  unmittelbar  nach 
der  Operation  vorhanden  und  rührte  zweifellos  von  Nebenverletzungen 
her,  bei  zweien  erschien  sie  am  2ten,  bei  einem  am  4ten  und  bei  einem 
am  5ten  Tage.  Und  welchen  autoptischen  Befund  gaben  diese  Versuche? 
Erklärten  sich  die  Störungen  aus  Entzündungserscheinungen,  welche  in 
die  Tiefe  gegriffen  hatten?  Im  Gegentheil,  überall  war  das  Wesentliche 
irgend  eine  Alteration  des  Gyrus  e  (sigmoides)  meiner  Figuren.  War 
die  Alteration  klein,  so  war  die  Motilitätsstörung  klein,  war  die  Läsion 
aber  gross,  so  verhielt  sich  die  Motilitätsstörung  gerade  so.  Ob  die 
Lage  der  ersteren  nun  oberflächlich  oder  tief  war,  das  machte  weiter 
nichts  aus,  aber  die  kleinste  secundäre  Beeinträchtigung  der  Integrität 
des  Gyrus  e  führte,  auch  wenn  sie  oberflächlich  war,  ebenso  zu  Störungen, 
wie  die  primären  Verletzungen.  Traten  ferner  diese  Störungen  gleich  auf? 
Im  Gegentheil,  vielfach  fehlten  sie  gänzlich  und  frühestens  erschienen 
sie  am  zweiten  Tage  nach  der  Verletzung.  Dennoch  lag  die  Wunde 
nicht  selten  den  „Centren"  ganz  nahe.  Sehr  tief  unter  der  Oberfläche 
dürfte  der  Angriffspunkt  des  elektrischen  Reizes  also  auch  nach  diesen 
Versuchen  nicht  liegen.  Uebrigens  hat  mich  die  seit  dem  Sommer  1874 
betriebene  mikroskopische  Verfolgung  dieser  Frage  auch  ferner  von  der 
Ünhaltbarkeit  der  Annahme  einer  Entzündung  überzeugt. 

*)  V. Lähmungsversuche.  8.73  ff.  Ich  erfahre  nachträglich  durch  persön- 
liche Mittheilung,  dass  die  angegriffene  Bemerkung  Herrn  ann's  sich  nicht 
gegen  meine  Exstirpationsversuche  richtet,  sondern  gegen  die  Deutung,  welche 
man  den  seiniaen  ffeben  könnte. 


—     206     — 

Um  indessen  jeden  Zweifel  aus  der  Welt  zu  schaffen,  habe  ich  fol- 
genden Versuch  schon  in  Berlin  vielfach  angestellt  und  nun  hier  in 
Zürich  noch  einigemal  wiederholt.  Man  legt  die  Oberfläche  des  Gyrus 
sigmoides  in  der  früher  beschriebenen  Weise  bloss,  stillt  die  Blutung, 
entledigt  das  Thier  seiner  Fesseln  und  constatirt,  dass  das  Muskelbe- 
wusstsein  der  gegenüberliegenden  Extremitäten  iutact  ist.  Sodann  nimmt 
man  ein  ganz  feines  spitzes  Scalpell,  das  2  mm  von  der  Spitze  mit 
einem  Wachskügelchen  arrairt  ist  und  sticht  in  ein  Centrum  für  eine 
Extremität  ein.  Jetzt  ist  das  Muskelbewusstsein  einer  oder 
beider  Extremitäten  gestört.  Zwischen  beiden  Untersuchungen 
braucht  keine  halbe  Minute-  an  Zeit  zu  A^erstreichen,  es  braucht  kein 
Tropfen  Blut  zu  fliessen,  und  von  Entzündungsvorgäugen  kann  natürlich 
gar  keine  Rede  sein.  Der  Versuch  ist  in  seinem  Erfolge  so  sicher  und 
elegant,  wie  die  Durchschneidung  eines  motorischen  Nerven,  namentlich 
wenn  es  gelingt,  eine  Extremität  isolirt  zu  afficiren,  was  Glückssache 
ist.  Selbstverständlich  darf  man  nicht  erwarten,  dass  diese  Hunde  nun 
gleich  auf  dem  Dorsum  pedis  gingen  oder  gar  zu  Boden  fielen,  sondern 
die  Störung  beschränkt  sich,  entsprechend  der  Kleinheit  der  Läsion 
darauf,  dass  man  das  Bein  dislociren  kann,  ohne  dass  es  sogleich  re- 
ponirt  wird. 

Führt  man  aber  mit  dem  armirten  Messerchen  einen  seichten  Schnitt 
parallel  dem  Sulcus  cruciatus,  oder  scarificirt  man  die  Rinde  durch 
viele  kleine  Stiche,  so  kann  man  auch  recht  erhebliche  Störungen  zur 
Anschauung  bringen. 

Wollte  ich  in  ähnlicher  Weise  wie  Hermann  es  am  Ende  seiner 
Arbeit  that,  einen  Schluss  ziehen,  so  könnte  es  nur  der  sein,  dass 
Hermann  keine  einzige  Thatsache  vorgebracht  hat,  durch  die 
die  von  Fritsch  und  mir  gezogenen  Schlüsse  auf  die  Func- 
tion der  Grosshirnrinde  im  Geringsten  erschüttert  worden 
wären. 


Mehrere  Missverständnisse  finden  sich  in  der,  sonst  gewiss  sehr 
schätzenswerthen  Arbeit  von  Braun.*)  Einige  von  ihnen  mögen  bereits 
in  meinem  Buche  „Untersuchungen  u.  s.  w."  ihre  Berichtigung  gefunden 
haben.     Einige  andere  sollen  hier  erörtert  werden. 

1)  Handelt  es  sich  von  Neuem  um  die  vielbestrittene  und  behaup- 
tete Empfindlichkeit  der  Dura  mater.    Wir  hatten*")  bemerkt,  „dass  ihr 


*)  Braun,   Beiträge  zur  Frage  über  die  electr.  Reizbarkeit  des  Gross- 
hirns.   Eckard' s  Beitr.    Sep.-Abdr.  1874.    Bd.  VII.   2. 
**)  S.  25. 


—     207     ■- 

„eine  gewisse  Empfindlichkeit  schon  im  physiologischen  Znstande  inne- 
„ wohnt,  dass  dieselbe  sich  aber  nach  Erüfliiung  der  Schädelkapsel  sehr 
„schnell  steigert."  Ferner  sagten  wir,*)  dass  die  Hunde  lebhaften 
Schmerz  äussern,  wenn  die  Dura  leicht  incidirt,  mit  der  Pincette  erfasst 
und  bis  zu  den  Knochenrändern  abgetragen  wird.  Braun  lässt  das  nicht 
gelten.  Allenfalls  giebt  er  die  Möglichkeit  zu,  dass  man  eins  der  in  der 
Dura  verlaufenden  Nei'venästchen  durch  Druck  beleidigen  oder  durcli 
starken  Zug  an  den  Zipfeln  der  Dura  Bahnen,  z.  B.  des  Trigeminus, 
treffen  könne.  Letzteres  halte  ich  nun  schon  für  rein  mechanisch  un- 
möglich, wenigstens  bei  Manipulationen,  wie  ich  sie  anwende.  Es  ist 
aber  auch  physiologisch  gar  nicht  einmal  richtig,  dass  ein  derartiger, 
obenein  indirecter  Zug  an  einem  Nervenstamm  Schmerzen  auslöst.  So 
konnte  z.  B.  Romberg  den  Infraorbitalis  des  Pferdes  dehnen  und  durch 
das  untergeschobene  Bistouri  ausspannen,  ohne  Schmerzensäusserungen 
2U  provociren.**) 

Was  den  ersten  Punkt  angeht,  so  bin  ich  natürlich  auch  nicht  der 
Meinung,  dass  das  Stroma  der  Dura  empfindlich  sei,  sondern  suche  die 
Sensibilität  in  den  sensiblen  Nerven  dieses  Organs,  gleichviel  ob  es 
Ausbreitungen  oder  die  Stämmchen  betriff't.  Ich  nehme  auch  nicht  an, 
dass  Braun  keine  Schmerzensäusserungen  um  deswillen  sah,  weil  er 
etwa  periphere  Bahnen  nach  der  Durchschneidung  gereizt  hätte.  Son- 
dern die  Meinungsdifferenz  kommt  einfach  daher,  dass  viele  Hunde 
wirklich  bei  allen  Beleidigungen  der  Dura  still  halten,  während  andere 
sich  umgekehrt  aufführen.  Aber  leider  beweisen  eben  die  Geduldigen 
nichts. 

Jeder  erfahrene  Vivisector  wird  beobachtet  haben,  dass  einzelne 
Thiere  ein  jämmerliches  Geschrei  ausstossen,  wenn  man  sie  festbindet, 
ohne  ihnen  dabei  nenneuswerthen  Schmerz  zuzufügen;  dass  sie  dann 
aber  die  Zerschneidung  der  Weichtheile  und  die  Trepanation  ertragen, 
ohne  einen  Laut  von  sich  zu  geb-en  oder  zu  zucken.  Ganz  dasselbe  ist 
auch  bei  Operationen  anderer  Körpertheile  zu  constatiren.  Deshalb  kann 
man  aber  doch  nicht  schliessen,  dass  diese  Thiere  derartige  Eingriffe  in 
den  Verbreitungsbezirk  ihres  Trigeminus  oder  anderer  sensibler  Nerven 
nicht  sehr  unangenehm  empfänden.  Mir  scheint  vielmehr  hiernach  nur 
der  Schluss  gerechtfertigt,  dass  sie  bei  der  Fesselung  aus  Angst  schrieen 
und  sich  nachher  in  ihr  Schicksal  ergeben  hatten. 

Beweisend  sind  hier  nur  die  positiven  Resultate  und  diese  sind  so  be- 
weisend   wie    möglich.     Man    hat   einen  Hund  trepanirt  und  die  Kreis- 


*)  S.  15.  ,    . 

**)  Romberg,  Lehrbuch  der  Nervenkrankh.    3.  Aufl.   S.  940. 


—     208     — 

fläche  der  Dura  liegt  bloss.  Jetzt  berührt  man  ihr  Centrum  mit  einem 
spitzen  Skalpellchen,  um  sie  aufzuschlitzen,  sofort  erfolgt  ein  Satz  und 
hat  man  nicht  aufgemerkt,  so  ist  die  Pia  verletzt.  Mau  macht  den 
Versuch  ein  zweites  und  drittes  Mal  und  immer  giebt  es  denselben  Er- 
folg, wenn  man  sich  nicht  die  erforderliche  Geschicklichkeit  angeeignet 
hat.  Aehnliches  ereignet  sich  dann,  wenn  man  die  Membran  weiter  ab- 
trägt. Wie  soll  man  sich  das  Alles  ohne  Sensibilität  der  Dura  erklären? 
Wenn  übrigens  Braun  zugiebt,  dass  die  Dura  sensible  Nerven  führt,  so 
ist  damit  eigentlich  Alles  gesagt.  Schliesslich  möchte  ich  noch  be- 
merken, dass  ja  auch  Leyden  die  Dura  empfindlich  fand  und  dass 
Pflüger  mit  seiner  Angabe  über  die  Empfindlichkeit  des  Splanchnicus 
mutatis  mutandis  genau  dieselbe  Erfahrung  zu  machen  hatte  wie  wir 
mit  der  unsrigen.  Hoffentlich  ist  hiermit  diese  ziemlich  nebensächliche 
Frage  mindestens  für  einige  Zeit  aus  der  W^elt  geschafft. 

2)  meint  Braun  andere  Resultate  von  der  Reizung  in  der  Aether- 
Narkose  gesehen  zu  haben  als  ich,  macht  aber  ganz  genau  dieselben 
Angaben.  Ich  kann  mir  gar  keine  vollständigere  Bestätigung  denken, 
als  die  seinige. 

Ich  sagte*):  „Wenn  man  ein  Thier  so  tief  ätherisirt,  dass 
„jede  Spur  von  Reflexen  aufgehört  hat,  so  findet  man  die 
„elektrische  Erregbarkeit  des  Gehirns  theils  erhalten,  theils 
„verloren.  —  —  —  Gab  ich  nun  noch  mehr  Aether,  so  gelang  es 
„für  kurze  Zeit,  aber  in  der  That  nur  für  ganz  kurze  Zeit,  jede  Reaction 
„aufzuheben." 

Braun  sagt:  „Was  das  Factum  anlangt,  so  kann  ich  mich  Schiff 
„anschliessen,    indem    während    tiefer  Betäubung    die  Reizung    in    der 

„That  ohne  Erfolg  bleibt. üebrigens  scheint  es  mir  sehr  schwer 

„zu  sein,  in  dieser  Beziehung  verlässliche  Versuche  anzustellen,  da  die 
„Erfolge  der  Reizung  einer  und  derselben  Hirnstelle  während  der  ISar- 
„kose  oft  und  mitunter  sehr  schnell  wechseln." 

Schwer  ist  es  allerdings,  aber  um  so  mehr  freue  ich  mich,  dass 
wir  zu  so  identischen  Resultaten  gelangt  sind. 


Die  Leser  meiner  Arbeiten  werden  sich  erinnern,  dass  ich  schon 
mehrere  Male  an  die  Hrn.  Carville  und  Duret  in  Paris  Ermahnungen 
wegen  der  Art  richten  musste,  wie  sie  mit  meinem  literarischen  Eigen- 
thum  umzugehen    beliebten**).     Wenn    ich  hierbei  besondere  Nachsicht 


*)   S.  40. 
**)   Untersuchungen  u.  s.  vv.  S.  IX.    Untersuchungen  u.  s.  w.  Neue  Folge. 
II.   S.  441. 


—     209     — 

walten  Hess,  so  geschah  das  theils  in  gerechter  Berücksichtigung  des 
Unistandes,  dass  die  grosse  Eilfertigkeit,  mit  der  Hr.  CarviJle  seine 
so  mannigfaltigen  Untersuchungen  veröffentlicht,  ihrn  unmöglich  erlauben 
kann,  'die  von  ihm  besprochenen  und  wiederholten  Arbeiten  Anderer 
auch  zu  lesen,  theils  in  der  Ueberzeugung,  dass  Hr.  Carville  gewisse, 
bei  unseren  westlichen  Nachbarn  früher  sehr  verbreitete  literarische 
Eigenthümlichkeiten  auch  heute  noch  in  die  Kategorie  der  „berech- 
tigten" zählt. 

Nun  wäre  ich  zwar  einer  nicht  geringen  Heiterkeit  meiner  Leser 
sicher,  wenn  ich  ihnen  die  literarischen  Usancen  der  Hrn.  Carville 
und  Duret  einmal  im  Zusammenhang  schildern  wollte,  indessen  ver- 
zichte ich  um  deswillen  darauf,  weil  der  sachliche  Gewinn  dieser  Be- 
mühungen zu  gering  ausfallen  würde. 

Mehrere  Gründe  bewegen  mich  aber,  in  höchst  entschiedener  Weise 
Einspruch  zu  erheben  gegen  den  Hauptinhalt,  gegen  die  Tendenz  einer 
neuesten  Publication  der  genannten  Herren*).  Die  Kühnheit  und  Be- 
harrlichkeit, mit  der  sie  sich,  wie  ich  beweisen  werde,  wider  besseres 
Wissen  in  den  Besitz  von  fremdem  Eigenthum  setzen,  erlaubt  keine 
fernere  Toleranz.  Das  von  ihnen  für  ihr  Unternehmen  gewählte  Journal, 
die  „Archives  de  Physiologie",  ist  zu  angesehen  und  zu  verbreitet,  als 
dass  man  sich  fernerhin  begnügen  könnte,  über  die  Hrn.  Carville 
und  Duret  zu  lächeln.  Endlich  erachten  wir  es  für  unsere  Pflicht,  im 
allgemeinen  Interesse  deutscher  Arbeit  wenigstens  nicht  oiine  Wider- 
sprach den  freilich  wohl  kaum  zu  verhindernden  Uebergang  der  Car- 
ville'schen  Darstellung  in  die  französische  Literatur  geschehen  zu 
lassen. 

Die  Hrn.  Carville  und  Duret  hatten  früher  durch  Versuche  von 
sehr  zweifelhaftem  Wertli  zu  beweisen  gesucht,  dass  unsere  Ansicht 
über  die  oberflächliche  Lage  der  bei  den  Reizversuchen  erregten 
Theile  irrig  sei.  In  ihrer  neuesten  Arbeit  halten  sie  diese  ihre  Meinung 
nicht  mehr  aufrecht,  aber  hören  wir  in  wortgetreuer  Uebersetzung,  wie 
sie  nun  vorgehen.  „Es  ist  sonderbar,  dass  Fritsch,  Hitzig  und 
„Ferrier  angesichts  so  zahlreicher  Untersuchungen  und  der  einstimmigen 
„Ansicht  dieser  ausgezeichneten  Forscher  (Magendie,  Flourens 
„u.  s.  w.)  nicht  versucht  haben,  ihre  Untersuchungsmethode    auf  einer 

„soliden  Basis  aufzubauen. ■ —  Man  ist  erstaunt,  wenn  man  sieht, 

„wie  wenig  diese  Experimentatoren  sich  mit  der  Lösung  dieser  Fragen 
„(Stromschleifen)  beschäftigt  haben.     Kaum  dass  Hitzig  diese  Fehler- 


*)   Carville  et  Duret,    Sur   les  fonctions  des  hemispheres   cerebraux, 
Arch.  de  physiol.   Ser.  2.   T.  IL   Mai-Juillet  1875.  p.  353-491. 

Hitzig,  Gesammelte  Abhaiidl.     I.  Theil.  14 


—     210     — 

„quelle  ahnt."  (Als  wenn  wir  nicht  S.  22 — 24  eine  weitläufige  Be- 
sprechung dieser  Frage  gegeben  hätten  und  die  ganze  gegen  Ferrier 
gerichtete  Abhandlung  nur  auf  Bestimmung  des  Werthes  der  Stroni- 
schleifen  hinausliefe!)  „Sie  hätten  angesichts  der  von  den  alten  Phy- 
„siologen  angestellten  Versuche  die  Vorschrift  des  D  esc  arte  s  be- 
„folgen,  d.  h.  das  experimentelle  Verfahren  variiren  müssen;  das  haben 
„wir  gethan  und  wir  haben  es  auf  einem  anderen  Wege  erreicht,  die 
„Richtigkeit  ihrer  Schlüsse  zu  einem  Theile  (?)  zu  erkennen.*) 

Und  welches  ist  nun  der  andere  Weg,  auf  dem  die  Hrn.  Carville 
und  Dur  et  unsere  Versäumnisse  nachholten?  Man  höre  und  staune! 
„Um  ihrem  experimentellen  Verfahren  seinen  exclusiven  Charakter  zu 
„benehmen  und  um  durch  eine  andere  Methode  ihre  experimentellen 
„Resultate  zu  verificiren,  haben  wir  Exstirpatiouen  der  durch  die  elek- 
,,trischen  Ströme  aufgedeckten  Centren  unternommen."**)  Das  ist  alles, 
wirklich  alles. 

Also  weder  ich  in  Gemeinschaft  mit  Fritsch***)  noch  später 
alleinf),  noch  Nothnagelff),  noch  Schifffff),  Niemand  von  uns  hat 
soviel  Intellect  besessen,  um  die  Reizversuche  durch  Lähmungsversuche 
zu  ergänzen;  es  mussten  erst  die  Hrn.  Carville  und  Duret  kommen, 
um  uns  zu  zeigen,  wie  man  eine  Thatsache  feststellt! 

Aber  vielleicht  haben  unsere  Autoren  alle  diese  Arbeiten  nicht  ge- 
kannt, sie  haben  einen,  schliesslich  verzeihlichen  Irrthum  begangen. 
Ja,  wenn  darüber  irgend  ein,  auch  nur  der  leiseste  Zweifel  bestehen 
könnte,  so  würde  ich  mich  wohl  gehütet  haben,  oben  zu  behaupten, 
sie  hätten  wider  besseres  Wissen  gehandelt.  Ich  weiss  sehr  wohl, 
wie  schwer  dieser  Vorwurf  wiegt,  aber  ich  halte  ihn  mit  vollem  Be- 
wusstsein  und  aller  Entschiedenheit  aufrecht. 

Handelte  es  sich  um  irgend  welche  andere  Autoren  als  gerade  um 
die  Hrn.  Carville  und  Duret,  so  würde  ich  als  Beweis  für  meine 
Behauptung  den  Umstand  anführen,  dass  sie  eine  Arbeit  schrieben, 
deren  Titel  lautet:  „Critique  experimentale  des  travaux  de  MM.  F ritsch. 
Hitzig,  Ferrier  "*f),  und  dass  in  dem  Aufsatz  F  ritsch -Hitzig  die 
Untersuchungen    beschrieben    stehen,    deren    Lnterlassung    sie    uns    mit 


*)   Carville  et  Duret,  A.  a.  0.   S.  398,  399. 
**)  A.  a.  0.   S.  433. 
***)   S.  31  ff. 

t)  S.  56  ff.  u.  S.  63  ff. 
ft)  Nothnagel,  Virchow's  Arch.   Bd.  57. 

jff)   Schiff,   Lezioni    di    fisiol.    sper.     etc.     See.    ediz.     Firenze    1873. 
S.  536  ff. 

*t)  Carville  et  Duret,  Gaz.  med.   1874.   No.  2. 


—     211     — 

soviel  Emphase  vorwerfen.  Ich  würde  endlich  anführen,  dass  ich  der  Societe 
de  biologie,  in  der  Hr.  Carville  seine  Vorträge  zu  halten  pflegt,  ein 
Exemplar  der  neuen  Folge  meiner  Untersuchungen  habe  zugehen 
lassen,  in  welchen  fortgesetzte  Lähmungsversuche  beschrieben  sind,  und 
in  welchen  durch  einen  besonderen  Anhang  die  Hrn.  Carville  und 
Duret  darauf  aufmerksam  gemacht  werden,  dass  die  von  ihnen  im 
Jahre  1874  in  der  Societe  de  biologie  als  neu  vorgetragenen  Beobach- 
tungen von  uns  schon  im  Jahre  1870  publicirt  worden  sind.  Ich  würde 
endlich  anführen,  dass  die  Hrn.  Carville  and  Duret  in  ihrer  jüngsten 
Arbeit  sehr  ausführliche  Auszüge  nebst  Abbildungen  aus  meinem  Buche 
in  so  weit  es  die,  uns  nun  doch  nicht  mehr  zu  entfremdenden  Reiz- 
■versuche  betrifft,  beibringen,  und  dass  es  nicht  wahrscheinlich  ist,  dass 
sie  bei  der  Gelegenheit  die  Lähmungsversuche  nicht  sollten  gelesen 
haben.  Indessen  mit  solchen,  jeden  anderen  Autor  in  Verlegenheit 
setzenden  Beweisen  ist  gegen  diese  Herren,  wie  wir  am  Schlüsse  dieser 
Arbeit  sehen  werden,  nichts  auszurichten.  Es  bedarf  des  Beweises 
•durch  ihre  eigenen  gesprochenen  und  geschriebenen  Worte, 
und  hier  ist  er. 

Als  die  Hrn.  Carville  und  Duret  ungeachtet  meiner  Abmahnung 
fortfuhren,  sich  in  der  Societe  de  biologie  mit  meinen  Federn  zu 
schmücken,  hatte  ich  ein  Schreiben  an  die  Gesellschaft  gerichtet,  in 
dem  ich  auf  dieses  curiose  Verfahren  aufmerksam  machte  und  sehr 
höflich  um  Aufklärung  bat.*)  Hrn.  Carville's  Erwiderung  ist  zu 
charakteristisch,  um  sie  ganz  zu  übergehen,  und  so  folge  sie  denn  hier 
wörtlich:  „Leur  (Carville  et  Duret)  uote  du  30.  Oct.  1874  dit  qu'ils 
^,ont  employe  un  procede  deja  ancieu,  celui  des  ablations  de  diverses 
„parties  des  hemispheres,  pour  verifier  certains  points  en  litige;  donc 
ils  n'ont  pas  eu  la  pretention  d'avoir  les  premiers  fait  ces  experiences." 
Natüiiich  hat  es  sich  um  die  Methode  ja  gar  nicht  gehandelt,  sondern 
um  die  Resultate,  wie  wir  das  (s.  die  Anm.)  recht  deutlich  gesagt 
liatten,  und  deren  Entdeckung  diese  Herren  damals  für  sich  in  Anspruch 
nahmen.  Aber  darauf  soll  es  jetzt  nicht  ankommen.  Es  kommt  darauf 
an,  dass  sie  überhaupt  auf  meine  Reclamation  geantwortet  haben, 
folglich  haben  sie  sie  gehört. 

*)  MM.  Carville  et  Duret  ont  communique  (seance  du  10.  Oct.  1874) 
des  experiences  sur  la  paralysie  provoquee  par  des  lesions  de  la  substance 
grise  du  cerveau.  II  semblerait,  d'apres  la  redaction  de  leur  note,  qu'ils  aient 
les  Premiers  fait  ces  experiences.  Cependant  dejä  en  1870  M.  Fritsch  et  moi- 
meme  nous  avions  pratique  ces  vivisections  et  nous  avious  publie  nos  resultats, 
bui  etaient  tres-analogues,  si  non  identiques.  Gaz.  med.  1875.  6.  Fevr.  Aus 
■dem  Briefe  von  Hitzig. 

14* 


212     

Ferner  citiren  sie  nicht  nur  mit  der  grössten  Harmlosiglieit  neben 
meinen  Arbeiten  auch  Nothnagel's  Lähmungsversuche  und  discutireu. 
dessen  Muskelsinn-Theorie,  sondern  sie  übersetzen  auch  die  Stelle  bei 
Schiff,  in  der  derselbe  die  Resultate  unserer  und  seiner  Lähmungs- 
versuche ganz  ausführlich  beschreibt  und  sagt,  er  habe  in  unserer  Be- 
schreibung sofort  die  Aufhebung  des  Tastsinns  erkannt"*),  folglich 
haben  sie  alles  Nöthige,  insbesondere,  dass  ich  schon  mit 
Fritsch  diese  Versuche  gemacht  hatte,  mindestens  bei  Schiff 
gelesen.  Ausserdem  hat  Hr.  Dur  et  die  Arbeit  Ferrier's,  in  der 
nachstellender  Passus  vorkommt,  ins  Französische  übersetzt:  „Fritsch 
and  Hitzig  ascertained  that  destruction  of  the  centres,  in  which  they 
had  localised  certain  movements  of  the  paw  in  dogs,  caused  a  partial 
paralysis  of  the  muscles  set  in  action  by  galvauisation  of  the  same 
centres."**)  Folglich  hat  Hr.  Duret  ausser  bei  Schiff  auch  bei 
Ferrier  gelesen,  dass  wir  schon  in  unserer  ersten  Arbeit 
jene  Lähmungsversuche  beschrieben  hatten. 

Endlich  drucken  sie  sogar  folgende  Stelle:  „Depuis  ces  premieres 
„experiences  Hitzig  a  exstirpe  deux  ou  trois  fois  chez  des  chiens  le 
„centre  des  mouvements  des  pattes  et  il  aurait  vu  la  paralysie  sur- 
„venir;  mais  il  est  pea  explicite  sur  les  caracteres  speciaux  de  cette 
„paralysie."***)  Alles  das  ist  lauter  Verdrehung  der  Wahrheit.  Die 
Lähraungsversuche  wurden  nicht  nur  „seit"  sondern  schon  „in"  der 
ersten  Arbeit  publicirt,  Carville  und  Duret  wussten  das,  wie  eben 
gezeigt  worden  ist,  und  wenn  meine  Schilderung  so  war,  dass  Schiff 
sofort  einen  prägnanten,  wenn  auch  falsch  gedeuteten  Eindruck  davon 
erhielt,  sollte  sie  am  Ende  auch  den  Hrn.  Carville  und  Duret  deutlich 
geworden  sein;  ganz  zu  geschweigen  davon,  dass  diese  auch  nicht  ein 
Körnchen  Neues  zu  unserer  Schilderung  hinzugethan  haben. 

Ja  aber,  wird  der  Leser,  dem  das  auf  S.  219,  210  Citirte  nicht  mehr 
ganz  gegenwärtig  ist,  fragen,  worüber  beklagst  du  dich  denn  eigentlich, 
wenn  Carville  und  Duret  nicht  imr  deine  eigene  Arbeit,  sondern 
auch  die  bestätigenden  Versuche  von  Schiff  und  Nothnagel  citirten? 
Auf  diese  Frage  haben  auch  die  Hrn.  Carville  und  Duret  offenbar 
gerechnet,  aber  vielleicht  nicht  darauf,  dass  ich  in  der  Lage  sein  würde, 
sie  dem  Leser  anticipando  zu  beantworten.  Sämmtliche  in  Rede  stehende 
Arbeiten    waren    einfach    nicht    todtzuschweigen,    weil  Schiff   so    vor- 


*)   Schiff,  A.  a.  0.   S.  413—416. 

**)  Ferrier,  Experimental  researches.  West  Riding  asyl.  Rep.  III,  p.  77. 
Die  französische  üebevsetzung  ist  mir  nicht  zur  Hand. 
'•■**!   Carville  et  Duret,  A.  a.  0.   S.  434. 


—     213     — 

sichtig  gewesen  war,  seine  Versuche  in  Paris  zu  zeigen,  weil  darüber 
in  der  Societe  de  biol.  vorCarvilie  discutirt  worden  war,  weil  Noth- 
nagel's  Versuche  anlässlich  der  Arbeiten  von  Beaunis  und  Fournie 
auch  in  der  französischen  Presse  zu  viel  erwähnt  waren,  und  weil,  mit 
Rücksicht  auf  uns  endlich  neben  anderen  Citaten  französischer  Autoren 
denn  doch  mein  Brief  an  die  Societe  de  biol.  hätte  allzu  unbequem 
werden  können. 

Mussten  die  Hrn.  Carville  und  Duret  also  schon  diese  Ar- 
beiten erwähnen,  so  hat  sie  das  doch  nicht  gehindert,  im 
Widerspruch  mit  den  daraus  hervorgehenden  Thatsachen  und 
mit  doppelter  Kühnheit  die  Behauptung  aufzustellen,  wir 
hätten  unsere  Reizversuche  nicht  durch  Lähmungsversnche 
controUirt,  wir  hätten  dies  unterlassen,  da  wir  kaum  eine 
Ahnung  von  den  möglichen  Fehlerquellen  gehabt  hätten, 
erst  sie  hätten  durch  ihre  Lähmungsversuche  unsere  bis 
dahin  unbewiesenen  Behauptungen  sicher  gestellt. 

Warum  die  Hrn.  Carville  und  Duret  so  handelten,  welche  Ab- 
sichten und  Motive  sie  bewegten,  das  will  ich  nicht  erörtern.  Ich  habe 
meine  Feder  ungern  zur  Feststellung  der  Thatsachen  hergeliehen. 
Mit  dem,  was  darüber  hinaus  ist,  will  ich  nichts  zu  thun  haben.  Nur 
eins  habe  ich  noch  zu  beweisen  und  das  gehört  gewissermassen  zu 
dieser  Frage,  nämlich  dass  die  Hrn.  Carville  und  Duret  Leute  sind, 
bei  denen  man  sich  der  von  mir  geschilderten  Handlungsweise  versehen 
konnte. 

Schon  in  ihren  ersten  Publicationen  hatten  diese  Autoren  versucht, 
unsere  Arbeiten  theils  ganz  todtzuschweigen,  theils  unsere  Resultate 
dem  Hrn.  Ferrier  zuzuwenden.  Dasselbe  Verfahren  ist  auch,  beiläufig 
gesagt,  in  der  letzten  Arbeit  zur  Anwendung  gekommen,  wie  ich  leicht 
beweisen  könnte,  wenn  ich  ein  Gewicht  darauf  legte.  Als  ich  mich 
nun  in  dem  mehrerwähnten  Briefe  an  die  Soc.  de  biol.  darüber  be- 
schwerte, erhielt  ich  folgende  Antwort,  die  Herreu  hätten  unsere  Ar- 
beiten gar  nicht,  sondern  nur  die  des  Hrn.  Ferrier  (welche  freilich 
nur  eine  Wiederholung  der  unsrigen  war),  prüfen  wollen.  Also  hätten 
sie  auch  gar  nicht  nöthig  gehabt,  unseren  Antheil  an  diesen  Versuchen 
zu  berücksichtigen.  Unsere  Namen  seien  eben  nur  aus  Versehen  (ä 
tort)  in  den  einen  Titel  gerathen.  Dieser  Titel  lautet  aber:  Critique 
experimentale  des  travaux  de  MM.  Fritsch,  Hitzig,  Ferrier! 

Nach  dieser  persönlichen  Auseinandersetzung  wird  man  mir  es 
hoffentlich  nicht  verdenken,  wenn  ich  die  vielfachen  sachlichen  Miss- 
verständnisse und  Irrthümer,  welche  sich  in  der  Arbeit  der  Hrn.  Car- 
ville und  Duret  vorfinden,  nicht  gerade  heute  zur  Erörterung  heranziehe. 


X.  lieber  die  Einwände  des  Hru.  Professor  Groltz. 

Exstirpationsversuche  am  Grossliirn  des  Hundes  lieferten  das  that^ 
sächliche  Material  zu  einer  Arbeit*),  mit  der  Goltz  die  von  mir  ge- 
äusserten Anschauungen  über  die  Functionen  dieses  Organes  widerlegt 
zu  haben  glaubt.  Analoge  Versuche,  den  von  mir  sogenannten  Gyrus  e 
(sigmoides)  betreffend,  hatte  ich  selbst  bereits  im  Verein  mit  Hrn. 
Fritsch*'^)  in  geringer  Zahl  angestellt,  später  aber  in  systematischer 
Weise  auf  die  ganze  Convesität  des  Grosshirns  auszudehnen  begonnen. 
Aus  der  letzteren  Versuchsreihe  sind  Beobachtungen***),  durch  die  ich 
„den  letzten  und  nicht  mehr  anzufechtenden  Beweis  für  die  Localisation 
im  Grosshirn  gegeben"  zu  haben  glaubte,  publicirt  w^orden.  Leider  haben 
mir  äussere  Verhältnisse  nicht  gestattet,  diese  Versuche  derart  zu  fördern, 
dass  ich  aus  ihrer  immerhin  grossen  Zahl  schon  jetzt  dem  Leser  ein 
weiterreichendes,  abgeschlossenes  und  mit  der  erforderlichen  Bew'eiskraft 
ausgerüstetes  Ganze  vorzulegen  vermöchte. 

Aehnliche  Versuche  sind  ferner  von  Nothnagelf),  Carville  und 
Duretff),  Schifffft),  L.  Hermann*f)  und  endlich  von  Soltmann*ff) 
ausgeführt  worden  *ttt) . 


*)   Goltz,   üeber  die  Verrichtungen   des  Grosshirns.    Pflüger's  Archiv 
u.  s.  w.   Bd.  XlII. 

**)  Siehe  oben  S.  31  ff. 
***)  Siehe  oben  S.  63  ff.  und  S.  73  ff. 

j)  Nothnagel,   Virchow's  Archiv  Bd.  57. 
ff)   Carville  et  Dur  et,  Archives  de  physiol.   1875. 
fff)  Schiff,   Archiv  für  exp.  Path.   Bd.  3. 

*f)  Hermann,   Pflügers  Archiv  Bd.  X. 

*ff)   Soltmann,  Jahrb.  für  Kinderheilk.   N.  F.  Bd.  IX. 

*fff)  Goltz  citirt  ferner  einen  Aufsatz  von  Bouillaud  in  Magendie's 

Journal  T.  X  sowie  einige  Beobachtungen  von  Vulpian  in  seinen  LeQons  sur 

la  physiol.  etc.  Paris  1866.    Ich   habe  diese  beiden  Arbeiten  bei  Abfassung 

meiner  bezüglichen  Abhandlungen   nicht  gekannt.     Hätte  ich   sie  jedoch  ge- 


—     215     — 

Die  Resultate  meiner  eigenen  Untersucliungon  haben  durch  die 
Arl)eiten  der  genannten  Forscher  unter  gelegentlicher  Anwendung  anderer 
Methoden  manche  Erweiterung  erfahren.  Ich  muss  mir  nun  vorbehalten 
den  mamiigfachen  hier  angeregten  Fragen  dann  in  extenso  nälier  zu 
treten,  wenn  ich 'das  erforderliche  Material  beisammen  haben  werde, 
und  insbesondere  auch  zu  zeigen,  in  wie  weit  das  rein  Thatsächliche 
meiner  eigenen  Erfahrungen  die  Angaben  anderer  Autoren  deckt.  Für 
den  Augenblick  beschränke  ich  meine  Aufgabe  auf  die  Erörterung  der 
Frage,  ob  Goltz  durcii  die  angeführte  Arbeit  wirklich  den 
Nachweis  geführt  hat,  dass  die  von  mir  ausgesprochenen 
Ansichten  über  die  Functionen  der  Grosshirnrinde  irrig 
sind,  und  bei  dieser  Erörterung  werde  ich  vorzugsweise  die 
Störungen  der  Bewegung  berücksichtigen. 

Meine  Ansicht  über  das,  was  durch  meine  und  andere  Versuche 
am  Grosshirn  bewiesen  ist,  habe  ich  sehr  oft  in  einer,  wie  ich  glaube, 
ganz  klaren  und  nicht  misszuverstehenden  Form  ausgesprochen.  Es  soll 
mich  aber  nicht  verdriessen,  eine  oft  citirte  Stelle  heut  noch  einmal 
atjzuführen: 

„Wir  hatten  nicht  ohne  Absicht  gerade  an  den  Schluss  unserer 
Arbeit  folgenden  Satz  gestellt: 

„„Es  geht  ferner  aus  der  Summe  aller  unserer  Versuche  hervor, 
dass  keineswegs,  wie  Flourens  und  die  Meisten  nach  ihm  meinten, 
die  Seele  eine  Art  Gesammtfunction  der  Gesammtheit  des  Gross- 
hirns ist,  deren  Ausdruck  man  wohl  im  Ganzen,  aber  nicht  in 
seinen  einzelnen  Theilen  durch  mechaniche  Mittel  aufzuheben  vermag, 


kannt,  so  weiss  ich  nicht,  ob  ich  sie  angeführt  haben  würde;  denn  sie  stehen 
mit  dem,  was  ich  beweisen  wollte,  kaum  in  Connex.  Bouillaud  stiess  ein 
Glüheisen  von  der  Seite  her  durch  Trepanlöcher  in  jede  der  beiden  Hemi- 
sphcären.  Welche  Zerstörungen  es  anrichtete,  giebt  er  nicht  an.  Vulpian 
legte  bei  zwei  Hunden  Frontalschnitte  durch  die  Hemisphäre  und  zwar  mög- 
lichst vor  dem  Corp.  striat.,  einem  dritten  Hunde  nahm  er  ca.  1  ccm  Hirn- 
masse, und  einem  vierten  durchwühlte  er  das  Hirn  mit  einer  Klinge.  Beide 
Forscher  sahen  nachher  die  vielbesprochenen  Motilitätsstörungen  eintreten. 

Goltz  hat  von  seinem  Standpunkte  des  Nicht-Localisirens  freilich  ganz 
recht,  wenn  er  sich  auf  diese  Arbeiten  bezieht.  Da  ich  hingegen  lediglich  auf 
das  Localisiren  ausging,  Lähmungserscheinungen  nach  Hirnverletzung  sonst 
ja  weder  beim  Menschen  noch  beim  Thiere  (vgl.  z.  B.  Schiff)  etwas  Neues 
waren,  und  da  von  Localisation  in  den  angeführten  Arbeiten  sogut  wie  gar 
nicht  die  Rede  war,  so  sehe  ich  nicht  recht,  in  welche  Beziehung  ich  dieselben 
zu  meinen  Bestrebungen  hätte  bringen  können.  Das  Auftreten  mit  dem  Fuss- 
rücken  an  und  für  sich  ist  ja  etwas  ganz  Nebensächliches. 


—     216     — 

sondern    dass    vielmehr    sicher    einzelne    seelische    Func- 
tionen,   wahrscheinlich    alle,     zu    ihrem    Eintritt    in    die 
Materie    oder    zur  Entstehung    aus    derselben  auf  circum- 
scripte  Centra  der  Grosshirnriude  angewiesen  sind."'' 
Denn    in    der    That    folgt    die   Wahrheit    dieses    Satzes    mit    aller 
wünschen swerthen    logischen  Schärfe    aus    unseren  Versuchen,    und  wir 
betrachten    diese  Wahrheit    als  die  werthA'ollste  Errungenschaft  unserer 
Arbeit. 

Wenn  Reizung  bestimmter  Stellen  bestimmte  Muskeln  in  Bewegung 
setzt,  und  Zerstörung  dieser  Stellen  die  Innervation  derselben  Muskeln 
alterirt,  wenn  Reizung  und  Zerstörung  anderer  Stellen  ganz  und  gar 
keinen  Einfluss  auf  die  Muskelinnervation  ausübt,  so  scheint  mir  das 
hinreichend  beweisend  zu  sein  für  den  Satz,  dass  die  einzelnen  Tlieile 
des  Grosshirns  nicht  gleichwerthig  sind:  und  diesen  Satz  wollten  wir 
beweisen*)". 

Goltz  ist  zunächst  bei  seinen  Versuchen  und  sodann  folgerecht 
bei  seinen  Schlüssen  zu  anderen  Resultaten  gelangt.  Es  liegt  mir  vor 
allem  ob,  die  Ursachen  der  Meinungsverschiedenheit,  was  die  That- 
sachen  angeht,  in  unzweideutiger  Weise  aufzuklären.  Vielleicht  wäre 
es  sogar  richtiger  gewesen,  wenn  schon  Goltz  selbst  diese  Aufklärung 
beizubringen  versucht  hätte. 

Im  Gegensatz  zu  dem  Inhalte  der  soeben  aus  meinem  Buche  citiiten 
Stelle  schreibt  Goltz:  „Wir  werden  sehen,  dass  der  Grad  der  Störungen 
im  Allgemeinen  gleichen  Schritt  hält  mit  der  Grösse  des  Substanz- 
verlustes. Dagegen  ist  der  Ort  des  Substanzverlustes,  soweit  bis  jetzt 
meine  Untersuchungen  gediehen  sind,  von  keinem  ent- 
scheidenden Einfluss,  d.  h.  der  Charakter  der  Störungen  ist  der- 
selbe, ob  nun  das  Trepanloch  weiter  nach  vorn  z.  B.  am  vorderen 
R.ande  der  sogenannten  erregbaren  Zone  von  Hitzig  angebracht  ist, 
oder  ob  dasselbe  weit  hinten  im  Bereich  des  Hinterlappens  angelegt 
wird"**). 

Die  Fassung  dieses  Satzes  könnte  zu  Missverständnissen  Veranlassung 
geben,  denn  während  in  seinem  ersten  Theile  Grad  und  Ort  verglichen 
werden,  treten  sich  in  seinem  zweiten,  den  ersten  erklärenden  Tlieile 
Art  (Charakter)  und  Ort  gegenüber.  Immerhin  kann  man  den  Inhalt 
auffassen  wie  man  will,  er  ist  höchstens  in  einer  ganz  bedingten  Weise 
richtig,  nämlich  dann,  wenn  man  wie  Goltz  „bei  jeder  Operation  eine 
erhebliche    Ausrottung    von    Hirnmasse    beabsichtigt    und    erreicht." 


*)  S.  57. 
**)   Goltz,   a.  a.  0.  S.  31,  32,  33. 


—     217     — 

Ich  zweifle  nicht  an  der  Riclitigkeit  der  von  Goltz  publicirten  Resultate, 
aber  er  hat  eben  ganz  andere  Versuche  angestellt  als  ich,  und  unter- 
lassen hierauf  die  erforderliche  Rücksicht  zu  nehmen;  daher  stammt 
die  Differenz  in  den  thatsächlichen  Angaben. 

Wenn  mau  kleine,  ja  selbst  minimale  Tlieile  Hirn  aus- 
schaltet, wie  ich  dies  bei  den  beweisenden  Versuchen  that,  so  ist  der 
Ort  der  Operation  einzig  und  allein  von  entscheidendem  Ein- 
fluss  dafür,  ob  Motilitätsstörungen  eintreten  werden  oder  nicht.  Operirt 
man  in  dem  von  mir  sogenannten  Gyrus  sigmoides,  so  sind,  die  Beine 
afficirt,  operirt  man  an  einer  anderen  Stelle,  insbesondere  hinten,  so 
sind  die  Beine  nicht  afficirt.  Ja  wenn  man  an  anderen  Stellen  sogar 
sehr  viel  mehr  Hirnmasse  herausnimmt,  als  im  Gyrus  sigmoides  zur 
Hervorbringung  deutlicher  Störungen  genügen  würde,  so  sieht  man 
immer  noch  nichts.  Das  ist  eine  Thatsache,  an  der  noch  Niemand, 
auch  Goltz  nicht  zu  rütteln  versucht  hat,  und  an  der  auch  nicht  zu 
rütteln  ist.  Wenn  dem  aber  so  ist,  so  sehe  ich  auch  nicht,  wie  man 
den  Schluss  angreifen  will,  „dass  die  einzelnen  Theile  des  Grosshirns 
nicht  gleichwerthig  sind." 

Sobald  bewiesen  sein  wird,  dass  ein  Stich  in  jeden  beliebigen 
Theil  des  Hirns,  oder  die  Herausnahme  eines  linsengrossen  Stückchens 
grauer  Substanz  aus  jeder  beliebigen  Stelle  des  Hirns  dieselben  Motilitäts- 
störungen hervorbringt  wie  das  bei  identischen  Läsionen  des  Gyrus 
sigmoides  der  Fall  ist,  werde  ich  zugeben,  dass  ich  mich  geirrt  habe, 
und  dass  die  einzelnen  Theile  des  Grosshirns  gleichwerthig  sind;  vorher 
aber  nicht.  Goltz  führt  unter  Anderem  gegen  meine  Auffassung  an, 
dass  ich  selbst  den  von  mir  anlässlich  der  Verletzungen  des  Gyrus  d 
(vorderer  Schenkel  des  Gyrus  sigmoides)  zuerst  beschriebenen  „Defect 
der  Willensenergie"  gleichzeitig  auch  als  Folge  grösserer  Verletzungen 
des  Hinterhirns  constatirt  habe,  und  ist  geneigt  jenes  Symptom  als  eine 
geringere  Stufe  dessen,  was  ich  Störung  des  Muskelbewusstseins  nenne, 
aufzufassen.  Ich  will  jetzt  von  allen  Deutungen  absehen,  hingegen  noch 
einmal  hervorheben,  dass  auch  dieses  Symptom  eben  nur  bei  grossen 
Ausschaltungen  grauer  Substanz  des  Hinterhirns  zur  Beobachtung  kommt, 
bei  kleinen  aber  nicht. 

um  nuu  dem  Leser  einen  Begriff  von  der  verschiedenen  Wirkmig 
verschieden  localisirter  Eingriffe  zu  geben,  führe  ich  folgenden  Doppel- 
versuch an. 

In  den  ersten  Tagen  des  Mai  1876  wurde  einem  kleinen  Pinscher 
der  Schädel  links  neben  Gyrus  sigmoides  (d  e)  mit  einer  Trephine  von 
14  mm  Durchmesser  eröffnet  und  eine  annähernd  der  Oeffnung  ent- 
sprechende   Menge    Hirnsubstanz    auf    ca.  4  mm  Tiefe    entfernt.     Dem- 


—     218     — 

selben  Hunde  wurden  sodann  am  19.  September  1876  zwei  Kronen  von 
11  mm  mit  einer  stehenbleibenden  intermediären  Knochenbrücke  über 
Hinter-  und  Schiäfenlappen  rechterseits  aufgesetzt,  und  sowohl  die  frei- 
liegende Substanz,  als  die  unter  der  Brücke  liegenden  Partien  auf 
mindestens  4  mm  Tiefe  gänzlich  entfernt.  Der  lange  Durchmesser  der 
Hirnwunde  betrug  ca.  30  mm  also  mehr  als  das  Doppelte  der  links- 
seitigen.    Beide  Exstirpationen  nahm  ich  mit  dem  Löffel  vor. 

In  Folge  der  linksseitigen  Operation  erschienen  nun  rechterseits 
sehr  erhebliche  Störungen  des  Muskelbewusstseins,  die  in  der  gewöhn- 
lichen Weise  verliefen  und  noch  heute  spurweise  aber  deutlich  in  der 
Art  nachweisbar  sind,  dass  der  Hund  bei  Beobachtung  gewisser  Cau- 
telen  die  Vorderpfote  mit  dem  Dorsum  oder  in  Fuss-  und  Zehengelenken 
eingeknickt  aufsetzen  lässt  und  diese  Extremität  sogar  gelegentlich  activ 
in  charakteristischer  Weise  nach  innen  und  hinten  oder  nach  innen  und 
vorn  setzt. 

Hebt  man  ihn  mit  zwei  Händen  an  der  Rückenhaut  auf  und  lässt 
ihn  dann  herab,  so  stehen  die  Zehen  der  rechten  Vorderpfote  eigen- 
thümlich  krallenartig  und  der  Fuss  gelangt  mehr  mit  der  Spitze  der 
Zehen  als  mit  der  Planta  auf  den  Tisch. 

In  Folge  der  rechtsseitigen  Operation  wurde  der  Hund  auf  dem 
linken  Auge  blind,  zeigte  aber  keinerlei  Störungen  des  Muskelbewusst- 
seins, wenn  man  nicht  den  Umstand  dafür  gelten  lassen  will,  dass  er 
in  den  zwei  ersten  Tagen  nach  der  Operation  zitternd  und  heulend  vor 
Furcht  die  Pfoten  manchmal,  bei  Weitem  nicht  immer,  auf  2 — 3  See. 
mit  dem  Dorsum  aufsetzen  liess.  Auch  das  war  ungeachtet  aller  Vor- 
sicht nach  Ablauf  dieser  zwei  Tage  nicht  mehr  möglich,  während  alle 
anderen,  bei  analogen  Läsionen  des  Gyrus  sigmoides  unausbleiblichen 
Störungen,  das  Ausrutschen,  das  active  Aufsetzen  mit  dem  Dorsum,  das 
Einknicken,  die  Deviationen  absolut  und  vom  ersten'  Augenblicke  an 
fehlten. 

Recapituliren  wir  also  diese  Erfahrungen  mit  einem  Worte,  so  er- 
giebt  sich,  dass  eine  kleine  Verletzung  im  Gyrus  sigmoides  Sym- 
ptome in  den  Bewegungsapparaten  setzt,  die  noch  nach  ca.  7  Monaten 
\vahrzunehmen  und  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  permanent  sind,  wäh- 
rend eine  grosse  Zerstörung  des  Hinterhirns  zu  keinen  oder  höch- 
stens sehr  geringfügigen  und  vorübergehenden  Störungen  anologer  Ver- 
richtungen führt. 

Endlich  besteht  noch  eine  thatsächliche  Differenz  zwischen  den 
Goltz'schen  Beobachtungen  und  den  meinigen,  sie  betrifft  die  Reitbahn- 
bewegungen, welche  Goltz  anführt,  während  ich  ihrer  nicht  erwähnte. 
Auch    ich    habe    anlässlich  einiger  im  Jahre  1874   ausgeführter  Opera- 


—     219     — 

tionen  Reitbahnbeweguiigen,  oder  correcter  ausgedrückt,  Volteluufen  he- 
obaclitet,  indessen  habe  ich  das  Symptom  bisher  nicht  angeführt,  einmal 
weil  es  nur  ganz  ausnahmsweise  und  dann  auch  bei  ausnahmsweisen 
Bedingungen  auftrat,  und  zweitens  weil  es  bei  den  bisher  von  mir  in 
extenso  publicirten  Experimenten  überhaupt  nicht  vorkam.  Soviel  steht 
fest,  dass  es  keine  regelmässige  Begleiterscheinung  von  Läsionen  ist, 
die  erhebliche  Störungen  des  Muskelbewusstseins  auslösen. 

Alles  in  Allem  liegt  die  Streitfrage  mit  Rücksicht  auf  das  That- 
sächliche  jetzt  so,  dass  Goltz  nur  grosse  Ausschaltungen  vornahm 
und  deshalb  die  gleichen  Erscheinungen  von  allen  Regionen  des  Gross- 
hirns aus  hervorbringen  konnte,  welche  ich  bei  kleinen  lediglich  von 
bestimmten  Bezirken  aus  zu  erzeugen  vermochte.  Wir  werden  später 
sehen,  dass  ein  derartiges  Verhalten  meinen  Anschauungen  nicht  nur 
nicht  widerspricht,  sondern  dass  ich  dessen  Möglichkeit  ausdrücklich  zu- 
gelassen habe. 

Welchen  Antheil  nebenher  etwa  die  von  Goltz  angewendete  Me- 
thode des  Ausspülens  an  den  erzielten  Resultaten  gehabt  hat,  das  ver- 
mag ich  vor  der  Hand  nicht  zu  beurtheilen.  Immerhin  steht  für  mich 
soviel  fest,  dass  der  Hund  recht  grosse  Abtragungen  des  Hinterlappens 
mit  dem  Löffel  erträgt,  ohne  nachher  Störungen  des  Muskelbewusstseins 
zu  zeigen,  und  dass  ich  eine  Methode,  welche  Symptome  von  Druck 
auf  die  Medulla  oblongata  (Stillstand  der  Respiration  und  Herzaction  bei 
Goltz's  Versuchsthieren)  involvirt,  nur  mit  einem  gewissen  Misstrauen 
anwenden  würde. 

Wenden  wir  uns  nunmehr  zu  den  Deutungen.  Auch  hier  wird 
mir  wieder  die  Pflicht  erwachsen,  thatsächliche  Irrthümer  richtig  zu 
stellen. 

Goltz  glaubt,  dass  es  von  höchster  theoretischer  Bedeutung  sei, 
zwischen  vorübergehenden  und  dauernden  Störungen  zu  unterscheidan,  in- 
dem er  die  ersteren  als  Hemmungs-Reizungserscheinungen  gedeutet  wissen 
will  und  nur  den  letzteren  den  Werth  von  wirklichen  Functionsschädi- 
gungen  des  Grosshirns  zugesteht.  Er  meint,  ich  habe  die  hierher  ge- 
hörigen Bemerkungen  von  Lussana  und  Lemoigne  nicht  gekannt, 
ohne  dass  dies  zuträfe.  Das  Werk  dieser  Autoren  ist  mir  sehr  wohl 
bekannt  gewesen,  aber  ich  glaubte  weder  früher,  noch  glaube  ich  jetzt, 
dass  ihre  von  Goltz  angezogenen  Ansichten  irgend  eine  Bedeutung  für 
die  hier  in  Frage  kommenden  Versuche  beanspruchen  dürfen. 

Wenn  die  Eintheilung  in  vorübergehende  und  dauernde  Störungen 
einen  Werth  haben  soll,  so  ist  vor  allen  Dingen  erforderlich,  dass  ge- 
nau definirt  wird,  welche  Störungen  vorübergehend  und  welche  dauernd 
sind.     Ich  sehe  nicht,  dass  Goltz  diese  Aufgabe  gelöst  hat. 


—     220     — 

Er  bezeichnet  als  dauernde  Störungen  die  Neigung,  mit  den  Pfoten 
auszugleiten,  und  zweitens  die  Vernachlässigung  der  afficirten  Pfote,  wenn 
es  gilt,  dieselbe  als  Hand  zu  benutzen.  Gleich  darauf  gesteht  er  aber  zu, 
dass  auch  diese  Störungen  möglicher  Weise  vergänglich  sein  könnten. 
Dann  gäbe  es  also  überhaupt  keine  merklichen  Functionsschädigungen 
des  Grosshirns  nach  Ausrottung  von  Hirnsubstanz. 

In  der  That  sagt  nu.n  Goltz  selbst,  dass  einige  von  seinen  Hunden 
die  Fähigkeit,  die  Pfote  zu  reichen,  wiedergewannen,  andere  aber  nicht. 
Man  kann  diese  Störung  also  doch  nicht  wohl  mit  mehr  Recht  zu  den 
dauernden  zählen,  als  jene  von  mir  in  dem  oben  mitgetheilten  Doppel- 
versuch angeführten.  M^as  aber  das  Ausgleiten  mit  den  Pfoten  angeht, 
so  sehe  ich  nicht  ein,  in  wiefern  man  dasselbe  von  den  übrigen,  von 
mir  beschriebenen  Motilitätsstörungen  trennen  kann.  Es  zeigt  eine  Un- 
sicherheit, eine  Schwäche  des  Beines,  vielleicht  eine  mangelhafte  Orien- 
tirung  über  dessen  Zustände  an.  Dieselben  bedingenden  Momente  werden 
aber  auch  dann  vorauszusetzen  sein,  wenn  der  Hund  die  Pfote  mit  dem 
Dorsum  aufsetzen  lässt,  ohne  sie  zu  reponiren,  wenn  er  sie  in  falsche 
Stellungen  bringt,  wenn  er  in  ihren  Gelenken  einknickt.  Es  kommt 
dazu,  dass  die  zuletzt  angeführten  Symptome  ebensowohl  zu  der  gleichen 
Periode  der  theilweisen  Restitution  in  den  Vordergrund  treten  können, 
als  das  Ausgleiten.  Während  wir  demnach  die  von  Goltz  für  so  wich- 
tig gehaltene  Trennung  in  vorübergehende  und  dauernde  Störungen,  was 
die  Bewegung  angeht,  als  undurchführbar,  jedenfalls  aber  als  bisher 
noch  nicht  durchgeführt  erachten,  kann  man  allerdings  die  Frage  auf- 
werfen, ob  diese  Störungen  und  die  Alterationen  der  Bewegung  über- 
haupt directe  Motilitätsstörungen  sind,  oder  ob  sie  einer  Beein- 
flussung der  Sensibilität  ihren  Ursprung  verdanken. 

Wenn  man  diese  Frage  erörtern  will,  so  muss  man  in  jedem  Falle 
zwischen  der  Hautseusibilität  und  den  sensibeln  Eigenschaften  des  Be- 
wegungsapparates unterscheiden.  Goltz  hat  schon  mit  Recht  darauf 
hingewiesen,  dass  man  den  Verlust  der  Fähigkeit,  die  Pfote  zu  geben, 
nicht  wohl  durch  eine  Sensibilitätsstörung  erklären  könne.  Man  kann 
aber  noch  auf  andere  Art  nachweisen,  dass  der  Bewegungsapparat  direct 
von  einer  Störung  getroffen  ist,  die  ihre  Wirkungen  ohne  Dazwischen- 
kunft  der  Hautsensibilität  zur  Geltung   bringt. 

Ich  habe  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  operirte  Hunde,  welche 
an  der  Rückenhaut  schwebend  gehalten  oder  unter  dem  Kinn  gefasst, 
nur  mit  den  Vorderfüssen  vom  Tisch  entfernt  werden,  eine  merkwürdige 
Deviation  der  Extremitäten  und  auch  der  Wirbelsäule  (Goltz)  zeigen. 
Diese  Deviation  kann  mit  der  Hautsensibilität  nichts  zu  thun  haben. 
Ebensowenig  kann  das  sonderbare  Einknicken  in  den  Gelenken  auf  einen 


—     221     — 

Ausfall  innerhalb  dieses  Gebietes  von  Wahrnehmungen  bezogen  werden. 
Ferner,  wartet  man  bis  der  grössere  Theil  der  initialen  Störungen  sich 
ausgeglichen  hat,  so  lässt  sich  nachweisen,  dass  die  Hautsensibilität  zu 
einer  Zeit  intact  ist,  zu  der  doch  noch  das  oben  beschriebene  charakte- 
ristische Bild  der  Störung  des  Muskelbewusstseius  von  dem  Kundigen 
und  Geduldigen  zur  Anschauung  gebracht  werden  kann.  Setzt  man 
nämlich  dem  Hunde  die  Spitze  einer  Nadel  auf  die  Pfote,  so  sieht  er 
hin,  sticht  man  zu,  so  zieht  er  die  Pfote  fort.  Hebt  man  ihn  dann  mit 
zwei  Händen  an  der  Rückeuhaut  auf  u.nd  berührt  leise  eine  Pfote  nach 
der  anderen  mit  der  Hand,  so  entzieht  er  sie  sämmtlich  und  gleichmässig 
der  Berührung,  eine  Bewegung,  die  er  nach  entsprechenden  Eingriffen 
in  das  Grosshirn  mit  den  kranken  Pfoten  unter  Umständen  anfänglich 
nicht  ausführt. 

Wenn  der  Hund  nun  nicht  nur  die  Fähigkeit  Schmerz  zu  empfinden 
besitzt,  sondern  wenn  er  auch  durch  so  überaus  geringfügige  Tastreize 
zu  Aenderungen  in  der  Stellung  seiner  Glieder  veranlasst  wird,  warum 
sollten  so  viel  gröbere  Berührungen,  wie  das  Aufsetzen  des  Dorsum 
der  Zehen  auf  den  Tisch  nicht  die  gleichen  Centralapparate  zur  Be- 
thätigung  bringen,  vorausgesetzt  dass  wirklich  die  Hautseusibilität  hier 
die  entscheidende  Rolle  spielte. 

Giebt  man  zu,  dass  die  von  mir  sogenannten  Störungeji  des  Muskel- 
bewusstseius in  einer  späteren  Periode  nicht  von  Störungen  der  Haut- 
sensibilität herrühren,  so  kann  mau  unmöglich  annehmen,  dass  sie 
während  einer  früheren  Periode  diesen  Ursprung  hatten,  wenn  sie 
auch  zu  der  Zeit  vielleicht  mit,  solchen  Symptomen  vergesellschaftet 
waren. 

Bevor  wir  uns  nun  näher  auf  die  Erörterung  des  wahrscheinlichen 
Grundes  aller  der  sonderbaren  Bewegungsstörungen  einlassen,  wollen 
wir  noch  einige  andere,  nach  Exstirpationen  im  Gyrus  sigmoides  be- 
obachtete Erscheinungen  zusammenstellen. 

Ich  hatte  bereits  früher*)  angeführt,  dass  Hunde  mit  Störung  des 
Muskelbewusstseins  blindlings  mit  der  kranken  Pfote  über  den  Tisch- 
rand in's  Leere  treten,  sodass  sie  vom  Tisch  fallen,  gerade  als  wenn 
sie  blind  wären,  obwohl  sie  nachweislich  auch  auf  dem  Auge  der  affi- 
cirten  Seite  nicht  blind  sind  und  sich  selbstverständlich  der  vollen 
Integrität  des  anderen  Auges  erfreuen.  Diesen  Zustand  hatte  ich  dahin 
charakterisirt,  „dass  die  Hunde  sich  mit  der  kranken  Vorderpfote  so 
„benehmen,  als  ob  für  dieses  Glied  die  Gesichtseindrücke  nicht  existiren, 
„oder  als  ob  die  Gesichtseindrücke  nicht  zur  Bildung  von  Vorstellungen 

*)  S.  111  f. 


—     222     — 

„für  dasselbe  verwerthet  würden."  Andere  Erklärungen  und  Hypo- 
thesen hatte  ich  meinem  Principe  der  Zurückhaltung  gemäss  nicht 
hieran  geknüpft,  aber  doch  ist  Goltz  gar  schnell  bereit  gewesen,  meine 
„Erklärung"  ohne  weitere  Discussion  als  unrichtig  zu  bezeichnen. 
Seiner  Meinung  nach  tritt  der  Hund  wegen  mangelnder  Sensibilität  in's 
Leere. 

Etwas  dem  geschilderten  Verhalten  ganz  Aehnliches  kann  man  nun 
beobachten,  wenn  operirte  Hunde  sich  an  einem  Tische  bewegen,  dessen 
Füsse  nahe  dem  Boden  mit  einer  horizontalen  Leiste  versehen  sind, 
oder  wenn  man  ihnen  auch  ein  Seil  dorthin  spannt.  Sie  stossen  sich 
dann  mit  dem  kranken  Vorderbeine  an  der  Leiste  oder  dem  Seile.  Hat 
man  aber  beide  Seiten  operirt,  so  stossen  sie  sich  mit  beiden  Vorder- 
beinen, wodurch  übrigens  die  Beobachtung  wesentlich  erleichtert  wird. 
Hingegen  stossen  sie  niemals  mit  dem  Kopfe  oder  gesunden  Extremi- 
täten an,  sondern  bewegen  sich  in  dieser  Beziehung  mit  vollkomnaener 
Sicherheit  zwischen  einem  Walde  von  Stuhlbeinen  dahin.  Sie  sehen 
also  und  doch  stossen  sie  mit  den  afficirten  Beinen  an.  Hunde,  die 
in  Folge  einer  grossen  Laesion  des  Hinterlappens  blind  gew'orden  sind, 
verhalten  sich  ganz  anders.  Sie  stossen  mit  der  Schnauze  statt  mit 
der  Pfote  an  diejenigen  Dinge  an,  welche  sie  nicht  sehen,  und  treten 
nicht  in's  Leere,  sondern  orientiren  sich  mit  dem  gesunden  Auge. 

Auch  jenes  Anstossen  mit  den  Pfoten  würde  Goltz  wahrscheinlich 
durch  eine  Sensibilitätsstörung  erklärt  wissen  wollen,  ohne  dass  ich  ihm 
bei  dieser,  wie  bei  der  schon  früher  erwähnten  Beobachtung  über  das 
in's  Leere  Treten  beipflichten  könnte.  Denn  wenn  der  Mangel  an 
Tastsinn  Veranlassung  zu  den  abnormen  Bewegungen  sein  sollte,  so 
müsste  vorausgesetzt  werden,  dass  der  unverstümmelte  Hund  jene  Fehler 
in  der  Norm  mit  Zuhülfen  ahme  des  Tastsinns  vermiede,  dass  er  dabei 
taste,  was  nachweislich  nicht  der  Fall  ist  und  auch  gar  nicht  der  Fall 
sein  kann. 

Nehmen  wir  nämlich  an,  dass  das  gesunde  Thier  nicht  durch  die 
aus' den  Gesichtsbildern  sich  entwickelnden  Vorstellungen  an  dem  un- 
zweckmässigen Ueberschreiten  des  Tischrandes  gehindert  würde,  sondern 
dass  es  hierzu  tasten  müsse,  so  ist  nicht  ersichtlich,  welches  Tastobject 
bei  dem  Hinaustreten  in  die  Luft  etwa  zur  Regulirung  dienen  könne, 
weil  keines  vorhanden  ist.  Niemand,  der  einen  gesunden  Hund  auf 
einem  Tische  laufen  sieht,  dürfte  wohl  auch  den  Eindruck  erhalten, 
dass  derselbe  an  den  Rändern  taste,  ob  jenseits  eine  Stütze  für  den 
Fuss  vorhanden  sei,  sondern  er  wird  finden,  dass  sich  das  Thier  mit 
den  Augen  orientirt.  Das  von  Goltz  bei  dem  Gesunden  vorausgesetzte 
Verhalten  würde  nicht  demjenigen  eines  gesunden,   sondern  demjenigen 


-     223     — 

eines  seit  längerer  Zeit  blinden  Hundes  entsprechen,  welcher  erst 
tasten  muss,  bevor  er  die  intendirte  Bewegung  ausführt;  der  gesunde 
Hund  intendirt  die  unzweckmilssige  Bewegung  aber  gar  nicht,  er  tritt 
nicht  über  den  Tischrand,  um  vielleicht  dann  erst  die  Pfote  zurückzu- 
ziehen, und  er  bringt  sein  Bein  gar  nicht  in  die  Gefahr,  an  die  Leiste 
zu  stossen,  um  es  vielleicht  erst  nach  Beginn  der  Berührung  zurückzu- 
ziehen. Der  Verstümmelte  hingegen  stösst  plump  an  die  Leiste,  als 
wenn  sie  nicht  da  wäre,  und  er  schreitet  besinnungslos  in's  Leere,  als 
wenn  die  Tischplatte  sich  dorthin  fortsetzte. 

Wir  finden  also,  dass  hier  eine  Anomalie  scheinbar  im  Gebiete 
der  Sehorgane  vorhanden  ist,  welche  mit  dem,  was  man  Blindheit  nennt, 
insofern  nichts  zu  thun  hat,  als  die  auf  die  Ausbreitung  des  Sehnerven 
■wirkenden  Reize  nach  dem  Gehirn  fortgeleitet  und  für  eine  Anzahl  von 
Körpertheilen  in  der  normalen  Weise,  für  andere  aber  gar  nicht  ver- 
werthet  werden. 

Ich  bedauere,  dass  ich  der  mir  auferlegten  Beschränkung  gemäss 
an  dieser  Stelle  nicht  auf  gewisse  überaus  interessante  Beobachtungen, 
welche  Goltz  über  Störungen  des  Sehvermögens  und  der  Empfindung 
nach  grossen  Exstirpationen  machte,  eingehen  kann.  Die  Lücke,  welche 
hierdurch  in  meiner  Beweisführung  und  in  dem  Bilde,  welches  ich  nun 
zu  zeichnen  gedenke,  entsteht,  entgeht  mir  nicht,  aber  ich  hoffe  doch, 
dass  das  für  jetzt  benutzbare  Material  dem  Leser  meine  Ansicht  hin- 
reichend begründen  wird.     Die  Zeit  wird  dann  mehr  bringen. 

Beginnen  wir  mit  der  schönen  Beobachtung  von  Goltz,  dass  der 
verstümmelte  Hund,  welcher  ziemlich  ordentlich  gehen  kann,  nicht  im 
Stande  ist,  die  Pfote  zu  geben,  obwohl  er  gern  möchte.  Goltz  sagt 
hierüber:  „Zwischen  dem  Organ  des  Willens  und  den  Nerven,  die  den 
„Willen  ausführen,  hat  sich  irgendwo  ein  unbesiegbarer  Widerstand 
„aufgebaut.  —  —  Nur  wenn  der  Willensimpuls  zum  Gehen  und  Laufen 
„gegeben  wird,  spielt  die  rechte  Vorderpfote  in  dem  regelmässigen 
„Maschineugetriebe  mit." 

Ich  stimme  dieser  Ausführung  zu,  aber  ich  gehe  weiter,  indem 
ich  den  fraglichen  Widerstand  seinem  Wesen  nach  zu  erklären 
suche.  Meiner  Ansicht  nach  reicht  der  Hund  die  Pfote  darum  nicht, 
weil  er  sich  keine  oder  nur  unvollkommene  Vorstellungen  von 
dem  Zustande  der  ßewegungsorgane  dieses  Gliedes  bilden  kann. 
Denn  wenn  er  die  Zustände  seiner  Bewegungsorgane  auf  Grund 
eines  Willensactes  isolirt  und  in  zweckmässiger  Weise  ändern  soll, 
so  ist  erforderlich,  dass  sein  Sensorium  von  diesen  Zuständen,  w^enn 
auch  nur  in  der  hier  die  Regel  bildenden  unklaren  Weise  Kenntniss 
hat.     Ein  Organ,  durch  welches  diese  Kenntniss  vermittelt    wird,    muss 


—     224     — 

im  Gehirn  uothwendiger  Weise  existiren,  und  ich  glaube,  dass  der 
Gyrus  sigmoides,  ich  will  nicht  gerade  sagen,  dieses  Organ  ist,  aber 
doch  etwas  damit  zu  thun  hat, 

Zur  Auslösung  von  Bewegungen  ganz  allgemein  gesprochen,  also 
z.  B.  von  Ortsbewegungen,  ist  die  Gesammtsumme  dieser  Kenntniss. 
welche  sich  nämlich  aus  den  einzelnen  Factoren  der  die  einzelnen 
Glieder  betreffenden  Bewusstseiusvorgänge  zusammensetzt,  nicht  er- 
forderlich. Es  genügt  hier,  dass  der  Bewegungsimpuls  überhaupt  von 
der  Grosshirnrinde  zu  den  niederen  Bewegungscentren  gelange,  um  ihre 
Maschinerie  in  Thätigkeit  zu  setzen.  Die  kranken  Glieder  spielen  dann 
so  gut  es  ohne  das  ihnen  z.ugehörende  Theil  Grossbirn  eben  gehen  will 
mit.  Sofort  macht  sich  aber  der  Defect  im  Grosshirn  bei  der  Be- 
wegung bemerklich  dadurch,  dass  der  Hund  die  Pfote  in  den  einzelnen 
Gelenken  ungeschickt  bewegt,  sie  nach  innen  oder  aussen  setzt,  sie  mit 
dem  Dorsum  aufsetzt  u.  s.  w.  Nähme  er  wahr,  dass  die  Pfote  sich  in 
diesen  abnormen  Stellungen  befindet,  so  würde  er  dieselben  aufgeben, 
oder  vielmehr,  hätte  er  vollkommene  Kenntniss  von  dem  Zustande 
seiner  Bewegungsorgane,  so  würde  er  diese  abnormen  Stellungen  über- 
haupt nicht  einnehmen,  denn  die  Beobachtung  lehrt,  dass  eine  absolute 
Unmöglichkeit  normale  Stellungen  und  Bewegungen  einzunehmen  durch- 
aus nicht  vorliegt.  Es  ist  aber  nur  ein  Zufall,  wenn  die  Pfote  solche 
normale  Bewegungen  macht,  in  der  Regel  fällt  die  der  Norm  adaequate 
Begrenzung  der  einzelnen  Bewegungsglieder,  die  nur  aus  der  unaufhör- 
lichen Kenntnissnahme  jeder  einzelnen  Beweguugsphase  resultiren  kann, 
dahin . 

Auf  dieselbe  Linie  stelle  ich  endlich  die  Erscheinung,  dass  _der 
Hund  sich  mit  den  afficirten  Pfoten  stösst  und  sie  in's  Leere  setzt. 
Auch  hier  entstehen  unzweckmässige  Bewegungen,  weil  das  Sensorium 
nicht  über  die  Zustände  des  Gliedes  orientirt  ist.  Die  Bewegungs- 
maschiuerie  ist  einmal  in  Thätigkeit  gesetzt,  ihre  Verrichtungen  spielen 
sich  annähernd  in  der  gewöhnlichen  Weise  ab,  aber  deren  Einzelheiten 
werden  nicht  in  der  normalen  Weise  durch  die  vermöge  des  Gesichts- 
sinnes im  Sensorium  hervorgebrachten  Aenderungen  regulirt,  mit  anderen 
M'^orten:  „die  Gesichtseindrücke  werden  nicht  zur  Bildung  von  Vorstel- 
lungen für  das  fragliche  Glied  verwerthet." 

Alle  diese  Phaenomene  besitzen  also  das  Gemeinschaftliche,  dass 
äusserliche  Zustände  —  einmal  die  der  Muskeln,  das  andere  Mal 
die  der  Objecto  des  Raumes  vom  Sensorium  für  die  Bewegungen 
des  kranken  Gliedes,  aber  nur  für  diese  nicht  in  Rechnung 
gestellt  werden. 

In  dieser  Weise  erkläre  ich  mir  die  verschiedenen,  nach  Laesionen 


—     225     — 

des  Gyrus  sigmoides  auftretenden  Functionsstörungen,  ihre  Verknüpfung 
mit  einander  und  ihre  Localisation  auf  eine  kleine  cerebrale  Stelle. 
So  weit  ich  die  Sache  übersehen  kann,  dürften  auch  die  Sensibilitäts- 
störungen einer  analogen  Deutung  unterliegen.  Ich  bin  wenigstens 
nicht  im  Stande,  eine  andere  Auffassung  ausfindig  zu  machen,  welche 
die  Summe  dessen,  was  wir  bis  jetzt  sicher  wissen,  in  befriedigender 
Weise  zu  erklären  vermöchte.  — 

Goltz  schreibt  mir  über  die  Thatsache  der  Restitution  verloren 
gegangener  cerebraler  Functionen  Ansichten  zu,  welche  ich  mit  der  von 
ihm  vorausgesetzten  Bestimmtheit  nicht  ausgesprochen,  ja  sogar  solche, 
von  denen  ich  das  Gegentheil  gesagt  habe.  Nach  Goltz  würde  ich 
diese  Restitution  lediglich  als  Folge  unvollkommener  Zerstörung  dieses 
oder  jenes  Centrums  auffassen  und  anderen  Deutungen,  insbesondere 
derjenigen,  dass  die  gesunde  Hirnhälfte  für  die  verletzte  einträte, 
keinen  Raum  gelassen  haben.  Die  von  mir  gebrauchten  Worte  lauten 
folgendermassen : 

„Daraus  (Restitution)  lässt  sich  aber  nicht  das  Geringste  schliessen, 
„denn  der  sich  eröffnenden  Möglichkeiten  sind  zu  viele.  Eine  sehr 
„einfache  Annahme  ist  z.  B.  die,  dass  man  nicht  das  ganze  Centrum 
„zerstört  hat  u.  s.  w.*)  —  —  —  Dennoch  bin  ich  weit  entfernt,  ihn 
„(diesen  Gedanken)  für  den  einzig  richtigen  auszugeben,  —  — 
„Wir  haben  nicht  daran  gedacht  in  dieser  Beziehung  irgend 
„welche  Grenzen  für  irgend  ein  Centrum  anzugeben,  noch  die 
„Möglichkeit  zu  behaupten  oder  auszuschliessen,  dass  ein  solches 
„doppelt  vorkäme,  sondern  wir  haben  nur  den  Satz  aufstellen  wollen 
„und  wir  erhalten  ihn  aufrecht,  dass  die  einzelnen  in  Frage  stehenden 
„ Hirnfun ctionen  sich  bestimmter,  irgendwo  aber  wohl  begrenzter  Hirn- 
„organe  bedienen  ii.  s.  w.**) 

Wenn  ich  also  die  unvollkommene  Zerstörung  eines  Centrums  nur 
als  eine  von  vielen  Möglichkeiten  aufzählte,  so  habe  ich,  weit  ent- 
fernt davon  die  Möglichkeit  des  Eintretens  der  anderen  Hemisphäre  zu 
bestreiten,  sogar  Beweise  dafür  beigebracht,  dass  dieselbe  schon  in  der 
Norm  durch  ihren  Linsenkern  (Vgl.  Anmerkung  7)  zu  den  Bewegungen 
der  ihr  gleichnamigen  Seite  mitwirkt.*''*) 

Ich  bin  vielfach  durch  allerlei  Angriffe  und  Deutungen  Anderer 
gezwungen  worden,  auf  Möglichkeiten  hinzuweisen,  die  von  anderer 
Seite  nicht  berücksichtigt  waren,    mich  in  psychologische  Erörterungen 


*)  S.  58. 

**)  S.  58f. 

***)  S.  50,  51, 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.    I.  Theil.  15 


—     226     — 

einzulassen,  die  mir  unerwünscht  kamen.  Aber  doch  bin  ich  mir  be- 
wusst,  überall  mit  der  nöthigen  Vorsicht  verfahren  zu  sein,  und  nament- 
lich wohl  unterschieden  zu  haben,  was  eine  nothweudige  Folgerung 
aus  den  vorhandenen  Thatsachen  und  was  eine  subjective  Meinung  des 
Autors  war.  Wir  werden  im  Folgenden  noch  sehen,  wem  von  beiden, 
ob  Goltz  oder  mir  mit  grösserem  Eecht  der  Vorwurf  der  Unvorsichtig- 
keit in  den  Schlüssen  gemacht  werden  kann. 

Ich  hatte  oben  den  Nachweis  versprochen,  dass  das  Auftreten  von 
Bewegungsstörungen  nach  Verletzungen  anderer  als  der  in  der  erreg- 
baren Zone  gelegenen  Hirutheile  meinen  früher  geäusserten  Anschau- 
ungen keineswegs  widerspräche.  In  der  That  fand  ich  mich  anlässlich 
des  von  mir  selbst  beigebrachten  Nachweises  eines  auf  Zerstörungen 
anderer  Hirnpartien  folgenden  „Defectes  der  Willensenergie"  bereits 
bewogen,  au  folgenden  im  Jahre  1870  geschriebenen  Passus  zu  er- 
innern : 

„Es  ist  nicht  undenkbar,  —  dass  der  Hirntheil,  welcher  die  Ge- 
„burtsstätte  des  W^ollens  der  Bewegung  einschliesst,  noch  ein  anderer 
„oder  vielleicht  ein  Adelfacher  ist:  dass  die  von  uns  Centra  genannten 
„Gebiete  nur  Vermittler  abgeben,  Sammelplätze  u.  s.  w." 

Es  ist  ja  einerseits  klar,  dass  die  Zerstörung  von  „Sammelplätzen" 
bei  weitem  stärkere  und  mehr  Symptome  zur  Folge  haben  muss,  als 
die  Zerstörung  eines  Theiles  der  Plätze,  auf  deren  Summe  alles  das 
entstellt,  was  nachher  gesammelt  wird.*)  Aber  dass  Eingrifi'e  und  noch 
dazu  sehr  grosse  Eingriffe  in  die  letzteren  überhaupt  nichts  der  Art 
nach  Aehnliches  hervorbringen  sollten,  davon  ist  nicht  nur  nichts  ge- 
sagt, sondern  es  ist  das  Gegentheil  gesagt. 

Was  hat  nun  Goltz  an  die  Stelle  der  von  mir  mit  aller  Vorsicht 
und  Zurückhaltung  ausgesprochenen  Anschauungen  zu  setzen  versucht? 
Einen  Satz,  den  er  für  ebenso  sichergestellt  hält,  als  ich  ihn  für  un- 
richtig halte.  Er  erklärt  die  von  mir  und  Anderen  beschriebenen 
„groben  Störungen  der  Bewegung  nach  Verletzung  des  Grosshirns  durch 
einen  Hemmungsvorgang,  welcher  sich  von  der  Hirnwunde  aus  nach 
hinten  fortpflanzt.  Vermöge  dieser  Hemmung  werden  eine  sehr  grosse 
Zahl  von  Centren,  die  selbst  durch  die  Operation  nicht  im  geringsten 
geschädigt  werden,  für  kürzere  oder  längere  Zeit  gelähmt."  Diese 
Centren  sollen  ihren  Sitz  im  Kleinhirn  haben. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  die  Thatsachen.  Wenn  ich  im  Gyrus 
sigmoides  eine  kleine  Verletzung  anbringe,  sehe  ich,  kurz  gesagt, 
Lähmungserscheinungen.     Wenn    ich    aber    dieselbe    Verletziuig    hinten 

*)  S.  6. 


—     227     — 

oder  ganz  vorn  anbringe,  so  sebe  ich  keine  Lähmungserscheinungen. 
Setze  ich  nun  mit  Goltz  voraus,  dass  die  Lähmungserscheinungen, 
wenn  sie  entstehen,  durch  Fortpflanzung  eines  Reizes  nach  dem  Klein- 
hirn bedingt  werden,  so  folgt,  dass  der  Reiz  an  denjenigen  Stellen,  wo 
Lähmungserscheinungen  zu  erzeugen  sind,  zunächst  einmal  Bahnen 
findet,  auf  denen  er  sich  nach  dem  Kleinhirn  fortpflanzen  kann,  und 
dass  er  an  den  anderen  Stellen  keine  solchen  Bahnen  findet.  Die  in 
den  Windungen  des  Grosshirns  vorkommenden  Nerven  münden  aber  in 
graue  Massen  der  Rinde,  sind  also  nicht  einfache  Bahnen,  sondern  ge- 
hören zu  Centren.  Beide  wirken  selbstverständlich  zu  derselben  Func- 
tion mit,  also  haben  diese  Centren  jedenfalls  wie  die  Bahnen  etwas 
mit  der  Bewegung  zu  schaffen,  mag  ihr  Weg  nun  durch  das  Kleinhirn 
gehen  oder  nicht. 

Wenn  aber  hier  mit  solchen  specifischen  Eigenschaften  begabte 
Centren  liegen,  so  bedarf  man  der  Annahme  einer  Passage  durch  das 
Kleinhirn  garnicht.  Sie  erscheint  überflüssig  und  darum  künstlich. 
Das  Wenige,  was  wir  bis  jetzt  über  die  Restitution  wissen,  ist  an  und 
für  sich  nicht  geeignet,  eine  derartige  Annahme  zu  rechtfertigen,  und 
was  von  der  angeblichen  Vollständigkeit  der  Restitution  zu  halten  ist, 
das  lehrt  der  oben  angeführte  Doppelversuch. 

Etwas  Anderes  wäre  es,  wenn  alle  gleichartigen,  also  auch  die 
kleinen  Verletzungen  an  allen  Stellen  des  Gehirns  den  gleichen  Effect 
hätten.  Dann  wäre  von  Localisation  keine  Rede,  dann  könnte  man 
auch  die  Hemmungstheorie  verfechten.  Aber,  dass  dem  nicht  so  ist, 
das  habe  ich  durch  meine  im  Jahrgang  1874  dieses  Archivs  mit- 
getheilten  localisirten  Exstirpationsversuche  bewiesen,  und  ich  kann 
mich  durch  Versuche,  bei  denen  von  Localisation  gar  keine  Rede  ist, 
von  meinen  Ueberzeugungeu  nicht  abbringen  lassen. 

Goltz  befindet  sich  ferner  im  Irrthum,  wenn  er  meint,  es  seien 
gerade  die  Organe  der  groben  maschinenmässigen  Bewegungen,  wie 
Gehen,  Laufen  u.  s.  w.,  welche  geschädigt  werden.  Meine  Hunde  liefen 
und  gingen  vielmehr  gleich  nach  der  Operation  gelegentlich  ganz  vor- 
trefflich, zeigten  aber  Störungen  in  den  feineren  Details  der  Anord- 
nung und  der  Controlle  ihrer  Bewegungen,  wie  ich  das  eben  geschildert 
habe.  Mir  wird  es  nun  ganz  unmöglich  zu  verstehen,  wie  diese  Stö- 
rungen, wenn  sie  wirklich  auf  Hemmungsvorgängen  beruhten,  nach 
Massgabe  der  Grösse  der  Exstirpation  ait  Umfang  zunehmen,  anhalten 
und  verschwinden  sollen. 

Kennt  man  irgend  einen  pathologischen  Nervenreiz,  der  wie  dieser 
Monate    lang    continuirlich    anhaltende  Wirkungen   producirt?     Wie  ist 

15* 


—     228     — 

der  Umstand  zu  erklären,  dass  der  elektrische  Reiz  Bewegungen  und, 
nach  seiner  Unterbrechung,  Nachbewegungen,  nicht  aber  Hemmungen 
setzt?  Wie  gedenkt  Goltz  mit  den  Erfahrungen  am  Menschen,  mit  den 
dauernden  Hemiplegien  nach  Läsionen  des  vorwärts  vom  Kleinhirn  ge- 
legenen Corpus  striatum  fertig  zu  werden,  wie  mit  den  anatomischen 
Daten?  Alles  das  sind  Fragen,  die  sich  durch  eine  einfache  Uebertra- 
gung  von  am  Rückenmark  und  am  Frosche  gemachten  Beobachtungen 
auf  das  Gehirn  höherer  Thiere  keineswegs  erledigen  lassen. 

Endlich  kommen  neben  den  Bewegungsstörungen  auch  die  Störungen 
der  Empfindung  und  des  Sehvermögens  in  Betracht.  Ich  kann  unge- 
achtet der  für  weitergehende  Schlüsse  nicht  zureichenden  Zahl  meiner 
Beobachtungen  doch  versichern,  dass  nach  vielen  Verletzungen  des  Ge- 
hirns nichts  davon  wahrnehmbar  ist,  und  dass  nach  anderen  Verletzun- 
gen die  Symptome  gerade  wie  bei  den  Bewegungsorganen  wieder  ver- 
schwinden. In  den  von  Goltz  mitgetheilteu  Beobachtungen  finden  sich 
gleichfalls  Beispiele  von  schneller  Restitution  dieser  Functionen  dort 
nämlich,  wo  die  vorgenommene  Ausschaltung  nicht  allzu  massenhaft  war. 
Sollen  nun  auch  die  wesentlichen  Centra  für  die  Sensibilität  und  das 
Sehvermögen  ihren  Sitz  im  Kleinhirn  haben  und  durch  Heramungsvor- 
gänge  temporär  ausser  Thätigkeit  gesetzt  werden  können?  Hypothesen, 
welche  alle  modernen  Anschauungen  so  gründlich  erschüttern,  sollten, 
wie  ich  meine,  nur  mit  grösster  Vorsicht  und  nicht  ohne  eine  sehr  weit- 
reichende Begründung  ausgesprochen  werden. 

Resumiren  wir  den  Inhalt  dieses  Aufsatzes,  so  finden  wir 

1)  dass  durch  die  Summe  der  vorhandenen  Thatsachen  die  An- 
nahme von  Hemmungsvorgängen  nicht  erfordert  wird,  sondern  dass  man 
mit  der  einfacheren  Annahme  von  Ausfallsvorgängen  auskommt. 

2)  Dass,  wenn  dies  nicht  der  Fall  wäre,  und  man  demnach  einige 
Berechtigung  zur  Annahme  von  Hemraungsvorgängen  hätte,  inzwischen 
noch  jede  klare  Definition  dessen  fehlt,  was  man  als  Product  der  Rei- 
zung   —  Hemnmng  auffassen  soll  und  was  nicht. 

3)  Dass  Goltz  zu  ganz  irrthümlichen  Ansichten  um  deswillen  ge- 
langte, weil  er  den  in  der  Localisirung  liegenden  Fortschritt  verkennend, 
wieder  zu  den  früher  üblichen  grossen  Ausschaltungen  zurückkehrte, 
ohne  den  neuen  Methoden  die  ihnen  gebührende  Berücksichtigung  zu 
schenken. 

Wenn  ich  also  auch  die  zahlreichen  neuen  von  Goltz  beigebrach- 
ten Thatsachen  und  ihre  anmuthige  Darstellung  Avie  wohl  jeder  Forscher 
mit  wahrem  Vergnügen  begrüsst  habe,    so  kann  ich  doch  nicht  umhin, 


-     229     — 

den  von  Goltz  eingesclilagenen  Weg  als  einen  solchen  zu  bezeichnen, 
der  nicht  gerade  zum  Ziek^  führt,  mit  einem  Worte  als  einen  Umweg.  — 

Möge  mir  endlich  Goltz  die  Bitte  verzeihen,  dass  er  sich  durch 
diese  Vertheidigung  meiner  Arbeiten  und  meines  Standpunktes  nicht  zu 
noch  grösserer  Herbe  fortreissen  lasse,  als  ich  schon  einmal  ganz 
ahnungslos  bei  ihm  erregen  musste. 

Zürich  im  October  1876. 


XL   Zur  Physiologie  des  Grrossliirus. 

Vortrag  gehalten  in  der  Sitzung  der  südwestdeutschen  Neurologen  und 
Irrenärzte  am  17.  Juni  1883. 

Im  Laufe  der  sechs  Jahre,  während  deren  ich,  durch  äussere  Um- 
stände verhindert,  über  mein  altes  und  heutiges  Thema  nichts  publicirt 
habe,  ist  dasselbe  durch  eine  übergrosse  Zahl  anderer  Forscher  in  der 
ausgiebigsten  Weise  bearbeitet  worden,  wie  Ihnen  das  ja  bekannt  ist. 
Ich  bin  hierbei  Gegenstand  mannigfacher  Angriffe  gewesen.  Indessen 
betreffen  dieselben,  wie  ich  zu  meiner  Freude  constatiren  kann,  doch 
fast  ausschliesslich  die  Deutung  der  Thatsachen,  oder  richtiger  gesagt, 
meistens  Deutungen,  welche  man  mir  untergeschoben  hat.  Die  That- 
sachen selbst  hat  man  mit  einer  einzigen  Ausnahme  stehen  lassen 
müssen.  Diese  Ausnahme  betrifft  die  von  mir  ausgesprochenen  An- 
sichten über  die  Function  der  Vorderlappen  des  Grosshirus.  Hierüber 
und  über  einige  streitige  Deutungsversuche  wollen  Sie  mir  eine  kurze 
Mittheilung  gestatten. 

In  meinen  früheren  Arbeiten  hatte  ich  die  Spitze  des  Vorderlappens, 
den  jetzt  sogenannten  Stirnlappen  des  Hundes  für  nicht  motorisch  erklärt. 
Reizversuche  ergaben  keine  Zuckung,  Lähmungsversuche  Hessen  keine 
Alteration  der  Bewegung  in  die  Erscheinung  treten. 

Später  hat  Munk  in  zwei  verschiedenen  Arbeiten  das  Gegentheil 
behauptet.  Er  erhielt  auf  Reizung  mit  Inductionsströmen  Zuckungen  und 
bei  Exstirpationen  Lähmungen,  so  dass  er  den  von  ihm  sogenannten 
Stirnlappen  nunmehr  gänzlich  für  die  Innervation  der  Rumpfrauskeln 
in  Anspruch  nahm.  Dies  veranlasste  ihn  dann  gegen  die  allgemein 
angenommene  und  auch  von  mir  vertretene  Ansicht,  dass  die  Stirn- 
lappen der  Sitz  der  Intelligenz  im  höheren  Sinne  seien,  zu  pole- 
misiren. 

Sowohl  die  thatsächlichen  Angaben  Munk's  als  seine  Folgerungen 
gaben    mir   zu  den  erheblichsten  Bedenken  Veranlassung,    so    dass    ich 


—     231     — 

meine  alten  Untersuchungen  über  diese  Region  von  Neuem  aufn.'ihni. 
Sie  sind  aber  wegen  meiner  steten  Ueberliäufung  mit  anderen  Arbeiten 
noch  nicht  zum  Abschluss  gekommen.  Ich  werde  mich  deshalb  mit 
einer  gewissen  Beschränkung  auszudrücken  haben. 

Die  Reiz  versuche  Munk's  übergehe  ich.  Sie  sind  mit  Strömen 
von  solcher  Intensität  angestellt,  dass  sie  ohne  Lähmungsversuche  über- 
haupt nichts  beweisen  würden.  Bei  seinen  Lähmungsversuchen 
aber  fand  er,  dass  die  Hunde  nach  Abtrennung  des  Vorderlappens  an 
einer  dauernden  contralateralen  Lähmung  der  Rumpfmuskulatur  litten. 
War  die  Operation  einseitig  ausgeführt,  so  verloren  die  Hunde  dauernd 
die  Fähigkeit  ihre  Wirbelsäule  hakenförmig  nach  der  anderen  Seite  zu 
krümmen.  War  sie  doppelseitig  ausgeführt,  so  entstand  nebenbei  eine 
katzenbuckelartige  Krümmung  der  Wirbelsäule. 

Ferner  giebt  Munk  in  negativer  Beziehung  an,  dass  der  Gesichts- 
mid  Gehörssinn  dieser  Thiere  zu  keiner  Zeit  irgend  weiche  Störungen 
erkennen  Hess,  und  dass  ihre  Intelligenz  derart  ungeschädigt  sei,  dass 
ihn  jahrelange  Beobachtungen  nicht  einen  einzigen  Zug  entdecken 
Hessen,  durch  welchen  diese  Hunde  sich  von  unversehrten  Hunden 
unterschieden. 

Nach  meinen  Versuchen  stellt  sich  die  Sache  etwas  anders.  Zu- 
nächst ist  der  Katzenbuckel  und  die  Aufhebung  der  seitlichen  Bewegung 
der  Wirbelsäule  keineswegs  so  leicht  und  regelmässig  zu  produciren^ 
wie  man  glauben  sollte.  Ich  kann  nicht  bestreiten,  dass  diese  Symp- 
tome, wenn  man  genau  nach  Munk  operirt,  vorhanden  sein  können^ 
und  da  sie  vorher  weder  von  mir  noch  von  Anderen  producirt  werden 
konnten,  so  erkenne  ich  den  in  ihrer  Aufdeckung  liegenden  Fortschritt 
bereitwillig  an.  Indessen  ist  soviel  nach  meinen  Versuchen  sicher, 
dass  man  durch  Abtrennungen  und  sogar  Auslöffelungen  der  Hirn- 
substanz die  erheblichsten  einseitigen  und  doppelseitigen  Zerstörungen 
anrichten  kann,  ohne  dass  die  gedachten  Erscheinungen  eintreten. 

Hier  besteht  also  eine  höchst  auffällige  Differenz  gegen  die  Erfolge 
von  Zerstörungen  anderer  Grosshirntheile.  Während  dort  die  kleinsten 
Eingriffe  in  die  Rinde  deutliche  Störungen  in  den  Bewegungen  oder  im 
Sehvermögen  zur  Folge  haben,  kaun  man  hier  sogar  die  Markstrahlung 
tief  verletzen,  ohne  dass  man  dasjenige  alterirt  findet,  was  die  besondere 
Function  dieser  Region  ausmachen  soll.  Ja  man  sieht  von  solchen 
Functionsstöruugen  sogar  in  den  ersten  Tagen,  während  deren  auch  die 
Umgebung  der  Hirnwunde  durch  das  Trauma  vorübergehend  ausser 
Function  gesetzt  wird,  ganz  und  gar  nichts. 

Auf  der  anderen  Seite  habe  ich,  wiederum  abweichend  von  Munk^ 
erhebliche  Sehstörungen    auf    dem  gegenüberliegenden  Auge,  Störungen 


—     232     — 

in  der  Bewegung    der  Extremitäten    und    vor  Allem    einen    erheblichen 
Intelligenz defect  beobachtet. 

Ich  verwendete  zu  diesen  Versuchen  Thiere,  deren  Benehmen  vor 
der  Operation  genau  studirt  war,  und  die  ausserdem  noch  möglichst  gut 
abgerichtet  waren.  Namentlich  wurden  sie  daran  gewöhnt,  ihr  Futter 
mit  oder  ohne  Zuhülfenahme  eines  Stuhles  auf  einem  Tische  zu  suchen. 

Nach  doppelseitiger  Operation  hatten  sie  diese  Kunststücke  ver- 
gessen und  lernten  sie  auch  nicht  wieder.  Ja  sie  zeigten  eine  so  hoch- 
gradige Gedächnissschwäche,  dass  sie  die  Existenz  von  eben  gesehenen 
Fleischstücken  wieder  vergassen.  Solche  Hunde  fressen  allerdings 
Fleisch,  das  mau  ihnen  vorwirft,  so  lange  sie  es  sehen,  aber  sie  suchen 
die  ihnen  bekannten  Futterplätze  nicht,  wie  gesunde  Hunde  auf. 
Ausserdem  zeigen  sie  noch  eine  Reihe  von  anderen  Veränderungen  in 
ihrem  Benehmen,  auf  die  ich  jetzt  nicht  näher  eingehen  will. 

Ob  diejenigen  Störungen,  welche  man  in  den  Bewegungen  der  Ex- 
tremitäten beobachtet,  durch  eine  secuudäre  Betheiligung  des  benach- 
barten Gyrus  sigmoides  bedingt  sind,  wie  Aehnliches  ohne  Zweifel 
rücksichtlich  einer  Anzahl  an  der  Zunge  und  den  Lippen  zu  consta- 
tirender  Alterationen  zutrifft,  will  ich  für  jetzt  gleichfalls  dahin  gestellt 
sein  lassen. 

Hingegen  kann  ich  diese  Deutung  für  die  Sehstörungen  nicht  zu- 
lassen. Diese  verschwinden  allerdings  nach  einigen  Tagen,  so  dass  ich 
leichtes  Spiel  mit  ihnen  hätte,  wenn  ich,  wie  dies  von  meinen  Gegnern 
durchgehends  und  sonst  vielfach  geschieht,  auf  das,  was  zu  dieser  Zeit 
beobachtet  wird,  überhaupt  kein  Gewicht  legte.  Aber  auch  in  dieser 
Hinsicht  bleibe  ich  meinen  früher  geäusserten  Ansichten  treu.  Freilich 
nicht  ohne  besondere  Kritik  dürfen  die  Symptome  dieser  Tage  benutzt 
werden.  Dann  aber  geben  sie  sehr  werth volle  Fingerzeige  für  die  Vor- 
stellungen, die  man  sich  von  dem  Hirnmechanismus  im  Allgemeinen 
zu  bilden  hat.  In  der  That  vermag  ich  nicht  einzusehen,  welchen  Ein- 
fluss  ein  Trauma  der  Spitze  des  Vorderhirns  auf  die  Hinterhauptslappen 
—  die  Sehsphäre  —  ausüben  sollte,  es  müssten  denn  directe  Verbin- 
dungen zwischen  den  beiden  Hirntheilen  existiren,  und  ganz  das 
Gleiche  muss  ich  auf  Grund  ähnlicher  Erfahrungen  bei  grossen 
Zerstörungen  im  Gebiet  des  Gyrus  sigmoides  für  diese  Region  an- 
nehmen. 

Ich  stimme,  was  die  Thatsache  angeht,  also  soweit  mit  Goltz 
übereiu,  wie  ich  ausdrücklich  constatiren  möchte.  Wer  deshalb  aber 
meinen  sollte,  dass  ich  meinen  früheren  Standpunkt  der  Localisation 
aufgegeben  hätte,  um  mich  in  das  Lager  von  Goltz  zu  begeben,  der 
würde  sich  irren. 


—     233     — 

Bevor  ich  hierin  weiter  gehe,  habe  ich  einer  Arbeit  von  Schiff 
zu  gedenken.  Dieser  Forscher  hat  bekanntlich  schon  seit  10  Jahren 
die  Ansicht  verfochten,  dass  die  durch  elektrische  Reizung  des  Hirns 
bewirkten  Zuckungen  nichts  anderes  seien  als  Reflexbewegungen,  welche 
ausgelöst  würden  durch  die  Reizung  centraler  Ausbreitungen  der  Tast- 
nerven. Ich  habe  keine  Veranlassung,  auf  seine  frühere  Argumentation 
rmd  die  Gründe  seiner  Gegner,  zu  denen  auch  ich  zähle,  hier  näher 
einzugehen,  und  ebensowenig  kann  ich  mich  auf  eine  Besprechung 
seiner  neuesten  Arbeit  sonst  einlassen.  Schiff  führt  eine  wahre  Höllen- 
maschine von  neuen  Thatsachen  in's  Gefecht.  Nun  sind  Thatsachen  ja 
freilich  die  Hauptsache.  Aber  mir  scheint,  sie  sollten  doch  etwas 
mehr  nebeneinander  und  nicht  so  übereinander  aufgebaut  sein,  wie  das 
bei  Schiff  diesmal  der  Fall  ist.  Sonst  macht  das  Gebäude  eben  den 
bedenklichen  Eindruck  eines  Kartenhauses,  das  in  sich  zusammenstürzt, 
wenn  eine  einzige  Karte  entfernt  wird.  Ich  berühre  also  nur  einige 
Punkte. 

Schiff  spricht  immer  von  solchen  Reflexbewegungen,  die  in  Folge 
heftiger  und  ausgebreiteter  Tastempfindung  entstünden,  und  von  denen, 
die  nach  elektrischer  Reizung  entstehenden  Bewegungen  nicht  zu  unter- 
scheiden sein  sollen.  Ich  muss  nun  gestehen,  dass  ich  weder  Reflexbewe- 
gungen kenne,  die  lediglich  von  solchen  Tastreizen  ausgelöst  würden, 
noch  dass  mir  je  Reflexbewegungen  A^orgekommen  sind,  die  irgend  eine 
Aehnlichkeit  mit  einer  grossen  Zahl  der  elektrischen  Reizefi'ecte  hätten, 
ich  nenne  nur  das  Herausstrecken  der  Zunge  oder  die  durch  schwache 
Ströme  zu  bewirkende  Contraction  einzelner  Muskelbündel. 

Durch  Braun  zunächst  war  Schiff  Folgendes  vorgehalten  worden. 
Wenn  es  sich  um  Reflexe  handle,  so  niüssten  die  Zuckungen  nach  Ent- 
fernuQg  der  grauen  Rinde,  insofern  diese  das  Reflexcentrum  vorstelle, 
fortfallen,  was  nicht  zutrifft.  Schiffs  neueste  Hypothese  verlegt  nun, 
offenbar  um  diesem  sehr  berechtigten  Einwände  zu  begegnen,  dieses 
Reflexcentrum  aus  der  Rinde  an  eine  andere  Stelle,  ohne  diese  näher 
zu  bezeichnen.  Die  centripetalen  den  Reflex  aufnehmenden  Fasern 
sollen  mit  den  Hintersträngen  des  Rückenmarks  aufsteigen,  unter  der 
Hirnrinde  hinstreichen  und  sich  dann  wieder  in  die  Tiefe  begeben,  um 
in  dem  neuen  Reflexcentrum  zu  münden.  Von  hier  stiegen  die  centri- 
fugalen  Fasern  wieder  bis  nahe  an  die  Rinde  herauf,  in  deren  Nähe 
sie  weiter  nichts  zu  suchen  haben,  um  endlich  in  die  Hinterseitenstränge 
zu  münden.  Allerdings  ist  diese  Hypothese  nöthig,  um  alle  That- 
sachen zu  erklären,  die  theils  von  Schiff,  theils  von  Anderen  vor- 
gebracht worden  sind.  Aber  wem  von  Ihnen  entgeht  nicht  ihre  Künst- 
lichkeit,   wer  wird  nicht  fragen,    zu    welchem  Zwecke    sich    denn    alle 


—     234     — 

diese  Fasern  ganz  dicht  unter  der  Rinde,  in  die  sie  nicht  hinein- 
gelassen werden,  Rendezvous  geben?  Ferner  sind  die  Bewegungs- 
störungen, welche  sofort  nach  minimalen  oberflächlichen  Verletzungen 
der  Rinde  zu  constatiren  sind,  auf  diese  Weise  nicht  zu  erklären. 
Ausserdem  ist  dieses  Schema  trotz  seiner  Künstlichkeit  noch  nicht 
künstlich  genug.  Denn  Schiff  hat  übersehen,  dass  die  elektrischen 
Reizeffecte  nach  vollzogener  Abtragung  der  Rinde  nunmehr  wegen 
Trennung  der  centrifugalen  —  seiner  kinesodischen  —  Bahnen  fort- 
fallen müssten,  was  nicht  zutrifft,  und  endlich  wird  man,  bevor  man 
„die  Fahne  wechselt"  wie  Schiff  verlangt,  getrost  abwarten  dürfen, 
dass  er  uns  sein  neues  Centrum  zeigt. 

Bis  dahin  nehme  ich  weiter  an,  wie  bisher,  dass  nach  und  von 
den  fraglichen  Rindenceotren  motorische,  sensible,  sensuelle  und  viel- 
leicht noch  andere  Fasern  verlaufen,  und  dass  die  motorischen  es  sind, 
welche  durch  den  elektrischen  Strom  erregt  werden. 

Wenn  Sie  endlich  die  Arbeit  Schiffs  lesen,  werden  Sie  finden, 
dass  er  bei  seiner  Polemik  gegen  meine  Auffassung  der  mehrerwähuten 
Bewegungsstörungen  mit  einer  Art  Behagen  immer  von  Neuem  darauf 
zurückkommt,  wie  ich  mich  angeblich  theilweise  wenigstens  bekehrt 
habe.  Er  klammert  sich  dabei  daran,  dass  ich  jene  Rindenfelder  ur- 
sprünglich mit  dem  Ausdrucke  „motorisch"  bezeichnet  habe.  Nun  als 
das  Kind  geboren  wurde,  musste  es  eben  einen  Namen  haben;  ich  gab 
ihm  den  Namen  „motorisch"  ausdrücklich  mit  Beziehung  auf  die  von 
Schiff  eingeführte  Unterscheidung  zwischen  motorischen  und  kinesodi- 
schen Nerven.  Ebenso  wenig  wie  bisher  beabsichtige  ich  vorerst  weder 
diesen  Namen  noch  meine  Üeberzeugungen  zu  ändern.  Schliesslich 
kommt  es  nicht  auf  den  Namen  an,  sondern  darauf,  dass  man  klar  de- 
iinirt,  was  man  darunter  verstellt. 

Nach  dieser  Richtung  hin  ist  ebenso  merkwürdig,  wie  das  Ver- 
fahren Schiffs  dasjenige  von  Munk,  insofern  er  aus  der  motorischen 
eine  Fühlsphäre  machte  und  sich  den  Anschein  gab,  als  hätte  er  mit 
dieser  Umtaufe  ein  grosses  Werk  vollbracht.  Sehen  wir  uns  zunächst 
die  nach  Eingriffen  in  die  Rinde  zu  constatirenden  Thatsachen  an,  so 
fand  ich  zuerst  die  Bewegungsstörungen,  Schiff  die  Sensibilitätsstörung 
und  ich  endlich  die  bisher  gründlich  ignorirte  Thatsache,  dass  der  Hund 
mit  seiner  kranken  Pfote  vom  Tisch  in's  Leere  tritt,  wenn  man  ihn 
nicht  hindert.  Bevor  ich  nun  noch  die  Sensibilitätsstörung  kannte,  hatte 
ich  den  durch  den  Versuch  erzeugten  Zustand  dahin  detinirt,  dass  eine 
eigentliche  Lähmung  nicht  vorhanden  sei,  und  hatte  dann  wörtlich 
Folgendes  gesagt:  „Aber  sie  (die  Hunde)  hatten  offenbar  nur  ein  mangel- 
haftes Bewusstsein  von  den  Zuständen  dieses  Gliedes,  die  Fähigkeit,  sich 


—     235     — 

A^ollkommene  Vorstellungen  über  dasselbe  zu  bilden,  war  ihneji  abhanden 
gekommen". 

Au  dieser  Definition  habe  ich  später,  als  noch  mehr  gefunden 
wurde  —  man  kann  eben  nicht  Alles  auf  einmal  finden  —  nicht  das 
Geringste  zu  ändern  brauchen.  Die  neuen  Thatsachen  bewiesen  nur, 
dass  die  Vorstellungen  des  Thieres  über  seine  kranken  Glieder  noch  un- 
vollkommener waren,  als  der  erste  Anschein  mich  gelehrt  hatte.  Ich 
resümirte  danach  im  Jahre  1877  meine  Ansicht    in    folgenden  Worten: 

„(Die  Gesichtseindrücke  werden  nicht  zur  Bildung  von  Vorstellungen 
für  das  fragliche  Glied  verwerthet.) 

Alle  diese  Phänomene  besitzen  also  das  Gemeinschaftliche,  dass 
äusserliche  Zustände  —  einmal  die  der  Muskeln,  das  andere  Mal 
die  der  Objecte  des  Raumes  vom  Sensorium  für  die  Bewegungen  des 
kranken  Gliedes,  aber  nur  für  diese  nicht  in  Rechnung  gestellt  werden. 
In  dieser  Weise  erkläre  ich  mir  die  verschiedenen  nach  Läsionen  des 
Gyrus  sigmoides  auftretenden  Functionsstörungen ,  ihre  Verknüpfung 
mit  einander  und  ihre  Localisation  auf  eine  kleine  centrale  Stelle.  So 
weit  ich  die  Sache  übersehen  kann,  dürften  auch  die  Sensibilitäts- 
störungen einer  analogen  Deutung  unterliegen." 

So,  meine  Herren,  habe  ich  definirt,  was  ich  unter  motorischen 
Störungen  und  folgerecht  unter  motorischen  Centren  verstehe,  und  ich 
finde  weder  bei  Schiff  noch  bei  Munk  einen  Fortschritt  nach  dieser 
Richtung  hin.  Auch  sie  wissen  nichts  weiter  zu  sagen,  als  dass  die 
Vorstellungen  von  den  Zuständen  des  fraglichen  Körpertheils  durch  den 
Eingriff  geschädigt  worden  sind,  und  dass  man  diese  Schädigung  an 
den  Bewegungen  äusserlich  wahrnimmt. 

Kommen  wir  zum  Schhiss.  Ich  nehme  noch  heute  das  Gleiche  an. 
was  ich  bereits  im  Jahre  1870,  wenn  auch  in  hypothetischer  Form  aus- 
sprach, dass  die  von  mir  aufgedeckten  Rindencentren  nichts  weiter  sind 
als  Sammelplätze,  und  ich  dehne  diese  Theorie  lediglich  jetzt  aus  auf 
andere  seither  gefundene  Centren.  Ich  vertrete  ferner  die  wiederholt 
ausgesprochene  Ansicht,  dass  tiefe  oder  sehr  ausgedehnte  Eingriffe  in 
den  centralen  Mechanismus  nothwendig  eine  Menge  von  Verbindungen 
zwischen  den  einzelnen  Hirnregionen  zerreissen  und  damit  solche  Sym- 
ptome produciren  müssen,  welche  einer  verhältnissmässig  schnellen  Aus- 
gleichung fähig  sind.  In  diese  Categorie  reihen  sich  auch  die  bei  tiefen 
Eingriffen  in  verschiedene  Stellen  der  Hemisphäre  entstehenden,  schnell 
vorübergehenden  Sehstörungen.  Front  mache  ich  aber  gegen  die  An- 
schauung, die  Munk  von  dem  Wesen  der  höheren  intellectuellen  Fähig- 
keiten und  deren  Beziehung  zu  dem  materiellen  Substrat  überhaupt 
äussert. 


—     236     — 

Nach  Munk  sind  besondere  Organe  für  dieselben  nicht  vorhanden 
und  nicht  nöthig.  Allerdings  stimme  ich  ihm  darin  bei,  dass  die 
Intelligenz  in  allen  Theilen  der  Rinde  zu  suchen  ist.  Aber  ich  be- 
haupte, dass  das  abstracte  Denken  besondere  Organe  nöthig  macht  und 
suche  dieselben  vorläufig  im  Stirnhirn. 

A  priori  war  es  im  höchsten  Grade  unwahrscheinlich,  dass  die 
enorme  Masse  Hirnsubstanz,  welche  den  Stirnlappen  des  Menschen  con- 
stituirt,  fast  gänzlich  so  einfachen  Functionen,  wie  die  Bewegungen  der 
Wirbelsäule  sind.^  dienen  sollte,  und  die  bisherigen  Versuche  haben  für 
mich  nur  dazu  gedient,  diese  Zweifel  zu  verstärken.  26) 

Anmerkungen. 

26)  Die  in  dem  vorstehenden  Vortrag  berührten  Punkte  sind  seither 
Gegenstand  mannigfacher  Experimentaluntersuchungen  gewesen  und  von  den 
einzelnen  Autoren  in  sehr  verschiedener  Weise  beurtheilt  worden.  Da  ich 
selbst  auf  immer  verhindert  bin,  meine  zur  Aufklärung  des  Sachverhaltes  be- 
gonnenen Arbeiten  zu  Ende  zu  führen,  so  beschränke  ich  mich  auf  drei  Be- 
merkungen. 

Die  Beziehung,  in  welche  Munk  die  Zunahme  der  Masse  des  Stirnhirns 
bei  den  Primaten  zu  deren  aufrechtem  Gang  gebracht  hat,  ist  wohl  eine  der 
sonderbarsten  der  von  diesem  Forscher  aufgestellten  Hypothesen.  Wenn  der 
Hund  in  der  Fvegel  nicht  aufrecht  zu  gehen  pflegt,  so  beruht  dies  offenbar  auf 
der  Art  seiner  Körperbildung,  insbesondere  auch  auf  der  Bildung  seiner  Ge- 
lenke. Da  er  aber  ungeachtet  dieser  mechanischen  Schwierigkeiten  bekanntlich 
sehr  wohl  aufrecht  zu  gehen  vermag,  so  müsste  er,  wenn  die  Hypothese  Boden 
hätte,  ein  viel  reicher  entwickeltes  Stirnhirn  haben  als  die  höheren  Sauger. 

Andererseits  beruht  eine  von  mir  gegen  Munk  erhobene  Einwendung 
theilweise  auf  einem  Irrthunie  meinerseits. 

Ich  sagte*):   „f  f  f  Ich  will zu  seinen  Gunsten  eine,  von  ihm 

allerdings,  soviel  ich  sehe,  nicht  ausgesprochene  Auffassung  gelten  lassen, 
dass  nämlich  zur  Hervorbringung  von  sichtbaren  Bewegungen  in  dieser  Region 
die  gleichzeitige  Reizung  der  centralen  Endstätten  einer  grossen  Zahl  von 
central  und  peripher  weit  auseinander  liegenden  Motoren  erforderlich  sei.  Wenn 
die  von  mir  für  die  motorische  Pvegion  in  Anspruch  genommenen  Theile  dieser 
wirklich  zugehörten,  dann  mussten  sie  sich  auch  mit  Bezug  auf  den  elek- 
trischen Reiz  ebenso  verhalten  wie  diese,  mit  anderen  Worten,  die  von  dort 
innervirten  Muskeln  mussten  sich  auf  die  Stromstärke  des  Zuckungsminimums 
ganz  oder  theilweise  contrahiren,  auch  wenn  durch  solche  Contractionen  sicht- 
bare Bewegungen  der  die  Anwendung  eines  grösseren  Kraftaufwandes  er- 
fordernden Körpertheile  nicht  hervorgebracht  wurden.  Das  Vorhandensein 
solcher    partiellen    und    totalen    Muskelzuckungen    wies    ich    denn    auch    bei 


*)  E.  Hitzig,    Alte  und   neue  Untersuchungen.    Arch.  f.  Psychiatrie. 
Bd.  35.  H.  2.   S.  310,  f. 


—     237     — 

Reizung  entsprechender  Rindenpartien  durcli  Ziifühlen  und  durch  Aufdeckung' 
der  fraglichen  Muskelgruppen  nach.  Es  liegt  kein  Grund  vor,  wegen  dessen 
sich  der  sogenannte  Stirnlappen  in  dieser  Beziehung  anders  verhalten  sollte; 
wäre  er  also  wirklich  das  Centrum  für  die  Runipfniuskeln,  so  nriüsste  er  auf 
einzelne  galvanische  Stromstösse  von  der  ungefähren  Stärke  des  Zuckungs- 
minimums mit  Muskelcontractionen  antworten.  Munk  hat  den  Beweis,  dass 
dem  so  sei,  nicht  angetreten  und  thatsächlich  ist  es  auch  nicht  der  Fall." 

Es  ist  nicht  richtig,  dass  Munk  die  Auffassung  nicht  ausgesprochen 
habe,  dass  das  Ausbleiben  des  Bewegungseffectes  bei  einer  bestimmten  Strom- 
stärke auf  den  vorher  erwähnten  mechanischen  Umständen  beruhen  könne.  Er 
hat  dies  vielmehr  unter  Bezugnahme  auf  meine  eigenen  früheren  Untersuchungen 
an  einer  von  mir  zu  meinem  Bedauern  übersehenen  Stelle*)  in  sehr  ausführ- 
licher AVeise  gethan.  An  der  gleichen  Stelle  führt  er  auch  an,  dass  er  durch 
Aufdecken  der  Muskulatur  erkannt  habe,  dass  bei  einer  Stromstärke  von 
6—8  cm  Rollenabstand  auf  Reizung  des  Stirnlappens  bei  voller  Ruhe  der 
Rumpfwirbeisäule  einzelne  Rückenmuskeln  sich  contrahirten.  Er  fügt  dann 
hinzu,  dass  er  es  der  zu  geringen  Reizdauer  zuschreiben  möchte,  wenn  „mit 
dem  galvanischen  Strome  von  der  medialen  Partie  der  Nackenregiou  aus  nur 
selten,  vom  Stirnlappen  aus  gar  nicht  ein  Reizerfolg  zu  erhalten  war." 

In  diesem  letzteren  Punkte  stimmen  unsere  Beobachtungen  also  überein. 
dagegen  würde  ich,  falls  mir  diese  Stelle  bei  der  Redaktion  meiner  Arbeit 
gegenwärtig  gewesen  wäre,  eingewendet  haben,  dass  man  nicht  einsehen  könne, 
aus  welchem  Grunde  gerade  die  Nacken-  und  Rückenmuskeln  sich  gegen  den 
Reiz  eines  einmaligen  Stromstosses,  dem  man  ja  jede  beliebige  Stärke  ver- 
leihen kann,  anders  verhalten  sollten,  als  alle  anderen  Muskeln.  Mochte  e& 
auch  za  keiner  Bewegung  der  Wirbelsäule  kommen,  der  einzelne  Muskel  oder 
ein  Stück  seiner  Substanz  hätte  sich  auf  derartige  Pieize  contrahiren  müssen. 
Ich  würde  in  diesem  Falle  ferner  meine  Einwendungen  auch  nicht  auf  den 
Mangel  des  Erfolges  gegen  den  Reiz  des  galvanischen  Stromes  beschränkt, 
sondern  ferner  eingewendet  haben,  dass  die  Stromstärke  von  6—8  cm  Rollenab- 
stand, bei  der  die  Wirbelsäule  noch  in  voller  P\,uhe  verblieb,  viel  zu  gross  ist,- 
um  dem  angetretenen  Beweise  als  Stütze  zu  dienen.  Wie  gross  muss  die  Strom- 
intensität erst  gewesen  sein,  um  die  Rumpfwirbelsäule  in  Bewegung  zu  setzen! 

Noch  in  anderer  Weise  unterscheiden  sich  die  Centren  des  Stirnhirns 
merkwürdig  von  allen  anderen  motorischen  Centren.  Munk  beruft  sich  u.  a. 
auf  eineunter  seiner  Leitung  ausgeführte  Arbeit  Pvothmann' s**),  in  der  dieser 
Forscher  begreiflicher  Weise  seine  eigenen  Resultate  bestätigt.  Dagegen  konnte 
Rothmann  bei  den  nach  Marchi  untersuchten  Hunden  keine  Spur  einer  ab- 
steigenden Degeneration  in  der  Oblongata,  der  Pyramidenkreuzung  und  dem 
Rückenmarke  auffinden. 


*)   H.  Munk,   Gesammelte  Mittheilungen.   1890.   S.  168  f. 
**)  Max  Rothmann,  Ueber  das  Rumpfmuskelcentrum  in  der  Fühlsphär& 
der  Grosshirnrinde.    Neurol.  Centralblatt  1896.   S.  1105. 


XII.    lieber  Fuuctioueii  des  Orosshiriis. 

(Vortrag-  gehalten  am  20.  September  1886  in  der  physiologischen  Section  der 
Naturforscherversanimlung  zu  Berlin.) 

Die  ungeheure  Menge  des  über  die  Localisationsfrage  zusammen- 
getragenen Materials,  die  Complicirtheit  des  Gegenstandes  und  der 
breite  Raum,  welcher  hier  mehr  als  bei  anderen  Experimentalunter- 
suchuugen  der  Subjectivität  des  Forschers  gelassen  ist,  machen  die 
mündliche  Behandlung  dieses  Gegenstandes  ausserordentlich  schwierig. 
Namentlich  erscheint  es  fast  unmöglich  Missverständnisse  zu  vermeiden, 
soll  anders  die  übliche  Zeitdauer  eines  Vortrages  auch  nur  annähernd 
innegehalten  werden. 

Wenn  ich  mich  ungeachtet  dieser  und  anderer  Bedenken  entschlossen 
habe,  das  Wort  in  dieser  Sache  zu  ergreifen,  so  wollen  Sie  das  vor- 
nehmlich aus  den  Angriffen  erklären,  die  mein  verewigter  Freund 
V.  Gudden  in  seiner  letzten  Publicatiou  auch  gegen  meiner  Ansicht 
nach  feststehende  Thatsachen  gerichtet  hat.  Konnte  ein  Forscher  von 
dem  Range  v.  Guddens  noch  jetzt  zu  einem  solchen  Standpunkte  ge- 
langen, so  musste  mir  eine  erneuerte  mündliche  Discussion  dieser  That- 
sachen als  wünschenswerth  erscheinen. 

Die  zu  beantwortenden  Fragen  lassen  sich  dahin  formuliren : 
Giebt  es  motorische  Centren  in  der  Hirnrinde  zunächst  des 
Hundes,  und  welches  ist  ihre  Bedeutung? 

Die  erste  Frage  hätte  noch  vor  einigen  Jahren  weiter  gefasst 
Av erden  müssen.  Damals  suchte  Herr  Goltz,  unser  eifrigster  Gegner, 
jene  Centren  im  Kleinhirn  und  erklärte  die  nach  Eingriffen  in  das 
Grosshirn  zu  beobachtenden  Störungen  durch  traumatische  Hemmung 
der  Kleinhirnthätigkeit.  Da  Herr  Goltz  diese  Theorie  inzwischen  hat 
fallen  lassen  und  sogar  gegenwärtig  motorische  Störungen  durch  Ein- 
griffe in  den  zuerst  von  Herrn  Fritsch  und  mir  als  motorisch  be- 
zeichneten   Theil    des    Grosähirns,    den    vorderen  Theil    desselben    ent- 


—     239     — 

stehen  lässt,  so  dürfen  wir  uns  alsbald  mit  der  Rinde  dieses  letzteren 
beschäftigen. 

Mit  Unrecht  haben  die  Herren  Schiff,  Goltz  luid  ihre  Anhänger 
die  Ergebnisse  der  Reizversuche  als  nichts  beweisend  bei  Seite 
geschoben.  Allerdings  hatten  wir  seiner  Zeit  aus  ihnen  allein  nicht 
die  Existenz  von  Rindencentren  beweisen  wollen  oder  können,  ja  wir 
hatten  nicht  einmal  die  Erregbarkeit  des  gangliösen  Theils  der  Rinde, 
sondern  nur  die  Erregbarkeit  der  in  dieselbe  einstrahlenden  Markfaserun g 
behauptet. 

Dagegen  hatten  wir  die  Fernewirkung  von  Stromschleifen  aller- 
dings ausschliessen  können,  wie  denn  wohl  Niemand,  der  vorurtheils- 
los  die  Reizeffecte  vorsichtig  angewendeter  galvanischer  Ströme  be- 
obachtet hat,  dem  nach  dieser  Richtung  erhobenen  Einwände  eine  Be- 
deutung zumessen  wird.  Es  ist  bisher  auch  keinem  unserer  Gegner 
gelungen,  den  Ort  ausfindig  zu  machen,  wo  die  supponirten  Strom- 
schleifen angreifen  möchten. 

Inzwischen  ,hat  diese  Seite  der  Frage  durch  die  Reizversuche  der 
Herren  Bubnoff  und  Heidenhain,  sowie  Frank  und  Pitres  ein 
neues  Gesicht  gewonnen.  Wenn  nach  diesen  Versuchen  die  Reactions- 
zeit  bei  elektrischer  Reizung  der  unverletzten  Oberfläche  des  Gehirns 
wesentlich  länger  als  bei  Reizung  der  subcorticalen  weissen  Substanz 
ist,  wenn  die  Zuckungscurve  nach  Abtragung  der  Rinde  einen  total  ver- 
änderten Verlauf  zeigt,  wenn  endlich  die  durch  Morphiumvergiftung  ein- 
geführten Veränderungen  der  elektrischen  Reaction  gleichfalls  nach  Ab- 
tragung der  Rinde  vei-schwinden,  so  ist  hiermit  der  unanfechtbare  Be- 
weis für  die  selbständige  Erregbarkeit  der  Rinde  beigebracht.  Und 
weiter  lässt  sich  schliessen,  dass  die  durch  organische  Reize  aus- 
gelöste Function  der  Rinde  im  Princip  die  gleiche  sein  wird,  wie  die 
durch  den  elektrischen  Reizversuch  demonstrirte,  d.  h.  die  Ver- 
mittelung  von  Bewegungsvorgängen  in  quergestreiften  Muskeln. 

Herr  Schiff  hat  neuerdings  seine  alte  Behauptung,  der  Reizeffect 
sei  ein  Reflexvorgang,  durch  eine  überaus  complicirte  Beweisführung 
zu  stützen  versucht.  Zu  diesem  Zwecke  construirt  er  ein  irgendwo, 
nur  nicht  in  der  Rinde  gelegenes  Centrum,  das  er  —  ich  weiss  nicht 
aus  welchem  Grunde  —  in  bisquitförmiger  Gestalt  zeichnet.  Er  lässt 
zu  diesem  hypothetischen  Centrum  Tastnerven  aus  den  Hintersträngeu 
des  Rückenmarks  auf  einem  vollkommen  unmotivirten  Umwege,  der 
unter  der  Hirnrinde  entlang  führt,  aufsteigen  und  wiederum  kinesodische 
Bahnen  aus  diesem  Centrum  auf  dem  gleichen  unmotivirten  Umwege  in 
die  Seitenstränge    des  Rückenmarks    hinabgelangeu.     Der    aufsteigende. 


—     240     — 

nicht  der  absteigende  Schenkel  dieses  Reflexbogens  sei  der  den  Reiz 
aufnehmende,  die  Bewegung  auslösende  Theil. 

Herr  Schiff  braucht  diese  Lehre  freilich  zur  Rettung  seiner  kine- 
sodischen  Substanz.  Auch  sie  wird  jedoch  durch  die  eben  angeführten 
Versuche,  insofern  durch  dieselben  die  selbständige  Erregbarkeit  der 
Rinde  erwiesen  ist,  beseitigt.  Ueberdies  hat  sie,  ganz  abgesehen  von 
anderen  Mängeln,  den  fundamentalen  Fehler,  dass  sie  in  sich  unmög- 
lich ist.  Denn  wenn  man  —  Schiff  folgend  —  solche  Schnitte  durch 
die  Windungen  legt,  welche  den  Effect  von  auf  die  Schnittfläche  ange- 
brachten Reizen  nicht  aufheben  sollen,  dann  hat  man  beide  Schenkel 
des  Reflexbogens  durchschnitten,  und  die  Reizeffecte  müssten  folgerecht 
verschwinden,  was  der  Schiff'schen  Prämisse  zuwider  und  in  Wirk- 
lichkeit nicht  der  Fall  ist. 

Es  scheint  mir,  meine  Herren,  dass  durch  den  Nachweis  von  Rinden- 
territorien, welche  die  geschilderte,  besondere  und  nur  ihnen  zukom- 
mende elektrische  Reaction  besitzen,  die  Existenz  von  motorischen 
Centren  in  der  Rinde  bereits  im  höchsten  Grade  wahrscheinlich  ge- 
macht wird. 

In  gleicher  Weise  wie  die  Resultate  der  Reizversuche  sind  von 
allen  unseren  Gegnern  die  Ergebnisse  kleiner  Eingriffe,  lokalisirter 
Lähmungsv^ersuche,  vernachlässigt  worden.  Wenn  ich  anführte,  dass 
nur  ein  ganz  bestimmter  Theil  der  Hirnoberfläche  auf  solche, 
also  kleine  Läsionen,  mit  Störungen  der  Muskelbewegung  und  —  was 
von  Anderen,  zuerst  von  Herrn  Schiff  festgestellt  ist  —  auch  der 
Empfindung  antwortet,  so  hat  Herr  Goltz  gegen  die  Beweiskraft  dieser 
Thatsache  allerdings  zwei  Einwände  erhoben.  Der  eine  A-on  diesen  ist 
der  vorerwähnten  Herbeiziehung  von  Stromschleifen  parallel  zu  setzen. 
Er  behauptet  die  Möglichkeit  der  mechanischen  Beleidigung  fernliegender 
Theile.  Meines  Erachtens  würde  es  dem  Gegner  obliegen,  uns  die  von 
ihm  gemeinten  Theile  zu  zeigen.  Indessen  habe  ich  auch  durch  den 
directen  Versuch  diesen  Einwand  entkräftet.  Ich  wies  nach,  dass 
seichte  Stiche  und  Einschnitte,  welche  lediglich  die  Rinde  verletzen 
und  Fernewirkungen  unmöglich  zur  Folge  haben  können,  der  Art,  wenn 
auch  nicht  dem  Grade  nach,  den  gleichen  Erfolg  haben,  wie  grössere 
Exstirpationen. 

Der  zweite  Einwand,  welcher  übrigens,  auch  wenn  er  begründet 
wäre,  nicht  zutreffend  sein  würde,  behauptet,  es  sei  unmöglich,  durch 
Rindenverletzungen  die  Bewegungjen  eines  einzelnen  Gliedes 
zu  alteriren;  bei  Angriffen  auf  das  Centrum  für  das  Vorderbein 
müsse  man  die  Parese  des  Hinterbeins  mit  in  den  Kauf  nehmen  und 
umgekehrt.     Herr  Goltz  irrt  sich  hierin,  wie  ich  durch  neue  Versuche 


_     241     — 

festgestellt  habe.  Ich  eröftiie  die  Dura  in  möglichst  geringer  Aus- 
dehnung und  verletze  die  Rinde  durch  einen  Schnitt  oder  Stich  mit 
einem  halbstumpfen  Instrument  an  der  Grenze  ehies  der  sogenannten 
Centra. 

Man  wählt  also,  um  das  Vorderbein  zu  treffen,  das  laterale  Viertel 
des  vorderen  Schenkels  des  Gyrus  sigmoides,  und  um  das  Hinterbein  zu 
treffen,  das  mediale  Ende  des  hinteren  Schenkels  dieses  Gyrus.  Man 
beobachtet  dann,  dass  der  Hund  das  betreffende  Bein  mit  dem  Dorsum 
aufsetzen,  über  den  Tischrand  dislociren  und  herabhängen  lässt.  Mir 
ist  es  gelungen,  diese  Symptome  auch  am  Hinterbein  auf  die  Dauer 
von  8  Tagen  zu  verfolgen,  ohne  dass  das  Vorderbein  jemals  im  Ge- 
ringsten afficirt  gewesen  wäre. 

Ich  wünsche  nun  aber  nicht,  etwa  dahin  missverstanden  zu  werden, 
dass  ich  mit  diesem  Nachweis  die  Ansicht  eines  isolirten  Neben- 
eiuanderbestehens  oder  nur  einer  weitgehenden  Differenzirung  der 
motorischen  Centra  für  die  beiden  Extremitäten  zu  verfechten  beab- 
sichtige. Vielmehr  halte  ich  ein  ähnliches  Ineinandergreifen  der  einzelnen 
Innervationsfelder,  wie  Herr  Panetb  dies  neuerdings  demonstrirt  hat^ 
für  sehr  wahrscheinlich.  Ausserdem  weiss  ich  sehr  wohl,  dass  man 
durch  tiefe  Eingriffe  in  das  Vorderhirn  die  mannigfachsten  Combina- 
tionen  von  Erscheinungen  hervorbringen  kann.  Dagegen  halte  ich  den 
Nachweis  für  die  Existenz  von  motorischen  Centren  in  der  Rinde  durch 
die  Gesammtsumme  dieser  Erfahrungen,  sowie  durch  die  von  gleichen 
Resultaten  gefolgten  oberflächlichen  Anätzungen  der  Rinde  für  hin- 
reichend erbracht.  Meine  Auffassung  dürfte  sich  mit  der  des  Herrn 
Exner,  der  ja  auch  Herrn  Paneth  wohl  inspirirt  hat,  ungefähr  decken. 

Bei  weitem  schwieriger  imd  complicirter  ist  die  Lösung  der  zweiten 
Frage,  der  Frage  nach  der  Bedeutung  dieser  Centren.  Freilich 
ist  bei  ihrer  Bearbeitung  von  auf  die  Rinde  isolirten  Angriffen  schon 
lange  nicht  mehr  die  Rede  gewesen.  Die  Hauptrolle  in  der  Discussion- 
spielt  hier  die  Restitution,  die  Erfahrung,  dass  Functionen,  welche  nach 
Exstirpationsversuchen  verloren  gegangen  waren,  sich  wieder  einstellen. 
Man  wird  ja  den  Gegnern,  denen  sich  hierin  auch  v.  Gudden  an- 
geschlossen hat,  selbstverständlich  insoweit  Recht  geben  können  und 
müssen,  dass  durch  die  V^iederkehr  einer  temporär  verloren  gegangeneu 
Function  die  fernere  Existenz  eines  einer  solchen  Function  fähigen 
Organs  bewiesen  wird.  Nicht  bewiesen  wird  damit  aber,  dass  die  ent- 
fernte Hirnpartie  nicht  ursprünglich  zum  Theil  oder  ganz  das  zur  Aus- 
übung jener  Function  bestimmte  Organ  war.  Thatsächlich  kommt 
es  nun  aber  niemals  zu  voller  Restitution  der  nach  grossen 
Zerstörungen     der    motorischen    Zone    verloren    gegangenen 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     I.  Tlieil.  16 


—     242     — 

Functionen.  Freilich  geht  Herr  Munk  viel  zu  weit,  wenn  er  sagt: 
„Die  völlige  Zerstörung  der  Fühlspliäre  eines  Körpertheils  muss  den 
bleibenden  Verlust  aller  Gefühle  und  Gefühlsvorstellungen  des  Körper- 
theils —  Rindenlähmung  (Rindenbewegungs-  und  Rindengefühllosigkeit) 
des  Körpertheils  zur  Folge  haben".  Die  völlige  Zerstörung  einer 
solchen  Sphäre  hebt  nämlich  niemals  die  sämmt liehen  Gefühle  und 
Gefühlsvorstellungen  des  zugehörigen  Körpertheils  dauernd  auf.  Aber  im 
Princip  lassen  sich  alle  Störungen,  welche  ursprünglich  vorhanden  ge- 
wesen sind,  noch  nach  beliebiger  Zeit,  und  ich  habe  solche  Hunde  ab- 
sichtlich deswegen  mehrere  Jahre  lang  am  Leben  erhalten,  nachweisen. 
Die  Hunde  bringen  die  betreffende  Extremität  in  ungewöhnliche  Stellungen, 
sie  lassen  mit  ihr  allerhand  Dinge  vornehmen,  die  sie  mit  der  contra- 
lateralen nicht  vornehmen  lassen,  und  sie  zeigen  sogar  auch  eine  per- 
sistente Alteration  des  Tastsinns.  Vor  Allem  aber  sind  sie  derjenigen 
Bewegungsformen  verlustig  gegangen,  welche  • —  wie  Herr  Schiff  sich 
ausdrückt  —  einem  besonders  auf  sie  gerichteten  Willensact 
ihre  Entstehung  verdanken.  Herr  Goltz  war  es  selbst,  der  das  erste 
schlagende  hierhergehörige  Beispiel  bekannt  gab,  indem  er  fand,  dass 
abgerichtete  Hunde  die  Pfote  nicht  mehr  geben  konnten.  Ich  rechne 
die  neuerdings  von  ihm  gefundene  Thatsache,  dass  der  Hund  mit 
doppelseitiger  Verstümmelung  des  Vorderhirns  den  Kopf  nicht  mehr 
willkürlich  an  die  Nahrung  heranzubringen  vermag,  gleichfalls  hierher. 

Die  Herren  Munk  und  Schiff  haben  die  Zahl  jener  Beispiele 
seither  weiter  vermehrt.  Namentlich  ist  ein  von  dem  letzteren  Forscher 
erzähltes  Beispiel  sehr  drastisch.  Ein  Affe,  der  seine  Extremitäten  zum 
Laufen  und  Klettern  vortrefflich  zu  gebrauchen  verstand,  konnte  Hand 
und  Arm,  ungeachtet  aller  Mühe,  die  er  sich  offenbar  gab,  behufs  Er- 
greifung einer  Frucht  nicht  in  Bewegung  setzen. 

Auch  ich  kann  die  Zahl  dieser  Beobachtungen  um  eine,  wie  mir 
scheint,  sehr  überzeugende  vermehren.  Bereits  in  meinen  ersten  Publi- 
cationen  hatte  ich  auf  verschiedene  Anomalien  aufmerksam  gemacht, 
die  sich  an  operirten  Hunden  beobachten  lassen,  die  man  in  der 
Schwebe  hält.  Seitdem  ist  diese  überaus  fruchtbare  üntersuchungs- 
methode  nun  von  mehreren  anderen  Forschern,  namentlich  von  den 
Herren  Schiff,  Bianchi  und  Luciani  angewendet  worden,  ohne  dass 
ich  jetzt  näher  auf  Alles  hierher  Gehörige  eingehen  könnte*).    Ich  muss 


*)  Es  ist  in  mancher  Beziehung  nicht  gleichgültig,  ob  man  Hunde,  wie 
ich  dies  bei  meinen  früheren  Versuchen  that,  mit  zwei  Händen,  an  der  Rücken- 
haut gefasst,  in  der  Schwebe  hält  oder  ob  man  sie,  wie  dies  für  andere  Ver- 
suche erforderlich  ist,  in  einem  Apparat  aufhängt.    Letzteres  kann  man   derart 


—     243     — 

mich  damit  begnügen,  eine  frühei*  bereits  von  mir  angeführte  Thatsache 
in  ihrem  Umfange  und  ihrer  Deutung  zu  erweitern.  Ich  gab  damals 
an,  dass  schwebende  Hunde,  denen  man  den  linken  Gyrus  sigmoides 
genommen  hat,  auf  Berührung  der  Sohlen  zwar  die  linke,  aber  niemals 
die  rechte  Vorderpfote  fortziehen.  Wenn  man  nun  den  Versuch  in  der 
Art  abändert,  dass  man  eine  lange  Nadel  einer  Pfote  nach  der  anderen 
nähert,  als  ob  man  stechen  wollte,  so  sieht  man,  nachdem  man  den 
Hund  einmal  gestochen  hat,  Folgendes: 

Sobald  man  die  Nadel  der  linken  Pfote  nähert,  zieht  das  Thier 
dieselbe  an  den  Leib,  nähert  man  sie  aber  der  rechten  Pfote,  so  bleibt 
diese,  obwohl  der  Hund  der  Bewegung  der  Nadel  aufmerksam  mit  den 
Augen  folgt,  in  gestreckter  Stellung  herabhängen.  Ob  mau  die  Nadel 
nun  vor  dem  linken  oder  vor  dem  rechten  Auge  vorbeiführt,  das  ist 
ganz  gleichgültig.  Wiederholt  man  den  Versuch,  so  fängt  der  Hund 
an  zu  winseln,  zu  bellen  und  wohl  gar  nach  der  Nadel  zu  beissen,  aber 
niemals  setzt  er  die  rechte  Pfote  isolirt  in  Bewegung.  Dagegen  fängt 
er  nach  einiger  Zeit  fast  regelmässig  an,  mit  allen  vier  Extremitäten 
Schwimm-  und  Fluchtbeweguugen  in  der  Luft  zu  machen.  Selbstver- 
ständlich eignet  sich  nicht  jeder  Hund  gleichmässig  zu  diesem  Versuche, 
da  einzelne  sich  überhaupt  apathisch  verhalten,  andere  dagegen  von 
vornherein  Schwimmbewegungen  machen.  Dagegen  habe  ich  niemals 
einen  Hund  beobachtet,  der  die  isolirte  Fluchtbewegung  mit  der  rechten 
Pfote  wieder  gelernt  hätte,  wenn  ihm  wirklich  der  ganze  Gyrus  sig- 
moides genommen  war,  obwohl  ich,  wie  ich  das  ausdrücklich  wieder- 
Ifiole,  einzelne  Hunde  über  2  Jahre  lang  am  Leben  erhielt. 

machen,  dass  man  in  ein  Stück  Sackleinewand  4  Löcher  für  die  Extremitäten 
schneidet,  die  Leinewand  über  dem  Rücken  des  Hundes  zusammenschlägt,  sie 
mit  einigen  spitzen  Doppelhaken  durchbohrt  und  letztere  an  einem  Längs- 
balken aufhängt. 

Die  anlässlich  der  Naturforscherversammlung  von  .  mehreren  Herren 
demonstrirten  Sehprüfungen  veranlassen  mich,  nebst  dieser  Methode  auch  die 
Art  anzuführen,  wie  ich  mich  derselben  zur  Untersuchung  von  Sehstörungen 
bediene:  1.  Dem  Hunde,  welchem  ein  Auge  verbunden  ist,  wurden  ganz  kleine 
Stückchen  Fleisch  mit  einer  Pincette  von  hinten  her,  also  über  den  Kopf  weg, 
zwischen  Nase  und  Auge  gezeigt.  Auf  diese  Weise  wird  das  ganze  Gesichts- 
feld erst  des  einen,  dann  des  anderen  Auges  abgesucht.  2.  In  den  einzelnen 
Thellen  des  Gesichtsfeldes  werden  nahe  dem  Auge  die  Branchen  einer  Pincette 
schnell  und  wiederholt  geöffnet  und  geschlossen.  Wo  der  Hund  sieht,  folgt 
häufig  synchronisches  Blinzeln,  wo  er  nicht  sieht,  bleibt  dieses  aus. 

Die  Anwendung  der  Schwebe  empfiehlt  sich  für  diese  Methoden,  weil  die 
Hunde  in  derselben  nicht  durch  massenhafte  Bewegungen  zu  stören  pflegen, 
wie  dies  bei  allen  Versuchen,  die  in  Berlin  gezeigt  wurden,  der  Fall  war. 

16* 


—     244     — 

Ich  hatte  die  mangehide  Reaction  bei  BerühruDg  der  Sohle  seiner 
Zeit  auf  eine  fortbestehende  Alteration  des  Tastsinnes  bezogen,  und  eine 
solche  ist  auch  aus  anderen  Gründen  nicht  auszuschliessen.  Dagegen 
kann  die  Bewegungslosigkeit  bei  Annäherung  der  Nadel  nicht  auf  eine 
Störung  des  Tastsinnes  bezogen  werden,  sie  ist  vielmehr  gerade  wie 
die  vorher  angeführten  Beispiele,  auf  eine  Lähmung  der  isolirteu 
intentiouellen  Bewegung  zurückzuführen.  Ebensowenig  wie  die 
Fähigkeit,  die  bedrohte  Pfote  zurückzuziehen,  habe  ich  jemals  die 
Fähigkeit  die  Pfote  zu  geben,  wiederkehren,  oder  die  anderen  vorher 
geschilderten  Anomalien  verschwinden  sehen,  wenn  wirklich  der 
ganze  Gyrus  sigmoides-  ausgeschaltet  war.  Oft  haben  kleinere 
Verletzungen  den  gleichen  dauernden  Erfolg  gehabt,  was  ja  natürlich 
von  Zufälligkeiten  abhängig  ist;  wenn  die  fraglichen  Störungen  sich 
aber  gänzlich  ausglichen,  dann  fand  sich  jedesmal  eine  beträchtliche 
Portion  jenes  Gyrus  erhalten.  Ich  will  hiermit  die  Möglichkeit  der 
Restitution  der  isolirteu  intentioneilen  Innervation  des  Vorderbeins  durch 
Eintritt  der  gleichnamigen  Hemisphäre  oder  der  Nachbarschaft  des  ver- 
letzten Gyrus  sigmoides  nicht  bestreiten.  In  meinen  Versuchen  hat  sich 
aber  die  Nothwendigkeit,  diese  Erklärung  heranzuziehen,  noch  nicht 
gezeigt. 

Herr  Goltz  argumentirt  nun  bekanntlich  seit  langer  Zeit  mit 
einzelnen  Fällen,  bei  denen  sich  ungeachtet  gänzlicher  Fortnahme 
des  Gyrus  sigmoides  und  grösserer  Partien  des  Vorderhirns  einer  Seite 
alle  Störungen  vollkommen  verloren  haben  sollen,  und  v.  Gudden 
hat  sich  ihm  angeschlossen.  Hätten  sie  Recht,  so  wäre  damit  die 
Richtigkeit  der  Lehre  von  der  gesetzmässigen  Folge  von  Ursache  und 
Wirkung,  und  damit  der  Boden,  auf  dem  wir  alle  arbeiten,  erschüttert. 
Ich  glaube  deshalb  vorläufig  noch,  dass  bei  den  fraglichen  Versuchen 
irgend  ein  Fehler  mit  untergelaufen  ist. 

Jedenfalls  gehen  wir  ja  gegenwärtig  insofern  mit  Herrn  Goltz 
einig,  als  nach  dessen  neuesten  Angaben  die  Hunde  bei  doppel- 
seitiger tiefer  Verletzung  des  Vorderhirns  „die  Fähigkeit  ver- 
lieren, bestimmte  Gruppen  von  Muskelfasern  —  wie  er  sich 
ausdrückt  —  zweckentsprechend  bei  gewissen  Handlungen 
spielen  zu  lassen".  Mir  scheint,  die  Definition,  wenn  auch  weniger 
scharf  gefasst,  deckt  sich  ebenso  sehr  mit  der  von  Schiff  formulirten 
und  von  mir  vorher  angeführten,  wie  sich  die  ihr  zu  Grunde  liegende 
Thatsache,  dass  die  Hunde  Knochen  nicht  mehr  mit  den  Pfoten  zu  er- 
fassen vermögen,  mit  den  vorher  angeführten  Thatsachen  deckt.  Es 
kommt  auf  das  Gleiche  hinaus,  ob  nun  der  Hund  die  Pfote  nicht  reicht, 
oder  sie  vor  der  drohenden  Nadel  nicht  zurückzieht,  oder  den  Knochen 


—     245     - 

nicht  erfasst,  oder  ob  der  Afte  die  begehrte  Feige  mit  der  rechten  Hand 
nicht  zu  ergreifen  vermag.  So  gross,  wie  es  den  Anschein  liat,  sind 
die  bestehenden  Differenzen  also  gegenwärtig  nicht  mehr. 

Die  nach  Eingriffen  in  die  motorische  Zone  entstehenden  Krank- 
heitserscheinungen habe  ich  in  2  Arbeiten  aus  den  Jahren  1873  und 
1876,  insoweit  sie  damals  bekannt  waren,  als  Ausdruck  von 
Störungen  der  Vorstellungsthätigkeit  betrachtet.  Der  Hund  be- 
wegt seine  Glieder  nicht  oder  unvollkommen,  weil  er.  sich  keine  oder 
doch  nur  unvollkommene  Vorstellungen  mit  Bezug  auf  diese  Glieder  zu 
bilden  vermag.  Ich  brauche  Ihre  Zeit  für  die  Wiederholung  dieser 
A^useinandersetzungen  umsoweniger  in  Anspruch  zu  nehmen,  als  Herr 
Munk  ja,  wenn  auch  erst  seit  dem  Jahre  1878,  der  gleichen,  nur  wenig 
modificirten  Lehre  zu  grösserer  Publicität  verholten  hat. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  keines  von  diesen  Thieren,  auch 
wenn  ihm  die  grössten  Verletzungen  beigebracht  worden  sind,  so  dass 
seine  Vorstellungsthätigkeit  aufs  Aeusserste  beschränkt  ist,  deshalb 
Lähmungen  im  Sinne  absoluter  Bewegungslosigkeit  zeigen 
muss.  Wenn  Kaninchen,  denen  das  ganze  Grosshirn  genommen  ist, 
noch  laufen  können,  so  ist  nicht  einzusehen,  aus  welchem  Grunde  Hunde, 
denen  nur  ein  Theil  desselben  fehlt,  nicht  laufen  oder  sich  sonst  be- 
wegen sollten.  Niemand,  auch  nicht  Herr  Munk,  hat  etwas  derartiges 
behauptet.  Die  bezüglicheu  Angriffe  des  Herrn  Goltz,  denen  v.  Gudden 
secundirte,  sind  deshalb  gegenstandslos.  Ich  bin  sogar  der  Ansicht, 
dass  die  nach  ganz  grossen  Zerstörungen  in  den  ersten  Tagen  beob- 
achteten Hemiplegien  nur  Chocerscheinungen  sind.  Sie  verlieren  sich 
sehr  bald,  und  es  besteht  dann  zunächst  die  hochgradigste  Regellosig- 
keit der  gesammten  Muskelinnervation,  bis  auch  diese  sich,  wie  bekannt, 
allmählich  bis  zu  einem  gewissen  Grade  wieder  ausgleicht.  Mir  scheint 
die  Erklärung  für  dieses  Verhalten  darin  zu  liegen,  dass  die  niederen 
ßewegungscentren  auf  ein  bestimmtes  Maass  und  eine  bestimmte  Ver- 
theilung  der  zu  ihnen  gelangenden  cerebralen  Reize  eingeübt  sind  und 
im  Uebrigen  für  die  feinere  Regulirung  der  Bewegungen  der  steten 
Controle  des  Bewegungserfolges  durch  die  cerebralen  Centren  bedürfen. 
Unzweifelhaft  stehen  die  Reize,  welche  bald  nach  dem  Eingriffe  zu 
jenen  Centren  —  und  ich  meine  vornehmlich  das  Rückenmark  —  ge- 
langen, in  dem  grössten  Missverhältnisse  zu  dem  Spiele  der  gewohnten 
Uebung.  Allmählich  werden  diese  Mechanismen  aber  auf  die  veränderten 
Umstände  eingeübt  kraft  des  Anpassungsvermögens,  das  wir  diesen 
Organen  ja  allgemein  zuschreiben,  und  damit  verschwindet  dieser 
Theil  der  Störungen.  Derjenige  Theil  derselben,  welcher  von  dem 
Ausfalle  der  Controle  durch  die  Bewegungsvorstellungen  abhängt,    ver- 


—     246     — 

schwindet  aber  nur  nach  Maassgabe  des  Fortbestandes  der  den  Be- 
wegungsvorstellungen dienenden  Organe,  mögen  sich  diese  nun  in  der 
verletzten  oder  der  unverletzten  Hemisphäre   befinden. 

Es  ist  sofort  klar,  dass  durch  diese  Art  der  Erklärung  das  Ver- 
ständniss  für  die  Thatsache  eröffnet  wird,  dass  das  Maass  der  Restitution 
in  dem  Grade  unvollkommen  ausfällt,  in  welchem  das  geschädigte  Ge- 
hirn der  einzelnen  Thierspecies  mehr  zu  isolirter  iutentioneller  Be- 
wegung befähigte  Organisationen  besitzt.  Und  aus  diesem  Grunde 
mögen  sich  die  Abweichungen  in  dem  Verhalten  der  Motilität,  welche 
man  in  Folge  von  Läsionen  des  Affen-  und  namentlich  des  Menschen- 
gehirns findet,  wenigstens  zum  Theil  erklären.  Ein  anderer  Theil  der  bei 
hemiplegischen  Menschen  zu  beobachtenden  Abweichungen  ist  aber  nur 
scheinbar  ein  Product  der  Lähmung,  erwächst  in  Wirklichkeit  aber  aus 
einem  Reizungssymptome,  der  durch  die  absteigende  Degeneration, 
bedingten,  auf  Irritationszuständen  der  grauen  Substanz  des  Rücken- 
marks beruhenden  Contractur.  Auch  der  hemiplegische  Mensch  vermag 
in  der  Regel,  wie  der  Hund,  die  einfache  Locomotion  relativ  gut  zu 
vollziehen,  nur  dass  sich  dabei  die  fatale,  das  Bein  in  eine  Stelze  ver- 
wandelnde Extensionscontractur  einstellt. 

Ungeachtet  der  grossen  in  den  letzten  16  Jahren  auf  das  Stu- 
dium der  Functionen  des  Grosshirns  verwendeten  Arbeitskraft  sind 
unsere  Kenntnisse  von  denselben  noch  höchst  rudimentär.  Das  gilt  auch 
von  dem  Thema,  das  ich  heut  aus  dem  Gesaramtstoff  —  ich  möchte 
sagen  —  herausgerissen  habe.  Und  gleichwohl  bin  ich  mir  der  Un- 
vollkommenheit,  welche  meine  Schilderung  dieses  Rudimentes  au  sich 
trägt,  vollbewusst.  Um  so  bereitwilliger  erkenne  ich  die  Förderung  an, 
welche  unserer  Erkenntniss  im  Kampfe  gerade  von  den  Gegnern  zu 
Theil  geworden  ist. 


XIII.    Ein    Beitrag    zur   Hirn  Chirurgie. 

I. 

Klinischer  Vortrag  gehalten  am  4.  Mai  1892.*) 

Sie  haben  in  der  vorigen  Vorlesung  einen  Kranken  gesehen,  bei 
dem  es  sich  um  eine  raumbeschränkende  Erkrankung  innerhalb  der 
Schädelliöhle  handelte,  welche,  wie  ich  annahm,  in  unmittelbarer  Be- 
ziehung zu  dem  Schädelknochen  stehen  müsse.  Ich  sagte  Ihnen,  dass 
dieser  Fall  uns  in  der  chirurgischen  Klinik  wieder  begegnen  würde,  und 
in  der  That  hat  Herr  Prof.  v.  Bramann  ihn  gestern  operirt.  Er  ist 
nach  jeder  Richtung  von  Interesse,  so  dass  es  sich  sicher  lohnt,  etwas 
ausführlicher  auf  ihn  zurückzukommen. 

Der  Kranke,  ein  29jähriger  Maurer,  hatte  anamnestisch  ange- 
geben, dass  er  in  seinem  zweiten  Lebensjahre  „einen  Scharlachfriesel" 
gehabt  hätte,  und  daran  hätte  sich  eine  Ohreneiterung  angeschlossen, 
die  erst  in  seinem  18.  Lebensjahre  aufhörte.  Lues  will  er  nie  gehabt 
haben. 

Er  selbst  schob  seine  Krankheit  auf  einen  eigenthümlichen  Zufall, 
auf  eine  Ueberraschung  durch  die  Dienstherrschaft  eines  Mädchens,  mit 
dem  er  den  Coitus  im  Stehen  ausübte.  Unmittelbar  darauf  will  er 
einen  heftigen  Kopfschmerz  an  der  rechten  Seite  der  Stirn,  und  zwar 
gerade  an  derjenigen  Stelle  verspürt  haben,  welche  uns  nachher  be- 
sonders interessiren  wird.  Dieser  Kopfschmerz  habe  zunächst  einmal 
längere  Zeit  angehalten,  dann  zwar  wieder  nachgelassen,  aber  sichi 
immer  wieder  eingestellt,  und  er  sei  ihn  seit  der  Zeit  nicht  mehr  los- 
geworden. 

Alle  Fragen  nach  anderen  ätiologischen  Momenten,  welche  hier  in 
Betracht  kommen  könnten,  führten  zunächst  zu  keinem  Resultat,  bis 
der  Kranke  hier  vor  Ihnen  in  der  Klinik  angab,  dass  er  einen  Schlag 
mit  einer  Stockkrücke  auf  die  gedachte  Stelle  erhalten  habe 
indessen  vermochte  er  uns  nicht  zu  sagen,    ob  er  den  Schlag    vor  dem; 


*)  Nach  einem  Stenogramm. 


—     248     — 

Eintreten  der  ersten  hier  in  Betracht  kommenden  Krankheitszeicheu  oder 
erst  nachher  erhalten  hätte.  Diese  Unsicherheit  in  seiner  Angabe  und 
das  Auslassen  von  so  wichtigen  Daten,  wie  wir  sie  schon  angeführt 
haben  und  wie  wir  sie  noch  weiter  zu  erwähnen  haben  werden,  bildet 
gleichfalls  ein  wichtiges  Krankheitszeichen  für  uns.  Es  deutet  hin  auf 
eine  vorhandene  Gedächtnissschwäche  und  eine  wenn  auch  nicht 
sehr  hochgradig  entwickelte,    so  doch  deutlich    nachweisbare  Demenz. 

Nun  gab  der  Kranke  uns  weiter  an,  dass  er  im  October  1891  neben 
den  bereits  erwähnten  Erscheinungen  etwas  Neues  plötzlich  bemerkt 
habe.  Während  er  im  Wirthshaus  gesessen  habe,  sei  ihm  plötzlich  die 
Cigarre  aus  der  linken  Hand  gefallen  und  sein  Mund  habe 
sich  nach  der  linken  Seite  verzogen.  Nach  diesem  Anfall  sei 
eine,  wenn  auch  nur  geringe  und  sich  etwas  bessernde  Schwäche  in  der 
linken  Hand  zurückgeblieben.  Derartige  Anfälle  will  er  im  Laufe  der 
Zeit  etwa  vier  oder  fünf  gehabt  haben  und  jedes  Mal  sei  wieder  etwas 
Schwäche  in  dem  Arm  geblieben.  Sprechen  und  Schlucken  sei 
ebenfalls  in  geringem  Grade  betheiligt  gewesen,  das  Bein  aber  frei  ge- 
blieben. Anfangs  November  bemerkte  er  neben  einer  Zunahme  seiner 
Kopfschmerzen,  dass  er  auf  dem  rechtenAuge  weniger  gut  sehen 
konnte,  und  zwar  beschreibt  er  die  eintretende  Sehstörmig  in  einer  so 
eigenthümlichen  und  charakteristischen  Weise,  dass  man  eigentlich  an- 
nehmen sollte,  dass  er  sich  darin  gewiss  nicht  habe  täuschen  können. 
Er  sagt  nämlich,  es  sei  ihm  gewesen,  als  wenn  eine  Linie  in  der  Mitte 
des  rechten  Auges  senkrecht  von  oben  nach  unten  gezogen  sei,  und  als 
ob  er  rechts  davon  nichts  habe  sehen  können.  Dass  er  etwas  Aehn- 
liches  auf  dem  linken  Auge  bemerkt  habe,  hat  er  uns  nicht  gesagt.  Sie 
werden  nachher  hören,  dass  diese  Angabe  dennoch  durchaus  unzuver- 
lässig und  jedenfalls  ganz  unrichtig  gewesen  ist. 

Die  Sehstörung  nahm  nun  bei  dem  Kranken  allmählich  zu,  und 
sie  erstreckte  sich  weiterhin  auch  auf  das  linke  Auge,  was  er  beson- 
ders an  hier  und  da  auftretenden  Erscheinungen  von  Verdunkelung 
bemerkte.     Immerhin  konnte  er  damit  noch  sehen. 

Der  Kranke  hat  dann  ferner  angegeben,  dass  er  niemals  an  Er- 
brechen gelitten  habe,  ein  Symptom,  das  ja  für  die  Diagnose  von 
räum  beschränkenden  Erkrankungen  innerhalb  der  Schädelhöhle  von 
grosser  Wichtigkeit  wäre.  Es  könnte  nun  bei  dem  erwähnten  psychi- 
schen Zustande  zweifelhaft  erscheinen,  ob  er  in  der  That  niemals  ge- 
brochen hat.  Seine  Angaben  darüber  wurden  auch  später  unsicher; 
jedenfalls  hat  er  bei  uns  mid  in  der  chirurgischen  Klinik  thatsächlich 
niemals  erbrochen,  und  das  scheint  mir  auch  sicher,  dass  er  vorher 
jedenfalls  nicht  sehr  oft  erbrochen  hat,    sonst    würde    wohl    diese    Er- 


—     249     — 

scheinung  in  seinem  Gedächtnisse  haften  geblieben  sein.  Auch  in  der 
Krankengeschichte,  welche  sein  Hausarzt  mir  mitgetheilt  hat,  ist  von 
Erbrechen  nicht  die  Rede.  Ich  meine,  das  wäre  ein  Kraukheitssymptom, 
welches  die  Angehörigen,  die  sehr  besorgt  um  diesen  Kranken  sind,  wohl 
beobachtet  und  referirt  hätten,  wenn  er  selbst  auch  nicht  in  der  Lage 
war,  etwas  Sicheres  darüber  zu  berichten. 

Bei  der  Aufnahme  am  21.  IV.  d.  J.  constatirten  wir  nun  zuerst, 
was  die  Körper-  und  Kopfhaltung  betrifft,  dass  der  Kranke  den 
Kopf  ziemlich  stark  nach  vorn  geneigt  und  leicht  nach  links 
schief  hielt;  ebenso  hing  die  linke  Schulter  herab.  Von  Seiten  der 
Hirnnerven  war  festzustellen  eine  etwas  träge,  reflectorische  Pupillen- 
reaction,  während  die  accomodative  besser  war.  Die  Untersuchung  des 
Augenhintergrundes  ergab  beiderseits  eine  sehr  ausgesprochene 
Stauungspapille. 

Die  Untersuchung  des  Sehvermögens  ergab  nun  aber  keineswegs, 
wie  nach  den  Angaben  des  Patienten  hätte  vermuthet  werden  können, 
Hemianopsie,  sondern  das  Gesichtsfeld  erwies  sich  auf  beiden  Seiten 
als  hochgradig  concentrisch  eingeengt,  und  zwar  rechts  so,  dass 
nur  noch  Fingerbewegungen  wahrgenommen  werden  konnten,  diese  aber 
überall,  nicht  etwa  nur  auf  einem  nicht  hemianopischen  Theil  des  Ge- 
sichtsfeldes und  ebenso  war  die  Sehschärfe  auf  dem  linken  Auge  überall 
gleichmässig  herabgesetzt;  es  war  auch  da  eine  hemianopische  Thei- 
lung  des  Gesichtsfeldes  nicht  vorhanden. 

Sodann  war,  was  die  anderen  Kopfnerven  anbetrifft,  am  auffallend- 
sten der  Facialis  betroffen.  Derselbe  zeigte  schon  in  der  Ruhe  eine 
erhebliche  Differenz  in  der  Innervation  —  das  Gesicht  stand  ziem- 
lich stark  nach  rechts  verzogen  —  und  bei  Bewegungen  trat  dieselbe 
noch  stärker  hervor.  Bemerkenswerth  ist,  dass  auch  das  linke  Auge 
mit  gerhigerer  Kraft  als  das  rechte  geschlossen  werden  konnte. 

Die  Zunge  zeigte  gleichfalls  eine,  wenn  auch  leichte  Abweichung 
nach  der  linken,  der  gelähmten  Seite. 

Sodann  war  noch  ziemlich  stark  betroffen  die  linke  obere  Ex- 
tremität. Allerdings  hat  der  Herr  Practikant,  der  den  Kranken  unter- 
suchte, zunächst  nichts  finden  können,  wie  denn  der  Kranke  in  der 
That  im  Stande  war,  sämmtliche  Bewegungen  mit  diesem  Gliede  aus- 
zuführen. Aber  einmal  war  die  grobe  Kraft  erheblich  herabgesetzt; 
das  liess  sich  auch  dynamometrisch  sehr  gut  feststellen,  der  Kranke 
drückte  rechts  36,  links  aber  nur  8  kg;  dann  wurden  die  einzelnen  Be- 
wegungen weniger  geschwind  ausgeführt  als  auf  der  anderen  Seite  und 
endlich  trat  die  Bewegungsstörung  sehr  deutlich  hervor,  wenn  man  den 
Kranken  feinere  Fingerbewegungen  machen    oder  ihn  die  Fingerspitzen 


—     250     — 

gegen  die  Daumenspitzen  reiben  liess;  dann  waren  die  fraglichen  Be- 
wegungen auf  der  linken,  kranken  Seite  viel  langsamer  und  zum  Theil 
gar  nicht  ausführbar. 

Bei  Weitem  geringer  waren  die  Erscheinungen  an  dem  linken  Bein 
oder,  wenn  ich  mich  richtiger  ausdrücken  soll,  an  den  Beinen.  Die 
Differenz  in  der  Entwickelung  der  groben  Kraft  —  zu  Ungunsten  der 
linken  Seite  —  war  nämlich  nur  gering,  dagegen  waren  die  beiden 
unteren  Extremitäten  schwach,  wie  sich  denn  der  Kranke  im  Ganzen 
leidend  und  schwach  fühlte. 

In  der  Motilität  war  also  am  meisten  betroffen  der  Fa- 
cialis und  die  Nacken-Halsmuskulatur,  dann  er  heblich,  wenn 
auch  weniger,  die  obere  und  am  wenigsten  die  untere  Ex- 
tremität; endlich  die  Zunge. 

Seusibilitätsstörungen  waren  nicht  vorhanden;  dagegen  waren 
die  Patellarreflexe  auf  beiden  Seiten,  stärker  links,  gesteigert; 
links  war  auch  Fussklonus  vorhanden  und  ebenso  waren  die  Haut- 
reflexe gesteigert. 

Ich  hatte  nun  einige  Tage  nach  der  Aufnahme  des  Kranken,  am 
27.  IV.  ein  neues  Symptom  gefunden.  Abgesehen  davon,  dass  er  schon 
früher  über  Schraerzhaftigkeit  des  Kopfes  bei  Bewegungen  und  Be- 
klopfen geklagt  hatte,  bemerkte  ich  in  der  rechten  Schläfegegend, 
der  vorderen  Hälfte  des  Ursprungs  des  Musculus  temporalis  entsprechend, 
eine  Partie,  welche  am  27.  massig,  am  28.  stark  geschwollen  und 
teigig  anzufühlen  war.  An  einem  Punkte  dieser  Stelle  bestand  ein 
sehr  erheblicher  Druckschmerz.  Sie  haben  sich  selbst  überzeugen 
können,  dass  der  Kranke,  wenn  man  ihn  an  dieser  Stelle  drückte, 
schmerzhaft  das  Gesicht  verzog  und  Abwehrbewegungen  machte.  Diese 
Schwellung  verlor  sich  am  29.  und  30.  zum  Theil  wieder,  wenn  sie 
auch  bei  der  klinischen  Demonstration  immer  noch  sowohl  durch  den 
Augenschein  als  auch  durch  Betasten  nachweisbar  war.  Die  Schmerz- 
haftigkeit  blieb  in  gleicher  Intensität  vorhanden. 

Der  Kranke  hat  dann  bei  uns  nach  der  klinischen  Vorstellung, 
nämlich  am  1.  V.  einen  analogen  Anfall  gehabt,  wie  ich  ihn  bereits 
geschildert  habe:  Erstarrungsempfindungen,  eine  momentan  stärkere  Läh- 
mung der  linken  oberen  Extremität  und  Zuckungen  in  der  linken  Ge- 
sichtshälfte. 

Ich  will  noch  bemerken,  dass  ebensowenig  wie  wir  Erbrechen  hier 
beobachtet  haben,  auch  Pulsverlangsaraung  auftrat.  Der  Puls  war  immer 
eher  etwas  beschleunigt  oder  auch  normal. 

Nun,  die  Frage,  wie  wir  sie  uns  bei  der  klinischen  Bespre- 
chung   vorlegten,    war    einmal    die:       Mit    welcher    Art     von    Er- 


—     251     — 

krankuiig  haben  wir  es  zu  thun,  und  zweitens:  wo  sitzt  die- 
selbe? 

Zunächst  war  ja  das  klar,  dass  wir  wegen  der  linksseitigen  Hemi- 
parese  einen  in  der  rechten  Schädelhälfte  vorgehenden  Krankheits- 
process  anzunehmen  hatten.  Aber  welcher  Art  war  dieser  Krankheits- 
pro cess? 

Da  fallen  uns  denn  zunächst  eine  Anzahl  von  AUgemein- 
ersche  inungen  auf.  Der  Kranke  hat  von  Anfang  an  über  Kopf- 
schmerzen zu  klagen  gehabt.  Er  bezog  sie  auf  eine  Veranlassung, 
auf  die  wir  sie  nicht  beziehen  werden,  aber  es  scheint  danach  doch 
ausser  allem  Zweifel,  dass  diese  Kopfschmerzen,  die  übrigens  später 
auch  den  ganzen  Kopf  einnahmen,  so  dass  der  Kranke  zeitweise  die 
Empfindung  hatte,  als  ob  der  Kopf  auseinandergesprengt  werden  sollte, 
bei  jener  Veranlassung,  also  bereits  im  April  1891,  vorhanden  waren, 
dass  der  Kraukheitsprocess  also  schon  zu  der  Zeit  bestanden  hat,  d.  h. 
über  ein  Jahr  alt  ist. 

Ein  zweites  Allgemeinsymptom  besteht  in  der  hier  doppelseitig  vor- 
handenen Stauungspapille. 

Ein  drittes  besteht,  man  kann  das  wenigstens  so  auffassen,  in  der 
Demenz,  d.  h.  in  den  psj'chischen  Störungen,  an  denen  der  Kranke 
unzweifelhaft  leidet.  Ich  habe  mich  da  eben  etwas  zweifelhaft  ausge- 
drückt; wenn  Sie  wollen,  können  Sie  das  Symptom  event.  auch  als 
eine  Localerscheinung  auffassen.  Wenn  beispielsweise  im  Stirnlappen 
ein  Kraukheitsprocess  von  grösserer  Ausdehnung  sich  entwickelt,  so 
können  Sie  den  Ausfall  psychischer  Functionen  auf  diese  Localität  be- 
ziehen und  Sie  haben  nicht  unbedingt  nöthig,  anzunehmen,  dass  durch 
den  gesteigerten  Hirndruck  die  Gesammtmasse  des  Gehirns  beeinträch- 
tigt sei.  Endlich  hat  der  Kranke,  was  wir  zu  erwähnen  vergassen,  an 
Schwindel  gelitten. 

Dagegen  haben  von  Allgemeinerscheinungen  gefehlt:  Erbrechen, 
Pulsverlangsamung  und  endlich  allgemeine  epileptiforme  Krämpfe. 

Das  Fehlen  dieser  Symptome  konnte  uns  jedoch  in  keiner  Weise 
bestimmen,  eine  raumbeschränkende,  den  Druck  in  der  Schädelhöhle 
steigernde  Erkrankung  auszuschliessen,  vielmehr  nur  beweisen,  dass  der 
raumbeschräukende  Process  nicht  an  einer  Stelle  sich  entwickelt  hatte, 
an  der  diejenigen  Organe,  deren  Beeinträchtigung  besonders  leicht  zu 
den  fehlenden  Symptomen  führt,  gelegen  sind,  wobei  allerdings  mit 
Bezug  auf  die  epileptiformen  Krämpfe  noch  gesagt  werden  muss,  dass 
nur  die  eine,  auf  schnellerer  Drucksteigerung  beruhende  seltenere  Genese 
derselben  ins  Auge  gefasst  ist.  Das  wäre  also  der  Raum  unterhalb  des 
Tentoriums. 


—     252     — 

Nun  war  die  Frage,  wenn  wir  es  mit  einer  raumbeschränkenden 
Erkrankung  in  der  Schädelhöhle  zu  thun  haben,  welcher  Art  die- 
selbe sei. 

Vor  der  Operation  ist  von  Herrn  CoUegen  v.  Bramann  die  Frage 
aufgeworfen  worden,  ob  nicht  vielleicht  ein  Gehirnabscess  vorläge. 
Ich  habe  mich  dieser  Frage  gegenüber  negativ  verhalten  und  ich  habe 
aus  diesem  Grunde  seiner  Zeit  die  vorhergegangene  Ohreneiterung  auch 
hier  nicht  weiter  erwähnt.  Allerdings  wissen  wir  ja,  dass  sehr  häufig 
dadurch  Hirnabscesse  entstehen;  aber  einmal  erschien  mir  der  Zeitraum, 
welcher  seit  dem  Cessiren  dieser  Otorrhoe  verflossen  ist  (zwölf  Jahre), 
etwas  lang;  zweitens  fehlte  während  der  ganzen  Beobachtung  des 
Kranken  an  ihm  ein  Symptom,  welches  man  so  überaus  häufig  bei  Hirn- 
abscess  findet:  atypisches  Fieber,  Schüttelfröste;  das  ist  niemals  beob- 
achtet worden.  Drittens  ist  es  jedenfalls  relativ  sehr  selten,  dass  ein 
Hirnabscess  in  Folge  einer  Otorrhoe  gerade  im  Stirnlappen  sich  ent- 
wickelt, während  wir  alle  Veranlassung  hatten,  die  fragliche  Erkran- 
kung im  Stirulappen  zu  suchen,  und  endlich  wäre  mit  Rücksicht  auf 
die  anderweitigen  Erscheinungen  das  Entstehen  der  Stauungspapille,  die 
hochgradige  Sehstörung  durch  einen  Hirnabscess  nicht  wohl  zu  erklären 
gewesen.  Damit  will  ich  nicht  sagen,  dass  bei  Hirnabscessen  Stauungs- 
papille niemals  vorkommt,  aber  das  Ensemble  der  Erscheinungen  war 
nicht  danach. 

Eine  zweite  Möglichkeit,  die  hier  vorlag,  war  das  Vorhandensein 
eines  Hämatoms.  Der  Kranke  hatte  sicher  eine  Kopfverletzung  er- 
litten, dieselbe  hat  alier  Wahrscheinlichkeit  nach  an  der  bewussten 
Stelle  stattgefunden  und  es  wäre  deswegen  sehr  leicht  möglich  gewesen, 
dass  der  Kranke  eine  daselbst  beginnende  Pachymeningitis  haemorrha- 
gica  davongetragen  hätte.  Sie  wissen,  dass  zwischen  den  einzelnen 
Lamellen  pachymeningitischer  Auflagerungen  Extravasate  entstehen. 
Diese  können  so  colossal  werden,  dass  sie  wie  ein  grosser  Hirntumor 
drucksteigernd  wirken.  Aber  dann  verläuft  die  Sache  in  der  Regel 
anders.  Handelt  es  sich  nicht  um  einen  Paralytiker  oder  einen  Greis 
mit  Hirnschwund  und  entwickelt  sich  der  Erguss  plötzlich,  so  kommt 
es  nicht  etwa  zu  solchen  allmählich  zunehmenden  Erscheinungen  und 
verhältnissmässig  leichtgradigen  Attaken  und  vorübergehenden  Paresen, 
wie  bei  meinem  Kranken,  sondern  da  giebt  es  wegen  der  plötzlichen 
Drucksteigerung  einen  echten  apoplektischen  Insult.  Entwickelt  die 
Blutung  sich  aber  sehr  allmählich,  wie  es  hier  hätte  der  Fall  sein 
müssen,  so  pflegen  die  Erscheinungen  seitens  des  Sehapparates  zu  fehlen 
oder  weit  geringer  zu  sein  als  hier.  Auch  würde  das  Hämatom  an  sich 
die  Schwelluns;  der  Weichtheile  nicht  erklären. 


—     253     — 

Mir  war  es  von  Anfang  an  sehr  wahrscheinlich,  dass  der  Knochen 
in  nnmittolbarer  Beziehung  zu  dem  Krankheitsherde  stehe.  Ich  l'üiirte 
aber  ausdrücklich  an,  dass  Tumoren  der  Hirnsubstanz,  auch  wenn  sie 
noch  so  gross  sind  und  den  Knochen  erreichen,  eine  solche  teigige  An- 
schwellung der  Weichtheile  nicht  produciren.  Es  musste  also  der 
Knochen  selbst  betheiligt  sein.  Ein  auf  denselben  beschränkter  Process 
hätte  aber,  wenn  er  nicht  colossal  war,  die  Druckerscheinungen  nicht 
erklärt.  Dabei  war  zu  berücksichtigen,  dass  der  Tumor  nicht  nach 
aussen  perforirt  hatte.  Das  Wahrscheinlichste  war  also,  dass  wir  es 
mit  einem  Process  am  Knochen  und  ausserdem  iioch  mit  einer  Ge- 
schwulst zu  thun  hatten. 

Die  zweite  Frage  war,  wie  gesagt,  die,  wenn  wir  es  mit  einer 
raiimbeschränkenden  Erkrankung  in  der  Nähe  des  Knochens 
zu  thun  hatten,  wo  sitzt  dieselbe? 

Da  waren  nun  zwei  Reihen  von  Symptomen,  die  uns  leiten  konnten. 
In  erster  Linie  die  schmerzhafte  Anschwellung,  in  zweiter  Linie  die- 
jenigen Erscheinungen,  welche  uns  immer  in  solchen  Fällen  zu  leiten 
haben,  die  Herderscheinungen. 

Am  besten  verfährt  man  nun,  wenn  man  sich  klar  machen  will, 
wo  ein  Krankheitsprocess  im  Gehirn,  dafern  er  überhaupt  der  Local- 
diagnose  zugänglich  ist,  sitzt,  per  exclusionem.     So  thaten  wir  es   hier. 

Sie  haben  bereits  gehört,  dass  wir  wegen  gewisser  fehlender  All- 
gemeinerscheinungen diejenigen  Organe  auszuschliessen  hatten,  welche 
unterhalb  des  Tentoriums  gelagert  sind.  Zu  diesen  gehört  in  erster 
Linie  das  Kleinhirn.  Wenn  das  Kleinhirn  befallen  wäre,  so  würden  wir 
jedenfalls  sehr  häufiges  Erbrechen  gehabt  haben  und  wahrscheinlicherweise 
hätte  sich  die  Stauungspapille  früher  und  energischer  entwickelt,  als  es 
in  dem  vorliegenden  Falle  zutrifft. 

Dann  schien  ja  Einiges  darauf  hinzuweisen,  dass  der  Tumor  in  dem 
Hinterhaupts  läppen  beziehungsweise  in  der  Nähe  des  Thalamus  seinen 
Sitz  haben  könnte,  denn  der  Kranke  hatte  angegeben,  dass  er  eine 
hemianopische  Sehstörung  gehabt  habe  und  wie  Ihnen  bekannt  ist. 
treten  derartige  Sehstörungen  bei  Läsionen,  die  im  Hinterhauptslappen 
ihren  Sitz  haben,  oder  den  Tractus  opticus  direct  zerstören,  auf.  Da 
nun  der  Kranke  solche  Angaben  gemacht  hatte,  war  immerhin  die  Auf- 
merksamkeit auf  diese  Hirntheile  gelenkt.  Aber  nachdem  uns  die  ob- 
jective  Untersuchung  ergeben  hatte,  dass  von  Hemianopsie  jetzt  garnicht 
die  Rede  war  und  nie  die  Rede  gewesen  sein  konnte,  entschlossen  wir 
uns,  diese  Angaben  des  Kranken  garnicht  zu  beachten,  wie  denn  über- 
haupt die  subjectiven  Empfindungen  und  Angaben  von  Kranken  dem 
objectiven  Thatbestande  gegenüber  stets  zu  vernachlässigen   sind,    wenn 


—     254     — 

derselbe  nur  unzweideutig  ist.  Ich  habe  mir  vorgestellt,  dass  der 
Kranke  wohl  von  irgend  einem  mit  der  Sache  nicht  ganz  vertrauten 
Arzte  vorher  nach  Hemianopsie  gefragt  und  ihm  dabei  eine  solche 
Sehstörung  suggerirt  worden  ist.  Uebrigens  wenn  es  sich  in  der  That 
um  eine  Läsion  eines  Hinterbauptlappens  gehandelt  hätte,  so  hätte 
dieselbe  links  sitzen  müssen,  da  der  Kranke  behauptete,  dass  seine 
Hemianopsie  eine  rechtsseitige  gewesen  sei.  Das  würde  aber  wieder 
mit  den  Lähmungserscheinungen  der  linken  Körperhälfte  nicht  gestimmt 
haben. 

Sodann  kam  die  motorische  Region  in  Frage,  auf  die  für  den 
Unerfahrenen  die  Aufmerksamkeit  durch  die  vorhandenen  motorischen 
Paresen  hingelenkt  war.  Man  musste  sich  aber  sagen,  dass  der  Tumor 
dort  seinen  Ursprung  nicht  haben  konnte;  denn  die  ersten  Erscheinungen 
waren  Allgemeinerscheinungen,  keine  Herderscheinungen  gewesen:  der 
Kranke  hatte  zuerst  an  Kopfschmerzen  gelitten  und  Motilitätsstörungen 
waren  nur  allmählich  erschienen  und  sie  waren  jetzt  noch  verhältniss- 
mässig  unerheblich,  so  dass  die  Motilität  selbst  in  dem  am  meisten  be- 
troffenen Facialisgebiet  immer  noch  vorhanden  war.  Hätte  der  Tumor, 
der  nunmehr,  nachdem  er  seit  länger  als  einem  Jahre  bestanden,  eine 
erhebliche  Grösse  angenommen  haben  musste,  in  dem  motorischen  Ge- 
biete sich  entwickelt,  so  wäre  sicherlich  eine  umfangreiche,  ausge- 
sprochene halbseitige  Lähmung  vorhanden  gewesen. 

Es  blieb  also  eigentlich  nur  noch  übrig  der  Stirn-  und  Schläfen- 
lappen. Hätte  der  Tumor  links  gesessen,  so  hätten  wir  den  Schläfen- 
lappen von  vorn  herein  ausschliessen  können,  weil  eine  bestimmte  Form 
aphasischer  Sprachstörmig  mit  der  Läsion  dieses  Lappens  verknüpft  zu 
sein  pflegt.  Bei  dem  rechtsseitigen  Sitze  des  Tumors  konnte  man  dies 
nicht  ohne  Weiteres  thun,  zumal  sehr  grosse  Tumoren  des  Scliläfen- 
lappens  gelegentlich  auch  zu  motorischen  Erscheinungen  führen,  aber 
hier  musste  uns  einmal  die  anderweitige  Reihe  von  Erscheinungen  leiten, 
von  denen  ich  gesprochen  habe,  das  sind  die  Erscheinungen  an  den 
Weichtheilen  und  am  Knochen.  Zweitens  kam  dabei  die  Entwickelung 
und  die  Vertheilung  der  Lähmungserscheinungen  in  Betracht. 

Wenn  wir  uns  nämlich  diese  beiden  Abbildungen  von  Affengehirnen, 
deren  eine  meinem  Buche,  die  andere  einer  Arbeit  von  Horsley  und 
Schaefer  entnommen  ist,  ansehen,  so  bemerken  wir,  dass  zu  oberst, 
am  meisten  medial  gelegen,  sich  das  Centrum  für  das  Bein,  mehr  lateral 
das  für  den  Arm,  dann  das  für  die  Gesichts-,  Zungen-  und  Kiefer- 
Musculatur  befindet.  Und  endlich  nach  vorn,  vor  diesen  liegen  die 
Centren,  welche  den  Kopf  und  Nacken  bewegen. 

Nun    sehen    wir   in   dem  vorliegenden  Falle,    dass  am  meisten  be- 


—     255     — 

troffen  von  der  Läsion  das  Gesicht  war.  Dann  war  der  Kopf  nicht 
unerheblich  betroffen.  Der  Kranke  hielt  den  Kopf  stark  nacli  vorn  ge- 
senkt und  leicht  nach  links  geneigt.  Er  hing  überhaupt  etwas  nach 
der  gelähmten  Seite,  nach  links  hinüber.  Sodann  war  die  obere  Ex- 
tremität nennenswerth  befallen,  die  untere  dagegen  nicht  anders  als 
die  untere  Extremität  der  anderen  Seite.  Die  erste  Herderscheinung 
war  übereinstimmend  ein  leichter  Anfall  von  motorischen  Erscheinungen 
im  Gebiet  der  oberen  Extremität  und  des  Facialis  gewesen. 

Es  wäre  nun  schon  schwer  zu  erklären  gewesen,  wie  ein  Tumor 
im  Schläfenlappen  seinen  Einfluss  halbseitig  auf  alle  diese  Centren  und 
zwar  in  der  geschilderten  Weise,  so  dass  namentlich  die  Zunge  fast  frei 
blieb,  hätte  ausüben  können.  Dagegen  erklärte  sich  der  ganze  Hergang 
sehr  einfach,  wenn  man  annahm,  dass  er  im  Stirnlappen  seinen  Sitz 
hatte,  dass  er  sich  da  allmählich  vergrösserie  und  nunmehr,  indem 
gleichmässig  Allgemeinerscheinungen  auftraten,  die  ihm  benachbarten 
Centren  der  vorderen  Centralwindung  das  Centrum  für  den  Arm  und 
den  Facialis  betroffen  habe. 

Zu  dem  gleichen  Schlüsse  führte  uns  die  mehrerwähnte  Veränderung 
am  Knochen  und  an  den  Weichtheilen.  Wenn  man  genau  zufühlte,  konnte 
man  sich  überzeugen,  dass  die  Anschwellung  und  die  Schmerzhaftigkeit 
hauptsächlich  ihren  Sitz  an  dem  Theil  hatte,  wo  die  Schuppennaht  sich 
in  ihrem  vorderen  Theile  basal  umbiegt.  Etwas  oberhalb  dieser  Stelle 
bestand  die  hauptsächlichste  Schmerzhaftigkeit.  Nun  entspricht  jener 
Punkt  der  Schuppennaht  ziemlich  genau  dem  aufsteigenden  Aste  der 
Fossa  Sylvii,  also  ebenfalls  dem  hintersten  Theile  des  Stirnlappens.  — 

Nachdem  die  Diagnose  so  in  allen  ihren  Theilen  festgestellt  war, 
fragte  es  sich,  was  ist  zu  thun?  Unzweifelhaft  war  der  Mann  dem 
Tode  geweiht,  wenn  nicht  eingegriffen  wurde.  Der  Druck  nahm  zu, 
es  war  vorauszusehen,  dass  er  in  nicht  zu  ferner  Zeit  sein  Sehvermögen 
gänzlich  verloren  haben  würde  und  ferner  vorauszusehen,  dass  der 
weiter  sich  steigernde  Druck  zu  ausgebreiteten  Lähmungserscheinuugcn 
und  schliesslich  zum  Aufhören  des  Lebens  führen  würde.  Es  bestand 
also  eine  Lidicatio  vitalis  zur  Operation,  mochte  auch  die  Hoffnung, 
den  Kranken  endgültig  durchzubringen,  nur  schwach  sein.  Wenn  man 
so  weit  mit  der  Localdiagnose  kommen  kann,  wie  in  diesem  Falle,  so 
ist  einem  wachsenden  Tumor  gegenüber,  der  an  der  Convexität  des 
Grosshirns  sitzt,  die  Operation  immer  indicirt.  Ich  habe  mich  deshalb 
mit  Herrn  Collegen  von  Bramann  in  Verbindung  gesetzt,  er  war  der- 
selben Meinung  wie  ich  und  zum  operativen  Vorgehen  bereit. 

Fraglich  war,  wo  und  wie  einzugehen.  Wir  haben  eben  gesehen, 
dass  über  den  Ort,  wo  der  Tumor  seinen  Sitz  haben  musste,  eigentlich 


—     256     — 

ein  grösserer  Zweifel  nicht  bestehen  konnte.  Nur  Iconnte  man  sicli  über 
die  Grösse  des  Dinges  nur  sehr  unvollkommene  Vorstellungen  bilden 
und  infolge  dessen  auch  nicht  sagen,  wie  gross  die  anzulegende  Oeffnung 
sein  müsse.  Im  Allgemeinen  lässt  sich  darüber  wenig  sagen.  Wir  haben 
ja  einen  sehr  grossen  Tumor  gefunden,  aber  die  Erscheinungen  waren 
doch  verhältnissmässig  recht  unbedeutend  und  ich  möchte  hervorheben, 
dass  ein  Tumor  von  der  Grösse  einer  Pflaume  unter  Umständen  sehr 
ähnliche  Erscheinungen  hätte  produciren  können,  wie  das  Riesending, 
das  College  von  Bramann  da  herausgeholt  hat.  Immerhin  war  ich 
der  Auffassung,  dass  die  Geschwulst  gross  sein  müsse,  weil  sie  ziemlich 
lange  Zeit  zur  Entwickelung  gebraucht  hatte  und  die  Erscheinungen, 
die  sie  von  einem  relativ  indifferenten  Orte  aus  hervorrief,  eine  so 
grosse  Zahl  von  motorischen  Centren,  wenn  auch  mit  geringer  Intensität 
betrafen. 

Herr  College  von  Bramann  hatte  denn  auch  gleich  anfänglich 
ein  grosses  Stück  von  8  cm  im  Quadrat  ausgemeisselt.  Sie  haben  be- 
merkt, dass  dieses  Stück  noch  nicht  einmal  gross  genug  war.  Wir 
hatten  verabredet,  dass  die  Stelle  des  aufsteigenden  Astes  der  Fossa 
Sylvii  als  Ausgangspunkt  gewählt  werden  solle,  derart,  dass  der  kleinere 
Theil  der  Oeffnung  nach  hinten,  der  grössere  nach  vorn  und  dass  die 
Basis  nicht  tiefer  gelegt  werden  solle,  als  diese,  weil  wir  eben  oberhalb 
der  Fossa  Sylvii  bleiben  wollten. 

Schon  als  die  Weichtheile  getrennt  wurden,  zeigten  sich  dieselben 
als  im  hohen  Grade  blutreich,  es  spritzte  eine  Menge  von  Gefässen  und 
ebenso  erwies  sich  der  Knochen,  wie  wir  das  vorausgesetzt  hatten,  nach 
verschiedener  Richtung  verändert.  Einmal  fanden  wir  eine  Druckusur 
des  Knochens  mit  Osteophytenbildung.  An  einzelnen  Stellen  war  der 
Knochen  papierdünn.  Um  so  mehr  stach  eine  andere  Stelle  davon  ab, 
an  der  eine  hochgradige  Hyperostose  von  Centimeterdicke 
vorhanden  war,  derart,  dass  die  darunter  liegenden  Tlieile  der  Dura 
und  des  Gehirns  eine  tiefe  Impression  erlitten  hatten.  Der  Knochen 
war  ferner  stellenweise  blauroth  verfärbt.  Die  Dura  war  mit  der  als^ 
bald  erscheinenden  Geschwulst  verwachsen,  und  wie  es  schien,  von  ihr 
durchwachsen. 

Nach  Entfernung  der  Dura  präsentirte  sich  also  eine  dunkelrothe 
Geschwulst.  Wir  hatten  es  glücklich  so  getroffen,  dass  au  der  Basis 
gesunde  Gehirnmasse  vorlag,  aber  nach  allen  anderen  Richtungen  hin 
überragte  die  Geschwulst  die  Schädellücke.  Diese  wurde  also  dadurch 
erweitert,  dass  medial  eine  zweite  Oeffnung  von  8  cm  Länge  und  3  cm 
Breite  angelegt  wurde,  so  dass  nunmehr  das  Loch  im  Schädel,  nachdem 
noch    auf  beiden  Seiten  etwas  wesgekniffen  war,    die  Dimensionen  von 


—     257     — 

11  cm  iu  frontaler  und  9  cm  in  Scagittaler  Richtung  zeigte*).  Die 
mediale  Grenze  der  Trepanationsüffnung  reichte  bis  dicht  an  die  Sagittal- 
nalit  heran.  Nmi  wurde  der  Tumor,  nachdem  von 
allen  Seiten  gesunde  Hirnsubstanz  sichtbar  war, 
durch  Herrn  Collegen  von  Bramann  mit  ge- 
wohnter Kunst  herausgeschält,  wobei  er,  wie  er 
sagte,  mit  dem  Finger  in  den  Seitenventrikel  hin- 
eingelangte, darauf  die  Wunde  verbunden  und  der 
Kranke  in  sein  Bett  gebracht. 

Die   Geschwulst    hatte    das    enorme    Gewicht 
Fig.  25.  von  280  g.     Wenn  Sie  annehmen,   dass  ein  recht 

schweres  Männergehiru  1500  g  wiegt,  wovon 
170  g  auf  Kleinhirn,  Pous  und  Oblongata,  dann  50  g  auf  Hirnhäute 
und  Hirnwasser,  zusammen  also  220  g  abzurechnen  sind,  so  bleibt  für 
beide  Grosshirn  half ten  ein  Gewicht  von  1280  g,  für  eine  von  640  g 
übrig.  Sie  sehen  also,  dass  eine  Geschwulst  enucleirt  worden  ist,  bei- 
nahe äquivalent  dem  Gewichte  einer  halben  Hemisphäre.  Nun,  ich 
möchte  nur  gleich  bemerken,  dass  der  Kranke  nicht  hur  lebt,  sondern 
dass  es  ihm  relativ  gut  geht.  Er  hat  seine  Facialisparese  wie  früher, 
die  Zunge  deviirt  vielleicht  ein  wenig  stärker  nach  der  kranken  Seite; 
stärker  geworden  ist  die  Lähmung  in  der  oberen  Extremität,  die 
Streckung  der  Hand  und  der  Finger  fehlt  so  gut  wie  ganz.  In  den  Beinen 
besteht  kein  Unterschied  gegen  früher,  alles  zusammen  ein  Beweis 
dafür,  dass  die  Operation  mit  ausserordentlicher  Eleganz  ausgeführt  ist, 
so  dass  die  Nachbartheile  nicht  in  irgend  welcher  erheblichen  Weise 
geschädigt  worden  sind. 

Was  den  Tumor  anbetrifft,  so  hat  sich  derselbe  als  ein  gemischtes 
Sarkom  erwiesen.  (Demonstration  eines  mikroskopischen  Präparates  mit 
dem  Projectionsapparat.)  — 

Was  ich  Ihnen  gebührlich  vorgetragen  habe,  könnte  zu  einer  grossen 
Anzahl  von  Bemerkungen  Veranlassung  geben.  Ich  will  mir  ein  so 
weites  Eingehen  aber  für  heute  versagen,  und  komme  vielleicht  ein 
andermal    auf    andere  Punkte    zurück.     Für    heute    will    ich    mich  be- 


*)  Die  Abbildung  kann  nur  ein  ungefähres  Bild  von  dem  Sachverhalt 
geben.  Zwar  sind  die  Maasse  9  :  11  cm  richtig  übertragen.  Aber  einmal  ist 
der  benutzte  Schädel  klein  und  brachycephal,  während  der  Kranke  einen 
grossen  dolichocephalen  Schädel  besitzt.  Ferner  sind  die  Ecken  nicht  überall 
herausgemeisselt  worden  und  endlich  reicht  der  obere  Theil  der  Lücke  weiter 
nach  vorn,  dagegen  weniger  weit  nach  hinten.  Ungeachtet  dieser  Ungenauig- 
keiten  dürfte  die  Abbildung  doch  eine  ungefähre  Vorstellung  von  der  enormen 
Grösse  des  gesetzten  Schädeldefectes  geben. 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     I.  Theil.  17 


—     258     — 

gnügen,  einige  uns  gerade  an  diesem  Falle  ganz  besonders  interessirende 
Dinge  hervorzuheben. 

Zunächst  ist  der  Krankheitsfall  in  ätiologischer  Beziehung  in- 
teressant. Ich  halte  es  für  unzweifelhaft,  dass  infolge  eines  Traumas 
ein  Sarcom  im  Gehirn  sich  entwickelt  hat.  Dass  hier  wirklich  ein 
Trauma  stattgefunden  hat,  wird  angesichts  der  Hyperostose,  welche  wir 
vorgefunden  haben,  nicht  bestritten  werden.  Darunter  hat  sich  nun  ein 
Hirnsarkom  entwickelt,  welches  aber  doch  nicht  vom  Knochen  und  der 
Dura  ausgegangen  ist,  sondern  die  Dura  nur  secundär  betroffen  hat, 
sonst  würden  die  Veränderungen  dieser  Organe  doch  hochgradigere  sein. 
Dass  sich  Sarcom e  in  Folge  , eines  Traumas  entwickeln,  ist  nun  durchaus 
nichts  Seltenes,  wenn  es  auch  von  Cohnheim  bestritten  worden  ist. 
Wir  haben  z.  B.  im  vorigen  Semester  einen  ganz  analogen  Fall  beob- 
achtet und  klinisch  wiederholt  besprochen. 

Die  gleichfalls  höchst  interessante  Geschichte  dieses  Kranken, 
eines  46  Jahre  alten  Landwirthes  Frässdorf,  möge  kurz  hier  folgen. 

xinamnese:  Pat.  hatte  lYo  Jahr  vor  seiner  Aufnahme,  11.  December 
1891,  einen  Schlag  auf  die  rechte  Kopfseite  erhalten. 

21,  X.  91.  Beginn  der  Erscheinungen  damit,  dass  ihm  beim  Säen  das 
Laken  aus  der  linken  Hand  glitt.  Ein  paar  Tage  nachher  konnte  er  die  Karten 
mit  dieser  Hand  nicht  mehr  halten.  Zuerst  war  befallen  der  Zeige- 
finger, dann  Daumen  und  Mittelfinger. 

3.  XL,  17.  XL,  28.  XL  Linksseitige  Krampfanfälle.  Die  Anfälle 
begannen  stets  in  den  Fingerbeugern  der  linken  Hand,  gingen  schnell  auf  die 
Muskulatur  der  Oberarme,  der  Schulter  und  der  linken  Gesichtshälfte  über, 
Hessen  aber  die  untere  Extremität  frei.  Das  Bewusstsein  blieb  frei.  Erbrechen, 
Kopfschmerz  und  Sehstörungen  waren  bis  dahin  nicht  vorhanden  gewesen  und 
traten  auch  im  Zusammenhang  mit  den  Anfällen  nicht  auf. 

Nach  den  Anfällen  fast  vollständige  Lähmung  erst  der  Hand,  dann  der 
ganzen  oberen  Extremität,  Parese  des  Facialis,  der  unteren  Extre- 
mität und  Heiserkeit  der  Sprache.  Seit  10.  XIL  Empfindung  von  Kochen 
an  einer  bestimmten  Stelle  des  rechten  Scheitelbeins,  dicht  hinter  der  Kranz- 
naht, 3  Finger  breit  lateral  von  der  Mittellinie. 

Stat.  praesens.  Massige  Facialisparese,  auch  der  Augenschluss  links 
weniger  energisch,  ebenso  Stirnrunzeln  links  weniger  deutlich.  Zunge  mit  der 
Spitze  deutlich  nach  links.  Parese  des  linken  Stimmbandes;  Sprache  deutlich 
heiser,  Husten  mit  etwas  Luftverschwendung. 

Alle  Bewegungen  der  linken  oberen  Extremität  fehlen,  nur  kann  der  Arm 
willkürlich  bis  zur  Horizontalen  erhoben  werden.  Geringe  und  nicht  immer 
nachweisbare  Rigidität.    Keine  Steigerung  der  Reflexe. 

Leichte  Parese  der  unteren  Extremität.  Sehnenreflexe  beiderseits,  stärker 
links  gesteigert,  dort  auch  Periostreflexe  und  Fussklonus. 

Sensibilität  links  leicht  abgestumpft. 


—     259     — 

Ophthalmoskopisch  normaler  Befund. 

Verlauf:  13.  XII.  Zwei  Anfälle,  wie  oben  geschildert,  aber  mit  Bethei- 
ligung des  rechten  Orbic.  palpebr.,  beim  zweiten  Anfall  auch  mit  Deviation 
«onjuguee,  als  zuletzt  erscheinender  und  zuerst  verschwindender  Krampf,  aber 
ohne  Betheiligung  des  Beines.  Beginn  des  Anfalls  mit  Kriebeln  in  den  einan- 
der zugekehrten  Seiten  des  Zeige-  und  Mittelfingers. 

18.  XII.  und  später  Kopfschmerzen  über  dem  rechten  Auge  und  rück- 
wärts bis  zur»Kranznaht. 

21.  XII.    Obscurationen  rechts. 

22.  XII.    Parästhesien  und  zunehmende  Parese  im  linken  Bein. 

23.  XII.  Letzte  Nacht  Anfall,  beginnend  im  Zeigefinger,  sonst  wie  früher, 
das  Bein  blieb  frei. 

Ophthalmoskopisch:  Beide  Papillen  sehr  stark  geröthet,  vielleicht  begin- 
nendes Oedem.    Linke  obere  Extremität  wärmer,  Hand  leicht  livide. 

24.  XII.  Nachts  31/2  Uhr  Anfall,  Morgens  9  Uhr  Syncope  und  kurzer 
Anfall.    Abends  Brechreiz. 

26.  XII.    Beiderseits  beginnende  Stauungspapille. 

Während  der  Beobachtungszeit  war  die  Intensität  der  Parese  des  Facialis 
und  des  Beins  schwankend,  die  Lähmung  des  Arms  constant  gewesen, 

27.  XII.    Trepanation  durch  Prof.  v.  Bramann. 

Bei  der  klinischen  Vorstellung  am  10.  December  und  9.  Januar 
war  eine  Geschwulst  diagnosticirt  worden,  die  ihren  Ausgangspunkt  von 
dem  Centrum  für  die  Fingerbewegungen  genommen  habe.  Die  Lage 
dieses  Centrmns  wurde  nach  der  von  Aug.  Müller  (Bern)  angegebenen 
3Iethode  bestimmt  und  dasselbe  von  Herrn  Prof.  v.  Bramann  als  der 
Mittelpunkt  für  die  anzulegende  Trepanationsöffnung  gewählt.  Bei  einer 
ersten  Operation  erschien  hier  eine  Cyste  von  der  Grösse  eines  Enten- 
eis, welche  exstirpirt  wurde,  sich  dann  aber  als  Theil  eines  nicht  ab- 
gekapselten Cystosarcoms  erwies,  so  dass  noch  zwei  Operationen,  bei 
denen  Herr  v.  Bramann  jedesmal  grosse  Geschwulstmassen  entfernte, 
erforderlich  Vvfurden. 

Also  auch  hier  ein  Hirnsarcom  zeitlich  und  vermuthlich  auch,  ur- 
sächlich als  Folgeerscheinung  eines  Schädeltranmas. 

Soviel  von  der  Aetiologie. 

Einige  andere  Punkte  betreffen  die  diagnostische  Seite.  Ich 
habe  da  nun  schon  auf  eins  hingewiesen,  das  ist  das  Verhältniss  der 
Entwickelung  des  Erbrechens  und  der  Puls  verlangsamung,  ich  will  jetzt 
auch  sagen  der  Stauungspapille  zu  der  Entwickelung  der  anderen  Er- 
scheinungen. Wenn  Sie  mit  einiger  Sicherheit  Hirntumoren  diagnosti- 
ciren  wollen,  dürfen  Sie  diese  Frage  niemals  aus  den  Augen  verlieren. 
Sie  haben  gesehen,  dass  dieser  Tumor  eigentliche  Herderscheinungen 
doch  nur  wenig  ausgesprochen  und  verhältnissmässig  spät  hervorgebracht 

17* 


—     260     — 

hat,  im  Anfang  nur  Allgemeinersclieiiuiugen.  Etwas  Aehuliches  sieht 
man  bei  Kleinhirntumoren  und  man  kann  deshalb  sehr  leicht  in  Zweifel 
gerathen,  wenn  man  nur  den  Status  praesens  berücksichtigt.  Charac- 
teristisch  für  Kleinhirntumoren  ist  es  aber,  dass  sie  hervorragend  schnell 
neben  anderweitigen  Allgemeinerscheiuungen  zu  heftigem,  anhaltendem 
und  immer  wiederkehrendem  Erbrechen  führen,  dass  die  Stauungspapille 
viel  schneller  beginnt  und  verläuft  und  auch  Pulsverlangsamung  häufiger 
erscheint,  obwohl  dieses  Symptom  bei  Weitem  nicht  in  allen  Fällen  ein- 
tritt.    Das  wäre  also  ein  Punkt. 

Eine  zweite  diagnostische  Mahnung  richtet  sich  auf  eine  recht  ge- 
naue Untersuchung  des  Schädels.  Bei  Weitem  nicht  in  allen  Fällen 
werden  Sie  dabei  etwas  finden,  was  Sie  auf  die  Diagnose  leitet,  ja  mau 
kann  geradezu  sagen,  dass  man  selten  eine  so  präcise  locale  Indication 
zum  Eingreifen  vorfindet,  wie  in  diesem  Falle.  Aber  es  giebt  doch 
eine  erhebliche  Anzahl  von  Fällen,  bei  denen  die  Diagnose  leicht  viel 
zweifelhafter  sein  kann,  als  in  unserem  Falle  und  dann  ein  einziger 
solcher  Fingerzeig  gleich  zu  einer  Localdiagnose  verhilft  und  unser  Ein- 
greifen zielbewusster  macht.  Dabei  möchte  ich  nochmals  darauf  auf- 
merksam machen,  wie  wenig  die  subjectiven  Empfindungen  der  Kranken 
gegen  solche  objectiven  Befunde  in  Betracht  kommen.  Auch  in  dem 
Falle  Frässdorf  hatte  Fat.  sein  „Kochen  im  Schädel"  an  eine  ganz  an- 
dere Stelle  localisirt,  als  die  war,  wo  wir  die  Geschwulst  zu  suchen 
hatteji  und  fanden. 

Schliesslich  möchte  ich  noch  in  Bezug  auf  die  hirnchirurgi- 
schen Fragen  erwähnen,  dass  wir  mit  unserem  Vorgehen  in  einen  ge- 
wissen Widerspruch  mit  den  Anschauungen  v.  Bergmannes  gerathen 
sind.  v.  Bergmann,  der,  wie  Ihnen  bekannt  ist,  eine  hervorragende 
Stelle  unter  den  Hirnchirurgen  einnimmt,  steht  dem  chirurgischen  Ein- 
greifen gerade  bei  Tumoren  verhältnissmässig  skeptisch  gegenüber.  Man 
könne  nicht  wissen,  ob  ein  Tumor  diffus,  infiltrirt  oder  circumscript,  ab- 
gekapselt sei.  In  dem  ersteren  Falle  dürfe  in  der  Regel  nicht  exstirpirt 
werden.  Zweitens  will  er  sehr  grosse  Tumoren  wegen  der  Gefahr  der 
Blutung  und  des  Gehirnödems  nicht  operirt  wissen. 

Nun,  wir  haben  in  diesem  Falle  einen  circumscripten  Tumor  ge- 
funden, das  konnte  man  allerdings  vorher  nicht  wissen.  In  dem  Falle 
Frässdorf  belehrte  aber  auch  die  explorative  Trepanation  nicht  hin- 
reichend über  die  Grenzen  der  Geschwulst,  sondern  erst  die  di'itte  Ope- 
ration. Soll  man  da  nun  die  Hände  in  den  Schooss  legen,  wenn  man 
sieht,  der  Kranke  geht  unfehlbar  dem  Tode  entgegen?  Ich  bin  der 
Ansicht,  nein!  Selbst  wenn  der  Tumor  sich  nach  der  explorativen 
Trepanation    als    dift'us    erwiese,    könnte    ich    mir  Fälle  vorstellen,    bei 


—     261     — 

denen  ich  angesichts  der  absolut  hoffnungslosen  Prognose,  wenn  der 
Chirurg  mich  fragen  sollte,  zur  Operation  rathen  würde.  Uebrigens 
concedirt  ja  auch  v.  Bergmann  vorsichtig  die  Möglichkeit  solcher 
Fälle. 

Was  die  Blutung  und  das  Hirnödem  betrifft,  so  sind  wir  dem 
keineswegs  entronnen.  Ich  weiss  es  nicht,  ich  bin  nicht  Chirurg  genug, 
um  darüber  urtheilen  zu  können,  wie  gross  die  bevorstehenden  Gefahren 
noch  sind,  jedenfalls  der  schlimmste  Tag  ist  überstanden.  Aber  dass 
•  das  Hirnödem  auch  nach  Exstirpation  sehr  grosser  Tumoren  keineswegs 
nothwendig  erscheinen  muss,  beweist  der  Fall  Frässdorf.  Derselbe  hat 
nach  der  Schätzung  des  Herrn  Prof.  v.  Bramann  mindestens  150  g 
Tumormasse  mit  Umgebung  und  bei  der  dritten  Operation  eine  Menge 
von  95  g  auf  einmal  verloren,  wobei  der  Seitenventrikel  auch  beinahe 
erreicht  wurde.  Es  war  also  auch  eine  colossale  Geschwulst.  Nun,  der 
Patient  hat  jetzt  eine  enorme  Lücke  im  Schädel;  die  ganze  Kopfhälfte 
ist  eingesunken,  aber  er  lebt  nicht  nur,  sondern  er  hat  auch  noch  einen 
beträchtlichen  Theil  der  Motilität  seiner  kranken  Körperhälfte  gerettet. 
Also  man  darf  mit  seinen  Bedenken  wenigstens  nach  dieser  Richtung 
nicht  so  weit  gehen  wie  v.  Bergmann.  Man  muss  vielmehr,  wenn 
einmal  sonst  der  Stab  über  dem  Kranken  gebrochen  erscheint,  auch  bei 
zweifelhaften  Verhältnissen  sich  zum  Eingreifen  entschliessen.  Man- 
cherlei, das  noch  vor  kurzer  Frist  unmöglich  erschien,  ist  doch  allmäh- 
lich möglich  geworden.  2") 


Anmerkung. 

27)  Der  Kranke  der  ßeob.  I.  befindet  sich  noch  jetzt  am  Leben.  Er  hat 
sich  verheirathet,  ist  Vater  zweier  Kinder  und  führt  selbstständig  ein  Geschäft. 

Er  stellte  sich  zmii  letzten  Mal  am  17.  September  1901  in  der  Klinik  vor. 
Aus  dem  umfangreichen,  bei  dieser  Gelegenheit  erhobenen  Status  entnehme 
ich  mit  dem  Hinzufügen,  dass  negative  Befunde  nicht  erwähnt  werden,  und 
dass  die  Beschreibung  der  Operationsgegend  einer  Mittheilung  des  Herrn  Col- 
legen  von  Bramann*)  entnommen  ist.  Folgendes:  „Auf  der  rechten  Schädel- 
decke im  Bereiche  des  Scheitel-,  Stirn-  und  Schläfenbeins  eine  muldenförmige 
Einsenkung,  die  im  Bereiche  des  Tuber  frontale  beginnt  und  sich  in  einer 
Ausdehnung  von  13  cm  bis  über  das  Tuber  parietale  nach  hinten  und  von  der 
Schläfenbeinschuppe  bis  fast  zur  Sagittalnaht  (11  cm)  erstreckt,  und  deren 
tiefste  Stelle  fast  4  cm  unter  dem  Niveau   der  normalen  Scheitelbeinfläche  ge- 


*)  von  Bramann,   Beitrag  zur  Prognose  der  Hirntumoren,     Verhand- 
lungen der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie.   1895. 


—     262     — 

legen  ist.  Im  Bereiche  der  muldenförmigen  Einsenkung  fehlt  das  knöcherne 
Schädeldach  vollkommen ,  und  das  überall  deutlich  pulsirende  Hirn  ist  nur 
von  der,  von  mehreren  Narben  durchzogenen  und  sehr  dünnen  Kopfschwarte 
bedeckt." 

Spastische  Lähmung  der  linken  Extremitäten,  in  der  unteren  Extremität 
nur  angedeutet,  aber  mit  erheblicher  Steigerung  dei*  Sehnenreflexe  dort. 

Hirnnerven:  AugenbeAvegungen  nach  allen  Seiten  frei,  aber  bei  Conver- 
genz  das  rechte  Auge  nur  minimal  mit  eingestellt.  Pupillen  bei  hellem  Tages- 
licht gleich,  bei  massiger  Beschattung  die  rechte  weiter.  Reaktion  links  auf 
Lichteinfall  prompt  und  ausgiebig;  rechts:  Reaktion  weniger  prompt  und  aus-  ' 
giebig,  aber  deutlich.  Rechts  ist  der  Visus  auf  Bewegungen  der  Hand  redu- 
cirt.  Augenhintergrund:  Reclits  sehr  deutliche  papillitische  Atrophie,  links 
Papille  anscheinend  gleichfalls  etwas  abgeblasst.  Facialis  in  der  Ruhe  links 
etwas  schlaffer  als  rechts,  Nasolabialfalte  verstrichen,  Mundwinkel  hängend, 
Stirnast  frei,  Augenschluss  beiderseits  gleich  kräftig.  Beim  Zähnezeigen, 
Pfeifen,  Mundspitzen,  Zungezeigen  die  Facialisdifferenz  zum  Theil  sich  aus- 
gleichend, jedenfalls  weniger  deutlich  als  in  der  Ruhe. 

Bei  Aufforderung  den  Kopf  ganz  gerade  zu  halten,  bleibt  er  ganz  wenig 
um  die  Horizontalachse  nach  rechts  gedreht,  ausserdem  minimal  um  die  Sagit- 
talachse  nach  links  geneigt  (rechtes  Ohr  höher).  Drehungen  um  die  Vertical- 
achse  auf  Aufforderungen  beiderseits  gleich,  dabei  das  Gefühl  als  ob  es  nach 
links  leichter  ginge. 

Sensibilität  obere  Extremität:  Berührung  mit  Watte  am  Arm  bis  etw^as 
oberhalb  des  Handgelenkes  fehlerlos  angegeben,  von  da  ab  ohne  deutliche  zu- 
nehmende Verschlechterung  gegen  das  distale  Ende  einzelne,  ■'•/ibis^/s,  ausge- 
lassen. Von  der  gleichen  Grenze  ab  auch  subjectiv  die  Empfindung  weniger 
deutlich  werdend.  Schmerzempfindlichkeit  bei  leichten  Nadelstichen  ohne 
Differenz  zwischen  Arm  und  Hand,  die  linke  Hand  eher  empfindlicher  als  die 
rechte.  iVuch  gegen  faradischen  Strom  die  linke  Hand  etwas  empfindlicher. 
Kopf  und  Spitze  der  Nadel  bis  zur  obigen  Grenze  sehr  prompt  unterschieden, 
von  da  ab  Kopf  zuweilen  ausgelassen.  Wärme  und  Kälte  bei  erheblicherer 
Differenz  bis  zu  den  Fingerkuppen  beiderseits  gut  unterschieden.  Localisation 
von  Berührung  an  allen  Fingern  rechts  innen  und  aussen  tadellos;  links  Feh- 
ler bis  zu  IY2  Finger  Breite.  Ungefähr  gleich  grosse  Störungen  bei  der  Auf- 
gabe, einen  bei  geschlossenen  Augen  berührten  Punkt  der  linken  Hand  nach 
Freigabe  der  Augen  mit  der  rechten  anzuzeigen,  dabei  noch  Fehler  in  der  Be- 
stimmung der  Fingerglieder. 

Tastversuch:  Rechts  ohne  Fehler,  links  Schlüssel  — ,  Ring —  Messer, 
Streichholz  — ,  Groschen  —  harter  Gegenstand;  passives  Vorbeischieben  der 
Gegenstände  an  den  Fingern  der  linken  Hand  verbessert  die  Erkennung  nicht. 
Geldstück  nicht  einmal  als  runder  Gegenstand  erkannt. 

Angaben  über  passive  Bewegungen:  Schulter  gut,  Ellenbogen  gut,  auch 
bei  geringen  Excursionen,  Handgelenk  nur  bei  groben  Excursionen.  Finger: 
Combinirte  Bewegungen  aller  Finger  im  Grundgelenk  noch  erkannt  bei  grossen 
Excursionen;    feinere  Bewegungen    der  einzelnen  Fingerglieder  gegeneinander 


—     263     — 

überhaupt  nicht  als  Bewegung  wahrgenommen.  Spontan  keine  Schmerzen ; 
nur  mitunter  todtes  Gefühl  und  Kriebeln  im  ganzen  Arm. 

Untere  Extremität:  Berührung  and  Schmerzempfindlichkeit  rechts  gleich 
links,  auch  am  Fuss  resp.  den  Zehen.  Passive  Bewegungen  werden  überall 
richtig  angegeben,  nur  solche  der  grossen  Zehe  links  zu  V4 — Va  fehlerhaft  an- 
gegeben, rechts  fehlerlos. 

Ueber  die  ferneren  Schicksale  des  Kranken  der  Beob.  IL  entnehme  ich 
der  angeführten  Mittheilung  des  Collegen  von  Bramann  Folgendes: 

„5  Monate  nach  der  3.  Operation  trat  ein  neuer  Tumor  im  hinteren  und 
medialen  TheildesSchädeldefectesundzugleich  an  den  Knochenrändern  selbst  auf 
und  zwang  zu  einer  4.  Operation,  die  sich  noch  eingreifender  gestaltete,  als 
die  drei  ersten,  indem  nicht  nur  das  Hirn  in  grosser  Ausdehnung  um  den  sehr 
tiefgehenden  Tumor  entfernt  wurde,  sondern  auch  nach  sehr  ausgedehnter 
Resection  des  Schädels  bis  ca.  3  cm  über  die  Mittellinie  nach  links  der  Sinus 
longitudinalis  nach  doppelter  Unterbindung  in  einer  Ausdehnung  von  ca.  7  cm 
Länge  resecirt  wurde.  Der  Wund  verlauf  gestaltete  sich  auch  dieses  Mal  günstig, 
so  dass  Patient  ca.  6  Wochen  später  mit  geheilter  Wunde  frei  von  Pvecidiv  aus 
der  Klinik  entlassen  werden  konnte.  Der  weitere  Verlauf  kann  leider  nur  nach 
Mittheilungen  der  Angehörigen  des  Patienten  berichtet  werden,  die  sich  kurz 
dahin  zusammenfassen  lassen,  dass  etwa  4  Monate  nach  der  4.  Operation  eine 
neue  Geschwulst  auf  dem  Hinterkopfe  und  ausserdem  ein  starker  Husten  mit 
reichlichem,  zum  Theil  blutig  gefärbtem  Auswurf  aufgetreten  sei.  Zugleich 
hatten  die  Lähmungserscheinungen  auf  der  linken  Körperseite  zugenommen,  die 
überaus  qualvollen  Krampfanfälle,  an  welchen  der  Patient  bei  den  früheren 
Recidiven  gelitten  hatte,  scheinen  aber  ausgeblieben  zu  sein.  Die  letzte  Ur- 
sache des  im  Frühjahr  1893  eingetretenen  Exitus  letalis  ist  allem  Anscheine 
nach  —  die  Section  hat  leider  nicht  gemacht  werden  können  —  in  ausgedehn- 
ten Metastasen  in  den  Lungen  zu  suchen!" 


XIV.    Ein  Beitrag  zur  Hiruchiriirgie. 

IL 
Ueber  hirnchirurgische  Misserfolge. 

Ein  klinischer  Vortrag. 

Es  sind  gerade  sieben  Semester  her  —  es  war  am  4.  Mai  1892  — , 
dass  ich  an  der  gleichen  Stelle  hier  einen  seither  publicirteu  klinischen 
Vortrag*)  hielt  über  zwei  Fälle  von  grossen  Hirntumoren,  die  von  Herrn 
Collegen  von  Bramann,  nachdem  sie  hier  richtig  diagnosticirt  worden 
waren,  glücklich  exstirpirt  worden  sind.  Die  Fälle  waren  ausgezeichnet 
nicht  nur  durch  den  glücklichen  Verlauf,  den  die  ganze  Angelegenheit 
genommen  hat,  sondern  insbesondere  auch  durch  die  ungewöhnliche 
Grösse,  die  die  Tumoren  hatten.  Der  eine  von  ihnen  wog  280  g,  so 
ziemlich  der  grösste  Hirntumor,  der  je,  noch  dazu  mit  Glück,  operirt 
worden  ist.  Gerade  dieser  Fall  ist  noch  heute  am  Leben  und  der 
Kranke  besorgt,  wenn  auch  halbseitig  gelähmt,  seine  Geschäfte  in  wün- 
schenswerther  Weise;  der  andere  hat  auch  die  Operation  glücklich 
überstanden,  ist  aber,  soviel  ich  weiss,  später  an  Rückfällen  zu  Grunde 
gegangen. 

Di<3se  Fälle,  die  damalige  Publication,  zeigten  uns  die  Lichtseiten 
dieser  ganzen  Materie,  aber  sie  hat  nicht  nur  Licht-,  sondern  auch 
Schattenseiten,  und  unsere  Aufgabe  ist  es,  die  Dinge  nicht  nur  einseitig, 
sondern  von  allen  Seiten  zu  betrachten,  damit  wir  in  zweifelhaften  Fällen 
luis  diagnostisch  zu  helfen  wissen. 

Ich  habe  schon  im  Sommer  vorigen  Jahres  auf  der  Versammlung 
südwestdeutscher  Psychiater  und  Neurologen  in  Baden-Baden  anlässlich 
eines  vom  Herrn  Collegen  Kraske  aus  Freiburg  gehaltenen  Vortrages 
über  einen  oder    zwei    unrichtig    diagnosticirte  Fälle    von   Hirntumoren 


*)  Siehe  oben  S.  247. 


—     265     — 

etwas  Aelinliches  ausgesprochen,  namentlich  darauf  hingewiesen,  wie  die 
bisherigen  Publicationen  doch  ein  recht  falsches  Bild  von  der  Wirklich- 
keit geben,  und  ich  benutze  nun  den  Krankheitsfall,  den  wir  heute  vor 
acht  Tagen  gesehen  haben  und  der,  wie  Sie  wissen,  am  vorigen  Sonn- 
tag obducirt  worden  ist,  um  einige  Bemerkungen  nach  dieser  Richtung 
hin  anzuknüpfen. 

Ich  möchte  mich  dabei  freilich  beschränken;  glauben  Sie  ja  nicht, 
dass  ich  die  Absicht  haben  könnte,  hier  auf  die  Symptomatologie  der 
Hirntumoren  und  überhaupt  derjenigen  Krankheiten,  die  zu  einem  Ein- 
griff in  die  Schädelhöhle  ermuntern  könnten,  sämmtlich  einzugehen. 
Und  ebenso  wenig  kann  es  mir  einfallen,  die  andere  Seite  der  Materie, 
die  sich  noch  darbietet,  nämlich  die  von  anderen  Autoren  geernteten 
und  publicirten  chirurgischen  Misserfolge,  eingehend  zu  behandeln.  Ich 
möchte  mich,  was  das  klinische  Material  anbetrifft,  darauf  beschränken, 
hier  von  einigen  Fällen  aus  meiner  eigenen  Erfahrung  zu 
sprechen,  welche  von  motorischen  Reizerscheinungen  von 
Seiten  des  Gehirns  unter  solchen  Umständen  begleitet  waren, 
dass  sie  uns  zu  einer  von  Misserfolg  begleiteten  Trepanati  on 
geführt  haben. 

Bevor  ich  jedoch  auf  diese  Casuistik  eingehe,  will  ich,  um  den- 
jenigen von  Ihnen,  die  nicht  ganz  vertraut  mit  der  Geschichte  der  Hirn- 
chirurgie sind,  mich  verständlich  zu  machen,  doch  noch  einige  für  diese 
Frage  nicht  uninteressante  physiologische  und  symptomatologische  That- 
sachen  vortragen. 

Den  Ausgangspunkt  dieser  ganzen  Lehre  von  der  Hirnlocalisation 
und  von  den  sich  darauf  gründenden  chirurgischen  Eingriffen  bildete, 
nachdem  schon  früher  H.  Jackson  darauf  aufmerksam  gemacht  hatte, 
dass  eine  solche  Localisation,  in  der  Gegend  der  Art.  men.  med.  unge- 
fähr, mit  Bezug  auf  die  motorischen  Erscheinungen  bestehen  müsse, 
eine  Arbeit,  die  ich  selbst  mit  Fritsch  im  Jahre  1870  publicirt  habe. 
Ich  will  des  Näheren  auf  diese  Arbeit  nicht  eingehen  und  will  nur  die 
hauptsächlichsten  Thatsachen,  um  die  es  sich  hier  handelt,  hervorheben. 
Wir  wiesen  damals  nach,  dass  durch  electrische  Reizung  bestimmter 
Partien  des  Gehirnes  Muskelzuckungen  auf  der  contralateralen  Seite  in 
einer  ganz  bestimmten  Weise  eintreten,  und  zwar  so,  dass  bestimmte 
Muskeln  auf  Reizung  bestimmter  Regionen  des  Gehirnes  antworten.  Die 
Sache  hatte  ihr  ganz  besonderes  Interesse  deswegen,  weil  bis  dahin  die 
Möglichkeit,  die  centralen  Nervenmassen  durch  andere  als  durch  orga- 
nische Reize  zu  erregen,  bestritten  wurde.  Wir  gaben  deshalb  damals 
unserer  Arbeit  den  Titel:    „Ueber  die  electrische  Erregbarkeit  des  Gross- 


—     266     — 

hirns."  JSlun  steht  aber  in  der  Arbeit  noch  sehr  viel  Anderes  als  das 
eben  Augeführte.  Insbesondere  ist  daselbst  schon  darauf  aufmerksam 
gemacht  worden,  dass  diese  Zuckungen,  von  denen  ich  eben  gesprochen 
habe,  Nachbewegungen  nach  sich  ziehen  können,  dass  hierbei  also,  wenn 
man  aufhört,  zu  reizen,  die  gereizten  Muskehi  weiter  zucken  können 
und  dass  von  ihnen  aus  sich  die  Reizerscheinuugen  auf  die  benachbarten 
Muskelgebiete  ausdehnen.  Das  ist  ja  gerade  diejenige  Thatsache, 
welche  für  die  Beurtheilung  der  sogenannten  rinden-epileptischen  Krämpfe 
von  entscheidendem  Interesse  ist,  und  ich  hebe  das  deswegen  hervor, 
weil  noch  neuerdings  z.  ß.  v.  Bergmann *)28)  die  Entdeckung  dieser 
Thatsachen  Ferrier  und  Luciani  mit  Unrecht  zugeschrieben  hat. 
Ausserdem  zeigten  wir  schon  damals,  dass  Exstirpation  oder  Ver- 
letzungen der  gleichen  Stellen  zu  lähmungsartigen  Erscheinungen  in 
denselben  Muskeln  (wenigstens  was  den  Hund  anbetrifft)  führten. 

Dann  habe  ich  in  meinem  Buche  eine  Abhandlung  publicirt**): 
„lieber  äquivalente  Regionen  am  Gehirn  des  Hundes,  des  Affen  und  des 
Menschen",  in  der  ich  weitere  Schlüsse  ziehen  konnte,  Schlüsse,  die  sich 
zum  Theil  gründeten  auf  meinen  noch  früher  zurückliegenden  Aufsatz: 
„üeber  einen  interessanten  Abscess  der  Hirnrinde".  In  dieser  Arbeit 
kam  ich  zu  dem  Schlüsse,  indem  ich  noch  anderweitiges  Material  heran- 
zog, einmal,  dass  die  Krämpfe,  von  denen  die  Rede  gewesen  ist,  sich  in 
bestimmter  Richtung  auf  der  Hirnoberfläche  verbreiteten,  und  zweitens, 
dass  die  Läsionen,  die  man  bis  dahin  kannte,  wenn  sie  den  oberen 
Theil  der  Centralwindungen  betrafen,  zu  einer  Lähmung  der  Extremi- 
täten, wenn  sie  den  unteren  Theil  betrafen,  zu  einer  Lähmung  des  Ge- 
sichts und  der  Zunge  führten.  Es  verstand  sich  von  selbst,  dass  man 
zu  jener  Zeit,  wo  das  mit  Bezug  auf  die  physiologischen  Unter- 
suchungen gesammelte  pathologische  Material  noch  sehr  gering  war, 
sich  darauf  beschränken  musste,  die  Thatsachen,  welche  man  aus  dem 
vorhandenen  Material  kennen  konnte,  einfach  als  solche  mitzutheilen 
und  sich  wohl  hüten  musste,  etwaige  generelle  Schlüsse  zu  ziehen  und 
mit  einer  Bestimmtheit  aufzutreten,  die  in  der  Natur  der  Sache  noch 
nicht  gegeben  war. 

Immerhin  sind  alle  diese  Dinge  in  den  soeben  angeführten  Ar- 
beiten schon  klar  und  deutlich  ausgesprochen.  Es  gereicht  mir  zu 
einer    grossen    Genugthuung,     dass    ein     so     hervorragender    Forscher 


*)   V.Bergmann,    Die   chirurgische  Behandhing  von  Hirnkrankheiten. 
2.  Aufl.   1889.   8.  157. 

**)  Siehe  oben  S.  170. 


—     267     — 

wie  Charcot*)  einige  Jahre  später  das,  was  ich  Ihnen  liier  ange- 
führt habe,  in  vollem  Maasse  anerkannt  hat.  "Wenn  Sie  erlauben,  lese 
ich  Ihnen  das,  was  er  am  Schlüsse  der  betreffenden  Arbeit,  die  mit 
Pitres  zusammen  publicirt  worden  ist,  darüber  sagt,  vor: 

„Les  observations  que  nous  avons  recueillies  confirment  par- 
faitement  les  conclusions  de  M.  Hitzig.  Elles  deraontrent  (jue 
les  lesions  destructives  limitees  siegeant  sur  les  deux  tiers  snpe- 
rieurs  des  circonvolutions  ascendantes  ou  sur  le  lobule  paracentral, 
determinent  une  paralysie  des  membres  du  cute  oppose  sans  para- 
lysie  de  la  face,  et  qu'au  contraire  les  lesions  destructives  limi- 
tees siegeant  siir  le  tiers  inferieur  des  circonvolutions  ascendantes, 
determinent  une  paralysie  du  cute  oppose  de  la  face  sans  paralysie 
des  membres." 

Nun,  es  geschieht  nicht  ganz  ohne  Grund,  dass  ich  Ihnen  alles 
dieses  zusammenfassend  anführe.  Diejenigen,  welche  meine  Vorlesungen 
besuchen,  wissen,  dass  es  mir  sehr  fern  liegt,  mich  meiner  Thaten  zu 
rühmen,  ebenso  wissen  diejenigen,  welche  sich  in  der  Literatur  der  Lo- 
calisationslehre  umgesehen  haben,  dass  ich  auch  da  nicht  gewohnt  bin, 
mehr  als  nöthig  von  mir  selbst  zu  sprechen.  Nachdem  es  aber  seit 
langer  Zeit,  leider  besonders  bei  unseren  deutschen  Landsleuten,  Mode 
geworden  ist,  das,  was  ich  doch  schliesslich  selbst  geleistet  habe,  An- 
deren zuzuschreiben,  sowohl  den  Autoren  selbst,  welche  schreiben,  als 
auch  dritten  Personen,  und  nachdem  ich  mir  das  lange  genug  habe  ge- 
fallen lassen,  erscheint  es  mir,  zumal  ich  in  diesem  Jahre  das  25jäh- 
rige  Jubiläum  dieser  Entdeckungen  feiere,  an  der  Zeit,  einmal  zu  sagen, 
was  mir  eigentlich  gehört.  — 

Ich  habe  dann  noch,  indem  ich  mich  soweit  beschränke,  einige 
Punkte  anzuführen,  welche  in  diagnostischer  Beziehung  insbesondere 
von  Gowers*''^')  hervorgehoben  worden  sind  und  uns  hier  besonders  inter- 
essiren. 

Zunächst  einmal  hat  Gowers  einen  sehr  wichtigen  Grundsatz  mit 
Bezug  auf  das  Verhältniss  von  Krampf  und  Lähmung  ausge- 
sprochen, den  wir  in  dem  vorliegenden  Falle  berücksichtigen  müssen. 
Er  sagt  nämlich:     Wenn  ein  bestimmtes  Muskelgebiet  krampft  und  ein 


*)  Charcot  et  Pitres,  Contributiou  ä  l'etude  des  localisations  dans 
l'ecorce  des  hemispheres  du  cerveau.  Revue  mensuelle  de  niedecine  et  de 
Chirurgie.    1877.   S.  450. 

**)   Gowers,  Handbuch  der  Nervenkrankheiten.   Bd.  6.   1892. 


—     268     — 

anderes  gelähmt  ist,  so  muss  man  die  Stelle  der  Läsion  nicht  in  dem 
krampfenden,  sondern  in  dem  gelähmten  Gebiete  snchen,  denn  es  ist 
sehr  möglich,  dass  ein  Tumor,  welcher  das  eine  Gebiet  zerstört  hat  und 
dort  eine  Lähmung  hervorbringt,  ein  benachbartes  Gebiet  reizt:  das  Um- 
gekehrte wäre  aber  wohl  nicht  möglich.  Wir  werden  darauf  noch  nach- 
her zurückzukommen  haben. 

Dann  führt  er  eine  andere  Regel  an,  der  man  gleichfalls  zustimmen 
muss,  er  sagt,  dass  man  auch  sonst  nicht  unter  allen  Umständen  den 
Sitz  des  Tumors  in  dem  krampfeuden  Gebiet  zu  suchen  habe.  Beispiels- 
weise wäre  es  möglich,  dass  ein  Kranker  an  Anfällen  von  Parästhesieu 
gelitten  hätte.  Sie  wissen  ja,  dass  sehr  häufig  diese  rinden-epileptischen 
Anfälle  damit  beginnen,  dass  die  Kranken  abnoi-me  Empfindungen  von 
Eingeschlafensein,  von  Kribbeln  u.  dgl.  in  einer  Extremität  oder  Th eilen 
derselben  haben  und  dass  sich  daran  nun  Krampfanfälle  schliessen. 
Gewöhnlich  treten  diese  in  denjenigen  Theilen  auf,  in  denen  vorher  die 
Parästhesieu  empfunden  wurden.  Aber  dies  ist  nicht  immer  der  Fall, 
es  kommt  beispielsweise  vor,  dass  die  Parästhesieu  in  den  Enden  der 
Extremitäten  beginnen,  dass  da  aber  keine  Krämpfe  erscheinen,  sondern 
nur  Krämpfe  in  den  grossen  Gelenken.  In  diesem  Falle,  sagt  Gowers 
mit  Recht,  wird  man  den  Sitz  des  Tumors  in  denjenigen  Gebieten 
zu  suchen  haben,  wo  die  Parästhesieu  zuerst  aufgetreten 
sind.  Der  Reiz  sei  dann  da  noch  nicht  stark  genug  gewesen,  um  zu 
Krämpfen  zu  führen.  Diese  Entwickelung  habe  er  erst  in  den  anderen, 
weiter  herauf  gelegenen  Gebieten  erlangt.  Auf  einen  anderen  Punkt 
macht  er  aufmerksam,  der  uns  gleichfalls  hier  interessirt,  nämlich,  dass 
sehr  leicht  Krämpfe  mit  dem  Ansehen  der  rindenepileptischen 
durch  Processe,  Tumoren,  welche  nicht  in  der  motorischen 
Region,  sondern  in  der  Nachbarschaft  liegen,  hervorgebracht 
werden  können.  In  diesem  Falle]  aber  würde  doch  voraussichtlich  der 
Verlauf  der  Krämpfe  in  den  einzelnen  Anfällen  nicht  immer  der  gleiche 
werden.  Wir  haben  neulich  davon  gesprochen,  dass  dieser  Verlauf  ja 
ein  recht  typischer  ist,  also  derart,  dass  immer  zunächst  diejenigen 
Muskeln  sich  in  Bewegung  setzen,  deren  Centren  dem  gereizten  Cen- 
trum entprechen  und  dass  sich  dann,  ohne  dass  etwa  Centren  über- 
sprungen werden,  die  Erregung  auf  der  Hirnrinde  weiter  ausbreitet. 

Maassgebend  für  unsere  gegenwärtige  Auffassung  von  der  Lagerung 
der  motorischen  Rindencentren  sind  die  von  Beevorund  Horsley  am 
Orang-Utang  (Fig.  26)  ausgeführten  Reizversuche.  Nach  diesen 
sind  zunächst  der  Mittellinie,  und  zwar  in  der  vorderen  Centralwindung, 
repräsentirt  die  Centreu  für  die  kleinen  Gelenke  der  unteren  Extremität. 


—     269     — 

Dann  folgen  die  liinervationsgebiete  für  die  grossen  Gelenke,  erst  der 
gleichen,  daini  der  oberen  Extremität,  weiter  abwärts  diejenigen  für  das 
Handgelenk  und  die  Finger,  dann  die  Centren  für  Augen-  und  Kopf- 
bewegungen, während  der  laterale  Theil  der  vorderen  Centralwindung 
der  Innervation  der  mimischen  und  masticatorischen  und  Sprachmuscu- 
latur  dient.  Die  hintere  Centralwindung  erscheint  nur  wenig  an  der 
motorischen  Innervation  betheiligt. 

Es  ist  nicht  uninteressant,  hiermit  die  Abbildung  zu  vergleichen, 
welche  ich  meiner  oben  citirten  Abhandlung  über  Reizversuche  am  Ge- 
hirn des  Cercopithecus  beigegeben  habe. 

Also  wenn  Sie  annehmen,  dass  beispielsweise  die  Gegend  der  Finger 
zuerst  gereizt  wurde  und  zuckte,  dann  würde  sich  der  Krampf  aus- 
dehnen können  auf  die  grossen  Geletdce  des  Arms,  dann  auf  das  Bein, 
gleichzeitig  aber  auch  auf  das  Gesicht.  Das  wäre  ja  denkbar.  Oder 
wenn  die  Zehen  des  Fusses  zuerst  sich  in  Bewegung  setzen,  so  würde 
der  Krampf  sich  weiter  ausdehnen  können  auf  die  grossen  Gelenke  des 
Beins,    den  Arm  und  das  Gesicht.     Aber  es  ist   im  Allgemeinen  ausge- 


Fig.  26. 


schlössen,  dass  der  Krampf  im  Gesicht  und  der  Zunge  beginnt  und  dann 
den  Arm  überspringt  und  auf  das  Bein  gleich  übergeht,  sofern  der 
reizende  Fremdkörper  seinen  Sitz  nämlich  wirklich  in  der  motorischen 
Region  hat.  Ist  das  nicht  der  P'all,  so  können  auch  rindenepileptische 
Krämpfe  entstehen,  aber  sie  sind  dann  nicht  gebunden  an  die  typische 
Verbreitungsweise,  wie  ich  sie  eben  geschildert  habe. 


—     270     — 

Ausserdem  giebt  es  noch  andere  Fern  Wirkungen,  die  wir  bei 
der  Localisation  von  Tumoren  in  Rechnung  stellen  müssen.  Also  ein- 
mal handelt  es  sieh  dabei  um  die  Mitbetheiligung  von  basalen  Nerven, 
unter  denen  eine  besondere  Rolle  spielen  die  Augenmuskelnerven, 
und  unter  ihnen  besonders  der  Nervus  abducens.  Durch  irgend  welche 
raumbeschränkende  Vorgänge  innerhalb  der  Schädelhöhle  können  die 
Nerven  auf  weite  Entfernung  gedrückt  werden  und  ihre  Function  ent- 
weder theilweise  oder  gänzlich  einstellen. 

Ein  anderes  Moment  besteht  in  der  Berücksichtigung  der  vor- 
handenen oder  nicht  vorhandenen  Contractur,  also  anderweitiger  Reiz- 
erscheinungen. Wissen  w'ir-  doch,  dass  solche  Contracturen  immer  ent- 
stehen, wenn  auf  irgend  eine  Weise  die  corticomusculäre  Bahn  von  der 
inneren  Kapsel  an  unterbrochen  ist,  sei  es,  dass  ein  Tumor  oder  ein 
anderer  Process  da  Platz  gegriffen  hat. 

Die  Contracturen  können  aber  auch  entstehen,  wenn  die  Rinde  be- 
leidigt ist,  nur  müssen  sie  nicht  dabei  entstehen.  Also  das  Vorhanden- 
sein dieses  Symptoms  scheint  mehr  zu  beweisen  als  das  Fehlen.  Wir 
werden  aber  alsbald  sehen.  dass  auch  das  Fehlen  der  Con- 
tractur nichts  gegen  einen  Sitz  des  Tumors  in  dem  subcorticalen  Gebiet 
der  motorischen  Region  beweist. 

Wenn  wir  nun  zunächst  auf  den  Krankheitsfall  eingehen,  der  uns 
jetzt  beschäftigt,  so  erlauben  Sie  mir,  dass  ich  Ihnen  noch  einmal  kurz 
recapitulire,  um  was  es  sich  bei  ihm  gehandelt  hat. 


I.  Beobachtung. 

X.,  34  .Jahre  alter  Maschinenwärter. 

Mehrere  Kopftraumen,  das  letzte  vor  8  Jahren,  schwerer  Schlag  mit 
einem  Hammer  an  die  linke  Orbita,  Ohnmacht. 

Beginn  der  Krankheit  Anfangs  d.  J.  mit  Anfällen  von  Schwäche  und 
Zuckungen  in  den  grossen  Gelenken  des  rechten  Armes.  Tremor  in  der  Hand. 
Unmittelbar  nachher  kurzer  Drehschwindel  und  Trübung  des  Bewusstseins,  6 
bis  8  Wochen  lang  täglich  Anfälle  2—3  Minuten  lang.  Zu  der  Zeit  keine 
Kopfschmerzen,  kein  Erbrechen,  dagegen  dauernd  Schwäche  im 
rephten  Arm,  Kopfschmerzen  erst  seit  6  Wochen  von  der  linken  Nacken- 
seite bis  ins  Auge,  am  heftigsten  in  der  Schläfe.  Schwäche  im  rech- 
ten Bein  schnell  zunehmend  seit  derselben  Zeit.  Immer  noch  kein  Er- 
brechen. 

Status  praes.  15.  Juli  1895.  5  kleine  Narben,  davon  4  am  linken 
Vorderkopf. 

Pupillen:  Linke  etwas  weiter,  Lichtreaction  beiderseits  träge.  Keine 
Stauungspapille.    R.  Facialis  eine  Spur  schwächer.  R.  Arm.   Deutliche 


—     271     — 

Parese  in  den  grossen  Gelenlven,  keine  in  den  kleinen  Gelenken.  R.  Bein. 
Hochgradige  Parese  des  rechten  Beins,  in  den  kleinen  Gelenken  eher  stärker. 

Gang  hemiplegisch. 

Sehnenreflexe  verstärkt,  Fussclonus. 

Verlauf  während  der  dreitägigen  klinischen  Beobachtung:  Wiederholte 
Anfälle  von  Krämpfen,  beginnend  in  den  grossen  Gelenken  des  rechten  Arnris, 
dann  im  Bein,  nicht  im  Gesicht  oder  auf  der  anderen  Seite  (durch  den  Wärter 
beobachtet).  Pat.  will  eines  Nachts  einen  Anfall  von  allgemeinen  Krämpfen 
gehabt  haben,  die  im  rechten  Arm  anfingen.   Kopfschmerzen. 

Ich  habe  den  Kranken  wiederholt  zum  Gegenstand  der  klinischen  Erörte- 
rung gemacht;  vor  seiner  Ueberführung  in  die  chirurgische  Klinik  lenkte  ich, 
neben  genauer  Aufnahme  des  anderweitigen  Status,  Ihre  Aufmerksamkeit  vor- 
zugsweise darauf,  dass  in  der  oberen  Extremität  feinere  Pingerbewegungen 
rechts  ebenso  gut  und  schnell  auszuführen  waren  als  links,  während  die  Be- 
Avegungen  im  rechten  Schultergelenk  sehr  viel  langsamer  und  viel  weniger  aus- 
giebig ausgeführt  wurden  als  im  linken  und  der  erhobene  Arm  bald  lebhaft  zu 
zittern  anfing  und  herabsank.  Andererseits  zeigte  ich  Ihnen,  dass  an  der 
unteren  Extremität  Bewegungen  der  Gelenke,  der  Zehen  und  des  Fusses  fast 
gänzlich  ausfielen,  während  die,  wenn  auch  hochgradig  beeinträchtigten  Be- 
wegungen im  Hüft-  und  Kniegelenk  doch  noch  soweit  möglich  waren,  dass 
der  liegende  Kranke  das  gestreckte  Bein  von  der  Unterlage  zu  erheben  ver- 
mochte. 

Bei  der  ausführlichen  Besprechung,  auf  deren  Einzelheiten  ich  später  zu- 
rückkommen werde,  wurde  wegen  der  vorangegangenen  Kopfverletzung  dieVer- 
muthung  ausgesprochen,  dass  es  sich  um  ein  Sarkom  handeln  möchte. 

In  der  chirurgischen  Klinik.    Wiederholt  Anfälle.    Kopfschmerzen. 

30.  Juli  1895.   Operation. 

Umschneidung  eines  Hautlappens,  der  die  Centralfurche  einschliesst,  mit 
der  Basis  dicht  neben  der  Sagittalnaht  gelegen,  5  cm  breit,  7  cm  lang,  mit 
derSpitze  etwas  nach  vorn  gerichtet.  Durchsägung  des  Knochens  mit  der  elec- 
trischen  Kreissäge.  Die  in  Kreuzform  durchschnittene  Dura  verdickt,  sonst 
nicht  abnorm.  Das  Hirn  drängt  sich  stark  hervor,  lässt  aber  keine  anderen 
Anomalien  wahrnehmen  als  eine  vermehrte  Consistenz  und  deutliches  Fluctua- 
tionsgefühl  bei  der  Palpation.  Punction  bis  auf  5  cm  Tiefe  ergiebt  gleichfalls 
kein  Resultat.  Auf  Reizung  mit  dem  Inductionsstrom,  an  der  vorderen  Grenze 
der  Wunde,  treten  Zuckungen  in  den  contralateralen  Muskeln  der  Extremitäten 
auf.  Nunmehr  wird  nach  vorn  zu  ein  zweiter  Hautknochenlappen  gebildet. 

Nachdem  auch  hier  ein  Tumor  nicht  gefunden  wurde,  wurde  eineincision 
von  6  cm  Länge  und  IV2  cm  Tiefe  im  Niveau  der  vorderen  Centralwindung 
gemacht,  ohne  dass  man  jedoch  auf  Tumormassen  stiess.  Nachher  vollkommene 
motorische  und  sensible  Paralyse.  Letztere  verliert  sich  bald.  Die  Heilung  ver- 
lief ohne  Störung. 

Wiederaufnahme  19.  August. 

Stat.  praes.:   Stauungspapille  beiderseits,  links  stärker,  progressiv. 


—     272     — 

Kopfschmerzen.  Schmerzen  im  rechten  Oberschenkel.  Wiederholte 
Krampfanfälle  im  linken  Bein  oder  in  beiden  Beinen,  links  beginnend,  mit 
Erbrechen,  Urinabgang,  Benommenheit,  allmählich  zunehmend,  Er- 
brechen nüchtern. 

2.  November:   Exitus. 

Nachdem  ich  Ihnen  den  Kranken  am  30.  October  nochmals  kurz  demon- 
strirt  hatte,  erläuterte  ich  meine  Auffassung  des  Falles  am  2.  November  nach 
dem  Tode  and  vor  der  Autopsie  wiederholt  in  ausführlicher  Weise.  Ich  hebe 
daraus  nur  hervor,  dass  ich  damals  mit  Rücksicht  auf  das  negative  Ergebniss 
der  Operation  und  das  Auftreten  der  linksseitigen  Krämpfe  die  Vermuthung 
aussprach,  der  Tumor  möge  seinen  Sitz  an  der  medialen  Fläche  haben  und  auf 
diese  Weise  die  rechtsseitigen  Innervationsgebiete  für  das  linke  Bein  gereizt 
haben.  Die  fernere  Ann  ahme,  dass  die  anfänglich  regelmässig  im  rechten  Ober- 
arme beginnenden  Krämpfe  als  Fernwirkung  durch  Druck  des  Tumors  gegen 
die  betreffenden  Kindengebiete  aufzufassen  sei,  erkläre  zwar  diese  Vorgänge, 
habe  aber  insofern  etwas  Gezwungenes,  als  die  Krämpfe  in  diesem  Falle  nach 
der  bisherigen  Annahme  nicht  mit  der  hier  beobachteten  R,egelmässigkeit  von 
demselben  Centralgebiet  aufzutreten  pflegten. 

Autopsie  am  3.  November  1895. 

Schädeldach  zeigt  links  zwei  vollkommen  eingeheilte,  an  der  Innen- 
fläche mit  Resorptionsgrübchen  versehene,  trepanirte  Knochenstücke;  die 
innere  Tafel  bereits  theilweise  knöchern  verbunden,  Dura  etwas  gespannt,  Gyri 
stark  abgeflacht,  Oberfläche  trocken,  Falx  mit  der  linken  Hemisphäre  leicht  ver- 
wachsen. 

Die  medialen  Windungen  der  linken  Hemisphäre  treten  in  Gestalt  eines 
flachen,  noch  von  einer  dünnen  Hirnschicht  bedeckten  Tumors  weit  über  die 
Medianlinie  vor.  An  der  Basis  drängt  sich  gleichfalls  der  vor  dem  Chiasma 
gelegene  Theil  des  linken  Gyrus  rectus  vor.  Brücke  stark  abgeplattet,  beide 
Oculomotorii  und  beide  Abducentes  abgeplattet  und  von  grau-gelber  Farbe. 

Die  mediale  Fläche  der  linken  Hemisphäre  wird  durch  eine  aus  mehrerea 
Lappen  bestehende  Tumormasse  stark  nach  rechts  vorgewölbt.  Die  Geschwulst 
nimmt  etwas  mehr  als  die  vordere  Hälfte  der  linken  Hemisphäre  ein  und  dringt 
mit  ihrer  vorderen  Partie,  ca.  2  cm  vom  vorderen  Rande  des  Balkenknies  ent- 
fernt, weit  in  den  Balken  vor.  Die  vordere  Grenze  des  Tumors  liegt  ca.  lYgCi^i 
von  der  Spitze  des  Stirnlappens  entfernt;  die  hintere  Grenze,  soweit  bestimm- 
bar, liegt  ca.  2Y2  cm  vor  dem  hinteren  Rand  des  Spleniums. 

Pia  mater  ist  zum  Theil  nur  schwer,  besonders  von  den  oberen  Windun- 
gen des  rechten  Stirnhirns  abzulösen. 

Es  wird  ein  Frontalschnitt  gelegt  durch  das  vordere  Ende  des  Thalamus 
opticus.  Man  sieht  jetzt  die  höckerigen  Tumormassen  in  den  Längsspalt  des 
Gehirnes  weit  hineinragen.  Auf  dem  Querschnitt  ist  eine  Partie  des  Tumors 
getroffen,  welche  bei  gelbrother  Färbung  mehrfach  frische  Hämorrhagien  ent- 
hält. Durch  die  Geschwulst  ist  das  Lumen  des  linken  Seitenventrikels  auf 
einen  schmalen  Spalt  zusammengedrängt.   DerBalken  und  die  Gewölbschenkel 


—     273     — 

sind  nach  rechts  herüber  gedrängt.  Die  innere  Kapsel  und  die  grossen  Gang- 
lien, namentlich  der  Thalamus  links,  sind  conaprimirt. 

Ein  schräger  Sagittalschnitt  von  oben  innen  nach  unten  aussen  durch 
den  Tumor  zeigt,  dass  die  Tumormasse  aus  einer  nach  der  Mittellinie  zu  ge- 
legenen, gelb-röthlichen  und  einer  nach  aussen  gelegenen  blasseren  Partie 
besteht. 

Die  Rinde  des  Stirnhirns  ist  vorn  nicht  verändert,  wenn  auch  der  Tumor 
bis  an  die  Rinde  heranreicht.  Dagegen  ist  die  Rinde  im  Gebiet  der  medialen 
Fläche  des  Stirnlappens  bezw.  Scheitellappens  vielfach  von  Blutungen 
durchsetzt. 

Bei  der  Localisatiousdiagnose,  die  wir  für  den  chirurgischen  Zweck 
zu  stellen  hatten,  raussten  wir  folgende  üeberlegungen  machen.  Zu- 
nächst war  die  Frage  die:  um  was  handelt  es  sich,  um  einen  Tumor 
oder  nicht?  Dagegen  konnte  sprechen,  dass  der  Kranke  relativ  wenig 
Allgemeinerscheinungen  hatte;  er  hatte  ja  lauge  Zeit  hindurch  nicht 
einmal  Kopfschmerzen  gehabt.  Damals  hat  er  allerdings  bei  den  An- 
fällen etwas  Schwindel  gehabt,  aber  keine  Stanungspapille,  kein  Er- 
brechen, keine  Pulsverlaugsamung.  Nichtsdestoweniger  konnten  wir  die 
Diagnose  mit  sehr  grosser  Sicherheit  auf  einen  Tumor  stellen,  wegen 
der  langsamen  Entwickelung,  wegen  der  charakteristischen  rinden-epi- 
leptischen  Krämpfe  und  wegen  der  Kopfschmerzen,  die  sich  allmählich 
eingestellt  hatten. 

Die  zweite  Frage  war  die,  wo  denn  der  Tumor,  wenn  wir  ihn 
anzunehmen  hatten,  seinen  Sitz  hatte?  Diese  Diagnose  war  nun 
schon  ein  Theil  schwieriger,  und  Sie  .  haben  sich  überzeugt,  dass  wir 
uns  dabei  zunächst  geirrt  haben.  Die  Ueberlegung,  die  wir  machten, 
war  folgende:  Der  Kranke  hat  zuerst  keine  Allgemeinerscheinungen 
gehabt,  die  Krankheit  hat  sofort  begonnen  mit  Localerscheinungen. 

Dies  sprach  an  und  für  sich  dafür,  dass  der  Tumor  seinen  Sitz 
innerhalb  der  Centralwindungen  hatte.  Sass  er  ausserhalb  der  Central- 
windungen  und  hatte  durch  Druck  die  entfernt  liegenden  Centren  zu 
den  Krämpfen  gereizt  und  die  Lähmung  producirt,  so  musste  er  schon 
ziemlich  gross  geworden  sein  und  dann  würde  er  aller  Wahrscheinlich- 
keit nach  zu  einer  Stauungspapille  und  anderen  Allgemeinerscheinungen 
geführt  haben.  Da  diese  fehlten,  waren  wir  eben  zu  dem  angeführten 
Schlüsse  genöthigt. 

Wenn  er  nun  in  den  Centrahvindungen  seinen  Sitz  hatte,  war  es 
wahrscheinlich,  dass  er  ausgegangen  war  von  denjenigen  Gebieten,  von 
denen  aus  die  Muskeln,  die  die  grossen  Gelenke  des  Arms  bewegen, 
innervirt    werden.     Dies    wäre    also    der  obere  Theil  des  Armcentrums. 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     I.  TlieiJ.  18 


—     274     — 

Nun  war  beim  Eintritt  des  Kranken  in  die  hiesige  Beobachtung  das 
Bein  stärker  gelähmt,  welches  zuerst  gar  nicht  gelähmt  gewesen  w^ar, 
es  war  also  daraus  zu  schliessen,  dass  der  Tumor  beim  Weiterwachsen 
sich  mehr  in  das  benachbarte  Beincentrum  ausgedehnt  hatte.  Immer- 
hin war  es  auffallend,  dass  dann  nicht  die  benachbarten  grossen  Ge- 
lenke des  Beines  stärker  betroffen  waren,  sondern  die  kleinen:  die 
Zehenbewegungen  waren  am  meisten  beschränkt. 

Nun,  auf  ein  solches  Detail  kann  man  keine  Rücksicht  nehmen, 
hier  um  so  weniger,  als  das  Operationsfeld  ohnehin  die  Gegend  des 
Arm-  und  Beincentrums  gemeinsam  umfassen  musste.  Nach  Eröffnung 
des  Schädels  fand  mau  Erscheinungen  eines  Tumors.  Die  Dura  war 
ungeheuer  gespannt,  das  Gehirn  drängte  sich  gleich  vor.  Die  Hirnober- 
fläche war  platt  gedrückt,  der  palpirende  Finger  hatte  die  Empfindung 
der  Fluctuation.  Aber  an  der  fraglichen  Stelle  war  nicht  die  Spur 
eines  Tumoi'S.  Ein  Einschnitt  in  die  Rinde,  den  Herr  Prof.  v.  Br  am  an  n 
ausführte,  ergab  auch  nichts.  Die  Wunde  wurde  wieder  geschlossen 
und  die  herausgemeisselten  Stücke  sind  wunderschön  eingeheilt.  Nach- 
dem der  Kranke  dann  von  der  Operation  wieder  genesen  war,  wurde  er 
uns  wieder  zugeführt  und  am  19./Vni.  hier  wieder  aufgenommen.  Bei 
der  Untersuchung  hier  hatte  er  nun  eine  hochgradige  Stauungspapille 
• —  links  stärker  — ,  die  progressiv  war.  Dann  klagte  er  über  heftige 
Kopfschmerzen,  heftige  Schmerzen  im  rechten  Oberschenkel  und  nmi 
gab  es  hier  wiederholte  Anfälle,  die  jetzt  aber  nicht  die  rechte,  sondern 
die  linke  Seite,  insbesondere  das  linke  Bein  betrafen,  oder  doppelseitig 
waren,  oder  allgemein  und  dann  in  den  Beinen  beginnend.  Dabei  hatte 
der  Kranke  Erbrechen,  unwillkürlichen  ürinabgang.  Er  wurde  allmählich 
benommen,  erbrach  vielfach  nüchtern.  Am  30. /X.  stellte  ich  ihn  hier 
vor  und  am  2. /XL  starb  er. 

Damals,  als  ich  hier  mit  Ihnen  über  den  Fall  sprach,  hatte  ich 
meine  Diagnose  nun  insofern  etwas  geändert,  als  ich  mit  Rücksicht 
darauf,  dass  die  Krämpfe  nun  vorwiegend  im  linken  Bein  auftraten, 
annehmen  zu  müssen  glaubte,  dass  der  Lobulus  paracentralis,  der  ja, 
wie  Sie  wissen,  an  der  medialen  Fläche  des  Gehirns  liegt,  und  ja  auch 
mit  der  Innervation  des  Beins  zu  thun  hat,  befallen  sei,  und  dass  der 
nunmehr  stärker  gewachsene  Tumor  die  Beinregion  der  anderen  Hemi- 
sphäre gereizt  hatte.  Natürlich  sprach  das,  was  jetzt  vorhanden  war, 
ja  noch  nicht  dafür,  dass  ganz  genau  die  gleichen  Verhältnisse  in  einer 
früheren  Periode,  wo  andere  Symptome  vorhanden  gewesen,  bestanden 
hatten.  Nun  haben  wir  in  der  That  einen  sehr  grossen  Tumor  ge- 
funden. Ich  will  zunächst  einmal,  um  Ihnen  einen  üeberblick  über  die 
Sache  zu  geben,  ein  Diapositiv  zeigen.    (S.  Fig.  27.)    Sie  sehen  also  hier 


—     275     — 

einen  sehr  grossen  Tumor,  dei-  den  Rmidwulst  der  Hemispliären,  ins- 
l)esondere  der  Centralwindungen  nach  oben  gedrängt  hat.  I)i(!snr  Tumor 
hat    seinen  Sitz    erstens   und  hauptsächlich  in  dem  Centrum  somiovale. 


Fig.  27  "■'•).    Hintere  Schnittfläclio,  von  vorne  gesehen. 

Dann  ist  er  nach  innen  hin  gewachsen  und  hat  hier  den  Lobulus  para- 
centralis  und  den  Gyrus  fornicatus  in  seinen  Bereich  gezogen  und  zum 
Theil  zerstört. 

Sie  sehen  nun  aber  Folgendes:  Erstens,  dass  der  Tumor  hier  in 
hohem  Grade  verdrängend  gewirkt  hat.  Die  ganze  obere  Partie,  also 
die  Gegend,  w'o  die  eigentlichen  Centren  der  Centralwindungen  liegen, 
ist  nach  oben  gedrängt  und  nicht  zerstört,  und  dann  sind  auch  die 
Leitungsbahnen,  die  von  dort  aus  nach  der  inneren  Kapsel  führen,  bei 
Seite  gedrängt  und  nicht  zerstört.  Der  Balken  aber  ist  in  den  Bereich 
der  Zerstörung  mit  hineingezogen.  Nun  reicht  der  Tumor  nach  vorn 
bis  dicht  an  die  Spitze  des  Stirnhirns,  und  nach  hinten  reicht  er  un- 
gefähr an  die  hintere  Grenze  der  vorderen  Centralwindung.  Ich  habe 
die  Dura  übrigens  auf  dem  Gehirn  an  den  Stellen,  wo  trepanirt  worden 
ist,  nicht  abgelöst,  so  dass  Sie  sehen,  dass  man  bei  der  Operation  die 
gewollte  Stelle  richtig  getroffen  hat.  Man  kann  aus  der  Beschaffenheit 
des  Tumors,    welcher   sich  im  üebrigen  als  ein  Sarkom  producirt,    un- 


*)  Es  ist  nicht  ohne  Interesse,  dass  die  Photographie  auch  in  diesem 
Falle  mehr  zeigt,  als  das  blosse  Auge.  Die  besonders  comprimirten  Windungen 
zeigen  auf  der  Photographie  ein  eigenthümliches  glasiges  Aussehen. 

18* 


—     276     — 

schwer  erkennen,  dass  er  ursprünglich  zuerst  nicht  in  der  Rinde,  sondern 
in  dem  Centrum  semiovale  gelegen  hat.  Nämlich  in  seinem  Centrum, 
welches  weiter  nach  vorn,  nach  dem  Stirnlappen  zu  liegt,  zeigt  er  eine 
jetzt  grauliche,  früher  gelbliche  Beschaffenheit,  das  sind  also  ent- 
schieden die  ältesten  Theile,  während  er  in  der  Gegend  der  Central - 
Windungen  und  der  Gegend  des  Lobulus  paracentralis  frische  Blutungen 
zeigt  und  gerade  der  Lobulus  paracentralis  noch  die  graue  Hirnrinde, 
wenn  auch  sehr  stark  verändert,  erkennen  lässt.  Wir  haben  es  also 
factisch  zu  thun  gehabt  gar  nicht,  wie  wir  annahmen,  mit  einem  Tumor 
der  Rinde,  sondern  mit  einem  Tumor  der  weissen  Substanz.  Der  dia- 
gnostische Irrthum  hat  hier-  nicht  weiter  geschadet.  Der  Tumor  wäre 
nicht  zu  exstirpiren  gewesen,  er  war  damals  schon  zu  gross,  so  dass, 
wenn  man  ihn  hätte  herausnehmen  wollen,  der  Kranke  unzweifelhaft 
dabei  geblieben  wäre.  Nun  giebt  es  eine  Anzahl  von  bemerkeus- 
werthen  Punkten  und  von  diagnostischen  Lehren,  die  wir  daraus 
ziehen  können.  Zunächst  einmal  handelt  es  sich  um  das  Verhalten 
der  AUgeineinerscheinungen.  NB.  Ich  will  noch  nachtragen,  der  Tumor 
hat  eine  Länge  von  9  cm  und  eine  Breite  von  6,5  cm;  also  ein  riesiger 
Tumor. 

Sie  haben  gesehen,  dass  ungeachtet  der  ungeheueren  Dimensionen, 
die  der  Tumor  gehabt  hat  und  die  jedenfalls  zu  der  Zeit  der  Operation 
auch  schon  recht  erhebliche  waren,  die  Allgemeinsymptome  verhältniss- 
mässig  sehr  geringe  waren.  Da  ist  zunächst  eine  erste  Periode  zu 
unterscheiden,  in  der  eigentlich  gar  keine  Allgemeinsymptome  waren, 
aber  es  waren  erhebliche  Herdsymptome  vorhanden.  Patient  hat  damals 
lauter  Symptome  gehabt,  die  auf  die  Rinde  und  zwar  auf  die  Rinde 
der  Centralwindungen  hinwiesen.  Li  der  That  wird  das  immer  als  ein 
diagnostisches  Moment  angeführt:  Fehlen  der  Allgemeinerscheinungen, 
Vorhandensein  von  Herdsymptomen  spricht  für  eine  Rindenläsion.  Hier 
in  diesem  Falle  hat  es  sich  also  umgekehrt  verhalten.  Nachher  kommt 
eine  zweite  Periode,  bei  der  als  einzige  Allgemeinerscheinung  Kopf- 
schmerzen eingetreten  sind  und  erst  nachdem  der  Kranke  schon  operirt 
worden  ist,  da  kommen  die  Stauungspapillen  und  das  Erbrechen.  Nun, 
Sie  wissen  ja,  eine  wie  grosse  Rolle  die  Stauungspapille  bei  unserer 
diagnostischen  Aufgabe  spielt,  aber  auch  dieser  Fall  kann  Sie  wie- 
der belehren,  dass,  so  wichtig  das  Vorhandensein  der  Stauungspapille 
ist,  ihr  Fehlen  gar  nichts  beweist.  Das  ist  eine  Thatsache,  die  mir 
freilich  geläufig  ist;  ein  Fall,  den  ich  einst  gesehen  habe  und  der 
mir  immer  unvergesslich  bleiben  wird,  betraf  einen  faustgrossen  Echino- 
coccus in  dem  Seitenventrikel,  der  bei  Lebzeiten  keine  Stauungspapille 
gemacht  hatte.    Ich  hatte  damals  mich  durch  das  Fehlen  der  Stauungs- 


—     277     — 

papille    verleiten   lassen,    einen  Tumor  auszuschliessen.     Das  liegt  al)er 
viele  Jahre  zurück. 

Was  das  Verhalten  der  Herderscheinnngen  angeht,  so  haben  Sie 
vorher  gehört,  dass  das  typische  Auftreten  der  Krämpfe  gleichfalls  als 
charakteristisch  für  eine  Rindenläsion  angesehen  wird.  Nun,  wir  hatten 
hier  ein  typisches  Auftreten  und  doch  handelte  es  sich  um  eine  Fern- 
wirkung, denn  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  hatte  zu  der  Zeit,  wo  die 
Krämpfe  in  dem  Arme  auftraten,  der  Tumor  die  Gegend  der  Central- 
windungen  noch  nicht  erreicht. 

Dann  haben  war  vorher  die  Ansicht  von  Gowers  erwähnt  mit 
Bezug  auf  das  Verhalten  von  Lähmung  und  Krampf  zu  einander.  Sie 
sehen,  dass  diese  Ansicht  sich  auch  nicht  so  ohne  Weiteres  auf  unseren 
Fall  anwenden  lässt.  Hier  bei  uns  hatte  der  Kranke  ja  allerdings,  als 
er  uns  zu  Gesichte  kam,  eine  stärkere  Lähmung  in  dem  nicht  krampfenden 
Gebiete,  in  den  Beinen,  und  man  hätte  deswegen  ja  die  Diagnose  auf 
den  Sitz  in  dem  Beincentrum  stellen  können,  während  wir  den  Sitz  in 
dem  Armcentrum  suchten.  Aber  vergessen  Sie  nicht,  dass  während 
einer  langen  ersten  Periode  Lähmung  und  Krampf  lediglich  in  dem  Arm 
ihren  Sitz  hatten.  Das  Bein  wurde  erst  lange  nachher  betroffen.  Also 
auch  dieses  differentielldiagnostische  Symptom  kann  nur  mit  Vorsicht 
benutzt  werden,  denn  schliesslich  sass  der  Herd  weder  in  dem  Arm- 
noch  in  dem  Beincentrum.  Was  die  Betheiligung  des  anderen  Beins 
betrifft,  so  habe  ich  Ihnen  das  Nothw'endigste  darüber  bereits  gesagt. 
Ich  wiederhole  also  hier  nur  kurz,  dass  der  Krampf  durch  den  Reiz 
ausgelöst  wurde,  den  der  linksseitige  Tumor  auf  den  rechten,  übrigens 
unversehrten  Lobulus  paracentralis  ausübte. 

Dann  giebt  es  noch  zwei  Punkte,  auf  die  ich  eingehen  will:  Erstens 
hat  mau  gesagt,  und  zwar  ist  das  auch  eine  Lehre  von  Gowers,  man 
solle  sich  bei  der  Stellung  der  Localdiagnose  nicht  dadurch  beeinflussen 
lassen,  dass  die  unteren  Enden  der  Extremitäten  mehr  gelähmt  sind. 
Das  sei  bei  allen  cerebralen  Lähmungen  der  Fall.  Also  mit  anderen 
Worten:  Es  könne  sehr  wohl  ein  Tumor  in  den  Centren  für  die  grossen 
Gelenke  sitzen  und  doch  die  Lähmung  der  kleinen  stärker  sein.  In 
diesem  Falle  haben  Sie  gesehen,  dass  der  Vordersatz  nicht  durchgehend 
richtig  ist.  Im  vorliegenden  Fall  waren  die  grossen  Gelenke  des  Armes 
ziemlich  stark  gelähmt  und  die  kleinen  noch  ganz  frei.  Dann  ein  letzter 
Punkt  ist  der,  dass,  wie  ich  vorher  sagte,  gewöhnlich,  wenn  der  Tumor 
in  den  weissen  Markmassen  sitzt  und  dann  natürlich  auch  die  Stamm- 
strahlung und  die  innere  Kapsel  zu  beleidigen  pflegt,  auch  Contracturen 
vorhanden  sind.  Auch  das  trifft  in  dem  vorliegenden  Fall  nicht  zu. 
Dafür    haben    wir   ja    den    Grund    erkennen    können.      Die    motorische 


—     278     — 

Strahlimg  war  eben,  ungeachtet  der  höchst  compromittirendea  Umstände, 
unter  denen  sie  zu  existiren  genöthigt  war,  doch  nicht  erheblich  belei- 
digt; die  Bahn  war  mir  verdrängt,  nicht  zerstört. 

Wenn  nun  in  dem  vorliegenden  Falle  ja  auch  nicht  viel  darauf 
ankam,  ob  der  Kranke  so  oder  so  operirt  wurde,  so  müssen  wir  ja  alle 
solche  Fälle  benutzen,  um  die  Thatsachen  für  künftige  zu  verwerthen. 
Der  diagnostische  Irrthum  lag  hier  nur  darin,  dass  wir  einen  Tumor 
der  weissen  Substanz  für  einen  solchen  der  grauen  genommen  hatten. 
und  ich  hege  die  Vermuthung,  dass  dieser  Irrthum  schon  recht  oft 
begangen  ist,  noch  recht  oft  begangen  werden  wird,  denn  ich  sehe 
in  der  That  nicht  recht,  wÜB  man  ihn  unter  solchen  Umständen  ver- 
meiden kann.  Man  muss  aber  wissen,  dass  solche  Dinge  vorkommen, 
schon  damit  —  das  gilt  ja  allerdings  mehr  für  den  Lehrer  —  man 
sich  bei  der  klinischen  Diagnose  mit  der  nöthigen  Vorsicht  ausdrückt. 
Insofern  habe  ich  auch  davon  gelernt,  denn  in  diesem  Falle  hatte 
ich  allerdings  mit  Sicherheit  geglaubt,  eine  richtige  Diagnose  gestellt 
zu  haben. 

Wir  wollen  nun  zu  einem  anderen  Fall  übergehen,  der  insofern 
Interessant  ist,  als  die  Läsion  an  derselben  Stelle  gesessen  hatte,  nicht 
ganz  so  gross  war  und  gerade  die  entgegengesetzten  Symptome  gemacht 
hatte. 

IL  Beobachtung. 

H.,  33  Jahre  alte  Frau.  Aufnahme  24.  Juli  1892.  September  1891  In- 
fluenza. Stirn-  und  Scheitelschmerz.  Erbrechen  3— 4mal  täglich, 
später  16mal  und  öfter,  besonders  Morgens.  Schwindel  nur  im  Anfang, 
gleichzeitig  begann  Sehstörung  rechts,  links  Mai  1892,  als  bereits  das 
rechte  Auge  total  amaurotisch  war.  Ende  Mai  auch  das  linke.  Strabismus 
convergens  erst  links,  dann  rechts  Ende  März. 

Anfälle  4  Arten.  1.  September  1891  Sensibel-vasomot.  links,  dabei 
die  linken  Extremitäten  ganz  steif,  Beginn  in  den  Fingerspitzen  der  Hand. 
Ein  paar  Mal  wöchentlich.  2.  Von  März  1892  an,  gleiche  Anfälle  bald  links, 
bald  rechts.  3.  Anfang  Mai  1892.  Während  des  Erbrechens  wird  der  linke 
Arm  plötzlich  im  Schultergelenk  ruckweise  nach  hinten  gezogen,  Ellenbogen 
flectirt.  Hand  und  Finger  steif.  4.  Mitte  Mai.  Halbstündiger  Anfall  von  allge- 
meinen Krämpfen  ohne  Verlust  des  Bewusstseins.  Beginn  mit  Gefühl  von 
Schwäche  in  beiden  Armen,  dann  in  den  Beinen.  Krämpfe,  gleichzeitig  in 
beiden  Armen,  dann  in  beiden  Beinen,  dann  im  Gesicht  und  Zunge.  Niemals 
Xähmung.  Stat.  Empfindlichkeit  des  Kopfes.  Stauungspapille. 
Strabismus  convergens  rechts  stärker.  Keine  deutlichen  hemiple- 
gischen  Erscheinungen,  so  dass  der  Assistenzarzt  sie  überhaupt  nicht  fand. 
Ich    selbst   constatirte  Ellenbogen    und  Hüftgelenk    links    etwas    schwächer, 


—     279     — 

Zehenbewcgnngen  links  weniger  ausgiebig.  Giobt  dann  selbst  zu,  links  mehr 
Schwäche  zu  spüren. 

Spar  von  Facialparesc  rechts.  E  pilepsie  spinale.  Lebhafte  Re- 
flexe. Die  Kranke  wurde  am  27.  .Juli  klinisch  vorgestellt,  die  Schwierigkeit 
der  Localdiagnose  hervorgehoben  und  die  Möglichkeit,  dass  es  sich  um  einen 
Tumor  in  der  rechten  Kleinhirnhemisphäre  handeln  könne,  begründet. 

30.  Juli  verlegt  nach  der  chirurgischen  Klinik.  6.  August  operirt  über 
der  rechten  Kleinhirnhemisphäre  mit  negativem  Erfolg.   Pacialparese  links. 

28,  August  Wiederaufnahme. 

Status:  Facialis  links  unbedeutend  paretisch.  Linker  Arm  magerer, 
grobe  Kraft  etwas  geringer.  Linkes  Bein,  Oberschenkel  2,5  cm  magerer,  grobe 
Kraft  etwas  geringer.   Fussclonus. 

Lebhafte  Gehör-  und  Gesichtshallucinationen. 

Erbrechen. 

Verlauf:  Geruchshallucinationen,  Schmerzen  im  linken  Bein,  beson- 
ders bei  Berührungen. 

Etwas  Zunahme  der  Parese  im  linken  Bein.  Viel  Erbrechen.  Collaps. 
Tod  25.  October  1892. 

Section:  In  dem  vordersten  Theil  des  rechten  Stirnlappens  5  cm  lange, 
3,5  cm  breite  Cyste,  giiomatöse  Einsprengungen  bis  in  die  Spitze  des  Stirn- 
lappens. Abplattung  der  rechten  Hälfte  der  Brücke,  der  Optici, Oculomotorii, 
Abducentes  und  des  rechten  Quintus. 

Nun,  die  Diagnose  in  diesem  Falle  war  ja  überaus  schwierig.  Die 
Kranke  hatte  von  Anfang  an  sehr  schnell  zur  Entwickeluug  gelangende 
und  sehr  hochgradige  Allgemeinerscheinungen:  sehr  heftige  Kopf- 
schmerzen, äusserst  heftiges  Erbrechen  und  sehr  schnell  zu  totaler  Er- 
blindung führende  Stauungspapille.  Am  wenigsten  ausgesprochen  war 
noch  der  Schwindel.  Dagegen  traten  die  Herderscheinungen  zurück  und 
Hessen  sich  nicht  localisiren.  Es  bestand  freilich  eine  linksseitige 
Schwäche,  dieselbe  war  aber  so  unbedeutend,  dass  sie  übersehen  werden 
konnte,  und  daneben  erschien  der  rechte  Facialis  schwächer.  Den 
Paresen  der  Augenmuskeln  konnte  nur  ein  sehr  bedingter  Werth  beige- 
messen werden,  und  die  Anfälle  waren  erst'  recht  geeignet,  irrezuführen, 
weil  sie  bald  links,  bald  rechts,  bald  allgemein  auftraten,  wenn  auch 
die  linke  Seite  eine  gewisse  Bevorzugung  zeigte.  Diese  Umstände  alle 
zusammen  Hessen  mich  daran  denken,  dass  es  sich  um  einen  Tumor  des 
Kleinhirns  handeln  könne.  Bekanntlich  entwickeln  sich  die  Allgemein- 
erscheinungeii  mit  viel  grösserer  Schnelligkeit  dann,  wenn  der  Tumor 
unterhalb  des  Zeltes  sitzt,  also  in  einem  verhältnissmässig  kleinen,  von 
starren  Wänden  umgebenen  Raum. 

Namentlich  die  StauungspapiUe  und  das  Erbrechen  treten  dann  viel 
schneller  auf,  als  beim  Grosshirntumor. 


—     280     — 

Was  die  Krämpfe  anbetrifft,  so  kommen  gerade  solche  Krämpfe, 
wie  die  geschilderten,  noch  am  ehesten  dann  vor,  wenn  es  sich  um 
Kleinhirntumoren  handelt,  insofern  durch  dieselben  eine  allgemeine 
Drucksteigeruug  bewirkt  werden  kann. 

Die  Frage  war  dabei  noch  die,  ob  die  Kranke  nicht  als  hysterisch 
und  ihre  Krämpfe  demnach  nicht  auch  als  hysterische  aufzufassen  waren. 
Selbstverständlich  kann  eine  Hysterica  auch  einen  Tumor  bekommen; 
indesseil  war  die  Natur  der  Krämpfe  doch  durchaus  verschieden  von 
denjenigen,  welche  wir  bei  Hysterie  zu  sehen  bekommen.  Es  wurde 
also  die  Trepanation  über  dem  Kleinhirn  gemacht,  und  es  fand  sich 
nichts.  Die  Trepanationswunde  heilte  ohne  Zwischenfälle.  Die  Kranke 
wurde  zu  uns  zurückverlegt.  Am  28.  August,  als  sie  wiederkam, 
zeigte  sie  eine  nicht  sehr  erhebliche,  linksseitige  Atrophie  der  Extre- 
mitäten, sie  litt  wie  früher  an  Erbrechen,  sie  bekam  allerhand  Hallu- 
cinationen,  Schmerzen  im  linken  Bein,  besonders  bei  Berührungen.  Die 
Parese  des  linken  Beines  nahm  zu;  die  Patientin  starb  am  25.  October. 

Bei  der  Section  fanden  wir  im  Wesentlichen  an  derselben  Stelle, 
wie  in  unserem  ersten  Falle,  im  vordersten  Theil  des  rechten  Stirn- 
lappens eine  5  cm  lange  und  3,5  cm  breite  Cyste,  gliomatöse  Ein- 
sprengungen bis  in  die  Spitze  des  Stirnlappens.  Dann  war  die 
rechte  ßrückenhälfte  abgeplattet,  ebenso  eine  Menge  basaler  Nerven 
plattgedrückt. 

Also  zunächst  sehen  Sie  aus  diesem  Fall,  dass  die  Allgemeiner- 
scheinungen bei  gleichem  Sitz  und  sogar  bei  geringerer  Grösse  des  Tu- 
mors in  dem  einen  Fall  sich  ausserordentlich  schnell  und  hochgradig 
entwickeln  können,  während  sie  in  dem  anderen  Fall  ungeachtet  dos 
grössei'en  Volumens  des  Tumors  erst  in  einem  viel  späteren  Stadium  zu 
erscheinen  beginnen. 

Wenn  wir  auch  diesen  Fall  wieder  nach  Perioden  betrachten,  so 
hatte  die  Kranke  in  der  ersten  Periode  an  Kopfschmerzen,  Schwindel, 
Erbrechen  und  Sehstörungen  gelitten,  in  der  zweiten  Periode  war  Stra- 
bismus dazu  gekommen.  Schon  in  der  ersten  Periode  waren  sensibel- 
vasomotorische  inid  leichte  Krampfersclieinuugen  aufgetreten;  in  der 
zweiten  Periode  bei  zunehmendem  Druck  ausgesprochene,  bald  rechts-, 
bald  linksseitige  Krampfanfälle,  welche  sich  dann,  allerdings  in  ver- 
schiedener Form  und  unter  stärkerer  Betheiligung  der  linken  Seite,  über 
die  dritte  Periode  ausdehnten.  Die  letzte  Periode  wird  durch  Erschei- 
nungen stärkeren  Drucks:  psychische  Störungen,  Paresen  anderer  Hirn- 
nerven und  Zunahme  des  Erbrechens  charakterisirt.  Die  Kranke  hatte 
während  der  ganzen  Zeit,  mit  Ausnahme  der  vierten  Periode,   eine  nur 


—     281     — 

ganz  unbedeutende  Schwäche  der  linken  Seite  gelinbt,  so  dass  sie  einem 
doch  schon  erfahreneren  Arzte  ganz  entgehen  konnte. 

Betrachten  wir  nun  den  Gang  meiner  Schhissfolgerung  und  ihre 
Fehler,  so  ergiebt  sich  Folgendes: 

Ich  hielt  es  für  unmöglich,  dass  der  Tumor  in  der  motorischen 
Region  seinen  Sitz  habe,  dagegen  sprach  das  Fehlen  von  distincten 
Herderscheinungen  bei  hochgradigen  Allgemeinerscheinungen.  Dieser 
Schluss  erwies  sich  insofern  auch  als  richtig,  als  der  Tumor  ausserhalb 
der  motorischen  Region,  nämlich  vor  derselben,  sass.  Ich  schloss  zweitens, 
dass  er  wegen  der  schnellen  Entwickelung  der  Allgemeinerscheinungen 
überhaupt  nicht  im  Grosshirn,  sondern  in  der  hinteren  Schädelgrube 
seinen  Sitz  habe.  In  diesem  Schlüsse  wurde  ich  drittens  durch  die  früh- 
zeitigen Lähmungen  basaler  Hirnnerven,  und  viertens  durch  die  Eigen- 
art der  Kramp ferscheinuDgen  bestärkt.  Man  könnte  zunächst  den  Vor- 
wurf erheben,  dass  ich  dem  Fehlen  der  für  Kleinhirnerkrankuugen  allein 
charakteristischen  Herderscheinungen,  nämlich  Schwindel  und  statische 
Ataxie,  nicht  genügende  Wichtigkeit  beigelegt  hatte.  Der  Schwindel  war 
allerdings  zu  Anfang  dagewesen,  hatte  dann  aber  gefehlt.  Indessen  ist 
es  eine  bekannte  Thatsache*),  und  meine  eigenen  Erfahrungen  ent- 
sprechen dem  vollkommen,  dass  cerebellare  Erkrankungen,  wenn  sie  nicht 
den  Wurm,  sondern  eine  Hemisphäre  betreffen,  ohne  Herderscheinungen, 
also  auch  ohne  Schwindel  und  Ataxie,  verlaufen  können.  Die  Trepa- 
nation wurde  deswegen  auch  nicht  in  der  Mittellinie,  sondern  über  der 
rechten  Kleinhirnhemisphäre  vorgenommen.  An  und  für  sich  kann  man 
in  dieser  Ueberlegung  also  keinen  Fehler  erblicken. 

Ebenso  wenig  liegt  ein  Fehler  in  dem  Schlüsse,  dass  die  Combina- 
tionen  so  frühzeitiger  Druckerscheinungen  —  Augenmuskellähmungen, 
Facialisparese,  cerebrales  Erbrechen,  Stauungspapille,  Kopfschmerz  — 
auf  einen  Tumor  der  hinteren  Schädelgrube  hinweisen.  Was  die  Indi- 
cation  zur  Wahl  der  rechten  Seite  als  Trepanationsort  angeht,  so  war 
diese  darauf  begründet,  dass  die  linksseitige  Parese  auf  die  Druck- 
wirkung des  Tumors  oberhalb  der  Pyramidenbahn  bezogen  werden 
musste. 

Ich  bin  also  der  Ansicht,  dass  alle  von  mir  angestellten  Ueber- 
legungen  sich  sehr  wohl  rechtfertigen  lassen.  Der  Fehler  lag  nur  in 
der  unrichtigen  Abwägung  der  verschiedenen  Möglichkeiten  gegen  ein- 
ander, insbesondei'e  wohl,  dass  Krämpfe  der  geschilderten  Art,  auch 
wenn  sie  doppelseitig  sind,  und  auch,  wenn  sie  nicht  von  einem  Balken- 


*),  Vergl. z.B.  Gowers,  Handbuch  der  Nervenkrankheiten.    1892.   S.309. 


—     282     — 

tumor  ausgehen,  leichter  einem  Grossliirn-  als  einem  KJeinliirntumor 
ihren  Ursprang  verdanken. 

Schaden  ist  der  Kranken  auch  in  diesem  Falle  durch  die  irr- 
thümliche  Localdiagnose  nicht  erwachsen,  denn  operirbar  wäre  der 
Tumor  auch  dann  nicht  gewesen,  wenn  er  richtig  localisirt  worden 
wäre. 

Nun  wollen  wir  zu  einem  dritten  Falle  übergehen,  in  dem  die 
Verhältnisse  ganz  anders  lagen.  Diesen  Fall  will  ich  aber  nur  kurz 
behandeln. 

III.  Beobachtung. 

Louise  V.,  34jährige,  massig  genährte,  etwas  anämische  Frau  ohne  be- 
sondere Antecedentien,  erlitt  im  Frühjahre  1890  eine  leichte  Kopfverletzung 
durch  eine  herabfallende  Kellerthür.  Schon  vor  Beginn  der  jetzigen  Krankheit 
hat  sie  rechts  mehr  geschwitzt  als  links;  dies  soll  noch  jetzt  der  Fall  sein. 
Seit  einem  Jahre  leidet  sie  nun  an  Krämpfen  in  der  rechten  oberen  Extremität. 
Der  3.,  4.,  ö.  Finger  wurden  ihr  plötzlich  schwach  und  krümmten  sich  unwill- 
kürlich in  die  Hohlhand.  Manchmal  betheiligte  sich  auch  der  Daumen  und  der 
Arm,  so  dass  das  Ellenbogengelenk  gebeugt  wurde.  Die  Anfälle  treten  fast 
immer  im  Schlaf  ein  oder  wenn  Patientin  im  Begriff  ist,  einzuschlafen.  Sie 
wacht  dann  auf  und  verliert  das  Bewusstsein  nicht,  ausnahmsweise  treten 
auch  Anfälle  mit  Schwindel  und^  Bewusstseinsstörung,  von  denen  Patientin 
nachher  nichts  Genaues  weiss,  ein.  Diese  verlaufen  mit  „Krieseln",  das  bis  zur 
Schulter  aufsteigt. 

Stat.  pr.  21.  November  1891.  Rechte  Pupille  etwas  weiter;  Sprache 
besonders  bei  Paradigmen  etwas  schwerfällig,  so  dass  schwerere  Woite  nicht 
nachgesprochen  werden  können.  Grobe  Kraft  in  der  linken  oberen  Extremi- 
tät besser  als  in  der  rechten.  Dynamometer  links  25,  rechts  22  kg.  Beider- 
seits Andeutung  von  Patellarclonus.  Zeichen  von  Hysterie  fehlen.  Patien- 
tin hat  auch  hier  allnächtlich  Anfälle,  in  der  Nacht  vom  21.— 22.  November 
wurden  deren  zwei  beobachtet.  Die  rechte  Hand  wird  geschlossen,  so  dass  der 
2. — 5.  Finger  mit  den  Nägeln  in  die  Hohlhand  drücken.  Gleichzeitig  richtet 
sich  Patientin  auf,  der  Kopf  hängt  nach  links  unten,  dann  folgen  noch  einige 
stossende  Bewegungen  des  rechten  Beines.  Bei  dem  zweiten  Male  öffnete  die 
Kranke  einmal  den  Mund,  wobei  sich  die  Zunge  nach  links  boAvegte.  Ob 
Zuckungen  im  Gesicht  vorhanden  waren,  blieb  unsicher.  Die  Anfälle,  die  Pa- 
tientin aus  dem  Schlafe  weckten,  dauerten  V-j^—i  Minuten.  Das  Bewusstsein 
war  dabei  erhalten.   Derartige  Anfälle  traten  allnächtlich  ein. 

In  der  Nacht  vom  1.  zum  2.  December  ein  Anfall,  der  nach  Angabe 
einer  anderen  Kranken  mit  allgemeinen  Krämpfen  und  Bewusstseinsverlust 
endigte. 

In  der  Nacht  vom  7.  zum  8.  December  11  Anfälle.  13.  December  Anfall 
bei  Tage,  dessen  Ende  ärztlich  beobachtet  wird:  der  rechte  Arm  ist  gebeugt, 
die  rechte  Hand  zur  Faust  geballt,  das  rechte  Bein  ist  gestreckt.    Bewusstsein 


~     283     — 

erhalten.    Später  bleiben  — -  bei  Brom  nach  Jodbeliandhvng-  —  zahlreiche  An- 
fälle nur  auf  die  erwähnten  Finger  beschränkt. 

12.  November.  Anfall  in  den  Fingern,  als  sie  mir  gerade  die  Hand  giebt. 
Ziemlich  kräftige  Contraction. 

23.  Februar.  Die  Anfälle  nehmen  an  Schwere  und  Häufigkeit  wieder  zu. 
In  der  letzten  Nacht  vier,  von  denen  zwei  bis  zur  Schalter  liinauf  gestie- 
gen sind. 

24.  Februar.  Nachts  4  Uhr.  Schwerer  Anfall.  Zunächst  im  Sitzen  einer 
der  gewöhnlichen  Anfälle,  dann  fällt  sie  nach  hinten  links  über,  so  dass  der 
Kopf  über  den  Bettrand  hängt,  die  Augen  drehen  sich  nach  oben,  der  Mund 
nach  rechts,  stossende  Bewegungen  mit  dem  in  Varo-equinus-Stellung  stehen- 
den Bein,  dilatirte  Pupillen,  schnarchende  Respiration,  Bevvusstseinsverlust. 
Dauer  des  Anfalls  ca.  5  Minuten,  nachher  ca.  10  Minuten  benommen.  Entsinnt 
sich  des  Anfalls  bis  zu  dem  Moment  des  Hintenüberfallens.  (Referat  einer  er- 
fahrenen Wärterin.)  Am  Morgen  ist  das  linke  Scheitelbein  bei  Percussion  em- 
pfindlich. 

20.  Februar.  Verlegung  nach  der  chirurgischen  Klinik,  nachdem  die 
Kranke  wiederholt  vorgestellt  worden  war. 

28.  Februar.  Operation.  Die  beiden  Centralwindungen  werden  ent- 
sprechend der  Knickungsstelle  (Fig.  26)  dadurch  aufgedeckt,  dass  ein  7  cm 
langer,  öy^cm  breiter  Hautknochenlappen,  welcher  seine  Basis  an  der  Kranz- 
naht hat,  gebildet  wird.  Die  Hirnoberfläche  erschien  absolut  normal.  Die 
Heilung  erfolgte  ohne  Zwischenfälle. 

Juli  1894.  Keinerlei  Veränderung.  Krämpfe  nach  wie  vor.  Inzwischen 
eine  Entbindung. 

Fassen  wir  nun  die  bei  dieser  uns  im  November  1891  zugeführten 
Kranken  seit  einem  Jahre  bestehenden  Krankheitserscheinungen  kurz 
zusammen,  so  ergiebt  sich,  dass  Allgemeinerscheinungen  so  gut 
wie  ganz  fehlten.  Diese  kamen  nur  in  Form  von  Schwindel  imd  Be- 
wusstseinsstörungen  vor.  Aber  in  dem  vorliegenden  Falle  konnten  diese 
Krankheitszeichen  nicht  als  Folge  von  Drncksteigeruug  innerhalb  der 
Schädelhöhle,  sondern  lediglich  als  Folge  des  localen  epileptogenen 
Reizes  gelten. 

Die  Herderscheinungen  bestanden  auch  nur  aus  Krämpfen,  und 
einer  Spur  von  gleichnamiger  Parese.  Diese  Krämpfe  hatten  nun  einen 
höchst  eigenthümlichen  Charakter:  sie  gingen  stets  von  ein  und  der- 
selben kleinen  Muskelgruppe,  Beugern  der  Finger,  aus  und  beschränkten 
sich  auch  im  Anfang  des  Leidens,  sowie  während  der  Perioden  geringerer 
Heftigkeit  desselben  auf  diese  Muskeln.  Traten  die  Krämpfe  stärker  auf, 
so  verbreiteten  sie  sich  wohl  auf  die  ganze  Seite  und  verliefen  mit 
Bewusstseins  Verlust. 

Es  kann  nun,  allgemein  gesprochen,  gar  keinem  Zweifel  unter- 
liegen, dass  solche  Krämpfe  nur  durch  Reizung  einer  bestimmten  Rinden- 


—     284     — 

stelle  erzeugt  werden  können.  Fraglich  war  nur,  ob  dieser  Reiz  or- 
ganischer Natur  und  entfernbar  war,  oder  ob  beides  nicht  zutraf. 

Nach  der  einen  Richtung  hin  konnte  in  differentiell-diagnostischer 
Beziehung  eigentlich  nur  der  Ausschluss  der  Hysterie  in  Frage  kommen. 
Die  Hysterie  gehört  bekanntlich  zu  denjenigen  Krankheiten,  welche,  wie 
in  anderer  Beziehung  die  progressive  Paralyse  der  Irren,  die  Tendenz 
haben,  die  allerverschiedensten  Nervenkrankheiten  vorzutäuschen.  Man 
thut  deshalb  in  der  Neuropathologie  immer  gut,  an  die  Hysterie  zu 
denken  und  ihre  Existenz  auszuschliessen.  Nun  hatten  die  hier  zu  be- 
obachtenden Krämpfe  aber  an  sich  schon  durchaus  keinen  hysterischen 
Charakter;  ich  wenigstens  habe  bei  Hysterischen  niemals  etwas  Analoges 
gesehen  und  keime  auch  aus  der  Literatur  nichts  ähnliches.  Ausserdem 
sprach  auch  der  markante  Einfluss  der  Bromsalze  auf  die  Krämpfe  ent- 
schieden gegen  Hysterie,  und  endlich  bot  die  Kranke,  wenn  man  nicht 
etwa  das  seit  einiger  Zeit  bestehende  halbseitige  Schwitzen  dahin  rechnen 
Avill,  keinerlei  hysterische  Stigmata. 

Wenn  man  also  auch  anzunehmen  berechtigt  war,  dass  es  sich  nicht 
um  ein  functionelles,  sondern  um  ein  organisches  Leiden  handle,  so  habe 
ich  mich  dennoch  sehr  schwer,  erst  nach  dreimonatlichem  Zögern,  zur 
Operation  entschlossen.  Meine  Bedenken  hatten  ihren  Grund  nicht  etwa 
in  der  Schwierigkeit,  die  betreffende  kleine  Stelle  auf  der  Hirnrinde 
aufzufinden.  Die  Innervationsgebiete  für  die  Finger  liegen  (vgl.  Fig.  26) 
an  einer  wohlumschriebenen  Stelle,  vornehmlich  der  vorderen  Central- 
windung,  so  dass  es  bei  der  Grösse  der  Schädellücken,  welche  die 
moderne  Chirurgie  anzulegen  pflegt,  nicht  schwer  fallen  kann,  gerade 
dieses  Gebiet  in  den  Bereich  der  Operationswunde  hineinzuziehen.  Wenn 
uns  dieses  aber  auch  gelang,  so  erschien  es  dennoch  fraglich,  ob  es 
gelingen  würde,  den  Gegenstand,  welcher  den  Reiz  ausübte,  aufzufinden, 
denn  dieser  konnte  nach  Lage  der  Sache  —  Fehlen  von  Allgemein- 
erscheinuugen,  Fehlen  von  Lähmungen  bei  Ausgang  von  der  motorischen 
Zone  und  jahrelangem  Bestehen  —  nur  sehr  klein  sein.  Welcher  Art- 
er war,  ob  ein  Tumor,  vielleicht  ein  Cysticercus,  vielleicht  eine  Induration, 
das  konnte  von  vornherein  gar  nicht  vermuthet  werden:  er  konnte  seinen 
Sitz  also  sehr  wohl  in  der  grauen  Rinde  einer  Furche  aufgeschlagen 
haben,  und  dies  um  so  mehr,  als  sich  die  fraglichen  Innervationsgebiete 
über  die  beiden  Centralwindungen  erstrecken.  So  konnte  es  sich  er- 
eignen, und  das  A'erhehlten  wir  uns  schon  vor  der  Operation  keineswegs, 
dass  eine  auf  Grund  richtiger  Indication  kunstgerecht  ausgeführte  Ope- 
ration dennoch  erfolglos  blieb.  Dies  war  nun  in  Wirklichkeit  der  Fall, 
und  wir  haben  hieraus  die  Lehre  zu  ziehen,  eine  Lehre,  welche  aller- 
dings schon  vorher  nicht  fremd  war,  dass  man  an  eine  Trepanation  bei 


—     285     — 

voraussichtlich    sehr    kleinen    reizenden  Herden    nur    mit  vorsichtigster 
Rückendeckung  herangehen  soll. 

Endlich  will  ich  noch  einen  vierten  Fall  Ihnen  kurz  anführen,  bei 
dem  wir  allerdings  den  Ort  richtig  diagnosticirt,  den  Tumor  auch  ge- 
funden haben,  der  aber  an  den  Folgen  der  Operation  zu  Grunde  ge- 
gangen ist.  Den  Fall  haben  Sie  am  Ende  vorigen  Semesters  hier  ge- 
sehen. 

IV.  Beobachtung. 

Karl  S.,  sehr  kräftig  gebauter  Bremser,  erlitt  vor  ca.  3  Jahren,  Sommer 
1892,  eine  schwere  Verletzung  der  linken  Kopfhälfte  durch  die  herab- 
fallende Thür  eines  Eisenbahnpackwagens.  Er  blieb  zunächst,  an  einen  Wagen 
gelehnt,  für  10 — 15  Minuten  ohne  Besinnung,  dann  vermochte  er  zum  Arzte 
zu  gehen,  um  sich  verbinden  zu  lassen. 

Nach  4—5  Tagen  ging  er  wieder  zur  Arbeit,  obwohl  ihm  immer  „duselig 
und  schwindlich"  im  Kopfe  war  und  obwohl  er  weiter  Kopfschmerzen 
hatte,  die  ihn  seitdem  nicht  mehr  verlassen  haben. 

Allmählich  verschlimmerten  sich  diese  Erscheinungen  und  traten  nament- 
lich in  heftigen  Anfällen  auf,  so  dass  er  sich  nicht  auf  den  Beinen  halten 
konnte.  Nach  solchen  Anfällen  war  ihm  —  gewöhnlich  auf  die  Dauer  von 
2 — 3  Tagen  —  die  rechte  Seite  schwer  und  er  lahmte  auf  dieser  Seite. 

Die  Zahl  derAnfälle  vermehrte  sich,  so  dass  sie  nunmehr  alle  2 — 3Wochen 
eintraten. 

Mit  Krämpfen  vergesellschafteten  sie  sich,  wenn  auch  nicht  immer, 
seit  dem  Sommer  1893.  Die  Krämpfe  begannen  und  beginnen  stets  mit  Zucken 
im  rechten  Bein,  ergreifen  dann  den  Arm  und  schliesslich  das  Gesicht.  Zuerst 
wird  der  Fuss  gebeugt  und  gestreckt,  ob  auch  die  Zehen,  weiss  der  Kranke 
nicht,  dann  geht  das  Bein  herauf  und  herunter.  In  der  oberen  Extremität  be- 
ginnt der  Krampf  gleichfalls  in  der  Hand  und  steigt  zur  Schulter  hinauf,  ohne 
dass  der  Patient  auch  hier  die  zuerst  bewegten  Gelenke  näher  zu  bezeichnen 
vermag. 

Die  einzelnen  Anfälle  dauern  ca.  eine  halbe  Stunde,  erstrecken  sich  nicht 
auf  die  andere  Seite  und  verlaufen  nie  mit  Bewusstseinsverlust,  Zungenbiss 
und  Secessus  involuntarii.  Dagegen  wird  er  durch  dieselben  zu  Boden  ge- 
rissen, ohne  sich  wieder  erheben  zu  können. 

Nach  denselben  leidet  er  mehrere  Tage  lang  an  einer  zuerst  totalen, 
dann  sich  allmählich  bessernden  Bewegungsschwäche,  an  Kopfschmerzen, 
Schwindel,  Abgeschlagenheit  und  Appetitlosigkeit.  Die  Bewegungen  des 
Armes  im  Schultergelenk  sind  seit  dem  Auftreten  der  Anfälle  aber  auch 
dauernd  erschwert  wegen  Schmerzen  in  diesem  Gelenk.  Auch  im  Hüftgelenk 
habe  er  Schmerzen  und  in  der  rechten  Wange  häufig  ein  Zucken  und  Kribbeln. 
Ausser  diesen  .Anfällen  leidet  Patient  seit  etwa  8—10  Wochen  an  Zitterbe- 
wegungen der  rechten  Seite,  die  mit  jedem  Anfall  schlimmer  werden. 

Kopfschmerzen,    welche  jetzt  den  ganzen  Kopf  einnehmen, 


—     286     — 

und  Schwiü  delan fälle  hat  der  Kranke  gegenwärtig  fast  täglich,  namentlich 
nach  dem  Erwachen. 

Erbrechen  will  er  anfänglich  nicht  gehabt  haben,  später  will  er 
manchmal  morgens  etwas  Schleim  erbrochen  haben.   (Hineingefragt?) 

Sein  Sehvermögen  sei  gut. 

In  psychischer  Beziehung  klagt  er  über  vermehrte  Reizbarkeit  und 
Unlust  zur  Geselligkeit. 

Soweit  die  von  dem  Kranken  theils  in  der  medicinischen  Klinik,  theils 
'in  meiner  Klinik,  in  die  er  nur  auf  drei  Tage  aufgenommen  war,  gegebene 
Anamnese. 

In  die  medicinische  Klinik  war  er  am  10.  December  1894  aufgenommen 
worden. 

Dort  fand  sich,  kurz  gesagt,  hochgradige  im  Bein  spastische  Parese 
der  rechten  Extremitäten,  ganz  geringe  Parese  des  rechten  Facialis,  Ab- 
stumpfang  der  Tast-,  Schmerz-  und  Temperaturempfmdung  an  den  rechten 
Extremitäten,  Steigerung  der  Pveflexe,  besonders  rechts. 

Grosse  Anfälle  traten  daselbst  ein  in  den  Nächten  vom  16. /IT., 
29. /oO.  December  1894  und  am  15.  Februar  1895.  Ausserdem  hatte  Patient 
häufiger  nächtliche  Zuckungen  geringeren  Grades  in  der  rechten  Körperhälfte. 
Die  grossen  Anfälle  entsprachen  im  Wesentlichen  der  vorstehenden  Beschreibung, 
namentlich  blieb  die  linke  Körperhälfte  ruhig.  Ausserdem  wurde  aber  theils 
von  den  andern  Kranken,  bei  dem  zweiten  Anfalle  von  einem  Arzte,  beobachtet, 
dass  sich  Kopf  und  Augen  nach  rechts  drehten  und  das  rechte  Auge  mehr  ge- 
schlossen wurde. 

Ferner  wurde  daselbst  S chmerzh aftigkeit  der  linken  Schädel- 
hälfte und  auf  dem  linken  Scheitelbein  parallel  und  direct  neben  der  Pfeil- 
naht eine  3  cm  lange,  ca.  6  cm  vor  der  Spitze  der  Hinterhauptsschuppe  be- 
ginnende, mit  dem  Knochen  nicht  verwachsene  Narbe  constatirt. 

Stat.  praes.  7 — 9  März  1895.  (Mit  Uebergehung  aller  negativen  Be- 
funde.)   Die  erwähnte  Narbe  auf  Druck  etwas  empfindlich. 

Es  besteht  eine  spastische  Lähmung  und  Abstumpfung  der 
Sensibilität  der  rechten  Extremitäten,  im  Gesicht  ist  die  Sensi- 
bilität etwas  abgestumpft. 

Zunge  stark  nach  rechts,  zittert  leicht.    Uvula  etwas  nach  links. 

Rechter  Arm  steht  im  Ellenbogengelenk  in  leichter  Beugecontractur. 
Vorderarm  in  Pronations-Contractur,  active  Bewegungen  im  Schultergelenk 
auf  etwa  120°  beschränkt,  im  Ellenbogengelenk  keine  völlige  Streckung,  Finger- 
bewegungen rechts  sehr  langsam  und  wenig  ausgiebig.  Dynamometer  links  47, 
rechts  5  kg.  Leichter  Tremor  in  den  Fingern  bei  activen  Bewegungen,  bei 
passiven  Bewegungen  starke  Spasmen.  Reflexe  beiderseits,  rechts 
mehr  gesteigert. 

Einfache  Berührungen  an  einzelnen  Stellen  der  Hand  und  derVolar- 
fläche  des  Vorderarms  nicht  gefühlt,  Nadelstiche  nur  als  Kitzeln  oder  An- 
rührung.  Durchstechen  einer  Hautfalte  am  Dorsum  des  Vorderarmes  als  Be- 
rührung. 


—     287     — 

T  e  m  p  e  r  ii  t  o  r  s  i  n  n  stark  abgestumpft. 

Drucksinn:  Links  Differenz  von  18  :  22  g,  rechts  von  18  :  50  g  stets 
richtig.  Lagegefühl,  Gelenkempfindungen  (passive  Bewegungen)  ohne 
Anomalien  (active  Bewegungen).  Nachahmung  der  rechts  ausgeführten  Be- 
wegungen fällt  links  viel  ausgiebiger  aus. 

Kinesiaesthesiometer  jedenfalls  keine  auffallende  Störung.  Auf- 
zeichnungen nicht  ganz  deutlich. 

Hauttemperatur:  zwischen  Daumen  und  Zeigefinger  links  o6,G,  rechts 
37,0.    Zwischen  4.  und  5.  Finger  links  34,7,  rechts  35,7. 

Rechtes  Bein:  Am  Oberschenkel  1,5,  am  Unterschenkel  1  cm  magerer 
als  das  linke.  Leichte  Spitzfussstellung.  Acti  ve  Bewegungen  der  Zehen 
und  des  Fusses  gar  nicht  ausführbar,  des  Hüftgelenks  stärker,  des  Kniegelenks 
weniger  stark  behindert.  Bei  passiven  Bewegungen  starke  Spasmen.  ' 
Patellarclonus  bei  leichtem  Betupfen  der  Sehne,  Fussclonus,  Fusssohlen-, 
Stich-  und  Strichreflex  fehlt. 

Einfache  Berührungen  werden  am  Fuss  und  Unterschenkel  vielfach 
aiisgelassen,  Nadelstiche  nur  als  Berührung  empfunden. 

Temperatarsinn  derart  abgestumpft,  dass  Eis  fast  überall  nur  als 
Berührung,  heiss  am  Fussrücken  als  Berührung,  am  Oberschenkel  als  warm 
empfunden  wird. 

Lagegefühl  und  Druck  sinn  wie  in  der  oberen  Extremität. 

Kinesiaesthesiometer.  Wenn  der  Spann  des  Fusses  durch  Watte  ge- 
schützt ist,  bemerkt  Patient  keinen  Unterschied  zwischen  einem  leeren  und 
einem  mit  1  kg  beschwerten  Strumpf. 

Hauttemperatur  zwischen  2.  und  3.  Zehe  links  33,6,  rechts  32,8. 

Am  9.  März  wurde  Patient  in  die  medicinische  Klinik  zurück-  und  am 
13.  März  in  die  chirurgische  Klinik  verlegt.    Daselbst 

20.  März  12  Uhr  Mittags  grosse  Anfälle,  von  denen  der  erste  ärztlich 
beobachtet  wurde.  Der  Anfall  begann  mit  Uebelkeit,  ohne  Erbrechen,  und 
krampfhaften  Flexions-  und  Extensionsbewegungen  in  den  Zehen  des  rechten 
Fusses.  Der  Krampf  erstreckt  sich  dann  von  unten  nach  oben  fortschreitend 
auf  das  ganze  Bein,  dann  auf  den  Kopf,  der  nach  rechts  gedreht  wird,  den 
Arm,  welcher  viel  weniger  stark  krampft,  und  schliesslich  beginnen  unter 
Zähneknirschen  Zuckungen  im  Bereich  des  rechten  Facialis.  Dauer  5  Minuten. 
Nachher  matt,  fast  vollkommene  motorische  und  sensible  Hemiplegie. 

27.  März  1895.  Operation.  Zuerst  Herausmeisselung  eines  8  cm  im 
Quadrat  messenden  Hautknochenlappens,  dessen  Basis  an  der  Sagittalnaht 
liegt  und  dessen  Schenkel  lateralwärts  schräg  nach  vorn  verlaufen.  Grade  in 
der  Mitte  des  Gesichtsfeldes  erscheint  die  bläulich  verfärbte  und  von  zahl- 
reichen, dicken  Venen  durchzogene  Dura  in  Grösse  eines  10  Pf.-Stückes  durch 
eine  bräunliche,  nicht  blutende  Tumormasse  perforirt,  die  an  der  entsprechenden 
Schädelstelle  mehrfache  Usurcn  gemacht  hat.  Nachdem  zahlreiche  Gefässe 
unterbunden  sind  und  die  Dura  zurückgeschlagen  ist,  erscheint  noch  nirgends 
normales  Gehirn.  Die  Oeffnung  wird  also  derart  vergrössert,  dass  ein  gleich 
breiter  4  cm  langer  Hautknochenlappen  um   seine  laterale  Basis  umgeklappt 


288 


und  der  erste  Schädeldefect  medial,  sowohl  nach  hinten  als  vorn  mit  der 
Knochenzange  erweitert  wird.  Der  endgültige  Schädeldefect  ist  12,5  cm  lang, 
8,5  cm  breit.  Nunmehr  lässt  sich  der  von  der  Dura  ausgehende,  klein  faust- 
grosse  84  g  schwere  Tumor  leicht  mit  dem  Finger  herausschälen.  Er  reicht 
bis  hart  an  die  Falx  heran  und  hat  das  Gehirn  im  Allgemeinen  nar  comprimirt; 
lediglich  an  einer  kleinen  Stelle  schien  er  mit  der  Pia  verwachsen.  Mikro- 
skopisch erweist  er  sich  als  Endotheliom.  Der  Knochen  des  ersten  Lappens, 
die  entsprechende  Dura,  sowie  der  verdächtige  Sinus  in  Länge  von  5cm,  sowie 
ein  entsprechendes  Stück  Falx  und  Dura  der  rechten  Hemisphäre  in  1cm  Breite 
wurden  gleichfalls  entfernt  und  dann  die  Wunde  geschlossen. 

Schon  während  der  massig  blutigen  Operation  collabirte  der  Kranke 
mehrmals  unter  den  Zeichen  der  Herzschwäche  und  starb  um  5  Uhr  Nach- 
mittags ungeachtet  aller  angewendeten  Mittel  unter  gleichen  Symptomen. 

Die  Section  ergab  im  Wesentlichen  eine  Compression  der  oberen 
Hälfte  der  Regio  centralis  des  Randwulstes  und  des  Gyrus  fornicatus  (Fig.  28). 


Fig.  28. 


Die  comprimirte  Stelle  wird  begrenzt  nach  vorn  vom  Sulcus  praecentralis, 
nach  unten  durch  eine  Linie,  die  man  sich  durch  die  untere  Grenze  des 
mittleren  Drittels  der  Centralwinduugen  gelegt  denkt,  nach  hinten  durch  einen 
Frontalschnitt,  der  das  hintere  Ende  der  Fossa  Sylvii  trifft,  nach  innen  an- 
nähernd durch  den  Hemisphärenrand.  Der  Gyrus  fornicatus  ist  entsprechend 
der  tiefsten  Stelle  der  beschriebenen  Impression  (1  cm  hinter  der  Mitte  des 
Balkens)  verschmälert. 

An  der  Compressionsstelle  erweist  sich  die  Hirnsubstanz  mit  zahlreichen 
frischen  capillaren  Hämorrhagien  durchsetzt  und  darüber  hinaus  diffus  blutig 
imbibirt. 

Ein  ähnlicher  Zustand  findet  sich  auch  in  den  Grenzbezirken  der  rechten 
Hemisphäre. 


—     289     — 

Werfen  wir  einen  zusammenfassenden  Rückblick  auf  diesen  Krank- 
heitsfall, so  ergiebt  sich,  dass  zunächst  eine  Anzahl  von  All  gern  ein - 
erscheinungen  vorhanden  war,  nämlich  Schwindel  und  hochgradige 
anhaltende  Kopfschmerzen;  dagegen  fehlte  die  Stauungspapille,  das  Er- 
brechen etc.  ungeachtet  der  Grösse  des  allerdings  extracerebral  sitzenden 
Tumors. 

Die  Art  und  Entwicklung  der  Herderscheinungen  machen  den 
Tumor,  ungeachtet  seines  extracerebralen  Sitzes,  geradezu  zu  einem 
Schulfall.  Patient  hatte  eine  Kopfverletzung  erlitten,  an  der  Stelle 
dieser  Verletzung  befand  sich  eine  Narbe,  war  der  Schädel  schmerzhaft, 
und  entsprechend  dieser  Stelle  war  der  Process  zu  suchen,  durch  den 
die  Herderscheinuugen  ausgelöst  wurden.  Denn  dieselben  bestanden  in 
erster  Linie  in  vollkommen  typischen,  von  dem  unterhalb  der  Narbe 
belegenen  Innervationsgebiet  für  die  untere  Extremität  ausgehenden, 
rindenepileptischen  Krämpfen.  Diese  Krämpfe  dehnten  sich  im  All- 
gemeinen, entsprechend  der  Lage  der  Rindencentren,  über  die  ganze 
befallene  Seite  aus.  Ferner  bestanden  Lähmungserscheinungen,  welche 
wiederum  besonders  ausgesprochen  das  zuerst  krampfende  Glied  be- 
trafen, sich  aber  in  geringerem  Grade  auf  die  ganze  Seite  verbreiteten. 

Zu  diesen  Symptomen  kamen  dann  noch  Sensibilitätsstörungen  und 
ein  continuirlicher,  spastischer  Zustand  des  spinalen  Reflexbogens,  die 
ebenso  wie  die  Krampf-  und  Lähmungserscheinungen  einer  kurzen  Be- 
sprechung bedürfen. 

Zunächst  interessirt  uns  die  Verbreitungsweise  der  Krämpfe. 
Nach  der  herrschenden  Lehre,  wenigstens  wenn  man  die  Localisation 
von  Beevor  and  Horsley  (vgl.  Fig.  26)  zu  Grunde  legt,  hätten  die 
Krämpfe,  wenn  der  Tumor  im  Lobulus  paracentralis  oder  im  medialen 
Theile  der  Centralwindungen  seinen  Sitz  hatte,  vom  Bein  auf  die  Schulter, 
das  Ellenbogeugelenk,  u.  s.  w.  von  oben  nach  unten  sich  verbreiten 
sollen.  Nun  verbreiteten  sie  sich  aber  in  der  oberen  Extremität,  den 
Daten  der  klinischen  Krankengeschichte  zufolge,    von  unten  nach  oben. 

Einem  ähnlichen  Verhalten  sind  wir  bereits  bei  der  Beobachtung  I 
(Ilg.)  begegnet,  nur  dass  es  dort  die  Verbreitung  der  Lähmung  war, 
welche  einen  etwas  anderen  als  den  vorgeschriebenen  Weg  nahm.  Ich 
habe  bei  diesem  Anlasse  bereits  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  ge- 
ringere Abweichungen  von  dem  vorgeschriebenen  Schema  der  Ver- 
breitungsweise der  Krämpfe  und  Lähmungen  füglich  unberücksichtigt 
bleiben  können  und  müssen.  In  noch  höherem  Grade  als  von  den 
Lähmungen  gilt  dies  sicherlich  von  den  Krämpfen.  Zunächst  würde 
mau  sich  unzweifelhaft  täuschen,  wenn  man  die  Frage  der  örtlichen 
Vertheilung  der  motorischen  Centren  auf  der  Rinde  bereits   als  in  allen 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     T.  Tlieil.  19 


—     290     — 

Details  endgiltig  erledigt  ansehen  wollte.  Beevor  and  Horsley  waren 
so  glücklich,  an  einem  Orang-Utang  experimentiren  zu  können.  In- 
dessen sind  die  Resultate  eines  einzigen  Versuches  für  eine  Frage  von 
dieser  Tragweite  an  sich  nicht  hinreichend  beweiskräftig.  Dazu  kommt 
noch,  dass  die  Resultate  nicht  nur  von  den  Ergebnissen  früherer  Unter- 
suchungen an  den  Gehirnen  niederer  Affen,  welche  nicht  ich  selbst, 
sondern  sogar  Horsley  selbst  angestellt  hatte,  in  nicht  unw^esentlichen 
Punkten  abweichen.  Ja,  merkwürdigerweise  haben  die  am  Orang-Utang 
erzielten  Reizeffecte  insofern  mehr  Aehnlichkeit  mit  den  von  mir  an 
Inuus  Rhesus  als  mit  den  von  Horsley  an  höheren  Affen  gewonnenen 
Resultaten,  als  die  neueren  Horsley 'sehen  Versuche,  so  wie  ich  das 
von  Anfang  an  that,  die  vordere  Centralwindung  viel  mehr  als  die 
hintere  für  die  motorische  Innervation  in  Anspruch  nehmen.  Hiernach 
ist  es  noch  keineswegs  ausgeschlossen,  dass  die  Technik  der  Reizver- 
suche für  die  difi'erente  Localisation  der  motorischen  Innervationsgebiete 
verant^vortlich  zu  machen  ist.  Indessen  ist  es  ebensowohl  möglich,  dass 
ähnliche  Differenzen,  wie  sie  bei  Ausschluss  dieses  Factors  zwischen 
dem  Gehirn  des  Orang  und  dem  anderer  Affen  bestehen  würden,  auch 
zwischen   dem  Gehirn  des  Menschen  und  dem  des  Orang  bestehen. 

Im  Ferneren  darf  die  Schwierigkeit  der  Beobachtung  der  Ver- 
breitungsweise der  Krämpfe  nicht  unterschätzt  werden.  Nicht  voll- 
kommen Unterrichtete  und  nicht  mit  besonders  scharfer  Beobachtungs- 
gabe ausgestattete  Personen  sind  überhaupt  in  vielen  Fällen  nicht  fähig, 
die  einzelnen,  manchmal  blitzschnell  aufeinanderfolgenden  Phänomene 
richtig  aufzufassen  und  zu  referiren;  und  wie  oft  ist  man  lediglich  aiif 
deren  Angaben,  eingeschlossen  die  des  Kranken,  angewiesen!  Indessen 
fällt  es  selbst  dem  wohlunterrichteten  und  an  scharfe  Beobachtung  ge- 
wöhnten Arzte  unter  Umständen  schwer,  die  Reihenfolge  der  Er- 
scheinungen mit  genügender  Sicherheit  zu  erfassen;  ich  weiss  dies  aus 
eigener  Erfahrung.  Hiermit  will  ich  nun  keineswegs  zu  einer  Unter- 
schätzung dieses  eigenthüralichen  und,  wie  ich  wdederhole,  durch  meine 
eigenen  Untersuchungen  zuerst  practisch  verwerthbar  gewordenen  Sym- 
ptoms der  Rindenepilepsie  verleiten.  Aber  darauf  möchte  ich  die  Auf- 
merksamkeit lenken,  dass  es  sich  hiermit,  wie  mit  den  meisten  andern 
hier  genannten,  wie  mit  noch  so  vielen  andern  Symptomen  verhält, 
nämlich  dass  der  ganze  Symptomencomplex  in  seiner  Totalität  aufgefasst 
und  kritisch  gewürdigt  werden  muss.  Der  Beruf  des  Arztes  ist  eben 
eine  Kunst,  und  diese  kann  nicht  allein  mit  dem,  was  man  auswendig 
gelernt  hat,  ausgeübt  werden. 

Ueber  die  Lähmungserscheinungen  will  ich  nur  kurz  sagen, 
dass    sie    durchaus    den    herrschenden  Anschauungen    entsprechend    am 


—     291     — 

stärksten  im  Bein,  dessen  Centralgebiet  vornehmlich  comprimirt  war, 
und  entsprechend  schwächer  in  den  übrigen  motorischen  Innervntions- 
gebieten  auftraten. 

Von  besonderem  Interesse  war  das  Verhalten  der  Sensibilität 
in  unserem  Falle.  Der  Kranke  bot  sehr  ausgedehnte  Sensibilitäts- 
störungen dar,  wir  haben  gesehen,  dass  die  Sensibilität  in  fast  allen 
ihren  Qualitäten  und  wieder  besonders  stark  an  der  unteren  Extremität 
gestört  war.  Neben  leichter  Anästhesie  bestand  eine  sehr  ausgesprochene 
Analgesie,  Termanästhesie  und  Alteration  des  Muskelsinns  etc.  Nun 
weichen  bekanntlich  die  Ansichten  der  Autoren  über  die  Localisation 
der  Empfindungen  auf  der  Hirnrinde  soweit  auseinander,  dass  man  ein 
kleines  Buch  über  dieses  Thema  schreiben  könnte.  In  neuester  Zeit 
haben  aber  Horsley  und  Schaefer*)  durch  Versuche  an  Affen  die 
Ansicht  zu  begründen  versucht,  dass  es  von  den  verschiedenen  Ab- 
schnitten des  sogenannten  Lobus  limbicus  wesentlich  der  Gyrus  forni- 
catus  sei,  dessen  Zerstörung  contralaterale  Anästhesie  bedinge.  Gerade 
mit  Bezug  auf  diese  Ansicht  wurde  der  Operation  mit  um  so  grösserer 
Spannung  entgegengesehen,  als  der  Tumor,  wenn  er  wirklich  die  dia- 
gnosticirte  Lage  im  Lobulus  paracentralis  einnahm,  sehr  wohl  in  den 
Gyrus  fornicatus  hineingewuchert  sein,  oder  denselben  sonst  beleidigt 
haben  konnte.  Nun  fand  sich  der  genannte  Gyrus  allerdings  hoch- 
gradig comprimirt,  und  der  vorliegende  Fall  könnte  deswegen  wohl  zu 
einer  Stütze  der  Horsley-Schaefer'schen  Theorie  verwerthet  werden. 
Jedoch  dürfte  die  allergrösste  Vorsicht  nach  dieser  Richtung  hin  um 
so  mehr  zu  empfehlen  sein,  als  die  Erfahrungen,  welche  wir  und  Andere 
an  Balkentumoren,  die  in  die  Hemisphäre  hinein  wucherten,  gemacht 
haben,  und  ja  auch  die  Ergebnisse  des  Falles  I  (Hg.)?  von  dem  unsere 
heutige  Besprechung  ihren  Ausgangspunkt  nahm,  keineswegs  im  gleichen 
Sinne  sprechen. 

Endlich  haben  wir  noch  kurz  des  Reizzustandes,  in  welchem 
sich  vornehmlich,  wenn  auch  nicht  ausschliesslich  die  Muskulatur  der 
gelähmten  Seite  befand,  zu  gedenken.  Die  Lähmung  war  eine  höchst 
ausgesprochen  spastische  und  die  Sehnenphänomene  auf's  Aeusserste  ge- 
steigert. Unzweifelhaft  sind  diese  Erscheinungen  auf  die  Irritation  der 
Rinde  durch  den  ihr  in  grosser  Ausdehnung  aufliegenden  Tumor  zu  be- 
ziehen. Immerhin  ist  es  interessant,  darauf  aufmerksam  zu  machen, 
dass    gerade    so    hochgradige  Reizerscheinungen    keineswegs  unter  dem 


*)  Horsley  and  Schaefer,  A  Record  of  experiments  upon  the  function 
of  the  cerebral  cortex.   Philosoph.  Transact.   Vol.  179  (1888).  ^ 

19* 


•  —     292     — 

Einflüsse  der  absteigenden  Degeneration  entstehen  müssen,  sondern  sehr 
wohl  auf  corticale  Reizzustände  bezogen  werden  liönnen. 

Wenn  wir  schliesslich  uns  dem  Grunde  für  das  Mi  sslin  gen 
der  Operation  zuwenden,  so  ist  derselbe  in  diesem  Falle  ausnahmsweise 
nicht  auf  dem  diagnostischen,  sondern  auf  dem  chirurgisch-technischen 
Gebiete  zu  suchen.  Nicht  als  ob  bei  der  Ausführung  der  Operation 
irgend  etwas  versehen  worden  wäre.  DaA^on  konnte  bei  der  bewährten 
Technik  meines  verehrten  Collegen  von  ßramann  keine  Rede  sein. 
Wir  waren  aber  von  vornherein  dahin  übereingekommen,  dass  der 
Tumor  gross,  und  deshalb  auch  die  Trepanationsöffnung  gross  sein  müsse. 
Der  Tumor  präsentirte  sich  auch  f actisch  mit  seinem  Centrum  in  der 
Mitte  der  Schädellücke:  aber  deren  Lumen,  welches  Herr  College 
von  Bramann  mit  8  cm  im  Quadrat  für  gross  hielt,  war  doch  nicht 
gross  genug.  So  nahm  die  Erweiterung  der  Schädellücke,  dann  die 
Abtragung  der  verdächtigen  Falx  und  des  Sinus  nebst  der  Unterbindung 
zahlreicher  Gefässe  eine  kostbare  und  verhänguissvolle  Zeit  in  Anspruch. 
Vielleicht  wäre  es  besser  gewesen,  die  von  der  Falx  und  dem  Sinus 
drohende  Gefahr  einstweilen  auf  sieb  beruhen  zu  lassen;  denn  die  Ge- 
fahr des  Collapses  lag  näher.  Indessen  wären  wir  allen  diesen  Klippen 
wohl  noch  glücklich  entgangen,  wenn  die  Oeffnung  des  Schädels  mit 
der  damals  hier  noch  nicht  vorhandenen  elektrischen  Kreissäge  hätte 
bewirkt  werden  können.  Denn  der  Tod  war,  dies  muss  aus  principiellen 
Gründen,  auf  das  Bestimmteste  betont  werden,  keineswegs  eine  Folge 
der  Entfernung  einer  relativ  grossen  Geschwulst,  sondern  lediglich  eine 
Folge  der  langen  Dauer  der  Operation  mit  allen  ihren  Schädlichkeiten, 
insbesondere  der  prolongirten  Einwirkung  des  Chloroforms  auf  den  ge- 
schwächten Organismus  des  Kranken. 

Dies  eine  Schilderung  unserer  Misserfolge.  Es  ist  eine  alte,  fast 
zur  Trivialität  gewordene  Wahrheit,  dass  man  aus  begangenen  Fehlern 
und  Irrthümern  nicht  selten  mehr  lernen  könne,  als  aus  richtigen  und 
wohlgelungenen  Schlüssen.  Indessen  vermissen  wir  die  practische  Nutz- 
anwendung dieses  Lehrsatzes  in  der  Literatur  insofern  ganz  erheblich, 
als  einmal  die  Misserfolge  nicht  selten  verschwiegen  und  andererseits 
ihre  Gründe  nicht  discutirt  werden,  wenn  man  wirklich  die  Thatsachen 
preiszugeben  für  gutfindet.  Ich  habe  es  für  richtig  gehalten,  der  all- 
gemeinen Ueberzeugung,  welche  auch  die  meine  ist,  Folge  zu  geben, 
und  hoffe,  mir  damit  auch  Ihren  Dank  verdient  zu  haben. 


—     293     — 

Anmerkung. 

28)  von  Bergmann*)  ist  nochmals  auf  diese  Frage  zurückgekommen. 
Er  sagt:  „Eine  Bemerkung  in  Hitzig's  hirnchirurgischen  Misserfolgen  vin- 
dicirt  gegenüber  Ferrier  und  Luciani  dem  Entdecker  der  elektrischen  Reiz- 
barkeit der  Hirnrinde  auch  die  Anwendung  dieser  Entdeckung  auf  die  Be- 
sonderheiten der  Jackson 'sehen  Epilepsie.  Das  ist  ein  Irrthum,  denn  diese 
Application  war  thatsächlich  den  beiden  genannten  Autoren  vorbehalten.  Die 
incriminirte  Stelle  meines  Buches  beginnt  mit  den  Worten:  „Seit  die  Unter- 
suchungen von  Hitzig  u.  s.w.".  Warum  der  Autor  dennoch  die  ihm  schuldige 
Anerkennung  vermisst,  verräth  der  Tenor  seiner  Ausführungen '^  Die  „incri- 
minirte" Stelle  der  2.  Auflage  lautete:  „Alle  Beobachter  erkennen  an  und  be- 
stätigen, was  Ferrier  und  Luciani  zuerst  gefunden  haben,  dass  der  Anfall 
stets  in  derjenigen  Muskelgruppe  beginnt,  ^velche  dem  elektrisch  gereizten 
Centrum  in  der  Pvinde  entspricht,  dem  ihr  zugehörigen  und  vorstehenden 
Rindenfelde.  Bald  bleibt  der  Krampf  nur  auf  diese  eine  Muskelgruppe  be- 
schränkt (Monospasmus),  bald  breitet  er  sich  weiter  aus  auf  die  Muskeln  nur 
einer  Körperhälfte,  oder  weiter  noch  auf  die  des  ganzen  Körpers  (Hemispasmus 
und  allgemeine  Epilepsie)". 

Genau  die  in  diesem  Absatz  angeführten  Thatsachen  sind  in  der  von  mir 
gemeinschaftlich  mit  Fritsch  im  Frühjahr  1870  veröffentlichten  Abhandlung 
(siehe  oben  S.  21,  22)  zuerst  mitgetheilt  worden.  Da  die  Untersuchungen  von 
Ferrier  und  Luciani  erst  durch  die  unserigen  inspirirt  waren,  so  können 
die  fraglichen  Thatsachen  nicht  von  jenen  Autoren  zuerst  gefunden  worden 
sein,  von  Bergmann  war  und  ist  also  im  Unrecht.  Was  es  mit  der  Heran- 
ziehung der  Jackson 'sehen  Epilepsie,  einem  klinischen  Syndrom,  auf  sich 
hat,  lasse  ich  um  so  mehr  unerörtert,  als  davon  weder  an  der  angeführten 
Stelle  der  2.  Auflage  von  Berg  mann 's  noch  an  der  angeführten  Stelle 
meines  Vortrags  die  Rede  war;  überhaupt  ist  diese  Sache  hiermit  für  mich 
erledigt  (vgl.  hierzu  noch  meine  vorstehenden  Aufsätze:  „Ueber  einen  inter- 
essanten Abscess  der  Hirnrinde",  „Ueber  äquivalente  Regionen  etc."  und  die 
Anmerkung  11  S.  68  ff.). 


*)  von  Bergmann,  Die  chirurgische  Behandlung  von  Hirnkrankheiten. 
3.  Auflage.   1899.   S.  401. 


XV.   Ein  Beitrag  zur  Hiriicliirurgie. 

III. 

Vortrag,  vorbereitet  für  die  IIL  Versammlung  mitteldeutscher  Psychiater  und 
Neurologen  zu  Jena  1.  Mai  1898. 

Die  in  den  letzten  Jahrzehnten  auf  dem  Gebiete  der  Hirnchirurgie 
erwachsenen  Fragen  gehören  unstreitig  auch  heute  noch,  und  heute  viel- 
leicht mehr  als  je,  zu  den  wichtigsten  Problemen  der  Neuropathologie. 
Die  Fortschritte  der  Physiologie  und  Pathologie  einerseits,  der  Chirurgie 
andererseits  haben  die  Diagnose  und  die  Heilung  von  früher  absolut 
hoffnungslosen  Leiden  ermöglicht.  Mag  aber  die  Eröffnung  der  Schädel- 
kapsel auch  gegenwärtig  als  ein  gegen  früher  verhältnissmässig  unge- 
fährlicher Eingriff  gelten,  so  entstehen  doch  neue  Gefahren  durch  die 
Beschaffenheit  der  Krankheitsproducte,  welche  man  zu  beseitigen  beab- 
sichtigt, durch  die  Beschaffenheit  des  Organismus,  an  dem  die  Opera- 
tion vorgenommen  wird,  und  selbst  die  Operation  kann  eine  Anzahl 
von  Zwischenfällen  mit  sich  bringen,  die  im  Verein  mit  den  erwähnten 
Umständen  das  Leben  des  Operirten  unmittelbar  gefährden.  Ueberdies 
wird  aber  die  Trepanation,  selbst  wenn  sie  glücklich  verläuft,  immer 
ein  schwer,  nur  unter  bestimmten  Bedingungen  zu  wagender  Eingriff 
bleiben. 

So  werden  denn  die  Anforderungen  an  die  stetige  Vervollkomm- 
nung der  Diagnostik  nach  allen  ihren  verschiedenen  Richtungen  hin 
immer  mehr  und  mehr  anwachsen.  Denn  wenn  der  Arzt  sich  auch 
wohl  selbst  bewusst  sein  mag,  dass  er  die  Trepanation  nur  Angesichts 
der  Hoffnungslosigkeit  anderweitiger  Heilmethoden  vorgenommen  hat,  so 
liegt  doch  schon  in  der  Nutzlosigkeit  einer  Operation  von  dieser  Be- 
deutung an  sich,  namentlich  aber  dann,  wenn  der  tödtliche  Ausgang 
sich  mehr  oder  minder  unmittelbar  an  sie  anschliesst,  ein  Moment,  das 
mindestens  die  Empfindung  der  Unbefriedigung  mit  der  eigenen  Thätig- 
keit  wachruft,  während  die  betheiligten  Laien  selbstverständlich  zu  noch 
erheblich  ungünstigeren,  wenn  auch  vielleicht  ungerechtfertigten  Urtheilen 
über  die  ärztlichen  Maassnahmen  gelangen  können. 


—     295     — 

An  Mis«erfolgeii  auf  unserem  Gebiet  ist  aber,  wie  die  Literatur  uns 
lehrt,  auch  heute  noch  leider  kein  Mangel.  Die  Hirnchirurgie  hat  denn 
auch,  ungeachtet  ihres  jugendlichen  Alters,  bereits  verschiedene  Phasen 
durchgemacht.  Auf  eine  Periode  des  durch  einzelne  glückliche  Resul- 
tate wachgerufenen  Enthusiasmus  ist  eine  andere  des  Skepticismus,  um 
nicht  zu  sagen  des  Pessimismus,  gefolgt,  und  in  dieser  letzten  Periode 
befinden  wir  uns  wohl  noch.  Ich  selbst  habe  mich,  wie  ich  glaube, 
von  jeher  von  dem  einen  wie  dem  anderen  Extrem  ferngehalten.  So 
habe  ich  denn  auch  in  zwei  früheren  Arbeiten,  während  ich  zwei  mit 
glücklichstem  Erfolge  operirte  Fälle  publicirte '■'),  mich  wohl  gehütet, 
mich  zu  grossen  Hoffnungen  hinzugeben,  und  während  ich  vier  Miss- 
erfolge mittheilte**),  damit  keineswegs  Zweifel  an  der  Berechtigung 
wohlüberlegten  chirurgischen  Eingreifens  erwecken  wollen.  Schon  da- 
mals habe  ich  den  Standpunkt  eingenommen,  auf  dem  ich  noch  jetzt 
stehe,  den  Standpunkt,  dass  diese  ganze  Lehre  sich  erst  im  Anfange 
ihrer  Entwickelung  befinde,  so  dass  wir  noch  viel  zu  arbeiten  haben 
werden,  bevor  wir  mit  der  überhaupt  erreichbaren  diagnostischen 
Sicherheit  ausgerüstet  sein  werden.  Dabei  schweige  ich  davon,  dass 
auch  die  chirurgische  Technik  sicherlich  noch  weiterer  Vervollkommnung 
fähig  ist. 

Li  diesem  Sinne  wollen  Sie  die  folgende  Mittheilung  auffassen.  Sie 
beansprucht  nicht  mehr,  als  die  Erörterung  einiger  noch  nicht  ganz  ge- 
klärter, wichtiger  Fragen,  vornehmlich  die  der  corticalen  Kräoapfe,  an 
der  Hand  von  zwei  neuen  Fällen.  Einen  Abschluss  derselben  wird  auch 
sie  nicht  bringen. 

Beobachtung  I. 

Potator.  Beginn  der  Krankheit  apoplektiform  mit  Krämpfen. 
Parese  im  linken  Arm,  zahlreiche  Krampfanfälle  in  demselben. 
Trepanation.  Entleerung  einer  im  Armcentrum  belegenen  Cyste. 
Exitus  durch  Vaguslähmung. 

Pvö.,  48  Jahre  alter  Steinbruchsarbeiter. 

Anamnese.  Der  Vater  hat  sich  erschossen,  die  Mutter  hatte,  wahr- 
scheinlich hysterische,  Krämpfe.  Pat.  war  niemals  krank,  hat  aber  seit 
28  .Jahren  täglich  durchschnittlich  für  10  Pf.  Schnaps  getrunken.  Am 
28.  Nov.  V.  J.  empfand  er  plötzlich  beim  Holzmachen  im  linken  Arm 
,,  einen  Schlag",  der  sich  links  bis  in  das  Genick  ausdehnte,  das  Gesicht 
aber  freiliess.  Der  Anfall  begann  in  den  Fingerspitzen  und  stieg  von  da  an 
aufwärts,   so  dass  der  Kopf  ca.  eine  Stunde  lang  verdreht  war.    Pat.  sei  dann 


*)  Siehe  oben  S.  247. 
**)  Siehe  oben  S.  264. 


—     296     — 

etwa  zwei  Stunden  lang  bewusstlos  gewesen.  Als  er  wieder  zu  sich  kam,  war 
der  linke  Arm  gelähmt,  am  meisten  in  den  Fingern  und  dann  abnehmend  bis 
zur  Schultergegend.  Diese  Lähmung  besserte  sich  allmählich,  ohne  sich  jedoch 
je  ganz  zu  verlieren.  In  den  nächsten  drei  Wochen  hatte  Fat.  fast  alle  Tage 
Anfälle,  die  mit  Ameisenlaufen  und  Zuckungen  im  Daumen  oder 
Zeigefinger  begannen  und  mit  Zuckungen  in  den  Muskeln  des  Vorderarms 
verliefen.    Ihre  Dauer  betrug  angeblich  ca.  5  Minuten. 

Diese  Anfälle  hörten  dann  bis  zum  25.  Januar  Avieder  auf.  An  diesem 
Tage  trat  wieder  ein  schwerer  Krampfanfall  ein,  der  im  linken  Arm  begann, 
dann  die  linke  Brust-  und  Bauchseite  und  zuletzt  die  linke  Gesichtshälfte  er- 
griff.   Darauf  trat  Bewusstlosigkeit  von  angeblich  4 — 5  Minuten  Dauer  ein. 

Kopfschmerz,  Erbrechen,  -Schwindel  oder  Sehstörungen  will  Fat.  niemals 
gehabt  haben. 

Status  praesens  30.  Januar  1898.  An  den  Hirnnerven  nichts  Be- 
sonderes, namentlich  wird  die  Zunge  gerade  und  ohne  Zittern  herausgestreckt, 
auch  ergiebt  die  ophthalmoskopische  Untersuchung  durchaus  normale  Verhält- 
nisse. Nur  der  linke  Facialis  zeigt  undeutlich  eine  etwas  schwächere  Inner- 
vation, insofern  als  der  Mundwinkel  beim  Oeffnen  des  Mundes  vielleicht  etwas 
tiefer  steht  und  das  Auge  nicht  ganz  so  fest  geschlossen  werden  kann.  Der 
Kopf  ist  auf  Beklopfen  nirgends  schmerzhaft.  — 

Der  linke  Arm  ist  deutlich  dünner  als  der  rechte.  An  den  dicksten 
symmetrischen  Stellen  beträgt  der  Umfang: 

des  Oberarms  links    23  cm,    des  Vorderarms  links    23,5  cm, 
„  „         rechts  25    ,,       „  „  rechts  25,0    „ 

Der  Daumen-  und  Kleinflngerballen,  sowie  Spatium  interosseum  I  und  11  er- 
scheinen deutlich  eingesunken. 

Der  linke  Arm  kann  activ  nicht  ganz  zur  Verticalen  erhoben  werden; 
der  passiven  Erhebung  wird  unter  Schmerzensäusserung  Widerstand  im  Gelenk 
entgegengesetzt.  Die  grobe  Kraft  bei  der  Extension  und  Flexion  des  Vorder- 
arms gegen  den  Oberarm  erscheint  etwas,  aber  nur  wenig,  herabgesetzt.  Die 
Supination  gelingt  links  nicht  ganz  vollständig.  Die  Hand  kann  activ  nur  bis 
zur  Horizontalen  gestreckt  und  bis  zu  ca.  45  Grad  gebeugt  werden.  Adduction 
und  Abduction  sind  nur  in  geringem  Grade  möglich.  Fat.  vermag  von  den 
Fingern  nur  den  Zeigefinger  gegen  den  Daumen  zu  bringen,  bei  Klavierspieler- 
bewegungen bleiben  die  Finger  der  linken  Hand  fast  ganz  zurück:  der  Hände- 
druck ist  äusserst  schwach. 

Die  Sensibilität  zeigt  keine  deutlichen  Störungen.  An  den  unteren 
Extremitäten  keinerlei  Anomalien. 

Die  Sehnen-  und  Feriostreflexe  waren  an  der  linken  oberen  Extremität 
besonders,  die  ersteren  überall  lebhaft. 

Verlauf:  Vom  2.  Februar  an  trat  eine  grosse  Anzahl  von  Anfällen 
auf,  die  theils  von  mir  selbst,  theils  von  den  Assistenten,  theils  von  den 
Wärtern,  theils  lediglich  von  dem  Kranken  beobachtet  wurden.  Der  erste  der- 
artige, nicht  beobachtete  Anfall  hatte  nach  den  Angaben  des  Kranken  folgenden 
Verlauf:    Es   traten  zuerst  kurze  rhythmische  Zuckungen  im  Daumen  auf,   die 


—     297     — 

dann  die  anderen  Pinger,  die  ganze  Hand,  den  Unterarm,  den  Oberarm  und 
schliesslich  die  Schulter  ergrilfen.  Nach  ca.  3  Min.  hörten  diese  Zuckungen 
dort  auf,  um  nach  ca.  1  Min.  ebenda  wieder  anzufangen  und  nun  in  entgegen- 
gesetzter Richtung  zu  den  Fingern  herabzusteigen.  Hier  hörten  sie  zuerst, 
zuletzt  aber  in  den  Schultermuskeln  auf.  Das  Bewusstsein  war  dabei  nicht 
getrübt. 

Am  Nachmittag  trat  ein  gleichfalls  nur  vom  Kranken  beobachteter  Anfall 
auf,  der  sich  auf  Finger,  Hand  und  Vorderarm  beschränkte. 

4.  Februar.  Anfall,  während  ich  selbst  gerade  den  Kranken  untersuchte. 
Rhythmische  Zuckungen  begannen  im  Daumen,  gingen  dann  auf  die  anderen 
Finger  und  die  Vorderarmmuskulatur  über,  dabei  lebhafte  rhythmische  Adduc- 
tionsbewegungen   der  Hand.     Der  Anfall   schloss  mit  Zuckungen   im  Daumen. 

5.  Februar  und  7.  Februar  je  ein  gleicher  Anfall.  9.  Februar  ein  ähn- 
licher Anfall,  bei  dem  die  Zuckungen  zwar  wieder  im  Daumen  begannen,  aber 
zuerst  in  den  Fingern,  zuletzt  im  Ellenbogen  aufgehört  haben  sollen. 

10.  Februar  abends  Anfall,  in  den  beiden  letzten  Fingern  anfangend  und 
sich  bis  zur  Schulter  hinaufziehend.  Der  Daumen  blieb  frei.  Der  Anfall  hörte 
zuerst  in  den  Fingern,  zuletzt  in  der  Schulter  auf;  10  Min.  später  Anfall,  in  der 
Ellenbeuge  anfangend,  sich  zur  Schulter  hinaufziehend  und  hier  aufhörend. 
11.  Februar  Anfälle,  theils  vom  Praktikanten,  theils  von  einem  Arzt  beobachtet. 
Die  Zuckungen  fingen  im  Daumen  an,  gingen  auf  die  anderen  Finger  über  und 
hörten  daselbst  auf.  Gleich  darauf  Zuckungen  in  den  drei  letzten  Fingern,  im 
Daumen  und  im  Vorderarm.  Einige  Stunden  später  Zuckungen  im  Daumen, 
im  Vorderarm,  nicht  in  den  anderen  Fingern,  gleich  darauf  im  linken  Corru- 
gator  supercilii. 

In  der  Folgezeit  zahlreiche  Anfälle,  die  zum  grösseren  Theil  im  Daumen 
oder  in  den  Fingern  anfingen  und  sich  auf  die  obere  Extremität  oder  nur  den 
Vorderarm  erstreckten.  Bei  einem  Anfall  am  15.  Februar  wurde  die  gesammte 
Rumpfmuskulatur  mit  ergriffen. 

Mehrere  Anfälle  am  18.  und  19.  Februar  hatten  den  specifischen  Rinden- 
typus. Bei  ihnen  war  die  Reihenfolge  der  Zuckungen:  Daumen,  Zeigefinger, 
andere  Finger,  Hand,  Vorderarm,  Schulter  und  dann  wieder  abwärts,  so  dass 
der  Daumen  dann  noch  eine  Zeit  lang  weiter  zuckte. 

21.  Februar.  Krampfanfall,  beginnend  im  Daumen,  dann  die  anderen 
Finger  und  die  Hand. 

22.  Februar.  Zwei  Krampfan  fälle,  beginnend  im  kleinen  Finger,  dann  in 
den  anderen  Fingern  und  im  Daumen. 

23.  Februar  wurde  der  Kranke  nach  der  chirurgischen  Klinik  vorlegt. 
Dort  mehrere  Krampfanfälle,  von  denen  einer  am  24.  Februar  abends  beob- 
achtet wurde.  Dieser  begann  im  Daumen  und  ging  dann  der  Reihe  nach  auf 
den  Zeigefinger,  die  anderen  Finger  und  die  Hand  über,  die  im  Handgelenk 
zuckte. 

Operation  25.  Februar  mittags  12  Uhr. 

Durch  Bildung  eines  etwa  5  cm  breiten,  4  cm  langen  Haut-Periost- 
Knochenlappens  mit  der  Basis  nach  unten,  wird  der  mittlere  Theil  der  beiden 


—     298     — 

Centralwindungen  derart  aufgedeckt,  dass  die  Centralfurcbe  annähernd  durch 
die  Mitte,  etwas  mehr  nach  hinten,  der  Schädellücke  verläuft.  Nach  Frei- 
legung der  Dura  erscheint  diese  stark  gespannt,  in  ihrer  ganzen  hinteren 
Hälfte  deutlich  buckelartig  hervorgetrieben,  in  dem  kleineren  Theil  der  hinteren 
Hälfte  durch  zahlreiche,  darunter  liegende  Venen  der  Pia  bläulich  durch- 
scheinend. Bei  der  Spaltung  der  Dura  wurden  die  weichen  Hirnhäute  an  einer 
unmittelbar  vor  der  Mitte  der  Centralfurcbe  belegenen  Stelle,  welche  besonders 
stark  hervorgetrieben  war  und  innerhalb  eines  von  drei  Venen  eingefassten 
Dreiecks  im  Gegensatz  zu  der  anderweitigen  normalen  Färbung  der  Hirnober- 
fläche stark  anämisch  war,  leicht  verletzt.  Im  Uebrigen  zeigte  die  Hirnober- 
fläche  keinerlei  Anomalien. 

Die  faradische  Reizung  üiit  einem  Strom,  der  auf  der  Zunge  schon  unan- 
genehm empfunden  wurde,  ergab,  auch  nachdem  Fat.  schon  wieder  zu  stöhnen 
begann,  keinerlei  Zackungen.  Diese  blieben  auch  aus,  nachdem  die  Rolle 
reichlich  1  cm  weiter  hineingeschoben  war. 

Bei  der  Function  mit  einer  Functionsnadel  in  der  Mitte  der  verletzten 
Stelle  versinkt  diese  von  selbst  und  ihre  Spitze  bleibt  frei  beweglich.  Nach 
Incision  an  dieser  Stelle  fliesst  eine  reichliche  Menge  goldgelber  Flüssigkeit 
aus  einer  kleinapfelgrossen,  giattwandigen  Cyste  aus.  Nachher  collabirt  die 
vorher  stark  gespannte  Hirnoberfläche,  namentlich  in  dem  oberhalb  der  Inci- 
sion gelgenen  Theile  beträchtlich,  so  dass  dieser  Theil  stark  eingesunken,  fast 
faltig,  erscheint. 

Tamponade  der  Höhle,  sowie  über  und  unter  dem  zurückgeklappten  Lap- 
pen durch  .Jodoformgaze  unter  geringer  Compression. 

Der  Puls  hatte  schon  während  der  Narkose  öfters  gewechselt.  Gleich 
nachher  betrug  er  136,  war  aber  kräftig. 

Nachmittags  grosse  Unruhe.  Fat.  vermag  den  linken  Arm  noch  zu  be- 
wegen. 

xibends  totale  Lähmung  der  oberen  Extremität.    T.  36,5,  F.  154. 

Morgens  3  Uhr  Exitus,  nachdem  der  Puls  filiform  und  die  Athmung  sehr 
beschleunigt  geworden  war. 

Obduction.  In  der  Umgebung  der  Incisionsstelle  eine  dünne  Blut- 
schicht; Innenfläche  der  Dura  matt,  ohne  Auflagerungen.  Verminderter  Blut- 
gehalt der  Gefässe.  Auf  der  Dura  der  Partes  orbitales  des  Stirnbeins  eine 
ganz  frische  Blutschicht.  Die  cystische  Höhle  erscheint  jetzt  spaltförmig,  an 
ihren  Wandungen  mit  leicht  geronnenem  Blute  in  dünner  Schicht  bedeckt, 
dicht  unter  der  Rinde  belegen.    Rinde  und  weisse  Substanz  sehr  blass. 

Der  knorpelige  Ueberzug  des  linken  Humeruskopfes  war  stellenweise  ge- 
röthet  und  rauh. 

Beobachtung  11. 

Mädchen.  Beginn  mit  2  epi leptiformen  Anfällen,  localen 
Zuckungen  und  psychischen  Erscheinungen.  Zahllose  auf  Hirn- 
nerven und  einige  Muskeln  des  linken  Arms  localisirte  Anfälle, 
Parese  im  linken  Facialis  und  einigen  Muskeln    der   linken  Ober- 


—     299     — 

extremität.  ResultatI  ose  Trepanation.  Exitus  an  Erschüpi'ung. 
Section  negativ. 

Ida  R.,  17  -Jahr  altes  Dienstmädchen. 

Anamnese.  Staramt  nach  den  Angaben  einer  Schwester  aus  einer  nicht 
belasteten  Familie.  Sie  hatte  seit  ca.  einem  halben  .Jahre  ein  Verhcältniss  mit 
einem  Gehilfen  ihres  Dienstherrn,  der  sie  heirathen  wollte,  sehr  eifersüchtig 
war  und  sie  verfolgte,  ohne  dass  sie  jedoch  angeblich  an  die  Ehe  dachte. 
Gleichwohl  sagte  sie  ihm  beim  Abschied,  der  infolge  der  Einmischung  des 
Dienstherrn  erfolgte:  „Bleib'  nicht  zu  lange,  sonst  setz'  ich  mir  was  in  den 
Kopf".  Irgend  welche  tiefere  Erregung  oder  eine  Scene  soll  nicht  stattgefun- 
den haben.  Andererseits  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  die  R.  wie- 
derholt geschlechtlichen  Umgang  gepflogen  hat. 

Nachdem  Pat.  schon  einige  Tage  ungewöhnlich  laut  gewesen  war,  und 
sich  durch  vieles  Lachen  auffällig  gemacht  hatte,  erkrankte  sie  am  Abend 
jenes  Abschiedstages,  6  Tage  vor  ihrer  Aufnahme,  mit  einem  Krampfanfall. 
Sie  soll  plötzlich  beide  Arme  nach  vorn  gestreckt,  den  Kopf  zurückgebogen, 
die  Augen  verdreht,  gestöhnt  haben  und  dann  plötzlich  gestreckt  vom  Stuhl 
heruntergefallen  sein.  Dann  habe  sie  mit  Armen  und  Beinen  gezuckt  und  ge- 
röchelt. Erst  nach  einer  Viertelstunde  kam  sie  wieder  zu  sich  und  hatte 
dann  Angst. 

In  den  folgenden  Tagen  trat  noch  ein  ähnlicher  Anfall,  ausserdem  aber 
öfters  unabhängig  davon  Zucken  im  Gesicht  und  Knirschen  mit  den  Zähnen 
ein.  In  der  Zwischenzeit  soll  sie  angeblich  vollkommen  klar  gewesen  sein,  bis 
der  Dienstherrschaft  am  Tage  vor  der  Aufnahme  einzelne  ihrer  Aeusserungen 
auffielen. 

Status  praesens  21.  Februar  1898.  Bei  der  Aufnahme  ist  Pat.  leicht 
verwirrt,  unvollkommen  orientirt,  zieht  sich  die  Kleider  aus,  anstatt  an,  dreht 
sich  zwecklos  im  Zimmer  herum  und  ist  nicht  im  Stande,  zusammenhängende 
Auskunft  zu  ertheilen.  Bald  nachher  auf  der  Abtheilung  ist  sie  ganz  klar, 
wenn  auch  leicht  gehoben.  Sie  lässt  sich  unbefangen  über  ihr  Liebesverhält- 
niss  aus,  so  richtig  lieb  gehabt  habe  sie  den  Betreffenden  nicht,  es  sei  ihr  ganz 
recht,  dass  alles  so  gekommen;  Krankheitsbewusstsein  hat  sie  nicht.  Körper- 
liche Anomalien  sind  zunächst  nicht  nachweisbar,  weder  Allgemeinerschei- 
nungen, noch  Herdsymptome.  P.  80.  Der  wahrscheinlich  durch  Scheiden- 
sekret (eiteriger  Katarrh)  verunreinigte  Urin  ist  trübe,  enthält  weder  Eiweiss, 
noch  Zucker,  aber  zahlreiche  Bakterien  und  weisse  Blutkörperchen. 

22.  Februar  abends.  Total  verwirrt.  „Ich  bin  gar  nicht  da,  ich  weiss 
gar  nicht,  wo  ich  bin,  meine  Nerven  sind  weg,  meine  Gedanken  fort". 

24.  Februar.  Tobsüchtig  erregt.  Redet  unaufhörlich  und  droht  die  Fen- 
ster einzuschlagen.  Zeitweise  ganz  ruhig  und  verständig,  dann  wieder  total 
verwirrt. 

25.  Februar.  Während  der  Visite  Beginn  einer  Serie  von  Krampf- 
anfällen. Zuerst  wird  der  Unterkiefer  mit  einem  leichten  seufzenden  Schrei 
nach  unten  gezogen,  dann  wird  der  linke  Mundwinkel  tonisch  nach 
links  gezogen  und  beide  Augen  tonisch  g es chlossen.  Hieran schliesst 


—     300     — 

sich  ein  klonischer  Krampf  der  Orhiculares  palpebrarum,  gleichzeitig  drehen 
sich  die  Augen  und  der  Kopf  stark  nach  links.  In  den  Masseteren  und  der 
Zungenmuskulatur  bestand  ein  klonischer  Krampf.  Die  betheiligten  Nacken- 
und  Halsmuskeln  waren  mehr  tonisch  mit  kurz  dauernden  Unterbrechungen 
contrahirt.  Die  übrigen  Muskeln,  insbesondere  auch  die  der  Extremitäten, 
blieben  in  Ruhe,  die  Pupillen  waren  stark  erweitert  und  reactionslos. 

Derartige  Anfälle,  von  denen  ich  mehrere  absolut  identische  selbst  beob- 
achtete, folgen  in  Zwischenräumen  von  wenigen  Minuten  bis  einer  Viertelstunde 
unaufhörlich  aufeinander,  mindestens  20  an  dem  Nachmittag.  Sie  dauern  ca. 
1 — 3  Minuten  und  enden  ziemlich  plötzlich.  Bei  längeren  Pausen  kann  Pat. 
unmittelbar  nach  Beendigung  des  Anfalls  aufstehen  und  gestellte  Fragen  be- 
antworten. 

26.  Februar.  Wiederholtes  Erbrechen,  zweimal  nüchtern.  Fast  ununter- 
brochen kurz  dauernde  Krampfanfälle  der  beschriebenen  Art,  die  in  ganz  typi- 
scher Weise  verlaufen.  An  dem  Facialiskrampf  betheiligt  sich  auch  das  Pla- 
tysma, die  Stirnmuskeln  kaum.  Am  Anfalle  betheiligen  sich  auch  mit  blitz- 
artigen Zuckungen  Abductor  und  Extensor  pollicis  und  Flexor  carpi 
radialis.  In  den  Pausen  zv/ischen  den  Anfällen  langsame  „athethose- 
artige"  Bewegungen  in  der  linken  Hand  und  im  linken  Arm.  Der 
linke  Daumen  und  der  linke  Facialis  bleiben  bei  Willkürbewe- 
gungen zurück. 

Während  der  Anfälle  reagirt  Pat.  auf  Fragen  nicht;  im  Moment  des  Auf- 
hörens der  Anfälle  beantwortet  sie  Fragen  im  allgemeinen  zutreffend,  ist  dabei 
aber  massig  verwirrt,  lacht  unmotivirt:  Es  geht  ihr  gut,  ist  gar  nicht  krank, 
bloss  in  der  Hand,  da  geht  doch  die  Haut  drüber  — ,  etc.    P.  80. 

Allein  in  der  Zeit  von  12  bis  l^/^  Uhr  werden  46  solcher  Anfälle  gezählt. 
Nahrung  hat  die  Kranke  bis  jetzt  so  gut  wie  gar  nicht  zu  sich  genommen. 

Klinische  Vorstellung.  Während  derselben  mehrere  Anfälle  der  be- 
schriebenen Art,  sodann  ein  grosser  Anfall,  der  in  der  gewöhnlichen  Weise 
links  beginnend,  erst  die  gesammte  linke  Seite  ergreift  und  dann  auf  der  rech- 
ten Seite  im  Bein  anfängt.  Pat.  wird  zunächst  tief  chloroformirt  und  über 
zwei  Stunden  lang  in  der  Narkose  erhalten.  Während  der  Narkose  nehmen  die 
Anfälle  ab,  ohne  ganz  aufzuhören.  Abends  im  Verlauf  von  3  Stunden  5  g 
Chloralhydrat.  Dabei  nehmen  die  Anfälle  wieder  zu,  zeigen  aber  nunmehr 
einen  atypischen  Verlauf.  Z.  B. :  Hand,  Arm,  Bein,  Nacken,  Gesicht  andeu- 
tungsweise, Aufhören  in  der  Hand,  Arm,  Bein,  Aufhören  im  Arm.  Nacken, 
Facialis,  dabei  im  Arm  stossartige  Bewegungen,  im  Bein  Strecktonus.  Nur 
Ablenkung  der  Augen  nach  links  etc. 

Schläft  gegen  11  Uhr  nachts  ein. 

27.  Februar.  Fast  ununterbrochene  Anfälle,  meist  nur  im  Gesicht,  ein- 
zelne auf  den  Arm  übergehend. 

In  den  Pausen  zwischen  den  Anfällen  reagirt  Pat.  auf  Ansprechen  und 
Anforderungen  sinngemäss. 

Respiration  schwerer,  etwas  rasselnd.    P.  stets  kräftig,  76. 

In    die    chirurgische   Klinik   verlegt.     Dortselbst  ist  notirt:   Pat. 


—     301     — 

blass,  etwas  cyanotisch,  vollkommen  bewusstlos.  P.  112—120,  sein  klein,  ge- 
spannt.   T.  86,4.    Starke  Bronchitis,  starke  Salivation. 

Der  linke  Daumen  ist  etwas  fester  adducirt.  Anfälle  in  Intervallen  von 
1  —  5  Minuten,  von  gleichem  Charakter  wie  die  in  der  Nervenklinik  beobach- 
teten; meist  Gesicht,  meist  linker  Facialis,  zuweilen  auch  der  linke  Arm,  selten 
auch  das  linke  Bein. 

Operation  von  fünf  Viertelstunden  Dauer,  während  deren  Fat.  nur 
wenige  Tropfen  Chloroform  erhält.  Die  Operation  sollte  den  Schädel  so  er- 
öffnen, dass  die  obere  Grenze  des  unteren  Drittels  der  Centralwindungen  in 
die  Mitte  der  Schädellücke  zu  liegen  kam.  (Bei  der  Section  zeigte  sich,  dass 
die  Stelle  gut  getroffen  war.)  Die  Aussenfläche  der  Dura  erwies  sich  an  ein- 
zelnen Stellen  leicht  streifig  verfärbt  und  verdickt.  Die  Dura  und  die  Hirn- 
oberfläche ausserordentlich  stark  gespannt.  Die  freigelegte  Arachnoidea  er- 
schien leicht  granulirt,  und  die  Pia  ganz  ausserordentlich  hyperämisch,  so 
dass  jedes  kleinste  Gefäss  stark  injicirt  war.  Im  Gegensatz  hierzu  war  eine 
längliche,  in  der  Mitte  der  Operationsfläche  in  der  vorderen  Central  Windung 
belegene,  ca.  2  cm  lange  Stelle  deutlich  anämisch.  Sonst  fand  sich  nichts 
Abnormes.  Der  Puls  war  andauernd  klein,  frequent  und  gespannt  gewesen. 
Transfusion  von  250  com.  NaCl-Lösung,  nachher  Excitantien.  Die  Anfälle 
dauern  fort  (in  den  ersten  vier  Stunden  15—20).    Schluckbeschwerden. 

Ausserhalb  der  Anfälle  Parese  des  linken  Facialis  und  des  linken  Arms. 
Spricht  ab  und  zu  spontan  einige  verständliche  Worte,  es  gehe  jetzt  besser  etc. 

Gegen  Abend  seltenere  aber  heftige  Anfälle  in  denselben  Gebieten  (von 
7 — 9  Uhr  sechs,  von  9 — 12  Uhr  drei  Anfälle),  manchmal  nur  im  Gesicht.  Un- 
ruhig, will  aus  dem  Bett.  P.  160,  gcpannt,  klein.  T.  morgens  36,4: 
abends  37,8. 

28.  Februar  morgens  gehäufte  Anfälle,  alle  10 — 12  Minuten,  nachher  alle 
5 — 7  Minuten.    Pat.  spricht  viel,  ist  unruhig. 

Abends  vorübergehendes  Aussetzen  der  Anfälle.  Nachts  12  Uhr  beginnen 
diese  von  neuem  sehr  heftig,  auch  mit  Betheiligung  des  linken  Beins.  P.  mini- 
mal, fliegend,  180. 

1.  März.  P.  elend.  T.  39,2,  noch  fünf  Anfälle.  Exitus  liy^  Ühr 
morgens. 

Die  Hirnsection  ergab  makroskopisch  so  gut  wie  nichts  Abnormes. 
Die  weichen  Hirnhäute  erschienen  jetzt  geradezu  anämisch,  die  Arachnoidea 
ganz  leicht  getrübt.  An  einer  unmittelbar  hinter  der  anlässlich  der  Trepana- 
tion erwähnten  und  zwar  hinter  der  hinteren  Centralwindung  gelegenen  Stelle 
adhärirte  die  Pia  derart  der  Hirnoberfläche,  dass  sie  nur  mit  Substanzverlust 
abgelöst  werden  konnte. 

Bevor  ich  auf  die  unser  eigentliclies  Thema  betreffenden  Fragen 
eingehe,  will  ich  nur  einen,  allerdings  besonders  interessanten  Punkt 
ganz  kurz  berühren.  Wir  haben  gesehen,  dass  der  Kranke  der  Beob- 
achtung I  eine  sehr  deutliche,  gleichmässige  Atrophie  von  1,5 
bis  2  cna  Differenz  der  Umfange  seiner  linken  oberen  Extremität 


—     302     — 

erkennen  liess.  Diese  Atrophie  war  ausserordentlich  schnell  eingetreten, 
denn  Pat.  war  ja  bei  seiner  Aufnahme  erst  seit  zwei  Monaten  krank, 
und  sie  konnte  auch  sonst  nicht  auf  Inactivität  bezogen  werden,  da  das 
Glied  keineswegs  ganz  gelähmt,  sondern  nur  paretisch  war.  Diese  Form 
cerebraler  Atrophien  ist  bekanntlich  erst  seit  w-enigen  Jahren,  nament- 
lich seit  den  Arbeiten  von  Quincke,  Gegenstand  der  Discussion  ge- 
worden und  deshalb  auch  durch  anatomische  Befunde  noch  sehr  wenig 
aufgeklärt.  Der  vorliegende  Fall  besitzt  deshalb  an  und  für  sich  schon 
ein  besonderes  Interesse,  und  dieses  Interesse  wächst  noch  dadurch,  dass 
es  sich  dabei  um  einen  unmittelbar  unter  der  Rinde  sitzenden,  nicht 
wesentlich  raurabeschränkenden  Herd  handelt.  Ich  behalte  mir  vor,  auf 
diese  Frage  unter  Heranziehung  einiger  anderer  hierhergehöriger  Fälle 
demnächst  ausführlicher  zurückzukommen. 

Von  dem  gleichen  Gesichtspunkt  aus,  nämlich  der  Trophoueurose, 
ist  ein  anderes  bei  dem  gleichen  Fall  beobachtetes  Symptom,  das  der 
Schultergelenkentzündung,  zu  betrachten.  Die  Functionsstörung 
des  Delta  war  in  diesem  Falle  so  unerheblich,  dass  das  traumatische 
Moment,  welches  ich  in  einer  früheren  Arbeit*)  zur  Erklärung  solcher 
Schultergelenkentzündungen  mit  herangezogen  hatte,  nicht  verantwort- 
lich gemacht  werden  kann.  Ich  hatte  damals  angenommen,  dass  der 
in  Folge  der  Lähmung  des  Delta  herabsinkende  Kopf  des  Humerus,  in- 
dem er  auf  dem  Rande  der  Gelenkpfanne  ritte,  die  eigentliche  Veran- 
lassung zu  der,  allerdings  durch  vasoparalytische  oder  trophische  Stö- 
rungen begünstigten  Gelenkentzündung  gäbe.  Aus  dem  vorliegenden 
Falle  geht  hervor,  dass  solche  Gelenkentzündungen  auch  ohne  das  Her- 
absinken des  Gelenkkopfes  zu  Stande  kommen  können,  wennschon  die 
Concurrenz  anderweitiger,  allerdings  in  die  physiologische  Breite  fallen- 
der Traumen  dabei  nicht  ausgeschlossen  erscheint. 

Fassen  wir  sodann  diesen  Fall  I  mit  Bezug  auf  die  uns  jetzt  näher 
interessirenden  Krankheitserscheinungen  ins  Auge,  so  liegt  deren  Mecha- 
nismus jetzt  ganz  klar  zu  Tage.  Der  Kranke  hatte  eine  Hämorrhagie 
in  die  subcorticale  weisse  Substanz  erlitten,  diese  Hämorrhagie  hatte 
den  apoplektischen  und  epileptiformen  Insult  hervorgerufen,  und  die 
aus  der  Hämorrhagie  sich  entwickelnde  Cyste  hatte  die  geschilderten 
Krampfanfälle  zur  Folge  gehabt.  Bei  Lebzeiten  war  die  Diagnose  so- 
weit aber  doch  nicht  zu  stellen  gewesen.  Einmal  sind  die  Windungen 
auch  in  ihrer  weissen  Substanz  ein  verhältnissmässig  ungewöhnlicher 
Ort  für  Hämorrhagien,    und  dann    können  ganz    ähnliche^ Insulte  durch 


*)    Hitzig,    üeber  eine  bei  schweren  Hemiplegien   auftretende  Gelenk- 
affection.    Virch.  Arch.,  Bd.  XLVin. 


-     303     — 

einfache  Tumoi'en  oder  durch  Tmnoren,  in  vveUdie  Blutungen  erfolgen, 
hervorgerufen  werden. 

Von  Interesse  ist  nun  ferner  der  Umstand,  dass  eine  derartige  suh- 
corticale  Cyste  zu  corticalen,  einfachen  oder  combinirten  monospasti- 
schen Anfällen  Veranlassung  giebt.  Man  wird  allerdings  nicht  annehmen 
können,  dass  ein  Krankheitsproduct  dieser  Art  allgemein  oder  auf  wei- 
tere Entfernungen  hin  raumbeschränkend  wirke;  indessen  scheint  eine 
solche  Raumbeschränkung  mit  Bezug  auf  die  nächste  Umgebung  doch 
stattgefunden  zu  haben.  Hierfür  spricht  die  ausserordentlich  starke 
Spannung  der  Dura  und  die  Hervortreibung  der  Hirnoberfläche,  die  wir 
bei  der  Operation  gefunden  haben.  Wahrscheinlich  wird  auch  die  an- 
ämische Beschaffenheit  der  besonders  stark  hervorgewölbten  Rinden- 
partie, welche  unmittelbar  über  der  Cyste  lag,  auf  den  Druck,  den 
diese  in  der  Richtung  gegen  die  Schädelkapsel  ausübte,  zu  beziehen 
sein.  Ich  hebe  diesen  Punkt,  der  meines  Wissens  früher  nicht  erörtert 
worden  ist,  um  deswillen  hervor,  weil  die  Beachtung  von  solchen  an- 
ämischen Stellen  vielleicht  in  Zukunft  einen  Fingerzeig  für  die  Auf- 
suchung subcorticaler  Herde  dann  abgeben  kann,  wenn  sich,  wie  in 
unserem  Falle,  auf  der  Rinde  nichts  findet.  Wir  dürfen  indessen  nicht 
vergessen,  dass  sich  eine  ähnliche  anämische  Stelle,  die  dem  Anscheine 
nach  gleichfalls  durch  local  besonders  starken  Druck  hervorgerufen  war, 
auch  in  dem  Fall  II  fand,  obwohl  in  diesem  Falle  von  einem  sub- 
corticalen  Herd  nicht  die  Rede  war.  Der  Nachweis  derartiger  Stellen 
dürfte  es  also  wohl  nur  wahrscheinlich  machen,  dass  die  Hirnrinde 
dort  besonders  stark  gegen  die  Schädelkapsel  gepresst  wurde,  während 
die  Gründe  hierfür  verschiedener  Natur  sein  mögen. 

Die  in  diesen  beiden  Fällen  beobachteten  Krampfanfälle 
lenken  in  ganz  besonderer  W^eise  unser  Interesse  auf  sich.  Denn  die 
einfachen  und  combinirten  monospastischen  Krampferscheinungen  bilden 
ja  die  Grundlage,  auf  der  sich,  sowohl  nach  der  physiologischen  als 
nach  der  pathologischen  Seite  hin  die  ganze  Lehre  von  der  Hirn- 
chirurgie aufbaut.  Wenn  man  von  den  ganz  typischen  Anfällen,  wie 
sie  entsprechend  den  experimentell  erzeugten  Krämpfen  durch  beliebige 
Reizung  einer  beliebigen  motorischen  Rindenpartie  erzeugt  werden,  aus- 
geht, so  verlaufen  diese  ja  bekanntlich  in  der  Weise,  dass  zuerst  die 
von  der  gereizten  Stelle,  dann  die  von  den  benachbarten  Stellen  ab- 
hängigen Muskeln  zucken,  und  dass  die  Krämpfe  schliesslich  in  um- 
gekehrter Reihenfolge  derart  erlöschen,  dass  die  zuerst  in  den  Krampf 
eintretenden  Muskeln  zuletzt  zu  krampten  aufhören.  Es  wäre  sehr  gut, 
wenn  man  eine  Art  von  Dogma  dahin  formuliren  könnte,  dass  die  durch 
umschriebene  Reizung  der  Rinde  ausgelöfiten  Krämpfe  immer  diese  Ver- 


—     304     — 

laufsweise  an  sich  hätten,  und  dass  alle  so  verlaufenden  Krämpfe  auf 
einen  Herd  zurückzuführen  seien,  der  innerhalb  desjenigen  Centrums 
seinen  Sitz  habe,  dessen  iMuskeln  den  Krampf  einleiteten.  Die  Er- 
fahrung lehrt  uns  aber,  dass  eine  solche  Formulirung  nach  jeder 
Richtung  hin  unzutreffend  wäre.  Ich  selbst  habe  bei  früherer  Gelegen- 
heit bereits  auf  das  Vorkommen  einer  abweichenden  Verlaufsweise 
localisirter  corticaler  Krämpfe  aufmerksam  gemacht;  das  Gleiche  ist 
auch  von  anderer  Seite  geschehen;  indessen  ist  es  mir  zweifelhaft,  ob 
das  bisher  gesammelte  Material  zu  einer  abschliessenden  Erörterung 
dieser  Fragen  ausreicht.  Mindestens  besitzen  wir  meines  Wissens  eine 
solche,  sich  auf  eine  kritische  Verwerthung  des  vorhandenen  Materials 
gründende  Erörterung  bisher  nicht.  Schon  der  Versuch,  auf  diese  Weise 
zu  einem  Abschluss  zu  kommen,  würde  dankenswerth  sein. 

In  dem  Fall  I  verbreiteten  die  Krämpfe  sich  nun  allerdings  zum 
Theil  in  der  angegebenen  typischen  Weise;  also:  Daumen,  Zeigefinger, 
andere  Finger,  Vorderarm,  Oberarm  und  in  umgekehrter  Richtung 
wieder  abwärts.  Zum  Theil  verliefen  sie  aber  anders:  sie  begannen 
also  entweder  nicht  im  Daumen,  sondern  in  anderen  Muskeln,  vor- 
nehmlich in  denen  der  anderen  Finger,  oder  sie  machten  den  typischen 
Turnus  nicht  durch,  derart,  dass  sie  also  nicht  in  denjenigen  Muskeln 
zuletzt  aufhörten,  in  denen  sie  angefangen  hatten,  sondern  dass  sie 
gerade  umgekehrt  in  diesen  zuerst  aufhörten.  Eine  besondere  Art 
dieser  Verbreituugsweise  bestand  z.  B.  darin,  dass  der  Kramj)f  von  den 
Fingern  bis  zur  Schulter  aufstieg,  in  derselben  Reihenfolge,  wie  er  sich 
entwickelt  hatte,  verschwand,  um  dann  wieder  in  der  Schulter  zu  be- 
ginnen und  von  dieser  zu  den  Fingern  in  ähnlicher  Weise  herabzusteigen, 
aber  so,  dass  er  wieder  in  den  Schultermuskeln  zuerst  aufhörte. 

Halten  wir  mit  diesen  klinischen  Erscheinungen  die  Ergebnisse  der 
Operation  und  der  Autopsie  zusammen,  so  lässt  sich  wohl  eine  Er- 
klärung für  diese  eigenthümliche  Verbreitungsweise  der  Krämpfe  finden, 
ohne  dass  man  irgendwie  genöthigt  wäre,  die  durch  die  physiologischen 
Experimente  gegebene  Regel  fallen  zu  lassen  oder  die  Verlaufsweise 
dieser  Krämpfe    als    etwas  mehr  oder  minder  Zufälliges  zu  betrachten. 

Die  physiologische  Forderung  besteht  nur  darin,  dass  diejenigen 
Muskeln  zuerst  krampten,  deren  Centrum  zuerst  gereizt  wird,  und  dass 
der  Krampf  sich  alsdann,  insofern  er  von  jenem  Reiz  ausgeht,  gesetz- 
mässig  auf  der  Rinde  verbreitet,  ohne  irgend  welche  Centren  zu  über- 
springen. Nun  kann  der  Reiz  aber,  wie  uns  die  Erfahrung  lehrt,  in 
der  allerverschiedensten  Weise  entstehen.  Er  kann  von  der  Rinde  der 
motorischen  Region  selbst,  er  kann  von  benachbarten  Partien  und  er 
kann    von  ganz  entlegenen  Hirnprovinzen  aus,    ja  sogar  vom  Kleinhirn 


—     805     — 

seinen  Ausgangspunkt  nehmen.  Nur  in  dem  ersteren  Falle,  aber  auch 
dann  nicht  immer,  wird  der  eigentliche  Herd  mit  Sicherheit  in  dem 
fraglichen  Centrum  selbst  zu  suchen  sein;  denn  es  ist  möglich,  und 
übrigens  nicht  selten  beobachtet  worden,  dass  die  Zerstörung  des  ur- 
sprünglich ergriffenen  Centrums  schon  soweit  vorgeschritten  war,  dass 
Krämpfe  nur  noch  von  der  Nachbarschaft  ausgelöst  werden  konnten. 

Auf  die  typische  Verbreitungsweise  der  Krämpfe  wird  man  aber 
nur  dann  mit  Sicherheit  rechnen  können,  wenn  der  Herd  in  der  Rinde 
der  motorischen  Region  selbst  seinen  Sitz  hat.  In  dem  vorliegenden 
Falle  traf  das  nicht  zu.  Gleichwohl  zeigten  die  Kräoapfe  eine  Verlaufs- 
weise, die  nur  auf  eine  localisirte,  beschränkte  und  beschränkt  bleibende 
Reizung  der  Hirnrinde  bezogen  werden  konnte.  Aber  der  Angriffspunkt 
des  Reizes  war  bei  den  einzelnen  Anfällen  ein  verschiedener,  gewöhn- 
lich war  es  die  Region  der  Daumenmuskeln,  bei  anderen  Anfällen  die- 
jenige von  anderen  Fingern  oder  von  anderen  Muskeln  der  oberen 
Extremität,  aber  immer  waren  es  Muskeln  dieser  Extremität,  die  den 
Krampf  einleiteten,  wie  er  denn  auch  ineist  auf  sie  beschränkt  blieb. 
Thatsächlich  griff  also  der  Reiz,  wenn  auch  nicht  immer  an  der  gleichen, 
doch  immer  an  einer  ziemlich  eng  begrenzten  Stelle  der  Hirnrinde  an. 
Dieser  Vorgang  lässt  sich  sehr  wohl  durch  die  vorgefundene  Cyste  und 
die  in  ihrer  Umgebung  beobachteten  löcalen  Druckerscheinungen  er- 
klären. Es  ist  leicht  verständlich,  dass  dort  entstehende  cougestive 
Zustände  nicht  immer  genau  dieselben,  aber  immer  streng  nachbarliche 
Bezirke  gegen  die  Schädelkapsel  pressen  konnten. 

Der  unmittelbar  subcorticale  Sitz  des  Herdes  Avar  es  also,  der  in 
diesem  Falle  die  Abweichungen  von  dem  typischen  Verlauf  der  Krämpfe 
veranlasste.  Aehnliche  Bilder  können  aber  auch  dann  entstehen,  wenn 
der  Reiz,  beispielsweise  ein  Tumor,  sonst  von  der  Nachbarschaft  aus, 
also  von  den  vor  oder  hinter  der  motorischen  Region  liegenden  Partien, 
ja  selbst  von  der  Dura  aus,  einwirkt. 

Im  Allgemeinen  wird  man  also  wohl  an  dem  Grandsatz  festhalten 
dürfen,  dass  man  den  Herd  nur  dann  in  der  Rinde  der  motorischen 
Region  zu  suchen  hat,  wenn  alle  Anfälle  den  gleichen  specifischen 
Hindentypus  an  sich  tragen.  Es  ergiebt  sich  daraus  aber  auch  mit 
Nothwendigkeit  die  weitere  Regel,  dass  man  die  locale  Diagnose  erst 
nach  vorgängiger  gesicherter  Beobachtung  einer  Anzahl  von  Anfällen, 
die  nicht  auf  einen  zu  kurz  bemessenen  Zeitraum  fallen,  mit  Sicherheit 
stellen  darf. 

Ob  der  Herd  dann,  wenn  er  nicht  in  der  Rinde  selbst  seinen  Sitz 
hat,  unmittelbar  subcortical,  wie  in  unserem  Falle,  oder  anderwärts  zu 
suchen    ist,    das  kann  aus  der  Beschaffenheit  der  Krämpfe  allein  über- 

Hitzig,  Gesammelte  Abhaiidl.     I.  Theil.  20 


—     306     — 

liaupt  nicht  geschlossen  werden,  sondern  nur  aus  der  Berücksichtigving 
des  Verlaufs  und  der  sonst  noch  vorhandenen  oder  fehlenden  Symptome, 
insbesondere  der  Lähmung.  Auf  diese  Frage  kann  sich  aber  unsere 
heutige  Erörterung  nicht  erstrecken.  — 

Zu  einer  ganz  anderen  Reihe  von  Betrachtungen  führen  uns  die 
in  dem  zweiten  Falle  beobachteten  Krämpfe.  Gehen  wir  von  dem, 
was  wir  selbst  beobachtet  haben,  aus,  so  verliefen  sie  in  diesem  Falle 
so  lange  in  ihrer  Art  vollkommen  typisch,  bis  zur  Anwendung  von 
Narkoticis  geschritten  wurde.  Sie  begannen  also  in  der  respiratorischen 
und  in  der  die  Kiefer  und  die  Zunge  bewegenden  Muskulatur  und 
breiteten  sich  dann  auf  den  liliken  Facialis,  manchmal  auch  auf  einzelne 
Muskeln  der  oberen  Extremität  aus,  während  die  Muskeln  der  unteren 
Extremität  regelmässig  in  Ruhe  blieben;  dagegen  trat  dann  deviation 
conjuguee  auf.  Die  Krämpfe  erschienen  doppelseitig  in  denjenigen 
Muskeln,  in  denen  sie  auch  bei  einseitiger  Reizung  doppelseitig  er- 
scheinen können;  im  Uebrigen  blieben  sie  in  der  unteren  Hälfte  des 
Facialis  und  in  der  oberen  Extremität  auf  die  linke  Seite  beschränkt. 
So  verliefen  die  Krämpfe  in  Hunderten  von  Anfällen.  Als  die  Kranke 
dann  chloroformirt  worden  war  und  Chloral  erhalten  hatte,  begannen 
die  Krämpfe  zwar  gelegentlich  in  anderen  Muskeln  und  zeigten  auch 
sonst  einige  Abweichungen  in  ihrer  Erscheinungsweise,  sie  behielten 
aber  auch  dann  ihren  hemispastischen  Charakter,  ohne  sich,  wie  es 
vorher  der  Fall  gewesen  war,  zu  allgemeinen  Anfällen  zu  entwickeln. 
Hiernach  dürfte  der  Schluss,  dass  jene  Abweichungen  auf  eine,  durch 
die  Narcotica  veränderte  Erregbarkeit  der  Rinde  zu  beziehen  sei,  wohl 
gerechtfertigt  erscheinen. 

Ausser  diesen  hemispastischen  zeigte  die  Kranke  aber  noch  eine 
Reihe  von  anderen  Symptomen.  In  erster  Linie  sind  hier  die  all- 
gemeinen Krampfanfälle  zu  nennen.  Einen  solchen  Anfall  hatten 
wir,  und  zwar  gerade  während  der  klinischen  Vorstellung,  Gelegenheit 
zu  beobachten.  Dieser  Anfall  hatte  insofern  durchaus  nichts  Un- 
gewöhnliches, von  den  bei  einseitiger,  corticaler  Reizung  gelegentlich 
auftretenden  Anfällen  Abweichendes  an  sich,  als  die  Krämpfe  auch  hier 
einseitig  begonnen  hatten.  Die  Kranke  sollte  aber  allgemeine  Anfälle 
vor  ihrer  Aufnahme  gehabt  haben,  ohne  dass  nach  der  uns  gegebeneii 
Beschreibung  hemispastische  Erscheinungen  vorangegangen 
seien.  Besonderes  Gewicht  konnte  aber  auf  diese  Angaben  um  so 
weniger  gelegt  werden,  als  sie  von  einer  für  die  Auffassung  und 
Wiedergabe  solcher  Beobachtungen  ganz  incompetenten  Seite  kamen 
und  als  sogar  von  dieser  Seite  anamnestisch  über  anderweitige  luono- 
spastische  Anfälle  berichtet  woiden  war.     Unter  diesen  Umständen  war 


—     307     — 

der  Schluss  berechtigt,  dass  jene  allgemeinen  Anfälle  ebensowohl  durch 
localisirte  Zuckungen  ehigeleitet  worden  waren,  wie  dies  für  den  in 
der  Klinik  beobachteten  Fall  zutraf,  nur  dass  sie  der  Beobachtung  ent- 
gangen waren. 

Eine  andere  Besonderheit  der  Kram pfanf alle  bestand  in  ihrem 
Beginn  in  der  respiratorischen  Muskulatur,  während  die 
Jackson 'sehen  Anfälle  in  einer  Extremität  oder  dem  Facialis  zu  be- 
ginnen pflegen. 

Im  ferneren  kamen  eine  Reihe  von  Erschemungen,  die  die  psy- 
chische Sphäre  betrafen,  in  Betracht.  Erstens  ist  hier  zu  erwähnen, 
dass  auch  die  partiellen  Krampfanfälle  mit  Bewusstseins- 
verlust  verliefen.  Dies  ist  etwas  durchaus  Ungewöhnliches.  In  der 
Regel  geht  das  Bewusstsein  erst  dann  verloren,  wenn  die  Krämpfe  sich 
auf  die  andere  Seite  verbreiten  oder  doch  mindestens  die  gesammte 
Muskulatur  der  einen  Seite  befallen.  In  unserem  Falle  trat  der  Be- 
wusstseinsverlust  aber  selbst  dann  ein,  wenn  der  Anfall  sich  auf  die 
Kopfnerven  beschränkte. 

Ich  war  so  glücklich,  die  klinisch  so  überaus  markante  Difl'erenz 
zwischen  dem  gewöhnlichen  und  dem  Verhalten  in  unserem  Falle  in 
der  gleichen  Vorlesung  klinisch  demonstriren  zu  können.  Denn  wir 
beobachteten  zu  jener  Zeit  zufällig  eine  paralytische  Frau,  welche 
mehrere  Tage  hindurch  an  monospastischen  Anfällen  der  einen  oberen 
Extremität  litt,  ohne  dass  dabei  ihr  Bewusstsein  getrübt  oder  ihr  ander- 
weitiges Verhalten  irgendwie  beeinträchtigt  worden  wäre. 

Zweitens  hatte  die  Kranke  aller.  Wahrscheinlichkeit  nach  schon  vor 
dem  Einsetzen  der  Krämpfe  an  psychischen  Erscheinungen,  die 
der  Beschreibung  nach  an  eine  leichte  Manie  erinnern  konnten,  ge- 
litten, und  psychische  Erscheinungen  wurden  auch  während  des  klinischen 
Aufenthaltes  wiederholt  beobachtet.  Theils  hatten  diese  den  Charakter 
der  Verwirrung,  theils  den  einer  leichteren  oder  schwereren  tobsüchtigen 
Erregung  an  sich.  Zwischendurch  war  die  Kranke  wiede«  auf  längere 
Zeit  scheinbar  normal.  Höchst  auffallend  und  ungewöhnlich  war  auch 
das  psychische  Verhalten  in  den  Intervallen  zwischen  den 
einzelnen  Anfällen,  insofern  als  sich  unmittelbar  an  eine  Periode 
der  schwersten  Bewusstseinsstörung  eine  solche  von  fast  vollkommener 
Lucidität  anschliessen  konnte. 

Zu  diesem  eigenthümlichen  Symptoniencomplex  kam  dann  noch  die 
Parese  im  linken  B"'acialis  und  in  einigen  Muskeln  der  linken 
oberen  Extremität  hinzu. 

Hatte  die  Diagnose  sich  schon  in  dem  Fall  I  mit  Rücksicht  auf 
die  Art    des  Herdes  eine  gewisse  Zurückhaltung  auferlegen  müssen,    so 

20* 


—     308     — 

musste  diese  Zurückhaltung  in  dem  Fall  II  noch  mehr  betont  werden. 
In  der  That  schloss  ich  meine  klinische  Besprechung  des  Falles  dahin 
ab,  dass  sich  in  diagnostischer  Beziehung  nichts  weiter  sagen  Hesse, 
als  dass  ein  Reiz  sich  von  dem  lateralen  Drittel  der  motorischen  Region 
aus  auf  weitere  Gebiete  der  Rinde  verbreite;  welcher  Natur  aber  dieser 
Reiz  sei  und  ob  die  ihn  verursachende  pathologische  Veränderung  nur 
in  der  motorischen  Region  ihren  Sitz  habe  und  nicht  vielmehr  noch 
andere  Theile  der  Hirnrinde,  insbesondere  das  Stirnhirn,  mit  in  seinen 
Bereich  ziehe,  das  liesse  sich  nicht  sagen.  In  therapeutischer  Beziehung 
läge  indessen  eine  Indicatio  vitalis  vor,  da  die  Kranke  unter  den  unauf- 
hörlichen Anfällen  zu  Grunde  zu  gehen  drohe.  Die  Trepanation  sei 
deswegen  in  Aussicht  zu  nehmen. 

In  diagnostischer  Beziehung  war  in  erster  Linie  zu  erwägen  ge- 
wesen, ob  ein  organisches  oder  ein  functionelles  Leiden  anzu- 
nehmen sei.  Die  uns  in  der  Anamnese  angegebene  Aetiologie  konnte 
an  Hysterie  denken  lassen.  Wenn  man  jedoch  selbst  davon  absehen 
wollte,  dass  die  Pat.  selbst  ihrer  Liebesaifäre  keinerlei  Bedeutung  bei- 
mass,  so  fehlten  doch  alle  anderweitigen  Zeichen  von  Hysterie,  während 
die  Art  der  Krämpfe  sowohl  wie  die  mit  ihr  vergesellschaftete  Bewusst- 
seinsstörung  ganz  und  gar  von  dem  Bilde  der  hysterischen  Krampf- 
anfälle abwich. 

Dagegen  kam  allerdings  das  Vorhandensein  einer  in  einen  Status 
epilepticus  auslaufenden  Epilepsie  in  Frage.  Für  diese  Auffassung 
sprach  der  Beginn  der  Krämpfe  mit  einer  seufzenden  Inspiration,  die 
deviation  conjuguee,  der  schnell  eintretende  Bewusstseinsverlust  und 
die  sonst  beobachteten  psychischen  Störungen.  Dagegen  sprach  die  Be- 
schränkung der  Krämpfe  auf  bestimmte  Gebiete,  der  passagere  Charakter 
der  Bewusstseinsstörung,  die  Paresen  und  der  foudroyante  Verlauf  bei 
fehlender  Temperatursteigerung. 

Allerdings  ist  der  Begriff  der  functionellen  Epilepsie  ein  sehr  vager, 
so  dass  es  btekanntlich  nicht  an  Autoren  fehlt,  welche  einen  organischen, 
wenn  auch  häufig  nicht  nachweisbaren  Rindenherd  bei  jeder  Art  von 
Epilepsie  voraussetzen.  Im  concreten  Falle  hat  weder  die  Operation, 
noch  die  Section  eine  Aufklärung  nach  dieser  Richtung  hin  gebracht. 
Die  colossale  Hyperämie,  die  wir  bei  der  Operation  fanden,  konnte  so- 
wohl die  Ursache,  als  —  was  wahrscheinlicher  ist  —  eine  Begleit- 
erscheinung der  Krämpfe  sein.  Die  locale  Verwachsung  der  Pia  mit 
der  Hirnrinde  war  bei  einem  so  jugendlichen  Individuum  höchst  auf- 
fallend, um  so  auffallender,  als  die  Pia  sich  sonst  sehr  leicht  von  der 
Hirnrinde  ablöste.  Ob  hier  ein  Krankheitsherd,  von  dem  aus  die 
Krämpfe  ihren  Ursprung  nahmen,  vorlag,  hat  auch  die  vorläufige  mikro- 


—     309     — 

skopische  Untersuchung,  die  nichts  AI)i\ormes  ergab,  nicht  entschieden. 
Somit  lässt  sich  über  den  Fall  auch  gegenwärtig  wenig  mehr  sagen, 
als  das,  was  ich  vorher  anlässlich  der  klinischen  Demonstration  gesagt 
hatte.  Die  angeführten,  das  eigenthümliche  Krankheitsbild  charakteri- 
sirenden  Symptome  scheinen  mir  aber  nicht  ohne  diagnostisches  Inter- 
esse zu  sein. 

Wie  dem  auch  sein  mag,  ich  bin  auch  jetzt  noch  der  Ansicht,  dass 
der  chirurgische  Eingriff  in  diesem  Falle  gerechtfertigt  war.  Bevor  wir 
zur  Operation  schritten,  machten  sich  die  ersten  Zeichen  eines  heran- 
nahenden Lungenödems  schon  derart  bemerklich,  dass  Herr  College 
von  Bramann  die  Frage  aufwarf,  ob  die  Kranke  die  Trepanation 
überhaupt  überstehen  würde.  An  dieser  ist  sie  dann  auch  sicherlich 
nicht  gestorben,  sondern  an  ihrem  Grundleideu.  Andererseits  bestand 
immei'hin  eine  Möglichkeit,  die  Kranke  durch  die  Trepanation  zu  retten; 
imd  diese,  wenn  auch  schwache  Hoffnung  rechtfertigte  nicht  nur  die 
Operation,  sondern  sie  nöthigte  zu  ihr.  Aber  allerdings  war  es  von 
Wichtigkeit  und  wird  es  in  allen  solchen  Fällen  bleiben,  dass  diese 
Gesichtspunkte  in  voller  Klarheit  und  Nüchternheit  schon  vor  der  Ope- 
ration vom  Katheder  und  —  soweit  erforderlich  —  vor  den  Angehörigen 
entwickelt  werden  können.  — 

Wenn  auch  in  diesem  Falle  die  Operation  mit  dem  letalen  Aus- 
gange offenbar  nichts  zu  thun  hatte,  so  liegt  die  Sache  in  dem  Falle  1 
ganz  anders:  hier  ist  der  Kranke  infolge  der  Operation  gestorben. 
Wenn  wir  uns  aber  nach  den  Gründen  für  diesen  fatalen  Ausgang  um- 
sehen, so  finden  wir  nicht  die  gewöhnlich  angeführten.  Ungeachtet 
mancher  Schwierigkeiten  hatte  die  Operation  weder  ungewönlich  lange 
gedauert,  noch  war  der  Blutverlust  besonders  gross  gewesen,  noch  hatte 
der  Kranke  besonders  viel  Chloroform  erhalten.  Ebensowenig  war  der 
Herd  etwa  sehr  gross  gewesen,  noch  waren  thatsächlich  aus  diesem  oder 
einem  anderen  Grunde  die  klinischen  oder  anatomischen  Zeichen  eines 
Hirnödems  eingetreten.  Der  Puls  hatte  einfach  schon  während  der  Ope- 
ration einen  bedenklichen  Charakter  angenommen,  und  der  Kranke  ver- 
schied unter  den  Zeichen  der  Herzlähmung.  Es  handelte  sich  hier  also 
sicherlich  um  einen  Shok,  und  dieser  konnte  nach  [dem  soeben  Ange- 
führten seinen  Grund  nur  in  der  Constitution  des  Kranken  haben.  Ich 
sehe  ihn  in  dem  geständlich  seit  28  Jahren  betriebenen  Alkoholmiss- 
brauch. 

Es  kann  fraglich  erscheinen,  ob  dieses  Moment  nicht  in  zukünf- 
tigen Fällen  —  abgesehen  von  seiner  prognostischen  Seite  —  auch 
therapeutisch  durch  Verabreichung  einer  Dosis  Alkohol,  der  anderer 
Excitantien  vor  Beginn  der  Operation  Berücksichtigung  verdient.    Jeden- 


—     310     — 

falls  werden  die  neueren  Bestrebungen  der  Chirurgie,  die  Eröffnung  der 
Schädelhölile  in  kürzester  Zeit  zu  vollziehen,  gerade  diesen  und  ähn- 
lichen Fällen  ganz  besonders  zu  gute  kommen. 

Schliesslich  sei  des  Ausbleibens  der  motorischen  Reaction  auf  den 
faradischen  Reiz  im  Falle  I  kurz  gedacht.  Der  hier  am  Ende  des  Reiz- 
versuches verwendete  Strom  war  sehr  stark,  so  stark,  dass  er  beim 
Hunde  sicher  weitverbreitete  Convulsionen  ausgelöst^  haben  würde:  hier 
aber  trat  nicht  die  geringste  Zuckung  ein.  Ich  war  einen  Augenblick 
versucht,  die  Erklärung  in  dem  Vorhandensein  der  Cyste,  welche  eine 
gut  leitende  Nebenschliessung  in  den  Stromkreis  einführte,  zu  suchen. 
Diese  Vorstellung  musste  aber  schon  deshalb  fallen  gelassen  werden, 
weil  die  Reizung  mit  dem  gleichen  negativen  Erfolge  weit  über  die 
Grenzen  der  Cyste  hinaus  ausgedehnt  worden  war.  Aller  Wahrschein- 
lichkeit lag  der  Grund  also  in  der  Einwirkung  des  Chloroforms  auf 
die  Hirnrinde.  Möglicherweise  wäre  ein  Reizeffect  noch  eingetreten, 
wenn  man  den  Kranken  noch  weiter  hätte  erwachen  lassen;  dies  er- 
schien aber  wenig  indicirt. 

Meine  Erfahrungen  über  die  Reaction  der  menschlichen  Hirnrinde 
auf  den  faradischen  Strom  sind  zu  gering,  als  dass  ich  hier  ein  be- 
stimmtes ürtheil  äussern  möchte.  Wenn  man  jedoch  den  abnormen 
Verlauf  der  Chloroformnarkosen  bei  Potatoren  berücksichtigt,  so  er- 
scheint eine  solche  abnorme  elektrische  Reaction  wohl  verständlich, 
und  vielleicht  dürften  die  gleichen  hier  anzunehmenden  Veränderungen 
der  Rindenelemente  auch  den  Collaps,  der  dem  sonst  nicht  weiter  be- 
gründeten Exitus  zu  Grunde  lag,  herbeigeführt  haben. 


XVI.   Ein  Kinesiästliesiometer  nebst  einigen  Bemerkungen  über 

den  Mnskelsinu. 

Zur  Untersucliuüg  „des  Muskelsiuns"  bediene  ich  mich  seit  Anfang 
des  Jahres  1886  des  im  Folgenden  zu  beschreibenden  Apparates.  Auf 
einem  47  cm  langen  und  39  cm  breiten  Brett  von  polirtem  Holz,  welches 
auf  vier  kurzen  Füsschen  steht,  sind  in  seichten  Vertiefungen  17  Kugeln 
aus  dichtem  Holz  (Erlen)  angeordnet.  Der  Durchmesser  dieser  Kugeln 
beträgt  ca.  7  cm;  ihr  Gewicht  difterirt  zwischen  50  und  1000  g,  so 
zwar,  dass  sechs  Kugeln  von  50 — 100  eine  Gewichtsdifferenz  von  je 
10  g,  5  Kugeln  von  100  bis  300  eine  Gewichtsdifferenz  von  je  50  g  und 
sechs  Kugeln  von  300 — 1000  eine  Gewichtsdifferenz  von  je  100  g  auf- 
weisen. Jede  Kugel  besteht  aus  zwei  Hälften,  welche  mit  einem  Falz 
aufeinander  geleimt  und  durch  den  Drechsler  glatt  abgedreht  wor- 
den sind,  nachdem  sie  zuvor  ausgehöhlt  bezw.  in  der  Höhlung  mit 
einer  entsprechenden  Bleifüllung  versehen  worden  waren.  Die  Ge- 
wichtszahl einer  jeden  Kugel  ist  auf  ihr  selbst  mit  Bleistift,  neben  der 
ihr  zukommenden  seichten  Vertiefung  des  Brettes  mit  weisser  Oelfarbe 
angegeben. 

Diesen  Apparat  Hess  ich  mir  seiner  Zeit  anfertigen,  weil  mir  eine 
handliche  Vorrichtung,  vermittelst  deren  sich  die  Schärfe  „des  Muskel- 
sinns" bei  Kranken  mit  Leichtigkeit  bestimmen  Messe,  aus  der  Lite- 
ratur nicht  bekannt  war.  E.  H.  Weber  gab  bei  seinen  grundlegenden 
Untersuchungen*)  den  Versuchspersonen  die  vier  Zipfel  von  Tüchern  in 
die  Hand,  in  denen  sich  die  Gewichte  befanden.  Es  verstellt  sich  von 
selbst  und  wird  übrigens  durch  die  Ergebnisse  Weber"s  bewiesen,  dass 
auch  dieses  Verfahren  an  sich  brauchbar  ist.  Ich  glaube  jedoch,  dass 
Jeder,  der  solche  Untersuchungen  an  Kranken  angestellt  hat,  eine  er- 


*)  E.  H.  Weber,  Der  Tastsinn  und  das  Gemeingefühl.  ^Vagner's  Hand- 
wörterbuch.  Bd.  III.   2.   S.  546. 


—     312     — 

hebliche  Schwierigkeit  in  dem  durch  die  Zusammenstellung  der  Ge- 
wichte entstehenden  Zeitverlust  gefunden  haben  wird.  Noch  ein  anderer 
umstand  erschwert  die  Anwendung  jenes  Verfahrens  bei  Kranken.  Nach 
der  Vorschrift  Web  er 's  soll  der  Beobachter  das  Tuch  etwas  festerfassen 
als  nöthig  ist,  damit  es  nicht  aus  der  Hand  gleite.  Hierdurch  wird 
schon  an  sich  insofern  eine  Complicatiou  in  den  Versuch  eingeführt,  als 
den  Muskeln  eine  zweite,  nicht  in  gleichem  Sinne  wirkende,  aber  für 
sich  abzumessende  und  abzuschätzende  Kraftleistung  zugemuthet  wird, 
mit  der  das  Sensorium  sich  also  nebenher  zu  beschäftigen  hat.  Ueber- 
dies  ist  gerade  bei  den  hier  in  Betracht  kommenden  Krankheitszustän- 
den,  mögen  dieselben  nun  in  Reiz-  oder  Lähmungszuständen  auf  dem 
motorischen  oder  dem  sensiblen  Gebiet  oder  in  Coordinationsstörungeu 
bestehen,  die  Forderung  Web  er 's  schwer  oder  nicht  ausführbar.  Ich 
will  jedoch  nicht  verkennen,  dass  es  für  eine  Anzahl  der  uns  interessi- 
reuden  Fälle  wenig  darauf  ankommt,  ob  man  den  Kranken  das  Tuch  in 
die  Hand  giebt  oder  ob  man  es  nach  dem  Vorschlage  anderer  Autoren 
in  der  Art  einer  Schlinge  um  die  Hand  oder  das  Handgelenk  befestigt, 
dafern  man  nur  bei  Anwendung  grösserer  Gewichte  für  den  Ausschluss 
schmerzhaften  Druckes  besorgt  ist.  Zwar  besteht  die  Absicht  des 
reinen  Versuches  in  der  Prüfung  „des  Muskelsinns"  für  sich  ohne  Con- 
currenz  des  Drucksinns,  während  bei  dem  Ueberhängen  des  Tuches  unter 
allen  Umständen  ein  mehr  oder  minder  starker  Druck  auf  eine  be- 
schränkte Hautstelle  ausgeübt  wird.  Da  jedoch  die  erw'ähnten  Versuche 
Weber 'S  gelehrt  haben,  dass  die  combinirte  Inanspruchnahme  des 
Muskelsiuus  und  des  Drucksinns  an  den  oberen  Extremitäten  keine 
feinere  Unterscheidung  ermöglicht  als  die  des  Muskelsinns  allein,  wäh- 
rend die  Unterscheidung  durch  den  Drucksinn  allein  an  Feinheit  der 
Unterscheidung  durch  den  Muskelsinn  allein  bei  Weitem  nachsteht,  so 
erscheint  die  erwähnte  Modification  der  Web  er 'sehen  Anordnung  für 
practische  Zwecke  immer  dann  ausreichend,  wenn  nicht  eine  hochgra- 
dige Störung  „des  Muskelsinns"  neben  relativ  guter  Conserviruug  des 
Drucksinns  zu  vermuthen  ist.  Auf  derartige  Combinationen  muss  man 
sich  aber,  sobald  überhaupt  Sensibilitätsstörungen  vorhanden  sind,  immer 
gefasst  machen. 

Leyden*)  untersuchte  den  Muskelsinn  von  Tabeskranken  nach  einer 
anderen  Methode.  „Ein  Becher  steht  auf  einem  ca.  einen  halben  Fuss 
hohen  Stock,  an  dessen  unterem  Ende  eine  querovale  Pelotte  ange- 
bracht ist.     Der  Stock  geht  durch  das  horizontale  Brett  eines  Gestelles 


*)  Leyden,  Ueber  Muskelsinn  und  Ataxie.   Virchow's  Arch.   Bd.  XLVII. 
S.  326. 


—     313     — 

frei  beweglich  hindurch,  so  dass  der  Becher  auf  diesem  IJrette  steht 
und  die  Pelotte  über  dem  Fussbrett  des  Gestelles  etwa  l^/g  Zoll  ent- 
fernt bleibt.  Der  Fuss  wird  nun  so  hingestellt,  dass  die  Pelotte  sich 
über  der  zwischen  Zehen  und  Fusswurzel  gelegenen  Furche  befindet, 
und  ist  in  dieser  Stellung  durch  ein  kleines,  verschiebbares,  hinter  der 
Hacke  befindliches  Brettchen  so  weit  fixirt,  dass  auch  die  Ataktischen 
eine  hinreichende  Sicherheit  der  Bewegungen  gewinnen,  zumal  sie  die- 
selben noch  durch  Hinsehen  leiten  können.  Wenn  nun  in  diesem  Ap- 
parate die  Fussspitze  durch  Contraction  der  Extensoren  am  Unter- 
schenkel gehoben  wird,  so  wird  auch  die  Pelotte  und  mit  ihr  der 
Becher  emporgehoben,  in  welchen  man  einen  anderen  mit  Bleikugeln 
gefüllten  Becher  hineinstellt,  dessen  Gewicht  mau  variiren  kann." 

Ich  besitze  ein  abschliessendes  ürtheil  über  diesen  Apparat  nicht, 
weil  ich  selbst  keine  Versuche  mit  demselben  angestellt  habe.  Jeden- 
falls macht  er  ein  zeitraubendes  Nachwiegen  nach  jeder  Gewichts- 
schätzung erforderlich.  Ueberdies  scheint  es  mir,  dass  durch  denselben 
der  Drucksinn  —  wo  er  erhalten  ist  —  mindestens  in  dem  gleichen, 
vielleicht  noch  in  höherem  Grade  als  der  Muskelsinn  in  Anspruch  ge- 
nommen werden  kann.  Bei  den  Hebelbewegungen,  welche  der  Fuss 
während  eines  jeden  Schätzungsversuches  zu  machen  hat,  dient  der 
Hacken  als  Hypomochlion.  Die  zu  hebende  Last  drückt  also  gleich- 
zeitig auf  seine  Hautbedeckung  und  auf  denjenigen  Theil  der  Haut,  auf 
dem  die  verliältuissmässig  kleine  Pelotte  ruht.  Hiernach  würde  für 
jede  einzelne  Versuchsperson  vorgängig  zu  ermitteln  sein,  ob  dieselbe 
nicht  etwa  im  Stande  ist,  eine  bestimmte  Gewichtsdifferenz  durch  ent- 
sprechende Belastung  jener  beiden  Hautstellen  zu  erkennen.  In  der 
That  wollte  ein  Theil  der  Kranken  Leyden's  die  Schwere  des  Gegen- 
standes an  der  Stelle  fühlen,  wo  der  Fuss  die  Pelotte  traf.  Auf  die 
Concurrenz  der  Gelenkempfindungen    kommen    wir   später  zu  sprechen. 

Eine  noch  umständlichere  Vorrichtung,  auf  deren  Beschreibung  ich 
verzichte,  hat  M.  Bernhardt*)  für  die  Untersuchung  der  unteren  Ex- 
tremitäten angegeben. 

Inzwischen  scheint  Chariten  Bastian**)  auf  eine  ähnliche  Idee 
wie  ich  selbst  gekommen  zu  sein.  „Es  mag  angeführt  werden,"  sagt  er, 
„dass  bei  der  Anwendung  dieser  Untersuchung  auf  die  Oberextremitäten 
lederne    Bälle    von     gleicher    Grösse,     aber    mit     verschiedenen    Blei- 


*)  M.  Bernhardt,  Zur  Lehre  vom  Muskelsinn.   Arch.  f. Psych.   Bd. III. 
1872. 

*''^)  Chariten  Bastian,    The  muscular  sense;    its  nature  and  cortical 
lo<;alisation.   Brain.   1887.   April.   S.-A.   p.  33. 


—     3U     — 

gewichten  darin  benutzt  werden  können."  Vielleicht  hat  die  lederne 
Umhüllung  sogar  einen  Vorzug  vor  der  von  mir  benutzten  hölzernen, 
da  eine  stark  bescliw'erte  Lederkngel,  welche  zu  Boden  fällt,  nicht  wie 
eine  gleich  schwere  Holzkugel  zerbrechen  kann.  Indessen  sagt 
Bastian  nicht,  ob  und  in  welcher  Weise  er  diese  Idee  in  die  Wirklich- 
keit übersetzt  hat. 

„Den  Muskelsinn"  der  unteren  Extremitäten  hat  man  —  abgesehen 
von  den  erwähnten  Methoden  Leyden's  und  Bernhardt 's  —  auch 
derart  untersucht,  dass  man  beschwerte  Tücher  oder  Säcke  an  dem 
Fussgelenk  aufhing*)  und  das  Bein  alsdann  aufheben  liess.  Diese  Me- 
thoden sind  in  der  Art,  wie  sie  angewendet  Avurden,  wenig  zweck- 
mässig, da  das  Receptaculum  für  das  Gewicht  rutschen  oder  drücken 
rausste,  wozu  dann  noch  die  Unbequemlichkeit  der  Zusammenstellung 
der  Gewichte  kam. 

Ich  habe  mir  für  diese  Zwecke  au  den  Hacken  eines  gewöhnlichen 
Strumpfes  aus  starker  Baumwolle  eine  kleine,  zur  Aufnahme  der  Kugeln 
dienende  Tasche  mit  einer  seitlichen  Oeffnung  anstricken  lassen.  Die 
Auswechsehmg  der  Kugeln  bewirkt  man  auf  diese  Weise  sehr  leicht 
und  schnell,  und  ihr  Gewichtsdruck  vertheilt*;sich  auf  eine  sehr  grosse 
Hautfläche.  Nach  Bedarf  kann  man  den  Druck  auch  noch  durch 
Zwischenschaltung  von  Watte  vermindern. 

Ich  finde  die  Vorzüge  meines  Apparates  in  der  Bequemlichkeit, 
welche  durch  die  stets  bereite  Combination  verschiedener  Gewiciits- 
grössen  gegeben  ist,  in  seiner  Anwendbarkeit  für  die  obere  und  untere 
Extremität  und  in  seiner  leichten  Transportabilität.  Nicht  nur  für  die 
gewöhnliche  Krankenuntersuchung,  sondern  namentlich  auch  für  die 
klinische  Demonstration  machen  sich  diese  Vorzüge  in  sehr  bestimmter 
Weise  geltend.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  derartige  Demonstrationen 
nur  dann  mit  Vortheil  und  ohne  Ermüdung  der  Hörer  ausführbar  sind, 
wenn  sie  schnell  und  glatt  zur  Anschauung  gebracht  werden  können. 
Mit  den  bisher  beschriebenen  Vorrichtungen  war  dies  in  der  jetzt 
leicht  zu  erreichenden  Weise  nicht  möglich.  — 

E.  H.  Weber  fand  bekanntlich,  dass  Gesunde  eine  Gewichtsdifferenz 
von  1/40  mit  den  oberen  Extremitäten  noch  erkennen.  Ferrier**) 
konnte  dagegen  nur  noch  1/^7  unterscheiden  ■■'^*''). 


*)    Jaccoud,    Les  paraplegies  et  l'ataxie   du  mouvement.     Paris  1864. 
S.  672. 

**)  Perrier,  Functions  of  the  brain.   II  ed.   p.  392. 
***)  Vgl.  auch  Eigenbrodt,  Ueber  die  Diagnose  der  partiellen  Empfin- 
dungslähmungen.  Vh'chow's  Arch,     Bd.  XXHI.     S.  577.    Biedermann  und 


—     315     — 

Mein  Apparat  reicht  in  der  ihm  von  mir  gegebenen  Gestalt  für 
Untersuchungen,  welche  sich  auf  Grenzen  des  normalen  Schätzungs- 
verraögens  beziehen,  nicht  aas,  er  ist  aber  auch  nicht  dafür,  sondern 
für  die  Krankenuntersuchnng  berechnet.  Will  man  „den  Muskelsinn" 
der  oberen  Extremitäten  prüfen,  so  wird  man  zunächst  die  100  und 
90  g  schweren  Kugeln  mit  einander  vergleichen  lassen  und  dabei  finden, 
dass  gesunde  und  nicht  unintelligente  Menschen  diese  Gewichtsdifferenz 
von  1/lo  zwar  ohne  besondere  Schwierigkeit  erkennen,  dass  aber  dazu 
doch  schon  eine  gewisse  Beobachtungsgabe  und  Anspannung  der  Auf- 
merksamkeit erforderlich  ist.  Irrthümer  über  eine  geringere  Gewichts- 
dift'erenz  fallen  also  bereits  in  den  Bereich  der  Fehlerquellen  und  kom- 
men bei  Kranken  nicht  in  Betracht.  Die  Differenz  von  i/^q  als  Minimum 
reicht  deshalb  sogar  für  die  obere  Extremität,  dafern  es  sich  nur  um 
klinische  Zwecke  handelt,  vollkommen  aus.  Wenn  Jemand  dennoch 
das  Bedürfniss  hat,  noch  feinere  Unterschiede  festzustellen,  so  ist  auf 
dem  Brett  des  Apparates  noch  Platz  für  3 — 4  Kugeln  mit  Zwischen- 
gewichten gelassen.  Die  Differenz  von  ^/lo  kehrt  nach  oben  in  den 
Kugeln  von  900  und  1000  g  Schwere  nochmals  wieder.  Die  Prüfung 
wird  dann  —  wenn  also  100  von  90  nicht  unterschieden  werden  kann 
—  derart  fortgesetzt,  dass  100  mit  80,  70,  60,  50  und  dann  150  mit 
90,  80,  70,  60,  50  etc.  verglichen  werden. 

Ueber  die  Fähigkeit,  Gewichtsdifferenzen  mit  den  unteren  Ex- 
tremitäten zu  schätzen,  finde  ich  Angaben  bei  Jaccoud,  Leyden 
und  Bernhardt.  Jaccoud  giebt  nur  an,  dass  die  Gewichtsdifferenz 
50 — 70  g  betragen  müsse,  wenn  sie  wahrgenommen  werden  solle.  Ueber 
die  Grösse  des  Anfangsgewichts  sagt  er  nichts.  Bei  Leyden  unter- 
schieden Gesunde  noch  die  Hinzufügung  von  ca.  83  zu  ca.  1100  bezw. 
zu  1700  g,  d.  h.  ca.  Vis  ^"T^d  '/20-  ^ine  dritte  Versuchsperson  unter- 
schied sogar  noch  etwas  schärfer.  Bernhardt  selbst  unterschied  ca. 
50  g  von  0  und  583  g  von  500,  also  etwa  Ve-  Dagegen  vermochte  er 
500  von  550  g,  d.  h.  W^,  nicht  zu  unterscheiden.  Ein  von  ihm  unter- 
suchter Arzt  unterschied  0  von  83  und  250  von  330,  also  nur  etwa  Vi- 

Loewit,  welche  unter  der  Leitaug  von  E.  Hering  arbeiteten,  fanden  den  eben 
merklichen  Unterschied  =  ^/^^  bei  250  und  bei  Zunahme  der  Belastung  all- 
mählich kleiner  werdend  bis=  Yii4  b^i  2500  g.  Bei  noch  stärkerer  Belastung 
nahm  die  Unterschiedsempfindlichkeit  wieder  ab.  Sie  konnten  also  die  Hinzu- 
fügung von  22g  zu  2500g  noch  erkennen.  Ich  darf  von  diesen  und  ebenso  von 
Fechner's  Resultaten  hier  imUebrIgen  absehen,  da  diese  Feinheit  des  Unter- 
scheidungsvermögens doch  wohl  nur  von  Personen,  die  durch  psycho-physische 
Untersuchungen  geschult  sind,  erworben  werden  kann.  Um  solche  handelt  es 
sich  aber  bei  der  klinischen  Untersuchuno:  nicht. 


—     316     — 

Im  Allgemeinen  fand  er,  dass  83  von  0  und  750  von  830,  also  Vio? 
noch  richtig  unterschieden  werden  konnten.  Hiernach  schätzten  die 
Versuchspersonen  Leyden"s  im  Allgemeinen  mindestens  doppelt  so  fein 
als  die  Bernhardt's. 

Ich  habe  schon  vorher  die  Yermuthung  ausgesprochen,  dass  der 
Apparat  Leyden's  den  Drucksinn  mit  in  Anspruch  nimmt.  Soweit 
meine  eigenen  Erfahrungen  reichen,  ist  es  nun  ungeschulten  Personen 
nicht  möglich,  durch  den  ,.Muskelsinn"  allein  1/20  zu  unterscheiden, 
während  i/^o  sich  wohl  noch  schätzen  lässt.  Demnach  dürften  die 
weiter  gehenden  Ergebnisse  von  Leyden  durch  die  gleichzeitige  Be- 
thätigung  mehrerer  Empfindungsquellen  zu  erklären  sein.  Zwar  erscheint 
diese  Auffassung  auf  den  ersten  Blick  nicht  vereinbar  mit  den  erwähnten 
Versuchen  Web  er 's.  Indessen  beziehen  sich  diese  Versuche  nur  auf 
die  Verhältnisse  der  oberen  Extremität.  In  der  That  kommt  die  Fähig- 
keit, Gewichtsdifferenzen  zu  erkennen,  den  unteren  Extremitäten  in 
einem  viel  geringeren  Maasse  zu,  als  den  oberen  Extremitäten,  so  dass 
hier  die  Rolle  des  Drucksinns  mehr  iu's  Gewicht  fällt. 

Will  man  Fehler  bei  diesen  Untersuchungen  vermeiden,  so  muss 
man  der  in  horizontaler  Lage  befindlichen  Versuchsperson  aufgeben, 
das  mit  dem  Versuchsstrumpf  bekleidete  Bein  einfach  zu  erheben  und 
dasselbe  alsdann  wieder  herunterzulassen.  Bei  dem  letzteren  Act  fängt 
der  Untersucheode  die  Tasche  mit  der  darin  befindlichen  Kugel  ab,  so 
dass  die  Versuchsperson  lediglich  den  Act  der  Erhebung  zu  beurtheilen 
hat.  Eigentlich  sollte  es  sich  von  selbst  verstehen,  dass  Wägebe- 
wegungen —  abwechselndes  Heben  und  Senken  der  Gewichte  —  ver- 
mieden werden  müssen.  Denn  durch  die  verschiedene  Grösse  der  Fall- 
geschwindigkeit, welche  dem  zu  schätzenden  Gewichte  auf  diese  Weise 
mitgetheilt  werden  kann,  wird  der  Werth  desselben  in  uncontrolirbarer 
Weise  verändert.  Gleichwohl  empfehlen  verschiedene  Autoren  gerade 
diese  Art  der  Untersuchung. 

Ich  selbst  kann  mich  einer  besonderen  Feinheit  des  Muskelsinns 
an  den  unteren  Extremitäten  nicht  rühmen.  Ich  unterscheide  0  von 
100  g  sicher,  aber  wenn  es  nur  90  g  sind,  so  irre  ich  mich  schon. 
Dagegen  unterscheide  ich  200  von  250,  250  von  300  und  Gewichts- 
differenzen von  100  bis  hinauf  zu  einer  Belastung  von  1000  g  stets 
richtig,  [m  Allgemeinen  w^erden  70 — 90  g  von  0  noch  unterschieden. 
60  g  dagegen  in  der  Regel  nicht  mehr.  Nachher  gelingt  die  Unter- 
scheidung von  100  und  150  sowie  von  50  und  100  manchmal,  sie  ist 
aber  entschieden  unsicherer  als  die  Unterscheidung  von  200  von  250, 
bei  der  Irrthümer  kaum  vorkommen.  Bei  der  Vergleichung  von  900 
und  1000  g    irren    sich  Einzelne  schon  wieder.     Die  Schätzung  gelingt 


—     317     — 

allemal  dann  besser,  wenn  erst  das  leichtere  und  dann  das  schwerere 
Gewicht  gehoben  wird.  Anderenfalls  werden  die  Gewichte  sehr  oft  als 
gleich  bezeichnet. 

Der  Apparat  reicht  also  für  die  Untersuchung  der  unteren  Ex- 
tremitäten sogar  von  Gesunden,  dafern  diese  nicht  besonders  befähigt 
sind,  vollkommen  aus.  Man  wird  zunächst  die  untere  Grenze,  bei  der 
eine  Belastung  überhaupt  wahrgenommen  v^ird,  bestimmen.  Liegt  diese 
zwischen  100  und  150,  so  thut  man  2  der  leichteren  Kugeln  in  die 
Tasche.  In  ähnlicher  Weise  kann  man  sich  helfen,  wenn  bei  den 
schwereren  Gewichten  ein  solches  von  gewünschter  Grösse  fehlen  sollte. 
Indessen  dürfte  dies  wohl  nur  selten  der  Fall  sein. 

Schliesslich  entsteht  die  Frage,  welche  Apperceptionen  es  denn 
nmi  eigentlich  sind,  deren  Schärfe  durch  den  Apparat  ziffermässig  be- 
stimmt werden  soll,  uud  welche  ich  bisher  mit  dem  Namen  „Muskel- 
sinn" bezeichnet  habe.  Ich  kann  diese  Frage  nicht  ganz  umgehen, 
erstens  weil  ich  Missverständnisse  zu  vermeiden  wünsche,  und  zweitens, 
Aveil  der  Name  des  Apparats  durch  die  Anschauungen,  welche  mit  seiner 
Benutzung  verknüpft  sind,  bedingt  wird.  Indessen  möchte  ich  doch  be- 
merken, dass  meine  Ansprüche  sich  auf  eine  erschöpfende  Besprechung 
der  „Muskelsinnfrage"  nicht  erstrecken.  Wer  sich  dafür  interessirt, 
findet  reichliches  Material  in  der  oben  citirten  Abhandlung  von  Charlton 
Bastian  und  in  der  anschliessenden  Discussion  der  Neurological  Society 
ot  London  und  an  anderen  Orten*). 

Die  Leistungen  unseres  Bewegungsapparates  gelangen  uns  in  normalen 
Verhältnissen  zum  Bewusstsein  —  abgesehen  vom  Gesichtssinn  —  durch 
die  Wahrnehmung  der  Einzelleistungen  der  Muskeln  und  ihrer  Adnexe, 
sowie  durch  differente  Empfindungen  seitens  der  Haut  und  der  Gelenke- 
Weichen  Antheil  ich  jenen  einzelnen  Factoren  an  dem  Zustandekommen 
der  Bewegungsbilder  zuschreibe,  das  habe  ich  schon  vor  langer  Zeit 
wiederholt  in  unzweideutiger  Weise  ausgesprochen,  und  ich  finde  auch 
heute  nichts  daran  zu  ändern.  Ich  sagte  z.  B.  —  „und  gleicherweise 
ist  es  klar,  dass  diese  ßewegungsbilder  vorwiegend  auf  die  Perception 
der  Muskelzustände,  weniger  also  auf  Gelenke,  Haut  u.  dgl.  zurück- 
zuführen sind  etc."**).     Es    scheint    mir    hieraus    so    unzweideutig   als 

*)  Pechner,  Psychophysik.  L  S.  93  ff.  und  8.  182  ff.  —  Hering, 
Ueber  Fe  ebner 's  psychophysisches  Gesetz.  Sitzungsber.  d.  K.  Akad.  d. 
Wissenscb.  LXXII.  1875.  —  Funke,  Hermann's  Handbuch  der  Physiol. 
Bd.  111.  2.  —  Wundt,  Physiol.  Psychol.  2.  Aufl.  Bd.  L  S.  397  ff.  — 
Jastrowitz,  Beiträge  zur  Localisation  im  Grosshirn.  Dtsch.  med.  Wochen- 
schrift. 1888.  No.  5  ff.  etc. 
**)  Siehe  oben  S.  61. 


—     318     — 

möglich  hervorzugehen,  dass  ich  zwar  dem  „Muskelsinn"  s.  strict.  eine 
besonders  hervorragende  Rolle  bei  der  Bildung  der  Bewegungsvor- 
stellungeu  zuerkannte,  aber  keineswegs  der  unbestimmten  Auffassung 
(lax  view)  gewesen  bin,  welche  Gharlton  Bastian*)  mir  zu  Unrecht 
vorwirft,  und  welche  „Haut-Gelenkempfindungen  u.  s.  w.  in  den  Begriff 
Muskelsinn  einschliesst". 

Man  hat  nun  die  Frage  aufgeworfen,  ob  mit  den  bei  jeder  Be- 
wegung abgegebenen  Willensimpulseu  eine  Wahrnehmung  der  Grösse 
dieser  Impulse  unabhängig  von  den  centripetal  anlangenden  Empfin- 
dungen ihrer  peripherischen  Wirkungen  verbunden  sei  oder  nicht,  mit 
anderen  Worten,  ob  dem  Sensorium  ein  unabhängig  von  äusseren  Sinnes- 
empfindungen bestehender  „Kraftsinn"  zukomme. 

Ich  habe  an  sich  gegen  die  Annahme  eines  Kraftsinnes  nichts  ein- 
zuwenden, ja  ich  sehe  sogar  nicht,  wie  der  regelmässige  Ablauf  unserer 
willkürlichen  Bewegungen  ohne  diese  Annahme  erklärt  werden  kann. 
Jede  mehr  oder  minder  complicirte  Willkürbewegung  setzt  sich  zusam- 
men aus  den  Einzelwirkungen  überaus  zahlreicher,  den  einzelnen  Mus- 
keln und  Theiieu  von  Muskeln  zukommenden  Zugkräfte.  Diese  Kräfte 
bleiben  aber  während  eines  und  desselben  Bewegungsactes  weder  ab- 
solut noch  in  ihrem  gegenseitigen  Verhältniss  zu  einander  constant, 
sondern  sie  erfahren  während  jeder  einzelnen  Phase  desselben  zahlreiche, 
durch  die  Verwirklichung  der  Bewegungsintention  bedingte  Verände- 
rungen.    Da  nun  die  Letztere  eine  Function    des  Bewusstseins    ist,  und 


*)  Bastian,  a.  a.  0.  S.  76.  Meines  Erachtens  hätte  ich  vor  derartigen 
Missverständnissen  gesichert  sein  sollen.  Nachdem  ich  in  der  mit  Herrn 
Fritsch  publicirten  Abhandlung  in  ganz  hypothetischer  Form  von  einer  cere- 
bralen Endstation  —  einem  Centrum  für  „den  Muskelsinn"  gesprochen  hatte, 
bemerkte  ich  an  der  von  Ch.  Bastian  citirten  Stelle  gegenüber  einem  Ein- 
wände Nothnagel's:  „Und  dennoch  bedauere  ich  noch,  damals  das  Wort 
Muskelsinn  gebraucht  zu  haben,  insofern  dasselbe  von  jeher  zu  allerlei  Miss- 
verständnissen Veranlassung  gegeben  hat";  später  habe  ich  mich  denn  auch 
bei  der  Erörterung  der  durch  Hirnverletzungen  hervorgebrachten  Störungen 
des  Ausdrucks  „Muskelbewusstsein"  bedient.  Ich  habe  dann  sehr  genau,  wenn 
auch  in  der  mir  passend  scheinenden  Kürze  auseinandergesetzt,  wie  ich  mir  die 
fraglichen  Vorgänge  denke,  und  freue  mich  zu  sehen,  dass  Bastian  hierin  mit 
mir  einer  Ansicht  ist. 

Wenn  ich  nun  in  deni  vorliegenden  Aufsatze,  welcher  sich  mit  der  ex- 
perimentellen Pathologie  des  Gehirns  nicht  beschäftigt,  gleichwohl  zunächst 
schlechthin  von  „Muskelsinn"  spreche,  so  schliesse  ich  mich  damit  lediglich 
dem  bei  diesem  Thema  allgemein  angenommenen  Sprachgebrauch  an.  Auch 
hier  wird  man  aber  die  Erläuterung  dessen,  was  ich  darunter  verstanden  wissen 
will,  nicht  vermissen. 


—     319     — 

da  ihre  Verwirklichung  von  einem  Zuwuchs  oder  umgekehrt  einer  Ab- 
minderung  der  von  diesem  abzugebenden  Impulse  iibhäugig  ist,  so  ver- 
steht es  sich  von  selbst,  dass  das  Bewusstsein  irgend  eine  Kenntniss 
sowohl  von  den  peripherischen  Wirkungen  der  von  ihm  aufgewendeten 
Kraft,  als  auch  von  dem  Maasse  dieser  Kraft  selbst  besitzen  miiss:  ja 
diese  Kenntniss  kann  nicht  nur  etwa  die  aufgewendete  Kraft  im  Allge- 
meinen betreffen,  sondern  sie  muss  sich  noth wendig  wieder  aus  der 
Kenntniss  von  den  Einzelkräften  zusammensetzen,  welche  für  jeden  ein- 
zelnen Factor  des  arbeitenden  Theiles  des  Muskelsystems  verwendet 
worden  sind. 

Wenn  nun  unsere  eigenen  Wahrnehmungen  von  diesen  inneren  Vor- 
gängen nicht  die  Schwelle  des  klaren  Bewusstseins  überschreiten,  so 
dass  deren  Existenz  oder  Nichtexistenz  überhaupt  Gegenstand  der  Dis- 
cussion  sein  kann,  so  ist  dies  auf  ein  allgemein  gültiges  Gesetz  zurück- 
zuführen. 

„Wir  vermögen  ganz  allgemein  die  Zustände  der  einzelnen  Organe 
nur  insoweit  —  von  Innen  heraus  —  zu  erkennen,  als  es  für  die  Be- 
nutzung derselben  zur  Erhaltung  des  gleichmässigen  Flusses  der  von 
ihnen  abhängigen  Reihe  von  Lebenserscheinungen  erforderlich  und  aus- 
reichend ist."*) 

Hiernach  ist  also  die  Existenz  eines  „Kraftsiuns"  insoweit  zuzuge- 
stehen, als  derselbe  einen  von  den  für  den  Ablauf  normaler  Bewegungen 
unentbehrlichen  Factoren  bildet.  Daraus  kann  aber  noch  nicht  ohne 
Weiteres  gefolgert  werden,  dass  solche  Empfindungen  (Sinnesempfindun- 
gen des  Kraftsinns)  auch  gänzlich  unabhängig  von  den  anderen  in  Be- 
tracht kommenden  Factoren  gebildet  werden.  Man  kann  sich  vielmehr 
sehr  wohl  vorstellen,  dass  sie  nur  unter  dem  Einflüsse  von  bestimmten 
centripetalen  Reizen  zu  Stande,  bei  gänzlichem  Fortfall  der  Letzteren 
aber  gleichfalls  in  Fortfall  kommen.  In  dem  erstangenommenen  Falle 
würden  also  centripetal  anlangende  Empfindungen  zur  Bildung  von  Asso- 
ciationen —  d.  h.  zur  Miterregung  anderer  centraler  Empfindungsappa- 
rate —  verwandt  werden,  welche  in  ihrer  noch  centripetal  gerichteten 
Hälfte  sich  mit  dem  centrifugalen  Willensimpulse  zu  einer  in  verschie- 
dener Weise  nuancirten  Vorstellung  vereinigen.  Dass  dieser  als  möglich 
vorausgesetzte  Vorgang  grössteutheils  unter  der  Schwelle  des  Bewusst- 
seins verliefe,  könnte  aus  dem  vorangeführten  Grunde  nicht  weiter  über- 
raschen. 

In  dem  anderen  Falle  würde  die  Associationsreihe  aber  gar  nicht 
erst  in  Fluss  gerathen,  weil  das  hierfür  wesentliche  Anfangsglied  fehlt. 


*)  Siehe  oben  S.  61. 


—     320     — 

Lediglich  intercentrale  (der  vielfach  gebrauchte  Ausdruck  „centrifugal" 
passt  hier  nicht)  Empfindungen  des  Kraftsinns  würden  unter  dieser  Vor- 
aussetzung nicht  existiren. 

Ich  weiss  nicht,  ob  es  sich  so  verhält,  und  ich  will  nichts  Derarti- 
ges behaupten.  Ich  sehe  aber  auch  nicht,  dass  das  Gegeutheil  erwiesen 
ist;  vielmehr  scheint  mir  dasjenige,  was  wir  von  unzweideutigen  Be- 
weisen besitzen,  eher  gegen  die  Existenz  eines  von  der  Apperception 
der  Bewegungen  unabhängigen  Kraftsinns  zu  sprechen. 

Natürlich  wird  die  Schätzung  der  für  eine  bestimmte  Bewegung 
aufgewendeten  Kraft  durch  jede  pathologische  Veränderung  der  hier 
mitwirkenden  Apparate  beeinflusst.  Zwei  in  der  Kürze  anzuführende 
Beispiele  mögen  diese  Thatsache  etwas  näher  erläutern. 

I.  Einem  16jährigen  Handlanger  war  am  6.  Januar  1886  ein  Mauerstein 
aus  beträchtlicher  Höhe  auf  die  linke  Scheitelhöhe  dicht  neben  der  Mittellinie 
gefallen.  Er  trug  eine  Depression  des  Scheitelbeins  und  eine  Parese  beider 
rechten  Extremitäten,  welche  in  der  unteren  Extremität  stärker  war,  nebst  einer 
Steigerung  der  Sehnenreflexe  davon.  Das  Gebiet  des  Facialis  etc.  war  frei  ge- 
blieben. Als  er  am  26.  Januar  1886  zur  Beobachtung  kam,  waren  sämmtliche 
Bewegungen  der  oberen  Extremität  ausführbar,  die  grobe  Kraft  derselben  massig 
herabgesetzt,  feinere  Fingerbewegungen  wurden  langsamer  und  ungeschickter 
ausgeführt,  Contracturen  bestanden  nicht,  das  Lagegefühl  war  erhalten.  Der 
Kranke  schätzte  aber  Gewichte  mit  dieser  Extremität  zu  schwer. 
Gab  man  ihm  gleichzeitig  in  jede  Hand  eine  Kugel,  die  leichtere  in  die  rechte 
Hand,  so  schienen  ihm  50  g  theils  schwerer  als  100  g,  theils  gleich  schwer, 
150  g  schwerer  als  200  g  etc.  Bei  den  höheren  Gewichten  hielt  er  vielfach 
ziemlich  weit  auseinander  liegende  Gewichte  für  gleich  schwer.  Gab  man  ihm 
jedoch  die  Kugeln  nach  einander  in  die  gleiche  rechte  Hand,  so  schätzte 
er  richtig.  Uebrigens  erlahmte  die  Aufmerksamkeit  verhältnissmässig  schnell. 
Ein  ähnliches,  jedoch  nicht  weiter  verfolgtes  Verhalten  wurde  an  der  unteren 
Extremität  constatirt. 

Li  diesem  Falle  waren  offenbar  die  corticalen  Centren  für  die  mo- 
torische Lniervation  der  rechten  Extremitäten  verletzt  und  dadurch  in 
ihrer  Leistungsfähigkeit  beeinträchtigt.  Somit  wurde  durch  die  Leistung 
der  gleichen  Arbeit  die  Aufwendung  einer  grösseren  Summe  von  Willens- 
impulsen bedingt,  welche  Differenz  nun  nach  dem  Gesetz  der  excentri- 
sclien  Empfindung  als  Vorstellung  der  Hebung  einer  grösseren  Last  in 
die  Peripherie  verlegt  wurde. 

Genau  dem  Widerspiel  dieser  Escheinung  begegnen  wir  in  dem  fol- 
genden Falle. 

n.  Ein  33 jähriger  Arbeiter  war  am  28.  Mai  1887  so  von  einem  4— 5Fuss 
hohen  Gerüste  gestürzt,  dass  er  bei  gestrecktem  Arm  auf  die  Fläche  der  linken 
hyperextendirten  Hand  fiel.    Er  klagte  von  der  Zeit  an  über  eine  Combination 


—     321     — 

von  motorischen  und  sensiblen  Lähmungs-  und  Reizerscheinungen  in  dieser 
Extremität.  In  diesseitige  Behandlung  trat  er  am  8.  October  ej.  Zu  der  Zeit 
als  die  fraglichen  Untersuchungen  ausgeführt  wurden,  hatte  er  eine  nicht  auf 
bestimmte  Nervenstärame  begrenzte  motorische  und  sensible  Parese  des  linken 
Vorderarms  und  der  Hand,  gleichzeitig  aber  Krämpfe  und  Parästhesien  in 
dieser  Extremität.  Paretisch  waren  die  Extensoren  der  Handwurzel,  der  Flexor 
digitt.  prof.  und  die  den  kleinen  Finger  bewegenden  Muskeln  an  der  Hand. 
In  den  letzteren  war  die  Parese  am  stärksten,  derart,  dass  der  5.  Finger  nicht 
opponirt  und  dem  4.  Finger  nicht  genähert  werden  konnte,  in  den  übrigen 
Muskeln  war  sie  nur  angedeutet.  Die  elektrische  extramusculäre  Erregbarkeit 
erwies  sich  annähernd  normal,  die  intramusculäre  dagegen  an  der  ganzen  Ex- 
tremität eher  etwas  gesteigert.  Die  sensible  Parese  betraf  nur  den  Tastsinn, 
während  die  Temperatur-  und  Schmerzempfindung  keine  Veränderungen  er- 
kennen Hessen.  Die  Störung  erstreckte  sich  auf  die  ganze  Vola,  einen  Theil 
der  Phalangen,  sowie  Streifen  und  Flecken  innerhalb  verschiedener  Nerven- 
gebiete des  Vorderarms.  Ganz  genaue  Grenzen  Hessen  sich  nicht  feststellen, 
da  der  Kranke  durch  excentrische  Empfindungen  beirrt  wurde.  Er  war  jedoch 
z.  B.  gänzlich  ausser  Stande,  ein  Geldstück,  eine  Uhr,  einen  Schlüssel  etc. 
durch  Betasten  zu  erkennen,  und  gab  an,  einmal  in  der  Nacht  dadurch  heftig 
erschreckt  worden  zu  sein,  dass  er  seine  linke  Hand  mit  der  rechten  Hand  wie 
eine  fremde  Hand  in  seinem  Bette  fühlte.  Gegeneinanderstossen  der  Phalan- 
gealgelenke  nahm  er  nicht  wahr,  wohl  aber  Ziehen  an  denselben.  Die  Empfin- 
dung für  nicht  schmerzhaften  Druck  fehlte  an  den  Fingern  gänzlich,  während 
er  schon  kleine  Differenzen  eines  schmerzhaften  Druckes  wohl  erkannte.  Die 
Contractionsempfindung  bei  elektrischer  Reizung  der  Muskeln  war  zwar  erhal- 
ten, aber  deutlich  schwächer  als  rechts.  An  den  oberen  Extremitäten  war  eine 
Veränderung  der  Reflexe  nicht  wahrzunehmen,  dagegen  erschienen  die  Patel- 
larreflexe  ausserordentlich  gesteigert.  Symptome  von  Seiten  der  Hirnnerven, 
welche  auf  die  gegenwärtige  Krankheit  bezogen  werden  konnten ,  fehlten. 
Ausserdem  litt  der  Kranke  an  klonischen  Krämpfen,  durch  welche  in  der  Regel 
nur  abwechselnd  rhythmische  Adductions-  und  Abductionsbewegungen  im 
linken  Handgelenk,  und  zwar  ca.löOmal  in  der  Minute  hervorgebracht  wurden, 
und  an  denen  sich  sowohl  die  Beuger  als  die  Strecker  betheiligten.  Liess  man 
den  Kranken  jedoch  bei  horizontal  gesrecktem  Arm  die  Vola  manus  nach  oben 
drehen,  so  traten  —  vornehmlich  bei  geschlossenen  Augen  —  mehr  tonische 
Krämpfe  auch  im  Biceps  und  in  anderen  Muskeln  des  Vorderarms  und  der 
Hand  auf,  so  dass  pronatorische  Flexions-Bewegungen  des  Vorderarms  und 
Oppositionsbewegungen  des  Daumens  entstanden.  Die  ersterwähnten  rhyth- 
mischen Krämpfe  cessirten  während  dessen  ganz  oder  fast  ganz.  Im  Uebri- 
gen  traten  die  Krämpfe  zurück,  sobald  die  Aufmerksamkeit  des  Kranken 
nicht  in  irgend  einer  Weise  auf  seinen  Arm  gelenkt  wurde,  und  bei  Ausführung 
anderer  Bewegungen  z.  B.  beim  Händedruck. 

Dieser  Kranke  schätzte  nun  dann,  wenn  man  ihm  gleich- 
zeitig eine  Kugel  in  jede  Hand  gab,   die  linke  Kugel  stets  zu 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     I.  Theil.  21 


—     322     — 

leicht,  und  zwar  war  der  Irrthum  grösser  bei  Schluss  der  Augen,  folge- 
recht bei  Verstärkung  der  Intensität  und  Extensität  der  Krämpfe.  In 
diesem  Falle  schienen  ihm  mit  der  rechten  Hand  gefasste  Kugeln  nicht 
nur  dann  schwerer,  wenn  es  sich  um  die  kleineren  Gewichte  zwischen 
50  und  100  handelte,  sondern  er  hielt  sogar  noch  250  g  für  schwerer 
als  800  g.  Andererseits  schätzte  er  mit  der  rechten  Hand  allein  ganz 
richtig,  mit  der  linken  Hand  allein  so,  dass  er  z.  B.  60  und  80  g 
nicht,  aber  doch  800  von  700  g  und  250  von  300  g  richtig  unterschei- 
den körnte.     Die  Unsicherheit  war  in  diesem  Falle  also  nur  gering. 

'  In  demselben  Sinne  war  das  Lagegefühl  verändert.  Sollte  der 
Kranke  nämlich  mit  dem  linken  Arm  eine  dem  rechten  Arm  gegebene 
Stellung  reproduciren,  so  erfolgte  stets  eine  zu  ausgiebige  Bewegung. 

Man  kann  über  die  Diagnose  dieses  Falles  im  Zweifel  sein.*)  Im 
Uebrigen  glaube  ich,  dass  es  sich  um  eine  Neurose  handelte.  Jeden- 
falls lässt  sich  aus  dem  Verhalten  der  Krämpfe  auf  eine  Betheiligung 
der  grauen  Substanz  schliessen.  .  Für  unsere  gegenwärtige  Erörterung 
ist  nur  dies  und  die  Folgerung  von  Interesse,  dass  die  gleiche  und 
sogar  eine  um  Vieles  grössere  Arbeitsleistung  dem  Sensorium  deshalb 
um  Vieles  geringer  erschien,  weil  ein  adäquater  Theil  der  geleisteten 
Arbeit  nicht  von  Willensimpulsen,  sondern  von  einem  innerhalb  der 
centralen  motorischen  Bahn  wirksam  werdenden  Reizzustande  herzu- 
leiten war.**) 

Indessen  scheinen  mir  diese  beiden  oder  ähnliche  Fälle  für  die  Ent- 
scheidung der  aufgeworfenen  Frage  nichts  beizutragen.  Denn  wenn 
durch  dieselben  auch  bewiesen  wird,  dass  die  geleistete  Arbeit  jedesmal 
dann  unrichtig  geschätzt  wird,  wenn  das  Maass  der  erforderlichen  Im- 
pulse durch  einen  der  Erfahrung  des  Sensorium  fremden  Factor  eine 
positive  oder  negative  Veränderung  erleidet,  so  wird  die  peripherische 
Arbeitsleistung  doch  in  jedem  dieser  Fälle  appercipirt  und  damit  die 
Associatiousreihe,  welche  zu  der  erforderlichen  Urtlieils(Schluss)bildung 
führt,  in  Fluss  gebracht. 

Aus    ähnlichen   Gründen    lässt    sich    auch    mit    den    Erfahrungen 


*  M.Bernhardt,  Ueber  einenPall  vonHirnrindenataxie  (Deutsche  med. 
Wochenschr.  1887.  S.52),  beschreibt  einen  sehr  ähnlichen  Fall.  S,  a.  Jastro- 
witz  a.  a.  0.  Fall  VI  und  A^I. 

**)  Diese  Annahme  ist  nur  zum  Theil  richtig.  Ein  Theil  des  Irrthums 
ist  zweifellos  aus  der  Abstumpfung  des  Muskel-  und  Gelenkgefühls  derart  her- 
zuleiten, dass  das  Sensorium  geringwerthigere  Reize  von  diesen  Theilen  her 
empfing.  Im  Text  ist  hiervon  abgesehen,  um  die  Auseinandersetzung  nicht  un- 
nöthig  zu  verwickeln.  Der  Einfluss  der  Krämpfe  geht  andererseits  daraus  her- 
vor, dass  die  Grösse  des  Irrthums  von  ihrer  Intensität  abhängig  war. 


-     323     — 

welche  über  die  in  den  oberen  nnd  unteren  Extremitäten  verschiedene 
Feinheit  des  Muskelsinns  gesammelt  sind,  nichts  anfangen.  Die  That- 
saclie  selbst  ist  wohl  hinreichend  festgestellt.  Denn  wenn  auch  die 
durch  die  oben  angeführten  Untersuchungen  gefundenen  Verhältniss- 
zahlen für  die  unteren  Extremitäten  zwischen  1/4  und  720  schwanken, 
so  ist  doch  der  der  grössten  Feinheit  des  Onterscheidungsvermögens  der- 
selben entsprechende  M'^erth  von  1/20  —  welcher  zudem  kaum  richtig 
sein  dürfte  —  immer  nur  halb  so  gross,  wie  der  von  Weber  für  die 
oberen  Extremitäten  gefundene  Werth.  Wahrscheinlich  verhält  sich  das 
relative  ünterscheidungsvermögen  wie  1  :  4 — 5. 

Man  könnte  folgenden  Schluss  ziehen  wollen.  Wenn  mit  den  oberen 
Extremitäten  die  Hinzufügung  von  1  g  zu  einer  Belastung  von  39  g 
richtig,  dagegen  mit  den  unteren  Extremitäten  die  Hinzufügung  von  60 
bis  80  g  zu  einer  Belastung  von  0  g  nicht  richtig  erkannt  wird,  so  ist 
■dies  mit  der  Annahme  eines  Kraftsinnes  nicht  vereinbar;  denn  ein  solcher 
Sinn  müsste  in  jedem  von  beiden  Fällen  die  aufgewendete  Kraft  gleich- 
massig  fein  beurtheilen  können.  Dieser  Schluss  wäre  aber  deshalb  un- 
zulässig, weil  er  der  Gewichtsdifferenz  zwischen  der  oberen  und  der 
unteren  Extremität  keine  Rechnung  trägt.  Es  versteht  sich,  dass  das 
Sensorium  in  demjenigen  corticalen  Centrum,  welches  stets  die  Bewegung 
einer  grösseren  Last  —  also  der  unteren  Extremität  —  zu  versehen 
hat,  eine  höhere  Schwelle  für  den  Werth  der  Belastung  besitzt.  Einen 
Kraftsinn  in  der  supponirten  Bedeutung  könnte  es  also  geben,  und  dennoch 
würde  dieser  nicht  befähigt  sein,  das  Mehr  der  Impulse  zu  appercipiren, 
welches  durch  einen  Zuwachs  der  Belastung  von  1  g  oder  80  g  gleich- 
viel zu  der  Eigenschwere  des  Beines  bedingt  wird. 

Dagegen  scheinen  gerade  solche  Beobachtungen,  welche  nach  der 
Ansicht  einiger  Autoren  für  die  Existenz  eines  unabhängigen  Kraftsinns 
•sprechen  sollen,  dagegen  zu  sprechen.  Ich  meine  die  Beobachtungen 
über  die  Bewegungsempfindungen  der  Tabischen.  Diese  Krankheitsfälle 
sind  um  deswillen  von  ganz  besonderem  Interesse,  weil  bei  ihnen  die 
üebermittelung  centripetaler  Reize  ganz  oder  fast  ganz  ausgeschlossen 
sein  kann,  so  dass  dann  die  Existenz  und  die  Eigenschaften  eines  inter- 
centralen Kraftsinns  appercipirbar  werden  müssteu. 

Leyden  fand  bekanntlich,*)  dass  Tabiker,  welche  die  stärksten 
faradischen  Muskelcontractionen  an  den  unteren  B>xtremitäten  nicht 
empfanden  und  ausserdem  daselbst  an  einer  bedeutenden  allgemeinen 
Anästhesie  litten,  die  Schwere  verschiedener  Gewichte  (nach  der  vor- 
beschriebenen Methode)    „mit  derselben  Schärfe    unterschieden  wie  Ge- 


*)  Leyden,  a.  a.  0.  8.  329. 

21* 


—     324     — 

sunde".  Indessen  gelang  ihnen  das  nur  dann,  wenn  das  zu  schätzende 
Gewicht  eine  gewisse  Schwere  besass,  sonst  wurde  das  Gewicht  über- 
haupt nicht  wahrgenommen.  Leyden  schliesst  hieraus,  „dass  die 
Schätzung  nicht  (mehr)  Function  der  sensiblen  Nerven,  sondern  des  Sen- 
sorium  ist,  —  —  dass  diese  Fähigkeit  so  lange  normal  ist,  als  die 
psychischen  Vorgänge  dieser  Art  normal  sind".  „Die  Grenze  aber,  wo 
das  Gefühl  der  Schwere  entstand,  war  erheblich  heraufgerückt,  wenn 
eine  erhebliche  Abschwächung  der  Muskelsensibilität  wie  der  Sensibilität 
überhaupt  bestand."  Zunächst  kommt  der  von  Leyden  mitgetheilten 
Thatsache  eine  allgemeine  Gültigkeit  nicht  zu.  Schon  Jaccoud*) 
hatte  abweichende  Erfahrungen  gemacht.  Leyden  hat  zwar  die  Grenze 
nicht  angegeben,  jenseits  deren  das  Gefühl  der  Schwere  entstand;  man 
kann  jedoch  aus  seinen  Versuchen  entnehmen,  dass  dieselbe  nicht  höher 
als  1000 — 1500  g  gelegen  hat.  Lassen  wir  also  von  den  sechs  an  Tabes 
leidenden  Versuchspersonen  Jaccoud 's  zunächst  diejenigen  fünf  bei 
Seite,  welche  mit  leichteren  Gewichten  untersucht  wurden  oder  welche 
geringere  Differenzen  unterschieden,  so  bleibt  doch  immer  noch  ein 
Kranker,  welcher  erst  eine  Differenz  von  cc.  3000  g  unterschied.  Auch 
Bernhardt**)  untersuchte  Tabische,  welche  1000,  selbst  1500  g  von 
500  g  nicht  unterschieden. 

Ich  selbst  beobachte    seit    dem  Juni  1886    einen  Kranken,    der   in 
dieser  Beziehung  und  sonst  von  Interesse  ist. 

III.  Der  Schreiber  E.,  ein  intelligenter  Mann,  nicht  syphilitisch,  angeb- 
lich in  Folge  von  Erkältung  erkrankt,  ist  in  Folge  doppelseitiger  glaucomatöser 
Opticusatrophie  total  blind.  Die  ersten  Erscheinungen  von  Tabes  traten  im 
Jahre  1881  mit  lancinirenden  Schmerzen  in  den  unteren  Extremitäten  und 
Biasenbeschwerden  auf.  Gegenwärtig  besteht  eine  ausserordentlich  hochgradige 
Ataxie.  Wenn  der  Kranke  sitzend  oder  liegend  sich  zum  Gehen  anschickt,  so 
wirft  er  die  Beine  durcheinander,  als  wenn  er  damit  trommeln  wollte.  Ist  er 
damit  jedoch  erst  auf  den  Fassboden  gelangt  und  in  Gang  gekommen,  so  ver- 
mag er  an  der  Hand  eines  Führers  grosse  Wege  zurückzulegen.  Das  Lage- 
gefühl in  den  unteren  Extremitäten  fehlt  gänzlich.  Die  stärksten  faradischen 
Muskelcontractionen  rufen  daselbst  nicht  die  geringste  Contractionsempfindung 
hervor.  Die  Hautsensibilität  ist  hochgradig  gestört,  am  besten  ist  noch  der 
Temperatursinn  erhalten,  ausserdem  werden  stellenweise  starke,  auf  die  Haut 
localisirte  Inductionsströme  mit  einer  Verlangsamung  als  Schmerz  empfunden. 
Dieser  Kranke  vermag  nun  0  von  1900  g  auch  dann  nicht 
zu  unterscheiden,  wenn  die  Schätzung  bei  gestrecktem  Bein 
durch  Beugung  im  Hüftgelenk  vorgenommen  wird. 

*)  Jaccoud,  a.  a.  0.  S.  675. 
**)  Bernhardt,  a.  a.  0.  S.  631. 


—     325     — 

In  allen  diesen  Fällen  war  also  von  einem  mit  Schärfe  fungiren- 
den  Kraftsinn  nichts  zu  merken.  Indessen  sprechen  auch  die  anderen- 
bei  Weitem  zahlreicheren  Fälle,  in  denen  das  Gefühl  der  Schwere  be- 
reits bei  einer  viel  geringeren  Belastung  entstand,  durchaus  in  gleichem 
Sinne.  Es  ergiebt  sich  nämlich  aus  diesen  —  mid  meine  eigenen  Be- 
obachtungen stimmen  damit  überein  — ,  dass  die  Fähigkeit,  Gewichte 
richtig  abzuschätzen,  in  gleichem  Maasse  mit  den  sensiblen  Eigenschaften 
der  Extremitäten  abnimmt,  ohne  dass  der  „Kraftsinn"  etwas  daran  zu 
ändern  vermöchte.  Diese  Fähigkeit  erweist  sich  damit  als  abhängig 
von  centripetalen  Reizen  und  als  unabhängig  von  selbst- 
ständigen intercentralen  Vorgängen. 

Wäre  die  in  Rede  stehende,  von  Leyden  gemachte  Erfahrung  aber 
auch  allgemein  gültig,  was  sie  nicht  ist,  so  könnte  daraus  unter  keinen 
Umständen  der  von  ihm  gezogene  Schluss  hergeleitet  werden.  Wenn 
Leyden  nämlich  sagt:  „Nunmehr  ist  aber  diese  Thatsache  leicht  ver- 
ständlich, denn  die  Schätzung  ist  nicht  mehr  Function  der  sensiblen 
Nerven,  sondern  des  Sensorium,"  so  kann  dieser  Satz  nur  so  verstanden 
werden,  dass  die  Schätzung  in  den  fraglichen  Fällen  ohne  Mitwirkung 
der  sensibeln  Nerven  ausschliesslich  Function  des  Sensorium  sei; 
denn  dass  bei  jeder  Schätzung  eine  Mitwirkung  des  Sensorium  statt- 
findet, versteht  sich  von  selbst. 

Hiernach  würde  sich  die  Sachlage  für  einen  concreten  Fall  fol- 
gendermaassen  gestalten.  Ein  Tabiker  nimmt  ein  Gewicht  von  900  g 
ungeachtet  seines  intercentralen  Kraftsinns  überhaupt  nicht  wahr,  son- 
dern hat  das  Gefühl  der  Schwere  erst  bei  1000  g.  Fügt  man  dagegen 
zu  diesem  Gewicht  von  1000  g  1/20,  also  50  g  hinzu,  ein  Mehr,  welches 
von  Gesunden  in  der  Regel  nicht  appercipirt  werden  wird,  so  erkennt 
der  gleiche  Sinn,  welcher  bis  dahin  überhaupt  nicht  functionirt  hat, 
nunmehr  plötzlich  diese  minimale  Ditierenz.  Dieses  Verhalten  wäre  in 
keiner  Weise  zu  erklären.  Man  versteht  nicht,  aus  welchem  Grunde 
jener  Sinn,  wenn  er  überhaupt  vorhanden  und  in  dem  einen  Falle  zur 
Erkennung  so  feiner  Dift'erenzen  befähigt  ist,  in  dem  andern  Falle  grobe 
Differenzen  nicht  wahrzunehmen  vermag,  und  man  wird  deshalb  geneigt 
sein,  den  Grund  für  diese  auffallende  Erscheinung  nicht  im  Centrum, 
sondern  in  der  Peripherie  zu  suchen. 

Leyden  selbst  hat  durch  Versuche  nachgewiesen,  dass  noch  andere 
sensible  Nerven  als  die  der  Muskeln  bei  der  Bildung  unserer  An- 
schauungen von  activen  nnd  passiven  Bewegungen  concurriren.  In  der 
That  kommt  den  Empfindungen,  welche  durch  Zug  an  den  sehnigen 
Appendices  der  Muskeln  und  durch  Druck  auf  die  Gelenkflächen  ver- 
mittelt werden,  schon  in  der  Norm  ein  nicht  unwesentlicher  Antheil  an 


—     326     — 

der  Bildung  der  Bewegungsvorstellungen  zu;  ich  erinnere  nur  an  die 
schon  von  Weber  angestellten  Versuche. 

An  Kranken  lässt  sich  nun  zunächst  nachweisen,  dass  die  Sensi- 
bilität dieser  Theile  einer  gesonderten  Störung  fähig  ist.  Der  hier 
unter  II.  erwähnte  Kranke  hat  z.  B.  keine  Empfindung  von  dem  Zu- 
sammenstossen  fast  aller  Fingergelenke,  während  er  Zug  an  den  Fingern 
wahrnahm.  Gerade  umgekehrt  empfindet  der  zuletzt  erwähnte  Kranke 
Zug  an  den  Gelenken  der  unteren  Extremitäten  gar  nicht,  dagegen 
empfindet  er  schon  ein  leises  Zusammenstossen  der  einzelnen  Gelenk- 
flächen sehr  gut.  Ja  er  empfindet  das  leiseste  mit  einer  Fingerspitze 
gegen  die  Längsaxe  des  Gliedes  gerichtete  Klopfen  unter  dem  Hacken 
mit  der  grössten  Sicherheit  und  Regelmässigkeit,  während  die  Haut 
des  Hackens  in  dem  Maasse  anästhetisch  ist,  dass  der  Kranke  daselbst 
weder  das  Quetschen  einer  Hautfalte  noch  tiefe  Nadelstiche  überhaupt 
wahrnimmt.  Jene  Empfindung  kann  daher  nur  in  den  Gelenken  der 
Fusswurzel  oder  im  Fussgelenk  entstehen. 

Ich  vermuthe  hiernach  weiter,  dass  den  Gelenkempfindungen  unter 
Umständen  eine  vicariirende  Thätigkeit  zukommt,  vielleicht  sogar  in 
der  Weise,  dass  der  Gelenksinn  —  wenn  man  das  Wort  passiren  lassen 
will  —  einer  Verschärfung  dann  fähig  ist,  wenn  das  Sensorium  bei  der 
Orientirung  über  die  Zustände  der  Extremitäten  vornehmlich  oder  gänz- 
lich auf  ihn  augewiesen  ist.  Wahrscheinlich  beruht  die  grössere  Sicher- 
heit, welche  die  Tabischen  in  der  Beherrschung  der  Extremitäten  ge- 
winnen, sobald  sie  erst  einmal  mit  den  Hacken  auf  den  Boden  gelangt 
und  in  Gang  gekommen  sind,  andererseits  —  wenigstens  zum  Theil  — 
die  grössere  Kraft,  mit  der  sie  die  Hacken  aufsetzen,  auf  der  verstärkten 
Inanspruchnahme  der  Gelenkempfindungen. 

Und  in  gleicherweise  scheinen  sich  die  Erfahrungen  von  Leyden 
zu  erklären.  In  der  That  gaben  seine  Kranken  an,  sie  empfänden  die 
Schwere  der  Belastung  theils  an  der  Stelle,  wo  der  Fuss  die  Pelotte 
trifft,  theils  in  den  Gelenken.  Jedenfalls  hat  es  sich  dabei  also 
um  die  Apperception  peripherischer,  nicht  aber  um  die  intercentraler 
Empfindungen  gehandelt. 

Jedoch  scheinen  mir  die  von  dem  Haut-  und  dem  Muskelsinn  un- 
abhängigen Empfindungen  auch  bei  den  Bewegungsverrichtungen  der 
Gesunden  eine  grössere  Rolle  zu  spielen,  als  mau  bisher  anzunehmen 
geneigt  war.  Ich  schliesse  das  aus  der  oben  von  mir  mitgetheilten 
Thatsache,  dass  Personen,  welche  eine  Belastung  der  unteren  Extremität 
von  50  g  überhaupt  nicht  appercipiren,  einen  Zuwachs  von  50  g  zu 
einer  Anfangsbelastung   von  200  und  von  250  g  etc.  leicht  erkennen*). 

*1   Die  Thatsache,   dass   die  Feinheit  der  Schätzung  mit  der  Zunahme 


—     327      — 

Wären  die  Muskelempfiudungen  bei  der  Schätzung  einzig  und  allein 
ausschlaggebend,  so  müsste  das  Uragekehrte  zutreffen.  Wenn  die  der 
Schätzung  zu  Grunde  liegende  Bewegungsempfindung  sich  jedoch  ausser- 
dem noch  aus  den  Empfindungen  von  Zug  au  Fascieii  und  Bändern  und 
von  Pressungen  der  Gelenkflächen  zusammensetzt,  so  wird  die  Thatsache 
ohne  Weiteres  verständlich;  denn  die  anatomischen  Verhältnisse  der 
unteren  Extremität,  das  grössere  Gewicht  ihrer  Theile,  bedingen  natur- 
gemäss  einen  höheren  Schwellenwerth  für  die  in  Frage  kommenden 
Reize.  — 

Wenn  man  also  Gewichte  schätzen  lässt,  so  niisst  man  die  Summe 
der  im  Einzelfalle  wirksam  werdenden,  aus  jenen  verschiedenen  Quellen 
herstammenden  Empfindungen,  Bewegungsempfindungen  im  weitesten 
Sinne.  Das  werden  in  der  Norm  vornehmlich,  aber  keineswegs  aus- 
schliesslich Muskelempfindungen  sein,  —  hierin  stimme  ich  Leyden 
und  Bastian  vollkommen  bei  ■ —  bei  Krankheiten  kann  das  Verhältniss 
sich  mdessen  derart  ändern,  dass  gerade  diese  Empfindungen  gänzlich 
zurücktreten. 

Chariten  Bastian  hat  fi^ir  die  Wahrnehmung  der  Gesammtheit 
jener  Empfindungen  den  Ausdruck  „Kinaesthesis"  (Kinaesthetic  im- 
pressions)  vorgeschlagen  und  ich  selbst  finde  gegen  ein  solches  Sammel- 
wort, wenn  es  auf  eine  schärfere  Präcision  dessen,  was  bisher  vielfach 
„Muskelsinn"  genannt  wurde,  ankommen  soll,  im  Priucip  nichts  ein- 
zuwenden. Nur  wird  mir  von  competenter  Seite  versichert,  dass  das 
Wort  in  sprachlicher  Beziehung  nichts  tauge.  Mir  thut  das  auf- 
richtig leid.  Denn  wenn  ich,  im  Uebrigen  Bastian  folgend,  den  be- 
schriebenen Apparat  nicht  „Kinaesthesiometer"  genannt  habe,  so  ver- 
hehle ich  mir  keineswegs,  dass  dieses  Wort,  wenn  auch  sprachlich 
unrichtig,  sich  doch  zum  Sprechen  immer  noch  besser  eignet,  als  das 
sprachlich  richtigere  „Kinesiaesthesiometer". 


der  Belastung  bis  zu  einer  bestimmten  Grenze  anwächst,  hat  für  die  obere 
Extremität  zuerst  Fechner  (a.  a.  0.  S.  200)  gefunden  und  nachdem  Hering 
(bezw.  Biedermann  und  Loewit  a.  a.  0.  S.  34)  bestätigt. 


XVII.    lieber  den  Ort  der  extraventriculäreii  Cerebralflüssigkeit. 

Nachdem  in  den  letzten  Jahren  die  Literatur  unseres  Themas  gelegent- 
lich der  Arbeiten  von  J.  Henle*),  H.  Quincke**)  und  E.  Leyden***) 
erschöpfend  zusammengestellt  worden  ist,  glaube  ich  auf  dieselbe  nicht 
noch  einmal  näher  eingehen  zu  sollen.  Der  gegenwärtige  Standpunkt 
der  meisten  Autoren  —  und  unter  ihnen  befinden  sich  mehrere  unserer 
besten  Forscher  —  wird  durch  die  Darstellung  von  Henle  veranschau- 
licht werden:  „Da  der  seröse  Sack  (Arachnoidealsack  Bichat's),  auf 
dessen  anatomischen  Nachweis  von  vornherein  verzichtet  wurde,  nur  eine 
Hypothese  war  zur  Erklärung  des  die  Centralorgane  umspülenden 
Wassers,  so  verstand  es  sich  von  selbst,  dass  das  Wasser  den  Inhalt 
des  Sackes  bilden  musste,  dessen  Wände  man  als  die  Quelle  des  Wassers 
ansah.  Der  Glaube  an  den  serösen  Sack  hinderte  die  Anatomen,  zu 
bemerken,  dass  bei  der  Eröffnung  der  Wirbelhöhle  das  sogenannte  vis- 
cerale Blatt  der  Arachnoidea  in  der  Regel  in  unmittelbarer  Berührung 
mit  dem  parietalen  gefunden  wird;  er  hinderte  die  Aerzte,  sich  zu 
überzeugen,  dass  das  gerinnbare  Exsudat  der  Arachnitis  nicht  zwischen 
den  beiden  Lamellen  des  serösen  Sackes,  sondern  unterhalb  der  Vis- 
cerallamelle  liegt."  Henle  selbst f)  bezeichnet  dann  in  Uebereinstim- 
mung  mit  den  meisten  anderen  neueren  Autoren  das  sogenannte  sub- 
arachnoideale  Bindegewebe  als  den  eigentlichen  Ort  der  Cerebrospinal- 
flüssigkeit,  indem  er  es  mit  Virchow  ein  physiologisch  wassersüchtiges 
Gewebe  nennt.     Er  meint,    dass    die   areoläre  Beschaffenheit  dieses  Ge- 


*)  J.  Henle,   Handbuch    der   systematischen    Anatomie.     Nervenlehre. 
S.  315.   Braunschweig  1871. 

'^*)   H.Quincke,  Zur  Physiologie  derCerebrospinalflüssiglveit.  Reichert's 
und  du  Bois-Reymond's  Archiv.    1872.   Heft  2. 

***)   E.  Leyden,   Klinik  der  Rückenmarkslvrankheiten.    Bd.  1.   S.  7 — 13. 
Berlin  1874. 

t)   a.  a.  0.    S.  312. 


—     329     — 

webes  der  Flüssigkeit  eine  fast  so  rasche  Orts  Veränderung  erlaube,  als 
wenn  sie  frei  das  Centralorgan  umspüle.  So  würden  alle  Anforderungen 
erfüllt,  welche  das  eigentliümliche  Verhältniss  des  Druckschwankungen 
und  plötzlichen  Bewegungen  in  der  starren  Schädelkapsel  ausgesetzten 
Gehirns  stellen  könnte. 

Wie  man  schon  aus  der  Darstellung  Henle's  ersieht,  ist  mannig- 
facher, wenn  auch  erfolgloser  Widerspruch  dieser  Anschauungsweise 
nicht  erspart  geblieben.  Jeder  ist  gewohnt,  an  das  zu  glauben,  was  er 
selbst  sieht.  So  blieben  die  Anatomen  und  pathologischen  Anatomen 
in  der  grossen  Mehrzahl  bei  dem  an  und  für  sich  ganz  unanfechtbaren 
Befunde  stehen,  dass  sich  bei  der  Leichenöffnung  im  Sacke  der 
Dura  au  der  Convexität  gewöhnlich  keine  Flüssigkeit  findet, 
während  die  Maschen  der  Pia  allerlei  flüssige  Körper  ent- 
halten können.  Die  Einwendungen  der  Gegner  wurden  als  rein  theo- 
retischer Natur  bezeichnet,  insofern  sie  sich  lediglich  auf  die  nicht  zu 
erweisende  Hypothese  Bichat's  von  der  Auskleidung  aller  Höhlen  mit 
serösen,  also  Flüssigkeit  secernirenden  Häuten  stützen  sollten. 

Andererseits  hatte  ich  mich  selbst  durch  eine  nach  Hunderten 
zählende  Reihe  von  Vivisectionen  an  Hunden  so  sicher  als  möglich 
von  dem  Vorhandensein  einer  nicht  geringen  Menge  von 
Flüssigkeit  im  Sacke  der  Dura  überzeugt.  Das  von  mir  ange- 
wendete Verfahren  schloss  jede  Täuschung  aus.  Mit  einer  kleineu 
Trephine  wurde  ein  Loch  von  14  mm  Durchmesser  in  den  Schädel- 
knochen geschnitten,  die.  unverletzte  Dura  bauschte  sich  hervor,  und 
schon  jetzt  konnte  man  durch  deren  halbdurchsichtiges  Gewebe  hin- 
durch die  Anwesenheit  von  Flüssigkeit  in  dem  von  ihr  eingeschlossenen 
Räume  wahrnehmen.  Sobald  nämlich  die  Dura  der  Pia  ohne  trennende 
Flüssigkeitsschicht  unmittelbar  anliegt,  sieht  man  die  Getässe  der  weichen 
Hirnhaut  durchschimmern,  die  Anwesenheit  einer  Flüssigkeitsschicht  macht 
die  Gefässe  hingegen,  je  nach  ihrer  Dicke,  mehr  oder  weniger  un- 
deutlich und  verräth  sich  ausserdem  durch  die  besondere  Art  der  Licht- 
brechung. 

Ging  ich  nun  mit  einem  ganz  kleinen  und  sehr  spitzen  Skalpell  im 
Centrum  der  Kuochenlücke  so  zwischen  Dura  und  Pia  ein,  so  dass  die 
Klinge  des  Messers  den  Hirnhäuten  fast  parallel  lag,  quoll  sofort 
eine  beträchtliche  Menge  entweder  klarer,  oder  mit  Blut  gemischter 
Flüssigkeit  unter  einem  anscheinend  nicht  ganz  geringen  Drucke  her- 
vor. Wurde  nun  das  Schädeldach  weiter  abgetragen  und  die  Dura  mit 
Pincette  und  Schere  entsprechend  weit  entfernt,  so  konnte  ich  mich 
leicht  überzeugen,  dass  auch  in  den  Fällen,  wo  Blut  kam,  die  Pia  keine 
Verletzung  erfahren  hatte,  sondern  dass  das  Blut  aus  den  zerschnittenen 


—     330     — 

Gefässen  der  harten  'Hirnhaut  herstammte;  denn  auch  die  kleinsten 
Verletzungen  der  Pia  geben  ein  Bild,  welches  jede  Täuschung  unmög- 
lich macht.  Abgesehen  von  dem  Umstände,  dass  in  der  Regel  eine 
Blutung  auf  die  freie  Fläche,  oder  wenn  die  Wunde  sehr  klein  ist,  in 
das  Maschengewebe  der  Pia  selbst  folgt,  so  drängt  sich  die  weiche 
Hirnmasse  hernienartig  durch  die  Wunde  der  weichen  Hirnhaut  hervor. 
Betrachtet  man  nun  die  Oberfläche  der  Hemisphäre  gegen  das  Licht, 
so  macht  sich  auch  die  kleinste  Unterbrechung  des  in  der  Norm 
vorhandenen  feuchten  Glanzes  auf  das  Deutlichste  bemerkbar.  Aber 
man  kann  sich  auch  noch  auf  eine  andere  Weise  überzeugen,  dass  jene 
Flüssigkeit  nicht  etwa  aus  einem  noch  so  kleinen  Loche  der  Pia  her- 
vorströmt. Wenn  man  nämlich  die  Dura  der  Trepanationslücke  mit  der 
Schere  durch  einen  Kreuzschnitt  spaltet  und  die  Lappen  zurück- 
schlägt, so  sieht  man  während  der  ersten  Hälfte  jeder  exspiratorischen 
Phase  die  Flüssigkeit  ganz  deutlich  und  in  relativ  bedeutender  Menge 
von  den  Seiten  her  hervorquellen.  Käme  diese  immerhin  erhebliche 
Menge  Flüssigkeit  in  so  kurzer  Zeit  aus  einer  kleinen  Lücke  der  Pia, 
so  würde  sie  unter  einem  bedeutenden  Drucke  und  mit  grosser  Ge- 
schwindigkeit, also  als  ein  nicht  zu  übersehender  dünner  Strahl  her- 
vorspritzen müssen.  Einen  anderen  Beweis  dafür,  dass  die  Cerebral- 
flüssigkeit  nicht  aus  dem  Maschengewebe  der  Pia  kommt,  werde  ich 
unten  noch   anführen. 

Wenn  nun  auch  für  mich  auf  Grund  dieser  täglichen  Erfahrung 
kein  Zweifel  über  den  fraglichen  Punkt  existiren  konnte,  so  war  damit 
der  Widerspruch  zwischen  den  Befunden  der  Anatomen  und  den  Er- 
gebnissen der  Vivisection  noch  nicht  gelöst.  Ich  niusste  annehmen? 
dass  so  aasgezeichnete  Beobachter,  wie  die  Vertheidiger  der  eingangs 
geschilderten  Lehre  sich  nicht  getäuscht  hatten,  als  sie  die  stete  Ab- 
wesenheit von  Flüssigkeit  im  Sacke  der  Dura  bei  Leichen  constatirten, 
und  ich  musste  erwarten,  dass  die  einfache  Gegenüberstellung  der 
beiderseitigen  Befunde  denselben  negativen  Erfolg  haben  würde,  wie  die 
früheren  Bemühungen.  Ich  hätte  dies  lebhaft  zu  bedauern  gehabt; 
denn  die  Vorstellungen,  welche  man  sich  von  einer  beträchtlichen  Zahl 
physiologischer  und  pathologischer  Verhältnisse  bildet,  müssen  noth- 
gedrungen  auf  dem  Boden  jenes  einfachen  Thatbestandes  erwachsen. 
Unter  diesen  Umständen  kam  es  darauf  an,  die  Brücke  zwischen  den 
divergirenden  Ansichten,  von  denen  eine  jede  sich  zweifelsohne  auf 
richtige  Beobachtungen  stützte,  herzustellen. 

Ich  unternahm  dies  in  folgender  Weise:  Zunächst  galt  es,  zu  ent- 
scheiden, ob  man  beim  todten  Hunde  denselben  Mangel  von  Flüssig- 
keit   im  Sacke    der  Dura  würde  nachweisen  können,    als    bei    den    zur 


—     331     — 

Autopsie  gelangenden  Menschen.  Ich  untersuchte  deshalb  nach  der 
oben  geschilderten  Methode  eine  grössere  Zahl  von  Hunden,  welche  be- 
reits vor  mehr  als  24  Stunden  getödtet  waren.  Hierbei  fand  ich  denn, 
wie  ich  wohl  voi'aussetzen  durfte,  dasselbe  Verhältniss,  welclies  beim  Men- 
schen beschrieben  worden  ist:  im  Sacke  der  Dura  war,  wenigstens 
an  der  Convexität,  auch  nicht  ein  einziger  Tropfen  Fl  üssigkeit 
vorhanden.  Es  fand  sich  aber  noch  etwas  mehr,  und  das  ist  der  fernere 
Beweis  für  die  Herkunft  der  Cerebralflüssigkeit  aus  dem  Sacke  der  Dura 
selbst,  den  ich  oben  verhiess.  Ich  konnte  nämlich  die  Pia  und  die 
Hirnsubstanz  in  jeder  beliebigen  Weise  verletzen,  ohne  dass  auch 
dann  ein  noch  so  kleines  Tröpfchen  hervordrang.  Nunmehr 
war  also  weder  Flüssigkeit  zwischen  Dura  und  Pia,  noch  innerhalb  der 
Mascheuräume  der  letzteren  zu  finden.  Wenn  die  Erklärung,  dass  die 
bei  Sectionen  menschlicher  Leichen  an  der  Schädelbasis  gefundene- 
Flüssigkeit  lediglich  aus  dem  durch  die  Säge  zerrissenen  Gewebe  der 
Pia  ausgeflossen  sei,  richtig  wäre,  so  würde  man  ja  dieses  Ausfliessen 
aus  der  erst  nach  vollkommener  Freilegung  verletzten  Gefässhaut  des 
todten  Hundes  sehen  müssen.  Etw'as  anderes  fand  sich  aber,  das  muss 
schon  hier  angeführt  werden,  wenn  ich  aus  dem  in  situ  gelassenen 
Gehirne  einen  Keil  herausschnitt,  dessen  Oeffnung  mir  einen  Einblick 
in  den  Seitenventrikel  gestattete.  Dieser  war  stets  von  Flüssig- 
keit erfüllt. 

Wenn  nun  die  Verhältnisse  im  todten  Hundeschädel  als  identisch 
mit  denen  innerhalb  des  todten  Menschenschädels  erkannt  waren,  so 
erschien  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  die  Verhältnisse  auch  im  Leben 
die  gleichen  sein  würden,  unendlich  gross;  es  fragte  sich  aber,  was 
denn  aus  der  im  Leben  ziemlich  reichlichen  Menge  von 
Flüssigkeit  nach  dem  Tode  geworden  sei?  Ausserdem  galt  es 
aber  noch  einen  Einwand  zu  beseitigen,  der  mit  Recht  erhoben  werden 
konnte.  Da  nämlich  im  Momente  der  Trepanation  der  Druck  innerhalb 
der  Schädelkapsel  wesentlich  geändert  wurde,  so  konnte  immerhin  die 
Möglichkeit  angeführt  werden,  dass  die  wahrgenommene  erhebliche 
Menge  der  Cerebralflüssigkeit  dennoch  in  der  Norm  nicht  vorhanden 
und  nichts  Anderes  als  ein  durch  den  veränderten  Druck  bedingter, 
pathologischer  Erguss  aus  den  Lymphbahnen  der  Hirnhäute  sei.  Ueber 
die  beiden  zuletzt  angeführten  Momente  war  durch  denselben  Ver- 
such Aufklärung  zu  erlangen.  Ich  untersuchte  eine  grosse  Anzahl  von 
Hunden  verschieden  lange  Zeit  nach  ihrem  Tode,  der  theils  durch 
Blausäure,  theils  durch  Cyankalium  herbeigeführt  worden  war.  Die 
Blausäurevergiftungen  waren  in  der  Anatomie  der  Königlichen  Thier- 
arzneischule,  die  Cyankaliumvergiftungen    durch  mich  selbst  ausgeführt 


—     332     — 

worden.  Bei  der  ersteren  Methode  erfolgte  der  Tod  fast  immer  mo- 
mentan, bei  der  anderen  geht  es  manchmal  ebenso  schnell,  manchmal 
verfliessen  einige  Minuten. 

Eröffnete  ich  nun  den  Sack  der  Dura  genau  in  der  oben  ange- 
führten Weise  unmittelbar  nach  dem  Tode  des  Thieres,  so  fand  sich 
dasselbe  Verhältniss  wie  beim  lebenden.  Sobald  die  Dnra  angeschnitten 
wurde,  quoll  die  Cerebralflüssigkeit  hervor  und  erfüllte  die  Trepanations- 
lücke. Liess  ich  etwas  längere  Zeit  vergehen,  so  war  die  Menge  der 
Flüssigkeit  geringer,  und  bereits  nach  einigen  Stunden  fand  sich 
wenigstens  an  der  Convexität  von  derselben  nichts  mehr  vor.  Die 
letzten  Spuren  der  Flüssigkeit  Hessen  sich  immer  noch  in  der  Art  ent- 
decken, dass  ein  Zipfel  der  kreuzweis  gespaltenen  Dura  wiederholt  sacht 
angezogen  und  wieder  losgelassen  wurde;  dann  liess  sich  an  der  ver- 
schiedenen Art  der  Lichtbrechung  noch  deutlich  eine  minimale  Flüssig- 
keitsschicht zwischen  Dura  und  Pia  erkennen. 

War  nun  die  Flüssigkeit  ganz  geschwunden,  sobefandsich  dieOberfläche 
des  Hirns  zu  der  Schädelwandung,  zunächst  also  zur  Dura,  überhaupt  in 
einem  anderen  räumlichen  Verhältniss.  Gelang  es  beim  lebenden  und  dem 
jüngst  getödteten  Tliiere  leicht,  mit  dem  Scalpell  zwischen  Dura  und  Pia 
einzudringen,  ohne  die  letztere  anzuschneiden,  so  war  dies  nun  ausser- 
ordentlich schwierig,  fast  unmöglich,  obwohl  die  Dura  sich  wie  in  den 
anderen  Fällen  nach  Anlegung  der  Knochenlücke  hervorwölbte.  Selbst 
wenn  ich  mit  einer  krummen  Nadel  die  Dura  vor  dem  Einstich  an- 
hakte und  aufhob,  gewahrte  ich  fast  immer  nach  Freilegung  der  Ober- 
fläche des  Centralorgans  an  einer  kleineren  oder  grösseren  Stelle  das 
oben  von  mir  angeführte  characteristische  Hervorquellen  der  Hirnmasse 
aus  einer  Lücke  der  weichen  Hirnhaut.  Die  Hirn  Substanz  selbst 
hatte  nunmehr  also  den  Raum  eingenommen,  welcher  früher 
durch  die  Cerebralflüssigkeit  ausgefüllt  wurde. 

Hiermit  scheinen  mir  die  beiden  zuletzt  aufgeworfenen  Fragen  in 
einer  befriedigenden  und  den  Zusammenhang  der  Dinge  vollkommen 
herstellenden  Weise  beantwortet  zu  sein.  Bei  diesen  Sectionen  konnte 
eine  Sekretion  in  Folge  von  Druckveränderung  nicht  stattgefunden 
haben:  denn  das  todte  Thier  secernirt  nicht  mehr.  Ebenso  war  der 
Verbleib  der  verschwundenen  Cerebralflüssigkeit  durch  die  Volumenzu- 
nahme des  Gehirns  selbst  erklärt;  denn  diese  konnte  nach  Lage  der 
Dinge  nur  durch  Aufnahme  jener  Flüssigkeit  verursacht  sein.  Und 
diese  Annahme  wurde  um  so  sicherer,  als  ganz  ausnahmslos  ein  be- 
deutender Unterschied  in  der  Consistenz  der  Gehirne  ganz  frisch  und 
bereits  seit  einigen  Stunden  getödteter  Hunde  nachzuweisen  war.  Im 
letzteren  Falle  war  das  Gehirn  stets  viel  weicher. 


—     333     — 

Es  war  mir  nun  wegen  einer  Reiiie  von  pathologischen  Zuständen, 
ganz  abgesehen  von  der  physiologischen  Seite  der  Frage,  von  Interesse, 
zu  erfahren,  welchen  physikalischen  Verhältnissen  die  Aufnahme  der 
Flüssigkeit  in  das  Innere  des  Organs  zuzuschreiben  sei.  Zu  diesem 
Zwecke  machte  ich  die  oben  erwähnten,  keilförmigen,  bis  in  die  Seiten- 
ventrikel reichenden  Excisionen  aus  den  Hemisphären  solcher  Thiere, 
bei  denen  extraventriculäre  Cerebralflüssigkeit  nicht  mehr  nachweisbar 
gewesen  war.  Denn  ich  sagte  mir,  dass  auch  die  hier  vorhandene 
Flüssigkeit  wohl  geschwunden  sein  würde,  wenn  die  Resorption  der 
extraventriculären  Flüssigkeit  lediglich  auf  einer  besonderen  hygro- 
skopischen Tendenz,  einer  besonderen  Imbibitionsfähigkeit  der  todten 
Hirnmasse  beruhe.  Da  ich  nun  aber  die  Ventrikel,  sobald  das  Gehirn 
in  situ  gelassen  wurde,  stets  von  Flüssigkeit  erfüllt  fand,  so  war  diese 
Annahme  auszuschliessen,  und  ich  kam  deshalb  zu  der  Ueberzeugung, 
dass  die  Imbibition  in  das  Gehirn  wesentlich  durch  den  von  demselben 
auf  das  Wasser  ausgeübten  Druck  bedingt  wird. 

Wie  viele  Factoren  bei  der  Production  des  normalen  Hirndruckes 
und  bei  seiner  Erhaltung  auf  einem  gewissen  Durchschnittswerthe  be- 
theiligt sein  mögen,  will  ich  nicht  näher  erörtern.  Eis  kam  mir  für 
den  Zweck  dieser  Abhandlung  nur  darauf  an,  festzustellen  —  soweit 
dies  ohne  besondere  Vorrichtungen  möglich  war  —  ob  in  der  Schädel- 
höhle eben  getödteter  Thiere,  also  nach  Fortfall  des  Blutdrucks,  noch 
ein  nennenswerther  positiver  Druck  vorhanden  sei  oder  nicht.  Dazu 
genügte  das  einfache  Anstechen  der  Dura  in  der  Trepanationslücke. 
Wenn  nämlich  das  Thier  ganz  frisch  getödtet  ist,  so  quillt  die  P'iüssig- 
keit,  abgesehen  von  den  respiratorischen  Schwankungen,  in  genau  der- 
selben Weise  wie  bei  dem  Lebenden  hervor.  Ist  nun  die  Stichöffnung 
klein  und  tupft  man  das  herausrieselnde  Wasser  fort,  so  kann  man  den 
Vorgang  eine  ganze  Weile  beobachten.  Daraus  geht  wohl  ziemlich 
sicher  hervor,  dass  der  Druck,  welchen  das  Hirnwasser  und  das  lebende 
Gehirn  gegenseitig  auf  einander  ausüben,  nicht  lediglich  aus  dem  inner- 
halb des  Gefässsystems  herrschenden  Drucke  resultirt.  Es  muss  viel- 
mehr bei  Lebzeiten  und  bereits  in  der  Norm  ein  Secretionsdruck  2^)  mit- 
wirken, welcher  einen  höheren  Werth  besitzt,  als  derjenige  ist,  mit  dem 
die  eigene  Elasticität  und  der  Blutdruck  das  Gehirn  gegen  die  Schädel- 
wände treiben.  Das  Gehirn  befindet  sich  also  dauernd  in  einem  Zu- 
stande physiologischer  Compression.  Dass  dieser  Secretionsdruck  durch 
Krankheitsprocesse  noch  in  erstaunlicher  Weise  gesteigert  werden  kann, 
ist  ja  zur  Genüge  durch  die  Symptome  des  Hydrocephalus  bekannt, 
und  wenn  man  in  Rechnung  zieht,  dass  die  Resorption  abnormer 
Flüssigkeitsmengen    innerhalb    des    Sackes    der    Dura    mit    grosser  Ge- 


--     334     — 

schwindigkeit  vor  sich  geht,  so  wird  man  noch  mehr  Respect  vor  diesen 
Kräften  bekommen. 

Der  Werth  des  normalen  Hirndrnckes  ist  von  Leyden'-')  nnd  von 
Jolly**)  ziemlich  übereinstimmend  auf  100— 110  mm  Wasser  im  Mittel 
bestimmt  worden.  Hört  nun  der  Gegendruck  des  Blutes  auf,  so  wird 
der  Gesammtdruck  zwar  absinken,  jedoch  nicht  ganz  verschwinden,  es 
w'ird  gerade  noch  die  Kraft  übrig  bleiben,  mit  der  das  comprimirte 
Gehirn  seine  Elasticitätsgrenzen  wieder  einzunehmen  sucht,  und  in 
dieser  Kraft  ist  wohl  das  Moment  zn  suchen,  durch  welches  das  Wasser 
aus  dem  Sacke  der  Dura  in  die  Hirnsubstanz  verdrängt  wird. 

Es  scheint  mir,  dass  nach  Kenntnissnahme  dieser  Thatsachen  manche 
pathologischen  Verhältnisse  einer  wiederholten  Betrachtung  bedürfen 
werden.  Ich  halte  es  zwar  für  unrichtig,  jede  eben  gefundene  physio- 
logische Thatsache  sofort  bis  zu  den  letzten  patiiologischen  Conse- 
quenzen  hin  auszubeuten,  und  ich  glaube,  dass  die  Sache  mehr  geför- 
dert wird,  wenn  man  zuvor  den  Prüfstein  neuer  pathologischer  Erfah- 
rimgen  den  Anschauungen  anlegt,  welche  plötzlich  eine  andere  Form 
erhalten  sollen,  dennoch  wird  es  zweckmässig  sein,  die  Aufmerksamkeit 
auf  einige  hier  besonders  zu  berücksichtigende  Fragen  zu  lenken. 
Hierher  rechne  ich  namentlich  die  so  vielfach  umstrittene  Frage  nach 
dem  Werte  der  Consistenz  der  Hirnmasse  solcher  Personen,  welche 
unter  allgemeinen  Cerebralerscheinungen  zu  Grunde  gingen.  Der  Nacli- 
Aveis,  dass  eigentlich  jedes  zur  Section  gelangende  Gehirn  eine  je  nach 
den  Umständen  verschiedengradige  Maceration  erfahren  hat,  dürfte 
mancherlei  in  einem  anderen  Lichte  erscheinen  lassen.  Insbesondere 
dürften  schnell  erfolgende  Exsudationen,  welche  durch  allgemeine 
Hirn-Anämie  schnell  tötlich  verliefen,  die  ])ostmortale  Aufnahme  von 
Flüssigkeit  in  die  Hirnsubstanz  jinsofern  begünstigen,  als  bei  einer 
kurzen  Dauer  der  Compression  die  El asticitäts Verhältnisse  der  centralen 
Nervenmassen  noch  nicht  wesentlich  verändert  sein  können.  Es  ist 
also  nicht  uimiöglich,  dass  ein  Hydrocephalus  externus  acutus  bei  Per- 
sonen bestanden  hat,  deren  Gehirn  bei  der  Section  nur  die  Zeichen 
des  Hirnödems  präsentirt.  Auch  die  Oedeme  der  Pia  bleiben  mit  der 
zuletzt  entwickelten.  Anschauung  verständlich.  Wo  man  sie  findet,  hat 
die  benachbarte  Hirnsubstanz  einfach  in  Folge  degenerativer  Vorgänge 
ihre  Elasticität    oder    ihr    normales  Volumen    eingebüsst,    so   dass  eine 


*)  E.  Leyden,  Ueber  Hirudruck  und  Hirnbevi^egungen.    Virchow's  Arch. 
Bd.  37.   (1866).   H.  4. , 

**)   Fr.  Jolly,    Untersuchungen    über    den    Gehirndruck    und    die   Blut- 
bewegung im  Schädel.    VVürzburg  1871. 


—     335     — 

Verdrängung  des  Wassers  nicht  mehr  stattfinden  kann.  Endlich  wäre 
es  von  nicht  geringem  Interesse,  wenn  die  Aufmerksamkeit  der  Irren- 
ärzte sich  gerade  auf  diesen  Punkt  lenken  wollte.  Da  in  der  Norm 
Flüssigkeit  im  Sacke  der  Dura  bald  nach  dem  Tode  nicht  mehr  vor- 
handen ist,  so  gewinnt  die  Angabe,  welche  ich  bei  sorgfältigen 
Sectionsberichten  über  Leichen  Geisteskranker  finde,  dass  beim  „An- 
schneiden der  Dura"  mehrere  Esslöffel  Flüssigkeit  herausgeflossen  seien, 
entschieden  an  Interesse.  Man  hat  ja  von  jeher  angenommen,  dass 
der  durch  Hirnatrophien  entstehende  Raum  durch  Flüssigkeit  aus- 
gefüllt würde,  nun  aber  würde  man  dem  Nachweise  von  irgend 
welcher  Quantität  Wasser  in  diesem  Räume  immer  noch  die  Bedeutung 
beilegen  müssen,  dass  auch  beim  Fehlen  augenfälliger  Veränderungen, 
innerhalb  des  Gehirns  allgemein  oder  local  Ereignisse  eingetreten 
wären,  welche  ihm  die  postmortale  Ausdehnung  bis  zur  gänzlichen  Er- 
füllung der  Schädelkapsel  nicht  gestatteten.  — 


Anmerkung. 

29)  Es  kann  fraglich  erscheinen,  ob  der  Ausdruck  Secretionsdruck  richtig 
gewählt  war,  da  er  in  der  Regel  nur  von  der  Thätigkeit  von  Drüsen  ge- 
hraucht wird.  Ich  muss  auch  heute  noch  unentschieden  lassen,  welche  Kräfte 
,bei  der  Erzeugung  des  unleugbar  vorhandenen  Ueberdruckes  der  Cerebral- 
flüssigkeit  thätig  sind.  Vielleicht  sind  sie  in  der  Function  der  Plexus  und 
Tela  chorioides  zu  suchen. 


XVIII.     lieber    die   beim  Crahanisireu    des  Kopfes  entstehenden 

Störnngen    der  3Iuskelinner\ation   nnd    der    Vorstellnngen   vom 

Verhalten  im  Ranme'O). 

I.     Literatur. 

Schon  den  älteren  Experimentatoren  im  Gebiete  der  galvanischen 
Elektricität  war  es  bekannt,  dass  bei  Application  von  einigermasseu 
intensiven  Strömen  in  der  Gegend  des  Kopfes  Schwindelempfindungen 
eintreten  können.    So  erwähnt  Augustin*)  einen  einschlägigen  Versuch: 

„Umwickelt  man  die  Ohren  mit  Draht,  befeuchtet  sie  mit  Salzwasser  und 
„taucht  dann  die  Spitzen  jenes  Drahtes  in  die  Wassergläser,  worin  die  an 
„den  Extremitäten  der  Säule  befestigten  Ketten  liegen,  so  wird  einem  schwind- 
„lich  und  man  sieht  elektrische  Blitze." 

Bereits  im  Jahre  1827  wurde  dieser  Gegenstand  aber  von  Pur- 
kinje**) in  einer  bei  den  neueren  Autoren  leider  in  Vergessenheit 
geratheneu  Abhandlung  ausführlicher  behandelt.  In  dieser  Arbeit,  von 
der  gleichwohl  nur  einige  Seiten  sich  mit  den  galvanischen  Schwindel- 
empfindungen beschäftigen,  findet  sich  der  grössere  Theil  des  von  den 
Versuchspersonen  subjectiv  Wahrgenommenen  richtig  beschrieben. 

„Es  ist  leicht  zu  vermuthen,  dass  wenn  ein  Strom  galvanischer  Thätig- 
„keit  durch  das  Gehirn  geführt  werden  könnte,  dieser  einseitige  Reiz  auch  die 
„Schwindelbewegungen  erregen  müsste.  Dies  gelingt  vollkommen,  wenn  man 
„die  Pole  durch  beide  Ohren  leitet.  Man  fühlt  dann  den  Kopf  eingenommen 
„und  einen  allgemeinen  schwindelhaften  Zustand,  dessen  Richtung  sich  bei 
„näherer  Beobachtung  als  diejenige  ausweiset,  die  wir  eben  als  senkrecht 
„stehenden  Kreis  mit  nach  links  und  rechts  gerichteter  Peripherie  beschrieben 


*)  F.  L.  Augustin.  Versuch  einer  vollständigen  systematischen  Ge- 
schichte der  galvanischen  Elektricität  und  ihrer  medizinischen  Anwendung. 
Berlin  1803.     S.  129. 

**)  Purkinje.  Rust's  Magazin  für  die  gesammte  Heilkunde  etc. 
Bd.  XXIIl.   Berlin  1827.    S.  297. 


—     337     — 

„haben,  dessen  Fläche  also  mit  dem  Gesichte  parallel  geht,  und  der  das  Gehirn 
„senkrecht  von  Oben  nach  Unten  und  quer  durchschneiden  würde.  Die 
„Richtung  der  Kreisbewegung  dieses  Schwindels  geht  aufwärts  von  der 
„rechten  zur  linken  Seite,  wenn  der  Kupferpol  im  rechten  Ohre,  der  Zinkpol 
„im  linken  ist,  umgekehrt  aufwärts  von  der  linken  zur  rechten,  wenn  der 
„Kupferpol  ins  linke,  der  Zinkpol  ins  rechte  Ohr  eingebracht  wird.  So  oft  die 
„galvanischen  Leiter  wieder  abgezogen  werden,  tritt  jedesmal  der  Schwindel 
„in  entgegengesetzter  Richtung  ein  und  dauert  längere  oder  kürzere  Zeit  nach, 
„je  nachdem  die  primäre  Einwirkung  länger  oder  kürzer  war." 

Von  den  späteren  Forschern  äussert  sich  zunächst  Remak*)  aus- 
führlicher über  diese  Frage. 

„Eine  häufige  Nebenwirkung  bei  Strömen,  die  den  Kopf,  Hals  oder  Nacken 
„treffen  ist  der  Schwindel,  der  seltener  während  des  stetigen  Stromes,  als 
„bei  Oeffnung  der  Kette  eintritt  und  in  einem  vorübergehenden  Wanken  des 
„Kopfes  nach  der  Seite  der  sich  entfernenden  Elektrode  hin  besteht.  Nur 
„selten  beobachtete  ich  Schwindel  beim  Eintritt  des  Stromes  in  die  Schläfe. 
„Da  der  Schwindel  besonders  leicht  beim  Galvanisiren  in  der  Gegend  der 
„nachbenannten  Organe  entsteht,  so  scheint  es  beinah  als  wenn  das  obere 
„Ganglion  des  N.  sympathicus  oder  das  daneben  liegende  Ganglion  des  N. 
„vagus  den  Grund  dieser  sonderbaren  Erscheinung  enthielte.  Bei  anderen 
„Personen  tritt  dieser  Schwindel  freilic.'i  heftiger  bei  Strömen  ein,  die  den 
„Proc.  mastoid.,  oder  den  Nacken  bis  zum  6.  Halswirbel  treffen,  so  dass  es 
„sich  dennoch  vielleicht  um  eine  Behelligung  des  kleinen  Gehirns  handelt, 
„dessen  Verletzung  bekanntlich  nach  Flourens'  Entdeckung  Drehbewegung 
„hervorruft.  Es  ist  nützlich  sich  mit  diesem  Schwindel  und  den  Bedingungen 
„seines  Eintritts  vertraut  zu  machen,  wenn  man  auf  Kopf  und  Hals  Ströme 
„anwenden  will,  obgleich  er  nur  vorübergehend  und  von  keinem  bleibenden 
„Nachtheil  ist." 

-    Benedikt**)   hingegen  bringt  zum  Theil    ganz  andere,    zum   Theil 
abweichende  Angaben  bei: 

„Bei  der  queren  üurchleitung,  besonders  durch  die  Zitzenfortsätze  muss 
„man  die  Vorsicht  gebrauchen,  zuerst  den  Zinkpol  anzusetzen  und  zuerst  den 
„Kupferpol   wegzunehmen,   weil  man   dadurch    sicherer   den    Schwindel    ver- 

„meidet. —  Eintretender  Schwindel,  congestive  Zustände  mahnen,   die 

„Dauer  und  Intensität  der  Application  zu  verringern,  weil  man  sonst  grosse 
„Beschwerden,  selbst  eclamptische  Anfälle,  wie  ich  es  sah,  und  Haemorrhagia 
„cerebri  hervorrufen  kann.  —  — •  —  Allgemeine  Aufregung,  Convulsioneu, 
„Muskelspannungen,  Schwindel***),   Schmerzen,   Lähmungen,    Blutungen  ins 


*)  R.  Remak,     Galvanotherapie   der  Nerven-    und    Muskelkrankheiten. 
Berlin  1858. 

**)  M.   Benedikt.   Elektrotherapie.   Wien  1868.   S.  74  f. 
***)  A.  a.  0.   S.  80  f. 

Hitzig,  Gesammelte  Abhaiidl.      I.  Theil.  22 


—     338     — 

,,Geliirns,  in  die  Lunge  und  in  den  Mastdarm,  hochgradige  Metrorrhagie  sind 
,,häufige  Folgen  zu  schmerzhafter  Ströme.  Ausfallen  der  Zähne  und  Blindheit 
,,sind  ebenfalls  Erscheinungen,    die  auf  zu  starke   elektrische  Pveizung  im  Ge- 

„sicht  und  im  Kopfe  eintreten  können. Alle  diese  Erscheinungen  sind 

„keine  Schreckbilder  doctrinärer  Phantasie,  sondern  der  Erfahrung  entlehnte 
„Thatsachen. -" 

Brenn  er"-'),  der  sich  nächst  Purkinje  ofi'enbar  am  eingehend- 
sten mit  dem  Studium  dieses  Symptoms  beschäftigte,  hat  wiederum 
theils  neue,  theils  differirende  und,  wie  wir  sehen  werden,  nicht  durch- 
gehends  richtige  Angaben  gemacht.  Ich  führe  nachstehend  alles  Wesent- 
liche aus  seiner  Darstellung  des  Sachverhaltes  an.  Ein  vollständiger 
Abdruck  derselben  dürfte  zu  viel  Raum  einnehmen. 

„Der  Schwindel  ist  von  den  in  den  Sinnesorganen  auftretenden  Pveiz- 
„erscheinungen  vollkommen  unabhängig  und  besteht  in  einer  Störung  des 
„Gleichgewichtes,  welche  nicht  bloss  von  den  Versuchspersonen  gefühlt  wird,'' 
sondern  auch  durch  Schwanken  derselben  nach  der  Seite  der  Anode  hin  ob- 
jectiv  wahrgenommen  werden  kann.  Kein  Schwindel  tritt  ein,  wenn  die,  beide 
Elektroden  verbindende  Linie  der  Medianebene  parallel  läuft,  am  stärksten  ist 

er    bei    transversaler   Galvanisirung.     „Das  Gefühl besteht  in  der 

Empfindung  „als  sei  die  Schwere  der  einen  Körperhälfte  aufgehoben,  und  als 
falle  man  in  Folge  dessen  nach  der  anderen  Seite."  Der  Schwindel  nimmt 
während  des  Schlusses  der  Kette  noch  allmählich  zu.  Die  Reizmomente  von 
denen  er  abhängig  ist,  sind  An.  S,  An.  D  und  KO.  Indessen  erfordert  der 
Oeffnungsschwindel  grössere  Stromintensitäten  und  ist  von  kürzerer  Dauer. 
SeineRichtungist  die  demSchliessungsschwindel  entgegengesetzte.  ZweiAnoden 
auf  symmetrische  Kopfthcile  applicirt,  Kathode  an  indifferenter  Stelle  machen 
keinen  Schwindel,  ebenso  wenig  die  Anwendung  inducirter  Ströme.  „Er  ver- 
„liert  bei  noch  so  häufig  wiederholter  Application  des  Stromes  niemals  von 
„seiner  ursprünglichen  Intensität." 

Ich  möchte  hier  gleich  bemerken,  dass  die  später  nachzuweisende 
UnVollständigkeit  und  theilweise  Ungenauigkeit  der  Brenn  er 'sehen 
Angaben  offenbar  daher  rührt,  dass  er  einmal  die  Purkinje'schen 
Beobachtungen  über  die  Scheinbewegungen  nicht  kannte,  dann  aber  von 
vorgefassten  Meinungen  über  polare  "Wirkungen  ausging.  Immerhin 
zeichnet  sich  Brenner's  Darstellung  rücksichtlich  ihrer  thatsächlichen 
Richtigkeit  vor  sämmtlichen  neueren,  hierher  gehörigen  Mittheilungen 
rühmlich  aus. 


*)  R.  Brenner,    Untersuchungen  und  Beobachtungen   auf  dem  Gebiete 
der  Elektrotherapie.   Leipzig   1868.   I.   1.  S.  75  ff.  und  II.   S.  30  f. 


—     339 


II.     Ueber  die  beim  Galvanisiren   des  Kopfes  eintretenden 
Erscheinungen  von  Schwindel. 

Wenn  man  galvanische  Ströme  durch  den  Kopf  oder  die  ihm  be- 
nachbarten Theile  so  leitet,  dass  der  Schädelinhalt  durch  Stromschleifen 
getroffen  wird,  oder  wenn  man  Ströme,  die  diese  Theile  durchfliessen, 
mit  einer  gewissen  Geschwindigkeit  vergehen  lässt,  oder  wenn  man  auch 
nur  einigermassen  schnelle,  sei  es  positive,  sei  es  negative  Dichtigkeits- 
schwankungen solcher  Ströme  herbeiführt,  so  können  dadurch  die  Vor- 
stellungen der  Versuchspersonen  von  dem  Verhalten  der  Gesichtsobjecte 
oder  von  ihrem  eigenen  Veriialten  im  Räume  in  einer  bestimmten 
Weise  alterirt  werden.  Man  nennt  diese  vorübergehende  Verwirrung 
der  Vorstellungen  Schwindel. 

Es  ist  also  irrig,  wenn  von  der  einen  oder  der  anderen  Seite  be- 
hauptet wird,  dass  eine  bestimmte  Wahl  der  Einströmungsstellen  oder 
ein  bestimmtes  Reiznioment  —  Oeffnung  oder  Schliessung  —  zur  Her- 
vorbringung dieses  Symptomes  absolut  erforderlich  sei.  Allerdings  dis- 
poniren  gewisse  Methoden  unvergleichlich  mehr  zum  Schwindel  als 
andere,  doch  kann  die  einfache  Annäherung  einer  der  beiden  Elektroden 
an  den  Kopf  oder  ihre  Entfernung  schwindelerregend  wirken. 

Am  leichtesten  entsteht  Schwindel,  wenn  der  Strom  von 
einer  Fossa  mastoidea*)  zur  anderen  geht.  Die  übrigen  um  das  Ohr 
gelegenen  Stellen  verhalten  sich  ähnlich  wie  die  Fossa  mastoidea. 

Dieser  Umstand  lässt  sich  auf  zweierlei  Art  erklären  An  der  genannten 
Stelle  liegen  die  Carot.  interna  und  die  Jugul.  interna  dicht  unter  der  Elektrode. 
Da  nun  das  Blut  unter  den  menschlichen  Geweben  dass  grösste  Leitungs- 
vermögen besitzt,  so  liegt  bei  dieser  Reizmethode  am  leichtesten  die  Möglich- 
keit vor,  mittelst  der  Aeste  jener  Gefässe  namentlich  auch  der  Sinus,  das 
ganze  Gehirn  mit  Stromschleifen  zu  überziehen  und  zu  durchziehen.  Zweitens 
ist  es  möglich,  dass  in  der  hinteren  Schädelgrube  oder  in  ihrer  Nähe  solche 
Organe  liegen,  deren  Elektrisirung  Schwindel  macht.  Wahrscheinlich  wirken 
diese  beiden  Bedingungen  zusammen. 

Weniger  leicht  entsteht  Schwindel  bei  transversaler  Galvanisirung 
durcli  den  Hinterkopf,  noch  schwerer  bei  transversaler  Galvanisirung 
durch  den  Vorderkopf,  leichter  hingegen  als  bei  diesen  letzteren  Me- 
thoden dann,  wenn  nur  die  eine  Elektrode  sich  in  der  Fossa  mastoidea 


*)  Unter  Fossa  mastoidea  verstehe  ich  die  Grube,  welche  sich  zwischen 
der  hinteren  Fläche  des  Ohrläppchens  und  dem  Frocess.  mastoid.  befindet. 
Remak  hat  diesen  Namen  meines  Wissens  zuerst  angewendet,  und  ich  adoptire 
ihn  um  der  Kürze  willen. 

22* 


-^     340     -.- 

und  die  andere  sich  an  einem  indifferenten  Orte  befindet,  wenn  also 
die  directe  Strombahn  in  einem  Sagittalschnitte  liegt,  oder  mit  einem 
solchen  irgend  einen  Winkel  bildet.  Die  übrigen  Anordnmigen,  bei 
denen  die  directe  Strombahn  in  sagittale  Ebenen  fällt,  begünstigen  den 
Schwindel  nicht. 

Man  kann  mit  Sicherheit  sagen,  dass  Dichtigkeitsschwankungeu 
derjenigen  Stromschleifen,  welche  durch  den  Schädel  gehen,  je  nach 
ihrer  Grösse  und  Geschwindigkeit  stärkeren  oder  weniger  starken 
Schwindel  erzeugen.  Man  kann  aber  nicht  mit  Sicherheit  sagen,  ob  die 
Annäherung  der  Anode  oder  der  Kathode,  die  Schliessung  oder  die 
Oeflfnung  eine  grössere  Wirkung  har.  Ich  will  deswegen  lieber  den 
Sachverhalt,  wie  er  durch  die  Versuchsbedingungen  geformt  wird,  aus- 
einandersetzen. Das  allen  numerischen  Bestimmungen  entgegentretende 
Hiuderniss  besteht  in  der  absoluten  Unmöglichkeit,  die  Bedingungen  je 
zweier  Parallel  versuche  ganz  gleich  zu  machen;  dann  in  der  unverhält- 
nissmässigen  Schwierigkeit,  die  Grösse  von  bei  je  zwei  Versuchen  vor- 
kommenden Veränderungen  in  den  Versuchsbedingungen  abzuschätzen 
oder  gar  genau  zu  messen. 

Der  wesentlichste,  die  Grösse  der  Stroraintensität  bedingende  Factor 
ist  der  Hautwiderstand,  und  dieser  ist  nicht  mir  bei  verschiedenen 
Menschen,  sondern  auch  bei  demselben  Menschen  an  symmetrischen 
Körpertheilen  so  ungleich,  dass  schon  von  vorn  herein  ein  fast  nicht 
gut  zu  machender  Fehler  in  den  Versuch  eingeführt  wird.  Kleine  Ab- 
schilferungen der  Oberhaut,  irgend  eine  stärkere  Durchfeuchtung  der- 
selben und  andere  umstände  vermögen  von  einem  Tage  zum  anderen 
das  Verhalten  der  gleichen  Hautstelle  gegen  den  Strom  gänzlich  zu 
ändern.  Mit  der  Schliessung  der  Kette  beginnen  dann  die  stets  ver- 
schiedenen Modificationen  des  Hautwiderstandes  durch  ,  ausgeschiedene 
Ionen  und  durch  Veränderung  der  Blutzufuhr  zu  dem  benachbarten  Ge- 
webe. Endlich  kann  man  die  Schwindelempfindungen  nicht  wie  Muskel- 
zuckungen sehen  oder  ihre  Höhe  an  Curven  ablesen,  sondern  man  ist 
grossentheils  auf  die  subjectiven  Angaben  von  Personen  angewiesen, 
die  nun  ausserdem  noch  an  zwei  auf  einander  folgenden  Tagen  eine 
sehr  verschiedene  Disposition  zum  Schwindel  mit  in  den  Versuch  hin- 
einbringen können.  Ungeachtet  dessen  habe  ich  versucht,  mir  für  meine 
Person  ein  Urtheil  über  diese  Frage  durch  grosse  Vervielfältigung  der 
Versuche  zu  bilden.  Dabei  schien  es  mir,  dass  die  Anoden-Schliessung 
leichter  Schwindel  erzeugt,  als  die  Kathoden-Schliessung,  und  die  Anoden- 
Oeffnung  leichter  als  die  Kathoden-Oeifnung.  Indessen  ist  dies  mehr 
ein  Eindruck,  als  eine  auf  Zahlen  begründete  Ueberzeugung. 

Brenner    a.  a.  0.    spricht    nicht    von  der  Wirkung  der  Kathoden- 


—     341     — 

Schliessung  und  der  Aiiodeji-Oefliiiiiig.  Wie  es  scheint,  hat  er  sich 
von  dem  Auftreten  des  Schwindels  hei  diesen  Reizmomenten  nicht  über- 
zeugt. In  dem  ersten  Theile  seines  Buches  zweifelt  Brenner  an  dem 
Oeffniingsschwindel  im  Allgemeinen,  verlangt  aber  mindestens  stärkere 
Ströme  für  sein  Zustandekommen;  später  hat  er  sein  Vorkommen  für 
die  Kathode  zugegeben.  Da  dieser  fleissige  Forscher  offenbar  eine 
Menge  Versuche  gemacht  hat,  kann  ich  mir  seinen  Irrthum  nicht  recht 
erklären;  denn  wenn  man  den  Dingen  nicht  näher  auf  den  Grund  geht, 
scheint  es  sogar,  als  wenn  die  Oeffnung  der  Kette  stärkeren  Schwindel 
errege,  als  die  Schliessung  der  gleichen  Batterie.  Der  Grund  hierfür 
liegt  darin,  dass,  wie  soeben  erwähnt,  während  des  Galvanisirens  der 
Hautwiderstand  allmählich  sinkt.  Die  Ordinate  der  Schliessung  ist  also 
nicht  nur  weniger  hoch,  sondern  der  von  dem  ansteigenden  Theile  der 
Curve  mit  der  Abscisse  gebildete  Winkel  ist  auch  weniger  gross  als  die 
gleichnamigen  Werthe  der  Oeffnung. 

Uebrigens  ist  es  auch  keineswegs  richtig,  dass,  wie  Brenner  an- 
giebt,  der  Oeflfnungsschwindel  gleich  allen  Oeffnungsreizen  nur  von 
kurzer  Dauer  sei.  Das  mag  auf  das  eine  Symptom  des  objectiv  nach- 
weisbaren Schwankens  passen.  Die  Scheinbewegung  und  besonders  die 
allgemeine  Unsicherheit  pflegt  aber  noch  kürzere  oder  längere  Zeit  an- 
zudauern. Durch  tiefe  Inspirationen  und  Riechen  von  Ammoniak  kann 
man  ihrer  Herr  werden.   — 

Während  der  Dauer  des  constant  gewordenen  Stromes  hält  der 
Schwindel  an.  Er  vermindert  sich  nur  allmählich  und  zwar,  wie  sich 
aus  dem  Einflüsse  der  Gewöhnung  nachweisen  lässt,  durch  Regulirung 
vom  Sensorium  aus.  Bei  einigermassen  starken  Strömen  hört  er  während 
der  Stroradauer  überhaupt  nicht  ganz  auf.  Diese  letzteren  Umstände 
in  Verbindung  mit  einigen  später  anzuführenden  sind  nicht  nur  von 
grosser  Wichtigkeit  für  die  Deutung  der  hier  vorliegenden  Thatsachen, 
sondern  sie  reihen  auch  der  Lehre  vom  Elektrotonus  ein  neues 
Capitel  an. 

Aenderung  der  Stromrichtung  verstärkt  alle  subjectiv  und  objectiv 
wahrnehmbaren  Symptome  von  Schwindel.  Inducirte  Ströme  bringen 
niemals  Schwindel  hervor.   — 

Die  bei  den  Versuchspersonen  entstehende  Verwirrung  der 
Vorstellungen  kann  je  nach  der  relativen  Stärke  des  Stromes  in 
verschiedener  Art  zur  Wahrnehmung  kommen.  Bei  relativ 
schwachen  Strömen  bemächtigt  sich  des  Sensoriums  eine  unbestimmte 
Empfindung  von  Unsicherheit  über  das  räumliche  Verhalten  des  eigenen 
Körpers  oder  der  ausserhalb  gelegenen  Dinge,  ohne  dass  jedoch  eine 
Scheinbewegung    von    bestimmter    Richtung,    oder    am    eigenen   Körper 


—     3.42     — 

reale  Bewegungen  entständen.  Diese  Art  oder  vielmehr  dieser  Grad 
des  Schwindels  wird,  ausser  während  der  Dauer  ganz  schwacher  Ströme 
besonders  häufig  schon  nach  Oeffnung  einer  Kette  beobachtet,  deren 
Schluss  oder  Stromdauer  keinen  Schwindel  erzeugte.  Man  hört  die 
fraglichen  Empfindungen  wohl  mit  dem  mir  ganz  zweckmässig  scheinenden 
Namen  „Benommenheit"  bezeichnen. 

Bei  Anwendung  stärkerer  Ströme  indessen  wird  das  Urtheil  über 
das  räumliche  Verhalten  des  Ich  zur  Aussenwelt  in  einer  bestimmten 
und  gesetzmässigen  Weise  gefälscht.  Es  treten  nun  Scheinbe- 
wegungen ein,  deren  Richtung  durch  die  Wahl  der  Einströmungs- 
stellen bedingt  wird.  Das  Prototyp  dieser  Versuche  ist  die  von 
Purkinje  beschriebene  Anordnung.  Wenn  sich  die  Elektroden  in  je 
einem  Ohr  befinden,  so  scheinen  während  der  Stromdauer  die  Gesichts- 
objecte  wie  ein  dem  Gesichte  paralleles,  aufrechtes  Rad,  von  der  Seite 
der  Anode  nach  der  Seite  der  Kathode  zu  kreisen.  Im  Momente  der 
Oeifnung  ändern  sie  ihre  Richtung,  so  dass  nun  die  Scheinbewegung 
auf  der  Seite  der  Kathode  eine  aufsteigende  und  auf  der  Seite  der 
Anode  eine  absteigende  Richtung  hat. 

In  einzelnen  Fällen  bereits  bei  Anwendung  von  Strömen  der  gleichen 
Intensität,  immer  aber  bei  Anwendung  stärkerer  Ströme,  beobachtet 
man  einen  dritten  Grad  des  Schwindels,  es  schwankt  die  Versuchs- 
person bei  der  Kettenschliessung  mit  dem  Kopfe  oder  dem 
ganzen  Körper  nach  der  Seite  der  Anode  und  bei  der  Ketten- 
öffnung nach  der  Seite  der  Kathode.  =^1) 

Gleichzeitig  aber  sind  dann  die  obenerwähnten  Scheinbewegungen 
der  Gesiclitsobjecte  in  grosser  Deutlichkeit  vorhanden,  wie  denn  über- 
haupt ihre  Geschwindigkeit  durchaus  in  gleichem  Verhältnisse  mit  der 
relativen  Stromdichte  zunimmt. 

Während  der  Stromdauer  kann  gleich  den  übrigen  Erscheinungen 
die  seitliche  Neigung  des  Kopfes  und  Körpers  allmählich  abnehmen 
und  gänzlich  verschwinden;  doch  pflegt  dies  bei  stärkeren  Strömen  und 
mangelnder  Gewöhnung  nicht  vorzukommen.  Positive  Dichtigkeits- 
schwankungen  haben  rücksichtlich  der  scheinbaren  und  wirklichen  Be- 
wegungen der  Art  nach  den  Effect  der  Schliessung,  negative  den  der 
OeflFnung. 

Die  sämmtlichen  geschilderten  Erscheinungen  treten,  zwar  weniger 
leicht,  aber  sonst  genau  in  derselben  Weise  auf,  wenn  sich  nur  eine 
Elektrode  am  Kopfe  befindet.  Die  Richtung  der  Scheinbewegung  so- 
wohl als  die  Richtung  der  wirklichen  Körperbewegung  ist  bei  einer 
solchen  Anordnung  so,  als  wenn  die  andere  Elektrode  sich  auf  der 
anderen  Seite  des  Kopfes  befände. 


—     343     — 

Es  träte  der  Strom  z.  B.  in  der  rechten  Fossa  mastoidea  ein  und  in  der- 
selben Fossa  supraclavicularis  oder  auf  der  Brust,  oder  auf  dem  Rücl(en  aus, 
so  wankt  der  Kopf  nach  rechts  und  die  Gegenstände  scheinen  nach  links  zu 
versinken.  Ganz  denselben  Reizeffect  beobachtet  man  aber  auch,  wenn  man 
den  Strom  in  der  linken  Fossa  supraclavicularis  (oder  einem  beliebigen  Orte) 
ein-  und. in  derselben  Fossa  mastoidea  austreten  lässt.  Es  ist  selbstverständ- 
lich, dass  bei  den  anderen  noch  möglichen  Abänderungen  dieser  Anordnung 
die  reale  und  die  Scheinbewegung  jede  nun  nach  der  entgegengesetzten  Seite 
eintreten  muss.  Uebrigens  ist  grade  diese  Anordnung  .sehr  geeignet,  die  An- 
sicht zu  erzeugen,  dass  der  Schwindel  bei  der  Oeffnung  leichter  als  bei  der 
Schliessung  entsteht.  Personen,  die  dabei  Schliessungsschwindel  nur  unter 
Benutzung  einer  sehr  starken  Kette  bekommen,  werden  vom  Oeffnungsschwindel 
schon  bei  der  halben  und  einer  noch  geringeren  Elementenzahl  befallen. 

Von  den  im  Vorstehenden  geschilderten  Erscheinungen  kommen 
nur  unwesentliche  Abweichungen  vor.  Die  häufigste  Abweichung  be- 
steht noch  darin,  dass  sitzende  Versuchspersonen  keine  senkrecht 
stehende,  sondern  eine  horizontale  Schwindelbahn  haben.  Dann  scheinen 
also  die  Gegenstände  von  rechts  nach  links  oder  von  links  nach  rechts 
zu  entweichen,  ohne  gleichzeitig  in  einer  dieser  beiden  Richtungen  zu 
versinken.  Noch  bei  Weitem  seltener  und,  wie  es  scheint,  nur  unter 
besonderen,  später  namhaft  zu  machenden  Bedingungen,  tritt  überhaupt 
keine  Scheinbewegung  der  Gesichtsobjecte.  sondern  nur  eine  nach  der 
Kathoden-Seite  gerichtete  Scheinbewegung  des  eigenen  Körpers  ein. 
Auch  hierbei  herrscht  die  senkrecht  rotirende  Richtung  vor,  obwohl 
die  Personen  sich  doch  manchmal  in  einer  horizontalen  Ebene  fort- 
bewegt glauben.  Ich  lasse  es  dahin  gestellt  sein,  ob  die.:äe  Empfindung 
bei  Personen  mit  gesunden  Augenmuskeln  und  bei  offenen  Augen  über- 
haupt vorkommt,  und  ob  sie  nicht  vielmehr  Anomalieen  der  Inner- 
vation oder  das  Ausfallen  der  optischen  Eindrücke  voraussetzt.  Wenn 
sie  vorhanden  ist,  wird  sie  mit  der  Empfindung  des  Carousselfahrens 
verglichen.  — 

Die  nächste  Frage,  welche  sich  nach  Kenntiiissnahme  der  an- 
geführten Thatsachen  aufdrängt,  ist  die,  ob  das  Schwanken  des 
Körpers  nach  der  einen  Seite  und  die  Scheinbewegung  der  Gesichts- 
objecte nach  der  anderen  Seite  nicht  im  Verhältniss  von  Ursache  und 
Wirkung  zu  einander  stehen.  Es  ist  bekannt,  dass  Scheinbewegungen 
dann  entstehen,  wenn  die  Richtung  der  Gesichtslinie  auf  anderem 
Wege  als  dem  der  normalen  Innervation  geändert  wird.  Wenn  man 
z.  B.,  während  man  das  linke  Auge  scliliesst,  mit  dem  rechten  stark 
nach  innen  blickend,  einen  Gegenstand  fixirt,  und  nun  die  Haut  des 
rechten  äusseren  Augenwinkels  nach  aussen  zerrt,  so  scheint  der  fixirte 
Gegenstand  bei  jeder  Zerrung  nach  links  zu  entweichen.    Diese  Erschei- 


—     Ui     — 

nung  hat  ihren  Grund  darin,  dass  durch  jene  Zerrung  die  Gesiclitsliuie 
etwa  in  der  Richtung  des  Zuges  des  äusseren  graden  Augenmuskels 
verschoben  wird,  ohne  dass  wir  diesen  Muskel  mit  dem  dazu  in  der 
Regel  verwendeten  Willensimpulse  versehen  hätten,  während  wir,  um 
unser  Gesichtsobject  weiter  fixiren  zu  können,  den  Internus  in  der 
Weise  innerviren  müssen,  als  wenn  jenes  nach  links  bewegt  worden 
wäre.  Das  Sensorium  verlegt  deshalb  die  wirklich  stattgehabten  Be- 
wegungen nicht  in  das  Auge,  sondern  in  das  betrachtete  Object,  indem 
es,  lediglich  auf  seine  bis  dahin  gesammelten  Erfahrungen  angewiesen, 
imr  nach  dem  seinerseits  wirklich  verbrauchten  Augenmuskelimpulse 
urtheilt.  Dieser  entspricht  a^ber  bei  dem  gewählten  Beispiele  einer  Be- 
wegung des  Gesichtsobjectes  von  rechts  nach  links. 

Wenn  nun  durch  eine  unseren  Sinnen  unbekannte  Kraft  ohne  die 
in  der  normalen  Weise  vor  sich  gehende  Mitwirkung  unseres  Sensoriums 
der  Kopf  und  mit  ihm  die  Aiigen  nach  rechts  bewegt  werden,  so  kann 
man  dies  als  eine  unwesenthche  Abänderung  des  soeben  beschriebenen 
Versuches  betrachten.  Es  würde  dann  folgerichtig  sein,  die  nach  links 
gerichtete  Scheinbewegung  als  nothwendige  Folge  der  vorausgesetzten 
Zwangsbewegung  aufzufassen,  wenn  mit  dem  Aufhören  der  Zwangs- 
bewegung auch  die  Scheinbewegung  ihr  Ende  erreichte.  Dies  ist  aber 
niclit  der  Fall,  sondern  das  scheinbare  Versinken  der  Gegenstände  nach 
der  einen  Seite  dauert  an,  während  die  wirkliche  Bewegung  bei  dem 
Wanken  des  Kopfes  nui'  momentan  zu  sein  braucht.  Ja,  das  Zustande- 
kommen der  Scheinbewegung  bedarf  nicht  einmal  nothwendigerweise 
einer  objectiv  wahrnehmbaren  Körperbewegung.  Es  ist  oben  schon 
angeführt  worden,  dass  Scheinbewegungen  bedeutend  leichter  zu  er- 
zeugen sind,  als  das  andere  in  Rede  stehende  Symptom. 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  zwar  möglich,  dass  in  dem  Momente 
des  nach  der  Seite  Schwankens  uns  durch  dasselbe  eine  ebenfalls  mo- 
mentane Bewegung  der  Gegenstände  im  Raurae  nach  der  anderen  Seite 
vorgetäuscht  wird,  aber  die  continuirliche  Scheinbewegung  kann  hier- 
durch keineswegs  erklärt  werden. 

Uebrigens  ist  die  Production  des  compensirenden  Muskelimpulses  keine 
nothwendige  Bedingung  für  das  Eintreten  der  Scheinbewegung.  Denn 
dieselbe  Scheinbewegung  entsteht  auch  jedes  Mal,  wenn  man  den  rechten 
Bulbus  durch  einen  plötzlichen  kurzen  Druck  von  innen  her  nach  rechts  ver- 
schiebt, während  man  gleichzeitig,  ohne  zu  fixiren,  ins  Weite  blickt.  Es  würde 
also  in  den  beiden  gewählten  Beispielen  die  auf  abnorme  Weise  vor  sich 
gehende  Verschiebung  der  Gesichtslinie  genügen,  um  eine  scheinbare  Be- 
wegung des  Gesichtsobjectes  hervorzubringen.  Indessen  ist  die  Sinnestäuschung 
unter  sonst  gleichen  Verhältnissen  immer  stärker,  wenn  compensirende  Muskel- 


—     345     — 

impulse  mit  in  Frage  kommen.  Durch  diejenigen  Phänomene,  welche  bei 
Augenmuskellähmungen  und  nach  anhaltender  Betrachtung  sich  in  einer 
bestimmten  Richtung  bewegender  Gegenstände  vorkommen,  lässt  sich  der 
Beweis  hierfür  führen.  — 

Bevor  wir  nun  dieses  Capitel  schliessen,  sei  es  gestattet,  die  an- 
gewendete Methode  einer  kurzen  Besprechung  zu  unterziehen.  Bei 
allen  Gnindversuchen  Hess  ich  den  Strom  in  der  einen  Fossa  mastoidea 
ein-  und  in  der  anderen  Fossa  mastoidea  austreten.  Dies  Verfahren 
ist  bei  Weitem  weniger  umständlich  als  die  Galvanisation  durch  die 
Ohren  und  auch  lange  nicht  so  schmerzhaft.  Wenn  man  den  Strom 
durch  die  Ohren  leitet,  hat  man  es  wegen  der  Enge  des  Gehörganges 
nothgedruugen  immer  mit  äusserst  kleinen  Einströmungsstellen  zu  thun. 
Die  Dichtigkeit  des  Stromes  wird  also,  bei  übrigens  gleicher  Intensität 
desselben,  in  der  Regel  an  den  Einströmungsstellen,  wenn  es  die 
Ohren  sind,  viel  beträchtlicher  sein,  als  bei  äusserlicher  Anlegung  der 
Leiter.  Dies  ist  um  so  unangenehmer,  als  die  Nerven  des  Gehörganges 
ohnehin  schon  sehr  empfindlich  zu  sein  pflegen.  Ausserdem  bekommt 
man  bei  der  Galvanisirung  durch  die  Ohren  leicht  subjective  Gehörs- 
empfindungen. Nun  wird  von  der  Versuchsperson  Auskunft  über  ihr 
durchaus  neue,  subjective  Empfindungen  verlangt,  welche  zudem  in 
einer  theilweiscn  Verwirrung  des  Urtheils  bestehen  und  deshalb  von 
entschieden  beängstigender  Natur  sind.  Verlangt  man  also  einiger- 
massen  zuvei'lässige  Angaben,  so  muss  man  von  der  Versuchsperson 
alle  Eindrücke,  durch  welche  ihre  ürtheilsfähigkeit  noch  weiter  beein- 
trächtigt wird,  fern  halten,  und  zu  diesen  gehört  in  erster  Reihe  der 
Schmerz. 

Applicirt  man  die  Elektroden  nicht  beide  in  den  Fossis  mastoideis 
oder  ihrer  unmittelbaren  Nähe,  so  ist,  die  gleiche  Elementeiizahl  vor- 
ausgesetzt, der  Schmerz  zwar  manchmal  noch  unbedeutender;  indessen 
treten  die  zu  studirenden  Reizerscheinungen  dann  um  so  schwerer  ein, 
so  dass  man,  um  das  Gleiche  zu  sehen,  der  Versuchsperson  durch 
Steigerung  der  absoluten  Stromintensität  nun  doch  wieder  mindestens 
den  gleichen  Schmerz  verursachen  muss. 

Aus  den  gleichen  Gründen  habe  ich  in  allen  Fällen  die  von  mir 
angegebene  Modification  der  unpolarisirbaren  Elektroden  du  Bois- 
Reymond's  angewendet:  denn  die  durch  Metallelektroden  hervor- 
gebrachte Anätzung  der  Haut  kann  einen  so  erheblichen  Schmerz  ver- 
ursachen, dass  man  zur  Unterbrechung    des  Versuches    veranlasst  wird. 

Die  Zahl  der  zur  Hervorbringung  der  beschriebenen  Reizeffecte  er- 
forderlichen Elemente  variirt  je  nach  Oertlichkeit  und  Querschnitt    der 


—     346     — 

Einströmungsstelleii  und  der  Reizbarkeit  der  Versuchspersonen  inner- 
lialb  ziemlich  breiter  Grenzen. 

Bei  Verwendnng  einzölliger  Elektroden  und  bei  querer  Durch- 
leitimg  des  Stromes  kann  man  bei  6  Daniell  schon  starken  Schwindel 
haben.  Gewöhnlich  bedarf  mau  einiger  Elemente  mehr.  Vollkommene 
Durch feuclitung  der  Haut  und  metallische  Schliessung  und  Oeffnung 
ersparen  ceteris  paribus  immer  ein  paar  Elemente.  Eine  grosse  Rolle 
spielt  die  Disposition.  Bei  Krankheiten  ist  dieselbe  häufig  bedeutend 
gesteigert,  ohne  das  man  aber  mit  wenigen  Worten  allgemein  gültige 
Regeln  aufstellen  könnte.  Die  meisten  Tabes-Kranken  z.  B.  werden  un- 
gemein leicht  scliwindlich,  andere  wieder  sehr  schwer. 

Die  Verwendung  unpolarisirbarer  Elektroden  empfiehlt  sich  auch 
aus  dem  Grunde,  weil  diese  Instrumente  das  Andrücken  des  Reiz- 
trägers nicht  erfordern.  Die  dadurch  bedingte  Unterstützung  des  Kopfes 
erschwert  das  Eintreten  der  Schwindelempfindungen. 

Das  Horausschleichen  aus  der  Kette  durch  Anwendung  einer  gra- 
duirten  Nebenschliessung  vermag  andererseits  den  Eintritt  von  Oeff- 
nungsschwindel  nicht  immer  gänzlich  zu  verhüten.    — 

Es  mag  am  Platze  sein,  hier  meine  Ansicht  über  die  von  einigen 
behauptete  Gefährlichkeit  des  Galvanisirens  am  Kopfe  auszusprechen. 
Zunächst  dürfte  wohl  die  grosse  Anzahl  von  Versuchen,  die  ich  zur 
Ermittelung  der  in  dieser  Abhandlung  angeführten  Thatsachen  an  Ge- 
sunden und  Kranken  ohne  Nachtheil  für  dieselben  angestellt  habe,  da- 
für sprechen,  dass  die  beschriebenen  Methoden,  wenn  überhaupt,  nur 
ausnahmsweise  und  unter  ganz  besonderen  Bedingungen  wirklich  ge- 
fährlich sein  können.  Dann  möchte  ich  darauf  aufmerksam  machen, 
dass  in  der  Literatur  noch  kein  einziges  glaubwürdiges  Beispiel  existirt, 
aus  dem  hervorginge,  dass  Jemand  in  der  That  durch  eine  solche  Me- 
thode ernstlich  geschädigt  worden  wäre.  Gleichwohl  hat  man  seit  dem 
ersten  Bekanntwerden  des  Galvauismus  ohne  Scheu  die  barbarischsten 
Galvanisationsmethoden  am  Kopfe  vorgenommen.*)  .Ja,  es  lässt  sich  so- 
gar aus  den  eigenen  Schriften  solcher  Autoren,  die  am  meisten  gegen 
das  Galvanisiren  des  Kopfes  eifern,  mit  Leichtigkeit  nachweisen,  dass 
sie  selbst  stärkere  Ströme,  als  die  hier  in  Rede  kommenden,  ohne  Be- 
denken angewandt  haben. 

*)  Die  älteren  Galvanisten,  denen  das  Gesetz  von  du  Bois-Reymond 
noch  nicht  bekannt  war,  glaubten  den  Strom  durch  Schütteln  der  Ketten, 
welche  sie  als  stromzuführende  Leiter  benutzten,  in  Bewegung  halten  zu 
müssen.  Natürlich  reizten  sie  dadurch  das  Gehirn  mit  ungezählten  Schlies- 
sungs-  und  Oeffnungsschläffen. 


—     347     — 

Ich  will  durchaus  nicht  in  Abrede  stellen,  dass  die  unvorsichtige 
Durchleitung  elektrischer  Ströuie  durch  den  Kopf  ebenso  gut  wie  durch 
jeden  anderen  Körpertheil  vorhandene  Krankheitszustände  verschlimmern 
kann,  wie  denn  manche  Personen  die  Elektricität  in  keiner  Form  und 
nach  keiner  Methode  vertragen.  Auch  gehört  die  galvanische  Reizung 
des  Gehirns  durch  starke  Ströme  mit  zu  den  unangenehmsten  Elektri- 
sationsmethoden,  weniger  wegen  der  Begleiterscheinungen  als  wegen 
der  dem  „Katzenjammer"  ähnlichen  Nachwirkungen.  Man  hat  noch 
längere  Zeit  nachher  die  Empfiudung  dumpfen  Druckes,  namentlich  im 
Hinterkopfe,  Uebelkeit,  manchmal  auch  Schwindelempfindungen.  Das 
beste  Mittel  dagegen  ist  der  Genuss  von  Speise  und  Trank. 

Damit  ist  aber  noch  nicht  das  Geringste  für  eine  specifische 
Gefährlichkeit  der  fraglichen  Methode  —  selbstverständlich  innerhalb 
gewisser  Grenzen  —  bew'iesen.  Wer  beim  Galvanisiren  des  Kopfes 
Beobachtungen  gemacht  hat,  die  etwas  Anderes  beweisen,  der  möge 
doch  den  Krankheitsfall  und  das  angewendete  Verfahren  mit  seinen 
Folgen  genau  beschreiben.  Obwohl  ich  für  diese  Methode  als  Heil- 
mittel keineswegs  eingenommen  bin,  halte  ich  es  doch,  selbst  w'enn 
man  von  ihrer  therapeutischen  Verwerthung  ganz  absehen  sollte,  für 
wünschenswerth,  dass  die  Wahrheit  bekannt  werde.  Bis  etwas  Anderes 
bewiesen  ist,  werde  ich  meinen  eigenen  Erfahrungen  mehr  Glauben 
schenken,  als  allgemein  gehaltenen  Behauptungen.  — 

Die  soeben  besprochene  Methode  wurde  auch  bei  den  in  den  nach- 
stehenden Capiteln  angeführten  Versuchen  angewendet.  Ich  verweise 
deshalb  rücksichtlich  jener  Beobachtungen  auf  das  hier  Vorgetragene. 
Ausserdem  bemerke  ich,  um  Wiederholungen  zu  vermeiden, 
dass  bei  allen  Versuchen,  von  denen  nicht  ausdrücklich 
etwas  Anderes  gesagt  ist,  die  Anode  in  der  rechten  Fossa 
mastoidea  gedacht,  und  soweit  die  Augen  in  Frage  kommen, 
das  rechte  Auge  betrachtet  ist. 

III.    Ueber  die  beim   Galvanisiren  des  Kopfes  eintretenden 
Augenbewegungen. 

Wenn  man  galvanische  Ströme  von  solcher  Intensität, 
dass  durch  sie  der  zweite  Grad  des  Schwindels  hervor- 
gerufen wird,  oder  stärkere  Ströme  durch  den  Kopf  leitet, 
so  treten  unwillkürliche  und  unbewusste  Bewegungen  der 
Augen  ein. 

Die    Leichtigkeit,    mit    der    diese  Augenbewegungen   zu  Stande 


—     348     — 

kommen,  wächst  bei  übrigens  gleichen  Verhältnissen  unter  denselben 
Bedingungen,  wie  die  von  mir  gelegentlich  der  Scheinbewegungen  und 
der  objectiv  wahrnehmbaren  Bewegungen  des  Körpers  als  begünstigende 
angeführten.  Man  beobachtet  sie  also  leichter  bei  querer  Durchleitung, 
beim  Galvanisiren  des  Hinterkopfes,  bei  grösserer  Steilheit  der  Strom- 
curven  und  nach  Aenderung  der  Stromrichtung. 

Die  galvanischen  Augenbewegungen  halten  auch  während  der 
Stronidauer  an,  obwohl  sie  weniger  ausgiebig  werden  können,  sobald 
der  Strom  constant  geworden  ist.  Hat  man  einen  relativ  schwachen 
Strom  gewählt,  so  verschwinden  sie  zuweilen  allmählich  gänzlich.  Im 
Moment  der  Oeffiiung  hingegen  oder  bei  anderen  erheblichen  negativen 
Schwankungen  der  Stromdichte  beginnen  sie,  auch  wenn  sie  aufgehört 
hatten,  von  Neuem,  haben  dann  aber  die  umgekehrte  Richtung. 

Es  ist  aus  den  oben  angeführten  Gründen  wiederum  nicht  zu  ent- 
scheiden, üb  bei  Annäherung  nur  einer  Elektrode  an  den  Schädel  die 
Anode  oder  die  Kathode  eine  grössere  Wirkung  hat.  Die  Augeii- 
bewegungen  treten  bei  einer  solchen  Anwendung  überhaupt  vergleichs- 
weise viel  seltener  und  weniger  intensiv  auf.  als  die  Schwindel- 
empfindungen. Man  bedarf  dann  nicht  selten  einer  Kette  von  30  und 
mehr  Daniel  1. 

Ihrem  Charakter  nach  sind  die  so  an  Gesunden  hervor- 
gebrachten Bewegungen  fast  immer  associirte  und  lassen  sich  am  Besten 
mit  der  Nystagmus  genannten  Affection  vergleichen.  Nur  unterscheidet 
mau  hier  immer  deutlich,  namentlich  bei  geringeren  Stroniintensitäten, 
eine  schnell  ruckartig  ausgeführte  Bewegung  nach  der  einen  Seite  und 
eine  langsamere  nach  der  anderen  Seite.  Bei  manchen  Individuen 
gleicht  unter  einer  bestimmten  Reizgrösse  die  Iris  dem  Schwimmer 
eines  Angelfischers,  der  langsam  auf  einem  Flusse  dahintreibt,  bis  er 
plötzlich  an  der  Leine  in  entgegengesetzter  Richtung  zurückgerissen 
wird.  Bei  zunehmender  Strnmintensität  wird  der  Rhythmus  schneller 
und  schneller,  bis  endlich  die  Richtung  der  kurzen  ruckenden  Bewegung 
dominirt  und  der  Bulbus  bei  sehr  starken  Strömen  nur  noch  leise 
oscillirend  im  Augenwinkel  festgehalten  wird. 

Die  Richtung  der  einzelnen  Bewegungen  —  und  dies  ist  einer  der 
interessantesten  Punkte  der  ganzen  Frage  —  hängt  derart  von  der 
Wahl  der  Einströmungssteilen  ab,  dass  die  schnellere,  ruckende  Be 
wegung,  die  wir  der  Einfachheit  wegen  zunächst  allein  berücksichtigen 
werden,  immer  in  der  Richtung  des  positiven  Stromes  erfolgt,  die  lang- 
samere in  der  entgegengesetzten  Richtung.  Wenn  sich  also  die  Anode 
in  der  rechten  und  die  Kathode  in  der  linken  Fossa  mastoidea  be- 
findet, so  erfols;t  der  Ruck  nach  links,  und  bei  starken  Strömen  werden 


—     349     — 

beide  Bulbi  in  den  linken  Winkeln  festgehalten.  Damit  dieses  Gesetz 
auf  die  überwiegend  zahlreichen  Fälle,  in  denen  Raddrehungen  ein- 
treten, passe,  ist  es  uöthig,  sich  den  gebogenen  Pfeil,  durch  den  man 
sich  den  Vorgang  der  Raddrehung  veranschaulichen  kann,  gestreckt  zu 
denken.  Wie  üblich  ist  hierbei  das  obere  Ende  des  verticalen  Meri- 
dians betrachtet. 

In  denjenigen  Fällen  jedoch,  wo  nur  die  eine  Elektrode  sich  in 
der  Gegend  des  Kopfes  befindet,  treten  die  Bewegungen,  wenn  es  über- 
haupt dazu  kommt,  so  auf,  als  wenn  die  andere  Elektrode  sich  auf  der 
anderen  Seite  des  Kopfes  befände.  Bei  einer  solchen  Anordnung  kann 
man  denn  auch  einzig  am  Normalen  die  Beobachtung  machen,  dass  die 
Bewegungen  beider  Augen  nicht  vollkommen  associirt  sind,  sondern 
dass  auf  dem  einen  Auge  die  Drehung  um  die  sagitale,  auf  dem  anderen 
Auge  die  Drehung  um  die  verticale  Axe  vorherrscht. 

Man  kann  durch  das  Galvanisiren  keineswegs  alle  ph3'siologischen 
Augenbewegnngen  zwangsweise  hervorbringen.  An  normalen  Augen 
fallen  z.  B.  sämmtliche  Convergenzen  aus.  Es  handelt  sich  vielmehr 
hauptsächlich  um  gleichnamige  Seitenwendungen  und  Rotationen.  Ausser- 
dem entsprechen  die  vorhandenen  Bewegungen,  wie  ich  noch  ausführ- 
licher zeigen  werde,  rücksichtlich  der  Combinationen  der  Drehungs- 
winkel in  den  meisten  Fällen  den  physiologischen  durchaus  nicht. 

Die  zunächst  zu  lösende  Frage  würde  lauten,  durch  Reizung 
welcher  Organe  die  soeben  beschriebenen  Augenbewegungen 
ausgelöst  werden.  Es  könnte  sich  um  die  Muskeln,  um  die  Stämme 
der  motorischen  Nerven  und  um  centrale  Gebilde  handeln. 

An  die  Muskeln  kann  man  schon  um  deswillen  nicht  denkeii,  weil 
der  Reizeffect  unendlich  viel  leichter  auftritt,  wenn  man  sich  bis  zur 
Fossa  mastoidea  von  der  Orbita  entfernt,  als  wenn  man  in  deren  Gegend 
operirt.  Ausserdem  wäre  nicht  zu  ersehen,  wie  associirte  Bewegungen 
beider  Augen  durch  die  Reizung  mit  einem  annähernd  constanten 
Strome  direct  durch  die  zugehörige  Muskulatur  ausgelöst  werden 
sollten. 

Auch  um  die  Nervenstämme  kann  es  sich  nicht  handeln;  denn 
auch  der  motorische  Nerv  antwortet  ganz  anders  auf  die  Reizung  mit 
Kettenströmen.  Indessen  wurde,  um  diese  Frage  noch  weiter  zu  er- 
hellen, der  Versuch  gemacht,  zu  bestimmen,  durch  welche  Muskeln 
in  jedem  einzelnen  Falle  die  betreffenden  Bewegungen  aus- 
gelöst w  erden. 

Es  war  um  so  schwerer,  hierüber  zu  einer  definitiven  Ansicht  zu 
gelangen,  als  auch  die  physiologischen  Augenbewegungen  kaum  je 
das  Resultat  der  Contraction  eines  einzelnen  Muskels  sind.     Die  Augen- 


—     350     — 

muskejn  haben  vielmehr  in  hohem  Grade  den  Charakter  von  Mode- 
ratoren, derart,  dass  eine  jede  physiologische  Bewegung  des  Bulbus 
als  Resultante  einer  Anzahl  von  bewegenden  Kräften  aufgefasst  werden 
muss.  Zwei  Wege  gab  es  jedoch,  auf  denen  es  vielleicht  möglich  war, 
der  Sache  näher  zu  kommen.  Der  eine  bestand  darin,  dass  man  ge- 
sunde und  der  Selbstbeobachtung  fähige  Versuchspersonen  während  der 
Reizung  bestimmte  willkürliche  Augenbewegungen  ausführen  liess,  und 
das  Product  der  willkürlichen  und  der  galvanischen  Augenbewegungen 
beobachtete  und  beobachten  liess.  Die  so  e: zielten  Resultate  sind  aber 
zur  Verwerthung  nicht  dur-chsichtig  genug,  wahrscheinlich  weil  der 
Vorgang  dabei  noch  w^eiter  complicirt  wird.  Denn  nicht  nur,  dass  wir 
es  dabei  mit  neuen  Imiervationen  der  gesammten  Augenmuskulatur 
zu  thun  bekommen,  sondern  es  tritt  auch  ein  centraler  Vorgang  ein, 
dessen  Einzelnheiten  uns  unbekannt  bleiben.  Der  letztere  Umstand 
fällt  um  so  mehr  in's  Gewicht,  als  die  Methode  ja  von  vornherein  eiiie 
Fälschung  des  Ürtheils  herbeiführt. 

Der  andere  Weg  hingegen  lieferte  Resultate,  welche  in  einem 
späteren  Theile  der  Abhandlung  auch  noch  anderweitig  verwerthet 
werden  sollen.  Er  bestand  in  der  Anwendung  dieser  Methode  auf  Per- 
sonen mit  completen  Lähmungen  einzelner  Augenmuskeln.  Man  konnte 
nämlich  erwarten,  dass  bei  einer  peripheren,  noch  completen  Lähmung 
des  einen  oder  des  anderen  Augenneiven  die  elektrischen  Bewegungen 
auf  dem  kranken  Auge  entweder  ganz  ausfallen  oder  doch  modificirt 
werden  würden.     In  der  Tliat  traf  diese  Voraussetzung  zu. 

Wenn  bei  einer  rechtsseitigen  Lälimuug  des  Oculo  mo  torius  der 
Strom  von  der  linken  zur  rechten  Fossa  mastoidea  gerichtet  ist,  so 
kann  es  vorkommen,  und  es  ist  sogar  die  Regel,  dass  auf  dem  linken 
Auge  ausgesprochene  Radbewegungen,  auf  dem  rechten  jedoch  hori- 
zontale eintreten,  während  bei  umgekehrter  Stromrichtung  sich  auf 
beiden  Seiten  Raddrehungen  zeigen.  Bei  der  einen  sowohl  als  bei  der 
anderen  Stromrichtung  sind  die  Excursionen  des  rechten  Bulbus  weniger 
ausgiebig  als  die  des  linken. 

Es  scheint  mir  hieraus  mit  Sicherheit  hervorzugehen,  dass  die 
Raddreliung,  welche  bei  der  ersteren  Reizmethode  am  Gesunden  auch 
auf  dem  rechten  Auge  eintreten  müsste,  die  Resultante  darstellen  würde 
von  der  Contraction  nicht  nur  des  Obliquus  inferior,  sondern  auch 
mindestens  noch  des  Abducens.  Denn  von  der  Gesammtbewegung  des 
Auga])fels,  welche  beim  Gesunden  in  einer  Drehung  um  die  Vertical- 
axe  nach  rechts  mit  gleichzeitiger  Raddrehung  in  derselben  Richtung 
besteht,  fällt  auf  dem  kranken  Auge  in  Folge  der  Leitungsunterbrechung 
in   der  Bahn    des  Oculomotorius    der    zweite  Theil    der  Bewegung    aus, 


—     351     — 

während  der  andere  von  diesem  Nerven  nicht  abhängige  zu  Standes 
kommt.  Die  Excursiouen  bewegen  sich  aber  auf  dem  kranken  Auge 
um  deswillen  in  engeren  Grenzen,  weil  diejenigen  Muskeln,  welche  den 
einmal  nach  rechts  gestellten  Bulbus  in  die  mittlere  Stellung  zurück- 
zuführen hätten,  von  dem  gelähmten  Augennerven  versorgt  werden. 

Wenn  man  nun  bei  einer  rechtsseitigen  vollständigen  Lähmung  des 
Abducens  dieselben  Versuche  anstellt,  so  kann  man  beobachten,  dass 
auf  dem  linken  Auge  Horizontalbewegungen,  auf  dem  rechten  aber 
Raddrehungen  eintreten,  sobald  die  Anode  sich  links  befindet,  während 
bei  umgekehrter  Application  auf  beiden  Augen  Rotationen  um  die  ver- 
ticale  Axe  vorhanden  sind.  In  beiden  P'ällen  macht  das  linke  Auge 
ausgiebigere  Bewegungen.  Das  rechte  Auge  hingegen  steht  in  mehr 
oder  weniger  starker  Abduction,  manchmal  auch  gleichzeitig  nach  oben 
schielend. 

Hätte  nun  die  fragliche  Versuchsperson  keine  Lähmung  des  Ab- 
ducens gehabt,  so  würden  ohne  Zweifel  bei  der  erstangeführten  Reiz- 
methode auch  auf  dem  rechten  Auge  Horizontalbewegungen  eingetreten 
sein.  Da  nun  bei  Ausfall  des  rechten  Abducens  gleichwohl  Bewegungen, 
aber  solche  um  die  sagittale  Axe  zu  beobachten  sind,  so  darf  man 
wohl  mit  Recht  annehmen,  dass  bei  der  auf  einem  normalen  rechten 
Auge  eintretenden  Horizontalbewegung  nach  rechts  nicht  nur  der  Ab- 
ducens, sondern  mindestens  auch  der  Obliquus  inferior  betheiligt  ist 
und  dass  der  dann  gleichwohl  um  die  Verticalaxe  erfolgende  Bewegungs- 
effect  nur  auf  das  Vorwiegen  der  Abducens-Contraction  zu  beziehen  ist. 
Auf  dem  linken  Auge  hingegen  würde  es  sich  in  denselben  Momenten 
um  gleichzeitige  Reizung  in  den  Bahnen  für  Internus  und  Trochlearis 
handeln. 

Selbstverständlich  treten  überall  grade  die  umgekehrten  Erschei- 
nungen auf,  sobald  die  auf  dem  rechten  Auge  vorausgesetzten  Muskel- 
lähmungen das  linke  Auge  betreffen.  Uebrigens  ist  es  auffallend,  wie 
leicht  die  sonst  seltener  zu  erzeugenden  Horizontalbewegungen  grade 
bei  Augenkranken    auch  auf    der  gesunden  Seite   zu  beobachten  sind.'') 

Wir  sehen  also  übereinstimmend,  dass  bei  der  Stromrichtung  von 
links  nach  rechts  auf  dem  linken  Auge  Theile  des  Oculomotorius  und 
der  Trochlearis,  auf  dem  rechten  Auge  andere  Theile  des  Oculomo- 
torius und  der  Abducens  mit  Reizen  eigenthümlicher  Art  versehen 
werden. 

Wie  derartig  gruppirte  Reizeffecte  gesetzmässig  durch  directe 
Reizung  der  Nerven  ausgelöst  werden  sollen,    ist  weder   vom  rein  phy- 


*)  Reine  Trochlearis-Lähmungen  bekam  ich  nicht  zur  Beobachtung. 


—     352     — 

sikalischen  noch  vom  physiologischen  Standpunkte  aus  einzusehen. 
Denn  die  Innervation  strahlt  nicht  nur  in  mehrere  Muskeln,  sondern 
auch  in  mehrere  von  A'^erschiedenen,  weit  auseinanderliegenden  Nerven 
abhängige  Muskeln  ein.  Endlich  auch  müssten,  was  den  Oculomotorius 
angeht,  immer  nur  einzelne  Theile  seines  Stammes  getroffen  werden, 
eine  Annahme,  die  höchstens  für  eine  bestimmte,  nicht  aber  für  alle 
Stromstärken  Gültigkeit  haben  könnte. 

Andererseits  ist  es  nicht  nur  möglich,  sondern  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  sogar  sicher,  dass  im  Gehirn  Associationsvorrichtungen 
bestehen,  in  denen  solche  Fasern,  die  später  verschiedenen  Nerven  an- 
gehören, dicht  beisammen  liegen  und  deshalb  auch,  gemeinschaftlicher 
Reizung  leicht  zugänglich  sind. 

Wenn  die  fraglichen  Augenbewegungen  nun  weder  durch  die 
Muskeln  noch  durch  die  peripheren  Nerven  ausgelöst  sein  können,  so 
bleibt  in  der  That  nur  übrig,  sie  auf  irgend  eine  Beeinflussung  centraler 
Gebilde  zu  beziehen.  — 

Sehr  merkwürdig  und  durchaus  abweichend  von  dem,  was  wir  über 
das  Verhalten  peripherer  Nerven  wissen,  ist,  dass  diese  anscheinend 
innerhalb  derselben  Bahnen  an-  und  abschwellenden  Erregungen  durch 
den  nicht  unterbrochenen,  möglichst  constant  gehaltenen  Batteriestrom 
aasgelöst  werden.  Der  Inductionsstrom  führt  ebenso  wenig  zu  diesen 
Augenbewegungen,  wie  zu  Schwindelempfindungen.  Gleichwohl  ist  es 
durch  die  bisher  angeführten  Untersuchungen  und  Erwägungen  vielleicht 
noch  nicht  gänzlich  auszuschliessen,  dass  nicht  die  in  Folge  der  all- 
mählichen Durchfeuchtung  und  Auflockerung  der  Haut  während  des 
Kettenschlusses  entstehenden  Stromschwankungen  hierbei  eine  Rolle 
spielen.  Allerdings  wird  dies,  abgesehen  von  manchen  anderen  Gründen, 
auch  dadurch  sehr  unwahrscheinlich,  dass  die  nach  der  Kettenöffnung 
entstehenden  Bewegungen  mit  umgekehrter  Richtung  nicht  nur  momentan 
sind,  sondern  auch  über  den  Moment  der  Oeffnung  hinaus  eine  geraume 
Zeit  anhalten. 

IV.    lieber  die  Art  der  Einwirkung  des  Galvanismus. 

Bereits  mehrfach  ist  einer  Verschiedenheit  der  Wirkungsart  beider 
Pole  gedacht  worden.  Wir  sahen,  dass  die  Richtung  aller  realen  und 
auch  aller  Scheinbewegungen  mit  einer  Gesetzmässigkeit,  die  nichts  zu 
wünschen  übrig  lässt,  davon  abhängt,  welche  Elektrode  rechts  und 
welche  links  applicirt  wird,  ob  der  Schliessungs-  oder  der  Oeffnungsreiz 
einwirkt. 


—     353     — 

Alis  diesem  Verhalten  geht  mit  absoluter  Sicherheit  hervor,  dass 
ein  Gegensatz  in  der  Wirkung  beider  Elektroden,  wie  er  schärfer  nicht 
gedacht  werden  kann,  vorhanden  ist.  Indessen  dürfte  es  von  besonde- 
rem Interesse  sein,  hervorzuheben,  dass  gerade  die  vollkommene  Ein- 
führung dieses  Gegensatzes  in  den  centralen  Mechanismus  conditio  sine 
qua  non  für  das  Eintreten  aller  uns  beschäftigenden  Reizerscheinungen 
ist,  und  dass  hierfür  keineswegs  die  Einwirkung  irgend  eines  elek- 
trischen Eeizes  ausreicht.  Brenner  (s.  o.)  führt  bereits  einen  Versuch 
au,  der  als  schlagender  Beweis  benutzt  werden  kann.  Er  brachte  eine 
getheilte  Anode  in  die  Fossae  mastoideae  und  eine  einfache  Kathode 
auf  den  Nacken.  Es  trat  kein  Schwindel  ein.  Sobald  er  aber  eine 
Anode  entfernte,  war  der  Schwindel  selbst  bei  einem  viel  schwächereu 
Strome,  als  dem  zuerst  benutzten,  vorhanden.  Ich  habe  diesen  Versuch 
nicht  nur  mehrfach  wiederholt,  sondern  auch  auf  die  Reizung  mit  der 
Kathode  ausgedehnt.  Danach  kann  ich  die  Angabe  Brenner's  voll- 
kommen bestätigen  und  ausserdem  auch  für  die  Kathode  und  für  das 
Eintreten  der  Augenbevvegungen  erweitern.  Auch  bei  den  grössten 
Stromintensitäten  kommt  es  weder  zu  Schwindel  noch  zu  Augenbewe- 
gungen, sobald  beide  Schädelhälften  mit  der  gleichnamigen  Elektrode 
gereizt  werden. 

Wenn  nun  bei  Annäherung  nur  einer  Elektrode  an  den  Schädel 
gleichwohl  sämmtliche  Reizerscheinungen,  aber  freilich  viel  weniger  aus- 
gesprochen, eintreten,  so  muss  dies  auf  die  eigeuthümliche  Function  der 
gereizten  Organe  bezogen  werden.  Sowohl  die  associirteu  Augenbewe- 
gnngen  als  die  Vertheilung  der  zur  Aufrechterhaltung  des  Gleichgewichts 
dienenden  Muskelimpulse  setzen  ein  ungestörtes  Zusammenwirken  der 
gleichnamigen  symmetrischen  Centralorgane  voraus.  Wird  nur 
die  Erregbarkeit  des  Centralorgans  der  einen  Seite  von  der  Norm  ent- 
fernt, so  ist  die  daraus  resultirende  Störung  beträchtlich  geringer,  als 
wenn  die  Erregbarkeit  des  symmetrischen  Organs  um  das  Gleiche,  aber 
im  entgegengesetzten  Sinne,  verändert  wird.  Eine  doppelseitige  positive 
oder  negative  Erregbarkeitsveränderung  bleibt  aber  ohne  wahrnehmbare 
Zeichen. 

Es  kann  bei  Berücksichtigung  des  soeben  Recapitulirten  und  Neu- 
angeführten  wohl  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  die  in  Rede  stehen- 
den Reizerscheinungen  auf  analoge  Erregbarkeitsveränderungen  zurück- 
zuführen sind,  wie  die  nach  den  Untersuchungen  von  Pflüger  am 
elektrotonisirten  Nerven  vorhandenen.  Dies  dürfte  aber  der  erste  Nach- 
weis sein,  dass  man  vermag,  durch  galvanische  Reizung  ge- 
wisse Complexe  intracerebralei-  Nerven  —  sei  es  direct,    sei 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     I.  Theil.  23 


—     35i    — 

es  indirect  —  in  Erregungszustände  zu  versetzen,  durch  die 
Aulass  zu  Muskeibewegungen  eigenthümliclier  Art  gegeben 
wird. 

Hieran  schliesst  sich  aufs  Engste  die  Erwägung  des  ümstandes, 
dass  inducirte  Ströme  weder  Schwindel  noch  Augenbewegungen  hervor- 
bringen. Schon  einmal  war  die  Elektrophysiologie  mit  der  Bearbeitung 
einer  ähnlichen  Frage  beschäftigt.  Es  handelte  sich  damals  darum, 
zu  erklären,  warum  gelähmte  Muskeln  nicht  auf  inducirte,  wohl  aber 
auf  Kettenströrae  reagiren.  Neumann  hat  das  Verdienst,  den  physi- 
kalischen Grund  dieses  ungemein  sonderbar  erscheinenden  Phänomens 
in  der  kurzen  Dauer  der  Inductionsströme  gefunden  zu  haben  Natür- 
lich lag  es  nahe,  sich  zu  überzeugen,  ob  hier  nicht  dieselbe  physikali- 
sche Ursache  obwalte.  Die  gehegte  Vermuthung  fand  sich  bestätigt. 
Kettenschliessungen  und  ebenso  Kettenöffnungen  von  ganz 
kurzer  Dauer  haben  denselben  Nichterfolg  wie  Inductions- 
ströme. Wenn  man  also  z.  B.  eine  Kette,  deren  gänzliche  OefTnung 
das  ganze  Bild  der  Reizeffecte  entrollen  würde,  nur  momentan  öifnet 
und  wieder  schliesst,  so  ist  es  für  die  fraglichen  Gehirnfunctionen,  als 
wenn  nichts  gewesen  wäre;  die  peripheren  Nerven  aber  antworten  jeder 
mit  seiner  specifischen  Energie,  der  Facialis  mit  Zuckung,  der  Opticus 
mit  Lichtempfindung,  die  Geschmacksnerven  mit  stärkeren  galvanischen 
Sensationen.  Schnelle  Wiederholung  der  Oeffnung  und  Schliessung 
ändert  hieran  nichts. 

Dieser  Umstand  ist  in  doppelter  Beziehung  von  Wichtigkeit.  Ein- 
mal darum,  weil  er  einen  ferneren  Beweis  für  den  eben  augeführten 
Satz  bildet,  dass  „die  vollkommene  Einführung  des  elektrotonischen 
Gegensatzes  in  den  cerebralen  Mechanismus  conditio  sine  qua  non  für 
das  Eintreten  der  uns  beschäftigenden  Reizerscheinungen  ist."  Wir  sind 
berechtigt,  zu  schliessen,  dass  die  intracraniellen  Nervengebilde  der 
Veränderung  ihres  Zustandes  durch  den  Strom  eine  ähnliche  Trägheit 
entgegensetzen,  als  der  gelähmte  oder  curarisirte  Muskel,  als  der 
Schliessmuskel  der  Muscheln.  Ehe  die  Umlagerung  und  damit  die  als 
Muskelbewegung  in  die  Erscheiiumg  tretende  Aenderung  der  Function 
herangebildet,  ist  die  Rücklagerung  in  den  früheren  Zustand  schon 
wieder  da.  Hierin  würde  also  eine  wesentliche,  wenn  auch  nur  quan- 
titative Verschiedenheit  von  dem  Verhalten  peripherer  Nerven  liegen. 

Der  Umstand  ist  zweitens  von  Wichtigkeit,  weil  er  den  Beweis  für 
eine  Ansicht  liefert,  welche  man  unten  (S.  372)  ausgesprochen  finden 
wird,  dass  nämlich  der  Galvanismus  bei  diesen  Reizversuchen  in  der 
Art  einer  Summirung  von  Reizen  wirkt.  Wenn  dieselben  Reize,  welche 
bei    intermittirender    Anwendune;    zu    keinem    Reizeffecte   Veranlassuna; 


—     355     — 

geben,  continuirlich  angewendet  werden,  so  ist  der  Reizeffect  da.  Dies 
heisst,  in  andere  Worte  übertragen:  „Innerhalb  gewisser  zeitlicher 
Grenzen  verstärkt  jeder  kleinste  Zeitabschnitt  des  Reizes  die  Wirkung 
seines  Vorgängers." 

Endlich  könnte  noch  Jemand  die  Frage  erheben,  ob  bei  diesen  Ver- 
suchen der  negative  Reizzuwachs  der  Schliessung  in  der  That  auf  der 
Seite  der  Anode  und  der  positive  Reizzuwachs  auf  der  Seite  der  Kathode 
statt  hat.  Bei  gewissen  Untersuchungen  am  Menschen  über  Erregbar- 
keit elektrotonisirter  Nerven  (Erb)  fand  sich  nämlich  stets  der  un- 
gleichartige Rrregbarkeitszuwachs  jeder  der  beiden  Elektroden  auf 
das  Aeusserste  nahegerückt.  Indessen  kommt  ein  solches  Verhalten 
bei  der  benutzten  Versuchsanordnung  offenbar  nicht  vor.  Man  kann 
dies  aus  den  Reizversuchen  am  Gehörorgan  mit  Sicherheit  entnehmen. 
Die  akustischen  Reactionen  beweisen,  dass  in  der  That  ein  noch  ziem- 
lich entlegener  Theil  des  Schädelinhalts  gänzlich  unter  dem  Einfliisse 
der  dem  Schädel  äusserlich  genäherten  Elektrode  steht. 

V,    Ueber   das  Verhältniss   der   beim  Galvanisiren   des  Kopfes 
auftretenden  Reizerscheinungen  zu  einander. 

Die  Gleichzeitigkeit  im  Vorkommen  der  angeführten  Thatsachen 
veranlasst  die  Frage,  ob  dieselben  unter  einander  ganz  oder 
theilweise  in  dem  Verhältnisse  von  Ursache  und  Wirkung 
stehen.     Es  liegen  hier  drei  Möglichkeiten  vor: 

1.  Die  Schwindelempfindungen  können  Folge  der  unwillkürlichen 
Augenbewegungen,  oder 

2.  die  unwillkürlichen  Augenbewegungen  können  Folge  der  Schwindel- 
empfindungen sein,  oder 

3.  beide  Reizerscheinnngen  werden  ganz  oder  theilweise  unabhän- 
gig von  einander  durch  Reizung  verschiedener  Centralorgane,  vielleicht 
auch  eines  Centralsystems,  in  dem  eine  Verknüpfung  motorisclier 
Augennerven  mit  Nerven  der  willkürlichen  Körpermuskulatur  stattfindet, 
hervorgebracht.  — 

Der  nächste  Weg  um  die  Abhängigkeit  oder  Unabhängigkeit  der 
einzelnen  Reizerscheinungen  von  einander  festzustellen,  war  natürlich 
der,  nachzusehen,  ob  sie  unabhängig  von  einander  vorkommen.  In  der 
That  kommen  sowohl  Augenbewegungen  ohne  Schwindelempfindungen, 
als  Schwindelempfindungen  ohne  Augenbewegungen  vor.  Wenn  man 
mit  relativ  starken  Strömen  arbeitet,  kann  man  dies  freilich  nicht  beob- 
achten. Indessen  gelingt  es  hier  und  da  mit  schwächeren  Strömen  eine 
Intensität  herauszufinden,    bei    der  gerade    nur  das    eine  Symptom  vor- 

23* 


—     356     — 

handeil  ist.  Arn  häufigsten  beobachtet  man  bei  Personen,  die  schon 
öfter  in  der  angegebenen  Weise  galvanisirt  worden  sind,  Augenbewe- 
gungen ohne  Schwindelempfinduugen. 

Man  kann  solche  Beobachtungen  als  stricten  Beweis  jedoch  nicht 
gelten  lassen.  Denn  wie  wir  einerseits  unser  Verhalten  zu  den  Gegen- 
ständen im  Räume  nach  den  Erfahrungen  beurtheilen,  die  unser  Senso- 
rium  über  das  Verhältniss  der  von  ihm  beanspruchten  Muskelimpulse 
zur  Anordnung  der  Gegenstände  gesammelt  hat,  und  wie  unser  Urtheil 
hierüber  durch  irgend  welche  Störung  im  Bereiche  des  percipirenden 
Mechanismus  verwirrt  werden  kann,  so  liegt  andererseits  die  Möglich- 
keit vor,  dass  die  Erfahrung  solcher,  eine  gewisse  Breite  nicht  über- 
schreitender Störungen  mit  der  Zeit  Herr  werden  kann.  Eine  Versuchs- 
person, welcher  früher  schon  mehrfach  galvanische  Augenbewegungen 
höheren  Grades  erzeugt  worden  sind,  würde  endlich  dahin  kommen 
können,  diejenigen  geringen  Verschiebungen  der  Netzhautbilder,  welche 
durch  schwache  Bewegungen  erzeugt  werden,  zu  übersehen,  und  ver- 
möge einer  in  der  That  vorhandenen  Accomniodationsfähigkeit  des 
Centralorgans  als  noch  in  die  Breite  des  Normalen  fallend  aufzu- 
fassen. So  haben  auch  Kranke,  die  an  Nystagmus  leiden,  in  der  Regel 
keine  Scheinbewegungen,  sondern  vielmehr  amblyopisclie  oder  aber 
andere  Sehstörungen,  wie  sie  durch  das  Augenzittern  als  solches  nicht 
bedingt  sind. 

Einer  ähnlichen  Betrachtung  würde  man  das  isolirte  Vorkommen 
einer  Schwindelempfindung  von  bestimmter  Richtung  nicht  unter- 
ziehen können.  Indessen  erhält  man  so  gut  wie  nie  Angaben,  die  unter 
diesen  Umständen  eine  bestimmte  Richtung  mit  Sicherheit,  oder  in  einer 
mit  anderweitig  gesammelten  Erfahrungen  stimmenden  Weise  bezeichne- 
ten, so  dass  man  daraufhin  eine  Frage  von  dieser  Wichtigkeit  kaum  ent- 
scheiden möchte.  Zudem  hätte  man  in  diesen  seltenen  Fällen  lediglich 
mit  Angaben  über  subjective,  sich  der  Controle  entziehende  Empfin- 
dungen zu  rechnen.  Dieser  letztere  Einwand  lässt  sich  auch  gegen  den 
Umstand  erheben,  dass  die  Schwindelbahn  der  jedesmal  vorwiegenden 
unwillkürlichen  Ablenkung  der  Augen  nicht  in  allen  Fällen  zu  ent- 
sprechen scheint.  Bei  Raddrehungen  der  Augäpfel  werden  auch  die 
Netzhautbilder  annähernd  auf  den  Peripherien  von  vertical  stehenden 
Kreisen  verschoben.  Man  hätte  also  eine  verticale  Scheiubewegung  der 
Gesichtsobjecte  zu  erwarten.  Eine  solche  wird  aber,  wenn  auch  in  der 
grossen  Mehrzahl  der  Versuche,  so  doch  nicht  ausnahmslos  angegeben. 
Einige  Personen  behaupten  bei  diesem  Reizeffecte  Horizontalschwindel 
zu  haben.  Ebenso  trifft  sich  das  umgekehrte  Verhältniss.  Aus  dem 
angeführten  Grunde    ist    jedoch    solchen  Angaben,    so   lange    sie    ohne 


—     357     — 

Unterstützung  tlurch  andere  Thatsachen  dastehen,  keine  grosse  Wichtig- 
keit beizulegen. 

So  war  es  denn  um  so  mehr  geboten,  die  gestellte  Frage  weiteren 
Erwägungen  und  der  Prüfung  durch  andere  Versuche  zu  unterziehen, 
als  ein  vollkommenes  sich  Decken  der  Augeubewegungen  und  der 
Schwindelempfindungen  das  Zustandekommen  der  Letzteren,  insoweit  es 
die  Scheinbewegungen  der  Gesichtsobjecte  betrifft,  auf  das  Befriedigendste 
erklären  würde.  Ja,  das  Eintreten  von  derartigen  Scheinbewe- 
gungen bei  den  beschriebenen  Augenbewegungen  ist  in  dem 
Grade  ein  physiologisches  Postulat,  dass  ich  ungeachtet 
dessen,  was  ich  vorgebracht  habe,  die  Erklärung  dieses 
Theiles  der  Schwindelempfindungen  aus  den  Augenbewe- 
gungen nicht  nur  für  unbedenklich,  sondern  für  noth wendig 
halte. 

Insoweit  die  Schwindelempfindungen  als  einfaches  Resultat  des  gal- 
vanischen Nystagmus  betrachtet  werden  sollen,  sind  sie  den  Erfahrungen 
anzupassen,  welche  aus  dem  S.  243  angeführten  Versuche,  betreffend 
die  bei  seitlicher  Verschiebung  des  Bulbus  durch  Ziehen  an  den  Lidern 
entstehenden  Scheinbewegungen,  gewonnen  wurden.  Ich  habe  des  Näheren 
(S.  348  f.)  auseinandergesetzt,  dass  die  galvanischen  Augenbewegungen 
keinen  einfachen  Tetanus  oder  eine  einfache  Muskelcontraction  zur  An- 
schauung bringen,  sondern  in  einem  Hin-  und  Herschwingen  des  Auges 
bestehen.  Wir  haben  es  also  hier  mit  zwei  entgegengesetzten  Rich- 
tungen der  Augenbewegungen  zu  thun,  von  denen  die  eine  mit  der 
Richtung  der  Scheinbewegung  zusammenfällt.  In  jenem  Falle  (mechani- 
sche Verschiebung  des  Auges  nach  rechts)  glaubten  wir  eine  Bewegung 
des  Gesichtsobjectes  nach  links  darum  wahrzunehmen,  weil  wir  zur 
Fixation,  d.  h.  zur  Ausgleichung  der  erstgenannten  Bewegung,  abnormer 
Weise  den  rechten  Internus  mit  stärkeren  Impulsen  versehen  mussten. 
Da  nun  bei  dem  galvanischen  Versuche  im  Uebrigen  die  gleichen  Ver- 
hältnisse vorliegen,  so  ist  für  diesen  anzunehmen,  dass  von  den  beiden 
hier  in  Frage  kommenden  sich  balancirenden  Bewegungen  gleichfalls 
die  eine  durch  unbewusste,  aber  räumliche  Vorstellungen  bilden  helfende 
Impulse  ausgelöst  wird,  die  andere  hingegen  durch  eine  unseren  Sinnen 
mibekannte  Kraft,  welche  dieselbe  Rolle  spielt,  wie  der  zerrende  Finger, 
und  welche  im  gegebenen  Falle  der  Galvanismus  ist. 

Die  Scheinbewegung  findet  bei  der  geforderten  Versuchsanordnung 
ebenfalls  nach  links  hin  statt,  folglich  muss  die  unbewusst  will- 
kürliche Bewegung  ebenfalls  auf  dem  rechten  Auge  haupt- 
sächlich den  Internus  betreffen,    und  die  von    dem  Galvanis- 


—     358     — 

mus  abhängige    würde    demnach    auf  demselben  Auge  haupt- 
sächlich dem  Abducens  zufallen. 

Diese  Erklärung  würde  auch  für  den  Fall  ihre  Gültigkeit  behalten,  dass 
die  Scheinbewegung  bei  dem  S.  243  angeführten  Versuche  lediglich  durch 
die  unbowusste  Verschiebung  der  Gesichtslinie,  also  nicht  durch  die  compen- 
sirenden  Muskelimpulse  gedeutet  würde.  Der  Beweis  wird  unten  geführt 
werden. 

Sehen  wir  zunächst  davon  ab,  durch  welche  besondere  Art  der 
Einwirkung  des  Galvanismus  die  eine  der  beiden  Augenbewegungen 
hervorgebracht  wird,  so  erscheint  es  nicht  unwahrscheinlich,  dass  die 
andere,  durch  dem  Sensorium  eigene  Impulse  gebildete,  eine  Folge 
ist  der  durch  die  erstere  bewirkten  abnormen  Muskelzu- 
stände. Wenigstens  Hesse  sich  dies  von  den  rotatorischen  Bewegungen 
sagen.  Ich  hatte  oben  angeführt,  dass  die  galvanischen  Augen- 
bewegungen in  ähnlicher  Weise  wie  die  normalen,  Resultanten  mehrerer 
Zugkräfte  sind.  Auch  bei  den  rotatorischen  Bewegungen  kann  man 
immer  eine  mehr  oder  weniger  bedeutende  Seitenwendung  wahrnehmen. 
Indessen  stellen  sich  die  Werthe  der  Raddrehungswinkel  zu  denen  der 
Seitenwendungswinkel  in  der  Regel  als  ganz  unverhältnissmässig  viel 
grösser  heraus,  als  sie  bei  willkürlichen  Bewegungen  je  vorkommen. 
Nun  ist  aber  bei  diesen  das  Verhältniss  dieser  beiden  Winkel  zu  ein- 
ander kein  zufälliges  oder  durch  den  Willen  zu  beeinflussendes.  Nach 
dem  Donders-Listing'schen  Gesetze  ist  der  Raddrehungswinkel  viel- 
mehr eine  Function  von  dem  Erhebungs  und  dem  Seitenwendungs- 
winkel, oder  wenn  wir  diesen  Satz  umkehren:  Eine  bestimmte  Grösse 
des  Raddrehungswinkels  setzt  auch  eine  bestimmte  Grösse  der  (in 
dieser  Beziehung  als  complementär  zu  betrachtenden)  Erhebungs-  und 
Seitenwendungswinkel  voraus.  Da  nun  beim  Galvanisiren  weder  der 
eine,  noch  der  andere  dieser  beiden  Winkel  seiner  Grösse  nach  dem 
Raddrehungswinkel  entspricht,  so  müssen  dadurch  ganz  ungewohnte 
Muskelemplindungen  vermittelt  werden,  und  da  das  Sensorium  mit  den- 
selben nicht  rechnen  kann,  so  wird  es  deren  Ausgleichung,  so  weit  es 
ihm  möglich  ist.  anstreben.  Für  diejenigen  Fälle,  wo  bei  Seiten- 
wendungen wirkliche  Uebergänge  aus  der  Primärstellung  in  eine  Se- 
cundärstellung  stattfänden,  Hesse  sich  diese  Erklärung  freilich  als  nicht 
zureichend  anfechten.  Wir  werden  indessen  auch  anderweitige  Ver- 
anlassung haben,  auf  diese  Frage  zurückzukommen.  — 

Nachdem  wir  dergestalt  den  galvanischen  Nystagmus  in  zwei  Be- 
wegungen zerlegten,  deren  eine  vorläufig  als  nur  von  dem  eigen- 
thümlichen  Verhältniss  der  Augenmuskeln  zu  einander  abhängend  be- 
trachtet wurde,    können  wir  es  unternehmen,   die  an  der  anderweitigen 


—     359     — 

willkürlichen  iVIuskulatur  wahrnehmbaren  Innervationsstörungcn  niit  in 
Betracht  zu  ziehen.  Wir  sahen,  dass  mit  dem  Kettenschlusse  Kopl'  und 
Körper  nach  rechts  schwankt,  mit  anderen  Worten,  dass  die  gesammte 
Muskulatur,  insofern  sie  die  Haltung  des  Körpers  bedingt,  Impulse  er- 
hält, welche  die  Medianebene  des  Körpers  nach  rechts  neigen.  Ganz 
ebenso  werden  auch  der  Gesammtmuskiiiatur  der  Augen  in  einem  Mo- 
mente der  Reizung  Impulse  zu  Theil,  welche  den  verticalen  Meridian 
beider  Augen  —  also  Ebenen,  welche  der  Medianebene  annähernd 
parallel  liegen  —  nach  derselben  Seite  nach  rechts  neigen.  Es  darf 
aber  nicht  ausser  Acht  gelassen  werden,  dass  bei  starken  Strömen  das 
Endresultat  der  zwangsmässigen  Augenstellung  erst  hervortritt,  und 
sich  dann  als  gerade  das  Umgekehrte  ausweist,  insofern  als  dann,  wie 
oben  ausgeführt,  die  im  Sinne  der  Stromrichtung  erfolgende  Be- 
wegung —  nach  links  —  dominirt. 

Wir  haben  bisher  die  Schwindelempfindungen  ganz  im  Allgemeinen 
so  betrachtet,  als  wenn  ihre  Abhängigkeit  von  den  Augenbewegungen 
mit  einer  Art  von  Noth wendigkeit  vorausgesetzt  werden  müsse.  Wenn 
indessen  eine  unbedingte  Abhängigkeit  des  ersten  Symptoms  von  dem 
anderen  bestände,  so  müssten  nach  den  üblichen  Anschauungen  die 
Schwindelempfindungen  mit  dem  Fortfallen  eines  jeden  optischen  Ein- 
druckes gleichfalls  ausfallen,  denn  die  scheinbare  Bewegung  entstand  ja 
bei  dem  als  Ausgangspunkt  gewählten  Versuche  durch  das  Zusammen- 
wirken eines  optischen  Eindruckes  mit  abnormer  Weise  erforderten 
Muskelimpulsen,  wobei  zwar  die  Muskelimpulse,  nicht  aber  das  Gesichts- 
bild wegfallen  konnten.  Um  den  Einfluss  des  einen  und  des  andern 
dieser  beiden  Momente  festzustellen,  war  es  also  geboten,  den  Reizver- 
such einmal  unter  Ausschluss  aller  optischen  Eindrücke,  dann  aber 
unter  Ausschluss  aller  Muskelimpulse,  wenn  dies  möglich  war,  anzu- 
stellen. Für  diesen  letzteren  Zweck  wäre  es  sehr  erwünscht  gewesen, 
Personen  mit  completer  Lähmung  aller  Augenmuskeln  untersuchen  zu 
können;  indessen  gelang  es  mir  aller  angewandten  Mühe  ungeachtet 
nicht,  diesen  seltenen  Krankheitsfall  zu  Gesicht  zu  bekommen.  Für  den 
ersteren  Zweck  konnte  es  vielleicht  genügen,  wenn  man  Personen  bei 
Schluss  der  Lider  untersuchte.  Indessen  war  man  dann  der  Beobach- 
tung der  Bulbusbewegungen  beraubt,  auch  hätte  allenfalls  die,  wenn- 
gleich unbestimmte  Lichtempfindung,  welche  bei  Lidschluss  statt  hat, 
als  ein  Einwand  erhoben  werden  können. 

Ich  stellte  den  Versuch  deswegen  zuvörderst  an  zwei  Blinden  an, 
deren  Zuweisung  ich  dem  freundschaftlichen  Interesse  des  Herrn  Dr. 
Brecht  verdanke. 


—     360     — 

Der  eine  dieser  Blinden  war  in  Folge  glaucomatöser  Sehnervenexcavation 
auf  dem  rechten  Auge  ganz  blind,  hatte  auch  bei  galvanischer  Opticusreizung 
mit  20  Elementen  keine  Phosphene;  mit  dem  linken  Auge  konnte  er  auf  6" 
Entfernung  noch  eben  Finger  unterscheiden.  Auf  diesem  Auge  trug  er  während 
des  Versuches  einen,  jeden  Lichtschimmer  ausschliessenden  Watteverband. 
Bei  Kettenschluss  fiel  er  ungemein  stark  nach  der  Anoden-Seite  und  hatte 
ausserordentlich  starke  Bulbusbewegungen  in  der  Horizontalen,  manchmal 
schien  der  Bulbus  nach  hinten  gezogen  zu  werden.  Der  Schwindel  war  sehr 
stark,  doch  vermochte  der  sehr  beunruhigte  Kranke  eine  bestimmte  Richtung 
der  Scheinbewegung  nicht  anzugeben.'^)  Er  liess  sich  auch  nur  noch  ein 
zweites  Mal  untersuchen,  wobei  nichts  Weiteres  herauszubekommen  war. 

Die  andere  Versuchsperson  litt  neben  Tabes  an  Atrophie  beider  Seh- 
nerven. Auf  beiden  Augen  bestanden  noch  geringe  Spuren  quantitativer  Licht- 
empfindung, welche  aber  durch  Flacirung  vor  eine  nicht  beleuchtete  Wand 
aufgehoben  werden  konnten.  Beim  Gradeausblicken  geringe  rechtsseitige  Con- 
vergenz;  bei  grösseren  willkürlichen  Excursionen  etwas  Nystagmus.  Derselbe 
tritt  auch  spontan  beim  Stehen  auf,  verliert  sich  beim  Niedersetzen.  Rechte 
Papille  sehr  eng,  linke  von  mittlerer  Weite.  Beide  auf  den  Lichtreiz  ohne 
Reaction.  Bei  der  elektrischen  Reizung  fiel  P.  sehr  stark  nach  der  Anoden- 
Seite,  während  die  in  der  Horizontalen  vor  sich  gehenden  Bulbusbewegungen 
so  stark  waren,  dass  der  Cornealrand  des  rechten  Auges  (Anode  rechts  oder 
links)  über  die  Karunkel  hinausgezogen  wurde,  links  war  diese  Excursion 
weniger  gross.**)  Dabei  hatte  der  Mensch  sehr  ausgesprochen  die  Empfin- 
dung, als  wenn  er  in  einem  Caroussel  gefahren  würde,  welches 
sich  von  rechs  nach  links  dreht,  vorausgesetzt,  dass  die  Anode 
rechts  applicirt  war. 

Der  Versuch  konnte  unter  mehrmaliger  Abänderung  der  Bedingungen  in 
der  Zeit  vom  28.  November  1869  —  13.  Januar  1870  10  Mal  wiederholt  wer- 
den, und  die  einzelnen  Angaben  waren  derart  constant  und  sicher,  dass  ich 
glaube  Mehreres  von  denselben  m.ittheilen  zu  sollen.  Zunächst  war  es  möglich 
durch  Veränderung  der  Einströmungsstellen  Einzelheiten  der  .Scheinbewegung 
zu  modificiren.  Wenn  man  nämlich  die  zweite  Elektrode  statt  in  die  Fossa 
mastoidea  in  die  Fossa  supraclavicularis  brachte,  hatte  er  die  Empfindung  des 
Bergab-  resp.  Bergaufbewegtwerdens.  Beim  Galvanisiren  durch  zwei  symme- 
trische 1"  nach  hinten  der  Process.  mastt.  gelegene  Stellen  glaubt  er  aber 
wie  ein  aufrechtes  Rad  rotirt  zu  werden,  während  doch  die  Bulbusbewegungen 
ihren  Charakter  nicht  änderten.  Endlich  gelang  es,  beim  Galvanisiren  durch  die 
Schläfen  Bulbusbewegungen  ohne  gleichzeitige  Scheinbewegung  zu   erzielen. 

Beide  Versuchspersonen  hatten  also  bei  Ausfall  jedes  optischen  Ein- 
drucks doch  Scheinbewegungen,  die  nun  aber  auf  den  eigenen  Körper, 
statt  auf  die  Gegenstände  der  Aussen  weit  bezogen  wurden.    Im  Besitze 


*)  „Es  geht  Alles  mit  mir  herum." 
**)  Er  schielte  bei  jeder  Bewegung  also  sehr  stark. 


—     361     — 

dieser  Resultate  schritt  ich  dazu,  normalsehende  Personen  bei  ge- 
schlossenen Augen  zu  untersuchen. 

Abgesehen  von  vielen  Kranken  und  meiner  eigenen  Person  wurden  diese 
Versuche  an  zahlreichen  Aerzten,  welche  meine  Vorlesungen  besuchten,  an- 
gestellt. Ich  bin  der  Selbstbeobachtung  dieser  Flerren  manche  Aufklärung 
und  ihrer  Gefälligkeit  um  so  mehr  grossen  Dank  schuldig,  als  ich  nicht  in 
der  Lage  war,  an  mir  selbst  viele  derartige  Versuche  anstellen  zu  können. 
Schwindelempfindungen  höheren  Grades  sind  bei  mir  sehr  schwer  zu  erzeugen, 
während  rotatorische  Augenbewegungen  leichter  zu  Stande  kommen.  Bei  einer 
bedeutenden  Stromintensität  sehe  ich  die  Gegenstände  verschwommen  und  un- 
sicher, auch  dreht  sich  der  Kopf  nach  der  Anodenseite,  ohne  dass  ich  jedoch 
dabei  diejenigen  abnormen  Empfindungen  hätte,  von  denen  bald  die  Rede  sein 
wird.  Zur  Beobachtung  der- Augenbewegungen  musste  ich  selbstverständlich 
von  meiner  eigenen  Person  so  gut  wie  ganz  absehen. 

Die  Untersuchung  normalsehender  Versuchspersonen  ergab  folgende 
constante  Resultate.  Sobald  die  Kette  geschlossen  wurde,  fielen  sie 
nach  der  Anodenseite,  und  die  der  Selbstbeobachtung  Fähigen  bezeich- 
neten diese  Bewegung  mit  Bestimmtheit  als  eine  willkürliche, 
hervorgerufen  durch  die  Empfindung,  als  wenn  der  Kopf 
oder  der  Körper  nach  der  Kathodenseite  geneigt  würde,  und 
durch  das  Bedürfniss,  gegen  diese  Bewegung  das  Gleich- 
gewicht aufrecht  zu  erhalten.  Während  des  Kettenschlusses  schien 
ihnen  aber  die  nach  der  Kathode  gerichtete  Bewegung  des  Körpers 
(in  der  Regel)  um  seine  horizontale  und  mediane  Axe  fortzudauern. 

Liess  man  nun  die  bis  dahin  geschlossenen  Augen  öffnen,  so  wurde 
die  Empfindung  von  Scheinbewegung  des  eigenen  Körpers  unterdrückt 
und  auf  die  Gesichtsobjecte  in  der  früher  beschriebenen  Weise  über- 
tragen. Gleichzeitig  konnte  man  dann  Bulbusbewegungen,  wie  ich  sie 
oben  beschrieben  habe,  wahrnehmen,  von  diesen  hatte  aber  Niemand 
eine  subjective  Empfindung. 

Ein  Arzt  (Dr.  Heusner)  zeigte  Abweichendes.  Im  Momente  des  Ketten- 
schlusses (Anode  links)  sank  er  mit  dem  Kopfe  nach  links,  dann  wieder  nach 
rechts,  dann  nach  links  zurück,  und  so  dauerte  eine  pendelnde  Bewegung 
etwa  1  Minute  lang  an.  Dann  fing  sie  an,  trichterförmig  zu  werden  und  zwar 
derart,  dass  der  Kopf  an  der  vorderen  Peripherie  des  Trichters  von  rechts 
nach  links  bewegt  wurde.  Beim  Oeffnen  der  Augen  hörte  diese  Bewegung  so- 
fort auf,  gleichzeitig  war  eine  Empfindung  von  Schwindel  ohne  deutliche 
Scheinbewegung  der  Gesichtsobjecte  vorhanden.  Augenbewegungen  be- 
standen nicht.  Bei  Schluss  der  Augen  begann  die  trichterförmige  Bewe- 
gung sofort  wieder.  Eine  Wiederholung  des  Versuches  ergab  dasselbe  Resultat. 
—  Die  Aehnlichkeit  des  hier  vorhandenen  Verhaltens  der  Körpermuskulatur 
mit  dem  sonstigen  der  Augenmuskeln  bedarf  keiner  Erwähnung.  Ich  habe 
diesen  Reizeffect  nicht  wieder  produciren  können. 


—     362     — 

Brenner  (a.  <i.  0.)  hat  bei  seiner  Beschreibung  des  galvanischen 
Schwindels  das  Wanken  des  Kopfes  und  Körpers  nach  der  Anodenseite 
so  gut  wie  ausschliesslich  berücksichtigt.  Er  sagt  darüber  S.  76:  „Das 
Gefühl  —  —  —  besteht  in  der  Empfindung,  als  sei  die  Schwere  der 
einen  Körperhälfte  aufgehoben  und  als  falle  man  in  Folge  dessen  nach 
der  anderen  Seite."  Von  dem  Vorkommen  von  Scheinbewegungen  er- 
wähnt er  nichts,  obwohl  er  die  Benennungen  „Schwindel"  und  „Schwiu- 
delgefühl"  häufig  gebraucht.  Bei  der  Exactheit,  deren  sich  Brenner 
sonst  in  seinen  Angaben  bedient,  scheint  es  deswegen  so,  als  ob  ihm 
die  andere  Hälfte  der  Erscheinungen  von  Schwindel  entgangen  sei.  Die 
in  dem  Citat  beschriebene  Empfindung  stimmt  hingegen  mit  den  An- 
gaben meiner  Versuchspersonen  überein,  wenn  auch  in  jenem  Passus 
eine  ausreichende  Begründung  des  „Fallens  nach  der  anderen  Seite" 
nicht  enthalten  ist.  Ich  werde  noch  näher  ausführen,  wie  in  dieser 
Beziehung  die  Auffassung  der  fraglichen  galvanischen  Zwangsbewegung 
als  eine  unbewusst  willkürliche  —  nicht  aber  als  eine  passive  —  von 
grosser  Wichtigkeit  ist. 

Zunächst  aber  dürfte  als  Resultat  dieser  Versuche  festzuhalten  sein, 
dass  auch.bei  Ausfall  aller  optischen  Eindrücke  bestimmten 
Gesetzen  folgende  Scliwindelempfindungen  auftreten,  nur 
dass  dieselben,  anstatt  auf  die  Gegenstände  der  Aussenwelt, 
auf  den  eigenen  Körper  bezogen  werden.  Es  wird  hierdurch 
bereits  sicher  bewiesen,  dass  kein  unbedingtes  Abhängigkeitsverhält- 
niss  im  Sinne  der  (S.  355)  unter  1  gestellten  Frage  zwischen  den 
Schwindelempfindungen  und  den  durch  den  Galvanismus  hervorgebrachten 
abnormen  Augenstellungen  besteht.  Man  kann  ein  solches  jedoch  auch 
durch  einen  directen  Beweis  ausschliessen. 

Wenn  nämlich  eingewendet  würde,  dass  auch  beim  Carroussel- 
fahren  zur  Fixation  eines  ausserhalb  liegenden  Gegenstandes  Augen- 
bewegungen erforderlich  sind,  und  dass  die  zwangsweise  Production 
ähnlicher  Augenbewegungen  durch  den  Galvanismus  uns  bei  Aus- 
schluss optischer  Eindrücke  das  Erinnerungsbild  des  in  gleicher  Weise 
Bewegtwerdens  aufnöthigen  kann,  so  lässt  sich,  abgesehen  von  der  ihm 
sonst  innewohnenden  Unwahrscheinlichkeit,  dieser  Einwand  entkräften. 
Denn  eine  einfache  Ueberlegung  macht  ersichtlich,  dass  dann  die  Schein- 
bewegung bei  offenen  und  geschlossenen  Augen  jedesmal  eine  entgegen- 
gesetzte Richtung  haben  müsste.  Ich  hatte  oben  (S.  357)  die  nach 
der  Anodenseite,  nach  rechts  gerichtete  Bulbusbewegung  als  die  vom 
Galvanisiren  direct  abhängige  angesprochen.  Die  Scheinbewegung 
nach  links  sollte  entstehen  einmal  durch  die  vermöge  äusserer  Gewalt 
erfolgende  Verschiebung  der  Blicklinie  nach  rechts,   dann  in  Folge  von 


—     363     — 

Augenmuskelimpulsen,  welche  diesen  Effect  aufzuheben  streben,  also  die 
ßlicklinie  nach  links  wenden.  Wenn  ich  nun  in  einem  Carroussel  von 
rechts  nach  links  fahre,  so  werden  mir  die  Gegenstände  nach  rechts 
entrückt,  ich  muss  also,  um  zu  fixiren,  den  rechten  äusseren  und  den 
linken  inneren  Graden  vorwiegend  innerviren.  Demnach  würden  die 
beim  wirklichen  Carrousselfahren  vorhandenen  willkürlichen  Augen- 
bewegungen grade  die  entgegengesetzte  Richtung  haben,  als  diejenigen, 
welche  wir  beim  scheinbaren  Carrousselfahren  als  die  willkürlichen 
betrachteten,  insofern  als  die  letzteren  unter  der  vorausgesetzten  Ver- 
suchsanordnung die  Blicklinie  nach  links  wenden. 

Wollte  man  aber  annehmen,  dass  die  nach  der  Anode  gerichtete 
Bulbuswegung  die  willkürliche,  und  die  andere  die  vom  Galvanismus 
direct  abhängige  sei,  so  würde  sich  die  Richtung  der  Scheinbewegung 
(bei  offenen  Augen)  nach  der  Kathode  weder  durch  die  vermöge  äusserer 
Gewalt  hervorgebrachte  Verschiebung  der  Blicklinie,  noch  durch  die 
compensirenden  Muskelimpulse  erklären  lassen.  Denn  wenn  die  Biick- 
linie  durch  äussere  Gewalt  ohne  Dazwischentreten  von  Willensimpulsen 
nach  links  verschoben  wird,  so  kann  dies  wohl  eine  scheinbare  Be- 
wegung der  Objecto  nach  rechts,  nicht  aber  nach  links  bedingen, 
und  ebenso  würde  die  compensirende  Muskelinnervation,  insofern  sie 
dann  nach  rechts  gerichtet  wäre,  dem  Vorbeiführen  der  Gegenstände 
nach  derselben  Richtung  entsprechen. 

Unter  diesen  Umständen  kann  man  mit  Bestimmtheit  annehmen, 
dass  die  bei  geschlosseneu  Augen  eintretenden  Schwindelempfindungen 
mit  den  Augen  nichts  zu  thun  haben;  während  die  bei  offenen  Augen 
vorhandenen  Scheinbewegungen  der  Gesichtsobjecte  wohl  sicher  auf 
die  galvanischen  Zwangsbewegungen  des  Bulbus  zurückgeführt  werden 
müssen.  Mithin  wäre  die  erste  der  drei  aufgeworfenen  Fragen  dahin 
zu  beantworten,  dass  die  Schwindelempfindungen  in  ihrem 
optischen  Theile  Folge  der  galvanischen  Augenbewegungen 
sind.  — 

Was  nun  im  Allgemeinen  die  Uebertragung  der  Scheinbewegung 
bald  auf  die  Ausseuwelt,  bald  auf  den  eigenen  Körper  betrifft,  so  ist 
es  bekannt,  dass  Irrthümer  bei  der  Bestimmung,  ob  ein  Körper  sich 
wirklich  bewegt,  überall  da  zu  den  häufigsten  Vorkommnissen  gehören, 
wo  die  Erfahrung  uns  nicht  durch  Bezugnahme  auf  genau  bekannte 
Verhältnisse  weiterhilft.  Wenn  wir  z.  B.  auf  einer  Eisenbahnfahrt  in 
einem  Bahnhofe  angelangt,  den  auf  einem  parallelen  Geleise  befind- 
lichen Train  durch  das  Fenster  betrachten,  und  einer  der  beiden  Züge 
geräth  in  langsame  Bewegung,  so  täuschen  wir  uns  ungemein  häufig 
in  der  Bestimmung  dessen,  welcher  sich  wirklich   bewegt.      Fast  regel- 


—     364     — 

massig  glaubeil  wir  dann  selbst  bewegt  zu  werden,  wenn  unser  Nachbar 
seine  Fahrt  beginnt.  Selbst  die  Reflection  darüber,  dass  wir  keine 
Stösse  erhalten,  hilft  über  diese  Täuschung  nicht  hinweg.  Erst  das 
bewusste  Zusammenhalten  unserer  eigenen  Stellung  und  der  unseres 
Nachbars  mit  derjenigen  von  uns  als  unverrückbar  bekannten  Körpern 
belehrt  uns  über  die  Wahrheit.  In  dieser  Weise  wirkt  z.  B.  die  Be- 
trachtung von  Telegraphenstangen  durch  die  sich  corres])ondirenden 
Fensteröffnungen. 

Es  ist  also  für  die  richtige  Deutung  einer  beschränkten  Anzahl 
sinnlicher  Eindrücke  erforderlich,  dass  wir  in  den  Stand  gesetzt  werden, 
dieselben  in  unser  anderweitig  gebildetes  System  von  Erfahrungen  ein- 
zureihen. Ist  dies  aber  nicht  der  Fall,  so  befinden  wir  uns  für  die 
Auffassung  der  gegebenen  Zahl  sinnlicher  Eindrücke  in  absoluter  Ab- 
hängigkeit von  den  Ideenassociationen,  welche  die  eigenthümliche 
Gruppirung  der  im  concreten  Falle  gegebenen  siiuilichen  Eindrücke  in 
uns  wachruft  und  mit  deren  auch  nur  theilweiser  Veränderung  unsere 
Vorstellung  von  dem  wirklichen  Vorgange  gänzlich  umgeformt  werden 
kann.  Helmholtz,  der  in  seiner  physiologischen  Optik  diesen  Gegen- 
stand, in  soweit  er  die  Gesichtswahrnehmungen  betrifft,  an  mehreren 
Orten  mit  der  ihm  eigenen  Klarheit  behandelt,  äussert  sich  S.  632  über 
den  Einfluss  derartiger  Ideenassociationen  in  folgender  Weise:  „Diese 
Art  der  Association  der  Vorstellungen  geschieht  nicht  willkürlich, 
sondern  wie  durch  eine  blinde  Naturgewalt,  wenn  auch  nach  den  Ge- 
setzen unseres  eignen  Geistes  und  sie  tritt  deshalb  in  unseren  Wahr- 
nehmungen ebensogut  als  eine  äussere,  uns  zwingende  Macht  auf,  wie 
die  von  aussen  kommenden  Eindrücke." 

Wenn  wir  diese  Betrachtungen  auf  die  den  beiden  Formen  des 
galvanischen  Versuches  entsprechenden  Schwindelempfindungen  an- 
wenden, so  ergiebt  sich,  wie  mir  scheint,  zwanglos  eine  einfache  und 
befriedigende  Erklärung  der  einen  und  der  anderen. 

Vergessen  wir  jedoch  nicht,  dass  bei  den  zwei  vorliegenden  Formen  die 
Aufgabe,  zu  bestimmen,  welcher  von  zwei  Körpern  sich  wirklich  bewegt,  in 
dem  einen  Falle  genau  genommen  eigentlich  gar  nicht  gestellt  werden  kann. 
Bei  der  Scheinbewegung  der  Gesichtsobjecte  handelt  es  sich  allerdings  um 
wirkliche  Bewegungen  der  Augen.  Das  ist  aber  bei  der  Scheinbewegung  des 
eigenen  Körpers  insofern  nicht  der  Fall,  als  die  beim  galvanischen  Versuche 
eintretende  reale  Bewegung  nach  der  Anode  nicht  ein  mit  dem  ersten  Mo- 
mente der  Scheinbewegung  gleichzeitiger  Act,  sondern  erst  eine  Consequenz 
der  letzteren  ist.  Es  wird  also  der  sonst  bei  der  zu  lösenden  Aufgabe  wirklich 
vorhandenen  Bewegung  eine  scheinbare  Bewegung  von  vorn  herein  substituirt. 

Unsere  Vorstellungen    über  das  Verhalten    des   eigenen  Körpers  im 


—     365     — 

Räume  und  zu  den  einzelnen  anderen  Objecten  des  Raumes  werden 
durch  die  Function  einer  ganzen  Reihe  verschiedenartiger  Organe  ge- 
bildet, verändert  und  gefälscht.  Wir  beschäftigten  uns  schon  mehrfach 
mit  den  Verhältnissen,  welche  den  Sehapparat  betreffen.  Indessen  ist 
es  ersichtlich,  dass  diesem  die  gedachte  Function  nicht  allein  zukommt. 
Ich  will  nicht  von  dem  eigenthümlichen  Zusammenhange  der  halb- 
cirkelförmigen  Kanäle''')  mit  der  Erhaltung  des  Gleichgewichtes  sprechen, 
aber  wir  wissen,  dass  die  durch  Erregungen  der  sensiblen  Hautnerven 
und  durch  die  Zustände  der  gesammten  willkürlichen  Muskulatur  ge- 
bildeten Vorstellungen  in  einer  ähnlichen  Weise  wie  die  Gesichfsbilder 
zur  Formation  der  Ges'  mmtvorstellung  unseres  räumlichen  Seins  ver- 
werthet  werden.  Dabei  macht  sich  jedoch  ein  bemerkenswerther  Unter- 
schied zwischen  diesen  beiden  Arten  der  Perception  geltend.  Die  opti- 
schen Wfthrnehnmngen  vermögen  uns  mit  einem  Schlage  das  Gesammt- 
bild  des  Verhaltens  einer  grossen  Zahl  von  Gegenständen  zu  einander 
und  zu  uns  selbst  zu  entrollen,  während  das  Geraeingefi^ihl  uns  im 
Wesentlichen  nur  die  Zustände  des  eigenen  Körpers  abspiegelt,  und 
daran  nur  wenige  Eindrücke  der  sich  im  unmittelbarsten  Contacte  mit 
iluii  befindenden  anderen  Körper  anreiht. 

Aus  diesem  Grande  haben  wir  uns  gewöhnt,  den  vom  Auge  her- 
rührenden Sinneserregungen  bei  unserer  Orientirung  einen  bestimmenden 
Einfluss  zu  lassen,  und  folgerecht  werden,  wenn  Störungen  des  ge- 
sammten Orientirungsapparates  vorkommen,  dieselben  mit  Vorliebe  auf 
Gesichtseindrüeke,  d.  h.  auf  die  Gegenstände  der  Aussenwelt  bezogen 
werden,  wenn  auch  die  Störung  in  deren  Bereiche  für  den  concreten 
Fall  vielleicht  nur  eine  untergeordnete  Rolle  spielt.  So  ist  das  Fehlen 
der  deutlichen  Perception  von  Scheinbewegung  des  eigenen  Körpers 
bei  offenen  Augen  zu  erklären. 

Fallen  die  optischen  Eindrücke  indessen  gänzlich  fort  wie  bei  ge- 
schlossenen Augen  und  bei  Blinden,  so  ist  das  Sensorium  plötzlich 
auf  die  übrigen  zur  Orientirung  dienenden  Mechanismen  allein  an- 
gewiesen, und  nun  wird  die  Summe  der  von  ihnen  herrührenden  Er- 
regungen dieselbe  zwingende  Macht  über  die  Bildung  unserer  räum- 
lichen Vorstellungen  erhalten,  wie  sie  vordem  den  Augen  mit  ihrem 
lichtempfindenden  und  muskulösen  Apparate  zukam.  Da  diese  Er- 
regungen aber  sämmtlicli  Folgezustände  des  Verhaltens  unseres  eigenen 
Körpers  sind,  so  wird  eine  Fälschung  in  der  Perception  dieser  Zu- 
stände nothwendiger  Weise    wieder    auch    nur   auf  den  eigenen  Körper 


*)   Vergl.  hierzu  die  Anmerk.  32. 


—     366     — 

übertragen  werden  können,  d.  h.  als  eine  Bewegung  des  eigenen  Körpers 
gedeutet  werden  müssen.  — 

Nachdem  wir  so  unsere  Auffassung  des  grösseren  Theiles  der  vor- 
handenen vSchwindelempfindungen  im  Allgemeinen  dargelegt  haben, 
schreiten  wir  zu  speciellerer  Beleuchtung  der  objectiv  wahrnehmbaren 
Bewegungen.  Wir  sahen,  dass  bei  der  Kettenschliessung  Kopf  und 
Körper  nach  der  Anode  schwanken.  Der  Selbstbeobachtung  fähige  Per- 
sonen haben  dabei  auf  das  Bestimmteste  die  Empfindung,  als  wenn  sie 
in  jedem  Augenblicke  nach  der  Kathode  versänken  oder  gedreht  würden, 
als  wenn  sie  auf  jener  Seite  leichter  würden.  Eine  derartige  Empfiü- 
dung  kann  im  gegebenen  Falle  nur  dadurch  entstehen,  dass  ein  fremder 
Factor  in  den  Apparat  eingeführt  wird,  welcher  dem  Sensorium  Nach- 
richten von  dem  Zustande  der  Gesammtmuskulatur  zuführt,  mit  einem 
Worte,  dass  das  iVluskelgefühl  gefälscht  wird. 

Man  kann  sich  den  hier  ablaufenden  Empfindungs-  und  Bewegungs- 
vorgang sehr  wohl  dadurch  klar  machen,  dass  man  sich  der  Vorgänge 
erinnert,  weiche  stattfinden,  wenn  man  sich  auf  einen  Stuhl  setzt,  dessen 
zwei  rechte  Beine  auf  festem  Rasen  und  dessen  zwei  linke  Beine  auf 
losem  Sande  stehen.  Im  Momente  des  Niedersetzens  versinken  die  lin- 
ken Beine  in  den  losen  Sand  und  der  Körper  macht  eine  unwillkürliche 
—  besser  unbewusst  willkürliche  —  Bewegung  nach  rechts,  um  das 
Gleichgewicht  aufrecht  zu  halten. 

Diese  Bewegung  wird  dadurch  ausgelöst,  dass  die  sämmtlichen  zur 
Fixation  des  Körpers  dienenden  Muskeln  der  linken  Körperhälfte  in  dem 
Momente,  wo  der  Stuhl  versinkt  und  das  Gesäss  also  nicht  unterstützt 
ist,  in  Unthätigkeit  gesetzt  werden  und  die  Empfindung  ihrer  momentan 
aufgehobenen  Arbeitsleistung  dem  das  Gleichgewicht  aufrecht  erhalten- 
den Central  Organe  übermittelt  wird. 

Bei  dem  galvanischen  Versuche  ist  nun  dieselbe  Empfindung  des 
Versinkens  des  Stuhles  nach  der  Kathode,  mit  anderen  Worten  der  ge- 
ringeren Arbeitsleistung  der  entsprechenden  Muskeln  vorhanden,  während 
den  letzteren  gleichwohl  die  mechanischen  Bedingungen  zur  ungestörten 
Weiterleistung  der  bisherigen  Arbeit  nicht  entzogen  sind  und  dieselben 
allerdings  auch  noch  in  dem  Momente  der  eintretenden  Sinnestäuschung 
die  normale  Arbeit  leisten.  Nach  den  angeführten  Versuchen  und  den 
daran  geknüpften  Erwägungen  muss  nothwendigerweise  angenommen 
werden,  dass  die  in  Rede  stehende  Kette  von  Empfindung  und  Bewe- 
gung durch  eine  eigenthüniliche,  je  nach  der  einwirkenden  Elektrode 
verschiedene  Beeinflussung  der  cerebralen  Vorgänge  hervorgebracht 
wird. 

Halten  wir  zunächst  nur  den  wahrnehmbaren  Effect  dieser  indirec- 


—     367     — 

ten  Beeinflussung  der  Körpernuiskiilutur  noch  einmal  mit  dem  zusammen, 
was  wir  au  den  Augen  walirnehmeu,  so  kommen  wir  wieder  auf  den 
oben  schon  angedeuteten  Umstand  zurück,  dass  nicht  nur  die  Muskuhi- 
tur  des  Körpers,  sondern  auch  die  der  Augen  unter  dem  Einflüsse  des 
Galvanismus  derart  veränderte  Impulse  erhält,  dass  die  Medianeljenen 
beider  nach  der  Anode  geneigt  werden,  während  eine  angemessene  Ver- 
stärkung des  Reizes  der  entgegengesetzten  Bewegung,  was  die  Augen 
angeht,  zur  Herrschaft  verhilft.  Danach  scheint  mir  die  Annahme  sehr 
nahe  zu  liegen,  dass  die  eine  der  beiden  Augenbewegungen  auf 
einer  ähnlichen  Beeinflussung  eines  centralen  Organ  es  für 
die  gemeinsame  Augenmuskelinnervation  beruht,  wie  ich 
dies  soeben  für  die  übrige  willkürliche  Muskulatur  nachzu- 
weisen mich  bemühte.  Das  würde  also  eine  Abschwächung  der 
Wahrnehmung  von  der  Arbeitsleistung  aller  derjenigen  Muskeln  bedeu- 
ten, welche  die  Angen  in  der  einen  von  beiden  Richtungen  bewegen. 

Es  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  diesen  Deutungsversuchen  sich  eine 
Menge  von  Schwierigkeiten  entgegenstellen,  welche  zur  Vorsicht  im 
Ausdrucke  mahnen.  Eine  dieser  Schwierigkeiten  liegt  eben  darin,  dass 
bei  starken  Strömen  der  ganze  Mensch  nach  rechts,  die  Augen  aber 
nach  links  gezogen  werden.  Man  kann  dies  in  folgender  Weise  er- 
klären. Diejenigen  Muskeln,  welche  das  Auge  nach  links  drehen,  haben 
einen  gemeinschaftlichen  Innervationsheerd,  und  correspondiren  rück- 
sichtlich dessen  Lage  der  linksseitigen  Körpermuskulatur.  Die  physio- 
logische Berechtigung  zu  dieser  Annahme  ist  nach  den  Untersuchungen 
von  Adamück'''),  denen  ich  Aehnliches  beweisende  eigene  Erfahrungen 
anreihen  kann,  vollkommen  vorhanden.  Nach  Adamück  dreht  der 
rechte  vordere  Vierhügel  beide  Augen  nach  links,  und  der  linke  beide 
Augen  nach  rechts.  Selbstverständlich  ist  damit  die  Möglichkeit  nicht 
ausgeschlossen,  dass  die  gleiche  Verknüpfung  der  coordinirten  Function 
noch  in  mehr  central  gelegenen  Hirnbezirken  stattfindet.  Jedenfalls 
geht  aber  daraus  hervor,  dass  eine  Centralstelle  für  die  Drehung  des 
(Hering'schen)  Doppelauges  nach  links  auf  derselben  Seite  zu 
suchen  ist,  wie  die  Innervationsstätte  der  übrigen  linksseitigen  Musku- 
latur, nämlich  reclits,  und  dass  folglich  diese  beiden  Centra  unter  die 
Einwirkung  derselben  Elektrode  fallen. 

Hieraus  entstehen  zwei  Fragen:  1.  wie  es  denn  zugeht,  dass  durch 
die  gleiche  Art  der  Einwirkung  die  Körpermuskulatur  veranlasst  wird, 
den  Körper  nach  rechts,  und  die  Augenmuskulatur  die  Augen  nach 
links  zu  drehen:    denn  die  aus  dem   Donders-Listine;'schen  Gesetze 


*)  Adamück,  Centralbl.  für  die  medicinischen  Wissenschaften,  1870,  5. 


—     368     — 

abgeleitete  Erklärung  reicht  selbstverständlich  keineswegs  für  das  U eber- 
wieg en  der  nach  links  gerichteten  Bewegung  aus;  —  2.  woher  die 
andere  Augeubewegung  rührt,  welche  die  Bulbi  nach  der  Anode,  nach 
rechts  dreht? 

Die  Beantwortung  der  ersten  Frage  lässt  sich  aus  der  Verschieden- 
artigkeit der  Aufgabe  ableiten,  welche  den  beiden  zu  vergleichenden 
Muskelsystemen  obliegt.  Die  Körperrauskulatur  hat  den  Körper  im 
Gleichgewichte  zu  erhalten.  Bei  einem  wirklichen  oder  scheinbaren 
Verluste  des  Gleichgewichtes  werden  deshalb  von  dem  das  Gleichgewicht 
regulirenden  Centralorgane  solche  Motoren  mit  einem  Reizzuwachse  ver- 
sehen, welche  die  Störung  auszugleichen  geeignet  sind.  Diese  müssen 
aber  keineswegs  der  Körperhälfte  angehören,  nach  der  die  Störung, 
event.  die  zu  geringe  Arbeitsleistung  durch  die  Empfindung  projicirt 
wird,  und  sie  gehören  ihr  auch  im  vorliegenden  Falle  nicht  an.  Denn 
weil  wir  nach  links  zu  fallen  glauben,  werfen  wir  uns  durch  stärkere 
Innervation  der  rechten  Seite  nach  rechts. 

Bei  den  Augen  liegt  die  Sache  ganz  anders.  Wenn  hier  dem  Cen- 
tralorgane für  die  richtige  Vertheilung  der  Impulse  durch  die  Anode 
künstlich  der  Eindruck  beigebracht  wird,  dass  eine  Muskelgruppe  eine 
ungebührlich  geringe  Arbeit  leistet,  so  erwächst  ihm  dadurch  nicht  die 
Aufgabe,  etwa  das  Fallen  des  Auges  nach  der  Seite  dieser  Muskel- 
gruppe, soudern  vielmehr  die  Drehung  nach  der  der  Antagonisten  zu 
verhindern.  Das  gedachte  Centralorgan  wird  also  den  anscheinend 
trägen  Muskeln  stärkere  Impulse  als  die  erforderlichen  zuwenden,  und 
dadurch  das  Auge  nach  ihrer  Seite,  nach  der  Kathode,  nach  links  drehen. 
Bis  hierher  wäre  die  Erklärung  ziemlich  einfach. 

Die  Beantwortung  der  anderen  Frage,  welcher  Ursache  die  nach 
der  Anode  gerichtete  Bulbusbewegung  zuzuschreiben  ist,  verlangt  bei 
Weitem  grössere  Concessionen  an  die  Hypothese.  Durch  die  Einwir- 
kung der  anderen  Elektrode  auf  das  symmetrische  Organ  der  anderen 
Seite  lässt  sich  nichts  Weiteres  als  das  bisher  Gefundene  erklären; 
denn  man  würde  in  dieser  Beziehung  nur  zu  dem  Schlüsse  berechtigt 
sein,  dass  diese  Elektrode  dem  Gleichgewichtsorgane  eine  vergrösserte 
Arbeitsleistung  der  antagonistischen  (rechtsseitigen)  Augenmuskulatur 
vortäuscht  und  dadurch  einen  schwächer  zugemessenen  Impuls  auslöst. 
Dies  würde  aber  wiederum  nur  einer  Augeubewegung  nach  links  ent- 
sprechen. 

Es  bleibt  nichts  übrig,  als  dass  man  entsprechend  der  doppelten 
Art  der  Augenbewegung,  welche  in  zwei  Zeiten  fällt,  auch  einen  zwei- 
zeitigen Vorgang    im  Gehirne    annimmt,    welcher    sich    abwechselnd   in 


—     369     — 

zwei  Organen  von  verschiedener  Function  abspielt,  oder  vielmehr  in 
einem  Systeme,  wo  eine  Verknüpfung  beider  Organe  stattfindet. 

Die  Function  zur  Aufrechterhaltung  des  Gleichgewichtes  ist  als  eine 
Art  continuirlichen  Reflexvorganges  aufzufassen,  bei  dem  gewisse,  durch 
das  Verhältniss  der  Leistung  der  Körpermuskulatur  bedingte  Reize  zu 
einem  Centralorgane  geleitet  werden,  und  in  diesem  als  Reflex  die  zur 
äquilibrirten  Haltung  des  Körpers  zweckmässige  Vertheilun'g  der 
motorischen  Innervation  auslösen.  Dass  dieses  Ceutralorgan  mit  dem 
der  psychischen  Fähigkeiten  nicht  identisch  ist,  beweisen  die  schönen 
Versuche  von  Flourens  und  Goltz.  Wenn  Flourens  Thieren  das 
Gehirn  mit  Ausnahme  des  Cerebellum  nahm,  hielten  sie,  selbst  bei 
durch  Reize  ausgelösten  Ortsbewegungen,  das  Gleichgewicht  aufrecht. 
Nahm  er  ihnen  indessen  dieses  Organ,  so  war  die  Harmonie  der  Be- 
wegungen dahin.  (Nach  den  Versuchen  von  Goltz  scheint  das  Cere- 
bellum sich  in  diese  Function,  mindestens  beim  Frosch,  mit  den  Lobis 
opticis  zu  theilen.)  Es  geht  daraus  hervor,  dass  die  Dazwischenkunft 
psychischer  Thätigkeit  zur  Aufrechterhaltung  des  Gleichgewichtes  wenig- 
stens bei  diesen  Thieren  nicht  erforderlich  ist. 

Andererseits  ist  es  aber  klar,  dass  die  psychischen  Thätigkeiten 
—  der  "Wille  —  mit  grosser  Macht  in  die  Verrichtungen  des  Gleich- 
gewichtsorgans einzugreifen  vermögen.  Eine  Ballettänzerin  gelangt  durch 
üebung  dahin,  ihren  Körper  in  Stelhuigen  zu  bringen  und  zu  erhalten, 
bei  denen  der  Schwerpunkt  so  wenig  als  möglich  unterstützt  ist,  und 
die  von  der  Natur  gewiss  nicht  vorgesehen  wurden.  Selbst  der  ab- 
gerichtete Pudel  erlangt  in  diesen  Kunststücken  eine  nicht  zu  unter- 
schätzende Fertigkeit. 

Wenn  nun  auch  bei  denjenigen  Stellungen  und  Haltungen,  welche 
dem  ungekünstelten  Hergang  der  Dinge  eigen  sind,  der  Eingriif  des 
Willensorgans  in  das  Ressort  des  Gleichgewichtsorgans  weniger  in  die 
Augen  springt,  so  wird  doch  wohl  Niemand  annehmen  wollen,  dass 
diese  beiden  Maschinerien  in  dem  unversehrten  Organismus  unabhängig 
die  eine  von  der  anderen,  neben  einander  arbeiteten,  etwa  wie  das 
Kleinhirn  in  dem  seines  Grosshirns  beraubten  Thiere.  Man  wird  viel- 
mehr bei  allen  Bewegungsvorgäugen,  auch  bei  solchen,  die  scheinbar 
ohne  den  Willen  zu  Stande  kommen  —  und  die  ich  deshalb  in  dieser 
Abhandlung  schon  mehrmals  unbewusst  willkürliche*)  nannte  —  eine 
Concurrenz  des  Willensorgans  anzunehmen  haben. 


*)  Dieser  Ausdruck  ist  nach  der  Anologie  des  von  (Kant)  Helmholtz 
eingeführten  —  unbewusster  Schluss  —  gebildet. 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     I.  Theil.  24 


—     370     — 

Wenn  nun  das  eigentliche  Seelenorgaa,  unter  dem  ich  das  Organ 
der  höheren  psychischen  Functionen  verstehe,  einen  Einfluss  auf  das 
Gleichgewichtsorgan  ausüben  soll,  so  muss  nothwendigerweise  ein  mate- 
rieller Zusammenhang  zwischen  beiden  durch  irgend  welche  Leitungs- 
bahnen existiren,  und  es  muss  dann  auch  die  Möglichkeit  vorliegen, 
an  dem  Orte,  wo  diese  Leitungsbahnen  sich  mit  dem  Gleichgewichts- 
organe verbinden,  beide  gemeinschaftlich  zu  beeinflussen.  Ja,  es  ist 
sogar  im  höchsten  Grade  wahrscheinlich,  dass,  wenn  es  gelänge,  das 
Seelenorgan  in  einer  ähnlichen  Weise  direct  zu  beeinflussen,  wie  wir 
es  nach  dem  Inhalte  dieser  Abhandlung  mit  dem  Gleichgewichtsorgane 
unzweifelhaft  vermögen,  dass  man  diese  Beeinflussung  an  der  Function 
des  Gleichgewichtsorgans  würde  nachweisen  können.  Ich  lasse  dies 
dahingestellt  sein. 

Nehmen  wir  nun  an,  dass  die  dem  Gleichgewichtsorgane  von  dem 
Seeleiiorgane  zuströmenden  Erregungen  beiderseits  eine  gleiche  Reiz- 
grösse  haben,  so  wird  der  Reizeffect  selbstverständlich  verändert 
werden,  wenn  ich  an  einer  Stelle  der  Leitungsbahn  die  Erregbarkeit 
dieser  selbst  einseitig  verändere.  Wenn  demnach  das  Doppelauge  durch 
ein  linksseitiges,  unter  der  Herrschaft  des  Gleichgewichtsorgans  stehen- 
des Centralorgan  nach  rechts  gedreht  wird,  und  ich  vermag  durch 
einen  fremden  Factor  die  Erregbarkeit  der  hier  von  dem  Willensorgane 
aus  einmündenden  Bahnen  zu  erhöhen  (resp.  die  Erregbarkeit  der  anta- 
gonistischen Bahnen  einseitig  oder  gleichzeitig  zu  erniedrigen),  so  ist 
es  klar,  dass  die  Function  des  nach  rechts  Drehens  mit  dem  Momente 
der  Einführung  dieses  Factors  anwachsen  wird.  Kann  man  also  den 
Beweis  führen,  dass  die  angewendete  Elektrisationsmethode  ihren  ander- 
weitig bekannten  Eigenschaften  nach  im  Stande  ist,  die  vorausgesetzten 
Erregbarkeitsveränderungeu  hervorzubringen,  so  lässt  sich  die  Möglich- 
keit nicht  in  Abrede  stellen,  dass  die  Drehung  nach  rechts  auf  dem 
angenommenen  Wege  erfolgt.  Etwas  direct  dagegen  Sprechendes  wird 
mir  nicht  ersichtlich;  ebensowenig  ist  aber  ein  directer  Beweis  geliefert, 
dass  dem  wirklich  so  sei.  Die  Methode  besitzt  wenigstens,  wie  oben 
(S.  253  f.)  gezeigt  worden  ist,  die  von  ihr  verlangten  Eigenschaften  in 
der  That.  Gleichwohl  muss  dieser  Erklärungsversuch  vorläufig  als 
reiner  Nothbehelf  betrachtet  werden.  Wenn  nachgewiesen  würde,  dass 
die  eigenthümliche  Wirkung  der  Pole  die  Hirnsubstanz  nicht  unmittel- 
bar, sondern  vielmehr  durch  Vermittelung  anderer  Factoren  angreift, 
so  müsste  dieser  Erklärungsversuch  bereits  modificirt  werden.  ^^^ 

Fassen  wir  das  an  den  einzelnen  Stellen  dieser  Abhandlung  über 
den  galvanischen  Nystagmus  Gesagte  zusammen,  so  würde  sich  folgende 
Erklärung  ergeben.     Im  Momente    des  Kettenschlusses  wird   der 


—     371     — 

Einfluss  des  Willeusorganes  auf  das  Organ,  welches  die 
gleichmässige  Vertheilung  der  Augenmuskelimpulse  regelt, 
linksseitig  künstlich  gesteigert,  rechtsseitig  herabgesetzt. 
In  Folge  dessen  erfolgt  eine  Augendreliung  in  der  Zugrich- 
tung der  rechtsseitigen  Muskulatur  des  Doppelauges.  Unter- 
dessen ist  aber  in  dem  Gleichgewichtsorgane  selbst  der  Ein- 
druck verminderter  Arbeitsleistung  der  linksseitigen  Augen- 
muskulatur derart  angewachsen,  dass  er  verstärkte  Impulse 
in  den  betreffenden  Nervenbahnen  auslöst,  d.  h.  also  das 
Auge  wieder  nach  links  dreht.  —  Die  Grösse  dieses  Ein- 
druckes kann  durch  das  Zusammenwirken  verschiedener 
Factoren  bedingt  werden:  nämlich  1)  direct  durch  den  Gal- 
vanismus;  2)  durch  in  der  That  geringere  Arbeitsleistung 
die  mit  Verschiebung  des  Auges  in  entgegengesetzter  Rich- 
tung in  die  Erscheinung  tritt;  3)  durch  unbestimmte,  ab_ 
norme  Muskelempfindungen,  die  durch  abweichend  vom 
Donders-Listing'schen  Gesetz  erfolgende  Raddrehungen  aus- 
gelöst werden. 

Man  kann  annehmen,  dass  der  die  Augen  nach  links  drehende 
Bewegungsimpuls  dem  Willensorgane  Seitens  des  Gleichgewichtsorganes 
abgefordert  wird.  In  diesem  Falle  würde  derselbe  wesentlich  zur 
Bildung  der  Scheinbewegung  der  Gesichtsobjecte  beitragen.  Man  wird 
aber  durch  die  bisherigen  Untersuchungen  nicht  verhindert,  anzunehmen, 
dass  der  fragliche  Bewegungsimpuls  durch  das  Gleichgewichtsorgan 
selbst  vermittelst  einer  ihm  innewohnenden  Regulationskraft  hervor- 
gebracht wird.  In  diesem  Falle  würde  die  Scheinbewegung  der  Gesichts- 
objecte vielleicht  lediglich  auf  die  olme  Dazwischentreten  von  Willens- 
impulsen  erfolgende  Verschiebung  der  Gesichtslinie  zu  beziehen  sein. 
Wahrscheinlicher  ist  die  erste  Annahme,  da  man  bei  dem  sich  an  der 
Körpermuskulatur  abspielenden  analogen  Vorgange  die  Empfindung  der 
willkürlichen  Bewegung  hat.  Dass  man  diese  Empfindung  an  der 
Augennmskulatur  nicht  hat,  erklärt  sich  insofern  aus  dem  normalen 
Verhalten,  als  die  Muskelempfindung  bei  nicht  ermüdeten  Muskeln  eine 
Function  der  bewegten  Last  und  der  erfolgten  Verkürzung  ist,  und 
beide  bei  nicht  excessiven  Augenbewegungen  nur  geringe  Werthe 
besitzen. 

Für  dieses  Verhalten  ist  es  sehr  charakteristisch,  dass  ein  Streit  zwischen 
namhaften  Gelehrten  darüber  möglich  ist,  ob  bei  gewissen  optischen  Erschei- 
nungen ßulbusbewegungon  vorhanden  sind  oder  nicht. 

Es  hat  nach  unseren  Anschauungen  nun  nichts  Befremdendes 
mehr,    dass    die    galvanischen  Augenbewegungen    in    einem    rhythmi- 

24* 


-^     372    .^ 

sehen  Typus  auftreten.  Die  Function  der  Gleichgewichtsreguliruug 
steht  ihrer  physiologischen  Dignität  nach  etwa  in  der  Mitte  zwischen 
Reflex-  und  automatischen  Bewegungen.  Bei  den  Letzteren  ist  rhyth- 
mischer Typus  die  Regel  und  selbst  der  continuirliche  Typus  wird 
von  der  Mehrzahl  der  Physiologen  als  eine  Art  aus  dem  Rhythmus 
hervorgegangener  Tetanus  aufgefasst.  Es  ist  klar,  dass  ein  sich  in 
jedem  Augenblicke  reproducirender  Reflex  Vorgang  ebenfalls  je  nach  der 
Schnelligkeit  in  der  Aufeinanderfolge  der  einzelnen  Reize  und  der 
Grösse  der. zu  überwindenden  Widerstände  alle  Modalitäten  des  Rhyth- 
mus bis  zu  einer  continuirlichen  Bewegung  veranschaulichen  kann. 
"Wenn  man  sich  nun  vorstellt,  dass  eine  bestimmte,  intermediäre  Augen- 
stellung durch  die  Einwirkung  einer  bestimmten  Zahl  von  Siunes- 
eindrücken  auf  einem  dem  Reflexe  ähnlichen  Wege  ausgelöst  wird,  so 
ist  damit  schon  ausgesprochen,  dass  jede  Verminderung  in  dem  Maass 
jener  Sinneseindrücke,  oder  der  in  den  betretenen  Bahnen  vorhandenen 
Widerstände  eine  Aenderung  des  durch  die  gegebene  Augenstellung 
repräsentirten  Bewegungstypus  setzen  kann.  L.  Herrmann*)  gebraucht 
(nach  Rosenthal)  ein  sehr  gutes  Bild  um  den  Rhythmus  automatischer 
JBeweguugen  zu  erklären.  „Die  dadurch  (continuirliches  Freiwerden 
von  Kräften)  bewirkte  Erregung  der  Nervenfaser  braucht  indess  deshalb 
nicht  continuirlich  zu  sein;  denkt  man  sich  nämlich,  dass  die  frei- 
werdenden Kräfte  einen  gewissen  Widerstand  zu  überwinden  haben, 
ehe  sie  auslösend  auf  die  Nervenfaser  wirken  können,  so  ist  die  Folge, 
dass  sie  sich  jedesmal  vorher  bis  zu  einer  gewissen  Spannung  auf- 
speichern müssen,  ähnlich  wie  ein  continuirlich  durch  eine  Röhre  unter 
Wasser  geleitetes  Gas  in  diesem  nicht  continuirlich,  sondern  inter- 
mittirend  in  Blasen  von  einer  gewissen  Grösse  aufsteigt,  in  dem  es 
sich  in  der  Röhre  jedesmal  bis  zu  einem  Drucke  ansammelt,  welcher 
hinreicht,  den  Widerstand  der  Cohäsion  des  Wassers  zu  überwinden." 
Ich  habe  in  dem  Capitel  IV  auf  das  Evidenteste  nachgewiesen, 
dass  im  gegebenen  Falle  der  Galvanismus  in  der  That  eine  Rolle  spielt, 
welche  der  des  Gases  in  dem  angeführten  Bilde  ungemein  ähnlich  ist. 
Auch  der  Galvanismus  wirkt  in  der  Art  einer  vor  sich  gehenden  Suni- 
mirung  von  Reizen,  —  zeitlich  zusammenfallend  mit  Drehung  nach 
der  einen  Seite  —  die  von  Zeit  zu  Zeit  von  einer  Entladung  —  Drehung 
nach  der  anderen  Seite  —  unterbrochen  wird.  Je  stärker  der  Reiz,  um 
so  schneller  ist  die  erforderliche  Summe  erreicht,  um  so  schneller  er- 
folgen die  einzelnen  Entladungen.     So  erklärt  sich  die  zunehmende  Ge- 


*)  L.  Herr  mann,   Grundriss  der  Physiologie.    2.  Aufl.    Berlin  1867. 


—     373     — 

schwindigkeit  des  Rhythmus  bei  Vergrösseruiig  der  galvanischen 
Kette.  — 

Wir  hatten  oben  S.  363  die  erste  der  drei  aufgeworfenen  Fragen 
dahin  beantwortet,  „dass  die  Schwindelenipfindungen  in  ihrem 
optischen  Theile  Folge  der  galvanischen  Augenbewegungen 
sind."  Nach  den  S.  365  ff.  gegebenen  Auseinandersetzungen  können 
wir  diese  Antwort  jetzt  dahin  vervollständigen,  dass  die  andere 
Hälfte  der  Schwindelenipfindungen,  insofern  sieden  eigenen 
Körper  betreffen,  von  einer  directen  Beeinflussung  des  Gleich- 
gewichtsorganes  abhängt.*) 

Die  zweite  Frage  lautete:  Sind  die  unwillkürlichen  Augen- 
bewegungen eine  Folge  der  Schwindelempfindungen?  Wenn 
man  die  Schwindelempfindung  als  einen  durch  gestörtes  Muskelgefühl 
erzeugten  psychischen  Vorgang  definirt,  so  kann  man  die  nach  der 
Kathode  gerichtete  Bulbusbewegung  in  Folge  der  S.  367  f.  gegebenen 
Auseinandersetzungen  als  eine  innerhalb  dieses  Vorganges  ausgelöste 
Bewegung  betrachten,  ohne  dass  damit  behauptet  wäre,  dass  die  Aus- 
lösung erst  am  centralsten  Ende  der  Kette,  nämlich  da,  wo  die  räum- 
liche und  die  Bewegungsvorstellung  gebildet  wird,  einträte.  Vielmehr 
soll  nicht  ausgeschlossen  werden,  dass  dieselbe  nur  einer  Zwischen- 
station bedarf.  Demnach  kann  man  die  nach  der  Kathode  ge- 
richtete Bulbusbewegung  als  durch  gestörtes  Muskelgefühl  — 
Schwindel  —  auf  indirectem  Wege  hervorgebracht  auf- 
fassen. 

Es  muss  dem  Leser  überlassen  werden,  sich  ans  dem  Texte  der 
Abhandlung  selbst  ein  Urtheil  zu  bilden,  in  wie  weit  die  gestellten 
Fragen  jetzt  schon  einer  weiteren,  namentlich  einer  positiv  gehaltenen 
Beantwortung  fähig  sind.  In  jedem  Falle  dürfte  es  einleuchten,  dass 
die  von  uns  gegebeneu  Erklärungen  der  einzelnen  Reizeffecte  in  ähn- 
licher Weise  ineinandergreifen,  wie  die  normalen  Lebensäusserungen 
des  optischen  Apparates  und  des  Apparates  der  willkürlichen  Bewegung. 
So  wenig  wir  unsere  Anschauungen  also  auch  der  Ueberzeugung  des 
Lesers  aufdrängen  möchten,  so  sehr  scheinen  sie  uns  doch  durch  ein 
solches  Verhalten  gestützt  zu  werden. 

VI.    Schluss. 

Es  bleibt  uns  noch  übrig,  einige  Punkte  zu  besprechen,  welche  in 
dem  Rahmen  der  übrigen  Capitel  den  an  und  für  sich  schon  ver- 
wickelten Gegenstand  noch  weniger  übersichtlich  gemacht  hätten. 


*)   Vergl.  hierzu  die  Anmerk.  32. 


—     374     — 

1.  Ueber  den  Ort  der  Einwirkung  des  Galvanismus. 
Alle  Versuche  —  physiologische  wie  therapeutische  —  welche  am 
unversehrten  Organism  us  ausgeführt  werden,  am  meisten  aber  die  neuro- 
elektrischen  und  mit  ihnen  auch  die  vorliegenden,  sind  als  nicht  rein 
und  nicht  mit  der  wünschenswerthen  Durchsichtigkeit  ausgestattet,  zu 
betrachten.  Die  Scbutzlosigkeit  gegen  die  directe  und  indirecte  Ein- 
wirkung der  Reize  auf  mehrere  Organe  statt  nur  auf  eins,  verlangt 
immer  einige  Reserve  in  der  Beurtheilung  erzielter  Reizeffecte.  Nicht 
minder  verkehrt  als  die  Vernachlässigung  dieser  Reserve  würde  aber 
ein  Verfahren  sein,  welches  auf  den  alleinigen  Grund  der  Möglichkeit 
von  Fehlerquellen  dieselben  ohne  ausreichende  anderweitige  Begründung 
zu  Erklärungen  benutzen  wollte.  Meinerseits  will  ich  versuchen,  den 
von  mir  eingenommenen  Standpunkt,  soweit  es  im  Augenblicke  mög- 
lich ist,  zu  klären. 

Ich  zweifle  nicht,  dass  einige  Autoren  behaupten  werden,  die  ge- 
schilderten Reizeffecte  kämen  auf  dem  Wege  des  Reflexes  zu  Stande. 
In  dieser  Beziehung  ist  schon  so  Ungeheuerliches  geleistet,  dass  ich 
auch  meine  Versuche  einer  gleichartigen  Erklärung  für  zugänglich 
halten  muss.  Da  ich  mir  indessen  nicht  vorstellen  kann,  wie  das  etwa 
gemacht  werden  könnte,  will  ich  einen  solchen  Deutungsversuch  er- 
warten. 

In  einem  früheren  Abschnitte  hatte  ich  nachgewiesen,  dass  die 
galvanischen  Augenbewegungen  nur  durch  Vermittelung  cerebraler 
Centren  hervorgebracht  sein  können,  rücksichtlich  der  anderweitigen 
Symptome  von  Schwindel  bedarf  es  eines  solchen  Nachweises  nicht. 
Es  könnte  aber  ein  Zweifel  bestehen,  ob  der  Reiz  auf  das  Central- 
organ  direct  oder  iudirect,  namentlich  durch  Vermittelung  des  den  Eiu- 
strömungsstellen  sehr  nahe  liegenden  Halssympathicus  wirkt.  Dieser 
dunkle  Nerv  erfreut  sich  bekanntlich  einer  so  beträchtlichen  Sympathie 
seitens  vieler  Elektrotherapeuten  und  einzelner  Neuropathologen,  dass 
ihm  ein  Haupt-  oder  Nebenamt  von  diesen  bei  der  Pathogenese,  von 
jenen  bei  der  Therapie  höchst  verschiedener  Krankheiten  zugewiesen 
zu  werden  pflegt.  Wenn  also  der  Sympathicus  auch  nichts  mit  den 
Blutgefässen  und  der  Pupille  zu  thun  hätte,  so  würde  ich  gleichwohl 
sein  Eindringen  auch  in  diese  Frage  abzuwehren  haben. 

Aus  den  Versuchen  über  die  Symptome  des  Drehschwindels,  welche 
ich  noch  zu  referiren  gedenke,  wird  hervorgehen,  dass  elektrische 
Reizung  des  Sympathicus  keinenfalls  eine  nothwendige  Bedingung 
unserer  Reizeffecte  bildet.  Ausserdem  wird  seine  Betheiligung  auch 
a  priori  um  deswillen  unwahrscheinlich,   weil  man  dieselben,    wie  oben 


—     375     — 

erwähnt,  ebenfalls  vom  Hinterhaupt  und  Nacken,  ja  sogar  vom  Vorder- 
kopf aus  hervorbringen  kann.  Indessen  könnte  man  einwenden,  dass 
von  jenen  Stellen  her  Stromschleifen  zu  den  sympathischen  Nerven  ge- 
langten, welche  hinreichend  stark  wären,  um  Gefässverengerung  der 
einen  und  Gefässerweiterung  der  anderen  Hirnhälfte  auszulösen;  denn 
so  würde  man  sich  doch  etwa  die  Wirkung  der  Sympathicus-Reizung 
vorzustellen  haben.  Jedoch  kann  davon  wohl  nicht  füglich  die  Rede 
sein,  wenn  man  berücksichtigt,  dass  Verschiebung  der  Elektroden  in 
-'der  Richtung  der  Grenzstränge  selbst  eben  keinen  Reizeffect  zur  Folge 
hat.  Die  Grösse  des  Reizeffectes  nimmt  sogar  mit  der  Entfernung  vom 
Gehirn,  selbst  wenn  beide  Elektroden  über  den  Grenzsträngen  stehen, 
ungemein  schnell  ab.  Da  also  die  Entfernung  von  bestimmten  Theilen 
des  Gehirns  wesentlich,  die  Entfernung  von  den  Grenzsträngen  aber 
unwesentlich  ist,  so  liegt  kein  Grund  vor,  den  Sympathicus  zu  Er- 
klärungen heranzuziehen. 

Das  Verhalten  der  Pupille  erheischt  noch  einige  Bemerkungen. 
Eulenburg  und  Schmidt'^')  haben  Versuche  über  den  Einfluss  ähn- 
licher Galvanisationsmethoden  auf  die  Pupille  angestellt.  Wenn  sie  die 
Pole  einer  Batterie  von  20 — 40  Elementen  an  die  den  ersten  Hals- 
ganglien entsprechenden  Stellen  applicirten,  weniger  deutlich,  wenn 
sich  ein  Pol  auf  dem  Manabrium  sterni  befand,  konnten  sie  minimale 
Pupillenveränderungen  durch  die  Referate  subjectiver  Wahrnehmungen 
der  Versuchspersonen  (Pupilloskop  von  Houdin)  constatiren.  Es  ist 
bedauerlich,  dass  sie  denjenigen  Personen,  welchen  20  Elemente  solche 
subjectiven  Erscheinungen  bereiteten,  nicht  die  bei  Anderen  angewen- 
deten 40  Elemente  applicirt  haben.  Vielleicht  wäre  es  dann  vorwiegend 
zu  objectiv  wahrnehmbaren  Dingen  gekommen.  Aber  gesetzt  den  Fall, 
diese  Papillenveränderungen  wären  zweifelsohne  constatirt,  so  ist  mir 
nicht  ersichtlich,  woher  auch  nur  das  geringste  Recht  stammen  soll, 
dieselben  mit  den  genannten  Forschern  ohne  Weiteros  auf  den  Sym- 
pathicus zu  beziehen.  Abgesehen  von  dem  Einflüsse  des  bei  20  bis 
40  Elementen  doch  nennenswerthen  Schmerzes,  abgesehen  von  dem  mit 
Sicherheit  anzunehmenden  Vordringen  starker  Stromschleifen  zu  den 
Vierhügeln,  treten  bei  diesen  Galvanisationsmethoden  stets  subjective 
Lichtempfindungen  ein,  so  dass  jedenfalls  der  Opticus,  wahrscheinlich 
der  ganze  Bulbus  mit  in  den  Bereich  des  Stromes  gezogen  wird.  Es 
ist  schwer  zu  verstehen,  wie  diese  Momente  so  ganz  ausser  Acht  ge- 
lassen werden  konnten.     Ich  überlasse  eine  weitergehende  Kritik  dieser 


*)    Eulenburg    und    Schmidt,     Centralblatt   für    die    medicinischen 
Wissenschaften  1869.    Nr.  21  u.  22. 


—     376     — 

Arbeit  gern  solchen,  die  sie  zu  wiederholen  geneigt  sind,  kann  aber  doch 
meine  Verwunderung  nicht  verbergen,  dass  jene  Autoren,  wenn  sie 
öfter  den  Strom  von  40  Ell.  durch  die  oberste  Halsgegend  leiteten, 
zwar  constant  subjective  Pupillenphänomene,  aber  niemals  objectiv 
wahrnehmbare  galvanische  Augenbewegungeu  beobachtet  haben. 

Bei  den  von  mir  angewendeten  Reizmethoden  habe  ich  Pupillen- 
phänomene nicht  selten  beobachtet.  Unter  etwa  300  Reizversuchen 
finde  ich  47  mal,  also  in  etwa  16  pCt.  zweifellose  Anomalieen  verzeich- 
net; Zweifelhaftes  wurde  viel  öfter  beobachtet,  übrigens  nicht  immer 
notirt.  Von  diesen  47  Beobachtungen  betrafen  nur  18  Personen  mit 
gesunden  Sehapparaten,  die  übrigen  29  beziehen  sich  auf  Augenkranke, 
obwohl  bei  weitem  mehr  von  der  ersteren,  als  der  letzteren  Gruppe 
untersucht  wurden.  Die  Pupillen  der  Blinden  zeigten  jedoch  niemals 
irgend  welche  Veränderungen. 

Es  gelang  mir  nicht,  irgend  ein  Gesetz  für  die  Pupillenreaction 
aufzufinden,  und  ich  glaube  nicht,  dass  dies  überhaupt  möglich  sein 
wird,  denn  es  gelang  mir  wenigstens,  mich  von  der  ungleichen  Wirkung 
der  gleichen  Reizmomente  zu  überzeugen.  Die  häufigste  Anomalie  war 
abnorme  Beweglichkeit  beider  oder  seltener  einer  Pupille;  dabei  er- 
weitern und  verengern  die  Pupillen  sich  abwechselnd,  manchmal  in 
einem  Rhythmus  gleich  dem  der  Bulbusbewegungen.  In  mehreren  Fällen 
waren  die  Pupillen  nur  erweitert,  bei  anderen  bestanden  Differenzen 
zwischen  der  Weite  beider,  z.  B.  bei  mir  selbst.  (20  Elemente, 
20 f*  Galvanoskopausschlag,  Kathoden- Pupille  erweitert.)  In  einem 
Falle  zeigte  die  Iris  der  Kathoden-Seite  eine  Ausstülpung  ihres  freien 
Randes  an  der  inneren,  unteren  Peripherie  (Dr.  Bonvetsch).  Ein  an 
der  Iris  Gesunder  hatte  eine  von  oben  nach  unten,  ein  anderer  eine 
herzförmig  verzogene  Pupille.  Bei  heilender  Mydriasis  paralytica  waren 
solche,  manchmal  sehr  wunderlichen  Verziehuugen  eigentlich  die  Regel. 
Ich  habe  dabei  wahrhaft  amöboide  Bewegungen  des  freien  Randes  der 
Iris,  Verlegung  des  Sehloches  nach  der  Peripherie  der  Iris  hin  u.  s.  w. 
beobachtet. 

Wie  mir  scheint,  kann  man  diese  Reizefiecte  nicht  wohl  dem  Sym- 
pathicus  zuschreiben,  man  müsste  diesem  Nerven  denn  jedwede  speci- 
fische  Energie  absprechen.  Viel  wahrscheinlicher  ist  es,  dass  der  Reiz 
an  einer  Stelle  angreift,  wo  Sympathicus-  und  Oculomotorius-Bahnen 
nahe  bei  einander  liegen  oder  zu  einem  Systeme  vereinigt  sind,  und 
dass  die  am  peripheren  Ende  bald  dieser,  bald  jener  Bahn  wahrnehm- 
baren Schwankungen  in  der  Grösse  des  Reizeffectes  auf  Innenverhält- 
nisse des  gereizten  Organes  zurückzuführen  sind,  die  sich  w'egen  dessen 
Complicirtheit  unserer  Beurtheilung  entziehen.    Das  Verhalten  der  Pupille 


—     377     — 

bei  heilender  Mydriasis  paralytica  ist  wesentlich  geeignet,  diese  An- 
nahme zu  unterstützen.  Die  Widerstände  in  der  Bahn  des  Oculomoto- 
rius  sind  offenbar  noch  zu  gross,  um  der  normalen  Innervation  die 
Ueberwindung  des  Dilatators  zu  gestatten.  Mit  dem  galvanischen  Reiz- 
zuwachse kommt  dieselbe  aber  in  mehr  oder  weniger  vollkommener 
Weise  zu  Stande.  Sind  indessen  beide  Bahnen  und  das  Centrum  gesund, 
so  ist  bei  Reizung  des  letzteren  ein  Vorwiegen  der  einen  oder  der 
anderen  Innervation  von  vornherein  weniger  leicht  zu  erwarten. 

Wenn  ich  mich  nun  auch  auf  das  Entschiedenste  gegen  das  Her- 
anziehen des  Nerv,  sympathicus  zur  Erklärung  unserer  Reizeffecte  aus- 
sprechen muss,  so  bin  ich  doch  weit  davon  entfernt,  in  Abrede  stellen 
zu  wollen,  dass  mancherlei  für  eine  Vermittelung  durch  die  vasomoto- 
rischen Nerven  des  Gehirns  spricht.  Ich  halte  es  also,  wie  ich  schon 
an  mehreren  Stellen  der  Abhandlung  andeutete,  für  möglich,  dass  eine 
elektrotonisirende  Wirkung  auf  die  Nervensubstanz  des  Gehirns  selbst 
überhaupt  nicht  oder  nur  in  untergeordnetem  Maasse  stattfindet,  und 
dass  direct  nui'  die  das  Gefässkaliber  beherrschenden  Nerven  beeinflusst 
werden.  — 

Auf  Vermuthungen,  welcher  Hirntheil  etwa  die  Summe  unserer  Reiz- 
effecte auslösen  könnte,  gedenke  ich  mich  hier  um  so  weniger  einzu- 
lassen, als  ich  dieser  Frage  auf  anderem  Wege*)  bereits  näher  getreten 
bin.  Vor  der  Hand  genüge  die  fast  zur  Gewissheit  erhobene  Wahr- 
scheinlichkeit, dass  wir  es  in  der  That  mit  dem  Gehirne  direct  zu  thun 
haben.  Dass  nicht  nur  Läsionen  der  Vierhügel,  sondern  auch  solche  des 
Pons,  der  Kleinhirnschenkel  und  des  Kleinhirns  selbst  zu  pathologischen 
Störungen  ähnlicher  Art  führen,  kann  als  bekannt  vorausgesetzt 
werden.  — 

Die  Thatsache  scheint  mir  nun  ausserdem  unzweifelhaft  festgestellt, 
dass  wir  durch  Einführung  eines  modificirbaren  fremden 
Factors  in  die  Oekonomie  des  Gehirns  nach  Gefallen  ver- 
mögen, gewissen  Bezirken  unserer  Vorstellungen  eine  ver- 
blasstere  oder  lebhaftere  Färbung  mitzutheilen.  Soweit  minde- 
stens reicht  das  rein  Thatsächliche,  von  jeder  Deutung  unabhängige, 
und  hierin  liegt  vielleicht  die  über  Specialinteressen  hinausreichende 
Tragweite  dieser  Untersuchungen. 

2.    Ueber  das  Verhältniss  des  Drehschwindels  zu  den 

galvanischen  Reizeffecten. 
Die  Erscheinungen  des  Drebschwindels  sind  von  Purkinj  e^^)  mit  der 
ihm  eigenen  Detaillirung  studirt  worden  und  ich  verweise  deshalb  wegen 


^)  Vgl.  hierzu  die  Abhandlung  XIX. 


—     378     — 

alles  Specielleren  auf  die  angeführte  Abhandlung.  Es  genüge  hier, 
daran  zu  erinnern,  dass  nach  einer  gewissen  Zahl  von  Rotationen  Schein- 
bewegungen der  Gesichtsobjecte  und  abnorme  Muskelempfindungeu  in 
gesetzraässiger  Weise  auftreten.  Sonderbarerweise  hat  Purkinje  ver- 
säumt, die  ihm  sicherlich  bekannte  Richtung  dieser  Scheinbeweguugen 
anzugeben.  Helmholtz  hingegen*)  sagt  über  den  Drehschwindel 
Folgendes:  „Ich  finde,  dass  nach  einer  Drehung  mit  geschlossenen 
Augen  diese  Art  der  Scheinbewegung  nicht  eintritt,  sobald  man  die 
Augeu  erst  öffnet,  wenn  man  wirklich  bis  zum  festen  Stehen  gekommen 
ist.  Thut  man  es  früher,  so  tritt  eine  Scheinbewegung  der  Gegenstände, 
entgegengesetzt  der  bisherigen  Drehung  des  Körpers,  ein; 
aber  mau  überzeugt  sich  auch  leicht,  dass  der  Körper  auf  den  Füssen 
noch  etwa  eine  Viertelkreisdrehung  ausführt,  ehe  er  wirklich  zur  Ruhe 
kommt,  zu  einer  Zeit,  wo  man  ihn  schon  für  ruhend  hält.  Dann  ist 
also  eine  Täuschung  über  die  Haltung  des  Körpers  Ursache  der  Schein- 
bewegung der  Objecte." 

"Während  die  angeführten  Facta  dem  Sachverhalte  vollkommen  ent- 
sprechen, bin  ich  nicht  in  der  Lage,  der  Ansicht  des  berühmten  For- 
schers über  ihre  Ursache  beizutreten.  Wenn  man  nämlich  den  Vei'such 
derart  variirt,  dass  man  das  rotirende  Individuum  im  Momente  des  Still- 
stehens unverrückbar  festhält,  so  kommt  es  doch  zu  einer  Scheinbewe- 
gung der  Gesichtsobjecte,  die  nun  nicht  auf  der  fraglichen  Täuschung 
beruhen  kann.  Unter  diesen  Umständen  nahm  Helmholtz  die  Schein- 
bewegung bei  den  betreffenden  Versuchen  wahrscheinlich  um  deswillen 
nicht  wahr,  weil  er  zwischen  dem  Rotiren  und  dem  Oeffnen  der  Augeu 
zu  lange  Zeit  verstreichen  Hess. 

Betrachtet  man  aber  die  Augen  der  Versuchsperson,  so 
findet  man  einen  Nystagmus,  der  ebenso  gesetzmässig  wie 
der  galvanische  vor  sich  geht,  und  der  es  folglich  erlaubt,  die 
Erscheinungen  des  Drehschwindels  gewissen  Formen  der  galvanischen 
Reizung  parallel  zu  setzen.  Die  nach  dem  Drehen  von  links  nach  rechts 
bei  der  gewöhnlichen  Kopfhaltung  auftretenden  Reizeffecte  entsprechen 
genau  den  bei  der  oben  immer  vorausgesetzten  Reizmethode  (Anode 
rechte  —  Kathode  linke  Fossa  mastoidea)  vorhandenen,  d.  h.  die 
kurze,  ruckweise  vor  sich  gehende  Augenbewegung  und  die  Schein- 
bewegung der  Gesichtsobjecte  sind  nach  links  gerichtet.  Beide  ent- 
sprechen übrigens  weit  häufiger  der  Bewegung  eines  liegenden  Rades, 
und    ausserdem    geht    die    nach    rechts  gerichtete  Bulbusbewegung    mit 


*)  A.  a.  0.  S.  603. 


—     379     — 

bemerkenswerther  Langsamkeit,  manchmal  aber  mit  einer  ungemeinen 
Ausgiebigkeit  vor  sich. 

Nach  diesen  neuen  Thatsachen^^^  glaube  ich  denn  sogar  im  Sinne 
von  Helmholtz  zu  handeln,  wenn  ich  die  Schein  bewegung  auf 
die  un  bewussten  Augenbewegungei)  nach  dem  obigen  Schema 
beziehe.  — 

Es  würde  sich  schliesslich  fragen,  wodurch  bei  dem  Rotiren  diese 
Augenbewegungen  und  die  leicht  zu  constatirenden  Störungen  der  an- 
derweitigen Muskelsensibilität  zu  erklären  sind.  Purkinje  verglich 
das  Gehirn  mit  einem  rotirenden  Topfe  Wasser,  in  welchem  die  Theil- 
cheu  nach  der  Richtung  der  Tangente  zur  Peripherie  der  Drehbewegung 
zu  entweichen  suchen.  Dadurch  müssten  bei  den  Verhältnissen  des  Ge- 
hirns Zerrungen  der  einen  und  Drückungen  der  anderen  Hirnhälfte  ver- 
anlasst werden.  Dieser  Vergleich  erscheint  mir  vollkommen  zutreffend, 
und  auch  gegen  die  Deutung  habe  ich  für  mein  Tlieil  nichts  einzuwen- 
den. Es  würde  dann  der  axiale  Theil  des  Gehirns  der  Anode,  und  der 
periphere  der  Kathode  entsprechen. 

Ich  «habe  wohl  kaum  nöthig,  hinzuzufügen,  dass  hiermit  das  sub  3 
gestellte  Thema  nicht  im  Entferntesten  in  seinen  Details  erledigt  ist. 
Es  ist  vielmehr  die  Rücksicht  auf  den  Raum,  die  mich  abbrechen  heisst. 


In  demjenigen  Theile  der  vorliegenden  Abhandlung,  welcher  die 
Deutung  der,  wie  ich  denke,  reichlich  vorgebrachten  Thatsachen  in  sich 
schliesst,  habe  ich  mir  alle  Mühe  gegeben,  der  Darstellung  den  ihr 
ziemenden  hypothetischen  Charakter  zu  wahren.  Manche  Leser  würden 
freilich  eine  mehr  positive  Darstellung  vorziehen.  Damit  sind  wir  bis- 
her auf  diesem  Gebiete  aber  doch  nicht  viel  weiter  gekommen.  Wenn 
die  Gehirnphysiologie  auch  mehr  als  jeder  andere  Zweig  der  Wissen- 
schaft das  Bedürfniss  der  Hypothese  hat  und  immer  haben  wird,  so 
liegt  die  erste  Bedingung  für  ihre  Weiterentwickelung  doch  in  der  Be- 
reitwilligkeit, jederzeit  auf  dieses,  schon  bei  der  Geburt  den  Stempel 
der  Vergänglichkeit  an  sich  tragende  Bindemittel  zu  verzichten.  So 
wird  denn  der  grössere  Theil  der  Leser  und  meine  Nacharbeiter  zumal 
es  mir  Dank  wissen,  dass  ich  diesen  Stempel  nicht  zu  verwischen  suchte, 
dass  sich  die  Behauptungen  nur  auf  Erwiesenes  stützen,  und  dass 
die  Meinungen  von  den  Gängen  dieses  Labyrinthes  nur  als  solche 
vorgetragen  werden. 


380     — 


Anmerkungen. 

30)  Die  vorstehende  Abhandlung  wurde  zuerst  im  Jahre  1871  in  Rei- 
chert's und  du  Bois-Reymond's  Archiv  zu  einer  Zeit  abgedruckt,  da  die 
Litteratur  über  den  Vestibularapparat  noch  einen  ganz  geringen  Umfang  besass. 
Zur  Zeit  ihres  erneuten  Abdruckes  in  meinem  Buche  „Untersuchungen  über 
dasGehirn"I.Aufl.  im  Jahre  1874  waren  soeben  bemerkenswerthe  Abhandlungen 
von  Breuer  und  Mach  über  diesen  Gegenstand  erschienen,  auch  hatte  Wundt 
die  Materie  dieser  Abhandlung  in  seinem  Buche  „Grundzüge  der  physiologi- 
schen Psychologie"  behandelt.^  Diese  Schriften  hatten  mich  veranlasst,  der 
vorstehenden  Abhandlung  einen  besonderen  Aufsatz  „Bemerkungen  zu  der  vor- 
stehenden Abhandlung"  anzufügen.  Mancherlei  von  dem  Inhalte  dieses  Auf- 
satzes ist  durch  die  Entwicklung,  welche  diese  Fragen  inzwischen  genommen 
haben,  entbehrlich  geworden,  ich  habe  es  fortfallen  lassen:  Anderes  erachtete 
ich  der  Aufbewahrung  für  werth,  ich  habe  es  in  den  folgenden  Anmerkungen 
dieser  Abhandlungen  angefügt. 

31)  Wundt*)  bemerkt,  dass  auch  der  Körper  „häufig"  zuerst 
nach  der  Seite  der  Kathode  schwanke,  und  dann  erst  durch  Drehung 
gegen  die  Anode  das  Gleichgewicht  wieder  herstelle.  Ich  hatte  Angesichts  der 
frappanten,  bei  diesen  Versuchen  eintretenden  Dislocation  des  Kopfes  und 
Körpers  früher  an  die  Möglichkeit  eines  primären  Schwankens  nach  der 
Kathode  gar  nicht  gedacht,  und  war  deshalb  gezwungen,  diese  Frage  ganz 
von  Neuem  mit  einer  feineren  Methode  zu  prüfen. 

Um  den  Reizeffect  möglichst  zu  objectiviren,  befestigte  ich  einen  mit 
chinesischer  Tusche  gefärbten  Pinsel  auf  dem  Scheitel  der  sitzenden  Versuchs- 
personen, und  Hess  diesen  auf  ein  Blatt  Papier  zeichnen.  Auf  diese  Weise 
erhielt  ich  Bilder,  welche  allerdings  einen  viel  complicirteren  Vorgang  an- 
deuten, als  es  zu  Anfang  den  Anschein  hatte.  Die  Bewegungen  des  Kopfes 
und  Körpers  fallen  nämlich  nicht,  wie  ich  früher  annahm,  lediglich  in  die 
Frontalebene,  sondern  die  von  dem  Pinsel  gemalte  Curve  deckt 
gleichzeitige,  bald  mehr,  bald  weniger  starke  Schwankungen 
nach   beiden   Dimensionen   der   Sagittalebene   auf. 

In  vielen  Fällen  erhielt  ich,  sobald  mehrere  Schliessungen  und  Oeffnun- 
gen  auf  einander  folgten,  eine,  gewöhnlich  unregelmässig  aussehende  Gurve, 
welche  auf  dem  Papiere  von  hinten  und  der  Seite  der  Kathode  nach  vorn  und 
der  Seite  der  Anode,  also  in  der  Diagonale  des  Blattes  vorrückte.  Die  Zer- 
gliederung der  Curve  zeigte,  dass  bei  der  Schliessung  ein  vorwiegend  nach 
der  Anode  und  bei  der  Oeffnung  ein  vorwiegend  nach  Vorn  sehender  Strich 
gemalt  worden  war.  So  kam  es,  dass  das  Ende  der  Curve  nach  der  Seite  der 
Anode  und  vorn  verschoben  war.  Längere  Dauer  des  Stromes  liess  auch  den 
Oeffnungsstrich   entschieden  länger  ausfallen.     Nach  einer  gewissen  Zahl  von 


S.  207-221 


■)  W.  Wundt,  Grundzüge  der  physiologischen  Psychologie.  Erste  Hälfte. 


—     381     — 

Schliessungen  und  Oeffnungen  hörte  aber  die  Bewegung  nach  der  Anode  auf 
und  nun  kamen  mehr  nach  vorn  und  hinten  gerichtete  sich  deckende  Striche  zum 
Vorschein.  Bei  anderen  Versuchen  entstand  ein  mehr  oder  weniger  diagonaler 
Strich,  der  absatzweise  doppelt  übertuscht  war.  Hier  war  der  Kopf  mit  jeder 
Schliessung  um  ein  beträchtliches  Stück  nach  vorn  und  gegen  die  Anode  vor- 
gerückt, und  bei  der  üeffnung  um  ein  kleineres  Stück  in  der  entgegengesetzten 
Richtung  zurückgewichen.  Wieder  andere  Versuchspersonen  zeigten  neben 
jenen  Bewegungen  ein  sehr  deutliches  Aufschnellen  in  verticaler  Richtung. 
Endlich  fand  ich  bei  nochmaliger  Durchsicht  meiner  früheren  Versuchsproto- 
colle,  dass  ich  schon  damals  ganz  ähnliche  Bewegungen  notirt  hatte.*) 

Diese  Versuche  finden  sowohl  in  sich  selbst  als  in  den  Versuchspersonen 
allerhand  Schwierigkeiten,  und  sind  ausserdem  zeitraubend,  so  dass  ich  nicht 
behaupten  darf,  in  der  mir  zugemessenen  Frist  alle  Seiten  der  Frage  betrachtet 
zu  haben.  Von  dem  Vorkommen  einer  primären  Kopfbewegung 
nach  der  Kathode  habe  ich  mich  aber  in  keinem  einzigen  Falle 
überzeugen  können.  Da  Wundt  diese  Bewegung  nur  „häufig",  aber  nicht 
immer  gesehen  hat,  und  da  ich  vielleicht  nicht  genug  Versuche  angestellt 
habe,  so  muss  ich  die  Möglichkeit  von  Ausnahmen  vorläufig  wohl  zulassen. 
Aber  ich  kann  mich  des  Gedankens  doch  nicht  erwehren,  dass  die  Anwendung 
zu  starker  Ströme  vielleicht  hier  und  da  zu  Schliessungszuckung  des  Sterno- 
kleido  der  Kathoden-Seite  geführt  hat. 

32)  Diese  Vorsicht  hat  sich  seit  der  ersten  Niederschrift  dieser  Abhandlung 
als  wohlbegründet  erwiesen. 

Breuer  (a.  a. 0.)  sowohl  als  Mach**)  beziehen  alle  Erscheinungen  des 
Schwindels  auf  percipirte  Alterationen  der  halbcirkelförmigen  Kanäle.  Nach 
meiner  Auffassung  war  das  Gehirn  direct  verantwortlich  zu  machen. 

Die  Breuer-Mach'sche  Theorie  der  Function  der  halbcirkelförmigen 
Kanäle  lässt  sich  in  Kürze  (die  Details  nach  Breuer)  folgendermassen  formu- 
lire,n._  Die  drei  Kanäle  können  als  in  den  drei  Ebenen  liegende,  mit  Flüssig- 
keit gefüllte  Riuge  aufgefasst  werden.  Lasse  ich  einen  solchen  Ring  um  die 
auf  seiner  Ebene  verticale  Axo  rotiren,  so  wird  nach  dem  Trägheitsgesetz  die 
Flüssigkeit  in  demselben  gegen  die  Bewegung  zurückbleiben.  Die  so  ent- 
stehende Strömung  wird  durch  Perceptionsorgane  —  die  Hörhaare  der  Am- 
pullen —  auf  Nerven  —  einen  oder  mehrere  der  sechs  Ampullarnerven  — 
übertragen,  und  auf  diese  Weise  dem  Sensorium  Nachricht  über  Drehung  um 
jede  der  einzelnen  Axen  zugeführt  werden  können. 

Mach  hat  durch  den  directen,  übrigens  auch  von  Breuer  vorgeschlage- 


*)  Diese  Unregelmässigkeiten  in  der  Reaction  erklären  sich  ungezwungen 
aus  einer  ungleichmässigen  Reizung  der  verschiedenen  Ampullarnerven. 
Breuer  hat  die  als  jedesmalige  Resultante  des  Reizversuchs  auftretende  reale 
Bewegung  als  „diffuse  Reaction"  bezeichnet. 

**)  E.  Mach,  Physikalische  Versuche  über  den  Gleichgewichtssinn  des 
Menschen.  Separat-Abdruck  aus  dem  LXVEl.  Bd.  der  Sitzb.  der  k.  Akademie 
der  Wissensch.    HI.  Abth.  Nov.-Heft.    Jahrs;.  1873. 


—     382     — 

Den  Versnch  sich  selbst  diese  Theorie  als  in  der  vorgetragenen  Form  irrig 
widerlegt.  Wenn  er  ein  geschlossenes  Röhrchen  von  der  Form  und  Grösse 
eines  Bogenganges  auf  der  Gentrifugalmaschine  rotiren  liess,  so  erhielt  er 
wegen  der  Grösse  der  Reibung  niemals  eine  Drehung.  Er  kam  deswegen  von 
seiner  ursprünglichen,  mit  der  ßreuer's  zusammenfallenden  Ansicht,  dass  sich 
der  Labyrinthinhalt  wirklich  bewege  —  ströme,  zurück,  und  fasst  nun  den 
Reizvorgarg  so  auf,  dass  bei  jeder,  sowohl  der  einfachen  als  der  Winkel- 
beschleunigung des  Kopfes  durch  den  en  masse  gegen  die  Beschleunigung 
zurückbleibenden  Labyrinthinhalt  Züge  und  Pressungen  auf  die  Endorgane  der 
Ämpullarnerven  ausgeübt  werden. 

Ich  legte  mir  die  Fragen. vor,  ob  in  einem  Räume,  der  kein  Ausweichen 
gestattet,  dieser  Vorgang  überhaupt  eintritt,  ferner  ob  die  vorausgesetzte 
„Gegenbeschleunigung",  ihr  Eintreten  generell  zugegeben,  bei  den  geringen 
durch  die  gewöhnlichen  Bewegungen  veranlassten  Beschleunigungen  angesichts 
der  vorhandenen  Widerstände  eine  die  Reizschwelle  überschreitende  Geschwin- 
digkeit erlangen  kann?  Einem  Physiker  von  dem  Rufe  und  der  Objectivität 
des  Herrn  Mach  gegenüber  glaubte  ich  aber  auf  die  Discussion  dieser  Fragen 
um  so  mehr  verzichten  zu  sollen,  als  es  sich  für  mich  in  der  That  nicht  um 
die  halbcirkelförmigen  Kanäle,  sondern  um  das  Gehirn  handelt.  Ich  kann  jene 
Theorie  zulassen,  ohne  in  meiner  Auffassung  der  Erscheinungen  mehr  als  den 
ursprünglichen  Angriffspunkt  des  Reizes  zu  ändern.  Die  wahrnehmende  und 
bewegende  Kraft  kommt  in  jedem  Falle  dem  Gehirne  zu:  dass  irgend  eine  in- 
directe  Beeinflussung  desselben  an  Stelle  der  directen  immerhin  möglich  sei, 
habe  ich  (s.  z.  B.  S.  370)  nie  ganz  ausschliessen  können.  —  ■ 

Ich  muss  aber  gegen  verschiedene  Punkte  in  den  Beweisführungen 
Mach's  und  Breuer's  Bedenken  erheben.  Mach  beginnt  seine  Mittheilung 
mit  folgenden  Worten:  „Fährt  man  auf  der  Eisenbahn  durch  eine  starke 
Krümmung,  so  scheinen  die  Häuser  und  Bäume  oft  beträchtlich  von  der  Ver- 
ticalen  abzuweichen  und  zwar  scheint  sich  der  Gipfel  der  Bäume  auf  der  con- 
vexen  Seite  der  Krümmung  von  der  Bahn  wegzuneigen.  Andererseits  bemerkt 
man  sehr  oft  auch  eine  Schiefstellung  des  Wagens  und  hält  nun  die  Bäume 
für  vertical. 

Bekanntlich  wird  die  Schiene  auf  der  convexen  Seite  der  Krümmung 
etwas  höher  gelegt,  um  die  Wirkung  der  Centrifugalkraft  zu  compensiren. 
Der  Höhenunterschied  kann  aber  nur  einer  einzigen  Fahrgeschwindigkeit  ent- 
sprechen.   — Fährt  man  mit  der  dem  Höhenunterschied  der  Schienen 

und  der  Krümmung  entsprechenden  Geschwindigkeit,  so  weiss  man  nichts 
von  der  Schiefstellung  des  Wagens.  Dann  scheinen  die  Häuser  schief.  In 
jedem  anderen  Falle  scheint  der  Wagen  schief." 

So  richtig  nun  auch  die  Erklärung  von  Mach  ist,  dass  die  Täuschung 
aus  dem  angeführten  Missverhältnisse  erwächst*),    so    wenig    kann    ich    mich 


■•'■)  Wie  ich  mich  nachträglich  überzeugt  habe,  ist  diese  Erklärung 
Mach's  doch  nicht  zutreffend.  „Es  ist  nicht  richtig,  dass  die  Täuschungen 
über  die  Stelluno;  des  Wagens  und  der  Häuser  von  demVerhältniss  des  Höhe- 


—     383     — 

überzeugen,  dass  in  derselben  eine  „Beschleunigung  der  Massentheile  des 
Körpers"  die  Rolle  des  nothwendigen  Factors  spiele. 

Ich  hatte  im  Jahre  1872  den  Rigi  von  Arth  aus  bestiegen,  und  fuhr  von 
Staffelhöhe  mit  der  Bahn  zu  Thal.  Als  wir  untervregs,  ich  glaube,  es  war  in 
Kaltbad,  hielten,  schienen  mir  plötzlich  die  Häuser  und  Bäume  enorm  schief 
zu  stehen.  Es  war  mir  sofort  klar,  dass  diese  optische  Täuschung  von 
seltener  Eindringlichkeit  auf  einem  mich  zwingenden  Irrthume  über  meine 
eigene  Haltung  beruhe,  und  dennoch  konnte  ich  mich  ebenso  wenig  von  dem 
Zwange  befreien,  als  es  die  Mitreisenden  konnten.  Hier  war  nun  von  einer 
Massenbeschleunigung  nicht  die  Rede;  denn  der  Waggon  hielt  ja.  Auch  war 
sicherlich  nicht  die  Schiefstellung  des  Waggons  der  Angelpunkt  des  Phä- 
nomens. Denn  wenn  ich  einen  Gebirgspass  im  Postwagen  überschreite,  so  er- 
scheinen mir  weder  im  Fahren  noch  im  Halten  verticale  Körper  schief.  Die 
Täuschung  konnte  hiernach  nur  aus  Vorgängen  erwachsen,  welche  auf  Diffe- 
renzen in  der  Construction  beider  Vehikel  beruhen. 

Ich  finde  dieselben  in  der  Construction  der  Sitzbänke,  welche  in  dem 
Waggon  gegen  dessen  Fussebene  geneigt  sind,  damit  dem  Reisenden  der 
stetige  Kampf  gegen  das  nach  vornüber  Fallen  erspart  bleibe.  Der  Neigungs- 
winkel der  Bank  kann  aber  selbstverständlich  nur  einem  bestimmten  Stei- 
gungswinkel der  Bahntrace  entsprechen.  Compensiren  sich  beide  Winkel 
nicht,  so  nehme  ich  die  Differenz  an  den  ausser  mir  liegenden  Körpern  mit 
einer  scheinbaren  Abweichung  von  der  Verticalen  wahr. 

Wenn  ich  nun  weder  im  Postwagen,  der  mich  zum  Balanciren  zwingt, 
noch  bei  einer  beliebigen  schiefen  Lage,  die  ich  willkürlich  meinem  Körper 
mittheilen  kann,  der  fraglichen  Täuschung  unterliege,  so  beweist  dies,  dass 
ebensowenig  die  Haltung  des  Körpers  als  die  Beschleunigung  seiner  Massen- 
theile das  Wesentliche  ist,  sondern  dass  dies  vielmehr  auf  dem  Miss- 
verhältnisse der  wirklich  verwendeten  Muskelimpulse  zur  ein- 
genomme-nen  Körperhaltung  beruht. 

Aus  den  Thierversuchen  ergab  sich  nun  ganz  unzweideutig,  dass  man 
durch  dem  Kleinhirne  zugefügte  Veränderungen,  ohne  das  Labyrinth  anzu- 
rühren, sowohl  jedes  der  bei  dem  ursprünglichen  Versuche  erscheinenden 
Symptome  einzeln,  als  auch  ihr  Gesammtbild  erzeugen  kann.  Namentlich  aber 
zeigte  sich,  dass  das  Kleinhirn  wirklich  mit  der  Regulirung  der  Muskel- 
impulse direct  etwas  zu  thun  hat.  Denn  die  eine  Läsion  war  im  Stande  das 
Muskelbewusstsein  derart  zu  verändern,  dass  das  Thier  stets  die  eine  Seiten- 
lage mit  der  Bauchlage  verwechselte;  bei  einer  anderen  Läsion  kam  es  sogar 
vor,  dass  nur  einzelne  Theile  des  Muskelsystems  alterirt  wurden,    so    dass  die 


Unterschiedes  der  Schienen  zu  der  (der  Krümmung  entsprechenden)  Zug- 
geschwindigkeit abhängen.  Mir  erscheinen  sowohl  die  Häuser  als  der  Wagen 
unter  allen  Umständen  schief,  wie  immer  auch  die  Geschwindigkeit  des  Zuges 
beschaffen  sein  mag.  — "  (E.  Hitzig,  Der  Schwindel  a.  a.  0.   S.  27.) 


—     384     — 

sogenannte   spiralige  Drehung    des  Rumpfes    zwangsmässig   eintrat.      Wegen 
der  Details  verweise  ich  auf  die  folgende  Arbeit.*) 

33)  Breuer**)  macht  darauf  aufmerksam,  dass  bereits  Purkinje***) 
den  „Gesichtsschwindel"  auf  Augenbewegungen  bezog.  Ich  hatte  anlässlich 
der  Abfassung  meines  Aufsatzes  bei  den  damals  obwaltenden  eigenthüm- 
lichen  Verhältnissen  der  Berliner  Bibliothek  Schwierigkeiten  mit  der  Erlangung 
jener  früheren  Arbeit  Purkinje's  gehabt,  und  da  dieser  Forscher  in  der 
sieben  Jahre  später  publicirten,  und  von  mir  (s.  S.  336)  ausführlich  citirten 
Abhandlung  nichts  von  Augenbewegungen,  und  soweit  der  Galvanismus  in 
Betracht  kommt,  auch  nichts  von  Schwanken  der  anderen  Körpertheile  sagt, 
so  glaubte  ich  auf  die  Einsicht  jener,  wie  ich  jetzt  sehe,  höchst  interessanten 
Arbeit  verzichten  zu  dürfen. 


*)  Ich  habe  in  meiner  Arbeit  über  den  Schwindel^)  eine  Uebersicht 
über  die  bis  dahin  erschienenen  wichtigeren  Arbeiten  auf  dem  uns  be- 
schäftigenden Gebiete  und  meine  gegenwärtige  Stellung  zur  Sache  gegeben. 
Wenn  ich  mich  hiernach  also  auch  entschlossen  habe,  den  Halbzirkelcanälen  einen 
breiteren  Raum  bei  der  Aufnahme  der  Schwindel  erregenden  Reize  zuzugestehen, 
so  haben  meine  anderweitigen  Erwägungen  dadurch  doch  keine  wesentliche 
Aenderung  erfahren.  In.  jener  iirbeit  (S.  42/43)  sagte  ich  von  den  bezüg- 
lichen Aufgaben  des  Kleinhirns  folgendes : 

„In  diesem  Sinne  steht  die  Function  des  Kleinhirns  unter  dem  reflek- 
torischen Einflüsse  des  Nervus  vestibularis,  des  Sehapparates  und  der  ge- 
sammten  centripetalen  ihm  zufliessenden  sensiblen  und  kinästhetischen 
Bahnen.  Die  besondere  Art  der  Reaction  auf  die  auf  diesen  Wegen  über- 
kommenen Reize  besteht  in  einer  Regulirung  der  Muskelimpulse." 

In  welcher  Weise  diese  Function  in  den  gesammten  cerebralen  Mecha- 
nismus eingefügt  ist  und  welche  grundsätzliche  Bedeutung  ihr  Verständniss 
für  die  allgemeine  Auffassung  der  psychischen  Vorgänge  besitzt,  das  habe  ich 
ebenda  (S.  46)  auseinandergesetzt.  Indem  ich  auf  diese  Arbeit  verweise, 
kann  ich  mich  eines  näheren  Eingehens  auf  diesen  Theil  jener  Fragen  um- 
somehr  enthalten,  als  ich  sie  am  Schlüsse  der  letzten  Abhandlung  des  zweiten 
Theiles  dieser  Sammlung  nochmals  von  jenen  allgemeineren  Gesichtspunkten 
aus  ins  Auge  fasse. 

**)  J.Breuer,  Ueber  die  Function  der  Bogengänge  des  Ohr- 
labyrinthes.     Separat-Abdruck  aus  den  med.  Jahrb.    I.  Heft  1874. 

***)  Purk inj  e,  Beiträge  zur  näheren  Kenntniss  des  Schwindels  aus 
heautognostischen  Daten.  Med.  Jahrb.  des  k.  k.  österr.  Staates.  Wien  1820. 
Bd.  VI.    St.  2.    S.  79—125. 


^)  E.  Hitzig,   Der  Schwindel.    Nothnagel's  specielle  Pathologie  und 
Therapie.    Bd.  XH,  H.  E.   1898. 


—     385     — 

In  der  That  erwähnt  Purkinje  auch  dort  bei  Referirung  seiner  Ver- 
suche über  den  galvanischen  Schwindel  nicht,  dass  er  bei  denselben  Augen- 
bewegungen beobachtet  oder  vermuthet  habe,  so  dass  ich  die  Entdeckung 
des  galvanischen  Nystagmus  wohl  mir  zuschreiben  darf.  Die  von 
Purkinje  allerdings  beschriebenen  Augenbewegungen  bei  und  nach  dem 
Drehschwindel  sind  aber  allmählich  wieder  so  vollkommen  in  Vergessenheit 
gerathen  (Vgl.  z.  B.  die  im  Text  erwähnte  Theorie  des  Schwindels  von 
Helmholtz),  dass  ich  sie,  wie  Breuer  voraussetzt,  selbstständig  wieder 
entdecken  musste. 


Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     I.  Theil.  25 


XIX.    Untersuchungen  zur  Physiologie  des  Kleinhirns*). 

Die  Gesichtspunkte,  welche  mich  zu  vivisectorischeu  Versuchen  am 
Kleinhirn  veranlassten,  sind  bereits  in  der  vorstehenden  Abhandlung 
angegeben.  In  der  hinteren  Schädelgrube  liegen  so  viele  wichtige 
Organe  auf  kleinem  Räume,  dass  die  Reduction  der  bei  äusserlicher 
Reizung  erzielten  Effecte  auf  irgend  eins  derselben  ohne  eingehendere 
Localisationsversuche  in  der  Luft  geschwebt  hätte.  Die  Erreichung  des 
hiermit  gesteckten  Zieles  musste  aber  gleichzeitig  mit  der  einstweiligen 
Begrenzung  dieser  Reihe  von  Versuchen  zusammenfallen.  Denn  die 
Schwierigkeit  der  Vornahme  und  der  Beurth eilung  von  Versuchen  am 
Cerebellum  ist  so  erheblich,  dass  das  Bestreben  nach  einer  weitergrei- 
fenden Erledigung  der  hier  schwebenden  Fragen  mich  auf  eine  nicht 
abzusehende  Zeit  von  dem  Objecte  meines  hauptsächlichen  Interesses, 
von  dem  grossen  Gehirne,  abgezogen  hätte. 

Ich  beschränke  mich  deshalb  auch  hier  allein  auf  die  Mittheilung 
derjenigen  Thatsachen,  welche  zur  Localisation  der  beim  Galvanisiren 
durch  den  Kopf  beobachteten  Reizerscheinungen  auf  das  Kleinhirn  und 
zum  Verständniss  derselben  dienen  können,  und  hoffe  zu  einer  detail- 
lirteren  Bearbeitung  dieses  Kapitels  unter  kritischer  Heranziehung  der 
angehäuften  Literatur  wohl  noch  die  Müsse  zu  finden.  Fast  sämmt- 
liche  Versuche  —  etwa  80  an  Zahl  —  wurden  an  Kaninchen  vorge- 
nommen. — 

Die  Methode  den  Menschen  durch  den  Kopf  zu  galvanisiren,  hat 
vor  allen  sonst  hier  in  Frage  kommenden  den  unbestreitbaren  Vorzug, 
dass  man  über  die  eigenen  Wahrnehmungen  des  Versuchsobjectes  und 
damit  von  vornherein  über  den  Sinn,  wenigstens  eines  Theiles  der 
Reizeffecte  unterrichtet  wird.  Indessen  sind  diese  Reizeffecte  eben  sehr 
complicirter  Natur.    Wenn  sie  nun  sämmtlich  auf  perverse  Muskelactionen 


*)  Vgl.  hierzu:    Reichert's  und   du  Bois-Reymon  d's  Archiv  1871. 
S.  771  f.,  und  Berl.  klin.  Wochenschr.  1872.   No.  43.  ,        . 


—     387     — 

zurückzuführen  sind,  die  einen  Irrtlium  rücksichtlich  der  Orientirung 
im  Räume  vermuthen  lassen,  so  war  es  wahrscheinlich,  dass  irgendwo 
ein  Organ  bestehen  müsse,  in  welchem  eine  Verknüpfung  der  einzelnen 
Mechanismen  stattfindet,  welche  zur  Orientirung,  sowie  zu  der  davon 
abhängenden  Aenderung  des  Verhaltens  im  Räume  dienen,  und  dass 
dieses  Organ  gereizt  wüi"de. 

Dass  diese  Mechanismen  mannichfaltiger  Art  sind,  ferner  dass  eine 
Störung  in  jedem  Einzelnen  derselben  zu  Anomalieen  sehr  verwandten 
Sinnes  führt,  weiss  man.  Das  Auge,  das  Ohr,  das  Gefühl  im  weiteren 
Sinne,  die  drei  Vorrichtungen,  welche  besonders  dazu  bestimmt  sind, 
unsere  Beziehungen  zur  Aussenwelt  nach  innen  zu  verdeutlichen,  ge- 
niessen  gleicher  Dignität.  So  möchte  ich  auch  die  Verbindung  der 
halbcirkelförmigen  Canäle  mit  dem  Gehörorgane  nicht  für  einen  Zufall 
halten,  sondern  darin  eher  die  Absicht  vermuthen,  auch  diesen  Wahr- 
nehmungen räumliche  Vorstellungen    schon   im  Entstehen  beizumischen. 

Pathologische  Beobachtungen  und  Versuche,  welche  schon  seit  dem 
vorigen  Jahrhundert  immer  und  immer  von  Neuem  in  der  Literatur 
erschienen,  hatten  versucht,  das  Kleinhirn  zum  Gleichgewichts-Orienti- 
rungsorgane  zu  machen.  Wenn  man  aber  die  Lehrbücher  der  Physio- 
logie durchsieht,  so  findet  mau,  dass  diese  Ansicht  keineswegs  zur 
iillgemeinen  Geltung  kommen  konnte,  und  dass  auch  die  schon  von 
Purkinje  ausgesprochene  Auffassung  jener  Zwangsbewegungen  als 
Schwiiidelerscheinungen  keinen  besonderen  Anklang  fand.  Es  wurde 
nicht  für  bewiesen  gehalten,  dass  die  Tliiere  überhaupt  Schwindel  hätten, 
und  dann  wurde  die  Multiplicität  der  mit  Zwangsbewegungen  reagiren- 
den  Organe  eingewendet. 

Ich  will  hier  nicht  näher  auseinandersetzen,  wie  diese  Multiplicität 
nur  eine  scheinbare  ist,  insofern  der  eine  Theil  jener  Organe  in  die 
Kategorie  von  Leitungsbahnen  gehört,  und  dem  einen  Theile  der 
Zwangsbewegungen  überhaupt  ein  anderer  Sinn  unterliegt.  Aber  nichts 
ist  einfacher  zu  beweisen,  als  dass  die  Z wangsbewegungeu  um 
■die  sagittale  Axe  ausführenden  Thiere  wirklich  Schwindel 
höheren  Grades  haben.  Denn  dieselben  Momente,  welche  dem  Men- 
schen erfahrungsgemäss  Schwindel,  nämlich  die  in  der  Abhandlung  XVIIl 
detaillirten  Erscheinungen,  bereiten,  rufen  am  Thiere  je  nach  der  Ein- 
wirkung dieselbe  Form  der  Zwangsbewegung  in  mehr  oder  weniger  aus- 
gesprochenem Grade  hervor. 

Am  leichtesten  kann  man  sich  hiervon  dadurch  überzeugen,  dass 
man  einem  Kaninehen  einen  Bindfaden  um  die  Fussgelenke  legt  und  es 
an  demselben  einige  Male  um  eine  verticale  Kopf-  oder  Körperaxe  dreht. 
■Sobald  man  mit  der  Drehung  aufhört,  wirft  sich  das  Thierchen  auf  die 

'25* 


—     388     — 

entgegengesetzte,  also  wenn  es  nach  links  gedreht  wurde,  auf  die  rechte 
Seite,  und  die  Augen  zeigen  rhythmischen  Nystagmus.  Dessen  Richtung 
weicht  jedoch  von  dem  anderweitigen  Schema  insofern  ab,  als  die 
ruckende  Bewegung  nach  rechts  anstatt  nach  links  hin  stattfindet. 
Aehnliche  Bewegungen,  die  ihr  Analogen  am  Menschen  in  dem  S.  357 
erwähnten  Versuche  finden,  macht  auch  der  Kopf.*) 

Noch  deutlicher  lässt  sich  die  Identität  der  Zwangsbeweguugen  mit 
den  Aeusserungen  des  Schwindeis  durch  die  galvanische  Reizung  er- 
weisen. Wenn  man  nämlich  Kaninchen  feuchtes  Papier  mäche  in  die 
äusseren  Gehörgänge  bringt,  ^  und  nun  die  Pole  der  Kette  mit  diesem 
feuchten  Leiter  verbindet,  so  kann  man  durch  Schaltung  verschieden 
starker  Ströme  alle  Modalitäten  der  Zwangsbewegungen  um  die  Längs- 
axe  erzeugen.  Wählt  man  einen  schwachen  Strom,  so  fällt  das  Thier 
bei  der  Schliessung  nur  nach  der  Anode,  während  es  seine  Augen  unter 
Nystagmus  nach  der  Seite  der  Kathode  dreht**).  Manchmal  aber  fehlt 
die  Bewegung  der  Augen,  oder  sie  tritt  nur  bei  der  Schliessung  und 
Oeffnung  der  Kette  ein.  Dann  liegt  das  Thier  auf  der  Seite,  ohne  dass 
seine  Augen  die  sonst  bei  gezwungener  Seitenlage  zu  beobachtende  Ver- 
drehung zeigten. 

Wählt  man  aber  einen  starken  Strom,  so  wälzt  sich  das  Kaninchen 
mit  grosser  Geschwindigkeit  nach  der  Seite  der  Anode  um  seine  Längs- 
achse, während  man  an  den  Augen  eine  hochgradige  Verdrehung  im 
angegebenen  Sinne  beobachtet,  das  Bild  ist  also  gerade  so,  als  wenn 
man  den  mittleren  Kleinhirnschenkel  durchschnitten  hätte.  Bei  der 
Oeffnung  der  Kette  nehmen  alle  Bewegungen  die  umgekehrte  Rich- 
tung an. 

Aus  den  soeben  und  in  der  vorstehenden  Abhandlung  angeführten 
Versuchen  geht  jedenfalls  schon  ganz  unanfechtbar  hervor,  dass  die 
in  der  Form  von  theilweiser  oder  gänzlicher  Rotation  um 
die  sagittale  Axe  auftretenden  Zwangsbewegungen,  ebenso 
wie  die  entsprechenden  Erscheinungen  am  Menschen,  nichts 
als  eine  besondere  Erscheinungsweise  des  Schwindels  sind^ 
ohne  dass  jedoch  schon  etwas  für  die  Localisation  der  Reizelfecte  ge- 
wonnen wäre.  — 

Auf  einen    etwas  kleineren  Bezirk    gelangt    man   nun  mit  dem  fol- 


*)  Breuer  hat  diese   seither  von  ihm  an  Vögeln   beobachteten    Bewe- 
gungen „Nystagmus  des  Kopfes"  genannt. 

**)  Sitzt  die  Anode  also  rechts,  so  wird  das  rechte  Auge  durch  den  Ruck 
nach  vorn  und  innen  und  oben  gedreht. 


—     389     — 

genden,  auch  durch  die  Art  des  bisher  nicht  angewendeten  Reizmittels 
interessanten  Versuch. 

Wenn  man  dem  Kaninchen  das  Hinterhaupt  eröffnet  und  ihm  den 
kleinen  Seitenlappen  des  Kleinhirns  exstirpirt,  der  der  Flocke  beim 
Menschen  entspricht,  so  bleibt  eine,  von  dem  beim  Kaninchen  ver- 
knöcherten Tentorium  gebildete  Höhle  zurück,  in  die  der  Flockenstiel 
hineinragt.  Bringt  man  nun  in  diese  Höhle  einige  Fragmente  Eis,  oder 
spritzt  vorsichtig  kaltes  Wasser  hinein,  so  richtet  sich  das  Thier  plötz- 
lich auf,  macht  ähnliche  wackelnde  Bewegungen  mit  dem  Kopfe,  manch- 
mal auch  mit  dem  Körper  wie  nach  den  Dreh  versuchen,  und  stürzt 
dann  auf  die  entgegengesetzte  Seite,  während  sich  nun  beide  Augen 
unter  heftigem  Nystagmus  in  die  Winkel  der  verletzten  Seite  stellen. 
Eine  Weile  bleibt  es  so  liegen,  dann  springt  es  plötzlich  wieder  auf 
und  sitzt  ruhig  da,  als  wenn  ihm  nichts  geschehen  wäre.  War  der  Reiz 
aber  sehr  stark,  so  geschieht  dasselbe  wie  beim  Galvanisiren  mit  starken 
Strömen.  Das  Kaninchen  macht  einen  solchen  Satz,  dass  es  nicht  mehr 
auf  die  Seite,  sondern  auf  den  Rücken  zu  liegen  kommt,  rollt  von  da 
auf  die  verletzte  Seite,  schleudert  sich  wieder  nach  der  gesunden  Seite 
zu,  und  wenn  der  Impuls  stark  genug  ist,  kann  sich  der  Vorgang  ein 
paar  Mal  wiederholen.  Die  Abkühlung  wirkt  also  wie  die  Kathode. 
Da  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  einige  Momente  vergehen,  so  ist  die  Idee 
nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  dass  die  durch  den  Kältereiz  erfahrungs- 
gemäss  producirte  Contraction  der  kleinsten  Blutgefässe  hierbei  eine 
Rolle  spielt.  34) 

Durch  diesen  Versuch  wird  die  Summe  unserer  Reizeffecte  schon 
etwas  mehr,  nämlich  auf  die  unmittelbare  Umgebung  der  Flocke  locali- 
sirt.  Da  aber  die  einseitige  oder  doppelseitige  Exstirpation  dieses  kleinen 
Organs  an  dem  Verhalten  des  Thieres  nicht  nothwendigerweise  etwas 
ändert,  so  darf  man  nicht  annehmen,  dass  jene  Bewegungseffecte  etwa 
durch  Reizung  der  in  dem  Flockenstiele  austretenden  Bahnen  ausgelöst 
würden.  Vielmehr  wird  es  durch  die  Nachbarschaft  der  Ausstrahlungen 
der  eigentlichen  Hemisphäre  des  Kleinhirns  nach  dem  Brückenschenkel 
zu  wahrscheinlich,  dass  dieser  Theil  der  Bahnen  bei  der  zuletzt  ge- 
schilderten Methode  den  Angriffspunkt  des  Reizes  abgiebt.  Von  diesem 
Gesichtspunkt  aus  müssen  sämmtliche  durch  Exstirpation  oder  Reizung 
der  Flocke  bedingten  Anomalieen  der  Muskelinnervation  beurtheilt 
werden. 

Unverletzte  Kaninchen  lassen  sich  bekanntlich  ebensowenig  mit  dem 
Rumpfe  als  mit  dem  Kopfe  gutwillig  auf  die  Seite  legen,  und  wenn  es 
gewaltsamer  Weise  geschehen  ist,  so  schleudern  sie  sich  mit  Energie 
in  ihre  Normalhaltung  zurück,  sobald  man  sie  freilässt.    Hat  man  ihnen 


—     390     — 

jedoch  die  Flocke  genommen,  so  setzen  sie  manchmal  der  Verdrehung 
ihres  Körpers  keinen  Widerstand  entgegen  und  lassen  sich  auch  die 
Seitenlage  des  Rumpfes  während  längerer  Zeit  gefallen.  Ihre  Bewe- 
gungen (aucli  die  der  Augen)  sind  dabei  sonst  nicht  beeinträchtigt,  denn, 
wenn  man  sie  reizt,  so  entweichen  sie  wie  gesunde  Thiere;  überhaupt 
werden  sie  durch  die  Operation  nicht  sehr  alterirt.  So  ertappte  ich 
ein,  nach  Vollendung  der  Operation  kurze  Zeit  ohne  Aufsicht  gelassenes 
Kaninchen  dabei,  dass  es  sich  bemühte,  den  Pons  eines  vorher  getödte- 
ten  Leidensgefährten  durch  Lecken  aus  der  von  mir  geöiTneten  Schädel- 
höhle herauszubefördern,  nachdem  es  das  ganze  Grosshirn  bereits  ver- 
zehrt hatte. 

Wenn  demnach  auch  die  Flocke  und  ihr  Stiel  unschuldig  an  den 
Drehbew^egungen  und  an  dem  eben  geschilderten  abnormen  Verhalten 
des  Thieres  sind,  insofern  als  dasselbe  wohl  auf  accidentelle  Zerrungen 
oder  Quetschungen  der  Umgebung  zurückgeführt  werden  muss,  so  geht 
doch  aus  diesen  Versuchen  hervor,  dass  man  durch  einen  so  gering- 
fügigen Eingriff,  wie  diese  mechanischen  Beleidigungen, 
partielle  Störungen  in  dem  Orientirungsapparate  des  Thieres 
hervorbringen  kann. 

Einen  ähnlichen  Sinn  hat  es,  wenn  beim  Zerschneiden  des  Flocken- 
stieles, wie  ich  fand,  doppelseitige  coordinirte  Bewegungen  der  Augen 
auftreten,  und  weim  es  bei  Reizung  der  Flocke  selbst  zu  inconstanten, 
aber  gleichfalls  coordinirten  Zwangsstellungen  der  Bulbi  kommt.  In 
den  meisten  Fällen  kann  man  nämlich,  sobald  man  nicht  roh  verfährt, 
die  Flocke  mechanisch  und  elektrisch  reizen,  ohne  irgend  einen  Reiz- 
effect  zu  beobachten.  Manchmal  aber,  w'enn  auch  selten,  dreht  sich 
schon  bei  sanftem  Druck  auf  das  unverletzte  Organ  und  ebenso  bei 
Reizung  desselben  mit  der  Anode  eines  sehr  schwachen  Stromes  das 
Auge  der  verletzten  Seite  nach  unten,  und  das  andere  Auge  nach  oben. 
Nachlass  des  Druckes  und  Oeffnung  der  Kette  führen  dann  zu  einer 
Bewegung  in  entgegengesetzter  Richtung. 

Das  Endziel  war  nun,  diese  Erscheinungen  in  die  Hemisphären 
oder  den  Wurm  zu  verfolgen,  bis  jede  einzelne  derselben  womöglich 
ebenso  localisirt  war,  wie  es  für  die  Muskel bewegungen  im  Grosshirn 
glückte.  Ich  habe  schon  eingangs  angeführt,  dass  ich  diese  Aufgabe 
nicht  vollständig  lösen  konnte,  aber  doch  erreichte  ich  mein  nächstes 
Ziel,  die  Localisirung  des  ganzen  Coraplexes  auf  das  Cerebellum  und 
seine  fernere  Zerlegung  in  die  einzelnen  Bewegungsanomalieen. 

Eins  der  wichtigsten  Resultate  erhielt  ich  gleich  bei  den  ersten 
Versuchen,  bei  welchen  Herr  Dr.  Mossdorff  aus  Dresden  mir  assi- 
stirte,  ich  habe  es  oben  (S.  148)  bereits  erwähnt.    Als  ich  nämlich  zur 


—     391     - 

Vornahme  der  eJektrischen  Reizung  das  Hinterhaupt  eröffnet  hatte, 
zeigten  die,  als  Indices  in  den  Glaskörper  gesteckten  Karlsbader  Nadehi 
heftigen  Nystagmus  an.  Es  konnte  nun  sein,  dass  der  Luftreiz  direct 
oder  indirect  diese  Bewegungen  auslöste,  aber  es  war  auch  möglich, 
dass  durch  die  Entfernung  des  Knochens  eine  Dislocation  der  die 
hintere  Schädelgrube  ausfüllenden  Theile,  und  so  eine  Zerrung  an  diesen 
so  sensiblen  Organen  eingetreten  war. 

Ich  sagte  mir,  dass  in  der  Einwirkung  der  Luft,  wenn  diese  wirk- 
lich die  Schuld  trug,  wahrscheinlich  die  Teniperaturdifferenz  das  We- 
sentliche sei,  und  damit  liess  sich  der  Zweifel  beseitigen.  Nachdem 
nämlich  der  Nystagmus  wieder  aufgehört  hatte,  kühlte  ich  die  Ober- 
fläche des  Organes  von  neuem  mit  Wasser  von  Zimmertemperatur  oder 
Eiswasser  ab.  Die  jetzt  entstehenden  Reizeffecte  konnten  nun  nicht 
mehr  auf  Zerrungen  bezogen  werden.  Sie  bestanden  wiederum  in 
Zwangsbewegungen  des  Körpers,  des  Kopfes  und  der  Augen, 
nur  dass  dieselben  sich  nicht  mit  der  absoluten  Constanz  herstellen 
Hessen,  wie  bei  Reizung  von  der  Flockenkapsel  aus.  Hierin  lag  der 
Grund,  wegen  dessen  ich  die  letztere  Methode  aufsuchte  und  für  De- 
monstrationen und  die  erste  Publication  adoptirte. 

Bei  einer  Zahl  von  Fällen  treten  nämlich  Rollbewegungen  nach 
der  unverletzten  Seite  und  Zwangsstellungen  der  Augen  ein,  bei  einer 
anderen  Zahl  aber  nur  mehr  oder  weniger  starker  Nystagmus,  und  dessen 
Richtung  ist,  wie  es  scheint,  je  nach  der  gereizten  Stelle  verschieden. 
In  wieder  anderen  Fällen  waren  auch  die  Augenbewegungen  sehr 
schwach.  Ich  habe  mich  nicht  sicher  überzeugen  können,  ob  auch 
hieran  geringe  Differenzen  der  Oertlichkeit  oder,  was  mir  wahrschein- 
licher ist,  verschiedene  Irritabilität  der  Blutgefässe  Schuld  war. 

Obwohl  ich  den  Effecten  der  localen  Elektrisirung  an  so 
kleinen  und  empfindlichen  Theilen  einen  grossen  Wertli  nicht  beilegen 
kann,  so  will  ich  doch  wegen  der  Uebereinstimmung  mit  den  durch 
äussere  Galvanisirung  erzielten  Augenbewegungen  auch  die  Resultate 
einiger  derartiger  Versuche  mittheilen. 

Die  Drähte  mit  den  Platinknöpfchen  Hessen  sich  hier,  da  sie  die 
Oberfläche  des  Organs  sofort  zerfetzten,  nicht  ohne  Weiteres  anwenden. 
Ich  umgab  sie  deshalb  mit  einigen  durch  Seide  festgehaltenen  Lagen 
feuchten  schwedischen  Fliesspapieres,  und  reizte  dann  (Anordnung  wie 
auf  S.  5)  mit  20  S.  EE.  W.  in  der  Nebenschliessung. 

Dabei  drehten  sich  nun  beide  Augen,  wenn  die  Elektroden  über 
dem  hinteren  Lappen  des  Wurms  standen,  nach  rechts  oder  links,  je 
nachdem  die  Anode  rechts  oder  links  war.  Am  deutlichsten  schien 
der  Effect  zu  sein,  wenn  sich  die  eine  Elektrode    in    der,    beim  Kanin- 


—     392     — 

chen  sehr  tiefen,  sagittalen  Furche  zwischen  Wurm  und  Hemisphäre 
befand. 

Rückten  die  Elektroden  nach  dem  oberen  Lappen,  so  ergab  die 
eine  Stromrichtung  combinirte  Drehung  des  einen  Auges  nach  oben 
und  des  anderen  nach  unten,  und  die  andere  Stromrichtuug  sofortigen 
Wechsel,  so  dass  nun  das  zuerst  nach  oben  blickende  Auge  nach 
unten  sah.  Auch  die  mechanische  Reizung  der  gleichen  Theile 
mit  der  Spitze  einer  lancettförmigen  Präparirnadel  führte  zu  zuckenden 
Bewegungen  beider  Augen.  — 

Endlich  nahm  ich  noch  ^  eine  lauge  Reihe  von  Verletzuugs-,  Durch- 
schneidungs-  und  Exstirpationsversuchen  am  Kleinhirn  vor,  deren  Ge- 
sammtresultat  zur  ferneren  Aufklärung  des  Sachverhalts  wesentlich  bei- 
trägt. Wenn  tiefgehende  Schnitte  die  eine  Hemisphäre  derart 
trennten,  dass  ihre  Verbindungen  mit  dem  mittleren  und  hinteren 
Schenkel  zum  grösseren  Theile  unterbrochen  sein  mussten,  so  entstand 
dasselbe  Bild  wie  bei  starker  galvanischer  Reizung,  die  Thiere  ro- 
tirten  mit  rasender  Vehemenz  nach  der  verletzten  Seite. 
Befanden  sie  sich  im  Käfig,  so  verpackten  sie  sich,  wie  Magen  die 
gelegentlich  seiner  Versuche  über  Trennung  des  mittleren  Kleinhirn- 
schenkels treffend  bemerkt,  durch  das  Drehen  selbst  ähnlich  in  Stroh, 
wie  eine  Flasche,  die  man  auf  Reisen  schickt. 

Ich  habe  schon  a.  a.  0.  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  diese, 
schon  von  anderen  Autoren  beschriebene  Form  des  Versuches,  so  merk- 
würdig ihr  Anblick  auch  sein  mag,  den  Einblick  in  das  eigentliche 
Wesen  des  Vorganges  wegen  der  grossen  Gewaltsamkeit  der  Bewegungen 
viel  weniger  gut  gestattet,  als  die  kleineren  Verletzungen.  Bei  diesen 
beobachtet  man  nämlich  entweder  das  Gleiche,  wie  nach  Exstirpation 
der  Flocke:  die  Thiere  lassen  sich  die  Seitenlage  des  Rumpfes 
gefallen.  Oder  wenn  man  grössere  Zerstörungen  anrichtet,  kann  eine 
Serie  von  zwangsmässigen  Aenderungen  der  Normalhaltung  eintreten, 
deren  häufigste  Erscheinungsweise  die  ist,  dass  sich  das  Versuchs- 
thier  aus  jeder  Lage,  die  man  ihm  mittheilt,  auf  die  verletzte 
Seite  wirft  anstatt  in  die  Mittelstellung.  Ist  dieser  Impuls  sehr 
heftig,  so  kommt  es  gelegentlich  auch  einmal  zu  einer  oder  mehreren 
Rotationen,  die  regelmässig  mit  der  abnormen  Zwangslage  enden. 

Auf  Grund  dieser  Beobachtungen  kam  ich  zu  der  Ueberzeugung, 
dass  in  dem  operirten  Kaninchen,  wenn  es  z.  B.  auf  dem  Bauche 
liegt,  der  Eindruck  vorherrscht,  dass  es  auf  der  unverletzten  Seite  läge, 
und  dass  die  Zwangsbewegung  nach  der  verletzten  Seite  nichts  ist,  als 
eine  willküi'liche  Bewegung  zur  Aufrechthaltung  des  scheinbar  gestörten 
Gleichgewichtes. 


—     393     — 

Hiermit  habe  ich  nber,  wie  ich  schon  sagte,  nur  eine  Form  „der 
Zwangslage"  beschrieben,  diese  ist  nun  wieder  der  mannich faltigsten 
Varianten  fähig.  SteUung  und  Bewegung  der  Augen,  Verhältniss  des 
Kopfes  zum  Rumpfe  und  der  einzelnen  Abschnitte  des  Rumpfes  unter 
sich  wechseln  bei  den  einzelnen  Versuchen  in  der  buntesten  Reihen- 
folge mit  einander  ab.  Von  diesen  Details  erwähne  ich  nur  die  soge- 
nannte spiralige  Drehung  des  Rumpfes,  bei  der  das  Thier  zwangs- 
mässig  die  Vorderpfoten  und  die  eine  Hinterbacke  auf  den  Tisch  bringt, 
so  dass  man  entschieden  an  eine  Täuschung  über  das  Verhalten  des 
Hinterleibes  denken  muss.  Näheres  Eingehen  auf  diese  Fragen  verspare 
ich  mir,  der  eingangs  erwähnten  Absicht  getreu,  auf  eine  andere 
Gelegenheit. 

Ich  glaube  aber  hiermit  nachgewiesen  zu  haben,  dass  man  alle 
die  beim  Galvanisiren  durch  den  Kopf  eintretenden  und  als 
Schwindelerscheinungen  zu  betrachtenden  Störungen  der 
Muskelinnervation  in  ihrer  Gesamratheit  oder  einzeln  her- 
vorbringen kann,  je  nachdem  man  die  normalen  Zustände 
des  Kleinhirns  allgemein  oder  local  ändert. 


Anmerkung. 

34)  Die  gleichen  Erscheinungen  sind,  wie  Breuer  und  Ewald  seither 
nachgewiesen  haben,  durch  directe  Abkühlung  der  Halbcirkelcanäle  hervorzu- 
bringen. Es  versteht  sich  daher,  dass  sie  in  unserem  Falle  gleichfalls  durch 
Reizung  der  Canäle  oder  des  N.  vestibularis  erklärt  werden  können.  Die  beob- 
achtete Latenzzeit  wird  dem  Zeitintervall  entsprechen,  den  die  Ausbreitung 
der  Abkühluns:  erfordert. 


XX.   Ueber  die  Auffassung  einiger  Anonialieen  der  Muskel- 

innervation. 

I. 

Die  bisher  vorgebrachten  Ansichten  über  die  Ursachen  der  in 
Folge  von  Apoplexieen  so  häufig  auftretenden  Contracturen 
weichen  nicht  unerheblich  von  einander  ab.  Einige  Autoren  beschul- 
digen einfach  die  Prävalenz  der  Flexoren,  ohne  dass  damit  doch  mehr 
als  eine  bequeme  Redewendung,  mit  der  man  über  die  Schwierigkeit 
der  Erklärung  hinweg  kam,  gegeben  worden  wäre. 

Wenn  wirklich  einzig  und  allein  die  Anwesenheit  grösserer  Muskel- 
massen an  den  ßeugeflächen,  die  jedoch  keineswegs  allein  Sitz  solcher 
Contracturen  sind,  bedingend  wäre,  so  könnte  man  nicht  einsehen,  warum 
jenes  Symptom  nicht  sofort,  oder  wenigstens  im  Laufe  einiger  Tage 
nach  dem  Eintritt  der  cerebralen  Läsion  zum  Vorschein  kommt.  Ausser- 
dem hätte  man  dann  bei  peripheren  Brachiallähmungen,  namentlich  aber 
bei  isolirten  Lähmungen  des  Nervus  radialis,  denselben  Symptomencom- 
plex  zu  finden,  welches  nicht  der  Fall  ist. 

Andere  Autoren  suchen  den  Grund  im  Gehirne.  Duchenne*)  hält 
die  Contractur  Hemiplegischer  für  ein  Zeichen  eines  im  Gehirn  ab" 
laufenden  Entzündungsvorganges,  der  in  den  Wänden  der  hämorrhagi- 
schen Cyste  seineu  Sitz  hätte.  Ich  brauche  nicht  anzuführen,  dass  es 
reichliche  Fälle  von  liemiplegischen  Contracturen  giebt,  bei  denen  man 
keine  Veranlassung  hat,  an  Blutergüsse  in  die  Hirnsubstanz  zu  denken. 
Im  üebrigen  giebt  jener  verdienstvolle  Forscher  keine  Gründe  für  seine 
Ansicht  an. 

Auch  in  der  Heranbildung  und  dem  weiteren  Verlaufe  solcher  Con- 
tracturen liegt  mancherlei,  was  die  fragliche  Ansicht  von  vorn  herein 
unwahrscheinlich  macht.     In    der  Regel    sieht    man    die  ersten  Zeichen 


*)  Duchenne,    De  1' electrisation    localisee.      Deuxieme    edition. 
Paris  1861,  p.  362. 


—     395     — 

des  Symptoms  erst  im  Laufe  des  2. — 3.  Monats  nach  dem  Insulte  er- 
scheinen. Dann  aber  pflegt  es  nur  zu  häufig  bis  au  das  Lebensende 
nicht  wieder  zu  weichen,  sondern  im  Gegentheil  an  Intensität  immer 
mehr  und  mehr  zuzunehmen.  Wenn  man  nun  auch  zugeben  kann,  dass 
die  Entzündung  in  der  Cysteuwand  erst  im  2.  oder  3.  Monat  entsteht, 
so  kann  man  ihr  doch  eine  Jahre  und  Jahrzeiinte  lange  Dauer  kaum 
zugestehen.  Man  kann  dies  um  so  weniger,  wenn  man  berücksichtigt, 
dass  nach  dem  Zustande  der  Contractur  zu  urtheilen,  diese  Entzündung 
immer  heftiger  werden  müsste,  ohne  doch  andere  schwere  Erscheinungen 
zu  setzen. 

Andere  Autoren  sprechen  melir  unbestimmt  „von  der  Einwirkung 
abnormer  Reize  auf  die  motorischen  Fasern  der  ßeugemuskeln."  Hier- 
mit dürfte  nicht  viel  erklärt  sein  und  ich  muss  nur  wiederholt  in  Er- 
innerung bringen,  dass  es  keineswegs  immer  die  Beugemuskeln  allein 
sind,  welche  von  der  Contractur  heimgesucht  werden.  —  Wieder  An- 
dere (Boudet,  Durand-Fardel)  glauben,  dass  die  Contractur  eine 
Läsion  der  Convexität  oder  der  Ventrikel  bedeute.  Dagegen  sprechen 
zahlreiche  Sectionsbefunde,  bei  denen  Contractur  ohne  den  vorausge- 
setzten Erguss  auf  die  freien  Flächen  des  Gehirns  bestand. 

Die  meiste  Wahrscheinlichkeit  hat  die  in  den  neueren  Arbeiten 
nicht  berücksichtigte  Ansicht  Bouchard's*)  für  sich,  obwohl  sich  zeigen 
wird,  dass  sie  für  sich  allein  die  vorhandenen  Symptome  nicht  erklärt_ 
Bouchard,  der  in  sehr  dankenswerther  Weise  die  verschiedenen  secun- 
dären  Rückenmarksdegenerationen  studirte,  widmet  dem  Auftreten  und 
den  Symptomen  der  cerebralen  Contractur  eine  ganz  besondere  Auf- 
merksamkeit. Er  hat  wohl  die  genaueste  Beschreibung  dieses  Sym- 
ptoms, ohne  dass  er  freilich  die  eigenthümlichen,  schon  früher  bekann" 
ten  plötzlichen  Aenderungen  in  dem  Verhalten  der  betreffenden  Musku- 
latur erwähnte.  Nach  ihm  wäre  die  frühzeitig  (innerhalb  der  ersten 
Tage)  auftretende  mit  Temperatursteigerung  verknüpfte  Contractur  als 
Entzündungserscheinung,  die  späte  Contractur  aber  als  Product  der 
gleichzeitig  beginnenden  secundären  Bindegewebswucherung  im  Rücken- 
mark zu  deuten.  Wir  wollen  dahingestellt  sein  lassen,  ob  gerade  die 
Bindegewebswucherung  als  Reiz  einwirkt;  dass  in  der  That  ein  Reiz- 
zustand in  den  Centralorganen  anzunehmen  ist,  werden  wir  später  näher 
besprechen. 

Ich  habe  nun  zunächst  einige  neue  Thatsachen  beizubringen.  Bei 
verschiedenen  Autoren  findet  sich  die  Angabe,  dass  mitunter,  ohne  eine 


*)  Bouchard t.   Des  degenerations  secondaires   de  la  moelle  epiniere. 
Archives  generales  1866.    (4.  Artikel.) 


—     396     — 

hinreichend  erkennbare  Ursache  die  hemiplegischen  Contracturen  sich 
plötzlich  und  vorübergehend  vollständig  lösten.  Diese  sonderbare  Er- 
scheinung passt  in  keine  der  gangbaren  Erklärungen  hinein.  Man  hat 
aber  die  Bedingungen  dieses  plötzlichen  Wechsels  nicht  studirt,  nament- 
lich auch  sich  nicht  überzeugt,  unter  welchen  umständen  derselbe  con- 
stant  auftritt.  Andere  Beobachter  sahen  als  momentane  Folge  psychi- 
scher Affecte  Streckung  krampfhaft  gebeugter  Finger  und  Erhebung  des 
vorher  gegen  den  Rumpf  gepressten  Armes.  Bei  derartigen  Vorgängen 
haben  wir  es  aber  nicht  mit  einem  einfachen  Nachlasse  der  Contractur, 
sondern  mit  einer  gleichzeitigen,  plötzlichen  und  unwillkürlichen  Inner- 
vation der  Antagonisten  zu  thun. 

Die  einfache  Lösung  der  Contractur  tritt  innerhalb  einer 
langen  Zeitperiode  der  Krankheit  regelmässig  nach  längerer 
Ruhe,  insbesondere  nach  dem  nächtlichen  Schlaf  auf.*)  So 
lange  die  Kranken  auch  nach  dem  Erwachen  ruhig  im  Bette 
liegen,  bleiben  ihre  Glieder  weich  und  biegsam.  Ja,  es  kommt 
sogar  vor,  dass  Personen,  die  nur  in  Folge  starrer  Contrac- 
turen an  vollkommener  Immobilität  der  betreffenden  Partie 
zu  leiden  scheinen,  dieselbe  unmittelbar  nach  dem  Schlafe 
ziemlich  gut  bewegen  können.  Mit  dem  Augenblicke  aber, 
wo  sie  eine,  die  Erzeugung  grösserer  Willensimpulse  vor- 
aussetzende Bewegung  machen,  ist  die  Contractur  und  damit 
die  Immobilität  wieder  da.  Häufig  ist  dies  der  Fall,  wenn  solche 
Kranke  das  Bett  verlassen  haben,  manchmal  genügt  schon  das  Wechseln 
des  Hemdes  im  Bett,  in  anderen  Fällen  tritt  die  alte  Starrheit  in  gan- 
zer Intensität  erst  nach  Zurücklegung  eines  mehr  oder  weniger  langen 
Weges  ein. 

Diese  Verschiedenheiten  hängen  wahrscheinlich  ab  von  der  Inten- 
sität der  Affection  und  von  dem  bereits  seit  dem  Insulte  verflossenen 
Zeitraum.  Ueber  die  ganz  alten  Contracturen  vermag  ich  übrigens 
nichts  auszusagen,  da  sie  mir  so  gut  wie  gar  nicht  zur  Beobachtung 
kommen.  Indessen  war  ich  doch  in  der  Lage,  das  Symptom  über 
mehrere  Jahre  hinaus  verfolgen  zu  können.  Es  mag  sein,  dass  die 
Contractur  nach  Jahrzehnte  langem  Bestehen  überhaupt  permanent  wird. 
Dem  liegen  jedoch  wohl  ganz  difl"erente  Ursachen  ■ —  secundäre  Verän- 
derungen der  Muskeln  und  Gelenke  zu  Grunde. 

Lässt    man    Hemiplegische,    deren    Contractur    nach    Zurücklegung 


*)  Benedict,  Elektrotherapie  S.  219  erwähnt  beiläufig:  „Bei  der  Nacht 
verschwinden  (diese  Spannungen,  wie  auch)  gewöhnlich  die  cerebralen  Con- 
tracturen." 


—     397     — 

eines  längeren  Weges  ziemlich  starr  geworden  ist,  sich  niederlegen,  so 
verschwindet  nicht  selten  ein  grosser  Theil  der  Starre.  Dies  dauert 
aber  nur  so  lange  sie  liegen.  Wenn  sie  wieder  aufgestanden  sind  und 
einige  Bewegungen  gemacht  haben,  ist  die  frühere  Starre  wieder  da. 
Es  begegnen  uns  manchmal  Kranke,  bei  denen  dieser  Wechsel  nur  ganz 
kurze  Zeit  in  Anspruch  nimmt,  so  dass  man  das  Experiment  oft  hinter- 
einander wiederholen  kann.  Legt  man  dann  die  eigenen  Finger  vor- 
sichtig auf  die  Spitzen  der  krallenartig  eingeschlagenen  Finger  der 
Kranken,  so  kann  man  sehr  deutlich  das  jedesmalige  Nachlassen  und 
wieder  Zuschnappen  fühlen.*) 

In  anderen  Fällen  kann  man  eine  Verstärkung  der  Contractur 
auch  durch  andere  als  Ortsbewegungen  des  ganzen  Körpers  erzielen. 
Ich  habe  z.  ß.  eine  Kranke  mit  leichter  apoplektischer  Contractur  der 
rechten  Seite  beobachtet,  welche  jedesmal,  sobald  ich  sie  mit  der  linken 
Hand  einen  schweren  Gegenstand  heben  Hess,  den  Daumen  und  Zeige- 
finger der  rechten  Hand,  die  sonst  ziemlich  flexibel  waren,  ganz  starr 
einschlug.  Liess  sie  den  Gegenstand  wieder  herab,  so  war  auch  der 
alte  Zustand  wieder   da. 

Wir  haben  hier  also  mehrere  Formen.  Bei  den  letzterwähnten 
Beobachtungen  tritt  eine  unwillkürliche  Zusammenziehung  einzelner 
Muskeln  nur  während  der  Dauer  gewisser  Bewegungen  ein.  Bei 
anderen  dauert  sie  nach  einer  Anzahl  von  willkürlichen  Bewegimgs- 
impulsen  so  lange  der  Mensch  steht  oder  geht  an,  lässt  aber  nach 
einiger  Ruhe  nach.  In  wieder  anderen  Fällen  endlich  ist  nur  lange 
Ruhe  —  der  nächtliche  Schlaf  —  im  Stande  die  Contractur  vollständig 
zu  lösen,  während  schon  massige  Bewegungsimpulse  sie  in  voller  In- 
tensität wieder  herzustellen  vermögen. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  diese,  in  den  mehr  oder 
weniger  paralytischen  Gliedern  eintretenden  unwillkür- 
lichen Bewegungen,  welche  wir  Contracturen  nennen,  als 
Mitbewegungen  aufgefasst  werden  müssen. 

Sehr  viel    klarer    tritt    der  Charakter    der  Mitbewegung    bei    einer 


*)  Vorsichtig  mnss  man  hierbei  verfahren,  weil  die  Reflexerregbarkeit 
in  diesen  Gliedern  sehr  gross  zu  sein  pflegt.  Auf  jede  auch  nur  geringe  Zer- 
rung antworten  die  Muskeln  sofort  mit  noch  stärkerer  Zusammenziehung.  — 
Die  Lösung  der  Contractur  tritt  auch  gelegentlich  ein,  wenn  man  den  Kranken 
durch  galvanische  Ströme  Sehwindel  macht,  und  ebenso,  wenn  man  ihnen 
durch  passive  Bewegungen  des  entzündeten  Schultergelenkes  (Vergl.  meine 
Abhandlung:  Ueber  eine  bei  schweren  Hemiplegieen  u.  s.  w.  Virchow's  Archiv 
Bd.  48)  Schmerz  verursacht. 


—     398     — 

bisher  wenig  beschriebenen  P'orm  cerebraler  Halblähmung,  der  so- 
genannten Hemiplegia  spastica  infantium  zu  Tage. 

Eine  im  Allgemeinen  treffende  Beschreibung  dieser  Krankheit  finde 
ich  eigentlich  nur  bei  Benedict*).  Er  irrt  sich  jedoch  in  der  An- 
gabe, dass  dabei  die  Lähmungen  fehlten.  Benedict  beschreibt  nämlich 
diese  Aftection  als  lediglich  durch  Muskelspannungen  bedingt.  Wahr- 
scheinlich sind  ihm  durch  Zufall  nur  spätere  Stadien  zur  Beobachtung 
gekommen,  wobei  dann  allerdings  die  krampfartigen  Erscheinungen  bei 
Weitem  in  den  Vordergrund  treten  können.  In  früheren  Stadien,  und 
bei  einzelnen  Individuen  auch  auf  lange  Zeit  hinaus,  besteht  aber  eine 
wohl  charakterisirte  Halblähmung  des  Körpers  und  auch  des  Gesichtes. 
Mit  der  eintretenden  Motilität  ändert  sich  das  Bild,  und  man  bekommt 
allmäblig  die  uuzweckmässigsten  Mitbewegungen,  die  man  sich  denken 
kann,  derart,  dass  nicht  selten  der  antagonistische  Effect  oder  eine  be- 
liebige andere  wunderliche  Combination  von  Muskel  Wirkungen  heraus- 
kommt. Berücksichtigt  man  nur  diese  Mitbewegungen,  so  kann  man 
die  Krankheit  wohl  für  Chorea  halten. 

Es  lässt  sich  hierbei  nun  ganz  das  Gleiche  wie  bei  den  Hemi- 
plegieeu  Erwachsener  nachweisen.  Wenn  man  solche  Kinder,  nachdem 
sie  erst  die  anfängliche  Aengstlichkeit  überwunden  haben,  einige  Zeit 
auf  dem  Sopha  ausgestreckt  liegen  lässt,  so  gelingen  ihnen  Bewegungen, 
die  sie  sonst  absolut  nicht  ausführen  können,  in  bei  Weitem  zweck- 
mässigerer  Weise.  Die  krampfartigen  Bewegungen,  welche  beim  Gehen, 
häufig  auch  schon  beim  Stehen  auftreten,  fallen  aber  in  der  absoluten 
Ruhe  häufig  gänzlich  aus.  — 

Andererseits  lassen  sich  jene  Mitbewegungen  ebenfalls  durch  Auf- 
bietung stärkerer  Willensimpulse  bedeutend  verstärken.  Man  kann  dies 
leicht  zur  Anschauung  bringen,  wenn  man  den  Kindern  Gewichte  ver- 
schiedener Schwere  in  die  gesunde  Hand  giebt.  Je  schwerer  die  Ge- 
wichte werden,  um  so  w-eiter  wird  der  Bereich  der  abnormen  Mit- 
bewegungen und  ihre  Intensität. 

Ich  habe  bisher  die  Contractur  der  Erwachsenen  nur  als  Ausdruck 
von  Mitbewegungen  bei  allgemeinen  Körperbewegungen  und  bei  auf 
andere  Glieder  gerichteten  Willensintentionen  geschildert.  Ganz 
ebenso  häufig  strahlen  die  Impulse  auch  bei  Erwachsenen  in  abnormer 
Stärke  in  antagonistische  Muskeln  derselben  Extremität  ein.  Schon 
von  alten  Zeiten  her  weiss  man,  dass  halbseitig  Gelähmte,  denen  man 
die  Hand  öffnen  und  die  Finger  strecken  heisst,  das  Glied  nur  noch 
fester  zukrallen.     Liegt   der  Mensch    aber    ruhig    im    Bette,  so    gelingt 


*)  Benedict,  Elektrotherapie  S.  219 f. 


—     399     — 

ihm  die  geforderte  Bewegung.  Analoges  beobachtet  man  auch  an  den 
Muskehl  des  Oberarmes.  Es  ist  keine  so  gar  seltene  Erscheinung,  dass 
ein  heilender  Scb lagflüssiger ,  wenn  er  seinen  Vorderarm  gegen  den 
Oberarm  beugen  soll,  allem  Anscheine  nach  eine  colossale  Summe  von 
Willensimpulsen  verbraucht.  Sieht  man  näher  zu,  so  findet  man,  dass 
er  gleichzeitig  mit  den  Beugern,  den  Triceps  in  einer  die  Wirkung  der 
ersteren  wesentlich  hemmenden  Weise  innervirt*).  Dasselbe  kann  auch 
bei  Streckbewegungen  mit  den  Beugern  der  Fall  sein.  Dann  nähert 
sich  das  Bild  wieder  bis  zur  Vei'wischung  dem  gewöhnlichen  Bilde  der 
Contractur.  Häufig  findet  sich  dabei  ein  ruckweiser,  absatzweiser  Cha- 
rakter der  Muskelaction.  Man  beobachtet  auch  Kranke,  bei  denen 
krampfhaft  gebeugte,  dem  W^illenseinflusse  scheinbar  entzogene  Finger 
gestreckt  werden,  sobald  eine  Erhebung  des  Oberarmes  angestrebt  wird. 
Bei  anderen  hingegen  wird  auf  dieselbe  Willensintention  die  Beugung 
noch  stärker.  — 

Es  würde  sich  nun  um  eine  einleuchtende  physiologisch  -  patho- 
logische Erklärung  für  alle  diese  so  ausserordentlich  eigenthümlichen 
Erscheinungen  handeln.  Denn  wenn  wir  einen  abstracten  Ausdruck  für 
die  im  Voranstehenden  geschilderten  Vorgänge  gebrauchen  wollen,  so 
würde  der  lauten:  Abnorme  Innervation,  unter  Umständen  so- 
gar Innervation  von  absolut  abnormer  Stärke  in  für  den 
normalen  Willensimpuls  mehr  oder  weniger  gelähmten 
Muskeln.  Für  den  ersten  Augenblick  scheint  ein  Widerspruch  darin 
zu  liegen,  dass  gelähmte  Muskeln  unter  Mitwirkung  irgend  welcher 
Willensimpulse  abnorm  stark  innei'virt  werden  sollen.  Doch  besteht 
ein  Widerspruch,  wie  wir  sehen  werden,   thatsächlich  nur    zum  Schein. 

Beschäftigen  wir  uns  zuerst  mit  den  äusserlich  wahrnehmbaren 
Modalitäten  einer  normalen  willkürlichen  Bewegung,  und  benutzen  wir 
dazu  das  eben  angeführte  Beispiel  der  Beugung  des  Vorderarms  gegen 
den  Oberarm.  Es  muss  hier  zunächst  der  Ansicht  entgegengetreten 
werden,  als  ob  bei  Vollzug  dieses  Willensactes  nur  die  Beuger  innervirt 
würden.  Dies  wäre  im  Gegentheil  abnorm,  und  würde  eine  abnorme 
Bewegung  hervorbringen.  Bei  der  Beugung  werden  nicht  nur 
Strecker  mit  innervirt,  sondern  gleichzeitig  noch  eine  Menge  anderer 
Muskeln,  die  für  die  genannte  Bewegung  erst  die  Vorbedingung  zu 
schaffen  haben. 

Soll  der  Vorderarm  in  irgend  einer  Weise  gegen  den  Oberarm  be- 
wegt werden,  so  ist  dazu  einmal  erforderlich,  dass   der    letztere    durch 


*)  Nothnagel,  Archiv^  für  Psychiatrie  und  Nervenlfrankheiten.   Bd.  III. 
H.  1,  8.  214—218,  publicirt  einen  ähnlichen  Fall. 


—     400     — 

Schulter-  und  Brustmuskeln  im  Schultergelenke  in  einer  gewissen 
Stellung  fixirt  werde.  Jene  scheinbar  so  einfache  Bewegung  ist  ohne 
den  genannten  gleichzeitigen,  unbewussten  Willensact  durchaus  unmöglich. 
Selbst  wenn  man  beabsichtigt,  den  Oberarm  am  Körper  ganz  schlaff 
herunter  hängen  zu  lassen,  wozu  eine  grosse  Herrschaft  über  die  eigene 
Muskulatur  gehört,  kann  man  eine  gewisse  nicht  ganz  geringe  Spannung 
einzelner  Muskeln,  die  mit  der  Beugung  direct  nichts  zu  thun  haben, 
namentlich  des  Delta  und  des  Pector.  major  gar  nicht  vermeiden.  Die 
Beugung  selbst  ist  dann  wieder  eine  höchst  complicirte  Verrichtnng 
aller  Muskeln  des  Oberarms  und  des  Supin.  longus  auf  die  wir  nur  mit 
Rücksicht  auf  die  Rolle  des'Triceps  etwas  näher  eingehen  wollen.  — 
Die  Action  des  Triceps  beginnt  in  demselben  Augenblicke,  wo  die 
Beuger  zu  spielen  anfangen,  und  sie  besteht  darin,  dass  er  aus  einem 
anfänglich  stärkeren  Contracktionszustande  in  einen  schwächeren  über- 
geht, während  die  Beuger  denselben  Vorgang  in  umgekehrter  Richtung 
durchmachen.  Durch  ein  derartiges  Zusammenwirken  einer  Menge  von 
Muskeln  gewinnen  unsere  Bewegungen  überhaupt  den  Charakter  des 
„Associirten".  Damit  sie  ihn  bewahren,  ist  die  ungestörte  Function 
jedes  einzelnen  betheiligten  Muskels  nothig.  Fällt  ein  einziger  aus 
oder  wird  er  falsch  innervirt,  so  ist  die  Harmonie  gestört,  nicht  nur 
bei  der  Function,  die  man  ihm  wohl  zuschreibt,  sondern  bei  allen  Be- 
wegungen  des  Gliedes. 

Es  giebt  zwei  Gelegenheiten,  bei  denen  man  die  Wahrheit  des 
Gesagten  mit  Leichtigkeit  studiren  kann.  Die  eine  bereits  früher, 
namentlich  von  Duchenne  viel  benutzte,  besteht  in  der  Beobachtung 
von  Lähmungen.  Die  andere,  meines  Wissens  noch  nicht  verwerthete, 
bietet  das  nach  Resection  des  Ellenbogengelenks  manchmal  zurück- 
bleibende Schlottergelenk.  Hier  kann  man  die  nun  noch  wichtiger  ge- 
wordene Rolle  des  Triceps  recht  verfolgen.  Heisst  man  einen  solchen 
Kranken  den  Arm  beugen,  so  sieht  man,  wie  er  zuerst  die  Feststellung 
des  Vorderarms  gegen  den  Oberarm  durch  eine  mächtige  Contraction 
dieses  Muskels  vornimmt.  Sind  namentlich  an  dessen  unteren  Enden, 
an  seinen  mehr  weniger  von  Knochen  abgelösten  Ansatzpunkten  tief- 
gehende Narben  vorhanden,  so  sieht  man  diese  energisch  nach  oben 
gezogen  werden.  Mit  dem  Moment,  wo  die  wirkliche  Beugung  beginnt, 
tritt  aber  ein  sanftes  Nachlassen  des  contrahirten  Muskels  ein,  das 
man  an  ihm  selbst  fühlen  und  an  den  Narben  sehen  kann. 

Im  Princip  dasselbe  wie  bei  der  eben  besprochenen  Beugung  des 
Vorderarms  gegen  den  Oberarm  ist  bei  jeder  willkürlichen  Bewegung 
der  Fall.  Man  wird  mir  ein  näheres  Eingehen  darauf  jedoch  wohl  er- 
lassen.    Aber  mit  dem,  was  man  an    den  Bewegungen    eines    einzelnen 


—     401     — 

Gliedes  studiren  kann,  ist  die  Lehre  von  der  synergischen  MuskeJ- 
wirkung  bei  Weitem  nicht  erschöpft.  Jede  denkbare  Einzelbewegung 
eines  Gliedes  setzt  wieder  eine  bestimmte  Allgemeinstellung,  ich  möchte 
sagen  Fixation  des  Körpers  voraus,  um  die  wir  nicht  gänzlich  herum- 
kommen, und  wenn  wir  uns  lang  gestreckt  auf  ein  Ruhebett  legen. 
Beim  Stehen  und  Gehen  nun  vollends  giebt  es  nur  wenige  Muskeln  des 
ganzen  Körpers,  die  sich  nicht  in  unablässigem  Wechsel  zwischen  Zu- 
sammenziehung und  Nachlass  befänden.  Dieses  Zusammenwirken  der 
Muskeln  ist  anatomisch  und  physiologisch  präformirt  und  zwar  derart 
präformirt,  dass  der  grössere  Theil  isolirter  Muskelwirkungen  überhaupt 
unmöglich  ist.  Der  motorische  Theil  unseres  Gehirnes  weiss  nichts 
von  Triceps  und  Biceps,  er  weiss  nur  von  Beugung  etc.  unter  Winkel  x 
oder  Winkel  y,  wie  die  Erfahrung  ihm  das  gelehrt  hat.  Wir  müssen 
also,  mögen  wir  wollen  oder  nicht,  bei  jeder  intendirten  Bewegung  eine 
grössere  Summe  von  centralen  Stätten  der  Muskel bewegung  in  den  Er- 
regungszustand versetzen,  wir  müssen,  mögen  wir  wollen  oder  nicht, 
auch  denjenigen  Muskeln,  welche  als  Antagonisten  wirken,  oder  welche 
erst  durch  eine  geeignete  Körperstellung  die  Vorbedingung  für  die  be- 
absichtigte Bewegung  schaffen,  ihr  Theil  Impulse  zukommen  lassen. 

Die  Ausbreitungsgrösse  und  Art  der  Impulse  über  die  einzelnen 
Centralbezirke  ist  aber  von  zwei  Factoren  abhängig,  einmal  von  den 
jedesmaligen  Modalitäten  der  intendirten  Bewegung,  d.  h.  also  ob  sie 
mehr. den  Charakter  der  Beugung,  Streckung,  Rotation  etc.  haben  soll, 
dann  jedoch,  was  uns  hier  hauptsächlich  interessirt,  von  der 
Grösse  der  überhaupt  im  gegebenen  Augenblicke  producirten 
motorischen  Willensimpulse. 

Wenn  ich  meinen  Arm  in  die  Höhe  heben  will,  so  muss  ich  meinem 
Körper  irgend  eine  Stellung  geben,  und  dazu  eine  gewisse  Zahl  von 
Muskeln  innerviren.  Nehme  ich  aber  bei  dieser  Bewegung  ein  Pfund 
in  die  Hand,  so  muss  ich  nicht  nur  die  Muskeln  meines  Arms,  sondern 
auch  diejenigen,  welche  meinen  Körper  in  seiner  Stellung  erhalten 
sollen,  stärker  innerviren,  und  wenn  ich  10  Pfund  nehme,  so  wird  die 
Grösse  der  für  den  gleichen  Nutzeffect  erforderlichen  Arbeit  in  dem 
ganzen  arbeitenden  Gebiete  proportional  anwachsen.  W^ächst  die  ge- 
forderte Arbeit  zu  einer  sehr  bedeutenden  Grösse  an,  so  scheint  der 
Erregungszustand  im  Centralsystem  sich  auch  in  der  Norm  auf  grössere 
Gebiete  zu  verbreiten,  derart  dass  beim  Heben  einer  schweren  Last 
kaum  ein  Muskel  des  ganzen  Körpers  in  Ruhe  bleibt.  Selbst  die 
Kiefer  werden  dann  mit  Gewalt  zusammengepresst,  obwohl  diese  Theile 
mit  dem  Heben  einer  Last  direct  gar  nichts  zu  thun  haben.  Sehr  viel 
leichter    und    eleganter    lassen    sich    diese    Verhältnisse    wiederum    an 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.    I.  Theil.  26 


—     402     — 

Kranken  studiren.  doch  wollen  wir  unter  Verweisung  auf  das  oben  be- 
reits Angeführte  darauf  hier  nicht  weiter  eingehen.  Im  Allgemeinen 
sehen  wir  also  bei  der  vom  Centrum  herstammenden  will- 
kürlichen Innervation  ein  durchaus  ähnlich  es  Gesetz  wal  ten  , 
als  bei  der  von  der  Peripherie  aus  erregten  unwillkür- 
lichen —  der  Reflexinnervation.  Auch  bei  dieser  breitet 
sich  unter  zunehmender  Intensität  der  (peripheren)  Reize 
d-er  centrale  Krregungsvorgang  nach  gewissen  Gesetzen  auf 
grössere  und  grössere  Gruppen  von  Muskeln  aus. 

Allen  diesen  physiologi,sch  präformirten  Bewegungserscheinungen 
liegen  auch  präformirte  anatomische  Einrichtungen  im  Hirnstamm 
und  Rückenmark  zu  Grunde,  wie  uns  das  die  Anatomie  selbst,  haupt- 
sächlich aber  die  Experimentalphysiologie  zur  Genüge  gelehrt  hat. 
Wenn  Flourens  Vögeln  das  ganze  Grosshirn  genommen  hatte,  so 
waren  dieselben  auf  äussere  Reize  noch  zu  so  complicirten  Bewegungen 
befähigt,  als  der  Gang  und  das  Fliegen  sind.  Es  geht  daraus  unbe- 
streitbar hervor,  dass  bei  jenen  Thieren  abwärts  vom  Grosshirn  noch 
Apparate  bestehen,  welche  das  Zustandekommen  associirter  Bewegiuigen 
auch  bei  Ausfall  des  Grosshirns  vermitteln,  diesen  Bewegungen  eine 
gewisse  Unabhängigkeit  vom  Willen   verleihen. 

Freilich  kann  man  die  am  Central-Nervensystem  von  Thieren  ge- 
wonnenen Resultate  nicht  schablonenmässig  auf  den  Menschen  über- 
tragen. Denn  offenbar  gehen  beim  Thier  vielerlei  Bewegungs-  und 
scheinbare  Willensacte  mehr  zwangsmässig  und  mehr  nach  dem  Schema 
der  Reflexe  vor  sich  als  beim  Menschen.  Schon  in  dem  grossen  Werk 
von  Longe t,  dieser  Fundgrube  unserer  Kenntnisse  der  Functionen  des 
Nervensystems,  finden  wir  dies  erkannt.  Longot  macht  darauf  auf- 
merksam, wie  ungemein  verschieden  die  Zerstörung  der  Hirnlappen  auf 
die  Bewegungen  der  Thiere  wirkt,  je  nachdem  sie  mehr  oder  weniger 
vollkommen  organisirt  sind.  Je  vollkommener  ein  Thier  organisirt  ist, 
ja  selbst  je  mehr  durch  Heranwachsen  der  Einfluss  von  Vorstellungen 
auf  die  Bewegung  zugenommen  hat,  um  so  deutlicher  wird  der  Einfluss 
von  Zerstörungen  innerhalb  jener  Organgruppen  auf  die  sogenannte 
willkürliche  Muskulatur.  Aber  gerade  das  vergleichend  physiologische 
Studium  lehrt  uns,  das  p  r  i  n  c  i  p  i  e  1 1  e  Verschiedenheiten  in  der 
Organisation  dieser  Mechanismen  nicht  bestehen,  sondern  dass  nur  jede 
Species  entsprechend  ihrer  grösseren  allgemeinen  Entwickelung  auch  nach 
dieser  Richtung  hin  verfeinerte  Apparate  besitzt.  Es  ist  also  hiernach 
in  hohem  Grade  wahrscheinlich,  dass  diese  Apparate  beim  Menschen 
noch  weiter  entwickelt  und  aus  der  Sphäre  der  Reflexe  in  die  der  Vor- 
stellunsren und  Willensacte  e;erückt  sind. 


—     403     — 

Die  Zeit  ist  noch  nicht  gekommen  zu  entscheickMi,  wie  viele 
Stationen  der  Centralorgane  zu  dieser  innigen  Verbindung  der  Muskel- 
innervation  beitragen.  Indessen  haben  wir  aus  der  Untersuchung  der 
Reflexe  bei  Paraplegieen  doch  den  direeten  Beweis  gewonnen,  dass  beim 
Menschen  ebenfalls  gemeinsame  Bewegungen  der  Glieder  bei  gänzlichem 
Ausschluss  des  Willens  auch  im  Rückenmarke  entstehen,  dass  beim 
Menschen  ebenfalls  bis  in  das  Rückenmark  hinab  die  innigste  Verbin- 
dung der  motorischen  Centralapparate  unter  einander  besteht.  Anderer- 
seits haben  unsere  und  Nothnagels  Lähmungsversuche  am  Grosshirn 
des  Hundes  und  Kaninchens  bewiesen,  dass  schon  bei  diesen  Thieren 
die  Coordination  der  willkürlichen  Bewegungen  mit  der  Integrität  ge- 
wisser Rindenbezirke  des  Grosshirns  zusammenhängt.  Nach  Zerstörung 
ganz  kleiner  Mengen  Rindensubstanz  konnten  die  Versuchsthiere  zwar 
noch  das  von  dort  aus  innervirte  Bein  bewegen,  aber  die  Bewegungen 
hatten  das  Geordnete  der  gesunden  Seite  verloren  und  glichen  den  Be- 
wegungen Tabischer.  Wir  dürfen  in  Folge  der  für  die  willküi'liche 
Bewegung  grösseren  Wichtigkeit  des  Gehirns  beim  Menschen  wohl  an- 
nehmen, dass  eine  gleiche,  dem  menschlichen  Gehirne  zugefügte  Läsion 
bei  Weitem  schwerere,  aber  im  Princip  doch  ähnliche  Erscheinungen 
auslöst.  In  der  That  ist  das  der  Fall.  Denn  bei  Zerstörungen  so 
wichtiger  Theile  innerhalb  der  motorischen  Organe  des  menschlichen 
Gehirns  ist  die  eigentliche  Lähmung  eine  viel  erheblichere  und  an- 
dauerndere als  beim  Hunde,  wo  selbst  grosse  Zerstörungen,  wenn  das 
Thier  sie  überlebt,  sich  ausgleichen.  Aber  im  Princip  sehen  wir  wieder 
die  Aehnlichkeit  in  der  Art  der  Bewegungsstörung.  Sowohl  bei  dem 
Experiment  als  während  einer  gewissen  Krankheitsperiode  der  Hemi- 
pleglschen  bestellt  die  Motilitätsstörung  wesentlich  in  abnormer  Ver- 
theilung  der  motorischen  Impulse.  Der  Hund  setzt  sein  Bein  anders 
als  er  sonst  that,  der  Mensch  innervirt  seine  Muskeln  anders  als  er  will. 

Ich  meine  diese  beiden  Zustände  lassen  sich  ihrer  physiologisch- 
pathologischen Bedeutung  nach  wohl  vergleichen,  wenn  auch  beim 
Menschen  häufiger  Leitungsbahnen  als  Centren  von  der  Function  aus- 
geschlossen werden.  Denn  es  ist  wahrscheinlich  für  die  willkürliche 
Bewegung  gleichgültig,  ob  ein  Centrum  überhaupt  nicht  mehr  existirt, 
oder  ob  nur  seine  Verbindung  mit  der  Peripherie  abgeschnitten  ist. 

Führen  wir  die  soeben  zusammengestellten  Thatsachen  auf  einen 
gemeinsamen  Werth  zurück,  so  ergiebt  sich  folgende  Lehre.  In  den 
abwärts  gelegenen  Theilen  des  Centralnervensystems  existirt  eine  Anzahl 
von  Zusammenfassungen  der  peripheren  Nerven,  welche  bei  gewissen 
Reizen  die  Möglichkeit  zur  gemeinschaftlichen  Function  der  letzteren 
schafft.     Bei  weniger    hoch    organisirten  Thieren,    bei    denen    auch    die 

26* 


—     404     — 

Bewegungen  eine  weit  geringere  Mannigfaltigkeit  besitzen,  genügt  es, 
wenn  Reize  von  der  Peripherie  aus  eindringen,  um  die  wenigen  ilinen 
zu  Gebote  stehenden  Bewegungen  auch  bei  Abwesenheit  des  Grosshirnes 
ebenso  auszulösen,  als  wenn  das  ganze  Centralorgan  noch  vorhanden 
wäre.  Bei  Thieren  einer  höheren  Stufe  genügt  es,  dass  überhaupt  noch 
Impulse  des  Grosshirns  nach  abwärts  gelangen,  um  das  ungestörte  Fort- 
spielen der  Maschine  zu  ermöglichen.*)  Sind  die  Thiere  noch  höher 
organisirt,  so  genügt  es  nicht  mehr,  dass  irgend  welche  cerebrale 
Erregungen  einwirken,  um  normale  Bewegungen  auszulösen,  sondern 
nun  bedarf  es  der  ungeschmälerten  Impulse  weiterer  Zusammenfassungen 
von  Nerven,  um  die  nun  auch  mannichfaltiger  gewordenen  Modalitäten 
der  Muskelwirkung  in  iher  ganzen  Fülle  zur  Anschauung  zu  bringen. 
Aber  doch  finden  wir  noch  immer  die  Tendenz  der  Maschine  zu  Mit- 
bewegungen. Denn  die  dem  Reize  der  Vorstellungen  entzogenen  Glieder 
werden  gleichwohl  in  Bewegung  gesetzt,  sobald  die  anderen  gewöhnlich 
zusammenwirkenden  Apparate  zu  functioniren  beginnen.  — 

Sehen  wir  nun  zunächst  zu,  welchen  Nutzen  wir  aus  der  Kenntniss 
der  im  Vorstehenden  zusammengestellten  Thatsachen  für  die  Deutung 
der  uns  beschäftigenden  Krankheitserscheinungen  ziehen  können.  Wir 
überzeugten  uns,  dass  ein  schlagflüssiger  Mensch,  den  man  in  eine  Lage 
versetzt,  welche  an  und  für  sich  nur  geringe  motorische  Impulse  von 
ihm  verlangt,  die  Glieder  seiner  kranken  Körperhälfte  in  einer  sich  der 
Norm  um  vieles  nähernden,  übrigens  von  dem  Grade  der  Restitution 
des  Centralorgans  abhängenden  Weise  bewegen  kann.  Will  derselbe 
Mensch  aber  Allgemeinbewegungen  des  Körpers  ausführen,  erzeugt  er 
grosse  motorische  Impulse,  so  strahlen  dieselben  mit  Heftigkeit,  unab- 
hängig von  dem  Willen  in  einzelne  Bahnen  ein,  welche  bei  sehr  ver- 
schiedenen Impulsen  für  dasselbe  Individuum  dieselben  bleiben.  Von 
demselben  Augenblicke  an  ist  es  mit  der  soeben  noch  möglichen  will- 
kürlichen Innervation  ganz  oder  grösstentheils  vorbei. 

Dem  entsprechend  treffen  wir  auch  bei  Thieren  und  bei  dem  nor- 
malen Menschen  abwärts  vom  Grosshirn  Vorrichtungen,  welche  eine 
gemeinschaftliche  Reaction  auf  cerebrale  Reize  haben,  und  unter  Ver- 
stärkung der  motorischen  Impulse  selbst  in  der  Norm  die  unwillkür- 
liche Ausbreitung  der  centralen  Erregung  gestatten.  Man  könnte  nun 
annehmen,  dass  jene  Unordnung  der  Innervation  allein  durch  den  Aus- 
fall der  Impulse  des  einen  oder  des  anderen  jener  Grosshirnceutra  ent- 


*)  Vergl.  hierzu  die  Versuche  von  Flourens,  der  Vögel  den  grösseren 
Theil  der  Hirnrinde  abtrug,  ohne  dadurch  die  äusserlich  wahrnehmbaren 
Zeichen  ihrer  seelischen  Functionen  zu  vernichten. 


—     405     — 

steht.  Dann  könnte  man  sich  aber  nicht  wohl  erklären,  wie  die  nor- 
malere Bewegung  bei  der  Ruhelage  zu  Stande  käme.  Man  könnte  sich 
auch  zu  der  Ansicht  neigen,  dass  die  abnorme  Innervation  nur  durch 
den  Ausfall  eines  Theiles  der  motorischen  Bahnen  für  die  eine  Mus- 
kelgruppe bei  gleichzeitiger  Integrität  der  Bahnen  für  die  Antagonisten 
bedingt  sei.  Wenn  auch  sicher  ein  Theil  der  motorischen  Bahnen 
dauernd  zerstört  ist,  so  haben  wir  doch  für  die  supponirte  Vertheilung 
der  Zerstörung  nicht  nur  keine  Anhaltspunkte,  sondern  es  wäre  auch 
mit  derselben  die  sich  in  der  Starre  der  Contractur  ausdrückende  Stärke 
der  Reaction  auf  einen  verhältnissmässig  geringeren  Reiz,  und  ihre 
schliessliche  Dauer  über  die  willkürliche  Bewegung  hinaus  noch  nicht 
erklärt. 

Nehmen  wir  hingegen  an,  dass  sich  während  des  Ab- 
laufes des  Krankheitsprocesses  ein  Reizzustand  irgend  einer 
Art  innerhalb  einzelner,  zur  Coordination  der  Bewegungen 
bestimmter  Abschnitte  der  Centralorgane  entwickelt,  durch 
welchen  die  zweckmässige  Vertheilung  der  Impulse  von  dem 
Augenblicke  an,  in  dem  die  herabgelangenden  Impulse  diesen 
Abschnitt  betreten,  der  Regulirung  seitens  des  Willens  ent- 
rückt wird,  so  lassen  sich  fast  sämmliche  hierher  gehörigen  That- 
sachen  bereits  erklären.  Denn  unser  Wille  vermag  erfahrungsgemäss 
mit  abnormen  Reizzuständen  innerhalb  centraler  Organisationen  nicht 
zu  rechnen,  sondern  er  giebt  seine  Impulse  ohne  Rücksicht  auf  diese 
stets  so  ab,  als  ob  alle  Bahnen  sich  in  normalem  Erregungszustande 
befänden. 

Dass  in  der  Tliat  ein  Reizzustand  existirt,  lässt  sich  auf  mancherlei 
Art  nachweisen.  Der  anatomische  Befund  könnte  herangezogen  werden, 
und  wenn  ich  oben  meine  Bedenken  geäussert  habe,  dass  das  gewucherte 
Bindegewebe  selbst  der  Reiz  sei,  so  muss  man  doch  nach  analogen 
Erfahrungen  diese  Wucherung  durch  das  Vorhandensein  eines  Reiz- 
zustandes deuten.*)  Doch  liegt  es  keineswegs  im  Bereiche  der  Un- 
möglichkeit, dass  nur  die  allmähliche  und  unvollkommene  Wiederher- 
stellung cerebralen  Einflusses  abnorme  Erregungszustände  setzt,  und 
dass  das  Zusammenwirken  dieser  beiden  Momente  —  der  Ursache  und 
des  von  ihr  erzeugten  Folgezustandes  ohne  das  directe  Dazwischentreten 
der  degenerativen  Vorgänge  das  uns  beschäftigende  Verhalten  veran- 
lasst. Ich  werde  in  der  folgenden  Abhandlung  noch  etwas  zur  Auf- 
klärung beitragen.  Für  den  Augenblick  halte  ich  diese  Frage  aber  für 
viel  zu  complicirt,    und  die  Vorbedingen    zu    ihrer  Lösung    für    viel  zu 


*)  Dieser  Ansicht  bin  ich  natürlich  nicht  mehr. 


—     406     — 

wenig  vorhanden,  um  eine  bestimmte  Ansicht  auszusprechen.  Es  mag 
vor  der  Hand  genügen,  dass  wir  überhaupt  das  Vorhandensein  eines 
Reizzustandes  nachweisen  können.  Zu  Gunsten  dieses  Nachweises  spricht 
ferner  die  Erhöhung  der  Reflexerregbarkeit.  Wenn  man,  wie 
ich  oben  bereits  anführte,  der  Haut  des  gelähmten  Armes  nur  geringe 
Reize  zufügt,  oder  die  Mnskehi  desselben  nur  wenig  zerrt,  so  beobachtet 
man  sofort  eine  Zunahme  der  Contractur.  Wenn  man  geringe  Reflex- 
reize auf  die  Haut  des  Beines  einwirken  lässt,  so  bewegt  sich  nicht  nur 
dieses,  sondern  auch  der  Arm  geräth  in  unwillkürliche  Bewegungen. 

Man  könnte  hieraus  ohije  weiteres  schliessen  wollen,  dass  der  Sitz 
des  Reizes  im  Rückenmark  und  damit  alles  erklärt  sei.  Indessen  lassen 
sich  diese  Reizerscheinungen  doch  weit  höher  hinauf,  selbst  bis  zum 
Sitze  der  psychischen  Fähigkeiten  verfolgen.  Auch  beim  Recken  und 
Gähnen  bewegt  sich  der  kranke  Arm,  manchmal  gemeinschaftlich  mit 
dem  gesunden,  manchmal  ohne  ihn.  Der  kranke  Arm  bewegt  sich  ohne 
den  gesunden,  wenn  plötzliche  Erregungen  der  Seele  —  Schreck,  Zorn, 
Angst  sich  in  dem  Gehirne  abspielen;  und  dies  ist  Marshall  Hall  so 
unerklärlich  gewesen,  dass  er  offenbar  grösstentheils  deshalb  seine  Lehre 
von  den  verschiedenen  Principien  der  Seelenerregung  und  der  Willens- 
kraft neben  seiner  Vis  nervosa  aufstellte,  ja  sogar  für  die  erstere  sich 
nicht  kreuzende  Bahnen  angenommen  wissen  wollte.  Interessant,  wenn 
auch  dunkel  ist  der  Umstand,  dass  bei  dieser  Art  von  Bewegungen, 
welche  nicht  auf  Willensintentionen ,  sondern  auf  entferntere  Reflex- 
reize und  psychische  Eindrücke  erfolgen,  nicht  die  contracturirten  Mus- 
keln, sondern  im  Gegentheil  ihre  Antagonisten  innervirt  zu  werden 
pflegen.  Ich  möchte  mich  also  über  den  Ort,  wo  die  fraglichen  Inner- 
vationsanomalieeu  beginnen,  ebenfalls  des  definitiven  Urtheils  enthalten. — 

Es  würde  sich  nun  fragen,  wie  die  Verlängerung  der  Contractur 
über  die  Dauer  des  Willensreizes  hinaus  zu  erklären  sei.  Ich  glaube, 
dass  man  hierfür  Anhaltspunkte  in  dem  Entwicklungsgange  der  Con- 
tractur findet.  Im  Anfange  scheint  die  Contractur  allerdings  nicht  lange 
über  den  Impuls  hinaus  zu  daueni,  mit  der  Zeit  aber  hält  sie  immer 
länger  an,  bis  sie  endlich  nur  durch  verhältnismässig  lange  Ruhe  gelöst 
wird.  Vielleicht  mag  auch  ein  Zeitpunkt  eintreten,  zu  dem  sie  über- 
haupt permanent  wird.  In  gleichem  Verhältniss  wie  die  Dauer  nimmt 
aber  auch  die  Intensität  der  Contractur  zu.  Man  darf  unter  diesen 
Umständen  wohl  die  Vermuthung  äussern,  dass  dem  eine  allmählige 
Zunahme  der  Reizung  der  betreftenden  morphologischen  Elemente  zu 
Grunde  liegt,  durch  die  sie  befähigt  werden,  die  ihnen  gewordenen 
Erregungen  länger  und  länger  über  die  gewöhnliche  Dauer  hinaus 
festzuhalten.  — 


—     407     — 

Mit  dem  Umstände  in  Verbindung,  dass  auf  Centrailäsionen  der 
Tliiere  nie  Contracturen  folgen,  nuiss  die  von  allen  Autoren  einhellig 
gemachte  Beobachtung  besprochen  werden,  dass  die  obere  Extremität 
fast  ausnahmslos  am  heftigsten,  die  untere  Extremität  weniger,  der 
Rumpf  aber  niemals  von  der  Contractur  befallen  wird.  Bouchard*) 
deutet  dies  durch  den  in  der  Nackenzone  des  Rückenmarks  grösseren 
Reichthum  an  sich  kreuzenden,  also  cerebralen  und  degenerirenden 
Fasern.  Diese  Auffassung  erscheint  mir  nun  keineswegs  hinreichend 
gestützt.  Bouchard  spricht  an  der  Stelle  freilich  gar  nicht  von  den 
Rumpfmuskeln,  sondern  nur  von  denen  der  Arme  und  Beine.  Es  würde 
ihm  sonst  vielleicht  nicht  entgangen  sein,  dass  diese  nach  seiner 
Theorie  von  einer  Contractur  befallen  sein  müssten,  die  ihrer  Stärke 
nach  zwischen  der  des  Armes  und  der  des  Beines  liegen  müsste.  Nun 
aber  findet  man  dort  gar  keine  Contractur.  Ausserdem  rührt  doch 
der  grössere  Reichthum  cerebraler,  degenerirender  Fasern  der  oberen 
Rückenmarkspartieen  nur  daher,  dass  die  für  die  abwärts  gelegenen 
Körpertheile  bestimmten  Fortsetzungen  derselben  noch  nicht  abgegeben 
sind,  also  in  ihrem  centraleren  Verlaufe  mit  degeneriren.  Man  müsste 
folglich,  wenn  Bouchard 's  Anschauung  richtig  wäre,  durchgehends 
eine  gleiche  Intensität  der  Contractur  antreffen,  was  nicht  der  Fall  ist. 

Im  ganzen  Verlaufe  dieser  Abhandlung  ist  es  mein  Bestreben  ge- 
wesen, darauf  hinzuweisen,  wie  die  Hauptbedingung  für  das  Zustande- 
kommen der  Contractnren  in  unserer  von  vorn  herein  auf  gemeinschaft- 
liche Bewegungen  angelegten  Organisation  liegt.  Ich  glaube,  dass  man 
hierin  auch  den  Grund  für  die  Verschiedenheit  der  Intensität  zu  suchen 
hat,  mit  welcher  die  einzelnen  Muskelgruppen  befallen  werden.  Es  ist 
in  hohem  Grade  wahrscheinlich,  dass  gleichwie  in  der  Stufenleiter  der 
Thiere  die  centralen  Apparate  bei  Zunahme  der  Mannigfaltigkeit  in  der 
Muskelleistung  mehr  und  mehr  verfeinert,  wie  immer  mehr  und  mehr 
Zusammenfassungen  der  einzelnen  Nerven  gebildet  werden,  dass  ebenso 
für  die  einzelnen  Gruppen  der  menschlichen  Muskulatur,  je  nach  den 
ihnen  obliegenden  Leistungen  eine  grössere  oder  geringere  Entwicklung 
der  üebertraguugsapparate  stattfindet.  Da  nun,  wie  ich  hinlänglich 
bewiesen  zu  haben  hoffe,  in  diesen  die  Ursachen  für  die  Mitbewegungen 
überhaupt  liegen,  so  ist  auch  anzunehmen,  dass  in  gleichem  Verhältniss 
wie  die  Wichtigkeit  ihrer  Rolle  in  dem  Mechanismus  der  normalen  Be- 
wegung, auch  ihre  Wichtigkeit  für  das  Eintreten  abnormer  Mitbewe- 
gungen wächst.  Unsere  Rumpf-  und  Athemmuskeln  haben  kaum  andere 
Functionen  zu  erfüllen  wie  die    analogen  Muskeln    mancher  Thiere,  — 

*)  A.  a.  0.  p.  294. 


—     408     — 

sie  werden  nie  von  der  Contractur  befallen.  An  die  Beine  werden 
schon  mehr  Ansprüche  gestellt,  —  an  ihnen  beobachtet  man  die  Con- 
tractur  bereits  ziemlich  häufig;  und  das  zu  den  complicirtesten  Ver- 
richtungen bestimmte  Glied,  die  obere  Extremität,  wird  auch  am 
häufigsten  und  stärksten  von  diesem  Leiden  heimgesucht. 

Zu  den  von  mir  entwickelten  Anschauungen  stimmt  auch  der  Um- 
stand, dass  die  Intensität  und  Ausbreitung  der  Contractur  gleichmässig 
mit  der  oben  beschriebenen  bedingten  willkürlichen  Innervation  zu- 
nimmt. Stellt  sich  z.  B.  ein  Bluterguss  im  Gehirn  ein,  so  wird  eine 
Zahl  von  morphologischen  Elementen  zertrümmert,  eine  andere  Zahl 
wird  aber  nur  in  grösserem  oder  geringerem  Grade  mechanisch  beleidigt, 
so  dass  sie  ihre  Function  nur  vorübergehend  verliert.  Für  diese  Zeit 
werden  dann  allerdings  alle  dort  passireuden  Impulse  aufgehalten. 
Mit  der  eintretenden  Resorption  stellt  sich  aber  allmählig  die  Fähigkeit 
zur  Erzeugung  oder  Leitung  der  Impulse  wieder  her,  und  es  beginnt 
nun  vor  der  Hand  eine  abnorme  Function,  die  je  nach  der  gesetzten 
Zerstörung  entweder  der  Norm  weichen,  oder  mit  der  Zeit  immer  ab- 
normer werden  kann  ^°). 


Anmerkung. 

35)     Ueber   das   Wesen   und   die   Entstehung    der    hemiplegi sehen 

Contractur. 

Seit  dem  ersten  Erscheinen  dieser  beiden  Aufsätze  haben  sich  zahl- 
reiche Autoren  mit  der  Genese  und  dem  Wesen  der  Contractur  beschäftigt. 
Einzelne  von  ihnen  (ich  nenne  Senator,  M.  Sander,  W.  König)  haben 
sich  meiner  Auffassung  im  Wesentlichen  oder  ganz  angeschlossen.  Andere 
haben  mehr  oder  minder  stark  divergirende  Ansichten  geäussert  und  diese 
durch  Gründe  der  verschiedenartigsten  Herkunft  zu  stützen  versucht.  Die 
Discussion  aller  dieser  Theorien  würde  mich  hier  sehr  viel  zu  weit  führen. 
Denn  so  gut  wie  jede  von  ihnen  geht  von  der  Construction  eines  bestimmten 
anatomisch-physiologischen  Systems  aus,  in  dem  die  Prüfung  jeder  einzelnen 
Annahme  wieder  einer  umfänglichen  Erörterung  bedürfte.  Ueberdies  hat 
Mann*)  erst  vor  kurzem  eine  solche  Aufgabe  unternommen.  Ich  will  mich 
deshalb  nur  einer  Besprechung  der  von  diesem  Autor  selbst  entwickelten  Lehre 


*)  L.  Mann,  „Ueber  das  Verhalten  der  Sehnenreflexe  und  der  passiven 
Beweglichkeit  bei  der  Hemiplegie."  Kritisches  Sammelreferat.  Monatsschrift 
für  Psychiatrie  und  Neurologie.  Band  I,  Heft  5.  Derselbe,  „Ueber  das  Wesen 
und  die  Entstehung  der  hemiplegischen  Contractur",  Ebenda,  Bd.  IV.  In  einer 
späteren  Arbeit  (Ueber  cerebellare  Hemiplegie  etc.,  Ebenda,  Bd.  XII)  acceptirt 


—     409     — 

unterziehen ;   aber  auch  hierbei  muss    ich    mich    aus    dem    oben    angegebenen 
Grande  auf  die  Erörterung  einiger  grundsätzlicher  Fragen  beschränlcen. 

Auch  bei  dieser  Lehre  handelt  es  sich  nämlich  wieder  um  ein  ganzes 
System  anatomisch  -  physiologischer  Voraussetzungen,  welche  keineswegs 
überall  bewiesen  oder  nur  einer  Deutung  fähig  sind.  Unter  diesen  Umständen 
begnüge  ich  mich  damit,  zu  zeigen,  in  wie  weit  die  Theorie  Mann's  mit  der 
meinigen  parallel  läuft  und  welche  Bedenken  gegen  den  Pvest  dieser  Lehre  zu 
erheben  sind. 

Nachdem  Mann  meine  Theorie  unter  wörtlicher  Citirung  einiger  Sätze 
kurz  referirt  hat,  wendet  er  dagegen  ein,  „dass  die  Mitbewegungen  durchaus 
nicht  ein  constantes  Symptom  bei  hemiplegischen  Contracturen  sind",  dass 
sie  dieselben  für  sich  allein  also  nicht  zu  erklären  vermögen. 

Ausserdem  macht  er  die  von  Munk  an  ilffen  gemachten  Erfahrungen 
geltend,  nach  denen  angeblich  diejenigen  Thiere,  welche  nach  Verletzung  der 
motorischen  Zone  ruhig  gehalten  wurden,  Contracturen  bekamen,  während 
diejenigen  Thiere,  welche  zu  Bewegungen  angehalten  wurden,  frei  davon 
blieben.  Wären  diese  Versuche  so  beweisend  wie  sie  anfechtbar  sind,  so 
würde  ich  mich  doch  nicht  mit  ihnen  zu  beschäftigen  haben,  da  es  sich  bei 
denselben  eben  um  Affen  und  nicht  um  Menschen  handelt. 

In  ersterer  Beziehung  hat  Mann  aber  übersehen,  dass  ich  keineswegs 
behauptet  habe,  dass  Mitbewegungen  —  insofern  die  Contractur  nicht  selbst 
eine  Mitbewegung  ist  —  in  allen  Fällen  oder  während  des  ganzen  Verlaufs 
von  typischen  Hemiplegien  zu  beobachten  wären.  Dies  ist  garnicht  das 
Wesentliche  meiner  Lehre,  sondern  die  Annahme  und  der  Nachweis  eines 
„Reizzustandes  irgend  einer  Art  innerhalb  einzelner  zu  Mitbewegungen  prä- 
formirter  Abschnitte  derCentralorgane,"  (also  nicht  allein  des  Rückenmarks,  wie 
Mann  bemerkt)  „durch  welchen  die  Vertheilung  der  Impulse  von 
dem  Augenblicke  an,  wo  dieser  Abschnitt  betreten  wird,  der 
Regulirung  seitens  des  Willens  entrückt  wird." 

Mann  nimmt  nun  selbst  als  Grundbedingung  der  Contractur  einen  Reizzu- 
stand an,  dessen  äusserlich  erkennbare  Erscheinung  er  nach  der  modernen  Aus- 
drucksweise als  „Hypertonie"  bezeichnet  und  als  Ausdruck  eines  „gestei- 
gerten Reflexvorganges"  auffasst.  Den  Nachweis  gesteigerter  Reflexerregbarkeit 
—  auch  von  Seiten  der  Muskulatur  —  hatte  ich  bereits  in  der  ausgiebigsten 
Weise  geführt  und  gerade  auf  diesen  Nachweis  meine  ferneren  Auseinander- 
setzungen gegründet.  Wären  zu  jener  Zeit  die  Sehnenreflexe  und  ihre  patho- 
logischen Veränderungen  bereits  bekannt  gewesen,  so  würde  ich  nicht  verab- 
säumt haben,  auch  diese  Reihe  von  Beobachtungen  als  Stütze  meiner  Ansicht 
zu  verwerlhen.  Bis  hierher  lässt  sich  also  die  Aufl'assung  Mann's  wenigstens 
in  diesem  Hauptpunkte,  mit  der  meinigen  vereinigen.  Von  da  an  diver- 
giren  sie. 


Mann  meine  Auffassung  der  cerebralen  Innervationsvorgänge  in  dem  Maasse, 
dass  ich  mir  die  Frage  vorgelegt  habe,  ob  er  noch  geneigt  sein  kann,  die  hier 
besprochene  Theorie  aufrecht  zu  erhalten. 


—     410     — 

Mann  sucht  den  eigentlichen  Sitz  der  Hypertonie  in  der  spinalen  Vorder- 
hornzelle,  ich  nicht  allein  daselbst,  sondern  höher  hinauf.  Ich  hatte  mich 
über  den  Grund  der  Entwicklung  des  fraglichen  Reizzustandes  nicht  mit  Be- 
stimmtheit auslassen  wollen.  Mann  findet  ihn  in  dem  Fortfall  von  Hemmungen. 
Er  geht  aber  weiter,  indem  er  die  Hemmungen  nur  für  das  System  der  hyper- 
tonischen, contracturirten  Muskeln,  welche  ihre  willkürliche  Beweglichkeit 
bewahrt  haben,  nicht  aber  für  deren  Antagonisten  fortfallen  lässt.  Für  die 
letzteren  statuirt  er  umgekehrt  das  Fortbestehen  der  normalen  Hemmungen, 
andererseits  das  Fehlen  der  willkürlichen  Beweglichkeit.  In  einer  längeren 
Beweisführung  zieht  er  sodann  den  Schluss,  dass  die  Hemmungsnerven  des 
contracturirten  Theiles  der  Musculatur  intracerebral  gemeinschaftlich  mit  den 
erregenden  Fasern  ihrer  Antagonisten  verliefen  und  umgekehrt. 

Die  unentbehrliche  Voraussetzung  dieser  Theorie  besteht  nun  offensicht- 
lich in  der  Existenz  von  gesonderten  Hemmungsnerven  innerhalb  der  cortico- 
musculären  Bahn.  Ich  will  hier  die  Frage,  ob  solche  Nerven  in  anderen 
Systemen  existiren,  gänzlich  unberührt  lassen,  dagegen  muss  ich  betonen, 
dass  weder  Mann  den  Beweis  für  die  Existenz  solcher  Nerven  innerhalb 
jener  Bahn  geführt  hat,  noch  dass  er  von  anderer  Seite  je  geführt  worden  ist. 
Mann  stützt  sich  auf  die  "Versuche  von  Bubnoff  und  Heidenhain,  sowie 
von  E.  Hering,  durch  welche  bewiesen  wird,,  dass  man  durch  Reizung  der 
Rinde  Hemmungswirkungen  in  der  abhängigen  Musculatur  hervorbringen  kann. 
Dass  die  motorische  Rinde  unter  anderem  ein  Regulirungsorgan  sei  und  dem- 
nach auch  hemmende  Eigenschaften  besitzen  müsse,  habe  ich  selbst  genugsam 
hervorgehoben,  indessen  ist  dadurch  die  Existenz  von  besonderen  Pasern , 
durch  die  diese  hemmenden  Einflüsse  in  die  Peripherie  projicirt  werden,  keines- 
wegs bedingt.  Vielmehr  ist  es  an  und  für  sich  nicht  nur  möglich,  sondern 
sogar  viel  wahrscheinlicher,  dass  sich  die  gesammte  Regulirung  durch  Ver- 
mittelung  eines  und  desselben  gleichartigen  Fasersystems  vollzieht,  eine  An- 
sicht, die  erst  neuerdings  wieder  von  v.  Leyden  und  Goldscheider  aus- 
gesprochen und  von  Mann  zwar  citirt,  aber  nicht  widerlegt  worden  ist.*) 

Fehlt  es  somit  an  dem  Nachweis  der  unbedingt  erforderlichen  Voraus- 
setzung für  jene  Theorie,  so  erscheint  sie  auch  aus  anderen  Gründen  zum  min- 
desten sehr  anfechtbar.  Die  immense  Mehrzahl  der  Fälle  von  Hemiplegie  zeigt 
bekanntlich  ein  sehr  typisches  Bild.  Wenn  auch  die  Intensität  der  Lähmung 
und  der  Contractur  in  den  einzelnen  Fällen  differirt,  so  kehrt  doch  in  jedem 
dieser  Fälle  in  der  oberen  Extremität  die  pronatorische  Beugecontractur  und 
in   der    unteren  Extremität   die    Streckcontractur  wieder.     Diesem  constanten 


*)  In  seiner  Fragestellung  sagt  Mann:  „dass  die  physiologische  Anord- 
nung der  Fasern  vielleicht  gerade  die  sein  könnte,  dass  die  erregenden  Fasern 
für  jede  einzelne  Muskelgruppe  mit  den  hemmenden  Fasern  ihrer  Antagonisten 
zusammen  verlaufen,  resp.  mit  ihnen  identisch  sind.''  Wie  das  Letztere,  näm- 
lich die  Identität,  gemeint  ist,  kann  ich  mir  nicht  vorstellen.  Uebrigens  kommt 
M.  im  weiteren  Verlauf  seiner  Arbeit  auf  diese  Alternative  auch  gar  nicht 
wieder  zurück. 


—     411     — 

Typus  entsprechen  nun  keineswegs  constante  cerebrale  Läsionen,  sondern  diese 
unterscheiden  sich  ungeachtet  der  bekannten  Prädilectionsstellen  nicht  nur  mit 
Bezug  auf  ihre  Ausdehnung,  sondern  auch  mit  Bezug  auf  ihre  Localisation  in 
der  erheblichsten  Weise  von  einander.  Es  ist  also  nicht  zu  verstehen,  wie 
unter  solchen  Umständen  regelmässig  die  Bahn  der  erregenden  Fasern  für  die 
eine  Gruppe  von  Muskeln  an  der  oberen  und  der  unteren  Extremität,  welche 
gleichzeitig  die  Bahn  für  die  hemmenden  Fasern  ihrer  Antagonisten  ist,  unter 
relativer  Schonung  der  antagonistischen  Bahnen  betroffen  sein  kann,  während 
eine  Umkehr  des  fraglichen  Typus  niemals  in  die  Erscheinung  tritt. 

Hiernach  ist  es  also  viel  wahrscheinlicher,  dass  die  von  mir  geschilderte 
Störung  in  der  Vertheilung  der  motorischen  Impulse  ihren  Grund  in  einer 
pathologischen  Veränderung  innerhalb  von  Organen,  die  zu  Gemeinschafts- 
bewegungen angelegt  sind,  als  in  Zerstörung  von  ganz  bestimmten  motorischen 
Fascikeln  hat. 

Dazu  kommt  noch,  dass  Mann  eine  Anzahl  von  mir  namhaft  gemachten 
Erscheinungen,  die  in  den  Rahmen  seiner  Theorie  nicht  hinein  passen,  unbe- 
rücksichtigt gelassen  hat.  Ich  weiss  nicht,  ob  er  sie  sämmtlich  als  Ausnahmen 
betrachtet  hat,  aber  selbst  wenn  dies  der  Fall  wäre,  so  hätte  er  sich  seiner 
eigenen  Bemerkung:  „dass  das  Studium  der  Ausnahmen  oft  die  wichtigsten 
Hinweise  für  die  Erklärung  des  regulären  Verhaltens  giebt",  erinnern  sollen. 
Hierher  gehört  die  Beobachtung,  dass  die  Extensoren  der  oberen  Extremität  in 
einer  Anzahl  von  Fällen  zeitweise  nach  längerer  Ruhe  noch  relativ  gut  inner- 
virt  werden  können,  dass  also  die  Hemmungsfasern  für  ihre  Antagonisten 
gleichfalls  relativ  intact  sein  müssten,  während  gleichwohl  die  Contractur  bei 
Aufwendung  grösserer  Willensimpulse  und  später  dauernd  vorhanden  ist. 
Ebenso  wenig  sind  die  irradirten  Extensionsbewegungen,  welche  bei  reflecto- 
risch  angeregten  Bewegungen  —  Niesen,  Gähnen  —  zu  Stande  kommen, 
und  die  analogen  bei  Aft'ecten  auftretenden  Bewegungen  mit  jener  Theorie  zu 
vereinbaren.  All  diese  Beobachtungen  beweisen  jedenfalls,  dass  noch  cere- 
brale Einflüsse  recht  verschiedener  Art,  die  ihren  Weg  aber  immer  durch  die 
spinale  Ganglienzelle  nehmen  müssen,  zu  der  scheinbar  gänzlich  gelähmten 
Musculatur  gelangen  können. 

Gänzlich  unberücksichtigt  ist  der  Inhalt  des  zweiten  hier  folgenden 
Aufsatzes  sowohl  bei  Mann  als  bei  den  andern  von  ihm  referirten  Autoren  ge- 
blieben. Hier  hatte  ich  nachgewiesen,  dass  eine  bestimmte  periphere  Lähmung, 
die  Facialislähmung,  einen  ähnlichen  Reizzustand  des  Reflexorgans  herbei- 
führen kann,  wie  er  nach  centralen  Läsionen  eintritt,  das  heisst,  es  kommt 
dabei  zu  krankhaften  Mitbewegungen  und  zu  sehr  erheblichen  Steigerungen 
der  Reflexerregbarkeit.  Hier  kann  doch  nun  von  einer  Leitungsunterbrechung 
centraler  Hemmungsfasern  gar  keine  Rede  sein,  und  doch  finden  wir  im  Princip 
die  gleichen  pathologischen  Erscheinungen.  Ich  habe  damals  die  Frage  auf- 
geworfen, ob  die  zu  beobachtende  Steigerung  der  Reizbarkeit  nicht  auf  den 
centripetal  fortgeleiteten  Einlluss  der  Leitungsunterbrechung  zurückzuführen 
sei.  Man  kann  sich  aber  auch  vorstellen,  dass  sie  ihren  Ursprung  der  con- 
stanten  Abgabe  verstärkter  Willensimpulse  verdanke,    mit   denen  das  Central- 


—     412     — 

Organ  unwillkürlich  den  abnormen  Widerstand  innerhalb  der  peripheren  Lei- 
tung zu  überwinden  suche. 

In  genau  der  gleichen  Weise  Hesse  sich  freilich  der  Reizzustand  der 
Reflexorgane  bei  der  Hemiplegie  nicht  erklären;  denn  hier  fehlt  eben  die  directe 
Willensbahn,  die  Pyramidenbahn,  ganz  oder  grösstentheils,  während  sie  dort 
erhalten  ist.  Dagegen  hat  v.  Monakow  neuerdings  eine  durch  Mann  mit 
Unrecht  bekämpfte  analoge  Theorie  aufgestellt,  nach  der  sich  ,,der  ganze  cen- 
trifugal  gerichtete  Erregungsstrom  auf  die  niederen  Bewegungscentren  (Haube, 
Brücke,  verlängertes  Mark)  ergiessen  und  sie  nebst  dem  Vorderhorn  der  gegen- 
über liegenden  Seite  in  übermässiger  Weise  belasten"  soll.  Die  weitere  Ent- 
stehung der  Contractur  erklärt  dann  v.  Monakow  in  ähnlicher  Weise,  wie  ich 
mit  der  Annahme  that,  dass  „die  zweckmässige  Vertheilung  der  Impulse  von 
dem  Augenblicke  an,  in  dem  die  herabgelangenden  Impulse  den  sich  im  Reiz- 
zustand befindlichen  Abschnitt  betreten,  der  Regulirung  seitens  des  Willens 
entrückt  wird".  Mit  vollem  Recht  hat  v.  Monakow  diesen  Ausfall  der  Regu- 
lirang ausserdem  auf  den  Ausfall  der  Pyramidenbahn  bezogen,  denn  die  Pro- 
jection  der  Bewegungsvorstellungen  in  die  Peripherie,  wie  sie  in  geordneten  Be- 
wegungen in  die  Erscheinung  tritt,  ist  beim  Menschen  nur  durch  Vermittlung 
dieser  Bahn  denkbar,  während  Bewegungsimpulse  auch  nach  ihrer  Zerstörang 
noch  in  die  Peripherie  gelangen. 

Allerdings  weichen  hier  wieder  die  Ansichten  Mann's  von  den  unsrigen 
sehr  weit  ab.  Er  nimmt  auf  Grund  einer  zwar  scharfsinnigen,  aber  doch  nicht 
überzeugenden  Deduction  an,  dass  die  Pyramidenbahn  oder  doch  der  zu  der 
hypertonischen  Muskulatur  gehörige  Antheil  derselben  intact  sei  und  dies  ist 
eben  schon  aus  den  früher  angeführten  Gründen  im  höchsten  Grade  unwahr- 
scheinlich. Ich  gestehe  gern  zu,  dass  man  über  die  Gründe,  wegen  deren  ge- 
rade bestimmte  Muskelgruppen  von  der  Contractur  befallen  werden,  im  ein- 
zelnen verschiedener  Ansicht  sein  kann;  imPrincip  beharre  ich  aber  bei  meiner 
früheren  Ansicht  und  glaube  auch  nicht,  dass  eine  andere  Ansicht  aufrecht  zu 
erhalten  ist:  ich  glaube  also,  dass  die  hemiplegische  Contractur 
zu  erklären  ist  durch  den  Ausfall  der  Pyramidenbahn  durch  die 
Herausbildung  eines  Reizzustandes  in  solchen  Zusammenfassun- 
gen grauer  Substanz ,  welche  zu  Gemeinschaftsbewegungen  prä- 
formirt  sind  und  durch  die  uncoordinirte  Ei  n  Wirkung  von  Wil- 
lensimpulsen, welche  auf  anderen  Bahnen  (Haubenbahn)  zu  diesen 
Organen  gelangen. 


XXI.  lieber  die  Auffassung  einiger  Anomalieen  der  Muskel- 

iunervatiou. 


IL 

In  der  vorstehenden  Abhandlung  habe  ich  nachgewiesen,  dass  sich 
in  Folge  von  Lähmungen,  welche  centrale  Abschnitte  des  motori- 
schen Apparates  betreffen,  regelmässig  Irritationszustände  des  Central- 
organes  herausbilden,  die  unter  der  Form  abnormer,  aber  sehr  typischer 
Mitbewegungen  —  Contracturen  —  in  die  Erscheinung  treten.  Ich 
werde  nunmehr  zu  zeigen  suchen,  dass  auch  periphere  Lähmungen 
zwar  der  Form  nach  verschiedene  aber  im  Princip  ganz  ähnliche  und 
wohl  charakterisirte  Anomalieen  der  Muskelinnervation  herbeizuführen 
pflegen.  Es  handelt  sich  um  die  nach  completen,  peripheren  Facialis- 
lähmungen  im  Stadium  der  Wiederherstellung  der  motorischen  Leitung 
regelmässig  eintretenden  abnormen  Mitbewegungen,  sowie  um  einige 
andere  gleichzeitig  erscheinende  und  weniger  bekannte  Reizerschei- 
nuugen.   — 

Das  Vorhandensein  abnormer  Mitbewegungen  im  Gebiete  des  früher 
gelähmten  Facialis  ist  freilich  längst  bekannt,  und  man  findet  es  bei 
den  meisten  genau  beobachtenden  Autoren  erwähnt:  jedoch  hat  man 
diesem  Symptome  irgend  welche  Aufmerksamkeit  bisher  nicht  geschenkt; 
wie  denn  auch  die  neuesten  Autoren,  welche  diese  interessanteste  Läh- 
mungsform im  übrigen  mit  so  grosser  Sorgfalt  beobachteten,  davon 
wenig  Notiz  genommen  haben.  Ich  halte  mich  deswegen  einer  Aus- 
führung der  Literatur  wohl  mit  Recht  für  überhoben. 

Diese  abnormen  Mitbewegungen  könnten  an  verschiedenen  Stationen 
der  motorischen  Bahn  ausgelöst  werden.  Der  erste  Gedanke  wird  sich 
natürlich  dem  verletzten  Nerven  oder  der  direct  von  ihm  abhängigen 
Muskulatur  zuwenden;  indessen  wäre  es  doch  möglich,  dass  auch  mehr 
central  gelegene  Organe  die  Veranlassung  für  diese  bisher  unerklärte 
Reizerscheinung  in  sich  trügen. 


^     414     — 

Ich  will  nun  zunächst  die  bezüglichen  Notizen  aus  einigen  Kran- 
kengeschichten geben;  denke  aber  im  Einverständniss  mit  dem  Leser 
zu  handeln,  wenn  ich  nicht  die  ganzen,  grösstentheils  mehrere  Bogen 
umfassenden  Journale  abdrucke,  sondern  mich  nur  auf  das  unmittelbar 
auf  den  fraglichen  Punkt  Bezügliche  beschränke. 

1.  Beobachtung.  Student  von  22  Jahren.  Complete  rechtsseitige,  peri- 
phere Facialislähmung  seit  den  letzten  Tagen  des  December  1866.  Gewöhn- 
licher Verlauf  der  Erregbarkeitsveränderungen. 

Am  26.  IL  1867  (Anfang  des  3.  Monats)  erste  Spuren  der  Motilität. 
21.  IIl.  (Ende  des  3.  Monats)  erste  Spuren  von  Mitbewegung  das  rechte  Ohr 
betreffend.  Die  Mitbewegungen  breiten  sich  dann  allmählich  aus,  und  werden 
bis  zum  2.  V.  1868,  bis  l'^j^  Jahre  nach  der  Läsion  verfolgt.  Beim  Runzeln 
der  Stirn  ziehen  sich  die  Heber  der  Oberlippe,  bei  Schluss  des  Auges  die 
Zygomatici,  und  bei  Zusammenpressen  der  Lippen  der  Orbicularis  palpebrarum 
mit  grosser  Intensität  zusammen.  Die  Reizerscheinung  beschränkt  sich  auf 
die  rechte  (kranke)  Seite.  Es  besteht  schliesslich  eine  massige  Contractur  der 
gelähmten  Muskeln,  welche  nach  dem  nächtlichen  Schlafe  deutlicher  aus- 
gesprochen ist. 

2.  Beobachtung.  Mädchen  von  33  Jahren.  Complete  periphere  Fa- 
cialislähmung seit  dem  21.  XII.  1868.  Gewöhnlicher  Verlauf  der  Erregbar- 
keitsveränderungen. 

18.  III.  69.  (10.  Woche).  Die  ersten  Spuren  von  Motilität  in  den  Mus- 
keln um  den  Mund. 

24.  IV.  (5.  Monat).  Beginnende  Motilität  im  Frontalis,  gleichzeitig  leichte 
Mitbewegung  in  den  Zygomaticis. 

Allmähliche  Zunahme  der  Motilität  und  der  Mitbewegungen. 

29.  VI.  (7.  Monat).  Mitbewegungen  in  den  Muskeln  der  unteren  Gesichts- 
hälfte bei  Innervation  der  Muskeln  der  oberen  Gesichtshälfte  sehr  stark.  Die 
Reflexerregbarkeit  der  ersteren  sehr  erhöht,  so  dass  z.  B.  Annäherung  des 
Fingers  an  das  Auge  Bewegungen  in  den  Muskeln  um  den  Mund  hervorruft. 

3.  Beobachtung.  Frau  von  26  Jahren.  Linksseitige,  complete,  peri- 
phere Facialis-Paralyse  seit  dem  11.  VIII.  67.  Gewöhnlicher  Verlauf  der  Er- 
regbarkeitsveränderungen. 

16.  X.  (9.  Woche).    Spuren  von  Motilität  im  Frontalis. 

18.  X.  Die  ersten  Spuren  von  Mitbewegungen  in  den  Muskeln  um  den 
Mund  bei  Innervation  des  Orbicularis  palpebrarum  und  des  Frontalis,  während 
die  willkürliche  Beweglichkeit  in  den  erstgenannten  Muskeln  noch  fehlt,  aber 
in  den  nächsten  Tagen  eintritt. 

4.  Beobachtung.  Knabe  von  11  Jahren.  Complete,  linksseitige,  peri- 
phere, traumatische  Facialis-Paralyse  seit  Mitte  Juli  1867.  Gewöhnlicher  Ver- 
lauf der  Erregbarkeitsveränderungen. 

5.  X.    Erste  Spuren  der  Motilität  im  Frontalis. 

15.  X.  (13.  Woche).     Erste  Mitbewegungen  bei  kräftiger  Innervation  des 


—     415     — 

Orbicularis  palpebrarum  in  den  Hebern  der  linken  Oberlippe,   welche  willkür- 
lich erst  einige  Tage  später  zum  ersten  Mal  wieder  innervirt  werden. 

29.  X.  Deutliche  Zunahme  der  Motilität.  Bei  Innervation  des  Frontalis 
schwache,  bei  Innervation  des  Orbicularis  palpebrarum  starke  Mitbewegungen 
in  den  Muskeln  um  den  Mund ;  bei  Innervation  der  Letzteren  starke  Mitbewe- 
gungen im  Orbicularis  palpebrarum. 

5.  Beobachtung.  Oeconom  von  22  Jahre.  Complete  rechtsseitige  peri- 
phere Facialislähmung  seit  Anfang  August  1869.  Spuren  von  Motilität  im 
Frontalis  und  Spuren  von  Mitbewegungen  bereits  bei  der  Aufnahme  am  1.  X. 
1869.  Die  Motilität  stellt  sich  ziemlich  schnell  und  vollständig  wieder  ein, 
während  die  Mitbewegungen  nicht  sehr  intensiv  werden  und  zum  Theil  durch 
den  Willen  unterdrückt  werden  können.  Nur  bei  sehr  kräftiger  Innervation  des 
Orbicularis  palpebrarum  und  des  Frontalis  sind  Mitbewegungen  in  den  Mus- 
keln um  den  Mund  nicht  ganz  zu  vermeiden. 

Weniger  bekannt,  ja  sogar  kaum  erwähnt,  finde  ich  das  Vorhan- 
densein abnormer  Reflexerregbarkeit  in  dem  gleichen  Stadium  dieser 
Krankheit.  Indessen  ist  es  aufmerksameren  Beobachtern  doch  nicht 
gänzlich  entgangen.  So  erwähnt  Erb'-')  gelegentlich  des  ersten  von 
ihm  angeführten  Falles  dieser  Krankheit,  dass  13  Monate  nach  der 
Läsion  sich  ein  kurzes  blitzähnliches  Zucken  in  den  Muskeln,  sowohl 
spontan,  als  auch  in  Folge  von  Hautreizungen  gezeigt  habe.  Inzwischen 
habe  ich  eine  mehr  oder  weniger  beträchtliche  Erhöhung  der  Reflex- 
erregbarkeit in  allen  jenen  Fällen,    wo  ich  darauf  achtete,    beobachtet. 

So  finde  ich  bereits  in  dem  Journale  einer  46jährigen  Frau,  die 
ich  im  Jahre  1866  behandelte,  dass  13  Monate  nach  dem  Insulte  auf 
die  Reizung  mit  einer  Kette  von  26  Daniell  zwar  im  Momente  des 
Kettenschlusses  selbst  keine  Zuckungen  in  der  direct  gereizten  Musku- 
latur eintraten,  dass  dieselben  aber  unmittelbar  nachher  begannen  und 
dann  eine  Weile  anhielten.  Auch  bei  der  Beobachtung  2.  habe  ich 
bereits  der  Reflexe  erwähnt.  An  anderen  Kranken  habe  ich  dieselben 
ausführlicher  studirt. 

6.  Beobachtung.  Frau  von  27  Jahren.  Complete,  linksseitige,  peri- 
phere Facialis-Paralyse  seit  Ende  November  1868.  Gewöhnlicher  Verlauf  der 
Erregbarkeits  Veränderungen. 

5.  XII.  (12.  — 13.  Tag).  Ehe  noch  Spuren  von  wiederkehrender  Motilität 
vorhanden  sind,  bei  Percussion  der  linken  unteren  Gesichtshälfte  schwache 
klonische  Zuckungen,  aber  diese  regelmässig  im  Levator  labii  superioris  der 
anderen  (gesunden)  Seite. 

8.  XII.     Auf  demselben  Reiz  Reflexzuckungen   auch  in  den  Zygomaticis. 

10.  XII.     Dieselben    Pveflexzuckunffen    sind    auch    von    anderen  Punkten 


*)  Deutsches  Archiv  für  klinische  Medicin.    Bd.  IV,  Heft  5  u.  6.  S.  546. 


—     416     — 

(Arcus  zygomaticus)  aus  hervorzurufen.     Leider   blieb    die  Kranke    nach  dem 
21.  XII.,  ehe  noch  die  Motilität  wiedergekehrt  war,  aus  der  Behandlung. 

7.  Beobachtung.  Knabe  von  15.  Jahren.  6.  VII.  70.  Complete  peri- 
phere, linksseitige  Facialis-Paralyse  seit  2  Jahren.  Motilität:  Nur  eine  Spur 
von  Function  im  Orbicularis  palpebrarum ;  gleichzeitig  aber  auch  eine  Spur 
von  Mitbewegung  in  den  Lachmuskeln.  Faradische  Erregbarkeit  im  unteren 
Aste  annähernd  normal,  fehlt  ganz  im  oberen  Aste.  Mechanische  Erregbarkeit 
überall  normal.  Galvanische  Erregbarkeit  fehlt  extra-  und  intramuskulär  im 
Frontalis,  Corrugator  supercilii  und  Orbicularis  palpebrarum  gänzlich;  in  den 
Muskeln  der  unteren  Aeste  ist  sie  wesentlich  geringer  als  rechts.  Gleich  nach 
der  Sitzung  beträchtliche  Motilität  der  ganzen  unteren  Gesichtshälfte. 

7.  VII.  Erhöhte  Keflexerregbarkeit  auf  optische,  mechanische  und  galva- 
nische Reize  vom  Opticus  und  vom  Trigeminus  auf  die  Kinnmuskeln. 

14.  VIl.  Starke  Mitbewegungen  in  den  Lachmuskeln  bei  Innervation  des 
Orbicularis  palpebrarum  und  in  letzterem  Muskel  bei  Innervation  des  Orbicu- 
laris oris. 

8.  Beobachtung.  Maurer  von  26 Jahren.  Complete,  periphere,  rechts- 
seitige Facialislähmung  seit  dem  25.  XI.  68.  Gewöhnlicher  Verlauf  der  Er- 
regbarkeitsveränderungen. 

31.  XII.  (Ende  der  5.  Woche).  Bei  Percussion  des  rechten  Arcus  zygo- 
maticus Zuckungen  im  linken  Orbicularis  palpebrarum. 

23.  I.    Spuren  von  Motilität  im  Frontalis. 

27.  II.  Plötzliche  Rückkehr  eines  Theiles  der  Motilität  der  unteren  Ge- 
sichtshälfte. 

8.  III.  (4.  Monat).  Spuren  von  Mitbewegung  bei  Innervation  des  Fron- 
talis in  den  Hebern  der  Oberlippe,  die  durch  den  Willen  noch  unterdrückt 
werden  können. 

16.  III.  Bei  Innervation  des  Frontalis  Mitbewegung  der  Muskeln  um  den 
Mund,  die  noch  schwach  sind,  aber  nicht  mehr  unterdrückt  werden  können. 

23.  III.  Aehnliche  Mitbewegungen  bei  Innervation  des  Orbicularis  pal- 
pebrarum. Bei  Reizung  der  Stirnhaut  Reflexbewegungen  in  den  Muskeln  um 
den  Mund. 

18.  IV.  Starke  Mitbewegungen,  enorm  grosse  Reflexerregbarkeit,  vom 
Trigeminus  und  vom  Opticus  aus. 

9.  Beobachtung.  Knabe  von  10  Jahren.  Linksseitige  periphere  Fa- 
cialis-Paralyse durch  Fractur  der  Schädelbasis  seit  7  Monaten. 

2.  X.  Parese  im  ganzen  Facialisgebiet;  Fehlen  der  faradischen  und 
mechanischen,  Herabsetzung  der  galvanischen  Erregbarkeit.  Bei  Innervations- 
versuchen  der  Muskeln  des  oberen  Astes  Mitbewegungen  in  denen  der  unteren 
Aeste.  Reflexerregbarkeit  stark  erhöht,  sowohl  vom  Opticus,  als  auch  vom 
Trigeminus  aus.  Die  Reize  strahlen  hauptsächlich  in  dem  unteren  Ast  und 
Orbicularis  ein. 

10.  Beobachtung.  Uhrmacher  von  25  Jahren.  Periphere,  linksseitige 
Facialis-Parese  seit  6  Jahren. 


—     417     — 

25.  11.  G'J.  Paralyse  des  Frontalis,  Parese  fies  Orbicularis  |ial|ielirarum. 
Faradisclie  Erregbarkeit  annähernd  normal,  nur  bleibt  die  Zuci<ungsgrösse 
im  Frontalis,  auch  bei  starken  Strömen,  nur  gering.  Gleich  nach  der  Sitzung 
ist  die  Motilität  im  Frontalis  grossentheils  wieder  da.  Bei  Innervation  des 
Frontalis  und  Orbicularis  palpebrarum  starke  Mitbewegungen  in  den  Zygoma- 
ticis  und  den  Hebern  der  Oberlippe.  Bei  elektrischer  Reizung  der  Haut  zucken 
dieselben  Muskeln;  nachher  dauert  dieser  Krampf  noch  eine  Weile  an. 

I.  III.  Die  Reflexerregbarkeit  ist  jetzt  .90  gross,  dass  der  halbseitige  Ge- 
sichtsmuskelkrampf schon  bei  blosser  Annäherung  des  Percussions-Hammers 
an  die  Haut  beginnt. 

II.  Beobachtung.  Kaufmann  von  22  Jahren.  Hat  bereits  vor 5 Jahren 
an  rechtsseitiger  Gesichtslähmung  gelitten:  vor  2  Jahren  trat  eine  Lähmung 
auf  derselben  Seite  ein,  in  Folge  deren  er  noch  jetzt  über  Motilitätsstörun- 
gen klagt. 

25.  III.  72.  Leichte  rechtsseitige  Contractur;  Uvula  etwas  nach  links, 
Motilität  in  allen  Muskeln,  jedoch  unvollständig,  wieder  vorhanden.  Leichte 
fibrilläre  Zuckungen  in  den  Kinnmuskeln.  Paradische  Erregbarkeit,  was  das 
Zuckungsminimum  angeht,  rechts  nur  wenig  geringer;  was  das  Zuckungs- 
maximum  angeht,  beträchtlich  herabgesetzt.  Galvanische  und  mechauische 
Erregbarkeit  gering.  Sehr  intensive  Mitbewegungen  in  der  gewöhnlichen 
Weise,  doch  treten  auch  beim  Zusammenpressen  der  Lippen  und  bei  Inner- 
vation der  Lachmuskeln  leichte  Mitbewegungen  im  Frontalis  und  bei  Inner- 
vation des  letzteren  auch  eine  geringe  Hebung  des  unteren  Lids  ein.  Optische 
Reize  wirken  wie  oben  angeführt.  Leichte  oder  stärkere  Hautreize,  sowie  Be- 
rührungen der  Wimpern  führt  zu  zitternden  Contractionen  in  den  Muskeln  der 
unteren  Gesichtshälfte,  die  sich  namentlich  auf  faradische  Hautreize  zu  einem 
nicht  unbedeutenden  Krampf  steigern,  der  sich  auch  auf  den  Frontalis  und 
den  gleicknamigen  Muskel  der  anderen  Seite  ausdehnt. 

üeberblicken  wir  nun  zuerst  dasjenige,  w'as  wir  rücksichtlich  der 
Mitbewegungen  bei  tliesen  Lähmungen  gefunden  haben.  Nach 
unseren  bisherigen  Beobachtungen  scheint  es  so,  als  ob  in  der  Regel 
die  ersten  Mitbewegungen  etwa  gleichzeitig  mit  der  Motili- 
tät in  den  Muskeln  der  unteren  Gesichtshälfte  eintreten.  Ja,  in 
einigen  Fällen  (vgl.  Beobachtung  3  und  4)  traten  sogar  die  ersten 
Spuren  von  Mitbewegungen  um  einige  Tage  früher  als  die  willkürliche 
Bewegung  ein.  Freilich  war  es  nicht  in  allen  Fällen  möglich,  ihren 
ersten  Anfang  zu  beobachten,  einmal  weil  die  Aufmerksamkeit  nicht  in 
allen  Fällen  genügend  darauf  gelenkt  war,  dann  aber  weil  andere 
schon  mit  dieser  Bewegungsanomalie  in  die  Behandlung  traten.  Endlich 
mag  sie,  je  nach  den  grade  obwaltenden  besonderen  Bedingungen, 
das  eine  Mal  längere,  das  andere  Mal  kürzere  Zeit  zur  Entwickelung 
nöthig  haben. 

Von  dem  Ort  und    der  Art  der  Läsion    der  Nerven    scheinen 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     I.  Theil.  27 


-     418     — 

die  MitbeweguDgen  gänzlich  unabhängig  zu  sein.  Denn  ich  beobachtete 
sie  nicht  nur  nach  der  gewöhnlichen  Form  rheumatischer  Lähmung, 
sondern  auch  bei  Fällen  traumatischer  Lähmung  in  Folge  von  Fractur 
der  Basis  cranii,  auch  bei  einem  Falle,  dem  wahrscheinlich  Syphilis  zu 
Grunde  lag.  Uebrigens  wäre  es,  wie  man  später  sehen  wird,  von  Inter- 
esse, zu  entscheiden,  ob  auch  solche  Läsionen,  die  den  extracraniellen 
Verlauf  des  Nerven  treffen,  zu  gleichen  Störungen  führen. 

Die  Art,  in  der  diese  Mitbewegungen  auftreten,  und  ihre  all- 
mählige  Ausbreitung  ist  in  allen  Fällen  gleich  und  höchst  characte- 
ristisch.  Zuerst  bemerkt  rnan  bei  Innervationsversuchen  der  oberen 
Gesichtshälfte  eine  leichte  Verziehung  des  Mundes.  Später  wird  dieselbe 
deutlicher,  und  endlich  tritt  auch  beim  Zusammenpressen  der  Lippen 
ein  nicht  beabsichtigter  Schluss  des  kranken  Auges  ein.  Manchmal 
kommt  es  auch  (s.  Beobacht.  11)  bei  Innervation  der  unteren  Gesichts- 
hälfte zu  einer  Contraction  im  Frontalis.  Der  durch  diese  Bewegungen 
erzielte  mimische  Effect  ist  bei  grösserer  Intensität  des  Phänomens 
nicht  mehr  von  der  Action  des  einen  oder  des  anderen  Muskels  allein 
abhängig  sondern  entsteht  durch  das  Zusammenwirken  mehrerer 
Muskeln,  und  giebt  dem  Gesicht  einen  höchst  fratzenhaften  Ausdruck; 
letzteres  um  so  mehr,  als  die  andere  Gesichtshälfte  dabei  in  Ruhe 
bleiben  kann. 

Dieser  mimische  Ausdruck  lässt  sich  mit  denjenigen,  welche  durch 
die  Affecte  erzielt  werden,  nur  schwer  vergleichen.  Ich  will  deswegen 
lieber  versuchen,  die  bei  jeder  Muskelinnervation  abnormer  Weise  mit 
innervirten  Muskeln  zu  benennen.  Es  ist  selbstverständlich,  dass  durch 
mehr  oder  weniger  vollständige  Wiederherstellung  der  Leitung  in  den 
einzelnen  Aesten  des  Nerven  die  grössere  oder  geringere  Betheiligung 
des  einen  oder  anderen  Muskels  beeinflusst  werden  kan,n. 

Bei  Innervation  des  Frontalis  sowohl,  als  bei  Innervation  des 
Corrugator  supercilii  contrahiren  sich  Levator  alae  nasi  labiique  sup, 
Zygomatici  und  Orbicularis  oris.  Bei  Innervation  des  Corrugator  super- 
cilii tritt  dann  noch  der  Triangularis  menti  mit  hinzu.  Der  Gesammt- 
effect  dieser  abnormen  Innervation  ist  aber  eine  Verziehung  der  ganzen 
Gesichtshälfte  nach  oben,  während  bei  willkürlicher  Innervation  des 
Orbicularis  palpebrarum  dieselben  Muskeln,  aber  nun  so  mitbewegt 
werden,  dass  das  Gesicht  in  die  Quere  verzogen,  der  Mundwinkel  der 
kranken  Seite  also  dem  Ohre  genähert  wird.  Willkürliche  Innervation 
der  Lacbmuskeln  bringt  keine  Mitbewegungen  hervor,  während  Zu- 
sammenpressen des  Mundes  wieder  eine  sehr  deutliche  Mitbewegung  im 
Orbicularis  palpebrarum  erzeugt,  wodurch  dann  das  Gesicht  einen  etwas 
schalkhaften  Ausdruck  erhält.     Auch  zwischen  der  bei  Innervation  des 


—     419     — 

Frontalis  und  bei  der  des  Cornigator  supercilii  eintretenden  Verzerrung 
lässt  sich  ein  deutlicher  Unterschied  wahrnehmen.  Bei  der  ersteren 
haben  die  Zygomatici  immer  noch  etwas  das  Uebergewicht,  während 
bei  der  Letzteren    die  Heber    der  Oberlippe    entschieden  vorwiegen.  — 

Die  nächste  Frage  wäre  nun,  von  welchem  Organ  denn  diese 
Bewegungsanoraalie  ausgelöst  wird.  Man  könnte  vielleicht  an 
das  Ganglion  geniculi  denken,  insofern  dieses  bei  einer  Anzahl  von 
Lähmungen  wahrscheinlich  beleidigt  wird,  und  insofern  als  es  ja  möglich 
wäre,  dass  in  einem  solchen  Ganglion  ähnliche  Verknüpfungen  der 
Muskelbewegung  stattfinden,  als  in  anderen  Centralorganen.  Lidessen 
haben  wir  doch  gar  keine  Anhaltspunkte  für  die  letztere  Annahme, 
ausserdem  sollte  man  meinen,  dass  bei  einer  Zerstörung  eines  Organs 
von  solcher  Function  diese  Function  nicht  stärker  werden,  sondern  im 
Gegentheil  ausfallen  müsste.  Man  würde  dann  eher  zu  erwarten  haben, 
dass  bei  der  willkürlichen  Linervation  die  im  Normalen  vorhandene 
mimische  Mitbewegung  entweder  ganz  ausfiele  oder  schwerer  zu  Stande 
käme.  Endlich  ist  es  kaum  anzunehmen,  dass  in  allen  meinen  Beob- 
achtungen, die  Läsionen  von  so  verschiedener  Natur  betreffen,  die 
Leitungsunterbrechung  immer  in  den  Bereich  jenes  Ganglion  gefallen  sei. 

Man  könnte  auch  den  übrigen  Theil  des  m,otorischen  Nerven  ver- 
antwortlich machen  wollen:  man  müsste  dann  aber  mindestens  voraus- 
setzen, dass  derselbe  eine  grössere  Leistungsfähigkeit  als  ein  normaler 
Nerv  besässe,  was  nach  den  zahlreichen  vorhandenen  Untersuchungen, 
denen  ich  ebenso  zahlreiche  eigene  anreihen  könnte,  wenig  wahr- 
scheinlich ist. 

Man  könnte  drittens  den  Grund  im  Muskel  suchen.  Letzter  zeigt 
allerdings  auch  in  späteren  Perioden  gebesserter  F'acialis  -  Lähmungen 
gewisse  abnorme  und  wenig  bekannte  Zustände,  die  mögUcher  Weise 
ihren  Grund  in  gesteigerter  Erregbarkeit  der  Muskelsubstanz  selbst 
haben.  Man  bemerkt  nämlich  in  den  Muskeln  fibrilläre  und  partielle 
Contractionen,  welche  auf  das  lebhafteste  an  das  gleiche  bei  pro- 
gressiver Muskelatrophie  vorhandene  Phänomen  erinnern.  Gleichzeitig 
aber  ist  die  Erregbarkeit  gegen  mechanische  und  elektrische  Reize  auf 
das  entschiedenste  herabgesetzt,  während  jenes  Muskelzittern  nach  jeder 
Reizung  der  sensiblen  Nerven  —  sei  es  durch  Anblasen  der  Haut,  sei 
es  durch  mechanische,  sei  es  durch  elektrische  Reize  —  auf  das  deut- 
lichste verstärkt  oder  erst  hervorgerufen  wird.  Unter  diesen  Umständen 
ist  es  noch  sehr  zweifelhaft,  um  nicht  zu  sagen,  unwahrscheinlich,  dass 
in  der  That  der  Muskel  selbst  sich  im  Zustande  gesteigerter  Erreg- 
barkeit befinde. 

Wie  dem  nun  auch  sein  mag,  und  ob  mau  nun    den  Nerven    oder 

27* 


—     420     -^ 

den  Muskel  zur  Erklärung  heranziehen  will,  in  jedem  Falle  wäre  er- 
forderlich, dass,  wenn  auf  einen  Willensirapuls  eine  Coutraction  ein- 
treten soll,  dieser  Willensimpuls  in  die  betreffende  Leitungsbahn  gelangt. 
Auch  bei  der  allergrössesten  Steigerung  seiner  Reizbarkeit  wird  der 
Muskel  in  Ruhe  bleiben,  wenn  diese  Bedingung  nicht  zutrifft.  Da  nun 
die  abnormen  Mitbewegungen  vom  Centrum  her  nicht  beabsichtigt 
werden,  ja  sogar  ihre  Entstehung  durch  den  Willen  so  gut  wie  immer 
fruchtlos  unterdrückt  zu  werden  versucht  wird,  so  muss  zwischen 
dem  motorischen  Centrum  und  dem  peripheren  Nerven 
irgend  wo  ein  Mechanismus  in  Unordnung  gerathen  sein, 
durch  den  nun  die  centralen  Impulse  in  nicht  gewollte 
Bahnen  geschleudert  werden. 

Es  findet  mit  anderen  Worten  ein  ähnliches  Verhalten 
statt,  wie  bei  den  hemiplegischen  Contracturen;  auch  dort 
gelangen,  wie  ich  oben  gezeigt  habe,  die  Impulse  in  niclit 
beabsichtigte  Bahnen  hinein.  Indessen  könnte  man  einwenden, 
dass  jede  W^illensinnervation  des  einen  Gesichtsmuskels  eine,  wenn  auch 
nur  schwache  Mitinnervation  der  anderen  Gesichtsmuskeln  voraussetze, 
ähnlich  wie  ich  dies  bezüglich  anderer  Muskelgruppen  a.  a.  0.  aus- 
geführt habe.  Bei  den  gewöhnlichen  Bewegungen  des  Gesichtes  sind 
die  Grenzen  der  Mitinnervation,  wenn  es  überhaupt  dazu  kommt, 
freilich  ganz  anders  gezogen.  Doch  könnte  man  in  einer  mehr  oder 
weniger  künstlichen  Beweisführung  dafür  plädiren,  dass  der  Nutzeffect 
der  Muskelinnervation  für  gewöhnlich  latent  bliebe.  Dann  würden  also 
in  der  That  Impulse  in  die  peripheren  Bahnen  gelangen,  und  es  würde 
der  Annahme  eines  Reizzustandes  in  centralen  Organen  nicht  bedürfen. 
Gegen  eine  solche  Auffassung  ist  der  Nachweis  abnormer  Reflex- 
vorgänge allerdings  von  entscheidender  Wichtigkeit.  Beschäftigen  wir 
uns  nunmehr  mit  diesen. 

Es  war  die  Rede  von  Reflexcontractionen,  welche  einmal  bei  Reizen, 
die  auf  den  Opticus  wirkten  und  dann  bei  solchen,  die  den  Trigeminus 
angingen,  zu  Stande  kamen. 

Die  durch  optische  Reize  ausgelösten  Zusammenziehungen 
können,  obwohl  wir  sie  unter  dem  Namen  der  Reflexcontractionen  an- 
führten, wie  sich  bei  genauerer  Prüfung  herausstellt,  als  solche  nicht 
ohne  weiteres  aufgefasst  werden.  Diese  Contractionen  werden  nämlich 
von  vielen  Kranken  vollkommen  verhindert,  und  zwar  immer  dann, 
wenn  das  Blinzeln  mit  den  Lidern  bei  Annäherung  eines  fremden 
Körpers  unterdrückt  werden  kann.  Bei  denselben  Kranken  treten  aber 
sofort  höchst  intensive  allgemeine  Mitbewegungen  auf,  sobald  man  die 
Wimpern  —  sei  es  bei  offenen  oder  bei    geschlossenen  Augen    —    be- 


—     421     — 

sonders  des  unteren  Lides  leise  beriilirt.  Unter  diesen  Umständen 
müssen  die  anfänglich  als  optische  Reflexe  imponirenden  Oontractionen 
als  eine  besondere  Art  von  Mitbewoguiig  aufgefasst  werden.  Auf  den 
optischen  Reiz  tritt  die  normale  Reflexbewegung  des  Lidschlusses  ein, 
mit  ihr  al)er  zufolge  der  vorausgesetzten  Unordnung  in  jenem  centralen 
Apparate  eine  höchst  unzweckmässige  Bewegung  in  dem  ganzen  krank- 
haft afficirten  motorischen  Gebiete. 

Da  diese  Thatsachen  mir  für  die  Bedeutung  der  vorliegenden  Be- 
obachtungen von  grossem  Interesse  schienen,  so  habe  ich  die  eben  be- 
schriebenen Versuche  seit  langer  Zeit  an  meinen  Kranken  unzählige 
Male  wiederholt  und  habe  dabei,  den  gleichen  Zustand  der  Leistungs- 
fähigkeit in  den  motorischen  Nerven  vorausgesetzt,  immer  das  gleiche 
Resultat  gefunden.  Kommt  es  jedoch  in  Folge  Leitnngsunfähigkeit  des 
Orbicularis  palpebrarum  auf  Berührung  der  Wimpern  noch  nicht  zum 
reflectorischen  Lidschlusse,  so  beobachtet  man  eine  andere  Reflexbewegung, 
dann  zuckt  nämlich  der  ganze  Kopf  zurück,  —  während  bei  Reizung 
der  anderen  Seite  nur  die  normale  Reflexbewegung,  der  Lidschluss,  ein- 
tritt. Man  braucht  diese  ungewöhnliche  Reflexbewegung  freilich  nicht 
als  Beweis  einer  abnormen  Reizbarkeit  aufzufassen,  sondern  man  kann 
sie  als  ein  Analogen  jenes  beim  decapitirten  Frosche  bekannten  Vor- 
ganges betrachten,  insofern  als  der  Frosch  zur  Abwehr  von  Reizen 
eine  ganze  Reihe  von  Motoren  nach  einander  in  Bewegung  zu  setzen 
vermag. 

Das  Interesse  dieser  Thatsache  liegt  darin,  dass  hier  die  Mit- 
bewegung nicht  in  Folge  von  Willensimpulsen,  sondern  als  E'olge  von 
äusseren  Reizen  auftritt.  Die  centrale  Bahn  für  den  Willensimpuls 
kommt  also  in  Wegfall  und  wir  vermögen  dadurch  den  Heerd  der 
Reizung  genauer  zu  localisiren.  Bei  der  Schwierigkeit,  der  die  Analyse 
aller  centralen  Vorgänge  unterliegt,  scheint  eine  jede  solche  Thatsache 
mir  von  nicht  geringer  Wichtigkeit  zu  sein.   — 

Wenn  nun  die  durch  den  Opticus  vermittelten  Bewegungen  mehr 
den  Character  der  Mitbewegung  tragen,  so  lassen  sich  die  bei  Rei- 
zung des  Trigeminus  auftretenden  Contractionen  um  so  sicherer  als 
reine  Reflexe  erklären. 

Ich  habe  der  Reihe  nach  bei  diesen  Kranken  alle  möglichen  Reize 
versucht,  und  es  giebt  keinen  einzigen  Reiz,  von  dem  einfachen  Streichen 
der  Haut  mit  dem  Finger  an  bis  zur  elektrischen  Reizung,  durch  den 
ich  nicht  die  vielgenannten  Muskelgruppen  hätte  in  Bewegung  setzen 
können.  Natürlich  ist  je  nach  dem  Grade  der  vorhandenen  Erregbarkeit 
in  dem  einen  Falle  ein  stärkerer,  in  dem  anderen  Falle  ein  geringerer 
Reiz  erforderlich.     In    einzelnen  Fällen  wurden    die  Reflexe    sogar    auf 


—     422     — 

die  andere  Seite  übertragen  (Beobacht.  6  und  8.  s.  a.  Beobacht.  12  und 
13).  Diese  Uebertragungen  auf  die  andere  Seite  wurden  bereits  in  einer 
ganz  frühen  Periode  der  Lähmung  beobachtet,  so  dass  auch  dies  dafür 
spricht,  dass  jener  Reizzustand  durch  den  die  Mitbewegungen  und  die 
abnormen  Reflexbewegungen  hervorgebracht  werden,  bereits  lange  be- 
stehen kann,  ehe  die  ursprünglich  verlegte  motorische  Leitungsbahn 
wieder  geöffnet  ist. 

Fassen  wir  alle  diese  Thatsachen  zusammen:  das  Vorhandensein 
von  Mitbewegungen  im  Stamme  desselben  Nerven,  deren  Auftreten  auch 
bei  peripherer  Reizung  vom  Opticus  aus,  das  Vorhandensein  von  ab- 
normen Reflexbewegungen,  die  leichte  Uebertragbarkeit  auf  die  andere 
Seite;  so  ergiebt  sich  schon  hieraus  mit  der  grüssten  Wahrscheinlichkeit, 
dass  der  Sitz  der  abnormen  Reizung  in  dem  eigentlichen 
Reflexorgane  des  Facialis  sein  muss,  d.  h.  in  der  Medulla 
oblongata. 

Ehe  wir  nun  in  unserer  Betrachtung  weiter  gehen,  seien  hier  noch 
zwei  Krankheitsfälle,  wenn  auch  in  möglichster  Kürze  doch  etwas  aus- 
führlicher angeführt,  insofern  als  sie  nicht  nur  durch  ihre  Seltenheit 
ein  allgemeineres  Literesse  beanspruchen  können,  sondern  auch  zur 
lUustrirung  der  uns  beschäftigenden  Anomalien  besonders  geeignet  sind. 
12.  Beobachtung.  Mädchen  von  19  Jahren.  Erkrankte  vor  3  Jahren 
an  completer,  linksseitiger  Facialis-Lähmung,  welche  bis  auf  fehlende  Motilität 
im  Frontalis  und  Contractur  des  Orbicularis  palpebrarum  geheilt  war,  als  sie 
am  6.  in.  1869  von  neuem  mit  Ohrenschmerzen  und  Lähmung  desselben  Ner- 
ven erkrankte. 

Status  praesens.  9.  IIL  1869.  Keine  Gesichtsverzerrung;  nur  das  linke 
(kranke)  Auge  bedeutend  kleiner  als  das  rechte.  Zunge  grade;  Uvula  mit  der 
Spitze  erheblich  nach  rechts.  Motilität  fehlt  gänzlich  im  Frontalis,  ist  höchst 
unvollkommen  in  den  anderen  Gesichtsmuskeln.  Mechanische  Erregbarkeit 
fehlt.  Galvanische  Erregbarkeit  intramuskulär  äusserst  gering ;  (Kinnmuskeln 
bei  18  Ell  Zuckung,  in  den  andern  Muskeln  bei  20  Ell  keine  Zuckung).  Fara- 
dische Erregbarkeit  intra-  und  extramuskulär,  namentlich  im  oberen  Aste,  be- 
trächtlich herabgesetzt. 

10.  III.    Faradische  Contractilität  noch  geringer. 

11.  III.  Faradische  Erregbarkeit  mit  Ausnahme  einiger  Spuren  im  Cor- 
rugator  supercilü  und  einzelnen  Bündeln  des  Quadratus  menti  gänzlich  ver- 
loren.   Motilität  spurweise  in  den  genannten  Muskeln,  fehlt  sonst. 

3.  IV.  (Leichtes  Oedem  des  Gesichts  und  zunehmende  Empfindlichkeit, 
sowie  Ansteigen  der  galvanischen,  intramuskulären  Erregbarkeit  schon  seit 
den  ersten  Tagen  der  Behandlung.)  Jetzt  Frontalis,  rechts  12,  links  8;  die 
anderen  Muskeln,  rechts  10,  links  8.  Deutliches  Vorwiegen  der  Anode  im 
Frontalis  und  der  Oberlippe,  Vorwiegen  der  Kathode  am  Kinn.  Mechanische 
Erregbarkeit  sehr  e'erins,-. 


—     428     — 

Seit  Anlang  Mai  alhnaliliclio  Ziiiialiino  der  Motilität. 

25.  V.  (12.  Woclie).  Motilität  säninitlicher  Gesiclitsrmiskoln,  ausgenom- 
men Frontalis  fast  complet;  am  meisten  bleibt  noch  zurück  Orbicularis  pal- 
pebrarum. Bei  Innervation  des  Frontalis  und  Orbicularis  palpebraruia  Mit- 
bewegungen der  Muskeln  um  den  Mund. 

10.  VI.  Inzwischen  allmähliche  Zunahme  der  Mitbewegungen  und  auch 
der  Motilität  des  Frontalis;  jetzt  treten  auch  bei  Innervation  des  Orbicularis 
oris  schwache  Mitbewegungen  im  Orbicul.  palpebrarum  auf.  Ueber  die  mecha- 
nische Erregbarkeit  der  Muskeln  lässt  sich  wegen  der  enormen  Rellexerregbar- 
keit  kein  sicheres  Urtheil  gewinnen.  Schon  bei  Annäherung  eines  Gegenstan- 
des an  die  Haut,  namentlich  der  linken,  doch  auch  der  rechten  Gesichtshälfte, 
zucken  die  Muskeln  um  den  Mund;  desgleichen  bei  leichtem  Herüberfahren 
über  die  Haut.    Gleichzeitig  spontane  fibrilläre  Zuckungen. 

16.  XL  Keflexerregbarkeit  noch  immer  sehr  gross.  Die  Percussion  des 
oberen  und  des  unteren  Orbitalrandes,  sowie  des  linken  Theiles  der  Nase  und 
des  Arcus  zygomaticus,  sowie  das  oberflächliche  Stechen  aller  dieser  Punkte 
mit  Nadeln,  sowohl  bei  offenen  als  bei  geschlossenen  Augen  löst  Zuckungen, 
ja  bei  längerer  Dauer  der  Reizung  klonische  Krämpfe  in  allen  linksseitigen 
Gesichtsmuskeln,  ausgenommen  Frontalis,  aus.  Endlich  bleibt  ein  touischer 
Krampf  des  Quadratus  menti  für  einige  Minuten  zurück. 

2.  IV.  70.  Klagen  über  Innervationsstörung  der  rechten  Gesichtshälfte. 
Nichts  nachweisbar,  als  geringe  Schwäche  des  Orbicularis  palpebrarum. 

5.  IV.  Incomplete  Lähmung  des  rechten  Facialis,  theilweise  Erhöhung 
der  faradischen  Erregbarkeit,  (z.  B.  Orbic.  palpebr.,  Corrug.  supercilii  extra- 
musculär  170.)  Auf  der  rechten  Zungenhälfte  süsslicher  Geschmack.  Gal- 
vanische Geschmacksempfindung  am  vorderen  und  seitlichen  Zungenrande 
rechts  abgestumpft. 

Allmähliches  Abfallen  der  faradischen  Erregbarkeit. 

12.  IV.  Frontalis  unerregbar,  die  anderen  Muskeln  zwischen  150  und 
120  noch  zu  erregen.  Bei  dieser  Untersuchung  äusserst  starke,  nicht  zu  be- 
herrschende Reflexcontractionen  in  dem  linken  Facialis. 

19.  VI.  Grosse  Empfindlichkeit  der  rechten  Gesichtshälfte;  noch  keine 
mechanische  Erregbarkeit,  faradische  Erregbarkeit  in  den  oberen  Aesten  r:=  0, 
in  den  unteren  Aesten  bei  schwachen  Strömen  in  einzelnen  Bündeln,  bei  stär- 
keren Strömen  kein  grösserer  Pveizeffect.  Motililtät  verhält  sich  ebenso.  Gal- 
vanische Erregbarkeit:  Kinn  6,  Oberlippe  8,  Frontalis  10;  Vorwiegen  der 
Kathode. 

21.  IV.    Spuren  mechanischer  Erregbarkeit. 

27.  IV.  Seit  gestern  Nachmittag  plötzlich  der  letzte  Rest  von  Motilität 
auf  der  rechten  Gesichtshälfte  verschwunden.  Bei  leichter  Percussion  des 
rechten  Frontalis,  weniger  der  übrigen  Gesichtsmuskeln,  leichte  klonische 
Krämpfe  der  Muskeln  um  den  Mund  auf  der  anderen  Seite. 

29.  IV.  Pvechte  Gesichtshälfte  ziemlich  stark  geschwollen,  äusserst  em- 
pfindlich. Spuren  mechanischer  Erregbarkeit  im  Frontalis.  Noch  grössere 
galvanische  Erregbarkeit. 


—     424     — 

5.  V.  (5.  Woche).  Spuren  von  Motilität  im  Frontalis,  Corrugator  und 
Orbicularis  palpebrarum.  Mechanische  Erregbarkeit  zugenommen.  Bei  der 
geringsten  Reizung  der  Haut  der  rechten  Gesichtshälfte  sehr  starke  Contrac- 
tionen  auf  der  linken  Seite. 

7.  V.  Mechanische  Erregbarkeit  sehr  bedeutend  erhöht.  Weiteres  An- 
wachsen der  galvanischen  Erregbarkeit.  Stets  Vorwiegen  der  Kathode.  Kam 
bald  nachher  aus  der  Beobachtung. 

Das  hauptsächlichste  Interesse  dieser  Beobachtung  liegt  1.  darin, 
dass  die  Kranke  drei  Lähmungen  ihrer  zwei  Gesichtsnerven  davon  ge- 
tragen hat,  2.  in  der  kolossalen  Steigerung  der  Reflexerregbarkeit,  die 
sich  eben  auch  in  starker  Projection  der  Reize  nach  der  anderen  Seite 
äusserte.  Man  kann  aus  diesem  Falle  ferner  unmittelbar  ersehen,  dass 
die  Coutractur,  welche  nach  peripheren  Lähmungen  zurückbleibt,  in 
der  That  im  Muskel  und  nirgends  anders  ihren  Sitz  hat.  Denn  der 
linke  Orbicularis  palpebrarum  befand  sich  von  der  ersten  Lähmung  her 
noch  in  Contractur,  und  behielt  dieselbe  bei,  obwohl  eine  complete 
Leitungsunterbrechung  seines  motorischen  Astes  von  neuem  eintrat.  Ja, 
ich  erinnere  mich,  diese  Kranke  noch  gelegentlich  ihrer  rechtsseitigen 
Facialislähmung  stets  mit  der  verkleinerten  Lidspalte  gesehen  za  haben. 
Endlich  verliefen  die  anderweitigen  Erregbarkeitsveränderungen  inner- 
halb der  zum  zweiten  Male  befallenen  Muskulatur  in  der  gewöhnlichen 
Weise,  nur  die  mechanische  Erregbarkeit  erfuhr  linkerseits  nicht  die 
gew'öhnliche  Steigerung. 

1.3.  Beobachtung.  Köchin  von  42  -Jahren.  Rheumatische  rechtsseitige 
Facialis-Paralyse  seit  dem  16.  IX.  68. 

Status  praesens  16.  X.  68:  Complete  Paralyse  des  Facialis,  jedoch  ohne 
Beiheiligung  der  Uvula.  Faradische  Erregbarkeit  fehlt  gänzlich;  (im  Corrug. 
superc.  und  Frontalis  sind  einige  Pasern  gegen  den  Willen  und  den  fara- 
dischen Reiz  erregbar  geblieben).  Galvanische  Erregbarkeit  beträchtlich  er- 
höht, (Vorwiegen  der  Kathode.)  Fast  gänzlicher  Verlust  der  Geschmacks- 
Empfindungen  am  rechten  Rande  und  der  Spitze  der  Zunge.  Bei  jedem  kräf- 
tigen Innervationsversuche  des  Frontalis  will  sie  für  die  Dauer  desselben  auf 
der  kranken  Seite  einen  tiefen  Ton  hören.  (Mit  Resonatoren  werden  rehts  alle 
Töne  schärfer  als  links  gehört.    Lucae.) 

2.  XI.   (7.  Woche).     Spuren  von  Motilität  in  der  unteren  Gesichtshälfte. 

20.  XI.  (9.  Woche).  Die  Motilität  hat  inzvi^ischen  zugenommen.  Fara- 
disclie  Erregbarkeit  in  sämmtlichen  Muskeln  spurweise,  am  grössten  im  Fron- 
talis, keine  im  Orbicularis  palpebrarum.  Beim  Klopfen  auf  den  Unterkieferast 
des  Facialis  in  der  Gegend  des  Angulus  mandibulae  (zur  Untersuchung  auf 
mechanische  Erregbarkeit  des  Nerven)  zucken  plötzlich  zuerst  die  Muskeln, 
welche  dieser  Ast  versorgt  mehrmals  hinter  einander;  noch  während  dieser 
Zuckungen  beginnen  auch  die  Zygomatici  dasselbe  Spiel.    Dann  fangen  zuerst 


—     425     — 

die  mimischen  Unterkiefermuskcln  der  anderen  Seite  an  sicli  zu  contrahiren ; 
das  Zucken  verbreitet  sich  auf  sämmtliche  mimische  Muskeln  der  anderen 
Seite,  und  zwar  derart,  dass  durch  kräftige  langsame  Contractionen  ein  ausser- 
ordentlich heftiger  Krampf  im  Gebiete  des  ganzen  Facialis  entsteht,  wie  man 
ihn  in  so  grosser  Heftigkeit  bei  Fällen  von  reinem  Gesichtsmuslcelkrampf  Icaum 
jemals  zu  sehen  beliomnit.  Nachdem  der  Krampf  sich  beruhigt  hatte,  wurde 
der  Klopfversuch  wiederholt.  Nun  entstand  neben  dem  Pacialiskrampf  gleich- 
zeitig ein  Krampf  in  beiden  Trigeminis  der  Art,  dass  abwechselnd  die  Kiefer 
gegen  einander  gepresst  wurden  und  dann  seitliche  Bewegungen  machten,  etwa 
wie  ein  kauendes  Pferd.  Einen  sehr  eigenthümlichen  Anblick  gewährte  es, 
dass  sich  einzelne  Bündel  der  linken  Gesichtsmuskeln  isolirt  mit  ganz  ausser- 
ordentlicher Energie  zusammengezogen.  Bei  einem  dritten  Versuch  bekam  die 
Kranke  eine  Art  von  Schüttelfrost  ähnlichem  Krampf,  wollte  aber  nebenbei 
über  Kälte  oder  sonstige  abnorme  Empfindungen  nicht  zu  klagen  haben. 

21.  XI.  Gestern  Abend  7Y2  Uhr  ein  halbstündiger  Anfall  von  doppel- 
seitigem Krampf  des  Facialis  und  Trigeminus.  Während  desselben  fortwährend 
Gehörsempfindungen  auf  dem  kranken  Ohre.  Seit  heute  Morgen  unausgesetzt 
doppelseitiger  Facialis-  und  Trigeminuskrampf,  ausserdem  häufige  Schüttelfrost 
ähnliche  Krämpfe. 

Mittags  3  Uhr  in  der  von  Gräfe'schen  Klinik.  Inzwischen  waren  meh- 
rere Anfälle  von  Krämpfen,  auch  in  den  Extremitäten,  jedoch  ohne  Verlust 
des  Bewusstseins  vorhanden  gewesen.  Der  erste  Anfall  hatte  sich  auf  die 
Arme  beschränkt,  beim  zweiten  waren  auch  Zuckungen  in  den  Beinen  auf- 
getreten. Zwei  solcher  Anfälle  wurden  in  der  Klinik  mit  von  Gräfe  beob- 
achtet. Sie  begannen  beide  im  rechten  Facialis,  breiteten  sich  sehr  schnell 
über  alle  Gesichtsmuskeln  aus,  dann  kam  es  zu  schluchzenden  Bewegungen, 
Schüttelfrost,  dann  begann  der  rechte  Arm  bei  halb  gebeugten  Fingern  schüt- 
telnde Bewegungen  zu  machen,  endlich  traten  tonische  Streckbewegungen  des 
rechten  Beines  mit  klonischen  Dorsalflexionen  des  rechten  Fusses  auf.  Die 
krampfhaften  Bewegungen  der  linken  Extremitäten  waren  nur  ganz  unbedeu- 
tend. Während  des  zweiten  Anfalles  waren  beide  Recti  inff.  in  tonischer  Con- 
traction.  Dabei  war  die  Haut  feucht  und  der  erst  volle  und  weiche,  nur  wenig 
beschleunigte  Puls  unzählbar  häufig,  leer  und  klein.  Verordnung:  Vollkom- 
mene Ruhe;  Kali  brom. 

1.  XII.  Hat  inzwischen  nur  wenige  kurz  dauernde  Anfälle  und  zwar 
jedes  Mal  in  Folge  von  Aufstehen  und  namentlich  von  Sprechen  gehabt.  Dabei 
waren  Krämpfe  in  den  beiden  Extremitäten  der  kranken  Seite,  und  gegen  Ende 
der  Anfälle  auch  in  der  gesunden  Seite  vorhanden. 

7.  XII.  Selbst  bei  vollkommener  Pvuhe  immer  noch  kleine  Anfälle  von 
Krampf,  namentlich  in  den  Muskeln  des  unteren  Astes  und  auch  der  gesunden 
Seite  vorhanden.  Bei  Bewegungen  auch  mit  der  gesunden  Seite  werden  die 
Krämpfe  stärker.  Druck  auf  die  Muskeln  der  kranken  Seite  ruft  sie  in  allen 
Muskeln  des  Gesichts  in  grosser  Intensität  hervor. 

14.  XII.    Heute  ist  der  Krampf  auf  der  kranken  Seite  stärker. 


—     426     — 

30.  XII.  Reflexerregbarkeit  immer  noch  kolossal.  Bei  plötzlichem  Nähern 
des  Fingers  an  das  Auge  heftige  Gesichtsmuskelkrämpfe,  an  denen  sich  auch 
der  linke  Rectus  inf.  bei  Reizung  links  betheiligt,  so  dass  der  linke  Bulbus 
unter  Schliessungsbewegung  des  Lides  nach  unten  gerollt  wird,  während  der 
rechte  grade  aus  sieht. 

Den  Rest  der  Kraukengeschichte  übergehe  ich,  indem  ich  nur  noch  hin- 
zufüge, dass  die  Steigerung  der  Reflexerregbarkeit  in  allmählich  abnehmendem 
Grade  und  die  abnormen  Mitbewegungen  noch  lange  beobachtet  wurden,  die 
Motilität  stellte  sich  allmählich  wieder  ein. 

Das  Interesse  dieser  Beobachtung,  für  die  mir  Analoga  nicht  be- 
kannt sind,  liegt  in  der  Ausbreitung  des  Reizzustandes  auf  benachbarte 
Innervationsstätten.*)  Nachdem  sich  zuerst  der  Facialis  der  gereizten 
(kranken)  Seite  in  Bewegung  gesetzt  hatte,  folgte  ihm  der  Facialis  der 
anderen  Seite,  dann  die  Trigemini  und  so  breitete  sich  der  Krampf 
ziemlich  gleichzeitig  sowohl  nach  vorn  als  nach  hinten  nicht  nur  auf 
die  willkürlichen  Muskeln,  sondern  sogar  auf  den  Herzmuskel  aus.  An 
den  Extremitäten  waren  die  Bewegungen  auf  der  kranken  Seite  unver- 
gleichlich viel  stärker  als  auf  der  gesunden  Seite.  Die  Krämpfe  wurden 
sowohl  durch  Willensimpulse  als  auch  Reflexreize,  endlich  auch  durch 
auf  dem  Reflexwege  producirte  indirecte  Reize  (vom  Opticus  her) 
ausgelöst. 

Dieser  Fall  scheint  mir  sich  von  den  bisher  angeführten  nur  gra- 
duell zu  unterscheiden.  Wir  fanden  bei  jenen  zunächst  die  Tendenz 
zur  Mitbewegung  pathologisch  angewachsen,  dann  zeigte  sich  eine  Aus- 
breitung reflectorischer  Reize  auf  benachbarte  Motoren  derselben  Seite, 
ja  in  einzelnen  Fällen  kam  bereits  ein  Ueberspringen  des  Reizes  auf 
die  andere  Seite  zur  Beobachtung.  In  diesem  Falle  wurden  nun  auch 
entfernter  liegende  Motoren  mit  ergriffen.  — 

Nach  allem  diesem  dürfte  sich  wohl  kaum  noch  ein  Zweifel  da- 
gegen erheben,  dass  die  geschilderten  Bewegungsanoraalieen 
wirklich  in  der  Med.  oblong,  ihren  Sitz  haben  und  auf  einen 
besonderen  Reizzustand  dieses  Organes  zurückzuführen 
sind.  Die  Frage  wäre  nur,  woher  denn  dieser  Reizzustand 
kommt?  Dass  Reizungen  sensibler  Nerven  krampfhafte  Zustände  ver- 
schiedener Art  bedingen  können,  ist  bekannt  genug,  aber  dass  Läh- 
mungen motorischer  Nerven  einen  gleichen  Effect  hätten,  wusste  man 
bisher  nicht.  Man  ist  also  zunächst  versucht,  an  die  Anastomose  des 
Facialis  mit  dem  Quintus,  d.  h.  an  dem  Facialis  beigemischte    sensible 


*)  Meiner  Ansicht  nach  dürften  die  Krämpfe  wohl  aus  einer  Complication 
mit  Hysterie  hervorgegangen  sein. 


—     427      — 

oder  sensuelle  Fasern,  zu  denken.  Ich  lasse  dahingestellt  sein,  in  wie 
weit  dieser  pjrklärungsversuch  das  Richtige  träfe.  Thatsächlich  ist  mit 
Ausnahme  der  Geschmacksalteration  eine  P^mpfindungslähraung  bei 
Facialis-Paralysen  nicht  zu  constatiren,  und  die  sich  später  einstellende, 
übrigens  sehr  verschieden  starke  Empfindlichkeit  der  kranken  Gesichts- 
hälfte  dürfte  wohl  auf  die  dann  vorhandene  Muskelentzündung  zu  be- 
ziehen sein.  Man  könnte  auch  diese  letztere  verantwortlich  machen 
wollen.  Dagegen  müsste  ich  indessen  schon  Einspruch  erheben;  denn 
die  Dauer  der  abnormen  Reizzustände  erstreckt  sich  über  Jahre  hinaus, 
wenn  von  der  Muskelentzündung  längst  nichts  mehr  wahrzunehmen  ist. 
Weiter,  glaube  ich,  kann  man  für  den  Augenblick  mit  den  Sichtungs- 
und Deutungsversuchen  nicht  gehen.  Es  genüge  also  einstweilen  die 
durch  meine  Beobachtungen  gewonnene  und  in  dieser  Form  unbestreit- 
bare Thatsache,  dass  in  Folge  von  Leitungsunterbrechungen 
eines  peripheren  motorisch  (-sensuellen?^  Nerven,  des  Fa- 
cialis, sich  ein  der  weiteren  Ausbreitung  fähiger,  convulsi- 
vischer  Zustand  in  seinem  Reflexorgaue  eingestellt,  nnd  dass 
dieser  Zustand  Jahre  lang  anhalten  kann. 

In  diese  abstracte  Form  gebracht,  finden  unsere  Beobachtungen  am 
Menschen  auch  sofort  ihr  Analogen  in  den  Resultaten  gewisser  Vivi- 
sectionen.  Durch  die  Versuche  Brown-Sequard's  ist  es  bekannt,  dass 
Durchschneidiing  des  Ischiadicus  am  Meerschweinchen  zur  Ausbildung 
einer  echten  Epilepsie  führt,  bei  der  merkwürdiger  Weise  eine  „epilep- 
togene  Zone"  in  den  Bahnen  des  Quintus  liegt.  Einzelne  neuere  Be- 
obachtungen desselben  Forschers  nähern  diesen  Krankheits Vorgang  noch 
mehr  dem  von  mir  beschriebenen.  Bei  einzelnen  Thiereu  trat  nämlich 
die  charakterisirte  Epilepsie  nicht  ein,  sondern  es  kam  entweder  nur 
zu  unvollständigen  Anfällen  (vgl.  Beobacht.  13)  oder  einfach  zu  krank- 
hafter Reizung  der  Reflexthätigkeit.  Bei  allen  diesen  Thieren  konnte 
man  eine  ungewöhnlich  schnelle  Wiederherstellung  der  Leitungsunter- 
brechung nachweisen*).  Die  Intensität  des  gesetzten  Reizes  war  also 
offenbar  von  der  Intensität  der  gesetzten  Leitungsunterbrechuug  ab- 
hängig. Dies  erinnert  an  meine  Beobachtung  5,  bei  der  der  sonstige 
Verlauf  gleichfalls  für  eine  geringere  Intensität  der  Läsion  sprach  und 
auch  die  Mitbewegungen  nur  schwach  zur  Anschauung  kamen. 

Brown-Sequard  ist  geneigt  die  Entstehung  der  Epilepsie  gleich 
der  nach  Durchschneidung  des  Ischiadicus  entstehenden  Degeneration 
des  Hinterstranges  auf  einen  Reiz  zu  beziehen,  der  nach  ihm    am    cen- 


*)  Brown-Sequard,    Archives   de  Physiologie.    Bd.  III.    S.  155  und 
Bd.  IV,  S.  118. 


—     428     — 

tralen  Ende  des  durchschnittenen  Nerven  seinen  Sitz  haben  soll.  Die 
Verbreitung  der  Degeneration  durch  Continuitüt  stellt  er  in  Abrede. 

Wenn  die  Sache  sich  in  der  Tliat  so  verhalten  sollte,  so  würde  die 
Anwendung  auf  die  Lähmungen  des  7.  Paares  allerdings  sehr  einfach 
sein,  ausgenommen  immer  den  schon  einmal  berührten  Umstand,  dass 
im  Facialis  keine  eigentlichen  sensiblen  Fasern  zu  verlaufen  scheinen. 
Es  ist  aber  in  dieser  Beziehung  nichts  weniger  als  bewiesen,  dass  nur 
sensible  Bahnen  solche  continuirlichen  Erregungen  nach  dem  Centrum 
zu  projiciren  vermögen.  Man  kann  als  aprioristischen  Grund  gegen 
ehie  solche  Ansicht  das  doppelsinnige  Leitungsvermögen  der  Nerven 
anführen,  und  auch  an  casuistischen  Belägen  für  den,  der  diese  Ansicht 
planmässig  bekämpfen  wollte,  dürfte  es  nicht  fehlen.  So  erwähnt  schon 
Pflüger  einen  Fall  von  John  Cooke,  bei  dem  eine  Geschwulst  in 
dem  Muskel  aste  zum  Semimembranosus  tödtliche  Epilepsie  herauf- 
beschworen hatte.  Ich  bin  übrigens  weit  entfernt,  weder  für  die  eine 
noch  für  die  andere  Ansicht  eintreten  zu  wollen. 

Kommen  wir  nun  noch  einmal  auf  den  Ausgangspunkt  unserer 
Untersuchungen  zurück,  so  ergiebt  sich  als  gemeinschaftliches  Resultat 
dieser  beiden  Abhandlungen,  dass  Leitungsunterbrechungen  so- 
wohl centraler  als  peripherer  Nerven  ebensogut  beim 
Meinschen  als  beim  Meerschweinchen  zu  I  rritatjonszuständen 
gewisser  motorischer  Abschnitte  des  Centralnervensystems 
•führen,  die  ihrerseits  wieder  je  nach  Grad  und  Ort  der 
Läsion,  sowie  nach  den  anderweitigen  Eigenschaften  des 
Individuums  unter  höchst  verschiedenen  Formen  in  die  Er- 
scheinung treten  können. 


Druck  von  L.  Schuiaacher  in  Berlin. 


II.  THEIL. 


Alte  und  neue  Untersuchungen 

über  das 

Gehirn. 

Gesamiiielte  Abhandlimgeii 

von 

Dl'.  Eduard  Hitzis:. 


I.   lieber  die  nach  Verletzungen    des   Hinterliirns   auftretenden 
Störungen  der  Bewegung  und  Empfindung. 

In  einer  früheren  Abhandlung  i)  hatte  ich  die  nach  Eingriffen  in 
das  Grosshirn  des  Hundes  zu  beobachtenden  Bewegungsstörungen  ■  in 
folgender  Weise  besprochen:  „In  der  That  setzt  sich  die  aus  schwereren 
Verletzungen  des  Gyrus  e.  (sigmoides)  resultirende  Alteration  der  Be- 
wegung aus  einer  beträchtlichen  Anzahl  von  Factoren  zusammen,  von 
denen  wir  denjenigen,    welcher  die  eigenthümliche  Färbung  des  Bildes 

bedingt, auch  fernerhin  als  Störung  des  Muskelbewusstseins 

bezeichnen  wollen.  Dieser  erste  Factor  ist  damit  abzugrenzen,  dass  der 
Hund  seine  Pfote  passiv  in  unbequeme  Stellungen  bringen  lässt,  ohne 
sie  zu  reponiren,  dass  er  zweitens  bei  activen  Bewegungen  die  affi- 
cirten  Pfoten  ungeschickt  gebraucht.  Insbesondere  rutscht  er  mit 
ihnen,  zumal  auf  glatterem  Boden,  und  wenn  er  sich  schüttelt  oder  an 
der  Leine  nach  dem  Futter  drängt,  davon,  er  setzt  sie  gelegentlich  mit 
dem  Dorsum  statt  der  Sohle  auf,  er  rotirt  sie  in  den  Schultergelenken 
gewöhnlich  mehr  nach  Innen,  selten  mehr  nach  Aussen,  als  dies  auf 
der  anderen  Seite  und  von  gesunden  Kameraden  überhaupt   geschieht." 

„Ein  anderes  Symptom,  welches  ich  in  meinen  Protokollen  Defect 
d  e r  W  i  1 1  e  n  s  e  n  e  r  g i  e  nannte,  treffen  wir  neben  diesem  Krankheitszustande. 
Versucht  man,  einem  durch  Zureden  oder  Streicheln  oder  ähnliche  Mittel 
ruhig  gehaltenen  Hunde  eine  Extremität  aus  der  einmal  eingenommenen 
Stellung  zu  dislociren,  so  wehrt  er  sich.  Bald  fühlt  man  einen  conti- 
nuirlichen  Widerstand  in  der  gefassten  Pfote,  bald  ruckweise  Contrac- 
tionen,  welche  wohl  auch  in  allgemeines  Sträuben  übergehen.  Hat  das 
Thier  aber  einen  „Defect  der  Willensenergie"  erlitten,  so  lässt  es  die 
Dislocation  einer  oder  beider  Pfoten  einer  Körperhälfte  widerstandslos 
über  sich  ergehen;  sobald  es  die  Extremität  jedoch  wieder  frei  fühlt, 
nimmt  es  mit  maschinenähnlicher  Sicherheit  die  vorher  inne  gehabte 
Stellung  wieder  ein.  Die  Extremitäten  werden  also  niemals  in  abnormen, 
ihnen  passiv  mitgetheilten  Stellungeji  belassen,    noch    werden   sie  activ 


1)  E.  Hitzig,  Untersuchungen  über  das   Gehirn.     Neue  Folge.     Rei- 
chert's und  du  Bois-Reymond's  Archiv.   1874.   Heft  4.   S.  437ff. 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.    II.  Theil.  1 


—     2     — 

in  solche  Stellungen  gebracht.  Darin  besteht  der  Unterschied  von  der 
früher  beschriebenen  Krankheit". 

—  —  —  „Ich  darf  und  muss  dem  Gange  meiner  Darstellung  hier 
insofern  vorgreifen,  als  ich  hinzufüge,  dass  grössere  Verletzungen  des 
Hinterhirns  den  gleichen  Effect  (nämlich  Production  des  „Defectes 
der  Willensenergie")  haben". 

Diese  Frage  hielt  ich  von  jeher  eines  besonderen  Interesses  für 
werth.  Schon  bei  der  ersten  Entdeckung  unserer  Centren  hatte  ich  die 
Möglichkeit  offen  lassen  wollen,  „dass  der  Hirnth.eil,  welcher  die  Ge- 
burtsstätte des  Wollens  der, Bewegung  einschliesst,  vielleicht'  ein  viel- 
facher sei,  dass  die  von  uns  Centra  genannten  Gebiete  nur  Sammel- 
plätze abgeben"!)  und  bei  einer  späteren  Gelegenheit 2)  führte  ich  diesen 
Gedanken  etwas  weiter  aus.  Ich  erklärte  es  für  denkbar,  dass  die  Zer- 
störung einer  als  reine  Sinnesfläche  erkannten  Region  eine  Bewegimgs- 
störung  mit  herbeiziehe,  namentlich  bei  psychisch  niederen  Thieren, 
ohne  dass  je  die  Reizung  derselben  Stelle  zu  einer  Bewegung  führe. 
Denn  —  hiervon  ging  ich  aus  —  alle  Bewegungen  sind  auf  frühere 
und  gegenwärtige  Sinneseiudrücke  zurückzuführen,  sie  wurzeln  also  in 
den  Feldern  der  Sinnesfläche. 

Wenn  also  durch  die  Ausschaltung  eines  unzweifelhaft  dem  Sehen 
dienenden  Riudenfeldes  eine  Abschwächuug  der  motorischen  Energie 
gesetzmässig  herbeigeführt  werden  könnte,  so  würde  damit  unsere  Auf- 
fassung von  den  psychischen  Vorgängen,  von  der  Physiologie  der  Wil- 
lensäusserungen eine  Aufklärung  von  principieller  Wichtigkeit  gewinnen. 
Denn  in  diesem  Falle  wäre  durch  den  Versuch  ohne  Weiteres  erwie- 
sen, dass  die  Impulse  keineswegs  auf  beschränkten  motorischen  Feldern 
entstünden,  dass  diese  keineswegs  nur  durch  Einleitung  von  solchen 
Impulsen  innerhalb  für  jeden  Einzelfall  eng  begrenzter  Bahnen  erregt 
würden,  sondern  die  willkürliche  Bewegung  überhaupt  wäre  als  ein  Pro- 
duct  des  Zusammenwirkens  der  gesammten  Rindenfläche  erschienen. 
Selbstverständlich  hätte  dieser  Beweis  nur  für  das  Gehirn  des  Hundes 
Gültigkeit  gehabt. 

Sclion  aus  diesen  Gründen  hatte  ich  mir  a.  a.  0.  bereits  eiiie  wei- 
tere Verfolgung  der  aufgeworfenen  Fragen  vorbehalten.   — 

Es  versteht  sich,  dass  die  Vertreter  der  Localisationslehre  streng- 
ster Observanz  in  dem  Auftreten  von  Bewegungsstörungen  nach  Ver- 
letzung des  Hinterhirns  einen  Angriff  auf  ihr  Dogma  erblicken  mussten, 
während  andererseits  diejenigen  Autoren,    welche  jede  Localisation  der 


1)  E.  Hitzig,  Untersuchungen  über  das  Gehirn.   S.  26. 

2)  Ebenda.  Einleitung.    S.  XIII. 


Functionen  im  Grosshirn  leugnen,  einen  neuen  Beweis  für  die  Richtig- 
keit ihrer  Ansicht  gefunden  zu  haben  glaubten. 

In  der  That  verwerthete  Goltz^),  welcher  damals  noch  der  An- 
sicht war,  dass  „Thiere,  bei  welchen  die  Verletzung,  wie  die  Section 
ergab,  allein  auf  den  Hinterlappen,  also  auf  die  unerregbare  Zone 
beschränkt  war,  durchaus  dieselben  Erscheinungen  zeigten,  wie  solche, 
bei  denen  sie  weit  vorn  im  vordersten  Abschnitt  der  erregbaren  Zone 
stattgefunden  hatte",  die  in  Rede  stehende  Beobachtung  alsbald  im 
Sinne  seiner  Auffassung.  Er  machte  mir  damals  (1.  c.)  den  Vorwurf, 
dass  ich  mich  ungeachtet  der  fraglichen  Beobachtung  „nicht  hätte  be- 
stimmen lassen,  meine  Auffassung  (im  Sinne  der  vorerwähnten  Goltz- 
schen  Anschauungsweise)  zu  berichtigen".  Inzwischen  hat  sich  dadurch, 
dass  Goltz  selbst  seine  Ansichten  über  die  Localisationsfrage  gründlich 
geändert  hat,  gezeigt,  wem  die  Pflicht  der  Berichtigung  der  eigenen 
Auffassung  zufiel,  üebrigens  wollte  Goltz  dort,  wo  ich  einen  qualita- 
tiven Unterschied  gefunden  zu  haben  glaubte,  nur  einen  quantitativen 
erkennen,  indem  er  sagt:  „Was  Hitzig  als  Defect  der  Willensenergie 
beschreibt,  scheint  mir  nichts  anderes  zu  sein,  als  eine  geringere  Stufe 
dessen,  was  er  Störung  des  Muskelbewusstseins  nennt".  Zur  Aenderung 
meiner  Ansicht  hatte  ich  also  schon  um  deswillen  keine  Veranlassung, 
weil  ich  eben  einen  qualitativen  Unterschied  gefunden  zu  haben 
glaubte.  Wir  werden  noch  sehen,  in  wie  weit  Goltz  hierin  Recht 
hat.  In  keinem  Falle  war  freilich  für  seine  bekannte  Theorie  damit 
etwas  gewonnen;  denn  nach  derselben  hätte  bei  einer  grossen  Ver- 
letzung des  Hinterhirns  nicht  eine  „geringere  Stufe"  derjenigen  Bewe- 
gungsstörung auftreten  dürfen,  welche  bei  einer  kleinen  Verletzung 
des  Vorderhirns  bereits  in  ausgesprochenster  Weise  in  die  Erscheinung 
tritt,  sondern  das  Maass  dieser  Bewegungsstörung  hätte  eben  entspre- 
chend der  Grösse  der  Verletzung  eine  gerade  qantitativ  wenn  mög- 
lich noch  „höhere  Stufe"   erreichen  müssen. 

Goltz  selbst  hatte  natürlich  auch,  wie  bereits  angedeutet,  nach 
Eingriffen  in  das  Hinterhirn  Bewegungsstörungen  beobachtet;  insbeson- 
dere sollen  nach  ihm  auch  Drehstörungen  in  Folge  jeder  grösseren  Ver- 
letzung einer  Hirnhälfte  eintreten.  Loeb  hat  sich  dann  später  ausgie- 
biger mit  diesen  Drehstörungen  beschäftigt  und  ausdrücklich  hervorge- 
hoben, dass  sie  auch  nach  Verletzungen  des  Hinterhirns  auftreten.  Sie 
sind    nach    ihm    als   Product    „der    ungünstigen  Nebenbedingung    einer 


1)  Goltz,  üeber  die  Verrichtungen  des  Grosshirns.     Pflüger's  Archiv 
Bd.  Xm.   S.  38.    (S.-A.) 

1* 


—     4     — 

starken  intracraniellen  Blutung"  i)  aufzufassen  und  sie  verlieren  sich 
„je  nachdem  die  Nebenwirkungen  der  Läsion  mächtiger  oder  geringer 
waren"  langsamer  oder  schneller. 

Dies  wären  also  viel  sinnfälligere  und  ausgesprochenere  Bewegungs- 
störungen nach. Verletzung  der  fraglichen  Region,  als  die  hier  zu  be- 
sprechenden. Indessen  will  ich  mich  mit  den  Drehstörungen,  den  Reit- 
bahnbewegungen und  dem  Voltelaufen  operirter  Hunde  hier  überhaupt 
nicht  beschäftigen  und  bemerke  nur  kurz,  dass  Drehstörungeu  irgend 
welcher  Art  nach  maximalen  corticalen  Abtragungen  des  Hinterhirns 
überhaupt  nicht  einzutreten,  brauchen,  und  dass  sie  ohne  die  geringste 
Spur  einer  intracraniellen  Blutung  eintreten  können. 

Einwendungen  anderer  Art  hat  Munk  erhoben.  Sie  gehen  natürlich 
von  dem  entgegengesetzten  Standpunkt  aus.  „Denkt  man  sich  —  sagt 
er 2)  —  eine  Linie  von  dem  Endpunkte  der  Fissura  Sylvii  vertical  gegen 
die  Falx  gezogen,  so  giebt  diese  Linie  ungefähr  die  Grenze  ab  von 
zwei  scharf  getrennten  Sphären  des  untersuchten  Grosshirnrindenab- 
schnittes —  einer  vorderen  motorischen  und  einer  hinteren  sensoriellen 
Sphäre.  Exstirpationen  vor  der  Linie  bedingen  immer  Bewegungsstö- 
rungen, Exstirpationen  hinter  der  Linie  haben  nie,  auch  nicht  spurweise 
Bewegungsstörungen  zur  Folge.  Ebenso  ziehen  den  sogenannten  Defect 
der  Willensenergie  nur  Exstirpationen  vor  der  Linie  nach  sich,  nicht 
Exstirpationen  hinter  der  Linie".  So  sicher  dieser  Forscher  nun  auch 
damals  die  Grenzlinie  zwischen  der  motorischen  (später  von  ihm  als 
Fühlsphäre  bezeichneten)  und  der  „sensoriellen"  Sphäre  zog,  so  war 
doch  gerade  er  es,  der  dieselbe  sehr  bald  nach  hinten  verlegte.  Zu- 
nächst allerdings  schob  er  einen  leeren  Streifen  zwischen  die  motorische 
Zone,  bezw.  seine  Fühlsphäre  und  die  Seh-Hörsphäre  ein^),  welcher  mit 
seiner  vorderen  Grenze  erheblich  vor  und  mit  seiner  hinteren  Grenze 
etwas  hinter  dem  Endpunkt  der  Fissnra  Sjdvii  abschneidet,  und  für 
den  Munk  damals  noch  keine  Function  ausfindig  gemacht  hatte.  Auf 
den  Abbildungen,  welche  er  der  vierten  von  ihm  gemachten  Mitthei- 
lung*) beifügte,  reicht  seine  „Fühlsphäre"  aber  mit  ihrer  Ohrregion 
über  die  Fossa  Sylvii  hinaus  bis  zu  dem  hinteren  Rande  des  Schläfen- 
theils der  ersten  Urwindung  und  mit  ihrer  Augenregion  sogar  noch  ein 


1)  3".    Loeb,    Beiträge   zur   Physiologie    des    Grosshinis.      Pflüger's 
Archiv  Bd.  XXXIX.   S.  266  und  268. 

2)  H.  Munk,  Ueber  die  Functionen  der  Grosshirnrinde.    Berlin.    Zweite 
Aufl.   S.  10.    (Erste  Mittheilnng,   23.  März  1877.) 

3)  a.  a.  0.  S.  22.     (Dritte  Mittheilnng,  15.  März  1878.) 

4)  a.  a.  0.  S.  50.    (Vierte  Mittheilung,  29.  November  1878.) 


gutes  Stück  weiter  bis  zur  Höhe  der  Mitte  der  zweiten  ürwindung. 
Diese  beiden  letzteren  Regionen  haben  inzwischen  also  jenen  ursprüng- 
lich leer  gelassenen  Streifen  eingenommen.  Hierdurch  wurde  die  Sach- 
lage säuzlich  verändert.  Denn  das  von  mir  bei  den  erwähnten  Ver- 
suchen  angegriffene  „sensorielle"  Areal  des  Hinterhirns  war  von  der 
ursprünglichen  motorischen  Zone  M unk' s,  die  sich  mit  der  von  mir 
so  bezeichneten  annähernd,  wenn  auch  nicht  ganz  deckt,  durch  einen 
breiten  Streifen  getrennt,  während  diese  Zone  nach  M  unk 's  späteren 
Angaben  scharf  an  die  „sensorielle"  Sphäre  grenzt.  Ich  hatte  also  bei 
meinen  Angriffen  auf  den  Hinterlappen  nach  meiner  derzeitigen  eigenen 
Auffassung  eben  keine  besondere  Ursache  gehabt,  die  hintere  Grenze 
jenes  Streifens  ängstlich  zu  vermeiden  imd  ebenso  wenig  würde  dies 
den  ersten  Angaben  M  unk 's  zufolge  erforderlich  gewesen  sein.  Dehnte 
sich  die  motorische  Region  aber  wirklich  weiter  nach  hinten  aus,  so 
war  allerdings  die  äusserste  Vorsicht  bei  der  Abgrenzung  jener  Ein- 
griffe geboten,  wenn  anders  deren  Folgen  unzweideutige  Schlüsse  ge- 
statten sollten. 

Es  würde  richtig  gewesen  sein,  wenn  Munk  diese  durch  Verände- 
rung seiner  eigenen  Stellung  herbeigeführte  Veränderung  der  Sachlage 
berücksichtigt  hätte,  als  er  in  der  Einleitung  zu  der  Zusammenstellung 
seiner  Abhandlungen  i)  eine  historisch  kritische  Besprechung  meiner 
Angaben  über  die  nach  Verletzungen  des  Hinterliirns  auftretenden  Stö- 
rungen unternahm.  Freilich  gestaltet  sich  in  Wirklichkeit  die  Sachlage 
noch  ganz  anders,  als  es  nach  den  erwähnten  Hirnkarten  und  den  an- 
geführten Erläuterungen  Munk's  erscheinen  muss.  Dieser  hat  nämlich 
im  Laufe  der  Zeit  seine  Ansichten  nicht  nur  über  den  Umfang,  sondern 
auch  über  den  Inhalt  des  motorischen  Feldes  nicht  unwesentlich  geän- 
dert. Vergleicht  man  nämlich  jene  beiden  Hirnkarten  mit  einander,  so 
ergiebt  sich  zunächst  —  und  dies  interessirt  uns  hier  vornehmlich  ■  — , 
dass  auf  der  ersten  die  sogenannte  selbstständige  Fühlsphäre  für  das 
Hinterbein  sehr  erheblich  über  den  Gyrus  sigmoides  hinaus  nach  hinten 
eicht,  während  sie  auf  der  späteren  genau  mit  diesem  Gyrus  abschnei- 
det. Fast  ebenso  verhält  es  sich  mit  der  sogenannten  Kopfregion.  An 
die  Stelle  der  von  diesen  beiden  Regionen  leer  gelassenen  Flächen  ist 
dann  die  Augenregion  mit  höchst  unbestimmten  Functionen,  auf  die 
wir  in  einem  späteren  Kapitel  zurückzukommen  haben,  getreten.  Aehn- 
liche  Wandlungen  haben  sich  in  dem  vorderen  Abschnitt  der  Fühlsphäre 
vollzogen.  Hier  nahm  die  Vorderbeinregion  ursprünglich  nicht  nur  den 
lateralen  Abschnitt  beider  Schenkel    des  Gyrus  sigmoides  ein,    sondern 

1)  a.  a.  0.  S.  6. 


-      6      — 

sie  erstreckte  sich  ia  dem  vorderen  Schenkel  auch  bis  zur  Mittellinie, 
Später  ist  dann  an  der  letzteren  Stelle  die  Nackenregion  erschienen. 
Wieder  anders  haben  sich  die  Dinge  in  einer  späteren  Abhandlung  i) 
gestaltet.  Die  Nackenregion  hat  sich  hier  auf  den  lateralen  Theil  des 
vorderen  Schenkels  des  Gyrus  sigmoides  und  auf  die  Nachbarschaft  der 
2.  Urwindung,  von  wo  sie  ein  Stück  Kopfregion  verdrängt  hat,  ausge- 
dehnt, die  Region  für  das  Hinterbein  hat  sich  zu  Gunsten  der  Vorder- 
beinregion wieder  um  etwas  verkleinert,  dagegen  greift  sie  nunmelir 
über  den  Sulcus  cruciatus  herüber  in  das  Gebiet  des  medialen  Drittels 
des  Gyrus  sigmoides  über. 

Es  ist  mir  nicht  recht  klar  geworden,  ob  diese  Wandlungen  in  den 
Ansichten  Munk's  sich  auf  Grund  von  Esstirpationsversuchen  oder  un- 
ter der  gemeinschaftlichen  Benutzung  der  Ergebnisse  von  Reiz-  und 
Exstirpationsversuchen  vollzogen  haben.  Sollten  sie,  wie  es  den  An- 
schein hat,  der  Hauptsache  nach  durch  Exstirpationsversuche  bedingt 
sein,  so  hätte  sie  sich  Munk,  meiner  Ueberzeuguug  nach,  zu  einem 
grossen  Theil  ersparen  können;  denn  so  genau,  wie  diese  Aenderungen 
dies  erforderlich  scheinen  lassen,  kann  man  die  Folgen  von  operativen 
Eingriffen  in  das  Gehirn  überhaupt  nicht  abgrenzen.  Andere  >Vand- 
lungen  hätte  er  sich  durch  Berücksichtigung  meiner  eigenen  Angaben 
sparen  können.  Seine  letzte  Bezeichnung  der  hinteren  Grenze  seiner 
Fühlsphäre  entspricht  ziemlich  genau  der  hinteren  Grenze  meiner  moto- 
rischen Region  und  an  diejenige  Stelle,  an  die  er  schliesslich  seine 
Nackenregion  verlegte,  hatten  schon  Fritscli  und  ich  die  Reizpunkte 
für  die  Nackenmuskeln  localisirt.  Irgend  eine  Discussion  dieser  sowie 
der  anderen  soeben  angeführten  Thatsachen  vermisse  ich  bei  Munk. 
Nur  führt  er  mit  Recht  an,  dass  sich  ganz  genaue  Grenzen  für  die  ein- 
zelnen Regionen  nicht  ziehen  Hessen:  ich  sehe  aber  nicht,  dass  er  A'on 
dieser  Erkenntniss  den  geeigneten  Gebrauch  gemacht  hätte. 

Auch  die  zuletzt  besprochenen  Angaben  Munk's  bedürfen  noch 
einer  vorurtheilsiosen  Erörterung;  sie  kann  aber  nicht  die  Aufgabe  der 
vorliegenden  Abhandlung  sein.  Unter  allen  Umständen  musste  mir 
jedoch  daran  liegen,  zu  prüfen,  ob  die  Differenz  unserer  Angaben  wirk- 
lich und  ausschliesslich  in  der  angedeuteten  Art,  also  dadurch  zu  erklären 
sei,  dass  ich  bei  denjenigen  Versuchen,  bei  denen  ich  durch 
Eingriffe  in  den  Hinterlappen  Sehstörungen  hervorbrachte, 
der  hinteren  Grenze  der  motorischen  Zone  (Fühlsphäre 
Munk's)  zu  nahe  gekommen   war,    so  dass   die  gleichzeitig  eintre- 


1)  H.  Munk,    Ueber   die   Fühlsphären    der   Grosshirnrinde.      Sitzungs- 
berichte 1892. 


—      7       — 

tontle  Bewegungsstörung  thatsäclilich  nicht  aus  der  Fortnahme  einer 
grösseren  Menge  beliebiger  Hirnsubstanz,  sondern  aus  der  Beleidigung 
motorischer  Regionen  herzuleiten  war.  Gleichzeitig  konnten  die  A^or- 
erw ahnten  Einwendungen  von  Goltz  einer  wiederholten  Betrachtung 
unterzogen  werden. 

Von  den  Versuchen,  welche  ich  zu  diesem  Zwecke  anstellte,  will 
ich  alsbald  diejenigen  mittheilen,  welche  mir  nach  allen  Richtungen 
beweisend  zu  sein  scheinen. 

Einem  kleinen  Hunde  wurde  das  ganze  linke  Hinterhirn  bis  in  die 
Gegend  „einer  Linie,  die  man  sich  von  dem  Endpunkt  der  Fissura  Sylvii  senk- 
recht auf  die  Falx  gezogen  denken  kann",  freigelegt  und  die  hinteren  drei 
A''iertel  dieser  Stelle  auf  die  Tiefe  von  etwa  5  mm  mit  einem  kleinen  Präpara- 
tenheber herausgehoben.  Der  dadurch  herbeigeführte  Substanzverlust  war 
(im  Verhältniss  zur  Grösse  des  Gehirns)  reichlich  so  gross  wie  bei  denjenigen 
Versuchen,  bei  denen  ich  früher  „Defect  der  Willensenergie"  erzielt  hatte.  Am 
folgenden  Tage  war  jedoch  kein  Unterschied  zwischen  der  Motilität  der  Extre- 
mitäten der  beiden  Seiten  nachzuweisen,  es  bestand  also  auch  kein  „Defect 
der  Willensenergie".  Dagegen  schien  der  Hund  auf  dem  rechten  Auge  ganz 
blind  zu  sein.  Die  Wunde  war  bis  auf  ein  Eckchen  des  hinteren  Winkels  ver- 
klebt, das  Thier  munter  und  bei  Appetit. 

Am  8.  Tage  wurden  die  Nähte  herausgenommen  und  die  Wunde  geöffnet. 
Das  Gehirn  hatte  sich  ziemlich  stark  durch  die  Lücke  herausgedrängt,  was 
man  schon  durch  die  Haut  hindurch  hatte  fühlen  können,  Eiterung  war  jedoch 
nicht  vorhanden.  Die  Wunde  wurde  offen  gelassen.  Es  bildete  sich  nun  ein 
sehr  grosser,  unter  Eiterung  innerhalb  etwa  4  Wochen  heilender  Fungus  her- 
aus, der  zu  einem  grossen  Substanzverlust  führte. 

Am  9.  Tage  wurde  „Defect  der  Willensenergie"  in  beiden  rechten  Extre- 
mitäten, ausserdem  aber  eine  deutliche  Sensibilitätsstörung  in  denselben  con- 
statirt.  Diese  Symptome  waren  15  Tage  später  noch  vorhanden,  verschwanden 
dann  aber  allmählig  und  gänzlich. 

Ein  ganz  ähnliches  Resultat  ergab  folgender  Versuch.  liier  war 
einem  ziemlich  grossen  Pinscher,  der  beide  Pfoten,  die  linke  lieber,  gab,  ein 
ca.  2  cm  langes  und  1  cm  breites  Stück  aus  dem  rechten  Hinterhirn  auf  etwa 
2 — 3  mm  Tiefe  entfernt  und  —  da  die  colossale  Blutung  anders  nicht  zu  stil- 
len war  —  ein  Stück  Salicylwatte  in  der  durch  die  Naht  verschlossenen 
Wunde  belassen  worden. 

Am  2.  Tage  war  kein  „Defect  der  Willensenergie"  vorhanden,  der  Hund 
gab  beide  Pfoten,  die  linke  wie  sonst  zuerst.  Die  Watte  wurde  unter  antisep- 
tischen Cautelen  entfernt  und  die  Wunde  wieder  vernäht.  Gleichwohl  kam  es 
zur  Eiterung. 

Vom  3.  bis  9.  Tage  war  „Defect  der  Willensenergie"  und  Sensibilitätsstö- 
rung bald  mehr  in  der  linken  Vorderpfote,  bald  mehr  in  der  Hinterpfote  nach- 
weisbar,  dabei  gab  der  Hund  aber  die  Pfoten.     Am  10.  und  11.  Ta^e  waren 


die  erwähnten  Störungen  nicht  nachzuweisen,    am  12.  Tage  war  dies  wieder 
möglich,  später  nicht  mehr.     (Die  Sehstörung  verhielt  sich  übrigens  ähnlich.) 

Aus  diesen  Versuchen  geht  hervor,  dass  sehr  erhebliche  Ausschal- 
tungen der  Substanz  des  Hinterhirns  vorgenommen  werden  können,  ohne 
dass  das  von  mir  als  „Defect  der  Willensenergie"  bezeichnete  Symptom 
eintritt,  aber  wenn  dies  geschieht,  so  darf  es  doch  nicht  auf 
die  ausgeschaltete  Hirnpartie  bezogen  werden,  weil  es  nicht 
zu  den  nothwendigen  unmittelbaren  Folgen  der  Operation 
gehört. 

Bei  den  bisher  angeführten  Versuchen  war  das  uns  beschäftigende 
Symptom  primär  nicht,  wohl  aber  secundär  nach  Eintritt  von  Eiterung 
zu  beobachten.  Die  Sachlage  kann  sich  aber  auch  nach  verschiedenen 
Richtungen  hin  anders  gestalten. 

Zunächst  verdient  hier  eine  Beobachtung  Erwähnung,  bei  der  eine 
Schädellücke  von  20  :  15  mm  angelegt  und  die  Rinde  auf  3  mm  Tiefe 
a,bgetragen  war.  Die  Wunde  war  zwar  per  primam  verklebt,  entleerte 
aber  am  5.  Tage  auf  Function  dünnflüssigen  Eiter.  Vom  2.  Tage  an  bis 
dahin  bestand  deutliche  Sensibilitätsstörung,  ausserdem  war  ein  allmählig 
abnehmender  „Defect  der  Willensenergie"  bis  zum, 23.  Tage  zu  beobachten. 

In  diesem  Falle  war  also  unzweifelhaft  gleichfalls  die  Eiterung 
wegen  des  Auftretens  von  Symptomen,  die  nicht  dem  Hinterlappen  an- 
gehören, anzuschuldigen.  In  anderen  Fällen  ist  dies  aber,  da  es  eben 
zu  keiner  Eiterung  kam,  nicht  angängig. 

So  wurde  einem  Hunde  die  hinterste  Partie  des  Hinterlappens  in  einer 
Ausdehnung  von  16  :  19  mm  aufgedeckt  und  mit  öproc.  Carbolsäure  geätzt; 
die  Narbe  reichte  bis  hart  an  jene  Linie,  die  man  sich  von  der  Spitze  der  Fossa 
Sylvii  senkrecht  bis  zur  Falx  gezogen  denken  kann,  ohne  sie  jedoch  zu  über- 
schreiten. Der  Hund  zeigte  bis  zum  7.  Tage  eine  contralaterale  Sensibilitäts- 
störung. 

Einem  anderen  Hunde  war  eine  obertlächliche  Exstirpation  in  einer 
Ausdehnung  von  18  mm  Quadrat  ganz  hinten  und  so  gut  wie  ohne  Blu- 
tung gemacht  worden.  Am  2.  Tage  liess  der  Hund  nicht  nur  das  rechte 
Hinterbein  ohne  Weiteres  dislociren ,  ja  er  liess  es  sogar  kurze  Zeit  auf  dem 
Dorsum  stehen  und  über  den  Tischrand  hängen;  auch  das  Vorderbein  liess  sich 
leichter  dislociren.  x\usserdem  zeigte  sich  eine  leichte  contralaterale  Sensibi- 
litätsstörung. Letzteres  Symptom  M^ar  noch  am  nächsten  Tage  deutlich  zu 
beobachten,  die  ersteren  Symptome  nicht  mehr. 

Von  noch  grösserem  Interesse  ist  der  folgende  Versuch.  Hier  war 
einem  Hunde  die  hinterste  Partie  des  Hinterlappens  in  einer  Ausdeh- 
nung von  15  mm  sagittal  :  17  mm  frontal  aufgedeckt  worden.  Bei  der  Sec- 
tion  erwies  sich,  dass  die  Oberfläche  sagittal  15  mm  von  der  Spitze  des  Hin- 
terlappens  nach  vorn  freilag.    Die  Pia  wurde  intact  gelassen;  die  Blutung  war 


gleich  Null;  die  Wunde  heilte  per  primam.  Am  2.  Tage  bestanden  keine  Er- 
scheinungen. Am  3.  Tage  wurde  jedoch,  abgesehen  von  einer  vorhandenen 
Sehstörung  ein  sehr  deutlicher  Defect  der  Willensenergie,  eine  sehr  deutliche 
Sensibilitätsstörung,  letztere  nur  in  der  Vorderextremität,  und  in  der  Schwebe 
ein  charakteristisches  Herabhängen  der  contralateralen  Vorderextremität  beob- 
achtet. Am  6.  Tage  waren  diese  Erscheinungen  nur  noch  ganz  spurweise  zu 
beobachten.    Der  Hund  Avurde  dann  getödtet. 

In  anderen  Versuchen  wurden  mit  der  Bohrmaschine  Löcher  von 
11 — 18  mm  Quadrat  oder  mit  der  Trepliine  mehr  miregelmässige  Löcher 
von  ähnlichen  Dimensionen  angelegt  und  der  aufgedeckte  Hirntheil  auf 
2 — 4  mm  Tiefe  entfernt,  ohne  dass  sich  hierbei  abweichende  Resultate 
ergeben  hätten.    Nur  ein  Fall  verdient  noch  eine  besondere  Erwähnung. 

In  diesem  Falle  war  eine  Exstirpation  von  17  mm  frontal  und  10  mm 
sagittal,  aber  in  einer  Tiefe  von  7  mm  gemacht  worden.  Bei  der  am 
7.  Tage  vorgenommenen  Section  wurde  eine  pilzartige  Hervortreibung  des  Ge- 
hirns von  17,5  mm  frontal  und  16  mm  sagittal  vorgefunden.  Die  vordere 
Grenze  des  Pilzes  blieb  ca.  4  mm  hinter  der  Linie  Fossa  Sylvii  —  Falx  zu- 
rück. Die  Blutung  war  minimal.  Am  2.  Tage  war  der  Hund  noch  nicht  zu 
untersuchen.  Am  3.  Tage  bestand  in  den  contralateralen  Extremitäten  Defect 
der  Willensenergie  und  in  der  überhaupt  mehr  betroffenen  Vorderextremität 
eine  Sensibilitätsstörung.  Am  nächsten  Tage  waren  die  Bewegungsstörungen 
nur  noch  eben  angedeutet,  die  Sensibilitätsstörung  war  bis  zum  Schlüsse  der 
Beobachtung  noch  nachweisbar.  Bei  der  Section  fanden  sich  im  hinteren 
Schenkel  des  Gyrus  sigmoides  an  der  Grenze  der  grauen  und  weissen  Substanz 
vier    kaum    sichtbare    Capillarhämorrhagien. 

Fassen  wir  alle  diese  Beobachtungen  zusammen,  so  ergiebt  sich, 
dass  die  Dinge  keineswegs  so  einfach  liegen,  wie  es  nach  der  Darstel- 
lung Munk's  den  Anschein  haben  könnte.  Ich  war  wirklich  nahe 
daran,  mir  durch  seine  mit  grosser  Bestimmtheit  vorgetragene  Behaup- 
tung suggeriren  zu  lassen,  dass  ich  bei  meinen  früheren  Versuchen  der 
Grenze  desjenigen  Gebietes,  welches  er  Fühlsphäre  nennt,  zu  nahe 
gekommen  sei,  wenn  ich  sie  auch  nicht  überschritten  hatte.  Anderer- 
seits hatte  ich  zu  berücksichtigen,  dass  das  aseptische  Operationsver- 
fahren Anfangs  der  70er  Jahre,  als  ich  jene  Versuche  anstellte,  noch 
nicht  bekannt  war,  und  dass  es  damals  noch  Niemanden  gab,  der  auf 
die  Misslichkeit  der  Heranziehung  von  solchen  Versuchen  aufmerksam 
gemacht  hätte,  die  nicht  prima  iutentione  geheilt  waren.  Ich  selbst 
hatte  bei  meinen  früheren  Versuchen  nur  die  Nothwendigkeit  gefunden 
und  betont,  dem  Wuudsecret  freien  Abfluss  zu  lassen;  die  Rrzielmig 
der  prima  intentio  erschien  mir  damals  nicht  nothwendig. 

Wenn  wir  aber  auch  die  unter  Eiterung  verlaufenden  oder  sonst 
nicht  ganz  reinen  Versuche  gänzlich  ausschalten,  so  bleiben  doch  noch 
einzelne  Versuche  übrig,    bei    denen    es  zu  Störungen  der  Muskelinner- 


—     10     — 

vatioii  und  der  Sensibilität,  mit  einem  Wort  zu  anderen  als  Sehstörun- 
gen kam,  obschon  die  Läsion  ausschliesslich  in  der  „Sehsphäre"  sass 
und  auch  die  hintere  Grenze  der  „Fühlsphäre"  nicht  überschritten,  in 
einer  Anzahl  von  Fällen  sie  nicht  einmal  erreicht  hatte.  Besonders 
bemerkenswert!!  ist  sicherlich,  dass  schon  die  blosse  Freilegung  des  Ge- 
hirns zur  Production  solcher  Störungen  genügt. 

Wollte  man  aber  gleichwohl  im  Sinne  Munk's  die  fraglichen  Sym- 
ptome auf  eine  directe  Beleidigung  der  „Fühlsphäre"  beziehen,  so  würde 
dieses  Ergebniss  dennoch  im  Widerspruch  zu  seinen  Ansichten  stehen. 
Diejenige  Region,  welche  durch  meine  Eingriffe  unbeabsichtigter  Weise 
in  ihrer  Function  gestört  sein  konnte,  war  seine  „Augenregion,  die 
selbstständige  Fühlsphäre  des  Auges".  Nach  der  Theorie  Munk's 
hätten  Verletzungen  dieser  Region  also  „Störungen  der  Gefühle  und 
Gefühlsvorstellungen  bloss  für  den  zugehörigen  Körpertheil  (also  das 
Auge)  zur  Folge  haben"  dürfen.  Die  von  mir  beschriebenen  Krankheits- 
erscheinungen zeigten  sich  aber  an  den  Extremitäten  und  nicht  am  Auge. 

Noch  ein  anderer  Umstand  musshier  berücksichtigt  werden.  In  derjenigen 
Arbeit,  in  der  ich  zuerst  von  dem  „Defect  der  Wiliensenergie"  gesprochen 
hatte  1),  hatte  ich  mehrere  Versuche  beschrieben,  bei  denen  sich  dieses  Sym- 
ptom nach  Exstirpationen  im  vorderenSchenkel  des  Gyrus  sigmoides  und 
im  benachbarten  Theil  des  „Stirnlappens"  entweder  überhaupt  nicht  oder 
doch  primär  nicht  gezeigt  hatte.  Nun  grenzen  diese  Theile  aber  unmittelbar 
an  die  Extremitätenregionen,  während  die  hier  in  I^Vage  kommenden 
Exstirpationen  sich  auch  in  den  verdächtigsten  Fällen  sehr  weit  entfernt 
davon  befanden.  Genau  das  Gleiche  gilt  von  den  eigenen  Exstirpations- 
versuchen  Munk's  in  seiner  Augenregion.  Es  geht  also  nicht  an,  dass 
man  die  Dinge  in  jenen,  auf  den  ersten  Blick  allerdings  sehr  einfach 
und  einleuchtend  erscheinenden  Zusammenhang  bringt,  wie  Munk  dies 
gethan  hat.  Ich  bestreite  gar  nicht,  dass  einer  der  Gründe  für  die 
nach  Operationen  im  Hinterhirn  zu  beobachtenden  Motilitäts-  und  Sen- 
sibilitätsstörungen in  einer  directen  Beleidigung  der  motorischen  Zone 
liegen  kann;  aber  in  einer  directen  Beleidigung  der  Centren  für  die 
Extremitäten  kann  er  unter  keinen  Umständen  liegen,  höchstens  könnte 
es  sich  um  eine  vorübergehende  Schädigung  der  von  ihnen  nach  hinten 
verlaufenden  Leitungsbahnen  handeln. 

Ueberdies  könnte  dies  nur  einer  der  verschiedenen  hier  in  Betracht 
kommenden  Gründe  sein,  und  zwar  ist  es  gerade  derjenige,  der  meine 
eigenen  Versuche  am  wenigsten  erklärt.    Dies  beweisen  jene  theils  über- 


1)  E.   Hitzig,   Untersuchungen  über  das  Gehirn.     Neue  Folge.     Rei- 
chert's und  du  Bois  Reymond's  Archiv.  1874.  Heft  IV. 


—    11    — 

haupt  ohne  Exstirpatioii ,  theils  mindestens  ganz  Iiiiiteii  ausgeführten 
Versuche.  Es  kann  sich  mithin  bei  diesen  nur  um  Feruwirkungen, 
über  deren  Meclianismus  wir  noch  nicht  im  Klaren  sind,  handein;  viel- 
leicht giebt  jener  Versuch,  bei  dem  sich  miliare  Blutungen  im  hinteren 
Schenkel  des  Gyrus  sigmoides  fanden,  einen  Anhaltspunkt  für  die  spä- 
tere Lösung  dieser  Frage. 

Aber  auch  auf  diesem  Wege  scheint  mir  das  Zustandekommen  der 
uns  beschäftigenden  Phänomene  nicht  erklärt  werden  zu  können.  Ich 
besitze  nämlich  eine  Reihe  von  Beobachtungen  über  Doppeloperationen, 
bei  denen  Störungen  der  Motilität  und  Sensibilität,  welche  nach  Eingriffen 
in  den  Gyrus  sigmoides  aufgetreten,  dann  aber  ganz  oder  theilweise 
verschwunden  waren,  in  P'olge  eines  verhältnissmässig  kleinen  Eingriffs 
in  die  Munk'sche  Stelle  A^  und  deren  Umgebung  wieder  auflebten. 

Einem  Hunde  war  in  einer  ersten  Operation  eine  Skarification ,  lu 
einer  zweiten  Operation  eine  Exstirpation  im  Gyrus  sigmoides  beigebracht 
worden.  Mehr  als  drei  Monate  nach  der  letzteren  Operation  wurde  eine 
Aetzung  mit  öproc.  Carbolsäure  im  hintersten  Theil  des  Hinterlappens  vor- 
genommen. Vor  der  dritten  Operation  bestand  noch  eine  deutliche  Sensi- 
bilitätsstörung, ein  geringer  Defect  der  Willensenergie,  d.  h.  der  Hund  setzte 
Dislocationsversuchen  der  Extremitäten  einen  etwas  geringeren  Widerstand 
entgegen,  und  ausserdem  liess  er  in  der  Schwebe  die  kranke  Vorderextremität 
noch  ein  wenig  schlaffer  herabhängen.  Nach  dieser  Operation  waren  alle  diese 
Erscheinungen  deutlicher,  der  Hund  liess  sogar  die  contralateralen  Extremi- 
täten kurze  Zeit  über  den  Tischrand  hängen.  Ein  Theil  dieser  Steigerung  der 
Erscheinungen  war  noch  beim  Schluss  der  Beobachtung,  29  Tage  nach  der 
Operation  nachweisbar. 

Einem  anderen  Hunde  war  der  ganze  vordere  Schenkel  des  Gyrus 
sigmoides  skarificirt  worden.  Drei  Monate  später  wurde  ihm  die  hinterste 
Partie  der  Convexität  dicht  an  der  Medianspalte  oberflächlich  exstirpirt. 
Vor  dieser  Operation  waren  die  Motilitätsstörangen  im  üebrigen  gänzlich 
geschwunden,  nur  liess  der  Hund  die  contralateralen  Extremitäten  noch  etwas 
schlaffer  herabhängen ,  auch  war  das  reflectorische  Zurückziehen  der  Pfoten 
beim  „Begreifen" i)  derselben  weniger  ausgesprochen,  als  auf  der  gesunden 
Seite.  Nach  der  Operation  und  zwar  schon  am  2.  Tage  war  die  Motilitätsstö- 
rung wieder  so  hochgradig,  dass  der  Hund  beim  Schütteln  und  Fressen  mit 
den  kranken  Extremitäten  davonrutschte,  sie  mit  dem  Dorsum  aufsetzen,  sie 
dislociren  und  über  den  Tischrand  hängen  liess.  In  der  Schwebe  hingen  diese 
Extremitäten  wieder  ganz  gestreckt  und  der  Reflex  beim  Begreifen  fehlte  wie- 
der gänzlich.  Dieser  Zustand  hielt  im  Wesentlichen  unverändert  an  bis  ein- 
schliesslich des  5.  Tag-es  und  besserte  sich  dann  allmälig.    Am  29.  Tage,  als 


])  Was  ich  unter  diesem  Ausdruck  verstehe,  werde  ich  unten  auseinan- 
dersetzen. 


—     12     — 

der  Hund  getödtet  wurde,  fehlte  der  „Berührungsreflex"  aber  noch  gänzlich  und 
die  Pfoten  hingen  noch  eben  so  gestreckt  herab  wie  gleich  nach  der  Ope- 
ration. 

Einem  dritten  Hunde  war  der  erregbare  Theil  des  Gyrus  sigmoides 
unterschnitten  worden.  Fünf  Wochen  nachher  wurde  der  hintere  Theil 
der  „Sehsphäre"  in  einer  Ausdehnung  von  sagittal  17  :  frontal  14  mm 
unterschnitten.  Vor  dieser  Operation  war  die  anfänglich  hochgradige  Motili- 
tätsstörung noch  insoweit  nachweisbar,  als  der  Hund  die  Pfoten  etwas  dislo- 
ciren  Hess  und  mit  den  kranken  Pfoten  gestreckt  hing;  ferner  hatte  er  beim 
Begreifen  in  der  Vorderpfote  keinen,  hinten  nur  einen  schwachen  Pveflex.  Nach 
der  Operation,  und  zwar  bereits  am  2.  Tage,  Hess  der  Hund  die  Pfoten  erheb- 
lich stärker  dislociren  und  rutschte  mit  ihnen  beim  Schütteln  und  Fressen  wie- 
der davon.  Diese  Verschlimmerung  nahm  allmählig  ab  und  war  am  7.  Tage 
kaum  noch  nachzuweisen. 

Man  kann  aus  diesen  Erfahrungen,  wie  mir  scheint,  nur  den  Schluss 
ziehen,  dass  Vei'letzungen  des  Hiuterhirns  nicht  ohne  Einfluss  auf  die 
Functionen  des  Vorderhirns  sind  oder  mindestens  sein  können,  insbe- 
sondere wenn  das  letztere  schon  A-orher  beschädigt  w^orden  ist.  Zu  wei- 
teren Schlüssen  fehlt  bisher  der  gesicherte  Boden. 

Exneri)  hat  sich  neuerdings  2)  in  folgender  Weise  über  die  in 
diesem  Abschnitt  erörterte  Frage  ausgesprochen:  „Uebrigens  hat  Hitzig 
gelegentlich  dieser  Demonstrationen  (auf  der  Naturforscherversammlung 
in  Berlin)  an  den  in  der  Sehsphäre  operirten  Himden  Munk's  Versuche 
angesteUt  und  ist  sowie  auch  andere  Anwesende  (auch  ich  gehöre  dazu) 
zu  der  Ueberzeugung  gelangt,  dass  sich  jene  unnatürlichen  Stellungen 
der  Extremitäten  herstellen  lassen,  die  wir  allgemein  als  Ausdruck  der 
Alteration  des  Muskelsinnes,  Defect  der  Willensenergie  u.  dergl.  be- 
trachten; jene  Stellungen,  die  sich  auch  bei  Exstirpation  der  motorischen 
Sphäre  noch  nach  Monaten  und  Jahren  den  Thieren.  geben  lassen". 
Es  ist  richtig,  dass  ich  bei  jenem  Aulass  gewünscht  habe,  mich  über 
das  motorische  Verhalten  von  solchen  Hunden  zu  unterrichten,  an  denen 
die  „Total exstirpation  der  Sehsphäre"  vorgenommen  war,  und  dass  ich 
deshalb  mit  der  Erlaubniss  von  M unk  die  von  ihm  der  physiologischen 
Section  vorgezeigten  Hunde  nach  dieser  Richtung  untersucht  habe. 
Hierbei  glaubte  ich  zu  finden,  dass  die  Thiere  der  Verschiebung  ihrer 
hinteren  Extremitäten  einen  geringeren  Widerstand  entgegensetzten,  als 
nicht  operirte  Thiere;  ja  eines  derselben  Hess  sogar  einmal  die  eine 
mit  dem  Dorsum  aufgesetzte  Hinterpfote  kurze  Zeit  in  dieser  Stellung. 

1)  Exner,  Ueber  neuere  Forschungsresultate,  die  Localisation  in  der 
Hirnrinde  betreffend.    Wiener  med.  Wochenschr.  1886.  49 — 51. 

2)  Dieser  Theil  des  Manuscripts  ist  in  den  80er  .Jahren  niedergeschrie- 
ben worden. 


—     13     — 

Indessen  waren  diese  Hunde,  welche  ich  nur  einmal  und  unter  für  sie 
ungewohnten  Umständen  untersuchte,  beiderseits  operirt,  es  fehlte 
also  der  für  einen  sicheren  Schluss  meines  Erachtens  unerlässliche  Ver- 
gleich mit  der  gesunden  Seite,  und  es  fehlte  auch  die  Section.  Wenn 
ich  also  auch  nicht  bestreiten  will,  dass  Hunde,  denen  eine  ganze  „Seh- 
sphäre" fehlt,  sich  regelmässig  auf  der  gekreuzten  Seite  in  der  erwähn- 
ten Weise  verhalten,  so  kann  ich  es  doch  auch  nicht  behaupten  und 
ich  würde  schon  aus  diesen  Gründen  und  schon  damals  nicht  ganz  so 
weit  als  Exner  haben  gehen  wollen.  Gegenwärtig  bin  ich  dazu  noch 
weniger  geneigt. 

Ein  Rückblick  auf  das  bisher  Vorgetragene  lehrt  uns  also,  wenn 
wir  zunächst  von  der  Art  der  uns  hier  beschäftigenden  Störun- 
gen absehen.  Folgendes:  Meine  frühere  Angabe,  dass  nacliEingriifen  in  das 
Hinterhirn  gewisse  Motilitätsstörungen  entstehen  können,  hat 
durch  die  hier  mitgetheilten  Untersuchungen  ihre  Bestätigung  gefun- 
den; ja  es  hat  sich  gezeigt,  dass  allemal  dann,  wenn  sich  Motilitätsstörungen 
nachweisen  Messen,  auch  Sensibilitätsstörungen  vorhanden  waren. 
Diese  hatten  sogar  unter  Umständen  eine  längere  Dauer  als  die  Motilitätsstö- 
rungen. Dagegen  lassen  sich  alle  diese  Störungen  nicht  als  eine  directe 
Folge  des  Eingriffes  in  das  Hinterhirn  auffassen,,  weil  sie  fehlen  können 
und  nur  unter  bestimmten,  im  Vorstehenden  näher  bezeichneten  Um- 
ständen eintreten,  ohne  dass  es  bisher  gelungen  wäre,  über  den  Zusam- 
menhang der  Erscheinungen  in's  Klare  zu  kommen. 

Die  von  Goltz  an  meine  ursprünglichen  Mittheilungen  geknüpften 
Schlussfolgerungen  sind  also  auch  im  Lichte  der  neuesten  Erfahrungen 
betrachtet,  als  vollkommen  hinfällig  zu  erachten.  Die  nach  Eingriffen 
in  das  Hinterhirn  zu  beobachtenden  Motilitäts-  und  Sensibilitätsstörungen 
haben  unzweifelhaft  eine  ganz  andere  Genese  als  die  nach  Eingriffen 
in  das  Vorderhirn  zu  beobachtenden.  Ausserdem  war  es  gerade  Goltz, 
welcher  immer  und  immer  wieder  betont  hat,  dass  Störungen,  welche 
nach  bestimmten  Verletzungen  zwar  eintreten  können,  aber  nicht  ein- 
treten müssen,  nichts  für  die  Function  des  verletzten  Theiles  beweisen. 
Dieses  Argument  ist  ganz  richtig,  aber  wir  wenden  es  jetzt  gegen  ihn 
an.  Irgend  ein  Schluss  gegen  die  Localisation  der  corticalen  Functio- 
nen kann  also    aus    diesen  Versuchen   durchaus  nicht   gezogen  werden. 

Ebenso  wenig  ist  die  Sache  mit  der  Formel  von  Munk  abgethan, 
dass  „Exstirpationen  vor  einer  Linie,  welche  man  sich  vom  Endpunkte 
der  Fissura  Sylvii  vertical  zur  Falx  gezogen  denkt,  immer  Bewegungs- 
störungen, Exstirpationen  hinter  der  Linie  nie  auch  nicht  spur  weise 
Bewegungsstörungen  zur  Folge  haben;  und  dass  ebenso  den  sogenannten 
Defect  der  Willensenergie  nur  Exstirpationen  vor   der  Linie,    nicht  Ex- 


—     14     — 

stirpationen  hinter  der  Linie  nach  sich  ziehen".  Nicht  einmal  der  erste 
Theil  dieser  Lehre  ist  richtig,  dass  nämlicli  Exstirpationeu  vor  der 
Linie  stets  Bewegungsstörungen  nach  sich  ziehen,  wie  dies  aus  den  eige- 
nen Versuchen  M  unk 's  an  seiner  Augenregion  hervorgeht,  und  ihr 
zweiter  Theil  ist  es  noch  viel  w-eniger.   — 

Die  von  mir  bei  der  jetzigen  Untersuchung  beobachteten  Störun- 
gen der  Motilität  entsprechen  nicht  in  allen  Fällen  gänzlich  dem 
früher  von  mir  gezeichneten  Bilde.  In  einer  Anzahl  von  Fällen  aller- 
dings zeigte  sich  nur  Verminderiuig  oder  Aufhebung  des  Widerstandes 
bei  Dislocationsversuchen,  also  „Defect  der  Willensenergie".  Ich  habe 
aber  jetzt  auch  Hunde  beobachtet,  welche  die  afficirten  Extremitäten, 
wenn  auch  nur  in  geringem  Grade,  dislocirt  und  sogar  auf  kurze 
Zeit  über  den  Tischrand  herabhängen  Hessen.  Dagegen  traten  diese 
Hunde  niemals  spontan  in's  Leere,  sie  hatten  nicht  verlernt  die  Pfote 
zu  geben  und  sie  zeigten  beim  Aufheben  an  der  Rückenhaut  bezw.  in 
der  Schwebe  nur  ganz  ausnahmsweise  das  charakteristische  Herabhängen 
der  Extremitäten. 

In  dem  auf  S.  3  angeführten  Citat  habe  ich  bereits  hervorgeho- 
ben, dass  sich  die  aus  schweren  Verletzungen  des  Gyrus  sigmoides 
resultirende  Alteration  der  Bewegung  aus  einer  beträchtlichen  Zahl  von 
Factoren  zusammensetzt,  welche  ich  im  Vorstehenden  grösstentheils 
nochmals  aufgeführt  habe.  Zu  ihnen  kommt  nun  noch  die  Sensibilitäts- 
störung, von  der  wir  gesehen  haben,  dass  sie  ebenso  wohl  eine  regel- 
mässige Begleiterscheinung  der  nach  occipitalen  wie  der  nach  frontalen 
Verletzungen  der  Rinde  eintretenden  Motilitätsstörungen  ist.  Wenn  ich 
alle  diese  Umstände'  in  Beti'acht  ziehe,  so  muss  ich  Goltz  mit  seiner 
gegen  mich  gerichteten  Bemerkung,  dass  es  sich  bei  den  nach  occipi- 
talen Verletzungen  zu  beobachtenden  Bewegungsstörungen  nur  um  einen 
quantitativen  Unterschied  handle,  bis  zu  einem  gewissen  Grade  Recht 
geben.  Es  ist  bekannt,  dass  ich  die  gesammten  in  Folge  Verletzung 
des  Gyrus  sigmoides  auftretenden  Symptome  als  Störungen  der  Vorstel- 
lungen auffasse.  Wenn  nun  der  Hund  seine  Extremitäten  widerstands- 
los aus  ihrer  normalen  Lage  in  unbequeme  Stellungen  bringen  lässt, 
sie  aber  alsbald  wieder  reponirt,  während  er  andei'erseits  eine  Störung 
der  Sensibilität  zeigt,  so  lässt  sich  dies  Verhalten  sehr  wohl  so  deuten, 
dass  seine  Vorstellungen  von  den  Zuständen  seiner  Glieder,  hier  also 
von  den  Zuständen  der  Muskulatur  und  der  Haut,  in  einem  gewissen, 
aber  nicht  hohen  Grade  geschädigt  sind.  Dieser  höhere  und  der 
höchste  Grad  von  Schädigung  der  bezüglichen  Vorstellungen  kann  durch 
die  Totalexstirpation  des  Gyrus  sigmoides  erreicht  werden  und  er  äussert 
sich  darin,    dass  die  Existenz  des  Gliedes    im  Bewusstsein  vollkommen 


—     15     — 

ausgelöscht  erscheint.  Das  Thier  versetzt  das  Glied  zwar  bei  Allgeiiiein- 
bewegungen  mit  in  Bewegung,  aber  die  Art,  in  der  diese  Bewegungen 
ausgeführt  werden,  ist  rein  zufällig,  das  Glied  geräth  dabei  in  ganz 
beliebige,  unzweckmässige  und  unbequeme  Stellungen,  ja  es  wird  sogar 
in's  Leere  gesetzt.  Eine  Folge  der  Auslöschung  der  Existenz  dieses 
Gliedes  im  Bewusstsein  ist  der  Verlust  der  isolirten  inteutionellen  Be- 
wegung, wie  er  sich  ti.  A.  an  dem  schwebenden  Hunde  nachweisen 
lässt,  der  ausser  Stande  ist,  die  von  einer  Nadel  bedrohte  Pfote  zurück- 
zuziehen. Sicherlich  treten  bei  diesem  Zustande  eine  Menge  von  Er- 
scheinungen hervor,  welche  qualitativ  ganz  verschieden  erscheinen  mö- 
gen; ich  will  aber  nicht  leugnen,  dass  sie  sich  sänimtlich  auf  die  von 
mir  selbst  aufgestellte  Formel  „Störung  der  Vorstellungen  von  den 
Zuständen  des  Gliedes"  zurückführen  lassen,  und  dass  insofern  das 
isolirte  Vorkommen  eines  oder  einzelner  derselben  nur  eine  quantitative 
Bedeutung  besitzt. 

In  der  Literatur  der  Lehre  von  der  Localisation  im  Grosshirn  taucht 
immer  wieder  ein  Streit  darüber  auf,  wie  die  eben  erwähnten  Störungen 
zu  bezeichnen  seien.  Man  hat  sie  wohl  kurzweg  Lähmungen  genannt 
und  namentlich  ist  dies  mit  Rücksicht  auf  die  am  Affen  zu  beobachten- 
den Symptome,  welche  thatsächlich  Lähmungen  im  gewöhnlichen  Sinne 
des  Wortes  d.  h.  Zustände  von  Bewegungslosigkeit  sein  können,  ge- 
schehen. Ich  selbst  habe  den  Ausdruck  Lähmung  mit  Bezug  auf  das, 
was  man  beim  Hunde  sieht,  niemals  gebraucht,  und  wenn  man  versucht 
hat,  ihn  mir  zu  suppeditiren ,  wie  dies  z.  B.  von  F'errier  geschehen 
ist,  so  habe  ich  dagegen  stets  auf  das  Energischste  protestirt.  Ich  hatte 
dazu  meine  sehr  guten  Gründe;  denn  um  Lähmungen  in  dem  gewöhn- 
lichen Sinne  des  Wortes  handelt  es  sich  ja  allerdings  nicht,  und  wenn 
dies  nicht  der  Fall  war,  so  musste  ich  n^ich  zahlreichen  Erfahrungen 
darauf  gefasst  sein,  dass  der  unvorsichtige  Gebrauch  eines  solchen  Aus- 
druckes den  Gegnern  der  Lehre  alsbald  eine  Handhabe  zu  den  heftig- 
sten Angriffen  geben  würde.  Ich  habe  mich  deshalb  immer  darauf 
beschränkt,  die  von  mir  beobachteten  Zustände  zu  beschreiben  und  die 
von  mir  gebrauchte  Nomenclatur  als  conventioneil  zu  bezeichnen. 

Thatsächlich  handelt  es  sich  bei  dem  fraglichen  durch  Eingriffe  in 
die  Convexität  hervorgebrachten  Symptomencomplexe  aber  dennoch  um 
einen  der  cerebralen  Lähmung  des  Affen  und  sogar  des  Menschen  paral- 
lelen, wenn  auch  nicht  äquivalenten  Zustand.  Unter  Umständen  nimmt 
dieser  Zustand  ganz  und  gar  den  Charakter  der  Lähmung  an,  während 
er  unter  anderen  Umständen  mit  einer  Lähmung  nicht  das  Geringste 
gemein  zu  haben  scheint.  Letzteres  trift't,  wie  bekannt  und  eben  er- 
wähnt, allemal  dann  zu,    wenn    der  schon  etwas  restituirte  Hund  Orts- 


—     16     — 

oder  Allgemeinbewegungen  ausführt.  Hebt  man  aber  einen  solchen 
Hund  zu  der  Zeit  und  selbst  noch  monate-  und  jahrelang  nachher  au 
der  Rückenhaut  auf  oder  hängt  man  ihn  in  der  von  mir  beschriebenen 
Schwebe  auf,  so  zeigen  die  contralateralen  Extremitäten  ein  eigenthüm- 
liches  Verhalten,  auf  das  ich  zuerst  in  der  mehrfach  citirten  Abhand- 
lung i)  aufmerksam   gemacht  habe.     Während   der  normale   Hund   seine 


Figur  1.    Im  Gyrus  sigmoides  operirter  Hund  in  der  Schwebe.    Die  gelähmten 
rechten  Extremitäten  hängen  herab. 

Extremitäten  mehr  oder  minder  stark  gebeugt  zu  halten  pflegt,  hängen' 
die  des  operirten  Hundes  mehr  oder  minder  stark  gestreckt,  aber  nicht 
steif,  sondern  schlaff  herab.  Ferner  deviiren  sie  nach  innen,  eine  Er- 
scheinung, welche  stärker  hervortritt,  wenn  man  den  Hund  an  der 
Rückenhaut  hält,  als  wenn  er  in  der  Schwebe  hängt. 

Ich  sehe  nicht,  dass  man  dieses  schlaffe  Herabhängen  der  Extre- 
mitäten anders  als  im  Sinne  einer  Lähmung  auffassen  kann,  und  da 
diese  Anomalie  eine  regelmässige  Folge  einer  Ausschaltung  des  Gyrus 
sigmoides  ist,  so  wird  man  zu  der  Annahme  gezwungen,  dass  in  der 
Norm  von  diesem  Gyrus  aus  stetige  Erregungen  —  eine  Art  von  Tonus 
—  den  Muskeln  dieser  Extremitäten  zufliessen,  durch  welche  die  letz- 
teren in  jene  halb  gebeugte  Stellung  gebracht  und  in  ihr  erhalten  werden, 
während  diese  Erregungen  mit  dem  Fortfall  des  Gyrus  sigmoides  gleich- 
falls fortfallen. 

Ebenso,    also  als  Lähmungserscheinung  ist    auch    die    vorerwähnte 


1)  E.    Hitzig,    Untersuchungen   über  das  Gehirn.    Neue  Folge.    Rei' 
chert's  und  du  Bois-Reymond's  Archiv.    1874.   Heft  4. 


—     17     — 

Beobachtung  aufzufassen,  dass  Jiämlich  der  Hund  die  kranke  Pfote  einer 
sie  bedrohenden  Nadel  nicht  zu  entziehen  vennag,  und  das  Gleiche  be- 
deuten die  verschiedenen  Beobachtungen  von  Goltz  und  Schiff,  nach 
denen  so  operirte  Hunde  bezw.  Affen  die  kranken  Pfoten  nicht  mehr 
isolirt  und  willkürlich  in  Bewegung  zu  setzen  vermögen.  Dagegen  un- 
terscheiden sich  diese  cerebralen  „Lähmungen"  des  Hundes  durch  das 
Fehlen  von  Contracturen,  durch  die  stets  mehr  oder  minder  gut  erhal- 
tene Fähigkeit  zu  Allgemeinbewegungen  und  durch  die  in  viel  höherem 
Grade  hervortretende  Störung  der  Vorstelkuigen  von  den  Zuständen  der 
afficirten  Körpertheile  sehr  wesentlich  von  den  cerebralen  Lähmungen 
höher  organisirter  Thiere. 

Zu  jenen  Störungen  der  Vorstellung  ist  auch  die  beim  Hunde  bei 
weitem  mehr  hervortretende  Störung  in  der  Wahrnehmung  tactiler  Reize, 
Sensibilitätsstörung  zu  rechnen.  Ich  halte  ihr  regelmässiges  Vorkommen 
ungeachtet  dessen,  was  B'errier  u.  A.  dagegen  sagen  mögen,  für  voll- 
kommen erwiesen  und  ein  näheres  Eingehen  auf  diese  Frage  deshalb 
hier  für  überflüssig.  Dagegen  verdienen  gewisse  Beobachtungen,  weiche 
ich  anlässlich  der  im  Vorstehenden  mitgetheilten  Versuche  gelegentlich 
kurzweg  als  Sensibilitätsstörungen,  ein  andermal  aber  als  Störungen  der 
reflectorischen  Thätigkeit  bezeichnet  habe,  noch  eine  Erwähnung.  Es 
handelt  sich  um  die  Resultate  einer  von  mir  bereits  vor  vielen  Jahren 
beschriebenen  Untersuchungsmethode i).  Sie  besteht  darin,  dass  man 
die  Hunde  mit  zwei  Händen  an  der  Rückenhaut  aufheben  lässt  oder 
sie  in  dem  mehrerwähnten  Schwebeapparat  aufhängt  und  dann  nach 
einander  die  Fusssohlen  berührt.  Abgesehen  von  seltenen  Ausnahmen, 
die  übrigens  auch  tageweis  auftreten  können,  ziehen  die  Hunde  auf 
diesen  Reiz  die  gesunden  Pfoten  zurück,  die  kranken  lassen  sie  hängen. 
Die  Hinterpfoten  reagiren  häufig  weniger  gut  und  ausgiebig.  Am  besten 
lässt  sich  der  Versuch  so  machen,  dass  man  die  Spitzen  der  Zehen  mit 
einem  kurzen,  leisen  Griff  gleichzeitig  an  Rücken  und  Sohle  anfasst^). 
Die  gesunde  Pfote  schnellt  dann,  wie  mit  Federkraft  bewegt,  in  die 
Höhe.  Man  sieht  dann,  dass  die  gekreuzten  Pfoten  entweder  gar  nicht- 
oder  —  und  das  betrifft  gerade  einige  Hunde,  von  denen  jetzt  die  Rede 
ist  —  langsamer  und  weniger  ausgiebig  zurückgezogen  werden  als  die 
Pfoten  der  verletzten  Seite.  Wenn  ich  das  Ausbleiben  dieser  Bewegung 
gelegentlich  als  Sensibilitätsstörung  bezeichnete,  so  rechtfertigt  die  That- 


1)  E.  Hitzig,    Untersuchungen   über   das  Gehirn.     Neue  Folge.     P\,ei- 
chert's  und  du  Bois-Reymond's  Archiv.   1876.  Heft  6.   S.  701. 

2)  Ich  habe  diesen  Versuch   im  Vorstehenden  kurz  als  „Begreifen"  be- 
zeichnet. 

Hitzig,  Gesammelte  Abliandl.    IL  Theil.  2 


—     18     — 

Sache  an  sich  diese  Bezeichnung  doch  nicht,  denn  sie  kann  mit  dem 
gleichen  Rechte  als  eine  Störung  der  Reflexthütigkeit  oder  in  der  vorher 
gedachten  Weise  bedingte  Störung  der  willkürlichen,  isolirten  Bewegung 
aufgefasst  werden.  Indessen  kommt  das  Phänomen  so  häufig,  oder  wie 
ich  glaube,  regelmässig  gemeinschaftlich  mit  anderweitig  nachweisbaren 
Störungen  der  Berühruugsempfindlichkeit  vor,  dass  ich  ein  Bedenken 
bei  der  Wahl  dieses  Ausdruckes  nicht  gefunden  habe. 

H.  Munk^)  hat  im  Jahre  1892  ähnliche  Untersuchungen  mitgetheilt 
luid  ihr  Ergebniss  als  Eintreten  bezw.  Ausbleiben  von  Rindenreflexen 
gedeutet.  Nach  seiner  Theorie  ist  dieser  reflectorische  Vorgang  in  gleicher 
Weise  wie  der  Vorgang  der  willkürlichen  Bewegung  zu  erklären.  Die  von 
bestimmten  Regionen  der  Hautoberfläche  ausgehenden  Berühruugsreize 
werden  den  ihnen  zugeordneten  Elementen  der  Rinde  zugeleitet  und 
von  ihnen  auf  motorische  Bahnen  übertragen,  so  dass  sie  als  die  un- 
mittelbaren Ursachen  der  Bewegung  erscheinen 2).  Diese  Art  von  Rin- 
denreflexen ist  angeboren,  gegenüber  jenen  anderen  Rindenreflexen,  bei 
denen  beispielsweise  der  Kopf  dem  gereizten  Körpertheil  zugewendet 
wird,  und  welche  als  erworben  anzusehen  wären.  Mit  den  Vorstellungen 
des  Thieres  scheint  Munk  weiter  nicht  zu  rechnen.  Demgemäss  würde 
dann  auch  das  Ausfallen  der  Berührungsreflexe,  d.  h.  also  auch  der 
soeben  von  mir  wiederholt  beschriebenen  Symptome  ausschliesslich  und 
direct  auf  das  Ausfallen  des  corticalen  Uebertragungsapparates  zu  be- 
ziehen sein.  Diese  Rindenreflexe  unterscheiden  sich  dadurch  von  den 
Rückenmarksreflexen,  dass  sie  nur  auf  leise  Berührungen  eintreten  und 
nur  die  Zehen  oder  höchstens  den  Fuss  in  Bewegung  setzen,  während 
die  Bethätigung  der  Rückenmarksreflexe  stärkere,  schmerzerregende 
Reize  voraussetzt  und  dann  nicht  mit  Bewegungen  jener  Theile,  sondern 
mit  Bewegungen  in  den  grossen  Gelenken  in  die  Erscheinung  tritt ^). 

Gesteht  man  die  Berechtigung  dieser  Theorie  zu,  so  würde  man 
allerdings  gar  nicht  nöthig  haben,  die  von  mir  vorher  erwähnte  Unter- 
scheidung zwischen  Störung  der  Sensibilität,  der  Reflexe  oder  der  will- 
kürlichen, isolirten  Bewegung  zu  machen.  Denn  bei  Munk's  Betrach- 
tungsweise kommt  dies  schliesslich  alles  auf  das  Gleiche  hinaus.  In- 
dessen liegen  die  Dinge  keineswegs  so  einfach,  wie  dies  nach  den  wie 
immer  blendenden  Ausführungen  dieses  Autors  erscheinen  könnte. 


1)  H.  Munk,   Ueber  die  Fühlsphären  der  Grosshirnrinde.     Sitzungsbe- 
richte 1892.  XXXVI. 

2)  H.  Munk,   Ueber  die  Fühlsphären  der  Grosshirnrinde.     Sitzungsbe- 
richte.  1896.   S.  14. 

3)  H.  Munk,   Ueber  die  Fühlsphären  der  Grosshirnrinde.     Sitzungsbe- 
richte.  1892. 


—     19     — 

Die  physiologische  Seite  dieser  Theorie  an  sich,  wie  sie  M unk 
(a.  a.  0.)  vorträgt,  giebt  den  erheblichsten  Bedenken  Raum.  Einmal 
sind  es  doch  nm-  verhältuissmässig  unbedeutende  Partien  der  Hautober- 
fläche, welche  in  der  geschilderten  Weise,  d.  h.  durch  Berührung  mit 
Dingen  der  Aussenwelt,  eine  beschränkte  Anzahl  von  Bewegungen  ver- 
anlassen; die  überaus  grosse  Mehrzahl  der  Bewegungen  kommt  in  ganz 
anderer,  von  mir  wiederholt  geschilderter  Weise  zu  Stande.  Ferner 
basirt  Munk  seine  ganze  Auseinandersetzung  darauf,  dass  ganz  leichte 
Berührungen  der  Zehen  und  des  Fusses  nur  locale  Bewegungen  zur  Folge 
hätten,  während  •  grobe  und  ausgedehnte  Bewegungen  in  den  grossen 
Gelenken  der  Extremitäten  nur  auf  stärkere,  insbesondere  schmerzerre- 
gende Reize  zu  Stande  kämen.  Die  letzteren  seien  deshalb  und  weil 
sie  nach  Exstirpatiouen  der  Extremitätenregionen  ebenso  wie  nach  Ab- 
trennung der  Oblongata  nicht  dauernd  verloren  gingen,  als  Rückenmarks- 
reflexe aufzufassen,  während  die  ersteren,  welche  eben  mit  der  Exstir- 
pation  dieser  Regionen  dauernd  verloren  gehen,  Rindenreflexe  seien. 
Diese  Deduction  leidet  nun  zunächst  an  der  Schwäche,  dass  bei  dem 
von  mir  geschilderten  Versuch  qualitativ  durchaus  nichts  anderes  ge- 
schieht als  bei  den  Munk' sehen  Versuchen,  dass  das  erzielte  Resultat 
aber  die  Munk' sehe  Beweisführung  direct  widerlegt.  Ob  ich  die  Fuss- 
spitze  des  schwebenden  Hundes  leise  und  ohne  den  geringsten  Druck 
auszuüben  an  Planta  und  Dorsum  oder  nur  an  der  Planta  mit  meinen 
Fingerspitzen  berühre,  oder  ob  Munk  eine  dieser  Stellen  mit  dem  Pin- 
sel streicht  oder  sonst  tactil  reizt,  kommt  genau  auf  das  Gleiche  hinaus 
und  doch  zieht  der  normale  Hund  auf  diesen  Reiz,  wie  oben  erwähnt, 
die  ganze  Extremität  blitzartig  unter  ausgiebigster  Bewegung  der  grossen 
Gelenke  zurück,  er  führt  also  gerade  diejenige  Bewegung  aus,  welche 
er  nach  Munk  nicht  ausführen  dürfte,  weil  sie  ein  Rückenmarksreflex 
sein  soll,  der  nicht  durch  Berührungsreize,  sondern  nur  durch  schmerz- 
erregende Reize  ausgelöst  wird.  Unzweifelhaft  handelt  es  sich  bei  die- 
sen Versuchen  aber  doch  nur  um  Berührungsreflexe  und  ich  kann  weder 
anatomisch  noch  physiologisch  verstehen,  wie  solche  Berührungen,  wenn 
sie  die  Haut  in  geringerer  Ausdehnung  trefi'en,  im  Gehirn,  wenn  sie  sie 
aber  in  grösserer  Ausdehnung  treffen,  im  Rückenmark  übertragen  wer- 
den sollen.  Ueberdies  scheint  es  mir  durch  pathologische  Erfahrungen 
hinreichend  erwiesen,  dass  eine  üebertragung  tactiler  Reize  auf  ganz 
beliebige,  also  sowohl  auf  die  die  grossen,  als  auch  auf  die  die  kleinen 
Gelenke  bewegenden  Motoren  im  Rückenmark  vor  sich  gehen  kann. 

Hiernach  kann  ich  nicht  zugestehen,  dass  man  jene  durch  tactile 
Reize  ausgelösten  Bewegungserscheinungen  ohne  Weiteres  als  Reflexe 
der  Hirnrinde  und  ihren  Fortfall  nach  Eingriffen  in  den  Gyrus  sigmoides 


—     20     — 

ohne  Weiteres  auf  den  Ausfall  der  Hirnrinde  beziehen  darf.  Es  wäre 
möglich,  dass  es  sich  so  verhielte,  aber  es  ist  nicht  bewiesen.  Als  ein- 
ziger Beweis  könnte  die  zeitliche  Aufeinanderfolge  der  Exstirpation  und 
des  Ausbleibens  des  Reflexes  augeführt  werden;  die  zeitliche  Folge  be- 
dingt aber  bekanntlich  nicht  nothweudig  einen  ursächlichen  Zusammen- 
hang. Um  so  weniger  darf  dieser  Punkt  aus  dem  Auge  verloren  wer- 
den, als  uns  bereits  eine  grosse  Anzahl  von  indirecten,  durch  subcorti- 
cale  Centren  vermittelten  Folgen  corticaler  Eingriffe  bekannt  sind.  Das 
lang  anhaltende,  ja  sogar  permanente  Ausbleiben  jenes  Berührungs- 
reflexes könnte  also  sehr  wohl  auf  Veränderungen  in  spinalen  Reflex- 
centren, welche  durch  die  secundäre  absteigende  Degeneration  veranlasst 
wären,  bezogen  werden. 

Hiezu  kommt  noch  ein  anderes.  Die  Darstellung  von  Munk  von 
dem  Verhalten  und  der  Wiederkehr  derjenigen  Reflexe,  welche  er  Ge- 
meinreflexe nennt  und  auf  das  Rückenmark  bezieht,  ist  nicht  richtig 
oder  doch  nicht  zutreffend.  Er  sagt  darüber  wörtlich i):  „Mau  muss  die 
Zehen  in  den  ersten  Tagen  nach  der  Operation  sehr  stark,  später  aller- 
dings mit  der  Zeit  immer  weniger  stark,  aber  schliesslich  noch  etwas 
drücken,  damit  eine  Reaction  eintritt".  Ich  bestreite  nicht,  dass  Hunde 
zu  gewissen  Zeiten  auf  Druck  in  der  geschilderten  Weise  reagiren,  aber 
die  Untersuchung  durch  einen  allmählig  zunehmenden  Druck  eignet  sich 
nicht  für  die  Entscheidung  der  Frage,  ob  der  Hund  auf  einen  schmerz- 
erregenden Reiz  mit  einer  normalen  Reflexbewegung  antwortet  oder 
nicht;  denn  wenn  man  ein  Pfote  längere  Zeit  drückt,  so  treten  je  nach 
der  seit  der  Operation  verflossenen  Zeit  früher  oder  später  Schwimm- 
bewegungen  —  wie  ich  es  nenne,  Strampelbewegungen  —  wie  Munk 
es  nennt  —  ein,  und  dass  es  auch  bei  den  Versuchen  dieses  Autors 
nicht  anders  zugegangen  ist,  scheint  mir  aus  dem  Wortlaut  seiner 
eigenen  Darstellung  hervorzugehen.  Diese  Art  von  Bewegungen  kann 
man  aber  sicherlich  nicht  als  eine  Function  des  Rückenmarks  auffassen, 
sondern  sie  sind  sicherlich  solchen  Allgemeinbewegungen  wie  das  Lau- 
fen, das  Schwimmen  im  Wasser  etc.  parallel  zu  setzen  und  ihrem  Ur- 
sprünge nach  in  das  Grosshirn  zu  verlegen;  treten  sie  doch  auch  in 
genau  gleicher  Weise  auf,  wenn  ich  der  Pfote  des  schwebenden  Hundes 
eine  Nadel  nähere,  ohne  damit  aber  seine  Haut  zu  berühren.  Ich  habe 
dies  schon  früher  geschildert 2). 


1)  H.  Munk,    Ueber  die  Fühlsphären  der  Grosshirnrinde.     Sitzungsbe- 
richte.   1892.   S.  13,  14. 

2)  E.  Hitzig,  Ueber  Functionen  des  ürosshirns.    Berliner  klin.  Wochen- 
schrift.  1886.  No.  40. 


—     21     — 

Untersucht  man  aber  den  schwebenden  Hund  mit  einem  kurz 
dauernden  schmerzerregenden  Reiz,  so  sieht  man  etwas  ganz  anderes. 
Sticht  man  ihn  einmal  kurz  in  die  Planta  der  gesunden  Vorderpfote, 
so  schnellt  diese  mit  einem  kurz  dauernden  Ruck  unter  Beugung  der 
grossen  Gelenke  in  die  Höhe;  beginnt  man  aber  den  Versuch  mit  einem 
einmaligen  kurzen  Stich  in  die  Planta  der  kranken  Vorderpfote,  so 
schnellt  diese  nicht  in  die  Höhe,  sondern  bleibt  schlaft'  herabhängen. 
Erst  bei  wiederholtem  oder  längerem  Stechen  treten  Schwimmbewegun- 
gen ein.  schneller  bei  Reizung  der  gesunden,  langsamer  bei  Reizung 
der  kranken  Pfote.  Thatsächlich  fehlen  also  bei  dem  im  Gyrus  sigmoi- 
des  operirten  Hunde  nicht  nur  die  von  Muuk  in  die  Rinde  verlegten 
Berührungsreflexe,  sondern  auch  die  von  ihm  in  das  Rückenmark  ver- 
legten „Gemeinreflexe"  und  das,  was  er  auf  Grund  seiner  uuzweckmässi- 
gen  üntersuchungsmethode  für  den  normalen  —  oder  vielleicht,  er  sagt 
es  nicht,  modificirten  Rückenmarksreflex  hielt,  war  nur  der  Anfang  von 
A  llgemeinb  e  wegungen . 

Besonderes  Gewicht  ist  darauf  zu  legen,  dass  dieser  geschilderte 
Ablauf  der  Erscheinungen  nicht  nur  „in  den  ersten  Tagen  nach  der 
Operation",  sondern  monatelang  zu  beobachten  ist,  dass  er  also  nicht 
von  einer  vorübergehenden  Hemmung,  welche  Munk  für  die  erste  Zeit 
nach  der  Operation  zugesteht,  abhängen  kann.  Vielmehr  wird  man  dem 
Ausfall  des  Reflexes  auf  schmerzerregende  Reize  unzweifelhaft  denselben 
Ursprung  zuschreiben  müssen,  wie  dem  Ausfall  des  Reflexes  auf  tactile 
Reize.  Uebrigens  kommt  es  bei  allen  im  Vorstehenden  besprochenen 
Versuchen  gar  nicht  darauf  an,  ob  der  Hund  den  ihm  drohenden  Reiz 
mit  den  Augen  verfolgen  kann  oder  nicht,  worauf  Munk  Gewicht  legt. 
Der  schwebende  Hund  entzieht  die  gesunde  Pfote  der  drohenden  Nadel, 
während  er  die  kranke  Pfote  ihr  ebenso  wenig  isolirt  zu  entziehen  ver- 
mag, wie  der  Affe  mit  der  kranken  Hand  die  begehrte  Feige  ergreifen 
kann.  Selbstverständlich  reagirt  der  Hund  auf  die  Annäherung  des 
Pinsels  und  des  Fingers  erst  recht  nicht. 

Ich  verhehle  mir  gar  nicht,  dass  der  Sachverhalt  durch  meine 
Schilderung  der  Versuchsergebnisse  complicirter  und  einer  einfachen 
Erklärung  weniger  zugänglich  wird.  Bei  weitem  am  einfachsten  wäre 
es,  wenn  der  Hund,  wie  geschildert,  nur  auf  Annäherung  der  Nadel  die 
gelähmt  herabhängende  Extremität  nicht  zurückziehen  könnte,  aber  seine 
Reflexerregbarkeit  gegen  tactile  und  schmerzerregende  Reize  bewahrt 
hätte.  Man  käme  dann  mit  der  Formel  aus:  Der  Hund  hat  die  Fähig- 
keit der  isolirten  intentionellen  Bewegung  des  Gliedes,  welche  eine 
Function  des  Bewusstseins,  der  verletzten  Hirnrinde  ist,  verloren,  aber 
die    reflectorische   Function    der    subcorticalen   Mechanismen    ist    intact. 


—     22     — 

p]infacher  auch  wäre  es,  wenn  Muuk  mit  seiner  Darstellung  Recht 
hätte,  so  class  also  thatsächlich  nur  solche  Functionen,  welche  nach- 
weislich der  Rinde  zugehören,  verloren  gegangen  wären,  die  Functionen 
der  subcorticalen  Mechanismen  aber  wirklich  nicht  gelitten  hätten.  Lei- 
der trifft  aber  weder  das  eine  noch  das  andere  zu.  Indessen  ist  es 
nicht  die  Aufgabe  des  physiologischen  Versuches,  das  Einfachste  zu 
finden,  sondern  die  N\^ahrheit  zu  finden;  ist  das  Einfachste  die  Wahrheit, 
dann  um  so  besser. 

Die  physiologisch-psyclKtlogischen  Auffassungen,  welche  sich  mir 
bei  meinen  früheren  Versuchen  aufdrängten  und  welche  mir  auch  den 
hauptsächlichsten  Anlass  zu  den  hier  mitgetheilten  Versuchen  gaben, 
haben  sich,  also  als  berechtigt  nicht  erwiesen.  Durch  den  Versuch  am 
Hunde  lässt  sich  nicht  beweisen,  dass  andere  als  die  sogenannten  moto- 
rischen Areale  der  Hirnrinde  einen  unmittelbar  bestimmenden  Einfluss 
auf  die  Energie  der  motorischen  Innervation  besitzen.  Allerdings  ist 
hiermit  nicht  gesagt,  dass  das  psychologische  Problem,  welches  ja  auch 
auf  ganz  anderen  Erwägungen  beruht,  hiermit  in  negativem  Sinne  ent- 
schieden sei.  Denn  es  ist  uns  vorläufig  noch  so  gut  wie  unbekannt, 
in  welcher  Weise  sich  das  Zusammenwirken  der  einzelnen  corticalen 
und  subcorticalen  Organe  für  das  Zustandekommen  der  von  uns  so  ge- 
nannten willkürlichen  Bewegungen  in  der  Norm  und  imter  den  durch  das 
Experiment  willkürlich  veränderten  Bedingungen  gestaltet.  Auch  hier 
finden  wir  eine  der  zahlreichen  Aufgaben,  deren  Lösung  vielleicht  der 
Zukunft  vorbehalten  bleibt. 


II.   Der  Versuch  Loeb's. 

Derjenige  Versuch,  welchen  ich  als  den  Versuch  Loeb's  bezeichne, 
ist  von  diesem  Autor  schon  in  seiner  ersten  Arbeit  i)  beschrieben 
worden.  Er  besteht  darin,  dass  man  dem  einseitig  operirten  Hunde 
gleichzeitig  zwei  Stücke  Fleisch  vorhält,  von  denen  das  Eine  sich  auf 
der  besser  sehenden,  das  Andere  sich  auf  der  schlechter  sehenden  Netz- 
hautpartie abbildet.  Der  Hund  springt  dann  nach  dem  Ersteren  auf. 
Wenn  man  jedoch  das  andere  Fleischstück  schüttelt,  während  das  Erste 
ruhig  bleibt,  so  sucht  er  sich  des  geschüttelten  Fleisches  zu  bemächtigen. 
Loeb  schloss  hieraus,  „dass  der  ganze  Unterschied  im  Sehen  für  beide 
Gesichtsfeldpartien  darin  besteht,  dass  die  Reizschwelle  für  alle  Reize 
aus  der  vernachlässigten  Gesichtsfeldpartie  erhöht  ist". 

Dieser  Versuch  ist  an  sich  ganz  interessant  und  da  der  Werth  der 
Erhöhung  der  Reizschwelle  unendlich  gross  sein  kann,  so  dass  der  Hund 
dann  eben  auf  der  betreffenden  Partie  gar  nicht  sieht,  so  ist  auch  gegen 
den  Schlusssatz  in  seiner  allgemeinen  Fassung  nicht  viel  einzuwenden. 
Oppenheim^)  hat  ähnliche  Versuche  mit  Bezug  auf  die  Hautsensibilität 
an  halbseitig  gelähmten  Menschen  mit  ähnlichem  Erfolge  angestellt  und 
auch  aus  meiner  eigenen  Klinik  ist  durch  einen  meiner  Assistenten,  Herrn 
Dr.  L.  Bruns^),  eine  einschlägige  Beobachtung  mitgetheilt  worden. 

Loeb  selbst  aber  hat  die  Wichtigkeit  seines  Versuches  bald  viel 
höher  geschätzt.  Bereits  in  seiner  nächsten  Publication*)  unternahm 
er  es,  mit  Hülfe  desselben  Gesetze  aufzustellen,  die  „thatsächlich  alle 
Störungen,  welche  nach  oberflächlicher  Verletzung  des  Grosshirns  vorher 
intacter  Thiere  beobachtet  worden  sind,  umfassen"  sollen. 


1)  J.  Loeb,  Die  Sehstörungen  nach  Verletzung  der  Grosshirnrincle. 
Pflüger's  Archiv  Bd.  XXXIV.   1884.   S.  54. 

2)  H.  Oppenheim,  üeber  eine  etc.  Untersuchungsmethode.  Neurol. 
Centralbl.  1885.    23. 

3)  L.  Bruns,  Ein  Beitrag  zur  einseitigen  Wahrnehmung  doppelseitiger 
Reize  bei  Herden  einer  Grosshirnhemisphäre.    Ebenda.  1886.  9. 

4)  J.  Loeb,  Die  elementaren  Störungen  einfacher  Functionen  nach  ober- 
tlächlicher  umschriebener  Verletzung  des  Grosshirns.  Pflüger's  7\.rchiv 
Bd.  XXXVIL   S.  51ff.  • 


—     24     —      ' 

In  einer  dritten  Arbeit i)  sagt  er:  „Für  die  geschilderte  Selistöruug 
habe  ich  den  Namen  Hemiamblyopie  vorgeschlagen".  Freilich  ge- 
hört zu  seiner  Schilderung  dieser  Hemiamblyopie  noch  die  Beobachtung, 
dass  die  Zeit  zwischen  Vorhalten  des  Fleisches  und  Erfassen  desselben 
für  den  die  gekreuzte  Netzhauthälfte  treffenden  Reiz  grösser  ausfällt  als 
für  die  gleichnamige  Seite.  Da  der  Autor  jedoch  ausdrücklich  hinzufügt, 
dass  diese  Zeit  sich  bei  verschiedenen  Thieren  nicht  proportional  dem 
Grade  der  Sehstörung  verhielt  und  dass  die  Mehrzahl  dieser  seiner 
Versuchsthiere  auch  Dreh  Störungen  hatte,  so  ist  zunächst  noch  nicht 
klar,  wie  gross  der  auf  die  Sehstörung  und  wie  gross  der  auf  die  Dreh- 
störuug  oder  vielleicht  richtiger  gesagt  „die  Motilitätsstörung"  fallende 
Abschnitt  des  Zeitzuwachses  sich  bei'echnet.  Es  ist  sogar  nach  dem, 
was  wir  sonst  über  den  Mechanismus  der  „Drebstörungen"  durch  ge- 
wisse Bemerkungen  von  Goltz  und  gerade  auch  von  Loeb  wissen,  von 
vorn  herein  durchaus  nicht  unwahrscheinlich,  dass  die  Verlängerung 
des  Intervalls  zwischen  Reiz  und  Vollendung  des  Bewegungsacts  in  einei 
Anzahl  von  Fällen  eine  reine  Bewegungsstörung  ist,  also  gar  nichts  für 
eine  bestehende  „Hemiamblyopie"  beweist.    "Wir  kommen  darauf  zurück. 

Da  nun  jene  „Alles  umfassenden  Gesetze"  Loeb 's  vornehmlich  auf 
den  Symptomen  seiner  „Hemiamblyopie"  fussen  und  dieselben  bei  Thieren, 
welchen  er  den  Vorderlappen  (rectius  Vorderlappen  und  Gyr.  sigmoid.) 
exstirpirte,  den  höchsten  Grad  erreichten,  welchen  Loeb  jemals  beob- 
achtete, und  ungeachtet  einer  Besserung  überhaupt  nicht  verschwanden  2), 
so  war  es  von  Wichtigkeit  festzustellen,  ob  denn  die  Existenz  einer 
Sehstörung  wenigstens  durch  den  positiven  Erfolg  desLoeb- 
schen  Versuches  mit  Sicherheit  erwiesen  wird.  Goltz  hat  in 
seinen  letzten  Arbeiten  als  ein  Resultat  seiner  fortgesetzten  Untersuchungen 
zugegeben,  dass  hochgradigere  imd  anhaltendere  Sehstörungen  durch 
Eingriffe  in  den  hinteren  Theil  des  Gehirns,  hochgradigere  und  an- 
haltendere Motilitäts-  und  Sensibilitätsstörungen  durch  Eingriffe  in  den 
vorderen  Theil  des  Gehirns  entstehen.  Loeb  seinerseits  schwächt 
nicht  nur  dieses  Gesammturtheil  in  seinen  eigenen  Resumes  erheblich 
ab,  sondern  er  macht  auch  eine  Anzahl  von  Versuchen  namhaft  —  und 
zu  diesen  gehört  der  zuletzt  citirte  • —  welche  gerade  das  Gegentheil 
ergaben,  nämlich  den  Eintritt  von  hochgradigeren  und  anhaltenderen 
Sehstörungen   als  Folge    nicht  von  Verletzungen    der  hinteren,    sondern 


1)  J.  Loeb,  Beiträge  zur  Physiologie  des  Grosshirns.    Plüger's  Archiv 
Bd.  XXXIX.  S.  275. 

2)  J.  Loeb,  Beiträge  zur  Physiologie  des  Grosshirns.    Plüger's  Archiv 
Bd.  XXXIX.   S.  316. 


—     25     — 

der  am  meisten  nach  vorn  gelegenen  Theile  des  Gehirns.  Diese  und 
andere  Erscheinungen  treten  nach  seiner  Anschauungsweise  nicht  ge- 
setzmässig  ein,  sondern  sie  werden  durch  Zufälligkeiten  —  Nebenbe- 
diugungen  verursacht.  Er  gelangt  so  zu  Theorien  und  Gesetzen  über  die 
physiologischen  Aufgaben  des  Gehirns  und  der  pathologischen  Störun- 
gen derselben,  deren  Discussion  im  Einzelnen  ich  mir  an  dieser  Stelle 
versagen  darf. 

Loeb  ist  vielleicht  nvu*  zu  sehr  bereit  „Gesetze  zu  formuliren". 
Dem  gegenüber  sei  es  gestattet  an  jenen  früher  bereits  von  mir  citirten 
Ausspruch  Fechner's  zu  erinnern:  „Die  Sicherstellung,  Fruchtbarkeit 
und  Tiefe  einer  allgemeinen  Ansicht  hängt  überhaupt  nicht  am  Allge- 
meinen, sondern  am  Elementaren".  Unstreitig  Avird  es  zu  allererst  dar- 
auf ankommen,  Gesetzmässigkeit  in  der  Folge  der  Erscheinungen  her- 
zustellen und  die  Ursachen  für  die  scheinbaren  Abweichungen  von  der 
allgemeinen  Regel  aufzudecken.  Erst  wenn  das  gelungen  ist,  mag  man 
an  die  Formulirung  von  Gesetzen  gehen;  aus  der  Ungesetzmässigkeit 
im  Elementaren,  d.  h.  in  den  unmittelbaren  Ergebnissen  der  Versuche 
werden  Gesetze,  die  etwas  bedeuten,  niemals  erwachsen. 

Ich  verkenne  gar  nicht,  dass  jede  Verwundung  des  Gehirns  höchst 
complicirte  Bedingungen  setzt,  denen  wir  bisher  nur  wenig  nachzugehen 
im  Stande  sind  und  dass  aus  dieser  Complication  Verschiedenheiten  in 
dem  Erfolge  anscheinend  gleicher  Eingriffe  entstehen  können,  mit  denen 
wir  Alle  rechnen  müssen.  Um  so  mehr  kommt  es  darauf  an,  dass  der- 
jenige, welcher  die  Bearbeitung  so  schwieriger  Fragen  unternimmt,  vor 
allen  Dingen  die  Identität  der  Bedingungen  von  Parallel  versuchen  mit 
aller  Strenge  controllirt.  Dass  Loeb  hierin  noch  viel  zu  lernen  hat, 
habe  ich  an  anderer  Stelle  nachgewiesen.  Es  ist  aber  begreiflich,  dass 
die  Zahl  der  scheinbaren  Ausnahmen  ins  Ungemessene  zunehmen  muss, 
wenn  in  dieser  Weise  gefehlt  wird.  Einen  anderen  Grund  für  den  Irr- 
thum  Loeb 's  in  der  Beurtheilung  der  experimentell  erzeugten  „Seh- 
störungen" werden  wir  jetzt  kennen  lernen. 

Ich  erinnere  daran,  dass  der  Werth  des  Loeb 'sehen  Versuches  mit 
seinen  Consequenzen  darauf  beruht,  dass  die  bei  demselben  zu  be- 
obachtenden Erscheinungen  wirklich  immer  durch  Störungen 
des  Sehapparates  und  nicht  vielmehr  durch  irgend  welche 
andere  Factoren  bedingt  sind.  Wäre  das  Erstere  zutreffend,  so 
würde  damit  allerdings  wieder  eine  bedenkliche  Unsicherheit  nach  dem 
Sinne  Loeb 's  in  der  Lehre  von  der  Dignität  der  einzelnen  Hirnabschnitte 
entstehen. 

Bei  der  Beurtheilung  der  Frage  hat  man  zunächst  2  Perioden  streng 
auseinanderzuhalten:  eine  frühere,  während  deren  der  Hund  die  im  ge- 


—     26     — 

kreuzten  Gesichtsfeld  befindlichen  Gegenstände  nicht  oder  doch  sehr 
schlecht  sieht  und  eine  spätere,  während  deren  er  sie  —  sagen  wir  zu- 
vöi'derst  —  besser  sieht. 

üeber  das  Verhalten  der  Thiere  während  der  ersten  Periode  be- 
steht kein  Streit,  sie  beachten  solche  Gegenstände,  wie  Fleisch,  Licht 
etc.,  nicht,  welche  sie  mit  der  afficirten  Partie  des  gekreuzten  Auges 
sehen  sollten.  Loeb  hat  im  Wesentlichen  imr  insofern  eine  von  den 
Angaben  der  Autoren  abweichende  Ansicht,  als  er  irrthümlich  eine 
Hälfte  des  Gesichtsfeldes  als  vernachlässigt  bezeichnet,  während  zu 
dieser  Zeit  thatsächlich  anf  dem  gekreuzten  Auge  mehr,  auf  dem  gleich- 
seitigen Auge  weniger  als  die  Hälfte  ausgeschaltet  ist,  eine  Thatsache, 
die  sich  übrigens  ungeachtet  dessen,  was  er  sonst  sagt,  in  einigen  seiner 
eigenen,  in  dieser  Beziehung  widerspruchsvollen  Angaben  bestätigt  findet. 

Auch  die  Angabe  Loebs,  dass  ein  links  operirter  Hund  während 
der  zweiten  Periode,  also  wenn  er  besser  sieht,  von  2  ihm  gleichzeitig- 
unter  gleichen  Bedingungen  gezeigten  Stücken  Fleisch  auch  dann,  wenn 
die  Hirnwunde  vorn  sitzt,  stets  das  links  von  ihm  befindliche  nimmt, 
ist  für  lange  Zeitabschnitte  zutreffend.  Fraglich  ist  nur,  aus  welchem 
Grunde  er  die  linke  Seite  bevorzugt.  Loeb  selbst  hatte  sich  schon 
die  Frage  vorgelegt,  ob  jener  Grund  nicht  in  einer  Störung  der  Be- 
wegung oder  des  Geruchsinnes  zu  suchen  sei  und  sich  dann  in  nega- 
tivem Sinne  entschieden;  wir  werden  sehen,  dass  und  aus  welchen  Grün- 
den er  sich  getäuscht  hat. 

Ich  werde  zuerst  meine  eigenen,  an  einem  sehr  intelligenten  ab- 
gerichteten Schäferhund  während  einer  langen  Beobachtungszeit  ge- 
machten Erfahrungen  schildern i). 

Ich  hatte  ihm  den  ganzen  linken  Gyrus  sigmoid.  bis  annähernd  auf 
den  Grund  der  Windung  entfernt  und  nur  den  hintersten  medialen  Theii 
desselben  stehen  lassen.  Die  Blutung  war  aus  dem  Knochen  fast  null, 
aus  der  Hirnwunde  massig  gewesen,  die  Wunde  per  primam  geheilt. 
Am  2.  Tage  hatte  er  eine  massige  Drehstörung  nach  links,  sah  auf  dem 
rechten  Auge  Fleischstücke    nur    mit    einem  ganz  schmalen  temporalen 


1)  Bei  dieser  Gelegenheit  mache  ich  die  Bemerkung,  welche  überflüssig 
sein  sollte,  aber  nach  üblen  Erfahrungen  nicht  überflüssig  ist,  dass  beispiels- 
weise beschriebene  Versuch sthiore  nicht  die  einzigen  sind,  an  denen  ich  die 
zu  beschreibenden  Erscheinungen  studirt  habe,  sondern  dass  ich  in  jedem 
Falle,  in  dem  nicht  ausdrüclclich  das  Gegen theil  gesagt  ist,  so  lange  gleich- 
lautende Erfahrungen  gesammelt  habe  —  und  stets  zu  sammeln  pflege  —  bis 
ich  von  der  Constanz  der  Erscheinungen  überzeugt  war.  Der  Exemplification 
bediene  ich  mich  genau  wie  diejenigen,  die,  wie  z.  B.  Herr  Goltz,  das  ge- 
legentlich nicht  verstehen  wollen,  im  Interesse  der  Darstellung. 


—     '27     — 

Streifeil  der  Netzhaut,  stiess  viel  mit  der  rechten  Seite  des  Kopfes  an 
und  Hess  bei  übrigens  grosser  Munterkeit  einen  sehr  ausgesprochenen 
Defect  der  Intelligenz  erkennen.  Wer  ihn  früher  nicht  gekannt  hatte, 
der  würde  freilich  nichts  davon  gemerkt  habeji,  wir  sahen  aber  alsbald, 
dass  der  Hund  nicht  nur  eine  Anzahl  der  früher  gelernten  Kunststücke 
nicht  mehr  wusste,  sondern  auch  den  "Weg  aus  dem  Hundestall  über 
die  Treppe  und  die  Gänge  des  Instituts,  den  er  früher  im  Sturm  nahm, 
nicht  mehr  fand.  Dieser  Defect  verlor  sich  aber  bald  wieder,  so  dass 
der  Hund  schon  am  Ende  der  ersten  Woche  in  dieser  Beziehung  resti- 
tuirt  erschien. 

Die  Drehung,  soweit  sie  in  Voltelaufen  bestand,  verlor  sich  zu 
Anfang  der  3.  Woche. 

Die  Sehstörung  war  zw'ar  bereits  am  4.  Tage  viel  geringer, 
immerhin  am  7.  Tage  noch  hochgradig,  in  der  Mitte  der  4.  Woche  noch 
in  der  Reaction  auf  Fleisch  nachweisbar  und  verlor  sich  dann.  Es  ist 
unnütz,  hier  Näheres  über  den  Ablauf  dieser  Erscheinungen  zu  sagen, 
da  ich  mich  auf  die  Mittheilung  von  Beobachtungen  beschränken  werde, 
die  während  einer  viel  späteren  Periode,  nämlich  5  Monate  nach  der 
ersten  Operation  und  später  gemacht  wurden.  Inzwischen  war  der  Hund 
3  Monate  nach  jener  ersten  einer  zweiten  Operation  unterzogen  worden. 
Vor  derselben  wurde  ein  genauer  Status  aufgenommen  (die  Erscheinungen, 
von  denen  die  Rede  sein  wird,  waren  im  Wesentlichen  schon  damals  und 
früher  constatirt  worden),  dann  wurde  die  Stelle  der  ersten  Operation 
Avieder  aufgedeckt,  die  Knochenwunde  nach  hinten  erweitert,  der  stehen 
gebliebene  Rest  des  Gyrus  sigmoid.  umrissen,  mit  dem  Präparatenheber 
in  der  Fissura  longitudinalis  bis  auf  den  Balken  vorgedrungen  und  der 
ganze  Rest  des  Gyrus  bis  auf  die  Balkenstrahlung  herausgehoben.  Am 
2.  Tage  war  wieder  eine  Sehstörung  auf  beiden  Augen  und  eine  Dreh- 
störung (diese  schon  gleich  nach  der  Operation)  nachweisbar,  aber  diese 
Symptome  verloren  sich  überraschend  schnell,  wie  denn  überhaupt  die 
Summe  der  diesmal  producirten  Krankheitserscheinungen  gegen  die 
Grösse  des  Eingriffs  erstaunlich  gering  war^). 

Wieder  2  Monate  später  fand  sich  nun  Folgendes: 

Von  einer  Drehstörung,  so  dass  der  Hund  Volte  läuft,  ist  keine 
Rede;  ebensowenig  liegt  er  mit  dem  Rücken  nach  rechts  convex.  Den 
anderweitigen  Zustand  der  Motilität  und  den  der  Sensibilität  über- 
eehe  ich. 


1)  Der  in  Rede  stehende  Versuch  gehört  zu  denen,  die  mich  überzeugt 
haben,  dass  es  bei  grösseren  Exstirpationen  und  beim  Hunde  auf  kleine 
stehen  gebliebene  Pveste  unmöglich  ankommen  kann.  Goltz  hat  hierin  ganz 
Recht.    Aui  Vögel  und  Frösche  findet  das  Gesagte  natürlich  keine  Anwendung. 


—     28     — 

Das  Sehvermögen  ist  vortreiflich.  Nicht  nur  findet  sich  in  der 
Schwebe  nicht  die  geringste  Differenz  zwischen  den  beiden  (abwech- 
selnd verklebten)  Augen,  sondern  ein  in  meinen  bisherigen  Aufsätzen 
nicht  erwähnter  Versuch,  welcher  weit  grössere  Anforderungen  an  das 
Sehen  stellt,  erwies  die  vollkommene  Intactheit  dieses  Sinnes.  Der  Hund 
war  nämlich  unter  Anderem  darauf  abgerichtet,  ihm  zugeworfenes  Fleisch 
zu  fangen;  nicht  gefangenes  musste  er  liegen  lassen.  Liess  ich  ihn  nun 
einen  Atollen  Fleiscbteller  fixireu  und  warf  ihm  dann  seitlich  kleine  Fleisch- 
stückchen zu,  so  dass  sie  bald  bei  dem  rechten,  bald  bei  dem  linken 
Auge  vorbeiflogen,  so  fing  er  sie  sämmtlich  mit  untrüglicher  Sicherheit. 

Machte  ich  den  Loeb 'sehen  Versuch,  so  sprang  der  Hund  stets 
nach  links  auf.  Aenderte  ich  den  Versuch  in  der  Weise  ab,  dass  ich 
in  jeder  Hohlhand  eine  leere  Pinzette  verbarg,  welche  ich  dem  Hunde 
mit  einer  schnellen  Drehung  der  Hand  präsentirte,  so  sprang  er  das 
erste  Mal  nach  der  linken  Pinzette  mit  solcher  Heftigkeit  auf,  dass  er 
sie  halb  verschluckte,  das  zweite  Mal  sprang  er  wieder  nach  der  linken 
auf,  beschnupperte  sie  aber  nur,  das  dritte  Mal  beschnupperte  er,  un- 
zufrieden mit  der  linken  Pinzette,  die  rechte.  Nun  wurden  ihm  zwei 
Fleisch pinzetten  (Fleisch  tragende)  in  gleicher  Weise  präsentirt  —  er 
ging  regelmässig  nach  links. 

Sodann  zeigte  ich  ihm  links  eine  leere  und  rechts  eine  Fleisch- 
pinzette. Hier  verhielt  sich  nun  der  Hund  je  nach  der  Reihenfolge  der 
Versuche  verschieden.  Begann  ich  mit  diesem  Versuche,  so  beachtete 
er  das  lang  herabhängende  Stück  Fleisch  gar  nicht,  sondern  sprang  zu- 
erst stets  nach  der  leeren  Pinzette;  war  er  aber,  wie  bei  der  geschil- 
derten Versuchsreihe  durch  wiederholte  Enttäuschungen  bereits  ge- 
witzigt, so  setzte  er  die  ersten  Male  zwar  regelmässig  zum  Sprunge 
nach  links  an,  er  sprang  aber  nicht,  sondern  betrachtete  sich  erst 
sein  Ziel  und  ging,  als  er  dies  der  Bemühung  unwerth  fand,  nach 
rechts. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  die  Vernachlässigmig  des  Fleisches 
bei  diesen  Versuchen  nicht  durch  eine  Seh  Störung,  sondern  lediglich 
durch  Mangel  an  Aufmerksamkeit  bedingt  ist.  Ein  Thier,  welches  im 
Stande  ist,  ein  schnell  bei  seinem  rechten  Auge  vorbeifliegen-des  kleines 
Stück  Fleisch  zu  erhaschen  und  auch  sonst  keine  Sehstörung  erkennen 
lässt,  wird  natürlich  auch  im  Stande  sein,  ein  10  mal  so  grosses  Stück 
Fleisch,  welches  ihm  plötzlich  gezeigt  wird,  mit  diesem  Auge  zu  sehen 
und  erst  recht  wird  sein  linkes  Auge  zu  der  Erkenntniss  der  Leerheit 
der  linken  Pinzette  befähigt  sein.  Oflenbar  beachtet  aber  der  Hund  zu- 
vörderst gar  nicht  das  Fleisch  oder  die  Pinzetten,  sondern  nur  die  Hand- 
bewegung  und  erst  dann  beginnt  er  seine  Aufmerksamkeit  zu  schärfen. 


—     29     — 

wenn  er  bei  seinen  ßemüliungen  ein  oder  mehrere  Male  leer  ausgegangen 
ist.  Wenn  der  Hund  also  gleichwohl  zunächst  ausnahmslos  nach  links 
geht,  so  kann  das  nicht  daher  rühren,  dass  er  das  rechtsseitige  Fleisch 
nicht  oder  undeutlicher  sieht,  indessen  wäre  es  möglich,  dass  er  seine 
Aufmerksamkeit  weniger  auf  das  Fleisch  als  auf  die  Handbewegung  ge- 
richtet hätte  und  dass  er  die  rechtsseitige  Handbewegung  undeutlicher 
sah.  Angesichts  der  mitgetheilten  Umstände  und  der  langen,  auch  seit 
der  zweiten  Operation  verflosseneu  Zeit  erschien  zwar  dieser  Einwand 
von  vorn  herein  sehr  wenig  wahrscheinlich.  Indessen  musste  er  gänz- 
lich beseitigt  werden. 

Zu  diesem  Zwecke  hielt  ich  dem  Hunde,  dessen  auf  andere  Weise 
geprüfter  Geruchsinn  beiderseits  iutact  war,  meine  beiden  geschlosseneu 
Fäuste  vor  die  Nase.  Als  er  sie  eifrig  beschnüffelte,  entfernte  ich  sie 
schnell  von  einander,  der  Hund  folgte  nach  links.  An  der  Wieder- 
holung nahm  er  aber  bald  kein  Interesse  mehr,  weil  er  kein  Fleisch 
roch.  Nahm  ich  dann  ein  Stück  Fleisch  in  jede  oder  auch  nur  in  die 
linke  Faust,  so  war  er  wieder  eifrig  bei  der  Sache,  folgte  aber,  auch 
wenn  er  vorher  die  linke  Faust  beschnüffelt  und  beleckt  hatte,  dennoch 
regelmässig  der  rechten  nach  links.  Verklebte  ich  ihm  beide  Augen, 
so  änderte  sich  insofern  nichts,  als  er  sich,  wenn  er  überhaupt  folgte, 
nach  links  drehte.  Indessen  bekümmerte  er  sich,  wie  andere  Thiere  in 
dieser  Lage  vielfach  mehr  um  die  Befreiung  seiner  Augen,  als  um  das 
Fleisch. 

Es  geht  also  aus  diesem  Versuche  hervor,  dass  der  den  Hund  nach 
links  in  Bewegung  setzende  Antrieb  überhaupt  nicht  aus  einer  Gesichts- 
wahrnehmung resultirt,  also  auch  bei  dem  vorher  erwähnten  Versuche 
nicht  darauf  zurückgeführt  werden  kann,  dass  er  die  sich  auf  seiner 
linken  Retina  abspiegelnde  Handbewegung  deutlicher  sah  als  die  der 
anderen  Seite. 

Loeb  bemerkt  a.  a.  0.  kurz  „die  Erscheinung  (die  Bevorzugmig 
der  linken  Seite)  hört  auf  nach  Verkleben  beider  Augen."  Ich  nehme 
an,  wenn  er  es  auch  nicht  ausdrücklich  sagt,  er  habe  den  Thieren  zwei 
Fleischstücke  dicht  vor  die  Nase  gehalten  und  die  Hunde  hätten  nun 
bald  das  linke,  bald  das  rechte  genommen.  Es  kommt  natürlich  sehr 
darauf  an,  wie  man  den  Versuch  macht,  insbesondere,  ob  die  Thiere 
nur  durch  eine  Ortsbeweguug  in  den  Besitz  des  Geruchsobjectes  kommen 
können;  unter  dieser  und  sonst  gleichen  Bedingungen  dürften  sich  aber 
auch  die  Hunde  Loeb 's  wohl  nach  links  wenden.  Uebrigens  ist  es 
ganz  gleichgültig,  ob  man  den  Hunden  bei  diesen  Versuchen  die  Augen 
verklebt  oder  nicht.  Wenn  der  Geruchsinn  einmal  in  Anspruch  genom- 
men ist,    so  treibt  er    das  Thier,    nicht  aber    der  Gesichtssinn    zur  Er- 


—     30     — 

hascliung  der  Nahrung.  Nach  welcher  Seite  sich  dann  die  dazu  er- 
forderliche Bewegung  richtet,  kann  von  ganz  anderen  Factoren  als  von 
der  Schärfe  dieser  Sinne  abhängen.  Das  geht  schon  aus  dem  Versuch 
mit  der  leeren  Pinzette  hervor  und  wird  noch  deutlicher  durch  einen 
gleich  anzuführenden  Versuch  erwiesen.  Hiernach  halte  ich  das  Sym- 
ptom, aus  demLoeb  eine  „typische  Hemiamblyopie"  diagnosticirt, 
keineswegs  für  ein  sicheres  Zeichen  einer  Sehstörung,  sondern  führe 
dasselbe  in  einer  Reihe  von  Fällen  auf  eine  Störung  der  motorischen 
Innervation  zurück. 

Indessen  kann  es  in  einer  anderen  Reihe  von  Fällen  auch  eine 
Sehstörung  bedeuten.  Nimmt  man  einem  Hunde  ein  Stück  des  linken 
Hinterlappens  z.  B.  Munk's  Stelle  A^,  so  bevorzugt  er,  so  lange  er 
eine  Sehstörung  hat,  bei  dem  ersten  Versuch,  den  man  mit  ihm  an- 
stellt, regelmässig  —  selbstverständlich  —  auch  wenn  er  keine  Bewe- 
gungsstörung hat,  das  linke  Fleischstück. 

Auf  Grund  dieser  Methode  kann  man  eine  Sehstörung  also  nur 
dann  diagnosticiren,  dafern  sie  schon  auf  andere  Weise  nachgewiesen 
ist.  Wenn  der  Hund  lediglich  regelmässig  das  Fleisch  der  einen  oder 
der  anderen  Seite  bevorzugt,  so  beweist  das  an  und  für  sich  —  nichts. 

Aber  Loeb  hat  weiter  angegeben,  dass  der  Hund  die  gleiche  Seite 
nur  so  lange  bevorzugt,  als  man  das  Fleisch  der  anderen 
Seite  nicht  oscilliren  lässt.  Sobald  dies  geschieht,  springt  der 
Hund  nach  dem  oscillirenden  Fleisch.  In  der  That  springt  der  Hund 
nach  dem  oscillirenden  Fleisch,  Herr  Loeb  hat  uns  dies  auf  der  Natur- 
forscherversammlung zu  Berlin  demonstrirt  und  ich  selbst  habe  den 
Versuch  oft  genug  mit  gleichem  Erfolge  augestellt.  Fraglich  ist  nur 
ob  der  Hund,  wie  Loeb  annimmt,  lediglich  deshalb  in  der  geschilderten 
Weise  reagirt,  weil  ein  bewegter  Gegenstand  ein  stärkerer  Reiz 
für  das  Sehorgan  ist  als  derselbe  Gegenstand  in  der  Ruhe,  oder  ob 
auch  hier  andere  Factoren  mitspielen. 

Wir  sahen  in  Berlin,  wie  das  Versuchsthier  Loeb 's  gleichsam  zur 
Belohnung  für  die  höchst  exacte  Ausführung  der  Leistung  das  Fleisch 
erhielt  und  verspeiste.  V\'enn  jenes  Thier  und  die  Versuchsthiere  Loeb's 
überhaupt  in  dieser  Weise  erzogen  werden,  so  erklärt  sich  zum  Theil 
hieraus,  zum  Theil  allerdings  aus  dem  Umstände,  dass  jener  Forscher 
den  Hund  viel  zu  sehr  als  Reflexmaschine  betrachtet,  sowie  jede  Be- 
schäftigung mit  den  Vorstellungen  des  Hundes  als  unphysiologisch  ver- 
wirft, seine  Ansicht  über  den  Werth  dieses  Theils  seines  Versuches. 
Ich  wähle,  zur  Erläuterung  dessen,  was  ich  zu  sagen  habe,  zunächst 
wieder  ein  Beispiel. 

Ein  Schäferhund,    dem  ich  linkerseits    die  Stelle  A^  M  unk 's  fort- 


—     31     — 

genommen  hatte,  sah  nach  Verhiuf  von  14  Tagen  auf  dem  rechten  Auge 
schon  wieder  erträglich,  war  aber  immerhin  noch  ziemlich  arablyopisch. 
Er  folgte  also  kleinen  Stücken  Fleisch  mit  Leichtigkeit,  ignorirte  aber 
ein  brennendes  Streichholz,  während  er  sich  voll  Abscheu  abwandte, 
wenn  ich  ihm  dasselbe  vor  das  andere  Auge  hielt.  Auch  war  der  Lid- 
reflex nur  durch  Annäherung  der  gajizen  Handfläche  und  sogar  auf  diese 
Art  nur  schwach  hervorzurufen.  Drehstörungen  hatte  das  Thier  zu 
keiner  Zeit.  "Wenn  ich  diesem  Hunde  jetzt  zwei  Fleischpinzetten  vor- 
hielt, so  stürzte  er  sich  regelmässig  auf  die  linke,  er  bekam  aber  nichts. 
Als  ich  nun  das  rechte  Fleisch  oscilliren  Hess,  so  war  dem  Hunde  zu- 
nächst —  und  darauf  kommt  es  an  —  gar  nicht  begreiflich  zu 
machen,  dass  eigentlich  dieses  Stück  Fleisch  für  ihn  bestimmt  war,  er 
capricirte  sich  auf  das  linke.  Dabei  konnte  nicht  die  Rede  davon  sein, 
dass  der  Hund  das  Fleisch  oder  die  Oscillationen  nicht  gesehen  hätte, 
da  er  das  Erstere  berücksichtigte,  wenn  es  ihm  allein  gezeigt  wurde 
und  da  er  nacli  Verklebung  des  anderen  Auges  jeder  Bewegung  des 
Armes  oder  der  mit  einem  viel  kleineren  Stückchen  Fleisch  armirten 
Zange  recht  gut  folgte. 

Ich  bemerke  hierzu,  dass  hinten  operirte  Thiere  sich  in  der  Regel 
so  verhalten.  Erst  wenn  solche  Thiere  sehr  viel  besser  sehen,  ver- 
stehen sie  den  Wink  ohne  viele  Mühe  und  gehen  nach  rechts,  immer- 
hin w4rd  man  finden,  dass  dies  nur  selten  auf  das  allererste  Schütteln 
geschieht.  Nehmen  wir  dagegen  einen  im  linken  Gyrus  sigmoides  ope- 
rirten  Hund  mit  einer  scheinbaren  Sehstörung,  der  also  auch  nach 
Ablauf  der  wirklichen  Sehstörung  mit'  grösster  Fromptheit  nach  dem 
linken  Fleisch  aufspringt,  so  ist  dessen  Aufmerksamkeit  durch 
Schütteln  des  Fleisches    sehr  leicht  von  links    nach  rechts  abzulenken. 

Nachdem  ich  nun  jenem  Schäferhunde  mit  dem  oscillirenden  Fleisch 
sehr  nahe,  bis  fast  an  die  Nase  gerückt  war,  fand  er  für  gut,  dasselbe 
zu  verspeisen.  Bei  dem  zweiten  Versuch  brauchte  ich  schon  nicht  mehr 
so  zudringlich  zu  werden  und  so  ging  es  leichter  und  leichter,  bis  der 
Hund  sich  nach  dem  6.  Stück  um  das  linke  Fleisch  überhaupt  nicht 
mehr  kümmerte,  obwohl  ich  diesem  nun  die  dreifache  Grösse  gegeben 
hatte.  Am  folgenden  Tage  hatte  der  Hund  bei  wenig  veränderter  Seh- 
störung die  Lection  des  Vortages  so  wenig  vergessen,  dass  er  sich  von 
vorn  herein  nach  rechts  wandte.  Als  ich  dann  ein  ungeheures  Stück 
Fleisch  links  auf  das  Heftigste  in  anhaltende  Oscillation  versetzte,  sah 
der  Hund  gar  nicht  einmal  hin.  Näherte  ich  nun  beide  jetzt  gleich- 
grosse  Stücke  einander,  so  dass  sie  sich  berührten,  um  sie  dann  schnell 
von  einander  zu  entfernen,  so  drehte  sich  der  Hund  zuerst  regelmässig 


—     32     — 

nach  links,  wandte  sich  dann  aber  sofort  wieder  dem  rechten  Stück 
Fleisch  zu. 

Die  Versuche  wurden  mit  mehrtägigen  Pausen,  während  sich  das 
Sehvermögen  allmählig  weiter  besserte,  wiederholt  und  niodificirt,  ohne 
den  Hund  jedoch  ferner  vorwiegend  von  rechts  her  zu  füttern.  Dabei 
zeigte  sich,  dass  der  Hund,  sobald  einige  Tage  Intervall  gelassen  waren, 
auf  das  erste  Zeigen  der  Fieischstücke  stets  nach  links  wollte;  hatte 
er  aber  ein  einziges  Stück  von  rechts  her  erhalten,  so  machte  ihm 
alles  Oscilliren  des  linken  Fleisches  nicht  den  geringsten  Eindruck  mehr. 
Setzte  ich  nach  einer  kurzen  Pause  den  Versuch  in  der  Weise  fort, 
dass  ich  alsbald  mit  Oscilliren  des  linken  Fleisches  begann,  so  sah  der 
Hund  zwar  stets  zuerst  nach  links,  drehte  sich  aber  doch  sofort  nach 
rechts.  Begann  ich  meinen  Versuch  nach  nur  eintägiger  Pause  damit, 
dass  ich  links  ein  -grosses  Stück  Fleisch  in  der  Pinzette  schüttelte  mid 
dem  Thiere  rechts  eine  leere  Pinzette  unbeweglich  vorhielt,  so  sprang 
er  nach  der  leeren  Pinzette. 

Bei  den  Versuchen  von  Loeb  wie  bei  den  meinigen,  wendete  sich 
der  Hund  also  stets  zuerst  nach  der  Operati ousseite;  während  er  sich 
aber  bei  Loeb  durch  Schütteln  des  Fleisches  der  „amblyopischen"  Seite 
nach  dorthin  ablenken  liess,  ging  er  bei  meinen  Versuchen  von  selbst 
nach  dieser  Seite  und  liess  sich  nicht  einmal  durch  Schütteln  des  Flei- 
sches, welches  er  mit  dem  gesunden  Auge  sah,  irgendwie  bestimmen. 
Käme  es,  wie  Loeb  will,  nur  auf  den  stärkeren  Reiz  des  bewegten 
Gegenstandes  mit  Ausschluss  anderer  Factoren  an,  so  hätte  der  Hund 
sich  doch  offenbar  durch  das  Fleisch,  welches  vor  seinem  gesunden 
Auge  bewegt  wurde,    erst  recht  nach  dorthin    ablenken  lassen    müssen. 

Bei  allen  diesen  Versuchen  war  das  Intervall  zwischen  Zeigen  des 
Fleisches  und  Aufspringen  nach  demselben  v er hältniss massig  kurz, 
auch  dann,  wenn  der  Hund  veranlasst  worden  war,  zuerst  nach  links 
zu  sehen. 

Ganz  anders,  mit  Bezug  auf  das  Zeitintervall,  verhielt  sich  der  zu- 
ei'St  beschriebene  Schäferhund  mit  der  scheinbaren  Sehstörung.  Zeigte 
ich  ihm  mehrmals  2  Fleisch  pinzetten  so,  dass  er  sich  stets  des  rechts- 
seitigen bemächtigen  konnte,  so  hatte  er  sich  das  schnell  gemerkt  und 
sprang  gleichfalls  immer  nach  dieser  Seite  auf,  ohne  dass  es  des  Schüt- 
teins bedurft  hätte.  Während  jedoch  der  andere  Hund  mit  dem  Moment 
des  Erscheinens  des  Fleisches  zum  Sprunge  ansetzte  und  sprang,  verging 
hier,  so  oft  man  auch  den  Versuch  wiederholen  mochte,  inmier  eine 
ziemlich  lange  Zeit  zwischen  dem  Gesichtseindruck  und  der  Bewegung, 
wenn  auch  mit  der  Wiederholung  des  Versuchs  die  Dauer  dieser  Zeit 
abnahm.    Der  Hund  überlegte  sich  die  Sache  erst.    Bald  betrachtete  er 


—     33     — 

das  rechte,  bald  d;is  linke  Fleisch,  um  (hiiiu  aber  doch  regelmässig  mit 
Gier  auf  das  Erstere  loszugehen. 

Wenn  mir  der  Versuch,  in  die  Vorgänge  der  Huudeseele  einzudringeu, 
von  Physiologen  strengster  mechanischer  Schule,  nach  dem  Sinne  Loeb's 
nicht  allzusehr  verübelt  wird,  so  möchte  ich  vermuthen,  dass  sich  in 
dieser  Seele  ein  Kampf  zwischen  einer  nach  links  treibenden  Kraft  und 
der  Vorstellung,  dass  links  gerade  wie  früher,  so  auch  diesmal  nichts, 
wohl  aber  rechts  etwas  zu  holen  sei,  abspielte  und  dass  endlich  die 
vernünftige  üeberlegung  über  das  mechanische  Prinzip  die  Oberhand 
behielt. 

Durch  die  mitgetlieilten  Versuche  scheint  mir  —  unter  Berück- 
sichtigung dessen,  was  wir  schon  früher  wussten  —  die  Sache  voll- 
ständig und  befriedigend  aufgeklärt  zu  sein.  Einseitig,  gleichviel  ob 
vorn  oder  hinten  operirte  Hunde  bevorzugen  während  einer  verschieden, 
manchmal  viele  Monate  langen  Periode  von  2  ihnen  gebotenen  Fleisch- 
stücken immer  das  Stück  der  Operationsseite,  aber  aus  verschiedenen 
Gründen.  Hat  eine  saubere  Operation  ein  wirklich  auf  den  Hinterlappen 
beschränktes,  nicht  zu  grosses  Stück  entfernt,  so  ist  lediglich  die  Seh- 
störung verantwortlich  zu  machen.  War  das  Stück  zu  gross,  so  ist  der 
Versuch  nicht  mehr  rein,  er  kann  durch  Bewegungsstörungen  complicirt 
sein.  Hat  man  aber  den  Gyrus  sigmoides^)  verletzt,  so  hat  man  es 
zunächst  gleichfalls  mit  einer  in  demselben  Sinne  wirkenden  Seh- 
störung, aber  ihrerseits  als  Complication  zu  thun.  Erst  wenn  diese  ab- 
gelaufen ist,  tritt  das  eigentlich  bedingende  Moment  klar  und  zwar  mit 
viel  zwingenderer  Macht  zu  Tage,  als  jene  aus  der  Verletzmig  des  Hiuter- 
lappens  resultirende  Sehstörung  und  erweist  sich  als  eine  Störung  der 
motorischen  Innervation.  Während  der  einseitig  schlecht  sehende  Hund, 
einmal  über  das  Wesen  des  sich  von  rechts  her  ihm  präsentirenden 
Gegenstandes  unterrichtet,  ohne  Weiteres  auf  denselben  losgeht,  hat  das 
in  seinem  Bewegungsmechanismus  alterirte  Thier  erst  einen  Widerstand 
zu  überwinden,    bevor  es  sich  nach    der  gekreuzten  Seite  drehen  kann. 

Loeb  hat  die  Frage,  ob  nicht  schon  die  Ungleichheit  in  der  Inner- 
vation beider  Körperhälften  das  Thier  stets  nach  der  Operationsseite 
drängt,  selbst  aufgeworfen  und  in  ganz  correcter  Weise  zu  discutiren 
begonnen.  Er  Hess  sich  schliesslich  jedoch  bestimmen,  diese  Frage  im 
negativen' Sinne  zu  beantworten,  weil  er  fand,  dass  Hunde,  welche  nicht 
an  Drehstörung  litten,  dennoch  jene  Symptome,  die  er  Hemiamblyopie 
nennt,    erkennen  lassen.      Die  Beobachtung    an  sich    ist  wieder  richtig, 


1)  Von  den  mittleren  Theilen  der  Convexität  habe  ich  zunächst  keine 
Veranlassung  zu  reden. 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.    11.  Theil.  3 


—     34     — 

wie  aus  meinen  im  Vorstehenden  mitgetheilten  gleichlautenden  Erfah- 
rungen hervorgeht;  d.  h.  also  Hunde,  welche  keine  Drehstörung-  zeigen, 
bevorzugen  gleichwohl  das  Fleisch  der  operirten  Seite.  Sie  beweist 
aber  nicht,  was  sie  beweisen  soll;  denn  sie  schliesst  zwar  den  Einfluss 
einer  Dreh  Störung  auf  das  Gelingen  des  Versuches,  nicht  aber  den 
Einfluss  von  anderen  motorischen  Störungen  aus  und  sie  beweist  ins- 
besondere nicht  den  bestimmenden  Einfluss  einer  Sehstönuig.  Dies  hätte 
aber  bewiesen  werden  sollen,  bevor  aus  dem  Nachweis  jenes  Symptoms 
der  Rückschluss  auf  das  Bestehen  einer  Sehstörung  gemacht  und  bevor 
daraufhin  das  Bestehen  von  dauernder  Sehstörung  nach  einem  Eingriff 
in  den  Vorderlappen  behauptet  werden  durfte. 

Loeb  stützt  sich  ausserdem  auf  einen  Doppelversuch  (Exstirpation 
rechts  vorn  und  links  hinten),  den  er  für  beweisend  hält,  der  aber  — 
ausnahmsweise  —  so  unklar  beschrieben  ist,  dass  seine  Beweiskraft  mir 
entgeht.  Wenn  mit  diesem  Versuche  gesagt  werden  soll,  dass  so  ope- 
rirte  Thiere  diejenige  Seite  bevorzugen,  auf  der  sie  besser  sehen,  was 
aber  nicht  gesagt  ist,  so  konnte  ich  das  bei  zwei  analogen  Versuchen 
nicht  bestätigen.  Beiden  Thieren  hatte  ich  im  Gyrus  sigmoides  kleine, 
im  gekreuzten  Hinterlappen  grössere  Verletzungen  beigebracht  und  beide 
bevorzugten  nach  der  zweiten  Operation,  als  sie  besser  zu  sehen  an- 
fingen, die  Seite  der  Sehstörung.  Ich  vermuthe,  dass  das  abweichende 
Ergebniss  von  Loeb  wieder  auf  unbeabsichtigter  Abrichtung  des  Hundes 
beruht. 

Wenn  Loeb  selbst i),  wie  Eingangs  erwähnt,  der  Meinung  war, 
„in  der  Mehrzahl  der  Fälle  sei  neben  der  Hemiamblyopie  eine  Dreh- 
stöning  vorhanden",  so  hätte  ihn  das  vorsichtiger  machen  sollen 2).    In 


1)  J.  Loeb,  Beiträge  zur  Physiologie  des  Grosshirns.  Pflüger's  Archiv 
Bd.  XXXIX.  S.  276. 

2)  Die  Besprechung  der  Drehstörungen  (Beiträge  zur  Physiologie  des 
Grosshirns.  Pflüg  er 's  Archiv  Bd.  XXXIX,  S.  266)  beginnt  Loeb  mit  folgendem 
Satze;  „Bei  Thieren,  welche  eine  schwere  A'erletzung  einer  Hemisphäre  mit 
den  ungünstigen  Nebenbedingungen  einer  starken  intraoraniellen  Blutung  er- 
litten haben,  beobachtet  man  bekanntlich  Reitbahnbewegungen."  Auf  S.  313, 
314  der  gleichen  Abhandlung  finden  sich  folgende  Sätze:  „Davon  (den  Neben- 
bedingungen) ist  auch  die  Intensität  der  Störung  abhängig;  danach  richtet  es 
sich  z.  B.,  ob  Exstirpation  des  Stirnlappens  Reitbahnbewegung  zur  Folge  hat 
oder  nicht.  Diesem  kleinen  Umstände  verdankt  der  Streit  um  die  Localisation 
der  Functionen  seine  respectable  Dauer."  unter  diesen  Nebenbedingungen 
spielt  wieder  die  intracranielle  Blutung  die  Hauptrolle.  Es  ist  mir  hiernach 
gänzlich  unverständlich,  wie  Loeb,  wenn  er  selbst  dieser  Ansicht  ^yav,  auf 
solche  Versuche,   bei  denen  eine  Drehstörung  vorhanden,    also   eine  intracra- 


—     35     — 

der  That  geht  aus  der  Siimme  des  Vorgetragenen  hervor,  dass  diese  Be- 
vorzugung der  operirten  Seite  in  jenen  Fällen,  in  denen  sie  nicht  auf 
einer  anderweitig  nachweisbaren  Sehstörung  oder  auf  unbeabsichtigter 
Abrichtung  u.  dergl.  beruht,  auf  eine  Störung  der  motorischen  Inner- 
vation zurückzuführen  ist.  In  denjenigen  Fällen,  in  denen  vorher  eine 
Drehstörung  vorhanden  war,  lässt  der  Vorgang  sich  ja  ohne  Weiteres 
übersehen;  anfänglich  war  die  Differenz  in  der  Innervation  der  beiden 
Seiten  so  hochgradig,  dass  das  Thier  nicht  im  Stande  war  dauernd  ge- 
radeaus zu  laufen,  sondern  von  Zeit  zu  Zeit  eine  Volte  einschieben 
musste,  mit  der  Zeit  trat  aber  eine  Adaptirung  an  die  vorhandene  In- 
nervationsstörung  insoweit  ein,  dass  das  Thier  nicht  mehr  gezwungen 
war,  den  normalen  Lauf  geradeaus  durch  eine,  sagen  wir  Linksdrehung 
zu  unterbrechen;  gleichwohl  aber  bestand  die  Tendenz  zur  Linksdrehung 
•derart  fort,  dass  alle  Bewegungen  nach  dieser  Seite  mit  grösserer 
Leichtigkeit  von  Statten  gingen.  Die  Bevorzugung  der  linken  Seite  ist 
in  cUesen  Fällen  also,  wenn  man  will,  als  Residuum  der  Drehstörung, 
correcter  ausgedrückt  als  ein  Zeichen  ungleicher  motorischer  Innervation, 
wie  dies  insoweit  auch  Goltz  annimmt,  aufzufassen.  Aber  auch  von 
den  anderen  Fällen,  in  denen  also  eine  Drehstörung  niemals  bestand, 
gilt  das  Gleiche;  denn  auch  in  diesen  Fällen,  insofern  sie  die  moto- 
rische Region  betreffen,  ist  die  motoi-ische  „Arbeitsleistung"  der  contra- 
Jateralen  Seite  herabgesetzt,  nur  dass  diese  Herabsetzung  in  den  Mus- 
keln, welche  den  Kopf  und  die  Wirbelsäule  nach  der  contralateralen 
Seite  drehen,  weniger  ausgesprochen  ist. 

Die  Vorgänge,  die  uns  hier  beschäftigt  haben,  spielen  sich  für  den 
Hund  offenbar  auf  einem  durch  die  Erfahrung  vorbereiteten  Boden  ab. 
Aus  der  ganzen  Situation  merkt  er,  dass  es  nun  für  ihn  etwas  Gutes 
zu  erhaschen  giebt  und  seine  Erwartung  ist  auf's  Höchste  gespannt. 
Sobald  er  an  der  Stelle,  von  der  her  schon  Speise  gekommen  ist,  etwas 
erscheinen  sieht,  so  stürzt  er  darauf  los,  ohne  erst  lange  zu  prüfen,  ob 
es  auch  wirklich  Speise  ist.  Dies  sind  die  beiden  in  erster  Linie  wirk- 
samen Momente.  Sieht  er  nun  auf  einem  Auge  schlechter  und  werden 
ihm  zwei  Gegenstände  vorgehalten,  so  ist  das  Plus  an  Lichtempfindlich- 
keit des  anderen  Auges,  die  grössere  Helligkeit  der  Seite,  sicherlich 
aber  nicht  die  bessere  Apperception  des  Gegenstandes  für  die  Richtung 
seiner  Bewegung  entscheidend.  Wäre  es  anders,  so  würde  er  sich  nicht 
durch  die  leere  Pinzette  der  besser  sehenden  Seite  täuschen  lassen. 

Eine  Abweichuns;  von  diesem  Verhalten  zeigt    nun  der  Loeb'sche 


nielle  Blutung  anzunehmen  war,  überhaupt  etwas,  geschweige  denn  „alles  um- 
iassende  Gesetze"  aufbauen  konnte. 

3* 


—     36     — 

Versuch,  d.  h.  der  Hund  kaun  unter  Umständen  nach  dem  Fleisch 
der  schlechter  sehenden  Seite  aufspringen,  aber  sein  Verhalten  beruht 
dann  keineswegs  auf  dem  an  sich  nicht  bestrittenen  Gesetz,  dass  ein 
bewegter  Gegenstand  ein  stärkerer  Reiz  für  die  Netzhaut  ist  als  ein 
unbewegter  Gegenstand,  sondern  darauf,  dass  Loeb  bei  seinen  Versuchen 
die  Hunde  in  ergötzlicher  Weise  unabsichtlich  auf  die  Drehung  nach 
jener  Seite  abrichtete.  Dies  kann  wohl  nicht  deutlicher  als  durch  jenen 
Versuch  bewiesen  werden,  bei  dem  der  einmal  von  rechts  her  gefütterte 
Hund  nach  einer  dem  rechten  Auge  ruhig  vorgehaltenen  Pinzette  auf- 
sprang, während  ihn  ein  grosses,  vor  dem  linken,  gesunden  Auge  stark 
oscillirendes  Stück  Fleisch  vollständig  kalt  Hess. 

Ein  anderer  Factor  als  die  Sehstörung  in  Combination  mit  der  Ab- 
richtung kann  in  die  Versuche  in  allen  jenen  Fällen  eingeführt  werden^ 
in  welchen  eine  Störung  der  motorischen  Innervation  durch  beabsich- 
tigte oder  unbeabsichtigte  Verletzung  der  motorischen  Region  bedingt 
wird.  Dieser  Factor  führt  zu  dem  gleichen  Resultate  wie  die  Sehstö- 
ruug;  der  Hund  hat  zunächst  also  immer  die  Tendenz  nach  dem  Fleisch 
der  Operationsseite  aufzuspringen.  Dass  das  ursächliche  Moment  hierfür 
aber  in  Wirklichkeit  auf  der  motorischen  Seite  liegt,  wird  einmal  da- 
durch bewiesen,  dass  das  Zeitintervall  regelmässig  ein  grösseres  ist, 
wenn  der  Hund  sich  nach  dem  Fleisch  der  nicht  operirten  Seite  wendet, 
gleichviel,  ob  eine  Sehstörung  vorhanden  ist  oder  fehlt  und  es  wird 
zweitens  dadurch  bewiesen,  dass  das  Vorhandensein  oder  Fehlen  einer 
Sehstörung,  von  dem  man  sich  in  viel  sichererer  Weise  überzeugen  kann, 
an  dem  Erfolge  des  Versuches  nichts  ändert;  der  nicht  abgerichtete 
oder  sonst  beeiuflusste  Hund  springt  eben  unter  allen  Umständen  nach 
dem  Fleisch  der  Operationsseite  auf. 

Wenn  wir  die  Schlussfolgerungen  Loeb 's  und  die  auf  diesen  hoch 
aufgebauten  Theorien  im  Lichte  dieser  Thatsachen  betrachten,  so  er- 
scheint sein  ganzes  Gebäude  wankend  und  hinfällig.  Denn  weim  er 
Wirkungen  von  motorischen  und  von  Sehstörungen  nicht  auseinander- 
zuhalten verstand,  so  beweisen  die  Ergebnisse  seiner  Versuche  schon 
aus  diesem  sehr  einfachen  Grunde  nichts  gegen  die  Lehre  von  der 
Localisation,  geschweige  denn,  dass  sich  darauf  „alles  umfassende  Ge- 
setze" aufbauen  Hessen.  — 


III.    Historisches,  Kritisches  mul  Experimentelles  über  Methoden 
nnd  Theorien  der  (jrosshirnforschnng. 

Inhalt:  Einleitung  S.  37.  1.  Ueber  Operationsmethoden.  Princip  der  Loca- 
lisation  und  Gründe  für  den  Streit  um  dieses  Princip  S.  38.  Seeundäre 
Erweichungen  und  Blutungen  S.  41.  Lähmungsversuche  S.  44.  Die  Metho- 
den von  Goltz  S.  46.  Die  Methoden  von  Loeb  S.  53.  Die  Methoden  von 
Luciani  S.  63.  Die  Methoden  von  Tonnini  S.  67.  IL  Ueber  Unter- 
suchungsmethoden. Die  elektrische  Untersuchung  S.  68.  Die  Unter- 
suchung der  Bewegung  und  Empfindung  S.  75.  Die  Untersuchung  der  Re- 
flexe S.  97.  III.  Theorien.  A.  Theorien  des  corticalen  Sehens  und  der 
corticalen  Sehstörungen  S.  102.  B.  Theorien  der  Gehirnmechanik  S.  111. 
•Munk  S.  112.  Die  italienische  Schule  S.  115.  Goltz  S.  116.  Loeb  S.  127. 
IV.  Schlussbetrachtungen  S.  151. 

Die  Lehre  von  den  Functionen  des  Grosshirus  hat  von  jeher  ein  ganz 
eigenartiges  Schauspiel  geboten.  Gewisse  Thatsachen  stehen  freilich 
unbestritten  da  und  ich  darf  wohl  mit  Genugthuung  sagen,  dass  es  vor- 
nehmlich diejenigen  sind,  die  ich  zuerst,  zum  Theil  im  Verein  mit 
Fritsch,  veröffentlicht  habe.  Aber  schon  bei  der  Deutung  dieser  allge- 
mein anerkannten  Thatsachen  gingen  die  Meinungen  von  jeher  so  weit  wie 
möglich  auseinander  und  sie  divergiren  auch  jetzt  noch  recht  erheblich. 

Verlässt  man  jedoch  dieses  immerhin  ziemlich  eng  umschriebene 
Gebiet,  so  begegnet  man  einer  sich  immer  mehr  vergrössernden  Zahl 
von  rein  thatsächlichen  Angaben,  deren  Richtigkeit  von  einer  Anzahl 
von  Forschern  ebenso  bestimmt  behauptet,  wie  von  anderen  bestritten 
wird.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  auf  diese  Weise  erst  recht  der 
Boden  für  grundverschiedene  Theorien  geschaffen  wurde.  Ganz  gewiss 
mögen  vorgefasste  oder  auf  Grund  einseitiger  Beobachtungen  gewonnene 
psychologische  Ansichten  bei  dieser  Verwerthung  angeblich  objectiver 
Befunde  eine  grosse  Rolle  spielen;  und  man  darf  wohl  mit  Sicherheit 
yoraussagen,    dass  solche  Meinungsverschiedenheiten    auch    dann    nicht 


—     38     — 

gänzlich  verschwinden  würden,  wenn  über  die  Thatsachen  selbst  kein 
Zweifel  bestände.  Indessen  wäre  doch  schon  sehr  viel  gewonnen,  wenn 
mindestens  der  Streit  um  die  Thatsachen  aus  der  Welt  geschafft  würde; 
denn  damit  würde  die  Zerfahrenheit  und  Unsicherheit,  welche  heute 
noch  der  ganzen  Lehre  anhaftet,  ihr  Ende  erreichen. 

Der  Zweck  der  folgenden  Abhandlung  ist  nun  nicht  etwa  eine 
historische  Uebersicht  über  die  augedeuteten  Kämpfe  auf  diesem  Gebiet 
zu  geben;  denn  das  würde  eine  Geschichte  der  gesammten  Grosshirn- 
physiologie, ein  Buch  von  gewaltigem  Umfange  bedeuten.  Vielmehr 
beabsichtige  ich,  an  dieser  Stelle  die  Gründe  für  jene  Kämpfe  um  die 
Thatsachen  und  die  Mittel  zur  Vermeidung  solcher  Kämpfe  darzulegen. 
Die  Auswahl  der  zur  Besprechung  kommenden  Arbeiten  anderer  For- 
scher ist  also  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  getroffen  und  macht  kei- 
nerlei Anspruch  auf  Vollständigkeit. 

I.    Ueber  Operationsmethoden. 

Schon  bei  der  Wahl  der  Operationsmethoden  hat  sich  die  Einwir- 
kung der  beiden  grundsätzlich  verschiedenen  Anschauungen  über  die 
Function  der  Hirnrinde  geltend  gemacht.  Mich  selbst  hatte  die  Mög- 
lichkeit, bestimmte  elektrische  Reizeffecte  auf  ganz  eng  umschriebene 
Stellen  der  Hirnoberfläche  localisiren  zu  können,  mit  Nothw?endigkeit 
dazu  gedrängt,  parallele  d.  h.  solche  Lähmungsversuche  vorzunehmen 
und  für  die  zunächst  anizustellenden  Versuche  zu  empfehlen,  bei  denen 
der  Eingriff  annähernd  ebenso  umschrieben  war,  wie  der  Reiz 
bei  dem  elektrischen  Reizversuch.  Umgekehrt  hat  Goltz  mit 
seiner  Schule  seine  Aufgabe  in  der  Ausschaltung  grosser,  um  nicht  zu 
sagen,  möglichst  grosser  Hirnpartien  gesucht. 

Ich  habe  den  Werth  von  grossen  und  grössten  Exstirpationen  für 
das  Studium  der  Hirnphysiologie  stets  und  in  vollem  Umfange  aner- 
kannt. Aber  einmal  ist  es  doch  eine  allgemein  gültige  Regel,  dass 
jeder  Forscher,  welcher  die  Versuche  seiner  Vorgänger  wiederholt  und 
controlirt,  sich  genau  an  das  von  diesen  angegebene  Verfahren  hält 
Und  dann  liegt  es  auf  der  Hand,  da«s  die  Lehre  von  der  Hirnlocalisa- 
tion  nur  dann  wirksam  vertheidigt  oder  angegriffen  werden  kann,  wenn 
der  einzelne  Versuch  so  angestellt  wird,  dass  er  eben  nur,  soweit  dies 
überhaupt  möglich  ist,  locale  Wirkungen  hervorbringt. 

Wir  werden  uns  später  mit  gewissen  Theorien  über  die  physiolo- 
gische Bedeutung  einzelner  Rindencentren  zu  beschäftigen  haben.  So 
verschieden    diese  Theorien    aber    nun  auch  sein  mögen,    so  sind  doch 


—     39     - 

die  anfänglichen  Gegner  der  Localisationslehre  im  l^Miife  der  verflosse- 
nen Decenuien  zu  dem  Zugeständniss  gezwmigen  worden,  dass  die 
einzelnen  Areale  der  Grosshirnrinde  sich  anatomisch  und 
functioncll  dadurch  unterscheiden,  dass  sich  in  ein  jedes 
dieser  Gebiete  Projectionssysteme  verschiedener  Dignität 
einsenken  und  dass  die  Angriffe  auf  diese  Areale  im  Gross- 
hirn auch  entsprechende  Resultate  verschiedener  Dignität 
im  Grossen  ergeben.  So  widerwillig  dieses  Geständniss  auch  ge- 
gemacht sein  mag,  so  hartnäckig  auch  die  hieraus  gezogene  Schlussfol- 
gerung, dass  dadurch  der  Begriff  von  Centren  begründet  sei,  bestritten 
wird,  das  thatsächliche  Zugeständniss  ist  vorhanden  und  bleibt  bestehen, 
es  bildet  die  nächste,  weil  nicht  mehr  bestrittene  Grundlage  für  unsere 
operativen  Postulate  und  auch  unsere  Gegner  werden  aus  diesem  Grunde 
gezwiuigen  sein,  damit  zu  rechnen. 

Betrachtet  man  nämlich  das  Gehirn  des  Hundes,  der  Katze  und  ähn- 
licher Thiere  und  sieht  mau  zunächst  von  allen  Theorien  über  die  Function 
der  grauen  Hirnrinde  ab,  so  ergeben  elektrische  Reizversuche  überall  und 
Lähraungsversuche  wenigstens  an  einer  gewissen  Zahl  von  Stellen  überein- 
stimmend, dassinder  von  mir  sogenannten  motorischen  Region  solcheProjec- 
tionssysteme  verschiedener  Dignität  in  der  allernächsten  Nach- 
barschaft bei  einander  liegen.  Es  gelingt  bei  galvanischer  Reizung  xmd 
einiger  Geschicklichkeit  zwar  leicht,  die  Reizeffecte  der  einzelnen  Mus- 
keln der  Extremitäten  und  des  Stammes  vom  Gyrus  sigmoides  aus  iso^ 
lirt  zur  Anschauung  zu  bringen  und  noch  leichter  ist  es,  die  Reizeffecte 
der  einzelnen  Aggregate  des  Facialis  und  diejenigen  der  Zungen-  und 
Kiefermuskeln  zu  localisireu.  Ganz  anders  gestalten  sich  die  Dinge 
aber,  sobald  man  die  nothwendigen  Cautelen  ausser  Acht  lässt  oder  zu 
Lähmungsversuchen  übergeht.  Allerdings  habe  ich  vor  vielen  Jahren 
mitgetheilt,  dass  es  unter  besonderen  Bedingungen  gelingt,  eine  isolirte 
Innervationsstörung  einer  Vorderextremität  ohne  Mitbetheiligung  der 
gleichnamigen  Hinterextremität  zu  erzeugen.  Bei  dem  gewöhn- 
lichen Operationsverfahren  gelingt  dies  aber  selbst  bei  Anwendung  der 
grössten  Vorsicht  nicht.  Bohrt  oder  meisselt  man  ein  Loch  in  den 
Schädel,  sei  es  nun  an  dem  medialen,  sei  es  an  dem  lateralen  Rande 
des  motorischen  Theiles  des  Gyrus  sigmoides  und  verletzt  man  dann  die 
Hirnrinde,  so  wird  man  immer  neben  der  Innervationsstörung  der  einen 
Pfote  eine  solche  auch  der  anderen  Pfote  mit  in  den  Kauf  nehmen 
müssen.  Etwas  Aehnliches  kann  man  erleben,  wenn  man  die  zur  Inner- 
vation der  einzelnen  Aggregate  des  Facialis  in  Beziehung  stehenden 
Gebiete  angreift,  aber  man  kann  das,  wie  wir  in  einer  späteren  Ab- 
handlung noch  erörtern  werden,  vermeiden. 


—     40     — 

Sicherlich  sind  die  Gründe  für  das  Erscheinen  complicirter  ünter- 
suchungsergebnisse  nicht  überall  die  gleichen.  Ich  sehe  hier  natür- 
lich voa  allen  nicht  reinen  Versuchen  ab.  Indessen  liegen  doch 
schon  für  die  reinen  innerhalb  des  Gyrus  sigmoides  und  für  die 
ausserhalb  desselben  vorgenommenen  Operationen  die  Dinge  ver- 
schieden. Allem  Anscheine  nach  ist  die  Innervation  der  Extremitäten 
im  hinteren  Schenkel  dieses  Gyrus  anatomisch  derartig  miteinander  com- 
binirt,  dass  ihre  isoürte  Schädigung  schon  aus  diesem  Grunde  nicht 
möglich,  oder  doch  nur  unter  besonderen  Bedingungen  möglich  ist. 

Die  Existenz  von  solchen  anatomischen  Verknüpfungen  wird 
auch  durch  die  Resultate  von  Reizversuchen  wahrscheinlich  gemacht. 
Ichi)  habe  bereits  im  Jahre  1873  nachgewiesen,  dass  es  im  hinteren 
Schenkel  des  Gyrus  sigmoides  eine  Stelle  giebt,  von  der  aus  die  gleich- 
zeitige Innervation  der  beiden  contralateralen  Extremitäten  möglich  ist 
und  dass  es  ausserdem  noch  eine  grössere  Anzahl  von  anderen,  vor- 
nehmlich in  der  Tiefe  gelegenen  Punkten  giebt,  deren  Reizung  zur  Her- 
vorbringung von  combinirten  Muskelactionen  anderer  Art  führt. 

Eine  andere  -  wichtige  Rolle  spielen  aber  die  Verhältnisse  der 
Nachbarschaft  in  Verbindung  mit  der  Wundheilung  und  kleinen  un- 
beabsichtigten Verschiedenheiten  der  Operation  selbst.  Ich  habe  auch 
diese  Thatsachen  bereits  im  Jahre  1874  in  einer  ziemlich  unbeachtet 
gebliebenen  Abhandlung^)  ausführlich  erörtert.  In  einer  Versuchsreihe, 
die  den  eigentlichen  Stirnlappen  und  den  unerregbaren  Theil  des  vor- 
deren Schenkels  des  Gyrus  sigmoides  betraf,  zeigte  sich,  dass  Bewe- 
gungsstörungen an  den  Extremitäten  nur  unter  gewissen,  keineswegs 
immer  von  dem  Willen  des  Experimentators  abhängigen  Bedingungen 
eintraten.  Bei  annähernd  gleichen  Eingriffen  in  die  genannten  Regionen 
verlief  der  Versuch  das  eine  Mal  reactionslos,  während  das  andere  Mal 
mehr  oder  minder  erheb  liehe  Störungen  eintraten,  je  nachdem  sich  benach- 
barte Theile  des  hinteren  Schenkels  mehr  oder  minder  stark  in  die  Hirn- 
oder Schädelwunde  drängten,  je  nachdem  ein  Theil  dieses  Schenkels  mit 
freigelegt  war  oder  anderweitige  Traumen  auf  die  Hirnwunde  einwirkten. 

Es  geht  hieraus  schon  ohne  weiteres  hervor,  dass  die  Beschrän- 
kung operativer  Eingriffe  unter  sonst  gleichen  Umständen  sich  um  so 
schwieriger  gestaltet,' je  kleiner  das  Gehirn  ist  und  je  näher  seine  ein- 
zelnen Innervationsgebiete  bei  einander  liegen.  Ein  Blick  auf  eine  der 
bezüglichen  Abbildungen  meines  Buches  „Untersuchungen  über  das  Ge- 

1)  E.  Hitzig,  Untersuchungen  über  das  Gehirn.    S.  48—49. 

2)  E.  Hitzig,  Untersuchungen  über  das  Gehirn.  Neue  Folge.  II.  Lcäh- 
mungsversuche  am  Grosshirn.  Reichert's  u.  du  Bois-Reymond's  Archiv 
1874.   Heft  4. 


—     41     — 

hirn"  lehrt,  dass  isolirte  Ausschaltungen  der  motorischen  Centren  für 
die  einzelnen  Extremitäten  durch  Exstirpationen  innerhalb  des  motori- 
schen Theiles  des  Gyrus  sigmoides  selbst  unmöglich  sind. 

Das  Gehirn  des  Affen  bietet  nach  dieser  Richtung  hin  sehr  viel 
günstigere  Verhältnisse  dar  als  dasjenige  des  Hundes,  insofern  die  ein- 
zelnen Centren  sehr  viel  weiter  auseinander  gezogen  und  unter  einem 
viel  geräumigeren  Schädeldach  liegen. 

Wenn  wir  auch  bei  dieser  Betrachtung  von  den  Projectionssystemen 
ausgingen,  so  ist  dabei  doch  die  Rinde  mit  in  den  Kreis  der  Erwägun- 
gen gezogen,  wie  denn  von  einer  isolirten  Schädigung  der  Rinde  und 
des  Markes  bei  den  allgemein  üblichen  Operationsmethoden  nicht  wohl 
die  Rede  sein  kann.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  die  erstere  auch 
unter  den  günstigsten  Bedingungen  niemals  isolirt  verletzt  werden  kann, 
sondern  dass  jeder  Eingriff  eben  auch  jene  in  sie  einstrahlenden  Projec- 
tionsbahnen  schädigen  muss.  Dadurch  gelangt  die  Wirkung  solcher 
Eingriffe  ja  eben  vornehmlich  zur  Anschauung.  Die  gleiche  Vorsicht, 
welche  die  operative  Begrenzung  und  der  Heilungsvorgaug  mit  Bezug 
auf  die  oberflächlichen  Schichten  erfordert,  ist  aber  auch  mit  Bezug 
auf  die  tiefer  liegenden  Bahnen  unerlässlich.  Die  directe  Verletzung 
ebenso  gut  wie  die  sich  daraus  entwickelnden  Folgen  ziehen  nicht  sel- 
ten solche  Bahnen  in  das  Bereich  des  Trauma,  deren  Rindenfelder  nicht 
mit  geschädigt  worden  sind.  Aus  diesen  Gründen  im  Verein  mit  den 
gleich  zu  erwähnenden  Umständen  können  scheinbar  gleiche  Läsionen 
Krankheitsbilder  hervorbringen,  welche  neben  den  nach  Analogie 
früherer  Versuche  erwarteten,  fremde  Züge  erkennen  lassen. 

Bei  weitem  nicht  alle  Experimentatoren  haben  bei  ihren  Versuchen 
über  die  Repräsentation  der  Bewegungen  in  der  motorischen  Region  der 
eigentlich  selbstverständlichen  Forderung,  die  einzelnen  Eingriffe  jedes 
Mal  auf  einen  bestimmten  Gyrus  zu  beschränken,  Rechnung  ge- 
tragen. Wenn  man  aber  irgend  einen  der  in  den  nachstehenden  Ab- 
bildungen wiedergegebenen  Querschnitte  durch  diesen  Theil  des  Gehirns 
in's  Auge  fasst,  so  sieht  man  ohne  weiteres,  dass  sogar  die  Beachtung 
dieser  Forderung  die  Reinheit  des  Versuchs  keineswegs  verbürgt.  Die 
einzelnen  Gyri,  namentlich  auch  ihre  Markstrahlungen  und  deren  Ueber- 
gang  in  den  Fuss  des  Stabkranzes  liegen  so  nahe  bei  einander,  dass 
die  Fortnahme  irgend  eines  Stückes  der  Convexität  fast  mit  Nothwen- 
digkeit  benachbarte  Windungen  in  Mitleidenschaft  ziehen  muss. 

Hierzu  kommt  aber  noch  ein  anderer  Umstand,  der  meines  Wissens 
nicht  beachtet,  oder  doch  nicht  gewürdigt  und  experimentell  verfolgt 
worden  ist,  das  Auftreten  secundärer  Erweichungen  und  Blu- 
tungen.    Ich  führe  deshalb  einige  Fälle  an. 


—     42     — 

Beotoaclitwng"  1.') 
Einem  Hunde  war  mit  dem  Präparatenheber  in  der  2.  Urwindung  nahe 
iiirer  Spitze  eine  oljerflächliche  Untersclnieidung  beigebracht  worden.  Bei  der 
Section  fand  sich  ein  ziemlich  grosser  Ervveichungsherd  an  der  Basis  der  ver- 
letzten Windung,  der  die  Markstrahlung  dieser  Windung  fast  gänzlich,  aber 
auch  die  Strahlungen  aus  den  Nachbarwindungen  zum  Theil  unterbrochen 
haben  musste.    (Fig.  2.) 


M^ 


Fig.  2.  Fig.  3. 

BeobacJhitviixg'  %i. 

Einem  Hunde  war  der  vordere  Theil  der  2.  und  3.  Urwindung  etwas 
tiefer  unterschnitten  worden.  Bei  der  Section  fand  sich,  abgesehen  von  den 
Veränderungen  in  den  verletzten  Windungen  ein  relativ  grosser  Erweichungs- 
herd, der  sich  von  der  Spitze  des  Nucleus  caudatus  quer  durch  den  Fuss  des 
Stabkranzes  bis  fast  an  das  laterale  Rindengrau  erstreckte,  so  dass  neben  der 
Balkenstrahlung  mindestens  noch  die  Strahlung  aus  dem  Gyrns  sigmoides  ver- 
letzt sein  musste.     (Fig.  3.) 

Beobaditviixg-  3. 

Einem  Hunde  wurde  der  vordere  Theil  der  2.  und  3.  Urv\indung  nicht 
ganz  oberflächlich  unterschnitten;    bei  der  Eröffnung  des  Duralsackes  war  ein 

H 


1)  Bei  den  Figuren  2—7  bedeuletO  überall  Operationsstelle  und  H  Herd. 


■        43     — 

stärkeres  Gefäss  der  Pia  verletzt  worden.  Bei  der  Section  fand  sicli  eine  Kette 
von  Weineren  und  grösseren  Erweicliungsherden,  durch  welche  das  ganze 
Markweiss  von  der  ünterschneidungsstelle  an  durch  den  Fuss  des  Stabla-anzes 
in  die  innere  Kapsel  hineinreichend  bis  auf  2  mm  von  der  Spitze  des  Seiten* 
Ventrikels  unterbrochen  wurde.    (Fig.  4.) 

Beolbaclitiing"  4. 

Einem  Hunde  war  eine  Unterschneidung  der  2.  und  3.  Urwindung  in 
ihren  vorderen  Theilen  auf  4—5  mm  Tiefe  beigebracht  worden.  Bei  der  Sec- 
tion fand  sich  ein  kleiner  Erweichungsherd  neben  der  Spitze  des  Nucleus  cau- 
datus  bereits  in  der  inneren  Kapsel.     (Fig.  5). 

BeobacJatiiiiig'  S. 

Einem  Hunde  war  der  vordere  Theil  der  2.  und  3.  Urwindung  theils  un- 
terminirt,  theils  abgetragen  worden.  Der  Hund  starb  am  17.  Tage.  Bei  der 
Section  fand  sich  eine  frische  Blutung  vor,  welche  von  der  Operationsstelle 
bis  in  die  Spitze  des  Seitenventrikels  reichte  und  auf  diesem  Wege  den  Fuss 
des  Stabkranzes  und  den  dorsalen  Theil  der  inneren  Kapsel  zerstört  hatte. 
(Fig.  6  und  7.) 

0 


Fig.  6.  Fig.  7. 

Bei  der  Beobachtung  5  handelte  es  sich  unzweifelhaft  um  eine 
Spätapoplexie,  welche  in  derselben  "Weise  zu  Stande  gekommen  war, 
wie  die  Spätapoplexien  des  Menschen,  also  durch  Usur  eines  durch  eine 
erweichte  Stelle  verlaufenden  Gefässes.  Die  bei  den  anderen  Beobach- 
tungen gefundenen  Erweichungsherde  sind  aller  "Wahrscheinlichkeit  nach 
auf  Gefässverletzungen,  welche  durch  die  Operation  direct  oder  indirect 
bedingt  waren,  zurückzuführen.  Da  die  Gefässe  durch  die  Sulci  in  die 
Tiefe  dringen,  so  wird  sich  deren  thunlichste  Schonung  empfehlen. 
Bei  einzelnen  Beobachtungen  scheint  jedoch  kein  Sulcus  verletzt  gewesen 
zu  sein;  es  wird  sich  dort  also  wohl  um  die  Beleidigung  einer,  sich 
direct  von  der  Convexität  in  die  Hirnmasse  einsenkenden  Arterie  der 
Pia  gehandelt  haben. 

Aus  den  angeführten  Versuchen  geht  hervor,  dass  sich  unbeabsich- 


—     44     — 

tigte  Ausschaltungen  von  Leitungsbahnen  auch  bei  solchen  Versuchen 
finden  können,  welche  dem  äusseren  Anschein  nach  in  jeder  Beziehung 
einwandsfrei  verliefen,  und  bei  denen  zudem  die  Unterschneidnng,  die- 
jenige Operationsmethode  angewendet  worden  war,  welche  am  wenigsten 
zu  unbeabsichtigten  Nebenwirkungen,  namentlich  Verschiebung  und  Vor- 
drängung der  Nachbarregionen  mit  collateraler  Erweichung  führt.  Je 
grösser  der  operative  Eingriff  und  der  Umfang  der  herausgeschnittenen, 
gelöffelten  oder  gebohrten  Hirnmasse  ist,  je  stärker  das  jeder  Methode 
anhaftende  traumatische  Moment  in  die  Erscheinung  tritt,  um  so  grösser  wer- 
den die  Chancen  für  die  Entstehung  der  beschriebenen  Fernewirkungen  sein. 

Es  liegt  aber  auf  der  Hand,  dass  diese  Fernewirkungen  solche  Be- 
dingungen in  den  Versuch  einführen,  welche  mit  der  Function  der  ober- 
flächlich angegriffenen  Stelle  nicht  das  mindeste  zu  thun  zu  haben 
brauchen.  Sitzt  der  Erweichungsherd,  wie  in  dem  einen  der  angeführ- 
ten Versuche  an  der  Basis  der  verletzten  Windung  selbst,  so  mag  er 
anders  geartete  Erscheinungen  als  die  oberflächliche  Verletzung  viel- 
leicht nicht  veranlassen.  Sitzt  er  aber  wie  bei  anderen  Versuchen  im 
Fusse  des  Stabkranzes  oder  in  der  inneren  Kapsel,  oder  zieht  er  an- 
dere Windungen  in  Mitleidenschaft,  so  sind  seine  Folgen  einfach  nicht 
zu  berechnen.  Die  Autopsie  der  Hirnoberfläche  genügt  also  nicht,  son- 
dern sie  muss  sich  auf  Durchschnitte  erstrecken. 

Widersprüche  und  die  scheinbare  Gesetzlosigkeit  in  den 
operativen  Ergebnissen  erklären  sich  für  viele  Fälle  durch 
die  zuletzt  vorgetragenen  Befunde  und  die  vorher  angestell- 
ten Erwägungen.  — 

Bei  Beurtheilung  der  Resultate  der  Lähmungsversuche  ist  man 
meiner  Ansicht  nach  theils  nach  einer,  theils  nach  der  entgegengesetzten 
Richtung  hin  zu  einseitig  vorgegangen.  Einzelne  Forscher  haben  entweder 
ausdrücklich  oder  doch  stillschweigend  alle  nach  solchen  Versuchen 
beobachteten  Symptome  ausschliesslich  auf  das  ausgeschaltete  Rinden- 
feld bezogen,  derart,  dass  sie  meinten,  dass  die  nunmehr  gesetzten  Aus- 
fallssymptome die  normale  Function  der  angegrift'enen  Region  darstell- 
ten. Andere,  in  Deutschland  vornehmlich  Goltz  und  seine  Schüler, 
erblickten  in  diesen  Erscheinungen  ausschliesslich  die  Folgen  von  Hem- 
mungsvorgängen, durch  die  subcorticale  Centren  ausser  Function  ge- 
setzt würden,  so  dass  ihnen  schliesslich  das  gesammte  Grosshirn  oder 
doch  mindestens  dessen  oberflächliche  Schichten  lediglich  die  Bedeutung 
eines  Hemmungsorgans  gewann.  Beide  Schulen  sind  wie  ich  glaube  zu 
weit  gegangen.  Dass  sich  wirklich  Hemmungsprocesse  von  einer  Hirn- 
wunde aus  auf  subcorticale  Centren  ausbreiten  können,  unterliegt  für 
mich  keinem  Zweifel.     Andererseits    aber  erwächst  aus  dem  Nachweise 


—     45     — 

von  solchen  Vorgängen  noch  keineswegs  die  Berechtigung  zu  der  An- 
nahme, dass  nun  alle  im  Gefolge  von  Hirnverletzungen  eintretenden 
Symptome  auf  Hemmungsvorgängen  und  damit  am  letzten  Ende  gar 
nicht  auf  der  Schädigung  der  Function  des  Grosshirns,  sondern  auf 
einer  temporären  Ausserfunctionsetzung  subcorticaler  Centren   beruhten. 

Mit  der  Betrachtung  des  einzelnen  Rindenfeldes  und  der  ihm  sub- 
ordinirten  oder  sonst  zu  ihm  in  Beziehung  stehenden  subcorticalen 
Organe  ist  das  Gebiet,  auf  dem  sich  die  Folgen  einer  experimentellen 
Läsion  geltend  machen  können,  noch  keineswegs  abgegrenzt.  Anato- 
misch ist  die  associative  Verbindung  der  einzelnen  corticalen  Gebiete 
eine  der  am  besten  fundirten  Thatsachen;  psychologisch  erblicken  wir 
in  dem  associativen  Denken  einen  Ausdruck  jener  Thatsachen;  experi- 
mentell-pathologisch haben  wir  bisher  aber  kaum  einige  Anhaltspunkte 
gewonnen,  welche  einen  Schluss  auf  die  Störung  associativer  Vorgänge 
durch  die  Ausschaltung  dieses  oder  jenes  Rindengebietes  gestatteten. 
Nichtsdestoweniger  kann  es  einem  begründeten  Zweifel  kaum  unterlie- 
gen, dass  derartige  Störungen  thatsächlich  bestehen,  wenn  wir  sie  auch 
aus  dem  jedesmal  vorhandenen  Symptomenbild  nicht  herauszuschälen 
vermögen. 

Alles  in  allem  sehen  wir,  dass  schon  ein  kleiner  und  mit  der  wohl- 
bewussten  Absicht  localer  Begrenzung  ausgeführter  Eingriif  in  den  cor- 
ticalen Mechanismus  die  mannigfaltigsten  Beziehungen  zwischen  den  ein- 
zelnen centralen  Apparaten  alteriren  kann. 

Wenn  die  vivisectorische  Untersuchung  des  Gehirns  uns  also  zu 
weiteren  Fortschritten  in  der  Erkenntniss  seiner  Verrichtungen  führen 
soll,  so  wird  man  sich  vor  allen  Dingen  mit  Strenge  an  die  Beobach- 
tung derjenigen  Regeln  halten  müssen,  welche  auf  allen  anderen  Ge- 
bieten der  physiologischen  Forschung  als  selbstverständlich  gelten.  Vor 
allen  Dingen  ist  es  erforderlich,  dass  die  einzelnen  Versuche  in  jeder 
Versuchsreihe  gleichwerthig  sind  und  so  beschrieben  werden,  dass  ein 
Vergleich  mit  fremden  Versuchen  durchführbar  ist.  Es  genügt  also 
nicht,  dass  in  dem  Bericht  gesagt  wird,  es  sei  vorn  oder  hinten,  ober- 
flächlich oder  tief  operirt  worden,  sondern  die  Localität  muss  sowohl 
mit  Bezug  auf  die  angegriffenen  Windungen,  die  Tiefe  des  Eingriffs  und 
anderweitige,  von  ihm  etwa  abhängige,  secundäre  Läsionen  als  auch  mit 
Bezug  auf  das,  was  von  Knochen  und  Dura  entfernt  wurde,  genau  be- 
schrieben werden.  Dann  aber  muss  jeder  einzelne  Versuch  von  dem 
gleichen  Experimentator  unter  gleichen  Versuchsbedingungen  so  oft 
wiederholt  werden,  bis  ein  unzweideutiges  und  constantes  Resultat  zu 
Tage  getreten  ist.  Dies  ist  bei  weitem  weniger  einfach,  als  es  wohl 
erscheinen  mag.    Wenn  schon  alle  physiologischen  Versuche  ihre  Tücken 


—     46     — 

besitzen,  so  gilt  dies  in  ganz  besonderem  Grade  aus  den  angeführten 
Gründen  von  den  corticalen  Lähmungsversuclien.  Und  weil  eben  Paral- 
lelversuche auf  diesem  Gebiete  so  überaus  schwer  ganz  identisch  her- 
z;uste]len  sind,  erwächst  um  so  mehr  die  Pflicht,  jeden  einzelnen  Ver- 
such so  lange  zu  wiederholen,  bis  das  Unwesentliche  als  solches  und 
die  Gesetzmässigkeit  in  der  Folge  der  Erscheinungen  erkannt  ist. 

Der  Missachtung  dieser  Grundsätze  verdanken  wir  die  Eingangs 
erwähnte  Verwirrung  auf  diesem  Gebiete,  eine  Verwirrung,  die  niemals 
hätte  zu  entstehen  brauchen,  wenn  gerade  diejenigen  Experimentatoren, 
welche  sich  am  meisten  mit  der  Erforschung  der  Functionen  des  Gross- 
hirns beschäftigt  haben,  den  von  mir  von  Anfang  an  aufgestellten  For- 
derungen Gehör  geschenkt  hätten. 

Goltz  hat  jenen  Weg,  den  ich  seiner  Zeit  als  einen  Umweg  be- 
zeichnet habe,  zuerst  beschritten  und  gerade  dasjenige  Verfahren,  wel- 
ches ich  von  jeher  und  soeben  als  grundsätzlich  fehlerhaft  charakteri- 
sirt  habe,  als  das  principiell  allein  richtige  erklärt.  Ich  hatte  damals^) 
hervorgehoben,  dass  ein  Einstich  in  die  Rinde  des  Gyrus  sigmoides  aus- 
reiche, um  Bewegungsstörungen  in  den  contralateralen  Extremitäten 
hervorzubringen,  während  verhältnissmässig  grosse  Exstirpationen  anderer 
Stellen  der  Hemisphäre  keinerlei  Störungen  dieser  Art  verursachten. 
Es  wäre  die  Aufgabe  von  Goltz  gewesen,  den  erst  gedachten  Versuch 
zu  wiederholen  und  ihn  in  seinen  thatsächlichen  Ergebnissen  oder  in 
seinen  Schlussfolgerungen  zu  widerlegen.  Dies  hat  er  aber  niemals 
gethan.  Ich  will  zwar  nicht  bezweifeln,  dass  er  genau  die  gleichen 
Versuche  wie  ich  wirklich  angestellt  hat,  ja,  ich  würde  mich  sogar  sehr 
wundern,  wenn  er  es  nicht  gethan  hätte;  aber  er  hat  es  niemals  zu- 
gegeben und  er  hat  niemals  meinen  Versuch  oder  eigene  identische 
Versuche  ernsthaft  discutirt.  Anstatt  dessen  stellt  er  an  einer  Stelle 
seiner  Abhandlung  einen  Vergleich  an,  in  dem  er  eine  Geschichte  von 
einem  juristischen  Examinator  erzählt^). 

Wenn  jemand  dort,  wo  es  sich  um  eine  logische  Auseinandersetzung 
handelt,  anfängt  Geschichten  zu  erzählen  und  Vergleiche  zu  ziehen,  so 
ist  Misstrauen  stets  am  Platze;  Vergleiche  hinken  stets,  diejenigen  von 
Goltz  aber  häufig  auf  zwei  Beinen,  so  angenehm  sie  sich  auch  lesen 
mögen.  Sein  Schluss  kommt  darauf  hinaus,  „es  sei  der  solidere  Weg, 
zunächst  aus  dem  Groben  festzustellen,  ob  grössere  Abschnitte  der  Rin- 


1)  E.  Hitzig,  Untersuchungen  über  das  Gehirn.  Neue  Folge.  IV.  Ueber 
die  Einwände  des  Herrn  Prof.  Goltz  in  Strassburg.  Reichert's  und  du 
Bois-Keymond's  Archiv.   187(5.  Heft  6. 

2)  F.Goltz,  Ueber  die  Verrichtungen  des  Grosshirns.   Bonn  1881,  S.lOl. 


—     47     — 

densubstfinz  des  Grosshirus  abweichende  Function  liabcii  und  erst  später 
zum  Studium  der  Einzelheiten  überzugehen".  Dass  der  analytische  Weg 
immer  der  bessere  oder  solidere  sei,  kann  ich  nicht  zugeben,  ja  ich 
möchte  glauben,  dass  die  Physiologie  im  Allgemeinen  auf  dem  Wege 
der  Synthese  noch  besser  davon  gekommen  ist;  aber  an  und  für  sich 
will  ich  weder  der  einen,  noch  der  anderen  Methode  ihre  Berechtigung 
bestreiten.  Es  wird  immer  nur  darauf  ankommen,  wie  der  Einzelfall 
denn  eigentlich  beschaffen  ist  und  welchen  Zweck  man  verfolgt.  Un- 
zweifelhaft hat  Goltz  mit  seiner  Methode  die  interessantesten  Resultate 
erzielt  und  uns  zu  ganz  neuen  Einblicken  in  die  Functionen  des  Ge- 
hirns der  Säuger  verhelfen.  Nur  haben  diese  Resultate  gerade  zur  Auf- 
klärung über  die  Localisation  der  Functionen  in  der  Hirnrinde  direct 
nichts  beigetragen  und  sie  konnten  dies  nicht  aus  den  im  Vorstehenden 
dargelegten  Gründen.  Ja  noch  mehr;  selbst  dort,  wo  sie  zu  thatsäch- 
licli  richtigen  Schlüssen  führten,  verloren  sie  deshalb  ihre  Beweiskraft, 
weil  auch  der  unbefangenste  Beurtheiler  durch  die  Gleichgültigkeit,  mit 
der  Goltz  von  Anfang  an  den  Umfang  der  von  ihm  angerichteten  Zer- 
störungen und  die  Fernewirkungen  der  von  ihm  angewandten  Methoden 
betrachtete,  mit  Misstrauen  erfüllt  werden  musste. 

Es  ist  auch  heute  noch  nicht  ohne  Interesse,  ja  es  erscheint  mir 
sogar  wegen  der  Stellungnahme  einzelner  hervorragender  Autoren  uner- 
lässlich,  die  Schlüsse  gegenüber  zu  stellen,  welche  Goltz  zu  den  ver- 
schiedenen Perioden  seiner  experimentellen  Thätigkeit  auf  diesem  Ge- 
biete aus  seinen  Versuchen  gezogen  hat;  und  zwar  will  ich  diesmal  mit 
einem  Citat  aus  einer  späteren,  der  fünften  Abhandlung  aus  dem  Jahre 
1884  beginnen.     Es  lieisst  da  einleitend: 

„Mit  höchstem  Befi'emden  lese  ich  bei  verschiedenen  Schriftstellern 
die  Bemerkung,  ich  hätte  behauptet,  dass  die  Gehirnsubstanz  über- 
all gleichwerthig  ist.  Eine  auch  nur  oberflächliche  Bekanntschaft 
mit  meinen  älteren  und  neueren  Arbeiten  hätte  genügt,  um  zu  wissen, 
dass  ich  niemals  in  positiver  Weise  einen  solchen  Ausspruch  gethan 
habe."  Aus  den  Schlussbemerkungen  zu  dieser  Abhandlung  hebe  ich 
Folgendes  hervor:  „Der  vorn  operirte  Hund  bewahrt  an  allen  Punkten 
seines  Körpers  Empfindung  —  —  —  er  tastet  dagegen  schlecht.  Er 
tritt  mit  den  Füssen  in's  Leere." 

„Er  vermag  alle  seine  Muskeln  willkürlich  zu  bewegen,  allein  seine 
Bewegungen  sind  plump  und  unbeholfen."  —   —  — 

„Seine  Siuneswahrnehmungen    sind    nicht  hochgradig  geschwächt." 

„Der  hinten  operirte  Hund  hat  ungestörte  Tastempfindung  und 
scheint  auch  gut  zu  tasten.     Er  tritt  nicht  in's  Leere." 

„Er  vermag  nicht  bloss  alle  Muskeln  seines  Körpers  willkürlich  zu 


—     48     — 

bewegen,  sondern  diese  Bewegungen  erfolgen  auch  annähernd  mit  dem- 
selben Geschick,  wie  bei  normalen  Thieren."  —  —  — 

„Er  leidet  an  einer  hochgradigen  allgemeinen  Wahrnehmmigs- 
schwäche." 

„Es  kann  nach  alledem,  was  ich  geschildert  habe,  nicht  mehr  dem 
geringsten  Zweifel  unterliegen,  dass  ein  Hund,  welcher  die  Hinterhaupts- 
lappen verloren  hat,  sich  in  höchst  wesentlichen  Punkten  von  einem 
solchen  dauernd  unterscheidet,  der  einen  grossen  Theil  des  Vorderhirns 
eingebüsst  hat.  Die  Lappen  des  Grosshirns  haben  demnach 
sicher  nicht  dieselbe  B^edeutung." 

Ich  habe  hier  nur  die  Schlüsse,  welche  Goltz  mit  Bezug  auf  die 
Bewegungen  und  Sinnes  Wahrnehmungen  zieht,  wiedergegeben  und  von 
denjenigen  abgesehen,  welche  an  dieser  Stelle  von  principieller  Wich- 
tigkeit nicht  sind.  Immerhin  aber  ist  es  bezeichnend  für  die  Befangen- 
heit, mit  der  ein  Forscher  von  dem  Range  Goltz'  —  und  nicht  er 
allein  war  es  —  den  Dingen  gegenüber  tritt,  wenn  er  mit  Bezug  auf 
diese  seine  Feststellungen  und  Schlüsse  sagen  konnte:  „Ich  habe  eine 
Reihe  von  neuen  Thatsachen  beigebracht,  die  ich  als  die  ersten  Bau- 
steine einer  Lehre  von  den  Functionen  der  Hirnrinde  bezeichnen  durfte." 
Hier  will  er  also  als  der  Begründer  der  Lehre  von  der  Localisation 
erscheinen,  einer  Lehre,  welche  er  bis  dahin,  ungeachtet  dessen,  was  er 
in  jenen  einleitenden  Worten  sagt,  auf  das  erbittertste  bekämpft  hatte. 

Denn  vergleichen  wir  damit  die  aus  seinen  früheren  Untersuchungen 
gezogenen  Schlüsse!  In  seiner  ersten  Abhandlung  Mai  1876^)  sagt  er: 
„Unvereinbar  mit  Hi tz ig' s  Auffassung' scheint  mir  ferner  die  Thatsache, 
dass  das  Ergebniss  der  einzelnen  Acte  der  Hirndurchspülung  einander 
so  überaus  ähnlich  war.  Mochten  nun  die  Trepanlöcher  vorn  oder  hin- 
ten angebracht  sein,  wenn  nur  eine  erhebliche  Masse. Hirn,  d.  h.  einige 
Gramm  herausgespült  wurde,  so  war  der  Gang  der  Störungen  genau 
derselbe.  Thiere,  bei  welchen  die  Verletzung,  wie  die  Section  ergab, 
allein  auf  den  Hinterlappen,  also  die  uuerregbare  Zone,  beschränkt  war, 
zeigten  genau  dieselben  Erscheinungen  wie  solche,  bei  denen  sie  weit 
vom  im  vordersten  Abschnitt  der  erregbaren  Zone  stattgefunden  hatte." 

Hier  ist  also  mit  dürren  Worten  gesagt,  dass  die  Lappen  des  Gross- 
hirns dieselbe  Bedeutung  haben,  während  wir  soeben  hörten,  dass  sie 
sicher  nicht  dieselbe  Bedeutung  haben. 

Genau  der  gleiche  Sinn  wohnt  den  folgenden  Aeusseruugen  der  zwei- 
ten Abhandlung  vom  December  18762)  ^gi^ 


1)  P.  Goltz,  lieber  die  Verrichtungen  des  Grosshirns.   Bonn  1881.  S.  38. 

2)  F.  Goltz,  üeber  die  Verrichtungen  des  Grosshirns.   S.  71. 


—     49     — 

„In  der  vorangehenden  Darstellung  meiner  Versuche  habe  ich  es 
unterlassen ,  genaue  Angaben  über  die  Grösse  der  Zerstöi-ungon  zu 
machen,  die  ich  angerichtet  hatte.  Dies  ist  deshalb  geschehen,  weil 
ich  mich  bisher  nicht  habe  davon  überzeugen  können,  dass  die  Erschei- 
nungen sich  wesentlich  geändert  hätten,  wenn  in  dem  einen  Fall  diese 
oder  jene  Windung  geschont  wurde,  die  in  dem  anderen  Fall  heraus- 
gespült war.  Die  Abweichung  der  einzelnen  Fälle  von  einander  war  nur 
eine  quantitative  und  zwar  waren  die  Störungen  um  so  hochgradiger, 
je  ausgedehnter  die  Verletzung  war."  - — 

„Die  Verwüstungen,  die  durch  Ausspülung  angerichtet  wurden,  be- 
trafen sowohl  die  erregbare,  wäe  die  unerregbare  Zone  Hitzig's."  — 

„Ich  wende  mich  jetzt  zu  der  Frage,  ob  etwa  die  Ergebnisse  meiner 
Versuche  geeignet  sind,  derjenigen  Hypothese  als  Stütze  zu  dienen,  nach 
welcher  die  einzelnen  Abschnitte  der  grauen  Rinde  verschiedenen  Ver- 
richtungen dienen  sollten.  So  weit  bis  jetzt  meine  Erfahrungen  reichen, 
kann  ich  mich  nicht  davon  überzeugen,  dass  die  Folgen  von  Verletzun- 
gen innerhalb  des  von  mir  in  Angriff  genommenen  Gebietes  je  nach 
der  Begrenzung  des  Substanzverlustes  wesentliche  Abweichungen  dar- 
geboten hätten.  Die  Erscheinungen,  welche  ich  au  meinen  Hunden 
beobachtet  habe,  waren  nur  dem  Grade  nach  verschieden,  obwohl  die 
Verletzung  bei  jedem  gewisse  räumliche  Eigenthümlichkeiten  zeigte." 

Während  bisher  also  mit  aller  Entschiedenheit  die  Lehre  verfochten 
wurde,  dass  die  auf  den  Eingriff  in  das  Gehirn  folgenden  Krankheits- 
erscheinungen nicht  von  dem  Orte,  sondern  nur  von  der  Grösse  des 
Eingriffs  abhängig  seien,  dass  also  von  einer  Localisation  im  Grosshirn 
nicht  die  Rede  sei,  vielmehr  die  einzelnen  Abschnitte  der  Grosshirnrinde 
gleichwerthig  seien,  beginnt  Goltz  in  seiner  dritten  Abhandlung  (Juni 
18791)  einzulenken.  Er  sagt  hier:  „Es  ist  nicht  ausgemacht,  ob  jedes 
Stück  der  Hirnrinde  gleichwerthig  ist.  Die  Thiere  mit  Zerstörung  bei- 
der Scheitellappen  zeigen,  wie  aus  meinen  bisherigen  Versuchen  her- 
vorzugehen scheint,  dauernd  stumpfere  Empfindung  als  solche,  welche 
den  gleichen  Verlust  an  den  Hinterhauptslappen  erlitten  haben.  Da- 
gegen scheint  die  Verletzung  der  Hinterhauptslappen  eine  tiefere, 
dauernde  Sehstörung  zur  Folge  zu  haben." 

Indessen  folgt  darauf  ein  Satz,  aus  dem  hervorgeht,  wie  schwer 
sich  Goltz  von  seinen  alten  Anschauungen  losmachen  konnte.  „So 
habe  ich  also  aus  meinen  Versuchen  die  üeberzeugung  gewonnen,  dass 
jeder  Abschnitt  der  Rindensubstanz  des  Grosshirns  sich  an  den  Func- 
tionen betheiligt,    aus  welchen  wir   auf  Wollen,  Empfinden,  Vorstellen 


1)  S.  114. 

Hitzig,  Gesammelte  Abliandl.     II.  Theil. 


—     50     — 

iiDd  Denken  scliliessen.  Jeder  Abschnitt  ist  unabhängig  von 
den  übrigen,  mit  allen  willkürlichen  Muskeln  durch  Leitun- 
gen verknüpft  und  steht  andrerseits  in  Verbindung  mit  allen 
sensiblen  Nerven  des  Körpers." 

Das  heisst  doch  mit  kürzeren  Worten  ausgedrückt,  dass  jeder  Ab- 
schnitt der  Rindensubstanz  des  Grosshirns  gleich werthig  mit  jedem  an- 
deren Abschnitt  sei. 

In  der  vierten  Abhandlung  (September  1881)  vergleicht  Goltz 
weniger  die  Functionen  der  einzelnen  Hirnlappen  mit  einander.  Er  be- 
schränkt sich  vielmehr  auf  die  Besprechung  der  Frage  nach  der  Exi- 
stenz eines  umschriebeneu  Sehcentrums  und  schliesst  in  dieser  Be- 
Äiehungi):  „Indem  ich  also  auch  auf  Grund  meiner  neueren  Erfahrungen 
■einen  grösseren  Einfluss  des  Hinterhirns  auf  das  Sehen  für  festgestellt 
■erachte,  kommt  es  mir  dabei  nicht  in  den  Sinn,  etwa  eine  begrenzte 
Sehsphäre  zuzugeben,  wie  sie  Ferrier,  Munk  und  Luciani  construirt 
haben." 

Die  Gründe,  wegen  deren  Goltz  ein  umschriebenes  Sehcentrum 
leugnet,  interessiren  uns  an  dieser  Stelle  nicht;  wir  stehen  ihnen  an 
dieser  Stelle  ganz  objectiv  gegenüber,  um  sie  in  einer  anderen  Abhand- 
lung eingehend  zu  discutiren. 

In  einer  sechsten  Abhandlung 2)  nimmt  Goltz  dann  im  Wesentlichen 
den  gleichen  Standpunkt  ein,  den  wir  bereits  im  Vorstehenden  aus  der 
fünften  Abhandlung  kennen  gelernt  haben.  Indessen  haben  wir  doch 
•einige  seiner  hier  gemachten  Bemerkungen  anzuführen.  Zunächst  wird 
hier  zugestanden,  dass  Hunde  mit  doppelseitiger  tiefer  Zerstörung  der 
Vorderlappen  dauernd  die  Fähigkeit  verlieren,  die  Pfoten  als  Hände 
2U  gebrauchen  (z.  B.  S.  4-47)  und  ferner  kommt  Goltz  hier  wiederholt 
auf  seine  Entdeckung,  der  er  besonderes  Gewicht  beilegt,  zurüclc,  dass 
solche  Hunde  erhebliche  Fressstörungen  zeigen  (S.  442).  Ich  will  an 
dieser  Stelle  nicht  auf  seine,  gegen  meine  Erklärung  dieser  Thatsacheu 
gerichtete  Polemik,  welche  er  selbst  meiner  Ansicht  nach  durch  seine 
■eigenen  neueren  Befunde  entkräftet,  eingehen  —  vielleicht  geschieht 
dies  an  einer  anderen  Stelle,  —  hier  interessirt  nur  seine  Angabe,  dass 
solche  Störungen  bei  gleichen  symmetrischen  Verletzungen  der  Hinter- 
lappen fehlen.  Sodann  bleibt  der  Vollständigkeit  halber  seine  Angabe, 
dass  Hunde  mit  grossen  symmetrischen  Verletzungen  der  Hinterhaupts- 
lappen auf  einen  kalten  Luftstrom,    der    ihre  Extremitäten  trifl't,    nicht 


1)  F.  Goltz,  Ueber  die  Verrichtungen  des  Grosshirns,  s.  S.  169. 

2)  F.  Goltz,    Ueber  die   Verrichtungen    des    Grosshirns.      Pflüger' s 
Archiv  Bd.  42.  S.  419.    1888. 


—     51     — 

reagiren  (S.  457  und  462),  deshalb  anzuführen,  weil  Goltz  damit  seine 
frühere  Angabe,  dass  der  Tastsinn  solcher  Hunde  ungeschädigt  sei,  ein- 
schränken will.  Indessen  will  es  mir  viehuehr  scheinen,  als  ob  diese 
Stumpfheit  der  Reaction  ausreichend  durch  den  tiefen  Blödsinn  erklärt 
würde,  welchen  Goltz  diesen  Versuch sobjecten  zuschreibt  und  durch 
zahlreiche  Beweise  erhärtet.  Andererseits  giebt  er  zu,  dass  Hunde  mit 
grossen  symmetrischen  Verstümmelungen  der  Hinterlappen,  die  B'ähig- 
keit,  die  Pfoten  zu  geben,  nicht  zu  verlieren  brauchen. 

Alles  in  allem  geht  aus  den  angeführten  Stellen  unwiderleglich 
hervor,  dass  Goltz  ungeachtet  seiner  Proteste  seine  ursprüngliche  Be- 
hauptung, dass  Hunde  mit  verstümmelten  Vorderlappen  sich  in  nichts 
von  Hunden  mit  verstümmelten  Hinterlappen  unterschieden ,  allmählig 
dahin  berichtigt  hat,  dass  sehr  wesentliche  Unterschiede  zwischen  der 
einen  und  der  anderen  Gruppe  von  Thieren  bestehen.  Fragen  wir  nach 
den  Gründen  dieser  Sinnesänderung,  so  ergeben  sie  sich  ohne  weiteres 
aus  der  Verschiedenheit  der  bei  den  einzelnen  Versuchsreihen  angewen- 
deten Operationsmethoden  und  dies  ist  einer,  von  denjenigen  Gründen, 
die  mich  zu  näherer  Betrachtung  dieser  Untersuchungen  veranlasst  haben. 

Die  Angaben  von  Goltz  über  sein  Verfahren  bei  den  einzelnen 
Operationen,  über  dasjenige,  was  dabei  zerstört  wurde  und  namentlich 
über  den  Heilungsvorgang  sind  ziemlich  summarisch.  Gleichwohl  lassen 
sich  doch  mit  Bezug  auf  einen  Punkt  sichere  Schlüsse  aus  seinen  spär- 
lichen Angaben  ziehen.  Diesen  zufolge  hat  er  bei  den,  in  den  beiden 
ersten  Abhandlungen  beschriebenen  Versuchen  zwei  Trepanlöcher  auf 
dem  Plauum  semicirculare  angelegt  und  durch  diese  vermittelst  einer 
Druckpumpe  die  dazwischen  liegende  Hirnmasse  herausgespült.  In  spä- 
teren Operationen  wurden  dann  noch  mehr  Trepanlöcher  zur  Einleitung 
des  gleichen  Verfahrens  gebohrt. 

Schon  bei  der  erstgedachten  Operation  ist  es  unmöglich,  den 
directen  Eingriff  auf  den  Vorder-  oder  Hinterlappen  des  Gehirns  zu  be- 
schränken. Ausserdem  greift  die  directe  Zerstörung  erheblich  in  die 
Tiefe.  Endlich  aber  entstehen  bei  der  Durchspülung  des  Gehirns  über 
haupt,  wie  von  Goltz  selbst  angeführt  und  wie  von  mir  und  vielen 
anderen  bemängelt  worden  ist,  Erscheinungen  von  Hirndruck.  Wenn 
also  nicht  nur  in  jedem  dieser  Versuche  sowohl  die  Vorder-  wie  die 
Hinterlappen  angegriffen  wurden,  wenn  ausserdem  sowohl  ihre  Asso- 
ciations-  wie  ihre  Projectionssysteme  geschädigt  wurden  und  wenn  end- 
lich Allgemeinerscheinungen  zu  Tage  traten,  so  war  es  eben  von  vorn 
herein  unmöglich,  dass  die  Versuchsobjecte  nachher  solche  Erscheinungen 
zeigten,  welche  für  die  Läsion  eines  bestimmten  Lappens  charakteristisch 
sind.     Ganz  gleichgültig  ist  es  dabei,  worauf  Goltz  sich  stützt,  ob  bei 

4* 


—     52     — 

den  A^erschiedenen  Versuchen  das  eine  Mal  diese,  das  andere  Mal  jene 
Windung  mehr  oder  weniger  beschädigt  war.  Der  Schliiss  von  Goltz, 
dass  er  keinen  Unterschied  zwischen  den  Resultaten  seiner  einzelneu 
Operationen  habe  entdecken  können,  folgt  daher  mit  Nothwendigkeit  aus 
der  Art  dieser  Operationen;  aber  es  kann  nicht  die  Rede  davon  sein, 
dass  sie  auch  nur  das  geringste  gegen  die  Lehre  von  der  Localisation 
bewiesen,  gleichviel  ob  diese  in  einem  meinen  eigenen  Anschauungen 
entsprechenden  oder  weit  über  diese  hinausgehenden  oder  in  seinem 
eigenen  Sinn  formulirt  wird. 

Wenn  ich  im  Vorstehenden  ausgeführt  habe,  wie  Goltz  in  seiner 
dritten  Abhandlung  derart  einzulenken  beginnt,  dass  er  den  Zerstörungen 
der  motorischen  Region  einen  grösseren  Einfliiss  auf  die  Empfindung 
imd  den  Zerstörungen  des  Hinterhauptlappens  einen  grösseren  Einfluss 
auf  das  Sehvermögen  zuerkennt,  so  erklärt  sich  auch  dies  in  der  ein- 
fachsten Weise  aus  der  bei  den  diesmaligen  Versuchen  angewendeten 
Methode.  Zwar  spülte  er  auch  diesmal  die  oberflächlichen  Schichten 
der  Mantelsubstanz  mit  der  Druckpumpe  heraus  und  musste  folglich  die 
diesem  wenig  zarten  Verfahren  an  sich  anhaftenden  Mängel  mit  in  den 
Kauf  nehmen,  indessen  gelang  ihm  eine  relative  Begrenzung  der  Wir- 
kungen des  Eingriffs  doch  dadurch,  dass  er  lummehr  grössere  Flächen 
vollkommen  freilegte  und  nur  die  freigelegten  Theile  fortspülte.  Wäh- 
rend also  bei  den  früheren  Operationen  eine  Schädigung  weit  auseinan- 
der liegender  Regionen  der  Hemisphäre  unvermeidlich  war,  war  bei 
der  jetzt  angewendeten  Methode  die  Möglichkeit  der  Begrenzung  des 
Eingriffs,  wenn  auch  nicht  auf  die  Rinde  und  deren  unmittelbare  Nach- 
barschaft, so  doch  wohl  auf  die  voi'deren  bezw.  hinteren  Abschnitte  der 
Hemisphäre  gegeben. 

Bei  den,  seinen  drei  letzten  Abhandlungen  zu  Grunde  gelegten 
Versuchen  hat  Goltz  sich  endlich  theils  der  Bohrmaschine  mit  ver- 
schiedenen Ansatzstücken,  namentlich  des  sogenannten  Scheerenboh- 
rers,  theils  des  Messers  bedient.  Gleichzeitig  giebt  er  jetzt  die  früher 
von  ihm  stets  geleugneten  Mängel  der  Hirndurchspülung  selbst  zu 
(a.  a.  0.  S.  130).  Es  ist  entschieden  unrichtig,  wenn  er  hier  sagt,  er 
habe  früher  nur  die  Absicht  gehabt,  die  Restitutionsfrage  zu  prüfen, 
um  sich  nunmehr  der  gründlichen  Untersuchung  der  Localisationslehre 
zuzuwenden.  Welche  Absichten  er  gehabt  hat,  kaini  freilich  niemand 
ermessen;  aber  seine  Ausführungen  und  seine  Schlüsse  bezogen  sich 
vielmehr  auf  die  von  ihm  angefochtene  Lehre  von  der  Localisation,  als 
auf  die  Restitution. 

Unzweifelhaft  sind  die  hier  erwähnten  Methoden  bei  weitem  mehr 
geeignet,  begrenzte  Zerstörungen  hervorzurufen,  als  die  früher  besprochenen 


—     53     — 

und  folgerecht  haben  sich  die  Zugeständnisse,  welche  Goltz  schliess- 
lich der  Localisationslehre  gemacht  hat,  zu  dem  Umfange  erweitert,  den 
wir  im  Eingange  dieser  Erörteiamgen  kennen  gelernt  haben. 

Ich  hatte  Goltz  seiner  Zeit  eingewendet i),  dass  der  von  ihm  ein- 
geschlagene Weg  ein  solcher  sei,  der  nicht  gerade  zum  Ziel  führe,  er 
sei  mit  einem  Worte  ein  Umweg.  Goltz  hat  mir  das  sehr  übel  ge- 
nommen (a.  a.  0.  S.  100).  Indessen  dürfte  sich,  wie  man  soeben  ge- 
sehen hat,  wohl  selten  eine  Prophezeibung  so  erfüllt  haben,  als  die 
damals  ausgesprochene. 

Diese  historisch  vergleichende  Darstellung  mag  vielleicht  denjeni- 
gen, welche  an  irgend  eine  Localisationslehre,  wie  immer  sie  sich  diese 
auch  vorstellen,  uuerschütterlich  fest  glauben,  überflüssig  erscheinen  — 
mit  Unrecht.  Ich  will  hier  davon  schweigen,  dass  ein  so  hervorragen- 
der Forschei-  wie  E.  HaeckeP),  Goltz  und  Munk  in  einem  Athem 
als  Begründer  der  Localisationslehre  bezeichnet,  während  er  die  Güte 
hat,  unserer  eigenen  Arbeit  mit  Stillschweigen  zu  gedenken;  derartige 
sachliche  und  historische  Irrthümer  werden  der  Erkenntuiss  der  Wahr- 
heit keinen  Eintrag  thun.  Aber  die  Lehre  von  der  cerebralen  Locali- 
sation  ist,  wie  ich  dies  noch  näher  zu  erörtern  gedenke,  keineswegs  ein 
wohl  definirter  Begriff  und  so  manche  von  den  Thatsachen,  die  Goltz 
im  Verlauf  seiner  Untersuchungen  zu  Tage  gefördert  hat,  muss  nur  an 
die  ihr  gebührende  Stelle  und  in  das  richtige  Licht  gerückt  werden, 
um  die  ihr  zukommende  Bedeutung  in  der  Gesammtheit  unserer  Kennt- 
nisse zu  erlangen.  Dies  ist  ohne  Keuntniss  der  Entwicklung  der  Lehre 
unmöglich  und  es  ist  auch  nicht  wohl  möglich  ohne  einen,  wenn  auch 
nur  ganz  flüchtigen  Blick  auf  die  Art  der  Polemik  von  Goltz.  So 
sehr  ich  auch  die  Verdienste  dieses  Forschers  stets  anerkannt  habe  und  in 
Zukunft  anerkennen  werde,  so  wenig  kann  ich  die  von  ihm  angewandte 
Art  der  Polemik  billigen,  namentlich  dort,  wo  sie,  wie  im  Vorstehenden 
angedeutet,  in  dem  Bestreben  Recht  zu  behalten,  die  Erkenntniss  der 
Wahrheit  erschwert.  — 

Endlich  sind  die  Methoden  und  die  Theorien  von  Goltz  keineswegs 
als  todt  und  abgethan  zu  betrachten.  Vielmehr  hat  sein  Schüler  Loeb 
nicht  nur  in  ähnlichem  Sinne  weiter  experimentirt,  sondern  er  hat  sogar 
einen  Theil  der  von  Goltz  2;emachten  Concessionen   mehr  oder  minder 


1)  E.  Hitzig,  Untersuchungen  über  das  Gehirn.  Neue  Folge.  Rei- 
chert's und  du  Bois-Reymond's  Archiv.   1876.   S.  710. 

2)  E.  Haeckel,  Ueber  unsere  gegenwärtige  Kenntniss  vom  Ursprung  des 
Menschen.  Vortrag  gehalten  auf  dem  4.  internationalen  Zoologen- Congress 
in  Cambridge.    Bonn  1899. 


—     54     — 

stillschweigend  fallen  lassen ,  um  gewisse  andere  Anschauungen  von 
Goltz,  unter  Hinzufügung  reichlicher  eigener  Apperceptionen  zu  Theo- 
rien und  Gesetzen  zu  entwickeln,  mit  denen  wir  uns  noch  zu  beschäf- 
tigen haben  werden.  Vielleicht  hätte  ich  mich  entschliessen  können, 
diese  Bestrebungen  der  Vergessenheit  zu  überlassen,  wenn  sie  nicht 
neuerdings  in  der  ihrem  Urheber  eigenen  anspruchsvollen  und  abspre- 
chenden Form  in  einem  Buche i)  wieder  aufgetaucht  wären,  welches 
nach  anderer  Richtung  mancherlei  thatsächliche  Mittheilungen  von  In- 
teresse enthält  und  wenn  nicht  die  Erfahrung  lehrte,  dass  sich  die 
Werthschätzung,  welche  ei'nem  Theile  der  Leistungen  eines  Autors  mit 
Recht  gezollt  wird,  auf  einen  anderen  Theil  dieser  Leistungen  mit  Un- 
recht um  so  leichter  überträgt,  je  weniger  die  Gesammtheit  der  Materie 
der  allgemeinen  Beurtheilung  zugänglich  ist. 

Wenn  man  an  die  Durchdringung  und  Wiedergabe  der  theoretischen 
Ansichten  dieses  Forschers  geht,  so  begegnet  man  einer  Reihe  von 
Schwierigkeiten,  deren  erste,  wie  sich  noch  zeigen  wird,  darin  besteht, 
dass  er  zu  den  verschiedenen  Zeiten  seiner  Thätigkeit  und  an  den  ver- 
schiedenen Stellen  seiner  Abhandlungen  zu  einer  Reihe  von  Apercus 
gelangt,  die  sich  bei  ihm  alsbald  zu  Gesetzen  von  weittragender  Bedeu- 
tung ausbilden,  ohne  dass  er  dabei  die  von  ihm  begonnenen  Gedanken- 
reihen soweit  durchführte,  wie  es  für  die  Aufstellung  von  Gesetzen 
erforderlich  wäre.  So  ereignet  es  sich,  dass  gerade  diejenigen  That- 
sachen,  welche  für  den  wesentlichen  Inhalt  jener  sogenannten  Gesetze 
von  entscheidender  Bedeutung  sein  müssten,  gänzlich  ausser  Betracht 
bleiben. 

Ich  werde  auf  die  Ansichten  Loeb's  über  die  Functionen  des 
Grosshirns  weiter  unten  zurückkommen;  für  den  Augenblick  interessirt 
uns  nur  das  Versuchsmaterial,  soweit  es  den  Hund  angeht,  auf  welches 
er  seine  Theorien  aufgebaut  hat. 

Betrachten  wir  zunächst  die  Ergebnisse  seiner  Zerstörungen  des 
Hinterlappens. 

1.  Exstirpation  der  Stelle  A^  nebst  Umgebung  nach  vorn  über 
die  Sehsphäre  hinaus,  nach  hinten  bis  an  die  Basis,  ohne  irgend  eine 
Sehstörung  2). 

2.  Doppelseitige  Exstirpation  der  ganzen  Convexität  der  Sehsphäre. 


1)  J,  Loeb,  Einleitung  in  die  vergleichende  Gehirnphysiologie  und  ver- 
gleichende Psychologie  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  wirbellosen  Thiere. 
Leipzig  1899. 

2)  J.  Loeb,  Dio  Sehstörungen  nach  Verletzung  der  Grosshirnrinde. 
Pf  lüger 's  Archiv  Bd.  34.   S.  18. 


55 


Der  Hund  hatte  anscheinend  eine  bilaterale  temporale  Sehstörung. 
(a.  a.  0.  S.  21.)  Die  Stelle  des  deutlichsten  Sehens  soll  aber  intact  ge- 
wesen sein,  ohne  dass  ich  dies,  wie  übrigens  auch  bei  anderen  analogen 
Versuchen,  als  erwiesen  erachten  könnte. 

3.  Einseitige  Exstirpation  der  ganzen  Convexität  der  Sehsphäre, 
Heilung  unter  Eiterung,  temporale  Hemiamblyopie  (S.  25). 

4.  Zerstörung  der  ganzen  Convexität  der  Sehsphäre  mit  Ausnahme 
der  lateralen  Partie.    Heilung  per  primam,  keine  Sehstörung. 

5.  Exstirpation  der  Stelle  A^.  Eiterung,  länger  als  zwei  Wochen 
dauernde  temporale  Sehstörung  (S.  28). 

6.  Exstirpation  der  Stelle  A^.  Heilung  per  primam,  keine  Seh- 
störung. 

7. — 14.  Jedesmal  Exstirpation  der  Stelle  A^.  Zweimal  keine  Seh- 
störung, sechsmal  laterale  Hemiamblyopie.  Ueber  den  Heilungsprocess 
ist  nichts  gesagt  (S.  29). 


Fig.  8.    A.  Aj  Sehsphäre,  B.  B^  Hörsphäre,  G.  Ohrregion  nach  Munk. 

Ich  übergehe  mehrere  Versuche,  bei  denen  Primär-  oder  Secundär- 
Operationen  in  verschiedenen  Theilen  der  Sehsphäre  mit  dem  Erfolge 
ausgeführt  wurden,  dass  die  gewöhnlichen  Erscheinungen  der  homony- 
men Hemiamblyopie  auftraten. 

Es  folgen  dann  zwei  secundäre  Exstirpationen  der  occipitotempo- 
ralen  Partie,  bei  denen  hochgradige  Sehstörungen  eintraten,  während 
die  primären  Operationen  in  der  Sehsphäre  das  eine  Mal  gar  keine, 
das  andere  Mal  eine  vorübergehende  Sehstörung  gesetzt  hatten.  Bei 
zwei  primären  Operationen  an  der  gleichen  Stelle  erschien  das  eine  Mal 
gar  keine,  das  andere  Mal  eine  zweifelhafte  Sehstörung. 

Wir  gehen  nunmehr  zu  den  Operationen  Loeb's  an  der  motori- 
schen Region  über.    (S.  49,  50.) 

1.  Exstirpation  der  hinteren  Partie  der  Augenregion  (Munk)  und 
der  vorderen  Partie  der  Sehsphäre  links.     Keinerlei  Störung. 


—     56     — 

2.  Derselbe  Hund.  Exstirpation  der  Augenregiou  unter  Schonung 
der  Sehsphäre  rechts.    Hemiamblyopie  und  motorische  Störung  links. 

3.  Derselbe  Hund.  Exstirpation  der  vorderen  Partie  der  Augen- 
region und  der  M unk 'sehen  Hinterbeinregion  links.    Keinerlei  Störung. 

4.  Derselbe  Hund.  Exstirpation  des  Restes  der  motorischen  Region 
rechts.     Ausgeprägte  Sehstörung  und  Bewegungsstörung  links. 

5.  Anderer  Hund.  Exstirpation  der  „Fühlsphäre  des  Auges"  rechts. 
Keinerlei  Störung. 

6.  Derselbe  Hund.  Zerstörung  des  Restes  der  motorischen  Region 
rechts.     Hemiamblyopie  und  Drehstörung. 

7.  Exstirpation  der  Sehsphäre  links.     Hemiamblyopie. 

8.  Derselbe  Hund.  Partielle  Exstirpation  in  der  motorischen  Region 
links.  Motorische  Störung  und  Hemiamblyopie  von  solcher  Intensität, 
wie  sie  Loeb  „selbst  bei  solchen  Thieren,  die  drei  ausgedehnte  Opera- 
tionen im  Hinterhauptslappen  erlitten  hatten,  nicht  beobachtet"  hatte. 
(S.  50.) 

Von  zwei  Operationen  im  Schläfenlappen  verlief  wieder  eine  mit, 
die  andere  ohne  Sehstörung. 

Am  Stirnlappen  wairden  mehrere,  wie  viel  ist  nicht  gesagt,  Opera- 
tionen ausgeführt  1). 

1.  Abtrennung  des  linken  Stirnlappens  mit  dem  Messer.  Schwere 
Hemiamblyopie,  motorische  Störungen  in  den  Extremitäten  imd  Dreh- 
störung, keine  Störung  in  der  Bewegung  der  Wirbelsäule. 

2.  Gleiche  Operation,  starke  intracranielle  Blutung,  Heilung  unter 
Eiterung.  Die  schwerste  Hemiamblyopie,  die  Loeb  je  gesehen  hat. 
Reitbahnbewegungen.  Motilitätsstörungen  in  den  Extremitäten,  alles 
dieses  nicht  verschwindend:  keine  Störung  in  der  Bewegung  der  Wir- 
belsäule. 

Andere  Thiere  glichen  bald  mehr  dem  einen,  bald  mehr  dem  an- 
deren der  beiden  hier  geschilderten  Thiere. 

Fassen  wir  das  vorgetragene  Material,  in  soweit  das  möglich  ist, 
in  Kürze  zusammen,  so  ergiebt  sich  zunächst  für  die  Sehsphäre  Fol- 
gendes. 

I.  Keine  Sehstörung:  Bei  den  Versuchen 2):  1.  Grosse  Exstir- 
pation über  die  „Sehsphäre"  hinaus.  4.  Zerstörung  fast  der  ganzen 
Convexität  der  Sehsphäre.  6.  Exstirpation  der  Stelle  A^.  7. — 14.  Zwei 
Exstirpationeu  der  Stelle  A^. 

1)  J.  Loeb,  Beiträge  zur  Physiologie  des  Grosshirns.  Pflüger's  Archiv 
Bd.  39.   S.  314. 

2)  Die  Ziffern  beziehen  sich  auf  die  im  Vorstehenden  augewendete  Nume- 
rirune;. 


—     57     — 

IL  Selistörung:  2.  Doppelseitige  Exstirpatlonen  der  ganzen  Con- 
vexitüt  der  Sehspliäre.  3.  Exstirpation  der  ganzen  Convexität  der  Seh- 
sphäre.    5.  Exstirpation  der  Stelle  A^.  7.^14.    6  Mal  Sehstörung. 

Es  ergiebt  sich  also,  dass  Loeb  unter  den  14  hier  referirten  Ver- 
suchen 9  Mal  ein  positives  und  5  Mal  ein  negatives  Resultat  hatte; 
ausserdem  hatte  er  in  einer  Anzahl  von  anderen  Versuchen,  die  sich  in 
Kürze  nicht  wohl  wiedergeben  lassen,  zum  grösseren  Theile  positive, 
zum  geringeren  Theile  negative  Erfolge.  Er  kommt  denn  auch  (S.  40) 
zu  dem  Schlüsse,  dass  jede  Stelle  der  Rinde  des  Hinterhauptlappens 
weggenommen  werden  könne,  ohne  dass  die  geringste  Sehstörung  dar- 
auf erfolge. 

Ganz  ähnlich  ist  das  Ergebniss  seiner  nur  in  geringer  Zahl  an  der 
occipito-temporalen  Region  angestellten  Versuche.  Die  Versuche  Loeb's 
an  der  „motorischen  Region"  ergaben  im  Princip  gleichartige  Re- 
sultate, also  Gesetzlosigkeit.  Besonders  interessirt  uns  hier  der  unter 
1 — 4  angeführte  Huud,  an  dem  vier  Operationen  ausgeführt  wurden. 
Es  kommt  weniger  darauf  an,  dass  bei  den  ersten  beiden,  annähernd 
symmetrischen  Operationen  in  der  sogenannten  Augenregion  Munk's 
das  eine  Mal,  als  die  Sehsphäre  verletzt  wurde,  keine  Sehstörimg  und 
das  andere  Mal,  als  sie  geschont  wurde,  eine  Sehstörung  auftrat;  da- 
gegen lege  ich  besonderes  Gewicht  darauf,  dass  der  gleiche  Hund,  nach- 
dem ihm  bei  der  dritten  Operation  neben  dem  Reste  der  sogenannten 
Augenregion  auch  noch  die  Hinterbeinregion  genommen  war,  überhaupt 
keine  Störungen  zeigte.  Ebenso  ist  der  unter  6  erwähnte  Versuch  in- 
sofern von  Interesse,  als  bei  ihm  als  Folge  einer  totalen  Zerstörung  der 
motorischen  Region  zwar  Drehstörungen,  aber  keine  anderweitigen  Be- 
wegungsstörungen angegeben  sind. 

Von  dem  Reste  dieses  Materials  recapitulire  ich  nur  die  beiden  am 
Stirnlappen  ausgeführten  und  ausführlich  mitgetheilten  Versuche.  Hier 
finden  wir  Gesetzmässigkeit.  Beide  ergaben  nicht,  wie  Munk  wollte, 
Störungen  in  der  Bewegung  der  Wirbelsäule,  dagegen  anderweitige 
schwere  Motilitäts-  und  Sehstörungen. 

Alles  in  allem  ist  Loeb  der  von  ihm  angestrebte  Nachweis  also 
wohl  gelungen,  nämlich  „dass  bei  seinen  Versuchen  die  vorschrifts- 
mässigen  Störungen  fehlen,  dagegen  aber  ganz  andere  auftreten."  Ja 
noch  mehr,  es  ist  ihm  der  Nachweis  gelungen,  dass  im  Gebiete  der 
Grosshirnphysiologie,  abweichend  von  allen  anderen  Wissensgebieten, 
Gesetzlosigkeit  herrscht. 

Er    hati)   diese   Gesetzlosigkeit,    was    die    Sehsphäre    angeht,    der 


1)  Loeb,  Die  Sehstörungen  etc.   1884.   (8.  57.) 


—     58     — 

Hauptsache  nach  dadurch  zu  erklären  gesucht,  dass  „bei  allen  Thieren, 
die  nach  einer  Verletzung  im  Hinterhauptlappen  von  keiner  Sehstörung 
befallen  wurden,  die  Operation  fast  ohne  Blutung  in's  Gehirn,  die  Hei- 
lung per  primam  intentionem  verlaufen  war." 

Indessen  muss  er  doch  zugeben,  dass  auch  bei  günstigem  Verlauf 
der  Operation,  bei  einer  Heilung  per  primam  eine  Hemiamblyopie  er- 
folgen kann.  Er  schiebt  dies  auf  die  verschiedene  Reizbarkeit  des 
Gehirns. 

Loeb  ist  indessen  noch  viel  weiter  gegangen,  indem  er  an  anderen 
Orten  „den  ganzen  Streit  und  seine  respectable  Dauer  um  die  Locali- 
sationslehre"  auf  die  Nichtbeachtung  derartiger  umstände,  von  Fehlern, 
Zwischenfällen  wie  z.  B.  intracranielle  Blutungen  etc.  zurückführt i). 

Ich  habe  keinerlei  Interesse  an  der  Aufrechterhaltung  der  Lehre 
Munk's  von  der  Existenz  eines  Sehcentrums  in  seiner  Stelle  A,  und 
von  seiner  Sehsphäre  überhaupt.  Denn  wenn  ich  auch  gefunden  habe, 
dass  die  Verletzung  jener  Stelle  zu  Sehstörungen  führt,  so  habe  ich 
mich  doch  wohl  gehütet,  aus  dieser  Erfahrung  heraus  ein  Sehcenti'um 
zu  construiren.  Dies  entbindet  mich  jedoch  nicht  von  der  Verpflich- 
tung, die  Richtigkeit  der  Behauptungen  Loeb 's  zu  prüfen. 

Wenn  dieser  Autor  den  Gegnern  Nichtbeachtung  von  Operations- 
fehlern und  Zufälligkeiten  derart  vorwirft,  dass  er  die  ganze  Theorie 
von  der  cerebralen  Localisation  darauf  zurückführt,  so  sollte  man  mei- 
nen, dass  er  selbst  sich  von  diesen  Fehlern  auf  das  sorgfältigste  frei- 
gehalten hätte.  Thatsächlich  trifi't  aber  das  Gegentheil  zu.  Dass  man 
Versuche,  bei  denen  intracranielle  Blutungen  vorgekommen  sind,  als 
werthlos  bei  Seite  zu  legen  hat,  erscheint  mir  selbstverständlich.  Loeb 
aber,  der  Anderen  die  Benutzung  solcher  Versuche  vorwirft,  ohne  dafür 
Beweise  beizubringen,  hat  sie  selbst  in  ausgiebiger  Weise  verwerthet. 
Ich  erinnere  nur  an  jenen  vorstehend  citirten  Hund,  bei  dem  nach  Ab- 
tragung des  Stirnlappens,  mit  starker  intracranieller  Blutung  und  Hei- 
lang unter  Eiterung  dauernd  die  schwerste  Hemiamblyopie,  Reitbahubewe- 
gangen  und  Motilitätsstörungen  in  den  Extremitäten  eintraten.  Ich  muss 
ihm  also  schon  aus  diesem  Gesichtspunkte  das  Recht  zu  solchen  Vor- 
würfen überhaupt  bestreiten.  Was  mich  aber  im  Besonderen  angeht, 
so  habe  ich 2)  bereits  in  meinen  ersten  Arbeiten  auf  die  Nothwendigkeit 
der  Beachtung  der  sogenannten  Nebenbedingungen  hingewiesen,  weil 
anderenfalls  unvergleichbare  Grössen  geschaffen  würden  und  ich  glaube 


1)  Loeb,  Beiträge  etc.  1.  c.   S.  313. 

2)  E.  Hitzig,  Lähmungsversuche  am  Grosshirn.     Reichert's  und  du 
Bois-Reyraond's  Archiv.   1874.   S.  435—437. 


—     59     — 

nicht,  dnss  Loeb  mir  einen  einzigen  Fall  nachweisen  kann,  in  dem  ich 
von  dieser,  durch  mich  selbst  aufgestellten  Regel  abgewichen  wäre. 

Dagegen  habe  ich  selbst  an  anderer  Stelle  nachgewiesen  i),  dass 
Loeb,  der  sich  schon  als  Student  gestattete,  andere  Leute  zu  hofmeistern 
und  abzukanzeln,  und  der  von  diesen  Gewohnheiten  auch  jetzt  noch  nicht 
ablässt,  sich  bei  den  hier  besprochenen  Arbeiten  der  unglaublichsten 
Unzuverlässigkeit,  nicht  nur  in  Bezug  auf  die  Beschreibung  seiner  Ex- 
stirpationen,  sondern  auch  mit  Bezug  auf  die  Beschreibung  der  darauf- 
folgenden Symptome  schuldig  gemacht  hat.  Er  hatte  damals  ein  Gehirn 
demonstrirt,  dem  er  den  Stirnlappen  abgetragen  haben  wollte,  dem  aber 
thatsächlich  auch  der  vordere  Schenkel  des  Gyrus  [sigmoides  fehlte, 
vyährend  gleichzeitig  noch  ein  grosser  Erweichungsherd  im  hinteren 
Schenkel  des  Gyrus  sass. 

Bei  der  gleichen  Gelegenheit  demonstrirte  Loeb  einen  Hund,  der 
noch  auf  den  Hinterbeinen  gehen  konnte,  nachdem  er  ihm  angeblich 
die  beiden  Hinterbeinregionen  unter  möglichster  Schonung  der  Vorder- 
beinregionen exstirpirt  hatte.  Hierdurch  sollte  gegen  Munk  der  Beweis 
geführt  werden,  dass  besondere  Innervationscentren  für  das  Hinterbein 
nicht  existiren.  Dieser  Beweis  konnte  aber  durch  jene  Demonstration 
deshalb  nicht  geführt  werden,  sie  war  gegenstandslos,  weil  Niemand, 
auch  Munk  nicht,  bestritten  hatte,  dass  solche  Hunde  auf  den  Hinter- 
beinen gehen  können.  Von  diesem  Hunde  ist  anscheinend  auch  auf 
S.  318  der  im  Jahre  1886  erschienenen  „Beiträge"  Loeb 's  die  Rede. 
Beide  Male  unterliess  er  es,  diejenigen  Störungen  anzuführen,  welche  so 
operirte  Thiere  in  den  Hinterbeinen  regelmässig  haben  und  welche  auch 
der  vorerwähnte  Hund,  wie  sich  bald  herausstellte,  thatsächlich  hatte, 
während  er  andererseits  nicht  unterliess  hervorzuheben,  dass  das  Thier 
eine  sehr  starke  Störung  in  der  Bewegung  und  der  Sensibilität  in  den 
vorderen  Extremitäten  hatte.  Zum  Ueberfluss  behauptete  Loeb  bei  jener 
Gelegenheit,  dass  die  Krankheitssymptome,  welche  ich  damals  in  den 
Hinterbeinen  nachwies,  auch  bei  gesunden  Hunden  nachzuweisen  wären. 
Loeb  hatte  sich  damals  durch  Herrn  Professor  Zuntz  attestiren  lassen, 
dass  er  von  diesen  Störungen  in  den  Hinterbeinen,  welche  er  bei  seinen 
Demonstrationen  nicht  erwähnt  hatte,  gewusst  habe.  Er  hat  nun  neuer- 
dings in  seinem  mehrerwähnten  Buche  (S.  176)  die  für  mich  unfass- 
bare  Kühnheit  besessen,  die  an  diesem  Hunde  gemachten  Beobachtungen 
mit  der  gleichen  Tendenz  als  Beweismaterial  heranzuziehen.  Die  be- 
treffende Stelle  lautet:  „dagegen  bestanden  leichte,  aber  deutliche  Aen- 


1)  E.  Hitzig,  Erwiderung  dem  Herrn  Prof.  Zuntz.    Pflüger's  Archiv 
Bd.  40.   1887. 


—     60     — 

deruugen  der  Haltung  der  vorderen  Extremitäten,  hervorgebracht  durch 
die  erwähnten  Aenderuugen  der  Muskelspannuugen.  Die  sogenannten 
Centren  der  Vorderbeine  in  der  Grosshirnrinde  liegen  nämlich  in  der 
Nähe  der  corticalen  „Hinterbeincentren"  (Fig.  34).  Die  leichte  Reizung 
der  ersteren  bei  der  Exstirpation  der  Hinterbeincentren  ist  genügend, 
eine  stärkere  Wirkung  auf  den  Tonus  der  Muskeln  der  Vorderbeine  aus- 
zuüben, als  die  Exstirpation  der  Hinterbeincentren  auf  die  Muskeln  der 
letzteren  auszuüben  im  Stande  ist,  einfach  aus  dem  Grunde,  weil 
die  segmentalen  Ganglien  der  Hinterbeine  im  Lendenmark  liegen  und 
deshalb-  vom  Operationsfeld-e  erheblich  weiter  entfernt  sind,  als  die 
segmentalen  Ganglien  der  Vorderbeine.  Die  Shokwirkungen  der  Ope- 
ration sind  also  stärker  im  Vorderbein  als  im  Hinterbein."  Loeb  stellt 
die  Sache  also  wiederum  so  dar,  als  wenn  der  Hund  nur  Störungen 
in  den  Vorderbeinen,  aber  keine  Störungen  in  den  Hinterbeinen  gehabt 
hätte,  während  ich  ihm  vor  der  physiologischen  Section  der  Naturfor- 
scherversammlung bewiesen  habe,  dass  in  den  Hinterbeinen  die  gleichen 
Störungen  nachweisbar  waren  wie  in  den  Vorderbeinen  und  während  er 
sich  hat  attestiren  lassen,  dass  er  von  diesen  Störungen  schon  vorher 
gewusst  habe.  Die  Thatsache,  mit  der  Loeb  operirt,  ist  also  falsch 
und  er  hat  gewusst,  dass  sie  falsch  war.  Schon  aus  diesem  Grunde  ist 
seine  Deduction  unbegründet,  sie  ist  es  auch  deshalb,  weil  es  sich  hier- 
bei keineswegs  um  eine  „leichte  Reizung"  der  Vorderbeinceutren,  son- 
dern darum  handelt,  dass  man  eben  durch  Eingriffe  in  den  hinteren 
Schenkel  des  Gyrus  sigmoides  immer  beide  Extremitäten  schädigt.  Ver- 
letzt man  das  Vorderbeincentrum,  so  treten  genau  die  gleichen  Störun- 
gen im  Hinterbein  auf,  was  der  Theorie  Loeb 's  gänzlich  widerspricht. 
Hierher  gehört  auch  die  oben  unter  3  der  Operationen  an  der  motori- 
schen Region  angeführte  Beobachtung.  Hier  will  Loeb  einem  Hunde 
die  vordere  Partie  der  Augenregion  und  die  Hinterbeinregion  exstirpirt 
haben,  ohne  dass  irgend  eine  Störung  auftrat.  Ich  will  glauben,  dass 
Loeb  keine  Störungen  in  der  Function  der  Extremitäten  beobachtet 
hat,  aber  vorhanden  gewesen  sind  sie  eben  so  sicher,  wie  sie  bei  dem 
zuletzt  besprochenen  Hunde  vorhanden  waren. 

Ich  habe  meine  damaligen  Bemerkungen  mit  folgendem  Satze  ge- 
schlossen: „Nach  diesen  Auseinandersetzungen  bleibe  ich  bei  der  Be- 
hauptung stehen,  dass  es  Herrn  Loeb  an  der  für  so  schwierige  Unter- 
suchungen erforderlichen  Objectivität  fehlt  und  dass  aus  diesem  Grunde 
seine  Darstellungsweise  —  um  von  anderen  Dingen  zu  schweigen  —  der 
Zuverlässigkeit  entbehrt." 

Ich  bedaure,  dass  Loeb  mich  durch  Wiederauffrischung  seiner  Be- 
hauptungen, durch  die  W^iederholung  und  W'^eiterentwicklung  seiner  halt- 


—     61     — 

losen  Theorien  und  durch  die  Form  seines  Auftretens  zur  Wiederholung 
dieses  meines  Urtlieiles  nöthigt.  Wir  werden  -aber  in  der  Folge  noch 
sehen,  wie  Loeb  sich  bei  anderen  Gelegenheiten  in  ebenso  unzuver- 
lässiger Weise  ausgedrückt  hat  und  wie  die  Vorstellungen,  welche  man 
sich  von  den  hier  erörterten  Fragen  zu  bilden  hat,  deshalb  von  ganz 
besonderer  Wichtigkeit  sind,  weil  sie  auf  das  innigste  zusammenhängen 
mit  den  höchsten  Problemen  unserer  psychologischen  Erkeuntniss. 

Wenn  ich  auch  gute  Gründe  zu  der  Annahme  habe,  dass  die 
Stelle  Ai  und  ihre  Umgebung  ein  Sehceutrum  in  dem  Sinne  M unk 's 
nicht  ist,  so  erscheinen  mir  unter  den  vorgetragenen  Umständen  doch 
die  mit  Bezug  auf  das  Sehen  negativen  Resultate,  über  die  Loeb  nach 
seinen  Angriffen  auf  den  Hinterhauptlappen  berichtet,  im  höchsten  Grade 
verdächtig.  An  und  für  sich  wäre  es  ja  nicht  auffallend,  dass  Sehstö- 
rungen nach  Eingriffen  in  jene  Region  ausbleiben,  wenn  diese  kein 
„Sehcentrum"  ist.  Auffallend  ist  jedoch,  dass  Loeb  bei  Primäropera- 
tionen von  dem  Umfange,  wie  er  sie  vorgenommen  hat,  keine  Sehstö- 
rungen beobachtet  haben  w'ill,  während  ich  und  mit  mir  andere  Beob- 
achter nach  derartigen  Operationen  ausnahmslos  Sehstöruugen  ein- 
treten sah. 

Bei  der  weiter  oben  unter  1.  referirten  Operation  will  Loeb  z.  B. 
die  Stelle  A^  nebst  Umgebung  nach  vorn  über  die  Sehsphäre  hinaus, 
nach  hinten  bis  an  die  Basis  und  bei  der  unter  4.  angeführten  Opera- 
tion will  er  die  ganze  Convexität  der  Sehsphäre  mit  Ausnahme  der 
lateralen  Partie  ohne  nachfolgende  Sehstörung  zerstört  haben.  — •  Ab- 
gesehen von  anderen  Bedenken  und  abgesehen  von  den  abweichenden 
Resultaten  aller  zuverlässigen  Forscher  erscheint  es  mir  sehr  auffallend, 
dass  bei  Ausschaltungen  von  solchen  Dimensionen  die  Sehstrahlung  un- 
geschädigt  fortgekommen  sein  sollte.  Ich  will  bei  dieser  Gelegenheit 
gewisse  Doppelversuche  von  Loeb  erwähnen.  Er  fand^),  dass  nach 
secundären  Exstirpationen  innerhalb  der  Sehsphäre  schwerere  und 
dauernde  Sehstörungen  eintraten,  während  nach  den  primären  Opera- 
tionen leichtere  und  vorübergehende  Sehstörungen  zu  beobachten  ge- 
wesen waren  und  bezieht  dieses  Resultat  auf  die  Reizung  der  Hirnnarbe 
durch  die  secundäre  Operation.  Diese  Erklärung  ist  durchaus  nicht  die 
einzig  mögliche  und  sie  ist  wahi'scheinlich  auch  nicht  die  richtige. 
Durch  die  Operation  an  der  Convexität  des  Gehirns  wird,  wie  ich 2) 
zuerst  nachgewiesen  habe,  der  Markkörper  nach  oben  verzogen,  so  dass 
die  tieferen  Schichten    und    mit    ihnen   die  Sehstrahlung    dem    zweiten 


1)  I.  Loeb,  Die  Sehstörungen  etc.   S.  57 — 58. 

2)  E.  Hitzig,  Lähmungsversuche  am  Grosshirn.   l.  c.   S.  429—431. 


—     62     — 

Eingriffe  näher  gerückt  werden.  Es  kann  sieb  sogar  bei  solchen  Secun- 
däroperationen  leicht  ereignen,  dass  man  unversehens  in  den  Seitenven- 
trikel gelangt.  Der  Umstand,  dass  Loeb  bei  diesen  Secmidäroperationen 
eine  dauernde  Sehstörung  beobachtete,  scheint  mir  mit  aller  Bestimmt- 
heit auf  eine  Verletzung  der  Sehstrahlung  hinzudeuten.  Wenn  er  auch 
auf  diesen  Gedanken  nicht  gekommen  zu  sein  scheint,  so  ist  es  ihm 
doch  nicht  entgangen,  dass  er  bei  dieseu  Versuchen  eine  tiefere  Zer- 
störung der  weissen  Substanz  angerichtet  hat.  Er  sagt  darüber:  „Es  ist 
möglich,  dass  dieser  Umstand  schwer  in  die  Wagschale  fiel."' 

Uebrigens  verstehe  ich -nicht,  auf  welchem  Wege  eine,  auch  auf 
andere  Weise  z.  B.  mit  dem  Schneckenbohrer,  von  Loeb  und  zwar  er- 
folgreich vorgenommene  Reizung  der  Narbe  einen  Einfluss  auf  die  sub- 
corticalen  Centren  ausüben  sollte.  Unter  der  oberflächlichen  Narbe 
befinden  sich  keine  Nervenfasern,  wie  Loeb  annimmt,  sondern  Degene- 
rationsproducte,  also  auch  Narbe. 

Werfen  wir  also  einen  Rückblick  auf  das  soeben  Vorgetragene  so- 
weit es  die  Operationsmethode  angeht,  so  ergiebt  sich,  dass  schon  aus 
dieser  die  Gesetzlosigkeit,  welche  in  den  Versuchen  Loeb 's  die  Haupt- 
rolle spielt,  sich  hinreichend  erklärt.  Seine  Versuche  sind  weder  den 
Versuchen  der  von  ihm  angegriffenen  Autoren,  noch  seinen  eigenen 
Parallel  versuchen  äquivalent;  sie  sind  unvollkommen  beschrieben,  sie 
enthalten  die  wesentlichsten  Lücken  in  der  Beschreibung  der  Operation 
und  ihrer  Folgen  und  dort,  wo  sich  ein  Einblick  in  die  Einzelheiten 
der  Versuche  eröffnet,  gewahrt  man,  dass  auch  solche  Versuche  ver- 
werthet,  ja  sogar  als  besonders  beweisend  verwerthet  worden  sind, 
welche  wegen  ihrer  Unreinheit  von  jeder  Verwerthung  hätten  ausge- 
schlossen werden  sollen.  Ausserdem  aber  genügt  es  für  die  Beurthei- 
lung  der  Resultate  dieses  Forschers  vollständig,  wenn  er  grosse  Stücke 
der  motorischen  Region  ausgeschaltet  haben  will,  ohne  irgend  eine  Stö- 
rung zu  sehen. 

Goltz  hat  seiner  Zeit  den  Satz  aufgestellt:  für  die  Beurtheilvmg 
der  Function  eines  Rindenabschnittes  sei  es  unwesentlich,  ob  seine  Zer- 
störung zu  irgend  welchem  Symptome  führen  könne,  es  käme  darauf 
an,  ob  sie  zu  diesen  Störungen  führen  müsse. 

So  unanfechtbar  dieser  Satz  auch  ist,  so  besteht  doch  die  absolut 
erforderliche  Prämisse  für  seine  Richtigkeit  in  der  Annahme,  dass  der 
Untersucher  thatsächlich  vorhandene  Störungen  wirklich  auffindet  und 
referirt.  Es  ist  aber  einfach  unrichtig,  dass  motorische  und  sensible 
Störungen  nach  grossen  Eingriffen  in  die  motorische  Zone  ausbleiben. 
Niemand,  der  jemals  am  Hundehirn  operirt  hat,  wird  Loeb  das  Gegen- 
theil  glauben. 


—     63     — 

Trotz  alledem  und  alledem  muss  aber  auch  dieser  Autor  zugeben^ 
dass  die  Hinterlappen  in  näherer  Beziehung  zum  Sehen  und  die  Vorder- 
lappen in  näherer  Beziehung  zur  Bewegung  und  Empfindung  stehen, 
derart,  dass  Eingriffe  in  die  Hinterlappen  niemals  zu  Bewegungsstörun- 
gen ohne  Sehstörung  und  EingriiTe  in  die  Vorderlappen  niemals  zu  Seh- 
störungen oline  Bewegungsstörungen  führen.  — 

Luciani  ist  in  seiner  letzten,  zusammen  mit  Seppilli^)  unter- 
nommenen grösseren  Arbeit  zu  einer  ihm  eigenthümlichen  Theorie  ge- 
langt. Wir  werfen  einen  Blick  auf  das  erwähnte  Buch  und  eine  frühere 
grössere  Arbeit  von  Luciani  und  Tamburini-),  wobei  wir  uns  auf  die 
physiologischen  Untersuchungen  am  Hunde  beschränken,  und  zwar  nur 
insoweit  sie  sich  auf  das  Sehvermögen  und  die  in  den  Extremitäten 
beobachteten  Erscheinungen  beziehen.  Die  Theorie  Luciani's,  welcher 
er  erst  in  seiner  zeitlich  späteren  Arbeit  Ausdruck  gegeben  hat,  v.'eist 
den  einzelnen  corticalen  Functionen  gut  localisirte  Centralgebiete  an, 
deren  Zerstörung  in  der  motorischen  Region  die  ausgesprochensten  mo- 
torischen und  sensiblen  Erscheinungen  in  dem  zugehörigen  Körpertheil 
und  deren  Zerstörung  in  der  Sehsphäre  die  ausgesprochensten  und 
dauerndsten  Sehstörungen  setzt.  Die  Umgebung  dieser  Centralgebiete 
steht  aber  in  functionellem  Zusammenhange  mit  ihnen,  derart,  dass 
ihre  Zerstörung  zu  weniger  ausgesprochenen  und  kürzer  dauernden  Seh- 
störungen führt,  während  in  der  motorischen  Zone  unter  solchen  Um- 
ständen die  Erscheinungen  an  anderen  Körpertheilen ,  deren  Centralge- 
bieten  man  sich  genähert  hat,  deutlicher  auftreten,  um  sich  in  denjeni- 
gen Körpertheilen,  -von  deren  Centralgebieten  man  sich  mehr  entfernt 
hat,  mehr  und  mehr  zu  verwischen.  Diese  Erfahrungen  sind  nach  ihm  darauf 
zurückzuführen,  dass  die  einzelnen  Centren  der  sensorisch-motorischen 
Zone  so  vollständig  miteinander  verbunden  und  gleichsam  ineinander 
übergeführt  sind,  dass  es  nicht  möglich  ist,  sie  mit  einer  klaren  be- 
stimmten Linie  von  einander  zu  trennen,  so  wie  dies  geschieht,  wenn 
die  Rinde  eingeschnitten  und  entfernt  wird. 

Die  motorische  Zone  umfasst  den  vorderen  Theil  des  Gehirns  von 
der  Spitze  des  Stirnlappens  bis  über  den  vorderen  Theil  der  sogenann- 
ten A.ugenregiou  Munk's  hinaus.  Wenn  man  davon  ausgeht,  dass  alle 
diejenigen  Theile  zur  Sehsphäre  zu  rechnen  sind,  deren  Zerstörung  irgend 
welche  Sehstörung  hervorbringt,  so  stimmt  Luciani  mit  Goltz  über- 
ein,   oder  kommt  wenigstens  seiner  Ansicht  sehr  nahe,    dass    sich    das 


1)  Luciani  und  Seppilli,  Die  Functionslocalisation  auf  der  Grosshirn- 
rinde, übersetzt  von  Fränkel.   1886. 

2)  Luciani  und  Tamburini,  Sui  centri  psich.  sensori  corticali.  1879. 


—     64     — 

Sehcentrum  bei  Hunden  zu  weit  ausdehnt,  als  dass  von  einer  bestimm- 
ten Oertlichkeit  ernstlich  die  Rede  sein  könne.  Sehstöruugen  folgen 
eben  nach  den  Untersuchungen  von  Luciani  und  Seppilli,  sowie  nach 
denjenigen  früherer  Autoren  auf  Exstirpationen  an  allen  Th eilen  der 
Hirnrinde  mit  Ausnahme  der  unteren  und  inneren  Seiten  der  Hemi- 
sphären, welche  bis  jetzt  noch  wenig  untersucht  sind. 

Die  Theorie  Munk's  von  der  Projection  der  Retina  auf  die  Seh- 
sphäre ist  unhaltbar;  denn  1.  erhält  man  bilaterale  homonyme  Hemi- 
anopie  nach  Exstirpationen  nicht  nur  des  Hinterhauptlappens,  sondern  auch 
des  Scheitel-  und  Schläfenlappens;  2.  folgt  niemals  partielle  Blindheit 
(die  Rindenblindheit  Munk's)  nach  symmetrischen  Exstirpationen  selbst 
der  Stelle  A^  und  3.  treten  weder  nach  einseitiger,  noch  nach  doppel- 
seitiger Zerstörung  der  Rinde  dauernde  Sehstörungen  ein,  so  dass  man 
eine  Compensation  durch  die  Reste  der  Sehsphäre  Luciani' s  anneh- 
men muss. 

Das  Rindencentrum  hat  nur  die  Aufgabe,  die  Gesichtsempfindungen 
im  psychischen  Sinne  zu  verarbeiten,  diese  bilden  sich  aber  nicht,  wie 
Munk  will,  dort,  sondern  in  den  grossen  Ganglien  des  Mittelhirns.  Die 
vier  sensorischen  Sphären  (Sehsphäre,  Hörsphäre,  Riechsphäre,  senso- 
motorische  Sphäre)  haben,  abgesehen  davon,  dass  jede  ein  eigenes 
Territorium  in  der  Hirnrinde  besitzt,  ausserdem  ein  gemeinschaftliches 
Territorium,  welches  innerhalb  der  Augenregion  von  Munk  liegt.  In 
dieser  Region  greift  die  gegenseitige  Ueberlagerung  und  consequenter- 
weise  die  partielle  Fusion  der.  einzelnen  sensorischen  Centren  Platz. 
Diese  Region  ist  also  die  wichtigste  in  der  Hemisphäre  des  Hundes,  wo 
sie  gleichsam  das  Centruni  der  Centren  repräsentirt. 

Thatsächlich  beleidigt  nach  seiner  Ansicht  die  Exstirpation  dieser 
Region,  während  sie  ganz  besonders  den  Gesichtssinn  betrifft,  gleich- 
zeitig die  Gehörs-,  Geruchs-  und  tactilen  Wahrnehmungen.  Es  giebt 
keinen  anderen  Hirntheil  des  Hundes,  dessen  Verletzungen  fähig  sind, 
so  complicirte  Effecte  zu  veranlassen  und  gleichzeitig  so  tiefe  psychische 
Störungen  des  Thieres  hervorzubringen. 

Aus  der  angeführten  Arbeit  von  Luciani  und  Tamburini  hebe 
ich  nur  hervor,  dass  sich  dabei  ein  besonderer  Einfluss  von  tiefen  Zer- 
störungen der  Sylvi'schen  Region  der  2.  ürwindung  auf  das  Sehen  er- 
gab. Auch  die  anderen  Theile  dieser  Windung  werden  in  nähere  Be- 
ziehung zum  Sehen  gebracht.  Die  Sehsphäre  von  Munk  ist  kein  Per- 
ceptions-,  sondern  ein  psychisches  Centrum,  in  dem  die  Sinueswahr- 
nehmungen  ausgearbeitet  Averden. 

Die  allgemeinen  Betrachtangen,  welche  Luciani  im  Eingange  seines 
Buches  über  die  Functionslocalisation  anstellt,  decken  sich  in  sehr  vielen 


—     65     — 

Punkten  mit  dem  Inhalte  der  Einleitung  dieses  Aufsatzes,  aber  ich  ver- 
misse ihre  strenge  Anwendung  auf  die  Art  der  angestellten  Versuche 
und  die  aus  diesen  gezogenen  Schlüsse.  Ueberall  sind  verhältnissmässig 
grosse,  sich  über  mehrere  Windungen  ausdehnende  Zerstörungen  von 
•unbestimmter  Tiefe  vorgenommen  worden,  über  die  Art  der  Wundheilung 
erfährt  man  so  gut  wie  nichts;  die  Wundbehandkmg  entspricht  nicht 
den  an  sie  zu  stellenden  Anforderungen  und  schliesslich  sind  Versuche 
angeführt  worden,  welche  unzweideutige  Resultate  nicht  ergeben  haben 
oder  überhaupt  nicht  ergeben  konnten.  Auch  die  Untersuchungsmethoden, 
insbesondere  die  des  Sehvermögens,  erscheinen  mir  an  vielen  Stellen 
unzureichend.  Nichtsdestoweniger  haben  diese  Versuche  viel,  für  jene 
Zeit  werthvolles  Material  beigebracht,  auf  das  ich  zurückzukommen  ge- 
denke und  sie  enthalten  auch  nichts,  was  sich  nicht  mit  meinen  eigenen 
Erfahrungen  vereinbaren  oder  durch  die  angewendeten  Metboden  er- 
klären Hesse.  Dagegen  fehlt  es  ganz  und  gar  an  solchen  experimen- 
tellen Unterlagen,  durch  welche  die  Luciani'sche  Hypothese  von  einem 
Centrum  der  Centren  gestützt  werden  könnte.  Der  Nachweis  eines 
solchen  könnte  meiner  Ansicht  nach  nur  darauf  basirt  sein,  dass  eine 
kleine  Verletzung  in  dem  Centrum  dieses  Centrums  der  Centren  die  ge- 
forderten Störungen,  wenn  auch  nur  vorübergehend,  zui-  Anschauung 
brächte.  Erfahrungsgemäss  ist  dies  aber  nicht  der  Fall,  vielmehr  können 
solche  Versuche  vollkommen  symptomlos  verlaufen.  Die  von  Luciani 
angestellten  Versuche  entsprechen  aber  dieser  Forderung  überhaupt 
nicht,  abgesehen  von  allem,  was  sonst-  dagegen  einzuwenden  ist. 

Andererseits  ist  es  vollkommen  zutreffend,  dass  man  durch  Läh- 
mungsversuche in  der  motorischen  Region  die  motorischen  wie  die 
sensiblen  Innervationsgebiete  nur  in  der  von  Luciani  angegebenen  un- 
vollkommenen Weise  von  einander  abzugrenzen  vermag.  Indessen  ist 
mindestens  die  corticale  Isolirung  der  motorischen  Innervation,  wie  ich 
schon  früher  gezeigt  hatte  und  später  noch  erörtern  werde,  allerdings 
durch  Reizversuche  in  vollkommener  Weise  zu  erreichen.  Ebenso 
zutreffend  ist  die  Angabe,  dass  Sehstörungen  nach  solchen  Hirnver- 
letzungen, wie  Luciani  sie  vornahm,  von  der  ganzen  Convexität  aus 
hervorzubringen  sind,  sowie  dass  deren  Intensität  und  Dauer  am  grössten 
ist,  wenn  sie  den  Occipitallappen  betreffen  u.nd  wenn  sie  überhaupt 
grössere  Bezirke  der  Convexität  ausschalten.  Dagegen  ist  meiner  An- 
sicht nach  wiederum  unrichtig,  wenn  Luciani  alle  diese  Sehstörungen 
ausschliesslich  auf  die  angegriffenen  Localitäten  und  überhaupt  auf  die 
Rinde  bezieht,  obschon  ich  ihm  darin  beipflichte,  dass  die  Convexität 
des  Hinterlappens    nicht    als    ein  Sehcentrum  im  Sinne  Munk's,    wohl 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     II.  Tlieil.  5 


—     66     — 

aber  als  ein  psychisches  zur  Verarbeitung  optischer  Eindrücke  be- 
stimmtes Centrum  anzusehen  ist.  — 

Die  Arbeiten  der  meisten  anderen  italienischen  Autoren,  insoweit 
sie  mir  bekannt  geworden  sind,  scheinen  mir  mehr  oder  weniger  unter 
dem  Einflüsse  der  Arbeiten  Luciani's  zu  stehen.  Ich  will  aus  ihnen 
nur  die  Untersuchungen  von  Bianchi  und  Tonnini  hervorheben.  Der 
erste  Forscher^)  schreibt  in  üebereinstiramung  mit  Luciani  und  Tam- 
burini der  2.  ürwindu.ng  einen  besonderen  Einfluss  auf  das  Sehen 
zu.  Ausserdem  umfasst  das  corticale  Sehcentru.m  die  mittleren  und 
hinteren  Theile  der  1.  und  U.  üi'windung,  sowie  den  Rest  des  Hinter- 
hauptlappens. Die  isolirte  Exstirpation  eines  jeden  Segmentes  ist,  was 
den  augenblicklichen  Effect  angeht,  der  Exstirpation  des  Ganzen  gleich- 
werthig  und  das,  was  von  dem  ganzen  Centrum  übrig  bleibt,  reicht 
hin,  um  das  aufgehobene  Sehvermögen  wieder  herzustellen.  Die  Ex- 
stirpation des  ganzen  Sehcentrums  bringt  dauernde  Sehstörungen  hervor. 

Die  motorische  Zone  erstreckt  sich  ungefähr  1  cm  weit  über 
die  Grenze  des  Gyr.  sigm.  hinaus  nach  hinten.  Von  einer  ausschliess- 
lichen Beziehung  bestimmter  Punkte  dieser  Zone  zu  bestimmten  Muskel- 
gruppen kann  keine  Rede  sein.  Die  centralen  Elemente  für  die  Inner- 
vation eines  bestimmten  motorischen  Organes  sind  vielmehr  über  die 
ganze  motorische  Zone  zerstreut  und  finden  sich  nur  in  wenigen  Punkten 
dichter  zusammengelagert,  derart,  dass  sie  auf  diese  Weise  die  soge- 
nannte erregbare  Zone  zusammensetzen.  Aber  diejenigen  Muskeln, 
welche  voii  hier  aus  erregt  werden  können,  sind  nicht  nur  hier,  sondern 
auch  in  dem  ganzen  Rest  der  motorischen  Zone  repräsentirt.  Deshalb 
geben  nur  die  Ausschaltungen,  die  sich  über  einen  grossen  Theil  der 
motorischen  Zone  erstrecken,  Veranlassung  zu  dauernden  motorischen 
Störungen.  Die  (^Kompensation  wird  also  durch  die  Reste  der  gleich- 
namigen, bis  zu  einem  gewissen  Grade  aber  auch  durch  die  ungleich- 
namige motorische  Region  vermittelt.  Störungen  des  Tastsinnes 
sind  durch  Eingriffe  in  die  motorische  Zone  beim  Hund  nicht  sicher 
zu  demonstriren. 

Der  vordere  Antheil  der  2.  ürwindung  ist  gemischt  motorisch- 
sensorisch.  Wird  ihr  Gebiet  zusammen  mit  dem  Gyrus  sigmoides  ent- 
fernt, so  wird  die  Hemiplegie  schwerer,  als  wenn  dieser  allein  entfernt 
wird;  bei  ihrer  alleinigen  Exstirpation  wird  sowohl  die  Motilität,  als 
auch  das  Sehvermögen  geschädigt.  — 


1)  Bianchi,  Sülle  compensationi  funzionali  della  corteccia cerebrale.  (La 
psichiatria.  1883.)  —  Bianchi,  Ancora  sulla  dottrina  dei  centri  corticali  mo- 
tori  del  cervello.    (La  psichiatria.  1885.) 


—     67     — 

Toniiiiii^)  kommt  zu  dem  allgemeinen  Schlüsse,  dass  identische 
Operationen  nicht  immer  identische  Resultate  geben,  während  anderer- 
seits verschiedene,  wenn  auch  in  nachbarlichen  Regionen  vorgenommene 
Operationen  sehr  verwandte  Symptomencomplexe  darbieten.  Also  be- 
steht grosse  Aehulichkeit  zwischen  den  occipitotemporalen  und  parietalen 
Läsionen  einerseits  und  zwischen  den  frontalen  und  parietalen  anderer- 
seits. Die  entgegengesetzten  Ersclieinu.ngen  werden  durch  frontale 
Läsionen  einerseits  und  durch  occipitale  Läsionen  andererseits  hervor- 
gebracht, aber  auch  dies  ist  nicht  absolut.  Die  frontalen  Läsionen 
bringen  leichter  occipitale  Symptome  hervor  als  umgekehrt  die  occipi- 
talen  Läsionen  frontale  Symptome. 

Motorische  Störungen  treten  leichter  nach  frontalen  Läsionen 
hervor,  dies  können  aber  sowohl  sigmopräfrontale,  sigmoide,  sigmo- 
parietale,  als  auch  parietale  Lä,sionen  allein  sein.  Die  sigmoide  Region 
ist  also  mindestens  nicht  die  einzige  motorische  Zone.  Die  parietale 
Region  hat  namentlich  in  ihrer  vorderen  Hälfte  mindestens  eine  gleiche, 
wenn  nicht  eine  grössere  Wichtigkeit  für  das  hemiplegische  Syndrom 
als  die  sigmoide  Region. 

Den  Reizversuchen  scheint  Tonnini  nur  eine  geringe  Wichtigkeit 
beizumessen. 

Sehr  ähnliche  Ansichten  wie  über  die  corticale  Läsion  der  Bewegung 
hat  Tonnini  über  corticale  Localisation  der  höheren  Sinne.  Er 
sagt  in  dieser  Beziehung:  „Wir  verneinen  die  Specifität  der  occipi- 
talen  und  temporalen  Region,  ohne  deren  Wichtigkeit  auszuschliessen, 
indem  wir  zulassen,  dass  die  centrale,  parietale  Region  der  Hemisphären 
mehr  den  Functionen  eines  Seh-Hörcentrums  und  vielleicht  auch  eines 
complicirten  sensorischen  Centrums  entspricht."  Ausgedehnte  Zer- 
störungen, welche  die  tiefen  Regionen  der  Sehsphäre  betheiligen,  können 
eine  fast  complete  Seelenblindheit  zur  Folge  haben,  wobei  es  unbestimmt 
bleibt,  ob  es  sich  nicht  um  absolute  Blindheit  handelt;  dabei  ist  zu  be- 
rücksichtigen, dass  die  schwerste  residuale  Sehstörung  in  Seelenblind- 
heit besteht,  wenn  keine  subcorticalen  Degenerationen  bestehen. 

Läsionen  der  parietalen  Region  geben  zu  Seh-  und  Hörstörungen 
von  fast  gleicher  Intensität  Veranlassung,  namentlich  gilt  dies  von  der 
vorderen  Hälfte  der  2.  und  3.  Urwindung.  (üebrigens  sind  in  den  Ver- 
suchen auch  häufig,  wenn  schon  nicht  immer,  Sehstörungen  nach  Ver- 
letzungen des  Gyrus  sigmoides  erwähnt.)  „Es  ist  sicher,  dass  alle 
unsere    in    der  sigmoiden  Region  operirteu  Hunde  Seh-  und  auch  Hör- 


1)  Tonnini,  I  fenomeni  residuali  e  la  loro  natura  psichica  etc.    Rivista 
sperimentale.   1889. 


—     68     — 

Störungen  darboten,  von  denen  sie  immer  bis  zum  letzten  Tage  ihres 
Lebens,  wenn  auch  abgeschwächt,  Residuen  behalten  werden."  Diese 
letzte  Aeusserung  ist  darauf  zurückzuführen,  dass  Tonnini  nicht  nur 
die  Motilitätsstörungen,  sondern  auch  die  des  Gesichts,  des  Gehörs,  des 
Geruchs  etc.  als  Ataxie  auffasst,  „die  vielleicht  die  hauptsächlichste  Ur- 
sache der  psychischen  Blindheit,  Taubheit  und  der  anderen  psychischen 
Anästhesien  und  deshalb  unheilbar  ist,  weil  sie  auf  Unterbrechung  der 
Verbindungen  mit  dem  Kleinhirn  und  den  verschiedenen  Associations- 
systemen  beruht."  (S.  47.)  — 

Die  Exstirpationen  To-nniui's  haben  sämmtlich  einen  grösseren, 
manchmal  einen  sehr  grossen  Umfang  gehabt,  so  dass  sich  einige  von 
ihnen  fast  über  die  ganze  Convexität  erstreckten.  Hieraus  erklärt  sich 
ohne  Weiteres  ein  grosser  Theil  seiner  localisatorischen  Ansichten.  Denn 
wenn  auch  er,  wie  Luciani,  dem  mittleren  Theil  des  Gehirns  ge- 
mischte Functionen  und  eine  höhere  psychische  Bedeutung  zuschreibt, 
so  erklärt  sich  dies,  ebenso  wie  seine  anderweitige  Vertheilung  der 
motorischen  und  sensuellen  Functionen  auf  der  Rinde  durch  die  Her- 
vorbringung von  Nachbarschaftssymptomen,  wie  denn  andererseits  Nach- 
barschaftssymptome nicht  in  Betracht  kommen  können,  wenn  Exstirpa- 
tionen der  entgegengesetzten  Pole  der  Hemisphäre  miteinander  ver- 
glichen werden. 

Ein  anderer  Theil  seiner  Ansichten,  wie  auch  derjenigen  von 
Bianchi  ist  darauf  zurückzuführen,  dass  beide  Forscher  jede  durch 
Verletzung  der  Rinde  hervorgebrachte  Sehstörung  ohne  Weiteres  auf  die 
Functionen  der  Rinde  beziehen.  Auch  auf  ihre  Untersuchungen  finden 
die  im  Eingange  dieser  Abhandlung  vorgetragenen  Erörterungen  und 
meine  Erfahrungen  über  secundäre  Erweichung  vielfach  Anwendung. 
Wir  werden  auch  auf  die  soeben  vorgetragenen  Befunde,  Ansichten  und 
Theorien  zurückzukommen  haben. 

II.  Ueber  Untersuchungsmethoden. 

Die  elektrische  Untersuchung. 
Der  von  mir  im  Jahre  1870  in  Gemeinschaft  mit  Fritsch  ver- 
öffentlichten Arbeit  hatte  ich  nicht  ohne  Absicht  den  Titel  „Ueber  die 
elektrische  Erregbarkeit  des  Grosshirus"  gegeben.  Diese  Arbeit  enthält 
zwar  eine  so  grosse  Anzahl  die  cerebrale  Innervation  der  Bewegung 
betreffende  Thatsachen,  dass  der  späteren  Forschung  nur  der  Ausbau 
und  die  Fortentwicklung  der  Lehre  auf  vollkommen  gesicherter  Grund- 
lage überlassen  blieb.  Aber  in  der  That  erschien  mir  der  Nachweis, 
dass  sich  die  centrale  Nervensubstanz  im  Gegensatz  zu  der  damals  all- 


—     6!)     — 

gemein  gültigen  Lehre  von  Schiff  und  van  Deen,  mit  Rücksicht  auf 
eine  so  wesentliche  Grundeigenschaft  wie  die  Erregbarkeit  nicht  wesentlich 
von  den  Eigenschaften  der  peripheren  Nerven  unterschiede,  an  sich  von 
so  eminenter  principieller  Wichtigkeit,  dass  sie  schon  aus  diesem  Grunde 
die  Wahl  jenes  Titels  rechtfertigte.  Hierzu  kam  der  Werth,  den  ich 
der  elektrischen  Reizung  als  Forschnngsmittel  beilegte.  Vielleicht  war 
es  gerade  jener  Titel,  welcher  spätere  Autoren  mit  Unrecht  dazu  ver- 
anlasst hat,  unseren  Antheil  an  der  Begründung  der  Lehre  von  der 
corticalen  Localisation  auf  den  generellen  Nachweis  der  elektrischen 
Erregbarbeit  des  Grosshirns  zu  beschränken. 

Ich  will  die  Angaben,  welche  wir  in  jener  Arbeit  machten  und 
welche  ich  in  mehreren  späteren  Arbeiten  vervollständigte^),  indessen  nur 
insoweit  es  dem  Zwecke  des  vorliegenden  Aufsatzes  dient,  kurz  reca- 
pituliren. 

Wenn  die  elektrische  Exploration  überhaupt  zuverlässige  und  un- 
anfechtbare Ergebnisse  zu  Tage  fördern  sollte,  so  kam  es  darauf  an, 
diejenigen  Stellen  herauszufinden,  deren  Reizung  bei  der  geringsten 
überhaupt  wirksamen  Stromstärke  einen  Reizeifect  ergab.  Ein  anderer 
Zweck  der  Untersuchung  musste  in  dem  Studium  der  Art  der  so  zur 
Anschauung  gebrachten  Reizeffecte  bestehen;  d.  h.  es  kam  unter  anderem 
darauf  an  zu  erforschen,  ob,  unter  welchen  Bedingungen  und  in  welcher 
Art  jene  Reizeffecte  isolirt  oder  zu  gemeinschaftlichen  Muskelactionen 
combinirt  in  die  Erscheinung  treten. 

Diesen  beiden  Aufgaben  entspricht  die  Reizung  mit  einzelnen 
Schlägen  und  diejenige  mit  tetanisirenden  Strömen  in  verschiedenem 
Grade.  Die  Hervorbringung  combinirter  Muskelactionen  erfolgt  nicht 
nur  leichter,  sondern  in  erheblich  vollkommenerer  Weise  bei  Anwendung 
von  Inductionsströmen,  während  die  Localisirung  der  einzelnen  Reiz- 
effecte auf  eng  begrenzte  Punkte  beim  Hunde  nur  unter  Zuhilfenahme 
der  Reizung  mit  einzelnen  Schlägen  möglich  ist.  Ob  diese  Schläge  nun 
durch  Schliessung  von  Kettenströmen  hervorgebracht  oder  ob  es  einzelne 
Inductionsschläge  sind,  ist  an  sich  zwar  gleichgültig;  indessen  ist  die 
Möglichkeit,  dem  galvanischen  Schlag  eine  beliebige  Dauer  zu  ver- 
leihen, den  Zwecken  der  Untersuchung  förderlich,   während    die    damit 


1)  E.  Hitzig,  Untersuchungen  zur  Physiologie  des  Grosshirns.  Rei- 
chert's und  du  Bois-Reymond's  Archiv  1873.  Kritische  und  experimen- 
telle Untersuchungen  zur  Physiologie  des  Grosshirns.  Untersuchungen  zur 
Physiologie  des  Grosshirns.  Untersuchungen  über  das  Gehirn.  S.  63 ff.  Ueber 
äquivalente  Regionen  im  Gehirn  des  Hundes,  des  Affen  und  des  Menschen. 
Ebenda.  S.  126 ff. 


—     70     — 

Hand  in  Hand  gehende  Zunahme  der  elektrolytischen  Wirkung  von 
Nachtheil  ist;  das  Umgekehrte  trifft  für  die  Reizung  mit  einzelneu  In- 
ductionsströmen  zu. 

Zwei  Eigenschaften  der  Hirnrinde  sind  es,  welche  den  angeführten 
Regeln  zu  Grunde  liegen:  1.  die  Summirung  der  Wirkung  schnell 
auf  einander  folgender  Reize  und  hiermit  zusammenhängend 
2.  die  successive  Ladung  der  Elemente  der  Rinde  und_  ihre 
demnächstige  Entladung  bei  Strömen  dieser  Art. 

Wenn  man  die  Reizung  mit  Inductionsströmen  von  subminimaler 
Intensität  beginnt,  so  sieht  man  die  zu  erwartende  Zuckung  erst  nach 
Verlauf  von  einigen  Sekunden  eintreten  i),  so  dass  man  leicht  zu  dem 
Glauben  verleitet  werden  kann,  dass  man  den  eigentlichen  Focus  der 
Innervation  nicht  gefunden  habe.  Kommt  es  dann  bei  Strömen  dieser 
oder  solcher  Intensität,  deren  Einbruch  ein  Reizeffect  sofort  folgt,  zu 
Muskelcontractionen,  so  sind  diese  stets  combinirter  Natur,  wenigstens 
habe  ich  niemals  beobachtet,  dass  sich  bei  dieser  Form  der  Reizung 
einzelne  Muskehi  oder  gar  Theile  von  Muskeln  der  Extremitäten  oder 
des  Stammes  zusammengezogen  hätten.  Setzt  man  die  Reizung  alsdann 
ort,  so  treten  Nachbewegungen  in  der  abhängigen  Muskulatur  ein, 
welche  sich  in  der,  durch  zahlreiche  Arbeiten  näher  bekannt  gewordenen 
Weise  auf  die  gesammte  Körpermuskulatur  ausdehnen  können,  so  dass 
aus  dieser  Ausbreitung  der  Ladung  ein  typischer  epileptischer  Anfall 
resultirt. 

Reizt  man  dagegen  mit  einzelnen  Stromstössen,  so  lassen  sich  bei 
passender  Abstufung  der  Strominteusität  sehr  leicht  einzelne  Theile 
von  Muskeln,  ganze  Muskeln  und  Combinationen  von  Muskeln  inner- 
viren. 

Es  geht  hieraus  hervor,  dass  die  combinirte  Muskelcoutraction, 
welche  dem  faradischen  Reiz  folgt,  nicht  das  Product  ist  der  Reizung 
des  eigentlichen  Focus,  d.  h.  der  centralsteu  und  kleinsten  Stelle,  die 
überhaupt  auf  einen  Reiz  antwortet,  sondern  dass  die  Combination  der 
einzelnen  motorischen  Elemente  darauf  beruht,  dass  der  Reiz  sich  über 
die  unmittelbarste  Umgebung  der  Eintrittsstelle  ausdehnt  und  diese 
durch  Summirung  der  Erregung  in  denjenigen  Zustand  versetzt  hat, 
welcher  der  Auslösung  einer  Bewegung  entspricht.  Wenn  nun  auf 
diese  Weise  immer  grössere,  wenn  auch  beschränkte  Gebiete  der  Hirn- 
oberfläche in  den  erregten  Zustand  versetzt  werden,  so  ist  es  klar,  dass 


1)  Vergleiche  hierzu  auch  Bubnoff  und  Heidenhain ,  lieber  Erre- 
gungs-  und  Hemmungsvorgänge  innerhalb  der  motorischen  Hirncentren.  Pflü- 
ger's  Archiv  Bd.  XXVL  S.  156ff. 


—     71     — 

die  einzelnen  im  Gyrus  sigmoides  des  Hundes  bei  einander  liegenden 
Reizpunkte  weniger  leicht  auseinander  gehalten  werden  können  und 
dass  daselbst  die  Aufdeckung  und  Umschreibung  solcher  Foci,  in  denen 
wirklich  eine  Combination  jener  einzelnen  Muskeln  zu  gemehischaft- 
licher  Action  anatomisch  und  physiologisch  begründet  ist,  ganz  besoji- 
deren  Schwierigkeiten  unterliegt. 

Das  Gehirn  des  Aft'en  bietet  ebenso  wie  für  die  Lähmungs versuche, 
so  auch  für  die  Reizversuche  viel  günstigere  Bedingungen  dar  und  die 
Verhältnisse  liegen  um  so  günstiger,  je  grösser  das  Gehirn  ist  und  je 
weiter  deshalb  die  einzelnen  Foci  auseinandergezogen  scheinen.  Dazu 
kommt  noch,  dass  das  Gehirn  des  Affen  weniger  leicht  zur  Hervor- 
bringung von  Nachbewegungen  imd  von  epileptischen  Anfällen  dis- 
ponirt  scheint. 

Es  folgt  daraus,  dass  jede  strenge  Untersuchung  der  Hirnobertläche 
sich  beider  Reizmethoden  bedienen  muss,  der  einen  zur  Aufsuchung  der 
eigentlichen  Foci,  der  anderen  zur  Nachweisung  der  von  diesen  aus 
hervorzubringenden  ßewegungscombinationen.  Andererseits  kann  durch 
die  alieinige  Anwendung  von  Inductionsströmen  von  grosser  Intensität 
mid  langer  Dauer  allein  die  Existenz  irgend  eines  motorischen  Inner- 
vationscentrums  an  einer  beliebigen  Oertlichkeit  niemals  bewiesen  oder 
wahrscheinlich  gemacht  werden.  Hierbei  lasse  ich  ganz  und  gar  un- 
erörtert,  welchen  Werth  die  motorische  Reaction  bestimmter  Stellen  der 
Gehirnoberfläche  für  den  Nachweis  der  Existenz  von  motorischen  oder 
wenn  man  will,  „Fühlsphären"  au  den  so  reagirenden  Oertlichkeiten 
besitzt,  um  später  darauf  zurückzukommen.  Aber  ich  werde  wohl 
kaum  einem  Widerspruch  mit  der  Ansicht  begegnen,  dass  die 
wesentlichen  Eigenschaften  dieser  Regionen  mit  Bezug  auf 
ihre  elektrische  Reaction  identisch  sein  müssen  und  dass 
folgerecht  eine  Region,  welche  in  dieser  Beziehung  von  den 
motorischen  oder  Fühlsphären  abweicht,  diesen  nicht  zu- 
gerechnet werden  kann. 

Diese  Frage  spielt  eine  wesentliche  Rolle  bei  der  Bestimmung  der 
Function  des  Stirnlappens  des  Hundes.  Es  ist,  beiläufig  gesagt,  in  der 
hier  uns  beschäftigenden  Frage  gleichgültig,  ob  man  zu  dem  Stirn- 
lappen in  functioneller  Beziehung  den  medialen  Theil  des  vorderen 
;Schenkels  des  Gyrus  sigmoides  hinzurechnet,  wie  ich  dies  thue,  oder 
ob  man  ihn  nicht  hinzurechnet,  wie  z.  ß.  Munk  dies  thut;  denn  es 
kommt  hier  nur  auf  die  elektrische  Reaction  an.  Nun  ist  es  bekannt, 
dass  die  Foci  der  von  mir  als  motorisch  bezeichneten  Regionen  auf 
schwache  electrische  Ströme  mit  einer  motorischen  Reaction  ant- 
worten, während  ich  den  Stirnlappen  in  der  Ausdehnung  der    von    mir 


—     72     — 

gegebenen  Definition  nicht  nur  gegen  solche,  sondern  sogar  gegen 
Ströme  von  viel  grösserer  Intensität  motorisch  mierreghar  fand.  Es  ist 
ferner  bekannt,  dass  Miink  in  dem  von  ihm  sogenannten  Stirnlappen 
die  „Fühlsphäre"  für  den  Rumpf  localisirt  und  dass  ihm  zur  Stütze 
für  diese  Ansicht  die  motorische  Reaction,  welche  er  bei  der  elektrischen 
Reizung  dieser  Theile  erhielt,  diente.  Ich  habe  gegen  diese  Lehre 
M  unk 's  eingewendet,  dass  solche  Reactionen  seiner  eigenen  Angabe 
nach  nur  bei  Anwendung  von  Strömen  von  solcher  Intensität  und 
Dauer  eintreten,  wie  ich  sie  im  Vorstehenden  und  früher  als  ungeeignet 
bezeichnet  habe  und  Munkl)  hat  darauf  erwidert,  dass  bei  meiner 
Forderung  eine  Unklarheit  zu  Grunde  gelegen  habe  —  eine  Behauptung, 
welche  nicht  im  Geringsten  begründet  ist  —  insofern  als  für  die  ab- 
solute Grösse  der  Ströme,  welche  in  Anwendung  zu  kommen  hätten, 
an  sich  überhaupt  keine  Beschränkung  weiter  gesetzt,  sondern  hierfür 
nur  der  zu  erzielende  Erfolg,  also  die  Erzielung  der  Bewegungen  der 
Wirbelsäule  etc.  massgebend  sei. 

Ich  will  jetzt  dahingestellt  sein  lassen,  in  wieweit  Munk  im  Recht 
ist,  w^enn  er  gerade  bei  diesen  Versuchen  den  bekannten  und  soeben 
erörterten  Erfahrungen  über  die  Diffusion  der  Ströme,  über  die  Ladung 
der  Rinde  keine  Beachtung  schenkt  und  zu  seineu  Gunsten  eine,  von 
ihm  allerdings,  soviel  ich  sehe,  nicht  ausgesprochene  Auffassung  gelten 
lassen,  dass  nämlich  zur  Hervorbringung  von  sichtbaren  Bewegungen  in 
dieser  Region  die  gleichzeitige  Reizung  der  centralen  Endstätten  einer 
grossen  Zahl  von  central  und  peripher  weit  auseinander  liegenden 
Motoren  erforderlich  sei.  Ich  selbst  habe  wiederholt 2)  diese  Frage  auf- 
geworfen und  zwar  gerade  in  Bezug  auf  die  Muskeln  des  Stammes,  sie 
dann  aber  durch  den  Versuch  direct  beantwortet.  Wenn  die  von  mir 
für  die  motorische  Region  in  Anspruch  genommenen  Theile  dieser  wirk- 
lich zugehörten,  dann  mussten  sie  sich  auch  mit  Bezug  auf  den  elek- 
trischen Reiz  ebenso  verhalten  wie  diese,  mit  anderen  Worten,  die  von 
dort  innervirten  Muskeln  mussten  sich  auf  die  Stromstärke  des  Zuckungs- 
minimums ganz  oder  theilweise  contrahiren,  auch  wenn  durch  solche 
Contractionen  sichtbare  Bewegungen  der  die  Anwendung  eines  grösseren 
Kraftaufwandes  erfordernden  Körpertheile  nicht  hervorgebracht  wurden. 
Das  Vorhandensein  solcher  partiellen  und  totalen  Muskelzuckungen  wies 
ich    denn    auch    bei  Reizung    entsprechender  Rindenpartien    durch  Zu- 


1)  Munk,   Ueber  die  Ausdehnung  der  Sinnessphären  in  der  Grosshirn- 
rinde.   Zweite  Mittheilung.    Sitzungsberichte  19Ü0.   S.  782f. 

2)  E.  Hitzig,   Untersuchungen  über  das  Gehirn.    1874.   S.  48,  91  und 
an  anderen  Orten. 


—     73     — 

fühlen  und  durch  Aufdeckung  der  fraglichen  Muskelgruppen  nach.  Es 
liegt  kein  Grund  vor,  wegen  dessen  sich  der  sogenannte  Stirnlappen  in 
dieser  Beziehung  anders  verhalten  sollte;  wäre  er  also  wirklich  das 
Centrum  für  die  Rumpfmuskeln,  so  raüsste  er  auf  einzelne  galvanische 
Stromstösse  von  der  ungefähren  Stärke  des  Zuckungsminimums  mit 
Muskelcontractionen  antworten.  Munk  hat  den  Beweis,  dass  dem  so 
sei,  nicht  angetreten  und  thatsächlich  ist  es  auch  nicht  der  Fall. 

Die  hier  kurz  berührte  Frage  hat  eine  bei  weitem  grössere  Wich- 
tigkeit, als  die  Bestimmung  der  centralen  Lokalisation  einer  grösseren 
Muskelgruppe  für  sich  beanspruchen  darf:  es  handelt  sich  darum,  ob 
der  Stirnlappen  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  lediglich  mo- 
torischen Functionen  dient,  oder  ob  dies  nicht  zutrifft. 

Diese  Frage  ist  wiederholt  und  auch  in  den  letzten  Jahren  Gegen- 
stand der  Diskussion  gewesen  und  sie  ist  von  so  hervorragender  Wich- 
tigkeit, dass  ich  sie  nächstens  eingehender  zu  besprechen  beabsichtige. 
Für  diesmal  beschränke  ich  mich  daher  auf  die  vorstehenden  allge- 
meinen Bemerkungen  über  die  bei  Anstellung  von  Reizversuchen  er- 
forderliche Kritik. 

Eine  Reihe  von  anderen  Resultaten  meiner  eigenen  Reizversuche 
ist  derart  übersehen  worden,  dass  sie  von  meinen  Nachfolgern  zum 
Theil  von  Neuem  entdeckt  werden  mussten,  zum  Theil  unberücksichtigt 
geblieben  sind. 

Uns  iuteressiren  zunächst  die  Verbindungen,  welche  die  ein- 
zelneu Innervationsgebiete  miteinander  einzugehen  scheinen, 
ein  Verhalten,  welches  ich^)  mit  dem  Namen  „erregbare  Verbindungen 
der  Centren"  bezeichnete.  In  dieser  Beziehung  ergab  sich  zunächst, 
dass  es  zwischen  den  Reizpunkten  für  die  beiden  Extremitäten  und  von 
ihnen  durch  eine  weniger  erregbare  Stelle  getrennt,  einen  Punkt  giebt, 
von  dem  aus  beide  contralateralen  Extremitäten  gleichzeitig  in  Bewegung 
gesetzt  werden  können.  Um  Stromschleifen  nach  den  Reizpunkten  für 
die  eine  oder  die  andere  Extremität  konnte  es  sich  nicht  handeln,  weil 
der  Reizeffekt  eben  aufhörte  oder  schwächer  wurde,  wenn  die  Elek- 
troden sich  diesen  Reizpunkten  näherten. 

Ebenso  gelang  es  mir  durch  Reizung  mit  stärkeren  Strömen  von 
der  Convexität  aus,  sowie  durch  Reizung  mit  meinem  Lanzenrheophor 
bei  Einstechen  in  die  Hirnsubstanz  verschiedene  Muskelcombinationen 
nachzuweisen.  Ich  war  damals  geneigt,  die  letzterwähnten  Reizeffecte 
auf  die  grossen  Ganglien    zu   beziehen;    indessen    dürfte  es  sich    dabei 


1)  Untersuchungen  etc.   1874.   S.  45 ff. 


—     74     — 

wahrscheinlich  nur  um  Reizung  von  nahe  beieinander  verhaufenden 
Fasern  der  inneren  Kapsel  gehandelt  haben. 

Schon  damals,  also  im  Jahre  1873,  konstatirte  ich  die  Möglichkeit, 
eine  grössere  Anzahl  von  Muskeln,  vornehmlich  die  Stammmuskeln, 
durch  Reizung  von  der  Oberfläche  aus  und  nicht  nur  diese,  sondern 
auch  den  grösseren  Theil  der  Muskulatur  der  Extremitäten  durch  die 
Reizung  mit  dem  Lanzenrheophor  doppelseitig  zur  Contraction  zu 
bringen,  wobei  sich  die  gleichnamige  hintere  Extremität  stärker,  die 
gleichnamige  vordere  Extremität  schwächer  betheiligte.  Doppelseitige 
Bewegungen  der  Zunge,  des  Facialis  und  der  die  Kiefern  in  Bewegung 
setzenden  Muskeln  konnte  ich')  zum  Theil  in  Uebereinstimmung  mit 
Ferrier  durch  Reizung  der  vorderen  und  basalen  Theile  der  2.  und 
3.  Urwindung  nachweisen. 

Es  konnte  hiernach  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  fast  die 
gesammte  Muskulatur,  wenn  auch  in  verschiedener  Stärke, 
in  beiden  Hemisphären  repräsentirt  ist  und  demnach  auch  der 
doppelseitigen  Innervation  zugänglich  sein  muss.  Diese  Thatsachen  au 
sich  sind  auch,  abgesehen  davon,  dass  sie,  wie  gesagt,  von  Anderen 
erst  wieder  entdeckt  wurden,  bei  der  Erörterung  einer  Anzahl  hierher 
gehöriger  Fragen,  z.  ß.  der  der  Restitution,  der  doppelseitigen  Paresen, 
der  doppelseitigen  Steigerung  der  Reflexe  etc.,  wie  sie  beim  Menschen 
beobachtet  werden,  nicht  unbeachtet  geblieben,  ja  sie  haben  sogar 
wiederholt  Veranlassung  zu  besonderen  Experimentaluntersuchungen  ge- 
geben; von  anderen  Autoren  sind  sie  überhaupt  nicht  berücksichtigt 
worden.  Und  in  noch  höherem  Grade  gilt  dies  von  meinen  Unter- 
suchungen über  combinirte  Reizeffecte.  Gleichwohl  sind  alle  diese 
Dinge  von  nicht  geringer  Wichtigkeit  für  unsere  Erkenntniss  der  Ge- 
hirnmechanik. Vor  der  Hand  erklären  sie  nicht  nur  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  die  doppelseitigen  Wirkungen  einseitiger  Zerstörungen 
überhaupt,  sondern  sie  lassen  uns  auch,  wie  bereits  im  Eingang  dieser 
Abhandlung  angedeutet,  die  Gründe  erkennen,  wegen  deren  selbst  kleine 
Verletzungen  der  motorischen  Region  des  Hundes  einerseits  in  der  Regel 
zu  motorischen  und  sensiblen  Störungen  beider  contralateraler  Extremi- 
täten führen,  andererseits  aber  unter  bestimmten  Voraussetzungen  des 
Ausgleiches  durch  den  Eintritt  anderer  Bezirke  der  gleichen  Hemisphäre 
zugänglich  sind. 

Hiermit  mögen  die  vorerwähnten  Ansichten  italienischer  Autoren 
über  die  Construction  luid  die  Verrichtungen  der  motorischen  Zone  vor- 


1)  E.  Hitzig,  Untersuchungen  etc.   1874.   S.  85tf. 


—     75     — 

behaltlich  einer  besonderen,  demnächst  zu  publizirenden  Experimental- 
untersuchung  ihre  vorläufige  Erledigung  finden. 

Aber  weit  darüber  hinaus  kommt  diesen  Erfahrungen  und  den- 
jenigen über  den  Einfluss  corticaler  Eingriffe  auf  den  Sehact,  mit  denen 
wir  uns  in  einer  folgenden  Abhandlung  beschäftigen  werden,  eine  be- 
sondere Wichtigkeit  für  die  Erkenntniss  der  Art  und  Weise  zu,  in  der 
die  einzelnen  cerebralen  Mechanismen  ineinander  greifen,  um  aus  diesem 
Zusammenwirken  dasjenige  zu  gestalten,  was  wir  unter  dem  Namen 
psychischer  Functionen  verstehen.  Ich  habe  gewiss  niemals  das  prac- 
tische  und  ebensowenig  das  physiologische  Interesse  der  von  mir  zuerst 
angeregten  Fragen  verkannt;  aber  noch  höher  als  dieses  schätze  ich 
den  Erwerb  auf  psychologischem  Gebiete,  welchen  uns  die  Zukunft 
bringen  wird.  Sicherlich  sind  die  Einrichtungen,  durch  die  eine  Be- 
wegung erzielt  wird,  und  insbesondere  die  Einrichtungen  und  die  Mittel, 
durch  welche  die  Sinne  auf  die  Bewegungen  einwirken,  beim  Hunde 
und  beim  Menschen  verschieden  und  wahrscheinlich  besteht  beim  Affen 
eine  solche  Verschiedenheit  gegenüber  beiden.  Gerade  das  Studium 
dieser  Verschiedenheiten  aber  und  die  Verfolgnng  der  Art  der  Fortent- 
wickelung der  einzelnen  Functionen  verspricht  uns  die  ersehnte  Förde- 
rung. Nur  wird  dieses  Studium  immer  als  nächstes  Ziel  im  Auge 
haben  müssen,  jedesmal  den  Einfluss  jedes  einzelnen  corticalen  Feldes 
auf  den  ungestörten  Ablauf  der  psychischen  Functionen  jeder  Species 
zu  ergründen. 

Die  Untersuchung  der  Bewegung  und  Empfindung. 

So  bekannt  die  nach  corticalen  Läsionen  einti'etenden  Bewegungs- 
störungen auch  sein  mögen,  so  ist  doch  weder  ihr  Studium  abge- 
schlossen, noch  ist  Uebereinstimmung  über  die  Deutung  der  zu  beob- 
achtenden Erscheinungen  erzielt.  Wir  haben  uns  zunächst  mit  den 
üntersuchungsmethoden  zu  beschäftigen  und  zwar  komme  ich  zuerst 
nochmals  auf  die  von  mir  neuerdings  mehrfach  erwähnte  Unter- 
suchung schwebender  Hunde  zurück. 

Diese  Art  der  Untersuchung  hatte  ich  selbst  bereits  im  Jahre  1874 
angegeben  und  bin  später  wiederholt  darauf  zurückgekommen  1).  Ich 
hob  damals  hervor,  dass  die  Beine  der  operirten  Thiere  in  der  Schwebe 


1)  E.  Hitzig,  Untersuchungen  über  das  Gehirn.  Neue  Folge.  II.  Rei- 
chert's und  du  Bois-Reymond 's  Archiv.  1874.  S.  421  ff.  u.  439.  Ebenda 
1876.  S.  701.  1877.  S.  697,  700  und  709.  Ueber  den  heutigen  Stand  der 
Frage  von  der  Localisation  im  Grosshirn.  Volkmann' s  Sammlung-  klin. 
Vorträge.    No.  112.  S.  971,  974,  975. 


—     76     — 

eine  ganz  veränderte  Stellung  zueinander  und  zum  Rumpfe  einnehmen. 
Thatsächlich  deviiren  sie  das  eine  Mal  nach  der  Operationsseite,  das 
andere  Mal  nach  der  contralateralen  Seite;  häufig  zeigt  nur  das  kranke 
Vorderbein  eine  Deviation.  Ich  fand  ferner,  dass  dieses  Bein  immer 
gestreckt  und  gewöhnlich  im  Schultergelenk  abnorm  gedreht,  das 
Hinterbein  häufig  nur  gestreckt  gehalten  wird.  Endlich  gab  ich  an, 
dass  die  schAvebenden  Thiere  auf  leise  Berührungen  die  kranken  Pfoten 
nicht  fortziehen,  während  diese  Reaction  auf  der  gesunden  Seite  mehr 
oder  minder  energisch  von  Statten  geht. 

Von  anderen  Forschern  liat  sich  vornehmlich  Bianchi  mit  dieser 
üntersuchungsmethode  beschäftigt.  Seine  ersten  Notizen  hierüber  finde 
ich  in  einer  Arbeit  aus  dem  Jahre  1883^).  Hier  heisst  es  S.  17  ff., 
dass  alle  Hunde,  denen  Bianchi  die  motorische  Zone  in  grosser  Aus- 
dehnung zerstört  hatte,  noch  nach  Monaten  in  der  Schwebe,  also  wenn 
sie  keine  locomotorischen  Bewegungen  ausführen  konnten,  eine  so  gut 
wie  vollständige  Unbeweglichkeit  der  paretischen  Extremitäten,  auch 
bei  schmerzerregenden  Reizungen  mit  dem  Inductionsstrom  und  einen 
grösseren  Widerstand  ihrer  Streckmuskulatur  bei  Beugeversuchen  er- 
kennen Hessen. 

Bianchi  ist  dann  noch  ein  zweites  Mal  auf  diese  Frage  zurück- 
gekommen 2).  Hier  führt  er  weiter  an,  dass  die  paretischen  Glieder  bei 
Reizversuchen  noch  mehr  gestreckt  werden  und  dass,  wenn  unter  diesen 
Umständen  Bewegungen  eintreten,  diese  mit  Bewegungen  der  anderen 
Seite  associirt  sind.  Besonders  betont  wird  hier,  dass  die  Extensoren- 
gruppe  sich  in  einem  stärkeren  Spannungszustande  contracturirt  .befand 
und  dass  dieser  Zustand  qualitativ  der  posthemiplegischen  Contractur 
des  Menschen  entspräche  und  nur  quantitativ  von  ihr  verschieden    sei. 

Sodann  führt  Bianchi  an,  dass  diese  Hunde  die  über  den  Tisch- 
rand dislocirten  kranken  Extremitäten  herabhängen  lassen,  ohne  sie  zu 
reponiren,  eine  Beobachtung,  welche  bereits  in  meiner  citirten  Arbeit 
aus  dem  Jahre  1874,  S.  422  ff.,  beschrieben  ist.  Und  endlich  erwähnt 
er  die  seinerzeit  von  mir 3)  zum  Gegenstand  einer  besonderen  Arbeit 
gemachte  Erscheinung,  dass  hemiplegische  Contracturen  beim  Menschen 
sich  unter  dem  Einfluss  motorischer  Willeusimpulse  verstärken   können 


1)  L.  Bianchi,  Sülle  compensazioni  funzionali  della  corteccia  cerebrale. 
La  Psichiatria.   1883. 

2)  L.  Bianchi,  Ancora  sulla  dottrina  dei  centri  corticali  motori  del  cer- 
vello.    La  Psichiatria.  1885. 

3)  E.  Hitzig,  Ueber  die  Auffassung  einiger  Anomalion  der  Muskelinner- 
vation.    Untersuchungen  über  das  Gehirn.    1874. 


—     77     — 

und  sucht  diese  Erscheinung  mit  der  ExteusionsstelJung  der  afficirten 
Pfoten  in  Verbindung  zu  bringen. 

Während  die  meisten  hier  angeführten  Beobachtungen  Bianchi's, 
wenn  auch  später  als  die  meinigen,  so  doch  jedenfalls  unabhängig  von 
ihnen  gemacht  sind,  kommt  diesem  Forscher,  soviel  ich  sehe,  das  zu 
meinem  Bedauern  von  mir  früher  übersehene  Verdienst  zu,  zuerst  hervor- 
gehoben zu  haben,  dass  solche  Hunde,  welche  man  auf  die  geschilderte 
Weise  in  die  Unmöglichkeit  versetzt  hat,  Locomotionsbewegungen  zu 
machen,  zu  jeder  Bewegung  der  kranken  Extremitäten  unfähig  sind. 
Es  ist  dies,  wie  ich  bereits  wiederholt  betont  habe,  eine  besondere 
Form  des  von  Goltz,  Schiff  und  mir  beschriebenen  Verlustes  der  iso- 
lirten  intentioneilen  Bewegung  der  gelähmten  Glieder. 

Den  Vergleich,  den  Bianchi  zwischen  der  Streckstelluug  der  ge- 
lähmten Hundepfote  und  der  hemiplegischen  Contractur  des  Menschen 
zieht,  halte  ich  für  unzutreffend.  In  der  That  unterscheidet  sich  das 
uns  beschäftigende  Symptom  von  der  hemiplegischen  Contractur  schon 
dadurch,  dass  es  alsbald  nach  der  Operation  in  die  Erscheinung  treten 
kann,  während  die  hemiplegische  Contractur  des  Menschen  sich  be- 
kanntlich erst  Wochen  nach  dem  Eintritte  der  Lähmung  zu  entwickeln 
pflegt.  Auch  ist  es  nicht  richtig,  dass  die  Streckstellung  der  Extremität 
durch  stärkere  Contraction  der  Strecker  bedingt  ist,  sodass  Beuge- 
versuchen ein  stärkerer  Widerstand  entgegengesetzt  würde.  Die  sämmt- 
lichen  Muskeln  der  Extremität  sind  vielmehr,  wenn  der  Hund  nicht 
aufgehängt  ist,  vollkommen  schlaff,  viel  schlaffer  als  die  Muskeln  der 
anderen  Seite  und  sie  sind  es  sicherlich  noch  recht  lange  Zeit  nach 
der  Operation  immer;  ist  er  aufgehängt,  so  sind  sie  gelegentlich  weniger 
schlaff,  aber  weder  die  Beuger  noch  die  Strecker  setzen  in  der  Regel 
passiven  Bewegungen  irgend  einen  oder  gar  einen  stärkeren  Widerstand 
entgegen,  als  die  gleichnamigen  Muskeln  der  anderen  Seite.  Betrachtet 
man  die  Abbildung  S.  16  dieser  Untersuchungen^),  so  wird  man  auch 
durchaus  nicht  den  Eindruck  erhalten,  als  ob  die  rechten  Extremitäten 
von  einer  Streckcontractur  befallen  seien. 

In  neuerer  Zeit  habe  ich  mich  nochmals  mit  der  Prüfung  der  An- 
gaben Bianchi's  und  zwar  vornehmlich  aus  dem  Grunde  beschäftigt, 
weil  ich  zu  einer  Erklärung  der  von  den  meinigen  abweichenden  An- 
sichten dieses  verdienten  Forschers  zu  gelangen  wünschte.  Hierbei  habe 
ich  einige  nicht  unwichtige  und  die  Auffassung  Bianchi's  gut  er- 
klärende Beobachtungen  gemacht. 


1)  Alte  und  neue  Untersuchungen  über  das  Gehirn.     Archiv  für  Psych. 
Bd.  34.   Heft  I. 


—     78     — 

Ich  gebe  zunächst  einige  typische  Beobachtungen  wieder,  indem 
ich  mich  dabei  jedoch  auf  die  Anführung  der  uns  hier  interessirenden 
Symptome  beschränke. 

Einem  Hunde  wurde  der  ganze  linke  Gyrus  sigmoides  von  der  Stirnhöhle 
aus  freigelegt  und  dann  unter  geringer  Blutung  umschnitten  und  unter- 
schnitten. Das  Thier  läuft  bald  nach  der  Operation  mit  hochgradiger  Moti- 
litätsstörung umher. 

.  2.  Tag:  Sehr  starke  Motilitätsstörung.  Hängt  rechts  anfänglich  stark, 
nachher  nur  wenig  mehr  als  Ifnks  gestreckt.  Bei  passiven  Bewegungen  beider 
Vorderpfoten  kein  Muskelwiderstand,  ausser  in  den  Beugern,  aber  auch  dieser 
leichte  Widerstand  links  deutlicher  als  rechts. 

3. Tag:  Hängt  rechts  anfangs  wieder  stark  gestreckt,  nach  verschiedenen 
passiven  Bewegungen  zieht  er  aber  auch  das  rechte  Bein  an,  so  dass  kein  Un- 
terschied in  der  Haltung  der  Pfoten  mehr  zu  erkennen  ist. 

4.  Tag:  Hängt  anfangs  nicht  gestreckt,  wohl  aber  nachdem  er  einige 
heftige  Schwimmbewegungen  ausgeführt  hat. 

5.  Tag:  Das  rechte  Hinterbein  war  unter  den  Leib  in  den  Sack  gerathen. 
Während  dieser  Zeit  hängt  der  Hund  rechts  vorn  gestreckt  und  zeigt  leichten 
Muskelwiderstand  in  den  Extensoren  dieser  Extremität.  Sobald  das  Hinterbein 
befreit  war,  zog  er  das  Vorderbein  an  und  hängt  nun  beiderseits  gleich  halb 
gebeugt;  bei  passiven  Bewegungen  kein  Unterschied  mehr  zwischen  rechts  und 
links.  Hinten  hängt  er  beiderseits  halb  gestreckt  und  spannt  stark  bei  pas- 
siven Bewegungen. 

8.  Tag:  Hängt  beiderseits  mit  angezogenen  Beineu,  ohne  dass  sich  durch 
Pumpbewegungen  1)  etwas  daran  ändern  liesse. 

12.  Tag:  Hängt  anfangs  rechts  wieder  gestreckt  mit  schlaffer  Muskula- 
tur, zieht  aber  bald  an  und  hängt  dann  beiderseits  gleich.  Bei  Pumpbewe- 
gungen des  linken  Beines  streckt  sich  das  rechte  Bein  und  spreizen  sich  dessen 
Zehen,  sehr  bald  nach  Aufhören  der  Bewegungen  zieht  er  aber  wieder  an. 
Zieht  beim  ersten  Nadelstich  in  die  Vorderpfote  diese  zurück. 

18.  Tag:  Hängt  rechts  wieder  anfangs  gestreckt  (diese  Erscheinungen 
waren  bisher  constant),  zieht  aber  auf  leichtes  Kitzeln  an.  Beim  Begreifen 
links  viel  ausgiebiger  und  heftiger  als  rechts.  Nach  dem  Anziehen  hängt  der 
rechte  Fuss  schlaff  und  stumpfwinklig  gebeugt,  während  der  linke  stark  spitz- 
winklig gebeugt  gehalten  wird. 

29.  Tag:  Motilitätsstörungen  haben  sich  allmählig  sehr  erheblich  gebes- 
sert; lässt  aber  die  Pfoten  noch  dislociren  und  kurze  Zeit  mit  dem  Dorsum 
aufsetzen.  Setzt  das  Bein  bei  jeder  Berührung  alsbald  fort.  Hängend  stets 
das  gleiche  Verhalten:  streckt  bei  Pumpbewegungen  des  linken  Beines  das 
rechte  Vorderbein  etwas,  Avenn  auch  nicht  mehr  so  stark  wie  anfangs. 


1)   So  bezeichne  ich   der  Kürze  wegen  mehrmalige   passive  Beuge-  und 
Streckbewegungen  der  Extremität. 


79 


30.  Tag:  Operation  rechts  symmetrisch,  wobei  derGyrus  sigmoides  durch 
den  Meissel  etwas  gequetscht  wird. 

31.  (2.)  Tag:  Motilitätsstörung  links  stark,  rechts  unverändert.  Hängt 
beiderseits  leicht  angezogen.  Bei  heftigen  activen  Bewegungen  streckt  sich 
das  rechte  Bein,  nie  das  linke,  auch  nicht  auf  Pumpbewegungen  des  rechten 
Beines.    Beim  Begreifen  Reaction  rechts  schwach,  links  fehlend. 

32.  (3.)  Tag:  Hängt  beiderseits  angezogen;  auf  Pumpbewegungen  des 
linken  Beines  streckt  sich  das  rechte  Bein  unter  Spreizen  der  Zehen. 

36.  (7.)  Tag:  Bisher  unverändert.  Hängt  heute  links  stark  gestreckt, 
rechts  angezogen.  Bei  Pumpbewegungen  der  linken  Extremitäten  spreizen  sich 
die  Zehen  der  rechten  und  die  Beine  strecken  sich  leicht;  bei  Pumpbewegungen 
der  rechten  Extremitäten  strecken  sich  die  linken.  Besonders  betrifft  dies  die 
Hinterbeine;  diese  deviiren  dann  so  stark  nach  vorn,  dass  sich  die  etwas  nach 
hinten  stehenden  Vorderbeine  mit  den  Hinterbeinen  kreuzen.  Die  rechten  Ex- 
tremitäten sind  ganz  schlaff,  die  linken  zeigen  bei  passiven  Bewegungen  einen 
stärkeren  Widerstand  als  die  rechten. 

39.  (10.)  Tag:  Heute  strecken  sich  die  linken  Extremitäten  auch  nach 
Pumpbewegungen,  welche  man  mit  ihnen  selbst  ausgeführt  hat,  stärker  aller- 
dings nach  solchen  Bewegungen  mit  den  contralateralen  Extremitäten.  Im 
Uebrigen  das  gleiche  Verhalten  wie  früher:  hängt  zuerst  links  stark  gestreckt, 
zog  dann  aber  an.  Die  Streckung  auf  Pumpbewegungen  dauert  immer  nur 
Augenblicke,  während  deren  sich  Hinter-  und  Vorderbeine  kreuzen.  Mitten  in 
der  Untersuchung  hing  er  dann  wieder  links  vorn  ganz,  links  hinten  massig 
gestreckt.  Gleichzeitig  besteht  ein  viel  stärkerer  Muskelwiderstand  Avie  bei  der 
durch  Pumpbewegungen  erzielten  Streckung. 

41. (12.)  Tag:  Motilitätsstörungen  und, Sensibilitätsstörungen  links  immer 
noch  sehr  hochgradig;  im  Uebrigen  unverändert. 


Fig.  9. 

43.  (14.)  Tag:   Getödtet.    Section:  Linke  Hemisphäre:   Die  etwa  18mm 
lange  und  22  mm  breite  Narbe  sitzt  dem  Gyrus  sigmoides   in  der  Weise  auf, 


80 


dass  sie  nach  hinten  mit  dem  hinteren  Rande  des  hinteren  Schenkels,  nach 
lateral  mit  dem  lateralen  Rande  abschliesst;  nach  vorn  reicht  sie  bis  etwas 
über  den  Sulcus  craciatus  in  den  vorderen  Schenkel  hinein;  nach  medial  bis 
7  mm  von  der  Medianspalte.     Diese  Hirnoberflächenpartie   von    der  Narbe  bis 


Fig.  10/  ' 

zur  Medianspalte  ist  leicht  höckerig  narbig  eingezogen.  Durchschnitt  (dicht 
hinter  dem  Sulcus  cruciatus):  Die  Rinde  ist  flach  in  der  Ausdehnung  der 
Narbe  zerstört;  von  der  Narbe  aus  geht  im  Markweiss  des  Gyrus  sigmoides  ein 
feiner,  blutig  verfärbter  Erweichungsstreifen  4  mm  weit  basalwärts. 

Rechte  Hemisphäre:    Die  15  mm   lange   und  12  mm   breite  Narbe  sitzt 
genau  symmetrisch,  nur  reicht  sie  nicht  ganz  bis  zum  hinteren  Rande  des  hin-        i 
teren  Schenkels  des  Gyrus  sigmoides.     Durchschnitt   (wie  links):    Rinde   der 
Narbenausdehnung  entsprechend  fl.ach  zerstört;   das  unter  der  Narbe  liegende,        ' 
den  einschneidenden  Sulci   folgende  Rindengrau   erscheint,    wie   auch   links, 
vielleicht  etwas  abgeblasst.     In    der  Markleiste   des  Gyrus  sigmoides  (laterale        i 
Verbindung  desselben  zwischen  vorderem  und  hinterem  Schenkel)  steigt  eben-        ; 
falls  ein  blutig  verfärbter  Erweichungsstreifen   basalwärts;    derselbe   ist  etwa 
9  mm  lang.  I 

Hervorzuheben  ist,  dass  beiderseits  mehr  noch  links  als  rechts,  ein  j 

nicht  unerliebliclier  Tlieil    der  grauen  Substanz    des  hinteren  Schenkels  j 

couservirt    erscheint,     und    dass    die    linke    innere    Kapsel    unter    die  I 
Schnittfläche  eingesunken  ist. 


Beobaehtviiig,-  '^• 

Einem  Hunde  wurde  ein  Bezirk  von  ca.  8  mm  Durchmesser  in  der  linken 
2.  Urwindung  lateral  vom  Gyrus  sigmoides  mit  dem  Präparatenheber  in  fi-on- 
taler  Richtung  derart  umstechen,    dass    ein    annähernd   vertical  auf  der  Falx 


—     81     — 

stehender  Cylinder  umschnitten  war.  Der  Präparatenheber  drang  etwa  1,8  cm 
tief  ein. 

2.  Tag:  Der  Hund  ist  sehr  munter.  Starke  Motilitätsstörungen  vorn, 
geringe  hinten.  Hängt  rechts  vorn  stark  gestreckt,  das  Bein  nach  aussen 
deviirend,  zieht  das  Bein  weder  auf  Kitzeln,  noch  Stechen  an.  Bei  passiven 
Bewegungen  ganz  schlaff,  schlaffer  als  links. 

5.  Tag:  Hängt  vorn  stark  gestreckt,  die  Zehen  gespreizt,  das  Bein  immer 
noch  nach  aussen  deviirend.  Nach  einigen  heftigen  Schwimmbewegungen  zieht 
er  das  Bein  etwas  an. 

7.  Tag:  Die  Motilitätsstörung  hat  inzwischen  stark  abgenommen:  lässt 
nur  noch  mit  dem  Dorsum  aufsetzen  und  dislociren,  reponirt  aber  alsbald. 
Sonst  unverändert. 

8.  Tag:  Identische  Operation  symmetrisch  rechts  unter  Verletzung  einer 
stark  spritzenden  Gehirnarterie. 

9.  (2.)  Tag:  Starke  Motilitätsstörungen  links,  hängt  beiderseits  gestreckt. 
Gleich  nach  der  Untersuchung  typischer  epileptischer  Anfall  mit  Secessus  und 
Bellen,  coupirt  durch  Klysma  von  Chloral  2,0. 

10.  (3.)  Tag:  Hängt  beiderseits  gestreckt,  aber  links  zeigt  sich  bei  pas- 
siven Bewegungen  ein  starker  Muskelwiderstand,  der  rechts  bei  gleicher 
Streckung  fehlt.  Nach  einigen  passiven  Bewegungen  hängen  beide  Vorderbeine 
leicht  nach  aussen  und  stark  nach  hinten  deviirend,  so  dass  die  Füsse  der 
Vorderbeine  hinter  den  Füssen  der  stark  gestreckten  und  nach  vorne  sehenden 
Hinterbeine  zu  hängen  kommen.  Angezogen  wurden  die  Beine  nach  passiven 
Bewegungen  nicht. 

12.  (5.)  Tag:  Hängt  beiderseits  gestreckt,  rechts  ganz  schlaff,  links  im 
Ellenbogengelenk  stärkerer,  im  Handgelenk  schwächerer,  aber  immerhin  deut- 
licher Muskelwiderstand  gegen  passive  Beugung. 

15.  (8.)  Tag:  Gestern  und  heute  keine  Deviation  nach  aussen  und  hin- 
ten. Die  Beine  hängen  einfach  gestreckt,  zeigen  weder  rechts  noch  links  den 
geringsten  Muskelwiderstand;  Pumpbewegungen  bleiben  resultatlos. 

Unverändert  bis  zum  18.  (11.)  Tag. 

19.  (12.)  Tag:  Die  Beine  deviiren  wieder  deutlich  nach  hinten;  links 
vorn  besteht  wieder  der  erwähnte  starke  Muskelwiderstand. 

23.  (16.)  Tag:  Hängt  beiderseits  vorn  und  hinten  gestreckt,  aber  kein 
Muskel  widerstand. 

26.  (19.)  Tag:  Die  allmählig  immer  mehr  und  mehr  zurückgegangenen 
Motilitätsstörungen  sind  deutlich  nur  noch  links  vorn  nachzuweisen,  wo  dei" 
Hund  leicht  dislociren  und  für  Augenblicke  mit  dem  Dorsum  aufsetzen  lässt. 
Hängt  beiderseits  vorn  und  hinten  gestreckt,  die  Vorderbeine  leicht  nach  hin- 
ten deviirend;  überall  ganz  schlaff,  bei  Pumpbewegungen  tritt  nur  ein  leichtes 
Spreizen  der  Zehen  ein.    Beim  Begreifen  vorn  nichts,  hinten  deutlich. 

Getödtet.    Section : 

Linke  Hemisphäre:  Auf  der  2.  Urwindung  lateral  vom  Gyrus  sigmoides 
liegt  die  etwa  9  mm  lange  und  6  mm  breite  Narbe,  so  dass  die  laterale  Ver- 
längerung des  Sulcus  cruciatus  durch  den  vorderen  Rand  derselben  geht;  nach 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     IL  Theil.  6 


—     82     — 

medial  greift  sie  nicht  auf  den  Gyrus  sigmoides  über.  Durchschnitt  (dicht 
hinter  dem  Sulcus  cruciatus) :  Von  der  Mitte  der  Narbenkappe  geht  ein  6  mni 
langer  Spalt  schräg  das  Rindengrau  des  hier  einschneidenden  Sulcus  corona- 
riüs  durchlrennend  mediahvärts.  Vom  unteren  Rande  der  Narbe  geht  ein  etwas 
längerer  Spalt  (10  mm)  ganz  horizontal  nach  innen,  im  Markweiss  mit  einem 
kleinen  Erweichungsherd  abschliessend. 

Rechte  Hemisphäre:  Die  derbe  Narbenkappe  ist  hier  20  mm  lang  und 
14  mm  breit,  liegt  im  Wesentlichen  symmetrisch.  Nach  medial  greift  sie  ge- 
rade auf  den  lateralen  Rand  des  Gyrus  sigmoides  über.  Durchschnitt  (wie 
links):  Rindengrau  unter  der  Narbe  ausgedehnt  zerstört,  auch  der  laterale 
Rand  des  Gyrus  sigmoides.  Von  dem  die  Rinde  substituir enden  Narbengewebe 
geht  ein  breiter  Ervveichungszug  horizontal  nach  der  Medianspalte  des  Gehirns 
zu  bis  zum  dortigen  Rindengrau,  also  hier  die  ganze  Verbindung  des  Gyrus 
sigmoides  nach  basal  quer  abtrennend.  Mitten  in  dem  Streifen  befindet  sich 
eine  mit  einem  Blutcoagulum  gefüllte  Höhle. 

In  erster  Linie  ist  aus  diesen  Beobachtungen  hervorzuheben,  dass 
der  Hund  der  Beobachtung  6  sein  Bein  in  der  Schwebe  nicht  immer 
in  der  typischen  Streckstell ang  hielt,  sondern  dass  dies  Verhalten  nicht 
nur  an  verschiedenen  Tagen,  sondern  auch  an  dem  gleichen  Tage 
während  der  gleichen  Untersuchung  wechselte.  Bereits  am  dritten  Tage 
Hess  sich  durch  Pumpbewegungen  der  gleichen  Pfote  ein  Anziehen  der 
gestreckten  Pfote  erzielen.  Am  4.  und  5.  Tage  trat  die  sonst  nicht 
vorhandene  Streckstellung  in  Folge  vorangegangener  willkürlicher  Be- 
wegungen, bezw.  einer  unbequemen  Lage  des  Hundes  in  der  Schwebe 
ein.  Vom  12.  Tage  an  Hess  sich  constant  durch  Pumpbewegungen  der 
gesunden  Vorderextremität  eine  Sti-eckung  der  kranken  Vorderextremität 
mit  Spreizung  ihrer  Zehen  hervorbringen.  Zwischendurch  hing  der 
Hund  spontan  bald  gestreckt,  bald  gebeugt  und  zeigte  ausserdem  eine 
noch  dazu  ziemlich  frühzeitige  Wiederkehr  der  Sensibilität  und  der 
„Berührungsreflexe." 

Noch  viel  auffälliger  ist  das  Verhalten  dieses  Hundes  nach  der 
2.  Operation,  insofern  er  in  der  ersten  Zeit  nach  derselben  die  typische 
Streckstellung  der  coutralateralen  Extremität  überhaupt  nicht  und  zwar 
auch  nicht  in  Folge  passiver  Bewegungen  erkennen  liess.  Erst  vom 
7.  Tage  an  hing  der  Hund  spontan  gestreckt  und  von  dem  gleichen 
Zeitpunkte  an  verstärkte  sich  die  bereits  vorhandene  Extensionsstellung 
oder  die  nicht  vorhandene  Extensionsstellung  trat  ein  in  Folge  von 
Pumpbewegungen  der  contralateralen  Extremität.  Vom  10.  Tage  an 
war  das  Phänomen  auch  von  der  gleichen  Seite  aus  hervorzurufen. 

Sehr  ähnliche  Erscheinungen  habe  ich  bei  einer  Anzahl  von  anderen 
Thieren  beobachtet;  einiges  davon,  die  Wiedergabe  aller  Beobachtungen 
halte  ich  für  überflüssig,  werden  wir  gleich  noch  kennen  lernen. 


.   —     83     — 

Unzweifelhaft  begegnen  wir  hier  einer  grösseren  Zahl  von  Er- 
scheinungen, welche  nicht  alle  von  dem  gleichen  Gesichtspunkte  aus 
zu  erklären  sind.  Was  zunächst  die  Abweichung  von  dem  Typus  in 
der  Haltung  der  gelähmten  Extremitäten  angeht,  so  spielt  dabei  der 
Umstand  vielleicht  eine  Rolle,  dass  beide  Gyri  sigmoides,  wie  Fig.  8 
zeigt,  nur  unvollkommen  zerstört  waren.  Im  Einklang  hiermit  kehrte 
auch  die  Sensibilität  der  rechten  Extremitäten  frühzeitig  zurück. 

Die  Beobachtung,  dass  der  Hund  in  Folge  einiger  passiver  Be- 
wegungen mit  der  gelähmten  rechten  Vorderextremität  diese  annähernd 
in  ihre  normale  Beugestellung  brachte,  scheint  mir  nur  so  erklärt 
werden  zu  können,  dass  in  diesem  Falle  durch  die  Dehnungen,  welche 
den  Muskeln  bei  dieser  Gelegenheit  mitgetheilt  wurden,  Reize  ent- 
standen, die  nach  dem  spinalen  Reflexorgau  fortgeleitet  wurden  und  in 
diesem  vorübergehend  denjenigen  Tonus  auslösten,  welcher  durch  die 
cerebrale  Exstirpation  theilweise  verloren  gegangen  war. 

Die  anderen  Erscheinungen  lassen  sich  wohl  in  zwei  Gruppen 
sondern,  nämlich  in  solche,  welche  schon  in  den  ersten  Tagen  nach 
der  Operation  und  solche,  welche  erst  später  eintraten.  Die  letzteren, 
welche  darin  bestehen,  dass  Muskelreize,  die  die  nicht  oder  die  zuerst 
gelähmten  Muskeln  trafen,  Bewegungserscheinungen  in  der  zuletzt  affi- 
cirten  Seite  hervorriefen,  sind  wahrscheinlich  durch  eine  in  der  Zwischen- 
zeit eingetretene  Steigerung  der  spinalen  Reflexerregbarkeit  zu  erklären. 
Die  ersteren  dagegen,  welche  in  Stellungsänderungen  der  kranken 
Glieder  in  Folge  von  willkürlichen  Bewegungen  bestanden,  können  kaum 
anders  als  durch  cerebrale  Impulse,  die  in  pathologischer  Weise  ver- 
theilt  wurden,  erklärt  werden. 

Die  nachstehende  Beobachtung  scheint  mir  vollständiges  Licht  in 
die  aufgeworfenen  Fragen  zu  bringen. 

BeolbaolitTiiig'  S. 

Einem  Hunde  wurde  der  Gyrus  sigmoides  freigelegt.  Schädellücke  sagit- 
tal-medial  24  mm,  sagittal-lateral  19  mm,  frontal  14,5  mm.  Der  Gyrus  wird 
an  den  äusseren  drei  Seiten  auf  ca.  1  cm  Tiefe  umstechen,  alsdann  unter- 
schnitten und  endlich  bis  zur  Falx  mit  der  Scheere  abgetragen.  Nicht  erheb- 
liche, aber  längere  Zeit  anhaltende  Blutung.  Naht,  Jodoformcollodium.  Hei- 
lung per  primam. 

2.  Tag:  Hängt  rechts  halb  gestreckt,  vorderes  Fussgelenk  halb  gebeugt, 
hinten  ziemlich  stark  gestreckt. 

3.  Tag:  Hängt  links  mit  der  Vorderpfote  gebeugt,  rechts  hängt  die  Pfote 
schlaff,  im  vorderen  Fussgelenk  ganz  leicht  gebeugt;  bei  passiven  Bewegungen 
vollkommen  schlaff.  Nach  einigen  passiven  Bewegungen  vorn  rechts  hängt 
sie  ganz  gestreckt,  auch  die  Hinterpfote.    Nach  Pampbewegungen  mit  der  rech- 

6* 


84 


Fiff,  11.     Schwebender  Hündin  Kühe. 


Fig.  12.     Derselbe  Hund  Fleisch  bekehrend. 


—     85     — 

ten  Hinterpfote  wird  die  rechte  Vorderpfote  durch  Flexion  im  Ellen- 
bogen- und  Extension  im  Fussgelenk  ganz  hochgehoben,  fast  so, 
als  wenn  der  Hund  die  Pfote  geben  wollte.  (Bemerkenswerth  ist,  dass 
dieser  Hund  gelernt  hatte,  die  Pfote  zu  geben,  aber  nicht  die  rechte,  sondern 
nur  die  linke.) 

6.  Tag:  Inzwischen  werden  die  gleichen  Beobachtungen  wiederholt. 
Hängt  anfangs  beiderseits  annähernd  gleichmässig  gestreckt.  Bei  Pumpbewe- 
gungen tritt  das  gleiche  Beugephänomen,  wie  oben  beschrieben,  auf.  Sobald 
man  dem  Hunde  Fleisch  vorhält,  so  dass  er  den  Kopf  aufrichtet,  um  danach 
zu  schnappen,  streckt  sich  das  rechte  \'orderbein  aus  der  Beuge- 
stellung maximal  und  bewegt  sich  nach  hinten.  Etwas  ähnliches, 
wenn  auch  weniger  ausgesprochen,  wird  auch  allemal  dann  beob- 
achtet, wenn  an  dem  Hunde  optische  Untersuchungen  angestellt 
wurden  od  er  wenn  er  sonst  zu  activen  Bewegungen  angeregt  wurde. 

In  den  nächsten  Tagen  hängt  der  Hund  zu  Anfang  der  Beobachtung 
stets  annähernd  gleich,  führt  aber,  sobald  man  ihm  Fleisch  zeigt,  die  eben 
beschriebene  Streckbewegung  mit  grösster  Präcision  und  Regelmässigkeit 
aus.  Die  Muskulatur  setzt  dabei  jedoch  passiven  Bewegungen  keinerlei  ab- 
normen Widerstand  entgegen. 

In  diesem  Falle  hing  die  kranke  Vorderpfote  in  der  Regel,  wenn 
auch  nicht  immer,  in  leichter  Extensionsstellung  mit  etwas  gebeugtem 
Fusse  schlaff  herab.  Diese  Stellung  konnte  aber  auf  verschiedene  Weise 
und  in  verschiedener  Art  geändert  werden;  auf  passive,  der  gleichen 
Pfote  mitgetheilte  Bewegungen  streckte,  sie  sich,  während  durch  passive 
Bewegungen  in  der  gleichnamigen  Hinterpfote  eine  aus  Beugung  und 
Streckung  combinirte,  einer  intentionellen  Bewegung,  dem  Pfotegeben, 
durchaus  ähnlich  sehende  Bewegung  zu  Stande  kam.  Endlich  konnte 
mit  maschinenmässiger  Sicherheit  die  maximale  Extension  der  kranken 
Vorderpfote  bei  vollkommener  Ruhe  der  linken  Vorderpfote  durch  eine 
Anzahl  von  Reizen  hervorgerufen  werden,  die  den  Hund  psychisch  be- 
schäftigten, oder  ihn  zu  solchen  Bewegungen  anregten,  die,  mindestens 
in  seiner  schwebenden  Stellung,  die  Muskulatur  der  Extremitäten  nichts 
angingen,  also  zu  krankhaften  Mitbewegungen. 

Vielleicht  nicht  ohne  Zusammenhang  mit  diesen  Mitbewegungen 
und  den  anderweitigen,  im  Vorstehenden  beschriebenen  Reizerschei- 
nungen, steht  die  Beobachtung  7,  bei  der  einem  Hunde  eine  doppel- 
seitige, subcorticale  Durchtrennung  der  weissen  Substanz  unterhalb  des 
Gyrus  sigmoides  beigebracht  worden  war.  Dieser  Hund  hatte  am  Tage 
nach  der  Operation  eine  Serie  von  epileptischen  Anfällen  mit  Bellen 
und  Rollbewegungen.  Am  Tage  darauf  hing  er  mit  allen  vier  Extre- 
mitäten gestreckt  und  zwar  zeigte  die  der  1.  Operation  contralaterale 
hintere  Extremität  schon  dann,  wenn  der  Hund  auf  dem  Tische  lag,  eine 


—     86     — 

so  starke  Extension,  dass  sie  mit  ihrer  Fussspitze  die  vordere  Exti-emität 
erreichte.  Versuchte  man  nun  diesem  Hunde,  wenn  er  schwebte,  pas- 
sive Bewegungen  zu  machen,  so  begegnete  man  einem  erheblichen 
Widerstand  in  allen  Muskeln  der,  der  zweiten  Operation  contralateralen 
Vorderextremität,  vornehmlich  aber  im  Triceps.  Auch  die  Muskeln  der 
anderen  Extremität  zeigten  eine,  wenn  auch  minder  hochgradige  Zu- 
nahme der  Spannung.  Setzte  man  diese  Bewegungsversuche  eine  Zeit 
lang  lort,  so  geriethen  alle  vier  Extremitäten  derart  in  einen  Zustand 
von  Streckung,  dass  die  beiden  Vorderextremitäten  nach  hinten  und 
beide  Hinterextremitäten  nach  vorne  sahen  und  die  Vorderfüsse  auf 
diese  Weise  hinter  die  Hinterfüsse  geriethen.  Diese  letztere  Erschei- 
nung beobachtet  man  übrigens  nach  ähnlichen  Operationen  nicht  selten. 

Bemerkenswerth  ist,  dass  der  Widerstand,  welcher  in  diesen  Fällen 
passiven  Bewegungen  entgegengesetzt  wurde,  immer  am  geringsten  im 
Fussgelenk  und  am  stärksten  im  Ellbogengelenk  w^ahrzuuehmen  war. 

Alle  diese  Beobachtungen  machen  mir  die  Angaben  Bianchis 
wohl  verständlich,  aber  sie  führen  mich  doch  nicht  zu  den  gleichen 
Schlüssen.  Es  kommt  bei  diesem  hauptsächlich  darauf  an,  ob  die  Ex- 
tensionsstellung  der  Extremitäten  immer  durch  eine  nachweisbare 
Spannungszunahme  der  Extensoren  bedingt  ist,  und  dies  trifft  thatsäch- 
lich  nicht  zu.  Ja,  es  ist  ganz  sicher,  dass  eine  derartige  Spannungs- 
zunahme in  der  überwiegenden  Majorität  der  Fälle  fehlt  und  dass  sie 
auch  in  diesen  Fällen  durch  irgendwelche  Manipulationen,  die  man  mit 
dem  Hunde  vornehmen  mag,  nicht  hervorgebracht  werden  kann.  Ich 
muss  also  bei  der  Ansicht  verharren,  dass  diese  Streckstellung  in  der 
Regel  und  der  Hauptsache  nach  ihren  Ursprung  dem  Fortfallen  des 
normalen  cerebralen  Tonus  verdankt.  Wir  haben  aber  gesehen, 
dass  sie  in  einer  Anzahl  von  Fällen  derart  fehlt,  dass  die  kranke  Pfote 
annähernd  oder  ganz  gleich  wie  die  gesunde  gehalten  wird,  oder  dass 
doch  eine  solche  Stellung  in  Folge  von  passiven  Bewegungen  eintritt. 
Diese  Beobachtungen  bedingen  logischer  Weise  den  Schluss,  dass  bei 
ihnen  zu  der  Zeit,  zu  der  diese  atypische  Stellung  beobachtet  wurde, 
ein  annähernd  normaler  Tonus  vorhanden  war,  der  sowohl  durch  cere- 
brale, als  durch  spinale  Impulse  bedingt  sein  konnte.  Es  ist  mir  nicht 
unwahrscheinlich,  dass  hierbei  ein  Zusammenwirken  beider  stattfindet, 
ohne  dass  ich  jedoch  alle  Einzelheiten  dieses  complicirten  Vorganges 
zu  entwirren  vermöchte. 

Dagegen  scheint  mir  die  Beobachtung  8  eine  Anzahl  der  hierher- 
gehörigen Vorgänge  in  unzweideutiger  Weise  zu  erklären.  Der  Hund 
war  zu  der  Zeit  zur  Avisführung  isolirter  intentioneller  Bewegungen  mit 
der  rechten  Vorderextremität   gänzlich  unfähig,   ja  er  hatte    das  Pfote- 


—     87     — 

geben  mit  dieser  Extremität  überhaupt  nicht  gelernt.  Wenn  er  nun  in 
Folge  von  Pumpbewegungen  mit  der  rechten  Hinterextremität  die  Be- 
wegung des  Pfotegebens  dennoch  ausführte,  so  konnte  dies  sicherlich 
nicht  unter  dem  Einflüsse  corticaler  Impulse  geschehen.  Es  musste  sich 
also  um  eine  subcorticale  Uebertragung  der  einwirkenden  Reize  handeln, 
welche  in  diesem  Falle  von  um  so  grösserem  Interesse  ist,  als  sie  eine 
aus  Beugung  und  Streckung  combinirte,  anscheinend  vorgebildete  Be- 
wegungsform zum  Ausdruck  brachte,  während  sie  in  allen  anderen  von 
mir  beobachteten  Fällen  nur  eine  einfache,  den  gewöhnlichen  Reflexen 
entsprechende  Bewegung  zur  Folge  hatte.  Trat  in  diesen  letzteren 
Fällen  eine  Streckung  der  Extremität  als  spinaler  Reflex  ein,  so  ge- 
schah dies  in  der  Beobachtung  8  —  und  beiläufig  gesagt  noch  bei 
einer  Anzahl  von  in  dieser  Beziehung  ganz  conformen  Beobachtungen 

—  allemal  dann,  wenn  man  den  Hund  zur  Abgabe  motorischer  Impulse 
anregte,  in  der  Form  einer  cerebralen  Mitbewegung.  Es  erscheint  mir 
also  ganz  sicher,  dass  das  Phänomen  sowohl  cerebral  als  spinal  bedingt 
sein  kann  und  ferner  geht  aus  dem  Gesagten  hervor,  dass  die  Mitbe- 
wegungen, auf  deren  Wichtigkeit  für  das  Zustandekommen  der  hemiple- 
gischen  Contractur  beim  Menschen  ich  in  meinem  Aufsatze  „üeber  die 
Auifassung  einiger  Anomalien  der  Muskelinnervation"  aufmerksam  ge- 
macht habe,  auch  bei  der  cerebralen  Hemiplegie  des  Hundes  vorkommen. 
Bianchi  hat  also,  indem  er  diesen  Vergleich  anstellt,  ganz  Recht.  Ich 
habe  bei  den  vorstehenden  Erwägungen  vornehmlich  diejenigen  Fälle 
berücksichtigt,  bei  denen  die  Streckstellung  ohne  gleichzeitige  Span- 
nungszunahme der  Muskulatur  in  die  Erscheinung  trat. 

Wenn  nun  gleichwohl  in  anderen  Fällen    eine  Hypertonie   der  Ex- 
tensoren,    sei  es  spontan,    sei  es  in  Folge    von    experimentellen  Reizen 

—  passive  Bewegungen,  Hautreize,  active  Allgemeinbewegungen  —  ein- 
tritt, so  beruht  dies  offensichtlich,  wie  bereits  ausgeführt,  auf  der  Da- 
zwischenkunft  ungewöhnlicher  Umstände,  welche  sowohl  cerebral  als 
spinal  bedingt  sein  können.  Das  letztere  wird  wohl  dann  zutreifen, 
wenn  Aenderungen  des  Spannungszustandes  durch  passive  Bewegungen 
der  einzelnen  Extremitäten  oder  analoge  Reize  hervorgerufen  werden. 
Indessen  lässt  sich  dies  mit  absoluter  Sicherheit  doch  nicht  sagen,  denn 
die  Möglichkeit,  dass  durch  solche  Reize  eine  Erhöhung  der  constant 
von  der  Rinde  herabfliessenden  Reizwelle  hervorgebracht  wird  und  dass 
diese  Reiz  welle  sich  auf  der  kranken  Seite  in  abnorme  Canäle  vertheilt, 
lässt  sich  für  gewisse  Fälle  nicht  ausschliessen.  Für  die  Existenz 
solcher  Reizzustände  spricht  in  einem  unserer  Fälle  das  Auftreten  epi- 
leptischer Anfälle,  in  einem  anderen  Falle  mögen  sie  von  den  zurück- 
gelassenen Resten  der  exstirpirteu  Centra  ausgehen  und  in  noch  höherem 


Grade  mag  ein  solcher  Vorgang  Platz  greifen,  wenn  die  fragliclien 
Centra  überhaupt  nicht  exstirpirt,  sondern  wie  in  der  Beobachtung  7 
nur  unterschnitten  waren. 

Wenn  nun  Bianchi,  wie  es  scheint,  jene  stärkere  Spannung  der 
Extensoren  häufiger  oder  regelmässig  beobachtete,  so  ist  dies  vielleicht 
darauf  zurückzuführen,  dass  er  zu  jener  Zeit  sicherlich  nicht  aseptisch 
operirte  und  demnach  in  vielen  Fällen  mit  Wundeiterung  zu  rechnen 
hatte.  Natürlich  beruht  dieser  Erklärungsversuch  nur  auf  einer  Ver- 
muthung.  Sicher  ist  aber,  dass  die  Streckstellung  in  der  Regel 
nicht  nur  ohne  grössere,  sondern  sogar  mit  geringerer 
Spannung  der  betheiligten  Muskulatur  zu  Stande  kommt. 
Ich  habe  bei  diesen  Erwägungen  kein  besonderes  Gewicht  darauf  ge- 
legt, dass  die  Spannungszunahme,  wenn  sie  beim  Hunde  überhaupt  ein- 
tritt, in  den  Streckern  der  vorderen  Extremität  sich  zeigt,  während 
die  hemiplegische  Contractur  des  Menschen  bekanntlich  die  Beuger 
der  oberen  Extremität  befällt;  denn  es  wäre  ja  nicht  ausgeschlossen, 
dass  derartige  Differenzen  in  der  verschiedeneu  Organisation  des  Hundes 
begründet  wären.  — 

Wenn  ich  die  vorgetragenen  Erscheinungen  nun  auch  nicht,  wie 
Bianchi  als  qualitativ  der  hemiplegischen  Contractur  identisch  be- 
trachten kann,  so  ist  doch  nicht  zu  verkennen,  dass  sie  gewissen  Be- 
gleiterscheinungen derselben  —  den  Mitbewegungen  und  der  Reflex- 
steigerung —  parallel  laufen.  Indessen  muss  ich  es  mir  versagen,  diese 
Fragen  hier  näher  zu  erörtern;  denn  sie  haben  in  neuerer  Zeit  einen 
so  grossen  Umfang  angenommen  (vgl.  z.  B.  die  scharfsinnige,  wenn 
auch  mich,  was  meine  eigene  Theorie  angeht,  keineswegs  bekehrende 
Arbeit  von  Mann^)),  dass  dazu  allein  eine  längere  Abhandlung  er- 
forderlich sein  würde.  Aber  sicherlich  werden  sie  in  Zukunft  bei  der 
Theorie  der  hemiplegischen  Contractur  des  Menscheii  berücksichtigt 
werden  müssen. 


Die  nach  Läsionen  der  motorischen  Region  auftretenden  Bewegungs- 
störungen habe  ich  im  Jahre  1870  in  Gemeinschaft  mit  Fritsch  wie 
folgt  geschildert. 

Beim  Laufen  setzten  die  Thiere  die  rechte  Vorderpfote  unzweck- 
mässig auf,  bald  mehr  nach  innen,  bald  mehr  nach  aussen  als  die 
andere  und  rutschten  mit  dieser  Pfote  leicht  nach  aussen  davon,  so 
dass  sie  zur  Erde  fielen.     Ausserdem  kommt  es   vor,    dass   die  Vorder- 


1)  L.  Mann,  Ueber  das  Wesen  und  die  Entstehung  der  hemiplegischen 
Contractur.    Monatsschr.  für  Psychiatrie  Bd.  IV. 


—     89     — 

pfote  mit  dem  Dorsum  statt  mit  der  Planta  aufgesetzt  wird,  ohne  dass 
der  Hund  etwas  davon  merkt.  Beim  Sitzen  auf  dem  Hintertheile,  wenn 
beide  Vorderpfoten  auf  der  Erde  stehen,  rutscht  das  rechte  Vorderbein 
allmählich  nach  aussen  davon,  bis  der  Hund  ganz  auf  der  rechten  Seite 
liegt.  Setzte  man  dem  Hunde,  während  er  stand,  die  rechte  Vorder- 
pfote auf  ihren  vorderen  oberen  Rand  so  nach  innen  und  hinten,  dass 
sie  zwischen  den  drei  anderen  Beinen  stand  und  verhinderte  man  durch 
Streicheln  den  Hund  Ortsbewegungen  vorzunehmen,  so  liess  er  die  Pfote 
beliebig  lange  in  dieser  unbequemen  Stellang. 

Die  Hautsensibilität  und  die  Sensibilität  auf  tiefen  Druck  zeigt  an 
der  rechten  Vorderpfote  keine  nachweisbaren  Abweichungen.  Die 
Sensibilität  wurde  bei  diesen  Versuchen  nur  durch  schmerzerregende 
Hautreize,  sowie  durch  schmerzerregende  Compression  der  Zehen  und 
des  Fusses  untersucht.  Sehr  bald  aber  zeigte  zuerst  Schiff,  dass  die 
Sensibilität  gleichwohl  gestört  sei  und  ich  habe  mich  später  dieser  von 
den  Meisten  getheilten,  von  Anderen  noch  jetzt  bestrittenen  Auffassung 
angeschlossen. 

Das  damals  von  mir  gezeichnete  Bild  der  Bewegungsstörungen  ist 
später  durch  einzelne  Züge  ergänzt  worden  und  ausserdem  sind  einige 
neue  Beobachtungen  hinzugekommen,  welche  einen  schon  damals  be- 
rührten Punkt  in  seiner  principiellen  Wichtigkeit  erkennen  Hessen:  ich 
spreche  von  der  Schädigung  der  isolirten  intentioneilen  Bewegung. 
Ausserdem  hat  die  Frage  der  Restitution  eine  sehr  intensive  Bearbeitung 
gefunden.  Alle  diese  Punkte  übergehe  ich  und  ebenso  übergehe  ich 
hier  den  Kampf  um  die  Bedeutung  der  geschilderten  Erscheinungen. 
Während  aber  diese  Erscheinungen  selbst  von  allen  Seiten  Bestätigung 
gefunden  haben,  hat  Loeb^)  Behauptungen  aufgestellt,  welche  dem 
Anscheine  nach  den  Thatbestand  nicht  unwesentlich  verändern  uud 
welche  ihm  dazu  dienen  sollen,  meine  Lehre  von  der  Entstehung  dieser 
Störungen  zu  vernichten  und  eine  neue,  seine  eigene  Lehre  von  den 
Aufgaben  des  Grosshirns  zu  begründen.  Diese  Behauptungen  wolleu 
wir  uns  jetzt  näher  ansehen. 

Loeb  berichtet  zuerst  wörtlich:  „Ein  Hund,  welcher  rechts  operirt 
war,  hatte  die  typische  Bewegungsstörung  der  linken  Vorderpfote. 
Einige  Tage  nach  der  Operation  verletzte  sich  das  Thier  durch  einen 
Unfall  die  rechte  Vorderpfote,  welche  bald  stark  eiterte  und  wohl  sehr 
schmerzte,  denn  das  Thier  wagte    es    nicht    mehr,    mit    derselben    den 


1)  J.  Loeb,  Beiträge  zur  Physiologie  des  Grosshirns.  Pflüg  er 's  Archiv 
Bd.  XXXIX.  S.  287 ff.  Einleitung  in  die  vergleichende  Gehirnphysiologie. 
1899.   S.  172 ff. 


—     90     — 

Boden  zu  berühren  und  zog  es  vor,  auf  den  übrigen  drei  Beinen  zu 
laufen.  Während  dieser  Zeit  war  von  der  Bewegungsstörung  der  linken 
vorderen  Extremität  nichts  mehr  zu  bemerken.  Als  aber  die  rechte 
Pfote  wieder  geheilt  war  und  das  Thier  dieselbe  wieder  normal  ge- 
brauchte, war  zu  meiner  üeberraschung  die  bekannte  Bewegungs- 
störung wieder  da.  Diese  Erfahrung  reiht  sich  an  die  Versuche  von 
Goltz,  der  fand,  dass  das  Thier,  wenn  ihm  die  gleichseitige  Pfote  an 
das  Halsband  gebunden  und  so  immobilisirt  wurde,  sehr  bald  mit  der 
gekreuzten  Pfote  zu  gehen  im  Stande  war." 

Er  fährt  dann  fort:  „Wenn  das  Thier  ruhig  steht,  so  wird  man 
rinden,  dass  den  grössten  Theil  der  Zeit  über  das  gleichseitige  Bein  die 
Last  des  Körpers  trägt,  während  das  gekreuzte  ohne  innere  Arbeit  zu 
leisten,  entspannt,  oft  mehr  hängt  als  steht.  Wenn  dann  das  Thier 
sich  plötzlich  in  gradlinige  Bewegung  setzt,  so  sieht  man  zuweilen, 
dass  die  gekreuzte  Pfote  im  vorderen  Kniegelenk  einknickt  und  das 
Thier  auf  das  Knie  sinkt.  Man  hat  diese  Erscheinung,  welche  Hitzig 
zuerst  constatirte,  meist  so  beschrieben,  dass  man  sagte,  das  Thier  trete 
zuweilen  mit  dem  Dorsum  statt  mit  der  Sohle  auf.  Die  Erscheinung 
kommt  nur  dann  zu  Stande,  wenn  das  links  operirte  Thier  auf  der 
linken  Pfote  ruht,  während  die  rechte  nicht  gespannt  war  und  nun  der 
Schwerpunkt  des  Thieres  nach  rechts  und  nach  vorn  hin  verlegt  wird, 
ohne  dass  die  Handwurzelgelenke  hinreichend  rasch  fixirt  werden." 

„Mit  derselben  Gewohnheit  des  links  operirten  Thieres,  die  rechte 
Vorderpfote  zur  Unterstützung  seines  Körpers  wenig  zu  gebrauchen,  die- 
selbe schlaff  zu  lassen,  hängt  noch  eine  andere  Erscheinung  zusammen, 
die  oft  beschrieben  ist:  das  Thier  setzt  der  passiven  Verschiebung  dieser 
Pfote  weniger  Widerstand  entgegen.  Wenn  man  aber  wartet,  so  wird 
auch  einmal  der  Fall  eintreten,  dass  das  Thier  sich  auf  die  gekreuzte 
Pfote  stützt.  Versucht  man  jetzt  das  Bein  zu  verschieben,  so  ist  auf 
einmal  der  normale  Widerstand  in  demselben  vorhanden.  Hebt  man 
die  linke  Vorderpfote  vom  Boden  und  hält  sie  locker  in  der  Hand,  so 
muss  das  Thier  sich  auf  die  rechte  Pfote  stützen;  dabei  findet  sich 
ebenfalls,  dass  dieselbe  die  normale  Spannung  hat,  während  die  linke 
Pfote  einen   Mangel  von  Widerstand  gegen  Verschiebung  zeigt." 

Wir  haben  zunächst  die  augeführte  Beobachtung  von  Goltz,  als 
garnicht  hierher  gehörig,  aus  der  Beweisführung  auszuschalten.  Goltz^) 
hat  allerdings  den  von  Loeb  erwähnten  Versuch  angestellt  und  seine 
Beschreibung  enthält  auf  den  ersten  Anblick  auch  nicht  viel  mehr  als 
das  Citat  Loeb 's;    bei  genauerem  Zusehen    aber    ersieht    man    daraus, 


1)  F.  Goltz,  Gesammelte  Abhandlungen.    1881.   S.  29,  30. 


—     91     — 

dass  der  Versuch  drei  Wochen  nach  der  Operation  und  zwar  yai  einer 
Zeit  angestellt  wurde,  „als  man  beim  Gehen,  Laufen  und  Springen  des 
Thieres  bereits  keinerlei  Unregelmässigkeiten  mehr  wahrnehmen  konnte." 
Zunächst  ist  also  gegen  die  Verwerthung  dieses  Versuches  einzuwenden, 
dass  es  sich  bei  demselben  überhaupt  nicht  um  das  Verschwinden  der 
uns  hier  interessirenden  „typischen  Bewegungsstörungen",  sondern  um 
die  Fähigkeit  der  Locomotion  handelt.  Dass  diese  aber  bei  so  operirten 
Hunden  überhaupt  annähernd  normal  bleiben,  oder  nach  kurzer  Zeit  wieder 
annähernd  normal  werden  kann,  habe  ich  bereits  1870  angegeben.  Von 
einer  Untersuchung  der  anderweitigen  Störungen  seines  Bewegungs- 
apparates ist  aber  in  der  Beschreibung  von  Goltz  nicht  die  Rede. 
Der  Versuch  kann  also  schon  aus  dem  angeführten  Grunde  zur  Lösung 
der  Streitfrage  nichts  beitragen.  Er  ist  aber  ausserdem  von  Loeb  in 
ganz  tendenziöser  Weise  citirt  worden.  Das  Citat  lautet,  dass  das  Thier 
„sehr  bald  nach  der  Immobilisirung  der  gesunden  Vorderpfote  mit  der 
gekreuzten  Pfote  zu  gehen  im  Stande  war."  Der  Leser  muss  daraus 
schliessen,  dass  das  Thier  vorher  mit  der  gekreuzten  Pfote  nicht  zu 
gehen  im  Stande  war.  Thatsächlich  war  es  aber  nicht  nur  zu  gehen 
im  Stande,  sondern  man  konnte  auch  beim  Laufen  und  Springen  keinerlei 
Unregelmässigkeiten  mehr  an  ihm  wahrnehmen.  Goltz  hat  durch 
diesen  Versuch  nur  beweisen  wollen,  dass  ein  solches  Thier  auch  auf 
drei  Beinen  zu  gehen  vermag,  eine  Thatsache,  die  zur  Lösung  der 
aufgeworfenen  Streitfrage  nichts  beiträgt,  nicht  aber,  dass  ein  solches 
Thier  dadurch  auf  der  kranken  Pfote  gehen  lernt,  dass  man  es  am 
Gebrauch  der  gesunden  verhindert;  denn  das  konnte  es  ja  schon  vorher. 
Beiläufig  gesagt,  würde  auch  dies  nichts  gegen  meine  eigenen  An- 
schauungen beweisen. 

Was  die  eigene  zuerst  erwähnte  Beobachtung  Loeb 's  angeht,  so 
erhellt  aus  derselben  nur,  dass  „von  der  Bewegungsstörung  der  linken 
vorderen  Extremität  nichts  mehr  zu  bemerken  war",  so  lange  das  Thier 
nur  auf  seinen  drei  nicht  schmerzenden  Beinen  lief,  es  erhellt  aber 
nicht  daraus,  ob  und  mit  welchem  Erfolge  Loeb  das  Thier  sonst  unter- 
sucht hat,  ob  er  versucht  hat,  demselben  die  Extremität  zu  dislociren, 
sie  mit  dem  Dorsum  aufzusetzen,  sie  über  den  Tischrand  hängen  zu 
lassen  und  dergl.  mehr.  Ich  ersehe  also  nur,  dass  das  auf  drei  Beinen 
gehende  Thier  seine  Beine  anders  gebraucht  hat,  als  das  auf  vier 
Beinen  gehende  Thier,  was  mich  nicht  wundert,  und  dass  Loeb  von 
der  Bewegungsstörung  jener  Extremität  nichts  bemerkt  hat,  was  mich 
auch  nicht  wundert,  ich  ersehe  aber  nicht,  dass  sie  nicht  vorhanden 
gewesen  ist.  In  keinem  Falle  ist  diese  isolirte  und  oberflächlich  be- 
richtete Beobachtung  dazu  angethan,  den  Satz  zu    begründen,    welchen 


—     92     — 

Loeb  auf  sie  aufbaut:  „Alle  diese  Thiere  sind  sehr  wohl  im  Stande, 
die  gekreuzte  Pfote  auch  ganz  normal  zu  gebrauchen."  Nicht  für 
ein  Thier,  geschweige  denn  für  alle  ist  es  bewiesen. 

Noch  weniger  bedeuten  die  anderweitigen,  citirten  Angaben  A^on 
Loeb;  sie  sind  einfach  falsch.  "Wenn  er  behauptet,  dass  der  normale 
Widerstand  in  der  kranken  Pfote  alsbald  vorhanden  sei,  während  die 
andere  Pfote  nunmehr  den  Mangel  an  Widerstand  gegen  Dislocations- 
versuche  zeige,  sobald  das  Thier  sich  einmal  zufällig  auf  die  gekreuzte 
Pfote  stütze,  oder  wenn  man  dasselbe  durch  Aufheben  der  gesunden 
Pfote  dazu  zwinge,  so  bestreite  ich  dies  auf's  Bestimmteste.  Wäre  es 
so,  käme  es  wirklich  nur  darauf  an,  ob  das  Thier  sich  auf  die  Pfote, 
welche  man  dislociren  will,  stützt  oder  nicht,  so  sehe  ich  nicht  ein, 
aus  welchem  Grunde  der  Hund  vorher  operirt  werden  müsste.  Jeder 
gesunde  Hund  müsste  ja  gelegentlich  genau  dasselbe  zeigen,  was  sich 
an  dem  operirteu  beobachten  lässt. 

Thatsächlich  ist  der  Sachverhalt  aber    ein   ganz  anderer.     Niemals 


Fig.  13.    Hund  mit  Verletzung  des  linken  Gyrus  siginoides,  der  auf  dem  Dor- 
sum  beider  rechten  Pfoten  stehen  bleibt,    obwohl   ihm  die  linke  Vorderpfote 

aufgehoben  ist. 


zeigt  ein  gesunder  Hund  oder  ein  operirter  auf  der  gesunden  Seite  Er- 
scheinungen,   welche  sich    mit    den    von    mir    als  Störung  des  Muskel- 


—     93     — 

bewusstseins  beschriebenen  Bewegungsstörungen  verwechsebi  lassen; 
und  niemals  kann  man  dem  im  Gyrus  sigmoides  operirten  die  Fähig- 
keit, Widerstand  gegen  Dislocationsversuche  zu  leisten  oder  die  normale 
Spannung  dadurch  wieder  verleihen,  dass  man  ihn  nöthigt,  sich  auf 
die  kranke  Pfote  zu  stützen.  Der  Hund  verhält  sich,  vielmehr  unter 
diesen  Umständen  genau  wie  vorher.  Wenn  man  ihn  auf  der  gesunden 
Seite  derart  aufhebt,  dass  sogar  beide  Pfoten  dieser  Seite  den  Boden 
nicht  mehr  berühren  und  fast  die  ganze  Last  des  Körpers  auf  der  an- 
deren, kranken  Seite  ruht,  so  kann  man  gleichwohl  die  Pfoten  dieser 
Seite  beliebig  dislociren,  ja  man  kann  sie  sogar  beide  mit  dem  üorsum 
aufsetzen,  ohne  dass  das  Thier  versuchte,  die  ihm  natürliche  Stellung 
wieder  einzunehmen,  vorausgesetzt,  dass  man  dafür  sorgt,  dass  Orts- 
bewegungen vermieden  werden. 

Falsch  wie  die  behauptete  neue  Thatsache  ist  aber  auch  Loeb's 
Schilderung  des  anderweitigen  Sachverhaltes  und  seine  Benutzung  des 
anderweitig  gesammelten  Materials.  Das  von  mir  geschilderte  Krank- 
heitsbild soll,  wie  er  behauptet,  hervorgerufen  werden  „nicht  etwa 
durch  einen  Verlust  des  Muskelbewusstseins,  wie  Hitzig  will,  sondern 
durch  eine  Erschlaffung  der  StrecJ^er  des  Vorderbeines  (und  gewisser 
anderer  Muskelgruppen)  sowie  durch  eine  Abnahme  der  Hautsensibilität." 
Die  Thiere  haben  die  „Gewohnheit",  die  abnorme  „Neigung",  das 
kranke  Bein  entspannt  zu  halten.  Das  eine  Mal  sind  es  also  nach 
seiner.  Beschreibung  neben  den  Streckern  der  vorderen  Extremität  „viel- 
leicht auch  andere  Muskelgruppen",  das  andere  Mal  sind  es,  wie  an- 
geführt, „gewisse  andere  Muskelgruppen"  und  wieder  ein  anderes  Mal, 
wenn  es  besser  passt,  ist  es  die  ganze  Extremität,  welche  unter  der 
Gewohnheit  oder  der  Neigung  des  Thieres,  die  Pfote  entspannt  zu 
halten,  leidet.  Endlich  aber  wird  die  hemiplegische  Contractur  des 
Menschen  zum  Beweise  dafür  herangezogen,  dass  die  Stellung  des 
Armes  nur  durch  den  Spannungszustand  der  Beuger  allein  bestimmt 
wird.  „Das  ist  aber  dasselbe  wie  beim  Hunde,  bei  dem  ja  auch  nach 
Verletzung  des  „Vorderbeincentrums"  die  Spannung  der  Strecker  im 
Ellbogengelenk  abnimmt." 

Was  meint  nun  Loeb  eigentlich,  das  eine,  das  andere  oder  das 
dritte  oder  das  vierte  und  was  ist  die  Wahrheit? 

Der  Darstellung  Loeb's  fehlt  jede  scharfe  Definition  des  wirklichen 
Sachverhaltes,  wie  er  ihn  auffasst,  und  jede  logische  Entwicklung  der 
daraus  abzuleitenden  Schlüsse. 

Thatsächlich  hängen  die  kranken  Pfoten  des  aufgehängten  Hundes  ge- 
streckt  herab,  wie  es  die  Abbildung  auf  S.  16  dieser  Untersuchungen  zeigt. 
Hätten  die  Beuger  das  üebergewicht,  so  könnten  die  Pfoten  nicht  gestreckt 


—     94     — 

herabhängen.  Thatsächlich  setzt  der  Hund  seine  Pfote  nicht,  wie  dies  nach 
Loeb's  Theorie  der  Fall  sein  müsste,  regelmässig  mit  dem  Dorsum 
auf,  sondern  dies  geschieht,  entsprechend  meiner  Schilderung,  nur  ge- 
legentlich, dafür  aber  bringt  er,  entsprechend  der  gleichen  Schilde- 
rung, die  Pfote  spontan  in  allerhand  andere  abnorme  Stellungen,  er 
rotirt  sie  bald  mehr  nach  innen,  bald  mehr  nach  aussen  etc.  und  alles 
das,  was  er  so  spontan  ausführt,  lässt  er  auch  passiv  widerstandslos 
über  sich  ergehen.  Man  kann  also  die  Pfote  unter  Anderem  auch  be- 
liebig extendiren,  ohne  dass  man  in  den  Beugern  den  geringsten  Wider- 
stand fühlen  könnte,  einen  Widerstand,  den  man  doch  unfehlbar  fühlen 
müsste,  wenn  die  Theorie  Loeb's  richtig  wäre.  Die  Wahrheit  ist  also, 
dass  sich  die  gesammte  Muskulatur  und  nicht  nur  etwa  ein  Theil 
derselben  in  einem  veränderten  Innervationszustande  befindet.  Inwieweit 
dieser  Zustand  der  hemiplegischen  Lähmung  des  Menschen  parallel  zu 
setzen  ist,  habe  ich  in  der  ersten  dieser  Abhandlungen  (S.  14 ff.)  bereits 
erörtert.  Wenn  nun  auch  Loeb  die  hemiplegische  Lähmung  des  Men- 
schen für  „dasselbe"  hält,  wie  den  durch  Zerstörung  des  Gyrus  sig- 
moides  beim  Hunde  hervorgebrachten  Zustand,  so  sehe  ich  nicht  ein, 
warum  er  nicht  einfach  mit  düiren  Worten  zugestanden  hat,  dass  solche 
Eingriffe  beim  Hunde  eben  lähmungsartige  Zustände  hervorbringen.  Er 
hätte  sich  durch  den  Umstand,  dass  die  Gesammtmuskulatur  der  Pfote 
betroffen  ist,  durchaus  nicht  stören  zu  lassen  brauchen,  denn  sein  Satz: 
„Das  (Contracturstellung)  beweist,  dass  dieser  Arm  in  Folge  der  . Herd- 
erkrankung im  Grosshirn  nicht  gänzlich  gelähmt  ist,  sondern  dass  nur 
die  Spannung  der  Strecker  abgenommen  hat",  ist  mindestens  in  der 
ihm  gegebenen  Fassung  thatsächlich  unrichtig.  Die  Muskeln  des  Armes 
sind  sämmtlich  an  der  Lähmung  betheiligt,  wenn  sie  auch  in  keinem 
derselben  vollständig  zu  sein  braucht.  Woher  diese  Contractur  rührt, 
das  ist  eine  Frage,  welche  aus  den  oben  angeführten  Gründen  hier 
nicht  erörtert  werden  kann;  es  genügt,  dass  alle  Aerzte,  welche  diese 
Krankheit  wirklich  kennen,  darin  übereinstimmen,  dass  die  Contractur 
nicht  davon  herrührt,  dass  die  Beuger  von  der  Lähmung  verschont 
bleiben. 

Wir  haben  oben  gesehen,  dass  auch  Bianchi  den  veränderten 
Innervationszustand  der  kranken  Pfote  des  Hundes  mit  der  hemi- 
plegischen Contractur  des  Menschen  vergleicht  und  dass  auch  er  einen 
veränderten  Spannungszustand  in  einzelnen  Muskelgruppen  des  Gliedes 
annimmt.  Während  aber  nach  Loeb  die  Strecker  einen  verminderten 
Spannungszustand  besitzen  sollen,  zeigen  sie  nach  Bianchi  gerade  das 
Umgekehrte,  einen  vermehrten  Spannungszustaud.  Der  Widerspruch 
erklärt  sich,  wie  man  gesehen  hat,  daraus,  dass  Bianchi  einige,  wenn 


—     95     — 

auch  inconstante,  so  doch  thatsächlich  vorhandene  Erscheinungen  in 
eine,  wenn  auch  nur  zum  Theil  begründete  Verbindung  mit  anderen 
thatsächlich  beim  Menschen  zu  machenden  Beobachtungen  gebracht  hat, 
während  die  Behauptungen  Loeb's  sich  auf  nichts  Thatsächliches, 
sondern  auf  ebenso  oberflächlich  gemachte,  wie  verwerthete  Aper(;üs 
gründen. 

Ebensowenig  wie  Loeb  sein  eigenes  Beobachtungsmaterial  in  an- 
gemessener Weise  zu  verwerthen  im  Stande  war,  hat  er  gewusst,  die 
Literatur  passend  zu  benutzen.  Verwerthet  ist  nur  das,  was  mit  seiner 
Theorie  nicht  im  Widerspruch  steht.  Auf  diese  Weise  sind  alle  die- 
jenigen Beobachtungen,  welche  sich  weder  durch  die  Abnahme  der 
Spannung  in  den  Streckern  etc.  noch  durch  Störungen  der  Hautsensi- 
bilität erklären  lassen,  unberücksichtigt  geblieben;  die  von  mir  ge- 
fundenen Thatsachen,  dass  solche  Hunde  in 's  Leere  treten,  mit  der 
kranken  Pfote  anstossen,  die  kranke  Pfote  in  der  Schwebe  schlaff 
herabhängen  lassen,  die  von  Goltz,  Schiff,  Bianchi  und  mir  mitge- 
theilten  Beobachtungen,  die  den  Verlust  der  isolirten  intentioneilen 
Bewegung  betreffen  etc.,  alles  das  ist  ausser  Betracht  gelassen.  Selbst 
Goltz!)  \i^i  zugegeben,  dass  der  Verlust  der  Fähigkeit,  die  Pfote  zu 
reichen,  nicht  aus  einer  Empfindungsanomalie  erklärt  werden  könne; 
er  meint  vielmehr,  zwischen  dem  Organ  des  Willens  und  den  Nerven, 
die  den  Willen  ausführen,  habe  sich  irgendwo  ein  unbesiegbarer  Wider- 
stand aufgebaut.  Mir  scheint,  man  kann  diesen  Zustand,  ohne  sich  der 
von  Goltz  beliebten  mystischen  Umschreibung  zu  bedienen,  einfach  als 
Lähmung  einer  Art  von  Bewegungen  erklären.  Man  weiss  doch,  dass 
man  ein  Quantum  der  Gehirnmasse  fortgenommen  hat  und  man  weiss, 
dass  es  an  einer  ganz  bestimmten  Stelle  geschehen  musste,  wenn  der 
in  Frage  stehende  Erfolg  erzielt  werden  sollte.  Ich  begreife  nicht,  aus 
welchen  Gründen  die  Herbeiziehung  des  unbekannten  Factors  „unbe- 
siegbarer Widerstand"  erforderlich  ist  nnd  warum  man  sich  sträubt, 
den  so  hervorgebrachten  Zustand,  ich  will  nicht  sagen  als  Lähmung, 
aber  doch  im  Sinne  einer  Lähmung  aufzufassen.  Wie  dieser  Zustand 
im  Einzelnen  verstanden  werden  kann,  das  habe  ich  2)  bereits  im 
Jahre  1876  zu  erläutern  versucht.  Von  alledem  ist  bei  Loeb  keine 
Rede. 

Es  ist  bei  ihm  auch  nicht  die  Rede  davon,  dass  neben  der  Sensi- 
bilität der  Haut    auch  die  Sensibilität    der    tiefereu  Theile,    also  z.  B. 


1)  F.  Goltz,  Gesammelte  Abhandlungen.   S.  35. 

2)  E.  Hitzig,  Ueber  die  Einwände  des  Herrn  Professor  Goltz  in  Strass- 
burg.    Reichert's  und  du  Bois  Reymond's  Archiv.  1876. 


—     9.6     — 

die  der  Gelenke  und  der  Muskeln  gestört  ist.  Loeb's  Meister,  Goltz^), 
hat  „gegen  die  Annahme,  dass  das  Muskelbewusstsein  gestört  ist",  an 
sich  nichts  einzuwenden,  aber  diese  Störung  des  Muskelbewusstseins  ist 
selbst  nur  eine  untrennbare  Theiierscheinung  der  Abstumpfung  der 
Empfindung  im  Allgemeinen.  Ich  habe  diese  Ansicht  von  Goltz  seit 
langem  nicht  nur  acceptirt,  sondern  sie  auch  dahin  erweitert,  dass  die 
gesammten  Zustände  des  betreffenden  Gliedes  im  Sensorium  des  Thieres 
zeitweise  ausgelöscht  erscheinen. 

Loeb  hat  sich  hierin  auf  einen  anderen  Standpunkt  gestellt  und 
damit  auch  in  Gegensatz  zu  Goltz  gebracht.  Mit  der  ihm  eigenen 
Bescheidenheit  sagt  er 2):  „Damit  wird  auch  das  Bestreben  Hitzig's  hin- 
fällig, zur  Erklärung  der  Motilitätsstörung  den  Begriff  einer  „Störung 
des  Muskelbewusstseins"  in  die  Physiologie  einzuführen." 

„Abgesehen  von  sprachlichen  Bedenken  —  wir  müssten  entsprechend 
von  einem  Hautbewusstsein ,  Knochenbewusstsein,  Drüsenbewusstsein 
sprechen  —  fehlt  diesem  Begriffe  die  physiologische  Definition."  Und 
in  seinem  neuesten  Werke 3)  heisst  es:  „Wir  wollen  den  Umstand,  dass 
wir  kein  Bewusstsein  unserer  inneren  Organe,  also  auch  kein  Muskel- 
bewusstsein, besitzen,  unberücksichtigt  lassen  und  darauf  nur  hin- 
weisen, dass  die  Störungen  des  angeblichen  „Muskelbewusstseins"  in 
Wirklichkeit  in  der  Spannungsänderung  bestimmter  Muskelgruppen  und 
Abnahme  der  Sensibilität  der  Extremität  bestehen." 

Als  ich  die  hier  discutirten  Thatsachen  in  die  Physiologie  einführte, 
habe  ich  mir  erlaubt,  auch  zu  ihrer,  wenn  schon  in  den  bescheidensten 
Grenzen  gehaltenen  Erläuterung  zu  schreiten  und  dabei  den  Ausdruck 
„Störung  des  Muskelbewusstseins"  „eingeführt".  Die  von  Loeb  ver- 
misste  physiologische  Definition  wird  durch  die  Thatsachen  selbst  ge- 
geben; und  was  seine  Behauptung,  dass  wir  kein  Bewusstsein  unserer 
inneren  Organe  besässen,  angeht,  so  entspringt  sie  eben  dem  ander- 
weitigen Bestände  seines  Nichtwissens.  Im  Normalzustande  setzt  sich 
unsere  Selbstempfindung,  welche  unzweifelhaft  unserem  Bewusstseius- 
materiale  angehört,  zusammen  aus  den  mannigfachen  Erregungen,  welche 
dem  Gehirn  als  ein  Product  der  Zustände  aller  inneren  Organe  zu- 
fliessen;  bei  jeder  Abweichung  von  der  Norm  beginnen  aber  diese  Er- 
regungen alsbald  eine  ganz  andere  Rolle  im  Bewusstsein  zu  spielen. 
Am  auffälligsten  tritt  dies  zwar  bei  den  Geistesstörungen,  iiisbesondere 
denjenigen  hypochondrischer  Natur  hervor  —  hier  wohl  meistens  wegen 


1)  F.  Goltz  a.  a.  0.   S.  35. 

2)  J.  Loeb,  Beiträge.   S.  293. 

3)  J..  Loeb,  Einleitung- etc.    1899.   S.  175. 


—     97     — 

krankhafter  Veränderung  des  Centralorgans;  indessen  maclien  sich  be- 
kanntlich auch  die  meisten  körperlichen  Krankheiten,  ja  schon  zahl- 
reiche, noch  in  den  Bereich  des  Physiologischen  fallende  Zustands- 
änderungeu,  z.  B.  die  Ermüdung  der  Muskeln,  in  analoger  Weise  be- 
merkbar. Im  Uebrigen  habe  ich  mich  über  das  Verhilltniss  des 
Bewusstseins  zur  Muskelthätigkeit  vor  und  nach  meinen  hier  be- 
sprochenen Arbeiten  so  oft  geäussert,  dass  ich  denjenigen,  die  sich  für 
berufen  halten,  über  die  Sache  zu  schreiben,  anlieim  geben  muss,  erst 
einmal  das  früher  Publicirte  zu  lesen. 

Ich  fasse  das  zuletzt  Gesagte  dahin  zusammen,  dass  eine  Ab- 
schwächung  der  Sensibilität,  gleichviel  ob  sie,  wie  Loeb  will,  nur  die 
Haut  betrifft,  oder  ob  sie,  wie  die  Mehrzahl  der  anderen  Forscher  will, 
die  ganze  Extremität  betrifft,  ohne  eine  Veränderung  der  Bewusstseins- 
thätigkeit  überhaupt  nicht  denkbar  ist.  Und  hiermit  verlasse  ich  diesen 
Gegenstand. 

Die  Untersuchung  der  Reflexe. 

Das  Studium  der  Reflexthätigkeit  ist  von  ausserordentlicher  Wich- 
tigkeit für  das  Verständniss  der  durch  corticale  Läsionen  hervorge- 
brachten Krankheitserscheinungen.  In  der  That  kann  man  das  ganze 
psychische  Geschehen  als  eine  Kette  von  immer  mehr  und  mehr  com- 
plicirten  reflectorischen  Vorgängen  auffassen  und  demnach  auch  alle 
nach  corticaleu  Läsionen  eintretenden  Störungen  von  diesem  Gesichts- 
punkte aus  betrachten. 

Viele  Forscher  auf  unserem  Gebiete  haben  ihnen  auch,  wenn  schon 
mit  recht  verschiedener  Intensität  und  mit  recht  verschiedenem  Glücke 
ihre  Aufmerksamkeit  zugewandt.  Namentlich  sind  hier  Goltz  und 
Munk  zu  erw' ahnen. 

Eine  Methode,  die  Reflexthätigkeit  zu  untersuchen,  das  von  mir 
sogenannte  „Begreifen",  habe  ich  in  der  ersten  dieser  Abhandlungen 
(S.  17  ff.)  geschildert  und  bei  der  gleichen  Gelegenheit  habe  ich  auch 
einen  Theil  der  Lehre  Munk 's  über  die  Rolle,  welche  die  Reflex- 
thätigkeit in  dem  Centralorgane  normaler  und  operirter  Hunde  spielt, 
erörtert.  Hier  beabsichtige  ich  nun,  einen  neuen  Reflexversuch  zu  be- 
schreiben und  die  Bedeutung,  welche  gewissen  anderen  derartigen  Ver- 
suchen zukommt,  kurz  zu  betrachten. 

Wenn  man  einem  gesunden  Hunde  die  Nasenhaut  einer 
Seite  streicht,  so  zucken  die  Augenlider  der  gleichen  Seite 
syn chronisch  und  wenn  man  das  Streichen  sehr  schnell  aufeinander 
folgen  lässt,  so  kommt  es  nicht  selten  zu  vollständigem  oder  fast  voll- 
ständigem Lidschluss.    Noch  stärker  wirkt  der  reflectorische  Reiz,  wenn 

Hitzig.  Gesammelte  Abhandl.     II.  Theil.  7 


mau  die  Seite  der  Nase  leiclit  mit  der  Kuppe  des  Fiugers  beklopft. 
Die  Intensität  der  Lidbewegung  nimmt  zu,  je  mehr  man  sich  dem  Auge 
nähert. 

Unzweifelhaft  handelt  es  sich  bei  diesem  Versuche  um  einen  Reflex 
von  dem  Trigeminus  auf  den  Facialis.  Indessen  könnte  man  leicht  auf 
die  Vermuthung  kommen,  dass  der  Sehakt  dabei  eine,  w^enn  nicht  die 
ausschliessliche  Rolle  spiele.  Dem  ist  aber  nicht  so.  Denn  blinde  Hunde 
zeigen  den  Reflex  so  gut  wie  sehende  und  ebenso  wenig  bleibt  der 
Reflex  aus,  wenn  man  das  Auge  passiv  mit  dem  Finger  schliesst.  Dem 
Fehlen  dieses  Reflexes,  deü  ich  Nasenlidreflex  nenne,  werden  wir 
bei  der  Beschreibung  der  in  späteren  Capiteln  anzuführenden  Versuche 
häufig  begegnen. 

Exner  und  Panethi)  haben  einen  ähnlichen  Versuch  beschrieben. 
„Streicht  man  Hunden  z.  B.  mit  einem  Stückchen  spitzen  Holzes  über 
die  Wangen,  so  zucken  sie  mit  den  betreffenden  Mundwinkeln.  Dieser 
Reflex,  der  sehr  constant  und  auffallend  ist,  fehlt  bei  Verletzung  des 
Facialisfeldes  oder  ist  sehr  vermindert." 

Die  Untersuchung  dieser  Reflexe  ist  von  um  so  grösserer  Wichtigkeit, 
als  die  Hunde  auf  sensible,  auch  Schmerz  erregende  Reize,  welche 
ihre  Gesichtshaut  treffen,  in  individuell  sehr  verschiedenem  Grade 
reagiren. 

An  der  gleichen  Stelle  sprechen  Exner  und  Paneth  auch  von 
dem  Fehlen  des  optischen  Reflexes  bei  Annäherung  des  Fingers.  Sie 
meinen,  es  sei  „bei  diesem  Symptome  nicht  auszumachen,  ob  es  der 
Störung  der  Function  des  Facialis  oder  der  Sehstörung  angehört;  ebenso 
können  an  dem  Fehlen  des  ersterwähnten  Reflexes  die  Unterempfind- 
lichkeit oder  die  Parese  oder  beides  Schuld  tragen." 

Die  op frischen  Reflexe  sind  von  den  verschiedensten  Autoren 
studirt  und  fast  ausschliesslich  in  der  Weise  gewürdigt  worden,  dass 
aus  ihrem  Fehlen  oder  Vorhandensein  auf  Fehlen  oder  Vorhandensein 
der  optischen  Functionen  im  weiteren  Sinne,  also  auch  des  Sehens  ge- 
schlossen wurde.  Ich  führe  hier  wörtlich  an,  was  Luciani  und 
Seppilli^)  hierüber  sagen:  „Der  fehlende  Reflex  der  Augenlider  bei 
Bewegungen  vor  den  Augen  hat  bei  diesen  Untersuchungen  nicht  den 
geringsten  Werth.  Viele  gesunde  Hunde  reagiren  auf  den  betr.  Versuch 
gar  nicht,  oder  nicht  regelmässig  und  jedesmal  bei  Annäherung  eines 
Fingers  oder  sonstigen  Gegenstandes  an  das  Auge.     Das  Zwinkern  der 


1)  Exner  und  Paneth,  Versuche  über  die  Folgen  der  Durchschneidung 
der  Associationsfasern  am  Ilundehirn.    P flüger' s  Archiv  Bd.  XLIV.    S.  547. 

2)  Luciani  und  Seppilli,  Die  Functionslocalisation  etc.   S.  28—29. 


—     99     — 

Augen  kann  also  constant  bei  dem  normalsten  Sehen  fehlen.  Gleich- 
wohl erlangt  der  sogenannte  Gesticulationsversuch  in  denjenigen 
Fällen  Bedeutmig,  in  welchen  ein  Auge  oder  ein  Segment  des  Augen- 
grundes sich  indilt'erent  zeigt,  während  das  andere  Auge  oder  ein  an- 
deres Segment  der  Netzhaut  auf  die  Gesten  regelmässig  mit  Augen- 
schluss  antwortet. 

Nachdrücklicher  ist  der  Versuch  mit  Kerzenlicht,  das  unversehens 
ein  oder  dem  anderen  Auge  genähert,  auf  einem  oder  dem  anderen 
Netzhautabschnitt  sich  abzeichnet.  Während  der  ersten  und  heftigsten 
Wirkungen  des  Operationseingriffes  giebt  jener  Versuch  fast  das  einzig 
verwendbare  Mittel,  um  die  partiellen  Sehstörungen  abzuschätzen. 
Einige  Hunde  eignen  sich  dazu  sehr  gut,  indem  sie  nicht  nur  mit  dem 
Lid  zwinkern,  sondern  auch  mit  raschen  Kopfbewegungen  bei  jeder 
Annäherung  des  Lichtes  an  die  Augen  reagiren,  wenn  dasselbe  auf 
normal  fuugirende  Netzhäute  fällt,  aber  indifferent  bleiben,  wenn  das 
Licht  auf  blinde  oder  amblyopische  Abschnitte  fällt.  Andere  Thiere 
bleiben  jedoch  selbst  bei  plötzlicher  Annäherung  der  Kerze  unbewegt, 
auf  welchen  Theil  der  Netzhaut  der  Lichtstrahl  fallen  möge,  und  sind 
doch  keineswegs  blind,  wie  sich  aus  den  Untersuchungen  nachweisen 
lässt." 

Die  thatsächlichen  Angaben  Luciani's  sind  insofern  ganz  richtig, 
als  die  einzelnen  Hunde  sehr  ungleich  auf  die  verschiedenen  optischen 
Reize  reagiren.  Insbesondere  ist  auch  zutreffend,  dass  der  gleiche 
Hund  an  verschiedenen  Tagen  aus  verschiedenen,  manchmal  unbekannt 
bleibenden  Gründen,  sehr  verschieden  auf  diese  Reize  reagirt.  Das 
eine  Mal  blinzelt  er  schon  bei  der  blossen  Annäherung  eines  Fingers, 
das  andere  Mal  führt  nicht  einmal  die  Annäherung  einer  oscillirenden 
Flamme  an  sein  Auge  zu  irgend  einer  Reaction.  Diese  Versuche  be- 
weisen also,  wie  die  Verfasser  richtig  bemerken,  nur  dann  etwas,  wenn 
sie  einseitig  oder  doppelseitig  positiv  ausfallen.  Dagegen  kann  ich  dem 
Versuche  mit  dem  „Kerzenlicht"  selbst  nach  der  Schilderung  von 
Luciani  und  Seppilli  einen  besonderen  Vorzug  vor  dem  „Gesticu- 
lationsversuch" nicht  einräumen.  Denn  auf  manche  Thiere  macht,  wie 
sie  auch  selbst  angeben,  selbst  die  plötzliche  Annäherung  von  grellem 
Licht  nicht  den  geringsten  Eindruck.  Wenn  sie  aber  reagiren,  so  ge- 
schieht dies  durch  Abwenden  des  Kopfes,  durch  Beissen  etc.,  während 
der  Lidreflex  nur  in  verhältnissmässig  seltenen  Fällen  eintritt.  Dass 
er  regelmässig  fehle,    wie  Bönsel^)    angiebt,    davon  habe  ich  mich 


1)  Karl  Boensel,  Die  Lidbewegungen  des  Hundes.     Inaugural-Dissert. 
Giessen  L897. 


—     100     — 

jedoch  nicht  überzeugen  können.  Ich  kann  nur  annehmen,  dass  Luci- 
ani  und  Sejjpilli  sich  durch  den  zufälligen  Eintritt  spontaner  Lidbe- 
wegungen haben  täuschen  lassen,  was,  wie  ich  zugebe,  sehr  schwer  zu 
vermeiden  ist. 

Man  kann  den  optischen  Lidreflex  ja  in  sehr  verschiedener  Weise, 
wenn  auch  mit  verschiedener  Sicherheit  hervorrufen.  So  viel  ich  sehe, 
haben  die  meisten  Forscher  sich  dazu  der  Annäherung  eines  Fingers 
oder  eines  spitzen  Gegenstandes  bedient.  Ich  selbst  habe  längere  Zeit 
die  Hunde  in  der  Weise  untersucht,  dass  ich  die  Branchen  einer  ana- 
tomischen Pincette  iü  schneller  Folge  vor  dem  Auge  öffnete  und  schloss. 
Wenn  dieser  Versuch  gelingt,  so  giebt  er  insofern  ein  überzeugendes 
Resultat,  als  jedesmal  ein  mit  den  Pincettenbewegangen  synchronisches 
Blinzeln  eintritt,  über  dessen  Herkunft  man  sich  nicht  so  leicht  täuschen 
kann,  wie  über  die  Herkunft  des  bei  anderweitigen  Methoden  ein- 
tretenden einmaligen  Lidschlusses.  Indessen  ist  der  Erfolg  dieses  Ver- 
suches noch  unregelmässiger  als  der  aller  anderen  bisher  erwähnten 
Methoden. 

Am  sichersten,  wenn  auch  nicht  absolut  sicher  reagiren  die  Hunde 
mit  Lidschluss,  weun  man  die  flache  Hand  schnell  in  der  Richtung  von 
unten  nach  oben  vor  dem  Auge  vorbei  führt.  Weniger  leicht  erfolgt 
die  Reaction,  wenn  man  die  Schmalseite  der  Hand  rasch  dem  Auge 
nähert.  Ich  habe  mich  schliesslich  zur  Untersuchung  des  „optischen 
Reflexes"  auf  diese  beiden  Methoden  beschränkt  und  die  entsprechenden 
Versuche  in  meinen  Protokollen  mit  „flacher  Hand"  und  „schmaler 
Hand"  bezeichnet.  Selbstverständlich  muss  man  sich  überzeugen,  dass 
man  bei  diesen  Handbewegungen  den  Lidschluss  nicht  etwa  durch  den 
dabei  entstehenden  Luftstrom  ausgelöst  hat,  was  am  einfachsten  da- 
durch geschieht,  dass  man  den  Versuch  bei  passiv  geschlossenen  Augen 
wiederholt. 

In  der  Deutung  dieser  optischen  Reflexe  sind,,  wie  wir  oben  ge- 
sehen haben,  Exner  und  Paneth  bei  weitem  vorsichtiger  gewesen  als 
Luciani  und  Seppilli.  Während  die  letzteren  das  Ausbleiben  der 
optischen  Reflexe  nach  Hirnläsionen  ohne  weiteres  als  Beweis  für  das 
Vorhandensein  einer  Sehstörung  ansprechen,  lassen  die  ersteren  es 
dahingestellt  sein,  ob  das  Symptom  einer  Störung  in  der  Function  des 
Facialis  oder  des  Sehens  angehört.  Vielleicht  sind  auch  sie  noch  nicht 
vorsichtig  genug  gewesen. 

Im  Allgemeinen  ist  dem  Symptom  eine  systematische  Verfolgung 
und  Analyse  nicht  zu  Theil  geworden,  wenn  auch  die  von  uns  ange- 
führten und  andere  Autoren  dasselbe  gelegentlich  erwähnen.  Nur  M unk 
und  Boense]  haben  sich,  soviel  ich  weiss,  eingehender  damit  beschäf- 


—     101     — 

tigt.  Freilich  sehe  ich  nicht,  dass  der  erstere  den  Einfluss  von  Kinden- 
läsionen  auf  die  optischen  Lidreflexe  systematiscli  verfolgt  hätte. 
Dagegen  hat  ersieh  über  die  Theorie  derselben,  bezw.  den' Mechanismus 
ihrer  Entstehung  an  verschiedenen  Stellen  ausgelassen.  Diese  Reflexe 
sind  nach  ihm  keine  „Retina-  oder  Opticus-",  sondern  „Sinnes-  oder 
Sehreflexe"  1).  Sie  sind  nicht  angeboren,  sondern  erworben  und  können 
nur  unter  Mitwirkung  des  Grosshirns  sich  vollziehen.  „Für  diese  Seh- 
reflexe muss  die  Erregung  den  Weg  von  der  Sehsphäre  aus  durch 
Associationsfasern  zu  anderen  Rindengebieten  und  erst  durch  deren 
Radiärfasern  zu  den  niederen  Centren  nehmen."  Es  versteht  sich  hier- 
nach von  selbst,  dass  der  optische  Lidreflex  nach  jeder  Verletzung  der 
„Sehsphäxe"  beeinträchtigt  werden  oder  ausfallen  muss,  wenn  er  wirk- 
lich den  ihm  von  Munk  anatomisch  und  physiologisch  vorgezeichneten 
Weg  beschreitet.  „Fährt  man  im  Verlaufe  der  ersten  Woche  mehrmals 
mit  dem  Finger  an  oder  in  die  Augen  des  Hundes,  so  tritt  von  der 
Zeit  an  regelmässig  Blinzeln  auf  Näherung  des  Fingers  ein;  sonst  kommt 
dieses  Blinzeln  ohne  alles  Zuthun  erst  in  der  zweiten  oder  dritten 
Woche  zur  Beobachtung." 

ßoensel^),  der  unter  der  Leitung  Eckhard's  arbeitete,  kam  nun 
allerdings  zu  ganz  anderen  und  sehr  merkwürdigen  Resultaten.  Die 
Beobachtung,  dass  der  Hund  einerseits,  wie  oben  angeführt,  auf  grelle 
Lichtreize  nicht  mit  Lidschi uss  reagirt,  während  andererseits  die  Häufig- 
keit des  spontanen  Lidschlages  schon  durch  die  einfache  Freilegung  der 
Dura  3)  eine  sehr  erhebliche  Beeinträchtigung  erfuhr,  erregte  in  ihm  die 
Vermuthung,  dass  sich  im  Grosshirn  ein  Hemmungsmechanismus  für 
den  Lidschlag  befinde.  Diese  Vermuthung  fand  er  bestätigt  einmal 
dadurch,  dass  nach  Freilegung  der  mittleren  und  hinteren  Gegend  des 
Grosshirns ^)  unter  Abnahme  der  Häufigkeit  des  spontanen  Lidschlages 
ein  prompter,  reflectorischer  Lidschluss  auf  den  Reiz  eines  brennenden 
Magnesiumstreifens  eintrat  und  ferner  dadurch,  dass  ein  Hund,  dem 
beide  Hinterhauptlappen  vollständig  abgetragen  worden  waren,  auf  den 
gleichen  Reiz  in  gleicher  Weise  reagirte.  Diese  Reaction  war  am  Abend 
des  Operationstages    „so   prompt,    wie  sie  nur    sein   konnte"    und  dann 


1)  H.  Munk,  Gesammelte  Mittheihmgen  etc.  1890.  S.  281  u.  306.  Seh- 
sphäre und  Augenbewegungen. 

2)  K.  Boensel  a.  a.  0. 

3)  Boensel  drückt  sich  merkwürdigerweise  mit  folgenden  Worten  aus: 
„Nach  der  einfachen,  doppelseitigen  Blosslegung  des  Hirns,  noch  während  es 
mit  der  Dura  auf  beiden  Seiten  überzogen  war." 

4)  K.  Boensel  I.  c.  S.  31.  Hier  ist  nicht  ersichtlich,  ob  dem  Gehirn  die 
Dura  gelassen  war  oder  nicht. 


—     102     — 

noch  31/2  Monate  lang  mindestens  in  der  Dunkelkammer  regelmässig 
vorhanden.  Einige  andere  Versuche,  die  Boensel  selbst  als  unvoll- 
kommen bezeichnet,  übergehe  ich. 

Ich  habe  diese  Beobachtungen  als  merkvi'ürdig  bezeichnet  und  sie 
sind  es  in  der  That  mindestens  insofern,  als  sie  eine  Reihe  von  Fragen 
unaufgeklärt  lassen.  Zunächst  stehen  sie  natürlich  in  directem  Gegen- 
satz zu  der  Theorie  Munk's.  Denn  sie  würden,  wenn  sie  sich  bestätigen 
sollten,  in  demjenigen  Organe,  in  welchem  Munk  den  eigentlichen 
Uebertragungsapparat  für  jenen  Reflex  annimmt,  einen  Hemmuugsapparat 
für  den  gleichen  Reflex  nachweisen.  Sodann  bleibt  aber  das  Verhält- 
niss  des  auf  grelles  Licht  eintretenden  Lidschlusses  zu  dem  auf  die 
Annäherung  der  Hand  eintretenden  Lidschlusse  unerörtert  und  übrigens 
auch  unerwähnt.  Indessen  sind  dies  Fragen,  deren  Erörterung  ich  mir 
an  dieser  Stelle  versagen  muss. 

III.  Theorien. 

A.    Theorien  des  corticalen  Sehens  und  der  corticalen 
Sehstörung. 

Die  Untersuchungen  über  die  corticale  Schädigung  des  Seh- 
vermögens hatten,  wie  ich  glaubte,  mit  meiner  Mittlieilung  aus  dem 
Jahre  1874  ihren  Anfang  genommen.  Neuerdings  ersehe  ich  jedoch 
aus  einem,  ich  weiss  nicht,  ob  übersehenen  oder  vergessenen  Citate  von 
Luciani  und  Seppillii),  dass  dieses  Verdienst  Panizza  zukommt, 
der  schon  im  Jahre  1855  analoge  Beobachtungen  gemacht  hat^).  Aus 
der  nach  dem  Jahre  1874  erwachsenen,  überaus  umfangreichen  Lite- 
ratur führe  ich  nur  diejenigen  Daten  an,  deren  ich  für  meinen  Zweck 
bedarf. 

Das  Auftreten  bilateraler  homonymer  Hemlanopie  beim 
Hunde  ist  zuerst  von  Luciani  und  Tamburini  bemerkt  worden 3). 
Munk  hatte  es  zuerst  direct  bestritten^),  dann  aber  zugegeben  und 
näher  studirt^),    indem   er  gleichzeitig  Luciani  und  Tamburini    vor- 


1)  Luciani  und  Seppilli  a,  a.  0.   S.  59. 

2)  H.  Munk  (Gesammelte  Mittheilungen  1890,  S.20  u.214)  hat  die  Arbei- 
ten Panizza' s  ausführlicher  referirt.  Meine  Versuche  wiesen  bestimmt  auf 
den  Hinterhauptlappen  hin,  Panizza's  Versuche  thaten  dies  weniger.  In- 
dessen scheint  mir  aus  später  zu  erörternden  Gründen  hierauf  nicht  viel  an- 
zukommen. 

3)  Luciani  und  Tamburini,  Gli  centri  psico-sensori  corticali.  Rivista 
sperimentale  di  Freniatria.    März  1877. 

4)  H.  Munk,  Gesammelte  Mittheilungen.   S.  30.  (15.  März  1878.) 

5)  H.  Munk,  Ebenda.   S.  66ff.  (4.  .luli  1879.) 


—     103     — 

warf,  dass  ihre  Untersucliungsmethoden  niclit  beweiskräftig  seien. 
Munk  hat  damals  augegeben,  dass  der  Ausfall  auf  der  gleichseitigen 
Netzhaut  immer  genau  den  erhaltenen  Stücken  der  ungleichseitigen 
Netzhaut  entspräche  und  nie  mehr  als  liöchstens  ein  Viertel  der  Retina 
ausmache.  Goltz  und  Loeb  hatten  diesen  Angaben  lebhaften  Wider- 
spruch, auf  den  ich  zurückkommen  werde,  entgegengesetzt.  Für  jetzt 
habe  ich  nur,  mit  Bezug  auf  die  Sehstörung  des  gleichnamigen  Auges 
zu  bemerken,  dass  sie  in  vielen  Fällen  schwer  oder  auch  nicht  nach- 
zuweisen ist,  wie  sie  denn  auch  zuerst  mir  und  später  Munk  entgangen 
war.  Ist  sie  aber  nachweisbar,  so  nimmt  sie,  entsprechend  den  An- 
gaben Munk's,  bei  einseitigen  Verletzungen,  niemals  mehr  als  ein 
Viertel  der  Retina  ein.  Hierauf  und  auf  die  Coustatirung  ihres  relativ 
frühzeitigen  Verschwindens,  will  ich  an  dieser  Stelle  meine,  aus  eigenen 
Erfahrungen  geschöpften  Bemerkungen  über  die  Sehstörung  des  gleich- 
namigen Auges  beschränken. 


Fig.  ]4.    A.  A^  Sehsphäre,  B.  B^  Hörsphäre,  G.  Ohrregion  nach  Munk. 


Die  Angaben  der  verschiedenen  Autoren  über  die  Art  der  ge- 
setzten Sehstörung,  welche  Munk  bekanntlich  mit  Seelenblindheit 
und  Riudenblindheit  bezeichnet,  während  Goltz  und  Loeb  von  der 
totalen  Blindheit  nur  eine  Hirnsehschwäche  bezw.  Hemiamblyopie  unter- 
schieden wissen  wollen,  sind  von  so  grundsätzlicher  Wichtigkeit  für  die 
Vorstellungen,  welche  man  sich  nicht  nur  von  dem  corticalen  Mechanis- 
mus des  Hundes,  sondern  auch  von  demjenigen  des  Menschen  zu  bilden 
hat,  dass  die  kurze  Anführung  und  die  Prüfung  der  hauptsächlichsten 
Streitpunkte  unerlässlich  erscheint. 

Nach  der  Lehre  von  Munk  werden  die  corticalen,  optischen  Wahr- 
nehmungen in  der  Weise  vermittelt,  dass  die  einzelnen  Punkte  der 
Netzhaut    durch  Sehnervenfasern    mit    bestimmten    Theilen    der    Rinde, 

i 


—     104     — 

welche  die  Sebsphäre  zusammensetzen,  ja  sogar  mit  bestimmten  Em- 
pfindungszellen der  Rinde  direkt  verbunden  sind.  Insbesondere  eut- 
spriclit  diejenige  nahe  der  hinteren  oberen  Spitze  des  Hinterhauptlappens 
gelegene  Stelle,  deren  Verletzung  mir  seiner  Zeit  temporäre,  contra- 
laterale Blindheit  ergab  und  die  später  von  Munk  A^  genannt 
worden  ist,  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens  der  Retina.  In  dieser 
corticalen  Stelle  und  von  ihr  aus  in  ihre  Umgebung  werden  „die  Er- 
innerungsbilder der  Gesichtswahrnehmungen  in  der  Reihenfolge  etwa, 
wie  die  Wahrnehmungen  dem  Bewusstsein  zuströmen,  gewissermaassen 
von  einem  centralen  Punkte  aus  in  immer  grösserem  Umkreise  deponirt." 

Es  entstehen  also  nicht  nur  die  Gesichtsvorstellungen,  sondern 
auch  die  Gesichtswahrnehmungen,  die  Lichtempfindungen  in  der 
Rinde  und  dort  allein.  Diesen  beiden  verschiedenen  Zwecken  dienen 
zwei  verschiedene  Arten  von  Elementen,  die  wahrnehmenden  und  die 
Vorstellungselemente.  Die  ersteren  kehren  nach  jeder  Erregung  sehr 
rasch  wieder  in  den  vollen  „alten  Ruhezustand  zurück",  während  in 
den  letzteren  Erinnerungsspuren  von  jeder  Erregung  haften  bleiben. 
Die  so  gesetzten  Erinnerungsbilder  entstehen  fortan  jedesmal,  dass  die- 
selben Vorstellungselemente,  gleichviel  aus  welchem  Anlass,  wieder  in 
Erregung  gerathen.  Alle  Vorstellungselemente,  in  welchen  die  Er- 
innerungsbilder der  früheren  Gesichtswahrnehmungen  auf  diese  Weise 
latent  erhalten  sind,  haben  in  den  beiderseitigen  Stellen  A^  ihren  Sitz. 
Aber  auch  die  einzelnen  Erinnerungsbilder  haben  ihren  bestimmten  Sitz 
in  der  Grosshirnrinde,  sodass  es  gelegentlich  gelingt,  bei  Ausschaltung 
aller  anderen  Erinnerungsbilder  nur  eines  derselben  unversehrt  zu  er- 
halten, z.  B.  das  Bild  des  Eimers,  aus  welchem  der  Hund  zu  trinken 
gewohnt  war  oder  der  Handbewegung  (!),  auf  welche  er  die  Pfote  gab. 

Werden  nun  einzelne  Stücke  dieser  Sehsphäre  exstirpirt,  so  wird 
das  Thier  für  den  correspondirenden  Theil  seiner  Netzhaut  für  alle  Zeit 
rinden  blind,  es  entsteht  also  gleichsam  ein  zweiter  blinder  Fleck  auf 
der  Netzhaut.  Wird  die  ganze  Sehsphäre  exstirpirt,  so  fällt  der  ganze 
correspondirende  Theil  beider  Netzhäute  aus,  und  werden  beide  Seh- 
sphären exstirpirt,  so  wird  das  Thier  auf  beiden  Augen  total  blind. 

Besondere,  von  der  Exstirpation  aller  anderen  Theile  der  Sehsphäre 
abweichende  Folgen  hat  die  Exstirpation  der  Stelle  A^.  Zwar  wird 
das  Thier  nunmehr  auch  für  den  correspondirenden  Theil  der  Netzhaut, 
nämlich  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens,  rindenblind;  da  aber  in 
dieser  Stelle  A-^  alle  Erinnerungsbilder,  die  der  Hund  früher  gesammelt 
hatte,  deponirt  waren,  so  vermag  er  zwar  noch  mit  den  ü(brigeu  Theilen 
seiner  Netzhaut  zu  sehen,  aber  er  erkennt  nicht  mehr,  was  er  sieht,  er 
ist  seelenblind. 


—     105     — 

Die  Seelenbliudheit  ist  aber  kein  (lauernder  Zustand,  sondern  sie 
ist  der  Ausgleichung  fähig  und  damit  erklärt  sich  die'  Thatsache  der 
Restitution.  Denn  da  der  Hund  noch  sehen  kann,  ist  ihm  die  Fähigkeit 
geblieben,  wie  ein  Neugeborener  wieder  sehen  zu  lernen,  d.  h.  die  Ele- 
mente des  Restes  seiner  Sehsphäre  mit  neuen  Erinnerungsbildern  zu 
besetzen.  Er  erkennt  also  die  einzelnen  Gegenstände  erst  dann  wieder, 
wenn  er  sie  seit  seiner  Verstümmelung  wieder  gesehen  und  in  ihren 
sonstigen  Eigenschaften  wahrgenommen  hat,  indem  er  also  z.  B.  das 
Fleisch  oder  die  Peitsche  gekostet  hat.  Der  Zeitpunkt,  zu  dem  die 
einzelnen  Stücke  seiner  Seelen blindheit  verschwinden,  hängt  demnach 
nicht  von  dem  Heilungsprocess  oder  irgend  welchen  anderen  Umständen, 
sondern  der  Hauptsache  nach  nur  davon  ab,  ob  der  Hund  die  einzelnen, 
den  Stücken  seiner  Seelenblindheit  entsprechenden  Objecte  früher  oder 
später  wiedererkennen  gelernt  hat. 

Die  Theorien  Munk's  sind  von  mir  stets  in  der  vorgetragenen 
Weise  aufgefasst  worden  und  meines  Wissens  haben  sie  auch  nirgends 
eine  andere  Auffassung  gefunden.  Ich  will  aber  nicht  unterlassen,  an- 
zuführen, dass  Munk  in  einer  Anmerkung  (A.  a.  0.  S.  41 — 43),  in 
welcher  er  eine  Menge  von  polemischen  Aeusserungen  von  Goltz  citirt, 
auch  wiederholt  die  gegen  seine  Localisirung  der  Erinnerungsbilder  in 
einzelnen  Ganglienzellen  der  Hirnrinde  gerichteten  Bemerkungen  von 
Goltz  anführt,  um  dann  am  Schlüsse  zu  sagen,  „kann  man  anders  als 
mit  dem  Kopfe  schütteln,  wenn  man  sieht,  wie,  um  mich  zu  bekämpfen, 
jenen  falschen  Aussagen  gerade  das  entgegengehalten  wird,  was  ich 
wirklich  angegeben  habe?"  Der  Sinn  dieser  Bemerkung  Munk's  ist 
mir  völlig  entgangen.  Wenn  man  von  der  Art  der  Polemik  Goltz's, 
welche  mir,  wie  gesagt,  sehr  unsympathisch  ist,  absieht,  so  kann  ich 
nicht  finden,  dass  er  Munk  falsch  citirt  hat  und  ich  kann  insbesondere 
auch,  da  es  Munk  an  allen  Erläuterungen  hat  fehlen  lassen,  nicht  er- 
sehen, ob  er  sich  thatsächlich  darüber  beschweren  will,  dass  Goltz 
ihm  seine  immer  und  immer  wieder  betonte  Lehre  von  den  in  be- 
stimmten Ganglien  localisirten  Erinnerungsbildern  vorrückt.  Ich  habe 
auch  sonst  an  keiner  Stelle  finden  können,  dass  Munk  sich  von  dieser 
Lehre  losgesagt  oder  etwa  erläutert  hätte,  inwiefern  er  von  der  ganzen 
Welt  missverstanden  worden  ist. 

Wie  man  sieht,  setzt  sich  diese  Lehre  aus  einer  ganzen  Reihe  von 
einzelnen  Grundanschauungen  zusammen,  die  sich  kurz  so  formuliren 
lassen : 

1.  Der  centrale  Sehact  geht  nur  in  der  Rinde  und  nicht,  wie  die 
älteren  Forscher  wollten,  in  den  subcorticalen  Internodien  und  der 
Rinde  vor  sich. 


—     106     — 

2.  lu  dei;  Rinde  ist  er  derart  in  der  Sehsphäre  localisirt,  dass 
Verletzungen  ausserhalb  dieser  Sehsphäre  niemals  Sehstörungen,  Ver- 
letzungen innerhalb  derselben  stets  partielle  Rindenblindheit,  und  wenn 
sie  die  Stelle  A^  treffen,  ausserdem  Seelenblindheit  hervorbringen. 

3.  Die  optischen  Wahrnehmungen,  welche  von  anderen  Forschern 
in  die  subcorticalen  Centren  verlegt  werden  und  die  optischen  Vor- 
stellungen, welche  allgemein  in  die  Rinde  verlegt  werden,  werden  durch 
zwei  verschiedene  Arten  von  corticalen  Zellen,  Wahrnehmungs-  und 
Vorstellungszellen  vermittelt. 

4.  Die  ersteren  Zellenelemente  stehen  mit  Zellen  der  Retina  in 
direkter  Verbindung.  An  die  letzteren  Zellenelemente,  einzeln  oder 
gruppenweise,  sind  die  einzelnen  Vorstellungen  gebunden,  sie  sind  von 
ihnen  besetzt. 

Es  hat,  wie  man  später  sehen  wird,  keinen  Werth  für  die  von  mir 
mitzuth  eilenden  Untersuchungen,  die  Einzelheiten  der  ^Innk'schen 
Projection  der  Netzhäute  auf  die  Rinde  hier  auszuführen  und  zu  er- 
örtern; von  um  so  grösserer  Wichtigkeit  ist  aber  das  Princip  an  sich, 
vornehmlich  deshalb,  weil  Munk  das  gleiche  Princip  auf  die  corticale 
Projection  aller  anderen  Sinnesflächen  anwendet  und  dabei  stets  mit 
der  von  ihm  als  erwiesen  angesehenen  optischen  Projection  argumentirt, 
dann  aber  auch  —  neben  manchen  anderen  Dingen  —  wegen  der  ana- 
tomischen und  physiologischen  Vorstellungen,  die  man  sich  von  dem 
Centralorgan  überhaupt  zu  machen  hat.  Sehen  wir  nun  zu,  welchen 
Einfluss  die  Lehre  Munk 's  auf  die  wissenschaftliche  Literatur  aus- 
geübt hat,  so  begegnen  wir  einem  höchst  eigenartigen  Schauspiel.  Es  ist 
mir  nicht  bekannt,  dass  seine,  die  Hauptsätze  dieser  Lehre  begründenden 
Versuche  von  anderen  Forschern,  als  etwa  von  solchen,  die  unter  ihm 
gearbeitet  haben,  mit  dem  gleichen  Erfolge  wiederholt  worden  wären; 
vielmehr  sind  sie  von  allen  selbständigen  Experimentatoren  mit  ver- 
schiedenem Rechte,  mit  verschiedenem  Glücke  und  verschiedener  Hef- 
tigkeit angegriffen  worden.  Nur  Schäfer  und  Sanger  Brown^)  haben 
bei  einem  am  Affen  ausgeführten  Lähmungsversuch  und  Schäfer-) 
sowohl  wie  einige  andere  Autoren  durch  Reizversuche  am  Occipitalhirn 
des  Hundes    und    des    Affen    Resultate    erzielt,    welche    ihnen    für    die 


1)  Sanger  Brown  and  E.  A.  Schäfer,  On  investigation  into  the  func- 
tions  of  the  occipital  and  temporal  lobes  of  the  monkey's  brain,  Philos.  trans- 
act.  of  the  Royal  Soc.  of  London.   1888. 

2)  E.  A.  Schäfer,  On  electrical  excitation  of  the  occipital  lobe  and  ad- 
jacent  parte  of  the  monkey's  brain.  Proceedings  of  the  Royal  Soc.  1888,  and 
Experiments  of  the  electrical  excitation  of  the  Visual  area  of  the  cerebral  cortex 
in  the  monkey.    Brain  1888,  April. 


—     107     — 

Richtigkeit  des  Principes  der  Projection  zu  sprechen  scheinen.  Da- 
gegen haben  diese  Lehren  bei  allen  denen,  welche  sich  nicht  selbst  mit 
solchen  Versuchen  beschäftigen,  den  willigsten  Eingang  gefunden,  so 
dass  sie  namentlich  in  den  Lehrbüchern  der  praktischen  Medicin  eine 
maassgebende  Rolle  spielen. 

Die  nächste  und  wichtigste  Frage,  welche  von  der  entscheidendsten 
Bedeutung  für  die  Lehre  von  der  Localisation  im  Grosshirn  ist,  ist  die 
Frage,  ob  eine  Sehsphäre  überhaupt  existirt  oder  nicht.  Wenn 
ein,  anscheinend  so  leicht  durch  den  Versuch  zu  entscheidendes  Problem 
bis  auf  den  heutigen  Tag  gerade  durch  den  pli)'siologischen  Versuch 
und  ganz  besonders  was  den  Hund  angeht,  nicht  entschieden  ist,  so 
liegt  dies  in  erster  Linie  an  der  Fragestellung  oder  vielleicht  richtiger 
gesagt,  an  den  falschen  Voraussetzungen,  von  denen  die  Fragestellung 
ausging.  In  dieser  Beziehung  haben  sich  Munk  und  seine  Gegner 
nichts  vorzuwerfen.  Während  Munk  argumentirte:  Sehstörungen  treten 
nur  nach  Verletzung  meiner  Sehsphäre  auf,  folglich  ist  dies  eine  Seli- 
sphäre,  schlössen  seine  Gegner:  Sehstörungen  treten  nach  Verletzungen 
von  anderen  oder  von  allen  Theilen  des  Hirnmantels  auf,  folglich  ist 
die  Sehsphäre  viel  grösser  als  Munk  will,  oder  sie  ist  überall  vor- 
handen, mit  anderen  Worten,  es  giebt  keine  Sehsphäre. 

Hierbei  ging  sowohl  Munk  als  auch  ein  Theil  seiner  Gegner  von 
der  Annahme  aus,  dass  alle  durch  corticale  Verletzungen  bervorge- 
. brachten  Sehstörungen  direkt  von  der  Ausschaltung  des  vernichteten 
Rindenstückes  abhängig  seien,  während  Goltz  und  seine  Schule  des- 
halb, weil  die  so  hervorgebrachten  Störungen  gänzlich  oder  theilweise 
vergänglich  sind,  der  corticalen  Ausschaltung  an  sich  überhaupt  keinen 
direkten  Antheil  an  der  Sehstörung  zugestanden  wissen  wollten  und 
alle  zu  beobachtenden  Störungen  consequenterweise  in  die  subcorticalen 
Centren  verlegten. 

Ja,  diese  Schule  ging  insofern  noch  viel  weiter,  als  sie,  ähnlich 
wie  Munk,  nur  in  gerade  umgekehrter  Weise  ihre  Erfahrungen  gene- 
ralisirte  und  nun  nicht  nur  die  corticalen  Sehstörungen,  sondern  alle 
durch  Eingriffe  in  die  Rinde  hervorgebrachten  Störungen  —  mit  Aus- 
nahme einer  beschränkten  Zahl  von  psychischen  Störungen  —  auf  die 
Hemmung  subcorticaler  Organe  bezogen  wissen  wollte.  Der  Fehler 
dieser  Voraussetzungen  liegt  in  ihrer  Ausschliesslichkeit.  Denn  wenn 
auch  nachgewiesen  wird,  dass  ein  Theil  der  durch  corticale  Ver- 
letzungen hervorgebrachten  Sehstörunge]i  auf  subcorticale  Hemmungen 
zurückzuführen  ist,  so  ist  doch  damit  noch  nicht  bewiesen,  dass  alle 
Sehstörungen,  oder  gar  alle  corticalen  Störungen  überhaupt,  diesen 
Ursprung  haben.     Ebenso  wenig  ist  das  Gegentheil    bewiesen,    nämlich 


—     108     — 

dass  der  corticale  Ursprung  einer  bestimmten  Gruppe  von  Sehstörungen 
entscheidend  für  den  Ursprung  aller  anderen  durch  Eiugriife  in  die 
Rinde  entstehenden  Sehstörungen  sei.  Und  endlich  bleibt  immer  noch 
die  Frage  zu  entscheiden,  ein  wie  grosser  Antheil  der  durch  Zer- 
störungen des  Hirnmantels  hervorgebrachten  Störungen  auf  die  Rinde 
selbst  und  wieviel  davon  auf  die  Sehbahn  zu  beziehen  ist. 

Wie  man  sieht,  hängen  die  einzelnen  Grundsätze  der  Lehre  Munk\s 
auf's  Innigste  unter  einander  zusammen.  Denn  wenn  es  gelaug,  Seh- 
störungen auch  durch  Eingriffe  in  andere  corticale  Gebiete  zu  erzielen, 
so  war  an  die  Existenz  eines  Sehcentrums  in  seinem  Sinne  nicht  mehr 
zu  denken.  Die  Existenz  eines  occipital  begrenzten  Sehcentrums  au 
sich  wurde  durch  einen  solchen  Nachweis  freilich  nicht  ausgeschlossen, 
denn  die  Sehstörung  konnte  iu  jenem  Falle  sowohl  dadurch  hervorge- 
bracht werden,  dass  die  anders  localisirte  Zerstörung  einen  hemmenden 
Einfluss  auf  das  eigentliche  corticale  Centrum,  als  auch  dadurch,  dass  sie 
einen  solchen  Einfluss  auf  die  subcorticalen  Centren  ausübte.  Aber  schon 
in  dem  letzteren  F'alle  müsste  man  mit  anatomischen  und  physiologischen 
Bedingungen  rechnen,  durch  welche  die  M unk 'sehe  Projection  der  Retina 
auf  die  Rinde  ganz  unverständlich  würde  und  iu  dem  anderen  P'alle 
entstand  das  Dilemma,  wie  man  sich  denn  eigentlich  die  Hemmung 
der  von  Munk  vorausgesetzten  Vorstellungszellen  zu  denken  hätte. 
Vermochte  der  pathologische  Reiz  die  gesammte  Sehsphäre  oder  grössere 
Abschnitte  derselben  vorübergehend  ausser  Function  zu  setzen,  oder, 
hemmte  er  nur  die  Thätigkeit  gewisser  mit  bestimmten  Erinnerungs- 
bildern besetzter  Zellcomplexe,  dass  vielleicht  gerade  das  Bild  des 
Eimers,  aus  dem  der  Hund  zu  saufen  gewohnt  war  oder  der  Handbe- 
bewegung  (!),    welche    ihn  zum  Reichen  der  Pfote    einlud,    verlöschte? 

Allerdings  war  diese  Frage  ja  der  experimentellen  Prüfung  zu- 
gänglich; diese  ist  vielfach  versucht  worden  und  sie  hat  ergeben,  dass 
jede  durch  einen  corticalen  Eingriff  hervorgebrachte  Sehstöruug,  unge- 
achtet verschiedener  Intensität  und  verschiedener  Dauer  immer  den- 
selben Character  zeigt,  d.  h.  dass  sie  hemiopischer  Natur  ist. 
Aber  auch  bei  dieser  Lösung  der  Frage  wäre  es  Munk  schwer  ge- 
worden, eine  Vorstellung  von  demjenigen  Mechanismus  zu  geben,  welcher 
befähigt  war,  durch  Reize,  die  an  einer  entfernten  Rindenstelle  ange- 
bracht wurden,  die  Summe  aller  seiner  einzelnen  direct  mit  den  Netz- 
hautelementen in  Verbindung  stehenden  Wahrnehmungs-  bezw.  Vor- 
stellungselemente gleichmässig  zeitweise  ausser  Function  zu  setzen. 
Ich  selbst  kann  mir  wenigstens  absolut  keine  Vorstellung  machen,  wie 
ein  solches,  im  Sinne  Munk 's  construirtes  Schema  etwa  aussehen 
könnte. 


—     109     — 

Munk  ist  dieser  Schwierigkeit  dadurch  entgangen,  dass  er  von 
jeher  und  insbesondere  noch  in  seinen  letzten  Mittheilungen i)  behaup- 
tete, solche  Sehstörungen  seien  nur  auf  eine  Beleidigung  der  Sehsphäre 
also  auf  Nebenwirkungen  und  Fehler  bei  der  Operation  zu  beziehen. 
Und  diese  Behauptung  hat  er  in  seiner  letzten  Mittheilung  durch  zwei 
Versuche  an  Affen  zu  stützen  versucht,  bei  denen  in  einem  Falle 
eine  so  entstandene  Sehstörung  durch  eine  aus  Fieber  und  massiger 
Benommenheit  erschlossene  leichte  Meningitis,  in  dem  anderen  Falle 
durch  ein  ansehnliches  Blutgerinnsel  erklärt  wurde.  Es  mag  sein,  dass 
Munk  mit  dieser  Erklärung  jener  beiden  Beobachtungen  Recht  hat. 
Ich  vermisse  aber  bei  ihm  die  systematische  Nachprüfung  der  ihm  ent- 
gegengehaltenen Versuche.  PvS  kommt  darauf  au,  ob  er,  bei  von  ihm 
selbst  vorgenommenen  und  ihm  selbst  einwandfrei  erscheinenden  Exstir- 
pationen  innerhalb  der  motorischen  Region,  bei  ausreichender  Unter- 
suchung des  Sehvermögens  regelmässig  Sehstörungen  vermisst  hat  oder 
nicht  und  wenn  das  letztere  zutrifft,  ob  er  in  allen  diesen  Fällen  im 
Stande  war,  einen  Grund  für  eine  Beleidigung  der  Sehsphäre  aufzu- 
finden oder  nicht.  Dadurch,  dass  Munk  beharrlich  behauptet,  bei 
solchen  Versuchen  kämen  keine  Sehstörungen  vor,  und  dadurch,  dass 
er  einzelnen  seiner  Gegner  Versuchsfehler  nachwies,  scheint  mir  die 
Sache  denn  doch  nicht   endgültig  in  seinem   Sinne  entschieden  zu  sein. 

Vielmehr  bleibt  die  aufgeworfene  Frage,  angesichts  der  von  Munk 
noch  neuerdings  gegen  alle  anderen  Forscher  erhobenen  Einwendungen 
um  so  mehr  durch  einwandfreie  Versuche  zu  entscheiden,  als  allerdings 
eine  Zahl  der  früher  angewendeten  Methoden  zu  den  schwersten  Be- 
denken Veranlassung  giebt.  Dies  wird  eine  der  Aufgaben  der  nächsten 
Abhandlung  sein. 

Ebenso  war  die  Richtigkeit  der  Lehre  von  der  Projection  der  Netz- 
häute durch  das  Studium  der  nach  directen  Eingriffen  in  die  Sehsphäre 
entstehenden  Sehstörungen  zu  prüfen.  Dies  ist  von  zahlreichen  For- 
schern, z.B.  Luciani  und  Seppilli,  namentlich  vonLoeb  geschehen, 
und  Goltz  hat  später  den  Angaben  Loeb's  beigestimmt.  Nach  allen 
diesen  Forschern  kommt  es  in  Folge  umschriebener  Exstirpationen  in 
der  Sehsphäre,  keineswegs  zu  umschriebenen  Skotomen  im  Sinne 
Munk's,  sondern  auch  in  diesen  Fällen  tritt,  wenn  es  überhaupt  zu 
einer  Sehstörung  kommt,  eine  solche  hemianopischer  Natur  ein. 

Ich  habe  schon  oben  auseinandergesetzt,  dass  die  Versuche  Loeb's, 


1)  H.  Munk,  Ueber  die  Ausdehnung  der  Sinnessphären  in  der  Gross- 
hirnrinde.  Sitzungsbericht  der  Akademie  der  Wissenschaft.  1899.  LH.  und 
1900.  XXXVI. 


—     110     — 

schon  wegen  der  in  ihren  Resultaten  herrschenden  Gesetzlosigkeit,  einen 
wenig  vertrauenerweckenden  Eindruck  machen.  Ausserdem  aber  wird 
sich  ergeben,  dass  Loeb  in  dem  Bestreben,  Munk  mit  seiner  Behaup- 
tung, dass  die  Stelle  Ai  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens  entspräche, 
ad  absurdum  zu  führen,  mehr  bewiesen  hat,  als  überhaupt  bewiesen 
werden  konnte,  dass  er  also  selbst  dorthin  gelangt  ist,  wohin  er  Munk 
führen  wollte. 

Auch  dieser  Tlieil  des  Sachverhaltes   ward  also  nachzu])rüfen  sein. 

Im  Uebrigen  hat  dieser  Forscher,  ebenso  wie  Goltz,  der  Lehre 
Munk's  von  den  local  deponirten  Erinnerungsbildern  eine  Reihe  von 
experimentellen  und  aprioristischen  Einwondungen  entgegengesetzt,  deren 
Berechtigung  nicht  zu  bestreiten  ist. 

Von  den  letzteren  kommt  namentlich  die  Erwägung  in  Betracht, 
dass  die  gesammte  Hirnrinde  des  Hundes  —  beiläufig  nicht  nur  die  der 
Sehsphäre  —  in  verschwenderischem  Ueberschusse  angelegt  sein  müsste, 
wenn  die  Ansicht  Munk's  richtig  wäre,  denn  es  müsste  da  eine  uner- 
messliche  Anzahl  von  Zellen  geben,  welche  von  der  Geburt  des  Thieres 
an  darauf  zu  warten  hätten,  dass  sie  vielleicht  später  einmal  mit  Vor- 
stellungen besetzt  würden.  Munk  hat  seine  sonderbare  Hypothese  von 
dem  „verschwenderischen  Ueberfluss''  gleichwohl  festhalten  zu  sollen 
geglaubt.  Es  liesse  sich  dagegen  noch  vielerlei  sagen,  was  ich  als  un- 
nötliig  unterlasse.  Was  dagegen  die  Lehre  von  den  local  deponirten 
Erinnerungsbildern  anbetrifft,  so  springt  deren  Unhaltbarkeit  sofort  in's 
Auge,  sobald  man  an  ihrer  Hand  die  Entwicklung  und  Reproduction 
irgend  eines  Begriffes  zu  verfolgen  versucht.  Ich  habe  mich  dazu  in 
meinen  Vorlesungen  gewöhnlich  des  Beispieles  einer  Mohrrübe  bedient. 
Es  giebt  unendlich  viele  Arten  von  Mohrrüben,  grosse  und  kleine,  dicke 
und  dünne,  mit  Wurzeln  und  Grün  versehene  und  solche,  die  schon 
geschabt  und  zubereitet  sind,  und  ferner  kann  mau  alle  diese  Mohr- 
rüben in  sehr  verschiedener  Beleuchtung,  Entfernung  und  Menge,  tlieils 
frei,  theils  im  Erdboden  versteckt  erblicken.  Mit  einem  Worte,  das 
optische  Bild  der  Mohrrübe  kann  uns  im  Laufe  eines  langen  Lebens  in 
unzählig  vielen  Gestaltungen  erscheinen.  Nach  der  Lehre  Munk's 
müsste  nun  jede  dieser  Gestaltungen  eine  besondere  Zelle  oder  einen 
besonderen  Zellcomplex  in  der  Sehsphäre  für  sich  in  Anspruch  nehmen 
und  jeder  dieser  Zellcomplexe  müsste  wegen  der  Bedürfnisse  des  asso- 
ciativen  Denkens  mit  unzählig  vielen  anderen  Zellcomplexen  in  asso- 
ciativen  Beziehungen  stehen.  Wenn  nun  aber  der  Begriff  der  Mohrrübe 
auf  Grund  eine's  inneren  oder  äusseren  Reizes  zu  identificiren  w'äre, 
müsste  dieses  ganze  ungeheure  cerebrale  Mohrrübenfeld  in  Erregung 
gerathen,  um  mit  seinen  mehr  oder  minder  lebhaften  oder  abgeblassteu 


—    111    — 

Erimierungsbildeni  von  der  allerverschiedensten  Gestaltung  zu  dem  Be- 
grift"  „Mohrrübe"  zu  congruiren. 

Ich  sehe  zu  meiner  Freude,  dass  in  neuester  Zeit  ein  Physiologe 
von  Fach,  J.  v.  Kries^)  einen  ähnlichen  logischen  Weg  gegangen  ist, 
wie  ich,  nur  dass  er  sich  statt  des  Erinnerungsbildes  der  Mohrrübe 
desjenigen  des  Pferdes  bedient.  Die  Stelle  lautet:  „Fragen  wir,  wie 
wir  uns  die  centrale  Repräsentation  eines  bestimmten  optischen  Gegen- 
standes, etwa  desjenigen  eines  Pferdes,  denken  sollen,  so  gelingt  zum 
mindesten  die  Auseinanderlegung  einer  Reihe  wohlunterschiedener  Mög- 
lichkeiten. Abzulehnen  wäre  zunächst  jedenfalls  der  Gedanke,  dass 
jeder  derartige  Eindruck  seine  bestimmte  Zelle  besitze,  die  sozusagen 
nur  ihm  zugehört  und  die,  gerade  immer  nur  durch  ihn,  in  Thätigkeit 
zu  versetzen,  als  die  Trägerin  dieses  Erinnerungsbildes  zu  gelten  hätte; 
es  ist  die  oberflächlichste  und  platteste  aller  Vorstellungen,  die  schon 
daran  scheitert,  dass  ja  unmöglich  für  jede  neue  Art  von  Eindrücken 
eine  Anzahl  von  Zellen  bereit  gestellt  sein  kann,  die  gewissermaassen 
auf  sie  gewartet  hätten  und  falls  es  zu  jener  "Wahrnehmung  nicht  ge- 
kommen wäre,  dauernd  ausser  Gebrauch  hätte  bleiben  müssen." 

Jedenfalls  pflegt  die  Natur  sich  zur  Erreichung  ihrer  Zwecke  ge- 
schickter anzustellen,  als  wenn  sie  wirklich  den  Weg  gegangen  wäre, 
den  Munk  ihr  vorschreibt. 

Aus  dem  Vorgetragenen  erhellt  ohne  Weiteres,  eine  wie  grosse 
Zahl  von  Fragen,  die  das  Verhältniss  der  einzelnen  Theile  des  Gehirns 
zum  Sehact  angehen,  der  weiteren  Erforschung  und  endlichen  Entschei- 
dung noch  harren. 

B.    Theorien  der  Gehirnmechanik. 

Die  Theorien  über  die  Gehirnmechanik,  mit  anderen  Worten  über 
die  Grundlage  und  Vorbedingungen  der  Bewusstseinsthätigkeit  bauen  sich 
bei  den  einzelnen  Autoren,  deren  Arbeiten  hier  besprochen  worden  sind, 
naturgemäss  auf  den  Ergebnissen  dieser  Arbeiten  auf.  Insofern  sind 
diese  Ergebnisse,  ihr  Wertli  oder  Ünwerth,  ihre  Reinheit  oder  Unrein- 
heit und  die  Schlüsse,  die  aus  ihnen  gezogen  werden,  von  der  grosse- 
sten Wichtigkeit  für  diejenige  Richtung  der  Psychologie,  welche  in 
naturwissenschaftlichem  Boden  wurzelt.  Unzweifelhaft  sind  die  am 
Menschen  zu  machenden  Beobachtungen,  mögen  sie  nun  das  eigene  oder 
fremdes  psychologisches  Geschehen  im  gewöhnlichen  Flusse  der  Er- 
scheinungen oder  unter  experimentell    geschafi'enen  Variablen  betreffen. 


1)  J.  V.  Kries,  Ueber  die  materiellen  Grundlagen  derBewusstseinserschei- 
nungen.    Tübingen  und  Leipzig.    1901.   S.  43. 


—     112     — 

uuentbehiiicli  für  jedes  psychologische  System,  welcher  Art  auch  immer 
es  sein  mag.  Aber  ebenso  wie  die  complicirten  anatomischen  Bildungen 
des  menschlichen  Gehirns  erst  durch  das  Studium  der  einfacheren 
Apparate  von  niedrig  organisirten  Thieren  unserem  Verständniss  näher 
gerückt  werden,  ebenso  bedürfen  wir  der  einfacher  construirten  Gehirne 
niederer  Thiere,  um  durch  variable  Eingriife  in  die  einzelnen  cerebralen 
Apparate  zur  Erkenntniss  des  Zusammenwirkens  derselben  in  dem  Sinne 
zu  gelangen,  dass  war  verstehen  lernen,  wie  die  Bewegungserschei- 
nungen der  Aussenwelt  allmählig  derart  transformirt  werden,  dass  daraus 
die  individuelle  Auffassung'  des  Weltbildes  und  die  individuelle  Reaction 
auf  die  so  appercipirten  äusserlichen  Bewegungserscheinungen  erwächst. 
Aus  diesen  Gründen  erachte  ich  nicht  nur  im  Interesse  der  Erkenntniss 
der  Wahrheit  an  sich  die  experimentelle  Durchdringung,  Richtigstellung 
und  Vollendung  unserer  Kenntuisse  vornehmlich  von  den  Functionen 
des  Hundegehirns  von  so  eminenter  Wichtigkeit.  Ich  bin  weit  davon 
entfernt,  dem  Studium  anderer  Thierspecies  sein  Interesse  zu  bestreiten 
oder  zu  schmälern.  Der  Hund  nimmt  aber  dadurch  eine  ganz  besondere 
Stellung  ein,  dass  er  bei  hochentwickelter  Intelligenz  sich  leicht  unter- 
suchen lässt  und  dennoch  in  der  Thierreibe  schon  ziemlich  tief  unter 
dem  Menschen  steht. 

Eine  der  hauptsächlichsten  Aufgaben  der  vorliegenden  Abhandlung 
ist  es  daher,  an  der  Hand  von  Beispielen  einen  ungefähren  Ueberblick 
darüber  zu  geben,  wie  weit  die  Wissenschaft  in  der  Lösung  des  End- 
problems vorgedrungen  ist  und  dabei  wird  sich  ganz  von  selbst  ergeben, 
wie  dies  in  Vorstehendem  auch  schon  geschehen  ist,  welche  Aufgaben 
vorerst  noch  einer  endgültigen,  sicheren  Entscheidung  zugeführt  werden 
müssen,  bevor  man  daran  denken  kann,  sich  ein  lückenloses  Bild  von 
dem  cerebrospinalen  Geschehen,  insoweit  dies  überhaupt  unserer  Er- 
kenntniss zugänglich  ist,  zu  machen. 

Man  fasst  die  einzelnen  Autoren  am  besten  in  der  Reihenfolge 
in's  Auge,  wie  sie  sich  zu  der  Theorie  der  corticaleu  Localisation 
stellen. 

H.  Munk  vertritt,  allgemein  gesprochen,  unzweifelhaft  die  Lehre 
von  der  strengsten  corticalen  Localisation,  obschon  er  in  einem 
Punkte  nicht  einmal  so  weit  geht,  als  ich  selbst.  Es  war  mir  bekannt- 
lich seiner  Zeit  gelungen,  die  corticale  Repräsentation  einer  grossen 
Anzahl  von  Bewegungsmodalitäten  der  einzelnen  Körpertheile,  Beugung, 
Streckung  etc.  der  Extremitäten,  Innervation  der  einzelnen  Aggregate 
des  Facialis  etc.  auf  der  Rinde  des  Hundes  elektrisch  zu  localisiren. 
Ferrier  und  vornehmlich  Horsley  haben  später  diese  Untersuchungen 
vervollständigt.     Ich  sehe  nicht,   dass  Munk  bei  seinen  eigenen  Unter- 


—     113     — 

suchungen  gerade  diesem  Punkte  besondere  Aufmerksamkeit  zugcweud(;t 
hätte.  Dafür  tritt  er  um  so  entschiedener  für  die  Localisatioji  aller 
einzehien  psychischen  Functionen,  nicht  nur  der  sensomotorischen,  soji- 
dern  auch  der  rein  sensuellen  auf  der  Hirnrinde  in  dem  Sinne  ein,  dass 
er  jeder  einzelnen  Function  Avohl  umschriebene  und  scharf  begrenzte 
Gebiete  zuweist.  Er  hat  diesen  Standpunkt  bei  den  verschiedensten 
Gelegenheiten  mit  solcher  Bestimmtheit  vertreten,  dass  er,  um  nur  eins 
anzuführen,  mit  v.  Monakow  sogar  um  Millimeter  der  Ausdehnung 
seiner  Sehsphäre  marktet i). 

Er  nennt  diese  Gebiete  „Sphären"  und  räumt  ihnen  den  ganzen 
Hirnmantel  ein,  derart,  dass  dieser  von  seinem  frontalen  bis  zu  seinem 
occipitalen  Pol  gänzlich  von  der  Fühlsphäre,  der  Sehsphäre,  der  Hör- 
sphäre, der  Riech-  und  der  Schmecksphäre  bedeckt  ist. 

Innerhalb  dieser  Sphären  spielt  sich  nach  Munk's  ursprünglichen 
Ansichten  die  Gesammtheit  der  psychischen  Vorgänge  ab;  nur  die  ein- 
fachen niederen  Reflexe  verweist  er  in  die  Organisationen  des  Rücken- 
marks und  des  Hirnstammes.  Dagegen  schreibt  er  der  Rinde  einen 
ähnlichen  Einfluss  auf  die  Bewegungen  zu,  wie  derjenige,  den  sie  ent- 
sprechend meinen  vorstehenden  Ausführungen  auf  den  Gesichtssinn  be- 
sitzen soll.  Gerade  wie  dort  nicht  nur  die  Gesichtsvorstellungen,  son- 
dern auch  die  Gesichtswahrnehmungen  in  der  Rinde  und  zwar  in 
verschiedenen  Classen  von  Elementen  derselben  entstehen,  so  entstehen 
auch  nicht  nur  die  Gefühlsvorstellungen,  sondern  auch  die  sämmtlichen 
Gefühle  von  den  Zuständen  der  einzelnen  Körpertheile  in  den  ihnen 
zugeordneten  Sphären  der  Rinde  und  von  diesen  aus  tritt  in  Folge  der 
auf  diesem  Wege  erzeugten  ßewegungsvorstellungen  die  einzelne  Be- 
wegung ein. 

Ich  sehe  nicht,  dass  Munk  hier  seine  Hypothese  anatomisch  so 
weit  ausgesponnen  hat,  wie  auf  dem  optischen  Gebiete;  indessen  ent- 
spricht es  doch  seinem  gesammten  Gedankengange,  wenn  man  annimmt, 
dass  er  sich  auch  hier  wieder  die  Bethätigung  von  verschiedenen  und 
zwar  drei  Klassen  von  Zellen  vorstellt,  nämlich  von  wahrnehmenden, 
von  vorstellenden  und  von  bewegenden  Zellen.  Jedenfalls  aber  nimmt 
er  anatomisch  eine  ebenso  direkte  Verbindung  der  einzelnen  empfin- 
denden Punkte  aller  äusseren  Organe  mit  bestimmten  Zellen  seiner 
Fühlsphäre  an,  wie  er  eine  solche  für  die  einzelnen  Punkte  der  Netz- 
häute mit  bestimmten  Zellen  seiner  Sehsphäre  postulirt.  Wir  erfahren 
nicht,  auch  nicht  in  grossen  Zügen,  wie  er  sich  die  Construction  und 
die  Function  der  in  den  Verlauf  der  centripetalen  Nerven  eingeschalteten 


1)  H.  Munk,  Gesammelte  Abhandlungen  1890.  S.  314. 

Hitzig,  Gesammelte  Athandl.     II.  Tlieil. 


—     114     — 

subcorticalen  Orgaue  denkt  und  ebenso  wenig  lässt  er  uns  erkennen, 
welchen  Werth  die  Resultate  der  Untersuchungen  über  die  intracerebrale 
secundäre  Degeneration  für  seine  Anschauungsweise  besitzen. 

Aus  dieser  Position  hat  Munk  sich  durch  gewisse,  besonders  die 
letzten  Versuche  vou  Goltz i)  zum  Theil  und  zwar  insofern  heraus- 
drängen lassen  müssen,  als  er  genöthigt  war,  dem  Hunde,  welcher 
überhaupt  kein  Grosshirn  mehr  besitzt,  eine  Art  von  niederem  ße- 
wusstsein  für  die  Schmerzempfindung  zuzugestehen,  oder  richtiger  aus- 
gedrückt, ferner  nicht  zu  bestreiten,  dass  es  ein  solches  niederes  Be- 
wusstsein  gäbe 2).  Denn  die  Berechtigung,  mit  einem  solchen  unbe- 
kannten Factor  zu  rechnen,  erkennt  er  im  Grunde  nicht  an. 

Wenn  er  jedoch  bei  dieser  Gelegenheit  sagt,  die  Anhänger  dieser 
Lehre  müssten  dann  auch  in  den  einfachsten,  z.  B.  den  Pupillarreflexen 
den  Ausdruck  von  Empfindungen  sehen,  so  kann  ich  nur  den  Ausdruck 
einer  Verlegenheit  darin  erblicken.  Richtig  und  consequeut  wäre  diese 
Folgerung  nur  dann,  wenn  alle  Reflexe  mit  Bezug  auf  die  ihnen  bei- 
wohnende Function  der  Empfindung  gleichwerthig  wären,  oder  wenn 
Munk  selbst  sie  wenigstens  so  abschätzte.  Dies  trifft  aber  nicht  zu. 
Gerade  die  motorische  Function  der  Rinde  fasst  er  ja  der  Hauptsache 
nach  als  einen  Reflexvorgang  auf  —  ganz  zu  geschweigen  von  den  von 
ihm  so  genannten  corticalen  „Berührungsreflexen"  —  und  zwischen 
diesen  Vorgängen  einerseits  und  dem  Pupillarreflex  z.  B.  andererseits 
liegt  noch  sehr  viel.  Es  ist  schon  a  priori  durchaus  nicht  unwahr- 
scheinlich, dass  es  dazwischen  Reflexe  giebt,  denen  die  Function  einer 
höheren  Betheiligiuig  der  Empfindung  als  den  gemeinen  Reflexen,  da- 
gegen die  Function  einer  niederen  Betheiligung  der  Empfindung  als  den 
durch  Vermittelung  der  Rinde  abfliessenden  Reflexen  beiwohnt. 

Die  Function  der  Rinde  erachtet  Munk  auf  diese  Weise,  insoweit 
nicht  transcendentale  Betrachtungen  in  Frage  kommen,  als  hinreichend 
defiuirt.  Die  Intelligenz  ist  ihm  hiernach  lediglich  ein  Product  des 
Zusammenwirkens  aller  seiner  Sphären  oder  Sinnescentren;  besondere 
Organe  für  besondere  intellectuelle  Verrichtungen,  welche  also  nicht 
Organe  der  Sinne  wären,  existiren  auf  der  Hirnrinde  nicht,  weil  die 
Sinnessphären  durch  Besetzung  des  ganzen  corticalen  Areals  keinen  Platz 
für  sie  übrig  gelassen  haben.  Insbesondere  können  dem  Stirniappen 
solche  Functionen  nicht  zugetraut  werden,  weil  er  die  „Fühlsphäre"  des 
Stammes  vorstellt.   — 


1)  F.  Goltz,  Der  Hund  ohne  Grosshirn.  Pflüger's  Archiv  Bd.51.    1892. 

2)  H.  Munk,    Ueber    die  Pühlsphären  der  Grosshirnrinde.     Sitzungsbe- 
richte 1892. 


—     115     — 

Meine  eigenen  Ansichten  stehen  denen  Munk's,  was  das  Princip 
der  Localisation  angeht,  so  nahe,  dass  ich  sie,  wenn  ich  die  Ord- 
nung des  Stoftes  ausschliesslich  nach  diesem  Princip  vornehmen 
wollte,  an  di  eser  Stelle  zu  erörtern  hätte.  Es  erscheint  mir  indessen 
ÄW-eckmilssiger,  dies  bis  znm  Schlüsse  dieses  Aufsatzes  zu  verschieben, 
weil  sich  auf  diese  Weise  am  besten  unnütze  Wiederholungen  vermeiden 
lassen.  — 

Die  Autoren  der  italienischen  Schule  haben  das  mit  einander 
gemein,  dass  sie  den  subcorticalen  Ganglien  einen  grösseren  Antheil 
der  Functionen  zuschreiben  als  Munk;  im  Einzelnen  bestehen  aber 
zwischen  ihnen  zahlreiche  Meinungsverschiedenheiten  mit  Bezug  auf  die 
Rolle,  welche  die  Rinde  und  die  subcorticalen  Ganglien  spielen  sollen. 
Am  wenigsten  weit  von  den  Anschauungen  Munk's  entfernt  sich 
Bianchi,  wenigstens  insoweit  diese  allgemeine  Auffassung  in  Betracht 
kommt.  Im  Besonderen  hat  er  insofern  freilich  eine  abweichende 
Meinung  von  ganz  principieller  Wichtigkeit,  als  er  der  motorischen 
Region  (den  Fühlsphären)  die  Function  des  Fühlens  abspricht.  Aber 
er  beschränkt  doch  diese  motorische  Function  auf  bestimmte  Grenzen, 
innerhalb  welcher  er  jedoch  wiederum  keine  rechte  Localisation  nach 
„Centren"  oder  „Sphären"  anerkennen  will.  Andererseits  bricht  wieder 
in  diese  motorische  Region  nach  dem  Vorbilde  Luciani's  und  in 
Debereinstimmung  mit  Tonnini  die  sensuelle  Function  ein,  während 
von  den  beiden  letztgenannten  Autoren,  am  ausgesprochensten  bei 
Luciani,  ein  Ineinandergreifen  sämmtlicher  Corticalgebiete  mit  cen- 
tralen Verdichtungen  jeder  einzelnen  Function  innerhalb  des  ihr  zuge- 
hörigen Gebietes  angenommen  wird.  Am  consequentesten  verfährt  also, 
Avas  das  Princip  angeht,  Luciani,  aber  ein  grundsätzlicher  Unterschied 
zwischen  seiner  und  seiner  Landsleute  Ansichten  über  die  Art  der 
Verth eilung  der  corticalen  Functionen  besteht  nicht. 

Etwas  anders  liegt  die  Sache  mit  Bezug  auf  die  Vertheilung  der 
Functionen  auf  die  Rinde  und  die  subcorticalen  Organe. 
Nach  Luciani  erledigt  sich  die  Frage  in  der  einfachsten  Weise  da- 
durch, dass  er  die  letzteren  auch  physiologisch  als  corticale  Ein- 
stülpungen auffasst  und  sie  demgemäss  auch  mit  corticalen  Functionen, 
also  insbesondere  auch  der  Fähigkeit  zur  Bildung  von  Vorstellungen 
und  der  Fähigkeit,  corticale  Läsionen  zu  compensiren,  ausstattet. i) 

Bianchi  dagegen  lässt  die  Compensation  theils  durch  die  er- 
haltenen Felder  der  gleichen,  theils  durch  die  ungleichnamige  Hemi- 
sphäre von  Statten  gehen.     Sind  alle  diese  Gebiete  vernichtet,  so  fällt 


1)  Luciani  und  Seppilli  a.  a.  0.  S.  395, 


—     116     — 

der  der  Rinde  zukommende  Autheil   der  betreffenden  Function  gänzlich 
und  für  immer  aus  und  nur  der  subcorticale  Theil  bleibt  übrig. 

Tounini  encjlich  weist  den  subcorticalen  Ganglien  wohl  von  allen 
dieseu  Autoren  die  grösste  Selbständigkeit  zu.  Die  Rinde  hat  nach 
ihm  nur  associatorische  oder  coordinatorische  Aufgaben,  welche  sich 
wiederum  keineswegs  auf  wohlumschriebenen,  sondern  stark  diffun- 
direnden  Rindengebieten  vollziehen.  — 

Ersichtlich  stehen  diese  Autoren  in  der  Mitte  zwischen  Munk  und 
Goltz,  wie  Luciani  dies  ^uch  ausdrücklich  ausspricht.  Seine  Ver- 
suche führen  ihn  vielfach  zu  den  gleichen  Resultaten  wie  Goltz,  aber 
seine  Schlüsse  entfernen  sich  von  denen  dieses  Autors.  — 

Goltz  Ansichten  über  die  hier  aufgeworfenen  Fragen  wiederzugeben 
ist  ein  Unternehmen,  welches  einigen  Schwierigkeiten  begegnet.  Ich 
rede  hier  nicht  davon,  dass  er,  der  ursprünglich  alle  Localisation 
leugnete,  eine  solche  später,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  zugab.  In 
dieser  Beziehung  erachte  ich  einfach  den  letzten  von  ihm  eingenom- 
menen Standpunkt  für  maassgebend.  Er  hat  aber  eine  eigene  Art  von 
Localisationslehre  zu  begründen  versucht,  welche  neben  der  von  anderen 
Forschern  angenommenen  herläuft.  Die  Darstellung  der  ohnedies  nicht 
einfachen  Daten  wird  dadurch  noch  mehr  complicirt. 

Als  Ausgangspunkt  dient  am  besten  seine  letzte,  oben  bereits 
citirte,  grössere  Arbeit,  die  über  den  Hund  ohne  Grosshirn.  Goltz  ist 
es  bekanntlich  gelungen,  drei  Hunde,  von  denen  er  namentlich  mit  dem 
einen  exemplificirt,  nach  Abtragung  des  ganzen  Grosshirns,  ähnlich  wie 
dies  früher  nur  bei  Vögeln  ausgeführt  worden  ist,  längere  Zeit  am 
Leben  zu  erhalten.  Diese  Thiere  behielten  nun  oder  vielmehr  erlangten 
wieder  mehr  oder  weniger  gut  die  Fähigkeit  der  Locomotion,  eine 
Thatsache,  auf  die  man  allerdings  wohl  gefasst  sein  durfte,  sobald  es 
überhaupt  gelang,  auch  Säugethiere  längere  Zeit  nach  der  Operation 
am  Leben  zu  erhalten.  Ausserdem  aber  soll  der  Hund,  A^on  dem  haupt- 
sächlich die  Rede  ist,  das  Symptom,  welches  ich  Störung  des  Muskel 
bewusstseins  genannt  habe,  nicht  gezeigt  haben,  er  soll  also  niemals 
mit  dem  Dorsum  aufgetreten  sein  und  sich  Dislocationsversuche  seiner 
Extremitäten  nicht  haben  gefallen  lassen.  Er  besass  ferner  seine  Haut- 
sensibilität, wie  daraus  hervorging,  dass  er  beim  Anfassen  knurrte, 
beim  Herausheben  aus  dem  Käfig  Wuthanfälle  bekam  und  den  in  ein. 
Gefäss  mit  Wasser  gesetzten  Fuss  alsbald  wieder  herauszog.  Gleich- 
wolil  erwies  sich  der  Tastsinn  bei  feineren  Uutersuchungsmethoden  als 
abgestumpft.  Der  Hund  „sah  auch",  was  Goltz  durch  das  Erhalten- 
sein des  Pupillarreflexes,  des  optischen  Lidreflexes  gegen  grelle  Be- 
lichtung   und    daraus    zu    beweisen    sucht,  dass  der  Hund  „in  seltenen 


—     117     — 

Füllen"  auf  einen  solchen  Reiz  den  Kopf  zur  Seite  wandte;  er  hörte 
ferner,  wie  aus  seiner  Reaction  gegen  „abscheuliche"  Töne  hervor- 
ging und  er  schmeckte  endlich,  da  er  mit  Chinin  und  Coloquinthen 
gewürzte  Fleischstücke  unter  Grimassireu  wieder  ausspie.  Dass  er  nicht 
riechen  konnte,  wird  durch  Zerstörung  der  Olfactorii  erklärt. 

Namentlich  war  der  Hund  wenigstens  durch  einen  Trieb,  den 
Hunger,  zu  Bewegungen  anzuregen,  und  dass  die  von  ihm  ausgeführten 
Bewegungen  schon  sehr  complicirter  Art  und  zweckmässig  waren,  geht 
bereits  aus  dem  vorhin  Angeführten  hervor.  Der  Hunger  setzte  ihn 
also  in  rastlose  Bewegung  und  veranlasste  ihn  zum  „freiwilligen" 
Fressen,  während  die  Sättigung,  ich  will  nicht  sagen  das  Sättigungs- 
gefühl, ihn  von  weiterem  Fressen  abhielt.  Diese  letzteren  Erscheinungen 
sind  von  so  besonderem  Interesse,  dass  wir  sie  etwas  genauer  betrachten 
wollen. 

Monatelang  musste  der  Hund  künstlich  ernährt  werden  und  erst 
sehr  allmählig  erlangte  er  diejenige  Fähigkeit,  welche  er  bei  seinem 
Tode  besass.  Zunächst  setzte  er  der  Nahrungszufuhr  durch  Zusammen- 
pressen der  Kiefer  und  Sträuben  den  heftigsten  Widerstand  entgegen. 
Wurde  dieser  Widerstand  gewaltsam  überwunden,  so  dass  Nahrungs- 
mittel in  das  Maul  eingeführt  werden  konnten,  so  erwies  sich  zwar  die 
Function  der  Speiseröhre  intact,  im  Uebrigen  aber  sogar  der  reflecto- 
rische  Schluckact  gestört,  geschweige  denn,  dass  normale  Fressbewe- 
gungen  mit  Zunge  und  Kiefer  ausgeführt  werden  konnten.  Ganz  all- 
mählig stellten  sich  dann  der  Reihe  nach  diese  Bewegungen  wieder  ein, 
so  dass  zunächst  der  reflectorische  Schluckact  von  Statten  ging,  worauf 
die  Fähigkeit,  Milch  einzuschlürfen,  folgte. 

Hieran  schloss  sich  die  Fähigkeit,  in  das  Maul  gebrachtes  Fleisch 
zu  kauen  und  zu  verschlucken  und  endlich  begann  der  hungrige  Hund 
auch  solche  Bewegungen  mit  seinen  Fresswerkzeugen  auszuführen,  die 
geeignet  waren  den  Inhalt  einer  Schüssel  Fleisch  in  sein  Maul  und  in 
seinen  Magen  zu  führen,  sobald  man  seine  Schnauze  mit  dem  Inhalte 
der  Schüssel  in  Berührung  brachte. 

So  interessant  und  wichtig  diese  Beobachtungen  auch  sind,  so 
führen  sie  mich  doch  nicht  zu  dem  Schlüsse,  den  Goltz  aus  ihnen  zog, 
wenn  er  sagte:  „Hunde  ohne  Grosshirn  nehmen  freiwillig  Nahrung 
aus  der  Aussenwelt  auf  und  verzehren  sie,"  und  wenn  er  ferner  meint, 
dass  solche  Hunde,  deren  Sehvermögen  nicht  durch  Verstümmelung  des 
Thalamus,  wie  bei  dem  fraglichen  Hunde,  eine  schwere  Schädigung  er- 
htten  hätte,  eine  noch  grössere  Spontaneität  in  der  Nahrungsaufnahme 
beweisen  würden. 


—     118     — 

^Nach  meiner  Auffassung  erklärt  sich  der  physiologische  Process  der 
Nahrangsaufnahme,  wie  er  sich  bei  diesem  Hunde  gegen  Ende  seines 
Lebens  vollzog,  derart,  dass  die  Berührung  der  mit  den  Fresswerkzeugeu 
in  Verbindung  stehenden  Haut-  und  Schleimhautgebiete  reflectorisch  die 
sämmtlichen  geschilderten  Fressbewegungen  auslöste.  Hierin  vermag 
ich  irgend  etwas  von  „Freiwilligkeit"'  oder  Spontaneität  nicht  zu  er- 
blicken. Unter  Freiwilligkeit  wird  man  doch  immer  nur  die  Vollziehung 
eines  Actes  verstehen  können,  bei  dem  der  Wille  nach  Bildung  eines 
ürtheils  frei  wählt.  Die  positiven  hier  geschilderten  Fressbewegungeu 
gingen  aber  unzweifelhaft  ebenso  zwangsmässig  und  ohne  Wahl  vor 
sich,  wie  das  von  Goltz  geschilderte  Hervorstrecken  der  Zunge  und 
Lecken  des  hungrigen  Hundes.  Und  ebenso  fasse  ich  die  negativen 
Fressbewegungen,  d.  h.  das  von  Griniassiren  begleitete  Ausspeien  bitter 
gemachten  Fleisches  auf.  In  allen  diesen  erblicken  wir  den  Ablauf  von 
höchst  complicirten,  durch  äussere  und  innere  Empfindungen  angeregten 
Bewegungserscheinungen.  Uebrigens  kennen  wir  ähnliche  Vorgänge  auch 
beim  Menschen,  insofern  Neugeborene  vor  Vollendung  der  Markscheiden- 
bildung, also  bevor  das  Grosshirn  einen  Einfluss  auf  die  subcorticalen 
Gebiete  gewinnt,  auf  innere  und  äussere  Reize  eine  recht  grosse  Zahl 
von  Bewegungsformen  zeigen,  die  von  Aeusserungen  der  Lust  oder  Un- 
lust begleitet  sein  können. 

Es  ist  hiernach  auch  ein  anderer  Grund,  als  der,  dass  ein  gross- 
hirnloser Hund  die  fraglichen  Phänomene  darbieten  kann,  welcher  mein 
Interesse  an  diesen  von  Goltz  auch  mit  Bezug  auf  ihre  Entwicklung* 
vollständig  geschilderten  Symptomen  erregt  hat.  Es  ist  der  Umstand, 
dass  grosshirnlose  Hunde,  das  Wort  Lernen  im  weiteren  Sinne  ge- 
braucht, zu  lernen  vermögen.  Fasst  man  die  eben  nach  Goltz  re- 
producirten  Erscheinungen  ins  Auge,  so  lässt  sich,  rein  objectiv  be- 
ti-achtet,  überhaupt  nicht  bestreiten,  dass  der  Hund,  welcher  anfänglich 
nicht  fressen  konnte,  allmählig  wieder  fressen  gelernt  hat.  Fraglich 
kann  nur  erscheinen,  ob  die  Wiederkehr  dieser  Function  auf  dem  Ver- 
schwinden vorhandener  Hemmungen  beruhte  oder  ob  noch  etAvas  Neues 
dazugekommen  ist.  Bei  der  Neigung  von  Goltz,  die  gänzliche  oder 
theilweise  Wiederkehr  verloren  gegangener  Functionen  einfach  in  der 
erst  gedachten  Weise  zu  erklären,  hätte  man  darauf  gefasst  sein  können, 
dass  er  auch  in  diesem  Falle  den  gleichen  Weg  gehen  würde.  Er  hat 
sich  indessen  darauf  beschränkt,  auf  das  Vorhandensein  von  Hemmungen 
im  Gebiete  der  Oblongata  von  der  anhaltenden  Neigung  zum  Fehl- 
schlucken aus  zu  schliessen.  Der  Hauptsache  nach  zeigt  er  sich  aber 
zu  der  Annahme  geneigt,  „dass  in  den  hinter  dem  Grosshirn  gelegenen 
Hirntheilen  durch  häufige  Wiederholung  einer  Thätigkeit  eine  vorhandene 


—     119     — 

Anlage  sich  weiter  entwickelt.  Vor  der  Verstüniinolung  wirken  diese 
Hirntheile  mit  dem  Grosshirn  zusammen  und  liaben  vielleicht  sogar 
eine  untergeordnete  Rolle.  Nach. der  Entfernung  des  Grossljirns  selbst- 
ständig geworden,  erstarken  sie."  Die  Wörter  „Uebung"  und  „Er- 
lernen" will  Goltz  auf  diesen  Vorgang  aber  nicht  angewendet  wissen, 
da  man  sie  sonst  doch  nur  auf  Wesen  anzuwenden  pflege,  „welche  ziel- 
bewusst  eine  gewisse  Fertigkeit  erstreben."  Ueberzeugende  Beweise 
von  zielbewusstem  Handeln  hätten  seine  grosshirnlosen  Hunde  aber 
nicht  geliefert. 

Ich  kann  mich  auf  diesen  Standpunkt  aber  nicht  stellen.  Meiner 
Auffassung  nach  ist  die  Fähigkeit,  durch  üebung  zu  lernen  eine  allge- 
meine Eigenschaft  der  grauen  Substanz  und  sie. hat  mit  zielbewusstem 
Handeln  und  mit  dem  Bewusstsein  überhaupt  an  sich  nichts  zu  thun. 
Wir  begegnen  den  Erfolgen  der  Uebung,  nämlich  der  Fähigkeit,  com- 
plicirte  Bewegungen  mit  zunehmender  Geschwindigkeit  und  Vollendung 
auszuführen,  bei  einer  unendlichen  Anzahl  A^on  Verrichtungen,  welche 
zwar  ursprünglich  cortical,  vielfach  auch  zielbewusst  eingeleitet  werden, 
aber  bei  ihrem  späteren  Vollzuge  der  Mitwirkung  des  Bewusstseins  nur 
noch  in  höchst  geringem  Grade  b.edürfen  und  der  Hauptsache  nach 
eben  wegen  der  Einübung  der  subcorticalen  Organe  rein  maschinen- 
mässig  in  der  gewohnten  Vollendung  ablaufen;  ich  erinnere  nur  an  das 
Stricken  bei  gleichzeitiger  Ablenkung  der  Aufmerksamkeit  durch  Leetüre. 
Indessen  lassen  sich  die  sämmtlichen  reflectorisclien,  ja  selbst  die  auto- 
matischen Bewegungen  genetisch  kaum  in  anderer  Weise  als  eben  durch 
eine  sich  entwickelungsgeschichtlich  immer  mehr  heranbildende  üebung 
auffassen. 

In  ähnlicher  Weise  deute  ich  mir  auch  den  fraglichen  Hergang  bei 
jenem  Hunde.  Goltz  hatte  gewiss  seine  guten  Gründe,  den  Hemmungs- 
vorgängen keine  weitergehende  Mitwirkung  einzuräumen,  als  er  gethan 
hat;  denn  er  wird  sich  selbst  den  Einwurf  gemacht  haben,  dass  das 
Sträuben  des  Hundes,  sein  Zusammenpressen  der  Kiefer,  sein  Heraus- 
strecken der  2unge,  die  Annahme,  dass  die  diesen  Bewegungen  vor- 
stehenden subcorticalen  Centren  gehemmt  seien,  vollständig  ausschloss. 
Das,  was  Goltz  als  Erstarkung  dieser  Hirntheile  bezeichnet, 
wird  einfach  in  einer  sich  allmählig  vollziehenden  Bahnung 
der  in  Betracht  kommenden  reflectorisclien  Wege  bestehen. 
Um  so  leichter  konnte  es  hierzu  kommen,  als  der  centripetal  ab- 
fliessenden  Erregungswelle  der  Weg  nach  dem  Grosshirn  versperrt  war, 
sodass  sie  sich  vollständig  auf  dem  Wege  in  die  centrifugalen  Bahnen 
ergiessen  musste.  Diese  Bahnung  sehen  wir  dann  nach  der  Goltz- 
schen  Schilderung  ihren  Ausgangspunkt    nehmen    von   der  erhalten  gOr 


—     120     — 

bliebeneii  allereiufaclisten  peristaltischen  Function  der  Speiseröhre,  sich 
dann  auf  die  functionell  mit  ihr  verbundene,  gleichfalls  in  der  Norm 
rein  reflectorisclie  Function  des  Schluckactes  ausdehnen  imd  dann  auf 
solche  combinirte  Bewegungen,  wie  die  der  Zunge  und  der  Kiefer  über- 
gehen, welche  sich  zwar  in  der  Norm  gemeinsam  mit  dem  Schlucken 
und  Schlingen  vollziehen,  aber  dann  unter  dem  Einflüsse  des  Willens 
stehen.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  der  erleichterte  Ablauf  aller 
dieser  Processe  in  demselben  Sinne  aufzufassen  ist,  wie  die  von  Goltz 
eingehend  beschriebene  Steigerung  der  anderweitigen  Reflexthätigkeit. 
Ich  kann  deshalb  auch  nicht'  mit  Goltz  eine  Schwierigkeit  darin  finden, 
dass  der  grosshirnlose  Hund  sich  das  eine  Mal  gegen  die  Annäherung 
des  Kopfes  an  das  Fleisch  sträubte,  das  andere  Mal  nicht.  Die  Einzel- 
heiten, aus  denen  sich  solcher  Act  von  dem  Beginn  des  Ergreifens  an 
bis  zur  Berührung  der  Schnauzenspitze  mit  dem  Fleisch  und  der  damit 
beginnenden  reflectorischen  Bethätigung  jener  anderen  Gruppe  von 
Motoren  zusammensetzt,  können  sich  so  verschiedenartig  gestalten,  dass 
sich  daraus  wohl  eine  verschiedenartige  Bethätigung  jener  Motoren  er- 
klären lässt,  die  bei  dem  Sträuben  zusammenwirken.  Letzteres  ist  doch 
schliesslich  nichts  Anderes  als  die  Reaction  auf  das  Herausheben  aus 
dem  Käfig,  nämlich  auch  wieder  ein  Ausdruck  gesteigerter  Reflex- 
thätigkeit. 

Während  wir  so  den  Ablauf  der  Erscheinungen,  welche  sich  auf 
dem  Gebiete  der  Nahrungsaufnahme  abspielten,  verfolgen  und  ihre 
Gründe  in  solchen  Phänomenen  erkeimen  konnten,  die  unserer  ander- 
weitigen Kenntniss  von  den  normalen  uud  pathologischen  Verrichtungen 
der  Centralorgane  vollkommen  entsprechen,  lässt  uns  die  eigene  Schilde- 
rung von  Goltz  mit  Rücksicht  auf  den  Ablauf  und  die  Erklärung  der- 
jenigeu  Phänomene,  welche  ich  als  Störung  des  Muskelbewusst- 
seins  bezeichnet  habe,  vollkommen  im  Stich.  Wir  erfahren  hier  nur 
das  Endresultat  der  Beobachtung,  also  dass  der  Hund  seine  Pfoten  nicht 
mit  dem  Dorsum  aufsetzte,  nicht  dislociren  liess  und  dass  der  Goltz'sche 
„Fallthürversuch"  nur  unvollkommen  gelang,  i)  Wir  erfahren  aber  nicht, 
wie  sich  dieser  Hund  zu  Anfang  mit  Bezug  auf  die  fraglichen  Pfoten 
vei'hielt;  ja,  wir  erfahren  sogar  nicht  einmal  die  nothwendigsten  Einzel- 

1)  In  parenthesi  möchte  ich  hier  bemerken,  dass  ich  den  mir  von  Goltz 
früher  gemachten  Vorwurf,  dass  ich  diesen  Fallthürversuch  nicht  wiederholt 
habe,  ablehnen  muss.  Schon  lange  vor  dieser  Erfindung  von  Goltz  habe  ich 
den  gleichen  Versuch  dadurch  angestellt,  dass  ich  meinen  Hunden  ihre  Pfoten 
über  den  Tischrand  dislocirte;  ich  kann  nicht  ersehen,  welcher  Unterschied 
oder  gar  welcher  Vortheil  darin  zu  suchen  ist,  dass  man  die  Pfote  des  Hundes 
in  der  Mitte  anstatt  zur  Seite  des  Tisches  versinken  lässt. 


—     121     — 

heiteu  über  die  Art  seines  Ganges  und  seiner  Bewegungen,  z.  B.  ob  sie 
plump  oder  schleudernd  waren,  Dinge,  die  Goltz  doch  sonst  bei  seinen 
im  Vorderliirn  operirten  Hunden,  wenn  auch  keineswegs  ausgiebig  genug 
zu  beschreiben  pflegt.  Wir  erfahren  nur,  dass  dieser  Hund  beim  Gehen 
auf  glattem  Boden  öfters  ausglitt.  Wir  erfahren  auch  nicht,  welche 
Gründe  es  waren,  die  die  beiden  anderen  Hunde,  welche  überhaupt 
nicht  oder  nur  mit  fremder  Hülfe  wieder  gehen  lernten,  an  dem  gleich 
guten  Gebrauche  ihrer  Extremitäten  verhinderten. 

Goltz  hat  aus   seinen  Beobachtungen  geschlossen,    dass    der  Hund 
in  meinem  Sinne  noch  Muskelbewusstsein  besessen  habe. 

Mir  drängt  sich  hier,  wie  bei  allen  einschlägigen  Versuchen  von 
Goltz,. in  allererster  Linie  die  Frage  auf,  ob  seine  Beobachtungen  rieh 
tig,  d.  h.  vollständig  waren.  Die  Erfahrung  hat  sich  immer  und  immer 
wiederholt,  dass  Goltz  neben  einer  Majorität  von  Thieren,  die  die 
gleichen  residualen  Erscheinungen  darboten,  wie  z.  B.  ich  und  Munk 
sie  beobachteten,  einzelne  vorfand,  die  diese  Erscheinungen  nicht  dar- 
boten, und  dass  er  sich  dann  auf  den  von  ihm  aufgestellten  Grundsatz 
zurückzog,  dass  jene  Majorität  nichts  bewiese,  sondern  nur  diejenigen 
Individuen,  die  das  Mindestmaass  von  Erscheinungen  erkennen  Hessen. 
Ich  habe  dazu  immer  geschwiegen,  obgleich  ich  sehr  wohl  hätte  ein- 
wenden können,  dass  es  bei  der  Aufdeckung  des  Mindestmaasses  der 
Erscheinungen  auch  auf  die  Art  der  Untersuchung  und  ganz  besonders 
auf  den  grösseren  oder  geringeren  Grad  von  Objectivität  ankomme,  mit 
dem  man  an  die  Lösung  der  gestellten  Frage  herantritt.  Im  vorlie- 
genden Falle  habe  ich  aber  einen  ganz  bestimmten  Anlass,  daran  zu 
zweifeln,  dass  die  von  Goltz  gegebene  Schilderung  und  der  aus  ihr 
gezogene  Schluss  zutreffen.  Dieser  Anlass  besteht  einmal  in  der  vor- 
stehend hervorgehobenen  Unvollständigkeit  der  Goltz'schen  Schilderung 
und  dann  darin,  dass  Goltz  selbst  sagt,  sein  Hund  habe  bei  dem  Fall- 
thürversuch  in  der  Behauptung  des  Gleichgewichts  nicht  dasselbe  zu 
leisten" vermocht  wie  ein  normaler  Hund,  insofern  ein  solcher  die  Pfote 
viel  früher  aus  der  Versenkung  zurückziehe.  Nun  versteht  es  sich  ganz 
von  selbst,  dass  wenn  ein  Hund  ohne  Grosshirn  die  Pfote  bei  dem  Fall- 
thürversuch  oder  der  Verschiebung  über  den  Tischrand  zurückzieht,  dies 
niemals  ein  Act  des  „Muskelbewusstseins"  oder  irgend  eines  anderen 
Bewusstseins,  sondern  lediglich  ein  Reflexact  sein  kann.  Thatsächlich 
geht  dann  aber  aus  der  eigenen  Anführung  von  Goltz  hervor,  dass 
dieser  Reflexact  bei  seinem  Hunde  nicht  in  der  gleichen  Vollendung 
sich  vollzog,  wie  bei  einem  unversehrten  Hunde  und  da  er  sich  quali- 
tativ in  nichts  von  derjenigen  Reaction  unterscheidet,  mit  welcher  Hunde 
auf  anderweitig    bedingte  Verlagerungen    ihrer  Extremitäten   antworten, 


122     

so  bezweifle  ich  ,  dass  die  von  mir  beschriebenen  Syroptome  bei  jenen 
anderweitigen  Verlagerungsversuchen  gänzlich  gefehlt  haben. 

Indessen  will  ich  von  diesem  Einwände  absehen  und  demgemäss 
also  einerseits  annehmen,  dass  die  Bewegungen  des  Hundes  sich  in 
annähernd  normaler  Weise  vollzogen,  ja  in  normalerer  Weise  als  bei 
denjenigen  Hunden,  denen  Goltz  die  beiden  motorischen  Zonen  abge- 
tragen hatte,  —  was  er  aber  nicht  sagt  —  während  andererseits  die 
gesammten  Bewegungsäusserungen  des  Hundes,  also  auch  jener  Theil 
derselben,  der  eine  Besserung  der  bekannten  Bewegungsstörungen  in 
in  sich  begreift,  als  reine,  ohne  Betheiligung  des  Bewusstseins  sich  voll- 
ziehende Reflexacte  aufzufassen  sind.  Dann  ergiebt  sich  also  von  selbst, 
dass  der  Act  der  Zurückführung  der  verlagerten  Pfote  ebenso  wie  alles 
andere,  was  sich  auf  diesem  Gebiete  ausgeglichen  hat,  als  ein  Product 
einer  Vervollkommnung  oder  Steigerung  der  Reflexthätigkeit  zu  deuten 
ist.  Wir  sind  hiermit  genau  auf  denselben  Weg  gekommen,  den  wir 
bei  der  Erklärung  der  Rückkehr  der  Fressbewegungen  beschritten  haben 
und  es  erübrigt  sich,  das  dort  Gesagte  zu  wiederholen. 

Was  die  optischen  Functionen  des  Hundes  ohne  Grosshirn  angeht, 
so  interessirt  uns  hier  hauptsächlich  die  Thatsache,  dass  der  Hund  auf 
grelles  Licht  die  Augen  schloss;  von  noch  grösserem  Interesse  würde 
es  freilich  sein,  wenn  der  Hund  auf  diesen  Reiz  nicht  nur,  wie  Goltz 
anführt,  in  seltenen  Fällen  den  Kopf  abgewendet  hätte,  sondern  wenn 
dies  entweder  regelmässig  geschehen,  oder  wenn  mindestens  unzweifel- 
haft festgestellt  wäre,  dass  diese  Bewegung  nicht  auf  Zufälligkeiten 
beruht.  Insoweit  diese  Bewegungen  wirklich  auf  den  Lichtreiz  eintra- 
ten, würden  sie  jedenfalls  den  Beweis  liefern,  dass  sie  nicht,  wie  Munk 
will,  der  Mitwirkung  des  Grosshirns  bedürfen.  Sie  würden  ferner  be- 
weisen, dass  der  Lichtreiz  unter  den  durch  den  Versuch  gesetzten  Be- 
dingungen im  Stande  war,  sich  derart  zu  transformiren  und  auszubreiten, 
dass  daraus  zweckmässige  Bewegungen  resultirten. 

Ob  man  diesen  Vorgang  nun  als  Sehen  bezeichnen,  ob  man  mit 
Goltz  sagen  will,  dass  ein  so  beschaffener  Hund  nicht  blind  ist,  das 
wird  ganz  und  gar  darauf  ankommen,  was  man  unter  Sehen  und  Blind- 
heit verstanden  wissen  will.  Einen  Menschen,  der  nicht  im  Stande  ist, 
einem  Gegenstande  auszuweichen,  weil  er  ihn  durch  den  Gesichtssinn 
nicht  wahrnimmt  und  der  sonst  keinerlei  andere  Zeichen  einer  optischen 
Function  erkennen  lässt,  als  solche,  welche  auf  dem  Reflexwege  zu 
Stande  kommen  können,  würde  der  allgemeine  Sprachgebrauch  doch 
wohl  als  blind  bezeichnen.  Wenn  Goltz  jedoch  nur  hat  sagen  wollen, 
dass  jene  Transformation  der  Schwingungen  des  Aethers  eine  niedere 
Stufe  des  Sehens,  einen  jener  Vorgänge  bedeute,  welche  eine  Vorbedin- 


—     123     — 

gung  desjenigen  ausni;iclien,  was  wir  unter  Gesiclitsvorstellungen  ver- 
stehen, so  würde  dagegen,  meiner  Auffassung  nacli,  nichts  einzuwen- 
den sein. 

Dagegen  kann  ich  mich  der  Ansicht  von  Goltz  nicht  anschliessen, 
dass  solche  Hunde,  welche  nicht  wie  dieser  durch  Verletzung  des  Tha- 
lamus eine  Störung  des  Sehvermögens  erlitten  hätten,  eine  grössere 
Spontaneität  bei  der  Nahrungsaufnahme  beweisen  würden;  denn  zu  der 
Entwicklung  von  Spontaneität  in  diesem  Sinne  würde  immer  die  Mög- 
lichkeit gehören,  das  wahrgenommene,  „gesehene"  Fleisch  als  solches 
zu  identificiren  und  aus  dieser  Erkenntniss  den  spontanen  Wiilensact 
herzuleiten.  Wir  haben  aber  bisher  nicht  die  geringste  Veranlassung 
zu  der  Annahme,  dass  sich  ein  solcher  Vorgang  bei  Säugethiereu,  ja 
sogar  nicht  einmal  bei  Vögeln  (Schrader)')  subcortical  vollziehen 
könnte. 

Genau  die  gleichen  Erwägungen  lassen  sich  über  die  acus tischen 
Reactionen  des  Hundes  anstellen,  so  dass  ich  auf  diese  Phänomene 
nicht  näher  einzugehen  brauche. 

Alles  in  Allem  ergiebt  sich  aus  diesen  Untersuchungen 
von  Goltz,  dass  die  alte  Anschauung,  nach  welcher  die  hinter 
dem  Grosshirn  gelegenen  Kerne  grauer  Substanz  solche  Or- 
ganisationen darstellen,  in  denen  nicht  nur  die  groben  Be- 
wegungen präformirt  sind,  sondern  auch  die  Sinnesreize 
einer  ersten  Aufrollung  zu  Sinneseindrücken  unterliegen, 
zu  Recht  besteht.  Sie  ergeben  ferner  mit  viel  grösserer 
Deutlichkeit,  als  dies  früher  bekannt  war,  und  sie  ergeben 
namentlich  für  das  Säugethier,  dass  diese  Sinneseindrücke 
sich  unter  der  Schwelle  des  Bewusstseins  in  geordnete,  com- 
plicirte,  zweckmässige  Bewegungen  umzusetzen  vermögen. 

Während  ich  so  ungeachtet  einer  Anzahl  von  kleineren  Differenzen 
im  Grossen  und  Ganzen  mit  Goltz  übereinstimme,  gehen  unsere  An- 
sichten weit  auseinander,  sobald  die  Verarbeitung  der  subcorticalen  Ge- 
schehnisse durch  die  Grosshirnrinde  in  Frage  kommt.  Es  ist  sehr  be- 
dauerlich, dass  Goltz  als  letzten  Zweck  aller  seiner  Arbeiten  die  Ver- 
nichtung der  Lehre  von  den  „kleinen,  umschriebenen  Centren"  des 
Grosshirns  vor  Augen  sieht  und  daraufhin  auch  die  Tendenz  der  soeben 
besprochenen  Arbeit  zuspitzt,  indem  er  gleichzeitig  die  Vertheidiger  jener 
Lehre  mit  der  Lauge  seines  Spottes  übergiesst.  Während  der  langen 
Zeit  seiner  Thätigkeit    liess  er  deshalb    immer  ganze  Reihen  von  That- 

1)  Schrader,  üeber  die  Stellung  des  Grosshirns  im  Reflexmechanismus. 
Archiv  f.  exp.  Path.  Bd.  29.  S.  53,  54. 


—     124     — 

Sachen,  die  gegen  seine  Auffassung  sprachen,  unbeachtet  oder  nicht 
genügend  beachtet.  Andererseits  verfiel  er  in  den  Fehler,  den  anfäng- 
lichen Störungen  einen  zu  geringen,  den  residualen  Störungen  aber 
einen  zu  grossen  Werth  beizumessen.  Diese  Fehler  seiner  Forschungs- 
methode beeinflussen  in  hervorragender  Weise  die  Schlüsse  der  be- 
sprochenen Abhandlung. 

Ich  will  hier  weiter  nicht  definiren,  was  man  unter  „kleinen,  um- 
schriebenen Centren"  verstehen  oder  nicht  verstehen  kann;  aber  es  ist 
durchaus  unrichtig,  wenn  Goltz  sagt,  von  den  Versuchen  mit  elek- 
trischer Reizung  sei  so  lange  kein  Erfolg  zu  erwarten,  als  es  unmöglich 
bleibe  zu  wissen,  was  eigentlich  gereizt  wird.  Seit  den  Versuchen  von 
Bubnoff  und  Heidenhain,  Frangois-Frank  und  Pitres  weiss  man 
sehr  genau,  was  gereizt  wird,  nämlich  bei  einer  bestimmten  Anordnung 
des  Versuches  die  den  Elektroden  zunächst  liegende  graue  und  bei 
einer  anderen  Anordnung  des  Versuches  die  weisse  Substanz.  Goltz 
hat  niemals  den  leisesten  Versuch  gemacht,  die  von  jenen  Autoren 
oder  die  von  mir  gezogenen  Schlüsse  durch  Versuche  zu  widerlegen, 
so  oft  ich  ihm  dies  auch  vorgehalten  habe.  Ebenso  wenig  hat  er  gegen 
die  ihm  von  mir  immer  wieder  vorgehaltene  Thatsache,  dass  auf  mini- 
male Eingriffe  in  die  motorische  Zone  sofort  Bewegungsstörungen  folgen 
und  dass  auf  ebensolche  Eingriffe  in  andere  Theile  der  Convexität 
keine  solchen  Bewegungsstörungen  folgen,  durch  Versuche  oder  auch 
nur  rein  theoretisch  Einwendungen  zu  erheben  vermocht.  Ich  muss 
ihm  also  das  Recht  zu  Angriffen  auf  die  Localisationslehre,  insoweit 
sie  sich  auf  diese  Versuche  stützt,  absprechen.  Der  zweite  Fehler 
von  Goltz  wird  uns  später  noch  zu  beschäftigen  haben. 

Wir  haben  oben  gesehen,  dass  Goltz  neuerdings  in  Uebereinstim- 
mung  mit  allen  anderen  Forschern  den  verschiedenen  Lappen  des  Gross- 
hirns verschiedene  Functionen  zuschreibt;  der  Gedanke  wäre  also  sehr 
naheliegend,  dass  er  die  Rinde  dieser  Lappen  in  functionellen  Zu- 
sammenhang zu  den  von  ihm  studirten  verschiedenen  subcorticalen  Ver- 
richtungen brächte  und  dass  man  also  in  diesem  Sinne  sein  Zugeständ- 
niss  an  die  Localisationslehre  aufzufassen  hätte.  Die  Differenz  zwischen 
den  Meinungen  der  beiden  Lager  würde  dann  eben  nur  darin  bestehen, 
dass  Goltz  jede  einzelne  Function  auf  einen  umfangreicheren  Herd 
vertheilt,  während  diese  Herde  nach  der  Ansicht  seiner  Gegner  viel- 
fältiger und  kleiner  sind.  Man  war  zu  dieser  Ansicht  vielleicht  um  so 
mehr  berechtigt,  als  Goltz  in  seinen  letzten  Arbeiten  immer  und  immer 
wieder  nachdrücklich  betont  hat,  dass  er  kein  absoluter  Gegner  jeder 
corticalen  Localisation  sei, 

Thatsächlich  ist  Goltz  aber  dieser  Ansicht  nicht,  er  will  vielmehr 


—     1-25     — 

die  Frage  offen  lassen,  inwieweit  die  von  ihm  beschriel)enen  Störungen 
-r—  in  Wirklichkeit  redet  er  aber  auch  von  den  von  mir  beschriebenen 
Störungen  —  „durch  die  Wegnahme  der  grauen  Rinde  und  wieweit 
sie  durch  Vernichtung  der  weissen  Substanz  bedingt  sind."  Schliesslich 
erscheint  es  ihm  hochwahrscheinlich,  dass  ein  Theil  der  eigenthüm- 
lichen  Erscheinungen  durch  die  Trennung  der  Leitungsbahnen  verschuldet 
wird,  insofern  bei  grossen  Abtragungen  der  Hinterhauptslappen  der  Rest 
der  Hirnrinde  noch  in  breitem  Zusammenhange  mit  den  Hirnstielen 
bleibe,  während  bei  ähnlichen  Zerstörungen  innerhalb  der  motorischen 
Zone  nicht  blos  diejenigen  Ausstrahlungen  der  Hirnstiele  vernichtet 
werden,  welche  zu  der  mitvernichteten  Rinde  aufsteigen,  sondern  auch 
Faserzüge  mit  verletzt  werden,  welche  den  noch  erhaltenen  Theilen  der 
grauen  Rinde  zustreben i). 

Dies  ist  wieder  einer  von  denjenigen  Punkten,  bei  denen  Goltz 
die  von  mir  aufgedeckte  Thatsache  unberücksichtigt  gelassen  hat,  dass 
die  kleinsten  rein  corticalen  Verletzungen  innerhalb  des  Gyrus  sigmoides 
qualitativ  genau  die  gleichen  Symptome  hervorbringen,  wie  tief- 
gehende Eingriffe  in  diesen  Theil  der  Hemisphäre.  Zu  der  Aufstellung 
jener  künstlichen,  ihm  einen  letzten  Zufluchtsort  bietenden  Hypothese 
hatte  Goltz  also  keinerlei  gegründeten  Anlass. 

Aber  selbst  in  diesem  Einwände  liegt  ein  Zugeständniss  an  die 
Localisationslehre.  Specifische  Functionen  der  subcorticalen  Centren 
giebt  Goltz  ja  zu:  wenn  er  also  selbst  die  Vermuthuug  ausspricht, 
dass  die  sich  von  diesen  nach  vorne  uiid  die  sich  nach  hinten  begeben- 
den Bahnen  verschiedenen  Functionen  dienen,  so  ist  damit  schon  das 
Princip  der  Localisation  zugestanden.  üebrigens  hätte  es  eines  der- 
artigen Zugeständnisses  schon  längst  deshalb  nicht  mehr  bedurft,  nach- 
dem nachgewiesen  war,  dass  das  Auftreten  der  secundären  Degeneration 
bestimmter  Bahnen,  insbesondere  der  corticomuskulären  Bahn  und  der 
Sehstrahlung,  bei  Thieren  ebenso  gut  wie  bei  Menschen  an  die  Verletzung 
bestimmter  Rindengebiete  gebunden  ist. 

Ganz  genau  das  Gleiche  habe  ich  Goltz  bereits  im  Jahre  1876 
mit  Bezug  auf  seinen  hauptsächlichsten  Einwand,  der  sich  auf  die  Re- 
stitution stützt,  entgegengehalten.  Bekanntlich  betrachtet  Goltz  alle 
vergänglichen  Symptome  als  Producte  von  Hemmungsvorgängen.  Ich 
selbst  habe  mich  niemals,  wie  Goltz  annimmt,  gegen  das  Vorkommen 
von  solchen  Processen  ausgesprochen.  Ich  war  indessen  von  jeher  und 
bin  auch  jetzt  noch  nicht  der  Ansicht,  dass  jedes  Abblassen   oder  Ver- 


1)  P.  Goltz,  Ueber  die  Verrichtungen  des  Grosshirns.    5.  Abhandlung, 
Pflüger 's  Archiv  Bd.  34.   S.  504. 


—     126     — 

schwinden  cerebraler  Kranklieitssyniptome  auf  Hemmungen  zurückgeführt 
werden  müsse  und  dass  ich  damit  nicht  im  Unrecht  war,  hat  sich 
schon  längst  gezeigt;  ich  erinnere  nur  an  die  eben  besprochenen  Er- 
fahrungen am  Hunde  ohne  Grosshirn.  Meine  damaligen  Einwendungen i) 
gingen  aber  überhaupt  einen  anderen  Weg.  Ich  setzte  eben  ausein- 
ander, dass  es  für  die  Localisationstheorie  ganz  gleichgültig  sei,  ob 
man  die  durch  den  Eingriff  gesetzten  Symptome  als  Producte  von  Hem- 
mungen oder  in  irgend  einer  anderen  Weise  auffasse;  es  käme  eben  nur 
darauf  an,  dass  thatsächlich  die  verschiedenen  Regionen  der  Rinde 
ebenso  wie  auf  Reize,  so  auch  auf  kleine  Verletzungen  in  verschiedener 
Weise  antworten. 

Die  endliche  Ansicht  von  Goltz  über  die  Function  des  Gross- 
hirns im  Ganzen  deckt  sich  wieder  mit  der  allgemeinen  Ansicht, 
wenigstens  insofern  er 2)  die  Vermuthung  äussert,  „der  wichtigste  Aus- 
fall, welcher  nach  Entfernung  des  Grosshirns  zu  beobachten  sei,  sei  der 
Wegfall  aller  der  Aeusserungeu,  aus  welchen  wir  auf  Verstand,  Ge- 
dächtniss,  Ueberlegnug  und  Intelligenz  des  Thieres  schliessen".  Man 
ist  danach  doch  wohl  zu  der  Annahme  berechtigt,  dass  Goltz  dem 
Grosshirn  diese  Functionen  zuschreibt.  Nebenher  laufen  dann  aber 
wieder  andere  Auffassungen.  „Das  Grosshirn  ist  vornehmlich  ein 
Hemmungsorgan,  Hunde  mit  grossen  Verletzungen  des  Vorder- 
hirns zeigen  einen  gesteigerten  Bewegungsdrang  und  be- 
kommen einen  aufgeregten,  zornigen,  aggressiven  Character 
und  Hunde  mit  grossen  Verstümmelungen  des  Hinterhirns 
werden  ruhig,  sanftmüthig  und  harmlos,  auch  wenn  sie  vor- 
her sehr  bösartig  waren"^).  Inwieweit  dei'artige  Beobachtungen  in 
Beziehung  zu  der  corticalen  Localisation  gebracht  w^erden  können,  ist 
mir  nicht  verständlich.  Abgesehen  davon,  dass  Goltz^)  selbst  Aus- 
nahmen von  dieser  Regel  zulässt,  sodass  sie  nach  seiner  eigenen  Theorie 
jede  Bedeutung  verliert,  muss  er  auch  selbst  auf  jede  Erklärung  der 
beobachteten  Phänomene  verzichten.  Mir  selbst  erscheint  die  Gegen- 
überstellung jener  beiden  Veränderungen  des  Characters,  die  auch  nach 
meinen  eigenen  Erfahrungen  nichts  weniger  als  constant  sind,  höchst  frag- 
würdig. Hunde  mit  grossen  Verstümmelungen  beider  Hinterhauptslappen 
sind    nach  Goltz's    eigener  Schilderung    „tief    blödsinnig"    und  leiden 


1)  E.  Hitzig,  üeber  die  Einwände  des  Herrn  Prof.  Goltz  in  Strassburg. 
Reichert's  und  du  Bois-Reymond's  Archiv.    1876.  S.  692ff. 

2)  F.  Goltz,  Der  Hund  ohne  Gehirn.   S.  607. 

3)  Goltz,  5.  Abhandlung.   S.  477  und  500. 

4)  Goltz,  6.  Abhandlung.    Pf  lüg  er 's  Archiv  Bd.  42.  1888.  S.  464. 


—     127     — 

zudem  nicht  nur  an  hochgradigen  Sehstörungen,  sondern  an  einer  all- 
gemeinen Wahrnehmungsschwäche.  Ich  würde  sagen,  dass  solche  Hunde 
an  apathischem  Blödsinn  litten,  nicht  aber  dass  sie  einen  sanftraüthigen 
und  harmlosen  Character  hätten.    - 

Wenn  wir  also  einen  Rückblick  auf  die  Ermittelungen  und  Schluss- 
folgerungen dieses  verdienten  Forschers  werfen,  so  gewahren  wir  eine 
grosse  Lücke  in  den  letzteren,  insofern  überall  die  Projection  der  hinter 
dem  Grosshirn  gelegenen  Organisationen  auf  die  Rinde  unberücksichtigt 
geblieben  ist.  Gleichwohl  wäre  diese  Lücke  unschwer  auszufüllen  ge- 
wesen, wenn  Goltz  die  Ergebnisse  der  normalen  und  pathologischen 
Anatomie,  sowie  diejenigen  physiologischen  Ergebnisse,  welche  er  theils 
unaufhörlich  bekämpft,  theils  unberücksichtigt  bei  Seite  geschoben  hat, 
in  unbefangener  Weise  hätte  würdigen  W'Ollen.  So  aber,  wie  er  ver- 
fahren ist,  kann  es  nicht  anders  sein,  als  dass  sein  Lehrgebäude  auf 
jeden  unterrichteten  Leser  einen  unbefriedigenden  Eindruck  macht.  — 

Nach  Loeb  ist  das  Grosshirn  entsprechend  der  soeben  erwähnten 
Aeusserung  von  Goltz  im  Wesentlichen  ein  Hemmungsorgan  i).  In  der 
That  schliesst  die  unten  citirte  lange  Abhandlung  mit  diesem  Satze. 
Nun  ist  es  sehr  sonderbar  zu  sehen,  wie  Loeb  auf  Grund  der  von 
Goltz  zuerst  gemachten  Beobachtung,  dass  doppelseitig  vorn  operirte 
Thiere  einen  erhöhten  und  doppelseitig  hinten  operirte  Thiere  einen 
verminderten  Bewegungsdrang  besitzen  können,  das  gesammte  Grosshirn 
und  seine  Functionen  in  einen  vorderen  und  einen  hinteren  Theil  zer- 
legt. Die  vorderen  Partien  des  Grösshirns  hängen  anatomisch 
enger  mit  dem  motorischen  Apparat  zusammen,  sie  dienen  zur  Ver- 
hinderung des  Abflusses  der  Energie  in  die  Muskeln;  ihre  Zerstörung 
hebt  folgerecht  die  Möglichkeit  dieser  Hemmung  auf.  Daher  der  ge- 
steigerte Bewegungsdrang. 

Die  hinteren  Partien  des  Grösshirns  hängen  anatomisch 
mehr  mit  den  Sinnesorganen  zusammen.  Sie  dienen  zur  Hemmung 
der  von  den  Sinnesorganen  herkommenden  Erregungen,  so  dass  das  Thier 
energische,  auf  ein  bestimmtes  Ziel  gerichtete  Muskelbewegungen  aus- 
führen kann.  Werden  sie  zerstört,  so  brechen  diese  Erregungen  in  den 
motorischen  Apparat  ein  und  hemmen  diesen  in  seiner  Thätigkeit.  Wie 
Loeb  diese  Processe  zur  Definition  dessen,  was  man  Willkür,  Aufmerk- 
samkeit bezw.  Intelligenz  nennt,  verwerthet,  das  mag  der  dessen  be- 
dürftige Leser  a.  a.  0.  nachsehen. 

„Im  Grosshirn  giebt  es  keine  Centren;  das,  was  man    so    genannt 


])  Vergl.  z.  B.  .J.  Loeb,  Beiträge  zur  Physiologie  des  Grosshirns.   Pflü- 
ger's  Archiv  Bd.  39.   S.  346. 


—     128     — 

hat,  sind  nur  die  Einmündungsstellen  der  Fasern,  welche  das  Grosshiru 
mit  den  verschiedenen  seg mentalen  Ganglien  verbinden.  Wenn 
nach  Reizung  dieser  Einmündungssteilen  Zuckungen  eintreten,  so  handelt 
es  sich  nur  um  eine  indirecte  Erregung  der  segmentaien  Ganglien  (Ein- 
leitung etc.  S.  168).  Diese  segmentalen  Ganglien  spielen  aber  bei  den 
Reactionen  eines  Tliieres  auch  nur  die  Rolle  eines  protoplasmatischen 
Leiters.  Die  Reactionen  sind  in  Wirklichkeit  bestimmt  durch  die  Reiz- 
barkeiten (resp.  Sinnesorgane)  der  peripheren  Gebilde  und  die  An- 
ordnung der  Muskeln.  Ein  grosser  Theil  von  dem,  was  wir  heute  als 
Gehirnfunctionen  bezeichnen,  sind  nur  Functionen  der  peripheren  Ge- 
bilde" (S.  193). 

Und  wiederum:  „Alle  die  „Functionen",  welche  diese  Theorie  in 
die  verschiedenen  Theile  der  Grossliirnrinde  legt,  sind  segmentale 
Functionen"  (S.  182). 

„Die  Rolle  des  Nervensystems  besteht  aber  nicht  darin,  dass  es 
Regulationsmechanismen  enthält,  sondern  dass  die  Leitung  durch  das- 
selbe rascher  stattfindet  und  dass  es  den  peripheren  Organen  erlaubt- 
mit  grösserer  Präcision  zu  arbeiten"  (S.  28). 

„Wir  erkennen  also  im  Centrainer vensystem  der  Wirbelthiere  nur 
segmentale  Ganglien  und  segmentale  Reflexe  an.  Wir  leugnen  die 
Existenz  übergeordneter  Centren,  wie  sie  etwa  in  der  Annahme  eines 
„Coordinationscentrums"  zu  Tage  treten"  (S.  101). 

Ein  specifischer  Unterschied  zwischen  der  Rinde  des  Scheitel- 
lappens und  Schläfenlappens  einerseits  und  der  des  Hinteihauptlappens 
andererseits  besteht  nicht.  Nie  beobachtete  Loeb  jedoch  nach  Ver- 
letzung des  Hinterhautlappens  eine  blosse  motorische  Störung  ohne  Seh- 
störung und  nie  nach  Verletzung  des  Scheitellappens  eine  Sehstörung 
ohne  motorische  Störung.  Blosse  Sehstörungen  nach  operativen  Ein- 
griffen am  Hinterhauptlappen  waren  indessen  nicht  selten^). 

Eine  wesentliche  und  ausschliessliche  Function  des  Grosshirns  ist 
das  associative  Gedächtniss.  Der  Verlust  der  associativen  Gedächtniss- 
thätigkeit  ist  also  die  wesentlichste  Störung,  die  nach  Verlust  des 
Grosshirns  eintritt  2).  Thiere,  die  kein  Grosshirn  besitzen,  können  nichts 
lernen.  Was  wir  als  Bewusstsein  bezeichnen,  ist  nur  eine  Function  der 
associativen  Gedächtnissthätigkeit.  Dabei  verstellt  er  „unter  associa 
tivem  Gedächtniss  diejenige  Einrichtung,  durch  welche  eine  Reizursache 
nicht    nur    die  ihrer  Natur  und  der  specifischen  Structur  des  reizbaren 


1)  J.  Loeb,  Die  Sehstörungen  nach  Verlust  der  Grosshirnrinde.    Pflü- 
ger's  Archiv  Bd.  34.  S.  50. 

2)  J.  Loeb,  Einleitung  etc.   S.  160. 


—     129     — 

Gebildes  eiitsprechejiden  Wirkungen  hervorbringt,  sondern  ausserdem 
auch  noch  solche  Reizwirkuugen  anderer  Ursachen,  welche  früher  einmal 
nahezu  oder  völlig  gleichzeitig  mit  jenem  Reiz  an  den  Organismus  an- 
griifen"  (S.  7  und  140).  Die  Bewusstseinsvorgänge  bestehen  ans  be- 
wusstem  Empfinden  und  bewusstem  Wollen  (S.  147).  Der  Gedächtniss- 
vorgang ist  ein  rein  physikalischer  Vorgang,  der  ebenso  wenig  psycho- 
logischer Deutung  bedarf  wie  eine  psychologische  Deutung  des  Phono- 
graphen nöthig  ist  (S.  151). 

Man  wird  nicht  leugnen  können,  dass  die  hier  zusammengestellten 
Ansichten  Loeb's  ebenso  neu  wie  kühn  erscheinen.  Fasst  man  sie  aber 
näher  in's  Auge,  so  gewahrt  man,  dass  ein  gewisser,  nämlich  der  auf 
einer  unanfechtbaren  Kette  von  Thatsachen  beruhende  Theil  von  ihnen 
alte  Wahrheiten  unter  neuen  Namen  verbirgt.  Neu  sind  dagegen  die 
von  Loeb  daran  geknüpften  Speculationen;  in  wie  weit  diese  beweisbar 
sind,  ist  eine  andere  Frage.  Uns  interessirt  zunächst  jener  erste,  that- 
säcbliche  Theil. 

Sehen  wir  uns  die  neue  Segmentaltheorie,  welche  der  Centren- 
theorie  entgegengestellt  wird,  etwas  näher  an  und  setzen  wir  an  die 
Stelle  der  „peripheren  Reizbarkeiten"  die  peripheren  Sinnesflächen  oder 
Sinnesorgane  und  an  die  Stelle  der  Segmente  wieder  die  alten  Reflex- 
centren, so  befinden  wir  uns  im  vertrauten  Bekannteukreise.  Von  der 
Function  dieser  Segmente  oder  Centreu  erfahren  wir  Neues  zwar  hypo- 
thetisch, aber  nicht  thatsächlich.  Thatsächlich  lässt  Loeb  die 
Fasern,  welche  das  Grosshirn  mit  den  verschiedenen  segmentalen 
Ganglien  verbinden,  an  denjenigen  Stellen  einmünden,  welche  wir 
Centren  nennen.  „Wenn  nach  Reizung  dieser  „Einmündungssteilen" 
Zuckungen  eintraten,  so  handelt  es  sich  nur  um  eine  indirecte  Erregung 
der  segmentalen  Ganglien."  Ich  kann  absolut  nicht  einsehen,  wodurch 
diese  Vorstellungen  sich  von  denjenigen  Vorstellungen  unterscheiden, 
die  ich  bereits  in  meiner  ersten  Abhandlung  aus  dem  Jahre  1870  ge- 
äussert habe. 

Aber  hier  entsteht  nun  in  der  Gedaiikenfolge  Loeb 's  eine  jener 
Lücken,  von  denen  ich  oben  gesprochen  habe.  Wohin  „münden"  diese 
Fasern  und  was  haben  sie  dort  zu  suchen,  davon  erfahren  wir  nichts. 
Nun  wissen  wir  aber  aus  den  Ergebnissen  der  normalen  Anatomie  und 
den  Erfahrungen  über  die  secundäre  Degeneration,  dass  gerade  die 
Fasern,  von  denen  Loeb  hier  spricht,  Achsencylinderfortsätze  des  ersten 
in  der  Rinde  entspringenden  Neurons  sind.  Wenn  nun  diese  „Ein- 
mündungssteilen" und  nur  sie  anatomisch  mit  den  ihnen  zugeordneten 
Segmenten  in  direkter  Verbindung  stehen  und  wenn  ihre  Reizung  oder 
die  Reizung  der  diese  Verbindung  herstellenden  Fasern   zu  motorischen 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     IL  Theil.  •   9 


—     130     — 

Entladungen  führt,  so  vermag  ich  absohit  nicht  zu  verstehen,  wodurch 
sich  der  Hauptsache  nach  diese  Einmündungsstellen  von  den  Centren, 
wie  ich  sie  seiner  Zeit  definirt  habe,  unterscheiden  sollen. 

Aber  rein  theoretisch  unterscheidet  sich  die  Function  dieser  Ein- 
mündungsstellen bei  Loeb  allerdings  von  derjenigen  meiner  Gentren, 
nur  dass  die  von  ihm  gelassene  Lücke  ihm  verbietet,  seiner  Ansicht 
einen  prägnanten  Ausdruck  zu  verleihen.  Wir  wären  ja  überhaupt 
einer  Ansicht,  wenn  Loeb  zugestehen  wollte,  dass  die  sich  auf  diese 
oder  jene  Anregung  hin  in  der  Rinde  abspielenden  Erregungsvorgänge 
durch  jene  Einmündungssteilen  in  die  Peripherie  projicirt  wei'den  und 
dass  in  diesen  solche  Vorrichtungen  enthalten  sind,  welche  etwas  mit 
der  Regulirung  der  so  eingeleiteten  Bewegungs Vorgänge  zu  thun  haben. 
Da  es  aber  nach  Loeb  überhaupt  keine  übergeordneten  Centren,  wie 
sie  etwa  in  der  Annahme  eines  „Coordinationscentrums"  zu  Tage  treten, 
im  Centralnervensystem  giebt  und  da  das  Grosshirn  nach  ihm  ein 
Hemmungsorgan  ist,  so  sind  wir  gezwungen,  die  Lücke  in  seinem  Sinne 
dahin  auszufüllen,  dass  durch  diese  Einmündungsstellen  diejenigen  Im- 
pulse verlaufen,  deren  das  Grosshirn  zur  Hemmung  der  subcorticalen 
Segmente  fähig  ist. 

Nun  kann  man  sich  aber  eine  Hemmungsvorrichtung,  von  welcher 
Seite  man  sie  auch  betrachten  mag,  nur  als  einen  Regulirungsapparat, 
ein  solches  übergeordnetes  Centrum  vorstellen,  mag  man  sich  dessen 
corticale  Begrenzung  nun  sehr  eng  oder  sehr  weit  denken.  Denn  wenn 
Hemmungsvorgänge  einen  Sinn  und  ein  physiologisches  Interesse  haben 
sollen,  so  müssen  sie  doch  wohl  der  Abstufung  fähig,  regulirbar  sein. 
In  diesem  Falle  würde  also  die  Grosshirnrinde  oder  ein  Theil  derselben 
diesen  Apparat  vorstellen  und  die  von  mir  sogenannten  motorischen 
Centren  würden,  wenn  sie  nicht  selbst  jener  Theil  sind,  doch  als 
Sammelplätze  der  für  die  einzelnen  Segmente  bestimmten,  hemmenden 
Einflüsse  anzusehen  sein.  Natürlich  sagt  Loeb  dies  nicht,  wie  er  über- 
haupt gerade  nach  dieser  Richtung  hin  nichts  zu  sagen  vorzieht,  aber 
es  giebt  eben,  wie  gesagt,  keinen  anderen  Weg,  um  die  von  ihm  endlich 
zugestandenen  mit  dem  Reste  der  unbestritten  dastehenden  Thatsachen 
in  seinem  Sinne  zu  vereinbaren.  Um  die  Annahme  von  Centren 
würde  also  auch  Loeb  nicht  herumgekommen  sein,  wenn  er  seine  Vor- 
stellungen consequent  hätte  durchführen  wollen,  nur  dass  es  dann  eben 
Hemmungscentren  gewesen  wären. 

Durch  die  Versuche  von  Bubnoff  und  Heidenhain  ist  erwiesen, 
dass  durch  Reizung  meiner  motorischen  Centren  hemmende  Einflüsse 
ausgelöst  werden  können.  Eine  andere  Frage  ist  es,  ob  deshalb  oder 
aus  anderen  Gründen  diese  Gebiete  mit  Recht  schlechthin  als  Hemmungs- 


—     131     — 

ceutreu  aufgefasst  vverden  dürfen.  Diese  Frage  verneine  ich.  Ganz  im 
Allgemeinen  ist  die  gegnerische  Ansicht,  dass  die  normale  physiolo- 
gische Fmiction  solcher  Centren  oder  Gebiete,  deren  Beschädigung  zu 
■einer  Hemmung  führt,  in  einer  Hemmung  dieser  Function  bestehen 
müsse,  unerwiesen  und  ich  bestreite  ihre  Richtigkeit.  Wäre  sie  richtig, 
so  würde  auf  Grund  der  oben  referirten  Experimentaluntersuchungen 
fast  die  ganze  Rinde  des  Grosshirns  zur  Hemmung  des  Sehactes  be- 
stimmt sein,  ohne  dass  sich  ein  vernünftiger  Zweck  für  eine  derartige 
Einrichtung  erkennen  Messe  und  ohne  dass  ein  Areal  für  Bildung 
optischer  Vorstellungen  übrig  bliebe.  So  wenig  man  aber  eine  solche 
Einrichtung  verstehen  könnte,  so  wahrscheinlich  ist  die  Annahme,  dass 
bestimmte  Eingriffe  in  den  Hirnmantel  auf  hier  nicht  näher  zu  er- 
läuternde Weise  zu  temporärer  Ausserfunctionsetzung  optischer  Centren 
führen  kann,  obschon  der  angegriffene  Theil  selbst  mit  dem  Sehen 
direct  nichts  zu  thun  hat. 

Einer  etwas  anderen  Betrachtungsweise  muss  der  Bubnoff-Heiden- 
hain'sche  Versuch  insofern  unterzogen  werden,  als  er  in  der  That  die 
Existenz  einer  normalen  physiologischen  Hemmungsvorrichtung  in  der 
motorischen  Region  nachweist.  Gehen  wir  vom  Einfachsten  aus.  Zu- 
gestanden ist,  dass  die  elektrische  und  mechanische  Reizung  —  mindestens 
—  jener  Bahnen  und  nicht  bestritten  ist,  dass  die  chemische  Reizung 
-der  Hirnoberfläche  zu  Bewegungserscheinungen  führt.  Die  experimentelle 
Reizung  führt  also  in  der  Regel  zu  Bewegungen  und  nicht  zu  Hemmungen. 
Diese  lassen  sich  nur  unter  ganz  bestimmten  Voraussetzungen  zur  An- 
schauung bringen.  Hiernach  lässt  sich  nicht  absehen,  aus  welchen 
Gründen  das  cortico-spinale  Fasersystem  nicht  ebenso  gut  zur  Fort- 
leitung der  in  der  Rinde  entstehenden,  die  psychischen  Vorgänge  in 
active  Bewegungen  umsetzenden,  organischen  Impulse  geeignet  und 
bestimmt  sein  soll,  wie  es  für  die  Fortleitung  experimenteller  Reize 
und  deren  Umsetzungen  in  Bewegungen  geeignet  ist  und  ebenso  wenig 
lässt  sich  ersehen,  weshalb  die  so  in  die  Peripherie  projicirten  Reize 
gerade  ausschliesslich  hemmender,  also  negativ  motorischer  Natur  sein 
sollen.  Ueberdies  beweisen  die  zuerst  von  mir  selbst,  dann  von  zahl- 
reichen anderen  Forschern  angestellten  Versuche  über  Erzeugung  arti- 
ficieller  Epilepsie  durch  Verletzungen  der  Rinde  sowie  entsprechende 
Beobachtungen  beim  Menschen,  dass  genau  die  gleichen  motorischen 
Vorgänge,  wie  sie  sich  nach  elektrischer  Reizung  der  Rinde  abspielen, 
auch  durch  organische  Reize  anzuregen  sind.  Wenn  also  von  dieser 
Region  sowohl  Impulse  ausgehen,  welche  die  Bewegung  anregen,  als 
solche,  welche  sie  hemmen,  so  bedeutet  das,  dass  sie  regulatorische 
Einrichtungen  enthält. 

9* 


—     132     — 

Die  Hemmungstheorie  stützt  sich  jedoch  der  Hauptsache  nach  auf 
die  beim  Ablaufe  von  Lähmungsversuchen  zu  beobachtenden  Vorgänge, 
d.  h.  auf  die  Restitution.  Die  von  Goltz  ursprünglich  entwickelte  und 
später  von  Loeb  weiter  ausgebildete  Deduction  hat  etwa  folgenden  In- 
halt: Eine  Restitution  ausgerotteter  Hirnmasse  findet  nicht  statt;  wenn 
also  verloren  gegangene  Functionen  wiederkehren,  so  beweist  dies,  dass 
das  zerstörte  Organ  entweder  nicht  das  einzige  ist,  welches  den  ver- 
loren gegangenen  Verrichtungen  vorstand,  oder  dass  es  überhaupt  nichts 
mit  diesen  zu  thun  hatte,  sondern  dass  seine  Zerstörung  nur  diejenigen 
Organe,  denen  die  fragliche  Function  zukommt,  hemmte.  Die  groben 
maschinenmässigen  Bewegungen,  Laufen  u.  s.  w.,  sind  eine  Function 
der  subcorticalen  Organe;  sie  können  also  direct  durch  Eingriffe  in  das 
Grosshirn  nicht  geschädigt  werden;  da  eine  solche  Schädigung  aber 
gleichwohl  stattfindet,  so  kann  das  nur  in  Folge  einer  durch  den  Ein- 
griff' veranlassten  Hemmung  ihrer  Function  veranlasst  sein.  Hieran 
schliesst  sich  dann  die,  so  viel  ich  sehe  nirgends  näher  begründete  Vor- 
stellung, dass  das  Grosshirn  überhaupt  ein  Hemmungsorgan  sei. 

Sieht  man  sich  zunächst  die  thatsächlichen  Grundlagen  dieser 
Hypothese  an,  so  erweisen  sie  sich  an  mehr  als  einem  Punkte  als  un- 
richtig. Die  groben,  maschinenmässigen  Bewegungen  sind  nach  Ein- 
griffen in  die  motorische  Region  überhaupt  nur  unter  bestimmten  Be- 
dingungen geschädigt,  nämlich  wenn  die  Exstirpationen  entweder  sehr 
gross  oder  doppelseitig  waren  oder  wenn  mit  den  Goltz 'sehen  Aus- 
spülungen oder  nach  ähnlichen,  nach  dieser  Richtung  hin  vollkommen 
unbrauchbaren  Methoden  operirt  worden  ist.  Waren  aber  die  Aus- 
schältungen sehr  gross,  so  sieht  man  auch  selbst  in  der  ersten  Periode 
keineswegs  solche  Symptome,  welche  auf  die  Existenz  einer  Hemmung 
hindeuten.  Die  Hunde  stürzen  auf  die  gelähmte  Seite,  aber  ihre  Mus- 
keln sind  keineswegs  gelähmt,  sondern  sie  werfen  ihre  Glieder  mit 
nicht  geringer  Kraft  wild  durcheinander,  sodass  eben  der  gewollte  Effect 
aus  Mangel  an  Coordination  nicht  zu  Stande  kommt.  War  der  Eingriff 
aber  weniger  gross,  so  sind  die  groben,  maschinenmässigen  Bewegungen 
überhaupt  nicht  geschädigt,  sondern  man  beobachtet  lediglich  Störungen 
in  den  feineren  Details  der  Anordnung  und  der  Controlle  der  Be- 
wegungen, also  auch  wieder  Coordinationsstörungen.  Qualitativ  ist  das 
Resultat  in  beiden  Fällen  gleich,  und  wie  mir  scheint,  in  einfacher 
Weise  dadurch  zu  erklären,  dass  die  Willensimpulse  zwar  abgegeben 
und  in  die  subcorticalen  Organe  projicirt,  aber  in  ihren  Wirkungen 
nicht  mehr  oder  nicht  mehr  hinreichend  controllirt  werden, 

Ich  bestreite  nicht,  dass  man  daran  denken  kann,  eine  solche  Co- 
ordinationsstörung    auf    das     Kleinhirn    zu    beziehen,    da    dieses    Organ 


—     133     — 

cüorclinatorisclie  Functionen  besitzt,  wenn  schon  die  unmittelbar  nach 
Eingriffen  in  dasselbe  zu  beobachtenden  Erscheinungen  ein  anderes  Bild 
darbieten.  Nach  Loeb  freilich  wäre  auch  dies  ausgeschlossen,  da  es 
nach  ihm  Coordinationscentren  nicht  giebt.  Indessen  ergiebt  schon  die 
Beobachtung  des  weiteren  Verlaufes  der  Erscheinungen,  dass  es  sich, 
dabei  überhaupt  nicht  um  Hemmungswirkungen,  also  auch  nicht  um 
solche  auf  das  Kleinhirn  handeln  kann.  Denn  die  sämmtlichen  wesent- 
lichen Erscheinungen,  welche  das  gesetzte  Krankheitsbild  characterisiren 
und  auf  die  ich  hier  nicht  im  Einzelnen  einzugehen  brauche,  bestehen 
nach  den  eigenen  Feststellungen  von  Goltz  ungeändert,  wenn  auch 
nicht  unvermindert  dauernd  fort,  sobald  man  dem  Thiere  beide  moto- 
rische Regionen  fortgenommen  hat.  Das  wesentliche  Kriterium  für  die 
Annahme  von  Hemmungen  fehlt  also  in  diesem  Falle.  Ausserdem  be- 
obachtet man  aber  von  Anfang  an  ein  Symptom,  auf  das  ich  zuerst 
aufmerksam  gemacht  habe  und  das  man  auf  eine  Hemmung  der  Func- 
tionen des  Kleinhirns  oder  anderer  subcorticaler  Organe  überhaupt 
nicht  beziehen  kann,  nämlich  dass  der  Hund  blindlings  mit  den  Pfoten 
in's  Leere  tritt,  sowie  mit  ihnen  gegen  eine  Leiste  oder  andere  ähnliche 
Gegenstände    anstösst. 

Alles,  was  ich  hier  und  an  anderen  Stellen  vorgetragen  habe,  und 
alles,  was  mir  sonst  an  Experimenten  auf  diesem  Gebiete  bekannt  ist, 
ordnet  sich  zwanglos  der  von  mir  von  Anfang  an  aufgestellten  Lehre 
unter,  dass  an  der  ausgeschalteten  Stelle  solche  dem  Bewusstsein 
dienende  Organe  gelagert  waren,  deren  Aufgabe  in  der  Bildung  von 
bewussten  Vorstellungen  über  die  Zustände  der  entsprechenden  Körper- 
theile  und  Regulirung  der  für  sie  bestimmten  Willensimpulse  besteht. 
Gegen  diese  Lehre  spricht  keine  gut  beglaubigte  Thatsache,  von  der 
ich  wüsste.  Zu  diesen  rechne  icli  auch  nicht  einen  von  Goltz  als  be- 
sonders beweiskräftig  angeführten  Versuch  von  v.  Malin owsky.  In 
diesem  Falle  zeigte  ein  Hund,  bei  dem  sich  nach  Injection  von  „Eiter 
erregenden  Mikrokokken"  ein  Abscess  der  motorischen  Region  heraus- 
gebildet hatte,  allmählig  zunehmende,  sich  bis  zur  Hemiplegie  steigernde 
Lähmungserscheinuugen,  welche  nach  Herausschneiden  des  Abscesses 
und  seiner  Umgebung  sich  bis  auf  den  nach  Exstirpation  jener  Region 
zu  beobachtenden  Rest  zurückbildeten.  Goltz  schliesst  hieraus,  dass 
der  Abscess  hemmend  auf  die  subcorticalen  Centren  gewirkt  habe. 
Sehr  ad  er,  der  bei  ähnlichen  Versuchen  nichts  von  Besserung  der  Er- 
scheinungen nach  Excision  des  Abscesses  berichtet,  fand  aber  die  gleich- 
namige Hemisphäre  bei  solchen  Hunden,  abgesehen  von  anderen  Ver- 
änderungen,   ödematös    durchtränkt.      Abscesse  verursachen    Hirndruck 


—     134     — 

und  schon  aus  diesem  Grunde  beweist  der  von  Goltz  angeführte  Ver- 
such nichts  für  seine  These. 

Mit  dem  Begriffe  eines  Regulirungsapparates  ist  die  Eigenschaft 
einer  die  Function,  also  hier  die  Bewegung,  in  negativem  Sinne,  beein- 
flussenden, d.  h.  einer  hemmenden  Thätigkeit  nothwendig  verbunden. 
Ich  gebe  in  diesem  Sinne  also  ohne  Weiteres  zu,  dass  von  diesen 
Theilen  der  Hirnrinde  normale  und  pathologische  Erregungen  ausgehen 
können,  welche  eine  hemmende  Wirkung  ausüben.  Ob  und  in  welchem 
Grade  sie  überhaupt  in  die  Erscheinung  treten  oder  von  anderen  Wir- 
kungen verdeckt  werden,  das  bleibt  von  Fall  zu  Fall  zu  entscheiden.  — 
Ein  weiteres  Eingehen  auf  die  Frage  der  Restitution  versage  ich  mir, 
Sie  ist  zum  Theil  geklärt,  zum  Theil  nicht  geklärt,  und  bis  das  Letz- 
tere durch  neue  Beobachtungen  geschehen  sein  wird,  muss  die  Darlegung* 
der  momentanen  Sachlage  genügen.  Gerade  die  eigenen  Beobachtungen 
von  Goltz  am  grosshirnlosen  Hunde  haben  den  Irrthum  aufgedeckt/ 
der  seiner  vorstehend  erwähnten  Schlussfolgerung  zu  Grunde  lag.  Dieser 
besteht  darin,  dass  Goltz  das  Erstarken  und  Neueintreten  solcher 
Organe  ausser  Acht  liess,  welche  ursprünglich  keine  oder  keine  aus- 
schlaggebende Rolle  bei  der  geschädigten  Function  spielten.  Welchen 
Werth  hierbei  die  zweite  Hemisphäre,  überhaupt  corticale  Gebilde  mit 
der  zugeordneten  Haubenbahn  und  welchen  Werth  subcorticale  Organe 
besitzen,  will  ich  nicht  weiter  erörtern. 

Etwas  anders  liegen  die  Dinge  für  die  „Sehsphäre."  Loeb  spricht 
sich  über  die  Wirkungen  hier  vorgenommener  Exstirpationen  gleichfalls 
nicht  in  klarer  und  eindeutiger  Weise  aus.  Einmal  handelt  es  sicli 
natürlich  wieder  nur  um  Shok-,  d.  h.  Hemmungswirkungen  auf  die 
segmentalen  Opticusganglien,  ein  anderes  Mal  werden  durch  die  Exstir- 
pation  chemische  Veränderungen  gesetzt,  welche  sich  nicht  nur  bis  zu 
diesen  Ganglien,  sondern  darüber  hinaus  bis  zu  den  peripheren  End- 
organen fortpflanzen  und  deren  Thätigkeit  abschwächen.  Den  Eintritt 
von  Hemianopsie  beim  Menschen  „vermag  er  nicht  zu  erklären."  Die 
Totalexstirpation  der  „Sehsphären"  hat  —  NB.  abweichend  von  Goltz 
—  bei  allen  bisher  beobachteten  Hunden  zur  Blindheit  geführt. 

Da  ich  auf  diese  Fragen  in  der  nächsten  Abhandlung  ausführlicher 
zurückzukommen  gedenke,  so  beschränke  ich  mich  hier  auf  einige  kurze 
Bemerkungen.  Wie  die  motorischen  Centren  für  die  Extremitäten  zur 
Bildung  von  Vorstellungen  für  diese  Glieder,  so  dienen,  meiner  Ansicht 
nach,  die  Sehceatren  zur  Bildung  von  Vorstellungen  über  die  Zustände 
des  Sehorganes.  Eingriffe  in  die  Convexität  dieser  Sehsphären  führen 
zu  kürzer  oder  länger  dauernder,  immer  aber,  vorübergehender  Seh- 
störung.     Die  „Einmündungssteile"  der  Sehstrahlung    liegt    aber  nicht 


—     135     — 

hier,  sondern  aller  Walirsclieinlichkeit  nach  in  don  Lippen  der  Fissura 
calcarina.  Deren  Zerstörung  oder  gröbere  Verletzungen  der  Sehstrahlung 
geben  vermuthlich  Veranlassung  zum  Eintritt  voji  dauernder  Hemiano- 
psie, während  die  auf  die  Verletzung  der  Convexität  folgenden  Seh- 
störungen vielleicht  als  Hemmungswirkungen  aufgefasst  werden  können. 

Man  sollte  meinen,  dass  sich  die  Lehre  von  Goltz-Loeb,  das 
Grosshirn  sei  im  Wesentlichen  ein  Hemmungsorgan,  auf  den 
im  Vorstehenden  gegebeneu  Voraussetzungen  aufbaue.  Denn  wenn  es 
im  Ganzen  ein  Hemmungsorgan  ist,  so  müssen  seine  einzelnen  Theile 
nicht  nur  gleichfalls  Hemmungswirkungen  hervorbringen,  sondern  diese 
Einzelwirkungen  müssen  auch  jener  Gesammtwirkung  der  Art  nach 
gleichwerthig  sein.  Ich  finde  aber  an  Stelle  einer  logischen  Ent- 
wickelung  einer  derartigen  Vorstellung  eine  solche  Reihe  von  Lücken, 
Widersprüchen  und  unbewiesenen  Behauptungen  in  den  Darlegungen 
Loeb's,  dass  ich  mir  nicht  einmal  ein  klares  Bild  von  dem  zu  machen 
vermag,  was  er  eigentlich  sagen  will. 

Loeb  stellt  sich,  wie  wir  gesehen  haben  und  noch  weiter  sehen 
werden,  die  Vorgänge  im  Centralnervensystem  rein  mechanisch  vor. 
Wenn  nun  „die  vorderen  Partien  des  Grosshirns  die  Möglichkeit  einer 
Verhinderung  des  Abflusses  der  Erregungen  in  die  Muskeln"  bedingen 
und  nach  ihrer  Zerstörung  „die  Möglichkeit,  den  Abfluss  der  Energie 
in  die  Muskeln  zu  hemmen,  fortfällt",  so  sollten  doch  die  Muskeln  der 
contralateralen  Körperhälfte  sich  nach  einseitiger  Zerstörung  dieser 
Partien  in  unaufhörlicher  BoAvegung  befinden,  einer  Bewegung,  welche 
sich,  je  nachdem  die  Energie  von  diesem  oder  jenem  Sinnesorgan  her 
zuströmt,  in  der  verschiedensten  Weise  äussern  müsste.  Mindestens 
aber  müssten  diese  Muskeln  vermöge  des  dauernden  Zuflusses  grösserer 
Energie  eine  vermehrte  Spannung  erkennen  lassen.  Alles  dies  trifft 
aber  nicht  zu,  ja  die  Spannung  dieser  Muskeln  ist,  wie  ich  im  Vor- 
stehenden ausführlich  erörtet  habe,  im  Gegentheil  während  der  ganzen 
Lebensdauer  des  Thieres  oder  mindestens  auf  sehr  lange  Zeit  ver- 
mindert. 

Wenn  nun  Loeb  für  seine  Auffassung  anführt,  dass  doppelseitig 
vorn  operirte  Thiere  einen  gesteigerten  Bewegungsdrang  zeigen  und  von 
diesem  getrieben  gegen  Hindernisse  anlaufen,  obwohl  sie  keine  Seh- 
störung erkennen  Hessen,  so  setzt  er  sich  zunächst  mit  sich  selbst  in- 
sofern in  Widerspruch,  als  solche  Thiere  ja  seiner  eigenen  Behauptung 
nach,  gerade  die  allerschwersten  Sehstörungen  zeigten.  Wie  stimmt  das 
Vorhandensein  so  erzeugter  Sehstörungen  zu  jener  Theorie?  Nun 
brauchen  solche  Thiere  aber  keineswegs  eine  Sehstörung  zu  besitzen 
und  wenn  sie  dann  dennoch  gegen  Hindernisse  anlaufen,  so    wird    dies 


—     136     — 

wohl  auf  den  Blödsinn  zurückzuführen  sein,  den  doppelseitig  symmetrisch 
operirte  Thiere  nach  den  eigenen  Ansichten  von  Goltz  und  Loeb  ja 
immer  zeigen.  Ist  dies  aber  der  Fall,  so  beruht  das  Fortfallen  der 
Hemmung  eben  auf  dem  Fortfall  von  Vorstellungen,  womit  hier  das 
Austossen  des  Kopfes  dui'chaus  parallel  jenem  vorher  erwähnten  An- 
stossen  der  Pfoten  gesetzt  wird.  Es  wäre  nun  ganz  verkehrt,  wenn 
man  jenen  innerlichen  Vorgang,  welcher  das  Thier  davon  abhält,  gegen 
ein  Hinderniss  anzulaufen,  jene  Hemmung,  als  das  Wesentliche  der 
Willensvorgänge  überhaupt,  als  ihren  Begriff  bestimmend  ansehen  wollte. 
Das  Wesentliche  liegt  vielmehr  in  der  willkürlichen  Wahl  der  einzelnen 
Bewegungen,  welche  auf  associativen  Processen,  aber  nicht  auf  ein  für 
alle  Mal  vorgezeichneten  mechanischen  Bedingungen  beruht.  Endlich 
aber  zeigen  so  operirte  Thiere  keineswegs  immer  einen  ge- 
steigerten Bewegungsdrang,  geschweige  denn,  dass  sie 
immer  gegen  Hindernisse  anliefen.  Gesetze  lassen  sich  also 
auf  solchen  Beobachtungen  überhaupt  nicht  aufbauen. 

Kann  ich  mir  somit  auch  eine  Vermittelung  zwischen  der  Aus- 
drucksweise von  Loeb  und  meinen  eigenen  Ansichten,  was  den  eben 
besprochenen  Punkt  angeht,  allenfalls  vorstellen,  so  ist  mir  die  mecha- 
nische Vorrichtung,  die  er  mit  Bezug  auf  die  hemmenden  Functionen 
der  hinteren  Partien  des  Grosshirns  construirt  und  schon  damit  auch 
die  Vorstellung  von  der  Bestimmung  des  Grosshirns  im  Ganzen  als 
Hemmungsorgan  gänzlich  unverständlich  geblieben.  Denn  wenn  Loeb 
sagt,  „sobald  aber  diese  Partie  ausgefallen  ist,  kann  die  Abschliessung 
gegen  centripetale  Erregung  wenig  oder  gar  nicht  mehr  stattfinden",  so 
sehe  ich  nicht,  wodurch  die  Folgen  occipitaler  Abtragungen  sich  von 
denen  frontaler  Abtragungen  unterscheiden  sollten,  abgesehen  davon, 
dass  diese  ganze  Ueberlegung  zum  puren  Nonsens  führt.  Nehmen  wir 
an,  es  habe  eine  doppelseitige  Abtragung  innerhalb  der  Sehsphäre 
stattgefunden  —  von  der  nochmaligen  Erörterung  der  negativen  Folgen 
einseitiger  Abtragung  sehe  ich  ab  —  so  ist  die  nächste  Frage,  bekommt 
nun  das  Thier  eine  Sehstöruug  oder  bekommt  es  keine?  Nach  Loeb 
ist  dies  ganz  und  gar  unsicher,  sobald  nicht  eine  Totalexstirpation  der 
ganzen  Sehsphäre  stattgefunden  hat,  dagegen  kann  es  ebenso  wie  Seh- 
störungen auch  motorische  Störungen,  bei  einseitiger  Abtragung,  Dreh- 
störungen etc.  bekommen.  Man  sollte  also  wohl  meinen,  die  Heramungs- 
wirkungen  oder  ihr  Fortfall  müssten  in  bestimmten  Beziehungen  zu 
diesen  Functionsstörungen  stehen,  wenn  sich  überhaupt  aus  so  wenig 
gesetzraässigen  Folgen  „Gesetze  formuliren"  lassen.  Aber  freilich  die 
Gesetze  Loeb's  setzen  ja  keine  Gesetzmässigkeit  voraus,  diese  wird 
nur  für  die  Gesetze  anderer  postulirt.    Nehmen  wir  an,  das  Thier  habe 


—     187     — 

nach  Loeb  keinerlei  Sehstörung  davongetragen,  so  kann  Niemand  ver- 
stehen, weshalb  jene  Fähigkeit  der  „Abschliessung"  mm  aufgeholjen  sein 
sollte. 

Nehmen  wir  aber  an,  eine  Total exstirpation  der  Sehsphäre  mi 
folgender  Blindheit  sei  vorgenommen  worden.  Nunmehr  kann  die  „Ab- 
schliessung gegen  centripetale  Erregung"  —  doch  wohl  in  erster  Linie 
von  dem  Sehorgan  her  —  nicht  mehr  stattfinden.  Das  nicht  sehende 
Thier  würde  also  durch  optische  Eindrücke  unaufhörlich,  gleichviel  ob 
im  positiven  oder  negativen  Sinne,  in  seinen  Bewegungen  beeinflusst 
werden.  Nehmen  wir  aber  selbst  an,  es  seien  nicht  nur  die  optischen, 
sondern  die  sämmtlichen  centripetalen  Erregungen  oder  sogar  die  letzteren 
mit  Ausschluss  der  optischen  Erregungen  gemeint,  so  hat  Loeb  zwar 
angeführt,  aber  nicht  berücksichtigt,  dass  solche  Abtragungen  nach 
Goltz  —  abgesehen  davon,  dass  sie  die  Thiere  überhaupt  nicht  blind 
machen  —  eine  allgemeine  Wahrnehmungsschwäche  hervorbringen. 
Mit  anderen  Worten,  es  findet  im  Sinne  Loeb 's  ein  unvollkommener 
Abschluss  gegen  centripetale  Erregungen  statt  und  die  natürliche  Folge 
müsste  dann  im  Sinne  seiner  Behauptungen  ein  Einbrechen  dieser  Er- 
regungen in  den  Muskelapparat  sein,  den  man  doch  an  einer  Aenderung 
des  Zustandes  der  Muskeln  müsste  erkennen  können.  Davon  ist  aber 
keine  Rede.  Geändert  ist  nur  die  Häufigkeit  seiner  Bewegungen  — 
nicht  die  Bewegungen  selbst  —  weil  das  Thier  durch  den  Fortfall  einer 
Anzahl    von  Wahrnehmungen   zu  Bewegungen    weniger    angeregt    wird. 

Hiermit  kommen  wir  auf  denjenigen  Punkt,  der  Loeb  allem  An- 
scheine nach  zu  seinen  vollkommen  verfehlten  generalisirenden  Theorien 
veranlasst  hat.  Die  Schilderung,  welche  Goltz  von  dem  Verhalten 
solcher  Hunde  gegeben  hat,  denen  er  die  hinteren  Partien  des  Gross- 
hirns in  grossem  Umfange  abgetragen  hatte,  ähnelt  in  sehr  wesent- 
lichen und  zwar  gerade  in  den  uns  hier  interessirenden  Punkten  dem 
Verhalten  seines  Hundes  ohne  Grosshirn.  Zweckmässige  Bewegungen 
treten  in  jenem  Falle  nur  auf  als  unmittelbare  Folge  eines  Sinnes- 
reizes. Dieses  Verhalten  entspricht  der  Voraussetzung  von  Loeb,  „dass 
eine  Muskelthätigkeit  zwar  noch  augeregt  werden  kann,  allein  jeder 
neue  Sinnesreiz  bricht  in  das  Centralnervensystem  herein  und  unter- 
bricht die  begonnene  Muskelaction."  Ich  sehe  nicht  ein,  aus  welchem 
Grunde  diese  Beobachtungen  durch  eine  vollkommen  hypothetische, 
lediglich  durch  zusammenhangslose  Beispiele  gestützte  Hemmungstheorie 
erklärt  werden  müssten.  Denn  es  giebt  dafür  eine  sehr  viel  einfachere  Er- 
klärung, mit  der  ich  mich,  soviel  ich  sehe,  auch  der  Auffassung  von  Goltz, 
mindestens  soweit  sein  grosshirnloser  Hund  in  Betracht  kommt,  nähere. 
Alle    so  verstümmelten  Hunde    sind    blödsinnig    und    wir    haben    oben 


—     138     — 

bereits  gesehen,  dass  auch  die  des  Occipitalhirus  beraubten  Hunde  das 
Bild  des  apathischen  Blödsinns  darbieten.  hi  diesem  Zustande  löst 
eben  jeder  Sinnesreiz  nur  so  lange  er  andauert  eine  Bewegung  aus  und 
es  wird  dadurch  derjenige  Zustand  geschaffen,  den  Loeb  beschreibt 
oder  voraussetzt;  nur  ist  er  nicht  als  Folge  von  Hemmungen,  sondern 
so  zu  deuten,  dass  die  einzelnen  Sinnesreize  Mangels  des  Grosshirns 
oder  der  wesentlich  in  Betracht  kommenden  Theile  desselben  nicht  zu 
haften  und  Willkürbewegungen  auszulösen  vermögen,  sondern  dass  die 
„Reflexmaschine"  ihren  Turnus  abspielt  und  dann  wieder  zur  Ruhe 
kommt,  wenn  sie  nicht  durch  einen  Sinnesreiz  wieder  in  Bewegung 
gesetzt  wird. 

Ueberdies  vermisst  man  in  den  Loeb'schen  Auseinandersetzungen 
jede  Angabe  darüber,  wie  er  den  Ablauf  aller  dieser  Erregungen,  die 
er  zu  kennen  glaubt,  localisirt,  ob  cortical  oder  subcortical.  Er  citirt 
z.  B.  den  bekannten,  nach  Abtragung  der  Hinterhauptslappen  sonst 
blinden  Hund  von  Goltz,  der  aber  durch  einen  hellen  Streifen  des 
Fussbodens  beeinflusst  wurde.  Diese  Beeinflussung  beruht  -nacli  Loeb 
natürlich  auf  einer  Hemmung;  aber  welchen  Weg  soll  diese  Hemmung 
nun  nehmen.  Das  hemmende  Organ  liegt  ja  nach  seinen  Entdeckungen 
im  Vorderhirn,  die  Einmündungsstellen  der  Sehstrahlung  aber  im 
Hinterhirn.  Nun  ist  der  fragliche  Theil  des  Hinterhirns  abgetragen; 
auf  welchem  Wege  wird  also  der  hemmende  Einfluss  wirksam  und  wie 
erklärt  es  sich  überhaupt,  dass  dieser  minimale  Rest  von  Sehen  stärker 
hemmend  wirkt  als  das  normale  Quantum  der  optischen  Erregung, 
wenn  diesem  überhaupt  hemmende  Wirkung  zugeschrieben  wird? 
Wegen  des  Mangeis  eines  logischen  und  lückenlosen  Entwickeluugs- 
ganges  seiner  Vorstellungen  ist  der  unheilbare  Widerspruch,  in  dem  er 
sich  selbst  verstrickt  hat,  diesem  Forscher  aber  gänzlich  entgangen. 
Nach  allen  seinen  experimentellen  Belegen  und  allen  seinen  ander- 
weitigen Auseinandersetzungen  besteht  ein  grundsätzlicher  Unterschied 
zwischen  den  Wirkungen  von  Eingriffen  in  das  Vorderhirn  und  das 
Hinterhirn  insofern  nicht,  als  beide  Mal  Sehstörungen  von  beliebiger 
Intensität  in  die  Erscheinung  treten  können.  Es  bleibt  also  gänzlich 
dunkel,  aus  welchem  Grunde  er  dem  Vorderhirn  nicht  ebenso  gut  wie 
dem  Hinterhirn  jene  Fähigkeit  der  Abschliessung  von  Sinnesreizen  zu- 
schreibt. Endlich  bleibt  natürlich  bei  der  Annahme,  dass  die  Hirnrinde 
aus  Hemmungsapparaten  oder  -„Centren"  besteht,  welche  aber  dennoch 
keine  Apparate  oder  Centren  sind,  kein  Platz  für  das,  was  wir  unser 
Bewusstsein  oder  Vorstellungen  nennen,  obwohl  wir  mm  einmal  damit 
behaftet  sind. 

Das  Bewusstsein  und  insbesondere  das  bewusste  Empfinden  verlegt 


—     139     — 

Loeb  freilich  dennoch  in  das  Grosshirn,  er  hat  es  selber  auch  bereits 
ergründet.  Dagegen  lässt  er  uns  vollkommen  im  Unklaren  darüber,  wie 
er  sich  etwa  das  Zustandekommen  dieses  bewussten  Empfindens,  d.  h. 
doch  wohl  die  Uebermittelung  und  Verarbeitung  der  Sinneswahrneh- 
mungen ganz  im  Groben  vorstellt.  Freilich  hängen  nach  ihm  diese 
oder  jene  Hirntheile  näher  mit  diesen  oder  jenen  subcorticalen  Seg- 
menten zusammen.  Aber  zwischen  diesem  Ausspruch  und  den  Behaup- 
tungen von  den  corticalen  Hemmungsfunctionen  einerseits  und  der 
Function  des  bewussten  Empfindens  andererseits  befinden  sich  wieder 
jene  weitklaffenden  Lücken  der  Beweisführung,  an  die  wir  nun  schon 
gewöhnt  sind.  Wie  entsteht  denn  eigentlich  die  bewusste  Empfindung, 
z.  B.  die  des  Sehobjectes,  im  Grosshirn,  wenn  nicht  durch  die  Ueber- 
mittelung der  subcorticalen  Vorgänge  an  dieses  Organ  und  wenn  sie  so 
entsteht,  welche  Vorstellung  soll  man  sich  dann  von  dem  Hergang  der 
Dinge  bilden,  da  dem  Grosshirn  die  Fähigkeit  zur  Bildung  von  Sinnes- 
vorstellungeu  unaufhörlich  abgesprochen  und  die  Rolle  der  fraglichen 
Organe  auf  die  Hemmung  beschränkt  wird?  Damit  wir  uns  in  die 
Vorstellungen  Loeb's  von  diesen  Processen  einigermaassen,  soweit  dies 
überhaupt  möglich  ist,  hineindenken  können,  ist  es  erforderlich,  die 
verschlungenen  Wege  mit  ihm  zu  wandeln,  welche  ihn  zu  diesen  Vor- 
stellungen geführt  haben. 

Der  Ausgangspunkt  der  üeberlegungen  Loeb's  ist  die  Thatsache, 
dass  Pflanzen,  welche  keine  Nerven  besitzen,  gleichwohl  ebenso  dem 
Lichte  zuwachsen,  wie  Motten,  welche  ein  Nervensystem  besitzen,  dem 
Lichte  zufliegen.  Er  schliesst  daraus,  dass  da«  Nervensystem  für  die 
Wirkungen  des  „Heliotropismiis"  und  der  Tropismen  überhaupt  nicht 
nothwendig  sei,  sondern  dass  dafür  periphere  Reizbarkeiten  bezw-.  die 
Anordnung  der  iMuskeln  ausreichten.  Das  Nervensystem  dient  nur  ver- 
möge seiner  besseren  Leitungsfähigkeit  dazu,  dass  es  den  peripheren 
Organen  erlaubt,  mit  grösserer  Präcision  zu  arbeiten.  Auch  die  „seg- 
mentalen Ganglien  spielen  bei  den  Reactionen  eines  Thieres  nur  die 
Rolle  eines  protoplasmatischen  Leiters." 

Halten  wir  hier  einen  Augenblick  inne.  Loeb  verwendet  zur  Be- 
gründung dieser  Theorie  eine  Anzahl  von  solchen  Bewegungserscliei- 
nungen,  welche  unter  dem  Namen  Tropismen  in  neuester  Zeit  Gegen- 
stand der  Discussion  gewesen  sind,  wobei  dann  immer  wieder  der 
Scliluss  erscheint,  dass  man  es  bei  den  Reactionen  des  Thieres  nicht 
mit  dem  Nervensystem  oder  Instincten,  sondern  mit  Tropismen  zu  thun 
habe.  Es  würde  zu  weit  führen,  wenn  wir  uns  mit  dem  Capitel  der 
Tropismen,  in  dem  mir  vorderhand  viel  mehr  Mysticismus  zu  stecken 
scheint  als  in  der  Lehre  vom  Centralnervensystem,  welcher  Loeb  einen 


—     140     — 

solchen  Vorwurf  zu  machen  beliebt,  jetzt  eingehender  beschäftigen 
wollten.  Dagegen  erscheint  mir  die  Tendenz,  die  innerlichen  Vorgänge, 
auf  denen  Bevvegungserscheinungen  bei  ganz  verschieden  organisirten 
Individuen  beruhen,  mit  einander  zu  identificiren,  gänzlich  verkehrt. 
Die  Natur  bedient  sich  zur  Erreichung  gleicher  Zwecke  erfahrungs- 
mässig  nicht  selten  sehr  verschiedener  Mittel  und  andererseits  birgt  ein 
gleicher  oder  ähnlicher  Vorgang  noch  keineswegs  die  Gewissheit  in 
sich,  dass  er  zu  einem  gleichen  oder  ähnlichen  Zwecke  eingeleitet  oder 
durch  die  gleichen  Mittel  erreicht  ist. 

Die  Identität  des  Heliütropismus  der  Thiere  mit  dem  der  Pflanzen, 
wie  er  sich  u.  A.  in  dem  angeführten  Beispiel  der  in  das  Licht  fliegen- 
den Motte  zeigt,  hat  Loeb  in  einer  besonderen  Schrift  nachzuweisen 
gesucht i).  Diese  Arbeit  schliesst  mit  folgendem  Satze  ab:  „Wir  haben 
gesehen,  dass  bei  Thieren,  welche  Nerven  besitzen,  die  Orientirungs- 
bewegungen  gegen  Licht  in  allen  Stücken  durch  dieselben  äusseren 
Umstände  bestinmit  sind  und  in  derselben  Weise  von  der  äusseren 
Körperform  abhängen,  wie  bei  Pflanzen,  welche  keine  Nerven  besitzen. 
Folglich  können  diese  heliotropischen  Erscheinungen  nicht  auf 
specifischen  Eigenschaften  des  Centralnervensystems  be- 
ruhen, wie  sie  z.B.  die  Nerven  physiologie  immer  noch  annimmt,  w^enn 
sie  Vorgänge,  wie  die  Anziehung  der  Motte  durch  das  Licht  als  In- 
stinct-  oder  Refl^exwirkung  bezeichnet." 

Wenn  ich  annehme,  dass  die  von  Loeb  in  dieser  Schrift  berichte- 
ten Thatsachen  sämmtlich  richtig  sind,  so  werden  damit  einmal  neue 
Belege  für  die  Erfahrung,  dass  das  Protoplasma  lichtempfindlich  ist, 
geliefert,  und  ferner  beweisen  sie,  dass  diese  Lichtempfindlichkeit  all- 
gemein nicht  nur  von  den  vitalen  Eigenschaften  des  Protoplasma,  son- 
dern auch  von  den  Eigenschaften  des  Lichtes  gesetzmässig  abhängt. 
Dass  diese  Lichtempfindlichkeit  zur  Ursache  von  Bewegungserschei- 
nungen  bei  Pflanzen  und  Thieren  werden  kann,  ist  eine  längst  bekannte 
Thatsache;  aber  die  Identificirung  dieser  Bewegungserscheinungen  der 
Pflanzen  mit  denjenigen  der  verschiedensten  Thierspecies  ist  eine  gänz- 
lich neue  Behauptung  von  Loeb,  welche  aus  einer,  sich  auf  oberfläch- 
liche Aehnlichkeiten  stützenden  Generalisirung  erwächst. 

Die  Bewegung  der  Pflanze  beruht  darauf,  dass  die  lichtempfind- 
liche Substanz  infolge  eines  seinem  Wesen  nach  gänzlich  unbekannten 
Vorganges,  den  Stiel  auf  seiner  dem  Licht  abgekehrten  Seite  zu  stärkerem 
Wachsthum  veranlasst.      Die  Bewesuna;  einer  Anzahl  von  Thieren  nach 


1)  .J.  Loeb,  Der  Heliotropismus  der  Thiere  und  seine  Uebereinstimmung 
mit  dem  Heliotropismus  der  Pflanzen.  1890. 


—     141     — 

dem  Liclite  zu  oder  von  dem  Lichte  fort  ist  die  Folge  einer  directen 
üebertnxgung  des  Lichtreizes  auf  die  contractile  Substanz,  während  der 
Lichtreiz  bei  anderen  Thieren  durch  Vermittelung  von  mehr  oder  minder 
peripheren  Nervenapparaten  und  eines  Uebertragungsapparates  die  Be- 
wegung hervorbringt. 

In  dem  einen  Falle  ist  die  Bewegung  also  eine  Folge  veränderten 
Wachsthums,  in  den  anderen  Fällen  hat  sie  mit  dem  Wachsthum  nichts 
zu  thun.  Wenn  nun  Loeb  sagt,  dass  diese  heliotropischen  Erschein- 
ungen gleichwerthig  seien,  so  ist  dies  einmal  unrichtig  und  wenn  er 
fortfährt,  dass  sie  nicht  auf  specifischen  Eigenschaften  des  Central- 
nervensystems  beruhten,  so  hat  dies  Niemand  behauptet.  Denn'  es 
versteht  sich  von  selbst,  das  Organismen,  welche  kein  Centralnerven- 
system  besitzen,  nicht  [mit  einem  solchen  arbeiten  können.  Loeb 's 
Behauptung  würde  nur  dann  einen  Sinn  haben,  wenn  die  Motte  auch 
noch  nach  Zerstörung  ihres  Centralnervensystems  in  das  Licht  flöge. 
Indem  er  aber  auf  die  Nervenphysiologie  von  oben  herab  blickt,  weil 
sie  die  Anziehung  der  Motte  durch  das  Licht  als  Reflexwirkung  be- 
zeichnet, begegnet  es  ihm,  dass  er  dadurch,  dass  er  ein  Wort  durch 
ein  anderes  ersetzt,  eine  That  von  besonders  grosser  Bedeutung  zu  voll- 
bringen glaubt.  Wir  verstehen  unter  einer  Reflexaction  die  Ueber- 
tragung  eines  Reizes  durch  einen  centripetalen  auf  einen  centrifugalen 
Leiter  durch  Vermittelung  eines  eingeschalteten  Ganglions.  Der  Helio- 
tropismus der  Motte  ist  absolut  nichts  anderes;  es  kommt  also  auf 
dasselbe  hinaus,  ob  ich  ihn  so  oder  als  Reflexact  bezeichne.  Ver- 
dienstlich wäre  es,  wenn  Loeb  uns  einen  Einblick  in  den  letzten  Grund 
der  Lichtempfindlichkeit  des  Protoplasma  oder  der  Tropismen  überhaupt 
eröffnet  hätte,  bis  dahin  aber  entbehren  die  Ansprüche,  mit  denen  er 
seine  höhere  Intelligenz  den  Anschauungen  anderer  Forscher  entgegen-  • 
setzt,  der  Berechtigung.  Mit  jener  ist  es  ihm  jedes  Mal  übel  ergangen, 
wenn  er  sie  zur  „Formulirung  alles  umfassender  Gesetze"  hat  benutzen 
wollen. 

Im  vorliegenden  Falle  hat  ihn  nun  die  Neigung  zur  Formulirung 
solcher  Gesetze  dazu  verleitet,  soweit  sich  dies  aus  seiner  lückenhaften 
und  deshalb  wenig  klaren  Darstellung  erkeimen  lässt,  aus  den  Er- 
fahrungen über  die  Bewegungen  nervenloser  Organismen  den  Schluss 
zu  ziehen,  dass  die  Nerven  für  das  Zustandekommen  von  Bewegungen 
auch  bei  solchen  Thieren,  die  mit  einem  Nervensystem  ausgestattet 
sind,  an  sich  nicht  erforderlich  seien,  sondern  dass  sie  nur  zur  Herbei- 
führung einer  grösseren  Beschleunigung  der  Leitung  dienten;  und  in 
demselben  Boden    wurzeln    seine   Behauptungen    von    dem    Fehlen    von 


—     142     — 

Regulationsvorrichtuugen    und    überhaupt    von    specifischen    Functionen 
innerhalb  des  Centrahiervensystems.^) 


1)  Nachdem  diese  Abhandlung  längst  abgeschlossen  war,  machte  mich 
mein  verehrter  College  Klebs  auf  den  Aufsatz  von  W.  A.  Nagel  „Phototaxis, 
Photokinesis  und  Unterschiedsempfindlichkeit"  in  der  Botanischen  Zeitung 
No.  19,  1901  aufmerksam.  Ich  reproducire  aus  demselben  einige  die  Loeb- 
schen*Theorien  beleuchtende  Stellen,  ohne  dass  ich  es  für  nöthig  hielte,  dem 
Leser  mit  Nutzanwendungen  auf  das  im  Texte  Gesagte  zu  Hülfe  zu  kommen. 

Ein  Missgriff  war  es,  auf  Grund  etlicher  methodisch  recht  un- 
vollkommener und  in  hohem  Grade  einseitiger  Versuche  die  volle  üeberein- 
stimmung  („Identität")  des  thierischen  und  pflanzlichen  Heliotro- 
pismus zu  behaupten,  wie  dies  Loeb  auch  noch  in  seiner  neuesten,  diesen 
Gegenstand  behandelnden  Publication  thut. 

Loeb  hatte  zunächst  behauptet,  die  seit  langem  bekannten  Be- 
wegungen von  Thieren  zu  einer  Lichtquelle  hin,  oder  von  einer  Lichtquelle 
weg  seien  in  ihrer  Richtung  ausschliesslich  von  der  Richtung  der  er- 
regend wirkenden  Lichtstrahlen  bedingt,  wie  es  für  gewisse  frei  beweg- 
liche Pflanzenzellen  durch  Strasburger  u.  A.  festgestellt  ist.  Diese  Angabe 
hat  sich  für  einen  Theil  der  Fälle  bestätigt,  für  einen  Theil  nicht. 

dass  die  Curve  der  Reizwerthe   für  irgend  ein  phototactisches 

Thier  mit  jenen  der  heliotropischen  Pflanzen  zusammenfalle,  oder  auch  nur 
ähnlich  sei,  ist  nicht  bewiesen. 

Ueber  das  eigentliche  Wesen,  den  Mechanismus  der  Photo- 
taxis bei  Thieren,  ist  so  gut  wie  nichts  bekannt.  Loeb  hat  Erklärungsver- 
suche unternommen,  von  denen  aber  dem  Referenten  nichts  weiter  stichhaltig 
erscheint,  als  was  eigentlich  selbstverständlich  ist,  dass  nämlich  die  phototac- 
tischen  Einstellungen  durch  ungleich  starke  Contractionen  der  Muskeln  beider 
Körperhälften  zu  Stande  kommen.  Wenn  Loeb  aber  weiterhin  die  phototac- 
tischen  Erscheinungen  mit  den  galvanotactischen  paralleli.sirt,  so  kann  das  nur 
irreführend  wirken.  Die  galvanischen  Stromfäden  durchdringen  ohne  Weiteres 
den  thierischen  Organismus,  und  für  ihren  physiologischen  Angriff  an  diesem 
oder  jenem  Muskel  oder  Nerven  kommen  ganz  andere  Momente  in  Betracht,  als 
für  den  Angriff  der  Lichtreizung.  Das  Licht  wirkt,  wenigstens  soweit  bis  jetzt 
bekannt  ist,  fast  ausschliesslich  durch  Vermittelung  von  Sinnesorganen,  also 
auf  dem  Wege  des  Reflexes;  die  Sinnesorgane  können  sich  als  eigentliche 
Augen  in  kleiner  oder  grösserer  Zahl  darstellen,  oder,  wie  Hesse  neuer- 
dings nachgewiesen  hat,  in  Gestalt  über  den  ganzen  Körper  zerstreuter  Licht- 
sinneszellen auftreten  (so  beim  Regenwurm  und  beim  Amphioxus).  In  allen 
diesen  Fällen  ist  das  Gentralnervensystem  als  Vermittler  der  Erregung  zwischen 
Lichtsinnesorgan  und  reagirenden  Muskeln  unentbehrlich.  Phototactische 
Reactionen,  bei  denen  das  Licht  dir e et  die  Muskeln  reizte,  sind  nicht  be- 
kannt. Es  verdient  das  besonders  hervorgehoben  zu  werden,  weil  nach  Loeb 's 
Darstellung  der  mit  den  Thatsachen  nicht  genügend  Bekannte  leicht  zu  gegen- 
-jheiliger  Meinung  kommen  könnte.     Das    nicht   recht  verständliche  Bestreben 


—     143     — 

Die  Annahme,  dass  alle  Tlüere  für  das  Zustandekommen  zweck- 
mässiger Bewegungen  keines  Nervensystems  bedürfen,  sondern  mit  dem 
leitungsfähigen  Protoplasma  ausreichen  würden,  weil  gewisse  andere 
Thiere  oder  gar  Pflanzen  zweckmässige  Bewegungen  ohne  Nervensystem 
ausführen,  ist  nicht  nur  irrthümlich,  sondern  einfach  phantastisch.  Zu 
welchen  Consequenzen  eine  derartige  Methode  der  Schlussfolgerung 
führt,  zeigt  am  besten  das  folgende  Beispiel.  Loeb  führt  an,  dass  zwei 
verschiedene  Arten  von  Würmern  (Thysanozoon  und  Süsswasserplanarien) 
sich  anatomisch  durch  ihre  verschiedene  Ausstattung  mit  Ganglien, 
physiologisch  dadurch  unterscheiden,  dass  das  aborale  Stück  des  minder 
reich  mit  Ganglien  ausgestatteten  Thieres  nach  querer  Durchschneidung 
keine  ProgressiA^iewegungen  mehr  macht,  während  das  aborale  Stück 
des  reicher  mit  Ganglien  ausgestatteten  Thieres  solche  Bewegungen  noch 
ausführt.  Er  bestreitet  aber,  dass  diese  Differenz  auf  dem  Vorhanden- 
sein von  Ganglien  beruhe.  Denn  Flusskrebse,  denen  man  das  Ober- 
schlundganglion genommen  habe,  machten  keine  Progressivbewegungen 
mehr,  obwohl  sie  noch  das  Unterschlundganglion  mit  der  venti-alen 
Ganglienkette  besässen.  Es  liegt  mir  fern,  den  Fortbestand  der  Pro- 
gressivbeweguugen  in  jenem  Falle  aus  der  angedeuteten  Construction 
des  Nervensystems  erklären  zu  wollen;  dazu  bin  ich  nicht  hinreichend 
orientirt.  Der  gegentheilige  Schluss  von  Loeb  schlägt  aber  den  Ge- 
setzen der  Logik  in's  Gesicht,  denn  er  setzt  das  als  gegeben  voraus, 
was  erst  bewiesen  werden  soll.  Wenn  das  Oberschlundganglion  —  das 
Gehirn  —  die  Fähigkeit  besitzt,  Progressivbewegungen  zu  unterhalten, 
derart  dass  diese  mit  seiner  Zerstörung  in  Fortfall  kommen,  so  scheint 
der  einzig  mögliche  Schluss  der  zu  sein,  dass  eine  gewisse  Localisation 
der  Functionen  schon  beim  Flusskrebs  und  zwar  derart  stattfindet,  dass 
das  Oberschlundganglion  andere  Functionen  besitzt  als  das  Unterschlund- 
ganglion, nicht  aber  der,  dass  das  Vorhandensein  von  irgend  welchen 
nervösen  Gebilden  für  das  Zustandekommen  von  Progressivbewegungen 
unwesentlich  sei.  Es  müsste  denn  vorher  die  physiologische  Gleich- 
werthigkeit  aller  Nerven,  mindestens  aber  des  Ober-  imd  Unterschlund- 
ganglions bewiesen  worden  sein. 

Loeb's,  den  Unterschied  zwischen  Thier  und  Pflanze  in  den  Reizbarkeitsver- 
hältnissen möglichst  zu  verwischen  und  in  vielen  Fällen  das  Centralnerven- 
system  als  etwas  nahezu  üeberflüssiges  hinzustellen,  hat  neben  anderen  be- 
denklichen Consequenzen  auch  die,  dass  Loeb  bei  seinen  Erörterungen  über 
den  Mechanismus  phototactischer  Reactionen  in  einem  Augenblick  von  Wirkung 
des  Lichtes  durch  Vermittelung  der  Augen  spricht,  im  nächsten  Augenblick 
sich  aber  so  ausdrückt,  als  ob  das  Licht  direct  „spannungsändernd"  einwirkt, 
wie  ein  elektrischer  Strom.    Dafür  fehlt  jeder  thatsächliche  Anhalt. 


—     144     — 

Derartige  Schlüsse,  bei  denen  tlieils  die  Prämisse,  tlieils  die  Fol- 
gerung falsch  ist,  wiederholen  sich  in  den  Gedankengängen  Loeb"s 
fortwährend,  sie  kehren  immer  wieder  und  sie  beeinflussen  das  endliche 
Resultat  der  üeberlegungen  um  so  mehr,  als  sich  unaufhörlich  unklare, 
nicht  zu  Ende  gedachte  Vorstellungen  in  sie  einmischen.  Die  Be- 
hauptung, .dass  durch  Eingriffe  in  das  Grosshirn  die  Spannung  der 
Extensoren  herabgesetzt  würde,  deren  vollkommene  Haltlosigkeit  ich 
weiter  oben  nachgewiesen  habe,  kehrt  z.  ß.  bei  der  Schilderung 
des  Verhaltens  jenes  Flusskrebses  mit  ausgeschaltetem  Oberschlund- 
ganglion wieder  und  bilde't  in  ihrer  Nichtigkeit  ein  Glied  in  der  Kette 
der  Beweise.  Sobald  eine  Beweisführung  nicht  klappen  will,  erfahren 
wir,  dass  es  sich  vielleicht  oder  wahrscheinlich  um  eine  Hemmung  oder 
verschiedene  Reizbarkeit  oder  dergleichen  handelt.  Wir  erfahren  aber 
niemals,  was  Loeb  sich  denn  unter  einer  solchen  Hemmung  vorstellt. 
Für  mich  ist  die  physiologische  Hemmung  eine  Function  eines  aus 
Zellen  und  Fasern  zusammengesetzten  Regulationsmechanismus,  welche 
uns  wie  alle  solche  Functionen,  ihrem  inneren  Wesen  nach  unbekannt 
ist.  Für  Loeb  giebt  es  aber  nicht  einmal  Regulationsmechanismen, 
woher  kommt  also  dieser  mystische  deus  ex  machina? 

Es  kann  unter  diesen  Umständen  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  die 
segmentalen  Ganglien  für  Loeb  auch  nur  die  Rolle  eines  protoplas- 
matischen  Leiters  besitzen.  Es  scheint  fast  nothwendig,  ihn  darauf 
aufmerksam  zu  machen,  dass  das  Nervensystem  der  Planarien  andere 
Aufgaben  hat  als  das  der  Krebse  und  dass  die  Aufgaben  des  mensch- 
lichen Centralnervensystems  sich  auch  noch  in  einigen  Punkten  von 
denen  des   Centralnervensystems  der  Krebse  unterscheiden.  • — 

Je  höher  hinauf  wir  in  die  Functionen  des  Centralnervensystems 
einzudringen  versuchen,  um  so  mehr  macht  sich  das  Sprunghafte  der 
Hypothesen  Loeb 's  geltend.  Wir  erfahren,  dass  die  Bewusstseinsvor- 
gänge  eine  Function  des  Grosshirns  sind  und  aus  bewusstem  Empfinden 
und  bewusstem  Wollen  bestehen.  Dagegen  sagt  uns  Loeb  kein  Wort 
darüber,  wie  er  sich,  rein  anatomisch  und  physiologisch  betrachtet,  die 
Beziehungen  der  segmentalen  Ganglien  zu  demjenigen  Organ  denkt, 
in  dem  diese  Bewusstseinsvorgänge  sich  abspielen.  Ich  bin  weit  davon 
entfernt,  etwas  Unmögliches  zu  verlangen;  da  die  Anatomie  und  Physi- 
ologie der  letzten  Jahrzehnte  aber  bei  der  Mehrzahl  der  Forscher  ganz 
bestimmte  Anschauungen  gereift  hat,  welche  Loeb  nicht  theilt,  so  war 
es  mindestens  seine  Aufgabe,  an  deren  Stelle  andere  Anschauungen  zu 
setzen,  welche  der  Summe  der  bisher  bekannten  Erfahrungen  besser 
entsprechen.  So  erfahren  wir  aber  weder,  welche  Wege  die  centri- 
petale  Protection  beschreitet,  noch  auf  welche  Weise    und   auf  welchen 


—     145     — 

Wegen  sie  sich  durch  (bis  „Wollen"  in  centrifugalo  Projection  umsetzt. 
Lidessen  liesse  sich  über  die  Paradoxen,  in  denen  Loeb  sich  gefällt, 
noch  so  sehr  viel  mehr  sagen,  als  diese  Lehre  werth  ist,  dass  ich  es 
vorziehe,  mich  auf  die  kurze  Erörterung  eines  Punktes,  der  ßevvusst- 
seinsfrage,  zu  beschränken. 

Ich  habe  bereits  angeführt,  dass  Loeb  das  ßewusstsein  nur  als  eine 
Function  der  associativen  Gedächtnissthätigkeit  auffasst  und  dass  er 
unter  associativem  Gedächtniss  eine  „Einrichtung  versteht,  durch  welche 
eine  Reizursache  nicht  nur  die  ihrer  Natur  und  der  specifischen  Structur 
des  reizbaren  Gebildes  entsprechenden  Wirkungen  hervorbringt,  sondern 
ausserdem  auch  noch  solche  Reizwirkungen  anderer  Ursachen,  welche 
früher  einmal  nahezu  oder  völlig,  gleichzeitig  mit  jenem  Reiz  an  den 
Organismus  angriffen." 

Ich  will  jetzt  dahingestellt  sein  lassen,  ob  das  associative  Ge- 
dächtniss eine  „Einrichtung"  sein  kann  und  ob  jene  Definition  auch  nur 
äusserlich  dasjenige  deckt,  was  man  unter  associativem  Gedächtniss 
verstellt.  Mehr  interessiren  uns  die  Beziehungen,  in  welche  Loeb  diese 
höchste  Function  des  menschlichen  Gehirns,  die  er  als  associative  Ge- 
dächtnissthätigkeit bezeichnet  und  die  man  sonst  noch,  je  nach  dem 
psychologischen  Standpunkt,  als  ßewusstsein,  Apperception,  Geist,  Seele, 
Ich  etc.  benannt  findet,  zur  Intelligenz  bringt.  „Was  wir  als  Intelligenz 
bezeichnen,  ist  bestimmt  durch  die  Zahl  der  möglichen  Gedächtniss- 
bilder (die  Capacität)  und  durch  die  Resonnanzfähigkeit.  Der  letztere 
Umstand  ist  vielleicht  der  wesentlichere,  so  lange  die  Capacität  nicht 
unter  den  Durchschnitt  sinkt.  Der  gescheidte  Kopf  unterscheidet  sich 
vom  dummen  Menschen  u.  a.  durch  die  Leichtigkeit  der  Analyse  resp. 
Synthese  der  auftauchenden  Empfindungscomplexe  mittels  des  associa- 
tiven Gedächtnisses;  d.  h.  beim  langsamen  oder  dummen  Menschen 
werden  nur  solche  Gedächtnissbilder  associativ  hervorgerufen,  die  mit 
dem  erregenden  Complex  eine  sehr  weitgehende  Uebereinstimmrfng 
zeigen;  während  beim  raschen  Denker  auch  solche  Gedächtnisscomplexe 
associativ  hervorgerufen  werden,  die  mit  dem  erregenden  Complexe 
nur  in  einzelnen  Elementen  übereinstimmen"  (S.   163). 

Für  mich  ist  das  ßewusstsein  etwas  wesentlich  anderes  und  ich 
vermag  als  Kriterium  für  die  grössere  oder  geringere  Intelligenz  das 
Auftauchen  einer  grösseren  oder  geringeren  Zahl  von  Gedächtnissbildem 
nicht  anzuerkennen.  Indessen  beruht  ja  die  Psychologie  zum  grösseren 
Theile  auf  Selbstbeobachtung  und  so  mag  es  geschehen,  dass  Loeb  bei 
sich  selbst  das  Nebeneinander  einer  nicht  geringen  Zahl  von  Gedächt- 
nissbildern   als  die  vorzüglichste  Eigenschaft    seiner  Intelligenz  schätzt. 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.    II.  Theil.  10 


—     146     — 

Mit  dem  Inhalte  der  hier  besprochenen  Arbeiten  wäre  diese  Würdigung- 
nicht  ganz  unvereinbar. 

Da  ich  aber  selbst  nicht  competent  sein  mag,  so  will  ich  mich 
nicht  auf  die  Anführung  meiner  eigenen  Ansichten  beschränken,  son- 
dern auch  die  meines  verehrten  Freundes  und  Collegen,  des  Professors 
der  Philosophie  Riehl,  hier  anführen: 

„Die  Definition  des  „Bewusstseins"  als  einer  Function  des  „asso- 
ciativen  Gedächtnisses"  kann  unmöglich  als  ausreichend  gelten. 

1.  Kein  „ürtheil"  lässt  sich  als  ein  rein  associativer  Vorgang  be- 
schreiben; denn  es  handelt  sich  bei  einem  ürtheil  niemals  um  blosse 
Coexistenz  oder  Folge  von  Vorstellungen,  sondern  um  Acte  des  Prädi- 
cirens,  Gleichsetzens  und  Sabsumirens,  für  welche  Acte  die  Association 
höchstens  das  Material  liefern  kann.  Auch  vermögen  wir  durch  ür- 
theilsacte  Associationen,  selbst  die  gewohntesten,  zu  trennen,  Asso- 
ciationen aufzulösen  —  z.  B.  im  verneinenden  Satze. 

2.  Für  das  Gedächtniss  selbst  ist  „Association"  zwar  eine  wesent- 
liche, aber  nicht  die  einzige  Bedingung: 

Es  genügt  nämlich  nicht,  dass  „gleiche  oder  ähnliche  Reizwir- 
kungen" sich  associativ  wiederholen,  um  ein  Gedächtnissurtheil  zu  er- 
geben; sie  müssen  auch  als  gleiche  oder  ähnliche  erkannt,  d.  h.  auf 
frühere  eigene  Erfahrung  bewusst  bezogen  sein. 

Sonst  käme  es  nie  zu  mehr  als  einer  gedankenlosen  Reproduction 
wie  jener  des  Idioten,  der  die  ganze  Bibel  auswendig  hersagen  konnte, 
ohne  des  Sinnes  der  Worte  sich  bewusst  zu  sein.  —  Eine  derartige 
mechanische  Wirkung  der  reinen  Association  wird  Niemand  als  Kriterium 
für  Bewusstsein,  geschweige  als  Maass  der  Intelligenz  oder  Urtheils- 
fähigkeit  betrachten  wollen. 

Sonach  ist  die  Definition  des  Bewusstseins  als  associativen  Ge- 
dächtniss-Zusammenhanges ganz  unvollständig  und  betrifft  nur  eine 
Betiingung  desselben, 

3.  Es  ist  falsch,  in  der  Fähigkeit  des  Erlernens,  d.  i.  fortschrei- 
tender Anpassung  und  Umbildung  der  Reactionsweise  ein  ausschliess- 
liches Merkmal  für  bewusste  Thätigkeit  zu  erblicken.  Diese  Fähigkeit 
ist  vielmehr  eine  Eigenschaft  der  centralen  Substanz  im  Allgemeinen; 
sie  entwickelt  sich  auch  ohne  Bethätigung  von  Bewusstsein."  — 

„Das  associative  Gedächtniss  setzt  —  nach  Loeb  —  bestimmte 
maschinelle  Vorrichtungen  voraus,  die  einstweilen  noch  unbekannt  sind 
und  deren  Ermittelung  das  Hauptproblem  der  modernen  Gehirnphysio- 
logie  ist."  (S.  162.)  Also  die  materiellen  Grundlagen  des  associativen 
Gedächtnisses,  also  auch  des  Bewusstseins,  sind  Loeb  unbekannt,  aber 
das  Bewusstsein  selbst  bedarf  für  ihn  keiner  psychologischen  Erklärung. 


—     147     — 

Er  hält  „den  Gedächtnissvorgang  für  einen  rein  physikalischen  Vorgang 
und  eine  psychologische  Deutung  desselben  ebensowenig  für  nöthig, 
wie  eine  psychologische  Deutung  des  Phonographen  nöthig  ist."  Wir 
wären  damit  ja  plötzlich  zu  einer  einfachen  Lösung  diesem  schwierigsten 
aller  Probleme  gelangt  und  die  Physiologie  brauchte  sich  eigentlich 
gar  nicht  weiter  mit  der  Auffindung  des  für  den  Bewusstseinsvorgang 
■erforderlichen  Mechanismus  zu  bemühen.  Loeb  hätte  nur  noch  zu 
sagen,  weshalb  dieser  Vorgang  jetzt  ein  „rein  physikalischer"  und  nicht 
ei]i  chemischer  ist,  wie  er  an  den  meisten  Stellen  seiner  citirten  Arbeit 
sagt  und  wie  dieser  physikalische  Vorgang  eigentlich  beschaffen  ist. 

Ich  selbst  hatte  am  Schlüsse  meiner  Arbeit  „Ueber  die  elektrische 
Erregbarkeit  des  Grosshirns"  gesagt,  „dass  keineswegs,  wie  Flourens 
und  die  Meisten  nach  ihm  meinten,  die  Seele  eine  Art  Gesammtfunction 
des  Grosshirns  ist,  deren  Ausdruck  man  wohl  im  Ganzen,  aber  nicht 
in  seinen  einzelnen  Theilen  durch  mechanische  Mittel  aufzuheben  ver- 
mag, sondern  dass  Aäelmehr  sicher  einzelne  Functionen, 
wahrscheinlich  alle,  zu  ihrem  Eintritt  in  die  Materie  oder 
zur  Entstehung  aus  derselben  auf  circumscripte  Centra  der 
Grosshirnrinde  angewiesen  sind."  Wenn  ich  hierin  eine  Alter- 
native zwischen  der  Möglichkeit  des  Eintrittes  seelischer  Functionen  in 
die  Materie  und  ihrer  Entstehung  aus  derselben  zugelassen  hatte,  so 
habe  ich  damit  lediglich  meiner  Abneigung,  mich  bei  der  Lösung  phy- 
siologischer Probleme  in  das  Gebiet  der  Psychologie  zu  verirren,  Aus- 
druck geben  wollen,  einer  Abneigung,  welche  sich  noch  schärfer  präci- 
sirt  am  Schlüsse  der  Einleitung  zu  meinem  Buche  „Untersuchungen 
über  das  Gehirn"  in  dem  Satze  ausgedrückt  findet:  „Unserer  Beschäf- 
tigung mit  den  nächsten  körperlichen  Verrichtungen  dieser  Organe 
wolle  der  Leser  seine  wohlwollende  Theilnahme  schenken.  Betrach- 
tungen, ob  das  darüber  schwebende  die  unsterbliche  Seele  oder  eine, 
auch  anderer  Erscheinungsweisen  fähige  Naturkraft  sei,  überlassen  wir 
Anderen." 

Loeb  hat  es  gleichwohl  für  nöthig  gefunden,  die  Vorstellung,  dass 
seelische  Functionen  in  die  Materie  eintreten  oder  aus  ihr  entstehen, 
für  „so  ungeheuerlich  zu  erklären,  dass  sie  sich  der  wissenschaftlichen 
Discussion  entziehe."  Ich  bin  mit  Bezug  auf  Loeb's  Vorstellungen  in- 
sofern weniger  unfreundlich  gewesen,  als  ich  einen  recht  grossen  Theil 
von  ihnen  einer  ernsthaften  Discussion  unterzogen  habe,  obwohl  sie  das 
von  ihm  gewählte  Prädicat  vielleicht  eher  verdienten  als  die  meinigen. 
Auch  könnte  ich  mich  gegen  die  Invective  Loeb's  mit  dem  Hinweis  auf  die 
oben  gegebene  Begründung  begnügen.  Sie  istin  ihrer  selbstbewussten  Fassung 
aber  geeignet,  bei  einzelnen  Lesern  den  Anschein  zu  erwecken,  als  ob  ich 

10* 


—     148     — 

aus  Mangel  an  Sachkeiintniss  und  Verständuiss  eine  absolute  Absurdität 
gesagt  hätte.  Ich  halte  es  deshalb  für  richtig,  die  aus  der  gleichen 
Periode  herrührenden  Worte  eines  Forschers  zu  citiren.  in  denen  etwa 
2 — 3  Jahre  später  diese  ungeheuerlichen  Vorstellungen  und  zwar  ge- 
rade vom  Standpunkte  des  Physiologen  aus  discutirt  werden.  Es  han- 
delt sich  um  Niemand  anders  als  um  Emil  du  Bois-Reymondi). 
Dieser  Forscher  wirft  zunächst  die  Frage  auf,  ,,ob  nicht  Bewusstseiu 
einfach  als  Wirkung  der  Materie  gedacht  und  vielleicht  begriffen  w^erden 
könne'"  und  er  sagt  dann  weiter:  „Ob  wir  die  geistigen  Vorgänge  aus 
materiellen  Dingen  je  begreifen  werden,  ist  eine  Frage  ganz  verschieden 
von  der,  ob  diese  Vorgänge  das  Erzeugniss  materieller  Bedingungen 
sind.  Jene  Frage  kann  verneint  werden,  ohne  dass  über  diese  etwas 
ausgemacht,  geschweige  auch  sie  verneint  würde.''   —  — 

„Man  erinnert  sich  des  kecken  Ausspruches  Herrn  Karl  Vogt's: 
„Dass  alle  jene  Fähigkeiten,  die  wir  unter  dem  Namen  Seelenthätigkeit 
begreifen,  nur  Functionen  des  Gehirns  sind,  um  es  einigermaassen  grob 
auszudrücken,  dass  die  Gedanken  etwa  in  deüiselben  Verhältniss  zum 
Gehirn  stehen,  wie  die  Galle  zu  der  Leber  oder  der  Urin  zu  den  Nie- 
ren." „Auch  das  ist  an  dem  Vogt'schen  Ausspruch  schwerlich  zu 
fedeln,  dass  darin  die  Seelenthätigkeit  als  Erzeugniss  der  materiellen 
Bedingungen  im  Gehirn  dargestellt  wird." 

Man  sieht,  Emil  du  Bois-Reymond  discutirt  nicht  nur  die  eine 
der  von  mir  gestellten  Alternativen,  sondern  er  ist  auch  nicht  geneigt 
die  ihr  zu  Grunde  liegende  Anschauung  zu  tadeln,  obwohl  ich  dieser 
nicht  die  von  Karl  Vogt  beliebte  Form  gegeben  habe,  noch  gegeben 
haben  würde.  Ich  finde,  ebenso  gut  wie  du  Bois-Reymond  hätte  auch 
Loeb  sich  zur  Discussion  dieser  Frage  herbeilassen  können.  Indessen 
mag  er  sich  durch  die  Ueberzeugung,  dass  das  Bewusstsein  ebenso  wenig 
wie  der  Phonograph  einer  psychologischen  Erklärung  bedürfe,  davon 
haben  abhalten  lassen.  So  ist  es  vielleicht  nicht  unnütz,  ihn  auf  das- 
jenige aufnierksam  zu  machen,  was  du  Bois-Reymond  in  dieser  Be- 
ziehung sagt:  „Was  aber  die  geistigen  Vorgänge  selber  betrifft,  so  zeigt 
sich,  dass  sie  bei  astronomischer  Kenntniss  des  Seelenorganes  uns  ganz 
ebenso  unbegreiflich  wären,  wie  jetzt.  Im  Besitze  dieser  Kenntniss  ständen 
wir  vor  ihnen  wie  heute,  als  vor  einem  gänzlich  Unvermittelten.  —  — 
Durch  keine  zu  ersinnende  Anordnung  oder  Bewegung  materieller 
Theilchen  aber  lässt  sich  eine  Brücke  in"s  Bereich  des  Bewusstseins 
schlagen." 


1)  E.  du   Bois-Reymond,    Ueber   die    Grenzen   des  Naturerkennens. 
Leipzig  1892. 


—     149     — 

Diese  Rede  des  grossen  Physiologen  fällt  ;ibcr  in  eine  um  ein 
Mensclienalter  zurückliegende  Epoche;  seit  jener  Zeit  ist  unendlich  viel 
über  das  Bewusstsein  geschrieben  und  das  „ignorabimus"  du  Bois- 
Reyniond's  mit  scharfen  Waffen  angegriffen  worden.  Vielleicht  hat 
sich  der  Standpunkt  der  Wissenschaft,  seitdem  ich  jene  Worte  schrieb, 
gänzlich  verändert.  Zwar  würde  hieraus  kein  Vorwurf  für  mich  abzu- 
leiten sein,  immerhin  lohnt  es  sich,  die  Ansicht  eines  zeitgenössischen 
Philosophen  —  wieder  die  des  Herrn  Riehl  —  über  die  Bemerkungen 
Loeb's  zu  hören: 

„Dass  seelische  Functionen  zu  ihrem  Eintritt  in  die  Materie  oder 
zur  Entstehung  aus  derselben  auf  circumscripte  Centren  angewiesen  sind" 
(Hitzig),  ist  keineswegs  eine  „ungeheuerliche"  Vorstellung.  Nur  wer 
diese  Ausdrucksweise  missverstehen,  missdeuten  will,  kann  sie  in  so 
bequemer  Weise  „der  wissenschaftlichen  Discussion"  entziehen. 

Es  ist  damit  sicher  nicht  behauptet,  dass  seelische  Functionen  an 
sich  nicht  existiren,  ehe  sie  in  die  Materie  „eintreten"  oder  ausser- 
halb der  physiologischen  Vorgänge,  die  ihr  Substrat  bilden,  vorhanden 
sein  könnten,  nachdem  sie  entstanden  sind.  Es  heisst  vielmehr  einfach: 
ehe  bestimmte  circumscripte  Centren  erregt  sind,  tritt  keine  seelische 
(oder  treten  wenigstens  gewisse  seelische)  Functionen  nicht  ein:  mit  der 
Erregung  jener  Centren  aber  sind  sie  entstanden  und  bleiben  an  die 
Erregung  und  deren  Folgen  in  ihrem  weiteren  Verlaufe  gebunden. 

Dennoch  besteht  m.  E.  zwischen  den  materiellen  Grundlagen  der  be- 
wussten  Functionen  und  diesen  selbst  eine  Abhängigkeit  besonderer  Art, 
welche  mit  der  Abhängigkeit  der  physischen  Vorgänge  unter  sich  keine 
genaue  Analogie  besitzt. 

Ich  gebe  zu,  dass  die  fragliche  Beziehung  mit  dem  gebräuchlichen 
Ausdruck:  psychophysischer  Parallelismus  schlecht,  ja  eigentlich  unrich- 
tig gekennzeichnet  ist  und  ziehe  dafür  den  Ausdruck  psychophysische 
Correspondenz  vor. 

Demnach  entspricht  einem  bestimmten  Bewusstseinsvorgang  nur  ein 
bestimmter  physiologischer  Vorgang  im  Centralnervensystem  —  mit  an- 
deren Worten  zu  jedem  beliebigen  Bewusstseinsvorgang  gehört  nur  ein 
psychophysischer  Process. 

Warum  auf  diese  Abhängigkeit  nicht  die  Beziehung  von  Ursache 
und  Wirkung  anwendbar  erscheint,  sie  vielmehr  als  eine  Abhängigkeit 
sui  generis  anzusprechen  ist,  ergiebt  sich  für  mich  wesentlich  aus  den 
folgenden  beiden  Gründen: 

1.  Zwischen  dem  Bewusstseinsvorgang  und  dem  correspoudirenden 
psychophysischen  Process  besteht  nicht  (wie  bei  jedem  Causalverhält- 
nisse)  zeitliche  Folge,  sondern  Gleichzeitigkeit. 


—     150     — 

Der  Bewusstseinsvorgang  entwickelt  sich  nicht  aus  dem  zugehörigen 
physiologischen  Process;  ist  dieser  gegeben,  so  ist  auch  jener  vollstän- 
dig mitgegeben. 

2.  Weil  bei  allen  physischen  Zustandsänderungen  die  Summe  der 
Energie  constant  bleibt,  können  diese  Aenderungen  nur  in  der  Wirksam- 
keit physischer  Ursachen  ihren  Grund  haben  und  auch  die  Folgen  sol- 
cher Aenderungen  können  immer  wieder  nur  physische  sein. 

So  oft  „Bewegung"  verschwindet,  sehen  wir  Wärme  (oder  eine  ihr 
äquivalente  Energieform)  entstehen:  wenn  Wärme  verschwindet,  tritt 
Bewegung  von  einem  bestimmten  Betrage  an  ihre  Stelle.  Bewegung 
hat  sich  in  Wärme,  Wärme  in  Bewegung  verwandelt.  Aber  wir  können 
nicht  in  demselben  Sinne  sagen:  eine  chemische  Umsetzung  im  Ge- 
hirn hat  sich  in  Bewusstsein  verw^andelt,  oder  Bewusstsein  verwandelt 
sich,  indem  es  verschwindet,  in  chemische  Umsetzung.  Denn  der  che- 
mische Process  im  Gehirn  nimmt  nicht  ab,  wenn  Bewusstsein  entsteht; 
er  nimmt  nicht  zu,  wenn  Bewusstsein  latent  wird.  Er  ist  der  Träger 
des  bewussten  Vorgangs  und  dieser  „begleitet"  ihn  während  seines 
Verlaufes. 

Ich  betrachte  demnach  eine  Bewusstseinsfunction  als  den  nicht- 
physischen Theil  (die  subjective  Seite)  des  zugehörigen  physiologischen 
Vorganges.  Oder  um  es  allgemein  auszudrücken:  Die  Welt  ist  nur 
Einmal  da;  aber  sie  ist  dem  objectiven  (auf  die  äusseren  Dinge  be- 
zogenen) Bewusstsein  als  Zusammenhang  quantitativer  physischer 
Vorgänge  und  Dinge  gegeben,  während  ein  Theil  derselben  Welt  einem 
bestimmten  organischen  Individuum  als  seine,  bewussten  Functionen 
und  deren  Zusammenhang  gegeben  ist. 

Ich  vermag  das  Bewusstsein  nicht  als  solches  in  die  lückenlose 
Verkettung  der  physischen  Vorgänge  eingeschaltet  zu  denken:  weil  der 
Standpunkt  der  subjectiven  Erfahrung  nicht  gleichzeitig  auch  der 
Standpunkt  der  objectiven  sein  kann." 

Ich  bin  zwar  nicht  überall  der  Ansicht  meines  verehrten  CoUegen; 
denn  die  Gründe,  aus  denen  er  negirt,  dass  das  Abhängigkeitsverhält- 
niss  des  Bewusstseinsvorganges  von  dem  physischen  ein  causales  sei, 
erscheinen  mir  weder  beweisbar,  noch  entscheidend.  Indessen  kommt 
es  nicht  hierauf,  sondern  nur  darauf  an  zu  zeigen,  dass  die  von  Loeb 
beliebte  Verketzerung  wohl  seiner  Sinnesart,  aber  nicht  dem  thatsäch- 
lichen  Sachverhalt  entspricht. 

Auf  die  Sache  selbst  näher  einzugehen,  mnss  ich  mir  versagen, 
weil  ich  psychologischen  Erörterungen  überhaupt  abhold  bin,  sie  sind 
nicht  meine  Sache.    Ausserdem  lehrt  aber  ein  Blick  in  die  neueste  ein- 


—     151     — 

sclilägige  Literatur,  wie  scliwaiikeud  die  B(;griife  iiiul  Vorstollimgeii  sind, 
mit  denen  diese  Wissenschaft  heute  noch  arbeitet. 

Ein  Beispiel:  Jenem  psychophysisclien  Paralielismus ,  den  wir  so- 
eben von  Seiten  Riehl's  als  psychophysische  Correspondenz  bezeich- 
net, aber  seinem  Wesen  nach  acceptirt  sahen,  bestreitet  von  Kries  in 
"der  angeführten  Rede  das  ihm  u.  a.  auch  von  Mach  beigemessene  In- 
teresse. Mir  scheint,  dass  er  vielleicht  zu  einem  anderen  Resultat  ge- 
kommen wäre,  wenn  er  der  Ueberlegung  Raum  gegeben  hätte,  dass 
einem  physisch  Aehnlichen  auch  nur  psychisch  Aehnliches  ent- 
sprechen kann.  Die  gleiche  Rede  erörtert  ferner  in  scharfsinniger  Weise 
die  Unzulänglichkeit  der  verschiedenen,  über  die  materiellen  Grund- 
lagen der  Bewusstseinsörscheinungen  aufgestellten  Theorien.  Wenn  ich'- 
auch  hier  wieder  dem  Verfasser  in  vielen  Dingen  zustimme,  so  glaube 
ich  doch,  dass  er  selbst  zu  einem  anderen  Resultate  gekommen  sein 
würde,  wenn  er  in  seiner  Betrachtungsweise  weniger  ausschliesslich  ge- 
wesen wäre  und  die  Möglichkeit  des  Zusammenwirkens  der  verschie- 
denen von  ihm  analysirten  Principien  in's  Auge  gefasst  hätte. 

Wir  sehen  also,  dass  die  wissenschaftliche  Welt  im  Augenblick 
noch  um  die  Erforschung  der  ersten  Elemente,  welche  zur  Ergründung 
der  Bewusstseinserscheinungen  dienlich  sein  können,  kämpft.  Mag  daher 
jenes  „ignorabimus"  für  die  Zukunft  anfechtbar  sein  oder  nicht,  jeden- 
falls sollte  die  Gegenwart  bescheidenerweise  noch  sagen:  ignoramus. 


IV.  Schhissbetrachtimgeu. 

üeber  meine  eigene  Auffassung  der  cerebralen,  insbesondere  der 
corticalen  Vorgänge  bleibt  mir  nach  dem  bisher  Gesagten  kaum  noch 
etwas  anzuführen  und  wenn  es  geschieht,  so  verfolge  ich  damit  vor- 
nehmlich den  Zweck,  eine  Anzahl  der  überaus  zahlreichen  Lücken  zu 
zeigen,  welche  unsere  Kenntnisse  von  den  Functionen  jener  Organe  noch 
aufweisen  und  deren  Ausfüllung,  soweit  es  mir  vergönnt  ist,  meine 
nächste  Aufgabe  sein  soll. 

Die  Frage  der  Localisation  halte  ich  in  dem  Grade  für 
entschieden,  dass  mir  ihre  fernere  experimentelle  Be- 
gründung, soweit  das  Princip  in  Frage  kommt,  nicht  er- 
forderlich scheint.  Dagegen  bleibt  im  Einzelnen,  selbst  auf 
denjenigen  Gebieten,  welche  den  Gegenstand  der  vor- 
liegenden Abhandlung  ausmachen,  —  die  sensomotorische 
und  die  visuelle  Function  —  noch  sehr  viel  zu  thun.  Von 
der  Localisation  der  anderen  Sinne    schweige   ich  auch  hier 


152     — 


Auf  der  motorischen  Seite  ist  die  Richtigkeit  der  von 
mir  aufgestellten  Lehre  von  der  Localisation  der  einzelnen 
Muskeln  und  Bewegungsformen  auf  bestimmte  Gyri  gegen- 
über der  Anschauungsweise,  namentlich  der  italienischen 
Forscher,  durch  anderweitige  Untersuchungen    zu    erweisen. 

Die  Bedeutung  des  Stirnlappens  und  die  centrale  Re- 
präsentation der  Rumpfmuskulatur  sind  über  allen  Zweifel 
festzustellen. 

Wenn  es  schon  Lücken  in  unseren  Kenntnissen  über  die. 
Bedeutung  der  corticalen  Innervation  für  die  Extremitäten 
giebt,  so  sind  unsere  Anschauungen  über  die  Bedeutung  der 
anderen  corticalen  Gebiete,  z.  B.  desje'nigen  des  Facialis, 
noch  viel  weniger  geklärt.  Auch  hier  sind  nach  neuen  Me- 
thoden anzustellende  Untersuchungen  erforderlich. 

Die  sensiblen  Functionen  erleiden  sicherlich  durch  Ein- 
griffe in  die  motorische  Zone  eine  je  nach  der  Grösse  des 
Eingriffs  mehr  oder  minder  schwere  Schädigung.  Es  ist 
wahrscheinlich,  dass  diese  Zone  zur  Bildung  der  Gefühls- 
vorstellungen benutzt  wird,  aber  nicht  wahrscheinlich,  dass 
sie  die  einzige  Region  ist,  welche  diesem  Zwecke  dient. 

Die  Restitution  der  motorischen  und  sensiblen  Func- 
tionen ist  niemals  vollständig.  Im  Princip  müssen  immer 
irgend  welche  Störungen  zurückbleiben,  auch  wenn  die 
Methode  oder  die  Geschicklichkeit  des  Untersuchers  zu  ihrer 
Auffindung  nicht  hinreicht.  Nach  grossen  und  namentlich 
doppelseitigen  Ausschaltungen  sind  residuale  Symptome 
aber  unschwer  nachzuweisen.  Die  Restitution  beruht  also 
zum  Theil  auf  dem  Verschwinden  der  Nflchbarschaf  ts- 
symptome,  zum  Theil  (vielleicht)  auf  der  Erstarkung  der 
zweiten  Hemisphäre,  zum  Theil  auf  Bahnung  und  Erstarkung 
im  Gebiete  der  Haubenbahn. 

Die  Hemmung  spielt  nach  Eingriffen  in  die  motorische 
Zone  wahrscheinlich  nur  insofern  eine  Rolle,  als  durch  sie 
vorübergehend  nicht  direkt  geschädigte,  sensible  subcorti- 
cale  Centren  ausser  Function  gesetzt  werden.  Ebensowohl 
wie  diese  können  aber  auch  andere  Endstätten  centripetaler 
Nerven,  mindestens  diejenigen  des  Opticus  durch  so  locali" 
,sifte  Eingriffe  vorübergehend  in  ihrer  Function  gehemmt 
werden.  Die  Bedingungen  dieser  Art  von  Fernewirkung,  ihre 
Stellung  im  cerebralen  Mechanismus  und  ihre  Bedeutung 
mi^issen  durch  neue  Versuche  erst  noch  festgestellt  werden. 


—     153     — 

Nicht  anders  wie  für  die  motorische  liegen  die  Dinge  für 
die  Sehregion.  Es  ist  sicher,  dass  sie  zum  Sehen  in  directen 
Beziehungen  steht,  aber  welches  diese  Beziehungen  sind  und 
insbesondere  wie  sie  sich  örtlich  gestalten,  ist  für  den  Hund 
jedenfalls  noch  dunkel.  Sicher  ist  auch  hier  für  die  Seh- 
sphäre, dass  Eingriffe  in  dieselbe  zu  Hemmungen  subcorti- 
cale'r,  zu  dem  Sehen  in  Beziehung  stehender  Organe  führen 
können.  Aber  auch  hier  ist  eine  sichere  Abgrenzung  der 
directen  corticalen  von  der  indirecten  subcorticalen  Schädi- 
gung noch  nicht  gelungen. 

Für  die  sensomotorische  Seite  ist  im  höchsten  Grade 
wahrscheinlich  gemacht,  —  vergleiche  meine  Arbeit  über 
den  Schwindel^)  —  dass  in  den  subcorticalen,  vornehmlich 
spinalen  und  cerebellaren,  vielleicht  auch  Centren  des  Mit- 
telhirns  eine  allmählige  fortschreitende  Verknüpfung  und 
Ausarbeitung  der  Bewegung  und  gewisser  zugehöriger  Em- 
pfindungen stattfindet,  deren  Endresultat  in  der  Formation 
von  Bewegungsvorstellungen  niederer  Ordnung  besteht, 
welche  A^on  dem  Bewusstsein  durch  Vermittelung  der  zuge- 
hörigen corticalen  Regionen  als  Bewegungsvorstellungen  im 
Ganzen  appercipirt  werden,  ohne  dass  diesen  ein  Eindringen 
in  die  Einzelheiten  der  subcorticalen  Vorgänge  gegeben  wäre. 

Hiernach  und  nach  Allem,  was  wir  sonst  über  die  sensi- 
blen und  sensuellen  Eigenschaften  des  Centraluervensystems 
wissen,  ist  es  gleicherweise  wahrscheinlich,  dass  auch  die 
anderen  von  den  Sinnesorganen  aufgenommenen  Bewe- 
gungsvorgänge der  Aussenwelt  subcortical  verknüpft  und 
ausgearbeitet  werden,  um  endlich  cortical  in  ihrem  Ganzen 
zur  Apperception  zu  gelangen,  ohne  dass  dem  Bewusstsein 
das  Eindringen  oder  die  Analyse  jener  vorbereitenden  Pro- 
cesse  gestattet  wäre. 

Meine  Auffassung  unterscheidet  sich  sonach  von  der  ihr 
am  nächsten  stehenden  Munk's  im  Wesentlichen  dadurch, 
dass  ich  keine  „Fühl-,  Seh-,  Hör-  oder  ähnliche  Sphären", 
sondern  nur  Vorstellungs-  oder  Bewusstseinssphären  kenne, 
und  dass  ich  in  diesen  nicht,  wie  Munk,  die  Gefühle,  sondern 
nur  die  Gefühlsvorstellungen  ebenso  wie  alle  anderen  Vor- 
stellungen localisire. 


1)  E.  Hitzig,  Der  Schwindel.    Nothnagel's  Specielle  Pathologie  und 
Therapie.    Bd.  XII.  2.    Wien  1898. 


154 


Es  ist  ersichtlich,  dass  jeder  Fortschritt  auf  diesem  Ge- 
biete, dafern  er  durch  wirklich  naturwissenschaftliche  Me- 
thoden gewonnen,  irgend  eine  Thatsache  sicher  feststellt, 
unserer  psychologischen  Erkenntniss  zu  Gute  kommen,  mit 
einem  Worte  dem  Fortschritt  unserer  Einsicht  in  das  Wesen 
der  Bewusstseinserscheinungen  dienen  muss.  Ich  habe  von 
jeher  hierin  den  grössten  Werth  der  von  mir  und  anderen  aus 
diesem  Gebiete  gefundenen  Thatsachen  erblickt  und  ich  bin 
glücklich,  dass  es  mir  im  Verein  mit  meinem  Freunde  Fritsch 
beschieden  war,  diesen  Weg  zuerst  zu  betreten.  Aber  es  hat 
mir  genügt  und  wird  mir  genügen,  den  Philosophen  einen 
Theil  desjenigen  Materials  zu  liefern,  mit  dem  sie  ihr  Lehr- 
gebäude aufzubauen  haben;  ich  selbst  gedenke  auch  ferner- 
hin nicht,  mich  mit  der  Ergründung  des  Psychologischen,  in- 
soweit es  jenseits  der  vorstehend  gezogenen  Grenzen  liegt, 
zu  beschäftigen. 


IV.  Ueber  die  Beziehungen  der  Rinde  und  der  subcorticalen 
(janglien  zum  Seliact  des  Hundes. 


Vorbemerkungen. 

Bei  den  älteren  der  in  diesen  Abhandlungen  referirten  Versuche  war 
das  antiseptische  Verfahren  derart  in  Anwendung  gebracht  worden,  dass 
die  Wunden  mit  schwachen  Karbol-  oder  Sublimatlösuugen  vor  ihrer 
Vereinigung  durch  die  Naht  behandelt  wurden.  Bei  einer  grösseren 
Anzahl  dieser  Versuche  wurden  solche  Lösungen  jedoch  nach  Eröffnung 
des  Duralsackes  fortgelassen.  Ein  Unterschied  zwischen  den  Resultaten 
der  einen  und  der  anderen  Reihe  dieser  Versuche  war  zwar  nicht  zu 
bemerken;  gleichwohl  wurde  in  allen  späteren  Versuchen  ausschliesslich 
das  aseptische  Verfahren  angewendet,  und  die  durch  Knopfnähte  sorg- 
fältig verschlossene  Wunde  mit  Jodoformkollodium  überpinselt.  Die 
Heilung  erfolgte  unter  diesen  Umständen  so  gut  wie  ausnahmslos  per 
primam  intentionem;  nur  mauchmal  kam  es  zu  einer  unerheblichen  auf 
die  Haut  des  unteren  Wundwinkels  beschränkten,  das  Gehirn  nicht  in 
Mitleidenschaft  ziehenden  Eiterung.  Immerhin  gab  es  auch  einige  Fälle 
von  copiöser  Eiterung  der  ganzen  Wmidhöhle.  Wo  solche  Versuche 
benutzt  werden,  bei  denen  nicht  alles  glatt  ablief,  ist  dies  ausdrück- 
lich erwähnt. 

Die  Ergebnisse  der  Sectionen  wurden,  insoweit  sie  nicht,  wie  bei 
den  späteren  Versuchen,  photographisch  fixirt  werden  konnten,  in  vor- 
handene Schemata  eingetragen.  Da  keine  Convexität  des  Hundegehirns 
einer  anderen  vollkommen  gleich  ist,  können  diese  Eintragungen,  wie 
ich  ausdrücklich  hervorhebe,  nur  ein  ganz  ungefähres  Bild  von  dem  Ort 


—     156     — 

und  der  Grösse  der  operativ  erzeugten  Veränderungen  geben.  Auch 
die  in  den  späteren  Abtlieilungen  dieser  Abliandlung  reproducirten 
Photograpliien  geben  kein  getreues  Bild  der  ursprünglich  angerichteten 
Zerstörungen  wieder.  Auf  den  Abbildungen  der  Convexität  pflegt  die 
narbige  Auflagerung  sich  auf  solche  Nachbartheile  zu  erstrecken,  welche 
bei  der  Operation  bestimmt  geschont  worden  sind.  Andererseits  zeigen 
die  Querschnitte  an  solchen  Stellen  intacte  oder  nur  wenig  veränderte 
Hirnsubstanz,  an  denen  durch  Entfernung  eines  compacten  Stückes  Ge- 
hirn mit  aller  Sicherheit  eine  tiefe  Grube  gegraben  worden  ist.  Diese 
Erfahrungen  erklären  sich  einfach  dadurch,  dass  die  Nachbartheile  sich 
in  die  Lücke  hineinlegen,  während  gleichzeitig  die  von  der  exstirpirten 
Stelle  ausgehenden  Bahnen  atrophiren.  Ich  möchte  dies  ausdrücklich 
hervorheben,  um  solchen  Einwendungen,  die  sich  auf  eine  scheinbare 
Unähnlichkeit  zwischen  dem  Berichte  über  die  Operation  und  der  Ab- 
bildung stützen  möchten,  zu  begegnen.  — 

Die  Untersuchung  des  Sehvermögens  wurde  bei  deii  nachstehend 
benutzten  Versuchen  regelmässig  in  der  Schwebe  vorgenommen.  Ausser- 
dem wurden  die  auf  diese  Weise  gewonnenen  Resultate  aber  in  zahl- 
reichen Fällen  derart  controlirt,  dass  der  auf  einem  Tische  befindliche 
Hund  durch  eine  Schüssel  Gemüse  oder  in  anderer  Weise  beschäftigt 
und  sein  Gesichtsfeld  während  dieser  Zeit  mit  einem  kleinen  Stück 
Fleisch  in  der  früher  beschriebenen  Weise  abgesucht  wurde.  In  geeig- 
neten Fällen  wurde  der  auf  den  Hinterbeinen  stehende  Hund  zwischen 
den  Knieen  fixirt  und  in  der  erwähnten  Weise  untersucht,  oder  es  wur- 
den ihm  Fleischstücke  vorgeworfen,  während  er  mit  einseitig  verbun- 
denem Auge  frei  umherlief.  — 

Ich  bin  bei  diesen  Versuchen  der  Reihe  nach  von  verschiedenen 
meiner  Assistenten  unterstützt  worden;  vornehmlich  bin  ich  aber  meinem 
z.  Assistenten  Herrn  Dr.  Kalberiah  zu  besonderem  Danke  verpflichtet, 
insofern  derselbe  mir  bei  ca.  80  Versuchen  assistirte,  die  Krankenge- 
schichten niederschrieb  und  zahlreiche  Zeichnungen  und  Photographien 
für  mich  anfertigte. 


Unter  den  verschiedenen  Streitfragen,  die  ich  in  der  vorstehenden 
Abhandlung  berührt  habe,  sticht  vornehmlich  eine  durch  ihre  princi- 
pielle  Wichtigkeit  hervor.  Ich  rede  von  der  Localisation  des  Seh- 
vermögens. 

Die  historische  Seite  dieser  Frage,  die  Entwicklung,  welche  sie  im 
Laufe  der  Jahre  genommen  hat  und  den  zeitigen  Standpunkt,  von  dem 


—     157     — 

eine  Anzahl  hervorragender  Forscher  sie  zur  Zeit  betrachten ,  habe  ich 
in  grossen  Zügen  dargelegt,  so  dass  ich  darauf  im  Einzelnen  hier  nicht 
zurückzukommen  brauche.  Ich  recapitulire  nur  kurz,  dass  es  nach  der 
Ansicht  von  Munk  nur  eine,  auch  beim  Hunde  scharf  abgegrenzte  Seh- 
sphäre im  Hinterhauptslappen  derart  giebt,  dass  Sehstörungen  nur  durch 
Eingriffe  in  diese  Sehsphäre  entstehen,  während  solche  Sehstörungen 
nach  den  Angaben  zahlreicher  anderer  Autoren  auch  nach  Eingriffen 
in  gewisse  andere'  oder  alle  anderen  Regionen  der  Convexität  zu  Stande 
kommen. 

In  rein  thatsächlicher  Beziehung  hat  insofern  eine  Annähei'ung 
der  einzelnen  Lager  stattgefunden,  als  alle  Autoren,  sogar  Goltz  und 
Loeb,  die  schärfsten  Gegner  Munk 's,  dem  Hinterhauptslappen  beson- 
dere oder  besonders  nahe  Beziehungen  zu  dem  Sehacte  zugestehen; 
aber  hiermit  hat  die  Uebereinstimmung  auch  ihr  Ende  gefunden.  Nach 
Munk  findet  eine  Projection  der  Retina  auf  die  Sehsphäre  derart  statt, 
dass  eine  verschiedene  Localisation  jedes  Eingriffes  in  die  letztere  auch 
verschiedene  Theile  der  Retina  dauernd  ausser  Function  setzt,  so  dass  auf 
diese  Weise  ganz  verschieden  geartete  Skotome  zu  Stande  kommen,  während 
die  Gegner  Munk's,  insoweit  sie  sich  genauer  über  diese  Frage  aus- 
sprechen, darin  übereinstimmen,  dass  jede  durch  corticale  Läsionen 
veranlasste  Sehstörung  einen  hemianopischen  Charakter  an  sich  trage. 
Im  Ferneren  besteht  Munk  auf  der  Ansicht,  dass  jede  so  erzeugte  Seli- 
störung  unmittelbar  aus  der  Störung  der  entsprechenden  Rindenelemente 
resultire,  während  Goltz  mit  seiner  Schule  keine  solche  Sehstörung 
direct  aus  der  Verletzung  der  Rinde,  sondern  indirect  aus  einer  Hem- 
mung der  Function  der  subcorticalen  Ganglien  entstehen  lässt.  Die 
Forscher  der  italienischen  Schule  endlich  beziehen  zwar  ähnlich  wie 
Munk  jede  so  hervorgebrachte  Sehstörung  direct  auf  die  Rinde,  aber 
sie  gestehen  die  Eigenschaft,  Sehstörungen  hervorzubringen,  wie  bereits 
erwähnt,  nicht  nur  der  Sehsphäre,  sondern  der  ganzen  Convexität  oder 
doch  einem  grossen  Theile  derselben  zu. 

Die  am  Menschen  gemachten  Erfahrungen  über  corticale  Sehstö- 
rungen sind  bei  diesen  physiologischen  Untersuchungen  am  Hunde  mit 
Recht  gänzlich  bei  Seite  gelassen  worden.  Denn  die  Betheiligung  der 
Rinde  beim  Sehact  vollzieht  sich,  wie  gerade  diese  Erfahrungen  lehren, 
beim  Menschen  sicherlich  unter  ganz  anderen  Formen.  Aber  gerade 
diese  Verschiedenheit  wird,  wenn  erst  einmal  die  Thatsachen  sicher- 
gestellt und  zutreffend  erklärt  sind;,  weitergehende  Schlüsse  auf  den 
Mechanismus  des  Sehens  und  auf  dessen  Rolle  in  dem  cerebralen  Mecha- 
nismus überhaupt  gestatten. 


—     158     — 

Abgesehen  davon  ist  die  Frage  von  höclistem  principiellen  Inter- 
esse für  die  Theorie  der  Localisation  und  der  Vorstellungen  von  den 
corticalen  Vorgängen  im  Allgemeinen,  ob  die  einzelneu  Functionen  thatsäch- 
lich  auf  mehr  oder  minder  umschriebene  Rindengebiete  derart  angewiesen 
sind,  dass  jede  einzelne  derselben,  insoweit  sie  zum  Bewusstsein  kommt, 
an  die  Existenz  des  ihr  zugehörigen  Rindengebietes  gebunden  ist,  oder 
ob  eine  Vermischung  der  die  einzelnen  Rindenfuuctionen  tragenden  Ele- 
mente auf  weiten  Flächen  derart  stattfindet,  dass  die  Function  einer 
bestimmten  ausgeschalteten  Region  von  einer  andern  weit  entfernten 
Region  übernommen  werden  kann. 

Sicherlich  lässt  sich  von  vornherein  nicht  verkennen,  dass  es  sehr 
schwierig  sein  würde,  sich  eine  annehmbare  anatomische  Vorstellung 
von  einer  solchen  Anordnung  der  corticalen  Elemente  und  der  zuge- 
hörigen Leitungsbahnen  zu  bilden,  bei  der  ein  Gebiet,  welches  nach- 
weislich jedenfalls  in  sehr  ausgesprochenen  Beziehungen  zur  Bewegung 
steht,  gleichzeitig  zur  bowussten  Vermittelung  des  Sehactes  befähigt 
sein  soll.  Indessen  können  derartige  aprioristische  Schwierigkeiten  für 
unser  Urtheil  nicht  bestimmend  sein:  wie  überall  hat  auch  hier  der 
Versuch  zu  entscheiden. 

Hiernach  werden  folgende  Fragen  zu  lösen  sein: 

1.  Entstehen  corticale  Sehstörungen  thatsächlich  nur 
durch  Eingriffe  in  die  von  Munk  sogenannte  Sehsphäre  oder 
können  sie  auch  durch  Eingriffe  in  andere  corticale  Gebiete 
hervorgebracht  werden  und  welches  sind  diese  Gebiete? 

2.  Welcher  Art  sind  die  durch  corticale  Läsionen  her- 
vorgebrachten Sehstörungen,  sind  sie  hemianopischer  Natur 
oder  nicht,  insbesondere  entsprechen  sie  den  Lehren  Munk's? 

3.  Sind  diese  Sehstörungen  sämmtlich  oder  zum  Theil 
direct  auf  die  Verletzung  der  Rinde  zu  beziehen,  oder  ent- 
stehen sie  sämmtlich  oder  zum  Theil  durch  Vermittelung  der 
subcorticalen  Gebilde? 


L    Die  Beziehungen  einzelner  Regionen  der  Hirnrinde  zur 
Hervorbringung  von  Sehstörungen. 

Die  vordere  Grenze  der  Sehspliäre  ist  nach  Munk^)  „scharf 
charakterisirt  1.  durch  ihre  Lage  vor  dem  Balkenwulste;  2.  durch  das 
ungefähr  dreieckige,    etwas    mehr  lange  als  breite  Stück,    welches    sie, 


1)  n.  Munlc,  Gesammelte  Mittheilungen.   1890.   S.  247. 


—     159     — 

in  Verbindung    mit    dem  vorderen  Ende   der  lateralen  Grenze  der  Seh- 
sphäre,   von    der    dritten  Windung    abschneidet;  3.  dadurch,    dass  ihre 


Fig.  15.    A  A-^  Sehsphäre,  B  B-,^  Hörsphäre,  G.  Ohrregion  nach  Munk. 


Verlängerung  lateralwärts  auf  den  am  weitesten  nach  hinten  gelegenen 
Punkt  der  die  vierte  Windung  abschliessenden  Furche  stösst  oder  dicht 
vor  oder  hinter  diesen  Punkt  fällt."  Die  genaue  Richtigkeit  dieser  Grenz- 
linie hat  Munk^)  von  Monakow  gegenüber  in  einer  aus  dem  Jahre 
1890  herrührenden  Anmerkung  zu  seiner  16.  Mittheilung  und  ferner 
Luciani  gegenüber  in  einer  seiner  letzten  Mittheilungen 2)  nachdrück- 
lich aufrecht  erhalten.  An  der  zuletzt  erwähnten  Stelle  führt  er  an, 
dass  ihm  neuerdings  vorgenommene  kleinere  Exstirpationen,  wenn  sie 
selbst  mit  ihrer  hinteren  Grenze  jene  Grenze  seiner  Sehsphäre  berühr- 
ten, keine  Sehstörungen  ergaben,  dass  sie  aber,  sobald  sie  um  etwas 
weiter  nach  hinten  reichten,  Sehstörungen  zur  Folge  hatten. 

Gegen  die  in  dem  letzten  Satze  scharf  charakterisirie  Lehre  von 
Munk  sind  nun,  wie  mehrfach  erörtert,  zahlreiche  Forscher  aufgetreten. 
Vor  Allem  waren  es  Goltz  und  seine  Schüler,  vornehmlich  Loeb,  welche 
behaupteten,  dass  Sehstörungen  von  allen  Theilen  der  Convexität  aus 
hervorzubringen  seien;  ja,  der  letztgenannte  Autor  wollte  sogar  gefun- 
den haben,  dass  die  allerschwersten  Sehstörungen  gerade  durch  Exstir- 
pationen des  vorderen  Poles  der  Hemisphäre  entstünden.  Munk  hat 
sich  gegen  diese  Angriffe  sehr  energisch  gewehrt  und  da  ich  selbst 
in  meiner  vorigen  Abhandlung  nachgewiesen  habe,  aus  welchen  Grün- 
den die  Angaben  dieser  Autoren  für  die  uns  jetzt  beschäftigende  Frage 


1)  Ebenda  S.  314. 

2)  H.  Munk,  Ueber   die  Ausdehnung  der  Sinnessphären  in  der  Gross- 
hrnrinde,    Sitzungsberichte  1899.  LH.   S.  6 f. 


—     160     — 

nicht  zu  verwertlieu  sind,  so  komme  ich  hier  nicht  noch  einmal  darauf 
zurück. 

Gegen  die  Angriffe  von  Luciani  und  Sepilli  hat  Munk  sich 
gleichfalls  nicht  ohne  Berechtigung  vertheidigfi).  Er  bemängelt  die 
Operationsmethoden  dieser  Autoren,  insbesondere  wohl  die  Ausfüllung 
der  Hirnwunde  mit  karbolisirten  Schwammstückchen,  ihre  Offenhaltung 
und  ihre  Behandlung  mit  Karbollösungen  während  der  Wundheilung. 

Ich  selbst 2)  hatte  angegeben,  dass  man  nach  Exstirpation  des  Stirn- 
lappens neben  allerhand  motorischen  Störungen  auch  Sehstörungen  beob- 
achten kann.  Munk 3)  hat' dagegen  bemerkt,  „dass  lediglich  unbrauch- 
bare Versuche  vorlagen,  bei  welchen  die  Hemisphäre  weit  über  den 
Stirnlappeu  hinaus  angegriffen  W'ar."  Es  ist  richtig,  dass  die  Läsion 
sich  bei  diesen  Fällen  über  den  Stirnlappen  hinaus  erstreckte.  Sie 
erstreckte  sich  jedoch  nur  auf  den  Gyrus  sigmoides  und  dessen  laterale 
und  basale  Nachbarschaft,  so  dass  ihre  mangelhafte  Localisation  nichts 
destoweniger  nicht  das  Geringste  im  Sinne  Munk's  beweisen  würde. 
Gleichwohl  gebe  ich  diese  Versuche,  eben  da  sie  nicht  genau  localisirt 
waren,  Herrn  Munk  sehr  gern  preis. 

Exner  und  Paneth*)  haben  endlich  an  6  Hunden  Exstirpationen 
im  Bereiche  des  Gyrus  sigmoides  ausgeführt,  „und  in  fünf  dieser  Fälle 
Sehstörungen  beobachtet,  welche  bis  zu  vier  Wochen  anhielten."  In 
keinem  war  durch  Obduction  irgend  eine  Abnormität  in  der  hinteren 
Hälfte  der  Gehirnconvexität  oder  ihrer  Häute  nachweisbar,  noch  irgend 
eine  Veränderung  an  der  Basis  u.  dergl.,  welche  eine  Erklärung  der 
Sehstörung  abgeben  könnte.  Ferner  beobachteten  diese  Autoren  in  6 
anderen  Versuchen,  bei  welchen  durch  eine  nicht  beschriebene  Operation 
der  Gyrus  sigmoides  und  seine  nächste  Umgebung  schwer  geschädigt 
wurde,  jedesmal  Sehstörungen,  welche  bis  zu  5  Wochen  anhielten.  „Die 
Heilung  war  in  der  grössten  Mehrzahl  der  Fälle  per  primam  intentio- 
neni  erfolgt."  „Zwei  weitere  Hunde,  denen  das  Rindenfeld  des  Facialis 
einseitig  exstirpirt  war,  zeigten  keine  Sehstörungen." 

Ich  sehe  nicht,    dass  Munk    diese  Versuche    irgendwie    bemängelt 


1)  H.  Munk,    Ueber   die  Ausdehnung    der  Sinnessphären  in  der  Gross- 
hirnrinde.   Sitzungsberichte  1899.   LH.   S.  3. 

2)  E.  Hitzig,   Zur  Physiologie  des  Grosshirns.    Archiv  für  Psychiatrie. 
Bd.  15.    S.  271. 

3)  H.  Munk.  Ueber  die  Ausdehnung  der  Sinnessphären.   Sitzungsberichte 
1900.   XXXVl.   S.  If. 

4)  Exner  und  Paneth,    Ueber  Sehstörungen   nach  Operationen  im  Be- 
reich des  Vorderhirns.    Pflüser's  Archiv  Bd.  XXXX.   1886. 


—     161     — 

oder  auch  nur  erwähnt  hat.  Dagegen  beruft  er  sich  in  der  zuletzt  an- 
geführten Mittheilung  auf  zwei  Affen,  bei  denen  vorübergehende  Seh- 
störungen nach  Abtrennung  beider  Stirnlappen  eingetreten  waren.  „In 
dem  einen  Falle  gaben  das  Fieber  und  die  müssige  Benommenheit  eine 
leichte  Meningitis  zu  erkennen,  in  dem  anderen  Falle  deckte  die  Section 
ein  ansehnliches  Blutgerinnsel  an  der  einen  Trennuugsstelle  zwischen 
den  Schnittflächen  auf,  so  dass  die  Hemisphäre  einem  abnormen  Druck 
ausgesetzt  war."  Ich  habe  in  meiner  vorigen  Abhandlung  bereits  aus- 
einandergesetzt, dass  und  aus  welchen  Gründen  diese  beiden  Fälle, 
wenn  die  gemachten  Angaben  vielleicht  auch  das  Auftreten  von  Seh- 
störungen  für  diese  beiden  Fälle  erklären  können,  dennoch  nicht  ge- 
nügen, um  die  abweichenden  Angaben  so  vieler  anderer  Autoren  zu 
entkräften. 

Eine  weitere  Berücksichtigung  der  Literatur  halte  ich  für  unnütz. 
Denn  es  geht  aus  dem  Gesagten  zur  Genüge  hervor,  dass  Munk  an 
seiner  alten  Ansicht  ungeachtet  aller  abweichenden  Befunde  anderer 
Autoren  festhält,  indem  er  diese  durch  Versuchsfehler  und  Nebenwir- 
kungen erklärte,  also  auf  eine  Beleidigung  der  Sehsphäre  bezog.  Die 
aufgeworfene  Frage  bedurfte  daher  zu  ihrer  definitiven  Entscheidung 
einer  erneuten  Bearbeitung. 

Zunächst  war  es  erforderlich,  den  operativen  Eingriff  in  die  Rinde 
so  zu  gestalten,  dass  die  etwa  zu  erhebenden  und  wirklich  erhobenen 
Einwände  gegen  seine  Localisation,  soweit  dies  überhaupt  möglich  ist, 
abgewiesen  werden  konnten.  Unzweifelhaft  konnte  man  dem  Einwurfe, 
dass  irgend  welche  Symptome  durch  Nebenvei'letzungen  hervorgerufen 
seien,  am  sichersten  dadurch  begegnen,  dass  man  überhaupt  keine  Ver- 
letzung der  Pia  anrichtete,  sondern  die  Pia  einfach  freilegte  und  ab- 
wartete, ob  dann  noch  irgendwelche  Störungen,  insbesondere  Sehstö- 
rungen eintreten  würden. 

Exner  und  Paneth  (a.  a.  0.)  haben  über  zwei  ähnliche  Versuche, 
welche  ohne  Sehstörungen  verliefen,  berichtet.  Die  Stelle  lautet  wört- 
lich: „Dagegen  fehlte  jede  Sehstörung  vollständig  in  zwei  zur  Controlle 
ausgeführten  Experimenten,  in  welchen  die  Operation  genau  wie  in 
frühereu  bis  zu  den  Verletzungen  der  Pia  mater  (inclusive)  durchgeführt, 
dann  aber  innegehalten  wurde,  so  dass  die  Rinde  selbst  intact  blieb." 
Ich  muss  gestehen,  dass  mir  diese  Stelle  insofern  unverständlich  ge- 
blieben ist,  als  ich  nicht  einsehe,  wie  die  Rinde  intact  bleiben  kann, 
wenn  man  die  Pia  mater  verletzt.  Vielleicht  erfahren  wir  durch  Exner 
noch  Näheres.  — 

Wenn  ich  mich  in  den  folgenden  Abhandlungen  zu  der  eine  grosse 
Mühe    verursachenden    zusammenfassenden  Wiedergabe  zahlreicher  Ver- 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     H.  Theil.  H 


—     162     — 

suclisprotokolle  im  Gegensatz  zu  dem  von  Munk,  Goltz,  Loeb,  und 
auch  von  mir  selbst  früher  geübten  Verfahren  entschlossen  habe,  so  ge- 
schah dies  eben  deshalb,  weil  eine  Verständigung  durch  das  bisherige 
Verfahren  nicht  herbeigeführt  ^Yorden  ist.  In  der  That  steht  bei  dem- 
selben Behauptung  gegen  Behauptung,  ohne  dass  ein  greifbares  Object 
für  die  Discussion  gegeben  wäre. 

Ich  will  nun  zunächst  eine  Anzahl  von  solchen  Versuchen  mit- 
theilen, bei  denen  ich  lediglich  die  Pia  freigelegt  hatte,  ohne  sie  zu 
verletzen.  Alle  diese  Versuche  sind  vor  dem  Jahre  1891  angestellt 
worden.  Ich  werde  bei  Wiedergabe  dieser  Beobachtungen,  und  zwar  aus 
später  ersichtlich  werdenden  Gründen,  auch  die  sich  nicht  auf  das  Sehen 
beziehenden  Symptome  anführen,  im  üebrigen  aber  mich  auf  das  Noth- 
wendigste  beschränken. 

A.    Einfache    Freilegung    der    Pia. 
a)  Versuche  am  Gyrus  sigmoides. 

Mittelgrosser  Hund.  Aufdeckung  vorn  rechts.  Schädellücke  rechteckig; 
sagittal  17,  frontal  22  mm.    Pia  unverletzt. 

Motilitätsstörungen:  Links  mittelstark  bis  zum  Tode;  lässt  beide 
linken  Beine  über  den  Tischrand  hängen  und  aufsetzen. 


Pia-.  16. 


In    der   Schwebe:    Haltung  in  den  ersten  Tagen  charakteristisch,  am 
Tage  nicht  mehr.    Auf  Begreifen  links  nichts,  rechts  gut  bis  zum  Tode. 


— .    163     — 

Seh  Störung  fehlend;  nimmt  kleine  Stückchen  Fleisch  auch  bei  ver- 
klebtem rechten  Auge  links  überall  ebenso  gut  wie  rechts. 

Optische  Reflexe:  rechts  alle  gut,  links  fehlen  sie  gänzlich. 

Am  6.  Tage  Tod  durch  Herzexstirpation. 

Section:  Der  ganze  Gyrus  sigmoides  und  der  vordere  Theil  des  Orbi- 
culariscentrums  pilzartig  herausgewölbt.  Auf  einem  Durchschnitt  durch  die 
Mitte  des  Gyrus  sigmoides  sehr  zahlreiche  kleinere  und  grössere  Extravasate 
in  der  weissen  und  grauen  Substanz,  namentlich  kranzförmig  unter  dem  Kno- 
chenrand und  in  dem  subarachnoidealen  Gewebe  der  2.  Urwindung.  Die  graue 
Substanz  ist  bereits  merklich  entfärbt,  namentlich  auch  auf  dem  Durchschnitt 
durch  den  lateralen  Theil  der  2.  Urwindung. 

Beobachtung:  lO. 

Kleiner  Pinscher.  Schädellücke  rechts  vorn  sagittal  16,  frontal  20  mm. 
Der  Gyrus  sigmoides  und  das  entsprechende  Stück  des  lateral  von  ihm  be- 
legenen Gyrus  liegt  frei.    Pia  unverletzt. 

Motilitätsstörungen:  Links  ziemlich  hochgradig  vom  2.  Tage  an, 
dann  allmählig  abnehmend.  Am  14.  Tage  lässt  er  nur  noch  über  Tischrand 
hängen. 

In  der  Schwebe:  Beim  Begreifen  links  vorn  und  hinten  keine  Reaction, 
am  15.  Tage  wieder  gute;  rechts  stets  gute  Reaction. 


Fig.  17. 

Sehstörung:  Sieht  am  2.  Tage  links  nur  im  schmalen  nasalen  Ge- 
sichtsfeldstreifen. Keine  Reaction  auf  Lichi.  Die  Sehstörung  hat  schon  am 
3.  Tage  sehr  abgenommen,  am  5.  auch  bei  verklebtem  rechtem  Auge  gar  nicht 
mehr  nachweisbar. 

Optische  Reflexe:   Rechts  gut,  links  fehlen  sie  bis  zum  15.  Tage. 

11* 


164 


Am  15.  Tage  Tod  durch  Herzexstirpation.  Der  Prolaps  des  Gehirns  war 
in  den  ersten  Tagen  sehr  deutlich,  dann  allmählig  weniger  deutlich  durch  die 
Haut  durchzufühlen. 

Sectio n:  Blossgelegt  Avar  der  ganze  vordere  Schenkel  des  Gyrus  sig- 
moides  von  dem  hinteren  nur  die  Hälfte,  ferner  das  correspondirende  Stück  der 
2.  ürwindung.  Ein  medialer  Streifen  des  Gyrus  sigmoides  von  2  mm  Breite 
war  von  Knochen  bedeckt.  Auf  einem  Prontalschnitt  durch  die  Mitte  des  Gyrus 
sigmoides  erscheint  die  graue  Substanz  auf  der  Höhe  des  Gyrus  sigmoides  so- 
wohl wie  auf  dem  lateralen  Bogen  vollkommen  entfärbt,  weiss.  Auch  die  Rinde 
der  2.  Ürwindung  ist  sehr  stark  entfärbt.  Die  Entfärbung  dehnt  sich  sogar 
noch  mehr  seitlich  ans,  wenn 'auch  in  geringerem  Maasse. 

Beobachtung'  11. 

Abtragung  des  Schädeldachs  und  der  Dura  vorn  links,  sagittal  22,  fron- 
tal 22  mm.    Der  ganze  Gyrus  sigmoides  liegt  frei.    Pia  unverletzt. 

Motilitätsstörungen:  Am  2.  Tage  nicht  nachweisbar,  dann  massig 
stark,  vom  8.  Tage  an  abnehmend.  Setzt  am  2.  Tage  beim  Kitzeln  das  rechte 
Vorderbein  langsamer  fort  als  das  linke. 

In  der  Schwebe:  Beim  Begreifen  Fehlen  der  Reaction,  am  22.  Tage 
noch  stark  abgeschwächt. 

Seh  Störung:  Hemiamblyopie  vom  2.  Tage  an,  vom  8.  Tage  an  abneh- 
mend, am  22.  Tage  noch  undeutlich  nachweisbar.  Der  Hund  sieht  während 
der  gedachten  Zeit  Fleisch  zwar  überall,  erkennt  es  aber  in  der  amblyopischen 
Partie  erst,  nachdem  er  das  erste  Stück  erhalten  hat.  —  Auch  links  ein  am- 
blyopischer  Streifen. 

Optische  Reflexe:  fehlen;  am  22. Tage  gegen  flache  Hand  vorhanden. 

Tod  am  33.  Tage. 


Fio-.  18. 


Section  (Morgens  in  meiner  Abwesenheit):  Hirn  nicht  in  der  Schädel- 
lücke, sondern  Weichtheile  hineingezogen.  Dem  Präparat  sitzt  Muskelmasse 
ohne  irgend  welche  Hervorwölbung  des  Hirns  auf. 


165 


Oeobadatviiig-  13. 

Kleiner  Hund.  Schädellücke  links  sagittallö,  frontal  14  mm,  aufgedeckt 
hinterer  Schenkel,  vom  vorderen  nur  ein  schmaler  Streifen.  Keine  Verletzung 
der  Pia. 

Motilitätsstörungen:  Sehr  gering,  nur  unter  besonderen  Umständen 
nachweisbar.      Am  2,  Tage    angedeutet.     Am    3.    und    4.  Tage   Ausrutschen 


Fig.  19. 

der  rechten  Hinterpfote  beim  Krabbeln  am  Halse.  Lässt  am  5.  Tage  beim 
Saufen  die  rechte  Hinterpfote  leichter  dislociren. 

In  der  Schwebe:  Keine  wesentlichen  Anomalien. 

Sehstörung:  Beachtet  am  3. — 5.  Tage  Fleisch  rechts  weniger  schnell 
als  links. 

Optische  Reflexe:  Reagirt  am  2. — 5.  Tage  auf  flache  Hand  beider- 
seits mit  einmaligem  Lidschluss,  auf  schmale  Hand  rechts  manchmal,  manch- 
mal nicht,  links  immer. 

Am  22.  Tage  getödtet. 

Seotion:  Schädellücke  durch  bindegewebige  Membran  geschlossen, 
Hirn  an  Dura  nur  an  den  Rändern,  sonst  nirgend  adhärent.  Hirn  und  Dura 
absolut  normal  aussehend. 


Beobachtung-  13. 

Mittelgrosser  Pinscher.  Schädellücke  annähernd  19  mm  sagittal,  19  mm 
frontal  über  Gyrus  sigmoides  rechts.    Blutung  gering.    Pia  unverletzt. 

Motilitätsstörungen:   Hochgradig,  auch  in  den  Rückenmuskeln. 

In  der  Schwebe:  Links  beim  Begreifen  keine  Reaction. 

Sehstörung:  Am  2.  Tage  fehlt  links  die  Reaction  auf  Licht;  am  dritten 
Tage  sieht  er  links  offenbar,  da  er  Armbewegungen  und  Fleisch  folgt,  jedoch 
ist  die  Reaction  anders,  weniger  energisch,  langsamer  als  rechts.  .Jedenfalls 
ist  eine  Sehstörung  vorhanden.  Mehr  lässt  sich  nicht  feststellen,  da  der  Hund 
scheu  ist. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  rechts  und  links  gegen  schmale  Hand,  links 
auch  gegen  flache  Hand. 


—     166     — 

Getödtet  am  2.  Tage  durch  Chloroform. 

Section:  Unter  der  Haut  grosser,  frischer  Bluterguss  (vielleicht  in  Folge 
der  Todesart?).  Grosser  Prolaps  genau  den  Gyrus  sigmoides  mit  Ausnahme 
von  dessen  medialster  Partie  einnehmend;  etvi^as  Blutung  unter  der  Pia. 

Beobaclitung:  14. 

Kleiner  Hund.  Aufdeckung  des  linken  Gyrus  sigmoides  und  der  nach 
hinten,  lateral  liegenden  Partie  auf  24  mm  sagittal,  18  mm  frontal.  Keine 
Verletzung^  der  Pia. 


Fig.  20. 

Motilitätsstörungen:  Am  2.  Tage  nur  angedeutet  (sog.  Defect  der 
Willensenergie);  am 4.  Tage  ziemlich  hochgradig;  vom  6.  Tage  an  abnehmend, 
am  19.  Tage  verschwunden. 

In  der  Schwebe:  Am  2.  Tage  rechts  auf  Begreifen  geringere,  am 
3.-24.  Tage  fehlende  Reaction,  dann  noch  abgeschwächt. 

Sehstörung:  Fehlt  am  2.  Tage,  bevorzugt  jedoch  von  2  Fleischstücken 
das  linke,  beiSchütteln  das  rechte.  AmS.Tage  sonst  tadellose  Reaction,  bevor- 
zugt aber  von  zwei  Fleischstücken  stets  das  linke,  auch  wenn  das  rechte  oscil- 
lirt.  Am  4.  Tage  beachtet  er  Fleisch  zuerst  temporal  gar  nicht,  nachher  nur 
manchmal  und  auch  dann  nur,  wenn  es  von  unten  kommt.  Amß.Tagebei  einseitig 
verklebten  Augen  rechts  keine  Reaction  auf  Licht  (links  scheut  er  hochgradig); 
dem  ersten  Stückchen  Fleisch  folgt  er  nur,  nachdem  er  dasselbe  aber  erhalten 
hat,  geräth  er  ausser  sich,  sobald  es  irgendwo  in  dem  Gesichtsfelde  erscheint. 
Fremdkörper  beriecht  er  nur.  Ganz  verschiedenes  Verhalten  beim  Verkleben 
des  einen  oder  des  anderen  Auges.  Am  8.  Tage  noch  vorhanden,  aber  schwer 
nachweisbar,  dann  nicht  mehr.     Während  des  letzten  Theils  der  Beobachtung 


—     167,    — 

bevorzugt  der  Hund  das  rechte  Stück  Fleisch,  auch  wenn  links  geschüttelt  wird. 

Optische  Reflexe:  Am  2.  Tage  herabgesetzt,  am  3.  Tage  nocii 
schwächer:  fehlt  ganz  auf  Annäherung  der  spitzen  Pincette,  fast  ganz  auf 
schmale  Hand,  ist  abgeschwächt  auf  flache  Hand  (links  alles  deutlich).  Am 
4.-6.  Tage  vollkommenes  Fehlen  der  Reflexe;  am  7. — 21.  Tage  auf  flache 
Hand  schwach  vorhanden,  sonst  fehlend;  am  25.  Tage  rechts  immer  noch  ab- 
geschwächt. 

Getödtet  nach  5  Monaten  durch  Chloroform. 

Section:  Schädellücke  26  mm  sagittal,  19  mm  frontal.  Dura  mit  Pia 
über  dem  ganzen  Hinterhirn  durch  zarte  Adhäsionen  verwachsen,  Pia  leicht 
rosig.  Auflagerung  auf  dem  Hirn  22  mm  sagittal,  20  mm  frontal  (davon  einige 
Millimeter  unter  der  medialen  Knochenbrücke).  Im  vorderen  Schenkel  des 
Gyrus  sigmoides  ist  die  Fände  gelblich  verfärbt,  erweicht.  Ein  kleiner  ocker- 
gelber Keil  reicht  bis  in  die  Markstrahlung  hinein.  Ein  Schnitt  durch  den 
hinteren  Schenkel  zeigt  einen  leicht  bräunlich  verfärbten  Streifen  von  gerin- 
gerer Consistenz,  der  sich  in  der  grauen  Substanz  an  der  Grenze  der  weissen 
hinzieht.  Die  graue  Substanz  vornehmlich  in  dieser  Gegend,  doch  auch  late- 
ral abgeblasst. 

(Vergi.  Fig.  20.) 

Derselbe  Hund.  Schädellücke  24  mm  sagittal,  15  mm  frontal  über  late- 
raler Partie  des  rechten  Gyrus  sigmoides,  nach  hinten  etwas  darüber  hinaus- 
reichend. Bei  der  Abtragung  der  Dura  kleine  Contusion  in  der  hinteren  Partie 
des  hinteren  Schenkels,  die  wie  eine  oberflächliche  Capillarhämorrhagie  aussieht. 

Motilitätsstörungen:  Vom  2. — 6.  Tage  allmählig  zunehmend,  dann 
massig  hochgradig;  am  16. Tage  noch  deutlich,  später  bis  zum  68.  Tage  unter 
günstigen  Bedingungen  immer  noch  fepurweise  nachweisbar. 

In  der  Schwebe:  Am  2.  Tage  nicht,  vom  3.  an  charakteristisch:  vom 
38.  Tage  an  notirt:  alle  vier  Beine  gestreckt  und  gespreizt,  passiv  leicht  be- 
weglich ;  dies  noch  zwei  Monate  später.  Fehlen  des  Reflexes  beim  Begreifen 
vom  2.' — 50.  Tage  gänzlich,  nachher  über  4  Monate  nach  der  Operation  stets 
mehr  oder  minder  hochgradig  abgeschwächt. 

Sehstörung:  Am  2.  und  3.  Tage  keine  Sehstörung  nachweisbar,  am 
5.  Tage  sieht  der  Hund  auf  der  lateralen  Hälfte  seines  linken  Gesichtsfeldes 
unbewegte  Gegenstände  nicht,  bewegte  sieht  er;  am  6.  Tage  beachtet  der  Hund, 
aber  nur  beim  Fressen,  kleine  Stücke  Fleisch  mit  der  lateralen  Hälfte  des  lin- 
ken Gesichtsfeldes  nicht,  rechts  sofort. 

Optische  Reflexe:  Am  2.  und  3.  Tage  tadellos,  sogar  gegen  Finger. 
Am  5.  und  6.  Tage  fehlend.  Am  16.  Tage  andeutungsweise  gegen  flache  Hand 
vorhanden,  am  50.  Tage  normal.    (Dazwischen  fehlen  Notizen.) 

Getödtet  nach  vier  Monaten  durch  Chloroform. 

Section: '  Auflagerung  auf  dem  Gehirn  17  mm  sagittal,  12  mm  frontal. 
Der  Temporaiis  adhärent  der  Hirnoberfläche.    Im  hinteren  Schenkel  des  Gyrus 


—   ,168     — 

sigmoides  eio  ganz  kleiner  bräunlicher  Herd  in  der  grauen  Substanz  und  leicht 
verwaschenes  Aussehen  der  grauen  Substanz. 

BeobachtiMig-  16. 

Kleiner  Hund.  Schädellücke  links,  dreieckig,  17  mm  sagittal,  Basis  nach 
vorn,  8  mm  frontal,  vornebmlicli  über  vorderem,  zum  Theil  über  hinterem 
Schenkel  des  Gyrus  sigmoides^  medial  von  der  Insertion  des  Temporaiis.  Pia 
unverletzt. 


Fig.  21. 

Motilitätsstörungen:  Solange  überhaupt  vorhanden,  nur  angedeutet 
und  in  der  Pvcgel  nur  unter  Anwendung  von  Kunstgriffen  nachweisbar;  deut- 
licher am  5.  und  7.  Tage. 

Sensibilitätsstörungen:  Setzt  die  Pfoten  bei  der  leisesten  Berüh- 
rung fort,  auch  an  den  Tagen,  wo  Motilitätsstörungen  naohweisba;  sind. 

In  der  Schwebe:  Hängt  nur  am  5.  und  7.  Tage  charakteristisch 
(Notizen  über  den  6.  Tag  fehlen).  Reaction  bei  Begreifen  auch  links  ungleich, 
indessen  Abschwächung  rechts  wiederholt,  auch  am  3.,  5.  und  7.  Tage  constatirt. 

Sehstörung:  Unbedeutend,  beachtet  am  2.  Tage  kleine  Stückchen 
Fleisch  weniger  regelmässig  als  links;  am  5.  Tage  lateraler  Streifen  am- 
tolyopisch. 

Optische  Reflexe:  Abgeschwächt,  besonders  deutlich  am  2.  und  7.  Tage. 

Getödtet  am  10.  Tage  durch  Chloroform. 

Section:  Der  aufgedeckte  Theil  hat  sich  bis  etwas  über  die  Schädel- 
lücke vorgedrängt.  An  der  Grenze  haben  sich  stellenweise  zwischen  Dura  und 
Pia  Adhäsionen  entwickelt.  Der  vordere  Schenkel  ist  in  seinem  lateralen  Theil 
dunkelroth  gefärbt,  die  Pia  etwas  uneben.  Der  mediale  Theil  desselben  und 
stärker  der  hintere  Schenkel  sind  diffus  hyperämisch.  Die  Umgebung  des  Vor- 
falls ist  anämisch. 

b)   Versuche  im  Bereiche  des  Hinterlappens. 

Beobaclatimgj-  IT". 

Mittelgrosser  Hund.  Schädellücke  sagittal  15,  frontal  20  mm  über  der 
linken  Stelle  A^^  und  darüber  hinaus,  ohne  Betheiligung  der  1.  Urwindung. 
Bei  Abtraffuna:  der  Dura  minimale  Verletzung  der  Pia  in  der  Mitte  der  Lücke. 


161) 


Motilitätsstörungen  und  Sensibilitätsstörungen  feiilen. 

Sehstörung:  Am  2.  Tage  Reaction  nnr  über  dem  Nasenrücken.  Am 
3.  Tage  nur  noch  amblyopisch,  bis  zum  23.  Tage  Sehstörung  noch  dadurch 
nachweisbar,  dass  der  Hund,  wenn  er  beim  Fressen  beschäftigt  ist,  kleine 
Fleischstücke  erst  wahrnimmt,  wenn  sie  von  lateral  her  bis  zur  Mitte  der 
Pupille  vorgerückt  sind. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  am  2.  Tage  gänzlich;  vom  3. — 5.  Tage 
gegen  flache  Hand  sehr  gut,  gegen  schmale  Hand  fehlend;  vom  12.  Tage  an 
ungeachtet  eines  Conjunctivalcatarrhs  auch  gegen  schmale  Hand  normal. 

Tod  durch  Chloroform  am  36.  Tage. 

Section:  Gehirn  etwas  vorgewölbt,  der  die  Schädellücke  schliessenden 
straffen  Membran  etwas  adhärent.  Auf  dem  Querschnitt  graue  Rinde  flecken- 
weise sehr  blass,  im  ganzen  blasser  als  auf  der  anderen  Seite;  dies  gilt  auch 
von  dem  lateTalen,  nicht  von  der  Operation  berührten  Streifen.  Die  von  der 
Rinde  der  1.  Urwindung,  welche  gleichfalls  nicht  berührt  ist,  ausgehende 
Markstrahlung  zeigt  mehrere,  unter  hirsekorngrosse  röthlich  gefärbte  Lücken, 
ausserdem,  wie  auch  die  unter  der  Knochenlücke  liegende  weisse  Substanz 
zahlreichere  sehr  feine  Löoherchen. 

Beobadituiig-  IS. 

Kleiner  Hund.  Schädellücke  links  ein  gleichseitiges  Dreieck  von  20  mm 
Seitenlänge,  Spitze  nach  hinten,  die  Stelle  Aj^  in  sich  begreifend.  Pia  un- 
verletzt. 

Motilitäts-  und  Sensibilitätsstörungen  fehlen. 


Fie-.  22. 


Sehstörung:   Bis  zum  3.  Tage  inclusive  wegen  Scheu  schwer   zu  un- 
tersuchen, nur  zu  constatiren,  dass  der  Hund  rechts  zwar  sieht,  aber  vornehm- 


170 


lieh  temporal,  amblyopisch  ist.  Vom  4.-7.  Tage  reagirt  er  auf  Fleischstücke 
im  oberen  äusseren  Quadranten  niemals,  in  den  übrigen  Theilen  des  Gesichts- 
feldes gut. 

Optische  Reflexe:  Gegen  schmale  Hand  herabgesetzt,  gegen  flache 
Hand  vorhanden. 

Getödtet  am  8.  Tage  durch  Curare. 

Section:  Ziemlic-h  bedeutende  Menge  klarer,  wässeriger,  leicht  blutig 
tingirter  Flüssigkeit.  Zwischen  Haut  und  Galea,  bezw.  zwischen  Hirn  und 
Muskel  mehrere  weiche  Schichten  Auflagerung.  Starker  rosa  gefärbter  Vorfall. 
Pia  ganz  unverletzt.  Dura  und  Pia  nicht  verändert.  Am  Knochenrand  Schnür- 
furche. Auf  dem  Durchschnitt  (frontal  und  sagittal)  erscheinen  mehr  nach 
hinten  zahlreichere  grössere  Extravasate  in  der  Marksubstanz,  nach  vorn  und 
in  der  Rinde  kleinere.  Letztere  ist  auf  lateralem,  nach  unten  abfallendem  Theil 
deutlich  entfärbt. 

IBeolbaelitTi.iig'  19. 

Kleiner  Pudel.  Schädellücke  links  ganz  hinten  sagittal  14,  frontal  22  mm. 
Abtragung  der  Dura  ohne  Blutung,  olme  Verletzung  der  Pia. 

Motilitäts-  und  Sensibilitätsstörungen  fehlen. 

Seh  Störung:  Am  2.  Tage  nicht  zu  untersuchen.  Am  3.  Tage  rechts 
hemianopisch.    Die  untere  Partie  sieht  besser  als  die  obere.  Am  4.  und  5.  Tage 


Fig.  23. 

hat  sich  der  untere  äussere  Quadrant  des  Gesichtsfeldes  schon  erheblich  auf- 
gehellt. 

Optische  Reflexe:  Am  2.-5.  Tage  gegen  schmale  Hand  rechts  fast 
keine,  gegen  flache  Hand  geringere  Reaction  als  links. 

Getödtet  am  5.  Tage  durch  Chloroform. 


171 


Section:  Geringe  Menge  sanguinolenier  Flüssigkeit.  Gehirn  durcli  die 
Lücke  pilzartig  vorgedrängt.  Dura  und  Pia  beider  Seiten  absolut  gleich  und 
normal.  Pia  selbst  auf  dem  Pilz  nicht  injicirt  oder  getrübt.  Dagegen  vorn 
und  lateral  an  den  Grenzen  sehr  deutliche,  schon  ältere  Schnürfurche.  Auf 
dem  sagittalen  Durchschnitt  vt'eisse  Substanz  auf  eine  ziemlich  lange  Strecke 
vor  der  Abtragung  mit  einem  leichten  Stich  in's  Gelbliche,  in  der  Partie  unter 
der  Abtragung;  ö;rosse  und  kleine,  ganz  frische  Extravasate. 


Junger  Hund.  Schädellücke  links  17  mm  sagittal,  21  mm  frontal;  hin- 
tere Grenze  14  mm  vor  der  Lanibdanaht.    Pia  unverletzt. 

Im  Verlaufe  der  Beobachtung  hat  sich  allmählig  .eine  ziemliche  Menge 
leicht  blutig  gefärbter,  fast  klarer  Flüssigkeit  angesammelt,  die  am  achten  Tage 
entleert  wird. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

In  der  Schwebe:  Rechte  Vorderpfote  reagirt  auf  Begreifen  am  2.  Tage 
etwas,  am  3."  Tage  viel  langsamer  als  die  linke.    Am  4.  Tage  normal. 

Sehstörung:  Am  2.  Tage  gering,  namentlich  durch  Bevorzugung  des 
linken  Fleischstückes  und  grössere  Aufmerksamkeit  auf  die  linke  Seite  zu  be- 
merken. Am  3.  Tage  hat  die  Sehstörung  zugenommen;  wenn  der  Hund  den 
Kopf  ruhig  hält,  gelingt  es,  ihm  das  ganze  rechte  Auge  exclusive  des  nasalen 
Streifens  abzusuchen,  ohne  dass  er  nach  dem  Fleischstück  schnappt.  In  den 
nächsten  Tagen  nimmt  die  Sehstörung  ab,  ist  aber  bei  Unruhe  des  Thieres 
nicht  genau  zu  untersuchen,  erweist  sich  aber  am  12.  Tage  als  noch  vorhan- 
den.   Später  nicht  mehr  nachgewiesen. 


Fig.  24. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  vom  2.  Tage  an  gänzlich,  am  12.  Tage 
gegen  flache  Hand  anscheinend  etwas  vorhanden.    Am  28.  Tage  normal. 

Getödtet  am  28.  Tage. 

Section:  Dura  und  Pia  normal;  Muskel  mit  dem  Hirn,  das  etwas  vor- 
gelagert ist,  verwachsen.  —  Nach  vorn  reicht  der  Duradefect  genau  bis  an  die 


172 


hintere  Grenze  meines  Augencentrums,  lateral  bis  in  die  Mitte  des  suprasylvi- 
schen  Gyrus,  nach  hinten  bis  zur  Umbiegungsstelle  des  Gyrus.  Er  betraf  also 
den  vorderen  Theil  der  Sehsphäre  Munk's,  sowie  dessen  Augenregion. 

Schädellücke  17  mm  frontal,   15  mm  sagittal,   hintere  Grenze  14  mm  vor 
der  Lambdanaht.    Ohne  Verletzung  der  Pia. 

Motilitäts-  und  Sensibilitätsstörungen  fehlen. 


Fig.  25. 

Seh  Störung:  Vom  2. — 4.  Tage  rechts  Amblyopie,  am  4.  Tage  abneh- 
mend, geringer  auf  unterem  Quadranten.  Am  30.  Tage  nichts  mehr.  Zwischen 
dem  4.  und  30.  Tage  keine  Notizen. 

Optische  Reflexe;  Am  2.  Tage  gegen  schmale  Hand  nichts,  am 
30.  Tage  rechts  gegen  schmale  Hand  wenig,  gegen  flache  Hand  beiderseits 
gleich  stark. 

Getödtet  am  30.  Tage. 

Section:  Dura  und  Pia  ganz  normal,  keine  Verwachsungen  irgend  wel- 
cher Art.    Auf  dem  Durchschnitt  gleichfalls  nichts  Nennenswerthes. 


c)   Versuche   in   der   mittleren   Region. 

I?eol>£icli-tiing-  SQ. 

Kleiner  Hund.  Schädellücke  links  sagittal  15,  frontal  20  mm;  hinterer 
Rand  27  mm  nach  vorn  von  der  Lambdanaht,  unmittelbar  hinter  dem  hinteren 
Rande  des  Gyrus  sigmoides,  vom  lateralen  Rande  der  1.  bis  zum  medialen 
Rande  der  3.  ürwinduno:  reichend.    Pia  unverletzt^). 


1)  Das  Schema  giebt  nur  die  relative  Grösse,  aber  im  frontalen  Durch- 
messer nicht  die  richtige  Vertheilung  der  Auflagerung  auf  die  Windungen 
wieder. 


—     178     — 

Motilitätsstörungen:   Fehlen  am  2.  Tage,  angedeutet  am  3.,  an  den 
lolgenden  Tagen  fehlen  Notizen, 


Fig.  26. 

In  der  Schwebe:  Vom  3. — 7.  Tage  etwas  Neigung,  die  rechte  Vorder- 
pfote gestreckt  zu  halten.  Am  7.  Tage  bei  Begreifen  rechts  vorn  sehr  geringe, 
in  den  anderen  drei  Pfoten  sehr  starke  Reaction. 

Seh  Störung:  Fehlt  bis  zum  7.  Tage.  An  diesem  Tage  auf  Fleisch 
weniger  schnelle  Reaction,  anscheinend  geringe  Hemiamblyopie. 

Optische  Reflexe:   Fehlen  rechts  stets,  links  meistens  gut. 

Getödtet  am  7.  Tage. 

Section:  In  der  Wunde  eine  ziemliche  Menge  blutig  tingirter,  trüber 
Flüssigkeit.  Das  Gehirn  massig  vorgedrängt,  die  Pia  an  mehreren  Stellen  mit 
dem  Muskel  mit  leichten,  dunkelroth  gefärbten  Auflagerungen  verklebt.  Letz- 
teres trifft  eigentlich  für  den  grössten  Theil  der  freiliegenden  Pia  zu. 

Auf  dem  Durchschnitt  des  vorgetriebenen  Hirntheils  finden  sich  frische 
capilläre  Extravasate  in  der  grauen  Substanz  der  2.  Windung  (hinter 
dem  Gyrus  sigmoides)  und  in  der  darunter  liegenden  weissen  Substanz. 

Ausserdem  steht  mir  noch  eine  im  Uebrigen  sorgfältig  geführte 
Kraukengeschichte  zur  Verfügung,  bei  der  einem  jungen  grossen  Hunde 
21  mm  vor  der  Lambdanabt  eine  sagittal  24,  frontal  17  mm  messende 
Schädellücke  angelegt  wurde,  auf  die  ich  aber  nicht  näher  eingehe, 
weil  die  Section  fehlt.  Ich  führe  sie  nur  deswegen  an,  weil  sich  bei 
massiger  Motilitätsstörung  und  hochgradiger  Sehstörung  wieder  anfäng- 
lich eine  geringere  Betheiligung  des  unteren  äusseren  Quadranten  an 
der  Sehstörung  feststellen  liess. 


—     174     — 

Die  vorstehend  mitgetheilten  Versuche  ergaben  ein  vollständig  über- 
einstimmendes und  die  gestellte  Frage  in  positivem  Sinne  entscheiden- 
des Resultat.  Allgemein  gesprochen  führte  die  Blossleguug 
der  Pia  im  Bereiche  der  motorischen  Zone  nicht  nur  zu  mo- 
torischen Störungen  in  den  Extremitäten,  sondern  auch,  mit 
Ausnahme  eines  Falles  zu  Sehstörungen  und  in  allen  Fällen 
zu  Störungen  des  optischen  Lidreflexes.  Die  Aufdeckung  der 
Pia  im  Bereiche  des  Hinterhauptlappens  führte  in  allen  Fäl- 
len zu  Sehstörungen  und  gleichfalls  in  allen  Fällen  auch  zu 
Störungen  des  optischen  Lidreflexes,  nicht  aber  zu  motori- 
schen Störungen.  Dass  die  fraglichen  Störungen  im  Allgemeinen 
weniger  erheblich  waren  als  bei  denjenigen  Versuchen,  bei  denen  man 
die  Pia  verletzt  und  mehr  oder  minder  tief  in  das  Gehirn  eindringt,  ist 
selbstverständlich. 

Wenn  Exner  und  Paneth  bei  ihren  zwei  oben  citirten  Versuchen 
zu  einem  negativen  Resultat  gelangten,  so  wird  dies  einmal  auf  diese 
geringere  Deutlichkeit  besonders  der  Sehstörungen,  andererseits  auf  die 
von  ihnen  benutzte  Üntersuchungsmetliode  zurückzuführen  sein.  Sie 
schildern  die  letztere  mit  folgenden  Worten  derart,  „dass  der  eine  Beob- 
achter das  Tliier  beschäftigte,  indem  er  ihm  in  der  geschlossenen  Hand 
ein  Stück  Fleisch  vorhielt.  An  diesem  schnüffelt  und  leckt  der  Hund 
herum,  und  es  vertritt  auf  diese  Weise  das  Object,  das  man  einen  Men- 
schen behufs  einer  ähnlichen  Untersuchung  fixiren  lässt.  Der  andere 
Beobachter  führte  währenddem  ein  Stück  Fleisch  in  das  Gesichtsfeld 
des  Thieres.  Dann  verlässt  ein  normaler  Hund  nach  beiden  Seiten, 
einer  mit  Sehstörung  nach  der  nicht  vernachlässigten  Seite  hin,  die 
geschlossene  Hand,  sowie  er  das  Fleischstück  am  Drahte  erblickt  und 
schnappt  nach  diesem,  während  der  Hund  mit  Sehstörung  später  oder 
erst  nach  einigem  Herumbewegen  des  Fleisches  oder  auch  garnicht  sich 
darum  bekümmert."  Ich  will  nicht  bestreiten,  dass  diese  Methode  er- 
fahrenen Beobachtern  bei  sehr  ausgesprochenen  Sehstörungen  gute  Dienste 
leisten  kann.  Lidessen  erschien  sie  mir  selbst  auch  bei  solchen  Seh- 
störungen sehr  unvollkommen  gegenüber  der  Untersuchung  in  der 
Schwebe.  Jeder  einigermaassen  lebhafte  und  hungerige  Hund  befindet 
sich  dabei  in  unaufhörlicher  Bewegung,  so  dass  eine  ruhige  Abtastung 
des  Gesichtsfeldes  fast  zur  Unmöglichkeit  wird.  Geringere  Störungen 
des  Sehvermögens    sind    auf  diese  Weise  sicherlich  nicht  nachzuweisen. 

Im  Einzelnen  führt  die  Betrachtung  der  beobachteten  Symptome 
zu  folgenden  Ergebnissen: 

a)  Gyrus  sigmoides:  1.  Sehstörungen  fanden  sich,  wie  gesagt, 
in  7  von  den  8  die  motorische  Zone  betreffenden  Beobachtungen.    Ihrem 


—     175     — 

-Charakter  nach  waren  sie  sämmtlich  hemiamblyopi.scher  Natur,  d.  h. 
die  Hunde  beachteten  die  in  dem  grösseren  lateraien  Theil  ilires  Ge- 
sichtsfeldes erscheinenden  Gegenstände  nicht  oder  weniger  schnell  oder 
weniger  regelmässig  als  die  in  dem  kleineren  nasalen  Theile  oder  in 
dem  gleichseitigen  Gesichtsfelde  erscheinenden  Gegenstände.  War  die 
Sehstörung  hochgi-adig,  so  sah  nur  ein  schmaler  nasaler  Streifen, 
war  sie  minder  hochgradig,  so  betraf  der  Defect  nur  einen  schmalen 
temporalen  Streifen.  Gelegentlich  wurde  auch  vorübergehende  An- 
ästhesie eines  schmalen  nasalen  Streifens  des  gleichseitigen  Auges  con- 
statirt.  In  einem  Falle  (Beobachtung  14)  hatte  es  an  einem  Tage  den 
Anschein,  als  wenn  der  untere  temporale  Quadrant  weniger  als  der 
obere  geschädigt  sei.  Insulare  Skotome  konnten  niemals  nachgewiesen 
werden.  Die  Dauer  der  Sehstörung,  welche  aus  äusseren  Gründen  nicht 
in  allen  Fällen  bis  zu  ihrem  gänzlichen  Verblassen  verfolgt  werden 
konnte,  betrug  zwei  (Beob.  13),  vier  (Beob.  10),  fünf  (Beob.  12  und  16), 
sechs  (Beob.  15),  acht  (Beob.  1-4),  und  22  Tage  (Beob.  11).  Der  Ver- 
lauf der  Sehstörung  war  derart,  dass  sie  sich  mit  einer  Ausnahme 
(Beob.  15)  bereits  am  2.  Tage  nachweisen  Hess.  In  diesem  Falle  wurde 
sie  am  5.  Tage  nachgewiesen,  war  aber  vielleicht  schon  am  4.  vorhan- 
den. Ausserdem  ist  als  bemerkenswerth  noch-  hervorzuheben,  dass  sie 
in  demselben  Falle  am  6.  Tage  noch  eine  Zunahme  zeigte  und  dass  eine 
entschiedene  Zunahme  ihrer  Intensität  A'Om  2.  bis  zum  6.  Tage  sich 
noch  in  der  Beobachtung  14  nachweisen  liess. 

2.  Optische  Reflexe.  Während  Sehstörungen,  wie  gesagt,  in  7 
von  8  Fällen  vorhanden  waren,  fehlten  die  optischen  Reflexe  in  allen 
8  Fällen  entweder  gänzlich,  oder  sie  waren  doch  mehr  oder  minder 
stark  abgeschw^ächt.  Ich  schalte  bei  dieser  Gelegenheit  ein,  dass  auch 
die  gekreuzten  Reflexe  bei  einer  Anzahl  von  diesen  Versuchen  geschä- 
digt waren,  ohne  dass  ich  jedoch  auf  diese  Frage  näher  einzugehen 
beabsichtige,  lieber  den  Charakter  der  Störung  ist  nur  zu  sagen, 
dass  sie  zwar  in  den  einzelnen  Fällen  verschieden  hochgradig  war,  dass 
die  Thiere  aber  mit  Ausnahme  von  zwei  Beobachtungen  (12  und  16) 
zeitweise  auch  auf  den  stärksten  der  angewandten  Reize  (flache  Hand) 
mit  einer  Lidbewegung  gar  nicht  reagirten;  aber  auch  in  diesen  bei- 
den Fällen  war  die  Lidbewegung  gegen  diesen  Reiz  entschieden  abge- 
schwächt. Besonders  bemerkenswerth  ist  ferner  der  Umstand,  dass  in 
dem  einzigen  Falle,  in  dem  eine  Sehstörung  absolut  nicht  nachweisbar 
und  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  auch  nicht  vorhanden  war,  die  opti- 
schen Reflexe  gleichwohl  während  der  ganzen  Dauer  der  Beobachtung  total 
gefehlt  haben.  Die  Dauer  des  Symptoms  lässt  sich  nicht  genau  be- 
stimmen, weil  eine  Anzahl  von  Thieren  vor  Ablauf  der  Krankheitserschei- 


—     176     — 

nuugen  starb,  bezw.  aus  verschiedenen  Gründen  getödtet  wurde.  Immer- 
hin fehlten  sie  bei  einem  Hunde  (Beob.  10)  noch  am  15.  Tage  und  bßi 
einem  anderen  Hunde  (Beob.  11)  am  20.  Tage  gänzlich.  Eine  hoch- 
gradige Abschwächung  wurde  constatirt  bei  einem  Hunde  (Beob.  14) 
noch  am  25.  Tage  und  bei  einem  anderen  Hunde  (Beob.  15)  noch  am 
16.  Tage.  Der  Verlauf  bietet  ein  besonderes  Interesse  nur  in  den 
Fällen  14  und  15.  In  dem  ersteren  Falle  Hess  sich  eine  Abnahme  der 
Reflexe  vom  2.  bis  6.  Tage,  dann  eine  sehr  allmählige  Zunahme  erken- 
nen, so  dass  sie  am  21.  Tage  nur  auf  flache  Hand  schwach  vorhanden 
und  am  25.  Tage  immer  noch  abgeschv;ächt  waren;  bei  der  anderen 
Beobachtung  waren  die  Reflexe  am  2.  und  3.  Tage  tadellos  gewesen, 
fehlten  dann  am  5.  und  6.  Tage  gänzlich  und  waren  am  16.  Tage  auch 
gegen  flache  Hand  nur  andeutungsweise  vorhanden. 

3.  Das  Verhältniss  der  Sehstörungen  zu  den  optischen 
Reflexen.  Zunächst  ist  hervorzuheben,  dass  die  Störung  der  optischen 
Reflexe,  also  das  motorische  Symptom,  in  Folge  der  experimentellen 
Schädigung  der  motorischen  Region  entschieden  viel  stärker 
und  andauernder  hervortrat  als  die  Sehstörung.  Während  die  Sehstö- 
rung auch  in  denjenigen  Fällen,  wo  sie  ausgesprochener  war,  nur  selten 
höhere  Grade  und  auch  dann  niemals  eine  längere  Dauer  zeigte,  waren 
die  optischen  Reflexe  in  einigen  Fällen  maximal  geschädigt,  das  heisst 
gänzlich  aufgehoben  und  sie  waren  dies  auch  längere  Zeit,  als  die  Dauer 
der  Sehstörung  betrug,  soweit  die  Beobachtung  reichte.  Ferner  wurde 
eine  Sehstörung  niemals  ohne  gleichzeitige  Aufhebung  oder  Abschwä- 
chung der  optischen  Reflexe  beobachtet,  wohl  aber  umgekehrt  eine  Auf- 
hebung der  optischen  Reflexe  ohne  Sehstörung.  Trat  eine  Seh  Störung 
erst  verspätet  ein,  so  geschah  dies  ebenfalls  nicht  ohne  gleichzeitige 
Schädigung  der  optischen  Reflexe. 

4.  Die  motorischen  Störungen  etc.  Ich  fasse  hier,  da  dies 
für  den  Zweck  genügt,  die  von  mir  sogenannten  Störungen  des  Muskel- 
bewusstseins,  die  in  der  Schwebe  zu  machenden  Beobachtungen  auf 
motorischem  und  reflectorischem  Gebiete  und  die  Sensibilitätsstörungen  an 
den  Extremitäten  zusammen.  Die  fraglichen  Störungen  traten,  wie  das 
bei  der  relativen  Geringfügigkeit  der  Läsion  vorauszusetzen  war,  gleich- 
falls im  Allgemeinen  mit  relativ  geringer  Intensität  in  die  Erscheinung. 
Immerhin  waren  sie  erheblich  stärker  als  die  Sehstörungen  und  in  einem 
Falle  (Beob.  15),  in  dem  allerdings  auch  ein  seltener  Obductionsbefund 
erhoben  wurde,  waren  sie  sogar  ziemlich  hochgradig  und  am  68.  Tage 
noch  nicht  gänzlich  geschwunden.  In  einem  anderen  Falle  (Beob.  14) 
waren  sie  vielleicht  noch  hochgradiger,  dafür  aber  von  geringerer  Dauer. 
In  einem  dritten  Falle  (Beob.  13)  waren  sie  gleichfalls,  und  zwar  bereits 


—     177     — 

am  2.  Tage  hochgradig,  konnten  aber  nicht  weiter  verfolgt  werden,  da 
der  Hund  bereits  an  diesem  Tage  getödtet  wm-de.  Auch  mit  Bezug  auf 
diese  Symptome  wurde  in  mehreren  Fällen  eine  allmählige  Zunahme  der 
Erscheinungen  beobachtet. 

5.  Verhältniss  der  Motilitätsstörungen  zu  den  Augen- 
symptomen. In  dieser  Beziehung  ist  hervorzuheben,  dass  in  keinem 
Falle  und  zu  keiner  Zeit  Sehstörungen  oder  Störungen  der  optischen 
Reflexe  beobachtet  wurden,  ohne  dass  nicht  gleichzeitig  oder  wie  in  der 
Beobachtung  15  schon  vorher,  Krankheitserscheinungen  an  den  Extremi- 
täten beobachtet  worden  wären.  In  diesem  letzteren  Falle  nahmen  beide 
Reihen  von  Erscheinungen  gleichmässig  zu. 

b)  Hinterlappen:  1.  Sehstörungen  fanden  sich,  wie  bereits 
angeführt,  in  allen  fünf  Fällen.  Auch  sie  waren  ihrem  Charakter  nach 
sämmtlich  hemiamblyopischer  Natur,  immerhin  so,  dass  in  einzehien  Fällen 
nicht  sicher  zu  entscheiden  war,  ob  der  Hund  auf  lateralen  Partien 
seines  Gesichtsfeldes  überhaupt  sah.  In  drei  Fällen,  also  in  der  Mehr- 
zahl, war  der  untere  laterale  Quadrant  der  Retina  weniger  betroffen, 
bezw.  hellte  sich  früher  auf.  Insulare  Skotome  bestanden  auch  hier 
nicht.  Ueber  die  Dauer  der  Sehstörung  lässt  sich  nicht  viel  sagen, 
da  zwei  Hunde  vor  ihrem  Ablaufe  getödtet  wurden,  während  sie  bei 
den  drei  anderen  nicht  hinreichend  lange  verfolgt,  bezw.  durch  Notizen 
fixirt  wurden.  Immerhin  war  sie  in  einem  Falle  (Beob.  17)  am  23.  Tage 
noch  nachweisbar,  in  einem  anderen  Falle  (Beob.  20)  noch  am  12.  Tage. 
Was  den  Verlauf  angeht,  so  ist  einmal  zu  bemerken,  dass  das  Sym- 
ptom in  denjenigen  Fällen,  in  denen  sich  die  Hunde  von  Anfang  an 
untersuchen  Hessen,  immer  bereits  am  2.  Tage  nachweisbar  war,  sowie 
dass  die  Sehstörung  in  einem  Falle  (Beob.  20)  vom  2.  zum  3.  Tage 
eine  deutliche  Zunahme  erkennen  Hess. 

2.  Die  optischen  Reflexe  zeigten  einen  erheblichen  Defect  nur 
in  einem  Falle  (Beob.  20),  bei  dem  sie  vom  2.  Tage  an  gänzlich  fehl- 
ten und  noch  am  12.  Tage  nur  andeutungsweise  vorhanden  waren;  in 
einem  2.  Falle  (Beob.  17)  fehlten  sie  zwar  gleichfalls  am  2.  Tage  gänz- 
lich ,  waren  aber  bereits  am  3.  Tage  gegen  flache  Hand  normal.  In 
den  drei  anderen  Fällen  waren  sie  dagegen  immer  vorhanden,  so  dass 
die  Thiere  auf  den  stärkeren  Reiz  der  flachen  Hand  reagirten,  während 
eine  Abschwächung  der  Reaction  gleichwohl  unverkennbar  war. 

3.  Das  Verhältniss  der  Sehstörung  zu  den  optischen  Re- 
flexen lässt  sich  auf  Grund  des  vorliegenden  Materials  kaum  erörtern. 
Einmal  ist  dasselbe  hierfür  überhaupt  nicht  zureichend,  weil  diese  Ver- 
suche nicht  zu  dem  gedachten  Zwecke,  sondern  nur  in  der  Absicht  an- 
gestellt waren,  grundsätzlich  nachzuweisen,   dass  und  mit  welchen  Stö- 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.    II.  Theil.  12 


—     178     — 

vungen  jene  Tlieile  der  Convexität  auf  die  einfache  Abtragung  des 
Knochens  und  der  Dura  reagirten,  dann  aber  weil  die  Krankengeschich- 
ten nicht  regelmässig  genug  gefülirt  sind.  Sicher  ist  jedoch,  dass  die 
Störungen  der  Reflexthätigkeit  bei  diesen  Operationen,  ganz  abgesehen 
von  dem  F'ehlen  von  anderweitigen  motorischen  Erscheinungen,  weniger 
erheblich  waren,  als  bei  den  Operationen  innerhalb  der  motorischen 
Zone,  obwohl  die  angelegten  Schädellücken  an  Grösse  den  bei  jenen 
Operationen  vorgenommenen  Abtragungen  sicherlich  nicht  nachstanden. 
Ausserdem  hatte  es  den  Auschein,  als  wenn  bei  den  zuletzt  besprochenen 
Operationen  die  Sehstörung  im  Allgemeinen  von  grösserer  Intensität 
und  Dauer  war  als  die  Störung  der  optischen  Reflexe. 

c)  Mittlere  Region:  1.  Sehstörungen  waren  bei  der  einzigen 
hier  verwertheten  Beobachtung  nur  am  7.  Tage  andeutungsweise  vor- 
handen. 

2.  Die  optischen  Reflexe  fehlten  dagegen  gänzlich  bis  zum 
Schluss  der  Beobachtung  am  7.  Tage. 

3.  Die  Motilitätsstörungen  fehlten  am  2.  Tage  und  waren  auch 
später  nur  andeutungsweise  vorhanden. 

Diese  Beobachtung  unterscheidet  sich  also  in  sehr  ausgesprochener 
Weise  von  den  beiden  anderen  Versuchsreihen  dadurch,  dass  das  Haupt- 
symptom in  dem  Fehlen  der  optischen  Reflexe  bestand,  während  die 
Motilitäts-  und  Sehstörungen  ganz  zurücktraten. 

Die  Sectionsbefunde.  Von  den  14  in  diesem  Kapitel  mitge- 
theilten  Beobachtungen  wiu'de  die  Section  in  allen  Fällen  gemacht. 
Die  Hirnhäute  zeigten  nur  in  einem  Falle  (Beob.  14)  andere  als  locale 
Veränderungen.  In  diesem  Falle  wurde  die  Pia  rosig  gefärbt  und  über 
dem  ganzen  Hinterhirn  mit  der  Dura  durch  zarte  Adhäsionen  verwachsen 
gefunden.  Man  könnte  gegen  diesen  Fall  also,  weil  er  nicht  rein  ist, 
Einwendungen  erheben  und  Munk  würde  dies  sicher  thun.  Ich  gebe 
diesen  Fall  also  preis,  obwohl  er  sich,  was  die  Krankheitssymptome 
angeht,  nur  durch  eine  längere  Dauer  der  Störung  der  optischen  Reflexe 
von  den  anderen  Fällen  unterscheidet  und  obwohl  die  örtlichen  Erschei- 
nungen an  der  Operationsstelle  —  Erweichungsherde,  Abblassting  der 
Rinde  —  die  beobachteten  Symptome  befriedigend  erklären. 

Es  bleiben  demnach  noch  13  Thiere,  von  denen  je  eins  am  2.,  5., 
6.,  7.,  8.,  10.,  15.,  22.,  28.,  30.,  33.,  36.  Tage  und  eins  4  Monate  nach 
der  Operation  getödtet  wurde.  Die  Tödtung  wurde  deshalb  in  einer 
Anzahl  von  Fällen  relativ  frühzeitig  bezw.  an  verschiedenen  auf  ein- 
ander folgenden  Beobachtungstagen  vorgenommen,  um  den  Ablauf  der 
anatomischen  Processe  verfolgen  zu  können.  Es  versteht  sich,  dass 
unter    diesen  Umständen    der  Ablauf    der    klinischen    Symptome    nicht 


n\)    — 

immer,  vollständig  verfolgt  werden  konnte;  indessen  kam  es  hierauf  für 
■den  Zweck  der  vorliegenden  Versuchsreihen  nicht  wesentlich  an. 

Die  anatomischen  Vorgänge  scheinen  sich  hiernach  und  nach  den 
bei  Lebzeiten  gemachten  Beobachtungen  derart  zu  gestalten,  dass  sich 
zuerst  eine  bei  den  verschiedenen  Beobachtungen  verschieden  grosse 
Menge  von  Cerebrospinalflüssigkeit  an  der  Operationsstelle  ansammelt, 
welche  unter  Umständen  so  gross  sein  kann,  dass  die  weichen  Decken 
prall  gespannt  werden  und  die  Entleerung  eines  Theils  der  Flüssigkeit 
Tathsam  erscheint.  Sodann  füllt  sich  die  Schädellücke  mit  einem  an- 
fangs weichen  Exsudat,  welches  sich  entweder  allmählig  zu  einer  straf- 
fen, die  Lücke  verschliessenden  Membran  umbildet,  oder  in  denjenigen 
Fällen,  in  ^enen  der  Temporaiis  die  Lücke  ganz  oder  theilweise  be- 
deckt, ein  Verbindungsglied  zwischen  dem  mit  der  Hirnoberfläche  ver- 
wachsenden Muskel  abgiebt.  Im  Uebrigen  entwickelt  sich  daraus  eine, 
gewöhnlich  den  ganzen  freigelegten  Theil  der  Convexität  und  manchmal 
noch  die  nächste  Umgebung  bedeckende  narbige  Auflagerung. 

Die  Hirn  ober  fläche  selbst  erscheint  in  fast  allen  Fällen  mid 
zwar  schon  am  2.  Tage  pilzartig  vorgetrieben,  so  dass  man  dann,  wenn 
keine  übermässige  Ansammlung  von  Cerebrospinalflüssigkeit  stattfindet, 
den  vorgedrängten  Theil  in  der  Lücke  als  undeutlich  fluctuirenden  Kör- 
per fühlen  kann.  Die  den  Pilz  bedeckende  Pia  pflegt  zu  dieser  Zeit 
mehr  oder  minder  stark  hyperämisch  zu  sein.  Die  Rinde  zeigt  an  den 
Grenzen  der  Lücke  in  Folge  des  Hirnvorfalls  eine  Einschnürung  und 
die  Pia  verwächst  an  dieser  Stelle  mit  den  Rändern  der  Dura.  Allmählig 
wird  der  Prolaps  kleiner  und  kann  bis  annähernd  auf  das  Niveau  des 
Tlestes  der  Convexität  zurückgehen. 

Durchschnitte  durch  das  Gehirn  wurden  bei  neun  dieser  Beob- 
achtungen (incl.  der  Beobachtung  14)  angelegt.  Die  übrigen  fünf  Ge- 
hirne wurden  zur  mikroskopischen  Untersuchung,  die  dann  aber  leider 
nicht,  vorgenommen  w^erden  konnte,  conservirt.  Auf  diesen  Durchschnit- 
ten fanden  sich  mit  Ausnahme  von  zwei  Fällen  regelmässig  in  den 
früheren  Stadien  capilläre  und  grössere  Blutungen  in  der  grauen  und 
weissen  Substanz  und  in  den  späteren  Stadien  die  Residuen  derselben 
in  Gestalt  von  rothbraun  tingirten  Erweichungsherden  oder  kleinen 
Lücken.  Ausserdem  erschien  die  graue  Substanz  an  der  Operations- 
stelle, manchmal  auch  noch  darüber  hinaus,  mehr  oder  minder  stark 
weisslich  verfärbt,  in  einem  Falle  so,  dass  sie  kaum  von  der  weissen 
Substanz  unterschieden  werden  konnte,  in  einem  anderen  Falle  zeigte 
sie,  und  zwar  mehr  in  der  Umgebung  der  Lücke  eine  g&lbliclie  Ver- 
färbung. 

Unzweifelhaft  ist  bei  diesen  Vorgängen  das  Wesentlichste  die  Her- 

12* 


—     180     — 

vortreibung  der  Hirnmasse;  durch  sie  kommt  es  zu  Zerrungen  und 
Quetschungen  nicht  nur  des  nervösen  Parenchyms,  sondern  vornehmlich 
auch  der  Bkitgefässe  und  in  Folge  dessen  zu  Hämorrhagien  und  zur 
Ausschaltung  entsprechender  Theile  der  functionstragenden  Substanz.  Ob 
der  Umstand,  dass  das  freigelegte  Hirn  gelegentlich  zur  Insertionsstelle 
für  den  Muskel  wird,  zu  Krankheitserscheinungen  führen  kann,  muss 
ich  dahingestellt  sein  lassen.  Unwahrscheinlich  ist  es  nicht,  dass  die 
kräftigen  Contractionen ,  welche  der  Temporaiis  bei  dem  Kaugeschäft 
ausführt,  schädigend  auf  die  Hirnrinde  einwirken,  beispielsweise  die 
Epilepsie  hervorbringen,  die  ich  gelegentlich  bei  solchen  Versuchen 
beobachtet  habe. 

Die  Ursache  der  dauernden  Hervortreibung  wird  wohl  in  den  glei- 
chen Momenten  zu  suchen  sein,  welche  das  Gehirn  erfahrungsmässig 
periodisch  hervortreibeu,  dem  Respirations-  und  dem  Gefässdruck.  Der 
erstere  kann  unter  Umständen,  also  wenn  die  Hunde  schreien  oder  sonst 
gewaltsam  Muskelanstrengungen  machen,  so  erheblich  ansteigen,  dass 
das  Gehirn  unter  den  Augen  des  Operateurs  in  die  Lücke  hineinge- 
drängt wird  und  die  Gefässe  der  Pia  derart  zerreissen,  dass  es  zu  er- 
heblichen Verletzungen  der  Hirnoberfläche  kommt.  Jedoch  spielt  auch 
der  Gefässdruck  dabei  eine  nicht  unwesentliche  Rolle.  Ich  habe  be- 
reits im  Jahre  1874  in  einer  so  gut  wie  unbeachtet  gebliebenen  Ab- 
handlungi)  nachgewiesen,  dass  der  normale  Hirndruck  die  Resultante 
aus  dem  Gefässdruck  und  dem  Secretionsdruck  darstellt,  so  dass  das 
Gehirn  dauernd  unter  dem  Druck  der  subduralen  Flüssigkeit  steht. 
Fällt  dieser  Gegendruck  fort,  so  treibt  der  Gefässdruck  die  Hirnmasse 
in  die  Schädellücke  hinein. 

Die  angeführten  Thatsachen  haben  neben  dem  Physiologischen  in- 
sofern noch  einen  practischen  Werth,  als  sie  die  Wichtigkeit  der 
Erhaltung  des  Schädeldachs  und  der  Erhaltung  und  Ver- 
nähung der  Dura  bei  Operationen  am  Menschen  darthun.  Da 
einige  Chirurgen  in  neuerer  Zeit  hiervon  absehen  zu  können  geglaubt 
haben,  dürfte  es  nicht  überflüssig  sein,  hier  an  die  vorgetragenen  Be- 
ziehungen zwischen  der  experimentellen  Pathologie  und  der  Chirurgie 
zu  erinnern. 

Gehen  wir  nun  daran,  aus  den  mitgetheilten  Thatsachen  die  Fol- 
gerungen für  die  aufgeworfene  Frage  zu  ziehen,  so  ergiebt  sich  Fol- 
gendes: 

1.    Die  blosse  Freilegung  der  Pia  führt  zu  mehr  oder  we- 


1)  E.  Hitzig,  Ueber  den  Ort  der  extraventriculären  Cerebrospinalflüssig- 
keit.    Reichert's  und  du  Bois-Reymond's  Archiv.    1874. 


—     181     — 

niger  erheblichen  Schädigungen  der  darunter  liegenden  Win- 
dungen, manchmal  auch  ihrer  unmittelbarsten  Nachbarschaft. 

2.  Bei  solchen  Operationen  treten  qualitativ  genau  die- 
selben Krankheitserscheinungen  auf,  wie  bei  localisirten 
Exstirpationen  oder  anderen  Eingriffen  in  die  gleichen  Re- 
gionen, nur  quantitativ  sind  sie  v^erschieden. 

3.  Die  beschriebenen  anatomischen  Veränderungen  rei- 
chen zur  Erklärung  dieser  Krankheitserscheinungen  voll- 
kommen aus;  es  bedarf  dazu  nicht  der  Heranziehung  von 
Nebenverletzungen,  Versuchsfehlern  oder  dergl. 

4.  Die  Thatsache,  dass  von  anderen  Regionen  als  von 
der  Sehsphäre,  nämlich  vom  Gyrus  sigmoides  aus  Sehstö- 
rungen hervorgebracht  werden  können,  muss  durch  diese 
Versuche  als  vollkommen  erwiesen  gelten.  Die  Theorie 
Munk's  ist  hiermit,  soweit  dieser  Punkt  in  Frage  kommt,, 
widerlegt.  Ueber  die  Beziehungen  anderer  corticaler  Regionen  zum 
Sehact  werden  wir  in  einer  späteren  Abhandlung,  für  die  ich  diesen 
Theil  des  Materials  aufsparen  muss,  noch  mehr  erfahren. 

Ausserdem  haben  sich  hierbei  noch  mehrere  andere  Resultate  er- 
geben, welche  ich  aber  erst  in  den  folgenden  Kapiteln  dieser  Abhand- 
lung zu  verwerthen  gedenke. 

n.    Welcher  Art  sind  die    durch  corticale  Läsionen  hervorge- 
brachten Sehstörungen,    sind   sie  hemianopischer   Natur   oder 
nicht,  insbesondere  entsprechen  sie  den  Lehren  Munk's? 

Abschnitt  I.  Frontale  Laesionen. 
Inhalt:  Einleitung  S.  182.  a)  Versuche  an  der  frontalen  Partie  der 
Hemisphäre  S.  182.  a)  Gyrus  sigmoides  S.  183.  B.  Anätzungen  S.  183. 
C.  Unterschneidungen,  a.  Einseitige  Operationen  S.  185.  ß.  Operationen  der 
2.  Seite  S.  189.  D.  Scarificationen  S.  192.  E.  Exstirpationen,  a.  Einseitige  Ope- 
rationen S.  195.  ß.  Operationen  der  2.  Seite  S.  205.  P.  Doppelseitige  frontale 
Durchtrennung  des  vorderen  Schenkels  des  Gyrus  sigm.  S.  210.  1.  Sehstörungen, 
aa.  Reaction  gegen  Fleisch  S.  212.  f  bb.  Reaction  gegen  Licht  S.  213.  2.  Optische 
Reflexe  S.  218.  3.  Das  Verhältniss  der  Sehstörungen  zu  den  optischen  Reflexen 
S.  219.  4.  Störungen  des  Nasenlidreflexes  S.  220.  5.  Der  ursächliche  Zusam 
menhang  zwischen  den  Störungen  des  Sehactes  und  der  durch  den  Opticus 
und  den  Trigeminus  angeregten  Reflexthätigkeit  S.  222.  6.  Motilitätsstörungen 
S.  223.  7.  Sectionsbefunde  S.  223.  b)  Laterale  Nachbarwindungen  des 
Gyrus  sigmoides  S.  224.  A.  Versuche  ohne  motorische  Folgen 
S.  229.  1.  Sehstörungen  S.  240.  2.  Optische  Reflexe  S.  241.  3.  Nasenlidreflex 
S.  241.     4.  Motilitätsstörungen  S.  241.     5.  Operationen    und  Sectionen  S.  242. 


—     182     — 

6.  Das  Verhältniss  der  Symptome  zu  dem  Ort  der  Verletzung  S.  243.  B.Ver- 
suche mit  motorisclien  Folgen  S.  249.  1.  Sehstörungen  S.  265.  2.  Op- 
tische Reflexe  S.  267.  3.  Nasenlidreflex  S.  268.  4.  Das  gegenseitige  Ver- 
hältniss der  Sehstörung,  der  optischen  Reflexe  und  des  Nasenlidreflexes 
S.  268.     5.  Schlussfolgerungen  S.  274. 

In  der  IL  dieser  Abhandlungen  i)  habe  ich  bereits  eine  kurze  üeber- 
sicht  über  die  hauptsächlichsten  Angaben  der  Autoren  von  der  Art 
der  nach  Eingriffen  in  die  Convexität  des  Hundehirns  ent- 
stehenden Sehstörungen  gegeben.  Es  genügt  deshalb,  wenn  ich 
hier  kurz  recapitulire,  dass  Munk  behauptet,  Rindenbliudheit,  d.  h. 
absolute  und  dauernde  Blindheit  verschiedener  Partieen  der' 
Netzhaut  werde  durch  Ausschaltung  verschiedener  Partieen  seiner 
Sehsphäre  hervorgebracht,  während  alle  anderen  Autoren  mit  wenigen 
Ausnahmen  angeben,  dass  auf  alle,  gleichviel  wie  iocalisirte 
oder  doch  die  meisten  Eingriffe  in  die  Convexität  eine  Sehstörnng 
hemianopischer  Natur  folge  und  dass  Loeb  insofern  eine  Sonder- 
stellung unter  ihnen  einnimmt,  als  nach  seiner  Ansicht  bei  jeder  so 
entstandeneu  Sehstörung,  auch  wenn  die  Stelle  Aj  angegriffen  worden 
ist,  die  Stelle  des  deutlichsten  Sehens  immer  am  wenigsten  geschädigt 
erscheint.  Durch  diese  seine  Versuche  wollte  Loeb  die  Irrthümlichkeit 
der  Ansicht  Munk's  über  die  Abhängigkeit  der  „Seelenbliudheit"  von 
der  Zerstörung  der  Stelle  Ai  nachweisen. 

Hiermit  sind  die  höchst  mannigfaltigen  Aufgaben,  welche  die  nächste 
Reihe  unserer  Versuche  zu  lösen  hat,  in  grossen  Umrissen  vorgezeichnet. 
Wir  werden  uns  zunächst  noch  eingehender  mit  der  Art,  dem 
Grade  und  dem  Ursprünge  der  nach  Eingriffen  in  die  vordere 
Partie  der  Hemisphäre  entstehenden  Sehstörungen  zu  be- 
schäftigen haben.  Erst  dann  werden  wir  unsere  Unter- 
suchung auf  die  nach  Eingriffen  in  den  Hinterlappen  in  die 
Erscheinung  tretenden  Sehstörungen  ausdehnen  können.  Ich 
werde  mich  dabei,  wo  es  angelit,  auf  die  früher  gegebene  Uebersicht 
über  die  Litteratur  beziehen  und  mich,  wo  es  erforderlich  erscheint, 
noch  etwas  eingehender  mit  den  thatsächlichen  Angaben  einiger  Autoren 
beschäftigen. 

a)   Versuche  an  der  frontalen  Partie  der  Hemisphäre. 

In  dem  I.  Kapitel  dieser  Abhandlung  hatte  ich  gezeigt,  dass  die 
blosse  Freilegung    der  Pia    auch    zu  Störungen    des  Sehvermögens    und 


1)  E.  Hitzig,  Historisches,  Kritisches  u.  Experimentelles  über  Methoden 
und  Theorien  der  Grosshirnforschung.  Archiv  für  Psych,  Bd.  35.  Heft  2. 
S.  275  ff  und  diese  Untersuchungen   Theil  IL    S.  37ff. 


—     183     — 

der  optischen  Reflexe  führen  kann.  In  dem  folgenden  Kapitel  werde 
ich  zunächst  untersuchen,  welchen  Einfluss  verschiedene  andere  Eingriffe 
in  den  Gyrus  sigmoides  auf  den  Sehact  ausüben  und  mich  alsdann  mit 
der  Lösimg  der  Frage  beschäftigen,  ob  dieser  Einfluss  einen  Eingriff  in 
die  Rinde  des  Gyrus  sigmoides  mit  Nothwendigkeit  voraussetzt,  oder 
ob  die  Beschädigung  eines  Theiles  der  Markstrahlung,  event.  welchen 
Theiles  dazu  genügt.  Bei  diesem  Anlasse  werden  einige  andere  Fragen 
zur  Erörterung  gelangen,  die  sich  mit  Rücksicht  auf  die  angegriffene 
Localität  in  den  Vordergrund  der  Discussion  drängen. 

Der  erste  Theil  dieses  II.  Kapitels  hätte  inhaltlich  ebenso  gut  dem 
I.  Kapitel  angefügt  werden  können;  indessen  erschien  es  mir  zweck- 
mässiger, Parallel  versuche  an  den  vorderen  und  den  hinteren  Abschnitten 
der  Hemisphäre  direct  mit  einander  zu  vergleichen,  in  ähnlicher  Weise, 
wie  dies  schon  im  ersten  Theil  dieser  Arbeit  geschehen  ist  und  auch  in 
dem  III.  Kapitel  dieser  Abhandlung  geschehen  wird.  In  erster  Linie 
kam  es  mir  freilich  darauf  an,  zu  untersuchen,  ob  der  Grad  und  damit 
vielleicht  auch  der  Charakter  der  gesetzten  Sehstörimg  bei  verschiedenen 
Variabein,  die  sämmtlich  die  Eigenschaft  einer  schwereren  Verletzung 
als  die  blosse  Aufdeckung  besassen,  stärker  in  die  Erscheinung  treten 
würden.  Ferner  aber  musste  sich  auf  diese  Weise  ein  breiterer  Boden 
zur  Vergleichung  der  frontalen  und  occipitalen  Sehstörung  gewinnen  lassen. 

a)   Gyrus  sigmoides.  • 

Ich  werde  für  diesen  Abschnitt  nur  solche  Versuche  benutzen, 
welche  ich  seit  dem  Jahre  1899  angestellt  habe.  Zahlreiche  theils 
früher,  theils  während  dieser  Periode  angestellte  Versuche  bleiben  un- 
erwähnt, entweder,  weil  sie  mir  nicht  genügten,  oder  und  vornehmlich, 
weil  das  hier  zusammengestellte  Material  zur  Lösung  der  aufgeworfenen 
Fragen  ausreichte. 

B.  Anätzungen. 
JBeobaclitiing-  S3. 

Mittelgrosser  Hund.  Schädellücke  links  15  mm  sagittal,  20  mm  frontal. 
AetzuBg  des  hinteren  Schenkels  und  der  hinteren  Hälfte  des  vorderen  Schen- 
kels mit  5proc.  Karbolsäure. 

Während  des  Heilungsverlaufes  vorübergehende  Schwellung  der  Opera- 
rationsstelle  (Cerebrospinalflüssigkeit). 

Motilitätsstörungen:  Hochgradig,  am  3.  Tage  stärker  als  am  2.,  inso- 
fern als  Voltelaufen  beobachtet  wird;  sehr  allmählich  abnehmend,  bei  geeigneten 
Untersuchungsmethoden  noch  nach  mehr  als  4  Monaten  nachweisbar.  Jack- 
son'sehe  Krämpfe.  Am  3.  Tage  in  der  rechten  Vorderextremität  während  des 
Fütterns  Adductions-  und  Beugekrämpfe.  Am  5.  Tage  bei  energischer  Inten- 
tion der  Muskeln,  z.  B,  beim  Ausgleiten  auf  dem  glatten  Tisch  mehrere  Secun- 


—     184     — 

den  dauernde  tonische  Streck-  und  Adductionskrämpfe  rechts  vorn  und  hinten. 
Unmittelbar  nachher  Thier  offenbar  abgespannt,  apathischer  und  weniger  fress- 
lustig. Einige  Minuten  später  wieder  munter.  Am  6.  Tage  auf  dem  Tisch 
mehrfach  tonischer  Krampf  der  Streck-  und  Adductionsmuskeln  rechts  vorn 
und  hinten.  Am  9.  Tage  einmal  ein  ca.  1  Minute  dauernder  tonischer  Streck- 
krampf vorn  und  hinten;  am  14.  Tage  sehr  oft  noch  beim  Ausgleiten  auf  dem 
glatten  Tisch  tonischer  Streckkrampf  vorn  und  hinten.  Am  16.  Tage  Anfall 
von  allgemeinen  epileptiformen  Krämpfen  mit  nachfolgendem  Sopor;  2  Monate 
später  nochmals  localisirter  Anfall. 

In  der  Schwebe:  Hangt  noch  nach  mehr  als  4  Monaten  gestreckt; 
beim  Begreifen  ohne  Reaction.  Am  14.  und  17.  Tage  stärkerer  Widerstand  bei 
passiven  Bewegungen. 

Sehstörung:  Reagirt  unverändert  bis  zum  6.  Tage  auf  dem  rechten 
Auge  gegen  Licht  gar  nicht  (links  scheut  er),  gegen  Fleisch  nur  über  dem 
Nasenrücken.  Stösst  im  Zimmer  nicht  an.  Während  dieser  Zeit  greift  oder 
schnappt  das  Thier  nach  Gegenständen,  die  in  dem  sehenden  nasalen  Streifen 
erscheinen ,  sehr  unsicher.  Am  6.  und  7.  Tage  rechtes  Auge  bis  auf  nasalen 
Streifen  wie  bisher  blind,  doch  scheinen  Gegenstände  von  rechts  aussen  kom- 
mend, schon  etwas  eher  als  bisher  eine  unbestimmte  Empfindung  auszulösen, 
da  das  Thier  mehrfach,  bevor  der  betreffende  Gegenstand  in  das  Gebiet  jenes 
nasalen  Streifens  kommt,   seine  Augen  auf  denselben  einzustellen  sucht.     Am 

8.  Tage  appercipirt  das  rechte  Auge  schon  Gegenstände,  wenn  dieselben  von 
aussen  her  gerade  die  Mittelebene  des  Gesichtsfeldes  überschritten  haben.   Am 

9.  Tage  werden  Gegenstände  schon  kurz  vor  Ueberschreiten  des  verticalen 
Meridians  appercipirt.    Am  14.  Tage  Sehstörung  nicht  mehr  nachweisbar. 

Optische  Reflexe:  In  den  ersten  Tagen  unsicher.  Am  5.  Tage  gänz- 
liches Fehlen.  Vom  9.  Tage  an  schnelle  Wiederkehr  der  Reflexe,  am  12.  Tage 
normal. 

Nasenlidreflex:  8  Tage  fehlend,  dann  langsam  wiederkehrend;  am 
12.  Tage  normal. 

Gestorben  5  Monate  nach  der  Operation  in  einem  epileptischen  Anfall. 

Da  der  Hund  an  der  gleichen  Stelle  noch  einmal  operirt  worden  ist,  wird 
das  Ergebniss  der  Section  hier  nicht  mitgetheilt. 

Kleiner  junger  Hund.  Aufdeckung  des  Gyrus  sigmoides  mit  Ausnahme 
der  medialsten  Partie.  Absperrung  gegen  die  Umgebung  mit  Watte.  Aetzung 
mit  5proc.  Karbolsäurelösung. 

Motilitätsstörungen  erheblich,  jedoch  am  7.  Tage  kaum  noch  nach- 
weisbar. 

In  der  Schwebe:  Hängt  gestreckt,  ohne  Reaction  beim  Begreifen  bis 
zum  5.  Tage.    Später  fehlen  sichere  Notizen. 

Seh  Störung:  Nur  in  der  temporalen  Partie,  nicht  hochgradig  und  be- 
reits am  7.  Tage  nicht  mehr  nachweisbar. 

Optische  Reflexe  fehlen  vom  2.  bis  11,  Tag.    (Ende  der  Beobachtung.) 

Nasenlidreflex  dauernd  abgeschwächt. 


—     185     — 

Gestorben  nach  vier  Monaten,  in  Folge  einer  neuen  Narkose.  Da  an  der 
gleichen  Stelle  noch  zwei  andere  Operationen  ausgeführt  waren,  so  wird  das 
Ergebniss  der  Section  hier  nicht  mitgetheilt. 

C.    Unterschneidungen. 
Bei    den    folgenden  Operationen    wurde    die  Rinde    möglichst  flach 
mit    einem  vorn   abgerundeten,    4,7  mm   breiten  Präparatenheber  unter 
Schonung  des  Sulcus  cruciatus  uuterschnitten. 

«.  Einseitige  Operationen. 

Ziemlich  junger  Hund.  Operation  über  linkem  Gyrus  sigmoides.  Schä- 
dellücke sagittal  17,  frontal  13  mm.  Unterschneidung  der  grauen  Substanz 
des  hinteren  und  des  lateralen  Drittels  des  vorderen  Schenkels  mit  Präparaten- 
heber, fast  ohne  Blutung  auf  höchstens  3  mm  Tiefe.  Heilung  im  Uebrigen 
per  primam,  nur  der  laterale  Wundwinkel  eitert  während  einiger  Tage  etwas. 


Fig.  27. 

Motilitätsstörungen:  Am  2.  Tage  massig  hochgradig,  am  4.  Tage 
hochgradig.  Vom  8.  Tage  an  hinten,  vom  9.  Tage  an  vorn  abnehmend.  Am 
30.  Tage  immer  noch  nachweisbar. 

In  der  Schwebe:  Hängt  vom  2.  Tage  bis  zum  Schluss  der  Beobach- 
tung rechts  gestreckt  und  reagirt  auf  Begreifen  nicht. 

Sehstörung:  Am  2.  Tage  fehlt  Reaction  auf  der  rechten  lateralen  Ge- 
sichtsfeldhälfte oder  die  Gegenstände  werden  nicht  erkannt.  Gegen  Licht 
scheut  er  links  stark,  rechts  zweifelhafte  Reaction.  Diese  unsichere  Reaction 
gegen  Licht  bestand  auch  noch  bis  zum  11.  Tage.  Am  4.  Tage  gegen  Fleisch 
in  derSchwebe  auf  weniger  als  der  temporalen  Gesichtsfeldhälfte,  aber  auch  da 
nicht  ganz  reactionslos;  wenn  ihm  auf  dem  Tisch  beim  Fressen  von  Gemüse 
Fleisch  vorgehalten  wurde,  nahm  er  links  sofort  davon  Notiz,  rechts  nicht. 
Vom  5.  Tage  an  Sehstörung  gegen  Fleisch  nicht  mehr  nachweisbar. 


—     186     — 

Optische  Reflexe:  Fehlen  vom  2.  bis  20.  Tage,  von  da  an  allmählich 
•wiederkehrend,  am  23.  Tage  noch  abgeschwächt,  am  25.  Tage  normal. 

Nasenlidreflex:  Abgeschwächt  bis  zum  4.  Tage;  vom  5.  Tage  an 
normal. 

Getödtet  mit  Curare  zwei  Monate  nach  der  Operation. 

Section:  Dura  und  Pia  normal,  nirgends  verwachsen.  Es  ist  ziemlich 
genau  der  hintere  Schenkel  des  Gyrus  sigmoides  vom  Sulcus  cruciatus  an  bis 


Fig.  28.  0:  Operationsstelle, 
etwas  über  die  hintere  Grenze  des  Gyrus  sigmoides  hinaus,  dann  etwas  vom 
lateralen  Theil  des  vorderen  Schenkels,  im  Ganzen  lateral  etwas  auf  die 
II.  Urwindung  übergreifend  mit  Narbengewebe  bedeckt.  Der  Durchschnitt  zeigt 
eine  sehr  flache,  im  Ganzen  auf  die  Rinde  beschränkte  Zerstörung.  Das  Rin- 
dengrau fehlt  unter  dem  ganzen  hinteren  Schenkel,  etwas  hellere  Verfärbung 
auch  noch  im  medialen  Theil  des  Graues  des  erwähnten  Theils  der  II.  Urwin- 
dung. Keine  erweichten  Stellen.  Der  Ventrikel  leicht  nach  der  Narbe  zu  ver- 
zogen.   Die  ganze  linke  Hemisphäre  leicht  atrophisch. 

Beol>aclitriiig,-  S6. 

Kleiner  Spitz.  Schädellücke  links  sagittal  21,  frontal  15  mm.  Da  der 
Gyrus  sigmoides  sehr  klein  ist,  ist  die  Basis  des  Stirnlappens  und  der  obere 
hintere  Theil  der  II.  Urwindung,  insoweit  er  dem  hinteren  Schenkel  unmittelbar 
anliegt,  mit  aufgedeckt.  Unterschneidung  des  hinteren  Schenkels  und  des  late- 
ralen Theils  des  vorderen  Schenkels  von  lateralwärts  her,  etwas  tiefer  als  sonst. 

Motilitätsstörungen:  Sehr  hochgradig  vom  1.  Tage,  3  Stunden  nach 
der  Operation  an ;  zwar  allmählich  abnehmend,  aber  nach  5  Wochen  noch 
hochgradig. 

Rechte  Lidspalte  bis  zum  32.  Tage  erweitert. 

In  der  Schwebe:  Hängt  rechts  stark  gestreckt  ca.  vier  Wochen  lang, 
dann  gelegentlich  weniger  gestreckt.  Beim  Begreifen  bis  zum  Schluss  der 
Beobachtung  ohne  Reaction. 


187 


Sehstörung:  Am  2.  Tage  reagirt  er  auf  Fleisch  rechts  nur  über  dem 
Nasenrücken;  dort  schnuppert  er  aber  sofort  in  der  Luft  herum  und  sucht  das 
Fleisch  zu  ergreifen.  Auf  dem  Tisch  sieht  er  rechts  von  ihm  liegendes  Fleisch 
nicht,  links  liegendes  sofort.  Links  ist  kein  Gesichtsfelddefect  nachweisbar. 
GegenLicht  rechts  keine  Reaction,  links  sofort  sehr  unruhig.  —  Abnehmend  vom 
4.  Tage  an,   sodass  am  8.  Tage  Fleisch  auf  den  lateralen  zwei  Dritteln  des 


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Fig.  29. 


Fig.  30. 

Gesichtsfeldes  noch  nicht  appercipirt  wird  und  am  11.  Tage  nur  noch  ganz 
temporal  ein  Defect  nachzuweisen  ist.  An  den  nächsten  Tagen  vielleicht  tem- 
poral noch  etwas  unsicher,  dann  normal.  Die  Reaction  gegen  oscillirendes 
Licht  schwankt  etwas,  sie  fehlt  ganz  bis  zum  5.  Tage,  während  der  Hund 
links  sofort  scheut;  dann  ist  sie  an  einzelnen  Tagen  abwechselnd  und  vom 
10.  Tage  an  regelmässig  vorhanden. 


—     188     — 

Optische  Reflexe  fehlen  gänzlich  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung. 

Nasenlidreflex  bis  zuletzt  abgeschwächt. 

Getödtet  zwei  Monate  nach  der  Operation,  nachdem  inzwischen  eine  zweite 
Operation  im  Hinterlappen  5  Wochen   nach  der  ersten  ausgeführt  war. 

Section:  Pia  und  Dura  zwischen  vorderer  und  hinterer  Operationsstelle 
verwachsen ;  vorn  leicht,  vor  der  hinteren  Stelle  etwa  1  cm  breit  so  fest,  dass 
die  Trennung  nur  mit  Verletzung  der  Hirnoberfläche  möglich  gewesen  wäre. 
Die  Narbe  reicht  medial  bis  fast  an  die  Längsspalte,  nach  vorn  bis  auf  den 
vorderen  Schenkel  des  Gyrus  sigmoides,  doch  nicht  bis  an  den  vorderen  Pv,and 
des  Schenkels,  medial  etwas  weiter  nach  vorn  als  lateral,  n.ach  lateral  den 
lateralsten  Theil  des  vorderen  Schenkels  freilassend,  ^ den  lateralen  Theil  des 
hinteren  Schenkels  bedeckend  und  noch  auf  die  IL  Urwindung  übergreifend, 
nach  hinten  noch  etwas  über  die  hintere  Grenze  des  Gyrus  sigmoides  hinaus- 
gehend. Auf  dem  Durchschnitt  zeigt  sich  ein  bräunlich  verfärbtes  Narbenge- 
webe von  der  Narbendecke  nach  innen  gehend  bis  in  die  weisse  Substanz. 
Die  Rinde  ist  im  Gebiet  der  Narbendecke  theils  durch  Narbengewebe  ersetzt, 
theils  heller  verfärbt.    Der  Ventrikel  ist  nach  der  Narbe  zu  ausgezogen. 

üeobaditiing-  ST'. 

Preilegung  des  ganzen  linken  Gyrus  sigmoides.  Umschneidung  desselben 
mit  dem  Messer,  Unterschneidung  mit  dem  scharfen  Löffel.  Das  unterschnittene 
Stück  wird  in  loco  belassen. 

Motilitätsstörungen:    Anfänglich  und   zwar  schon  gleich  nach  der 


Fig.  31. 


Operation  sehr  hochgradig,  sehr  allmählich  abnehmend;  am  22. Tage  und  später 
setzt  er  das  Vorderbein  bei  der  leisesten  Berührung  fort,  lässt  es  aber  noch 
dislociren  und  mit  dem  Dorsum  aufsetzen.  Ebenso  noch  am  29.  Tage,  dann 
2.  Operation. 

In  der  Schwebe:   Vergl.  Beobachtung  6. 


—     189     — 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch  schlecht  zu  untersuchen,  scheint  es  jedoch 
bereits  am  3.  Tage  ganz  lateral  zu  bemerken.  Gegen  Licht:  in  den  ersten 
Tagen  beiderseits  gleichgültig,  am  4.  und  5.  Tage  fehlt  jedoch  rechts  die  nun- 
mehr links  vorhandene  Keaction. 


Fig.  32. 

Optische  Reflexe  fehlen  oder  sind  mindestens  stark  abgeschwächt  bis 
zum  7.  Tage,  vom  8.  Tage  an  beiderseits  gleich. 

Nasenlidreflex:  Bis  zum  5.  Tage  rechts  etwas  abgeschwächt,  vom 
6.  Tage  an  beiderseits  gleich. 

Getödtet  nacli  6  Wochen. 

Section:  Hirnhäute  normal.  Die  etwa  18  mm  sagittal  und  22  mm  fron- 
tal messende  Narbe  sitzt  dem  Gyrus  sigmoides  in  der  Weise  auf,  dass  sie  nach 
hinten  mit  dem  hinteren  Rand  des  hinteren  Schenkels,  nach  lateral  mit  dem 
lateralen  Rand  abschliesst,  nach  vorn  reicht  sie  bis  etwas  über  den  Sulcus 
cruc.  in  den  vorderen  Schenkel  hinein.  Nach  medial  bis 7 mm  von  der  Median- 
spalte. Die  Hirnoberilächenpartie  von  der  Narbe  bis  zur  Medianspalte  ist  leicht 
höckerig,  narbig  eingezogen.  Durchschnitt  (dicht  hinter  dem  Sulc.  cruc):  Die 
Rinde  ist  flach  in  der  Ausdehnung  der  Narbe  zerstört;  von  der  Narbe  aus  geht 
im  Markweiss  des  Gyrus  sigmoides  ein  feiner,  blutig  verfarbter  Erweichungs- 
streifen 4  mm  weit  basalwärts.- 


ß.   Operationen  der  zweiten  Seite. 

Beobaclitiiiig-  SS. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  27,  Operation  am  30.  Tage  nach  der  ersten 
Operation.    Unterminirung  des  rechten  Gyrus  sigmoides. 

Motilitätsstörungen:  Hochgradig,  jedoch  am  14.  Tage  (als  der  Hund 
getödtet  wird)  merklich  gebessert.  Rechts  durch  die  2.  Operation  nicht  ver- 
schlimmert, beim  Tode  noch  nachweisbar. 


190 


In  der  Schwebe:   Vergl.  Beob.  6. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  auf  der  lateralen  Hälfte  ohne 
Reaction,  an  den  nächsten  Tagen  schlecht  zu  untersuchen,  vom  7.  Tage  an 
Sehstörung  nur  im  lateralen  Streifen,  am  14.  Tage  daselbst  noch  geringe  Ab- 
schwächung.  Gegen  Licht:  Am  2. und  S.Tage  fehlende  Reaction,  A^om  4. Tage 
bis  zum  Tode  Abschwächung. 

Optische  Reflexe  fehlen  am  2.  Tage,  am  3.  Tage  abgeschwächt,  dann 
normal. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  14  Tage  nach -der  Operation. 

Section:  Hirnhäute  normal.  Die  15  mm  sagittal,  ca.  12  mm  frontal 
messende  Narbe  sitzt  genau  symmetrisch ,    nur  reicht   sie  nicht  ganz  bis  zum 


Fig.  33. 

hinteren  R,and  des  hintere0  Schenkels  des  Gyrus  sigmoides.  Durchschnitt: 
(dicht  hinter  dem  Sulc.  cruc.)  Rinde  der  Narbenausdehnang  entsprechend 
flach  zerstört,  das  unter  der  Narbe  liegende,  den  einschneidenden  Sulci  fol- 
gende Rindengrau  erscheint  wie  auch  links,  vielleicht  etwas  abgeblasst.  In 
der  Markleiste  des  Gyrus  sigmoides  (laterale  Verbindung  zwischen  vorderem 
und  hinterem  Schenkel  desselben)  steigt  ebenfalls  ein  blutig  verfärbter  Erwei- 
chungsstreifen basalwärts;  derselbe  ist  etwa  9  mm  lang. 


Beolbaclituiig:  S9. 

Derselbe  Hund  von  Beobachtung  32.  Aufdeckung  über  Gyrus  sigmoides 
rechts  auf  18  mm  sagittal,  13,5  mm  frontal.  Unterschneidung  des  hinteren 
Schenkels  und  des  lateralen  Theiles  des  vorderen  Schenkels  mit  Präparaten- 
heber.     Wund h eilung:    am  4.  Tage  Wunde   stark   geschwellt,    Entleerung 


—     191     — 

einer  blutig  serösen  Flüssigkeit.  Am  9.  Tage  ist  der  untere  Wundwinkel  etwas 
aufgegangen,  entleert  etwas  serös  eitriges  Secret,  wird  durch  Naht  und  Jodo- 
formcoUodium  wieder  verschlossen. 

Motilitätsstörungen:  Maximal,  am2. TagebeimLaufeneigenthümliche, 
wie  automatische  Bewegungen  im  linken  Vorderbein.  Voltelaufen  nach  rechts. 
Gegen  Mittag  Jackson 'sehe  Krämpfe  vornehmlich  des  Hinterbeins  und 
Nackens,  später  auch  der  Gesichts-  und  Kiefermuskulatur  mit  Betheiligung  des 
linken  Orbicularis  palp.  Dann  bei  Drehung  des  Kopfes  nach  rechts  auch 
krampfartige  Schluck-  und  Leckbewegungen.  Am  3.  Tage  keine  Krämpfe,  aber 
Tendenz  den  Kopf  nach  rechts  zu  drehen,  am  4.  Tage  Vormittags  heftige 
rechtsseitige  Krämpfe,  mit  Deviation  conjuguee  de  la  tete  et  des  yeux  nach 
rechts.  Nachmittags  allgemeine  Krämpfe  mit  automatischen  Laufbewegungen 
und  dilatirten  Pupillen.  Am  5.  Tage  Zuckungen  in  der  rechten  Körperhälfte 
nur  noch  selten,  Gesichtszuckungen  fehlen  ganz,  später  keine  Krämpfe  mehr. 
Erholt  sich  schnell;  Motilitätsstörungen  bis  zum  7.  Tage  maximal,  dann  ab- 
nehmend, aber  bis  zum  30.  Tage  hochgradig,  bis  zum  36.  Tage  (todt)  massig. 
Hund  ist  nach  der  2.  Operation  blödsinnig  geworden. 

In  der  Schwebe  die  gewöhnlichen  Störungen. 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch  am  2.  Tage  links  total,  reagirt  rechts  un- 
geachtet der  Krämpfe.  3.  Tag:  bis  auf  einen  nasalen  Streifen  vorhanden. 
4. — 6.  Tag:  Sehstörung  noch  vorhanden,  doch  wegen  mangelhafter  Reaction 
nicht  genügend  abzugrenzen.  Vom  8.  Tage  an  keine  Sehstörung  mehr.  Gegen 
Licht:  indifferent  bis  zum  8.  Tage,  an  diesem  Tage  links  nichts,  rechts 
blinzelt  er,  am  10.  Tage  gleichgültig,  schnappt  nach  der  Flamme,  indiffe- 
rent bis  zum  13.  Tage,  an  diesem  Tage  erst  gleichgültig,  schnappt  dann  nach 
der  Flamme,  verbrennt  sich,  darauf  heftig  scheuend.  Später  bis  zu  Ende  bei- 
derseits gleiche,  mehr  weniger  starke  Reaction. 

Optische  Reflexe:  Bis  zum4.Tage  links  fehlend,  rechts  sehr  deutlich; 
an  diesem  Tage  auch  rechts  fehlend,  dann  bis  zum  8.  Tage  rechts  schwach 
vorhanden,  bis  zum  10.  Tage  rechts  immer  deutlich,  links  fehlend,  von  diesem 
Tage  an  auch  links  schwach  bis  zum  13.  Tage;  von  da  an  beiderseits  gleich, 
manchmal  links  etwas  schwächer,  mehr  weniger  deutlich  vorhanden. 

Nasenlidreflex:  Links  abgeschwächt  bis  zum4.Tage,  an  diesem  Tage 
beiderseits  fehlend,  am  5.  Tage  links  fehlend,  rechts  angedeutet.  Vom  7.  bis 
13.  Tage  links  abgeschwächt  vorhanden,  von  da  an  beiderseits  gleich,  manch- 
mal links  etwas  schwächer. 

Gestorben  am  36.  Tage. 

Section:  Häute  sonst  normal,  links  einige  zarte,  leicht  lösliche  Ver- 
wachsungen zwischen  Dura  und  Pia.  Im  Gebiet  des  Gyrus  sigmoides  fehlt 
beiderseits  die  Rinde.  Verwachsung  mit  der  die  Knochenlücke  schliessenden 
narbigen  Membran.  Auf  beiden  Seiten  hier,  besonders  links  tiefergehende  Er- 
weichungsherde; links  fast  die  innere  Kapsel  erreichend,  rechts  kleiner, 
durch  Blutfarbstoff  bräunlich  verfärbt. 


—     192     — 

D.    Skarificationeii. 
BeobaditTing-  30. 

Kleines,  junges  Thier.  Aufdeckung  im  Gebiete  des  Gyrus  sigmoides 
links,  auf  sagittal  16,  frontal  14  mm.  Oberflächliche  Skarification  (immer  ca. 
2  mm  tief)  der  ganzen  vorliegenden  Rinde. 


Fiff.  34. 


Fig.  35. 

Motilitätsstörungen:  Hochgradig,  mit  Voltelaufeu  und  Krümmung- 
der  Wirbelsäule  beim  Liegen  .nach  rechts  convex  bis  zum  4.  Tage.  Verlieren 
sich  allmählich,  nach  2Y2  Monaten  noch  spurweise. 

In   der  Schwebe:    Hängt  lange  Zeit  gänzlich,   nach  3  Monaten  noch 


i;)3 


leicht  gestreckt.  Beim  Begreifen  fehlt  Reaction  2Y2  Monate  gänzlich,  nach 
3  Monaten  vorn  noch  stark  abgeschwächt,  hinten  fehlend. 

Sehstörung:  Bis  zum  3.  Tage  völlig  blind;  dann  allmählich  sich 
bessernd,  am  15.  Tage  noch  in  breitem  temporalen  Streifen;  am  19.  Tage  nur 
ganz  aussen  unsicher,  am  25.  Tage  beiderseits  gleich.  Gegen  Licht  immer 
beiderseits  gleichgültig,  nur  am  10.  Tage  rechts  schvi^ächere  Reaction. 

Optische  Reflexe:  2  Stunden  nach  der  Operation  beiderseits  in  ge- 
ringem Maasse  vorhanden.  Vom  2.  Tage  an  rechts  fehlend,  vom  16.  Tage  an 
allmählich  wiederkehrend,  nach  5  Wochen  noch  abgeschwächt,  nach  zwei 
Monaten  normal. 

Nasenlidreflex:  Fehlt  bis  zum  5.  Tage,  nachher  abgeschwächt,  vom 
10.  Tage  an  beiderseits  gleich. 

Getödtet  4  Monate  nach  der  Operation  mit  Curare,  nachdem  inzwischen 
3  Monate  nach  der  Operation  eine  zweite  Operation  im  Hinterlappen  ausge- 
führt war. 

Section:  Vor  der  hinteren  Operationsstelle  leichte  Verklebung  zwischen 
Dura  und  Pia ;  sonst  beide  Häute  normal.  Die  vordere  Operationsstelle  bedeckt 
den  vorderen  Schenkel  des  Gyrus  sigmoides  nach  hinten  bis  zum  Sulcus  cru- 
ciatus,  nach  vorn  noch  wenig  auf  den  Stirnlappen  übergreifend,  lateral  an  der 
IL  Urwindung  abschliessend.  Auf  einem  Durchschnitt  sieht  man  einen  etwa 
keilförmigen  Herd  von  Narbengewebe,  der  sich  allmählich  verjüngend,  sich  etwa 
2—3  mm  in  die  weisse  Substanz  hineinerstreckt.  Das  Rindengrau  fehlt  im 
Gebietdes  vorderen  Schenkels  des  Gyrus.  Der  Seitenventrikel  ist  links  erwei- 
tert und  nach  der  Narbe  zu  ausgezogen. 

Beobachtung-  31. 

Aufdeckung  des  vorderen  Schenkels  des  G3'rus  sigmoides  links  bis  eben 
an  den  Sulcus  cruciatus,  sagittal  16  mm,  frontal  an  der  Tabula  vitrea  12  mm. 
Ca.  19  Einstiche  in  die  freiliegenden  erregbaren  Stellen. 


Fig.  36. 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.    II.  Theil. 


13 


—     194     — 

Motilitätsstörungen:  Unmittelbar  nach  der  Operation  nachweisbar, 
aber  unerheblich ;  weitere  Notizen  fehlen. 

Sehstörung:  Am  2.  Tage  bis  auf  nasalen  Streifen  reactionslos,  dann 
verschwunden.    Gegen  Licht  am  2.  und  3.  Tage  abgeschwächt. 

Optische  Reflexe:  5  Stunden  nach  der  Operation  beiderseits  vorhan- 
den.   Nur  wenig  und  schwankend  verändert  bis  zum  4.  Tage. 

Nasenlidreflex  unverändert. 

Getödtet  4Y2  Monate  nach  der  ersten  Operation.  Da  an  der  Stelle  dieser 
noch  eine  zweite  Operation  vorgenommen  ist,  werden  die  Resultate  der  Sec- 
tion  hier  nicht  angeführt. 

Junger  Hund.  Aufdeclcung  des  linken  Gyrus  sigmoides  auf  sagittal  19, 
frontal  14  mm.  Ausgiebige  Skarification  des  hinteren  Schenkels  und  des  late- 
ralen Drittels  des  vorderen  Schenkels. 

Motilitätsstörungen:  Deutlich,  aber  verhältnissmässig  gering  und 
schnell  verschwindend.    Am  14.  Tage  noch  nachweisbar. 

In  der  Schwebe:  Hängt  in  der  Regel  massig  gestreckt,  manchmal  nur 
wenig  anders  als  links.  Reaction  auf  Begreifen  fehlt  während  der  ganzen 
Dauer  der  Beobachtung. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch  am  2.  Tage  auf  temporalem  Streifen;  am 
3.  und  4.  Tage  dort  vielleicht  noch  unsicher,  dann  normal.  Gegen  Licht  am 
2.  Tage  links  scheuend,  rechts  nicht;  später  indifferent,  jedoch  am  11.  Tage 
gegen  oscillirendes  Licht  links  häufiger  Blinzeln  als  rechts. 

Optische  Reflexe:    3^2  Stunde  nach  der  Operation  eher  stärker,   am 

2.  Tage  fehlend,  bis   zum  10.  Tage;    vom  12.  bis  zum  15.  Tage   rechts  noch 
abgeschwächt. 

Nasenlidreflex  am  2.  und  3.  Tage  abgeschwächt,  dann  normal. 
Hund  gestorben  2  Monate  nach  der  1.  Operation. 
Wegen  des  Obductionsbefundes  vergl.  Beobachtung  29. 

Beobachtixug:  33. 

Aufdeckung  links  vorn  sagittal  17,  frontal  15  mm.  Skarification  des  hin- 
teren Schenkels  und  des  lateralen  Drittels  des  vorderen  Schenkels. 

Motilitätsstörungen:  Am  2.  Tage  recht  erheblich,  am  6.  Tage  schon 
stark  in  der  Abnahme;  am  33.  Tage  noch  Spuren,  am  35.  Tage  nicht  mehr 
nachweisbar. 

In  der  Schwebe:  Hängt  massig  gestreckt,  bald  mehr,  bald  weniger 
bis  zum  33.  Tage.    Beim  Begreifen  alsdann  noch  keine  Reaction. 

Seh  Störung:    Am  2.  Tage   bis   auf  nasalen  Streifen    vorhanden,    am 

3.  Tage   noch   temporaler  Streifen;    am  4.  Tage  verschwunden.     Gegen  Licht 
beiderseits  gleichgültig,  nur  am  11. Tage  blinzelt  er  links  häufiger  als  rechts. 

Optische  Reflexe:  Am  Operationstage,  6  Stunden  nach  der  Operation 
rechts  stärkere  Reaction ;  fehlen  dann  rechts  bis  zum  13.  Tage,  von  da  an  all- 
mählich wiederkehrend;  am  35.  Tage  noch  schwächer  als  links. 


195 


Nasenlidreflex:   Am  2.  Tage  abgeschwächt,  nachher  normal. 
Getödtet  3  Monate  nach  der  Operation. 


Fig.  37. 

Section:  Dura  und  Pia  normal.  Die  Operationsstelle  nimmt  den  ganzen 
Gyrus  sigmoides  ein,  ohne  auf  die  Nachbarwindungen  überzugreifen.  Der 
Durchschnitt  zeigt  nur  eine  ganz  flache  Zerstörung  der  Rinde,  das  Grau  ist 
durch  Narbengewebe  flach  ersetzt.  Die  weisse  Substanz  ist  nicht  mit- 
verletzt. 


E.    Exstirpationeu. 

a.  Einseitige  Operationen. 

Beobaciitung-  34. 

Freilegung  des  linken  Gyrus  sigmoides,  Umschneidung  des  hinteren  und 
des  hinteren  Theiles  des  vorderen  Schenkels  desselben  auf  ca.  1  cm  Tiefe, 
Abtragung  der  umschnittenen  Partie  mit  dem  Präparatenheber,  mit  Ausnahme 
der  medialsten  Partie,  die  unterschnitten  wird.  Knocheulücke  sagittal  17  mm, 
frontal  13  mm.  Ziemlich  starke  Blutung  aus  einer  Knochenarterie  und  aus 
einer  zwischen  Dura  und  Pia  verlaufenden  Vene. 

Motilitätsstörungen:  Sehr  hochgradig,  steht  anfänglich  gewöhnlich 
auf  dem  Dorsum  des  rechten  Vorderfusses,  das  rechte  Hinterbein  stark  dis- 
locirt,  liegt  mit  dem  Rücken  nach  rechts  convex;  vom  10.  Tage  an  langsam 
abnehmend,  am  14.  Tage  (Tag  der  2.  Operation)  noch  hochgradig. 

In  der  Schwebe:  Anfänglich  keine  Differenzen  zwischen  beiden  Seiten, 
.beiderseits  ziemlich  gestreckt.  Vom  4.  Tage  zunehmend  stärkere  Streckung 
der  rechten  Extremitäten,  so  dass  diese  sich  vom  6.  Tage  an  kreuzen.  Vom 
■6.  Tage  an  bei  passiven  Bewegungen  häufig,  nicht  immer,  Muskelwiderstand, 
besonders  schnellt  auch  der  Fuss  nach  passiver  Beugung  im  Fussgelenk  in  die 
Streckstellung    zurück.     Nach  Pumpbewegungen   wird   das    vorher  gestreckte 

13* 


—     196     — 

Vorderbein  gelegentlich  gebeugt.     Vom  2.  bis  6.  Tage  Schnauzenspitze  nach 
rechts,  am  8.  Tage  nur  noch  Wirbelsäule  nach  rechts. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  An  den  ersten  beiden  Tagen  nur  insofern 
angedeutet,  als  er  langsamer  reagirt.  Nachher  fehlend.  Gegen  Licht  beider- 
seits indifferent. 


Fij?.  38. 


Fig.  39.    2.  Durchschnitt. 

Optische  Reflexe  fehlen  bis  zum  17.  Tage,  dann  noch  4  Tage  ab- 
geschwächt. 

Nasenlidreflex:  Am  2.  und  3.  Tage  gegen  Bestreichen  abgeschwächt^ 
gegen  Beklopfen  normal. 

Getödtet  nach  ungefähr  6  Wochen. 


—     197     — 

Section:  Die  Narbe  bedeclvt  den  ganzen  Gyrus.  sigmoides  mit  Ausnahoie 
des  Ursprungs  des  Stirnlappens  aus  seinem  vorderen  Schenkel  und  eines 
schmalen  medialen  Streifens,  die  mediale  Kante  stark  einziehend;  lateral  etwas 
auf  die  IL  Urwindung  übergreifend.  Durchschnitt  circa  durch  die  Mitte  der 
Narbe:  Hirnnarbe  ist  verhältnissmässig  flach,  Gyrus  erscheint  zusammenge- 
zogen, so  dass  die  IL  Urwindung  der  Medianspalte  etwas  näher  als  normal 
liegt.  Die  ünterschneidung  reicht  bis  zur  Medianspalte,  es  steht  aber  medial 
noch  eine  schmale,  allerdings  narbig  veränderte  Rindenbrücke.  Von  der  Narbe 
geht  ein  feiner  strichförmiger  Erweichungsstreifen  in  der  Markleiste  des  Gyrus 
«inige  Millimeter  basalwärts.  Der  linke  Ventrikel  ist  vielleicht  ein  wenig  er- 
weitert. 2.  Durchschnitt  2  mm  weiter  nach  vorn  als  der  erste:  Von  der  Nar- 
benkappe erstreckt  sich  ein  ziemlich  breiter  Erweichungsstreifen,  der  mit  einem 
etwa  2  mm  grossen  Erweichungsherd  am  Fuss  des  Stabkranzes  unmittelbar 
am  Uebergang  in  den  Balken  endigt,  derart  in  die  Tiefe,  dass  er  die  ganze 
Verbindung  der  Balkenstrahlung  an  dieser  Stelle  unterbricht.  Auf  dem  dritten 
Durchschnitt,  noch  2  mm  weiter  nach  vorn,  ist  die  narbige  Veränderung  etwas 
grösser  geworden. 

BeobaditiTiag'  3S. 

Aufdeckung  des  Gyrus  sigmoides  links.  Unterschneidung  des  ganzen 
Gyrus  mit  dem  Präparatenheber,  Abtragung  desselben  mit  der  Schere. 

Motilitätsstörungen:  Anfänglich  hochgradig,  vom  8.  Tage  an  all- 
mählich abnehmend. 


Fig.  40. 


In  der  Schwebe:  Hängt  rechts  vorn  gestreckt,  nach  aussen  deviirend, 
schlaff,  beim  Pumpen  gegen  den  11.  Tag  öfter  Spreizen  der  Zehen.  Beim  Be- 
greifen keine  Reaction. 


—     198     — 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch  wegen  Aengstlichl'eit  des  Thieres  nicht  zu 
untersuchen;  gegen  Licht  bis  zum  11.  Tage  rechts  indifferent,  links  scheut  er 
stark  und  beisst  nach  dem  Licht;  nachher  krank. 

Optische  Pteflexe  fehlen,  gegen  Schluss  der  Beobachtung  vielleicht 
manchmal  gegen  flache  Hand  angedeutet. 

Nasenlidre-flex  ungestört. 


Fiff.  41.     1.  Durchschnitt. 


H 


Flg.  42.     2.  Durclischniu.     HH.  Herde. 
Gestorben  nach  3  Wochen. 

Section:    Pia   zart  und  glatt.     Auf  dem  linken  Gyrus  sigraoides  sitzt, 
denselben    vollkommen   bedeckend,    eine  20  mm  sagittal    und  15  mm   frontal 


—     199     — 

messende  Narbenkappe  auf,  die  medial  bis  zur  Medianspalte  reicht.  Die  Gren- 
zen des  Gyrus  werden  nicht  überschritten.  Der  ganze  vordere  Abschnitt  der 
Hemisphäre  erweist  sich  als  verschmälert  und  nach  der  Narbe  zu  zusammen- 
gezogen. 1.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe,  dem  Sulc.  cruc.  ent- 
sprechend. Rechte  Hemisphäre:  Grösste  Breite  21  mm,  linke  18  mm.  Von  der 
Narbe  auf  der  linken  Hemisphäre  ziehen  blutig  verfärbte  Erweichungsstreifen 
basalwärts,  bis  zum  oberen  Winkel  des  dort  beginnenden  Seitenventrikels. 
2. Durchschnitt  2 — 3mm  hinter  dem  hinteren  Rande  der  Narbe:  Im  oberenTheil 
der  inneren  Kapsel  findet  sich  ein  leicht  blutig  verfärbter,  etwa  linsengrosser 
Erweichungsherd,  der  sie  fast  völlig  durchtrennt  und  nur  medial  und  lateral 
ganz  schmale  Streifen  Markweiss  intact  lässt.  Ein  zweiter  kleiner  Herd  findet 
sich  im  medialen  dorsalen  Bezirk  des  Centrum  semiovale.  Der  Querschnitt, 
namentlich  sein  dorsaler  Theil,  ist  stark  atrophisch. 

Keobaclitiiiio-  30. 

Mittelgrosser  Hund.  Aufdeckung  des  Gyrus  sigmoides  links.  Schädel- 
lücke sagittal-medial  24,  lateral  19,  frontal  14,5  mm.  Der  Gyrus  wird  mit  dem 
Präparatenheber  an  den  äusseren  drei  Seiten  auf  ca.  1  cm  tief  umstechen,  dann 
bis  zur  Palx  unterschnitten  und  endlich  mit  der  Schere  abgetragen.  Nicht 
erhebliche,  aber  anhaltende  Blutung,  so  dass  längere  Zeit  mit  einigen  Stück- 
chen Feuerschwamm  tamponirt  werden  muss. 


Fiff.  43. 


Motilitätsstörungen:  Sehr  hochgradig,  bleibt  unter  anderem  mit 
beiden  rechten  Beinen  auf  dem  Dorsum  stehen,  wenn  man  ein  linkes  Bein  auf- 
hebt; hebt  man  beide  linken  Beine  auf,  fällt  er  um  (vergl.  Fig.  13).  Sehr 
allmähliche  Abnahme  der  Motilitätsstörung  vom  9.  Tage  an ;  am  13.  Tage 
(2.  Operation)  noch  sehr  deutlich. 


—     200     — 

In  der  Schwebe  (vergi.  Beobachtung  8):  Beim  Begreifen  rechts  gleich 
Null,  links  hinten  starke  Reaction,  links  vorn  giebt  er  die  Pfote. 

Sehstörung:  Am  2.  Tage  maximal,  reagirt  gegen  Fleisch  erst  auf  dem 
Nasenrücken,  gegen  Licht  nicht;  am  3.  Tage  ist  der  nasale  Streifen  etwas 
breiter  geworden,  im  unteren  medialen  Quadranten  wird  Fleisch  regelmässig 
bemerkt;  am  4.  Tage  fehlt  Reaction  gegen  Fleisch  nur  noch  bis  zur  Mitte.  Am 


Fig.  44.     1.  Durchschnitt. 


Fig.  45,    2.  Durchschnitt. 


6.  Tage  überall  Reaction  auf  Fleisch,  auch  die  bis  dahin  fehlende  Reaction 
auf  Licht  ist  vorhanden,  jedoch  bis  zum  Ende  der  Beobachtung  (12.  Tag)  ab- 
geschwächt. 


—     201     — 

Optische  Reflexe:  Fehlen  gänzlich  bis  zum  23.  Tage,  dann  noch 
5  Tage  (bis  zum  Tode)  abgeschwächt. 

Nasenlidreflex  (auch  Sensibilität  in  der  Nase)  ungestört. 

Getödtet  nach  4  Wochen. 

Section:  Häute  normal.  Die  etwa  25  mm  im  sagittalen  und  frontalen 
Durchmesser  grosse  Narbe  bedeckt  den  ganzen  Gyrus  sigmoides  und  reicht  bis 
an  die  hier  etwas  eingezogene  mediale  Kante  desselben.  Vorderer  Durchschnitt 
ungefähr  durch  den  Sulcus  cruciatus:  Die  Narbenkappe  sitzt  noch  etwas  auf 
der  II.  ürwindung  auf,  die  Rinde  ist  dort  etwas  abgeblasst.  Rinde  des  Gyrus. 
sigmoides  und  darunterliegendes  Markweiss  zerstört.  Von  der  Narbe  zieht  ein 
Erweichungsstreifen  bis  auf  2mm  an  die  Spitze  des  Seiten  ventrikels  heran,  ebenso 
ein  feiner  Streifen  in  die  Markleiste  der  11.  ürwindung.  Hinterer  Durchschnitt 
am  hinteren  Ende  der  Narbe:  Der  Gyrus  ist  stark  verschmälert,  nur  der  me- 
diale Theil  ist  erhalten,  in  die  Lücke  hat  sich  die  II.  ürwindung  hineingelegt. 
Die  Narbe  zieht  sich  von  der  Oberfläche  bis  in  den  Balken  hinein,  der  noch 
in  seinem  lateralen  ventricularen  Theile  von  kleinen  Erweichungsherden  durch- 
setzt ist. 

Beobachtung-  ST^. 

Ziemlich  kleiner  Hund.  Aufdeckung  des  Gyrus  sigmoides  links.  Schä- 
dellücke sagittal  21,  frontal  10  mm.  ümschneidung  des  Gyrus  etwa  1  cm  tief 
und  Abtragung  von  hinten  her  mit  der  breiten  Seite  des  Präparatenhebers. 

Motilitätsstörungen:  Am  zweiten  Tage  zeigt  er  beim  umherlaufen 
deutliches    Voltelaufen   nach  links,    dreht   sich   auch  oft   fast  auf  der  Stelle 


Fig.  46. 

links  herum,  sogar  beim  Fressen  aus  dem  Teller;  Voltelaufen  gelegentlich  noch 
am  12.  Tage.  Anderweitige  Motilitätsstörungen  massig  hochgradig,  öfter  durch 
Ortsbewegungen  des  von  jeher  lebhaften  Thieres  theilweise  verdeckt. 


—     202     — 

In  der  Schwebe:  Hängt  stets  rechts  mehr  oder  weniger  stark  gestreckt. 
Die  Streckung  nimmt  beim  Begreifen  und  passiven  Bewegungen  häufig,  beim 
Zeigen  von  Fleisch  vom  6.  Tage  an  zu.  Die  Muskulatur  zeigt  in  der  Regel 
keinen,  an  einzelnen  Tagen  aber  vorübergehend  einen  mehr  oder  minder  star- 
ken Widerstand  gegen  passive  Bewegungen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch  am  2.  Tage  Reaction  nur  im  schmalen, 
nasalen  Streifen,  am  4.  Tage  in  der  medialen  Hälfte  des  Gesichtsfeldes,  in  der 
unteren  Partie  besser;  am  6. Tage  zweifelhaft,  ob  noch  vorhanden,  vom  7.  Tao-e 
an  fehlend.  Gegen  Licht:  Reaction  fehlend  am  2.  Tage,  vom  4.  Tage  an  sehr 
deutlich  vorhanden. 


Fig.  47. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung  gänzlich, 
obwohl  sie  am  11.  und  12.  Tage  anscheinend  nachweisbar  gewesen  waren, 
(Gekreuzter  Reflex?)    Links  waren  sie  stets  sehr  lebhaft. 

Getödtet  nach  27  Tagen. 

Section:  Pia  zart  und  glatt.  Unterhalb  der  Operationsstelle  findet  sich 
ein  flaches,  derbes,  bereits  ziemlich  entfärbtes,  der  Innenfläche  der  Dura  an- 
haftendes, mit  der  Pia  nicht  verklebtes  Blutcoagulum,  das  sich  bis  zur  Basis 
herunterzieht,  ebenso  in  die  Medianspalte  des  Gehirns  zwischen  den  beiden 
Operationsstellen  bis  nach  dem  vorderen  Pol  der  Stirnhöhle  sich  erstreckt. 
Die  ca.  20  mm  sagittal  und  13  mm  frontal  messende  Narbe  sitzt  dem  Gyrus 
sigm.  auf,  ihn  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  zerstörend.  Die  Zerstörung  reicht 
bis  zur  Medianspalte  des  Gehirns,  die  Kante  ist  hier  nach  der  Narbe  zu  ein- 
gezogen. Durchschnitt  etwa  durch  den  Sulc.  cruc. :  Das  Rindengrau  und  die 
ganze  darunterliegende  Marksubstanz  im  Gebiet  des  Gyrus  ist  vollständig  zer- 


—     203     — 

stört,  von  der  Narbe  aus  ziehen  Erweichungen  nach  dem  Balken  zu  und  unter 
dem  Sulc.  coronalis  weg  in  die  II.  Urwindung.  Der  Querschnitt  ist  verzogen 
und  stark  verkleinert. 

Beobaclitung'  3S. 

Aufdeckung  des  linken  Gyrus  signioides  auf  18  mm  sagittal  und  16  mm 
frontal.  Lateral  ist  ein  schmaler  Abschnitt  der  II.  Urwindung  freigelegt.  Vorn 
ist  der  Ursprung  des  Stirnlappens  aufgedeckt.  Unterschneidung  und  Abtragung 
des  freiliegenden  Theiles  des  Gyrus  sigmoides  von  hinten  her  und  thunlichste 
Zerstörung  der  schmalen  medialen,  nicht  mit  aufgedeckten  Partie.  Massige 
Blutung. 

Motilitätsstörungen:  Dreht  und  zwar  noch  am  5.  Tage  nach  links. 
Anderweitige  Motilitätsstörungen  hochgradig,  noch  am  5.  Tage  maximal,  am 
9.  Tage  erheblich  abgenommen;  ist  der  Hund  etwas  lebhaft,  so  setzt  er  bei 
jeder  Berührung  das  rechte  Vorderbein  fort,  lässt  auch  nicht  mit  dem  Dorsum 
aufsetzen.  Legt  man  ihm  aber  die  Hand  mit  sanftem  Druck  auf  den  Rücken, 
so  lässt  er  aufsetzen  und  dislociren.  Am  19.  Tage  hebt  er  auf  dem  Tisch  beim 
Fressen  bei  der  leisesten  Berührung  das  rechte  Vorderbein  in  die  Höhe.    Rech- 


Fig.  48. 

tes  Vorder-  und  Hinterbein  kann  man  noch  mit  dem  Dorsum  aufsetzen,  beide 
Beine  rutschen  noch  aus,  lassen  sich  dislociren,  aber  nur,  wenn  der  Hund  ganz 
beruhigt  ist  und  man  einen  leisen  Druck  auf  den  Rücken  ausübt,  dabei  und 
später  spontanes  Ausrutschen  mit  den  rechten  Extremitäten. 

In  der  Schwebe:  Hängt  vom  2.  Tage  an  dauernd  gestreckt  und  schlaff. 
Auf  Pumpbewegungen  beugt  sich  gelegentlich  das  rechte  Hinterbein  stärker, 
so  dass  es  sich  mit  dem  Vorderbein  kreuzt. 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch  am  2.  Tage  nicht  zu  untersuchen,  am 
3,  Tage  laterale  Hälfte,  am  4.  Tage  in  der  Schwebe  ein  nicht  sehr  breiter  late- 


—     204     — 

raler  Streifen,  der  auf  dem  Tische  breiter  erscheint.  Am  5.  Tage,  wenn  über- 
haupt, dann  nur  noch  geringe  Sehstörung.  Der  untere  laterale  Quadrant  hellte 
sich  früher  auf.  Gegen  Licht  bis  zum  9.  Tage  beiderseits  indifferent,  an  die- 
sem Tage  beiderseits  scheuend. 


Fiff.  49. 


Fig.  50.     Die  1.  Reihe  der  Gesichtsfelder  bezieht  sich  auf  Beob.  38, 
die  2.  Reihe  auf  Beob.  42. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  anfangs  gänzlich,  beginnen  vom  7.  Tage  an 
zurückzukehren,  am  13.  Tage  beiderseits  gleich. 

Nasenlid refl ex:  Stets  lebhaft,  obwohl  am  2.  und  3.  Tage  etwas  ab- 
geschwächt. 

Getödtet  nach  ca.  10  Wochen  nach  einer  2.  Operation. 

Section:  Häute  normal.  Die  Auflagerung  misst  18  mm  sagittal,  frontal 
in  der  Mitte  13  mm.  Sie  nimmt  den  ganzen  vorderen  Schenkel  und  einen 
grossen  Theil  des  hinteren  Schenkels  des  Gyrus  sigmoides  ein;  der  mediale 
Rand  der  Hemisphäre  ist  stark  eingezogen.  Durchschnitt  mitten  durch  den 
Sulcus  cruciatus:   Die  Stelle  des  Gyrus  sigmoides  ist  durch  ein  narbiges  Ge- 


—     205     — 

webe  eingenommen,  an  das  sich  eine  grössere  Anzahl  von  grau-röthlichen  Er- 
weichungsherden  in  der  weissen  Substanz  anschliesst.  Die  Erweichungsherde 
erreichen  aber  nicht  den  nach  oben  starif  ausgezogenen  Ventrikel. 

ß.    Operationen   der  zweiten  Seite. 
Beobaditnng-  3d. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  34.  Freilegung  des  rechten  Gyrus  sigmoides, 
Knochenlüclce  14  mm  sagittal,  15  mm  frontal.  Exstirpation  des  Gyrus  sehr 
tief  und  ausgiebig  mit  Präparatenheber.  Aus  dem  Grunde  der  Wunde  entleert 
sich  anscheinend  Cerebrospinalflüssigkeit.    Geringe  Blutung. 

Motilitätsstörungen:  Links  maximal  bis  zum  16.  Tage,  auch  rechts 
immer  sehr  hochgradig,  dann  allmählich  abnehmend,  am  29.  Tage  bei  Schluss 
der  Beobachtung  beiderseits  noch  sehr  deutlich. 

In  der  Schwebe:  Hängt  beiderseits  während  der  ganzen  Beobachtungs- 
dauer mit  den  Vorderextremitäten  stark  gestreckt,  schlaff,  nur  am  6.  Tage  links 
vorn  im  Fussgelenk  federnder  Muskelwiderstand. 


Fig.  51. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Hund  sehr  apathisch,  in  der  Schwebe 
nicht  zu  untersuchen,  auf  dem  Tisch  vom  2.  Tage  an  Sehstörung  nachweisbar, 
aber  nicht  immer  abzugrenzen,  am  3.  Tage  breite  temporale  Sehstörung,  unten 
weniger  ausgesprochen;  am  6.  Tage  ca.  ein  Drittel,  dann  nicht  mehr  nachweisbar. 
Gegen  Licht:  fehlt  P^eaction  bis  zum  8.  Tage,  dann  beiderseits  indifferent  bis 
zum  12.  Tage,  wo  er  beiderseits  deutlich,  rechts  stärker,  scheut.  Am  17.  Tage 
beiderseits  gleich,  schon  weit  aussen  scheuend.    Zwischendurch  indifferent. 

Optische  Reflexe:  Beginnen  vom  6.  Tage  an  sich  rechts  schwach  ein- 
zustellen, links  am  29.  Tage  die  ersten  Spuren. 

Nasen lidrefl ex  dauernd  links  abgeschwächt. 


206 


Hund  immer  sehr  stumpf,  apathisch,  in  der  Schwebe  für  Fleisch  nicht 
mehr  zu  fixiren. 

Getödtet  am  29.  Tage. 

Section:  Der  linken  Seite  entsprechend,  nur  reicht  die  Narbenkappe 
etwas  weiter  nach  vorn  und  nicht  bis  zur  medialen  Kante,  wohl  aber  ist  diese 
auch  hier  stark  eingezogen.  Durchschnitt  (wie  links):  der  Defect  dringt  keil- 
förmig in  die  Hirnmasse  vor,  die  an  dieser  Stelle  durch  dichtes  Narbengewebe 
ersetzt  wird.  Er  reicht  nicht,  auch  nicht  in  Gestalt  einer  Unterschneidungs- 
spalte,  bis  an  die  Medianspalte,  doch  ist  dieser  Theil  der  Rinde  stark  abge- 
blasst.  Im  Marklager  dicht  über  der  Spitze  des  Nucleus  cäudatus  findet  sich 
ein,  mehrere  Millimeter  grosser  Erweichungsherd,  der  einen  Zapfen  noch  in 
den  Balken  hinüberschickt.  Der  Ventrikel  ist  auf  diesem  Durchschnitt  nicht 
verletzt.  Die  angrenzenden  Rindenpartien,  besonders  der  II.  Urwindung  und 
die  des  einschneidenden Sulc.coronalis  sind  stark  abgeblasst.  Die  II.  Urwindung 
ist  auch  hier  medial  verzogen,  der  Querschnitt  des  Gyrus  sigmoides  verschmä- 
lert. Auf  dem  II.  Durchschnitt,  2  mm  vor  dem  ersten  ist  die  narbige  Verän- 
derung etwas  kleiner  geworden. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  36.  Aufdeckung  des  Gyrus  sigmoides  rechts. 
Der  hintere  Schenkel  liegt  nicht  ganz  frei.  Abtragung  des  Gyrus  auf  ca.  1  cm 
Tiefe,  wie  bei  der  vorigen  Operation  thunlichst  weit  nach  der  Mittellinie  zu. 
Bald  nach  der  Operation  kriecht  der  Hund  auf  dem  Bauche  nach  rechts  im 
Kreise  herum. 


Fig.  52. 

Motilitätsstörungen:  Am  2.  Tage  hochgradige  Motilitätsstörung 
links,  die  rechtsseitige  hat  nicht  zugenommen.  Liegt  nach  links  convex, 
Schnauzenspitze  nach  rechts.     Die  Motilitätsstörungen  bleiben,  abgesehen  von 


—     207     — 

einer  geringen  Abnahme  vom  7.  Tage  an,  bis  zum  Sclihisse  der  Beobachtung 
unverändert. 

In  der  Schwebe:  Am  2.  Tage  hängt  er  beiderseits  massig  gestreckt. 
Am  3.  Tage  hängt  er  links  schlaff  herab,  aber  nicht  extrem  gestreckt,  rechts 
leicht  gebeugt,  streckt  rechts  aber  sofort,  wenn  man  ihm  Fleisch  vorhält.  Vom 
5.  Tage  an  streckt  er  beide  Beine  beim  Vorhalten  von  Futter,  ein  Symptom, 
welches  linkerseits  in  den  nächsten  Tagen  noch  zunimmt.  Die  Extremitäten 
zeigen  dabei  gegen  passive  Bewegungen  keinen  Widerstand.  Beim  Begreifen 
niemals  Reaction. 

Sehstörung:  Fehlt  gegen  Fleisch  am  2.  Tage  wahrscheinlich,  vom 
3.  Tage  an  sicher.    Gegen  Licht  verhält  er  sich  beiderseits  indifferent. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  links,  stellen  sich  rechts  allmählich,  nicht 
alle  Tage  gleich,  wieder  ein,  so  dass  sie  gegen  Ende  der  Beobachtung  dort 
auch  gegen  schmale  Hand  öfter  nachweisbar  sind.  Zu  dieser  Zeit  beginnen  sie 
auch  links  wiederzukehren. 

Nasenli  dreflex   unverändert. 

Der  Hund  wurde  nach  der  zweiten  Operation  blödsinnig,  wurde  aber 
nicht  bösartig  und  zeigte  keinen  vermehrten,  sondern  eher  einen  verminderten 
Bewegungs  drang. 

Getödtet  am  15.  Tage. 

Section:  Häute  normal.  Die  runde  15  mm  im  Durchmesser  messende 
Narbe  bedeckt  wie  links  den  Gyrus  sigmoides  bis  auf  einen  etwa  3  mm  breiten, 
aber  eingezogenen  medialen  Streifen.  Vorderer  Durchschnitt  (ungefähr  durch 
den  Sulcus  cruc):  Rinde  des  Gyrus  und  ein  grosserTheil  des  darunterliegenden 
Markes  durch  eine  ziemlich  derbe  braune  Narbe  ersetzt,  die  sich  aber  weniger 
zusammengezogen  hat  als  linkerseits,  so  dass  der  Gyrus  weniger  stark  ver- 
schmälert erscheint  als  dort.  Auch  der  mediale,  nicht  von  der  Narbe  bedeckte 
Theil  zeigt  sich  unterschnitten,  das  Grau  hier  abgeblasst.  Von  der  Narbe  zieht 
ein  blutig  durchsetzter  Zapfen  medialwärts.  Ausserdem  fanden  sich  dicht  über 
dem  oberen  Winkel  des  Nucl.  caud.  ein  Erweichungsherd  und  ebenso  unter 
dem  Sulc.  coronalis  im  Markweiss.  Hinterer  Durchschnitt  am  hinteren  Ende 
der  Narbe:  Das  Markweiss  des  Gyrus  sigmoides  und  eines  Theiles  der  H.  Ur- 
windung  bis  herunter  zum  Eintritt  des  Balkens  und  das  laterale  Ende  dieses 
sind  blutig  durchsetzt  und  narbig  verändert.  Die  Rinde  des  Gyrus  bis  auf 
den  abgeblassten  medialen  Theil  völlig  zerstört. 

Beobaclitim^  41. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  37.  Ausgedehnte  Freilegung  des  rechten  Gyrus 
sigmoides,  der  dann  mit  Präparatenheber  und  Schere  in  der  Tiefe  von  ca.  1  cm 
abgetragen  wird.  Die  Zerstörung  erstreckt  sich  auch  unter  die  Knochenränder 
der  Lücke  und  nach  der  Palx  zu  ausgiebig. 

Motilitätsstörungen:  Am  2.  Tage  ziemlich  hochgradig,  am  Schluss 
der  Beobachtung  (12.  Tag)  noch  sehr  deutlich.  Am  2.  Tage  Voltelaufen.  Der 
Bewegungsdrang  ist,  wenn  auch  noch  vorhanden,  entschieden  weniger  hoch- 
gradig als  vor  der  Operation. 


208 


In  der  Schwebe:  Hängt  während  der  ganzen  Beobachtungszeit  beider- 
seits gleichmässig  gestreckt,  am  2.  Tage  rechts  mehr  als  links;  meist  schlaff, 
gelegentlich  in  Folge  von  massenhaften  Bewegungen  leichten  Muskelwiderstand 
zeigend.  Auf  Pumpen  und  Begreifen  während  der  ganzen  Beobachtungszeit 
keine  Reaction. 


Fig.  53. 


Sehstörung:  Am  2.  Tage  so  hochgradig,  dass  er  mit  der  linken  Seite 
des  Kopfes  überall  anstösst,  den  Fleischteller  links  nicht  sieht  etc.  Am  3.  Tage 
und  später  gegen  Fleisch  gar  keine  Sehstörung  mehr.  Gegen  Licht  am  2.  Tage 
rechts  nicht,  links  stark  scheuend,  vom  3.  Tage  an  gleichmässige  Reaction,  vom 
4.  Tage  an  regelmässig  derart,  dass  er,  sobald  er  des  Lichtes  ansichtig  wird 
(rechts  wie  links),  zu  heulen  beginnt,  die  Nase  hineinsteckt,  zurückfährt,  um 
gleich  darauf  die  Nase  wieder  hineinzustecken. 

Optische  Reflexe  fehlen  beiderseits  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung. 

Nasenlidref] ex  ungestört. 

Getödtet  am  12.  Tage  nach  der  Operation. 

Section:  Die  15  mm  sagittal  und  23  mm  frontal  messende  Narbe  sitzt 
dem  Gyrus  sigm.  derart  auf,  dass  sie  lateral  bis  an  den  Sulc.  coronalis  reicht, 
nach  vorn  und  hinten  mit  dem  Gyrus  abschliesst,  aber  nach  medial  eine  ca. 
6  mm  breite  Fläche  freilässt.  Durchschnitt:  Rinde  des  Gyrus  und  ein  grosser 
Theil  der  Marksubstanz  zerstört,  auch  das  nicht  von  der  Narbe  bedeckte  Stück 
erweist  sich  als  unterschnitten;  der  ringsum  erweichte  Spalt  geht  bis  zur 
Medianspalte  des  Gehirns.  Von  der  Narbenkappe  zieht  ein  breiterErweichungs- 
streifen  nach  dem  Balken  und  dem  oberen  Winkel  des  Nucl.  caud.  und  ein 
feiner  in  die  Markleiste  der  II.  Urwindung. 


—     209     — 


Beobaclitviiig:  4Ö. 

Derselbe  Hund  von  Beobachtung  38.  Aufdeckung  vorn  rechts  über  Gyrus 
sigmoides  auf  20  mm  sagittal,  17  mm  frontal.  Abtragung  der  Dura,  doch  so, 
dass  ein  Abschnitt  der  II.  Urwindung,  der  mit  freigelegt  war,  von  ihr  bedeckt 
bleibt.  Das  freiliegende  Rindenstück  wird  mit  dem  Präparatenheber  umstochen, 
dann  herausgehoben  und  etwa  ^4  cm  tief  mit  der  Schere  abgetragen.  Auch 
die  von  der  medialen  Brücke  bedeckte  Rinde  wird  mit  dem  Präparatenheber 
thunlichst  herausbefördert.  Ziemlich  erhebliche  Blutung  aus  der  Arteria  cru- 
ciata,  die  aber  mit  Penghawar  Yambee  sofort  steht. 


Fig.  54. 

Wunde  nie  geschwellt  oder  empfindlich,  dagegen  wird  am  5.  und  6.  Tage 
eine  massige  Menge  einer  blutig  gefärbten,  nicht  eitrigen  Flüssigkeit  durch 
Druck  entleert  und  die  Wunde  alsdann  wieder  mit  JodolormcoUodium  ver- 
schlossen. 

Motilitätsstörungen:  Bevorzugt  bis  zum  12.  Tage  die  Drehung  nach 
rechts.  Motilitätsstörungen  massig  hochgradig,  immerhin  so,  dass  er  bei  Dis- 
locationsversuchen  des  rechten  Vorderbeins  umfällt,  allmählich  abnehmend. 
Die  Motilitätsstörungen  der  rechten  Seite  haben  in  Folge  der  2.  Operation  nicht 
zugenommen. 

Am  21.  Tage  doppelseitiger,  links  stärkerer  Anfall  von  Facialiskrampf, 
durch  Klysma  von  2,0  g  Chloral  coupirt. 

In  der  Schwebe  werden  eine  Reihe  von  Beobachtungen  gemacht,  auf 
die  hier  nicht  näher  eingegangen  werden  soll. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  rechts  ein  schmaler  nasaler 
Streifen,  links  lateral  oben  ein  amblyopischer  Fleck.  Am  5.  Tage  Sehstörung 
rechts   verschwunden,   links    der    amblyopische  Fleck  kleiner  geworden.     Am 

Hitzig,  Gesammelte  Abliandl.     11.  Theil.  14 


—     210     — 

8.  Tage  auch  dieser  Fleck  verschwunden.  Gegen  Licht  verhält  sich  der  Hund 
beiderseits  indifferent. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  anfänglich  gegen  schmale  Hand,  gegen 
flache  Hand  immer  beiderseits  nachweisbar,  vom  7.  Tage  an  beiderseits  gleich. 

Getödtet  nach  ca.  5  Wochen. 

Section:  Häute  normal.  Die  Auflagerung  misst  10,5  mm  sagittal, 
12  mm  frontal.  Sie  sitzt  auf  dem  vorderen  Schenkel  des  Gyrus  sigmoides  und 
auf  dem  vorderen  Theil  des  hinteren  Schenkels.  Der  mediale  Rand  ist  stark 
eingezogen.  Beide  Auflagerungen  sind  genau  symmetrisch,  nur  erstreckt  sich 
die  linke  vorn  und  hinten  etwas  weiter  als  die  rechte  und  noch  ein  wenig  auf 
die  IL  Urwindung.  Durchschnitt  mitten  durch  den  Sulcus  cruciatus  zeigt  ein 
sehr  ähnliches  Bild  wie  Beob,  38,  nur-  ist  der  Ventrikel  bei  Weitem  weniger 
ausgezogen,  dagegen  erscheint  die  ganze  Hemisphäre  stärker  atrophisch.  In 
der  Umgebung  der  Narbe  ist  die  Rinde  stark  abgeblasst. 

F.    Doppelseitige  frontale  Durclitrennung  des  vorderen 
Schenkels  des  Gyrus  sigmoides. 

Beobachtung-  43. 

Doppelseitige  Aufdeckung  der  lateralen  Y^  des  Gyrus  sigmoides.  Ver- 
ticale  Abtrennung  der  nach  vorn  gelegenen  Rinde  dieses  Schenkels  mit  dem 
Präparatenheber. 

Motilitätsstörungen:  Am  2.  Tage  leichte  Motilitätsstörungen  an  den 
rechten  Extremitäten.  Am  3.  Tage  rechts  wie  am  2.  Tage,  links  hochgradiger. 
Am  4.  Tage  Zunahme  der  Motilitätsstörungen  rechts,   rutscht   mit   allen    vier 


Fig.  55. 

Extremitäten   auseinan-der.      Abnahme  der  Störungen  vom  12.  Tage  an, 
17.  Tage  nicht  mehr  nachzuweisen. 


am 


—     211     — 

In  der  Schwebe:  Am  2.  Tage  hängt  er  rechts  vorn  stark,  im  Uebrigen 
massig  gestreclct.  Beim  Begreifen  rechts  vorn  nichts,  sonst  wenig.  Am 
3.  Tage  hängt  er  rechts  vorn  nur  massig,  links  vorn  stark  gestreckt,  hinten 
beiderseits  gestreckt.  Beim  Begreifen  vorn  nichts,  hinten  wenig.  Am  4.  Tage 
hängt  er  links  vorn  stark  gestreckt,  rechts  vorn  massig  angezogen.   Links  zeigt 


Fly;.  56. 


H 


Fig.  57.     H.  Erweichungsherde. 

sich  im  Gegensatz  zu  rechts,  bei  passiven  Bewegungen  im  Ellenbogengelenk 
leichter  Muskelwiderstand  bei  Flexion.  Vom  17,  Tage  an  beim  Begreifen 
überall  schwache  Reaction,  keine  Anomalien  der  Haltung  mehr. 

14* 


—     212     — 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch:  An  vielen  Tagen  wegen  Unruhe  des  Hun- 
des nicht  oder  nicht  deutlich  zu  bestimmen.  Am  3.  Tage  links  hochgradig, 
fehlt  rechts,  am  4.  Tage  links  fast  völlig  blind,  rechts  etwa  bis  zur  Mitte;  am 
10.  Tage  beiderseits  noch  hochgradig,  links  mehr  als  rechts.  Am  12.  Tage 
beiderseits  Sehstörung,  die  aber  nicht  mehr  sehr  hochgradig  sein  kann.  Am 
15.  Tage  noch  nachweisbar,  nachher  nicht  mehr.  Gegen  Licht:  Am  2.  Tage 
beiderseits  wenig,  aber  gleich  reagirend,  am  3,  Tage  rechts  scheuend,  links 
indifferent,  am  4.  Tage  beiderseits  wenig  scheuend. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  links  gänzlich  bis  zum  10.  Tage,  dann 
gegen  flache  Hand  vorhanden.  ,  Am  12.  Tage  normal.  Rechts  abgeschwächt 
bis  zum  28.  Tage. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  nach  5  Wochen. 

Section:  Keine  meningitischen  Veränderungen.  Linke  Hemisphäre:  Auf 
dem  vorderen  Schenkel  des  Gyrus  sigmoides  sitzt  die  etwa  8  mm  in  jedem 
Durchmesser  grosse  Narbe  auf.  Dieselbe  reicht  medial  fast  bis  zur  Median- 
spalte, nach  hinten  und  vorn  schliesst  sie  mit  der  hinteren  resp.  vorderen 
Grenze  des  Schenkels  ab.  Durchschnitt  durch  die  hintere  Hälfte  der  Narbe 
dicht  vor  dem  Sulcus  cruciatus:  Vom  medialen  Rand  der  Narbe  geht  eine 
blutig  durchsetzte  Spalte  12  mm  basalwärts,  über  der  Ausstrahlungsstelle  des 
Balkens  endend,  ohne  die  innere  Kapsel  zu  erreichen.  Zu  beiden  Seiten  der 
Spalte  finden  sich  punktförmige,  blutig  verfärbte  Erweichungen  im  Markweiss. 
Rechte  Hemisphäre:  Narbe  liegt  genau  symmetrisch.  Durchschnitt  wie  links: 
Mitten  im  Markweiss  etwas  nach  oben  und  aussen  vom  oberen  Ende  der  inneren 
Kapsel  liegt  ein  etwa  2  mm  im  Durchmesser  grosser,  unregelmässig  gestalteter 
Erweichungsherd,  ohne  sichtbare  Communication  mit  der  Narbe.  Schräg  nach 
oben  medial  davon,  fast  ganz  im  medialen  Rindengrau  liegt  ein  etwas  grösserer 
ein  Blutcoagulum  enthaltender  Erweichungsherd. 


1.  Selistörungen:  In  den  21  vorstehend  mitgetheilten  Beobach- 
tungen fanden  sich  Sehstönnigen  verschiedener  Art  und  verschiedener 
Dauer  20  mal;  sie  fehlten  nur  in  1  Falle  (Beob.  40),  welcher  eine  2. 
symmetrische  Exstirpation  betraf,  gänzlich.  Im  üebrigen  muss  die  Reac- 
tion  der  Hunde  gegen  Fleisch  und  Licht,  welche  sich,  ganz  abgesehen 
davon,  dass  die  Hunde  sich  vielfach,  wie  früher  erwähnt,  gegen  Licht 
überhaupt  indifferent  verhalten,  keineswegs  gleichmässig  gestaltet,  einer 
gesonderten  Betrachtung  unterzogen  Werden. 

Dauer  der  Störung,  aa)  Die  Reaction  gegen  Fleisch  war  beein- 
trächtigt nur  am  2.  Tage  in  1  Falle  (Beob.  27  erstmalige  Unterschnei- 
dung des  ganzen  Gyrus),  und  zwar  in  unsicherer  Weise,  in  einem 
2.  Falle  (Beob.  34  erstmalige  tiefe  Exstirpation  des  hinteren  Schenkels 
dun  des  hinteren  Theiles    des  vorderen  Schenkels)  durch    einseitig  ver- 


—     213     — 

laugsamtes  Ergreifen  des  Fleisches,  in  einem  3.  Falle  (Beob.  31  Skari- 
fication  des  vorderen  Schenkels)  durch  totale  Amblyopie,  in  einem 
4.  Falle  (Beob.  41  Exstirpation  des  ganzen  Gyrus  der  2.  Seite)  durch 
totale  Blindheit;  sie  war  beeinträchtigt  3  Tage  in  1  Falle  (Beob.  33 
Skarification  des  hinteren  Schenkels  und  des  lateralen  Drittels  des  vor- 
deren Schenkels);  4  Tage  in  2  Fällen  (Beob.  25  erstmalige  ünterschnei- 
dung  des  hinteren  Schenkels  und  des  lateralen  Drittels  des  vorderen 
Schenkels  und  Beob.  32  Skarification  des  hinteren  Schenkels  und  des 
lateralen  Drittels  des  vorderen  Schenkels);  5  Tage  in  2  Fällen  (Beobb.  36 
und  38  erstmalige  Exstirpationen  des  ganzen  Gyrus);  6  Tage  in  3  Fällen 
(Beob.  24  Anätzung  des  ganzen  Gyrus,  Beob.  37  erstmalige  Exstirpation 
des  ganzen  Gyrus  und  Beob.  39  Exstirpation  des  ganzen  Gyrus  der 
2.  Seite);  7  Tage  in  2  Fällen  (Beob.  29  Unterschneidung  des  hinteren 
Schenkels  und  des  lateralen  Theiles  des  vorderen  Schenkels  der  2.  Seite 
und  Beob.  42  Exstirpation  des  ganzen  Gyrus  der  2.  Seite)  (gleichseitiges 
Auge  4  Tage);  11  Tage  in  1  Fall  (Beob.  26  erstmalige  Unterschneidung 
des  hinteren  Schenkels  und  des  lateralen  Theiles  des  vorderen  Schen- 
kels); 13  Tage  in  1  Falle  (Beob.  23  Anätzuug  des  hinteren  Schenkels 
und  der  hinteren  Hälfte  des  vorderen  Schenkels);  14  Tage  ebenfalls  in 

I  Falle  (Beob.  28  Unterschneidung  des  ganzen  Gyrus"  der  2.  Seite). 
15  Tage  in  1  Falle  (Beob.  43  doppelseitige  frontale  Durchtrennung  des 
vorderen  Schenkels  des  Gyrus  sigmoides;  links  Sehstörung  hochgradiger 
als  rechts,  wo  sie  bis  incl.  3.  Tag  fehlt);  24  Tage  in  1  Falle  (Beob.  30 
Skarification  des  vorderen  Schenkels  des  Gyrus  sigmoides).  In  1  Falle, 
in  dem  eine  Sehstörung  gegen  Licht  nachweisbar  war  (Beob.  35  erst- 
malige Exstirpation  des  ganzen  Gyrus)  war  die  Reaction  gegen  Fleisch 
wegen  Aengstlichkeit  des  Thieres  nicht  zu  prüfen. 

Hiernach  war  eine  Sehstörung  also  vorhanden  bei  2  Anätzungen 
je  6    und  13  Tage,    bei  3    erstmaligen  Unterschneidungen   je  2,  4  und 

II  Tage,  bei  4  Skarificationen  je  2,  3,  4  und  24  Tage,  bei  5  erstmaligen 
Exstirpationen  je  2,  5,  5  und  6  Tage,  während  die  Reactiou  gegen 
Fleisch  in  einem  Falle  nicht  zu  untersuchen  war,  bei  2  Unterschneidun- 
gen der  2.  Seite  je  7  und  14  Tage,  bei  4  Exstirpationen  der  2.  Seite  je 
2,  6  und  7  Tage,  während  in  einem  Falle  überhaupt  keine  Sehstörung 
nachzuweisen  war;  bei  einer  doppelseitigen  frontalen  Durchtrennung  des 
vorderen  Schenkels  des  Gyrus  sigmoides  15  Tage. 

bb)  Die  Reaction  gegen  Licht  war  beeinträchtigt  2  Tage  lang 
in  1  Falle  (Beob.  41  Exstirpation  des  ganzen  Gyrus  der  2.  Seite); 
3  Tage  lang  in  2  Fällen  (Beob.  37  erstmalige  Exstirpation  des  ganzen 
Gyrus  und  Beob.  31  Skarification  des  vorderen  Schenkels,  abgeschwächt); 
5  Tage    in  1  Falle  (Beob.  27    erstmalige   Unterschneidung    des    ganzen 


—     214     — 

Gyrus);  6  Tage  (mindestens)  in  1  Falle  (Beob.  23  Anätzung  des  hin- 
teren Schenkels  und  der  hinteren  Hälfte  des  vorderen  Schenkels); 
8  Tage  (mindestens)  in  1  Falle  (Beob.  29  Unterschneidung  des  hin- 
teren Schenkels  und  des  lateralen  Theiles  des  vorderen  Schenkels  der 
2.  Seite);  in  1  Falle  (Beob.  26  erstmalige  ünterschneidung  des  hinteren 
Schenkels  und  des  lateralen  Theiles  des  vorderen  Schenkels)  9  Tage, 
die  letzten  5  Tage  abgeschwächt;  10  Tage  in  2  Fällen  (Beob.  25  erst- 
malige Unterschneidung  des  hinteren  Schenkels  und  des  lateralen  Drit- 
tels des  vorderen  Schenkels,  und  Beob.  30  Skarification  des  vorderen 
Schenkels);  11  Tage  in  3  Fällen  (Beobb.  32  und  33  Skarificationen  des 
hinteren  Schenkels  und  des  lateralen  Drittels  des  vorderen  Schenkels 
und  Beob.  35  (hier  mindestens  11  Tage)  erstmalige  Exstirpation  des 
ganzen  Gyrus);  12  Tage  in  2  Fällen  (Beob.  36  erstmalige  Exstirpation 
des  ganzen  Gyrus:  5  Tage  fehlend,  dann  abgeschwächt  und  Beob.  39 
Exstirpation  des  ganzen  Gyrus  der  2.  Seite:  7  Tage  fehlend,  dann  min- 
destens bis  zum  12.  Tage  abgeschwächt);  14  Tage  in  1  Falle  (Beob.  28 
ünterschneidung  des  ganzen  Gyrus  der  2.  Seite;  3  Tage  fehlend,  nach- 
her abgeschwächt).  Hieran  schliesst  sich  noch  die  eine  besondere  Stel- 
lung einnehmende  Beob.  43  (doppelseitige  frontale  Darchtiennung  des 
vorderen  Schenkels  des  Gyrus  sigmoides),  bei  der  die  Reaction  nur  am 
8.  Tage  linksseitig  fehlte.  In  5  Fällen  (Beob.  24  Anätzung  des  ganzen 
Gyrus,  Beob.  34  erstmalige  Exstirpation  des  hinteren  Schenkels  und  des 
hinteren  Theiles  des  vorderen  Schenkels,  Beob.  38  erstmalige  Exstir- 
pation des  ganzen  Gyrus,  Beob.  40  Exstirpation  des  ganzen  Gyrus  der 
2.  Seite  und  Beob.  42  Exstirpation  des  ganzen  Gyrus  der  2.  Seite)  ver- 
hielten die  Hunde  sich  gegen  den  Lichtreiz  indifferent. 

Zur  Würdigung  dieser  Resultate  muss  die  höchst  verschiedene  Reac- 
tion der  Hunde  auf  Licht  noch  etwas  eingehender  berührt  werden.  Ich 
habe  bereits  wiederholt  erwähnt,  dass  es  Hunde  giebt,  welche  überhaupt 
in  keiner  Weise  auf  den  Lichtreiz  reagiren;  es  ereignet  sich  aber  auch 
durchaus  nicht  selten,  dass  solche  Hunde,  welche  früher  in  lebhafter 
Weise  vor  der  Flamme  zurückscheuten,  an  einzelnen  oder  an  mehreren 
aufeinanderfolgenden  Tagen  keinerlei  Reaction  auf  Licht  erkennen  lassen, 
ohne  dass  sie  dabei  krank  wären  oder  dass  man  sonst  einen  anderen 
Grund  für  dieses  Verhalten  ermitteln  könnte.  Dann  fangen  sie  plötzlich 
wieder  an,  in  irgend  einer  Weise  ihre  Abneigung  gegen  die  Blendung 
zu  erkennen  zu  geben.  Dieses  Verhalten  tritt  besonders  stark  in  der 
Schwebe  hervor,  aber  im  Princip  verhalten  sich  die  Hunde  auch  unter 
anderen,  ihnen  geläufigeren  Existenzbedingungen  nicht  anders.  ISach 
der  Schilderung  von  Goltz  hätte  der  Hund  überhaupt  einen  Abscheu 
vor  glänzenden  Gegenständen,  z.  B.  vor  Glasflaschen.     Dies  betrifft  nun 


—     215     — 

keineswegs  alle  Hunde,  wenn  überhaupt  die  Majorität.  Ich  finde  z.  B., 
dass  die  Hunde  sich  viel  mehr  entsetzen,  wenn  man  ihnen  plützlicli  die 
Innenseite  eines  Hutes  vorhält.  Ebensowenig  ist  die  Darstellung  von 
Loeb  zutreffend,  nach  dem  der  Abscheu  vor  dem  Stocke  gleichsam  zu 
den  angeborenen  Charaktereigenschaften  eines  Hundes  gehört,  so  dass 
er  auch,  wenn  er  niemals  einen  solchen  zu  Gesichte  bekommen  hat, 
davor  entflieht.  Ich,  kann  versichern,  dass  es  zahlreiche  Hunde  giebt, 
sogar  solche,  die  schon  Prügel  genug  bekommen  haben,  die  das  Er- 
scheinen einer  Hundepeitsche  oder  eines  Stockes  in  ihrem  Gesichtsfelde 
durchaus  kalt  lässt,  während  eine  drohende  Armbewegung  mit  oder 
ohne  Reitpeitsche  sie  sofort  verängstigt  in  einen  Winkel  verscheucht. 
Dieses  Verhalten  der  Hunde  gegen  ihnen  mehr  oder  minder  unerfreu- 
liche Gesichtsobjecte  verringert  natürlich  den  Werth  der  fraglichen  Un- 
tersuchungsmethodeu  und  macht  sie  erheblich  unsicherer  als  die  gleich- 
falls mit  allerlei  Mängeln  behaftete  Untersuchungsmethode  mit  Fleisch, 
auf  die  ich  noch  zurückkomme.  Wenn  die  Hunde  aber  reagiren,  so 
geschieht  dies  auch  wieder  in  sehr  verschiedener  Weise.  Ich  habe  be- 
reits in  der  IL  dieser  Abhandlungen  angeführt,  dass  ich  mich  nicht 
davon  überzeugen  könnte,  dass  die  Ansicht  von  Boensel,  nach  der  der 
Hund  niemals  mit  Blinzeln  reagire,  zutreffend  sei.  In  der  That  finden 
sich  in  den  vorstehenden  Beobachtungen  3  Fälle,  in  denen  der  Hund 
auf  der  nicht  geschädigten  Seite  den  Reiz  des  oscillirenden  Lichtes  mit 
Blinzeln  beantwortete,  während  der  Orbicularis  des  geschädigten  Auges 
sich  einmal  gar  nicht,  die  beiden  anderen  Male  in  verlangsamtem  Tempo 
in  Bewegung  setzte;  diese  drei  Fälle  stehen  in  meiner  Sammlung  von 
Beobachtungen  keinesvi'egs  vereinzelt  da.  Jedoch  ist  es  richtig,  dass 
sie  Ausnahmen  bilden.  In  anderen  Fällen  wendet  der  Hund  den  Kopf 
mit  grösserer  oder  geringerer  Energie  ab  oder  er  scheut  mit  dem  mimi- 
schen Ausdruck  des  Entsetzens  zurück,  oder  er  beginnt  Schwimmbewe- 
gungen zu  machen,  oder  er  beisst  nach  dem  Licht.  Gelegentlich  kann 
man  auch  beobachten,  dass  der  Hund  mit  der  Pfote  das  Licht  aus- 
schlägt. In  einem  Falle  steckte  der  blödsinnig  gewordene  Hund  unter 
jämmerlichem  Geheul  die  Schnauze  in  das  Licht.  Loeb  würde  dieses 
Verhalten  vielleicht  als  eine  Umwandlung  des  negativen  in  den  positiven 
Heliotropismus  bezeichnen.  Auf  die  Deutung  dieser  Bewegungserschei- 
nungen werde  ich  erst  später  eingehen. 

Inzwischen  erinnere  ich  aber  daran,  dass  die  Angaben  der  Reaction 
meiner  Hunde  auf  Licht  bei  Weitem  nicht  in  allen  Fällen  den  Zeit- 
punkt treffen,  zu  dem  die  normale  Lichtempfindlichkeit  der  Netzhaut, 
soweit  wir  dieselbe  überhaupt  zu  untersuchen  vermögen,  wiederherge- 
stellt war,    vielmehr  war  sie  sicher  in  vielen  Fällen  noch  länger  abge- 


—     216     — 

schwächt,  als  dies  festgestellt  werden  konnte.  Vergleiclien  wir  nach 
diesen  Vorbemerkungen  das  Verhältniss  der  Reaction  gegen  Licht  und 
Fleisch  mit  einander,  so  ergiebt  sich,  dass  in  den  Beobb.  27,  33,  25,  32, 
36  und  39  der  Verlust  oder  die  Abschwächung  gegen  Licht  in  ausge- 
sprochener Weise  länger  anhielt  als  der  totale  oder  partielle  Ausfall 
der  Reaction  gegen  Fleisch.  Ausserdem  diiferirten  diese  beiden  Zahlen 
in  der  fraglichen  Richtung  in  2  Fällen  noch  um  je  einen  Tag. 

Umgekehrt  währte  der  totale  oder  partielle  Ausfall  der  Reaction 
gegen  Fleisch  4  mal,  nämlich  in  den  Beobb.  26,  30,  37  und  43  länger 
als  die  Beeinträchtigung  der  Reaction  gegen  Licht.  In  zwei  ferneren 
Fällen,  Beobb.  41  und  28  dauerte  die  Sehstörung  gegen  Fleisch  und  Licht 
gleich  lang  und  in  den  übrigen  7  Fällen  war  eine  Vergleichung  aus 
den  früher  angeführten  Gründen  nicht  möglich.    — 

Bei  der  Vornahme  der  angeführten  Untersuchungen  leitete  mich 
u.  A.  die  Absicht,  den  Eintluss  von  solchen  Eingriffen  zu  studiren, 
denen  eine  verschieden  grosse  reizende  oder  lähmende  Kraft  zugeschrie- 
ben werden  durfte.  Während  die  lähmende  Kraft  naturgemäss  um  so 
grösser  sein  musste,  je  grösser  das  ausgeschaltete  Areal  war,  wenn 
dieses  thatsächlich  eine  Art  von  Sehcentrura  darstellte,  hatte  ich  mir 
die  Vorstellung  gebildet,  dass  die  reizende  Kraft  unter  sonst  gleichen 
Umständen  am  geringsten  sein  würde  bei  Unterschneidungen,  grösser 
bei  Exstirpationen,  dann  bei  Skarificationen  und  am  grössten  bei  An- 
ätzungen. Ich  dachte  mir,  dass  es  auf  beiden  Wegen  gelingen  würde, 
überzeugend  nachzuweisen,  ob  die  auf  frontale  Eingriffe  erscheinende 
Sehstörung  als  Folge  einer  Lähmung  oder  einer  Reizung  corticaler  oder 
anderer  Centren  aufzufassen  sei.  Der  Versuch  hat  den  letztgedachten 
Voraussetzungen  in  keiner  Weise  Recht  gegeben.  Ein  wesentlicher  Un- 
terschied zwischen  den  Folgen  der  einzelnen  Eingriffe  fand  sich  nicht. 
Nur  in  der  erstgedachten  Richtung  geht  aus  diesen  Versuchen  mit 
Sicherheit  hervor,  dass  directe  Beziehungen  zwischen  der  Grösse 
des  ausgeschalteten  Areals  und  der  Beeinträchtigung  des 
Sehactes  nicht  existiren.  Die  Dauer  und  die  Intensität  der 
Sehstörung  w'ar  keineswegs  immer  am  grössten,  wenn  der 
ganze  Gyrus  ausgeschaltet  worden  war  und  sie  war  nament- 
lich in  dem  Falle  keineswegs  immer  am  grössten,  wenn  dann 
auch  der  2.  Gyrus  sigmoides  ausgeschaltet  wurde.  Ebenso- 
wenig kam  es  in  diesen  Fällen  zu  einem  Wiederaufleben  der 
bereits  verschwundenen  Sehstörung  des  gleichseitigen  Auges; 
ja,  der  einzige  Fall,  in  dem  eine  Sehstörung  überhaupt  nicht 
nachgewiesen  werden  konnte  (Beob.  40),  betraf  gerade  eine 
solche  totale  Exstirpation  des  Gyrus  der  2.  Seite. 


—     217     — 

Eine  Vergleichung  dieser  Beobachtungen  mit  den  analogen  des 
I.  Kapitels  dieser  Abhandlung  ergiebt  jedoch,  der  Voraussetzung  ent- 
sprechend, dass  auf  die  jetzt  geschilderten  Eingriffe  im  Allgemeinen 
eine  Sehstörung  von  grösserer  Intensität  und  von  längerer  Dauer  folgte. 
als  in  jenen  Fällen,  bei  denen  nur  die  Pia  freigelegt  war.  Während  da- 
mals die  Sehstörung  und  zwar  mit  dem  ungefähren  Charakter  der  so- 
genannten Seelenblindheit  nur  in  1  Falle  22  Tage,  in  allen  anderen 
Fällen  8  Tage  oder  weniger  anhielt,  dauerte  sie  hier  in  zahlreichen 
Fällen  erheblich  länger,  in  maximo  jedoch  auch  nur  24  Tage. 

Eine  singulare  Stellung  nimmt  bei  alledem  der  Versuch  43  —  dop- 
pelseitige frontale  Durchtrennung  des  vorderen  Schenkels  des  Gyrus 
sigmoides  nahe  seinem  vorderen  Rande  —  insofern  ein,  als  die  am 
3.  Tage  rechts  noch  fehlende  Sehstörung  am  4.  Tage  und  später  deut- 
lich nachweisbar  war.  Ich  habe  auf  Grund  einer  Anzahl  von  anderen 
Versuchen  hinreichende  Veranlassung  zu  der  Annahme,  dass  der  Eintritt 
von  Sehstörungen  überhaupt  nicht  auf  die  Verletzung  des  grösseren 
Theiles  des  vorderen  Schenkels,  sondern  auf  die  Ausbreitung  des  Trauma 
auf  die  von  mir  sogenannte  erregbare  Zone  zu  beziehen  ist.  Indessen 
kann  ich  an  dieser  Stelle  auf  diesen  Punkt  nicht  näher  eingehen. 

Charakter  und  Verlauf  der  Sehstörung.  Die  Sehstörung  trug 
der  Art  nach  denselben  Charakter  wie  bei  den  im  I.  Kapitel  mitge- 
theilten  analogen  Versuchen;  dem  Grade  nach  aber  war  sie,  wie  vor- 
auszusehen, in  einer  Anzahl  von  Fällen  ausgesprochener  als  bei  jenen. 
Sie  hatte  also,  insofern  sie  überhaupt  eintrat,  den  hemianopischen  Charakter. 
Indessen  waren  die  Hunde  in  einer  grösseren  Anzahl  von  Fällen  auf  dem 
der  geschädigten  Seite  zukommenden  Theil  des  Gesichtsfeldes  entweder  total 
blind,  sodass  sie  sogar  mit  der  entsprechenden  Seite  des  Kopfes  anstiessen, 
oder  sie  reagirten  doch  auf  keinen  der  angewandten  Reize.  Ja,  das  Sehver- 
mögen erschien  sogarauf  dem  nasalen  Streifen  des  Gesichtsfeldes,  mindestens 
mit  Bezug  auf  den  Ortssinn  geschädigt;  erschien  dort  ein  Stück  Fleisch, 
so  schnupperten  die  Hunde  wohl  in  der  Luft  herum,  aber  sie  vermochten 
nicht,  es  so  im  Räume  zu  localisiren,  dass  sie  es  erschnappen  konnten. 
Die  Sehstörung  besserte  sich  dann  ausnahmslos  so,  dass  sie  entweder 
plötzlich  gänzlich  verschwand,  was  auch  bei  solchen  Fällen  vorkam, 
bei  denen  sie  am  2.  Tage  das  ganze  zugehörige  Gesichtsfeld  eingenom- 
men hatte,  oder  dass  sie  mehr  allmählich  von  der  nasalen  nach  der 
temporalen  Seite  zurückwich.  In  einigen  Fällen  konnte  dieses  Zurück- 
weichen derart  verfolgt  werden,  dass  der  Hund  auf  einem  mehr  nasal- 
wärts  gelegenen  Grenzstreifen  Fleischstücke  zuerst  wahrnahm,  ohne  sie 
identifiziren  zu  können,  während  er  sie  dann  am  nächsten  Tage  auf 
diesem  Streifen  erkannte. 


—     218     — 

Von  besonderem  Interesse  ist  die  Wiederholung  der  bereits  in 
4  Fällen  der  I.  Serie  gemachten  Beobachtung,  dass  der  untere  innere 
Quadrant  des  Gesichtsfeldes  entweder  von  vornherein  weniger  betroffen 
war  oder  sich  früher  aufhellte,  sowie,  dass  die  Sehstörung  überhaupt 
sich  in  der  unteren  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  schneller  von  der  Nase 
nach  der  Schläfe  zu  zurückzog,  als  in  der  oberen  Hälfte.  Die  Gesichts- 
feldschemata zu  den  Beobb.  38  und  42  können  ein  ungefähres  Bild  von 
diesem  Verhalten  geben.  Genaueres  darüber  werden  wir  später  noch 
erfahren.  Das  fragliche  Verhalten  ist  in  den  Beobb.  36,  37,  38,  39  und 
42  ausdrücklich  fixirt  w'orden. 

2.  Die  optischen  Reflexe.  Dauer.  Die  optischen  Reflexe  waren 
abgeschwächt,  ohne  aber  gänzlich  zu  fehlen,  in  1  Falle  (Beob.  31) 
4  Tage  und  in  einem  2.  Falle  (Beob.  42)  6  Tage.  Sie  fehlten  gänzlich 
in  1  Falle  (Beob.  28)  2  Tage  und  waren  dann  noch  1  Tag  abgeschwächt; 
in  1  Falle  (Beob.  38)  6  Tage  und  waren  dann  noch  6  Tage  abge- 
schwächt; in  einem  anderen  Falle  (Beob.  27)  7  Tage;  in  2  Fällen 
(Beobb.  23  und  29)  9  Tage  und  waren  dann  noch  mindestens  je  2  und 
4  Tage  abgeschwächt;  in  2  Fällen  (Beobb.  32  und  40)  10  Tage  und 
waren  dann  noch  je  5  und  4  Tage  abgeschwächt;  in  2  Fällen  (Beobb.  24 
und  41)  (hier  mindestens)  11  Tage;  in  1  Falle  (Beob.  33)  12  Tage, 
Abschwächung  noch  23  Tage;  in  1  Falle  (Beob.  30)  fehlten  sie  15  Tage 
und  waren  dann  (unbestimmt  wie  lange)  abgeschwächt;  in  1  anderen 
Falle  (Beob.  34)  16  Tage,  dann  noch  4  Tage  abgeschwächt;  in  einem 
Falle  (Beob.  25)  20  Tage,  dann  noch  4  Tage  abgeschwächt;  gleichfalls 
in  1  Falle  (Beob.  35)  21  Tage;  in  1  Falle  (Beob.  36)  23  Tage,  Ab- 
schwächung noch  5  Tage;  in  je  1  Falle  (Beob.  37)  27  Tage  und  (Beob.  39) 
28  Tage  und  in  1  Falle  (Beob.  26)  fehlten  sie  35  Tage.  Endlich  ist  zu 
erwähnen,  dass  bei  der  eine  doppelseitige  Operation  betreffenden  Beob- 
achtung 43  die  Reflexe  linkerseits  9  Tage  fehlten,  dann  noch  2  Tage 
abgeschwächt  waren,  rechterseits  aber  27  Tage  nur  abgeschwächt  waren. 

Wenn  sich  also  auch  aus  den  früher  angeführten  Gründen  eine  ge- 
naue Bestimmung  der  Dauer  des  Symptoms  nicht  geben  und  deshalb 
eine  Vergleichung  dieser  Dauer  zwischen  den  beiden  parallelen  Ver- 
suchsreihen nicht  anstellen  lässt,  so  erwächst  doch  der  bestimmte  Ein- 
druck, dass  auch  dieses  Symptom,  sowohl  was  die  gänzliche  Aufhebung, 
als  auch  was  die  darauffolgende  Abschwächung  des  Lidreflexes  angeht, 
hier  entschieden  ausgesprochener  war,  als  bei  jener  ersten  Reihe  von 
Versuchen. 

Der  Verlauf  bot  in  4  Fällen  (Beobb.  30,  31,  32  und  33)  insofern 
ein  besonderes  Interesse,  als  das  Symptom  bei  ihnen  2 — 6  Stunden  nach 
der  Operation    jedenfalls    fehlte,    während    der  Reflex    bei    zweien    von 


—     219     — 


diesen  (Beobb.  32  und  33)  zu  der  gedachten  Zeit  sogar  stärker  als  auf 
der  anderen  Seite  vorlianden  war.  In  allen  4  Fällen  fehlte  er  nachher 
gänzlich,  oder  war  doch  (in  1  Falle)  4  Tage  abgeschwächt. 

3".    Das    Verhältniss    der   Sehstörungen    zu    den   optischen 
Reflexen  ergiebt  sich  am  besten  aus  der  nachstehenden  Tabelle. 

Tabelle    U) 


No.  der 

Sehstörung  gegen 

Optische 

Nasenlid- 

Beob. 

Art  der  Operation 

Fleisch 

Licht 

Reflexe 

reflex 

23 

Anätzung 

13 

6  min- 
destens 

9    (2) 

8    (3) 

24 

Anätzung 

6 

— 

11  dauernd 

(11  dauernd) 

25 

Unterschneidung 

4 

10 

20    (4) 

(4) 

26 

Unterschneidung 

11 

9 

35  dauernd 

(35  dauernd) 

27 

Unterschneidung 

2 

5 

7 

(5) 

28 

Unterschneidung  der  2. 

Seite 

14 

14 

2    (1) 

0 

29 

Unterschneidung  der  2. 

Seite 

7 

8 

9    (4) 

(13) 

30 

Sliarification 

24 

10 

15    (?) 

5  (4) 

31 

Skarification 

2 

3 

(4) 

0 

32 

Skarification 

4 

11 

10    (5) 

(3) 

33 

Skarification 

3 

11 

12    (23) 

(2) 

34 

Exstirpation 

2 

— 

16    (4) 

(3) 

35 

Exstirpation 

— • 

11 

21 

0 

36 

Exstirpation 

5 

12 

23    (5) 

0 

37 

Exstirpation 

6  . 

3 

27 

— 

38 

Exstirpation 

5 

— 

6    (6) 

(3) 

39 

Exstirpation  der  2.  Seite 

6 

12 

28  dauernd 

(28  dauernd) 

40 

Exstirpation  der  2.  Seite 

0 

— 

10    (4) 

0 

41 

Exstirpation  der  2.  Seite 

2 

2 

11  min- 
destens 

0 

42 

Exstirpation  der  2.  Seite 

7 

— 

(6) 

— 

43  links 

Doppelseitige      frontale 

15 

? 

9    (2) 

0 

43  rechts 

Durchtrennung  des  vor- 
deren   Schenkels     des 
Gyrus  sigmoides 

15 

? 

(27) 

0 

Hiernach  waren  die  optischen  Reflexe  in  allen  Fällen  geschädigt 
und  zwar  auf  die  Dauer  von  14  Tagen  auch  in  dem  einen  Falle,  in  dem 
keinerlei  Sehstörung  zu  beobachten  war.  Ein  Fall,  bei  dem  das  Seh- 
vermögen geschädigt,  die  optischen  Reflexe  aber  intact  gewesen  wären, 
kam  also  nicht  zur  Beobachtung.  In  dieser  Beziehung  führte  die 
2.  Reihe  unserer  Beobachtungen  also  genau  zu  denselben  Resultaten  wie 

1)  Die  in  Klammern  gesetzten  Zahlen  bedeuten  eine  Abschwächung  oder 
eine  fernere  Abschwächung  um  die  Dauer  der  betreffenden  Zahlen  in  Tagen, 
Wegen  der  Bedeutung  der  Fragezeichen  wird  auf  den  Text  verwiesen. 


—     220     — 

die  1.  Reihe,  dagegen  ergaben  sich  2  scheinbare  Abweichungen  mit 
Bezug  auf  die  relative  Dauer  der  zu  vergleichenden  Symptome.  Die 
Störung  der  optischen  Reflexe,  also  das  motorische  Symptom,  währte 
freilich  mehr  oder  minder  erheblich  länger  als  die  Sehstörung,'  also 
das  optische  Symptom,  in  15  Fällen  und  in  4  Fällen  (Beobb.  23,  27,  31 
und  42)  verschwanden  beide  Symptome  annähernd  gleichzeitig,  aber  in 
2  anderen  Fällen  (Beobb.  28  und  43  links)  hielt  die  Sehstörung  je  11 
und  4  Tage  länger  an  als  die  Störung  der  optischen  Reflexe.  Indessen 
waren  in  beiden  Fällen  die  Hunde  mit  Bezug  auf  die  Sehstörung  schlecht 
zu  untersuchen  und  ausserdem  war  sie,  wenn  überhaupt  noch  vorhan- 
den, auf  eine  laterale  Zone  zurückgewichen. 

4.  Die  Störungen  des  Nasenlidreflexes  haben  zunächst  ein 
Interesse  mit  Rücksicht  auf  die  Localisation  des  Eingriffs. 

Betrachten  wir  erst  diejenigen  8  Fälle,  bei  denen  jede  Stö- 
rung desselben  während  der  ganzen  Dauer  der  Beobachtung 
fehlte,  so  ergiebt  sich,  dass  in  den  Beobb.  28  und  43  rechts  und  48 
links  die  IL  Urwindung  an  der  Läsion  nicht  betheiligt  war,  während  in 
den  anderen  4  Beobachtungen  (bei  Beob.  31  fehlt  die  Section)  eine  Be- 
theiligung entweder  ihrer  Rinde  oder  ihrer  Markstrahlung,  wohl  mehr 
noch  des  mittleren  als  des  hinteren  Drittels  der  uns  beschäftigenden 
Region  sicher  nachzuweisen  oder  mit  Wahrscheinlichkeit  anzunehmen 
war.  In  der  Beob.  35,  in  der  eine  ausgiebige  Exstirpation  vorgenom- 
men war,  überschritt  die  Narbe  zwar  nicht  die  Grenzen  des  Gyrus  sig- 
moides,  gleichwohl  zeigte  der  Durchschnitt  neben  einem  grossen  Erwei- 
chungsherd, der  ihre  Projectionsfasern  nicht  ungeschädigt  gelassen 
haben  konnte,  erhebliche  Zerstörungen  der  IL  Urwindung.  In  dem 
Fall  36  ■ —  gleichfalls  eine  ausgiebige  Exstirpation  —  bedeckte  nicht 
nur  die  Narbe  einen  Theil  der  IL  Urwindung,  sondern  es  zog  sich  auch 
noch  ein  feiner  Erweichungsstreifen  in  deren  Substanz  hinein.  Bei  der 
Beob.  40  • —  Exstirpation  der  2.  Seite  —  zeigte  sich  eine  sehr  erheb- 
liche Nebenverletzung  der  IL  Urwindung,  nicht  nur  war  ihre  Rinde 
stellenweise  abgeblasst,  sondern  auch  ein  Theil  ihres  Markweisses  war 
blutig  durchsetzt  und  narbig  verändert.  Auch  bei  der  Beob.  41,  bei 
der  der  Sitz  der  Narbenkappe  sich  auf  den  Gyrus  sigmoides  beschränkte, 
zog  ein  feiner  Erweichungsstreifen  in  die  IL  Urwindung  hinein.  Jeden- 
falls geht  aus  diesen  Beobachtungen  hervor,  dass  die  IL  Urwindung 
und  zwar  in  Theilen  verletzt  sein  kann,  welche  mit  zu  dem 
Areal  gehören,  durch  das  die  unteren  Aeste  des  Facialis  inner- 
virt  werden,  ohne  dass  der  Nasenlidreflex  darunter  zu  leiden 
braucht.  Bemerkenswerth  ist,  dass  die  optischen  Reflexe  ungeachtet 
dessen  sehr  lange,    bis  zur  Dauer  von  28  Tagen  geschädigt  sein  konu- 


—     221     — 

ten.  Ja  diese  Schädigung  dauerte  in  1  P'alle  (ßeob.  43  rechts)  27  Tage, 
obwohl  die  Verletzung  in  diesem  Falle  gerade  am  allerweitesten  vom 
Orbiculariscentrum  entfernt,  nämlich  am  vorderen  Rande  des  vorderen 
Schenkels  des  Gyrus  sigmoides  angebracht  war. 

Fassen  wir  die  30  uns  zu  Gebote  stehenden  Fälle,  bei 
denen  der  Nasenlidreflex  geschädigt  war  (in  2  ferneren  Fällen 
Beobb.  23  und  24  war  die  Section  nicht  zu  verwerthen),  in's  Auge,  so 
können  wir  daraus  eine  1.  Gruppe,  bestellend  aus  6  Fällen,  absondern, 
bei  der  das  Symptom  nur  ganz  kurze  Zeit,  bis  zu  5  Tagen,  zu  beob- 
achten war.  Von  diesen  6  Fällen  war  bei  den  Beobb.  25,  27  und  34 
die  Hineinbeziehung  der  IL  Urwindung  in  den  Bereich  des  Trauma 
mit  mehr  oder  weniger  Sicherheit  nachweisbar,  in  3  Fällen  (32,  33 
und  38)  war  sie  nicht  nachweisbar.  Gleichwohl  glaube  ich,  dass  alle 
diese  Fälle  zusammengehören.  Ich  habe  bereits  früher  wiederholt  darauf 
aufmerksam  gemacht,  dass  benachbarte  Windungen  sich  in  die  Lücken, 
welche  durch  Eingriffe  in  die  Substanz  des  Gehirns  entstehen,  hinein- 
zudrängen und  dadurch  in  ihrer  Integrität  geschädigt  zu  werden  pflegen. 
Diesem  Umstände  ist  auch  die  hier  wiederholt  gemachte  Erfahrung  zu- 
zuschreiben, dass  der  nicht  mitaufgedeckte  mediale  Theil  der  IL  Urwindung 
mit  in  den  Bereich  der  narbigen  Auflagerung  hineingezogen  war.  Die  beob- 
achtete geringfügige  Schädigung  des  Nasenlidreflexes  lässt  sich  in  allen 
diesen  Fällen  also  sehr  wohl  als  ein  durch  ein  indirectes  Trauma  be- 
dingtes Nachbarschaftssymptom  deuten.  Die  2.  Gruppe  setzt  sich  aus 
4  Fällen  zusammen.  Bei  der  Beob.  26  fand  sich  das  Orbiculariscen- 
trum zum  Theil  zerstört,  während  der  Reflex  mindestens  35  Tage  fehlte. 
Bei  der  Beob.  39,  bei  der  der  Reflex  gleichfalls  bis  zum  Tode  (28  Tage) 
fehlte,  fanden  sich  ebenfalls  deutlich  sichtbare,  wenn  auch  nicht  so  grobe 
Veränderungen  der  IL  Urwindung,  ausserdem  ein  Herd  im  Fusse  des 
Stabkranzes.  Bei  den  Beobb.  29  und  30,  bei  denen  der  Reflex  13,  bezw. 
9  Tage  fehlte,  war  jedoch  wieder  keine  Betheiligung  der  IL  Urwindung 
nachweisbar;  ob  dennoch  eine  solche  vorhanden  war,  rauss  ich  dahinge- 
stellt sein  lassen. 

Ein  ferneres  Interesse  hat  die  Störung  des  Nasenlidreflexes  in 
ihrem  Verhältniss  zur  Störung  der  optischen  Reflexe.  Dieses 
Verhältniss  wird  aus  Tabelle  I.  ersichtlich. 

Es  ergiebt  sich  aus  ihr,  dass  der  Nasenlidreflex  gestört  war: 

1.  in  keinem  Falle  länger  als  die  optischen  Reflexe  und  zwar  in 
8  Fällen  überhaupt  nicht; 

2.  gleich  lang  in  5  Fällen; 

3.  kürzer  als  die  optischen  Reflexe  in  7  Fällen. 

Sehen  wir  uns  die  Gruppe  unter  2  näher  au,    so  finden  wir,    dass 


—     222     — 

ihre  5  Fälle  in  der  später  zu  erörternden  Frage  des  Zusammenhanges  beider 
Symptome  überhaupt  nichts  beweisen  können.  Ausserdem  wurden  2  dieser 
Thiere  (Beobb.  24  und  26)  vor  Ablauf  dieser  Symptome  einer  neuen 
Operation    unterworfen,    der   3.   Hund   (Beob.  39)  aber  vorher  getödtet. 

Es  zeigt  sich  also,  dass,  abgesehen  von  dem  4.  und  5.  Falle 
(Beobb.  23  und  29),  in  allen  7,  überhaupt  in  Betracht  kommenden 
Fällen  ausnahmslos  der  Nasenlidreflex  früher  wiederkehrte 
als  der  optische  Reflex. 

5.  Für  den  Zweck,  den  ich  in  diesem  Kapitel  verfolge,  ist  die 
Erörterung  der  Frage,  ob  die  Störung  des  Nasenlidreflexes  auf  den  Ein- 
griff in  den  Gyrus  sigmoides  oder  auf  eine  Nebenverletzung  zu  beziehen 
sei,  erst  in  zweiter  Linie  von  Interesse.  In  erster  Linie  interessirt  der 
ursächliche  Zusammenhang  zwischen  den  Störungen  des  Seh- 
actes  und  der  durch  den  Opticus  und  sodann  auch  der  durch 
den  Trigeminus  angeregten  Reflexthätigkeit. 

Ich  habe  den  Standpunkt,  auf  dem  die  Autoren  die  erstere  Frage 
gelassen  haben,  bereits  in  meiner  IL  Abhandlung^)  übersichtlich  dar- 
gelegt. Ich  hebe  daraus  nur  hervor,  dass  alle  Forscher,  insofern  sie 
sich  überhaupt  etwas  eingehender  mit  dem  Studium  dieser  Reflexe  be- 
fasst  haben,  aus  dem  Ausbleiben  der  optischen  Reflexe  ohne  Weiteres 
auf  die  Existenz  einer  Sehstörung  schlössen;  nur  Exner  und  Paueth 
wollten  es  unentschieden  lassen,  ob  das  Symptom  „der  Störung  der 
Fanction  des  Facialis  oder  der  Sehstörung  angehöre."  Nach  den 
theoretischen  Auseinandersetzungen  von  Munk  dagegen  kann  es  so- 
wohl durch  eine  Sehstörung  als  durch  eine  Störung  in  der  Function 
des  corticalen  Uebertragungsapparates  bedingt  sein.  Werfen  wir  nun 
einen  Blick  auf  die  in  dem  vorigen  und  in  diesem  Kapitel  vorgetra- 
genen Untersuchungen,  so  ergiebt  sich  zunächst  aus  jener  ersten  Reihe, 
dass  die  optischen  Reflexe  während  der  ganzen,  6  Tage  dauernden  Be- 
obachtung 9  gänzlich  fehlten,  während  auch  nicht  die  Spur  einer  Seb- 
störung  zu  constatiren  war  und  dass  auch  in  mehreren  der  übrigen  dort 
angeführten  Beobachtungen  die  Störung  der  Reflexthätigkeit  erheblich 
länger  anhielt,  als  die  Störung  des  Sehvermögens. 

Auch  in  der  jetzt  vorgetrageneu  Reihe  von  Untersuchungen  findet 
sich  1  Fall  (Beob.  40),  bei  dem  eine  Sehstörung  überhaupt  nicht  nach- 
zuweisen war,  während  die  optischen  Reflexe  10  Tage  lang  gänzlich 
fehlten  und  dann  noch  4Tage  lang  eine  Abschwächung  erfahren  hatten. 


1)  E.  Hitzig,  Historisches,  Kritisches  und  Experimentelles  etc.  Archiv 
für  Psych.  Bd.  35.  Heft  2.  S.  335—840  und  diese  Untersuchungen  Theil  IL 
S.  97—102. 


—     223     — 

Entsprechend  überdauerte  die  Störung  der  optischen  Reflexe,  wie  bereits 
oben  erwähnt,  die  Sehstörung  fast  immer  um  ein  sehr  erhebliches  Zeit- 
maass.  Indem  ich  im  Uebrigen  auf  die  Tabelle  verweise,  hebe  ich  aus 
ihr  nur  die  4  ausgesprochendsten  Fälle  hervor:  Beob.  26:  11  zu  35. 
Beob.  30:  24  zu  35.  Beob.  33:  11  zu  35.  Beob.  36:  12  zu  28.  Dabei 
habe  ich  immer  noch  dasjenige  Zeitmaass  als  Dauer  der  Sehstörung 
angenommen,  welches  dem  längsten  Fehlen  der  Reaction,  gleichviel  ob 
gegen  Fleisch  oder  gegen  Licht  entsprach. 

Wenn  also  die  optischen  Reflexe  fehlen  können,  während  keine  Seh- 
störung vorhanden  ist,  oder  jemals  vorhanden  war,  so  folgt  daraus, 
1.  dass  eine  Störung  in  dem  zwischen  Opticus. und  Facialis 
eingeschalteten  Uebertragungsapparat  unabhängig  von  einer 
Sehstörung  eintreten  kann.  2.  dass  es  unzulässig  ist,  von 
dem  Nachweise  einer  Störung  der  optischen  Reflexe  auf  das 
Vorhandensein  einer  Sehstörung  zu  schliessen. 

Aus  der  2.  Reihe  jener  Untersuchungen  Hessen  sich  zwar  aus  den 
dort  angeführten  Gründen  weitergehende  Schlüsse  nicht  ziehen,  in- 
dessen ergab  sich  aus  ihnen  doch  die  Thatsache,  dass  bei  den  dort 
vorgenommenen  Schädigungen  der  Convexität  des  Hinterlappens  die 
Störung  der  optischen  Reflexe  gegen  die  Störung  des  Sehvermögens  der- 
art zurücktrat,  dass  die  ersteren  ungeachtet  vorhandener  Sehstörung 
entweder  vorhanden,  oder  in  nur  unerheblichem  Grade  geschädigt  waren. 
Hieraus  lässt  sich  schliessen,  dass  die  Störung  der  optischen  Re- 
flexe keine  nothwendige  Folge  einer  corticalen  Sehstörung 
ist  und  dass,  wenn  sie  überhaupt  in  allen  Fällen  von  der 
Schädigung  der  Rinde  direct  abhängig  sein  sollte,  der  op- 
tische Theil  des  corticalen  Uebertragungsapparates  an  den 
von  mir  angegriffenen  Stellen  der  Convexität  des  Hinter- 
lappens seinen  Sitz  nicht  hat. 

6.  Die  Motilitätsstörungen  waren  selbstverständlich  entspre- 
chend der  Grösse  der  Eingriffe  in  den  jetzt  mitgetheilten  Fällen  mehr 
weniger  ausgesprochen  als  in  der  früher  mitgetheilten  Serie.  Die  In- 
tensität der  sie  zusammensetzenden  Symptome  steht  aber  nicht  durch- 
gehends  in  gleichem  Verhältniss  zu  der  Intensität  der  Sehstörung,  so 
dass  ein  näheres  Eingehen  auf  diesen  Punkt  nicht  geboten  erscheint, 
nur  die  Beob.  43  bietet  nach  dieser  Richtung  insofern  ein  grösseres  In- 
teresse, als  bei  ihr  die  Sehstörung  mit  der  gleichzeitigen  Zunahme  der 
Motilitätsstörung  ebenfalls  erst  eintrat,  bezw.  eine  Zunahme  erfuhr.  Etwas 
ganz  Aehnliches  hatte  ich  bereits  anlässlich  der  Besprechung  der  Beobb. 
14  und  15  hervorgehoben. 

7.  Die    Sectionsbefunde.     Von    den   mitgetheilten  21  Beobach- 


—     224     — 

tuugen  fehlt  die  Section  in  3  Fällen,  weil  bei  ihnen  au  der  gleichen 
Stelle  noch  andere  Operationen  vorgenommen  worden  sind;  3  andere 
Fälle  sind  inhaltlich  der  Sectionsbefunde,  nämlich  2  Verwachsungen  der 
Häute  (Beobb.  26  und  32)  und  eine  subdurale  Blutung  (ßeob.  37)  als 
nicht  rein  zu  betrachten.  Wenn  man  sie  also  ausschalten  will,  so  habe 
ich  nicht  das  Geringste  dagegen  einzuwenden.  Ich  habe  ihre  Mitthei- 
lung aber  dennoch  für  nützlich  befunden,  damit  der  Leser  sich  ein  Bild 
von  der  Gruppirung  und  dem  Ablauf  der  Symptome  auch  in  solchen 
Fällen  machen  kann. 

Betrachten  wir  diese  3- Fälle  näher,  so  ergiebt  sich,  dass  bei  der 
Beob.  26,  welche  eine  feste  Verwachsung  der  Häute  erkennen  liess,  eine 
sehr  lange  (35  Tage)  dauernde  Störung  der  optischen  Reflexe  und  des 
Nasenlidreflexes  zu  beobachten  war,  während  die  Sehstörung  nicht  be- 
sonders lange  [anhielt.  Man  könnte  diese  längere  Dauer  der  Störung 
der  Reflexthätigkeit  also  wohl  auf  die  nachgewiesene  Meningitis  be- 
ziehen, aber  doch  nur  die  längere  Dauer,  denn  die  gleichen  Störungen 
und  zwar  gelegentlich  von  fast  gleicher  Dauer  wurden  in  zahlreichen 
anderen  Fällen,  bei  denen  nicht  die  Spur  meningitischer  Erscheinungen 
nachzuweisen  war,  gleichfalls  beobachtet.  In  dem  2.  Falle  (Beob.  32), 
bei  dem  eine  lockere  Verwachsung  der  Häute  gefunden  wurde,  waren 
bei  einer  Sehstörung  von  massiger  Dauer  auch  die  optischen  Reflexe 
nur  massig  lange  (15  Tage)  gestört  und  der  Nasenlidreflex  sogar  nur  sehr 
kurze  Zeit  (3  Tage)  beeinträchtigt.  Die  gewonnenen  Resultate  werden 
also  durch  diese  beiden  Beobachtungen  in  keiner  Weise  alterirt.  Von 
der  etwaigen  Einwirkung  der  subduralen  Blutung  in  dem  3.  dieser  Fälle 
ist  es  wirklich  sehr  schwer  sich  eine  Vorstellung  zu  bilden.  Der  Hund 
wurde  allerdings  blödsinnig,  aber  doch  erst  nach  der  2.,  rechtsseitigen 
Operation,  während  hier  von  der  1.  linksseitigen  die  Rede  ist.  Die 
Sehstörung  dauerte  nur  verhältnissmässig  kurze  Zeit  und  nur  die  Stö- 
rung der  optischen  Reflexe  trat  mit  einer  Dauer  von  27  Tagen  mehr 
in  den  Vordergrund. 

Auf  die  Localisation  der  Hirnverletzung  auf  die  einzelnen  Win- 
dungen werde  ich  später  noch  zurückkommen. 

b)  Laterale  Nachbarwindungen  des  Gyrus  sigmoides. 

Es  gab  zwei  Wege  zur  Lösung  der  Frage,  ob  die  Einflüsse, 
welche  durch  einen  Eingriff  in  den  Gyrus  sigmoides  auf  die 
Function  des  Auges  ausgeübt  werden,  mit  Nothwendigkeit 
die  Verletzung  seiner  Rinde  voraussetzen  oder  ob  die  Be- 
schädigung eines  Theiles  der  Markstrahlung  genügt?  Der 
eine    konnte    in    frontaler    Durchtrennung     der    von    ihm     ausgehenden 


—     225     — 

Balinen  bestehen,  indem  man  als  ?]instichspunkt  eine  der  Nachbarwin- 
duugen  dieses  Gyrus  wälilte.  Auf  dem  anderen  Wege  konnte  man  Un- 
terschneidungen  der  Rinde  dieser  Windungen  vornelimen  oder  diese 
Rinde  in  anderer  Weise  zerstören  und  dann  abwarten,  wie  tief  der  pri- 
märe Eingriff  reichen  und  ob,  event.  mit  welchen  Folgen  sich  Erwei- 
chungsherde in  der  Markstrahlung  einstellen   würden. 

Der  erste  dieser  Wege,  den  ich,  übrigens  auch  noch  zur  Erreichung 
eines  anderen  Zweckes  einschlug,  hat  mich  nach  vielen  Bemühungen  zu 
keinen  mich  befriedigenden  Resultaten  geführt;  die  Ergebnisse,  welche 
ich  auf  dem  anderen  Wege  erlangte,  werden  uns  in  dem  nachfolgenden 
Abschnitte  beschäftigen.  Diese  Versuchsreihe  wäre  schon  deshalb  un- 
vermeidlich gewesen,  weil  der  von  mir  mitgetheilte  Versuchsplan  ohne- 
hin die  Erforschung  jenes  Theiles  der  Rinde  mit  Rücksicht  auf  ihre 
Beeinflussung  der  Functionen  des  Auges  in  sich  schloss.  Natürlich 
wurde  sie  es  aber  umsomehr,  wenn  man  von  diesen  Gebieten  aus  die 
Markstrahlung  anderer  Gyri  untersuchen  wollte.  Vorbedingung  war  in 
diesem  Falle  natüflich,  dass  die  isolirte  A^erletzung  der  Rinde  jener 
Windungen  selbst  mindestens  nicht  zu  Sehstöruugen  führte. 

Unsere  Kenntnisse  von  den  Functionen  der  frontalen  Schenkel  der 
II. — IV.  Urwindung  sind  noch  bei  Weitem  weniger  klar  umfassend  und 
gesichert,  als  die  von  den  Functionen  des  Gyrus  sigmoides. 

Bereits  in  der  von  Fritsch  und  mir^)  veröffentlichten  Arbeit  aus  dem 
Jahre  1870  findet  sich  auf  Grund  von  Reizversuchen  die  Angabe,  dass  der 
Facialis  von  dem  mittleren  Theile  der  II.  Urwindung  innervirt  sei.  Es  heisst 
da:  ,,die  betreffende  Stelle  übertrifft  häufig  an  Ausdehnung  0,5  cm  und  er- 
streckt sich  von  der  Hauptknickung  oberhalb  der  Sylvi'schen  Grube  aus 
nach  vor-  und  abwärts."  In  einer  anderen  Abhandlung  aus  dem  Jahre  1873 
hatte  ich 2)  nachgewiesen,  dass  der  von  uns  damals  gefundene  Inner- 
vationsherd  für  den  Orbicularis  palpebrarum  gleichzeitig  der  Innervation 
der  contralateralen  geraden  Augenmuskeln  diene.  Ausserdem  ergab  sich 
damals  die  Abhängigkeit  der  unteren  Aggregate  des  Facialis  von  einem 
mehr  lateral  und  basal  gelegenen  Theile  jener  Windungen  (IL  und 
III.  Urwindung).  Ferrier^)  hat  sodann  angegeben,  dass  die  vorderen 
und  basalen  Theile  jener  Gegend  mit  Schliessbewegungen  des  Unter- 
kiefers, Verziehung  der  Mundwinkel,  Oeffnung  der  Schnauze,  Bewegungen 
der  Zunge    und    verschiedenen    anderen  Reizeffecten    antworten.     Seine 


1)  E,  Hitzig,  Untersuchungen  über  das  Gehirn.   1874.   S.  13. 

2)  E.  Hitzig,  Ebenda  S.  42ff. 

3)  Ferrier,  Experimental  Researches  in  cerebral  Physiology  etc.     The 
West  Riding  lunatic  asylum  Medical  Reports.  Vol.  HL   1873. 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     II.  Thieil.  15 


—     226     — 

Angaben  stützten  sich,  jedoch  der  Hauptsache  nach  auf  einen  einzigen 
Versuch;  sie  waren  so  widerspruchsvoll  und  die  ihnen  zu  Grunde  lie- 
gende Faradisirung  der  Hirnrinde  war  mit  so  starken  Strömen  ausge- 
führt worden,  dass  man  dem  ürtheil,  welches  andere  englische  Autoren 
über  sie  aussprachen,  er  habe  wohl  die  Region,  aber  nicht  die  Foci 
der  Repräsentation  jener  Bewegungen  aufgedeckt,  nur  beistimmen  kann. 
Ich  selbst  1)  hatte  bei  einer  Nachprüfung  der  Untersuchungen  Ferrier's 
dieselben  nur  zu  einem  Theile  bestätigen  können  und  übrigens  diejeni- 
gen Punkte  angegeben,  deren  Reizung  mit  dem  Zuckungsmiuimum  Be- 
wegungen der  Zunge,  der  Kiefer,  des  Restes  der  Gesichtsmuskeln  und 
der  vorderen  Halsmuskeln  hervorbringt.  Auch  hatte  ich  bei  dieser  Ge- 
legenheit auf  die  Doppelseitigkeit  des  grösseren  Theiles  dieser  Bewe- 
gungen, insbesondere  der  Zuugenbewegungen,  aufmerksam  gemacht. 

Munk^)  hat  zuerst  in  seiner  Mittheilung  vom  15.  März  1878  die 
uns  hier  interessireuden  Windungen  als  „Kopfregion"  bezeichnet,  ohne 
■dass  er  jedoch  bei  diesem  Anlass  mittheilt,  welche  besonderen  Störungen 
in  Folge  von  Verletzungen  dieser  Region  eintreten.  In  seiner  nächsten 
Mittheilung  vom  29.  November  1878  hat  er  sodann  den  Namen  „Kopf- 
region" für  den  vorderen  Theil  dieser  Sphäre  reservirt,  den  hinteren 
Theil  aber  mit  einem  dahinter  liegenden,  bisher  freigelassenen,  von  der 
IV.  Urwindung  bis  zur  Medianebene  reichenden  und  senkrecht  auf  ihr 
stehenden  Streifen  mit  dem  Namen  „Augenregion"  bedacht.  Von  der 
letzteren  Region  erfahren  wir  (a.  a.  0.  S.  50 ff.),  dass  ihre  Exstirpation 
zwar  die  Blinzbewegungen  des  Auges  gegen  Berührungen  intact  lässt, 
aber  das  sonst  „jedesmal"  auf  Annäherung  des  Fingers  oder  der  Faust 
erfolgende  Blinzeln  aufhebt,  dass  ferner  die  Augenbewegungen  eine  Be- 
einträchtigung erfahren,  sowie  dass  manchmal,  nicht  immer,  Ptosis  ein- 
tritt, und  dass  endlich  die  sonst  bei  Reizung  der  Coiijunctiva  zu  beob- 
achtenden mimischen  und  Abwehrbewegungen  in  Fortfall  kommen,  lieber 
die  „Kopfregion"  heisst  es  sodann  (S.  53):  „Nach  Exstirpation  der  Kopf- 
region habe  ich  Seelenbewegungslosigkeit  der  gegenseitigen  Zungenhälfte 
und  der  dort  um  den  Mund  herum  gelegenen  Muskeln  bestehen  sehen; 
ausserdem  waren  beim  Hunde  die  Druckgefühle  der  gegenseitigen  Ge- 
sichtshälfte  verschwunden.  Die  Zungenlähmung  habe  ich  immer  nur 
bei  weit  nach  unten  reichender  Exstirpation  gefunden.  Ich  möchte 
glauben,  dass  die  weitere  Untersuchung  diese  Kopfregion  noch  in  mehrere 
Regionen  wird  zerfallen  lassen." 

Ich    habe    diese  Darstellung  M  unk 's    stets  mit  Verwunderung  ge- 


1)  E.  Hitzig,  Untersuchungen  über  das  Gehirn.   1874.   S.  63 — 113. 

2)  H.  Munk,  Gesammelte  Mittheilungen.   1890.   S.  33. 


—     227     — 

lesen.  Zunächst  ist  mir  die  Abtrennung  einer  „Augenregion"  von  der 
einmal  „Kopfregion"  getauften  Sphäre  nicht  verständlich  geworden. 
Zwar  hatte  ich  selbst  vor  Jahren  einen  Theil  dieser  „  Augenregion"  mit 
Rücksicht  auf  die  gemeinschaftliche  Function  als  „Centrum  für  Bewe- 
gung und  Schutz  des  Auges"  bezeichnet.  Wenn  man  aber  schon  einmal 
von  einer  „Kopfregion"  sprechen  will,  so  sehe  ich  nicht  ein,  weshalb 
die  Augen  und  der  Orbicularis  palpebrarum,  welche  doch  ebenso  gut 
am  Kopfe  liegen,  wie  der  Rest  des  Facialis  incl.  Frontalis,  die  Muskeln 
der  Zunge,  der  Kiefer  etc.  eben  nicht  zu  dieser  „Kopfregion"  gehören 
sollen.  Sodann  erfahren  wir  weder  bei  dieser,  noch  bei  einer  anderen 
Gelegenheit,  in  welchen  Beziehungen  die  einzelnen  Theile  jenes  breiten, 
sich  quer  über  die  Hemisphäre  erstreckenden  Streifens  zu  den  Bewe- 
gungen und  Empfindungen  innerhalb  dieser  sogenannten  „Augenregion" 
stehen  und  ebensowenig  sagt  uns  Munk  irgend  etwas  mit  Bezug  auf 
■diesen  Punkt  über  denjenigen  Bezirk,  in  dem  ich  das  Centrum  für  die 
Fress-  und  Sprechmuskeln  (Untersuchungen  S.  135)  localisirt  hatte.  Wir 
hören  nur,  er  glaube,  dass  die  weitere  Untersuchung  diese  „Kopfregion" 
noch  in  mehrere  Regionen  wird  zerfallen  lassen.  Allerdings  lag  Ver- 
anlassung genug  zu  einem  solchen  Glauben  in  den  von  mir  soeben  an- 
geführten Untersuchungen.  Indessen  hätte  Munk  dann  freilich  erwäh- 
nen müssen,  dass  ich  selbst  durch  den  Reizversuch  schon  vor  ihm 
eine  derartige  Abgrenzung  der  centralen  Innervationsstätten  für  die 
ganze  hier  in  Frage  kommende  Muskulatur  vorgenommen  hatte. 
Ich  muss  bedauern,  dass  er  dies  unterlassen  und  sogar  auf  Kosten  der- 
jenigen Bestätigung  seiner  Exstirpationsversuche  unterlassen  hat,  welche 
ihnen  aus  meinen  Reizversuchen  erwachsen  musste.  Sehr  fraglich  muss 
es  überhaupt,  wegen  der  Kleinheit  der  Theile,  erscheinen,  ob  eine  solche 
weitere  Zerfällung  beim  Hunde  durch  Lähmungsversuche  mit  der  glei- 
chen Genauigkeit  wie  durch  die  Reizversuche  möglich  ist.  In  dieser 
Beziehung  sind  die  Reizversuche,  wie  ich  früher  bereits  ausgeführt 
habe,  den  Lähmungsversuchen  entschieden  überlegen  und  um  so  mehr 
hätten  sie  angeführt  werden  sollen.  Vollkommen  im  Unklaren  lässt 
uns  Munk  an  dieser  Stelle  auch  darüber,  was  er  unter  „Seelenbewe- 
gungslosigkeit der  gegenseitigen  Zungenhälfte"  verstanden  wissen  will. 
Zeigte  die  Zunge  etwa  eine  Deviation  und  nach  welcher  Seite  war  eine 
solche  gerichtet?  Näheres  über  die  Art  dieser  Störung  theilt  Munk^) 
erst  im  Jahre  1882  anlässlich  der  Beschreibung  der  zufälligen  Nach- 
harschaftswirkungen  der  doppelseitigen  Exstirpation  des  Stirnlappens 
mit.    Wenn  die  Entzündung  sich  in  diesen  Fällen  nach  hinten  verbreitet. 


1)  H.  Munk,  Gesammelte  Mittheilungen.   1890.   S.  149. 

15' 


—     228     — 

fassen  die  Hunde  ungefähr  während  der  Dauer  der  ersten  Woche  Fleisch- 
stücke ungeschickt  mit  den  Kiefern  und  vermögen  mit  der  Zunge  nur 
zu  lecken,  nicht  aber,  namentlich  feste  Nahrung  in  den  Schlund  zu  be- 
fördern. Au  eineV  anderen  Stelle  (ebenda  S.  174)  hebt  er  noch  aus- 
drücklich hervor,  dass  diese  Fressstörungen  nur  bei  symmetrischer  Zer- 
störung dieser  Regionen  zu  beobachten  sind,  so  dass  noch  heute  Unklar- 
heit darüber  herrscht,  was  Munk  unter  der  „einseitigen  Seelenbewe- 
gungslosigkeit der  Zunge"  damals  A^erstanden  wissen  wollte.  Inzwischen 
hatte  Schiff  bereits  im  Jahre  18731)  einseitige  Fressstörungen  in 
der  Weise  beschrieben,  dass  die  Thiere  diejenigen  Theile  von  Knochen 
und  Speisetheilen  überhaupt,  welche  der  geschädigten  Seite  entsprechen,^ 
aus  dem  Maule  verlieren  imd  dass  ihnen  Speisetheile  in  den  ßacken- 
taschen  und  zwischen  den  Zähnen  zurückbleiben.  Goltz 2)  hatte  zwei 
Jahre  nach  jener  Mittheilung  von  Munk  den  doppelseitigen  Fressstö- 
rungen wohl  die  ausführlichste  Beschreibung  gewidmet;  aber  beide 
Forscher  haben  diese  als  Gegner  der  Localisationslehre  selbstverständ- 
lich nicht  auf  die  fraglichen  Regionen  localisirt:  insbesondere  begreift 
die  Beschreibung  von  Goltz  nicht  nur  die  durch  die  Ataxie  der  Fress- 
muskeln, sondern  auch  die  durch  die  Ataxie  der  JSlackenmuskeln  be- 
dingten Störungen  in  sich.  Man  sieht,  dass  ein  rechter  Grund  zu  einem 
Prioritätsstreit,  wie  er  sich  zwischen  Goltz  und  Munk  erhoben  hat,, 
eigentlich  gar  nicht  vorlag.  Die  wenigen  Beobachtungen,  welche  ich 
bei  diesen  Versuchen  über  Fressstörungen  gemacht  habe,  geben  mir  keine 
Veranlassung  an  dieser  Stelle  auf  dieselben  zurückzukommen. 

Die  Autoren  der  italienischen  Schule  Luciani  im  Verein  mit  Tam- 
burini und  Sepilli,  Bianchi  und  Tonnini  haben,  wie  wir  bereits 
in  der  III.  dieser  Abhandlungen 3)  gesehen  haben,  dem  vorderen  Schenkel 
der  IT.  Urwindung,  insbesondere  auch  deren  Sylvi' scher  Region  beson- 
dere Beziehungen  zum  Sehvermögen  zugeschrieben  und  sich  dabei 
namentlich  auch  auf  das  Ausfallen  der  optischen  Reflexe  gestützt.  Ich 
möchte  hier  nur  noch  hervorheben,  dass  Luciani  bei  seinen  mit  Se- 
pilli publicirten  Versuchen  Imal  (Hund  H)  und  bei  seinen  mit  Tam- 
burini publicirten  Versuchen  4nial  (Versuche  II,  XI,  XV,  XVII)  vor- 
übergehend eine  Erweiterung  der  contralateralen  Lidspalte  beobachtete., 
ohne  aber  diesem  Symptom  besondere  Beachtung  zu  schenken. 

1)  M.  Schiff,  Lezioni  di  fisiologia  sperimentale  sul  sistema  nervoso 
encefalico.  p.  538 f.    Vergl.  auch  Gesammelte  Beiträge  pp.  Bd.  3.   S.  517. 

2)  Fr.  Goltz,  Ueber  Verrichtungen  des  Grosshirns,  5.  Abhandlung. 
Pflüg  er 's  Archiv  Bd.  34.   S.  468  ff. 

3)  E.  Hitzig,  Historisches,  Kritisches  etc.  Archiv  für  Psych.  Bd.  35. 
H.  2.  S.  302  ff.  und  diese  Untersuchungen  Theil  H.  S.  63  ff. 


—     229     — 

Den  gleichen  hier  in  Betracht  kommenden  Fall  hat  Kckhardi) 
einer  Untersuchung  unterzogen.  Er  fand  keinen  constanten  Unterschied 
iu  der  Weite  der  Lidspalten  oder  in  den  Berührungsreflexen  (Conjunc- 
tiva,  Cilien,  Haut  der  Lider  oder  der  Wange)  oder  in  den  spontanen 
Lidbewegungen.  „Das  OrbicuLarisfeld  hat  keinen  Einfluss  auf  die  reflec- 
torische  und  spontane  Thätigkeit  des  subcorticalen  Centrums  für  die 
Lidbewegungen." 

Endlich  haben  sich  R.  du  Bois-Reyniond  und  Silex^)  gleichfalls 
mit  diesem  meinem  Centrum  für  die  Bewegung  und  den  Schutz  des 
Auges  beschäftigt.  Sie  bestätigten  die  Resultate  meiner  Reizversuche 
und  die  der  eben  erwähnten  Eckhard 'sehen  Lähmungsversuche,  ausser- 
dem fanden  sie,  dass  der  optische  Reflex  gegen  flache  Hand  „bei  ein- 
seitig operirten  Hunden  an  dem  geschädigten  Auge  in  der  Regel  (also 
doch  wohl  nicht  constant)  häufiger  ausblieb,  als  auf  der  anderen  Seite." 
Beiläufig  sei  noch  erwähnt,  dass  sich  in  der  caudalsten  Partie  dieser 
Region  Luciani's  „Centrum  der  Centren"  (vergl.  Historisches,  Kriti- 
sches etc.  Diese  Untersuchungen  Theil  II.  S.  64,  65.)  befindet.  — 

Die  nachstehenden  Versuche  habe  ich  in  zwei  Gruppen  eiugetheilt, 
solche,  die  ohne  nennenswerthe  motorische  etc.  Erfolge  an  den  Extre- 
mitäten verliefen  und  solche,  die  mit  derartigen  Erfolgen  verliefen. 

A.    Versuche  ohne  motorische  Folgen. 

I3eol>aclxi;viiig"  <L'i.. 

Kleine  Hündin.  Trepanation  30  mm  nach  vorn  von  Lambdanaht  links 
mit  14  mm  Trepan.  Die  halbe  Trepankrone  auf  Planum  semicirculare.  Rei- 
zung mit  Inductionsströmen,  während  das  Thier  noch  nicht  ganz  erwacht  ist, 
erfolglos,  nur  einige  zitternde  Nachbewegungen  im  Orbicularis  rechts.  Aetzung 
mit  öproc.  Carbolsäure. 

In  der  Folge  werden  weder  motorische,  sensible,  optische,  noch  Reflex- 
störungen beobachtet. 

Wegen  der  Section  vergl.  Beob.  45. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  44;  3  Wochen  nach  dieser  Operation.  Erwei- 
terung der  Trepanöffnung  um  ca.  6  mm  lateralwärts.  Pia  hyperämisch. 
Skarification  der  blossgelegten  Rinde  mit  feinem  Messer  und  Aetzung  mit 
öproc,  Carbolsäure. 


1)  G.  Eckhard,    Das  sogenannte  Rindenfeld  des  Facialis  in  seiner  Be- 
ziehung zu  den  Blinzbewegungeti.    Centralbl.  f.  Phys.  Bd.  XII.  No.  1. 

2)  R.  du  Bois-Reymond  und  Silex,    Ueber   corticale   Reizung    der 
Augenmuskeln.    Archiv  für  Anatomie  und  Physiologie.   1899.   S.  174 ff. 


—     230     — 

In  der  Folge  l^eine  Spur  von  motorischen,  sensiblen,  optischen,  noch 
Reflexstörungen. 

Getödtet  nach  13  Monaten,  nachdem  inzwischen  noch  2  Operationen,  die 
3.  im  Gyrus  sigmoides,  die  4.  im  Hinterlappen  ausgeführt  worden  waren.     In 


Fig.  58. 


Fig.  59. 

dem  nachstehenden  Sectionsbefunde  ist  die  Beschreibung  der  Convexität 
vollständig  wiedergegeben. 

Dura  nicht  verdickt,  mit  Pia  nur  zwischen  vorderer  und  hinterer  Opera- 
tionsstelle leicht  verwachsen.  Die  Auflagerung  reicht  medial  bis  fast  an  die 
Längsspalte  des  Gehirns,  nach  vorn  und  lateral  noch  etwas  über  den  vorderen 
Schenkel  des  Gyrus  sigmoides  hinaus,  nach  lateral  noch  eben  auf  die  III.  Ur- 


—     231     — 

Windung  übergreifend,  nach  hinten  bis  auf  etwa ^4  cm  von  der  hinteren  Ope- 
rationsstelle entfernt  bleibend.  Vorn  lateral  in  der  III.  Urwindung  findet  sich 
ein  flacher  Erweichungsherd.  Auf  dem  Durchschnitt  zeigt  sich  Zerstörung  des 
Rindengraus  im  Gebiete  der  aufsitzenden  Narbenkappe,  Das  Narbengewebe 
dringt  etwa  1  cm  tief  in  das  Mark  hinein.  Dort  keine  Erweichung.  Der  Ven- 
trikel kaum  ausgezogen.  Hintere  Operationsstelle:  Die  Operation  hat  genau 
die  M  unk 'sehe  Stelle  A-,^  unterschnitten.  Der  Einstich  ist  noch  etwas  lateral 
Ton  der  lateralen  Begrenzung  dieser  Stelle.  Der  Ausstich  etwas  lateraler  als 
die  mediale  Begrenzung  der  Stelle.  Von  der  vorderen  Narbe  gehört  ca.  die 
hintere  Hälfte  den  beiden  hier  in  Frage  kommenden  Operationen  an.  Sie  be- 
deckt das  von  mir  sogenannte  Centrum  für  Bewegung  und  Schutz  des  Auges 
und  medial  davon  einen  Theil  der  von  Munk  sogenannten  Augenregion. 

3E?eol>£iclatrxrig-  40. 

Abtragung  des  Knochens  ganz  vorn  und  lateral  bis  zur  Spitze  des  linken 
Planum  semicirculare,  dabei  Durchschneidung  des  Facialis.  Dura  am  hinteren 
Rande  der  Lücke  aufgeschlitzt,  Unterschneidung  vornehmlich  basal  bis  auf 
den  Knochen,  doch  auch  nach  vorn  basal  2,5  cm  lang  mit  dem  Präparatenheber 
unter  seitlicher  Abtrennung  der  unterschnitten en  Theile  derart,  dass  die  seit- 
lichen Schneiden  des  Präparatenhebers  an  der  medialen  und  lateralen  Grenze 
des  unterschnittenen  Theiles  gegen  den  Knochen  angedrückt  werden. 


Fig.  60. 

In  der  Folge  keine  Spur  von  optischen,  motorischen,  sensiblen  und  Pve- 
flexstörungen,  insbesondere  auch  keine  Anomalieen  der  Zunge, 

Gestorben  nach  ca.  2Y2  Monaten,  nachdem  inzwischen  eine  2.  Operation 
vorgenommen  worden  war. 

Section:  Häute  normal.  An  der  Operationsstelle  eine  scharf  umschrie- 
bene narbige  Verwachsung.  Die  ungefähr  7  mm  breite  und  12  mm  lange  Narbe 
sitzt  in  dem  der  II.  und  III.  Urwindung  gemeinschaftlichen  Theil  vorn  2  mm^ 
hinten  6  mm  lateral  vom  lateralen  Rande  des   Gyrus  sigmoides.     1.  Durch- 


-     232     —  - 

schnitt  (2  mm  vor  dem  hinteren  Rande  der  Narbe):  Von  der  Narbenkappe 
geht  ein  nicht  ganz  gerader,  theilweise  durch  Erweichungen  bis  1  mm  breit 
erweiterter  Spalt   basalw^ärts    bis  zur  basalen  Pia,    ohne   dieselbe   zu   durch- 


Fig.  61. 

schneiden.  Der  Spalt  geht  zwischen  Rindengrau  und  innerer  ivapsel  entlang. 
Auf  dem  2.  Durchschnitt  (8  mm  weiter  nach  vorn)  sieht  man  nichts  mehr 
von  dem  Einstich. 


I3eol>£tolitTing-  4*7^. 

Abtragung  des  Knochens  auf  linkem  Planum  semicirculare  ganz  vorn  und 
lateral,  auf  21mm  sagittal,  11mm  frontal,  unter  Durchschneidung  des  Facialis. 
Abtragung  der  Dura  nur  über  der  hinteren  Hälfte.  Unterschneidung  nicht  ganz 
bis  an  die  vordere  Spitze,  ausserdem  lateral  und  basalwärts. 

Motilitätsstörungen:  Gleich  nach  dem  Einstich  tonische  Contrac- 
tionen,    wie  es  scheint  ausschliesslich  der  Lendenmuskulatur,  sonst  ungestört. 

Sehstörung  fehlt. 

Optische  Reflexe  normal. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Gestorben  am  13.  Tage  ohne  erkennbaren  Grund.   (Epileptischer  Anfall?) 

Section:  Häute  normal,  nur  scharf  an  der  Operationsstelle  mit  den 
weichen  Bedeckungen  verwachsen,  Pia  dort  etwas  höckrig  und  stellenweise 
etwas  strichförmig  narbig  eingezogen.  Die  Narbe  sitzt  auf  der  II.  und  111.  Ur- 
windung.  1.  Durchschnitt  (31/2  ^^  vor  dem  Einstich) :  Schnittförmiger  Canal 
etwa  4  mm  von  der  Rinde,  parallel  zur  Oberfläche,  Ränder  mit  einer 
schmalen  Erweichungszone  umgeben.  Der  Schnitt  fällt  senkrecht  zur  Mark- 
strahlung der  unterschnittenen  Windung,  so  dass  ein  grosser  Theil  der  Rinde 
von  seinen  subcorticalen  Verbindungen  abgetrennt  ist.  Das  Rindengrau  ist 
auch  im  Ganzen  etwas  abgeblasst,  stellenweise  fast  markweiss.  Oberhalb  und 
lateral  vom  Nucleus  caudatus  findet  sich  eine  blutig  sufTundirte  strichförmige 
Erweichungsstelle  im  Markweiss.  2.  Durchschnitt  (5  mm  weiter  nach  vorn) : 
Stichcanal  nicht  ganz  parallel  zur  Oberfläche,    unten  etwa  3  mm,    oben    etwa 


—     233     — 

4Y2  iiiiii  entfernt.     Da  er  hier  etwa  in  die  Richtung    der  Markstrali lung  fällt, 
sind  augenscheinlich  wenig  Fasern  quer  durchschnitten,   das  Rindengrau  dar- 


Fiff.  62. 


Fig.  63. 

über  auch  kaum  merklich  aufgehellt.     Etwa  ly,  mm  weiter  nach  vorn  endet 
der  Stichcanal.    Länge  des  Ganzen  danach  10  mm.    (Vergl.  Beob.  2.) 


BeobaelitiMig-  4S. 

Trepanation  ganz  vorn,  stark  lateral  auf  dem  Planum  semicirculare  links. 
Erweiterung  mit  Knochenzange  auf  19  mm  sagittal,  10  mm  frontal.  Abtragung 
der  unverletzten  Dura,  bis  auf  einen  schmalen  Streifen  rings  herum  und  ein 
breiteres  Stück  im  vorderen  Drittel.  Pia  unverletzt.  Einstich  mit  dem  schma- 
len Ende  des  Präparatenhebers  hinten  und  Unterschneidung  der  Rinde  nach 
vorn  in  der  Richtung  der  Knochenlücke  bis  an  die  vordere  Schädelwand;  dann 
wird  unter  noch  zweimaligem  Einführen  des  Präparatenhebers  in  einem  Winkel 


—     234     — 

die  Rinde   lateral   und  medial  bis  an  die  Pia  ohne  Verletzung  derselben  ab- 
getrennt. 

Motilitätsstörungen   fehlen   sonst;    rechte  Lidspalte  4  Tage  weiter 
als  linke. 


Fi  ff.  64. 


Fig.  65.    0:  Unterschneidungsstelle. 


In  der  Schwebe:    Hängt  am  2.  Tage  rechts  gestreckt  und  reagirt  auf 
Begreifen  schwächer. 

Sehstörung:   Gegen  Fleisch  und  Licht  fehlend. 

Optische  Reflexe  normal. 

Nasenlidreflex:  Am  2.  und  3.  Tage  vielleicht  abgeschwächt. 

Getödtet  nach  7  Wochen;  inzwischen  eine  2.  Operation  im  Hinterlappen, 


—     235     — 

Section:  Häute  normal.  Eine  etwa  5  mm  grosse  Narbenkappe  in  der 
II.  Urwindung  dicht  vor  dem  Centrum  für  Bewegung  und  Schutz  des  Auges, 
also  etwas  weiter  nach  hinten  als  bei  der  vorigen  Beobachtung.  Durchschnitt 
(5  mm  vor  dem  Einstich):  Vom  medialen  Rand  der  Narbe  ausgehend,  erstreckt 
sich  ein  schnittförmiger  Spalt  der  Piall— 12mm  nach  vorn.  Von  diesem  schon 
aussen  in  der  Pia  sichtbaren  Schnitt  geht  eine  Spalte  quer  durch  das  Rinden- 
grau und  Markweiss  etwa  6  mm  medial,  um  unten  lateral  umzubiegen  und  fast 
an  die  Pia  heranzugehen.    Länge  dieser  Unterschneidung  etwa  15  mm. 

Beobachlviiig-,  40. 

Knochenlücke  ganz  vorn  28,5  mm  sagittal,  15  mm  frontal  auf  Planum 
semicirculare  links,  2 — 4  mm  lateralwärts  von  der  Linea  semicircularis,  unter 
Vermeidung  des  Gyrus  sigmoides,  Unterminirung  der  vorderen  Hälfte  der  frei- 
gelegten Stelle  mit  dem  Da  viel 'sehen  Löffel. 

Motilitäts-  und  Sensibilitätsstörungen  fehlen. 

In  der  Schwebe:  Hängt  beiderseits  gleich.  Beim  Begreifen  Reaction 
bis  zum  6.  Tage  vorn  rechts  fehlend,  am  7.  Tage  schwächer,  am  8.  Tage 
normal. 

Sehstörung:  Fehlt  gegen  Fleisch.  Gegen  Licht  reagirt  der  Hund 
nicht. 

Optische  Reflexe:  Beiderseits  fehlend  oder  nur  angedeutet,  aber  ohne 
Unterschied. 


Fig.  66. 


Nasenlidreflex:  Beiderseits  überhaupt  schwach,  rechts  aber  theils  ganz 
fehlend,  theils  noch  schwächer  bis  zum  17.  Tage.     Später  beiderseits  gleich. 

Cornealreflex  unverändert. 

Sensibilität  der  Zunge  etc.:  Verliert  anfänglich  oft  Fleischstücke, 
sonst  nichts  nachweisbar. 


—     236     — 

Getödtet  nach  h^j^  Monaten ;  inzwischen  eine  2.  symmetrische  Operation. 

Section:  Häute  normal.  Eine  etwa  23  mm  lange  und  10  mm  breite 
Narbe  befindet  sich  lateral  vom  Gyrus  sigmoides  gerade  den  lateralen  Rand 
desselben  berührend,  aber  nicht  darauf  übergreifend.  Vorn  erstreckt  sie  sich 
etwa  bis  zum  lateralwärts  verlängerten  Sulcus  cruciatus,    nach  hinten  10  mm 


Fig.  67. 

über  den  hinteren  Schenkel  des  Gyrus  sigmoides  hinaus.  Die  Narbe  liegt 
leicht  schief  von  hinten  medial  nach  vorn  lateral,  im  Wesentlichen  den  hin- 
teren Theil  des  vorderen  Schenkels  der  IL  Urwindung  zerstörend.  Durchschnitt 
(mitten  durch  den  hinteren  Schenkel  des  Gyrus  sigmoides) :  Unter  der  Narbe 
ist  die  Rinde  flach  zerstört,  das  Rindengrau,  soweit  es  die  einschneidenden 
Sulci  darunter  umgiebt,  ist  jedoch  erhalten. 


Beol>aclxtriiig:  öO. 

Aufdeckung  auf  dem  Planum  semicirculare  links  ganz  vorn  und  ganz 
lateral  auf  17,5  mm  sagittal,  9,5  mm  frontal.  Unterschneidung  der  freigelegten 
Partie  mit  dem  Präparatenheber  von  der  hinteren  Peripherie  der  Lücke  her  in 
der  Richtung  derselben  nach  vorn  bis  an  den  Knochen. 

Motilitätsstörungen  fehlen  in  den  Extremitäten.  Rechte  Lidspalte 
4  Tage  erweitert. 

Sehstörung  fehlt. 

Optische  Reflexe:  Gleich  nach  der  Operation  ungestört;  vom  2.  bis 
4.  Tage  abgeschwächt,  nach  5  Wochen  noch  abgeschwächt. 

Nasenlidreflex  abgeschwächt  bis  zum  Schluss.    (5  Wochen.) 

Getödtet  nach  7  Wochen;  inzwischen  eine  2.  symmetrische  Operation. 

Section:    Häute  normal.    Narbe  von  11  mm  Länffe  in  der  II.  Urwin- 


—     237     — 

düng,  Mitte  etwas  nach  vorn  vom  Sulcus  criiciatus,  hinterer  Rand  genau  mit 
der  Einstichstelle  zusammenfallend,  vorderer  Fand  genau  da,  wo  im  Gehirn 
die  Unterschneidungsspalte  aufhört.     Durchschnitt  (6  mm  vor  dem  Einstich): 


Fiff.  68. 


Fig.  69.     0:  Operationsstelle;  H:  Erweichungsherd. 

Die  leicht  blutig  verfärbte  Spalte  liegt  genau  in  der  Längsrichtung  der  Mark- 
strahlung, von  dieser  nicht  viel  übrig  lassend.  Rinde  darüber  ganz  leicht 
abgeblasst. 


238 


Beobaditun^  51. 

Derselbe  Hund  von  Beoh.  50.  Aufdeckung  auf  rechtem  Planum  semicir- 
•culare  ganz  vorn  und  lateral  auf  2  cm  sagittal.  Unterschneidung  wie  bei 
Beob.  50. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sensibilitätsstörungen  fehlen,  auch  im  Gesicht  und  in  der  Nase. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  im  breiten  temporalen  Strei- 
fen, wo  er  zwar  fixirt,  aber  nicht  zuschnappt;  am  3.  Tage  keine  deutliche  Seh- 
störung mehr,  am  4.  Tage  sicher  verschwunden.    Gegen  Licht  fehlend. 

Optische  Reflexe   dauernd  rechts  schwächer. 

Nasenlidreflex  rechts  schwächer. 

Getödtet  am  13.  Tage. 

Section:  Häute  normal.  Auflagerung  annähernd  symmetrisch,  etwas 
weiter  nach  hinten  im  Bereiche  meines  Centrums  für  Bewegung  und  Schutz 
•des  Auges.  Die  Unterschneidung  ist  ganz  flach,  ungefähr  an  der  Grenze  von 
Rindengrau  und  Markweiss,  der  mediale  Rand  der  Schneide  hat  dabei  die  Pia 
<3urchschnitten.  Durchschnitt  (10  mm  vor  dem  Einstich) :  Unterschneidungs- 
spalte  hat  hier  gerade  noch  die  Rinde  quer  durchtrennt,  der  grösste  Theil  des 
Schnittes  ist  ausserhalb  der  Pia  gefallen.  In  der  Tiefe  des  Sulcus,  der  den 
-Gyrus  sigmoides  lateral  begrenzt  (Sulcus  coronarius),  liegt  ein  blutig  durch- 
setzter Erweichungsherd  im  Rindengrau.    (Vergl.  Beob.  1.) 

Beobaclxtizug-  5S. 

Kräftiger,  mittelgrosser  Hund.  Aufdeckung  im  linken  Planum  semicircu- 
lare,  vorderer  Rand  der  Lücke  15  mm  hinter   der  Spitze    des  Planum,   auf  ca. 


Fig.  70. 


14  mm.    Paradische  Reizung  im  vorderen  unteren  Wuudwinkel  ergiebt  Schluss 
■des  Auges.    Skarification  dieses  Abschnittes  auf  2—3  mm  Tiefe. 

Motilitäts-  und  Sensibilitätsstörungen  (auch  in  der  Nase)  fehlen. 


239 


In  der  Schwebe:  Hängt,  aber  nur  am  2.  Tage,  rechts  vorn  etwas  ge- 
streckt. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  im  oberen  temporalen  Qua- 
dranten Abschwächung  der  Reaction. 

Optische  Reflexe:  2  Tage  lang  fehlend,  am  3.  Tage  unvollkommen, 
dann  normal. 

Nasenlidreflex:  Fehlt  am  2.  Tage  derart,  dass  man  ohne  Reaction  bis 
an  den  Lidrand  kommen  kann,  dort  normale  Reaction;  abgeschwächt  bis  zum 
16.  Tage,  nachher  normal. 

Getödtet  nach  ca.  7  Monaten;  inzwischen  eine  2.  Operation  im  Hinter- 
lappen. 

Section:  Die  Narbe  bedeckt  das  Centrum  für  Bewegung  und  Schutz 
des  Auges  und  die  nach  vorn  von  diesem  gelegenen  Theile  der  H.,  sowie  die 
nach  hinten  gelegenen  Theile  der  TH.  ürwindung;  von  hier  geht  dann  schief 
nach  medial  zur  hinteren  Stelle  ein  Streifen,  wo  die  Dura  unlösbar  mit  der  Pia 
verwachsen  ist.  (Diese  Verwachsung  ist  eine  Folge  der  2.  Operation,  da  die 
Häute,  wie  damals  ausdrücklich  constatirt,  zart  und  nicht  verwachsen  waren.) 
An  der  Durchschnittsstelle  erscheint  das  Gehirn  nur  wenig  und  oberflächlich 
verändert. 

Aufdeckung  auf  linkem  Planum  semicirculare  17mm  hinter  der  Spitze  des 
Planum  auf  18  mm  sagittal  und  13  mm  frontal.  Faradische  Reizung  im  mitt- 
leren und  vorderen  Drittel  ergiebt  Lidschluss.    Unterschneidung  dieser  Partie. 

Der  Hund  frisst  bereits  ^j^  Stunden  nach  der  Operation  und  ist  im  Allge- 
meinen gut  zu  untersuchen;    Sehstörung  scheint  zu  fehlen.     Optische  Reflexe 


Fig.  71. 


fehlen  rechts,    links  vorhanden. 
reflex  beiderseits  gleich. 


Nasenlidreflex  rechts  abgeschwächt.     Ciliar- 


240 


Motilitätsstörungen  fehlen,  nur  am  3.  Tage  etwas  „Defect  der 
Willensenergie."    Lidspalte  weiter  offen  bis  zum  23.  Tage. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch  am  3.  Tage  Reaction  durch  Fixiren  auf 
der  temporalen,  durch  Zuschnappen  auf  der  nasalen  Hälfte  des  Gesichtsfeldes. 
Später  geringere  Energie  beim  Zuschnappen  bis  zur  letzten  Notiz  am  33.  Tage. 
Gegen  Licht  beiderseits  sehr  indifferent. 

Optische  Reflexe:  Am  2.  Tage  schwächer,  am  3.  und  4.  Tage  feh- 
lend.   Dann  fehlend  oder  schwächer  mindestens  bis  zum  18.  Tage. 

Nasenlid refl ex  schwächer  bis  zum  14.  Tage. 

Getödtet  nach  8  Wochen  j  inzwischen  eine  2.  Operation  im  Hinterlappen. 

Section:  Häute  normal.  Die  Narbe  bedeckt  genau  das  Centrum  für 
Bewegung  und  Schutz  des  Auges.  Auf  dem  Durchschnitt  zeigt  sich  eine  me- 
dial-lateral verlaufende  Unterschneidungsspalte,  die  lateral  etwa  ^/^  cm  unter 
der  Obertläche  endet.    Die  Rinde  über  dieser  Spalte  ist  entfärbt. 


Tabelle    ILi) 


No. 
der 

Art  der  Operation 

Motilitätsstörungen 

Sehst 
geg 

jrang 
en 

Opti- 
sche 

Nasen- 
lidre- 

Beob. 

Fleisch 

Licht 

Reflexe 

flex 

44 

Anätzung 

0 

0 

0 

0 

0 

45 

Skarification  u.  An- 

ätzung 

0 

0 

0 

0 

0 

46 

Unterschneidung 

0 

0 

0 

0 

0 

47 

Unterschnei  düng 

(Lendenmuskeln) 

0 

0 

0 

0 

48 

Unterschneidung 

In  der  Schwebe:  2; 

Lidspalte :  4  Tage 

0 

0 

0 

(3?) 

49 

Unterschneidung 

Begreifen:  6  (1) 

0 

—  • 

— 

(16) 

50 

Unterschneidung 

Lidspalte:  4  Tage 

0 

0 

(35) 

(35  i 

51 

Unterschneidung  der 

2.  Seite 

0 

2(1?) 

0 

0 

0 

52 

Skarification 

Hängt    am   2.   Tage 

vorn  etw.  gestreckt 

2 

— 

2(1) 

2(14) 

53 

Unterschnei  düng 

Lidspalte:   23  Tage; 
Defect  d.  Willens- 

cnergie:  3.  Tag 

33? 

— 

18? 

(13) 

1.  Sehstörung  fehlte  in  7  von  den  10  mitgetheilten  Beobach- 
tungen gänzlich.  In  der  Beob.  52  fand  sich  am  2.  Tage  im  oberen 
temporalen  Quadranten  eine  dann  verschwindende  Abschwächung  der 
Reaction  gegen  Fleisch;  in  der  Beob.  53  war  das  Verhalten  ein  sehr 
eigenthümliches  gewesen.     Der  Hund  sah  und  erkannte,    wie    er  durch 


1)  Die  in  Klammern  gesetzten  Zahlen  bedeuten  eine  Abschwächung  oder 
eine  fernere  Abschwächung  um  die  Dauer  der  betreffenden  Zahlen  in  Tagen. 
Wegen  der  Bedeutung  der  Fragezeichen  wird  auf  den  Text  verwiesen. 


—     241     — 

Zuschnappen  bewies,  das  Fleisch  auf  der  nasalen  Gesichtsfeldhälfte;  auf 
der  temporalen  Gesichtsfeldhälfte  sah  er  das  Fleisch  freilich  auch  von 
Anfang  an,  wie  er  durch  Fixiren  bewies,  aber  er  erkannte  es  offenbar 
nicht,  da  er  sich  nicht  bemühte,  es  zu  ergreifen.  Dieser  Zustand  war 
zwar  am  4.  Tage  verschwunden,  aber  der  Hund  bekundete  noch  bis 
zum  33.  Tage,  bis  zum  Ende  der  Beobachtung,  durch  geringere  Energie 
beim  Zuschnappen,  dass  ihm  das  Bild  des  Fleisches  weniger  deutlich 
erschien.  Etwas  Aehnliches  fand  sich  in  der  Beob.  51,  aber  nnr  am 
2.  Tage,  an  dem  der  Hund  das  in  einem  breiten  temporalen  Streifen 
erscheinende  Fleisch  auch  nur  fixirte,  ohne  aber  zuzuschnappen.  Am 
folgenden  Tage  bereits  war  das  Phänomen  nicht  mehr  deutlich  zu  er- 
kennen. 

2.  Die  optischen  Reflexe  waren  in  6  Fällen  überhaupt  nicht 
und  in  einem  7.  Falle,  bei  dem  sie  beiderseits  nur  schwach,  aber  gleich- 
massig  nachweisbar  waren,  wahrscheinlich  nicht  alterirt.  Sie  waren 
also  alterirt  in  den  3  Fällen  der  Beobb.  50,  52,  53.  In  der  Beob.  50 
gelang  es  gleich  nach  der  Operation  ihre  Unversehrtheit  nachzuweisen, 
dann  aber  waren  sie  während  der  ganzen  Dauer  der  Beobachtung  — 
35  Tage  lang  —   abgeschwächt.     In  der  Beob.  52    fehlten    sie    nur  am 

2.  Tage  und  waren  dann  noch  1  Tag  abgeschwächt;  in  der  Beob.  53 
endlich  fehlten  sie  in  einer  ganzen  Reihe  von  Tagen  gänzlich,  waren 
aber  an  anderen,  dazwischen  liegenden  Tagen  mehr  oder  minder  stark 
abgeschwächt  nachweisbar. 

3.  Der  Nasenlidreflex  war  in  5  Fällen  überhaupt  nicht  alterirt. 
In  der  Beob  48  war  er  drei  Tage  lang  anscheinend,  in  der  Beob.  49 
16  Tage  abgeschwächt,  während  er  häufig  ganz  fehlte.  Abgeschwächt 
war  er  auch  bei  den  Beobb.  50  und  53  auf  die  Dauer  von  35  bezw. 
13  Tagen.  In  der  Beob.  52  endlich  fehlte  er  am  2.  Tage  vollständig 
und  war  dann  noch  14  Tage  lang  abgeschwächt. 

4.  Motilitätsstörungen.  Da  in  diese  Reihe  von  Beobachtungen 
nur  solche  Fälle  aufgenommen  worden  sind,  bei  denen  nennenswerthe 
Störungen  der  Motilität  und  Sensibilität  in  den  Extremitäten  fehlten, 
so  ist  über  diese  natürlich  nichts  zu  sagen.  Immerhin  hingen  die  Hunde 
der  Beobb.  48  und  52  am  2.  Tage  etwas  gestreckt,  während  die  Hunde 
48  und  49  auf  Begreifen  in  der  Schwebe,  der  erste  am  2.  Tage  weniger, 
der  andere  bis  zum  6.  Tage  gar  nicht,  am  7.  Tage  schwächer  als  auf 
der  anderen  Seite  reagirten.     Der  Hund   der  Beob.  53  endlich  Hess  am 

3.  Tage  die  contralaterale  Vorderextremität  unter  geringerem  Wider- 
stände dislociren,  zeigte  also  das  von  mir  „Defect  der  Willensenergie" 
genannte  Symptom. 

Eine    Erweiterung    der    contralateralen   Lidspalte    zeigten 

Hitzig,  Gesammelte  Abliandl.    11.  Theil.  16 


—     242     — 

3  von  diesen  Hunden.     Bei    den  Beobb.  48  und  50    war  das   Symptom 

4  Tage  lang  und  bei  der  Beob.  53  23  Tage  lang  wahrzunehmen. 

Schliesslich  ist  noch  zu  erwähnen,  dass  der  Hund  der  Beob.  47 
bei  der  Operation  ein  sehr  eigenthümliches,  meines  Wissens  bisher  nicht 
beschriebenes  Symptom  zeigte.  Unmittelbar  nach  dem  Einstich  verfielen 
die  Muskeln  der  Lendenwirbelsäule  beiderseits  in  einen  ziemlich  lange 
anhaltenden  tonischen  Krampf,  an  dem  sich,  dem  Anscheine  nach,  an- 
dere Muskeln  nicht  betheiligten.  Wahrscheinlich  werden  bei  dem  Einstich 
die  betreffenden  von  vorn  nach  hinten  ziehenden  Bahnen  verletzt  wor- 
den sein. 

5.  Operationen  und  Sectionen.  In  jeder  Hinsicht  von  beson- 
derem Interesse  ist  die  Beob.  46.  Sie  betraf  den  vordersten  Theil  der 
uns  beschäftigenden  Windungen;  die  Dura  war  nicht  abgetragen,  son- 
dern nur  am  hinteren  Ende  der  Knochenlücke  aufgeschlitzt  worden  und 
darauf  hatte  ich  eine  sehr  ausgiebige  Unterschneidung  der  gesammten 
vorderen  Partieen  der  basalen  Windungen  vorgenommen.  Der  erste 
durch  die  Narbe  gelegte  Querschnitt  hatte  die  Unterschneidung  in  ihrer 
grössten  Ausdehnung  getroffen  und  zeigte,  dass  die  111.  und  IV.  Urwin- 
dung  vollständig  von  der  inneren  Kapsel '' abgetrennt  waren,  und  dass 
die  innere  Kapsel  selbst  jedenfalls  auch  eine  scliwere  Schädigung  er- 
litten hatte.  Ich  werde  auf  die  klinische  Bedeutung  des  Falles  noch 
zurückkommen,  hier  möchte  ich  nur  darauf  aufmerksam  machen,  dass 
dieser  Fall  die  Art  und  den  Umfang  der  bei  analogen  Eingriffen  ge- 
setzten Zerstörungen  deswegen  besonders  deutlich  zeigt,  weil  der  Schnitt 
gerade  die  richtige  Stelle  getroffen  hat.  Indessen  ist  der  Umfang  der 
Läsion  auch  in  denjenigen  Fällen,  in  denen  sie  durch  den  Frontalschnitt 
nicht  in  dieser  Weise  demonstrirt  werden  konnte,  sicherlich  nicht  ge- 
ringer ausgefallen.  ■  Von  dem  gleichen  Interesse  ist  die  Beob.  47,  bei 
der  die  Narbe  sich  annähernd  genau  an  der  gleichen  Stelle  fand,  wäh- 
rend das  Instrument,  wie  der  Frontalschnitt  zeigt,  in  die  IL  Urwindung 
eingedrungen  war.  Hier  hatte  es  fast  die  ganze  Markstrahlung  dieser 
Windung  durchtrennt,  abgesehen  von  den  Verwüstungen ,  die  es  sonst 
noch  bei  seiner  Vorschiebung  nach  der  Basis  zu  angerichtet  haben  muss. 
Ausserdem  fand  sich  noch  ein  ziemlich  grosser  Erweichungsherd  im 
Fusse  des  Stabkranzes,  der  ersichtlich  die  Stammstrahlung  aus  einem 
grossen  Theile  des  hinteren  Schenkels  des  Gynis  sigmoides  neben  einem 
Theile  des  von  vorn  nach  hinten  ziehenden  sagittalen  Markes  durch- 
trennt hat.  Bei  der  nächsten  Beob.  (48)  war  die  gleiche  Operation, 
nur  etwas  weiter  hinten  ausgeführt  worden.  Die  Narben  kappe  sass  in 
der  IL  Urwindung  an  der  unteren  Grenze  meines  Orbiculariscentrums 
und    die    auf  dem  abgebildeten  Frontalschnitt  nur    zum  Theil  sichtbare 


—     243     ^ 

Durchtrennung  reichte  mit  einem  ca.  15  mm  langen  Stichcanal  bis  fast 
an  die  basale  Pia,  so  dass  auf  diese  Weise  das  Mark  jener  Windungen 
gleichfalls  von  der  Verbindung  mit  dem  anderweitigen  Projectionssystem 
abgetrennt  erscheint.  Die  nun  folgende  Operation  (Beob.  49)  hat  die 
IL  Urwindung  wieder  etwas  weiter  nach  hinten  getroffen,  so  dass  die 
Narbenkappe  noch  etwas  über  die  hintere  Grenze  des  von  mir  soge- 
nannten Centrums  für  Bewegung  und  Schutz  des  Auges  hinausreicht. 
Es  war  aber  nur  die  vordere  Hälfte  des  aufgedeckten  Rindenbezirkes 
unterminirt  worden.  Bei  der  Beob.  50  sitzt  die  Narbe  derselben  Win- 
dung zwar  etwas  weiter  nach  vorn  auf;  indessen  ist  der  Einstich  hier 
an  der  hinteren  Peripherie  der  Kuochenlücke  eingedrungen  und  hat 
von  da  aus  so  gut  wie  die  ganze  Markstrahlung  der  IL  Urwindung  ver- 
nichtet. Die  Beob.  51  wurde  an  der  anderen  Hemisphäre  desselben 
Hundes  in  einer  annähernd  gleichen  Weise  ausgeführt,  nur  begann  der 
Einschnitt  noch  etwas  weiter  nach  hinten,  so  dass  die  Narbe  der  Haupt- 
sache nach  dem  mehrerwähnten  Orbiculariscentrum  aufsass.  Ausserdem 
fand  sich  wieder  ein  grosser  Erweichungsherd,  der  einen  Theil  der 
Markstrahlung  aus  dieser  Windung  unterbrochen  hat  an  ihrer  Basis. 
Die  nächste  Beobachtung  (Beob.  52)  griff  abermals  einen  etwas  weiter 
nach  hinten  liegenden  Theil  der  IL  Urwindung  an,  so  dass  nur  der  an 
dem  vorderen  Theil  der  Kuochenlücke  aufgedeckte  Rindenbezirk,  wel- 
cher auf  den  faradischen  Reiz  mit  Schluss  des  Auges  reagirte,  skarifi- 
eirt  wurde.  Die  Beob.  53  betrifft  etwa  die  gleiche  Region.  Die  Narbe 
sass  genau  dem  Orbiculariscentrum  auf,  betheiligte  den  hinteren  Rand 
des  Gyrus  sigmoides  vielleicht  um  etwas,  ünterschnitten  waren  aber 
nur  die  vorderen  2/3  dieser  Partie,  welche  auf  den  faradischen  Reiz 
mit  Lidschluss  reagirten.  Der  Durchschnitt  zeigte  nur  eine  ca.  ^j^  cm 
unter  der  Oberfläche  liegende  Unterschneidungsspalte.  Am  weitesten 
nach  hinten  liegen  die  beiden,  an  dem  gleichen  Hunde  vorgenommenen 
Eingriffe  der  Beobb.  44  und  45.  Bei  der  ersteren  dieser  Beobachtungen 
war  der  medial  und  etwas  nach  hinten  von  meinem  Orbiculariscentrum 
liegende  Theil  der  M unk' sehen  Augenregion,  sowie  der  mediale  Theil 
des  Orbiculariscentrums  selbst  angeätzt  worden.  Bei  der  darauffolgen- 
den Operation  wurde  der  Rest  dieses  Centrums  skarificirt  und  geätzt 
(die  vordere  Narbe  auf  der  Abbildung  gehört  nur  in  ihrer  hinteren 
Hälfte  zu  diesen  Operationen,  die  vordere  Hälfte  derselben  bezieht  sich 
auf  zwei  andere  an  dem  gleichen  Hunde  im  Gyrus  sigmoides  vorge- 
nommene Operationen).  Die  Zerstörung  drang  in  diesem  Falle  etwa 
Viva  1  cm  tief  in  die  Hirnsubstanz  ein. 

6,    Das  Verhältniss    der    Symptome    zu    dem  Ort    der  Ver- 
letzung.   Von  den  vorliegenden  10  Beobachtungen  betreffen  die  beiden 

IG* 


—     244     — 

letzten  die  hintere  Grenze  des  vorderen  Schenkels  der  IL  Urwindung. 
Die  anderen  8  Beobachtungen  habe  ich  in  der  Weise  angeordnet,  dass 
sie  so  auf  einander  folgen,  wie  sie  von  vorn  nach  hinten  gerechnet,  di& 
einzelnen  Theile  der  II.  ürwindung  und  deren  laterale  Nachbarwindun^ 
gen  treffen.  Hierbei  ergiebt  sich  nun,  dass  die  einzelnen  Symptome 
ihrer  Zahl  und  ihrer  Dauer  nach  im  Allgemeinen  um  so  mehr  zuneh- 
men, je  weiter  die  Läsion  nach  hinten  vorrückt.  In  den  beiden  Beobb, 
46  und  47  war  das  Resultat  des  Eingriffes  gänzlich  negativ,  obwohl  in 
dem  einen  Falle  die  ganze  Masse  der  lateralen  Windungen  von  der  inneren 
Kapsel  unter  Verletzung  ders'elben  abgetrennt  war  und  obwohl  sich  in 
dem  anderen  Falle  neben  der  Abtrennung  des  grösseren  Theiles  der 
Markstrahlung  der  IL  ürwindung  ein  grosser  Erweichungsherd  vorfand, 
der  dicht  unter  der  Einstrahlung  des  Balkens  die  medialen  ^/^  des 
Fusses  des  Stabkranzes  unterbrach.  Nur  ein  für  die  Localisation  uner- 
hebliches Symptom,  die  tonische  Contraction  der  Lendenmuskeln  bei 
der  Operation  47  wurde  in  dem  letzten  jener  beiden  Fälle  beobachtet. 
Schon  bei  der  nächst  höher  liegenden  Beob.  48,  welche  die  untere 
Grenze  des  Orbiculariscentrums  nicht  überschreitet,  beginnen  die  Sym- 
ptome mit  einer  4  Tage  dauernden  Erweiterung  der  Lidspalte  und  einer 
annähernd  ebenso  lange  (3  Tage)  dauernden  Abschwächung  des  Nasen- 
lidreflexes.  In  der  wieder  etwas  weiter  nach  rückwärts  localisirten- 
Beob.  49,  bei  der  die  Narbe  dem  Gyrus  sigmoides  anlag,  markirte  sieb 
dieser  Umstand  durch  eine  7  Tage  lang  dauernde  Störung  der  nor- 
malen Reaction  auf  Begreifen,  während  das  auf  die  Oertlichkeit  zu  be- 
ziehende Symptom,  die  Störung  des  Nasenlidreflexes  16  Tage  lang  an- 
hielt. Bei  der  nächstfolgenden  Operation  (50)  stellte  sich  eine  Erwei- 
terung der  contralateralen  Lidspalte  gleichfalls  auf  die  Dauer  von 
4  Tagen  ein,  gleichzeitig  aber  zeigte  sich  eine  35  Tage  dauernde  Störung- 
der  optischen  und  des  Nasenlidreflexes.  Die  nächstfolgende,  den  glei- 
chen Hund  betreffende  Operation  ergab  bei  annähernd  gleicher  Locali- 
sation der  Verletzung  und  bei  einem  grossen  Erweichungsherde  am  Fuss& 
der  IL  ürwindung  nur  eine  unerhebliche  2  Tage  dauernde  Sehstörung, 
üeber  die  Beeinträchtigung  der  Reflexe  war  ein  sicheres  Urtheil  nicht 
zu  gewinnen,  weil  der  Hund  aus  der  1.  symmetrischen  Operation  noch 
mit  einer  Abschwächung,  sowohl  des  optischen  als  des  Nasenlidreflexes- 
in  die  2.  Beobachtung  eintrat.  Bei  der  Beob.  52  folgte  auf  eine  Skari- 
fication  des  Orbiculariscentrums  eine  zweitägige  Sehstörung  mit  einer 
ebenso  lange  dauernden  Aufhebung  des  optischen  Reflexes  und  des^ 
Nasenlidreflexes,  eine  14tägige  Abschwächung  des  Letzteren  und  (wegen 
der  Nachbarschaft  des  Gyrus  sigmoides)  ein  schlafferes  Herabhängen  der 
contralateralen  Vorderextremität    am    2.  Tage.     Am    ausgesprochensten 


—     245     — 

waren  die  Erscheinungen  bei  der  Beob.  53,  bei  der  eine  Unterschnei- 
dung des  Orbiculariscentrums  vorgenommen  worden  war.  Neben  einem 
unerheblichen  „Defect  der  Willensenergie"  zeigte  dieser  Hund  33  Tage 
lang  die  Erscheinungen  einer  Art  von  Seelenblindheit;  die  contralaterale 
Lidspalte  war  23  Tage  erweitert,  die  optischen  Reflexe  waren  18  Tage 
lang  aufgehoben  und  der  Nasenlidreflex  13  Tage  lang  abgeschwächt. 

Endlich  sei  nur  noch  kurz  erwähnt,  dass  die  Anätzung  bezw.  Ska- 
rification  und  Anätzung  des  am  meisten  caudal  gelegenen  Abschnittes 
•der  II.  Urwindung  und  der  Nachbarregion  innerhalb  der  sogenannten 
Fühlsphäre  des  Auges  absolut  negativ  verlief. 


Ich  habe  die  innerhalb  dieser  Region  vorgenommenen  Operationen 
Tim  deswillen  in  zwei  Gruppen  geordnet,  von  denen  die  eine,  soeben 
betrachtete  diejenigen  Fälle  enthält,  welche  ohne  deutliche  Störungen 
in  der  Innervation  der  Extremitäten  verliefen  und  eine  zweite,  welche 
Fälle  enthält,  die  mit  solchen  Störungen  verliefen,  weil  das  Eintreten 
solcher  Störungen  stets  den  Verdacht  auf  eine  Mitbetheiligung  des  Gyrus 
sigmoides  oder  seiner  Projectionsbahnen  erweckt.  Für  die  uns  beschäf- 
tigenden Fragen  ist  die  soeben  analysirte  erste  jener  beiden  Gruppen, 
mit  ihren  negativen  Ergebnissen  entschieden  von  grösserer  Wichtigkeit. 

Ich  hatte  die  Frage  aufgeworfen,  ob  diese  Windungen  oder  der 
darunter  befindliche  Markkörper  in  Beziehungen  zu  der  nach  Ein- 
griff in  das  Frontalhirn  auftretenden  Beeinträchtigung  des 
Sehactes  stünde  oder  nicht.  Wie  bereits  mehrfach  erwähnt,  hatten 
—  ganz  abgesehen  von  Goltz  und  Loeb  —  die  Italiener  dem  vorderen 
Schenkel  der  IL  Urwindung  ganz  besonders  nahe  Beziehungen  zum  Seh- 
acte  zugeschrieben.  Diese  Auffassung .  muss  nach  den  Ergebnissen  der 
vorliegenden  Untersuchungen  mit  aller  Bestimmtheit  abgelehnt  werden. 
Wir  haben  gesehen,  dass  in  7  von  jenen  10  Fällen  auch  nicht  die  Spur 
«iner  Sehstörung  vorhanden  war,  so  dass  nur  3  Fälle  mit  Sehstörung 
übrig  bleiben.  Dies  sind  diejenigen  3  Fälle,  bei  denen  die  Verletzung 
dem  Gyrus  sigmoides  am  nächsten  gerückt  war  und  in  der  That  Hessen 
die  Hunde  der  Beobb.  52  und  53  dadurch,  dass  der  eine  rechtsseitig 
einen  Tag  schlaffer  hing,  der  andere  ebenso  lange  das  Symptom  des 
„Defectes  der  Willensenergie"  darbot,  erkennen,  dass  dieser  Gyrus  nicht 
ganz  unbehelligt  geblieben  war.  Die  Sehstörung  dauerte  denn  auch  in 
jenem  1,  Falle  nur  bis  zum  2.  Tage,  also  so  lange  wie  das  motorische 
Symptom,  in  dem  anderen  Falle  dauerte  sie  allerdings  sehr  viel  länger 
(33  Tage),  indessen  war  hierbei  die  Wahrnehmung  des  Gesichtsobjectes 
niemals    aufgehoben,    vielmehr    hatte    nur    seine  Identificirung    an    den 


—     246     — 

beiden  ersten  Tagen  und  schliesslich  nur  die  Energie,  mit  der  der  Hund 
auf  dasselbe  reagirte,  gelitten.  Ein  ähnliches  Symptom  war  bei  der 
Beob.  51,  aber  nur  auf  die  allerkürzeste  Zeit,  am  2.  Tage  zu  beobach- 
ten gewesen.  Unter  diesen  Umständen  zwingt  die  gesammte  Sachlage 
mit  aller  Entschiedenheit  dazu,  die  geringfügige  in  diesen  3  Fäl- 
len beobachtete  Sehstörung  nicht  auf  die  direct  angegriffe- 
nen Areale,  sondern  auf  den  Gyrus  sigmoides  oder  auf  die 
von  diesem  ausgehende  Markstrahlung  zu  beziehen,  wenn  auch 
eine  Schädigung  dieser  Gebilde  nicht  nachgewiesen  werden  konnte. 

Bei  einzelnen  von  diesen  Versuchen  war  der  Markkegel  der  ganzen 
Windung,  bei  anderen  die  Gesammtmasse  der  lateral-basalen  Windungen 
von  ihren  Verbindungen  mit  dem  Projectioussystem  vollkommen  abge- 
trennt, wobei  einmal  die  ganze  innere  Kapsel  eine  schwere  Schädigung' 
erlitten  hatte  und  endlich  hatte  sich,  wenigstens  in  einem  Falle  ein 
grosser  Erweichungsherd  so  im  Fusse  des  Stabkranzes  etablirt,  dass  der 
grössere  Theil  der  dort  passirenden  Fasern  imterbrochen  sein  mnsste. 
Hieraus  lässt  sich,  wenn  auch  nicht  mit  absoluter  Sicherheit,  so  doch 
mit  der  grössten  Wahrscheinlichkeit  der  Schluss  ziehen,  dass  Ein- 
griffe in  die  ganze  nach  vorn  vom  Gyrus  sigmoides  gelegene 
Partie  des  Markkörpers  ebensowenig  direct  zum  Eintritt 
von  Sehstörungen  führen,  wie  die  Verletzung  der  vorderen 
Schenkel  der  H.— IV.  ürwindung.  Auch  das  ventral  vom  vorderen 
Schenkel  des  Gyrus  sigmoides  gelegene  Marklager  scheint  sich  ebenso^ 
zu  verhalten;  jedoch  will  ich  hierauf,  ebenso  wie  auf  die  Frage  des 
Verhaltens  der  medialen  zwei  Drittel  dieses  Schenkels  bei  dieser  Ge- 
legenheit nicht  näher  eingehen.  — 

Die  Beziehungen  der  II. — IV.  Ürwindung  zur  Innervation 
der  Extremitäten.  Es  war  mir  bekanntlich  im  Verein  mit  Fritsch 
seiner  Zeit  gelungen  durch  elektrische  Reizung  die  einzelnen  Bewegun- 
gen auf  ganz  circumscripte  Stellen  der  Hirnrinde  zu  localisiren.  Ich 
hatte  damals  die  Möglichkeit  offen  gelassen,  dass  diese  Stellen  —  Centra  — 
nur  Sammelplätze  abgeben  für  die  von  weiteren  Strecken  der  grauen. 
Rinde  zuströmenden  Erregungen.  Auch  jetzt  noch  sehe  ich  nicht,  dass 
diese  Auffassung  als  irrig  erwiesen  worden  wäre.  Inzwischen  hat  ihr 
aber  Bianchi^)  eine  Ausdehnung  gegeben,  der  ich  nicht  beipflichten 
kann.  Er  meint,  von  einer  ausschliesslichen  Beziehung  bestimmter 
Punkte  dieser  Zone  zu  bestimmten  Muskelgruppen  könne  keine  Rede 
sein.     Die    centraler!    Elemente    für    die    Innervation    eines    bestimmten  . 


1)  Bianchi,   Sülle  compensazioni  funzionali   della  corteccia  cerebrale. 
La  Psichiatria.   1883. 


—     247     — 

motorischen  Organs  seien  vielmehr  über  die  ganze  motorische  Zone  zer- 
streut und  fänden  sich  nur  in  wenigen  Punkten  dichter  zusammen- 
gelagert, derart,  dass  sie  auf  diese  Weise  die  erregbare  Zone  zusammen- 
setzten. Aber  diejenigen  Muskeln,  welche  von  hier  aus  erregt  werden 
können,  seien  nicht  nur  hier,  sondern  auch  in  dem  ganzen  Rest  der 
n^otorischen  Zone  repräsentirt. 

Diese  Ansicht  stützt  sich  in  der  Hauptsache  darauf,  dass  dauernde 
motorische  Störungen  nur  dann  eintreten  sollen,  wenn  grössere,  d.  h. 
wohl  solche  Exstirpationen  vorgenommen  sind,  die  sich  über  den  Gyrus 
sigmoides  hinaus  erstrecken. 

Es  war  ursprünglich  meine  Absicht,  diese  Theorie  von  Bianchi 
zum  Gegenstand  einer  besonderen  Arbeit  zu  machen  und  diese  der 
vorliegenden  Arbeit,  deren  eigentlicher  Fragestellung  sie  fern  liegt,  nicht 
einzuverleiben.  Auf  diesem  Wege  wäre  ich  aber  zu  einer  Reproduction 
der  hier  mitgetheilten  Beobachtungen  und  auch  sonst  zu  zahllosen 
Wiederholungen  gekommen,  sodass  ich  mich  nachträglich  entschlossen 
habe,  den  fraglichen  Streitpunkt,  soweit  das  uns  jetzt  interessirende 
Gebiet  überhaupt  in  Betracht  kommt,  gleichzeitig  mit  den  anderen 
dessen  Function  betreffenden  Fragen,  immerhin  innerhalb  der  mir  durch 
meine  Versuche  gezogenen  Grenzen,    mit  wenigen  Worten   zu  erledigen. 

Ich  möchte  zunächst  auf  einige,  der  experimentellen  Lösung  der  auf- 
geworfenen Frage  entgegenstehende  Schwierigkeiten  aufmerksam  machen. 
Nach  meiner  Ueberzeugung  gehört  der  ganze  hintere  Schenkel  und  das 
laterale  Drittel  des  vorderen  Schenkels  des  Gyrus  sigmoides  mit  Ein- 
schluss  des  in  den  Tiefen  seiner  Windungen  liegenden  RindengraueSy 
seine  caudale  Nachbarschaft  und  die  vorderen  Schenkel  der  IL — IV.  Ur- 
windung  zur  motorischen  Zone.  Eine  richtige  Vorstellung  von  den 
Folgen  der  vollständigen  Exstirpation  der  für  die  Extremitäten  bestimm- 
ten Centren,  von  denen  hier  allein  die  Rede  sein  soll,  kann  man  nur 
dann  gewinnen,  wenn  man  das  gesammte  motorische  Areal  der  I.  Ur- 
windung  bis  auf  den  Grund  seiner  Furchen  ausschaltet.  Operirt  man 
aber  in  dieser  Weise,  so  geht  regelmässig  ein  grösserer  oder  geringerer 
Theil  der  Nachbarwindiingen  durch  Erweichung  zu  Grunde.  Ebenso  ist 
eine  partielle  Zerstörung  des  wichtigsten  Theiles  des  Gyrus  sigmoides,. 
seines  lateralen  Bogens  allemal  dann  unvermeidlich,  wenn  man  seine 
Nachbarwindungen  bis  auf  ihren  Grund  ausrottet.  Das  Resultat  ist  also 
in  beiden  Fällen  das  gleiche:  der  Versuch  ist  unrein,  man  kann  auf 
diese  Weiße  die  zu  allererst  zu  beantwortende  Frage  nicht  entscheiden, 
welche  Theile  der  motorischen  Zone  bei  dem  unversehrten  Hunde 
zur  Innervation  der  Extremitäten  beitragen. 


—     248     — 

Die  Frage  schien  mir  deshalb  so  gestellt  werden  zu  müssen:  kann 
man  durch  hinlänglich  vorsichtige  Eingriffe  in  die  Nachbarschaft  des 
Gyi'us  sigmoides  die  bekannten  Störungen  in  den  Extremitäten  hervor- 
bringen? Als  solche  Eingriffe  konnten  mir  nur  solche  Operationen  gel- 
ten, wie  ich  sie  in  den  vorstehenden  Beobachtungen  geschildert  habe, 
Unterschneidungen  der  Rinde  oder  Durchschneidungen  der  Markstrah- 
lung einer  Windung,  mehr  oder  weniger  nahe  ihrem  Fusse,  ausserdem 
die  auf  einige  Fälle  beschränkte  Zerstörung  der  Rinde  durch  directe 
Abtragung  ihrer  oberflächlichsten  Schichten  oder  durch  Skarifizirung  oder 
durch  Anätzung  mit  5proc.  Carbolsäure.  Auf  diese  Weise  wurde  die 
Gefahr,  Nachbarschaftssymptome  hervorzubringen,  erheblich  vermindert, 
während  doch  unfehlbar  motorische  Erscheinungen  in  den  Extremitäten 
hätten  auftreten  müssen,  wenn  diese  in  der  Norm  motorische  Impulse 
von  der  fraglichen  Windung  bezogen. 

Wir  haben  im  Vorstehenden  gesehen,  dass  die  mitgetheilte  Reihe 
von  Versuchen,  obwohl  sie  sämmtlich  die  motorische  Region  und  zwar 
zum  Theil  in  recht  grosser  Ausdehnung  betrafen,  der  Hauptsache  nach 
absolut  negativ  verliefen;  nur  in  3  Fällen  waren  unerhebliche  und  ganz 
vorübergehende  Tnnervationsstörungen  der  contralateralen  Vorderextre- 
mität,  welche  auf  unerhebliche  Traumen  des  Gyrus  sigmoides  zu  be- 
ziehen waren,  zur  Beobachtung  gekommen.  In  einer  zweiten  nach- 
stehend folgenden  Versuchsreihe  waren  solche  Innervationsstörungen 
allerdings  in  mehr  weniger  ausgesprochener  und  anhaltender  Form  in 
die  Erscheinung  getreten.  Da  aber  bei  dieser  Art  von  Versuchen  nur 
diejenigen  Beobachtungen  entscheidend  sind,  welche  mit  der  geringsten 
Summe  von  Störungen  verlaufen,  so  ist  die  gestellte  Frage  hiermit,  so- 
weit es  durch  solche  Versuche  überhaupt  möglich  ist,  entschieden.  Mit 
anderen  Worten,  die  lateral  und  basal  von  dem  Gyrus  sig- 
moides gelegenen  Partieen  der  motorischen  Zone  bis  in  die 
Gegend  der  Spitze  der  Fossa  Sylvii  besitzen  keinen  directen 
Einfluss  auf  die  motorische  Innervation  der  Extremitäten. 

Man  könnte  gegen  die  Beweiskraft  dieser  Versuche  einwenden,  dass 
bei  einer  Anzahl  von  ihnen  die  Rinde  oder  die  von  ihr  ausgehenden 
Projectionsbahnen  nur  zum  Theil  zerstört  worden  seien,  so  dass  der 
zurückgebliebene  Rest  ausgereicht  hätte,  um  die  Aufgaben  der  Function 
zu  decken.  Dieser  Einwand  würde  berechtigt  sein,  wenn  es  sich  bei 
diesen  Versuchen  um  eine  Frage  der  Restitution,  nicht  aber  um  die  der 
Erkennung  eines  primären  Ausfalles  der  Functionen  handelte.  Ein  sol- 
cher wäre  aber  nach  der  Analogie  des  Verhaltens  aller  anderen  uns 
bekannten  Rindenterritorien  in  Folge  der  hier  vorgenommenen  Eingriffe 
unvermeidlich  gewesen  und    er  hätte  mit  den  uns  geläufigen  Methoden? 


—     249     — 

insbesondere  auch  durch  die  Untersuchung  der  schwebenden  Bunde  unter 
allen  Umständen  erkannt  werden  müssen. 

Allerdings  kann  die  Frage,  ob  die  bei  diesen  Versuchen  theils  zer- 
störten, theils  von  ihren  Projectionsfasern  abgetrennten  Rindengebiete 
nach  vorangegangener  Zerstörung  des  Gyrus  sigmoides  nicht  dennoch 
einen  Einfluss  auf  die  Innervation  der  Extremitäten  gewinnen  können, 
auf  die  angegebene  Weise  nicht  entschieden  werden.  Indessen  vermag 
ich  mir  die  Art,  wie  dieser  Einfluss  wirksam  werden  könnte,  anatomisch 
nur  schwer  vorzustellen.  Durch  den  zerstörten  Gyrus  sigmoides  könnte 
der  Innervationsweg  doch  nicht  gehen,  gegen  die  Beschreitung  eines 
directen  Weges  zwischen  jenen  Windungen  und  den  spinalen  Centren 
für  die  Extremitäten  sprechen  nicht  nur  die  soeben  angeführten  Ver- 
suche, sondern  auch  die  elektrischen  Reizversuche  und  die  Erfahrungen 
über  die  secundäre  Degeneration;  es  bliebe  nur  der  Weg  durch  die 
Haubenbahn  übrig.  Wie  es  sich  damit  verhält,  lasse  ich  unentschieden.  — 

Die  Besprechung  eines  Theiles  der  anderweitigen,  nach  Verletzung 
dieser  Region  eintretenden  Symptome  behalte  ich  mir  für  die  alsbald 
folgende  Serie  von  Untersuchungen  vor. 

B.  Versuche  mit  motorischen  Folgen. 
Wir  haben  gesehen,  dass  die  directe  Verletzung  des  Gyrus  sigmoi- 
des in  der  Regel  zu  Sehstörungen  führt.  Es  versteht  sich  daher  von 
selbst,  dass  kein  Theil  dieses  Gyrus  bei  den  in  seiner  Nachbarschaft 
vorgenommenen  Operationen  mit  aufgedeckt  werden  darf;  namentlich 
gilt  dies  von  seinem  lateralen  Bogen,  dessen  Beleidigung  allem  An- 
scheine nach  besonders  häufig  Sehstörungen  im  Gefolge  hat.  Einen 
sprechenden  Beweis  hierfür  liefert  die  folgende  Beobachtung. 

Beobachtung"  S4. 

Junger  Hund.  Aufdeckung  im  vorderen  Winkel  des  linken  Planum  semicir- 
culare  auf  17  mm  sagittal,  13  mm  frontal.  Medial  liegt  der  laterale  Bogen  des 
Gyrus  sigmoides  und  caudalwärts  mindestens  die  vordere  Hälfte  des  Orbicu- 
lariscentrums  frei.  Reizung  mit  dem  gewöhnlichen  Zuckungsminimum  ergiebt 
faradisch  und  galvanisch  Zuckungen  in  der  Vorderpfote,  Orbicularis  palpebra- 
rum, Nasen-  und  Schnauzenmuskeln.  Exstirpation  ca.  3  mm  tief  mit  Schonung 
der  Venen  und  der  Nachbarschaft  des  Gyrus  sigmoides.  Die  Hirnwunde  bleibt 
etwa  2mm  vom  Sulcus  coronarius  entfernt.  Ausspülung  mit  5  proc.  Carbolsäure. 

Motilitätsstörungen:  Hochgradig  in  beiden  Extremitäten;  erst  sehr 
langsam  abnehmend,  zunächst  hinten;  vier  Monate  nach  der  Operation  noch 
Spuren. 

Sehstörung:  Bis  zum  10. Tage  compiett,  dann  abnehmend,  verschwun- 
den am  17.  Tage. 


—     250     -^ 

Optische  Reflexe:  Fehlen  4  Monate  gegen  flache  Hand,  noch  nach 
5  Monaten  abgeschwächt. 

Nasenlidreflex:  Fehlt  gänzlich  bis  zum  11.  Tage,  nach  4  Monaten 
noch  abgeschwächt. 

Gestorben  nach  7  Monaten. 

Section:  Da  inzwischen  eine  2.  Operation  im  Gyrus  sigmoides  gemacht 
worden  war,  bleibt  nur  zu  bemerken,  dass  bei  der  1.  Operation  eine  genaue 
Zeichnung  der  aufgedeckten,  sowie  der  exstirpirten  Partieen  gemacht  worden 
war,  mit  der  die  Section  in  diesem  Theile  übereinstimmte.  Die  narbige  Auf- 
lagerung nahm  den  ganzen  vorderen  Schenkel  der  II.  Urwindung  ein. 

Wir  sehen  also,  dass  in  diesem  Falle,  obschon  der  aufgedeckte 
laterale  Rand  des  Gyrus  sigmoides  bei  der  Exstirpation  selbst  auf  das 
Sorgfältigste  geschont  worden  war,  dennoch  hochgradige  und  langanhal- 
tende Motilitätsstörungen  zu  beobachten  waren,  und  dass  ausserdem, 
neben  den  auf  die  Verletzung  der  II.  Urwindung  zu  beziehenden  Sym- 
ptomen, noch  eine  sehr  ausgesprochene,  10  Tage  lang  sogar  complette 
und  im  Ganzen  16  Tage  nachweisbare  Selistöruug  eintrat. 

Aufdeckung  auf  Planum  semicirculare  links  auf  14  mm  sagittal  und 
15  mm  frontal.  Vorderer  Rand  der  Lücke  15  mm  von  der  Spitze  des  Planum 
entfernt.  Bei  faradischer  Reizung  R.  A.  12,5  cm  in  der  vorderen  Hälfte  der 
freigelegten  Stelle  contrahirt  sich  der  contralaterale  Orbicularis  palpebrarum. 
(Leichte  Stichverletzung  mit  Spitze  des  Zirkels  am  unteren  Wundrand.) 
Aetzung  der  ganzen  freigelegten  Partie  mit  5proc.  Carbolsäure. 

Motilitätsstörungen:  In  der  rechten  Vorderpfote  gering,  am  4.  Tage 
bereits  verschwunden. 

Sensibilitätsstörungen:  In  den  Extremitäten  ebenfalls  gering,  am 
7.  Tage  bereits  beim  Begreifen  keine  Differenz  mehr.  Schmerzempfindung  in 
der  Nase  abgeschwächt  bis  zum  11.  Tage. 

Sehstörung  fehlt. 

Optische  Reflexe  nicht  beeinträchtigt. 

Nasenlidreflex  abgeschwächt  bis  zum  12,  Tage. 

Nach  10  Wochen  todtgebissen. 

Section  in  meiner  Abwesenheit  ausgeführt,  unzuverlässig. 

BeolbaclitTiiig-  S6. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  46.  Abtragung  des  Knochens  ganz  vorn  und 
lateral  bis  zur  Spitze  des  rechten  Planum  semicirculare  auf  20  mm  sagittal, 
10  mm  frontal,  dabei  Durchschneidung  des  Facialis.  Dura  am  hinteren  Rande 
der  Lücke  aufgeschlitzt.  Es  wird  mit  dem  Präparatenheber  eingestochen,  die 
Schneide  wird  einmal  basal-  und  lateralwärts  bis  auf  den  Knochen  geführt; 
dann  ein  2,  Mal  in  der  Richtung  der  Knochenlücke  in  der  ganzen  Länge  der 
Schneide  nach  vorn. 


—     251     — 

Motilitätsstörungen:  In  den  Extremitäten  vom  2.  Tage  an  ziemlich 
hochgradig  bis  zum  4.  Tage,  dann  nur  noch  vorn  und  allmählich  abnehmend, 
am  27.  Tage  nur  noch  angedeutet.  Katzenbuckel  und  Unmöglichkeit  die  Len- 
denwirbelsäule zu  drehen  vom  2.  Tage  an;  am  27.  Tage  noch  angedeutet. 


Fig.  72. 


Fig.  73. 


Fiff.  74. 


In  der  Schwebe:  Hängt  links  dauernd  gestreckt,  beim  Begreifen  keine 
Reaction. 

Sehstörung  fehlt. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  zunächst  wegen  doppelter  Facialislähmung 
gänzlich,  am  16.  Tage  wieder  schwach  vorhanden.    Ebenso  Nasenlidreflex. 

Gestorben  nach  ca.  7  Wochen. 

Section:  Häute  normal.  An  der  Operationsstelle  eine  scharf  umschrie- 
bene, narbige  Verwachsung.  Diese  befindet  sich  auf  der  IL  Urwindung  un- 
mittelbar vor  dem  Centrum  für  den  Orbicularis,  den  Sulcus  coronalis  nicht, 
erreichend.     1.  Durchschnitt  (etwa  4  mm   vor  dem  Einstich):    7  mm  von  der 


—     252     — 

der  Pia  aufsitzenden  Narbe  sieht  man  einen  parallel  zur  Oberfläche  liegen- 
den, durch  Erweichung  auf  4  mm  erweiterten  Spalt,  welcher  einen  grossen 
Theil  der  inneren  Kapsel  von  dem  Fusse  des  Stabkranzes  abgetrennt  hat,  nur 
die  innere  Partie  ist  erhalten  geblieben.  Von  diesem  Spalt  zieht  nach  oben 
und  lateralwärts  bis  zum  oberen  Rande  der  Narbe  ein  sehr  feiner,  scharfer 
Spalt  gerade  an  der  Grenze  von  Weiss  und  Grau  der  betreffenden  Windung. 
2.  Durchschnitt  (8  mm  weiter  nach  vornj:  Der  Unterschneidungsspalt  liegt 
hier  viel  weiter  basalwärts,  er  ist  von  unregelmässigen  Erweichungen  umgeben 
und  hat  hier  die  weisse  Substanz  so  gut  wie  vollständig  zerstört. 

BeobaclxtTiMg:  ST'. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  62.  Aufdeckung  rechts  ganz  vorn  auf  Planum 
semicirculare  auf  20  mm  sagittal  und  13  mm  frontal.  Abtragung  der  Dura  im 
hinteren  Drittel  der  freigelegten  Lücke  auf  3  :  7  mm.     Einstich  mit  Präpara- 


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Fig.  75. 


tenh eher  in  Längsrichtung  der  Lücke  einmal  nach  hinten  bis  zum  hinteren 
Rande  der  Knochenlücke,  dann  nach  vorn  in  der  ganzen  Länge  der  Schneide. 
Umkippen  derselben,  so  dass  die  Verbindungen  mit  der  Rinde  möglichst  durch- 
trennt werden. 

Motilitätsstörungen:  Am  2.  Tage  massig,  hängt  aber  nicht  gestreckt, 
am  3.  Tage  nur  noch  ganz  gering,  am  4.  Tage  selbst  geringer  als  rechts,  am 
7.  Tage  nur  noch  spurweise,  später  nicht  mehr  nachzuweisen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  nicht  deutlich  nachweisbar, 
später  fehlend.    Gegen  Licht  fehlend. 

Optische  Reflexe:  Vom  2. — 15. Tage  fehlend,  dann  gegen  flache  Hand 
angedeutet,  gegen  schmale  Hand  fehlend  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung, 
39.  Tag. 

Nasenlid refl ex  ungestört. 


253 


Gestorben  nach  ca.  G  Wochen. 

Section:  Die  etwa  5  mm  grosse  runde  Narbe  sitzt  an  der  Grenze  der 
IL  und  lil.  Urwindung-,  etwa  entsprechend  dem  hinteren  Rande  des  Gyrus  sig- 
moides.  1.  Durchschnitt  (3 — 4  mm  hinter  der  Narbe):  4  mm  medial  von  der 
Oberfläche  findet  sich  hier  im  Marlcweiss  derlll.  Urwindung  eine  klaffende  Meine 


Fig.  76. 


Fig.  77. 
0:  Operationsstelle;  H:  Erweichungsherde. 

Spalte  mit  glatten  scharfen  Rändern  (d.  i.  nach  hinten  gerichtete  ünterschneis 
düng).  IL  Durchschnitt  (12  mm  weiter  nach  vorn,  genau  durch  den  Sulcu- 
cruciatus) :  Die  keine  Erweichung  zeigende  Unterschneidungsspalte  hat  hier 
den  vordersten  Theil  der  II.  Urwindung  von  seiner  medialen  Verbindung 
fast  ganz  getrennt,  indem  die  Spalte  Rindengrau  und  Markweiss  quer  durch- 
schneidet. 


254     — 


Beobaditviiig-  SS. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  49.  Aufdeckung  auf  rechtem  Planum  semicir- 
culare  ganz  vorn  auf  24  mm  sagittal,  11  mm  frontal,  vorn  4,  hinten  8  mm  von 
der  Linea  semicircularis  entfernt.  Aufschlitzung  der  Dura  im  Bereiche  der 
Knochenlücke.  Eingehen  mit  Daviel'schem  Löffel,  subcorticale  Unterschnei- 
dung ganz  flach  nach  vorn.    Durchschneidung  des  Facialis. 


Fio-.  78. 


Fia-.  79. 


Motilitätsstörungen:    In  den   ersten  Tagen  ziemlich  hocligradig,  am 
6.  Tage  nur  noch  wenig,  aber  nach  4  Wochen  noch  angedeutet. 


—     255     — 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  unsicher,  am  3.  Tage  sicher 
fehlend.  Gegen  Licht:  Am  2.  Tage  deutlich,  am  3,  Tage  gering,  am  4.  Tage, 
fehlend. 

Optische  Reflexe:  Anfänglich  nicht  notirt,  vom  6.  Tage  an  gegen 
flache  Hand  deutlich  vorhanden,  gegen  schmale  Hand  schwach;  wegen  der 
rechtsseitigen  Facialislähmung  Vergleich  unmöglich. 

Nasenlidreflex:  Vorhanden,  aber  schwach,  Vergleich  wegen  der  rechts- 
seitigen Facialislähmung  unmöglich. 

Getödtet  nach  ca.  4  Monaten. 

Section:  Häute  normal.  Die  20  mm  lange  und  10  mm  breite  Narbe 
reicht  medial  bis  an  den  Gyrus  sigmoides,  erstreckt  sich  nach  vorn  etwa  bis 
zur  lateralen  Verlängerung  des  Sulcus  cruciatus,  nach  hinten  etwa  bis  zum 
hinteren  Ende  des  Centrums  für  den  Orbicularis  palpebrarum.  Durchschnitt 
an  gleicher  Stelle  wie  links:  Die  Rinde  unter  der  Narbe  ist  theilweise  zerstört, 
theilweise  abgeblasst,  auch  das  den  einschneidenden  Sulcus  umgebende  Rin- 
dengrau ganz  leicht.  Von  der  Narbe  erstreckt  sich  ein  Erweichungsherd  me- 
dialwärts  bis  etwa  2  mm  vom  oberen  lateralen  Winkel  des  Nucleus  caudatus, 
so  dass  er  den  lateralen  Theil  der  Stammstrahlung  aus  dem  hinteren  Schenkel 
des  Gyrus  sigmoides  unterbrieht,  während  die  Balkenstrahlung  intact  erscheint, 

Beobachtunss"  SO. 

Aufdeckung  auf  dem  linken  Planum  semicirculare  ganz  vorn  lateral,  so 
dass  vorderer  Rand  der  Lücke  durch  Linea  semicircularis  gebildet  wird,  auf 
18  mm  sagittal,  11  mm  frontal.  Abtragung  der  Dura  nur  im  hinteren  lateralen 
Theil.  Unterschneidung  und  Unterminirung  der  Rinde  nach  unten  lateral  bis 
auf  den  Knochen.  Dann  nach  vorn  lateral  mehr  als  2,5  cm  lang.  Abtragung 
des  vorliegenden  Rindenstücks. 

Motilitätsstörungen:  Voltelaufen  gleich  nach  der  Operation,  am 
2.  Tage  nicht  mehr;  dreht  aber  meist  nach  links.  In  den  Extremitäten  hoch- 
gradig; am  2.  Tage  Wirbelsäule  beim  Stehen  so  nach  rechts  um  die  Längs- 
achse gedreht,  dass  das  rechte  Hinterbein  so  stark  nach  links  gestellt  wird, 
dass  der  Hund  oft  mit  dem  Hintertheil  nach  rechts  umkippt;  macht  besonders 
mit  den  Hinterbeinen  eigenthümliche,  wie  atactisch  aussehende,  ausfahrende 
Bewegungen  beim  Laufen ;  auch  beim  Liegen  sind  die  Beine  selten  ruhig,  be- 
sonders mit  beiden  Hinterbeinen  macht  er  kurze  schnelle  Bewegungen.  Am 
5.  Tage  in  der  Schwebe  Biegung  der  Wirbelsäule  mit  der  Convexität  nach 
links,  so  dass  die  stark  gestreckten  rechten  Extremitäten  sich  in  der  Gegend 
des  Hinterbeins  berühren.  5.  Tag:  Etwas  Abnahme  der  Motilitätsstörungen, 
schwankt  mit  den  Hintertheilen  nicht  mehr  so  stark  hin  und  her,  Krümmung 
der  Wirbelsäule  beim  Hängen  nicht  mehr  so  hochgradig.  Unverändert  bis  zum 
10.  Tage. 

Zunge  leckt  unmittelbar  nach  der  Operation  dauernd  nach  rechts,  manch- 
mal auch  gerade,  nie  nach  links. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  absolut,  am  3.  Tage  in  der 
A.bnahme,    am  4.  Tage  etwa  ein  Drittel,    am  5.  Tage   in  temporalem  Streifen, 


—     256     ~  . 

I 

am  6.  Tage  verschwunden.     Gegen  Licht  indifferent.     Stösst  am  2.  Tage  mit  j 

dem  Kopfe  an.  i 

Optische   Reflexe:   Gleich   nach  der  Operation  rechts  fehlend,    links  ! 

deutlich,  ebenso  am  2.  Tage;  am  3.  Tage  auch  rechts  bereits  deutlich  vorhan-  ' 

den,  aber  schwächer  als  links;  ebenso  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung.  i 


Piff.  80. 


Fig.  81. 


Fig.  82. 


Nasenlidreflex:  Gleich  nach  der  Operation  beiderseits  deutlich,  am 
2.  Tage  abgeschwächt,  weniger  beim  Beklopfen,  als  beim  Bestreichen;  am 
5.  Tage  rechts  nur  noch  wenig  schwächer,  am  6.  Tage  beiderseits  gleich. 

Plötzlich  gestorben  am  17.  Tage. 

Section:  Häute  normal.  Die  14  mm  lange  und  6  mm  breite  Narbe 
fängt  etwa  am  vorderen  Rande  des  Centrums  für  Bewegung  und  Schutz  des 
Auges  an  und  erstreckt  sich  in  dieser  Windung  nach  vorn,  ohne  medial  auf 
den  lateralen  Rand  des  Gyrus  sigmoides  überzugreifen.  Keine  Erweichungen 
oder  deutliche  narbige  Verziehungen  im  Umkreise.  1.  Durchschnitt  (2  mm 
hinter  dem  hinteren  Rande  der  Narbe,  ungefähr  durch  das  Orbiculariscentrum) : 
In  der  lateralsten  Ecke  des  linken  Seitenventrikels  sitzt  ein  blutig  durchsetzter 


—     257     — 

apoplectischer  Herd,  von  dem  aus  Blut  in  den  Seitenventrikel  geflossen  ist. 
(Das  Coagulum  hängt  hier  fest.)  2.  Durchschnitt  (mitten  durch  die  Narbe): 
Auf  der  narbig  veränderten  Rinde  sitzt  die  Narbenkappe  auf,  1 — lYg  cm  tief; 
gerade  an  der  Grenze  von  Rinde  und  Markweiss  findet  sich  der  Stichcanal 
parallel  zur  Oberfläche;  er  lässt  sich  aber  nicht  scharf  umschrieben  erkennen, 
da  sich  von  dort  medial  in  das  Markweiss  ein  9  mm  langer  und  an  der  Basis 
4  mm  breiter,  dreieckig  blutig  durchsetzter  Erweichungsherd  zieht,  dessen 
Spitze  an  die  seitliche  und  oberste  Begrenzung  des  Seiten  Ventrikels  stösst. 
3.  Durchschnitt  (am  vorderen  Rande  der  Narbe):  Hier  sieht  man  die  beiden, 
etwas  verschieden  gerichteten  Schnitte  getrennt.  Der  basale  stösst  hier  an  die 
Pia,  ohne  sie  zu  durchtrennen;  der  nach  vorn  gerichtete  verläuft  hier  scharf 
umschrieben,  ohne  angrenzende  Erweichungen,  stumpfwinklig  dazu  gerade  an 
der  Grenze  von  grauer  und  weisser  Substanz  liegend.  Diese  ist  hier  abgeblasst. 
(Vergl.  Beob.  5.) 

Beolsadituiig'  60. 

Aufdeckung  17mm  hinter  Spitze  des  linken  Planum  semicirculare,  schräg- 
sagittal  27  mm,  frontal  11  mm.  Paradischer  Augenschluss  nur  am  und  unter 
dem  vorderen  Rande  der  Lücke.  Unterschneidung  von  der  Mitte  der  Lücke  an 
nach  vorn,  einschliesslich  der  reagirenden  Theile. 

Motilitätsstörungen:  An  den  Extremitäten  5  Stunden  nach  der  Ope- 
ration und  am  2.  Tage  nicht  zu  ermitteln;  hängt  aber  rechts  etwas  gestreckt. 
Am  3.  Tage  geringe  Motilitätsstörung  vorn,  vom  4. — 11.  Tage  ziemlich  hoch- 
gradig, dann  abnehmend.    (Sensibilitätsstörung  entsprechend.) 


Fig.  83. 

Facialis:  5  Stunden  nach  der  Operation  rechtes  Auge  deutlich  weiter; 
beim  passiven  OeÖnen  des  Auges  links  erheblicher,  rechts  fehlender  Wider- 
stand.   In  der  Folge  sind  diese  Anomalieen  nicht  mehr  nachweisbar. 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.    IT.  Theil.  17 


—     258     — 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  In  den  ersten  3  Tagen  nicht  zu  prüfen, 
am  4.  und  5.  Tage  hochgradig,  Reaction  aber  aach  links  nur  schwach.  Am 
6.  Tage  nicht  mehr  nachweisbar.  Gegen  Licht:  Am  2.-5.  Tage  nachweisbar, 
am  6.  Tage  gleichgültig,  am  11.  verschwunden. 


Fig.  84. 

Optische  Reflexe:  5  Stunden  nach  der  Operation  gegen  flache  Hand 
rechts  schwächer,  gegen  schmale  Hand  fehlend,  links  deutlich;  vom  2. — 5. Tage 
fehlend.  Vom  5.  Tage  an  sehr  allmählich  wiederkehrend,  am  27.  Tage  kein 
Unterschied  mehr. 

Cornealreflex:  5  Stunden  nach  der  Operation  rechts  fehlend,  am 
3.  Tage  vorhanden. 

Ciliarreflex  ohne  Anomalieen. 

Nasenlidreflex:  5  Stunden  nach  der  Operation  bis  zum  5.  Tage  feh- 
lend oder  abgeschwächt,  dann  wieder  vorhanden. 

Gestorben  nach  ca.  8  Monaten;  inzwischen  eine  2.  Operation  im  Hinter- 
lappen. 

Section:  Häute  normal,  nur  an  der  Operationsstelle  Verwachsung.  Die 
2  cm  lange  und  1  cm  breite  Narbe  ist  7  mm  von  der  Medianspalte  des  Gehirns 
entfernt.  Medialer  Rand  der  Narbe  der  Medianspalte  parallel,  vorderer  Rand 
am  Orbiculariscentrum,  hinterer  Rand  bis  fast  an  die  Munk'sche  Stelle  Aj^ 
heranreichend;  lateraler  Rand  parallel  dem  medialen.  1.  Durchschnitt  (durch 
die  Mitte  der  Narbe)  zeigt  eine  leichte  Abblassung  des  Rindengraues  unter 
dem  Narbengewebe.  2.  Durchschnitt  (etwa  3  mm  vor  dem  vorderen  Rand  der 
Narbe)  zeigt  6  mm  unter  der  Oberfläche  in  das  Markweiss  fallend  eine  feine, 
fast  völlig  verklebte  Spalte  unter  der  H.  Urwindung;  das  Grau  derselben  ist 
abgeblasst,  setzt  sich  kaum  gegen  das  Weiss  ab.  3.  Durchschnitt  (1  cm  weiter 
nach  vorn):  Hier  ist  kein  Operationsresiduum  mehr  aufzufinden. 

Keobaclxtxiiig-  Gl. 

Aufdeckung  dicht  hinter  Spitze  des  Planum  semicirculare  links,  4 — 5mm 
lateral  von  Linea  semicircularis  auf  22  mm  sagittal,  14  mm  frontal.    Bei  elek- 


259 


trischem  Reizversuch  Schreien  des  Thieres,  Vordrängung  des  Hirns,  Einreissen 
mehrerer  Gefässe.  Unterminirung  der  vorderen  drei  Viertel  der  freigelegten 
Stelle. 

Motilitätsstörungen:    Bald   nach    der  Operation  anscheinend   nicht 
vorhanden.    Vom  2.  Tage  an  hochgradig,  nach  7  Wochen  noch  deutlich. 


Fie-.  85. 


Fiff. 


Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Frisst  in  der  Schwebe  und  auf  dem  Tisch 
•iilcht,  daher  sonst  nicht  zu  untersuchen,  fixirt  aber  am  2.  Tage  schon  ganz 
aussen.  Gegen  Licht:  Am  2.  Tage  beiderseits  indifferent;  vom  3. — 7.  Tage 
rechts  ohne  Pveaction,  dann  beiderseits  gleich. 

17* 


—     260     — 

Optische  Reflexe:  Fehlen  bis  zum  22.  Tage,  dann  langsam  wieder- 
kehrend, nach  ca.  7  "Wochen  noch  abgeschwächt. 

Nasenlidreflex:  Ami. Tage  abgeschwächt,  dann  fehlend,  am  17.  Tage 
normal. 

Lidspalte  in  den  ersten  Tagen  weiter. 

Nasenloch:    Gegen  Kitzeln  in  den  ersten  beiden  Tagen  ohne  Reaction. 

Getödtet  nach  5^/2  Monaten;  inzwischen  eine  2.  symmetrische  Operation. 

Section:  Häute  normal.  Die  etwa  18  mm  lange,  im  Mittel  10  mm 
breite  Narbe  liegt  lateral  vom  Gyrus  sigmoides,  noch  ein  wenig  auf  den  late- 
ralen Rand  desselben  übergreifend,  erstreckt  sich  nach  hinten  etwa  bis  ans 
Ende  des  Centrums  für  Bewegung  und  Schutz  des  Auges,  nach  vorn  bis  etwas 
über  die  laterale  Verlängerung  des  Sulcus  cruciatus  hinaus.  Durchschnitt 
(etwa  durch  die  Mitte  des  hinteren  Schenkels  des  Gyrus  sigmoides):  Von  dem 
oberen  Rand  der  Narbe  erstreckt  sich  ein  röthlich  verfärbter  Erweichungs- 
streifen durch  das  etwas  abgeblasste  Grau  bis  ins  Markweiss;  vom  unteren 
Ende  der  Narbe  ebenfalls  ein  derartiger  Streifen.  Zwischen  beiden  ist  die 
Rinde  des  dort  einschneidenden  Sulcus  weisslich  verfärbt  und  narbig  verän- 
dert. Die  beiden  Erweichungsstreifen  treffen  im  Markweiss  unter  diesem  ein- 
schneidenden Sulcus  zusammen.  Von  dort  aus  geht  ein  feiner  Streifen  basal- 
wärts  nach  der  inneren  Kapsel  zu,  ohne  aber  den  Fuss  des  Stabkranzes  zu 
durchtrennen. 

Aufdeckung  auf  Planum  semicirculare  links  ganz  vorn  auf  26  mm  sagit- 
tal,  19  mm  frontal  (in  der  Mitte  etwa,  an  der  breitesten  frontalen  Erweiterung 
gemessen),  dabei  Verletzung  eines  stärkeren  Gefässes  der  Pia.  Faradischer 
Reizeffect  im  Orbicularis  palpebrarum,  nur  am  hinteren  medialen  Knochenrand 
bei  60  mm  R.  A,  Ausgedehnte  Unterschneidung  der  freigelegten  Rindenpartie 
ziemlich  tief  vom  hinteren  Ende  der  Knochenlücke  aus. 

Ü Motilitätsstörungen:  Am  2.  Tage  hochgradig,  nur  sehr  allmählich 
abnehmend.  Am  Schluss  der  Beobachtung,  nach  mehr  als  6  Wochen  noch 
nachweisbar. 

In  der  Schwebe:   Hängt  noch  nach  mehr  als  2  Monaten  gestreckt. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am2.  Tage  bis  auf  den  Nasenrücken,  am 
7.  Tage  stark  in  der  Abnahme,  am  9.  Tage  nicht  mehr  nachweisbar.  Gegen 
Licht:  Anfangs  beiderseits  indifferent,  am  4.  Tage  nur  rechts  indifferent,  am 
7.  Tage  normal. 

Optische  Reflexe:  Vom  2.  Tage  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung 
(über  6  Wochen)  fehlend. 

Nasenlidreflex:  Am  2.  Tage  vorhanden  (?),  am  4. — 15.  Tage  fehlend, 
abgeschwächt  bis  zum  26.  Tage,  am  Schluss  der  Beobachtung  normal. 

Ciliarreflex:  Am  2.  Tage  deutlich,  am4.  Tage  noch  wenig  schwächer. 

Conjunctival-  und  Cornealreflex:  Am  2.  Tage  rechts  viel  schwä- 
cher, am  4.  Tage  nur  noch  weniff  schwächer;  so  noch  am  15.  Tage. 


—     261     — 

Nasenloch:  IndiU'erent  gegen  Kitzeln  am  2.  Tage,  allmählich  abneh- 
mend, immer  noch  deutlich  am  10.  Tage. 

Anästhesie  gegen  Stiche  und  Kneifen  an  Lippe  und  Haut  der  Nase  und 
Wange  bis  zum  Lid  bis  zum  4.  Tage,  am  7.  Tage  normal. 

Gestorben  nach 3 Monaten;  inzwischen  eine  2. Operation  der  anderen  Seite. 


Fig.  87. 


Fig.  88. 
0:  Operationsstelle;  H:  Erweichungsherde. 

Section:  Die  etwa  dreieckige  Narbe  (20  :  20  :  17)  reicht  mit  ihrer  vor- 
deren Spitze  ungefähr  bis  zur  hinteren  lateralen  Ecke  des  Gyrus  sigmoides, 
ohne  auf  denselben  überzugreifen,  und  erstreckt  sich  nach  hinten  längs  des 
Sulcus  coronarius  bis  fast  zur  Fossa  Sylvii,  woselbst  sie  deu  lateralen  Urwin- 
dungen  aufsitzt.  1.  Durchschnitt  (8  mm  vor  dem  hinteren  Pvande  der  Narbe): 
Unter  der  Narbenkappe    ist  die  Zeichnung  von  Grau  und  Markweiss  fast  ganz 


—     262     -^- 

zerstört,  die  angrenzenden  Theile  des  Rindengraues  sind  abgeblasst.  Etwa 
2  mm  von  der  äusseren  lateralen  Spitze  des  Seitenventrikels  befindet  sich  ein 
unregelmässig  gestalteter  Spalt,  dessen  Ränder  erweicht  sind.  A^on  dort  nach 
der  Narbe  zu  zieht  sich  eine  Kette  von  Erweichungsherden,  durch  die  das 
gaiize   Markweiss    von    der  Unterschneidungsstelle    an  aus  der  IL  Urwindung 


Fig.  89. 
0 :   Operationsstelle. 

durch  den  Fuss  des  Stabkranzes  in  die  innere  Kapsel  hineinreichend  bis  auf 
2  mm  von  der  Spitze  des  Seitenventrikels  unterbrochen  wurde.  Der  Gyrus  sig- 
moides  bleibt  auch  hier  unbetheiligt.  2.  Durchschnitt  (12  mm  weiter  nach 
vorn):  8  mm  unter  der  Oberfläche  liegt  gerade  am  Ende  des  Sulcus  coronalis 
die  Unterschneidungsspalte  mit  etwas  erweichter  Umgebung.   (Vergl.  Beob.  3.) 


Beobaclitniig-  Ö3, 

Aufdeckung  auf  dem  linken  Planum  semicirculare  auf  sagittal  23  mm,  in 
der  Mitte  frontal  14  mm,  sich  nach  vorn  und  hinten  verjüngend.  Vorderer 
Rand  der  Lücke  18  mm  hinter  der  Spitze  des  Planum.  Bei  Abtragung  der 
Dura  Verletzung  einer  sehr  stark  blutenden  grösseren  Arterie  der  Pia.  Exstir- 
pation  in  der  Mitte  der  Lücke  eines  Stückes  von  ca.  5  mm  sagittal,  2,5  mm 
frontal  und  etwa  ebenso  tief  mit  Präparatenheber.  Währendund  nach  der  Ope- 
ration längere  Zeit  starke  Blutung. 

3  Stunden  post  op.  Motilitätsstörung  an  beiden  rechten  Extremitäten  aus- 
gesprochen, namentlich  lässt  er  die  Hinterpfote  mit  dem  Dorsum  aufgesetzt 
stehen,  vorn  reponirt  er  sie  bald.  Sehstörung  hochgradig,  sieht  erst  über 
Nasenrücken.  Optische  Reflexe  fehlen  gänzlich.  Nasenlidreflex  anscheinend 
abgeschwächt.    Ciliarreflex  intact. 

Motilitätsstörungen:  In  den  Beinen  hochgradig  und  lange  anhaltend, 
Spuren  noch  am  21.  Tage,  dann  nicht  mehr. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  5.  Tage  bis  auf  nasalen  Streifen,  vor- 
her scheinbar  nur   die   temporale  Hälfte,    vom  7.  Tage   an  in  der  Abnahme. 


—     2G3     — 

Vom  9.  Tage  an  nur  noch  ganz  aussen  bis  zum  21,  Tage,  am  22.  Tage  nicht 
mehr  nachweisbar.  Gegen  Licht:  In  den  ersten  7  Tagen  Reaction  fehlend  oder 
deutlich  schwächer,  nachher  gleich. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  bis  zum  16.  Tage,  abgeschwächt  bis  zum 
24.  Tage;  am  26.  Tage  normal. 

Nasenlidreflex:  Schwächer  bis  zum  10.  Tage,  dann  ohne  constante 
Differenz. 


FiR-.  90. 


Fig.  91. 


Getödtet  nach  circa  9  Wochen;  inzwischen  eine  2.  Operation  im  Hinter- 


lappen. 


Section:   Häute  normal.     Die  Narbe  sitzt  sehr  genau  in  der  11.  Urwin- 


—     264     — 

düng  auf  dem  Centrum  für  Bewegung  und  Schutz  des  Auges.  Auf  dem  Durch- 
schnitt (durch  die  Mitte  der  Narbe)  zeigt  sich  ein  keilförmiger  bräunlicher  Herd 
aus  Narbengewebe,  der  bis  in  die  weisse  Substanz  reicht,  von  der  Spitze  dieses 
Keiles  aus  geht  ein  spaltförmiger  Erweichungsherd  bis  fast  zur  Ventrikelwand. 
Der  Seitenventrikel  ist  stark  nach  oben  aussen  nach  der  Narbe  zu  ausgezogen 
und  erweitert. 

Beoba.chtixjigj'  64. 

Aufdeckung  auf  Planum  semicirculare  links  ganz  vorn,  2  mm  von  der 
Linea  semicircularis  entfernt,  auf  19,5  mm  sagittal.  Aufschlitzung  der  Dura 
ganz  hinten,  ünterschneidung  nach  vorn  2,5  cm  lang  und  dann  basal  bis  an 
den  Knochen;  beim  Herausziehen  der  Schneide  wird  dieselbe  nach  lateral  oben 
gedreht,  so  dass  die  Verbindung  des  unterschnittenen  Rindenstiickes  nach 
lateral  möglichst  durchtrennt  wird.    Durchschneidung:  des  Facialis. 


Fig.  92. 


Fig.  93. 


Motilitätsstörungen:  Am  2.  Tage  deutlich,  hängt  auch  gestreckt. 
Keine  Reaction  beim  Begreifen.  Vom  4.  Tage  an  Abnahme,  am  23,  Tage  nicht 
mehr  deutlich. 

Sensibilitätsstörungen:  Nasenloch:   Am  2.  Tage  indifferent  gegen 


—     265     — 

Kitzeln,  dann  nicht  mehr  notirt.  Zunge  und  Wange:  Am  2.  Tage  geräth  das 
Fleisch  oit  unter  die  Zunge  und  fällt  rechts  heraus,  am  3.  Tage  geräth  es 
nicht  mehr  unter  die  Zunge  und  fällt  seltener  heraus.  Letzteres  wird  noch  am 
6.  Tage  beobachtet.    Leckt  bis  zum  5.  Tage  auffällig  oft  nach  rechts. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Vom  2.-5.  Tage  absolut,  vom  6. —8.  Tage 
sieht  er  vielleicht  spurweise,  am  9.  Tage  sieht  er  auf  schmalem  nasalen  Strei- 
fen, am  10.  Tage  auf  der  nasalen  Hälfte,  im  unteren  äusseren  Quadranten 
etwas  darüber  hinaus;  14.  Tag:  Sehstörung  ein  Drittel,  19.  Tag:  im  schmalen 
temporalen  Streifen,  nachher  wieder  Zunahme,  (Flund  beginnt  zu  kränkeln.) 
Gegen  Licht  reagirt  er  nur  auf  dem  gegen  Fleisch  reagirenden  Theil,  dort 
aber  mit  Knurren  und  Beissen. 

Optische  Reflexe:  Gleich  nach  der  Operation  vorhanden,  fehlen  vom 
2.  Tage  bis  zum  Ende  der  Beobachtung. 

Nasenlidreflex  gleich  nach  der  Operation  und  auch  später  vorhanden. 

Gestorben  nach  ca.  3  Wochen. 

Section:  Häute  normal,  nur  an  der  Operationsstelle  in  einem  schmalen 
Streifen  ist  die  Dura  entsprechend  dem  Einstich  in  das  Gehirn  mit  der  Pia 
verwachsen.  Die  Narbe  sitzt  der  H.  und  dem  medialen  Rande  der  IH.  Urwin- 
dung  auf^  dicht  vor  und  ein  wenig  lateral  vom  Orbiculariscentrum.  Durch- 
schnitt (6  mm  vor  dem  Einstich) :  5^/2  mm  unter  der  Gehirnoberfläche  parallel 
dazu  findet  sich  eine  leicht  concav  nach  aussen  gebogene  Spalte,  die  die  Mark- 
strahlung der  II.  Urwindung  quer  durchtrennt  und  noch  in  die  IH.  Urwindung 
hineinreicht,  hier  dicht  unter  dem  Rindengrau  eines  einschneidenden  Sulcus 
endend.  Das  Grau  der  unterschnittenen  Windung  ist  ganz  leicht  abgeblasst. 
Am  Spalte  selbst  finden  sich  keine  bedeutenderen  Erweichungen,  eine  kleine 
umschriebene  Erweichung  liegt  lateral  und  oberhalb  vom  Nucleus  caudatus, 
bereits  in  der  inneren  Kapsel.  7  mm  weiter  nach  vorn  endet  der  eine  Stich- 
canal  unter  der  Pia  sichtbar,  ohne  dieselbe  zu  durchschneiden;  kurz  vorher 
trennt  sich  der  mehr  nach  vorn  gerichtete  Stich  davon  ab,  um  etwa  4  mm 
weiter  nach  vorn  zu  enden.    (Vergl,  Beob.  4). 

In  der  umstehenden  Tabelle  III  habe  ich  die  Resultate  der  vor- 
stehenden Beobachtungea  nach  der  Dauer  der  bei  ihnen  festzustellenden 
Sehstörung  geordnet. 

1.  Sehstöruugen:  Eine  Sehstörung  fehlte  gänzlich   bei  der  Beob. 

55  —  Anätzung  der  caudalen  Hälfte    der  II.  Urwindung  —  und  Beob. 

56  —  Unterschneidung  der  vorderen  Hälfte  der  II.  Urwindung  mit  Ab- 
trennung der  III.  und  IV.  Urwindung  von  dem  Marklager  und  Zer- 
trümmerung des  Letzteren.  Eine  verhältnissmässig  kurze  Dauer,  bis  zu 
5  Tagen,  hatte  die  Sehstörung  in  den  Beobb.  57  bis  60.    Bei  der  Beob. 

57  war  unter  ganz  geringer  Eröffnung  der  Dura  eine  Unterschneidung 
der  IL  und  III.  Urwindung  vorgenommen  worden;  eine  Sehstörung  war 
nur  am  2.  Tage  und  selbst  da  nicht  einmal  deutlich  nachzuweisen.  Bei 
der  Beob.  58  war  die  ganze  IL  Urwindung  von  hinten  nach  vorn  unter- 


—     266     — 
Tabelle    III.i) 


No. 
der 

Art 

Motilitätsstörungen 

Sehstörung 
gegen 

Optische 

Nasen- 
lid- 

Beob. 

der  Operation 

Fleisch 

Licht 

Reflexe 

reflex 

55 

Anätzung 

gering,  nur  bis  zum 

4.  Tage 

0 

0 

0 

(12) 

56 

Unterschneidung 

ziemlich  hochgradig 

der  2.  Seite 

0 

— 

Facialislähmung 

57 

Unterschneidung 

7  Tage,  spurweise 

14  (25) 

der  2.  Seite 

2? 

0 

mindestens 

0 

58 

Unterschneidung 

nur    anfangs    hoch- 

der 2.  Seite 

gradig 

2? 

3 

? 

? 

59 

Unterminirung  u. 
theilweise     Ex- 

hochgradig 

stirpation 

5 

— 

2  (14) 

(5) 

60 

Unterschneidung 

bis    zum    11.    Tage 

(zunehmend) 

5 

5 

4  (22) 

5 

61 

Unterschneidung 

r.  Lidspaite  weiter; 

hochgradig 

0 

7 

22  (30) 

16 

62 

Unterschneidung 

hochgradig,  noch  nach 

42 

6  Wochen 

8 

6 

dauernd 

15(11) 

63 

Exstirpation 

hochgradig 

21 

7 

16  (9) 

(10) 

64 

Unterschneidung 

sehr  deutlich 

22 
minde- 
stens 

22 

22 

0 

schnitten  worden;  es  fand  sich  bei  der  Section  ein  grosser  Erweichungs- 
herd am  Fusse  des  Stabkranzes,  der  einen  nicht  geringen  Theil  der 
Strahlung  aus  dem  Gyrus  sigmoides  neben  der  Markstrahlung  aus  der 
IL  Urwindung  unterbrochen  haben  musste;  die  Sehstörung  erwies  sich 
gleichwohl  nur  gegen  Licht  bis  zum  3.  Tage  deutlich,  gegen  Fleisch, 
war  sie  nur  am  2.  Tage  undeutlich  vorhanden.  Bei  der  Beob.  59  — 
ausgiebige  Unterminirung  und  theilweise  Exstirpation  der  vorderen 
Hälfte  des  vorderen  Schenkels  der  IL  Urwindung  unter  Betheiligung 
der  Nachbarwindungen  mit  Späthämorrhagie  —  dauerte  die  Sehstörung 
gegen  Fleisch  5  Tage.  Bei  der  Beob.  60  war  der  sylvische  Theil  der 
IL  Urwindung  und  der  anschliessende  Theil  der  sogenannten  „Augen- 
region" aufgedeckt,  aber  nur  die  Markstrahlung  der  IL  Urwindung  an- 
nähernd senkrecht  auf  ihre  Verlaufsrichtung  unterschnitten  worden.  Die 
Sehstörung  war  sowohl  gegen  Fleisch  als  gegen  Licht  einschliesslich 
des  5.  Tages  nachweisbar.  In  den  übrigen  4  Fällen  hielt  eine  Seh- 
störung von  verschiedener  Intensität  7 — 22  Tage  an.     Bei  der  Beob.  61 


1)  Die  in  Klammern  gesetzten  Zahlen  bedeuten  eine  Abschwächung  oder 
eine  fernere  Abschwächuüg  um  die  Dauer  der  betreffenden  Zahlen  in  Tagen. 
Wegen  der  Bedeutung  der  Fragezeichen  wird  auf  den  Text  verwiesen. 


—     267     — 

war  das  mittlere  Drittel  der  IL  ürwindung  unter  Schonung  des  Gyrus 
sigmoides  unterminirt  worden;  bei  der  Section  zeigte  sich,  dass  dieser 
Gyrus  gleichwohl  etwas  in  den  Bereich  der  Läsion  hineingezogen  war, 
ausserdem  zog  ein  feiner  Erweichungsstreifen  bis  in  den  Fuss  des  Stab- 
kranzes hinein.  Li  diesem  Falle  war  die  Sehstörung  nur  gegen  Licht 
auf  die  Dauer  von  7  Tagen  deutlich  nachweisbar.  Bei  der  Unter- 
suchung mit  Fleisch  fixirte  der  Hund  zwar,  da  er  aber  nicht  frass, 
blieb  es  fraglich,  ob  er  den  Gegenstand  erkannte  oder  nicht.  Bei  der 
Beob.  62  war  der  grössere  Theil  des  vorderen  Schenkels  der  IL  ür- 
windung fast  von  seinem  caudalen  Ende  an  unterschnitten  worden.  Der 
Gyrus  sigmoides  war  zwar  geschont,  aber  eine  Kette  von  Erweichungs- 
herden zog  sich  von  der  IL  Ürwindung  aus  derart  durch  seine  Ver- 
bindungen mit  der  inneren  Kapsel  hindurch,  dass  sie  an  dieser  Stelle 
gänzlich  oder  fast  gänzlich  unterbrochen  sein  mussten.  Die  Sehstörung 
dauerte  in  diesem  Falle  gegen  Fleisch  8,  gegen  Licht  6  Tage.  Bei  der 
Beob.  63  war  eine  verhältnissmässig  kleine  Exstirpation  im  Orbicularis- 
centrum  ziemlich  abseits  vom  Gyrus  sigmoides  ausgeführt  worden.  Bei 
der  Section  ergab  sich  aber,  dass  sich  ein  Erweichungsstreifen  von  der 
Narbe  aus  durch  das  ganze  Marklager  hindurch  bis  fast  an  die  Spitze 
des  Seitenventrikels  zog.  Die  Sehstörung  dauerte  gegen  Fleisch  21  und 
gegen  Licht  7  Tage.  Bei  der  Beob.  64  endlich  waren  die  3  lateralen 
Windungen  von  einem  Schlitz  der  Dura  aus,  der  sich  ungefähr  über 
der  vorderen  basalen  Hälfte  des  Orbiculariscentrums  befand,  von  ihren 
Verbindungen  abgetrennt  worden.  Auf  dem  Querschnitt  zeigte  sich  nur 
eine  Unterschneidungsspalte  und  ausserdem  ein  kleiner  Erweichungsherd 
in  der  inneren  Kapsel,  Indessen  Hessen  sich  auch  die  Endigungen  der 
basalen  und  frontalen  Stichcanäle  verfolgen.  Die  Sehstörung  dauerte 
hier  22  Tage,  bis  zum  Tode  des  Thieres,  welches  allerdings  in  den 
letzten  Tagen  kränkelte. 

2.  Die  optischen  Reflexe  waren  in  1  Falle  (Beob.  56),  bei  dem 
übrigens  auch  die  Sehstörung  fehlte,  wegen  Facialislähmung  nicht  zu 
untersuchen.  Ip  dem  2.  Falle  von  fehlender  Sehstörung  (Beob.  55) 
waren  sie  gleichfalls  nicht  beeinträchtigt.  In  allen  anderen  Fällen 
waren  sie  mehr  oder  minder  stark  beeinträchtigt.  Wirft  man  einen 
Blick  auf  die  Tabelle,  so  fällt  sofort  auf,  dass  die  Dauer  dieser  Beein- 
trächtigung durchgehends  unverhältnissmässig  viel  länger  war  als  die 
Dauer  der  Sehstörung.  Allerdings  fehlten  sie  dann  vielfach  nicht  ganz, 
sondern  waren  nur  mehr  minder  stark  abgeschwächt.  Wir  sehen  dar- 
unter aber  doch  1  Fall  (Beob.  61),  in  dem  sie  22  Tage  lang  gänzlich 
fehlten  und  dann  noch  lange  abgeschwächt  waren,  während  der  Hund 
schon  von  Anfang  an  auf  Fleisch  normal  reagirte  und  nur  gegen  Licht 


—     268     — 

eine  Sehstörung  erkennen  Hess.  Aehulich  fehlten  die  optischen  Reflexe 
bei  der  57.  Beob.  14  Tage  gänzlich,  um  noch  lange  abgeschwächt  zu 
sein,  während  die  Reaction  auf  Fleisch  nur  am  2.  Tage  undeutlich  und 
auf  Licht  garnicht  gestört  war.  Ohne  auf  anderweitige  Einzelheiten 
näher  einzugehen,  hebe  ich  hier  nur  wieder  die  Selbständigkeit  der 
beiden  Symptome  und  die  sich  hier  geltend  machenden  Beziehungen  zu 
denjenigen  Arealen  hervor,  die  nach  den  Ergebnissen  der  electrischen 
Untersuchung  der  Innervation  des  Orbicularis  vorstehen  oder  ihnen  be- 
nachbart liegen. 

3.  DerNasenlidreflex  war  ungestört  nur  in  2  Fällen  (Beobb.  57 
und  64).  In  beiden  Fällen  fand  sich  eine  erhebliche  Störung  der  opti- 
schen Reflexe.  In  dem  ersteren  Falle  dauerte  diese  mindestens  39,  in 
dem  anderen  22  Tage,  bis  zum  Tode.  In  den  übrigen  Fällen  war  der 
Nasenlidreflex  zwischen  5  und  26  Tagen  theils  aufgehoben,  theils  ge- 
stört. Unter  ihnen  befindet  sich  1  Fall  (Beob.  55),  in  dem  er  12  Tage 
abgeschwächt  v/ar,  während  die  optischen  Reflexe  keine  Störung  zeigten. 
In  den  übrigen  Fällen  waren  die  optischen  Reflexe  länger  gestört  als 
der  Nasenlidreflex.  Das  Verhältniss  betrug  16  :  5,  26  :  5,  52  :  16, 
42  :  26  und  25  :  10. 

4.  Das  gegenseitige  Verhältniss  der  Sehstörung,  der 
optischen  Reflexe  und  des  Nasenlidreflexes.  Ich  habe  bereits 
in  dem  vorigen  Kapitel  und  in  den  vorstehenden  Abschnitten  dieses 
Kapitels  dieser  Abhandlung  die  Unabhängigkeit  der  Störung  der  opti- 
schen Reflexe  von  der  Sehstörung  betont.  Thatsache  ist,  dass  ein  Hund 
nicht  nur  sehr  gut  sehen,  sondern  überhaupt  keine  Sehstörung  gehabt 
haben  kann,  während  seine  optischen  Reflexe  dennoch  in  mehr  minder 
hohem  Grade  und  auf  mehr  minder  lange  Zeit  geschädigt  waren. 
Ebensowohl  kann  aber  auch  eine  Sehstörung  vorhanden  sein,  ohne  dass 
die  optischen  Reflexe  darunter  zu  leiden  brauchten.  Die  Anschauung 
Luciani's,  nach  der  das  Ausfallen  des  optischen  Reflexes  (Gesticula- 
tionsversuch)  eine  Sehstörung  bedeutet,  ist  demnach,  wie  ich  bereits 
gesagt  habe,  irrig.  Diese  Anschauung  hat  aber  mit  derjenigen  Munk's 
ungeachtet  aller  Verschiedenheit  im  Einzelnen  etwas  Gemeinsames  mit 
Rücksicht  auf  die  Construction  des  Reflexbogens  und  den  Mechanismus 
seiner  functionellen  Schädigung.  Gemeinsam  ist  Beiden  die  Auffassung, 
dass  der  optische  Reiz  gleichviel  zu  einem  wie  beschaffenen  corticalen 
optischen  Centrum  gelangt  und  von  diesem  aus  zunächst  das  corticale 
und  dann  das  subcorticale  Orbiculariscentrura  in  Erregung  versetzt. 
Eine  Verschiedenheit,  mindestens  im  Vortrage,  besteht  darin,  dass  die 
Schädigung  der  Function,  also  des  Lidschlusses,    nach  Luciani  nur  in 


—     269     — 

der  optischen,  nach  Munk  aber  sowohl  in  der  optischen  als  auch  in 
der  motorischen  Region  der  Rinde  stattfinden  kann. 

Jedenfalls  aber  giebt  bei  beiden  Forschern  die  Rinde  die  einzigen, 
für  den  Vorgang  direct  in  Betracht  kommenden  Factoren  ab;  die  sub- 
corticalen  Centren  werden  von  Beiden  bei  den  durch  corticale  Eingriffe 
verursachten  Störungen  als  unbetheiligt  angesehen,  während  Goltz  mit 
seiner  Schule  umgekehrt  alle  nach  corticalen  Eingriffen  auftretenden 
Erscheinungen  —  mit  den  hier  besprochenen  Reflexen  hat  er  sich 
meines  Wissens  nicht  beschäftigt  —  auf  die  subcorticalen  Centren  be- 
zogen wissen  will. 

Zu  den  corticalen  Störungen  rechnet  Munk^)  auch  die  nach  Ein- 
griffen in  die  „Kopfregion"  eintretende  Aufhebung  der  Druckgefühle 
der  Wange,  also  ein  Trigeminusreflex,  ohne  freilich  anzugeben,  wodurch 
sich  diese  Aufhebung  äussert.  Dagegen  gehörten  nach  ihm  die  Ciliar-, 
Conjunctival-  und  Cornealreflexe,  also  eine  andere  Reihe  von  Trigeminus- 
reflexen,  ebenso  wie  der  Pupillarreflex  zu  den  niederen,  der  Mitwirkung 
des  Grosshirns  nicht  bedürfenden  Reflexen. 

Das  gesammte  Schema  der  Reflexthätigkeit  und  ihrer  Störungen 
würde  sich  nach  dieser  Theorie  also  sehr  einfach  gestalten  und  es  ist 
vielleicht  aus  diesem  Grunde  geschehen,  dass  sie  so  bestechend  gewirkt 
hat.  Die  Sehthätigkeit  kann  nur  gestört  werden  durch  Eingriffe  in  die 
„Sehsphäre".  Der  reflectorische  Lidschluss  aber  sowohl  durch  Eingriffe 
in  die  „Sehsphäi*e",  weil  dann  das  Thier  nichts  sieht  oder  durch  Ein- 
griffe in  die  „selbstständige  Fühlsphäre  des  Auges",  weil  dann  der 
dazu  erforderliche  Rindenreflex  auf    den  Orbicularis  in  Fortfall  kommt. 

Legen  wir  nun  an  diese  Theorien  den  Maassstab  der  in  dieser  Ab- 
handlung vorgetragenen  Thatsachen,  so  ergiebt  sich  zunächst  als  über- 
einstimmend mit  derselben,  dass  der  optische  Reflex  sowohl  bei  solchen 
Eingriffen,  welche  auf  die  „Sehsphäre",  als  auch  bei  solchen,  welche 
auf  das  Orbiculariscentrum  streng  localisirt  sind,  fehlen  kann,  und  dass 
die  Ciliar-  und  Cornealreflexe,  wie  dies  neuerdings  auch  von  Eckhard 
angegeben  worden  ist,  unter  diesen  Umständen  erhalten  bleiben. 

Neben  diesen  mit  der  Theorie  übereinstimmenden  Thatsachen  werden 
wir  aber  auf  andere  zurückkommen,  welche  mit  ihr  nicht  überein- 
stimmen. Sehen  wir  zunächst  von  unseren  Erfahrungen  über  die  Seh- 
störung ab  und  beschäftigen  uns  nur  mit  den  motorischen  und  Reflex- 
organen, so  ist  es,  um  Klarheit  in  die  Sache  zu  bringen,  durchaus  er- 
forderlich, die  einzelnen  Reflexapparate  mit  Bezug  auf  ihre  Störung  ge- 


1)  H.  Munk,  Gesammelte  Mittheilungen.   1890.   S.  53. 


—     270     — 

sondert  zu  betrachten.  Dies  ist  der  Apparat  der  wilikürliclieu  Inner- 
vation, zugleich  des  cerebralen  Tonus,  der  Apparat  des  optischen  Reflexes 
und  die  Apparate  der  Trigeminusreflexe. 

Alsbald  stossen  wir  hier  auf  eine  Schwierigkeit.  Nach  Munk 
sollen  Exstirpationen  seiner  „Augenregion"  Ptosis  bewirken.  Ich  habe 
dagegen  nach  Eingriffen  in  mein  Orbiculariscentrum  nur,  und  zwar 
nicht  regelmässig  Erweiterung  der  Lidspalte,  niemals  Ptosis  beobachtet 
und  ebenso  lauten  die  Angaben  Luciani's.  Nach  Eckhard  sind  keine 
Constanten  Veränderungen  zu  beobachten;  mau  empfinge  zwar  in 
einigen  Fällen  den  Eindruck  als  ob  die  Lidspalte  auf  der  entgegenge- 
setzten Seite  etwas  weiter  sei  als  auf  der  operirten.  Wegen  der  In- 
constanz  der  Erscheinung  will  Eckhard  aber  kein  Gewicht  darauf 
leg^n.  Man  könnte  nun  die  widersprechenden  Angaben  von  Munk 
vielleicht  in  der  Weise  erklären,  dass  er  bei  denjenigen  Exstirpationen, 
bei  denen  er  —  auch  inconstant  —  Ptosis  beobachtete,  andere  und 
zwar  solche  Theile  angegriffen  hat,  die  den  Levator  palpebrae  superioris 
innerviren,  und  dass  bei  denjenigen  Operationen  von  ihm,  von  Luciani 
und  mir,  bei  denen  der  Effect  mit  Bezug  auf  die  Lidspalte  latent  blieb, 
beide  Felder  angegriffen  waren,  sodass  die  Wirkung  der  Verletzung  des 
einen  durch  die  Wirkung  der  Verletzung  des  anderen  aufgehoben  wurde. 
Da  Muuk  aber  meines  Wissens  niemals  eine  genauere  Localisation 
seiner  Lähmungsversuche  innerhalb  seiner  langen  und  breiten  „Augen- 
region" kundgegeben  hat,  so  muss  ich  es  bei  dieser  Vermuthung  be- 
wenden lassen. 

Die  willkürliche  Bew^eglichkeit  der  Lidmuskeln  scheint  bei  diesen 
Versuchen,  auch  wenn  sie  ein  positives  Resultat  ergeben,  nicht  aufge- 
hoben zu  sein;  wenigstens  habe  ich  nicht  beobachtet,  dass  die  Hunde 
mit  erweiterter  Lidspalte  sie  nicht  schliessen  konnten,  auch  bei  Luciani 
finde  ich  keine  derartige  Angabe  und  dass  man  bei  vorhandener  Ptosis 
vom  Hunde  darüber,  ob  er  seine  Lidspalte  weiter  zu  öffnen  vermag, 
keine  Auskunft  erhalten  kann,  ist  selbstverständlich.  Hiernach  tritt 
die  nach  diesen  Operationen  zu  beobachtende  Erweiterung 
der  Lidspalte,  vielleicht  auch  ihre  Verengerung,  in  eine  Reihe 
mit  dem  Herabhängen  der  geschädigten  Pfoten  schwebender 
Hunde,  das  ich  in  den  vorhergehenden  Abhandlungen  ausführlich  er- 
örtert habe.  Sie  ist  also,  wie  jenes  Symptom,  auf  das  Fehlen 
des  normalen  cerebralen  Tonus  zurückzuführen,  ohne  dass 
jedoch  hier,  wie  dort  das  Phänomen  in  allen  seinen  Theilen  gänzlich 
aufgeklärt  worden  wäre.  Für  diese  Auffassung  spricht  auch  die  ge- 
legentlich gemachte  (Beob.  60),  aber  in  den  anderen  Fällen  nicht  weiter 
verfolgte  Beobachtune;,   dass  der  normale  Widerstand,    den  man  bei  der 


—     271     — 

passiven  Eröffnung  des  nicht  geschädigten  Auges  antraf,  auf  dem  ge- 
schädigten, eine  Erweiterung  der  Lidspalte  zeigenden,  fehlte. 

Betrachten  wir  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  das  Fehlen  des 
optischen  Reflexes,  so  lässt  es  sich  gleichfalls  in  eine  Reihe  mit  dem 
Fehlen  des  normalen  Reflexes  beim  „Begreifen"  der  Pfoten  schwebender 
Hunde  stellen.  In  jedem  der  beiden  Fälle  können  die  Hunde  Willens- 
impulse zu  der  Musculatur  der  geschädigten  Seite  gelangen  lassen,  aber 
die  normale  Antwortsbewegung  auf  den  adäquaten  centripetalen  Reiz 
bleibt  aus. 

Das  Fehlen  des  Nasenlidreflexes  lässt  sich  zwar  in  ähnlicher  Weise 
erklären;  indessen  ist  dies  nur  unter  Zuhülfenahme  einer  Annahme 
möglich,  welche  mit  den  geläufigen  Anschauungen  über  das  Wesen  der 
Functionen  innerhalb  der  motorischen  Rindencentren  sich  nicht  ganz 
•deckt.  Bei  den  hier  mitgetheilten  Versuchen  hat  sich  gezeigt,  dass  ein 
Theil  der  vom  Trigeminus  auf  den  Orbicularis  palpebrarum  wirkenden 
Reflexe  —  die  Ciliar-,  Coüjunctival-  und  Cornealreflexe  —  so  gut  wie 
immer  ungestört  bleibt,  dass  ein  anderer  Theil  der  vom  Trigeminus  auf 
-den  gleichen  Muskel  wirkenden  Reflexe  —  der  Nasenlidreflex  —  ge- 
stört sein  kann,  während  der  vom  Opticus  auf  den  gleichen  Muskel 
wirkende  Reiz  die  normale  Contraction  hervorruft  und  dass  umgekehrt, 
■die  letztere  Function,  der  optische  Reflex  fehlen  kann,  während  der 
Nasenlidreflex  vollkommen  intact  ist.  Wenn  wir  nun  auch  den  Ciliar-, 
Conjunctival-  und  Cornealreflex  dadurch  eliminiren,  dass  wir  diesen 
Aggregaten  des  Trigeminus  eine  eigene  Repräsentirung  in  der  Rinde 
überhaupt  nicht  zuschreibeil,  was  sehr  unwahrscheinlich  ist,  oder  wenn 
wir  annehmen,  dass  der  Einfluss  einer  solchen  corticalen  Repräsentirung 
ganz  und  gar  gegen  die  subcorticale  Innervation  zurücktritt,  so  bleibt 
doch  immer  die  Schwierigkeit  bestehen,  dass  der  gleiche  Muskel,  der 
•Orbicularis  in  zahlreichen  Fällen  auf  den  einen  Reflexreiz  antwortet, 
auf  den  anderen  aber  nicht.  Diese  Schwierigkeit  ist  unlösbar,  wenn 
man  den  Sitz  der  Stömng  in  allen  Fällen  in  das  Orbiculariscentrum 
verlegt,  sie  lässt  sich  aber  lösen,  wenn  man  den  nasalen  Theilen  des 
Trigeminus  ein  besonderes  Innervationsgebiet  in  der  Rinde  zuschreibt, 
welches  dann  aber  nicht  nur  allein  mit  der  Musculatur  der  Nase  und 
Wange  und  nicht  mit  derjenigen  des  Orbicularis,  wie  es  nach  der  er- 
wähnten Theorie  sein  sollte,  sondern  auch  mit  der  letzteren  in  corti- 
caler  reflectorischer  Verbindung  stehen  müsste. 

Insoweit  sind  also  die  sich  aufdrängenden  Fragen  einer  leidlich 
befriedigenden  Lösung  zugänglich;  die  gesetzten  Krankheitserscheinungen 
lassen  sich  sämmtlich    direct    von  dem  Eingriff    in    die  Rinde  ableiten. 


—     272     — 

Die  Schwierigkeiten  beginnen  erst,  sobald  man  zu  ihrer  Localisation 
schreitet. 

Betrachten  wir  die  vorgetragenen  in  Frage  kommenden  40  Versuche 
zunächst  um  festzustellen,  bei  welchen  von  ihnen  eine  Schädigung  der 
beiden  uns  jetzt  beschäftigenden  Reflexe  notirt  ist,  so  ergiebt  sich,  dass 
eine  Schädigung  des  Nasenlidrefleses  bei  den  22  Versuchen  am  Gyrus 
sigmoides  nur  12  mal  notirt  ist  und  von  diesen  12  Malen  hat  er  nur 
2  mal,  das  eine  Mal  8  Tage  lang,  das  2.  Mal  5  Tage  lang  gänzlich 
gefehlt,  in  den  übrigen  10  Fällen  war  er  nur  abgeschwächt.  Bei  den 
18  in  Frage  kommenden  Versuchen  an  den  lateralen  Urwindungen  ist 
eine  Schädigung  dieses  Reflexes  dagegen  11  mal,  und  zwar  davon  4  mal 
eine  gänzliche  Aufhebung  desselben  notirt,  je  einmal  auf  2,  5,  16  und 
15  Tage.  In  der  1.  Serie  dieser  Fälle  dauerte  die  einfache  Ab- 
schwächung  1  mal  2,  3  mal  3,  je  1  mal  4,  5,  11, 13,  28  und  35  Tage; 
ausserdem  schloss  sich  noch  eine  3  tägige  Abschwächung  an  das 
8tägige  Fehlen  und  eine  4 tägige  Abschwächung  an  das  5  tägige  Fehlen 
an.  In  der  2.  Serie  dieser  Versuche  dauerte  die  einfache  Abschwächung 
je  einmal  3,  5,  10,  12,  13,  16  und  35  Tage;  ausserdem  schloss  sich 
noch  eine  14  tägige  Abschwächung  an  das  2  tägige  und  eine  11  tägige 
Abschwächung  an  das  15  tägige  gänzliche  Fehlen  dieses  Reflexes  an. 
Es  zeigt  sich  also  ganz  allgemein  gesprochen,  dass  die  Folgen  für  den 
Nasenlidreflex  schwerer  waren,  wenn  in  den  lateralen  Urwindungen,  als 
wenn  in  der  medialen,  dem  Gyrus  sigmoides,  operirt  wurde.  Dies  ist 
auch  insofern  ganz  verständlich,  als  in  dem  ersteren  Falle  die  Opera- 
tion die  beiden  Windungen,  in  denen  sich  das  von  Fritsch  und  mir 
nachgewiesene  Orbiculariscentrum  und  das  von  mir  nachgewiesene 
Centrum  für  die  unteren  Aggregate  des  Facialis  befindet,  betraf.  Die 
Schädigung  des  uns  beschäftigenden  Reflexes  kann  nach  meinen  bis- 
herigen Auseinandersetzungen  durch  Verletzung  des  einen,  wie  des 
anderen  Centrums  bedingt  sein.  Immerhin  wäre  es  auffallend  genug, 
wenn  Eingrilfe,  die  auf  den  Gyrus  sigmoides  selbst  begrenzt  waren, 
eine  Schädigung  der  Function  des  letztgedachten,  ziemlich  weit  ab- 
liegenden Centrums  zur  Folge  hätten. 

Fassen  wir  weiter  diejenigen  Beobachtungen  ins  Auge,  bei  denen 
ein  Trauma  des  Centrums  für  den  Orbicularis  durch  Lagophthalmus 
wahrscheinlich  gemacht  wird,  so  ergiebt  sich,  dass  bei  der  ßeob.  26 
das  Centrum  für  den  Orbicularis  mitaufgedeckt  und  in  den  Bereich  der 
Störung  hineingezogen  war.  Die  bis  zum  Ende  der  ßeobachung  (35 
Tage)  dauernde  Aufhebung  sowohl  des  optischen  als  des  Nasenlidreflexes 
wird  hierdurch  vollkommen  erklärt.  Ganz  anders  liegen  die  Verhält- 
nisse in  dem  Falle  48,    bei  dem  die  allerdings  nur  4  Tage    anhaltende 


—     273     — 

Erweiterung  der  Lidspalte  durch  den  Ort  der  Verletzung  in  der  Mitte 
des  vorderen  Schenkels  der  II.  ürwindung  nicht  recht  motivirt  war  und 
noch  dazu  die  optisciien  Reflexe  garnicht,  der  Nasenlidreflex  kaum  ge- 
stört war.  Bei  der  Beob.  50  war  das  mittlere  und  ein  Theil  des 
unteren  Drittels  der  II.  ürwindung  und  damit  der  vordere  Theil  des 
Orbiculariscentrums  so  gut  wie  ausgeschaltet.  In  diesem  Falle  ent- 
sprach wieder  die  4  Tage  dauernde  Erweiterung  der  Lidspalte,  sowie 
die  bis  zum  Ende  der  Beobachtung  (35  Tage)  dauernde  Störung  des 
optischen  und  des  Nasenlidreflexes  der  Localisation  der  Verletzung. 
Das  Gleiche  gilt  von  der  Beob.  53,  bei  der  auf  eine  ünterschneidung 
des  Orbiculariscentrums  eine  23  Tage  lang  dauernde  Erweiterung  der 
Lidspalte  und  eine  18  bezw.  13  Tage  dauernde  Störung  des  optischen 
und  des  Nasenlidreflexes  folgte.  Bei  der  Beob.  61  war  gleichfalls  das 
Orbiculariscentrum  in  eine  Narbe  verwandelt,  die  optischen  Reflexe  52 
und  der  Nasenlidreflex  16  Tage  gestört.  Ueber  das  unter  diesen  Um- 
ständen auffallende  Fehlen  des  Lagophthalmus  bei  Angriffen  auf  die 
hintere  Hälfte  des  vorderen  Schenkels  der  IL  ürwindung  habe  ich  mich 
bereits  (S.  270)  ausgesprochen. 

Mindestens  ebenso  auffällig  ist  eine  Reihe  von  Fällen,  bei  denen 
nach  Eingriffen  in  die  lateralen  Windungen  die  optischen  Reflexe  zu 
einer  Zeit  gestört  waren,  zn  der  keine  Sehstörung  bestand,  während  der 
Nasenlidreflex  nicht  oder  nicht  mehr  gestört  war.  Hier  war  also  der 
Weg  durch  das  Orbiculariscentrum  frei  und  dennoch  versagte  auf  der 
geschädigten  Seite  der  optische  Reiz. 

Wir  hatten  bereits  bei  der  1.  Reihe  dieser  Beobachtungen  (Beobb. 
9 — 16)  gesehen,  dass  die  einfache  Freilegung  des  Gyrus  sigmoides  auch 
bei  denjenigen  Fällen,  bei  denen  das  Orbiculariscentrum  nicht  betheiligt 
sein  konnte,  genügte,  um  die  optischen  Reflexe  zu  schädigen.  Das 
gleiche  Resultat  haben  nun  auch  die  jetzt  mitgetheilten  22  Versuche 
am  Gyrus  sigmoides  ergeben.  Die  optischen  Reflexe  blieben  in  keinem 
einzigen  Falle  intact  und  waren  in  vielen  Fällen  sehr  hochgradig  und 
lang  andauernd  geschädigt.  Es  würde  zu  weit  führen  auf  alle  diese 
Fälle  einzeln  einzugehen.  Dagegen  muss  ich  mit  aller  Entschiedenheit 
hervorheben,  dass  diese  Erfahrungen  keineswegs  durchgehends  durch 
Nachbarwirkungen  auf  das  Orbiculariscentrum  zu  erklären  sind.  Ich 
selbst  habe  wiederholt  auf  die  Gefahr  der  Täuschung  durch  Nachbar- 
schaftssymptome hingewiesen,  ja,  einer  der  vornehmlichsten  Zwecke 
dieser  Untersuchungen  besteht  darin,  den  Werth  solcher  Symptome  fest- 
zustellen und  damit  die  wirklichen  Folgen  localisirter  Verletzungen  aus 
der  Fülle  der  Symptome  herauszuschälen.  So  habe  ich  denn  auch  bei 
der  Analyse    dieser  Beobachtungen  von    allen    denjenigen  Fällen    abge- 

llitzi};,  Gesammelte   Abhandl.    II.  Tlieil.  18 


—     274     — 

sehen,  bei  denen  die  II.  Urwiudung  sich  in  die  Hirnlücke  hineingelegt 
hatte,  sodass  die  Narbe  darauf  übergriff,  oder  bei  denen  selbst  die  weit 
nach  vorn  vor  dem  Orbicularisceutrum  gelegenen  Theile  in  Mitleiden- 
schaft gezogen  waren.  Es  giebt  aber  denn  doch  Fälle  genug,  bei  denen 
von  solchen  Nachbarschafts-  und  ebenso  von  anderen  Fernewirkungen 
gar  keine  Rede  sein  kann.  Ich  führe  von  solchen  als  vollkommen  be- 
weisend die  Beobb.  43  links  und  43  rechts  an,  bei  denen  eine  einfache 
frontale  Durchtrennung  am  vordersten  Rande  des  Gyrus  sigmoides  aus- 
geführt wurde  und  die  optischen  Reflexe  auf  die  Dauer  von  11  bezw. 
27  Tagen  gestört  waren.  Ich  übersehe  nicht,  dass  sich  bei  diesem 
Hunde  auf  der  rechten  Seite  ein  Erweichungsherd  im  Marklager  und  ein 
Blutherd  im  medialen  Rindengrau  fand.  Aber  einmal  waren  diese 
Herde  nur  einseitig  vorhanden,  während  die  Störung  doppelseitig  war 
und  dann  lagen  sie  so  weit  nach  vorn,  dass  sie  die  Strahlung  aus  dem 
sylvischen  Theil  der  IL  ürwindung  unmöglich  schädigen  konnten. 
Ausserdem  erwähne  ich  beispielsweise  die  Beobb.  29,  30,  32  und  33 
mit  13 — 35  Tage  dauernden  Störungen  der  optischen  Reflexe.  Beiläufig 
sei  bemerkt,  dass  sich  auch  die  Sehstörungen  in  diesen  Fällen  analog 
verhielten,  obschon  bei  ihnen  von  einem  Trauma  der  „Sehsphäre"  noch 
viel  weniger  die  Rede  sein  konnte,  als  von  einem  solchen  des  Orbicu- 
lariscentrums.  Ja,  sogar  in  den  Beobb.  43  links  und  43  rechts,  bei 
denen  die  Operation  fast  am  entgegengesetzten  Pol  der  Hemisphäre 
ausgeführt  wurde,  war  die  Sehstörung  noch  am  15.  Tage  nach  der 
Operation  nachweisbar. 

Aus  dem  Vorgetragenen  scheint  mir  mit  Sicherheit  hervorzugehen, 
dass  nach  frontalen  Eingriffen  Sehstörungen  und  Störungen 
der  optischen  Reflexe  als  unmittelbare  Folgen  von  Ver- 
letzungen des  Gyrus  sigmoides  so  gut  wie  regelmässig, 
Störungen  der  optischen  Reflexe  nach  Verletzungen  des 
Orbiculariscentrums  gleichfalls  als  directe  Folgen  der  Ver- 
letzung so  gut  wie  regelmässig  eintreten,  dass  ferner  die 
Verletzung  dieses  Centrums  häufig  zu  einer  Erweiterung  der 
Lidspalte  und  die  Verletzung  seiner  mehr  nach  vorn  und 
lateral  gelegenen  Nachbarschaft  (meines  Centrums  für  den 
Rest  des  Facialis)  noch  häufiger  zu  einer  Störung  des 
Nasenlidreflexes  führt,  während  die  vorderen  Schenkel  der 
IL  —  IV.  ürwindung,  einschliesslich  des  vorderen  Theiles  des 
grossen  Marklagers  und  der  inneren  Kapsel  in  jeder  Weise 
verletzt  sein  können,  ohne  dass  hieraus  jemals  direct  eine 
Sehstörung  resultirte. 

5.  Nach  und  durch  die  Erledigung  dieser  umständlichen  Vorfragen 


—     275     — 

gestaltet  sich  die  Beantwortung  unserer  Hauptfrage,  ob  Sehstörungen 
auch  durch  Verletzungen  der  Markstrahlungen  des  Gyrus 
sigmoides  bedingt  sein  können,  soweit  sie  überhaupt  auf  Grund 
des  vorliegenden  Materials  unternomnien  werden  kann,  sehr  einfach. 

In  Betracht  kommen  nur  diejenigen  Verletzungen  der  hinteren 
Hälfte  der  lateralen  Urwindungen,  bei  denen  die  Rinde  des  Gyrus  sig- 
moides selbst  nicht  verletzt  war.  Wir  gehen  am  besten  von  denjenigen 
Fällen  aus,  bei  denen  die  Sehstörung  am  hochgradigsten  war  und  am 
längsten  anhielt.  Bei  der  Beob.  63  dauerte  die  Sehstörung  gegen 
Fleisch  21  und  gegen  Licht  7  Tage.  Der  Gyrus  sigmoides  selbst  war 
unbetheiligt,  aber  ein  unmittelbar  hinter  demselben  angelegter  Frontal- 
schnitt ergab,  dass  sich  ein  Erweichungsstreifen  von  der  Narbe  aus 
durch  das  ganze  Marklager  hindurch  bis  fast  an  die  Spitze  des  Seiten- 
ventrikels zog.  Die  Schädigung  der  Markstrahlung  aus  dem  Gyrus 
sigmoides  manifestirte  sich  denn  auch  durch  eine  hochgradige,  ers 
nach  dem  21.  Tage  verlöschende  Motilitätsstörung.  Bei  der  Beob.  64 
dauerte  die  Sehstörung  gegen  Fleisch  und  Licht  noch  1  Tag  länger 
(22  Tage),  die  letzten  Tage  können  aber  wegen  Erkrankung  des  Thieres 
nicht  mit  in  Betracht  gezogen  werdeu.  Hier  lag  der  Eingriff  noch 
weiter  ab  vom  Gyrus  sigmoides,  aber  es  fand  sich  ein,  auf  dem  ange- 
legten Durchschnitt  makroskopisch  kleiner  Erweichungsherd  in  der 
inneren  Kapsel.  Es  ist  möglich,  dass  dieser  auf  anderen  Schnittebenen 
oder  mikroskopisch  grössere  Dimensionen  annahm.  Jedenfalls  hat  er 
aber  die  Strahlung  aus  dem  hinteren  Schenkel  des  Gyrus  sigmoides 
schwer  geschädigt,  da  die  Operation  erhebliche  Motilitätsstörungen  zur 
Folge  hatte,  ohne  dass  die  Rinde  des  Gyrus  sigmoides  irgendwie  ge- 
schädigt sein  konnte.  Es  folgt  die  Beob.  62,  bei  der  die  Verletzung 
die  Rinde  des  Gyrus  sigmoides  jedenfalls  nicht  betroffen  hatte,  während 
die  durch  eine  Kette  von  Erweichungsherden,  die  sich  bis  an  die  Spitze 
des  Seiten  Ventrikels  hinzog,  in  der  IL  Urwindung  angerichtete  Zer- 
störung so  hochgradig  war,  dass  die  Markstrahlung  aus  dem  Gyrus 
sigmoides  jedenfalls  auf  der  Schnittebeue  so  gut  wie  gänzlich  unter- 
brochen war;  aber  diese  lag  weiter  nach  vorn  als  in  dem  vorigen  Falle. 
Die  Sehstörung  dauerte  nur  8  Tage;  die  anfangs  sehr  hochgradige  Mo- 
tilitätsstörung dagegen  war  noch  nach  mehr  als  6  Wochen  nachweisbar. 
Von  grösserem  Interesse  ist  noch  die  Beob.  60,  bei  der  eine  5  tägige 
Sehstörung  gegen  Fleisch  und  Licht  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
durch  eine  in  der  IL  Urwindung  sehr  tief  geführte  Unterschneidung, 
welche  an  deren  Fuss  schon  innerhalb  des  Centrum  semiovale  lag 
bedingt  war;  der  Hund  hatte  daneben  eine  vom  4. — 11.  Tage  ziemlich 
hochgradige,  dann  abnehmende  Motilitätsstörung. 

18* 


—     276     — 

Von  der  Heranziehung  der  übrigen  Beobachtungen,  bei  denen  nur 
eine  Sehstörung  von  kürzerer  Dauer  in  die  Erscheinung  trat,  nehme  ich 
Abstand. 

Durch  diese  Beobachtungen  wird  es  sehr  wahrscheinlich,  dass  vor- 
übergehende Sehstörungen  nicht  nur  auf  Grund  von  Verletzungen  der 
Rinde  des  Gyrus  sigmoides,  sondern  auch  auf  Grund  von  Verletzungen 
eines  Theils  seiner  Markstrahlung  oder  vielmehr  von  deren  Einstrah- 
lungen in  das  grosse  Marklager  oder  die  innere  Kapsel  entstehen 
können.  Ich  hätte  gewünscht,  diese  Bahnen  mit  einiger  Sicherheit 
näher  bezeichnen  zu  können;  indessen  ist  dies  nur  in  ganz  unvoll- 
kommener Weise  gelungen.  Selbstverständlich  können  es  nicht  die 
gleichen  Projectionsbahnen  sein,  deren  Zerstörung  die  hier  beobachteten 
Motilitätsstörungen  hervorrufen,  denn  diese  begeben  sich  sicherlich  zu 
den  motorischen  und  sensiblen  Centren  des  Rückenmarks.  Indessen 
gewinnt  man  vielfach,  wenn  auch  nicht  überall  den  Eindruck,  als  wenn 
die  motorischen  Bahnen  für  die  Extremitäten  gemeinsam  mit  denjenigen 
verliefen,  deren  Verletzung  die  Sehstörung  hervorbringt.  Ganz  ähnlich 
gestaltet  sich  auch  allem  Anscheine  nach  das  Verhalten  dieser  Theile 
in  der  grauen  Rinde  des  Gyru«  sigmoides.  Es  scheint  auch  hier  ganz 
bestimmte  Regionen,  ich  meine  besonders  den  lateralen  Bogen,  zu  geben, 
deren  Verletzung  die  Motilität  und  den  Sehact  besonders  schädigt. 
Allerdings  wird  man  sich  den  Hergang  nicht  in  der  Art  vorzustellen 
haben,  dass  die  Grösse  der  Letzteren  in  geradem  Verhältniss  zu  der 
Grösse  der  Ausschaltung  stehe  —  ich  habe  das  schon  oben  erläutert 
—  sondern  man  wird  annehmen  müssen,  dass  es  innere,  mit  dem  Hei- 
lungsprocess  in  Verbindung  stehende  Reiz  Vorgänge  sind,  durch  deren 
Vermittelung  das  Phänomen  in  die  Erscheinung  tritt.  — 

Diese  Fragen  sind  also,  wie  man  sieht,  keineswegs  ganz  aufgeklärt, 
womit  sie  das  Schicksal  der  meisten  anderen  die  Physiologie  des  Gross- 
hirns betreffenden  Fragen  theilen.  Die  vorstehende  Darstellung  unter- 
scheidet sich  aber  vielleicht  insofern  von  manchen  anderen  Arbeiten 
auf  unserem  Gebiete,  als  ich  geflissentlich  alle  Lücken  imseres,  auch 
meines  eigenen  Wissens,  hervorgehoben  habe.  Es  giebt  noch  Mitte, 
diese  Lücken  auszufüllen,  wenn  man  sie  nur  kennt.  Ich  selbst  war 
aber  genöthigt,    diesen  Theil  meiner  Arbeit  zum  Abschluss  zu  bringen 


IV.   lieber  die  Bezielmiigeii  der  Rinde  und  der  siibcorticalen 
(raiiglieu  zum  Seliact  des  Hundes. 

IL    Welcher  Art  sind   die  durch  corticale  Läsionen  hervorge- 
brachten  Sehstörungen,    sind   sie   hemianopischer  Natur  oder 
nicht,   insbesondere  entsprechen  sie  den  Lehren  Munk's? 

Abschnitt  II.  Occipitale  Läsionen. 
Inhalt:  I.  Historisches  und  Kritisches  S.  278.  II.  Operationsmethoden 
S.  296.  III.  Untersuchungsmethoden  S.  299.  2t.  Casuistik.  Vorbe- 
merk'ungen  S.  304.  a)  Centrale  Läsionen  S.  305.  A.  Typische  Operationen 
S.  306.  ß.  Primäroperationen  S.  306.  Zusammenfassung  S.  332.  1.  Sehstörungen, 
aa.  Reaction  gegen  Fleisch  S.  332.  bb.  Reaction  gegen  Licht  S.  334.  2.  Op- 
tische Reflexe  S.  335.  Nasenlidreflex  S.  336.  ß.  Secundäroperationen  S.  336.  Zu- 
sammenfassung S.  355.  1.  Sehstörungen,  aa.  Reaction  gegen  Fleisch  S.  355.  bb. 
Reaction  gegen  Licht  S.  355.  2.  Optische  Reflexe  S.  355.  3.  Nasenlidreflex 
S.  356.  B.  Atypische  Operationen  S.  357.  Zusammenfassung.  S.  387.  1.  Seh- 
störungen, aa.  Reaction  gegen  Fleisch  S.  387.  bb.  Reaction  gegen  Licht  S.  392. 
2.  Optische  Reflexe  S.  393.  3.  Nasenlidreflex  S.  393.  4.  Das  Verhältniss  der 
Läsionen  zur  Sehstörung  S.  393.  b.  Laterale  Läsionen  S.  395.  A.  Aty- 
pische^ Operationen  8.396.  Zusammenfassung  S.  400.  1.  Sehstörungen  S.  400. 
2.  Optische  Reflexe  S.  401.  3.  Nasenlidreflex  S.  401.  B.  Typische  Operationen 
S.  401.  «.  Laterales  Drittel  S.  401.  Zusammenfassung  S.  418.  1.  Sehstörungen 
S.  418.  2.  Optische  Reflexe  S.  420.  ß.  Laterale  Hälfte.  S.  421.  Zusammen- 
fassung S.  432.  1.  Sehstörungen,  aa.  Reaction  gegen  Fleisch  S.  432.  bb.  Reaction 
gegen  Licht  S.  433.     2.    Optische  Reflexe  S.  433.     3.    Nasenlidreflex  S.  433. 

4.  Die  Projectionsfrage  S.  433.  c.  Mediale  Läsionen  S.  434.  Zusammen- 
fassung S.  444.  1.  Sehstörungen,  aa.  Reaction  gegen  Fleisch  S.  444.  bb. 
Reaction   gegen  Licht  S.  445.    2.  Optische  Reflexe  S.  445.     3.  Nasenlidreflex 

5.  445.  4.  Die  Projectionsfrage  S.  445.  d.  Caudale  Läsionen  S.  445. 
A.  Typische  Läsionen  S.  446.  Zusammenfassung  S.  457.  1.  Sehstörungen. 
aa.  Reaction  gegen  Fleisch  S.  457.  bb.  Reaction  gegen  Licht  S.  458.  2.  Op- 
tische Reflexe  S.  458.  B.  Atypische  Läsionen  S.  459.  Zusammenfassung 
S.  474.  1.  Sehstörungen,  aa.  Reaction  gegen  Fleisch  S.  474.  bb.  Reaction 
gegen  Licht  S.  476.     2.    Optische  Reflexe  S.  476.      3.    Nasenlidreflex  S.  476. 

■   e.    Orale    Läsionen    S.    476.     A.    Typische  Operationen  S.  477.     B.    Aty- 
pische   Operationen    S.    500.      Zusammenfassung    S.    536.      1.    Sehstörungen. 


—     278     — 

aa.    Reaction    gegen    Fleisch    S.    536.       bb.    ßeaction    gegen    Licht    S.  539. 
2.  Optische  Reflexe  S.  539.     Nasenlidreflex  S.  542. 

33.  Ergebnisse.  1.  Die  Rindenblindheit  und  die  Projections- 
lehre  S.  542.  2.  Die  Seelenblindheit  und  die  Beschaffenheit  der 
corticalen  Sehstörung  S.  566.  III.  Der  Mechanismus  des  Sehens,  der 
Sehstörung  und  der  Restitution  S.  584.  IV.  Rückblicke  und  Schlüsse  auf 
die  Entstehung  der  optischen  Apperception  S.  596. 

I.    Historisches  und  Kritisches. 

Einige  historische,  die-  Physiologie  des  Occipitalhirns  betreffende 
Daten  habe  ich  bereits  in  einer  früheren  Arbeit i)  gegeben;  indessen  ist 
es,  wie  ich  schon  früher  andeutete,  noch  erforderlich,  auf  mehrere 
Punkte  näher  einzugehen. 

Zunächst  will  ich  der  Arbeiten  Panizza's  nach  Munk-)  —  die 
Originale  Panizza's  waren  mir  nicht  zugänglich  —  insofern  etwas 
ausführlicher  gedenken,  als  es  auf  die  Klarlegung  der  Frage  ankommt, 
Inwieweit  dieser  Forscher  das  Auftreten  von  Sehstörungen  als  Folge  von 
Hirnverletzungen  auf  den  Hinterhauptslappen  bezog.  Hierher  gehört 
eine  Anzahl  der  von  Munk  namhaft  gemachten  Untersuchungen  nicht; 
ich  meine  das  Auftreten  von  Sehstörungen  nach  querer  Durchschneidung 
einer  Hemisphäre  an  ihrem  vorderen  Fünftel,  nach  querer  Durchschnei- 
dung des  Corpus  striatum  und  nach  Durchschneidung  des  Thalamus 
opticus.  Wohl  aber  gehören  hierhin  Exstirpationsversuche,  bei  denen 
Panizza  Hunden  ein  Rindenstück  ausschaltete,  welches  „etwas  tiefer 
als  der  Scheitelhöcker"  gelegen  war,  wenn  man  sie  mit  den  theoreti- 
schen Nutzanwendungen,  die  er  aus  diesen  Erfahrungen  zieht,  in  Zu- 
sammenhang bringt.  Zwar  ist  die  gedachte  Ortsangabe  sehr  unbestimmt 
und  weist  eigentlich  nicht  deutlich  auf  den  Hinterhauptslappen  hin, 
indessen  hat  Panizza  alsdann  die  bei  diesen  Versuchen  auftretende 
Sehstörung  mit  der  Verletzung  der  corticalen  Endigung  der  Sehstrah- 
lung in  ursächlichen  Zusammenhang  gebracht,  indem  er  sagte,  die  Ver- 
letzung der  Bündel,  welche  vom  hinteren  Umfange  des  Thalamus  opticus 
zu  den  hinteren  oberen  Windungen  ziehen,  machten  es  erklärlich,  dass 
eine  selbst  leichte  Verletzung  der  Peripherie  einer  Hemisphäre,  wenn 
nur  die  faserige  Substanz  in  Mitleidenschaft  gezogen  ist,  stets  die  Blind- 
heit des  gegenseitigen  Auges  verursacht.  Ausserdem  gehört  hierher  ein 
Theil  derjenigen  Untersuchungen,  durch  welche  Panizza  schon  damals, 
also  vor  Gudden  durch  Exstirpation  eines  Auges  neugeborener,  bezw. 
ganz  junger  Thiere  nicht  nur  die  primären  Opticuscentren,  sondern  auch 


1)  E.  Hitzig,  Historisches,  Kritisches  etc.   Diese  Untersuchungen  S.oTff. 

2)  H.  Munk,  Gesammelte  Mittheilungen  1890.   S.  20  und  214. 


—     279     — 

das  contralaterale  Occipitalhirn  nebst  dem  darüber  liegenden  Schädel- 
dach zur  Atrophie  brachte. 

Mir  war  von  diesen  Untersuchungen  nichts  bekannt  als  ich  im 
Jahre  1874  in  Verfolg  meiner  anderweitigen  localisatorischen  Unter- 
suchungen die  nachstehende  vorläufige  Mittheilung  veröffentlichte i)  : 

„Man  kann  durch  Abtragungen  im  Bereiche  des  Hinterlappens 
(Gyri  n.  o.  Fig.  3  meines  Buches  „Untersuchungen    über    das  Gehirn") 


Fig.  94. 


Blindheit  des  gegenüberliegenden  Auges  und  paralytische  Dilatation  der 
entsprechenden  Pupille  hervorbringen.  Die  Erscheinungen  der  halbseiti- 
gen Blindheit  sind  so  charakteristisch,  dass  ein  Irrthum  darüber  unmög- 
lich ist.  Andererseits  entstehen  bei  dieser  Methode  leicht  Nebenver- 
letzungen, deren  Einfluss  ich  noch  nicht  hinreichend  habe  feststellen 
können.  Jedoch  wird  die  Annahme,  dass  es  sich  hierbei  um  die  Gross- 
hirnhemisphäre selbst  handelt,  durch  die  Beobachtung  unterstützt,  dass 
Reizung  der  gleichen  Stelle  eine  starke  anhaltende  Verengerung  der 
Pupille  nach  sich  zieht." 

In  den  nächsten  Jahren  bin  ich  dann  auf  Grund  fortgesetzter  ana- 
loger Versuche  noch  einige  Male  auf  die  Sache  zurückgekommen.  In 
einer  Arbeit  aus  dem  Jahre  18762)  sagte  ich:  „Um  nun  dem  Leser 
einen  Begriff  von  der  verschiedenen  Wirkung  verschieden 
localisirter  Eingriffe  zu  geben,  führe  ich  folgenden  Doppel- 
versuch an. 

In    den   ersten  Tagen    des   Mai  1876    wurde   einem   kleinen 


1)  E.  Hitzig,  Centralblatt  für  die   med.  Wissenschaften  1874.     No.  35. 

2)  E.  Hitzig,  Ueber  die  Einwände  des  Herrn  Prof.  Goltz.   Reichert's 
und  du  Bois-Reymond's  Archiv.   1876.   S.  696,  697  und  702. 


—     280     — 

Pinscher  der  Schädel  links  über  dem  Gyrus  sigmoides  mit 
einer  Trephine  von  14  mm  Durchmesser  eröffnet  und  eine 
annähernd  der  Oeffnung  entsprechende  Menge  Hirnsubstanz 
auf  ca.  4  mm  Tiefe  entfernt.  Demselben  Hunde  wurde  sodann  am 
19.  September  1876  2  Ki'onen  von  11  mm  mit  einer  stehenbleibenden 
intermediären  Knochenbrücke  über  Hinter-  und  Schläfenlappen  rechter- 
seits  aufgesetzt  und  sowohl  die  freiliegende  Substanz  als  die  unter  der 
Brücke  liegenden  Partieen  auf  4  mm  Tiefe   gänzlich  entfernt. 

In  Folge  der  rechtsseitigen  Operation  wurde  der  Hund  auf  dem 
linken  Auge  blind,  zeigte  aber  keinerlei  Störungen  des  Muskelbewusst- 
seins  etc.  —  —  — 

Hunde,  die  in  Folge  einer  grossen  Läsion  des  Hinterhauptlappens 
blind  geworden  sind,  verhalten  sich  ganz  anders  (als  vorn  operirte). 
Sie  stossen  mit  der  Schnauze  anstatt  mit  der  Pfote  an  diejenigen  Dinge 
an,  welche  sie  nicht  sehen,  und  treten  nicht  in's  Leere,  sondern  orien- 
tiren  sich  mit  dem  gesunden  Auge." 

Und  ferner  1):  „Ich  hatte  in  dieser  Gesellschaft  bereits  im  vorigen 
Winter  das  charakteristische  Benehmen  von  Hunden  geschildert,  die 
nach  grossen  Verletzungen  des  Hinterhirns  auf  dem  gegenüberliegenden 
Auge  erblindet  waren"  etc.  Ich  kam  dann  nochmals  auf  den  eben  ge- 
schilderten Hund   zurück. 

Munk  hat  nun  diese  meine  Angaben  der  folgenden  wohlwollenden 
Kritik  unterzogen.  In  seiner  ersten  Mittheilung  erwähnt  er  nur  meine 
vorläufige  Mittheilung  aus  dem  Jahre  1874,  obwohl  sich  meine  in  zweiter 
Linie  erwähnte  Arbeit  damals  in  seinen  Händen  befand.  Als  er  dann 
im  Jahre  1880  die  erste  Auflage  seiner  gesammelten  Mittheilungen  ver- 
öffentlichte, überging  er  in  der  Einleitung,  in  der  die  Sachlage,  welche 
er  bei  seinem  Herantritt  an  diese  Untersuchungen  vorfand,  geschildert 
werden  sollte,  gleichfalls  jene  beiden  späteren  Arbeiten  vou  mir  mit 
Stillschweigen.  So  gelang  es  ihm  dann  zu  sagen  „da  aber  hier  die 
Nebenverletzungen  sogar  das  noch  in  Frage  stellten,  ob  es  sich  um  die 
Grosshirnhemisphäre  selbst  bei  der  Blindheit  handelte,  so  war  ein 
sicherer  Nachweis,  wie  er  zu  erstreben  war,  dass  die  Exstirpation  einer 
bestimmten  und  zwar  nicht  motorischen  Rindenpartie  Blindheit  zur 
Folge  hat,  natürlich  nicht  erzielt.  Und  noch  mehr  an  Werth  verringert 
war  die  Mittheilung  dadurch,  dass  einige  Monate  später  Hitzig  selber 
weiter  angegeben  hatte,  dass  grössere  Verletzungen  des  Hinterhirns  die- 


1)  E.  Hitzig,  üeber  den  heutigen  Stand  der  Frage  über  die  Localisa- 
tion  im  Grosshirn.  Vortrag  gehalten  am  9.  December  1876.  Volkmann 's 
Sammlung  klinischer  Vorträge. 


—     281     — 

selbe  Störung  —  den  von  ihm  sogenannten  „Defect  der  Willensenergie", 
d.  h.  einen  Mangel  des  Widerstandes  gegen  passive  Bewegungen  der 
Extremitäten  • —  nach  sich  zögen,  wie  gewisse  Verletzungen  des  Vorder- 
hirns." Gleichzeitig  bringt  er  aber  in  einer  Anmerkung  versteckt  (a.  a.  0. 
S.  13)  „der  Vollständigkeit  wegen"  noch  das,  was  ich  in  der  zweiten  jener 
oben  erwähnten  Arbeiten  gesagt  hatte,  aber  mit  Fortlassung  des  vorstehend 
gesperrt  gedruckten  Satzes.  Wenn  Munk  dies  in  dem  Text  seiner  Ein- 
leitung gesagt  hätte,  wie  er  dies  bei  loyaler  Würdigung  des  Sachver- 
haltes hätte  thun  müssen,  so  wäre  ihm  freilich  die  beabsichtigte  Herab- 
setzung des  Werthes  meiner  eigenen  früheren  Angaben  weniger  leicht 
geworden. 

Nachdem  Munk^)  dann  später  von  Goltz  der  literarischen  Berau- 
bung angeschuldigt  w'orden  war,  hat  er  in  einer  langen  Anmerkung  zu 
seiner  12.  Mittheilung  aus  dem  Jahre  1883  unter  Benutzung  seiner 
früheren  Argumentation  das  Maass  damit  voll  gemacht,  dass  er  sagte, 
„so  kann  wohl  höchstens  von  ersten  Wahrnehmungen  Seitens  Hitzig 
die  Rede  sein."  Darauf  lässt  er  dann  das  Citat  aus  der  Volkmann- 
schen  Sammlung,  das  ihm  bereits  im  Jahre  1877  bekannt  war,  dass  er 
im  Jahre  1880  aber  nicht  benutzt  hat,  folgen. 

Die  ausgesprochene  Absicht  des  Herrn  Munk  bei  diesem  Verfahren 
ging  dahin,  den  Leser  in  den  Glauben  zu  versetzen,  dass  Niemand  vor 
ihm  in  zielbewusster  und  erfolgreicher  Weise  das  Entstehen  von  Seh- 
störungen beim  Hunde  auf  den  Hinterhauptslappen  localisirt  hätte. 
Inwieweit  er  damit  im  Rechte  war,  mag  der  Leser  entscheiden.  Ich 
habe  zur  Erleichterung  des  Verständnisses  nur  noch  Folgendes  hinzu- 
zufügen. Ich  habe  nicht,  wie  Munk  glauben  machen  will,  gesagt,  dass 
ich  bei  jenen  ersten  Versuchen  Nebenverletzungen  angerichtet  hätte, 
sondern  ich  hatte  gesagt,  dass  leicht  Nebenverletzungen  entstehen,  deren 
Einfluss  ich  noch  nicht  hinreichend  habe  feststellen  können.  Zu  jener 
Zeit  operirten  wir  alle  nicht  aseptisch,  es  kam  also  zu  Eiterungen.  Da 
nun  der  Hinterhauptslappen  in  der  Nähe  der  primären  Opticuscentren 
liegt  und  ich  grosse  eiternde  Hirnwunden  mit  grossem  Prolaps  erhielt, 
erschien  es  mir  damals  vorsichtig,  mich  nicht  allzu  bestimmt  auszu- 
sprechen. Indessen  geht  doch  aus  den  beiden  nachfolgenden  Arbeiten 
für  den,  der  sehen  will,  mit  Sicherheit  hervor,  dass  ich  die  Frage  syste- 
matisch verfolgt,  meine  früheren  Bedenken  überwunden  und  die  corti- 
cale  Sehstörung  derart  auf  den  Hinterhauptslappen  localisirt  hatte,  dass 
in   der  That  im  Gegensatz    zu    der  Behauptung    des  Herrn  Munk  „ein 


1)  H.  Munk  a.  a.  0.   8.  214. 


—     282     — 

sicherei"  Nachweis,    dass   die  Exstirpation    einer    bestimmten    und    zwar 
nicht  motorischen  Rindenpartie  Blindheit    zur  Folge  hat,    erzielt    war." 

Was  Munk  mit  dem  Ausdruck  „erste  Wahrnehmungen"  hat  sagen 
wollen,  hat  er  seiner  Gewohnheit  gemäss  im  Dunkeln  gelassen;  nach 
dem  Zusammenhang  und  dem  Sprachgebrauch  würde  das  etwa  soviel, 
als  „gelegentliche,  ohne  besondere  Absicht  gemachte  Beobachtungen" 
zu  bedeuten  haben.  Der  Leser  wird  sich  aus  dem  Vorstehenden  ja 
leicht  ein  ungefähres  Bild  von  dem  machen  können,  was  au  dieser  Dar- 
stellung wahr  ist.  Thatsächlich  lag  die  Sache  so,  dass  ich,  wie  ich  in 
den  einleitenden  Worten  zu  der  gegen  Goltz  gerichteten  Abhandlung 
andeutete,  durch  die  Uebernahme  einer  mir  neuen  arbeits-  und  verant- 
wortungsreichen Stellung  au  einer  umfassenden  Bearbeitung  des  Mate- 
rials A^erhindert  war  und  mich  deshalb  mit  den  vorstehend  wiedergege- 
benen kurzen  Bemerkungen  begnügte.  Goltz  hatte  inzwischen  die  Frage 
der  Art  der  Sehstörung  so  eingehend  studirt,  dass  dieser  Seite  ohne 
eine  mir  damals  unmögliche  grosse  Experimentaluntersuchung  nichts 
weiter  abgewonnen  werden  konnte,  während  die  Frage  nach  dem  Ort, 
der  Localisation  des  Symptoms,  durch  meine  Bemerkungen  soweit  er- 
ledigt schien,  dass  darüber  zunächst  nichts  weiter  zu  sagen  war. 

Ganz  irrelevant  ist  aber,  was  Munk  sonst  noch  zur  Herabsetzung 
des  Werthes  meiner  Mittheilungen  ins  Feld  führt.  Vornehmlich  ist  bei 
mir  niemals  davon  die  Rede  gewesen,  den  Occipitallappen  in  nähere 
Beziehung  zur  Motilität  zu  bringen.  Ich  hatte  damals  beobachtet,  dass 
der  von  mir  sogenannte  „Defect  der  Willensenergie"  sowohl  nach  grossen 
Verletzungen  des  Hinterhirns  als  nach  Verletzungen  der  von  mir  als 
gleichfalls  nicht  motorisch  bezeichneten  Spitze  des  Vorderhirns  einträte. 
Und  ich  hatte  diese  Beobachtungen  andeutungsweise  in  Beziehung  zu 
der  von  mir  seitdem  als  irrthümlich  erkannten  Vorstellung  gebracht, 
dass  die  Zerstörung  nicht  motorischer  oder  reiner  Sinnesflächen  einen 
indirecten  Einfluss  auf  die  Energie  der  Bewegungen  haben  könne,  ähn- 
lich wie  die  Entstehung  normaler  Bewegungen  aus  der  Thätigkeit  jener 
Sinnesfelder  herzuleiten  sei.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  das  etwas 
absolut  anderes  ist,  als  das,  was  ich  selbst  oder  Munk  jemals  unter 
der  Function  einer  motorischen  „Rindenpartie"  verstanden  haben. 

Munk  hat  sich  hier  mir  gegenüber  sehr  ähnlich  benommen,  wie 
bei  der  Umtaufe  meiner  „motorischen  Region"  in  seine  „Fühlsphäre". 
Ich  meine,  ein  natürliches  Gefühl  hätte  ihn  davon  abhalten  sollen  mit 
denjenigen  Arbeiten,  die  ihm  den  Weg  gewiesen  haben,  auf  dem  er 
sich  einen  Namen  gemacht  hat,  so  wie  geschildert,  zu  verfahren.  — 

Ich  habe  die  Lehren  Munk's  bereits    früher i)  in  Umrissen  darge- 

1)  E.  Hitzig,  Historisches,  Kritisches  etc.    Diese  Untersuchungen  S.37ff. 


—     283     — 

legt.  Es  bleibt  mir  hier  nur  noch  übrig  auf  seine  Theorie  von  der 
Projection  der  Retina  auf  die  Hemisphäre  näher  einzugehen,  da 
diese  Theorie  in  den  nachstehenden  Untersuchungen  einer  experimen- 
tellen Prüfung  unterzogen  werden  wird.  Ich  werde  mich  dazu  soweit 
als  möglich  der  eigenen   Worte  M unk 's  bedienen. 

a)  „Die  mit  den  Opticusfasern  verbundenen  centralen  Rindenele- 
mente, in  welchen  die  Gesichtswahrnehmung  statthat,  sind  regelmässig 
und  continuirlich  angeordnet  wie  die  specifischen  Elemente  der  Opticus- 
fasern in  den  Retinae  derart,  dass  benachbarten  Rindenelementen  immer 
benachbarte  Retinaelemente  entsprechen.  Nur  ist  nicht  die  einzelne 
Retina  zur  einzelnen  Sehsphäre  in  Beziehung  gesetzt.  Vielmehr  ist  jede 
Retina  mit  ihrer  äussersten  lateralen  Partie  zugeordnet  dem  äussersten 
lateralen  Stücke  der  gleichseitigen  Sehsphäre.  Der  viel  grössere  übrige 
Theil  jeder  Retina  aber  gehört  dem  viel  grösseren  übrigen  Theile  der 
gegenseitigen  Sehsphäre  zu,  und  zwar  so,  dass  man  sich  die  Retina 
derart  auf  die  Sehsphäre  projizirt  denken  kann,  dass  der  laterale  Rand 
des  Retinarestes  dem  lateralen  Rande  des  Sehsphärenrestes,  der  innere 
Rand  der  Retina  dem  medialen  Rande  der  Sehsphäre,  der  obere  Rand 
der  Retina  dem  vorderen  Rande  der  Sehsphäre,  endlich  der  untere  Rand. 

der  Retina  dem  hinteren  Rande  der  Sehsphäre  entspricht. „Ist 

ein  Theil  der  Sehsphären  entfernt so  kommt  es  von  den  speci- 
fischen Endelementen  des  correspondirenden  Theiles  der  Retina  aus  nicht 
mehr  zur  Lichtempfindung,  zur  Gesichtswahrnehmung;  für  den  Theil 
der  Retina,  dessen  Endelemente  mit  den  centralen  Rindenelementen  des 
vernichteten  Theiles  der  Sehsphäre  verknüpft  waren,  besteht  Rinden- 
blindheit für  alle  Folge."    (a.  a.  0.  S.  87,  88.) 

Während  Munk  so  im  Allgemeinen  über  die  Beziehungen  der  ein- 
zelnen Abschnitte  der  Sehsphäre  zu  den  einzelnen  Abschnitten  der  Re- 
tina verfügt,  vermag  er  ganz  Genaues  über  diese  örtlichen  Beziehungen 
zwar  nicht  auszusagen,  b)  „Doch  kann  er  Folgendes  mit  voller  Sicher- 
heit hinstellen.  Wie  es  mir  schon  früher  aufgefallen  war,  so  hat  es 
sich  jetzt  durch  die  zahlreichen  weiteren  Beobachtungen  nur  bestätigt, 
dass  die  äusserste  laterale  Retinapartie,  welche  der  gleichseitigen  Seh- 
sphäre zugehört,  ■ —  —  —  nie,  auch  in  den  günstigsten  Fällen  nicht, 
mehr  als  ein  Viertel  der  Retina,  immer  auf  dem  horizontalen  Meridiane 
gemessen,  ausmacht.  Diese  Retinapartie  wird  regelmässig  rindenblind, 
wenn  man  von  der  an  der  Convexität  gelegenen  Partie  der  Sehsphäre 
das  äusserste  laterale  Drittel  abträgt;  es  darf  die  mediale  Grenze  de 
Exstirpationsfläche  mehrere  mm  entfernt  bleiben  von  der  Furche,  welch 
den  Gyrus  supersylvius  R.  Owen  ungefähr  hälftet."    (a.  a.  0.  S.  89.) 


—     284     — 

Was  Munk  mit  den  Worten  „es  darf"  sagen  will,  ist  nicht  klar 
ersichtlich.  Jedenfalls  wird  man  anzunehmen  haben,  dass  die  gleich- 
seitig innervirte  Partie  der  Retina  nicht  vollständig  rindenblind  wird, 
wenn  die  Exstirpationsfläche  mehr  als  einige  mm  von  der  vorgenannten 
Furche  zurückbleibt  und  wenn  man  die  Abbildung  Munk 's  mit  den 
eben  citirten  Angaben  vergleicht,  so  muss  man  annehmen,  dass  die 
Stelle  des  deutlichen  Sehens  des  gegenüberliegenden  Auges  allemal 
dann  geschädigt  wird,  wenn  man  um  weniger  als  einige  mm  von  dieser 
Furche  zurückbleibt,  mit  .anderen  Worten,  die  mediale  Grenze  des 
dem  gleichseitigen  Auge  zugehörigen  Rindenabschnittes  wird  durch 
eine  sagittale  Linie  gebildet,  welche  die  laterale  Grenze  der  Stelle  Ai 
schneidet. 

c)  „Hinwiederum  wird  regelmässig  Rindenblindheit  der  ganzen  me- 
dialen Hälfte  der  Retina  herbeigeführt,  wenn  man  die  mediale  Partie 
der  Sehsphäre  soweit  fortnimmt,  dass  die  laterale  Grenze  der  Exstir- 
pationsfläche auf  wenige  mm  der  Furche  nahe  kommt,  welche  den  Gyrus 
medialis  vom  Gyrus  supersylvius  trennt."    (a.  a.  0.  S.  89.) 

Vergleicht  man  mit  dieser  Angabe  die  eben  angeführte  Tafel 
Munk'S;  so  ergiebt  sich,  dass  die  laterale  Grenze  desjenigen  Abschnittes 
der  Sehsphäre,  welcher  der  medialen  Partie  der  Retina  entspricht,  mit 
der  medialen  Grenze  der  Stelle  A^  abschneidet. 

Vergleichen  wir  hiermit  das  auf  S.  70 ff.  Gesagte,  so  ergiebt  sich 
Folgendes:  Hier  schildert  Munk  zuerst  einen  Hund,  dem  er  „die  innere 
oder  mediale  Hälfte  der  Sehsphäre  exstirpirt"  und  dann  einen  anderen 
Hund,  dem  er  „nicht  die  ganze  innere  oder  mediale  Hälfte  der  Seh- 
sphäre, sondern  bloss  etwa  ihr  innerstes  Drittel  —  noch  nicht  der  ganze 
in  den  Gyrus  medialis  fallende  Theil  der  Sehsphäre"  —  exstirpirt  hat. 
Aus  dieser  Angabe  ist  nun  zunächst  zu  ersehen,  dass  Munk  das  mediale 
Drittel  der  Sehsphäre  entsprechend  dem  Citat  auf  S.  89  (c)  bis  zum 
medialen  Rande  der  Stelle  A^  und  demnach  die  mediale  Hälfte  der 
Sehsphäre  bis  etwa  in  die  Mitte  des  supersylvischen  Gyrus,  d.  h.  bis 
in  die  Mitte  der  Stelle  A^  reichend,  rechnet. 

Mit  Bezug  auf  die  letztere  Exstirpation  heisst  es  ferner:  d)  „Bei 
der  genauen  Prüfung  mittels  vorgehaltenen  oder  vorgelegten  Fleisches 
habe  ich  mich  hier  wiederholt  deutlich  zu  überzeugen  vermocht,  dass 
die  rindenblinde  mediale  Partie  der  Retina  nicht  bis  zur  Mitte  der  Re- 
tina sich  erstreckte."    (a.  a.  0.  S.  70,  71.) 

e)  „Hat  die  Exstirpation  nicht  die  ganze  äussere  oder  laterale 
Hälfte,  sondern  etw\a  nur  das  äusserste  Drittel  der  linken  Sehsphäre 
betroffen,    so  ist  die  äusserste  laterale  Partie  der  linken  Retina  ebenso, 


—     285     — 

wie  vorbin,  rindenbliiid,  dagegen  ist  am  rechten  Auge  nunmehr  gar 
keine  Abnormität  zu  constatiren.  Es  ist  also  die  äusserste  laterale 
Partie  der  Retina  gerade  der  äiissersten  lateralen  Partie  der  gleichsei- 
tigen Sehsphäre  zugeordnet,  und  das  an  jene  äusserste  Partie  nach 
innen  anstossende  Stück  der  lateralen  Retinahälfte  gehört  dem  an  die 
äusserste  Partie  nach  innen  angrenzenden  Stücke  der  gegenseitigen  Seh- 
sphäre zu."    (a.  a.  0.  S.  71,  72.) 

f)  „Die  Hunde,  welchen  die  vordere  Hälfte  der  linken  Sehsphäre 
exstirpirt  ist,  sehen  keinen  Gegenstand  oder  verlieren  den  Gegenstand 
aus  dem  Gesichte,  sobald  sein  Bild  auf  die  obere  Hälfte  der  rechten 
Retina  mit  Ausschluss  ihrer  äussersten  lateralen  Partie  oder  auf  die 
obere  Hälfte  der  äussersten  lateralen  Partie  der  linken  Retina  fällt,  sie 
sind  rindenblind  für  diese  oberen  Retinaabschnitte:  den  anderen  Hun- 
den, an  welchen  die  hintere  Hälfte  der  linken  Sehsphäre  zerstört  ist, 
geht  es  ebenso  mit  den  entsprechenden  unteren  Retinaabschnitten,  — 
nur  von  dem  Verhalten  der  äussersten  lateralen  Partie  der  linken 
Retina  habe  ich  mich  hier  noch  nicht  sicher  überzeugen  können." 
(a.  a.  0.  S.  72.) 

Aus  dem  letzten  Citat  geht  hervor,  dass  auch  die  vordere  Hälfte 
des  lateralen  Drittels  der  Sehsphäre  der  oberen  Hälfte  und  die  hintere 
Hälfte  dieses  Abschnittes  der  unteren  Hälfte  des  lateralen  Retinaab- 
schnittes zugeordnet  sein  soll. 

Schon  in  diesen  Angaben  Munk's  finden  sich  soviel  Widersprüche, 
dass  es  ganz  unmöglich  ist  sich  zurecht  zu  finden  und  nach  den  ge- 
gebenen Vorschriften  linear  abgegrenzte  Operationen  vorzunehmen,  selbst 
wenn  dies  nicht  aus  anderen,  später  zu  erörternden  Gründen  zur  Un- 
möglichkeit gemacht  würde. 

Nach  Citat  c  wird  regelmässig  Rindenblindheit  der  ganzen  me- 
dialen Hälfte  der  Retina  herbeigeführt,  wenn  die  Exstirpation  den 
Gyrus  medialis  bis  zur  medialen  Grenze  der  Stelle  A^  entfernt  hat.  Im 
Widerspruch  damit  heisst  es  d  rücksichtlich  der  gleichen  Operation, 
dass  Munk  sich  wiederholt  deutlich  zu  überzeugen  vermocht  hat,  „dass 
die  rindenblinde  mediale  Partie  der  Retina  nicht  bis  zur  Mitte  der 
Retina  sich  erstreckte."  Dies  ist  der  erste  Widerspruch.  Wenn  aber 
zur  Herbeiführung  völliger  Rindenblindheit  der  medialen  Hälfte  der 
Retina  die  gänzliche  Exstirpation  der  medialen  Hälfte  der  Sehsphäre 
nothwendig  ist,  so  muss  dieser  Exstirpation  auch  die  mediale  Hälfte 
der  Stelle  A^  zum  Opfer  fallen.  Nun  correspondirt  diese  Stelle  nach 
Munk  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens,  welche  an  der  äusseren  late- 
ralen Hälfte  der  Retina    oder    genauer  in   deren  oberen  äusseren  Qua- 


—     286     — 

dranten  gelegen  ist.i)  Wäre  also  das  Eine  oder  Andere  richtig,  so 
müsste  der  Hund,  dem  die  ganze  mediale  Hälfte  der  Selispliäre  genom- 
men war.  mindestens  noch  auf  einem  guten  Stück  innerhalb  des  äusseren 
oberen  Quadranten  der  Retina  dauernd  rindenblind  sein,  was  aber  wie- 
derum nach  den  Angaben   M  unk 's  nicht  der  Fall  sein  soll. 

Genau  das  Gleiche  gilt  von  den  übrigen  von  Munk  wie  vorstehend 
geschilderten  Operationen.  Er  hat  seine  Stelle  Ai  annähernd  genau  in 
den  Mittelpunkt  seiner  Sehsphäre  placirt.  Es  trifft  sich  daher  so,  dass 
er  stets  und  unter  allen  Umständen  mindestens  die  Hälfte  oder  nahezu 
die  Hälfte  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens  ausschalten  muss,  mag  er 
nun,  wie  eben  erwähnt,  die  mediale  Hälfte  oder  die  laterale,  die  vor- 
dere oder  die  hintere  Hälfte  der  Sehsphäre  herausgeschnitten  haben; 
mit  anderen  Worten  bei  jeder  dieser  Operationen  müsste  ein  grösseres 
oder  kleineres  Stück  des  unteren  inneren  Quadranten  des  Gesichtsfeldes 
immer  ungefähr  entsprechend  einer  Hälfte  der  Stelle  des  deutlichen 
Sehens  rindenblind  sein.  Dies  widerspricht  aber  gleichfalls  den  eigenen 
Angaben  Munk's  in  jeder  Beziehung.  Noch  ein  Anderes  ist  dabei  zu 
berücksichtigen.  Liest  man  die  Schilderungen  Munk's  von  den  an 
der  Sehsphäre  auszuführenden  haarscharf  begrenzten  Operationen  und 
den  darauf  folgenden  haarscharf  begrenzten  Scotomen,  so  müsste  man 
glauben,  es  operire  sich  am  Grosshirn  ungefähr  wie  an  einem  Stück 
Schweizerkäse,  aus  dem  sich  mit  scharfem  Messer  ein  beliebiges  Stück 
ohne  weitere  Folgen  für  die  Wandungen  der  Lücke  herausschneiden 
lässt.  Thatsächlich  trifl't  dies  aber  nicht  zu,  sondern  die  Wandungen 
der  Hirnwunde  drängen  sich  in  die  gesetzte  Lücke  vor  und  gehen,  wie 
ich  wiederholt  hervoi'gehoben  habe,  theils  hierdurch,  theils  in  Folge 
der  durch  den  Eingriff  direct  gesetzten  Circulationsstörungen  zu  Grunde. 
Wenn  also  ein  frontaler  oder  sagittaler  Schnitt  durch  die  Mitte  der 
Stelle  Ai  gelegt  und  dann  die  Hälfte  der  „Sehsphäre"  abgetragen  wird, 
so  dürfte  von  der  anderen  Hälfte  der  Stelle  A^  wohl  noch  ein  erheb- 
liches Stück  zu  Grunde  gehen.  Unter  allen  Umständen  müssten  also 
bei  jeder  dieser  Operationen  die  erheblichsten  dauernden  Sehstörungen, 
hochgradige  Rindenblindheit  im  unteren  nasalen  Quadranten  des  Ge- 
sichtsfeldes zurückbleiben. 

Ausserdem  pflegen  sich,  wie  ich  früher  bereits  nachgewiesen  hatte, 
und  wie  ich  nachstehend  noch  ausführlicher  erörtern  werde,  einfache 
oder  mit  Blutextravasaten  durchsetzte  Erweichungsherde  sogar  von  ganz 
oberflächlichen  Hirnabtraglmgen    aus    weit    in    die  Tiefe    zu  erstrecken. 


1)  Yergl.  z.  B.  H.  Munk  a.  a.  0.  S.  26,  79  und  309. 


—     287     — 

Werden  solche  oder  gar  grössere  Eingriffe  am  Occipitallappeii  vorge- 
nommen, so  ist  es  mivernieidlich,  dass  dabei  die  Sehstrahlung  in  grösse- 
rem oder  geringerem  Umfange  unterbrochen  wird. 

Aus  denselben  Gründen  ist  es  mir  vollständig  unfassbar,  auf  welche 
Weise  Munk  die  Grenzen  seiner  Stelle  A^  festgestellt  hat;  er  selbst  ist 
jede  Erklärung  des  von  ihm  dazu  angewendeten  Verfahrens  schuldig 
geblieben,  so  dass  ich  schon  aus  diesem  Grunde  so  lange  verhindert 
wäre  an  die  Existenz  einer  solchen  so  begrenzten  und  mit  den  von 
Munk  ihr  zugeschriebenen  Eigenschaften  ausgestatteten  Stelle  zu  glau- 
ben, bis  er  uns  nicht  gesagt  hätte,  auf  welche  Weise  er  solche  Grenzen 
mit  dem  Messer  zu  ziehen  vermag. 

Für  das  Verständniss  der  recht  complicirten  Lehre  von  der  Pro- 
jection  und  für  die  Erleichterung  der  Nachprüfung  ihrer  experimentellen 
Begründung,  vor  allem  aber  zur  Vermeidung  der  vorher  gerügten  Wider- 
sprüche oder  Unklarheiten  wäre  es  sicherlich  von  Vortheil  gewesen, 
wenn  Munk  selbst  schematische  Abbildungen  von  den  optischen  Folgen 
entworfen  hätte,  welche  localisirte  Partialexstirpationen  der  Sehregion 
seiner  Ansicht  nach  nach  sich  ziehen.  Da  ich  im  Nachstehenden  eine 
Vergleichung  der  wirklichen  mit  den  nach  Munk's  Behauptung  in  Folge 
solcher  Eingriffe  angeblich  auftretenden  Sehstörungen  vorzunehmen  be- 
absichtige, so  muss  ich  zuvörderst  diese  von  Munk  gelassene  Lücke 
ausfüllen.  Zu  diesem  Endzwecke  folgt  hier  eine  Anzahl  von  Abbil- 
dungen, die  Herr  Dr.  Kai  her  Iah  auf  meine  Veranlassung  entworfen 
hat,  aus  denen  man  in  einfacher  Weise  feine  Vorstellung  von  denjenigen 
Scotomen  gewinnen  kann,  die  zu  Folge  der  Munk 'sehen  Lehre  nach 
Partialexstirpationen  im  Gesichtsfelde  auftreten  müssten.  Da  hierbei  mit 
den  vorerwähnten  Widersprüchen  nicht  fertig  zu  werden  war,  su  ist 
von  der  Berücksichtigung  der  durch  die  Mitverletzung  der  Stelle  A^ 
theoretisch  entstehenden  Scotome  Abstand  genommen  worden. 


rechts 


—     288 
links 


rechts 


links 


rechts 


1 

1 

f 

Fig.  95.  Die  quadratischen  Zeichnungen  stellen  die  auf  eine  Ebene  pro- 
jizirten  (es  sind  immer  die  linken  angenommen)  Sehsphären  mit  den  in  ihnen 
vorgenommenen  Ausschaltungen,  die  kreisrunden  die  beiden  Gesichtsfelder  mit 
den  angeblich  resultirenden  Scotomen  dar. 


—     289     — 

a)  Ausschallung  der  Stelle  A^^  b)  Ausschallung  des  lateralen  Drittels 
und  der  lateralen  Hälfte,  c)  Ausschaltung'  des  medialen  Drittels  und  der  me- 
dialen Hälfte,  d)  Ausschaltung  der  hinteren  (caudalen)  Hälfte,  e)  Ausschal- 
tung der  vorderen  (oralen)  Hälfte,  f)  Gesammtdarstellung  der  Projection  auf 
die  linke  Sehsphäre. 


Eine  systematische,  wenn  auch  nicht  vollständige  oder  erschöpfende 
Nachprüfung  der  Angaben  M unk 's  hat,  soviel  ich  weiss,  nur  Loeb^) 
unternommen.  Das  Material  dieses  Autors  habe  ich 2)  bereits  früher 
zusammengefasst  und  referirt.  Jedoch  bin  ich  dabei  auf  die  Partial- 
exstirpationen,  die  die  Prüfung  der  Projectionslehre  zum  Zweck  hatten, 
nicht  eingegangen,  um  hierauf  an  dieser  Stelle  zurückzukommen.  Da 
Loeb,  wie  ich  erinnere,  der  Ansicht  ist,  dass  man  jede  Stelle  der  Seli- 
sphäre  fortnehmen  könne,  ohne  dass  eine  Sehstörung  darauf  folgen 
müsse,  so  folgt  daraus  von  selbst,  dass  er  der  gesammten  Projections- 
lehre auch  nicht  den  leisesten  Schein  von  Berechtigung  zuerkennt  oder 
zuerkennen  kann. 

Nur  in  einem  Punkte  stimmt  er  mit  sämmtlichen  anderen  Autoren, 
also  auch  mit  Munk  überein,  nämlich  darin,  dass  der  laterale  Ab- 
schnitt jeder  Retina  in  Beziehung  zu  der  gleichnamigen 
Hemisphäre  stehe.  Dagegen  bestreitet  er  die  Angabe  Munk's 
von  der  Projection  dieses  Abschnittes  der  Retina  auf  das 
laterale  Drittel  der  Sehsphäre.  Er  stützt  sich  dabei  1.  auf  einen 
Hund,  dem  er  die  laterale  Partie  der  Sehsphäre  nebst  ihrer  nächsten 
Umgebung  mit  dem  Erfolge  weggenommen  hatte,  dass  ein  Theil  des 
medialen  Gesichtsfeldes  des  gleichnamigen  Auges  ausfiel.  Dem  gleichen 
Hunde  nahm  er  alsdann  in  einer  zweiten  Sitzung,  nachdem  sich  die 
fragliche  Sehstörung  wieder  verloren  hatte,  den  Rest  der  gleichen  Seh- 
sphäre an  ihrer  Convexität.  Es  hätte  nunmehr  keine  Sehstörung  auf 
dem  gleichnamigen  Auge  eintreten  dürfen;  thatsächlich  erschien  aber 
die  gleiche  Sehstörung  wie  nach  der  ersten  Operation,  und  zwar  mit 
der  gleichen  Begrenzung,  nur  war  sie  viel  ausgesprochener  und  glich 
sich  nicht  v;ieder  aus.  2.  Einem  Hunde,  dem  in  einer  früheren  Sitzung 
rechterseits  die  Stelle  A^  angeblich  ohne  nachfolgende  Sehstörung  fort- 
geuommen    worden    war,    wurde    in    einer    zweiten    Sitzung    gleichfalls 


1)  .J.  Loeb,    Die    Sehstörungen    nach    Verletzung   der    Grosshirnrinde. 
Pflüger's  Archiv  f.  d.  ges.  Physiologie  Bd.  XXXIV. 

2)  E.   Hitzig,   Historisches,   Kritisches  etc.       Diese    Untersuchungen. 
S.   32  ff, 

Hitzig,  Gesammelte  AbhaiidJ.     II.  Tlieil.  19 


—     290     — 

rechterseits  die  laterale  Partie  der  Sehsphäre  entfernt.  Der  Erfolg  war 
eine  laterale  Hemiamblyopie  des  gegenseitigen  Auges. 

Diese  beiden  Versuche  sind  nicht  gleichsinnig  und  nicht  gleich- 
werthig.  Wenn  die  bei  der  ersten  Sitzung  des  ersten  Versuches  ausgeschal- 
tete Region  so  genau  geschildert  wäre,  dass  man  daraus  mit  Sicherheit 
entnehmen  könnte,  dass  wirklich  das  ganze  laterale  Drittel  der  Sehspliäre 
entfernt  worden  war,  so  würde  das  Resultat  der  zweiten  Sitzung  aller- 
dings im  Sinne  des  Autors  beweisen,  dass  nicht  nur  das  laterale  Drittel, 
sondern  die  ganze  Sehsphäre  oder  jedenfalls  doch  noch  ein  anderer 
Theil  derselben  in  Beziehung  zu  der  gleichnamigen  Retina  stehe.  Es 
würde  aber  noch  etwas  mehr  beweisen  als  Loeb  beabsichtigte,  nämlich 
dass  die  dauernde  Blindheit  des  lateralen  Netzhautabschnittes,  eben  weil 
sie  dauernd  war.  nicht  von  einer  vorübergehenden  Reizung  subcorticaler 
Centren  abhängen  konnte. 

Der  zweite  Versuch,  dem  dieselben  Mängel  der  Beschreibung  an- 
haften, wie  dem  ersten,  trägt  zur  weiteren  Aufklärung  der  Sache  des- 
halb nichts  bei,  weil  man  aus  der  Beschreibung  durchaus  nicht  die 
Ueberzeugung  zu  schöpfen  vermag,  dass  nicht  in  der  zweiten  Sitzung 
noch  andere  Theile  des  bei  der  ersten  Sitzung  übrig  gelassenen  Restes 
der  Sehsphäre,  als  jenes  laterale  Drittel  geschädigt  worden  sind.  Ueber- 
dies  genügt  selbstverständlich  ein  einzelner  solcher  Versuch  zur  Entschei- 
dung solcher  grundsätzlichen  Frage  nicht. 

Zur  Feststellung  der  Beziehungen  der  Stelle  A^  zur  Re- 
tina hat  Loeb  eine  grössere  Anzahl  von  Versuchen  angestellt.  Von 
ihnen  übergehe  ich  zunächst  diejenigen,  welche  ohne  Sehstörung  ver- 
liefen. Ueber  die  anderen  Versuche,  bei  denen  nach  der  Angabe  des 
Autors,  aber  wieder  ohne  nähere  Beschreibung  nur  die  Stelle  A^  exstir- 
pirt  worden  war,  sagt  er  uns,  dass  es  nach  ihnen  den  Anschein  habe, 
als  ob,  wenn  überhaupt  eine  Sehstörung  aufträte,  diese  den  Charakter 
einer  lateralen  Hemiamblyopie  trage. 

Bei  einer  dritten  Gruppe  von  Fällen,  bei  denen  ausser  der  Stelle 
Ai  noch  die  ganze  Convexität  der  „Sehsphäre"  oder  doch  ein  grösserer 
Theil  derselben  zerstört  worden  war,  suchte  der  Verfasser  nachzuweisen, 
dass  immer,  gleichviel  welche  Ausdehnung  der  Hirndefect  hatte,  die 
Stelle  des  deutlichen  Sehens,  anstatt  rindenblind  zu  sein,  am  besten 
functionirte. 

Es  ist  zunächst  erforderlich  diese  Frage  zu  absolviren  und  zu  diesem 
Endzwecke  die  Mittheilungen,  welche  Loeb  zur  Begründung  dieses 
Satzes  von  dem  Verhalten  seiner  Versuchstbiere  macht,  insoweit  es  sich 
dabei  nicht  nur  um  allgemeine  Urtheile  handelt,  unter  einander  zu 
vergleichen. 


—     291     — 

El'  beschreibt  zuvörderst  das  Verhalten  eines  Hundes,  dem  er  rech- 
terscits  die  ganze  Convexität  der  Sehsphäre  zerstört  hatte.  Licss  or 
diesen  Hund  geradeaus  sehen  und  führte  dann  an  einem  Faden  ein 
Stück  Fleisch  vor  dem  linken  Auge  von  links  her  nach  der  Mittellinie 
zu,  so  „merkte  der  Hund  nichts,  bis  man  an  der  optischen  Axc  vorbei 
fast  au  die  Nase  gekommen  war.  Dann  sprang  das  Thier  nach  dem 
Fleisch  auf.  Führte  man  das  Fleisch  von  rechts  her  in  das  Gesichts- 
feld, so  richtete  der  Hund  sofort  den  Kopf  danach,  sobald  man  nur  in 
das  Gesichtsfeld  eingetreten  war.  Bei  diesen  Versuchen  Hess  es  sich 
auch  nachweisen,  dass  es  sich  um  einen  einzigen,  zusammenhängenden 
Gesichtsfelddefect  handelte." i)  Hier  hatte  die  laterale  Sehstörung  des 
gegenseitigen  Auges  also  nur  etwa  das  mediale  Viertel  des  Gesichts- 
feldes, in  keinem  Falle  also  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  freige- 
lassen. 

Ferner  erfahren  wir  über  den  gleichseitigen  Gesichtsfelddefect  fol- 
gendes: „Bei  einem  jener  Thiere,  von  denen  vorhin  die  Rede  war,  hatte 
ich  constatiren  können,  dass  nach  Wegnahme  der  Stelle  A,  nicht  nur  eine 
laterale  Hemiamblyopie  des  anderseitigen  Auges,  sondern  auch  eine 
Sehstörung  auf  dem  gleichseitigen  Auge  eintrat.  Nach  Munk  kann  die 
Sehstörung  auf  dem  gleichseitigen  Auge  nur  das  laterale  Viertel  der  Re- 
tina befallen.  Ich  fand  nun  in  der  That  bei  einem  meiner  Versuchsthiere 
auf  dem  gleichseitigen  Auge  eine  mediale  halbseitige  Störung,  die  nicht 
gerade  eine  Hemianopsie,  aber  wohl  eine  Hemiamblyopie  zu  nennen 
war  und  die  hinsichtlich  der  Ausdehnung  den  Angaben  Munk's  ent- 
sprach." ^^ 

Einem  anderen  Hunde  exstirpirte  er  linksseitig  die  „laterale  Partie 
der  Sehsphäre  mit  näherer  Umgebung."  Es  heisst  dann:  „Als  ich  ihm 
in  den  ersten  Tagen  nach  der  Operation  Fleisch  vor  sein  erhaltenes 
linkes  Auge  hielt  (das  rechte  fehlte  ihm),  bemerkte  er  es  überall,  so 
lange  ich  mit  dem  Fleische  bei  einem  Abstände  von  ca.  1/2  m  von  dem 
Auge  des  Thieres  die  Medianebene  nach  rechts  hin  nicht  überschritten 
hatte.  Wenn  ich  ein  Stück  Fleisch  ihm  in  dem  angegebenen  Abstände 
rechts  von  der  Medianlinie  vorhielt,  so  bemerkte  er  es  öfter  nicht.  Er 
fixirte  stets  normal.  .  Wenn  ich  Fleisch  langsam  und  gleichmässig  vor 
seinem  linken  Auge  vorbeiführte,  so  folgte  er  nach  links  hin  sehr  gut 
und  ohne  auch  nur  einen  Augenblick  das  Fleisch  aus  dem  Auge  zu 
lassen.     Bewegte    mau    dagegen    das  Fleisch    langsam  nach    rechts,    so 


1)  J.  Loeb,  Sehstörungen  nach  Verletzung  der  Grosshirnrinde.     Pflü- 
ger's  Archiv  für  die  ges.  Physiologie.   Bd.  34.    1884.  S.  26. 

2)  Ebenda.   8.  30, 

19* 


—     292     — 

folgte  der  Hund  in  den  meisten  Fällen  nur  bis  zu  dem  Pnnl^te,  wo  man 
bei  Priraärstellung  seines  Auges  etwas  über  die  Gesichtslinie  hinausging. 
Dann  stand  er  eine  Weile  betroffen,  streckte  den  Kopf  gerade  vor, 
schnupperte  lebhaft,  wandte  sich  auch  nach  links  hin,  liess  es  sich 
aber  nicht  einfallen,  nach  rechts  hin  sich  umzusehen. "i) 

Dem  gleichen  Hunde  exstirpirte  Loeb  nach  sechs  Wochen,  nach- 
dem die  geschilderte  Sehstörung  sich  ausgeglichen  hatte,  den  Rest  der 
linken  Sehsphäre  incl.  der  Stelle  A^.  Hierauf  erschien  die  gleiche 
Sehstörung  A'on  Neuem,  jedoch  viel  prägnanter  und  ohne  wieder 
zu  verschwinden.  Loeb  äussert  sich  hierüber  wie  folgt 2):  „Die  Stelle 
des  deutlichsten  Sehens  war  anscheinend  ganz  intact.  Der  Gesichts- 
felddefect  hatte  nach  der  zweiten  wie  nach  der  ersten  Operation  die 
gleiche  Grösse:  er  betraf  den  Theil,  der,  wie  Munk  angiebt,  vom  late- 
ralen Viertel  der  Retina  beherrscht  wird."  In  diesen  3  Versuchen  wird 
also,  und  zwar  ausdi'ücklich  entsprechend  den  Angaben  Munk's  das 
mediale  Viertel  des  Gesichsfeldes  in  Beziehung  zu  der  gleichseitigen 
Hemisphäre  gebracht,  woraus  mit  Nothwendigkeit  folgt,  dass  dessen 
laterale  drei  Viertel  mit  Einschluss  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens 
der  ungleichnamigen  Hemisphäre  zugehören  müssen,  was  denn  Loeb 
auch  selbst  mit  folgenden  Worten  zugesteht:  (Auf  dem  der  Operation 
gegenüberliegenden  Auge)  „beträgt  die  in  Folge  der  Hemiamblyopie 
vernachlässigte  Gesichtsfeldpartie  ca.  ^/^  des  ganzen  Gesichtsfeldes,  auf 
dem  anderen  Auge  nur  Vi-"^) 

„Wenn  man  einem  Hunde  eine  Hemisphäre  schwer  verletzt,  so 
kann  man  in  den  ersten  Tagen  nach  der  Operation  beobachten,  dass  das 
Thier  optische  Reize,  die  von  der  gekreuzten  Hälfte  seines  Gesichtsfeldes 
her  seine  Netzhäute  treffen,  vernachlässigt,  während  sein  Verhalten  den 
Reizen  gegenüber,  welche  aus  der  gleichseitigen  Gesichtsfeldhälfte  kom- 
men, völlig  normal  ist.  Zeigt  man  einem  solchen  links  operirten  Hunde 
ein  Fleischstück  in  der  linken  Gesichtsfeldhälfte,  so  geht  er  auf  das- 
selbe los.  Zeigt  man  es  ihm  rechts,  so  erfolgt  keine  Reaction.  Bewegt 
man  das  in  der  linken  Gesichtsfeldhälfte  vorgehaltene  Fleischstück 
nach  rechts,  so  folgt  er  ebenfalls,  aber  nur  so  lange,  als  das  Fleisch- 
stück links  von  der  „Medianebene"  bleibt.  Sobald  dieselbe  nach  rechts 
überschritten  ist,    folgt    das  Thier  mit  Auge  und  Kopf  nicht  weiter." "i) 


1)  Ebenda.   S.  31. 

2)  .J.  Loeb.  Ebenda.   S.  32. 

3)  Ebenda.   S.  96. 

4)  J.    Loeb,    Beiträge    zur    Physiologie    des    Grosshirns.      Pflüger's 
Arcliiv  für  Physiologie.   Bd.  39.   S.  272. 


—     293     — 

Da  Loeb  an  dieser  Stelle  unter  „Medianebene"  abweichend  von 
seiner  sonstigen  Aiisdrucksweise,  unzweifelhaft  die  Medianebene  des 
Auges  versteht,  so  folgt  daraus,  dass  er  bei  dieser  allgemeinen  l^eur- 
theilung  seiner  Versuchsergebnisse  die  dem  gleicliseitigeu  Auge  zuge- 
hörende  Gesichtsfeldpartie  erheblich  grösser,  als  bei  den  vorstehend 
angeführten  Versuchen  bewerthet,  nämlich  anstatt  auf  ein  Viertel  auf 
die  Hälfte  des  ganzen  Gesichtsfeldes. 

Pri^ifen  wir  also  die  Behauptung  Loeb 's,  dass  der  hemiamblyo- 
pische  Hund  mit  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens  immer  am  besten 
sehen  soll  nach  seinen  eigenen  Angaben. 

Wäre  derjenige  Tlieil  dieser  Angaben,  nach  denen  die  Reaction  auf 
Fleisch  bei  medialer  Amblyopie  medial  von  der  Medianebene  des  Auges 
und  bei  lateraler  Amblyopie  lateral  von  der  Medianlinie  des  Auges  auf- 
hören soll,  richtig,  so  wäre  damit  jene  Behauptung  in  das  Bereich  der 
Unmöglichkeit  verwiesen;  denn  gleichviel  wo  die  Stelle  des  deutlichen 
Sehens  auch  liegen  mag,  jedenfalls  muss  sie  entweder  in  der  medialen 
oder  in  der  lateralen  Hälfte  der  Retina  zu  suchen  sein.  Indessen  mag 
diese  Darstellung  Loeb 's  auf  einer,  freilich  gerade  bei  dieser  Art  von 
Untersuchungen  wenig  Vertrauen  erweckenden  Nachlässigkeit  der  Aus- 
drucksweise  beruhen. 

Sucht  man  seine  Meinung  aber  nach  den  anderen  vorstehend  an- 
geführten Stellen,  in  denen  er  Munk  ausdrücklich  zugesteht,  dass  die 
medialen  ^/^  der  Retina  von  der  contralateralen  Hemisphäre  und  das 
laterale  Viertel  von  der  gleichnamigen  Hemisphäre  innervirt  wird,  zu 
erforschen,  so  erscheint  jene  Behauptung  ebenso  unmöglich.  Denn, 
wenn  die  lateralen  ^/^  eines  Gesichtsfeldes  bei  einör  contralateralen 
Exstirpation  hemiamblyopisch  werden,  und  der  Hund  gleichwohl  mit 
der  Stelle  des  deutlichen  Sehens  am  besten  sieht,  so  müsste  sich  diese 
Stelle  im  äussersten  lateralen  Theile  der  Retina  befinden,  und  wenn 
das  mediale  Viertel  nach  einer  gleichseitigen  Exstirpation  amblyopisch 
wird  und  der  Hund  auch  dann  mit  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens 
am  besten  sieht,  so  könnte  sich  diese  Stelle  eben  nicht  in  dem  late- 
ralsten Viertel  der  Retina  befinden.  Sie  würde  sich  also  je  nach  den 
Bedürfnissen  des  Operateurs  einer  Wanderung  zu  unterziehen  haben. 

Thatsächlich  liegt  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  beim  Hunde 
abe]'  nach  einer  unwidersprochen  gebliebenen  Untersuchung  von  Gross- 
mann  und  Mayerhausen^)  auf    der    äusseren  Hälfte  der  Retina,   und 


1)  Grossmann  und  Mayerhausen,  Beitrag  zur  Lehre  vom  Gesichts- 
feld bei  Säugethieren.  v.  Gräfe' s  Archiv  für  Ophthalmol.  Bd.  23.  Abb.  3, 
1877.   S.  217. 


—     294     -^ 

zwar  in  deren  medialem  Viertel,  und  Munk,  der  sich  auf  diese  Unter- 
suchung stützt,  giebt  an,  dass  solche  Objecte,  welche  dem  Thiere  von 
vorn  und  etwas  von  der  Nasenseite  her  genähert  werden,  so  dass  ihr 
Bild  ungefähr  auf  der  Mitte  der  Retina  oder  besser  etwas  nach  aussen 
von  der  Mitte  entsteht,  auf  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  fallen. 
Wenn  also  Loeb  von  jenem  mehrfach  citirten  Hunde  mit  der  tempo- 
ralen Hemiamblyopie  sagt,  dass  er  auf  Fleisch  erst  dann  reagirt  habe, 
wenn  man  mit  demselben  bis  fast  an  die  Nase  gekommen  war,  so  ist 
es  auch  aus  diesen  Gründen  unmöglich,  dass  dieser  Hund  mit  der  Stelle 
des  deutlichen  Sehens  am  besten  gesehen  hat. 

Jedem,  der  diese  literarischen  Kämpfe  verfolgt  hat,  ist  es  klar, 
dass  Loeb  in  der  Leidenschaftlichkeit,  mit  der  er  die  allerdings  unrich- 
tige Behauptung  Muuk's,  dass  die  Stelle  A^  der  Stelle  des  deutlichen 
Sehens  entspräche,  als  absurd  darzustellen  beflissen  war,  Dinge  bewiesen 
hat,  welche  weit  über  das  hinausgehen,  was  überhaupt  bewiesen  wer- 
den kann.  Wie  Loeb  zu  dieser  Behauptung  gekommen  und  was  an 
ihr  als  begründet  anzusehen  ist,  das  wird  sich  aus  den  nachfolgenden 
Untersuchungen  klar  ergeben.  Leider  hat  sich  auch  Goltz  jenen  Be- 
hauptungen von  Loeb  angeschlossen.  Früher  (vergl.  z.  B.  Gesammelte 
Abhandlungen  1881.  S.  27.)  hatte  er  mir  zugegeben,  dass  die  Thiere 
auf  dem  kranken  Auge  (zuerst)  blind  seien  und  dann  nachgewiesen, 
dass  sich  ihr  Sehvermögen  allmählich  wieder  einstelle.  Später,  im  Jahre 
1884,  sagt  er:  „In  Uebereinstimmung  mit  Loeb  finde  ich,  dass  diese 
Grenze  einer  Linie  in  der  Netzhaut  entspricht,  die  senkrecht  durch  die 
Stelle  des  deutlichsten  Sehens  hindurchgeht.  —  —  —  Ich  weiche 
jedoch  in  einigen  Funkten  von  Munk's  Darstellung  ab:  Erstlich  finde 
ich  mit  Loeb,  dass  das  Stück  der  rechten  Netzhaut,  dessen  Bilder  nach 
Zerstörung  des  linken  Hinterhanptlappens  noch  sicher  wahrgenommen 
werden,  viel  grösser  ist  als  Munk  angiebt.  Loeb  und  ich  nehmen  an, 
dass  dasselbe  mindestens  noch  einen  Theil  der  Stelle  des  deutlichsten 
Sehens  enthält."  i) 

Ich  habe  eine  Stelle,  an  der  Loeb  ausdrücklich  sagt,  die  Grenze 
entspräche  einer  Linie  in  der  Netzhaut,  die  senkrecht  durch  die  Stelle 
des  deutlichsten  Sehens  hindurchgehe,  in  seiner  allein  in  Betracht  kom- 
menden Abhandlung  aus  dem  Jahre  1884  vergeblich  gesucht.  Fände 
sie  sich  aber  auch  wirklich  darin,  so  würde  sie  nur  einen  neuen  Wider- 
spruch gegenüber  einem  Theil  der  experimentellen,  sowie  der  darauf 
gegründeten  Angaben  Loeb 's    über  den  Zusammenhang    der  einzelnen 


1)  F.  Goltz,  Ueber  die  Verrichtungen  des  Grosshirns.    5.  Abhandlung. 
Pflüg  er 's  Archiv  1884.   Bd.  .34.   S.  488. 


—     295     — 

Segmente  der  Netzhaut  mit  jeder  der  beiden  Hemisphären  enthalten. 
Munk^)  hat  sich  dagegen  unter  Betonung  der  groben  Widersprüche 
und  der  Unverständlichkeit  der  Angaben  Loeb's  bereits  verwahrt,  je- 
doch ohne  seiner  bequemen  Gewohnheit  gemäss  sein  nur  zu  gerecht- 
fertigtes Urtheil  näher  zu  begründen. 

Ich  selbst  habe  es  für  richtig  gehalten,  im  Vorstehenden  den  ge- 
nauen Nachweis  dafür  beizubringen,  dass  die  Behauptungen  Loeb's  in 
sich  ebenso  unmöglich  sind,  wie  die  Lehren  Munk's.  Niemand  kann 
die  hier  herrschenden  Meinungsverschiedenheiten  ohne  zusammenfassende 
Kenntniss  dieser  Einzelheiten  verstehen;  ihr  volles  Verständniss  wird 
freilich  erst  dann  ermöglicht  werden,  wenn  man  gesehen  haben  wird, 
dass  die  Lehre  Munk's  von  der  partiellen  Rindenblindheit  auf  Irrthum 
beruht  und  dass  keiner  dieser  Autoren,  wie  überhaupt  niemand  den 
Decursus  der  corticalen  Sehstörungen  verfolgt  hat. 

Die  Exstirpation  der  medialen  Partie  der  Sehsphäre  und 
nur  diese,  soll  nach  Munk  zu  einer  lateralen  Rindenblindheit  führen. 
Laterale  Hemiamblyopie  sah  Loeb  aber  bei  wenigstens  20  Versuchen,  bei 
denen  gerade  der  fragliche  Abschnitt  der  Sehsphäre  unberührt  gelassen 
war,  eintreten.  Umgekehrt  sah  er  bei  einem  Hunde,  dem  er  jene  Partie 
entfernt  hatte,  allerdings  gleichfalls  eine  laterale  Hemiamblyopie:  diese 
war  aber  wenig  ausgesprochen  und  bereits  nach  6  Tagen  wieder  ver- 
schwunden. In  einem  anderen  Falle  führte  die  Exstirpation  dieser  Partie 
zu  einer  Sehstörung  des  inneren  Abschnittes  des  gleichnamigen  Gesichts- 
feldes, nachdem  die  vorgängige  Entfernung  der  lateralen  Partie  der 
gleichen  Sehsphäre  diesen  Erfolg  nicht  gehabt  hatte.  Da  der  Hund  nur 
einäugig  war,  gehört  der  Versuch  streng  genommen  gar  nicht  hierher. 
Ferner  führt  Loeb  noch  4  Fälle  an,  bei  denen  mit  der  ganzen  Seli- 
sphäre  auch  die  mediale  Partie  entfernt  worden  war  und  bei  denen 
immer  laterale  Hemiamblyopie  die  Folge  war.  Es  bleibt  also  nur  ein 
Versuch  dieser  Reihe  übrig,  der  wenigstens  nichts  gegen  Munk  be- 
weist: aber  auch  die  Versuche  der  ersten  Reihe  beweisen  nicht  mehr, 
da  auf  keine  Weise  der  Nachweis  geführt  worden  ist,  dass  die  Wir- 
kungen des .  Eingriffs  sich  nicht  auf  Markstrahlnngen  aus  dem  medialen 
Abschnitt  der  „Sehsphäre"  erstreckt  hatten. 

Bei  15  Thieren,  denen  Loeb  die  vordere  Partie  der  „Seh- 
sphäre" theils  einseitig,  theils  doppelseitig  —  wieder  ohne  alle  näheren 
Angaben  —  exstirpirte,  konnte  er  keine  der  von  Munk  gemachten 
Beobachtungen  bestätigen,  insbesondere  bestreitet  er,  dass  solche  Hunde 
auf  der  oberen  Hälfte    der  Retina  blind    oder    gar  rindenblind  würden. 


1)  H.  Munk  a.  a.  0.    S.  79.   Anra.  59. 


—     29ß     — 

Die  von  ihm  bei  diesem  Anlasse  ausgesprochene  Vermntliung  „die  An- 
nahme einer  Blindheit  der  oberen  Partie  der  Retina  könnte  dadurch 
veranlasst  sein,  dass  viele  Thiere,  weil  sie  gewohnt  sind  aus  der  Hand 
des  Beobachters  Nahrung  zu  empfangen,  auch  die  Gewohnheit  haben, 
ihre  Aufmerksamkeit  mehr  den  Dingen  in  der  Höhe  als  auf  dem  Boden 
zuzuwenden  und  darum  Gegenstände  am  Boden  leichter  übersehen", 
muss  ich  mit  aller  Bestimmtheit  als  irrthümlich  bezeichnen.  Das  Auge 
des  Hundes  ist  für  das  Aufsuchen  der  Nahrung  auf  dem  Boden  con- 
struirt  und  daran  vermag  eine  vorübergehende  Gewöhnung  nichts  zu 
ändern.  Wenn  ein  Hund  auf  dem  Boden  liegende  FJeischstücke  nicht 
sofort  findet,  so  hat  er  sicherlich  eine  hochgradige  Sehstörung  min- 
destens auf  dem  oberen,  vielleicht  auch  noch  auf  anderen  Abschnitten 
der  Netzhaut. 

Versuche  über  isolirte  Ausschaltung  der  hinteren  Abschnitte 
der  „Sehsphäre"  hat  Loeb  nicht  angestellt. 

Ich  will  noch  anführen,  dass  Loeb  bei  diesen  und  einigen  anderen 
nicht  erwähnten  Versuchen  mit  besonderem  Nachdruck  hervorhebt,  dass 
keins  von  allen  denjenigen  Thieren,  welche  nach  Munk  wegen  Aus- 
schaltung dieser  oder  jener  Retinapartie,  insbesondere  der  Macula,  eine 
hochgradige  Divergenz  der  Augenachsen  hätte  zeigen  müssen,  jemals 
eine  solche  Divergenz  wirklich  gezeigt  hätte. 

n.  Operationsmethoden. 
Die  von  mir  beschriebenen  und  noch  zu  beschreibenden  Ausschal- 
tungen habe  ich,  wie  bereits  früher  erwähnt,  auf  dem  Wege  der  An- 
ätzung, der  Unterschneidung,  der  Scarification  und  der  Abtragung  be- 
stimmter Rindenstücke  vorgenonmien.  Bei  dem  letzteren  Verfahren  habe 
ich  mich  theils  allein  eines  Präparatenhebers,  der  eine  lauge  schmale 
und  eine  kurze  breite  Schaufel  besitzt,  in  der  Weise  bedient,  dass  das 
herauszubefördernde  Stück  der  Windungen  an  der  Knochenlücke  entlang 
mit  der  schmalen  Seite  des  Instrumentes  umrissen  und  dann  mit  dessen 
breiter  Seite  als  ein  compactes  Stück  herausgehoben  wurde.  Theils 
bediente  ich  mich  für  den  ersten  Act  der  Operation  ein^s  mit  einer 
Wachsmarke  versehenen  Messerchens,  worauf  dann  die  Heraushebung 
des  umschnittenen  Stückes  wie  bei  der  ersten  Operation  folgte,  oder  aber 
ein  Zipfel  des  umschnittenen  Rindenstückes  wurde  mit  der  Hakenpincette 
erfasst  und  das  umschnittene  Areal  alsdann  mit  einer  kleinen  Cooper- 
schen  Schere  abgetragen.  In  einer  Anzahl  von  Fällen,  in  denen  an 
der  Falx  und  am  Tentorium  operirt  wurde,  ohne  dass  die  Knochenlücke 
die  Naht  vollkommen  erreichte,  wurde  entweder  der  Präparatenheber 
oder  der  scharfe  Löffel  bis  an  die  Hirnhaut  herangeführt  und  das  etwa 


^-     297     — 

stehengebliebene  Stück  Hirnsubstanz  zerquetscht  und,  soweit  es  erreich- 
bar war,  herausbefördert. 

Alle  Operationen,  von  denen  hier  die  Rede  sein  wird,  erstreckten 
sich  nicht  auf  die  ganze  „Sehsphäre",  ja  sie  hatten  auch  meistens  nicht 
einmal  den  Zweck,  besonders  grosse  Theile  der  Convexität  auszuschal- 
ten, da  die  uns  hier  beschäftigenden  Fragen  meiner  Ansicht  nach  durch 
solche  Exstirpationen  nicht  zu  lösen  waren. 

Die  Tiefe  der  vorzunehmenden  Ausschaltungen  bedurfte  einer  be- 
sonderen Erwägung.  Munk  hatte  seiner  Zeit  wiederholt  gefordert 
(z.  B.  und  zuletzt  wohl  a.  a.  0.  S.  250.  1886),  dass  die  Tiefe  der  Ab- 
tragung 2 — 3  mm  Dicke  nicht  zu  überschreiten  habe,  wenn  es  nicht 
zum  Durchbruch  in  den  Ventrikel  und  damit  zum  Tode  des  Thieres 
kommen  solle.  Nachdem  er  dann  durch  Goltz  und  Loeb  deswegen 
verspottet  worden  war,  weil  nicht  nur  die  Eröffnung  des  Ventrikels 
keineswegs  zum  Tode  führe,  sondern  uaraentlich  auch,  weil  er  bei  einer 
Ausschaltung  von  nur  2-3  mra  Dicke  in  der  Tiefe  der  Furchen  massen- 
haft graue  Substanz  zurücklassen  müsse,  wobei  er  gleichwohl  den  Effect 
erzielt  habe,  als  wenn  die  Reste  von  Substanz  entfernt  worden  seien, 
und  nachdem  selbst  v.  Monakow,  der  im  Lager  Munk 's  steht  und 
dessen  Hundegehirne  anatomisch  untersuchte,  vom  anatomischen  Stand- 
punkte aus  erklärt  hatte,  dass  die  zurückgelassenen  Partieen  ihm  func- 
tionsfähig  schienen,  hat  Munk  sich  in  sehr  befremdlicher  Weise  zu 
retten  versucht.  Er  sagt  (a.  a.  0.  S.  273.  1890):  „Da  ich  durch  ge- 
sperrten Druck  den  Ton  auf  „Sehsphäre"  legte,  wollte  ich  natürlich 
sagen  —  und  ich  war  wohl  auch  nicht  gut  anders  zu  verstehen  —  dass, 
wenn  wirklich  doch  in  der  Tiefe  der  Furchen  centrale  Elemente  func- 
tionsfähig  zurückblieben,  diese  Elemente  jedenfalls  nicht  der  der  Ge- 
sichtswahrnehmung dienenden  Rinde  zugehörten.  In  der  Rinde  müssen 
ja  noch  viele  andere  centrale  Elemente  gelegen  sein  ausser  denjenigen, 
welche  meine  Untersuchungen  überhaupt  allein  in's  Auge  gefasst  haben, 
ausser  den  Elementen,  welche  den  Sinneswahrnehmungeu  und  den  zu- 
nächst aus  diesen  hervorgehenden  Sinnesvorstellungen  dienen."  Was 
Munk  bei  dieser  Gelegenheit  hat  sagen  wollen,  kann  niemand  wissen. 
Dagegen  ist  es  falsch,  dass  er  nicht  gut  anders  zu  verstehen  gewesen 
sei.  Der  gesperrte  Druck  des  Wortes  „Sehsphäre",  besagt  schon  des- 
halb nichts,  weil  niemand  dadurch  auf  die  Vorstellung  kommen  konnte, 
dass  Munk  der  Ansicht  sei,  dass  die  graue  Substanz  in  den  Tiefen  der 
Furchen  derjenigen  Region,  die  er  immer  als  „Sehsphäre"  bezeichnet 
hatte,  nicht  zur  Gesichtswahrnehmung  diene  und  thatsächlich  hat  ihn 
nicht  einmal  v.  Monakow  so  verstanden.  Wollte  er  dem  Leser  eine  solche 
Ansicht  vortragen,    so    hatte  er  dies  mit   dürren  Worten  und  nicht  mit 


—     298     — 

Räthseln  zu  thiin.  In  der  That  hat  Muiik  aber  (a.  a.  0.  S.  250.  1886) 
wörtlich  gesagt  „auch  müsseu  die  etwa  noch  in  den  Furchen  verblie- 
benen centralen  Elemente  in  Folge  der  Zerstörung  der  von  der  Ober- 
fläche eindringenden  ernährendenGefässe  fuactionsunfähig werden."  Dieser 
Satz  gestattete  also  die  Annahme,  dass  Munk  jene  Elemente  als  nicht 
zur  Seh  Sphäre  gerechnet  wissen  wollte,  garnicht.  Noch  mehr!  Munk 
sagt  sogar  noch  3  Jahre  später  (a.  a.  0.  S.  313.  1889)  „Der  ungefähr 
dreieckige  Zipfel,  welchen  nach  meinen  Abbildungen  der  vordere  und 
der  laterale  Rand  der  Sehsphäre  von  der  111.  Windung  abschneiden,  hat 
aus  der  Sehsphäre  auszuscheiden;  offenbar  ist  nur  für  die  Totalexstir- 
pation  der  Sehsphäre  die  Mitnahme  des  Zipfels  erforderlich,  damit 
von  der  Rinde  der  IL  Windung  in  der  Furche  zwischen  dieser 
und  der  III.  Windung  nichts  zurückgelassen  werde."  An  dieser 
Stelle  schreibt  er  den  in  der  Tiefe  der  Furchen  liegenden  Elementen 
also  wieder  optische  Functionen  zu,  nachdem  er  soeben  behauptet 
hatte,  man  hätte  ihn  3  Jahre  vorher  garnicht  anders  verstehen  können, 
als  dass  sie  seiner  Ansicht  nach  keine  optischen  Functionen  besässen! 

Schliesslich  entsteht  die  Frage,  woher  Munk  denn  weiss,  dass  die 
nicht  der  optischen  Function  dienenden  Elemente  der  „Sehsphäre"  sich 
gerade  in  der  Tiefe  der  Furchen  angesiedelt  haben.  Wahrscheinlich  ist 
dies  gerade  nicht.  Aber  ein  Beweis  dafür  oder  dawider  lässt  sich  auf 
physiologischem  Wege,  soviel  ich  sehe,  gar  nicht  erbringen.  Wenn 
Munk  (a.  a.  0.  S.  250)  sagt  „und  schliesslich  wird  unter  allen  Umstän- 
den die  Totalexstirpation  der  Sehsphäre  einfach  durch  den  Erfolg 
des  Versuches  verbürgt",  so  würde  er  dies  als  einen  Beweis  nicht  ver- 
werthen  können.  Einmal  wird  die  Gesetzmässigkeit  dieses  Erfolges, 
nämlich  totale  Blindheit,  bekanntlich  bestritten  und  ferner  ist  es  sowohl 
für  die  Ernährung  als  auch  für  die  Function  jener  Rindengebiete  natür- 
lich etwas  ganz  anderes,  ob  man  die  ganze  Sehsphäre  oder  nur  eineii 
beschränkten  Theil  derselben  abträgt.  In  dem  ersteren  Falle  können 
beide  aufgehoben,  in  dem  letzteren  Falle  können  beide  erhalten  sein. 
Und  endlich,  um  das  Maass  vollzumachen,  finden  wir  auf  S.  73  der 
Gesammelten  Mittheilungen  Muuk's  eine  Abbildung,  auf  der  er  die 
Selifasern  von  allen  Theilen  des  Graus  unter  anderem  aucli  von  der 
tiefsten  Tiefe  der  Windungen  entspringen  lässt! 

Die  vorstehende  Zusammenstellung  von  Citaten  aus  den  Arbeiten 
Munk's  habe  ich  nicht  deshalb  gegeben,  um  an  einem  Beispiel  zu 
zeigen,  wie  zweideutig  dieser  Autor  ist,  und  wie  er  an  seinen  eigenen 
Worten  herumdentelt,  wenn  es  sich  darum  handelt,  recht  zu  behalten; 
ein  ganz  anderes  Motiv  leitete  mich.  Nach  meiner  Keuntniss  der  pole- 
mischen Tactik  Munk's    war    ich    von  vornherein  darauf  srefasst,   dass 


—     2i)9     — 

or  jedes  mit  seinen  Theorieen  in  Widerspriicli  stehende  Resiiltnt  damit 
erklären  würde,  dass  die  angerichtete  Verletzung  entweder  zu  gross 
oder  zu  klein  war,  und  eijien  wie  vortrefflichen  Angriffspunkt  bot  ihm 
da  nicht  die  graue  Substanz  in  den  Tiefen  der  Windungen!  ]n  der 
That  hat  mich  meine  Annahme  auch  keineswegs  getäuscht,  ja,  Herr 
Munk^)  hat  in  dieser  Hinsicht  nocli  bevor  ihm  mein  Material  vorlag  meine 
kühnsten  Erwartungen  bereits  übertreffen.  Ich  will  deshalb  an  dieser 
Stelle  nur  hervorheben,  dass  die  sämmtlichen  Resultate  dieses 
Autors,  von  denen  im  Nachfolgenden  die  Rede  sein  wird, 
sich  auf  solche  Versuche  stützen,  bei  denen  die  Rinde  auf 
2 — 3  mm  Tiefe  abgetragen  war,  und  dass  er  aus  diesem  Grunde 
keinerlei  Recht  zur  Bemängelung  von  solchen  Versuchen, 
bei  denen  die  gleiche  Grenze  innegehalten  wurde,  aus  dem 
Umstände  herleiten  kann,  dass  dieselben  zu  oberflächlich 
waren.  Dabei  ist  es  ganz  gleichgültig,  ob  die  die  Tiefen  der  Win- 
dungen auskleidende  Rinde  diese  oder  jene  Function  besitzt.  Da  ich 
meine  Untersuchungen  jedoch  keineswegs  allein  mit  Rücksicht  auf  die 
von  Herrn  Munk  zu  erwartenden  Angriffe,  sondern  vornehmlich  zur 
Erweiterung  unserer  Kenntnisse,  sowie  zu  meiner  eigejien  und  zur  Ueber- 
zeugung  des  wissenschaftlichen  Leserkreises  vornahm,  so  habe  ich  min- 
destens ebensoviel  tiefgreifende,  wie  oberflächliche  Exstirpationen  ange- 
stellt, nur  dass  sich  die  Zahl  der  einen  mit  der  der  anderen  nicht  mit 
Bezug  auf  jede  Localität  deckt.  Ich,  möchte  aber  doch  schon  hier 
darauf  aufmerksam  machen,  dass  sich  die  oberflächlicheji  von  den  tief- 
greifenden Eingriffen  weit  mehr,  als  es  den  Anschein  hat,  unterscheiden. 
Bei  den  letzteren  gehen  nicht  nur  viel  mehr  Associationsbahnen,  sondern 
auch  viel  mehr  Projectionsbahnen  als  solche,  die  zu  den  direct  ausge- 
schalteten Winduugsgebieten  gehören,  zu  Grunde,  ganz  abgesehen  davon, 
dass  bei  ihnen  viel  mehr  Gelegenheit  zur  Entwicklung  von  Erweichungs- 
herden, in  Folge  von  Durchtrennung  arterieller  Gefässe  gegeben  ist  als 
bei  jenen.  Infolgedessen  können  die  positiven  Resultate,  welche  bei 
solchen  Läsionen  auftreten,  mit  noch  weniger  Sicherheit  auf  den  direct 
ausgeschalteten  Rindenbezirk  bezogen  werden,  von  um  so  grösserer 
Wichtigkeit  sind  aber  die  auf  diese  Weise  erhaltenen  negativen  Re- 
sultate. 

III.    Untersuchungsmethoden. 
Als    vornehmlichste    Untersuchuugsraethode    kam    bei    allen    diesen 
Versuchen  die  wiederholt  beschriebene  und  erwähnte  Periraetriruna;  des 


1)  H.  Munk,  Zur  Physiologie  der  Grosshirnrinde.     Verhandlungen   der 
liysioi.  Gesellschaft  etc.  1902. 


—     300     — 

schwebenden  Hundes  in  Betracht.  Munk^)  hat  sich  erlaubt,  ohne  aber 
auch  nur  den  geringsten  Grund  dafür  anzuführen,  dem  Leser  den  Ver- 
dacht zu  suggeriren,  dass  ich  thatsächlich  vorhandene  Sehstörungen  nicht 
aufzufinden  vermöchte,  während  er  selbst  die  von  Exner,  mir  und  An- 
deren in  Folge  von  frontalen  Eingriffen  entstehenden  Sehstörungen  nicht 
aufzufinden  vermochte.  Dies  veranlasst  mich,  auf  diese,  wie  überhaupt 
auf  die  angewendeten  üntersuchungsmethoden  nochmals  näher  einzu- 
gehen, übrigens  nicht  zur  üeberzeugung  des  Herni  Munk,  denn  dies 
habe  ich  ein  für  alle  Mal  aufgegeben. 

Das  angewendete  Verfahren  besteht  also  darin,  dass  der  Hund  zu- 
nächst dadurch  an  die  Schwebe  gewöhnt  wird,  dass  er  anfänglich  sein 
Futter  ausnahmslos  in  derselben  hängend  empfängt.  Bei  den  mit  dem 
so  abgerichteten  Hunde  vorgenommenen  Untersuchungen  waren  in  der 
Regel  3  Personen  thätig,  von  denen  die  eine  die  Fleischstückchen  zu- 
reichte, die  zweite  das  Gesichtsfeld  absuchte  und  dabei  das  Auge  beob- 
achtete, die  dritte  das  Auge  gleichfalls  beobachtete  und  ausserdem  die 
entsprechenden  Notizen  machte  und  das  Protokoll  führte.  Diese  dritte 
Person  ist  in  den  letzten  Jahren  mit  Ausnahme  von  Behindcrungsf allen 
regelmässig  mein  Assistent,  Herr  Dr.  Kalberiah,  gewesen.  Mutatis 
mutandis  wurde  in  ähnlicher  Weise  mit  der  Prüfung  der  Reaction  auf 
Licht  und  auf  die  Wirkung  der  reflectorischen  Reize  verfahren. 

Die  Art  der  Reaction  des  Hundes  auf  das  in  seinem  Gesichtsfeld 
erscheinende  Fleisch  ist  nun  das  Product  einer  Anzahl  verschiedener 
Factoren.  Schon  der  normale  Hund  reagirt  verschieden  je  nach  seinem 
Naturell,  seiner  Aufmerksamkeit,  seiner  Fresslust  und  je  nach  der  Ge- 
duld und  dem  Geschick,  mit  dem  der  Wärter  ihn  an  die  Schwebe  ge- 
wöhnt hat.  Einzelne  Hunde,  und  namentlich  solche,  welche  vorher 
nicht  genügend  an  die  Schwebe  gewöhnt  waren,  werden  durch  die  Ope- 
ration so  eingeschüchtert,  dass  sie  nun  auf  kürzere  oder  längere  Zeit 
oder  gar  nicht  ihre  Nahrung  in  der  Schwebe  nehmen.  Sie  müssen 
dann  selbstverständlich  während  dieser  Zeit  in  anderer  Weise  untersucht 
werden.  Dieser  hemmende  Einfluss  der  ungewohnten  Situation  dient 
aber  in  anderen  Fällen  gerade  als  üntersuchungsmittel.  Es  giebt  Grade 
und  Stadien  der  corticalen  Sehstörung,  während  deren  die  schwebenden 
Hunde  auf  den  Reiz  des  in  dem  normal  functionirenden  Theile  des  Ge- 
sichtsfeldes erscheinenden  Fleisches  sofort  und  mit  Energie  reagiren, 
während  die  Reaction  von  dem  amblyopischen  Theil  des  Gesichtsfeldes 
aus  nur  zögernd  erfolgt.  Untersucht  man  die  gleichen  Hunde  ausser- 
halb der  Schwebe,    so    findet  man  die  Ersclieinung  verwischt  oder  ver- 


1)   H.  Munk,  Zur  Physiologie  der  Grosshirnrinde  etc. 


—     -301      — 

loren.  Eine  fernere  Rolle  spielt  natürlich  die  Frcsslust  des  Thieres  und 
bei  den  Operirten  die  Grösse  und  die  Art  des  Gesichtsfelddefectes. 
p]ndlich  kommt  auch  in  vielen  Fällen  die  Schnelligkeit,  mit  der  das 
Object  in  das  Gesichtsfeld  eingeführt  oder  in  ihm  bewegt  wird,  in  Be- 
tracht. 

Sehr  oft  bin  ich  gefragt  worden,  ob  der  Hund  das  ihm  präsentirte 
Fleisch  nicht  röche.  Diese  Frage  beruht  auf  einer  ganz  falschen  Vor- 
stellung von  der  olfactiven  Thätigkeit  des  Hundes.  Verbindet  man  ihm 
ein  Auge,  so  kann  man  nicht  nur  gewöhnliches,  sondern  auch  mit 
riechenden  Substanzen  gewürztes  Fleisch,  wie  Klops  u.  dergl.  von  der 
Nasenwurzel  bis  zur  Nasenspitze  langsam  herabführen,  ohne  dass  der 
Hund  irgendwie  reagirt;  sobald  man  aber  damit  vor  die  Nasenspitze 
gelangt,  schnappt  er  zu  oder  beginnt  zu  schnüffeln.  Etwas  anderes  ist 
es,  wenn  man  solches  Fleisch  schnell  vor  dem  verbundenen  Auge  hin 
und  her  bewegt;  in  diesem  Falle  werden  die  Riechstoffe  durch  den 
Luftstrom  der  Nase  zugeführt  und  lösen  eine  Reaction  aus. 

Erscheint  nun  ein  Stück  Fleisch  in  dem  normalen  Gesichtsfeld  oder 
in  dem  überhaupt  sehenden  Theil  des  Gesichtsfeldes,  so  verändert  sich 
regelmässig  der  gleichgültige  Ausdruck  der  bis  dahin  in's  Leere  sehen- 
den xAugen.  Die  Pupille  erweitert  sich,  die  Augen  fixiren,  abgesehen 
von  gewissen,  später  zu  erwähnenden  Ausnahmen  regelmässig  das  Ge- 
sichtsobject  und  der  Hund  schnappt  zu.  Da  sein  Kopf  in  der  Höhe 
des  Auges  des  Untersuchers  hängt,  so-  lassen  sich  alle  diese  Erschei- 
nungen mit  Leichtigkeit  beobachten. 

Nach  dem  Gesagten  ist  es  zwar  möglich,  dass  ein  Hund,  welcher 
auf  ein  in  seinem  Gesichtsfelde  erscheinendes  Stück  Fleisch  nicht  rea- 
girt, keine  Sehstörung  hat,  aber  es  ist  absolut  unmöglich,  dass 
ein  Hund,  welcher  auf  ein  in  einem  beliebigen  T h e i  1  e  seines 
Gesichtsfeldes  erscheinendes  Stück  Fleisch  in  der  vorgedach- 
ten Weise  reagirt,  auf  dem  entsprechenden  Theile  seiner 
Retina  rindenblind  ist;  jede  Täuschung  darüber  ist  bei  einiger- 
maassen  ausreichender  Uebung  des  Untersuchers  gänzlich  ausgeschlossen. 

Bei  solchen  Hemden,  welche  in  der  Schwebe  nicht  oder  nicht  hin- 
reichend zu  untersuchen  waren,  sowie  ausserdem  auch  bei  vielen  anderen 
in  der  beschriebenen  Weise  gut  zu  untersuchenden  Hunden  wurde  die 
Absuchung  des  Gesichtsfeldes  in  der  Weise  vorgenommen,  dass  grössere 
Hunde  stehend  zwischen  den  Knieen,  kleinere  auf  dem  Schoosse  fest- 
gehalten wurden,  oder  dass  man  den  Thieren,  während  sie  auf  dem 
Tische  an  einer  Schüssel  Gemüse  frassen ,  Fleisch  in  das  Gesichtsfeld 
einführte. 

Kam  es  darauf  an  die  untere  Gesichtsfeldpartie  zu  prüfen,  so  hatte 


—     302     — 

der  Huiul  auf  dem  Boden  liegendes  Fleisch  mit  einem  offenen  Auge 
oder  auch  mit  beiden  Augen  zu  suchen  und  wenn  die  obere  Gesichts- 
feldpartie  geprüft  werden  sollte,  so  zeigte  ein  Beobachter  dem  Hunde 
von  vorn  ein  grosses  Sti^ick  Fleisch,  vt'ähreud  ein  zweiter  ihm  von  hin- 
ten her  ein  kleines  Stück  Fleisch  in  jenen  Theil  des  Gesichtsfeldes 
einführte. 

Ausserdem  wurde  auch  das  Werfen  von  Fleisch  in  der  viel  be- 
schriebenen Weise  geübt. 

Viele  der  nachstehenden  Beobachtungen  sind  durch  Gesichtsfeld- 
zeichnnngen  illustrirt.  Ebenso  wie  beim  Menschen  ist  dies  auch  beim 
Hunde  ein  ausgezeichnetes  Mittel  die  auftretenden  Scotome  zu  demonstriren 
und  sie  theils  in  ihrem  eigenen  Decursus,  theils  mit  den  Scotomen  an- 
derer Beobachtungen  zu  vergleichen.  Gewonnen  wurden  diese,  sämmt- 
lich  von  Herrn  Dr.  Kalberiah  ausgeführten  Zeichnungen  dadurch,  dass 
dem  Hunde  an  jedem  einzelnen  Versuchstage  in  Dutzenden  von  Einzel- 
versuchen das  Gesichtsfeld  in  der  vorher  beschriebenen  Weise  so  lange 
abgesucht  wurde,  bis  über  die  Grenzen  vorhandener  Scotome  oder  über 
ihr  Fehlen  eine  Einigung  zwischen  uns  beiden  erzielt  war.  Das  Resul- 
tat wurde  alsbald  graphisch  fixirt.  Die  mit  diesen  Aufnahmen  verbun- 
denen Schwierigkeiten  können  Niemandem,  der  jemals  periiuetrische 
Aufnahmen  am  Menschen  gemacht  hat,  entgehen  und  es  versteht  sich 
von  selbst,  dass  sie  auf  absolute  Genauigkeit,  auf  die  es  aber  auch 
gar  nicht  ankommt,  keinen  Anspruch  erheben  können.  Bern  heimer  i) 
hat  mit  grossem  Nachdruck  betont,  dass  „kleine,  besonders  das  directe 
Sehen  betreffende  Defecte  und  theilweise  Ausfallserscheinungen  an  ope- 
rirten  Thieren  zu  bestimmen,  geradezu  ein  Ding  der  Unmöglichkeit  sei." 
Und  ferner  an  einer  anderen  Stelle  des  gleichen  Referates  „ich  möchte 
doch  die  Schwierigkeit,  ja,  ich  möchte  sagen:  die  Unmöglichkeit  her- 
vorheben, bei  einem  Thiere  Theildefecte  im  Gesichtsfelde  mit  Bestimmt- 
heit festzustellen." 

Für  den  Hund  ist  dies  gewiss  nicht  richtig.  Schon  diejenigen  der 
früher  angewendeten  Methoden,  bei  denen  man  vermittelst  eines  Drahtes 
oder  Fadens  Fleisch  in  das  Gesichtsfeld  einführte,  gestatteten  die  unge- 
fähre Erkennung  und  Abgrenzung  von  Gesichtsfelddefecten ,  während 
andere,  wie  z.  B.  das  Werfen  oder  Hinlegen  von  Fleisch  der  Willkür 
des  Beobachters  allerdings  einen  viel  zu  breiten  Spielraum  Hessen.  Uiul 
speciell  mit  Bezug  auf  die  Angaben  Munk\s,  gegen  die  sich  Beru- 
he im  er  wendet,  scheint  es  diesem  ebenso    wie    mir   gegangen  zu  sein. 


1)   Bernheimer,   Die  corticalen  Sehcentren.     Referat  auf  dem  Pariser 
(yongress  190Q.    Wiener  klin.  Wochenschr.   Jahrgang  1900.   No.  42. 


—     308     — 

icli  habe  iiiclit  iiachm;icli(!ii  oder  verstehen  l<r)iiiieii,  \vi(;  man  auf  die; 
freilich  nur  sehr  oberflächlich  angegebene  Weise  zur  Bestimmung  eines 
umschriebenen  GJesichtsfelddefectes  gelangen  kann. 

Aber  gerade  mit  Bezug  auf  diese  noch  ganz  neue  Ansicht  vmi 
Bernheimer  erscheint  die  von  mir  angegebene  Methode  insofern  als 
ein  entschiedener  Fortschritt,  als  sie  die  Abgrenzung  circumscripter  Ge- 
sichtsfeld defecte  bei  der  Majorität  der  Hunde  mit  grosser  Sicherheit 
gestattet,  ja  noch  mehr,  dass  es  sogar,  wie  wir  noch  sehen  werden, 
nicht  selten  gelingt,  Unterschiede  in  dem  Grade  der  Sehstörung  zu 
erkennen. 

Am  schwierigsten  bleibt  natürlich  die  Erkennung  eines  centralen 
Scotoms,  weil  der  Hund  eben  Fleisch,  dessen  Bild  auf  periphere  Netz- 
hautabschnitte fällt,  sieht  und  darauf  mit  Augenbewegungen  antwortet. 
Um  dieser  Schwierigkeit  zu  begegnen,  habe  ich  bei  einem  von  mir  im 
Folgenden  sogenannten  „Stossversuch"  ganz  kleine  mit  einer  Pincette 
gefasste  Stückchen  Fleisch  in  senkrechter  Richtung  mit  einem  kurzen 
Ruck  so  auf  das  Auge  zugestossen,  dass  ihr  Bild  auf  die  Macula  fallen 
musste. 

Aber  absolut  genau  geben  diese  Gesichtsfeldzeichnungen,  wie  ge- 
sagt, den  Sachverhalt  allerdings  nicht  wieder.  Zunächst  ist  das  Ge- 
sichtsfeld des  Hundes  nicht  rund  wie  die  Zeichnungen  und  dann  ist  in 
diesen  von  jeder  Graduirung  absichtlich  Abstand  genommen.  Aber  auch 
darüber  hinaus  wird  der  aufmerksame  Leser  in  diesen  Zeichnungen 
Unregelmässigkeiten  finden,  die  zum  Theil  auf  Fehlerquellen  zurückzu- 
führen sind,  zum  Theil  auch  nicht.  Beispielsweise  erscheint  ein  blinder 
oder  amblyopischer  Kreisabschnitt  an  einem  Tage  mehr  in  dem  oberen 
und  am  darauffolgenden  Tage  weiter  in  den  unteren  Quadranten  hin- 
einreichend, oder  ein  Sector  nimmt  an  einem  Tage  nur  ein  Drittel,  am 
darauffolgenden  Tage  zwei  Drittel  und  am  3.  Tage  wieder  nur  ein 
Drittel  eines  Quadranten  ein,  oder  es  ereignet  sich,  dass  ein  fast  blinder 
Hund  scheinbar  nur  durch  ein  Loch  sieht,  welches  an  dem  einen  Tage 
aber  mehr  temporal  und  an  dem  folgenden  Tage  mehr  nasal  gelegen  ist. 
Ja,  es  kann  sich  ereignen,  dass  ein  früher  amblyopischer  Streifen  an  einem 
Tage  normal  sehend,  an  dem  folgenden  Tage  und  vielleicht  auch  länger 
wieder  amblyopisch  erscheint,  bis  dann  die  Sehstöiung  dauernd  und 
gänzlich  verschwindet. 

Ein  Theil  dieser  Unregelmässigkeiten  entspricht  analogen,  beim 
Menschen  zu  machenden  Beobachtungen  und  ist  auf  Unaufmerksamkeit 
zurückzuführen,  ein  anderer  Theil  entspricht  gleichfalls  bei  Menschen 
zu  machenden  Beobachtungen  und  beruht  sicherlich  auf  Schwankungen 
im  Zustande  des  Gehirns,    wie    sich    dies    in    einer  Anzahl    von  Fällen 


—     304     — 

überzeugend  nachweisen  lässt.  Endlich  aber  giebt  es  auch  Fälle,  in 
öenen  die  Methode  selbst  versagt,  d.  h.  nicht  die  wünsclienswerthe 
Feinheit  und  Sicherheit  besitzt.  Allemal  dann,  wenn  die  Grenzen  der 
Scotome  ersichtlich  aus  diesem  Grunde  nicht  hinreichend  genau  abge- 
grenzt werden  konnten,  sind  sie  durch  eine  punktirte  Linie  angedeutet, 
während  der  unsichere  Grenzbezirk  in  blasserer  Schattirung  gehalten  ist. 

^l*    Casuistik. 

Vorbemerkungen. 

Ich  habe  mich  zwar  der  Uebersichtlichkeit  halber  veranlasst  ge- 
sehen, das  angehäufte  Material  nach  den  durch  die  M  unk 'sehe  Projec- 
tionslehre  gegebenen  Gesichtspunkten  einzutheilen  und  ich  habe  ferner 
die  so  entstandenen  Theile  dadurch  in  Unterabtheilungen  zerlegt,  dass 
ich  zwischen  typischen  und  atypischen  Operationen  unterschied, 
aber  ich  möchte  doch  ausdrücklich  und  auf  das  Entschiedenste 
hervorheben,  dass  die  Art  der  Eintheilung  gar  keinen  anderen  Sinn  und 
Zweck  hat,  als  den  eben  angegebenen.  Wenn  ich  also  von  typischen 
Operationen  an  der  Stelle  A^  rede,  so  soll  dies  nur  besagen,  dass  die 
Operation  die  Stelle  A^  ganz  oder  fast  ganz  ausgeschaltet  und  nebenbei 
nicht  allzuviel  von  der  Nachbarschaft  offensichtlich  geschädigt  hat. 
Und  wenn  ich  von  atypischen  Operationen  in  dem  lateralen  Drittel  etc. 
der  sogenaiuiten  „Sehsphäre"  rede,  so  kann  dies  bedeuten,  dass  ent- 
weder nur  ein  Theil  dieser  Region  oder  die  ganze  Region,  dann  aber 
mit  verhältnissniässig  grosser  primärer  Beschädigung  der  Nachbarschaft 
direct  ausgeschaltet  worden  war.  Die  Grenzen  dieser  einzelnen  Theile 
sind  also  durchaus  fliessend,  sodass  es  in  vielen  Fällen  rein  willkürlich 
war,  wenn  eine  Operation  beispielsweise  zu  den  atypischen  der  Stelle 
Ai  und  nicht  zu  denjenigen  der  hinteren  (caudaleu)  Hälfte  der  Seh- 
sphäre gerecluiet  worden  ist.  Aus  diesem  Grunde  habe  ich  denn  auch 
in  der  Ueberschrift  den  Ausdruck  „centrale"  Operationen  gewählt  und 
die  Bezeichnung  der  Stelle  Ai  nur  zur  Erläuterung  in  Klammern  bei- 
gefügt. 

Die  centralen  Operationen  habe  ich  wieder  in  zwei  Theilen  als  pri- 
märe und  secundäre  Operationen  behandelt,  d.h.  solche,  bei  denen 
vorgängig  keine  und  solche,  bei  denen  vorgängig  eine  oder  mehrere 
Operationen  im  Frontalhirn  gemacht  worden  waren. 

Bei  der  Mittheilung  der  in  der  vorderen  (oralen)  Hälfte  der  Seh- 
sphäre ausgeführten  Operationen  habe  ich  nicht  das  Priucip  der  Loca- 
lisation,  sondern  das  des  operativen  Erfolges  für  die  Sehstörung  der 
Eintheilung  in  typische  und  atypische  zu  Grunde  gelegt. 


—     305     — 

a.  Centrale  Läsionen  (Stelle  A^). 
Nach  der  Behauptung  Munk's  soll  die  Stelle  A^  der  Stelle  des 
deutlichen  Sehens  zugeordnet  sein.  Diese  letztere  Stelle  befindet  sich 
nach  den  von  Munk  acceptirten  Angaben  von  Grossmann  und  Mayer- 
hausen beim  Hunde  auf  der  äusseren  Hälfte  der  Retina  und  zwar  in 
deren  medialem  und  oberem  Viertel.  Wenn  es  also  gelänge  die  Stelle 
kx  der  Rinde  isolirt  und  gänzlich  zu  exstirpiren,  so  müsste  etwa  das 
in   der  Figur  95 a.  dargestellte  Scotom    entstehen.     Nun    ist    aber    eine 


Fig.  95a. 

reine  und  zugleich  vollständige  Ausschaltung  der  Stelle  A^  aus  den 
Gründen,  welche  ich  früher  angeführt  habe  und  auf  die  ich  später  noch 
ausführlich  zurückzukommen  gedenke,  gänzlich  unmöglich.  War  diese 
Stelle  nur  theilweise  direct  zerstört,  so  mochte  es  sein,  dass  der 
stehengebliebene  Rest  noch  functionstüchtig  war;  wahrscheinlicher  war 
es  aber,  dass  er  seine  Function  theilweise  oder  gänzlich  eingebüsst 
hatte.  Unter  allen  Umständen  musste  aber  darauf  gerechnet  werden, 
dass  Theile  der  anderweitigen  Nachbarschaft  diesem  Schicksal  anheim- 
gefallen waren.  War  die  Stelle  A^  aber  ganz  und  rein  ausgeschaltet 
worden,  so  musste  wieder  unter  allen  Umständen  darauf  gerechnet  wer- 
den, dass  ein  geringerer  oder  grösserer  Theil  der  oberflächlichen  corti- 
calen  und  der  tiefen  Nachbarschaft  von  zunächst  gar  nicht  zu  be- 
stimmender Ausdehnung  in  den  Bereich  der  Zerstörung  hineinge- 
zogen war. 

Unter  der  Voraussetzung,  dass  die  Lehre  Munk's  begründet  wäre, 
hätte  in  allen  diesen  Fällen  ein  grösserer  oder  geringerer  Theil  oder 
die  ganze  Stelle  des  deutlichen  Sehens  ihre  Function  „für  alle  Folge" 
eingebüsst  haben  müssen,  sie  hätte  mit  einem  Worte  rindenblind  sein 
müssen.  Dazu  konnten  dann  je  nach  der  anderweitigen  Localisation 
der  corticalen  und  subcorticalen  Zerstörung  noch  anders  geartete  Sco- 
tome  kommen;  aber  die  nothwendige  Folgerung  aus  der  Hypothese 
Munk's  war  doch,  dass  in  allen  diesen  Fällen  der  in  P'ig.  95a. 
abgebildete  Fleck  sein  Sehvermögen  theilweise  oder  gänz- 
lich dauernd  eingebüsst  hatte.  Wir  werden  im  Folgenden  sehen, 
inwieweit  die  Wirklichkeit  dieser  Hypothese  entspricht. 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     11.  Tlieil.  20 


306 


Genau  ebenso  verhält  es  sich  mit  allen  unseren  anderen  Angriffen 
auf  die  Rinde,  mögen  diese  nun  vorwiegend  lateral  oder  medial,  vorn 
oder  hinten  localisirt  sein. 

A.    Typische   Operationen. 
c(.  Primäroperationen. 

Aufdeckung-  der  Stelle  Aj^  links  10  mm  von  der  Lambdanaht  und  6  mm 
von  der  Mittellinie  entfernt  auf-sagittal  12,5  mm,  frontal  14,5  mm.  Die  frei- 
liegende Rinde  wird  ca.  3  mm  tief  umschnitten  und  dann  mit  dem  Präparaten- 
heber herausgeholt. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Rechts:  Am2.  Tage  blind  bis  auf  nasalen 
Streifen,  am  3.  Tage  bis  auf  das  nasale  Drittel,  am  4.  Tage  im  oberen  latera- 
len Quadranten,  unsicher  ob  auch  im  unteren  Quadranten;  am  5.  Tage  nur  im 


08' 


(zu  Beob.  65.^ 


307 


oberen  lateralen  Qnadranten,  am  7.  Tage  nur  noch  in  einer  oberen  lateralen 
Ecke,  vom  8.  Tage  an  keine  Sehstörung  mehr,  auch  der  in  der  Folge  wieder- 
holt  voroenommeno   Stossversuch  ergab  keine  Sehstörung.     Links:   medialer 


links 


rechts 


Fig.  98. 

Streifen  blind  bezw.  amblyopisch  bis  incl.  9.  Tag.  Am  4.  und  5.  Tage  war 
es  fraglich,  ob  der  Hund  auf  der  unteren  Hälfte  dieses  Streifens  sah  oder  nicht. 
Gegen  Licht:   Entsprechend  der  Sehstörung  gegen  Fleisch. 

Optische  Pveflexe:  Fehlen  rechts  gegen  flache  Hand  bis  zum  23.  Tage, 
an  einzelnen  Tagen  jedoch  angedeutet  nachweisbar. 

Nasenlidreflex  abgeschwächt  bis  zum  7.  Tage,  dann  beiderseits  gleich. 

Getödtet  nach  ca.  4  Wochen,  nachdem  inzwischen    eine  2.  symmetrische 
Operation  ausgeführt  worden  war. 

20* 


—     308     — 

Section:  Häute  normal.  Die  Auflagerung  sitzt  in  der  lateralen  Hälfte 
der  I.  und  im  medialen  Schenkel  der  H.  Urwindung,  den  lateralen  Schenkel 
der  letzteren  nur  eben  berührend.  Sie  misst  sagittal  8  mm,  frontal  11  mm, 
bleibt  mit  der  Mitte  ihres  hinteren  Pvandes  8,5  mm  vom  hinteren  Pol,  der  hier 
stark  eingezogen  ist,  und  von  der  Mittellinie  4,5  mm  entfernt.  Der  vordere 
Kand  schneidet  mit  «iner  Senkrechten:  Falx  —  hinterer  Rand  der  IV.  Urwin- 
dung ab.  Durchschnitt  dicht  hinter  der  Mitte  der  Narbe:  Die  Rinde  des  me- 
dialen Schenkeln  der  II.  Urwindung  ist  völlig  zerstört,  ebenso  der  laterale 
Rand  der  1.  Urwindung.  Das  Grau  des  Sulcus  ectolateralis  ist  abgeblasst  und 
rings  umgeben  von  grau-röthlicher  Narbenmasse.  Ebenso  ist  das  Markweiss 
der  I.  Urwindung,  deren  dorsale  Rinde  deutlich  abgeblasst  ist,  durch  Narben- 
gewebe substituirt. 

Die  Läsion  betraf  die  Stelle  A^.  Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens 
hätte  also  dauernd  rindenblind  sein  sollen.  Die  Sehstörung  war  aber 
hemianopischer  Natur  und  begriff  die  Stelle  des  deutlichen 
Sehens  nur  bis  zum  3.  Tage  in  sich;  am  längsten  war  der  obere 
äussere  Quadrant  betroffen,  aber  auch  dieser  nur  bis  zum  7.  Tage.  Das 
linke  Auge,  welches  hätte  frei  sein  sollen,  zeigte  bis  zum  9.  Tage  die 
gewohnte  Sehstörung. 

Beobaelxtimg'  66. 

Aufdeckung  der  Stelle  A^  links.  Der  mediale  Rand  der  Knochenlücke 
bleibt  7  mm  von  der  Mittellinie,  der  hintere  ebensoviel  von  der  Lambdanaht 
entfernt.  Frei  liegt  der  mediale  Schenkel  der  IL  Urwindung  und  noch  je 
einige  Millimeter  vom  Randwulst  und  dem  lateralen  Schenkel  der  IL  Urwin- 
dung.   Exstirpation  der  freiliegenden  Rinde  auf  ca.  3 — 4  mm  Tiefe. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch:  Bis  zum  3.  Tage  rechts  blind  bis  auf 
einen  schmalen  nasalen  Streifen,  links  sehend  bis  auf  einen  ebensolchen  Strei- 


Fig.  99. 

fen.     Von  diesem  Tage   an    bis    zum  19.  Tage   nimmt   die  Sehstörung  rechts 
oberhalb  des  Aequators  '^3— '74)  unterhalb  desselben  Va — '^/2  des  Gesichtsfel- 


—     309     — 

des  ein,  links  besteht  immer  der  schmale  nasale  Streifen,  der  aber  am  19.  Tage 
sich  za  einem  oberen  Kreisabschnitt  verengt  hat.  So  in  der  Schwebe.  Auf 
dem  Schosse  Hess  sich  vom  14.  Tage  an  unterhalb  des  Aequators  eine  Seh- 
störung nicht  mehr  nachweisen.  Am  22.  Tage  ist  auch  in  der  Schwebe  rechts 
nur  noch  der  obere  äussere  Quadrant  blind     während    links  wieder  der  ganze 


Fiff.  100. 


links 


rechts 


Fig.  101. 

mediale  Streifen  reactionslos  erscheint.  Nachher  war  der  Hund  wegen  Staupe 
nicht  mehr  zu  untersuchen.  Nach  Aufhellung  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens 
wies  auch  der  Stoss versuch  keine  Sehstörung  mehr  nach.  Gegen  Licht:  Bis 
zum  8.  Tage  entsprechend  der  Sehstörung  gegen  Fleisch,  von  da  an  scheut 
der  Hund  auch  rechts  schon  weit  aussen. 

Optische   Pveflexe:    Fehlen   rechts   gänzlich  bis  zum  6.  Tage,    dann 
allmählich  wiederkehrend,  am  10.  Tage  beiderseits  gleich. 


—     310    — 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Gestorben  am  30.  Tage  an  Staupe,  an  der  er  an  ca.  8  Tagen  gelitten  hatte. 

Section:  Häute  normal.  Die  Auflagerung  nimmt  die  Stelle  Aj  ein. 
Sie  misst  sagittal  12,5  mm,  frontal  reichlich  11  mm.  Mit  dem  medialen  Rande 
bleibt  sie  7  mm  von  der  Mittellinie,  mit  dem  hinteren  Rande  reichlich  8  mm 
von  dem  hinteren  Pol  und  nach  vorn  4—5  mm  von  einer  Senkrechten:  Palx 
—  hinterer  Rand  der  IV.  Urwindung  entfernt.  Durchschnitt  durch  die 
Mitte  der  Narbe:  Die  Rinde  ist  unter  der  Auflagerung  in  den  medialen  drei 
Vierteln  durch  ein  derbes  weissliches,  im  lateralen  Viertel  durch  ein  bräun- 
lich gefärbtes  maschiges  Närbengewebe  ersetzt.  Beide  zusammen  bilden 
eine  dreieckige  Masse,  welche  auch  die  darunter  liegende  weisse  Substanz  er- 
setzt. Mitzerstört  ist  die  graue  Substanz  der  III.  Urwindung  in  der  Furche 
zwischen  ihr  und  der  IL  Urwindung.  Dagegen  ist  die  weisse  Substanz  der 
ersteren  makroskopisch  ziemlich  gut  erhalten.  Von  der  Spitze  der  trichterför- 
migen Narbe  zieht  sich  an  der  inneren  Fläche  der  medialen  grauen  Substanz 
ein  feiner,  sich  basalwärts  verbreiternder,  braunroth  gefärbter  Spalt  noch  11mm 
weiter  basalwärts. 

Die  Stelle  Ai  war  zerstört.  Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens, 
welche  dauernd  rindenblind  hätte  sein  sollen,  war  aber  bereits  am 
4.  Tage  wieder  functionstüchtig.  Die  Sehstörung  hatte  einen 
hemianopischen  Charakter  mit  besonderer  Bevorzugung  des  oberen 
äusseren  Quadranten. 

BeobachtviTig;'  6T^. 

Aufdeckung  der  Stelle  A^  links  auf  sagittal  14  mm,  frontal  19  mm,  so 
dass  etwa  4  mm  von  der  I.  Urwindung  und  etwa  2  mm  von  dem  lateralen 
Schenkel  der  II.  Urwindung  frei  liegen.  Der  hintere  Rand  der  Knochenlücke 
ist  ca. 7  mm  vom  Tentorium  entfernt.  Die  freiliegende  Rinde  wird  bis  auf  einen 
medialen  ca.  2  mm  breiten  Rindenstreifen  auf  ca.  3  mm  Tiefe  glatt  abgetragen. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Reagirt  am  2.  Tage  gegen  Fleisch  nicht, 
giebt  die  Pfote,  aber  nur,  wenn  das  Bild  der  Hand  auf  das  linke  Auge  fällt, 
am  3.  Tage  giebt  er  die  Pfote  auch  dann,  wenn  das  Bild  der  Hand  auf  die 
mediale  Partie  des  rechten  Auges  fällt;  an  diesem  Tage  reagirt  er  gegen 
Fleisch  oberhalb  des  Aequators  auf  ca.  Yg,  unterhalb  auf  ca.  ^/g  des  Gesichts- 
feldes. Am  5.  Tage  hat  die  sehende  Partie  sich  verbreitert,  sodass  unterhalb 
des  Aequators  nur  noch  etwa  Yg  des  Gesichtsfeldes  blind  erscheint.  Vom 
G. — 8.  Tage  ist  nur  noch  der  obere  äussere  Quadrant  blind,  von  da  bis  zum 
15.  Tage  reagirt  der  Hund  auf  einem  oberen  lateralen  Kreisabschnitt  unsicher, 
derart,  dass  er  das  Fleisch  nicht  immer  bemerkt,  oder  es,  wenn  er  es  bemerkt, 
nur  fixirt,  ohne  danach  zu  schnappen.  Am  17.  Tage  keine  Sehstörung  mehr. 
Der  Stossversuch  erweist  bereits  am  6.  Tage  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens 
als  functionstüchtig.  In  der  Periode  vom  7.— 16.  Tage  ist  die  Sehstörung  in 
der  Schwebe  stets  deutlicher  nachzuweisen   als   ausserhalb  derselben,    wo  sie 


—     311     — 

nicht  selten  ganz  fehlt.  In  der  gleichen  Periode  ergeben  Versuche  mit  .ib- 
wechselnder  Darreichung  von  Fleisch  und  Watte  auf  beiden  Augen  gleich- 
massig  Folgendes :  Der  Hund  schnappt,  nachdem  er  Pleischstücke  erhalten 
hat,  auch  nach  Watte,  sogar  mehrere  Male  nacheinander,  verweigert  dann  aber 


(zu 
Beob.  71) 


23, 


Fiff.  102. 


Fig.  103. 


—     312     — 

auch  Fleisch,  bis  es  ihm  unter  die  Nase  gehalten  wird.  Wird  nun  wieder  Watte 
gereicht,  so  schnappt  der  Hund  wieder  danach.  Diese  Prüfung  war  zuerst 
rechts  gemacht.  Links  schnappt  er  aber  auch,  ohne  dass  sogar  vorher  Fleisch 
gereicht  war,  sogleich  nach  Watte.     Links   ist   ein    schmaler  nasaler  Streifen 


links      WL  ■  Xk       rechts 


Fig.  104. 

bis  7Aim  8.  Tage,  wenn  auch  vom  6. Tage  an  unsicher  werdend,  nachzuweisen. 
Gegen  Licht:  Reaction  im  allgemeinen  beiderseits  schwach,  aber  doch  erkenn- 
bar, entprechend  der  Sehstörung  gegen  Fleisch.  Gegen  Ende  der  Beobachtung 
ist  die  Reaction  gegen  Licht  beiderseits  sehr  lebhaft. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  rechts  gänzlich  bis  zum  6.  Tage.  An  die- 
sem Tage  gelegentlich  andeutungsweise,  am  folgenden  Tage  wieder  fehlend. 
Am  8.  Tage  wieder  vorhanden,  dann  allmählich  zunehmend,  aber  am  20.  Tage 
(Schluss  der  Beob.)  noch  schwächer  als  links,    gegen    schmale  Hand  fehlend. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  nach  ca.  7  Wochen,  nachdem  inzwischen  eine  2.  symmetrische 
Operation  ausgeführt  worden  war. 

Section:  Häute  normal.  Die  sagittal  12,5  mm,  frontal  10,5  mm  mes- 
sende Auflagerung  reicht  hinten  medial  bis  an  den  hinteren  Pol,  mit  ihrem 
medialen  Rande  bleibt  sie  etwa  5  mm  von  der  Mittellinie  und  mit  ihrem  vor- 
deren Rande  6mm  von  einer  Senkrechten:  Falx — hinterer  Rand  derlV.Urwin- 
dung  entfernt.  Medial  vorn  und  in  der  vorderen  Hälfte  der  lateralen  Grenze 
ist  sie  von  einem  stark  zerklüfteten  Hofe  von  gelblicher  Farbe  umgeben,  der- 
art, dass  der  gesammte  sagittale  Durchmesser  zerstörter  Rinde  16  mm  beträgt. 
Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Die  Rinde  und  das  Mark  fehlen  unter 
der  Auflagerung  gänzlich  mit  Ausnahme  der  medialen  Partie  des  Randwulstes. 
In  diesen  zieht  sich  von  der  medialen  Ecke  der  Hirnnarbe  bogenförmig  ein 
bräunlicher  Erweichungsstreifen  tief  bis  fast  an  den  Sulcus  calloso-marginalis 


—     313     — 

hinan.     Im  Uebrigen  findet  sich    unter  der  Auflagerung  ein  niaschiges  bräun- 
liches Gewebe. 

Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens,  welche  hätte  dauernd  rin- 
denblind sein  sollen,  Avar  bereits  am  3.  Tage  frei.  Am  17.  Tage 
war  überhaupt  jede  Spur  von  Sehstörung  verschwunden.  Vornehmlich 
betroffen  war  der  obere  äussere  Quadrant,  was  in  Beziehung  dazu  ge- 
bracht werden  könnte,  dass  die  hintere  Partie  der  Sehsphäre  stärker 
als  die  vordere  geschädigt  war. 

JE5eofcȣiclJitii.iig"  6S. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  72.  Aufdeckung  der  Stelle  Aj^  rechts  auf  sagit- 
tal  12,5  mrn,  frontal  13  mm.  Der  mediale  Rand  der  Knochenlücke  bleibt 
4  mm  von  der  Mittellinie,  der  hintere  Rand  10  mm  von  der  Lambdanaht  ent- 
fernt. Die  freiliegende  Rinde  wird  ca.  3  mm  tief  umschnitten  und  dann  flach 
mit  der  Scheere  exstirpirt. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Rechts:  Ein  anfänglich  breiterer,  schnell 
abnehmender  nasaler  Streifen,  sodass  es  am  7.  und  8.  Tage  zweifelhaft  ist,  ob 
noch  eine  Sehstörung   besteht;    am  10.  Tage   sicher   keine  Sehstöruno-   mehr. 


(zu 
Beob.  72) 


(zu 
Beob.  68) 


Fig.  105. 

Links:  Am  2.  und  3.  Tage  oberhalb  des  Aequators  schmaler  sehender  medialer 
Streifen,  unterhalb  ist  etwa  der  mediale  Quadrant  frei.  Die  Freiheit  der  Stelle 
des  deutlichen  Sehens  wird  jetzt  und  später  auch  durch  den  Stossversuch  er- 
wiesen. Vom  4.-6.  Tage:  Medialer  sehender  Streifen  oberhalb  des  Aequators 
verbreitert,  vom  7.— 10.  Tage  laterale  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  blind.  Von 
diesem  Tage  an  beginnt  dieSehstöiung  unterhalb  des  Aequators  zurückzugehen, 
sodass    am  16.  Tage   nur   noch    der    obere   äussere  Quadrant  blind  ist.     Am 


—     314     — 

17.  Tage  ist  die  Sehstörnng  auch  dort  zurücligegangen.    Am  18.  Tage  erscheint 
sie  in  der  Sehwebe  dort  unverändert,  auf  dem  Schosse  aber  nicht  mehr  nach- 


Fiff.  IOC). 


links 


rechts 


Fig.  107. 
weisbar.  Am  22.  Tage  Sehstörung  verschwunden.   Gegen  Licht:  Entsprechend 
der  Sehstörung  gegen  Fleisch  bis  zum  16.  Tage.    Von  diesem  Tage  an  scheut 
der  Hund  auch  links  schon  weit  aussen. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung  gänz- 
lich. Auch  auf  dem  rechten  Auge  erweisen  sie  sich  bis  zu  diesem  Zeitpunkte 
gegen  flache  Hand  abgeschwächt,  gegen  schmale  Hand  fehlend. 

Nasenlidreflex  ungestört. 


—     315      - 

Getödtet  nach  ca.  4  Wochen. 

Section:  Häute  normal.  Die  Auflag-erung  nimmt  die  laterale  Hälfte  der 
L,  den  medialen  Schenkel  der  11.  und  die  mediale  Hälfte  des  lateralen  Schen- 
kels der  n.  Urwindung  ein.  Sie  misst  sagittal  11  mm,  frontal  14  mm,  bleibt 
von  dem  sehr  stark  eingezogenen  hinteren  Pol  in  der  Mitte  9  mm  und  mit  ihrem 
medialen  Rande  6  mm  von  der  Mittellinie  entfernt.  Hir  vorderer  Rand  schnei- 
det etwa  mit  einer  Senkrechten:  Falx  —  hinterer  Rand  der  IV.  Urwindung  ab. 
Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Die  Rinde  ist  unter  der  Auflagerung 
gänzlich  zerstört;  die  letztere  setzt  sich  mit  einer  grau-bräunliclien  Masse  von 
etwa  dreieckiger  Gestalt  ziemlich  tief  in  das  Marklager  fort.  Lateral  davon 
finden  sich  noch  einige  isolirte  bräunliche  Streifen.  Die  Spitze  des  Keils  reicht 
bis  etwa  4  mm  von  der  Spitze  des  hier  angeschnittenen  Seitenventrikels. 

Die  Stelle  Ai  war  zerstört.  Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens, 
welche  allein  hätte  betroffen  sein  sollen,  erwies  sich  von  Anfang  an 
frei.  Die  Sehstörung  zeigte  einen  vorwiegend  hemianopischen  Charakter 
mit  Bevorzugung  des  oberen  äusseren  Quadranten,  ohne  dass  zu  letzterer 
durch  die  Localisation  der  Ausschaltung  eine  besondere  Veranlassung 
gegeben  gewesen  wäre. 

Beobachtiziijär  ÖO. 

Aufdeckung  hinten  links  auf  13,5  mm  sagittal,  16  mm  frontal.  Abtra- 
gung der  Dura  im  ganzen  Gebiet.  Die  freiliegende  Rinde  wird  auf  1  cm  Tiefe 
mit  dem  schmalen  Präparatenheber  umstochen,  unterschnitten  und  dann  mit 
dem  breiten  Präparatenheber  und  der  Schere  abgetragen.  Die  medial  davon 
bis  zur  Falx  unter  dem  medialen  Knochenrand  liegende  Partie  wird  sodann 
mit  dem  Daviel' sehen  Löffel  unterlöffelf  und  ausgiebig  zerstört. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  und  3.  Tage  sieht  der  Hund  nur 
im  schmalen  nasalen  Streifen  (stösst  auch  mit  der  rechten  Seite  des  Kopfes 
an),  am  4. — 6.  Tage  noch  2/3 — ^/4  des  Gesichtsfeldes,  am  6.  Tage  im  unteren 
Quadranten  etwas  weiter  aufgehellt,  am  7.  Tage  im  oberen  äusseren  Quadran- 
ten, im  unteren  weiter  aufgehellt.  Vom  8. — 10.  Tage  anscheinend  im  oberen 
Quadranten  etwa  Va»  ii»  unteren  weniger  als  ^/s,  am  11.  Tage  (Hund  ruhiger) 
reicht  die  Sehstörung  im  oberen  Quadranten  noch  etwas  über  den  verticalen 
Meridian  hinaus.  Vom  12. — 14.  Tage  temporaler  Streifen,  am  15.  Tage  schma- 
ler temporaler  Streifen,  am  16.  und  17.  Tage  unsicher,  ob  noch  Sehstörung,  am 
18.  Tage  normal.  Gegen  Licht:  Reaction  fehlt  vom  2.-4  Tage,  am  5. Tage  im 
sehenden  Theile  des  Gesichtsfeldes  vorhanden,  am  6.  Tage  beiderseits  gleich. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  vom  2.— 18.  Tage  (Schluss  der  Beobach- 
tung), obschon  es  vorher  an  einzelnen  Tagen  schien,  als  wenn  sie  gegen  flache 
Hand  andeutungsweise  vorhanden  wären. 

Nase  nlidreflex  intact. 

Getödtet  nach  10  Wochen,  nachdem  inzwischen  eine  2.  Operation  an  der 
anderen  Hemisphäre  ausgeführt  worden  war. 

Section:  Dura  und  Pia  frei,  Dura  nur  an  den  Rändern  der  Auflagerung 
adhärent.     Die  vordere  Grenze  der  Auflagerung   schneidet  mit  einer  Linie  ab, 


316 


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ia 


ti. 


zu  Beob.  69) 


—     317     — 

die  vom  hinteren  Rande  der  Sylvi'schen  Windung  senkrecht  auf  die  Falx  ge- 
zogen wird.  Der  mediale  Rand  reicht  noch  ein  wenig  in  die  I.  Urwindung 
hinein,  der  hintere  Rand  bleibt  vom  hinteren  Pol  6  mm  entfernt.  Der  laterale 
Rand  berührt  eben  den  oberen  Rand  der  TU.  Urwindung,    Durchschnitt  durch 


Pia-.  109. 


links 


rechts 


Pig.  110. 

die  Mitte  der  Auflagerung:  Rinde  und  Mark  der  ganzen  II.  und  grössten  Theils 
der  1.  Urwindung  zerstört.  Von  der  Auflagerung  erstreckt  sich  ca.  3  mm  weit 
in  die  Tiefe  reichend,  ein  schmaler,  gelblicher  Streifen  in  die  Markstrahlung 
hinein.  Der  Seitenventrikel  ist,  wie  sich  auf  einem  2.  Schnitt  dicht  vor  der 
Auflagerung  ergiebt,  dreieckig  in  die  Höhe  gezogen;  die  diesen  dorsal  und 
medial  begrenzende  Markschicht  (Forceps)  ist  äusserst  atrophisch. 


318 


In  dem  vorliegenden  Falle  hätte,  da  die  Stelle  A^  gänzlich  und 
der  angrenzende  Theil  der  I.  Urwindung  grösstentheils  zerstört  worden 
war,  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  und  ein  Theil  des  temporalen 
Gesichtsfeldes  dauernd  rindenblind  sein  müssen.  Es  trat  aber  zunächst 
eine  typische  temporale  Hemianopsie  auf,  die  sich  derart  verlor,  dass 
gerade  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  bereits  am  6.  Tage 
wieder  functions fähig  war,  während  Rindenblindheit  irgend  eines 
Theiles  des  Gesichtsfeldes  überhaupt  ausblieb. 

Beol>aclitimg-  TO. 

Aufdeckung-  links  fast  ganz  hinten,  dicht  neben  der  Mittelünie  auf  ID  mm 
sagittal,  12  mm  frontal.  Umstechung  und  Exstirpation  der  freiliegenden  Kinde 
ca.  ^U  cm  tief,  medial  bis  zur  Falx,  nach  vorn  noch  etwa  o  mm  unter  dem 
Knochenrand. 

M  0 1  i  1  i  t  ä t  s  s  t  ö  r  u  n  g  e  n  fehlen . 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  sieht  er  bei  verbundenem 
linken  Auge  in  einem  schmalen  nasalen  Streifen,  wobei  nicht  auszumachen  ist, 
ob  er  in  dem  oberen  Drittel  sieht.     Links  sieht  er  in  einem  schmalen  nasalen 


Fig.  111. 

Streifen  nichts.  Auf  dem  Boden  findet  er  rechts  Fleisch  nicht.  3.  Tag:  Der 
sehende  Streifen  rechts  ist  etwas  breiter  geworden;  links  und  auf  dem  Boden 
unverändert.  4.  Tag:  Rechts  ist  der  blinde  Theil  des  Gesichtsfeldes  wieder 
etwas  geringer  geworden,  unten  anscheinend  nur  noch  ein  Viertel  des  Gesichts- 
feldes, oben  reicht  der  blinde  Theil  noch  über  die  Mittellinie  hinaus.  Links 
unverändert.  5.  Tag:  Rechts  noch  ein  lateraler  Streifen,  der  oben  bis  zur 
Mitte  reicht,  reactionslos.  Links  besteht  noch  immer  oben  nasal  ein  blinder 
Streifen.  Auf  dem  Boden  findet  er  bei  verbundenem  linken  Aug-e  vorgeworfenes 
Fleisch  ziemlich  gut.  6.  Tag:  Rechts  lässt  sich  bei  gewöhnlicher  Absuchung 
des  Gesichtsfeldes  keine  Störung  mehr  constatiren,  wenn  man  dagegen  kleine 
Stückchen  Fleisch  mit  der  Pincette  senkrecht  auf  das  Auge  zustösst,  so  reagirt 
er  anfangs  in  der  unteren  Hälfte  nicht,  nachher  aber  immer,  in  der  oberen 
Hälfte  des  Gesichtsfeldes  reagirt  er  hierauf  stets.  Gleich  grosse  Stückchen 
){ork   nimmt  er  das  1,  und  2.  Mal  ins  Maul,    das  3.  Mal    beriecht  er  sie,   das 


—     319     — 

4.  Mal  wendet  er  sich  entrüstet  ab.  7.  Tag:  Es  ist  nichts  Sicheres  nachzuwei- 
sen; zuweilen  scheint  es  so,  als  ob  oben  aussen  noch  ein  ganz  schmaler  Streifen 
bestände,  doch  reagirt  er  andere  Male  wieder  ganz  lateral.  Links  besteht  keine 
Sehstörung  mehr.  Vom  8.  Tage  an  beiderseits,  sowohl  in  der  Schwebe,  wie 
auf  dem  Boden  normal.  Gegen  Licht:  Bis  zum  5.  Tage  beiderseits  indifferent, 
fixirt  es  am  3.  Tage  aber  mit  dem  rechten  Auge,  nachher  wendet  er  sich  stets 
beiderseits  ab. 


Fio-.  112. 


Fig.  113. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  rechts  bis  zum  S.Tage  gänzlich,  am 
9.  Tage  gegen  flache  Hand  immer,  gegen  schmale  Hand  zuweilen,  vom 
13.  Tage  an  auch  gegen  schmale  Hand  immer  vorhanden.  Links  in  den  ersten 
Tagen  gleichfalls  schwach. 


—     320     — 

Gestorben  nach  3  Wochen,  während   einer  2.  Operation  in   der  Narkose. 

Section:  Häute  normal.  Die  Narbe  sitzt  zum  grössten  Theil  in  der 
I.  Urwindung  und  reicht  fast  bis  an  den  medialen  Rand,  der  stark  eingezogen 
ist.  Sie  nimmt  dann  die  mediale  Hälfte  der  II.  Urwindung  ein,  nach  hinten 
bleibt  sie  7  mm  vom  hinteren  Pol  entfernt.  Nach  vorn  reicht  sie  etwa  bis  zum 
vorderen  Rand  der  Munk' sehen  Sehsphäre.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der 
Narbe:  Die  Rinde,  sowie  das  Mark  fehlen  an  der  bezeichneten  Stelle  ganz. 
Die  oberflächliche  Narbe  endet  mit  zwei  braunen  erweichten  Zipfeln  in  dem 
benachbarten  Markweiss  und  im  Gyrus  fornicatus. 

Die  Zerstörung  betraf  die  Stelle  A^,  welche  nebst  dem  darunter 
liegenden  Marklager  gänzlich  ausgeschaltet  war,  ferner  ein  erhebliches 
Stück  des  medialen  Theiles  des  vorderen  Abschnittes  der  Sehsphäre, 
während  der  laterale  Abschnitt  gänzlich  frei  und  der  hintere  Abschnitt, 
wenn  überhaupt,  nur  wenig  in  Mitleidenschaft  gezogen  war. 

Die  Exstirpation  hätte  also  zur  dauernden  Rindenblindheit  der  Stelle 
des  deutlichen  Sehens  und  eines  Theiles  des  unteren  Abschnittes  des 
rechtsseitigen  Gesichtsfeldes  führen,  dagegen  das  linksseitige  Gesichts- 
feld vollkommen  freilassen  müssen:  letzteres  wäre  in  diesem  Falle  um 
so  mehr  zu  erwarten  gewesen,  als  sich  die  secundären  Erweichungen 
nicht  in  den  lateralen,  sondernin  den  medialen  Abschnitt  der  Hemisphäre 
erstreckten.  Thatsächlich  bestand  eine  typische  Hemiamblyopie,  so  dass 
die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  bereits  am  4.  Tage  wieder 
fuuctionsfähig  war  und  so,  dass  die  Aufhellung  nicht  von  oben  nach 
unten,  sondern  von  unten  nach  oben  erfolgte.  Dagegen  muss  erwähnt 
werden,  dass  der  Hund  an  einem,  dem  6.  Tage  gegen  den  sogenannten 
Stossversuch  in  dem  oberen  Theil  des  Gesichtsfeldes  besser  als  in  dem 
unteren  zu  reagiren  schien.  Auch  fehlte  keineswegs  der  blinde  Streifen 
auf  dem  gleichseitigen  Auge,  sondern  war  ungefähr  ebenso  lange  als 
die  rechtsseitige  Sehstörung  nachweisbar. 

Beofeaelitnng"  T'l. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  67  (vergl.  dort  die  Figuren).  Aufdeckung  der 
Stelle  Aj  rechts  auf  14  mm  sagittal,  15  mm  frontal.  Die  freiliegende  Rinde 
wird  ganz  flach  mit  dem  Präparatenheber  unterschnitten  und  exstirpirt. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Links:  Am  2.  Tage  ein  schmaler  media- 
ler unterer  Kreisabschnitt  sehend,  der  sich  bis  zum  6.  Tage  etwas  erweitert 
hat.  Während  dieser  Zeit  ist  die  Sehstörung  auf  dem  übrigen  Areal  des  Ge- 
sichtsfeldes zwar  in  der  Schwebe,  nicht  auf  dem  Schosse  vollkommen,  dort 
sieht  der  Hund  etwas,  aber  unsicher.  Am  10.  Tage  ist  diese  Art  von  Amblyo- 
pie auch  in  der  Schwebe  auf  dem  dort  vorher  gar  nicht  reagirenden  Areal 
nachzuweisen.  Der  Hund  erscheint  auf  der  bisher  blinden  Partie  nicht  mehr 
völlig   blind,    sondern    dieser  Theil    leicht   aufgehellt.     Der  Hund  reagirt  oft 


—     321     — 

schon  weit  aussen,  localisirt  aber  falsch,  meist  schnuppert  er  nur  etwas.     Am 

12.  Tage  starke,  nicht  deutlich  abgrenzbare  Unsicherheit  im  Gebiete  der  late- 
ralen Hälfte.  Stelle  des  deutlichen  Sehens  ist  ganz  frei,  eine  völlig  blinde 
Zone  besteht  überhaupt  nicht  mehr.  Vom  13.— 22.  Tage  beschränkt  sich  diese 
Art  von  Sehstörung  auf  den  oberen  äusseren  Quadranten,  später  keine  Sehstö- 
rung mehr.  Rechts:  Schmaler  nasaler  Streifen  bis  zum  12.  Tage,  dann  nicht 
mehr  blind.     Gegen  Licht:    Reaction   von  Anfang  an  überall  vorhanden,    am 

13.  Tage  hält  der  schwebende  Hund  auf  den  Lichtreiz  sich  immer  die  Augen  zu. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  anfänglich  gänzlich  und  sind  noch  am 
26.  Tage  (Schluss  der  Beob.)  gegen  flache  Hand  nur  angedeutet,  gegen  schmale 
Hand  gar  nicht  vorhanden,  auch  rechts  sind  sie  noch  abgeschwächt. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  am  26.  Tage. 

Section:  Häute  normal.  Die  sagittal  12,5mm,  frontal  15mm  messende 
Aullagerung  reicht  hinten  medial  bis  an  den  hinteren  Pol,  mit  ihrem  medialen 
Rande  bleibt  sie  5  mm  von  der  Mittellinie  und  mit  ihrem  vorderen  Rande  4  mm 
von  einer  Senkrechten:  Falx  —  hinterer  Rand  der  IV. Urwindung  entfernt.  Nach 
lateral  greift  die  Auflagerung  noch  gerade  auf  den  lateralen  Schenkel  der 
II.  Urwindung  über.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Rinde  und  Mark 
fehlen  unter  der  ganzen  Auflagerung  und  lateralwärts  noch  etwa  2  mm  darüber 
hinaus.  Darunter  zieht  eine  kegelförmige  Narbe,  deren  medialer  Rand  dem 
medialen  Grau  anliegt,  bis  ca.  2  mm  von  der  Spitze  des  Seitenventrikels.  An 
der  Spitze  dieser  Narbe  findet  sich  eine  stark  linsengrosse  Höhle  mit  bräunlich 
verfärbtem  blutigem  Inhalt  jüngeren  Datums. 

Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens,  welche  dauernd  rindenblind 
hätte  sein  sollen,  war  überhaupt  nicht  blind,  sondern  von  Anfang 
an  wie  das  ganze  afficirte  Gesichtsfeld  nur  amblyopisch.  Vom  12.  Tage 
an  war  sie  ganz  frei,  am  stärksten  war  die  Sehstörung  lateral  und  oben. 

Beobachtung;  ^2. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  68  (vergl.  dort  die  Figuren). 

Aufdeckung  der  Stelle  A^  links  auf  sagittal  11,5  mm,  frontal  16,5  mm. 
Der  mediale  Rand  der  Lücke  bleibt  ca.  3  mm  von  der  Medianspalte,  der  hintere 
Rand  7  mm  vom  Tentorium  entfernt.  Da  etwas  mehr  als  erforderlich  von  der 
I.  Urwindung  aufgedeckt  war,  wird  die  Stelle  A^^  auf  ca.  5  mm  Tiefe  so  ex- 
stirpirt,  dass  ca.  3—4  mm  von  dem  aufgedeckten  Randwulst  stehen  bleiben. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Links:  Am  2.  Tage  ein  etwas  breiterer, 
am  3.  und  4.  Tage  ein  schmaler  nasaler  Streifen,  am  5.  Tage  nur  noch  ein 
oberer  nasaler  Fleck  blind,  auf  dem  an  den  nächsten  Tagen  die  Reaction  noch 
etwas  unsicher  ist.     Rechts:     Am  2.-4.  Tage    die  laterale  Hälfte  blind,   am 

5.  Tage  nur  noch  etwa  das  laterale  Viertel  mit  unsicherer  Abgrenzung;  am 
9.  Tage  diese  Stelle  unsicher,  am  11.  Tage  Sehstörung  verschwunden.  Gegen 
Licht  rechts  entsprechend  der  Sehstörung  gegen  Fleisch,   doch  scheut  er  vom 

6.  Tage  an  schon  weit  aussen. 

Hitzig,  Gesammelte  Abliandl.    II.  Theil.  21 


122 


Optische  Pveflexe:  Fehlen  rechts  bis  zum  5.  Tage,  auch  an  diesem 
Tage  in  der  Schwebe;  auf  dem  Schosse  jedoch  gegen  flache  Hand  abge- 
schwächt vorhanden.    So  bleibt  es  bis  zum  19.  Tage  (Schluss  der  Beob,). 


Fig.  114. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  nach  ca.  7  Wochen,  nachdem  inzwischen  eine  2.  symmetrische 
Operation  ausgeführt  worden  war. 

Section:  Häute  normal.  Die  Auflagerung  nimmt  den  lateralen  Schen- 
kel der  I.,  den  medialen  Schenkel  der  H.  und  das  mediale  Drittel  des  lateralen 
Schenkels  der  ll.Urwindung  ein.  Sie  misst  sagittal  11mm,  frontal  15  mm.  Sie 
bleibt  mit  ihrem  hinteren  Rand  in  der  Mitte  von  dem  sehr  stark  eingezogenen 
hinteren  Pol  10  mm  und  mit  ihrem  medialen  Rande  7  mm  von  der  Mittellinie 
entfernt.  Ihr  vorderer  Rand  schneidet  etwa  mit  einer  Senkrechten:  Falx  — 
hinterer  Rand  der  IV.  Urwindung  ab.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe: 
Die  Rinde  fehlt  unter  der  Auflagerung  gänzlich.  Unter  ihr  beginnt  eine  an- 
nähernd dreieckige  graubräunliche  Masse,  welche  sich  ziemlich  tief  in  die 
Markstrahlung  und  in  die  laterale  Partie  des  Graues  des  Randwulstes  einsenkt. 

Die  Stelle  Ai  war  zerstört.  Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens, 
welche  dauernd  rindenblind  hätte  sein  sollen,  war  aber  überhaupt 
nicht  betroffen,  sondern  wurde  bereits  am  2.  Tage  frei  gefunden. 
Die  Sehstörung  trug  wie  immer  einen  hemianopischen  Charakter. 

Beobaclitixnjs:  T^S. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  65  (vergl.  dort  die  Figuren).  Aufdeckung  der 
Stelle  A^  rechts  auf  ca.  15  mm  frontal  und  13  mm  sagittal.  Hinterer  Rand 
der  Lücke  10  mm  von  der  Lambdanaht,    medialer  Rand  8  mm  von  der  Mittel- 


—     323     — 

linie  entfernt.  Abtragung  der  Rinde  in  einer  Tiefe  von  ca.  3—4  mm  mit  Aus- 
nahme der  lateralsten  ca.  2  mm. 

Der  Hund  wurde  am  10.  Tage  mit  allen  anderen  zur  Zeit  im  Stall  be- 
findlichen Thieren  von  der  Staupe  befallen  und  litt  in  Folge  dessen  vom 
15.  bis  excl.  32.  Tage  an  einer  Cornealtrübung,  die  die  Untersuchung  des 
Sehverrpögens  nicht  zuliess. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Rechts:  Anfänglich  schmaler  nasaler 
Streifen,  am  8.  Tage  nur  noch  undeutlich  nachweisbar,  amblyopisch.  Links: 
Anfänglich  schmaler  nasaler  Streifen,  am  6.  Tage  fast,   am  8.  Tage  die  ganze 


Fig.  115. 
mediale  Hälfte  sehend,    am  13.  Tage   noch    das   laterale  Drittel  amblyopisch, 
dann  nicht  zu  untersuchen  bis  zum  32.  Tage,  wo  keine  Sehstörung  mehr  nach- 
weisbar ist.    Gegen  Licht:  Beiderseits  kein  sicheres  Resultat  zu  erhalten. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  links  während  der  ersten  Periode  der  Beob- 
achtung und  sind  am  32.  Tage  nur  gegen  flache  Hand,  immer  noch  schwächer 
als  rechts  zu  erhalten.  Rechts  waren  sie  in  der  ersten  Periode  gegen  flache 
Hand  angedeutet  oder  schwach  vorhanden,  am  32.  Tage  auch  noch  abge- 
schwächt, während  sie  gegen  schmale  Hand  dauernd  fehlten. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  am  36.  Tage. 

Section:  Häute  normal.  Die  Auflagerung  nimmt  die  laterale  Hälfte  der 
L,  den  medialen  Schenkel  der  II.  und  das  mediale  Drittel  des  lateralen  Schen- 
kels der  letztgenannten  Urwindung  ein.  Sie  misst  frontal  16  mm,  sagittal 
13  mm,  bleibt  von  dem  sehr  stark  eingezogenen  hinteren  Pol  9  mm,  von  der 
Mittellinie  6  mm  entfernt.  Der  vordere  Rand  schneidet  ab  mit  einer  Senkrech- 
ten:  Falx  —  hinterer  Rand  der  IV.  Urwindung.  Durchschnitt  durch  die  Mitte 
der  Narbe:  Die  Rinde  fehlt  unter  der  ganzen  Auflagerung  und  lateral  noch 
2  mm  weiter.     Unterhalb  der  Auflagerung   erstreckt   sich  ein  annähernd  drei- 

21* 


—     324     — 

eckiger,  bräunlich  gelber,  maschiger  Herd  bis  tief  in  die  weisse  Substanz  hin- 
ein, so  dass  er  überall  die  Grenzen  des  medialen  Graues  streift.  Ausserdem 
zieht  sich  ein  kleiner  Erweichungsstreifen  in  das  Grau  des  Randwulstes  hinein. 

Die  Läsion  umschloss  die  Stelle  A^.  Die  Stelle  des  deutlichen 
Sehens  hätte  also  dauernd  rindenblind  sein  sollen.  Die  Sehstörung  war 
aber  hemianopischer  Natur  und  begriff  die  Stelle  des  deutlichen 
Sehens  nur  längstens  bis  zum  7.  Tage  in  sich.  Das  gleichseitige 
Auge,  welches  hätte  frei  sein  sollen,  zeigte  gleichfalls  die  gewohnte 
Selistörung,  mindestens  bis  zum  6.  Tage  iucl. 


Beot>a,clit«.iija^  'V^. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  75.  Aufdeckung  der  Stelle  A^^  rechts  auf 
sagittal  15  mm,  frontal  17  mm.    Exstirpation  der  Rinde  ca  4  mm  tief. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Rechts:  Von  14tägiger  Dauer,  betrifft, 
wie  üblich,  den  nasalen  Streifen.     Links:    An  den  beiden  ersten  Tagen  nicht 


(zu  Beob.  74) 


Fig.  116. 


—     325     — 

zu  untersuchen,  am  4.  und  5.  Tage  ist  der  grössere  Theil  des  Gesichtsfeldes 
blind,  amblyopisch  die  obere  Hälfte  des  nasalen  Streifens  und  unterhalb  des 
Aequators  die  mediale  Grenzzone  des  blinden  Feldes;  normal  reagirt  nur  ein 
schmaler,  unterer  Kreisabschnitt.  Vom  7.— 11,  Tage  nimmt  die  Sehstörung 
oberhalb  des  Aequators  ca.  ^/^^  unterhalb  Yg  ein.  Die  Stelle  des  deutlichen 
Sehens    ist    frei.     Am  12.  Tage    oberer    äusserer  Quadrant  und  unterhalb  des 


Fig.  117. 


links 


rechts 


Fig.  118. 
Aequators  noch  ein  Streifen  blind..  Vom  14.— 17.  Tage  erfolgt  die  Reaction 
auf  der  bis  dahin  blinden  Stelle  noch  unsicher,  vom  17.  Tage  an  ist  keine 
Sehstörung  mehr  nachweisbar.  Gegen  Licht:  Noch  am  12.  Tage  wendet  er 
sich  links  nur  medial  ab,  rechts  schon  weit  aussen.  Am  17.  Tage  beider- 
seits gleich. 


—     326     — 

Optische  Pveflexe:  Fehlen  gänzlich  bis  zum  14.  Tage,  an  diesem 
Tage  gegen  flache  Hand  'angedeutet,  dann  langsam  stärker  werdend,  gegen 
schmale  Hand  noch  am  Schluss  der  Beobachtung  (29.  Tag)  fehlend;  auch 
rechterseits  sind  zu  dieser  Zeit  die  optischen  Reflexe  noch  abgeschwächt,  wäh- 
rend der  Hund  sich  bei  Annäherung  der  Hand  abwendet. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  am  30.  Tage. 

Section:  Häute  normal.  Die  Auflagerung  sitzt  im  lateralen  Theil  derl., 
im  medialen  Schenkel  der  II.  Urwindung  und  greift  noch  mehrere  Millimeter 
auf  den  lateralen  Schenkel  dieser  Windung  über.  Sie  misst  sagittal  11,5  mm, 
frontal  13  mm,  bleibt  von  der  Mittellinie  4  mm  und  vom  hinteren  Pol  8  mm 
entfernt.  Nach  vorn  bleibt  sie  7  mm  hinter  einer  Senkrechten:  Falx — hinterer 
Rand  der  IV.  Urwindung  zurück.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe: 
Rinde  und  Mark  fehlen  unter  der  Auflagerung  gänzlich.  Etwa  von  der  Mitte 
der  Auflagerung  zieht  sich  ein  spaltförmiger  ca.  10  mm  langer  Erweichungs- 
herd lateralwärts  in  die  weisse  Substanz.  Daneben  lateral  finden  sich  noch 
einige  kleine  Herde  im  absteigenden  Theile  der  II.  Urwindung. 

Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens,  welche  dauernd  hätte  rindenblind 
sein  sollen,  gehörte  im  Gegentheil  zu  denjenigen  Theilen  des  Gesichts- 
feldes, welche  —  bei  annähernd  typischer  Hemianopie  —  zuerst  wieder 
functionstüchtig  waren.  Stärker  betroffen  war  der  obere  äussere  Qua- 
drant. Dem  gänzlichen  Verschwinden  der  Sehstörung  ging  eine  länger 
dauernde  Unsicherheit  auf  dem  zuletzt  blinden  Areal  voran.  Die  Seh- 
störung des  gleichseitigen  Auges  dauerte  verhältnissmässig  lange. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  74  (vergl.  dort  die  Figuren). 

Aufdeckung  der  Stelle  Aj  links  und  der  lateral  und  vorn  darüber  hinaus- 
reichenden Partie  in  einer  Ausdehnung  von  15  :  15  mm.  Die  Rinde  wird  in 
dieser  Ausdehnung  mit  dem  Messer  umschnitten  und  flach  ca.  3  mm  tief  mit 
der  Scheere  abgetragen. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch  (In  den  ersten  Tagen  durch  einen  Unfall 
eingeschüchtert,  daher  schwer  zu  untersuchen.):  Links:  Nasaler  Streifen  bis 
zum  11.  Tage,  vom  8.  Tage  an  nur  noch  in  der  Mitte  nachweisbar,  oben  und 
unten  nicht.  Rechts:  Am  2.  Tage  wahrscheinlich  ganz  blind,  am  3.  Tage  die 
obere  Hälfte  des  nasalen  Streifens  unsicher,  die  untere  aufgehellt,  an  die  letz- 
tere schliesst  sich  eine  unsichere  Zone.  Am  4.  Tage  erscheint  etwa  ein  Drittel 
des  Gesichtsfeldes  blind,  am  5.  und  6.  Tage  findet  sich  neben  einem  breiten 
nasalen  Streifen  eine  etwa  das  mittlere  Drittel  der  oberen  Hälfte  des  Gesichts- 
feldes einnehmende  unsichere  Zone,  der  Rest  ist  blind.  Am  7.  und  8.  Tage 
ist  nur  noch  der  untere  äussere  Quadrant  blind  und  die  Stelle  des  deutlichen 
Sehens  unsicher.  Später  wurde  diese  Stelle  auch  gegen  den  Stossversuch 
sehend  gefunden.  Vom  9.— 14.  Tage  ist  eine  Sehstörung  nur  noch  in  einem 
Theilo  des  unteren    lateralen  Quadranten  nachweisbar,    von    da   an   bis    zum 


—     327   ■ — 

17.  Tage  bestellt  hier  noch  eine  gewisse  Unsicherheit,  am  18.  Tage  keine  Seh- 
störung mehr.  Am  11.  Tage  nahm  er  beiderseits  Watte  und  Fleisch  in  gleicher 
Weise,  wenn  entsprechend  abgewechselt  wurde,  d.  h.  zuerst  ergriff  er  die 
Watte  2— 3 mal,  dann  besah  er  sie  sich  langsam  und  boroch  sie,  endlich  igno- 
rirte  er  sie.  Hatte  man  dann  wieder  mehrere  Male  hintereinander  Fleisch  ge- 
geben, so  ergriff  er  wieder  ohne  Besinnen  die  Watte.    Auf  das  erste  Stück  Fleisch 


Fig.  119. 

reagirte  er  dann  zwar  schneller  als  auf  die  Watte,  aber  doch'^uoch  vorsichtig. 
Gegen  Licht:  Am  2.  Tage  links  wenig,  rechts  gar  nicht  scheuend,  am  4.  Tage 
rechts  nur  medial,  am  8.  Tage  rechts  indifferent,  links  wendet  er  sich  ab,  am 
11.  Tage  links  wenig,  rechts  nur  medial  etwas  scheuend,  am  15.  Tage  beider- 
seits gleich. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  gänzlich  bis  zum  6.  Tage,  vom  7.  Tage  an 
kehren  sie  gegen  flache  Hand,  vom  9.  Tage  an  auch  gegen  schmale  Hand  all- 
mählich wieder,  noch  am  Schlüsse  der  Beob.  (21.  Tag)  abgeschwächt. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  nach  ca.  7  Wochen,  nachdem  inzwischen  eine  2.  symmetrische 
Operation  ausgeführt  worden  war. 

Section:  Häute  normal.  Die  Autlagerung  sitzt  im  lateralen  Theil  der 
I.  und  in  der  ganzen  IL  Urwindung.  Sie  bleibt  von  der  Mittellinie  4  mm, 
vom  hinteren  Fol  8  mm,  nach  vorn  4 — 5  mm  von  einer  Senkrechten:  Falx  — 
hinterer  Rand  der  IV. Urwindung  entfernt,  misst  sagittal  14mm,  frontal  16mm. 
Vor  der  Auflagerung  findet  sich  ein  ca.  8  mm  sagittal  und  5  mm  frontal 
grosser  flacher  Erweichungsherd,  der  die  Rinde  hier  ganz  oberflächlich  zerstört 
hat.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Rinde  und  Mark  fehlen  unter 
der  Auflagerung  gänzlich.  Sie  sind  durch  eine  kegelförmige,  leicht  bräunliche 
Masse  ersetzt. 


—     328     — 

Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens,  welche  dauernd  rindenblind  hätte 
sein  sollen,  war  dies  zwar  nicht,  vielmehr  war  schon  am  18.  Tage  jede 
Spur  von  Sehstörang  verschwunden;  sie  war  aber  am  7.  und  8.  Tage 
in  einer  die  Grenzen  der  sonst  vorhandenen  Sehstörung  überschreiten- 
den Zone  amblyopisch.  Ferner  betraf  die  Sehstörung  mehr  den  unteren 
lateralen  Quadranten,  was  auf  die  theils  durch  die  Operation,  theils 
durch  die  darauffolgende  Erweichung  der  Rinde  gesetzte  Zerstörung  der 
vorderen  Partie  der  „Sehspliäre"  bezogen  werden  könnte. 

Beobaditung'  T'G. 

Aufdeclmng  der  Stelle  A^  links  auf  13  mm  sagittal,  16  mm  frontal.  Es 
liegen  einige  laterale  Millimeter  der  L,  der  mediale  Schenkel  der  II.  und  einige 
Millimeter  des  lateralen  Schenkels  der  IL  Urwindung  frei.  Die  freiliegende 
Rinde  wird  flach  exstirpirt. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  ist  die  laterale  Hälfte  des 
rechten  Auges  und  ein  medialer  Streifen  des  linken  Auges  blind.  Von  da  an 
bis  zum  Schluss  der  Beobachtung  lässt  sich  auch  bei  der  genauesten  und 
immer  wiederholten  Untersuchung  keinerlei  Sehstörung  mehr  nachweisen, 
ausser  dass  am  3.  Tage  die  Sehstörung  auf  dem  medialen  Streifen  des  linken 


Fig.  120. 

Auges  noch  nicht  ganz  sicher  auszuschliessen  war.  Insbesondere  verfolgt  der 
Hund  alle  Bewegungen  der  ihn  umgebenden  Personen,  wo  dieselben  sich  auch 
immer  befinden  mögen,  mit  grosser  Sicherheit;  bewegt  man,  während  ihn  eine 
2.  Person  von  vorn  her  füttert,  die  Hand  im  äussersten  Theile  des  rechten 
Gesichtsfeldes  nach  dem  Schwanz  zu,  um  diesen  zu  fassen,  so  schnappt  der 
Hund  sicher  nach  der  Hand.    Der  Hund  findet  auch  bei  einseitig-  verbundenen 


—     329     — 

Augen  auf  dem  Boden  liegendes  Fleisch  mit  unfehlbarer  Sicherheit,  er  verfolgt 
dasselbe,  gleichviel  von  welcher  Seite  man  es  nähert,  regelmässig,  er  fängt 
es,  gleichviel  bei  welchem  Auge  es  vorbeifliegt,  fast  stets  und  bei  unverbun- 
denen  Augen  stets.  Er  reagirt  auf  den  Stossversuch,  selbst  wenn  die  Pincette 
die  kleinsten  Stückchen  Fleisch  hält,  ausnahmslos.  Irgend  ein  Unterschied  zu 
Ungunsten  des  rechten  Auges  besteht  nicht.  Gegen  Licht  entsprechend  der 
Sehstörung  gegen  Fleisch. 


rechts 


Fig.  121. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  rechts  gänzlich  bis  zum  16.  Tage,  von  da 
bis  zum  Schluss  der  Beobachtung  nur  gegen  schmale  Hand,  gegen  flehe  Haand 
abgeschwächt,  allmählich  zunehmend,  vorhanden. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  nach  3  Wochen. 

Section:  Häute  normal.  Die  11,5  mm  sagittal,  12,5  mm  frontal  mes- 
sende Narbe  sitzt  besonders  im  medialen  Schenkel  der  II.  Urwindung  und 
greift  noch  wenig  auf  den  lateralen  Schenkel  dieser  Windung,  etwas  mehr  auf 
die  I.  Urwindung  über.  Der  hintere  Rand  bleibt  5  mm  vom  deutlich  einge- 
zogenen hinteren  Pol,  der  vordere  ca.  7  mm  von  einer  Senkrechten :  Falx  — 
Spitze  der  Fossa  Sylvii  entfernt.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe: 
Die  Rinde  fehlt  unter  der  Auflagerung  und  zwar  der  laterale  Rand  der  I.  Ur- 
windung, das  Grau  des  hier  einschneidenden  Sulcus,  das  ganze  Grau  des 
medialen  Schenkels  der  II.  und  einige  Millimeter  vom  medialen  Theil  des  late- 
ralen Schenkels  dieser  Windung.  Unter  der  derben  Narbenkappe  findet  sich 
ein  schwammiges,  röthliches  Gewebe  in  der  Breite  der  Narbe,  das  basalwärts 
bis  zum  Grau  des  Sulcus  call.  marg.  reicht,  das  Markweiss  unter  der  Narbe 
also  völlig  zerstört  hat.  Von  der  medialen  Ecke  dieses  Herdes  gehen  einige 
feine  blutige  Streifen  nach  medial  zu  in  die  deutlich  atrophische  I.  Urwin- 
dung, deren  Mark  so  gut  wie  ganz  fehlt. 

Vollkommene  Zerstörung  der  Stelle  A^  ohne  nennenswerthe  Seh- 
störune:. 


—     330     — 


Tabelle    IVa. 
Centrale  Läsionen.     Primäroperationen. 


Art  der 
Operation 


Ort  der  Operation 
(Section) 


S  e  h  s  t  ö  r  u  n  g 


gegen  Fleisch 


Licht 


Nasen- 

Optische 

lid- 

Reflexe 

reflex 

jemerkuntii 


Oberfläch- 
liche Ex- 
stii'pation. 


Oberfläch- 
liche Ex- 
stirpation. 


Oberfläch- 
liche Ex- 
stirpation. 


Oberfläch- 
liche Ex- 
stirpation, 


69    Exstirpa- 
tion    ca. 
cm.  tief. 


Links.  Ziemlich  tief-|Daucr  9  Tage.  Bis 
greifender  Defect.  i  zum  3.  Tage  typisch 
hemianopisch,  dann 
rechts  nur  im  obe- 
ren äusseren  Qua- 
dranten. 


Links.  Sagittal  12,5 
mm,  frontal  11  mm 
Tiefgreifende  Zerstö- 
rung im  ganzen  Ge- 
biet der  Auflage- 
rung. Tiefer  Spalt 
in  der  lateralen 
Grenze  des  media- 
len Graues. 

Links.  Sagittal  12,5 
mm,  frontal  10,5  mm. 
Ausserdem  Erwei- 
chung medial  vorn 
und  in  d.  vorderen 
Hälfte  der  lateralen 
Grenze  von  3V2  ™iti 
sagittalem  Durch- 
messer. Zieml.  tiefe 
Zerstörung  v.  Rinde 
und  Mark  u.  Erwei- 
chungsstreifen im 
Randwulst. 

Rechts.  Sagittal  1 1 
mm,  frontal  14  mm. 
Tiefgreifende  Zer- 
störung im  ganzen 
Gebiet  der  Auflage- 
rung. 

Links.  Zerstörung  der 
I.  u.  IL  Urwindung. 


Typisch  hemianopisch 
mit  stärkerer  Be- 
theiligung der  oberen 
Hälfte  bezw.  des 
oberen  Quadranten. 
Dauer  mindestens 
22  Tage. 


Hemianopisch  mit  vor- 
wiegender Bethei- 
ligung des  oberen 
Quadranten.  Ab- 
klingen mit  Un- 
sicherheit desselben. 
Dauer  16  Tage. 


Wie  gegen 
Fleisch. 


Wie  gegen 
Fleisch. 
Dauer  je- 
doch nur  7 
Tage. 


Ungefähr 
wie  gegen 
Fleisch. 


Links :  Hemianopisch 
mit  stärkerer  Bethei- 
ligung der  oberen 
Hälfte  bezw.  des 
oberen  Quadranten. 
Dauer  21  Tage. 

Typische    Hemianop- 
sie, sich  unten  schnel- 
ler    aufhellend. 
Dauer  17  Tage. 


Wie  gegen 
Fleisch. 

Darier  aber 
nur  15 

Tage. 


Bis  zum  4, 
Tage. 


Fehlen 

Abge- 

bis zum 

schwächt 

23.  Tage. 

7.  Ta^e. 

Fehlen 

Unge- 

gänzlich 

stört. 

5  Tage, 

dann  abge- 

schwächt 

bis  incl. 

9.  Tag. 

Fehlen 

Unge- 

gänzlich 

stört. 

bis  zum 

6.  Tage, 

dann  all- 

mählich 

wiederkeh- 

rend, ab- 

ge- 

schwächt 

noch    am 

46.  Tage. 

Fehlen 

Unge- 

gänzlich. 

stört. 

Fehlen. 

Unge- 

stört. 

Fehlen  d.  o] 
Refl.  von  lö 
gerer  Dar 
als  Sehs- 
rung. 

Störung  d.  0 
Refl.  von  ki 
zerer  Dai 
als      Sehs 


Abschwä- 
chung  d.  0 
Refl.  von  läj 
gerer    Dar 
als      Sehsi 


Fehlen  d.  O] 
Refl.  von  lä 
gerer  Dan 
als      Sehsl 


Fehlen  d.  o| 
Refl.  von  la 
gerer  Dau 
als      Sehsl 


—     331     — 


Art  der 
Operation 


Ort  der  Operation 
(Section) 


S  ehstörung 


gegen  Fleisch 


gegen 
Licht 


Optische 
Reflexe 


Nasen- 

lid- 
reflex 


Bemerkungen 


Exstirpa- 

tion  ca.  ^ji 

cm.  tief. 


Oberfläch- 
liche Ex- 
stirpation. 


Oberfläch- 
liche Ex- 
stirpation. 


Oberfläch 
liehe  Ex- 
stirpation. 


Links.  Nach  vorn  etw. 
über  die  Stelle  Aj 
hinausreichend. 


Rechts.  Sagittal  12,5 
mm,  frontal  15  mm. 
Tiefgreifende  Zerstö- 
rung unterhalb  der 
Auflagerung,  lateral 
noch  darüberhinaus. 


Links.  Sagittal  11  mm, 
frontal  14  mm.  Tief- 
greifende Zerstörung 
im  ganzen  Gebiet 
der  Auflagerung. 


Rechts.  Ausgedehnter 
u.  tiefgreifender  De- 
fect  d.  dorsalen  Rin- 
den- u.  Markschicht. 


Linkes  Auge:  Typi- 
scher nasaler  Strei- 
fen bis  zum  6.  Tage, 
zuletzt  noch  oben 
nachweisbar.  Rech- 
tes Auge:  Typische 
Hemianopsie  von  un- 
ten innen  nach  oben 
aussen  verschwin- 
dend. Dauer  7  Tage. 
6.  Tag:  Stossver- 
such  weist  in  der  un- 
teren, scheinbar  freien 
Hälfte  des  Gesichts- 
feldes noch  Ambly- 
opie nach. 

Dauer 22  Tage.  Zuerst 
nur  einen  unteren 
Abschnitt,  dann  die 
mediale  Hälfte  frei- 
lassend, schliesslich 
nur  im  oberen  Qua 
dranten.  Niemals 
Blindheit,  sondern 
nur  Amblyopie  im 
befallenen  Gebiet. 

Rechts:  Vom  2.-4 
Tage  laterale  Hälfte 
des  Gesichtsfeldes 
blind,  am  5.  Tage 
nur  noch  ein  Viertel, 
am  11.  Tage  nichts 
mehr. 


Dauer  mindestens  13 
Tage,  wahrscheinlich 
länger,  typische  He 
mianopsie. 


Nichts 
Sicheres. 


Fehlen  bis 

zum  8. 
Tage  gänz- 
lich, bis 
zum  13. 
Tage  abge- 
schwächt. 


Nicht 
nachweis- 
bar. 


Fehlen  an- 
fänglich 
gänzlich, 
dauernd 

abge- 
schwächt. 


Wie  gegen 

Fleisch. 
Dauer  aber 
nur  5  Tage. 


Fehlen 

gänzlich 

bis  zum  5 

Tage,  von 

da    an  bis 

zum 
Schluss    d. 
Beob. 
abge- 
schwächt. 

Fehlen  in 
der   ersten 

Periode, 
am33.Tage 
noch  abge- 
schwächt. 


Unge- 
stört. 


Unge- 
stört. 


Unge- 
stört. 


Sehstörung 

umgekehrt  wie 

das  Schema; 

siehe    jedoch 

Stossversuch. 

Abschwä- 
chung  d.  opt. 
Refl.  von  län- 
gerer   Dauer 
als    S  ehstö- 
rung. 


Nur  Amblyo- 
pie, Störung  d. 
opt.  Refl.  viel 
ausgesproche- 
ner als  Seh- 
störung. 


Störung  d.  opt. 
Refl.  von  län- 
gerer   Dauer 
als    Sehstö- 
rung. 


Störung  d.  opt. 
Refl.  von  län- 
gerer Dauer 
als  Sehstö- 
rung. Staupe. 


—     332 


o 
o 

Sehstörung 

Nasen- 

pq 

Art  der 

Ort  der  Operation 

1 

Optische 

lid- 

Bemerkungen 

:^ 

Operation 

(Scction) 

gegen  Fleisch 

gegen 
Licht 

Reflexe 

reflex 

74 

Oberfläch- 

Rechts. Sagittal  11,5 

Hemianopisch    mit 

Ungefähr 

Fehlen 

Unge- 

Störung d.  opt. 

liche  Ex- 

mm,  frontal  13  mm. 

vorwiegender  Bethei- 

wie gegen 

gänzlich 

stört. 

Refl.  von  län- 

stirpation. 

Massig   tiefgreifende 

ligung    des    oberen 

Fleisch. 

bis  zum  14. 

gerer    Dauer 

Zerstörung  unterhalb 

Quadi:anten.  Abklin- 

Tage, abge- 

als     Sehstö- 

d. Auflagerung.  Tief- 

gend   mit    lateraler 

schwächt 

rung. 

greifende     Spaltbil- 

Unsicherheit.  Dauer 

bis  zum 

dung  in  der  weissen 

16  Tage. 

Schluss 

Substanz. 

der Beob. 

75 

Oberfläch-  Links.  Sagittal  14mm, 

Zuerst  typisch  hemi- 

Aehnlich 

Fehlen 

Unge- 

Sehstörung   z. 

liehe  Ex- 

frontal  16  mm.    Da- 

anopisch, später  auf 

wie  gegen 

gänzlich 

stört. 

Theil     dem 

stirpation. 

vor  noch  eine  sagit- 

den    unteren    Qua- 

Fleisch. 

bis  zum 

Schema  ent- 

tal 8  mm,  fi'ontal  5 

dranten  beschränkt. 

6.  Tage, 

sprechend. 

mm     messende    Er- 

Dauer 17  Tage. 

dann  all- 

Unsichere 

weichung  der  Rinde. 

mählich 

Randzone.  Stö- 

Tiefgreifende  kegel- 

wiederkeh- 

rung d.    opt. 

förmige     Zerstörung 

rend,  am 

Refl.  von  län- 

^ 

im  ganzen  Gebiet  der 

21., ja  noch 

gerer    Dauer 

Auflagerung. 

am  50. 
Tage  abge- 
schwächt. 

als  Sehstö- 
rung. 

76 

Flache  Ex- 

Links.    Sagittal    11,5 

Nur  am  2.  Tage. 

Wie  gegen 

Fehlen  bis 

Unge- 

Störung d.  opt. 

stirpation. 

mm,  frontal  12,5  mm. 
Ziemlich        tiefgrei- 
fende Zerstörung  d. 
ganzen    Rinde    und 
des     oberflächlichen 
Marklagers. 

Fleisch. 

zum  16. 
Tage,  dann 

abge- 
schwächt 
bis  zum 
Schluss 
der  Beob. 

stört. 

Refl.  von  län- 
gerer Dauer 
als  Sehstö- 
rung. 

Z  u  s  a  m  m  e  11  f  a  s  s  u  n  g. 

I.  Selistörungen  (aa  Reaction  gegen  Fleisch):  In  erster 
Linie  interessirt  natürlich  die  Frage,  ob  bei  allen  diesen  Versuchen 
die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  vorzugsweise  geschädigt 
und  ob  sie  rindenblind,  d.h.  „für  alle  Folge"  total  blind  war. 
Letzteres  ist  zunächst  für  alle  hier  angeführten  Versuche  zu  verneinen. 
Die  überhaupt  nachweisbare  Sehstörung  dauerte  in  keinem  bis  zu 
Ende  beobachteten  Falle  länger  als  22  Tage  (Beob.  71),  in  einem  Falle, 
bei  dem  Sehstörung  wegen  Staupe  nicht  bis  zu  Ende  verfolgt  werden 
konnte  (Beob.  66)  war  am  22.  Tage  noch  der  obere  äussere  Quadrant  blind. 
Dabei  ist  noch  die  Frage,  auf  die  ich  alsbald  zurückkomme,  ob  die  Stelle 
des  deutlichen  Sehens  so  lange  blind  war,  ausser  Acht  gelassen. 

Ersteres  ist  gleichfalls  für  alle  diese  Versuche  mit  einer  einzigen 


—     333     — 

Ausnahme  zu  verneinen.  Diese  Ausnahme  betrift't  die  Beob.  75,  l>ei 
der  die  Selistörung  einen  von  dem  sonst  bei  dieser  Versuchsreihe  zu 
beobachtenden  Typus  abweichenden  Verlauf  nahm.  Zuerst  freilich  trug 
das  Skotom  einen  typisch  hemianopischen  Charakter.  Am  5.  und  6.  Tage 
aber  hellte  sich  das  mittlere  Drittel  der  oberen  Gesichtsfeldhälfte  mehr 
und  mehr  auf  imd  am  7.  Tage  war  die  ganze  obere  Gesichtsfeldhälfte 
frei,  so  dass  nur  der  untere' äussere  Quadrant  blind  erschien.  An  diesen 
schloss  sich  aber  eine  annähernd  kreisrunde  unsichere  Zone,  welche 
die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  einnahm  und  sich  noch  etwas  in  den 
oberen  inneren  Quadranten  hineinerstreckte.  An  dieser  Stelle  reagirte 
der  Hund  manchmal  auf  ganz  kleine,  ihm  mittelst  des  Stossversuches 
gezeigte.  Stückchen  Fleisch,  manchmal  reagirte  er  nicht.  Am  8.  Tage 
hatte  sich  diese  Stelle  dadurch  etwas  verkleinert,  dass  der  obere  innere 
Quadrant  nunmehr  auch  von  dieser  Unsicherheit  ganz  frei  geworden 
war  und  vom  9.— 17.  Tage  war  dann  nur  noch  ein  sich  allmählich  ver- 
kleinernder und  aufhellender  unterer  lateraler  Sector  amblyopisch.  Vom 
18.  Tage  an  war  auch  in  diesem  Falle,  weder  an  der  Stelle  des  deut- 
lichen Sehens,  noch  an  irgend  einer  anderen  Stelle  des  Gesichtsfeldes 
eine  Sehstörung  mehr  nachweisbar.  In  allen  anderen  Fällen  zeigte  die 
Sehstörung  im  Allgemeinen  denjenigen  Typus  und  Verlauf,  den  ich  als 
für  den  Hund  typisch  hemianopisch  zu  bezeichnen  pflege,  d.  h.  das 
vornehmlich  geschädigte  Auge  war  anfänglich  bis  auf  einen  mehr  oder 
minder  breiten  nasalen  Streifen,  dem  ein  blinder  nasaler  Streifen  des 
anderen  Auges  entsprach,  blind.  Dann  verkleinerte  sich  das  Scotom 
allmählich  in  der  Richtung  von  unten  innen  nach  oben  aussen,  so  dass 
jedenfalls  zunächst  der  untere  innere  Quadrant  wieder  functionstüchtig 
wurde,  während  in  einer  Anzahl  von  Fällen  die  Sehstörung  sich  dann 
auf  den  oberen  äusseren  Quadranten  zurückzog,  in  anderen  Fällen  aber 
mehr  eine  sichelförmige  oder  streifenförmige,  die  temporale  Partie  des 
Gesichtsfeldes  einnehmende  Gestalt  zeigte.  Ich  habe  die  einzelnen  Be- 
obachtungen nach  der  Form  der  Scotome  in  der  angegebenen  Reihen- 
folge geordnet,  ohne  jedoch  den  letztgedachten  Verschiedenheiten  eine 
besondere  Bedeutung  beizumessen.  Von  Wichtigkeit  ist  meiner  Ansicht  nach 
nur  die  constant  und  ausnahmslos  gefundene  Thatsache,  dass  die  un- 
tere nasale  Partie  des  geschädigten  Gesichtsfeldantheiles 
sich  stets  zuerst  wieder  aufhellte,  so  dass  sie  den  ungeschä- 
digten  nasalen  Antheil  dieses  Gesichtsfeldes  vergrössern  half. 
Auf  diese  Weise  war  natürlich  in  der  Regel,  wenn  auch  nicht; 
immer  (s.  Beobb.  67,  68,  72)  anfänglich  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens 
blind,  weil  eben  der  ganze  der  verletzten  Hemisphäre  zugeordnete  Ge- 
sichtsfeldanthcil  blind  war.     Aber    sie    war    niclit    nur    nicht  vor- 


—     334     — 

zugsweise  geschädigt,  sondern  gerade  sie  hellte  sich  immer 
zu  allererst  wieder  auf.  Eine  Ausnahme  macht  nur  die  er- 
wähnte Beob.  75. 

Eine  besondere  Stellung  nimmt  die  Beob.  76  ein.  Hier  war  die 
Stelle  Ai  sicherlich  sehr  ausgiebig  zerstört  worden  und  nichts  desto- 
weniger  war  nicht  nur  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  vom  2.  Tage 
an  und  zwar  dauernd  fimctionstüchtig,  sondern  eine  Sehstörung  des  in 
Frage  kommenden  Auges  war  überhaupt  nur  am  2.  Tage  und  da  auch 
nur  auf  der  lateralen  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  nachweisbar. 

Besonders  zu  erwähnen  bleibt  noch,  dass  in  einer  Anzahl  von 
Fällen,  ähnlich  wie  bei  der  oben  erwähnten  Beob.  75  der  gänzlichen 
Aufhellung  einzelner  Gesichtsfeldpartien  eine  unsichere  Reaction  der- 
selben vorausging  (Beobb.  65,  67,  68,  71,  73  und  74),  d.  h.  die  Hunde 
schnappten  nach  Fleisch,  das  ihnen  in  den  fraglichen  Abschnitten  des 
Gesichtsfeldes  gezeigt  wurde,  nicht  regelmässig,  sondern  nur  zuweilen, 
oder  aber  sie  schnappten  überhaupt  nicht  danach,  sondern  fixirten  das- 
selbe bloss.  Sobald  das  Bild  des  Fleisphes  jedoch  die  Grenzen  einer 
solchen  Zone  überschritt,  erfolgte  sofort  die  Reaction.  Ersteres  ist  also 
eine  verhältnissmässig  sehr  häufig  zu  beobachtende  Erscheinung.  Ausser- 
dem fand  sich  bei  der  Beob.  75  noch  etwas  Aehnliches  auf  dem  nasalen 
Streifen  des  hauptsächlich  geschädigten  rechten  Auges,  insofern  der 
Hund  am  2.  Tage  auf  diesem  Streifen  nur  höchst  unsicher  reagirte, 
während  am  3.  Tage  diese  unsichere  Reaction  nur  noch  die  obere  Hälfte 
dieses  Streifens  betraf,  sich  aber  nach  unten  noch  als  Randzone  des 
dort  schon  zurückgewichenen  Scotoms  erkennen  Hess.  Da  dieser  Hund 
anfänglich  in  Folge  eines  durch  Strampeln  verursachten  Falles  vom 
Schooss  sehr  eingeschüchtert  war,  würde  ich  dieser.  Erscheinung  kein 
besonderes  Gewicht  beilegen,  wenn  sie  nicht  auch  sonst  häufig  genug 
zu  beobachten  gewesen  wäre. 

Die  Dauer  der  Sehstörung  betrug,  wie  oben  bereits  erwähnt, 
längstens  nicht  viel  über  20  Tage.  Erscheint  dieser  Zeitraum  mit  Rück- 
sicht auf  den  Umfang  und  die  Tiefe  der  angerichteten  Zerstörungen 
schon  ausserordentlich  kurz,  so  frappirt  dieser  Umstand  noch  viel  mehr, 
wenn  wir  berücksichtigen,  dass  die  Sehstörung  in  den  Beobb.  70,  65 
und  72  nur  je  7,  9  und  10  Tage  nachzuweisen  war;  dazu  kommt  dann 
noch  die  Beob.  76  mit  einer  nur   einen  Tag  nachweisbaren  Sehstörung. 

bb.  Die  Sehstörung  gegen  Licht  verhielt  sich  im  Allgemeinen 
wie  die  Sehstörung  gegen  Fleisch,  d.  h.  die  gegen  Fleisch  reactionslosen 
Theile  des  Gesichtsfeldes  zeigten  auch  bei  Belichtung  mit  der  ruhigen 
oder  oscillirenden  Flamme  keine  Reaction,  nur  dass  die  Abgrenzung 
dieser  Zonen  entsprechend    der  Natur    der  Untersuchungsmittel  weniger 


—     335     — 

geuau  vorzunehmen  war.  Ausserdem  hatte  die  Schstörung  gegen  Licht 
im  Allgemeinen  eine  kürzere  Dauer  als  die  gegen  Fleisch,  was  viel- 
leicht auf  den  gleichen  umstand  zurückzuführen  ist.  Eine  Bevorzugung 
der  Stelle  des  deutlichen  Sehens  in  der  Reactionslosigkeit  gegen  Licht 
konnte  gleichfalls  in  keinem  Falle  nachgewiesen  werden. 

2.  Die  optischen  Reflexe  waren  in  den  12  uns  hier  beschäf- 
tigenden Fällen  11  mal  länger  gestört  als  das  Sehvermögen  des  yor- 
nehmlich  geschädigten  Auges;  in  dem  12.  Falle  (Beob.  66)  dauerte  di) 
Sebstörung  mindestens  22  Tage,  nachher  war  der  Hund  bis  zu  seinem 
Tode  wegen  Staupe  nicht  mebr  zu  untersuchen  gewesen.  Die  opti- 
schen Reflexe  fehlten  aber  gänzlich  nur  6  Tage  lang  und  waren  dann 
noch  3  Tage  abgeschwächt.  Zu  jener  Zeit  sah  der  Hund  aber  bereits 
wieder  auf  dem  vornehmlich  in  Betracht  kommenden  Theile  des  Ge- 
sichtsfeldes, nämlich  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens  und  den  medialen 
zwei  Dritteln  der  unteren  Hälfte.  Von  den  übrigen  11  Hunden  war  in 
einem  Falle  wegen  Staupe  nicht  zu  bestimmen,  wie  lange  die  totale 
Aufhebung  der  optischen  Reflexe  dauerte,  während  eine  Abschwächung 
derselben  noch  am  32.  Tage,  zu  einer  Zeit  als  der  genesene  Hund  sicher 
bereits  überall  wieder  sah,  zu  constatiren  war.  Dabei  war  das  Sehver- 
mögen des  ganzen  medialen  Gesichtsfeldabschnittes  bereits  am  8.  Tage 
wiedergekehrt. 

Bei  den  noch  bleibenden  10  Fällen  dauerte  die  Störung  der  opti- 
schen Reflexe  stets  länger  als  die  Sehstörung  und  zwar  verliefen  5  von 
ihnen  so,  dass  die  totale  Aufhebung  der  optischen  Reflexe  von  kür- 
zerer Dauer,  und  5  so,  dass  sie  von  längerer  Dauer  war  als  die  Seh- 
störung. Die  1.  Gruppe  umfasst  die  Beobb.  67,  71,  72,  74  und  75. 
In  allen  diesen  Fällen  mit  Ausnahme  der  Beob.  75  war  die  Stelle  des 
deutlichen  Sehens  bereits  kürzere  oder  längere  Zeit  frei,  während  die 
optischen  Reflexe  noch  total  fehlten  und  gleichfalls  bei  allen  war  die 
Störung  der  optischen  Reflexe  mit  dem  Ende  der  Beobachtung  noch 
nicht  abgelaufen.  Diese  Abschwächung  dauerte  also  beispielsweise  bei 
dem  Object  der  Beobb.  67  und  71  noch  bei  dem  Tode  des  Thieres  am 
47.  Tage  an,  also  30  Tage  länger  als  die  Sehstörung  des  betreffenden 
Auges.  Die  2.  Gruppe  umfasst  die  Beobb.  65,  68,  69,  70  und  76. 
Unter  diesen  ist  zunächst  die  Beob.  76  zu  erwähnen,  bei  der  eine  Seh- 
störung überhaupt  nur  am  2.  Tage  zu  erkennen  war,  während  die  opti- 
schen Reflexe  16  Tage  total  fehlten  und  dann  noch  bis  zum  Tode  des 
Thieres  am  21.  Tage  abgeschwächt  waren.  In  einem  Falle  (Beob.  70) 
dauerte  das  totale  Fehlen  der  Reflexe  ungefähr  gleich  lang  wie  die 
Sehstörung,  ihre  Abschwächung  noch  5  Tage  länger.  In  der  Beob.  65 
fehlten  die  optischen  Reflexe  14  Tage    länger    als    die  Dauer  der  Seh' 


—     336     — 

Störung  betrug.  Bei  der  Beob.  68  waren  es  mindestens  7  Tage  und 
bei  der  Beob.  69  war  ebensowenig  wie  bei  der  Beob.  68  diese  Zeit- 
dauer zu  bestimmen,  da  jener  Hund  am  28.  Tage  getödtet  wurde,  wäh- 
rend an  diesem  eine  2.,  das  fragliche  Auge  in  Mitleidenschaft  ziehende 
Operation  vorgenommen  wurde.  Jedenfalls  waren  die  optischen  Reflexe 
bei  dem  letzteren  noch  ca.  3  Monate  nach  der  1.  Operation  überhaupt 
nicht  oder  nur  andeutungsweise  vorhanden.  Es  ist  nicht  ohne  In- 
teresse darauf  hinzuweisen,  dass  eine  solche  andeutungsweise  Reac- 
tion,  d.  h.  ein  leichtes  Zucken  des  oberen  oder  des  unteren  Lides  bei 
der  Annäherung  der  flachen  Hand  auch  bei  dem  Hunde  der  Beob.  65  zu 
beobachten  war. 

Alles  in  allem  ergiebt  sich  also,  dass  die  Schädigung 
der  optischen  Reflexe  fast  ausnahmslos  weiter  reicht  als  die 
Sehstörung  und  dass  sie  ausnahmslos  weiter  reicht  als  die 
Blindheit  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens. 

3.  Der  Nasenlid reflex  war  nur  einmal  (Beob.  65),  und  zwar 
auf  die  Dauer  von  7  Tagen  gestört.  Gerade  in  diesem  Falle  hielt  sich 
die  vordere  Grenze  der  Narbe  bei  intacten  Hirnhäuten  sehr  weit  von 
dem  Orbiculariscentrum  entfernt. 

ß.   Secundäroperationen. 

BeobachtuMS""  '^'^• 

Tertiävoperation.  1.  Operation  im  Planum  seraicirculare  vor  5Yo  Monaten 
mit  Sehstörung;  als  unrein  nicht  verwerthet,  2.  Operation  im  Gyrus  sigmoides 
vor  ca.  2  Monaten  ohne  Sehstörung.  Aufdeckung  linl(s  hinten  über  Stelle  A^ 
und  Nachbarschaft.  Die  Dura  ist  stellenweise  mit  der  Pia  verwachsen.  Mehr- 
fache ziemlich  tief  gehende  Unterschneidung  der  freigelegten  Rindenpartie 
senkrecht  auf  die  Falx  zu. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 


Pia'.  122. 


—     337     — 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch  fehlt.  Gegen  Licht  häufig  scheuend,  reclits 
eher  noch  empfindlicher. 

Optische  Reflexe:  Abgeschwächt,  aber  auch  links  schwach  bis  zum 
Schluss  der  Beobachtung. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  am  8.  Tage. 

Section:  Zwischen  vorderer,  mittlerer  und.  hinterer  Operationsstelle 
innige,  unlösbare  Verwachsungen  zwischen  Dura  und  Pia.  Die  Aullagerung 
sitzt  der  Stelle  A^,  sowie  deren  vorderer,  medialer  und  lateraler  Nachbarschaft 
auf.  Auf  dem  Durchschnitt  zeigt  sich,  etwa  ^/^  cm  nach  innen  gehend,  eine 
Zerstörung  der  Rinde,  nur  eines  Theiles  der  Marksubstanz,  theilweise  bis  in 
die  Gegend  der  Calcarina  gehend.  Dieser  Bezirk  ist  blutig  imbibirt  und  auf- 
gelockert.   Ganze  Hemisphäre  atrophisch. 

Tertiäroperation  mit  Zerstörung  der  Stelle  A^  ohne  Sehstörung. 

Beoba.clitiiiig'  T'S. 

Secundäroperation.  1.  Operation  vor  ca.  ö'/g  Wochen  im  Orbiculariscen- 
trum.  Aufdeckung  links  hinten,  wobei  der  Knochen  bis  in  die  vordere  Ope- 
rationslücke fortbricht.  Abtragung  der  Dura  auf  14  mm  frontal,  11  mm  sagit- 
tal.    Unterschneidung  der  Rinde  mit  Präparatenheber. 


Fig.  123. 

Motilitätsstörungen  fehlen . 

Seh  Störung  fehlt. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  bis  zum  5.  Tage;  von  diesem  Tage  an  bis 
zum  Schluss  der  Beobachtung  abgeschwächt  vorhanden. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  nach  ca.  3^2  Wochen. 

Section:  Häute  normal.  Die  Auflagerung  bedeckt  die  Stelle  Aj,  nach 
hinten  nicht  ganz,  nach  vorn  etwas  darüber  hinausreichend.  Auf  dem  Durch- 
schnitt sieht  man  ausgezeichnet  deutlich  die  Unterschneidungsspalte,  die  ziem- 
lich tief  unter  der  Rindenoberfläche  nach  medial  bis  in  die  Längsspalte  reicht, 
hier  aber  die  Pia  nicht  durchstossen  hat.    Von  der  Mitte  der  Spalte  geht  etwa 

Hitzig,  Gesammelte  Abliamll.     II.  Tlieil.  22 


—     338     — 

1/2  cm  lief  ein  spaliförmiger  Erweichungsherd    in   der  weissen  Substanz  nach 
unten.    Rinde  der  unterschnittenen  Stelle  heller  verfärbt. 


links 


rechts 


Fig.  124. 

Untersclmeidung  der  Stelle  A^^  als  Seciiiidäroperation  ohne  Seh- 
stöning. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  26.  Aufdeckung  links  ganz  hinten  auf  18  mm 
frontal,  16  mm  sagittal.  Unterschneidung  durch  3  Einstiche  mit  dem  Präpa- 
ratenheber senkrecht  und  schräg  auf  die  Falx. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Seh  Störung  fehlt. 

Optische  Reflexe:  Vor  der  Operation  beiderseits  schwach  und  oft 
fehlend,  sind  sie  nach  der  Operation  links  veränderlich,  fehlen  rechts  immer 
bis  zum  8.  Tage,  dann  schwächer  als  links. 


Fig.  125. 

Nasenlid  reflex:  Von  der  I.Operation  her  dauernd  wenig  abgeschwächt. 
Getödtet  am  23.  Tage. 


—     339     — 

Scclion:  Pia  und  Dura  zwischen  vorderer  und  hinterer  Operationsstello 
verwachsen;  vorn  leicht,  vor  der  hinteren  Stelle  etwa  1  cm  breit  so  fest,  dass 
die  Trennung  nur  mit  Verletzung  der  Hirnoberfläche  möglich  gewesen  wäre. 
Die  Aullagerung  reicht  medial  bis  an  die  Medianspalte,  nach  vorn  nicht  ganz 
bis  an  die  vordere  Grenze  der  „Sehsphäre",  doch  geht  die  innige  Verwachsung 
der  Dura  noch  1  cm  nach  vorn,  nach  lateral  bis  etwa  an  die  laterale  Grenze 
der  „Sehsphäre",  nach  hinten  bis  an  den  hinteren  Pol.  Auf  dem  Durchschnitt 
zeigt  sich  dieUnterschneidungsspalte  von  lateral  nach  medial  im  Bogen  gehend 
etwa  an  der  Grenze  zwischen  grauer  und  weisser  Substanz.  Die  Spalte  geht 
nicht  ganz  bis  an  die  mediale  Fläche  der  Hemisphäre.  Hemisphäre  deutlich 
atrophisch. 

Untersclmeidung  der  Stelle  A^  als  Secuiidäroperation.  Schädigung 
fast  der  gesammten  Convexität  der  „Sehsphäre"  ohne  Sehstörung. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  63.  Aufdeckung  links  hinten  auf  16  mm  sagit- 
tal,  14  mm  frontal.  Unterschneidung  der  Rinde  von  lateral  nach  medial  und 
schräg  nach  vorn  zu. 


Fig.  126. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Seh  Störung  fehlt. 

Optische  Reflexe  nur  am  4.  Tage  etwas  abgeschwächt. 

JSfasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  am  9,  Tage. 

Section:  Häute  normal.  Die  Auflagerung  nimmt  die  Stelle  A^  ein,  nur 
medial  bis  an  die  Medianspalte  darüber  hinausgreifend.  Auf  dem  Durchschnitt 
sieht  man  eine  tiefe  Narbe,  die  die  Rinde  in  der  ganzen  Ausdehnung  der  eben 

92* 


—     340     — 

beschriebenen  Fläche  ersetzt  und  sich  verschmälernd  etwa  ^4  ci^^  tief  in  die 
weisse  Substanz  erstreckt. 


links 


rechts 


Fig.  127. 

Zerstörung  der  Stelle  Ai  als  Secundäroperation.    Keine  Sehstörung; 
kaum  Störung  der  optischen  Reflexe. 

Beobachtviug,'  Sl. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  53.     Aufdeckung   links  hinten,     ünterschnei- 
dung  der  freigelegten  Rinde. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 
Seh  Störung  fehlt. 


Fig.  128. 

Optische  Reflexe:  Am  Schluss  der  ersten  Beobachtung  nur  noch  eine 
Abschwächung  gegen  schmale  Hand  zeigend,  fehlen  sie  jetzt  bis  zum  Schluss 
der  Beobachtung. 

Nasenlidreflex:  Fehlt  am  2.  Tage,  dann  schwächer,  vom  8.  Tage  an 
noch  minimale  Differenz, 


—     341     — 

Getödtet  am  23.  Tage. 

Section:    Häute   uormal.     Die  Audagerung   entspricht   der   Stelle  A^^, 
greift  aber  nach  vorn  und  hinten  etwas  darüber  hinaus.   Auf  dem  Durchschnitt 


links 


rechts 


Fig.  129. 

zeigt  sich  ein  blutig  verfärbter  narbiger  Zug,  der  theilweise  von  kleinen  Er- 
vpeichungsherden  umgeben  sich  von  der  Narbe  nach  innen  etwa  1  Y^  cm  tief 
bis  weit  in  die  Marksubstanz  hinein  erstreckt;  die  Rinde  fehlt  im  Bezirk  der 
Narbenkappe.    Ganze  Hemisphäre  atrophisch. 

Stelle  Ai  und  Umgebung  als  Secundäroperation.    Keine  Sehstörung. 

Keobachtiiiig,-  SS. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  31.   Anätzung  der  Stelle  A^  und  ihrer  nächsten 
Umgebung  in  einer  Ausdehnung  von  16  mm  sagittal,  15  mm  frontal  mit  öproc. 


Fig.  130. 


—     342     — 

Carbolsäure.  Die  Dura  fand  sich  normal  und  nicht  adhärent,  die  Pia  injicirt 
(vorangegangen  waren  2  Operationen  im  Gyrus  sigmoides,  Scarificationen  des 
vorderen  Schenkels  —  Beob.  31  —  und  eine  Exstirpation,  die  2.  Operation 
mehr  als  3  Monate  vor  der  3.  Operation). 

Motilitätsstörungen:  Am  Schluss  des  2.  Versuches  kaum  noch  nach- 
M-eisbar,  waren  bereits  5  Stunden  nach  der  Operation  in  verstärktem  Grade 
vorhanden,  nahmen  nur  allmählich  ab  und  waren  noch  bei  Schluss  der  Beob- 
achtung deutlicher  als  vor  Beginn  desselben  nachweisbar. 


inks       H  i  ^H      rechts 


Fig.  131. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Hierüber  ist  wörtlich  Folgendes  notirt: 
2.  Tag:  Offenbar  nur  ganz  lateral  eine  Sehstörung;  3.  Tag:  Deutliche  Seh- 
störung fehlt,  doch  scheint  er  links  mit  grösserer  Energie  nach  Fleisch  zu 
schnappen;  5.  Tag:  Vielleicht  rechts  ganz  aussen  eine  geringe  Sehstörung, 
aber  nicht  deutlich.  An  den  übrigen  Tagen  konnte  überhaupt  keine  Sehstörung 
entdeckt  werden.  Gegen  Licht  war  die  Reaction  am  12.  Tage  beiderseits 
gleich,   vorher  wegen  Gleichgültigkeit   gegen  diesen  Reiz  nicht  zu  bestimmen. 

Optische  Reflexe  ungestört. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  nach  4  Wochen  mit  Curare. 

Section:  Dura  zwischen  vorderer  und  hinterer  Operationsslelle  leicht 
mit  der  Pia  verwachsen.  Die  derbe  narbige  Auflagerung  bedeckt  die  Stelle  A^^, 
vielleicht  deren  lateralsten  Streifen  freilassend  und  nach  hinten  darüber  hin- 
ausreichend. Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Die  Rinde  besonders  in 
der  II.  Urwindung  vollständig  durch  Narbengewebe  ersetzt.  Etwa  Y2  ^^  unter 
der  Oberfläche  2  blutig  infiltrirte  Erweichungsherde,  die  beide  bereits  in  der 
weissen  Substanz  liegen.    Die  ganze  linke  Hemisphäre  atrophisch. 

Anätzung  der  Stelle  A^  und  ihrer  nächsten  Umgebung.  Sehstörung, 
wenn  überhaupt  vorhanden,  nur  angedeutet.  Keiue  Störung  der  opti- 
schen Reflexe.  Verstärkung  des  von  der  2.  Operation  gebliebenen  Restes 
der  Motilitätsstörungen.     Die    leichte  Verwachsung   der  Hirnhäute  kann 


—     343     — 

natürlich  auf  jode  der  3  Operationen  bezogen  werden.  Ebenso  kann 
die  Injection  der  Pia  auf  jede  der  beiden  vorangegangenen  Operationen 
bezogen  werden. 

Beobacli-tung-  S3. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  52.  Aufdecliung-  liinten  links  auf  30  mm  sagit- 
tal,  16  mm  frontal.  Auslöffelung  wegen  colossaler  Blutung  aus  Knochen  und 
Dura  nicht  genau  zu  localisiren. 

Motilitätsstörungen:  Setzt  anfänglich  Verschiebungsversuchen  der 
Pfoten  rechts  geringeren  Widerstand  entgegen  als  links. 

Seh  Störung  fehlt. 

Optische  Reflexe  fehlen  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  am  11.  Tage. 

Section:  Die  Narbe  reicht  nach  vorn  sehr  weit,  bis  etwa  ^/4  cm  hinter  den 
hinteren  Schenkel  des  Gyrus  sigmoides,  nach  hinten  bis  etwa  in  die  Mitte  der 


Fig.  132. 

Stelle  A-^,  nach  lateral  fast  bis  an  den  Rand  der  III.  Urwindung,  nach  medial 
setzt  sich  die  Narbe  auf  die  mediale  Fläche  der  Hemisphäre  fort.  Von  der 
vorderen  nach  der  hinteren  Narbe  zieht  sich  ein  Streifen,  wo  die  Dura  unlös- 
bar mit  der  Pia  verwachsen  ist.  Durchschnitt  zeigt  eine  tiefgehende  Zerstörung 
der  Gehirnmasse.  Von  der  lateralen  Begrenzung  der  Stelle  A-^  bis  zur  medialen 
Fläche  der  Hemisphäre  durchgehend  Rinde  und  weisse  Substanz  völlig  zer- 
stört und  durch  blutig  imbibirtes  Narbengewebe  ersetzt. 

Tiefgreifende  Zerstörung  der  vorderen  Hälfte  der  Stelle  Ai,  der 
vorderen  Hälfte  und  der  medialen  Partie  der  Sehsphäre  als  Secundär- 
operation.     Keine  Sehstörung. 

Derselbe  Hund   von  Beob.  30.     Aufdeckung  der  Stelle  A^   links,   nach 
hinten,  medial  und  lateral  darüber  hinausreichend,  auf  17  mm  sagittal,  16  mm 


—     344     — 

frontal.  Auslöffelung  mit  Da^iel'schem  Löffel  unter  Führung  des  Praparaten- 
hebers  auf  2 — 3  mm  Tiefe.  Stehen  bleiben  ca.  2  mm  Dura  und  Hirn  am  media- 
len Rand  der  Lücke. 

Motilitätsstörungen:  AmSchluss  der  Beobachtung  30  kaum  noch  nach- 
weisbar, treten  aber  post  operationem  am  2.  Tage  wieder  in  erheblicher  Stärke 
auf  und  verlieren  sich  nur  langsam,  so  dass  sie  erst  am  21.  Tage  gänzlich 
verschwunden  waren. 


Fig.  133. 


links 


rechts 


Fig.  134. 


Sehstörung  fehlt  (Pveaction  gegen  Licht  gelegentlich  mit  Blinzeln). 

Optische  Reflexe:  Am  Schluss  der  1.  Operation  gegen  flache  Hand 
beiderseits  gleich,  gegen  schmale  Hand  tageweise  schwächer.  Am  2.  Tage 
post  operationem  gegen  flache  Hand  schwächer,  aber  vorhanden,  gegen  schmale 
Hand  fehlend;    allmählich  wiederkehrend,    am  21.  Tage  kaum  noch  different. 


I 


345 


Nasenlidveflex  ungestört. 

Getödtet  am  30.  Tage. 

Section:  Vor  der  hinteren  Operationsstelle  leichte  Verklebung  zwischen 
Dura  und  Pia,  sonst  beide  Häute  normal.  Die  Narbe  reicht  medial  bis  an  den 
medialen  Rand,  nach  hinten  bis  ziemlich  an  den  hinteren  Pol,  lateral  etwa 
Y2  cm  über  die  Stelle  A-^  hinaus,  nach  vorn  bedeckt  sie  sie  nicht  ganz. 
Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe  zeigt  eine  Zerstörung  in  Form  eines 
Pilzes;  der  Hut  wird  durch  eine  grössere  Narbenkappe  gebildet,  die  das  Rin- 
dengrau in  Ausbreitung  des  eben  beschriebenen  Gebietes  ersetzt,  von  diesem 
aus  geht  ein  breiter  Stiel  nach  innen  5,4  mm  in  die  weisse  Substanz. 

Tiefgreifende  Zerstörung  der  Stelle  A^.  Keine  Sehstörung.  Ver- 
stärkung des  von  der  1.  Operation  gebliebenen  Restes  der  Motilitäts- 
störungen. 

Vorher4  (nicht  3,  wie  in  Bd.  36,  H.  1,  S.  230  gesagt)  Versuche  an  dem 
frontalen  resp.  mittleren  Theil  der  gleichen  Hemisphäre  (vgl.  Beobb.  44  und 
45).  Aufdeckung  hinten  links  auf  sagittal  14  mm,  frontal  13  mm.  Ausserdem 
grosses  Knochenstück  nach  vorn  weggebrochen,  unter  dem  die  Dura  aber  in- 
tact  gelasssen  wird.  Der  freiliegende  Rindenbezirk  wird  mit  der  schmalen 
Seite  des  Präparatenhebers  von  lateral  nach  medial  (lateral  ziemlich  tief  gehend) 
unterschnitten. 


Pia-.  135. 


Motilitätsstörungen:  Vor  dieser  Operation  noch  deutlich,  erfahren 
sie  jetzt  eine  erhebliche  und  langanhaltende  Verstärkung. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch  fehlend.  Gegen  Licht:  6  Stunden  nach 
der  Operation   rechts   völlig   gleichgültig,    links   starkes   Blinzeln.     Reaction 


—     346     — 

durch  Abwenden  vom  2.-8.  Tage  links  vorhanden,  rechts  fehlend,  dann  bei- 
derseits gleich. 

Optische  Reflexe:  Vorder  Operation  noch  abgeschwächt,  fehlen  bis 
zum  Schluss  der  Beobachtung. 

Nasenlidreflex:  Vor  der  Operation  abgeschwächt,  bleibt  bis  zum 
.Schluss  der  Beobachtung  abgeschwächt. 

Gelödtet  am  23.  Tage  mit  Curare. 

Section:  Dura  nicht  verdickt,  mit  Pia  nur  zwischen  vorderer  und  hin- 
terer Operationsstelle  leicht  verwachsen.  Der  narbige  Verschluss  der  hinteren 
Knochenlücke  ist  nur  locker  m'it   der  llirnmasse   in  Zusammenhang,    löst    sich 


rechts 


Fio-.  136. 


sofort  los,  sobald  die  etwas  geschwellten  und  aufgelockerten  Einstich-  resp. 
Ausstichstellen  der  Unterschneidung  freiliegen.  Die  Operation  hat  genau  die 
M  unk 'sehe  Stelle  A^  unterschnitten.  Der  Einstich  ist  noch  etwas  lateral  von 
der  lateralen  Begrenzung  dieser  Stelle,  der  Ausstich  etwas  lateraler  als  die 
mediale  Begrenzung  der  Stelle.  Die  Rinde  zeigt  sich  in  dem  unterschnittenen 
Theil  entfärbt.  Diese  Veränderung  findet  sich  auch  ein  Stück  lateral  resp. 
medial  von  der  Einstich-  resp,  Ausstichöffnung.  Von  der  Unterschneidungs- 
spalte  geht  ein  bräunlicher,  leicht  erweichter  Herd  etwa  Y4  cm  weiter  ins 
Mark.    Hemisphäre  wenig  atrophisch. 

Die  Stelle  A^  war  durch  Untersclmeidung  gänzlich,  vielleicht  mit 
Ausnahme  ihres  medialsten  Randes  ausgeschaltet.  Der  Hund  hätte  also 
mit  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens  dauernd  rindenblind  sein  müssen. 
Er  reagirte  gegen  Fleisch  aber  stets  auf  allen  Theilen  seines  Gesichts- 
feldes. Gegen  Licht  fehlte  die  Reaction  freilich,  aber  nur  bis  zum 
8.  Tage;  dauernd  blind  war  er  also  auch  gegen  diesen  Reiz  nicht. 
Verstärkung  des  von  der  4.  Operation  gebliebenen  Restes  der  Motili- 
tätsstörungen und  der  Störung  der  optischen  Reflexe. 


—     347     — 

BeobaclitMiis'  So. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  25.  (ünterschneidung  des  Gynis  sigraoides.) 
Aufdeckung  der  Stelle  A-^  linlcs.  Schädellüclie  sagittal  17,  frontal  14  mm. 
Flache  ünterschneidung  dieser  Stelle  mit  dem  Präparatenheber  fast  bis  zur 
Palx  reichend. 

Motilitätsstörungen:  Bis  zum  7.  Tage,  abnehmend,  etvvas^stärker 
als  vor  Beginn  der  Operation. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch  fehlt  im  Uebrigen,  nur  am  3.  Tage  wird 
beobachtet,  dass  der  Hund  zwar,  sobald  das  Fleisch  im  Gesichtsfelde  erscheint, 
lixirt,  aber  erst  zuschnappt,    Avenn  es  in  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  ein- 


V\<r.  137. 


links 


rechts 


Fig.  138. 

tritt.    Gegen  Licht:   Bis  zum  4.  Tage  indifferent;  von  diesem  Tage  an  wendet 
er  sich  beiderseits  gleichmässig  wenig  energisch  ab. 

Optische    Reflexe:    6  Stunden   nach    der  Operation   rechts    fehlend, 
links  deutlich.    Am  2.  Tage  beiderseits  fehlend,    vom  3.-5.  Tage  rechts  feh- 


—     348     — 

lend,  links  schwacli.  Vom  6. — 12.  Tage  rechts  abgeschwächt  vorhanden,  am 
13.  Tage  gegen  flache  Hand  beiderseits  gleich,  gegen  schmale  Hand  noch  ab- 
geschwächt, dann  beiderseits  gleich. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  am  23.  Tage  mit  Curare. 

Section:  Häute  normal.  Die  Auflagerung  entspricht  ziemlich  genau 
der  Stelle  A^ ;  der  Einstich,  der  die  Rinde  der  Stelle  A^  flach  abgetrennt  hat, 
beginnt  an  deren  lateraler  Grenze  und  reicht  bis  fast  zur  Medianspalte.  An 
der  Umschlagstelle  des  Randwulstes  befindet  sich  ein  kleiner  Erweichungs- 
herd. Die  Rinde  ist  ziemlich  ausgedehnt  zerstört.  Die  durch  die  Unterschnei- 
dung entstandene  Spalte  sieht  man  noch  deutlich,  nur  lose  Verwachsung.  In 
die  Markstrahlung  herunter  zieht  sich  ein  spaltförmiger  Erweichungsherd,  der 
in  der  Tiefe  etwas  ausgedehnter  wird. 

Flache  Unterschneidung  der  Stelle  A^.  Fehlen  der  Sehstörung  bis 
auf  leichte  Amblyopie,  dagegen  Störung  der  optischen  Reflexe.  Ver- 
stärkung des  von  der  1.  Operation  gebliebenen  Restes  der  Motilitäts- 
störungen. 

Beobaclituiigj"  ST'. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  48.  Aufdeckung  ganz  hinten  links  auf  15  mm 
sagittal,  17  mm  frontal.  Dura  verdickt,  zeigt  dicke  flockige  zottige  Auflage- 
rungen auf  der  äusseren  Seite.  Innenseite  glatt,  glänzend.  Pia  zart.  Unter- 
schneidung der  freiliegenden  Rinde. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 


Pia-.  139. 


Seh  Störung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  und  3.  Tage  bis  auf  einen  schma- 
len nasalen  Streifen.  Am  4.  Tage  bis  auf  Yg  zurückgegangen:  am  5.  Tage 
fast  ganz,   am  6.  Tage  ganz  verschwunden.     Gee:en  Licht:    Unmittelbar  nach 


—     349     — 

der  Operation   fehlend,    am  2.  Tage   unregelmässige  und    schwache  Kcaclion, 
wahrscheinlich  durch  Wärme  (links  wüthend),  später  wie  gegen  Fleisch. 


inlis       m  ^'  '  ß    -.-      "^  ^H       rechts 


Fig.  140. 

Optische  Reflexe:  Gleich  nach  der  Operation  deutlich,  am  2.  und 
3.  Tage  nur  angedeutet  vorhanden,  am  4.  Tage  völliger  Lidschluss. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  nach.  ca.  4  Wochen. 

Section:  Häute  normal.  Dem  hinteren  Pol  sitzt  eine  14  mm  im  Durch- 
messer grosse  Auflagerung  auf,  die  auch  die  Stelle  k^  vollständig  bedeckt. 
Durchschnitt:  Von  der  Rindenoberfläche  erstreckt  sich  die  Narbe  etwa  5  mm 
tief,  theilweise  blutig  verfärbt,  Rindencontouren  völlig  zerstörend ;  ausserdem 
erstreckt  sich  bandförmig  ein  Erweichungsstreifen  centralwärts,  um  dann  plötz- 
lich im  Markweiss  umzubiegen  und  dann  lateral  sich  bis  zur  Rinde  zu  er- 
strecken. 

Stelle  A|  und  Umgebung  als  Secimdäroperation.  Selistörung  von 
fünftägiger  Dauer. 

I3eol>a,ehtxiiig-  ÄS. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  33.  Autdeckung  links  hinten  auf  sagittal 
19  mm,  frontal  18  mm,    Aetzung  mit  5proc.  Carbolsäure. 

Wund  verlauf:  Der  Hund  kratzte  sich  die  Wunde  wiederholt  auf,  vom 
9.  Tage  an  war  sie  nicht  zu  schliessen,  sondern  granulirte  unter  oberfläch- 
licher Eiterung  langsam  zu. 

Motilitätsstörungen:  Nach  der  1.  Operation  verschwunden,  leben 
sie  jetzt  wieder  auf;  nachweisbar  bis  zum  14.  Tage.  Die  rechte  Lidspalte  war 
bis  zum  7.  Tage  erweitert. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  unsicher,  scheint  medial 
besser  zu  sehen,  sonst  fehlend.  Gegen  Licht:  Am  2.  und  3.  Tage  Reaction 
abgeschwächt,  aber  vorhanden. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  oder  sind  abgeschwächt  ca.  5  Wochen. 

Nasenlidreflex  abgeschwächt  bis  zum  6.  Tage. 

Getödtet  nach  ca.  6  Wochen. 


350 


Section:    Häute    normal.     Die  Auflagerang    reicht    medial    bis    an  die 
Längsspalte  und  nimmt  die  vordere  Hälfte  der  „Sehsphäre",  sowie  einen  Theil 


w 

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B^'m.ä 

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II 

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■ 

Fig.  141. 
der  „Augenregion"  ein.    kMi  dem  Durchschnitt  zeigt  sich  die  Rinde  in  diesem 
Gebiete    zerstört   und    durch  Narbengewebe  ersetzt.     Die    weisse  Substanz  ist 
nicht  getroffen.    Der  Ventrikel  ziemlich  stark  nach  der  Narbe  ausgezogen. 

Oberflächliche  Zerstörung  der  vorderen  Hälfte  der  „Sehsphäre"  als 
Secundäroperation  ohne  nennenswerthe  Sehstörung. 

i3eol>aclitrmg;  @0. 

Primäroperation  vor  ca.  9  Wochen    im  medialen  Theile  der  sogenannten 
Augenregion  nebst  angrenzendem  Theil  der  vordersten  Partie  der  „Sehsphäre." 


Fig.  142. 

Freilegung  und  Auslöffelung  der  medialen  Partie  der  Sehsphäre  bis  zum  hin- 
teren Pol  incl.  der  Stelle  A^. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  bis  zur  Mitte  des  Gesichts- 
feldes reichend,  vom  3.-6.  Tage  ausserdem  noch  eine  angrenzende  mediale 
unsichere  Zone.    Am  7.  Tage  noch  das  laterale  Drittel  einnehmend,  dann  all- 


—     351     — 

mählich  weiter  verschwindend,  am  11.  Tage  nicht  mehr  naciiwcisbar.  Gegen 
Licht  keine  Störung  nachweisbar. 

Optische  Reflexe:  Bis  zum  5.  Tage  fehlend,  dann  bis  zum  Schluss 
der  Beobachtung  abgeschwächt. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  am  12.  Tage. 

Section:  Häute  normal.  Die  von  der  2.  Operation  herrührende  Auf- 
lagerung nimmt  die  I.  Urwindung  ganz  und  die  mediale  Hälfte  der  ungega- 
bolten  II.  Urwindung  ein.  Der  hintere  Rand  reicht  bis  zum  hinteren  Fol,  der 
mediale  bis  zur  Medianspalte.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  llin- 
dengrau  im  Bezirk  der  Narbenkappe  zerstört.  Die  Marksubstanz  darunter  ist 
blutig  verfärbt  und  aufgelockert;  der  Herd  geht  durch  die  weisse  .Substanz 
hindurch  weit  in  die  Tiefe. 

Ziemlich  tiefgreifende  Zerstörung  dei*  Stelle  A^  und  Nachbarschaft 
als  Secundäroperation.  Sehstörung  von  lOtägiger  Dauer.  Optische 
Reflexe  länger  als  Sehen  gestört. 

Beol3aclxtiuiig'  90. 

Einem  Hunde  war  in  einer  1.  Operation  die  Gegend  der  Stelle  A^^  auf 
ca.  17  mm  sagittal,  16  mm  frontal  freigelegt  und  mit  5proc.  Carbolsäure  ge- 
ätzt worden.  Eine  typische,  allmählich  von  medial  nach  lateral  verschwin- 
dende Hemiarablyopie,  bei  der  an  den  späteren  Tagen  die  in  den  amblyopischen 


Fig.  143. 

Gesichtsfeldpartien  erscheinenden  Fleischstückchen  zunächst  nur  fixirt.  aber 
erst  ergritfen  wurden,  nachdem  das  Thier  mehrere  gefressen  hatte,  war  die 
Folge  gewesen.  Darauf  waren  2  Operationen  im  Gyrus  sigmoides  gefolgt.  In 
einer  4.  Operation  wurde  die  hintere  Knochenlücke  auf  einige  Millimeter  erwei- 
tert und  die  freigelegte  Stelle  mit  Präparatenheber  mehrere  Millimeter  tief 
exstirpirt. 

Motilitätsstörungen  als  Residuum  der  2.  und  3.  Operation:  Noch 
3  Monate  nach  der  4.  Operation  deutlich  nachweisbar.  Hängt  auch  noch  ge- 
streckt, beim  Begreifen  reactionslos. 


—     352     — 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch  bis  zum  15.  Tage  nur  auf  schmalem  nasa- 
len Streifen  sehend.  Gegen  Licht  bis  dahin  fehlend.  Bis  zum  24.  Tage  Seh- 
störung gegen  Fleisch  allmählich  abnehmend,  sodass  an  diesem  Tage  Reaction 
nur  noch  aussen  unsicher.  Gegen  Licht  Reaction  bis  dahin  allmählich  wieder- 
kehrend; am  26.  Tage  Sehstörung  nicht  nachweisbar,  bis  auf  eine  noch  nach 
3  Monaten  erkennbare  Abschwächung  gegen  Licht. 

Optische  Reflexe:  Schon  2  Stunden  post  operationem  und  bis  min- 
destens 4  Wochen  nachher  gänzlich  fehlend,  noch  nach  3  Monaten  schwächer. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Gestorben  ö^/g  Monate  nach  der  letzten  Operation. 


links      ^»-'^v "  *<»■  I  /  ^    ^^^H     i-echts 


Fig.  144. 

Section:  Pia  und  Dura  zart,  keine  xidbärenz.  Die  Narbe  reicht  medial 
bis  zur  medialen  Begrenzung  der  Stelle  A^^,  ebenso  nach  hinten  und  vorn  ent- 
sprechend dieser  Stelle,  nach  lateral  etwa  1  cm  über  die  laterale  Grenze  der 
Stelle  A-^  hinaus.  Durchschnitt:  Die  Rinde  ist  hier  völlig  zerstört,  von  der 
weissen  Substanz  ist  kaum  etwas  übrig  geblieben,  da  die  Narbenmasse  bis  zur 
Wand  des  Ventrikels  reicht,  der  sehr  stark  erweitert  und  vor  allem  nach  oben 
ausgezogen  ist.  Die  ganze  linke  Hemisphäre  ist  deutlich  atrophisch.  Vorn 
lateral  von  der  vorderen  und  hinten  lateral  von  der  hinteren  Operationsstelle 
finden  sich  schmale,  flache  erweichte  Stellen. 

Die  Stelle  A^  nebst  ihrer  lateralen  Umgebung  war  einschliesslich 
des  tiefen  Marklagers  bis  an  die  Spitze  des  Seiteuventrikels  zerstört. 
Dauernde  Rindenblindheit  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens  auf  dem 
rechten  Auge  und  des  medialen  Streifens  auf  dem  linken  Auge  hätte 
die  Folge  sein  müssen.  Es  bestand  zwar  eine  hochgradige  und  über- 
haupt nicht  ganz  verschwindende  Sehstörung,  jedoch  war  die  an- 
dauernde Sehstörung  keine  Rindenblindheit,  sondern  nur  eine,  durch 
schwächere  Reaction  gegen  Licht  sich  manifestirende  Amblyopie. 


353     — 


Tabelle    IVb. 

Centrale  Läsionen.     Secundäroperationcn. 


'o 

Seh  Störung 

Art  der 
Operation 

Ort  der  Operation 
(Section) 

o'Cf'en 

Optische 
Reflexe 

Nascnlid- 
reflex 

Bemerkungen 

6 

gegen  Fleisch 

Licht 

77 

Unter- 

Links.    Stelle  A,  und 

Fehlt. 

Fehlt. 

Abgeschwächt 

Ungestört. 

Keine   Schädi- 

schnei- 

Nachbarschaft. 

bis  z.  Schluss 

gung  der  Re- 

dung. 

der  Beob. 

flexe  von  der 
1.    Operation 
her. 

78 

Unter- 

Links.  Stelle  Aj.  Aus- 

Fehlt. 

Fehlt. 

Bis  zum  5. Tage 

Ungestört. 

Opt.    Reflexe 

schnei- 

schaltung der  Rinde. 

fehlend,  dann 

von  der  Pri- 

dung. 

abgeschwächt 
bis  z.  Schluss 
der  Beob. 

märoperation 
her     geschä- 
digt. 

79 

Unter- 

Links.    Stelle  Ai  und 

Fehlt. 

Fehlt. 

Vor  d.  Op.  bei- 

Wenig 

— 

schnei- 

Umgebung.        Aus- 

derseits    ab- 

abge- 

dung. 

schaltung  der  Rinde. 
Schädigung  fast  der 
ganzen  „Sehsphäre". 

geschwächt 
u.  oft  fehlend, 
nach  der  Op. 
links    verän- 
derlich, rechts 
bis  z.  8.  Tage 
fehlend,     bis 
z.  Schluss  der 
Beob.    abge- 
schwächt. 

schwächt 
von   der 
1.  Opera- 
tion her. 

80 

Unter- 

Links.     Stelle  Aj. 

Fehlt. 

Fehlt. 

Nur  am  4.  Tage 

Ungestört. 

— 

schnei- 

abgeschwächt. 

dung. 

81       Unter- 

Links.    Stelle  A,   und 

Fehlt. 

Fehlt. 

Vor    der    Op. 

Massige 

— 

schnei- 

Umgebung. Tiefgrei- 

nur noch  ab- 

Abschwä- 

dung. 

fende       Zerstörung 
auch  des  Markes. 

geschwächt, 
fehlen  sie  jetzt 
bis  z.  Schluss 
der  Beob. 

chung. 

82 

Anätzung. 

Links.  Stelle  Aj  nach 
hinten  darüber  hin- 
aus,     lateral     viel- 
leicht einen  Streifen 
freilassend.  Tiefgrei- 
fende Zerstörung  un- 
ter der  Auflagerung. 

Undeutlich. 

V 

Ungestört. 

Ungestört. 

Verstärkung 
des    von   der 
1.    Operation 
gebliebenen 
Restes  d.  Mo- 
tilitätsstö- 
rung. 

83 

Auslöffe- 

Links.  Vordere  Hälfte 

Fehlt. 

Fehlt. 

Fehlen     gänz- 

Ungestört. 

Opt.      Reflexe 

lung. 

der    Stelle    A,    und 
Nachbarschaft.  Tief- 
greifende       Zerstö- 
rung. 

lich. 

vor  der  Ope- 
ration   nor- 
mal. 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.    II.  Theil. 


23 


—     354     — 


o 

S  e  h  s  t  ö  r  u  n  g 

Art  der 

Ort  der  Operation 

Optische 

Nasenlid- 

Bemerkungen 

^ 

Operation 

(Section) 

_ 

,.,  •    1        gegen 
gegen  Meisch       If^^^^ 

Reflexe 

reflex 

84 

Oberfläch- 

Links.   Stelle  Ai  und 

Fehlt. 

Fehlt. 

Anfänglich 

Ungestört. 

Lichtreaction 

liche  Ex- 

Umgebung.  Ziemlich 

Verstärkung  d. 

gelegentlich 

stirpation. 

tiefgreifende  Zerstö- 
rung unter  der  Auf- 
lagerung.              ^ 

' 

vorher  incon- 
stanten    Ab- 
schwächung, 
allmählich 
wiederkeh- 

Blinzeln. Ver- 
stärkung des 
von  der  1.0p. 
gebliebenen 
Restes     der 

~ 

rend. 

Motilitätsstö- 
rungen. 

85 

Unter- 

Links.    Stelle  Ai  mit 

Fehlt. 

8  Tage. 

Vor    der    Op.!    Vor  der 

Verstärkung  d. 

schnei- 

Ausnahme ihres  me- 

noch    abge-     Op.  abge- 

von    der     4. 

dung. 

dialsten  Theiles.  Er- 

schwächt, fch-l  schwächt. 

Oper,  her  ge- 

weichungsherd unter 

len    bis  zum 

bleiben  bis!     bliebenen 

der  Operationsstelle. 

Schluss  der 
Beob. 

z.  Schluss 
der  Beob. 

abge- 
schwächt. 

Restes     der 
Motilitätsstö- 
rungen u.  d. 
Störung    der 
opt.   Reflexe. 

sn 

Flache 

Links.       Stelle      Ai. 

Fehlt   bis  auf 

Fehlt. 

Fehlend,  bzw. 

Ungestört. 

Reflexe  vor  der 

Unter- 

Flache      Zerstörung 

7\.mblyopie 

abge- 

Operation 

schnci- 

unter   der   Auflage- 

am 3.  Tage. 

schwächt. 

normal;  Stö- 

duug. 

rung. 

rung  der  opt. 
Reflexe.  Ver- 
stärkung des 
von  d.  1.  Op, 
gebliebenen 
Restes     der 
Motilitätsstö- 
rungen. 

87 

Untci'- 

Links.    Stelle  A,  und 

llciiiiauo|jisch. 

Nur  am 

Abgcscluväehl 

Ungestört. 

Bei    der    Pri- 

sch nei- 

Umgebung. Tiefgrei- 

Dauer 5  Tage. 

2.  Tage. 

bis     zum    3. 

märoperation 

dung. 

fende  Zerstörung. 

Tage. 

keine  Sehstö- 
rung. 

88 

.Xnätzuug. 

Links.  Vordere  Hälfte 

Minimal,     nur 

Minimal, 

Anhaltend  ge- 

Abge- 

Oberflächliche 

der        „Schsphäre". 

am  2.  Tage. 

am  2.  und 

stört. 

schwächt 

Eiterung. 

Oberflächliche    Zer- 

3. Tage. 

bis  zum 

^ 

störung  der  Rinde. 

6.  Tage. 

89 

Au.slöJTe- 

Links.    Stelle  Ai  und 

llemianopisch, 

Fehlt. 

Bis     zum      5. 

Ungestört. 

Opt.     Reflexe. 

lung. 

NacJibarschaft.  Ziem- 

nach   lateral 

Tage  fehlend, 

länger     al|| 

lich  tiefgreifende  Zer- 

verschwin- 

dann bis  zum 

Sehen  gesti^ 

störung. 

dend,    Dauer 
10  Tage. 

Schluss  abge- 
schwächt. 

... 

—     855 


o 
o 

Sohs töru  ng 

Art  dei" 

Ort  der  Operation 

(.)p  tische 

Nasen  lid- 

Ueinerkiingcii 

d 

Operation 

(Section) 

gegen  Fleisch  i      f  .'*^,'-'" 

lieJlexc 

rellex 

)0 

Exstirpa- 

Links.    Stelle  Ai  und 

Typische    He- 

Wie gegen 

Ani'iinglich 

Ungestört. 

Nach  d.  1.  Op. 

tion. 

Nachbarschaft  als  2. 

mianopsie  bis 

Fleisch, 

fehlend,  dau- 

zeitweise nur 

Dp.  an  der  gleichen 

zum  15.  Tage, 

al)cr  dau- 

ernd    abge- 

vVmblyopic. 

Stelle.      Zerstörung 

dann  allmäh- 

enid   Ah- 

schwächt. 

Dauernde  Ab- 

der    dorsalen  Rinde 

lich      a,bi)eh-      scliwii- 

schwächung 

und  des  Markes  bis 

mend.  Daueri     chung. 

des  Sehens. 

an  den  Ventrikel. 

25  Tage. 

Zusammenfassung. 

1.  Selistörungen.  (aa.  Reaction  gegen  Fleisch):  Bei  den  in 
der  Tabelle  IV b  angeführten  14  Beobachtungen  fehlte  jede  Sehstörung 
gegen  Fleisch  8mal  (Beobb.  77—81,  83—85),  bei  der  Beob.  82  war 
das  Resultat  undeutlich.  Zweimal,  in  den  Beobb.  86  und  88  war  eine 
minimale  Sehstörung  nur  am  3.  bezw.  am  2.  Tage  nachweisbar.  Bei 
den  3  Beobb.  87,  89  und  90  bestand  eine  hemianopisclie  Sehstörung 
von  5-,  10-  bezw.  25tägiger  Dauer.  Von  diesen  war  die  Sehstönnig 
der  Beob.  1)0  eine  ungewöhnlich  schwere  und  langdauerndo  gewesen, 
worauf  zurückzukommen  sein  wird. 

bb.  Die  Sehstörung  gegen  Licht  verhielt  sich  im  Allgemeinen 
wie  die  Sehstörung  gegen  Fleisch,  jedoch  war  sie  bei  der  Beob.  85 
auf  die  Dauer  von  8  Tagen  nachweisbai",  während  sie  gegen  Fleisch 
fehlte;  andererseits  fehlte  sie  bei  den  Beobb.  86  und  8U,  bei  mehr  oder 
minder  deutlicher  Sehstörung  gegen  Fleisch.  Bei  der  Beob.  90  blieb 
die  Reaction  gegen  Licht  dauernd  (5^/2  Monate  nach  der  letzten  Ope- 
ration) abgeschwächt. 

2.  Die  optischen  Reflexe  zeigten  eine  mehr  oder  minder  deut- 
liche Alteration  in  allen  Fällen,  auch  in  denjenigen,  bei  denen  keine 
Sehstörung  nachweisbar  war,  nur  in  dem  Falle  82,  bei  dem  das  Bestehen 
einer  Sehstörung  kurze  Zeit  fraglich  war,  waren  sie  ungestört.  Und 
zwar  fehlten  sie  total  in  5  von  den  8  Fällen  ohne  Sehstörung  gegen 
Fleisch  auf  die  Daner  von  5  —  23  Tagen.  Darüber  hinaus  bestand  eine 
Abschwächung  von  in  maximum  mindestens  19  Tagen  (der  Hund  wurdj 
dann  getödtet)  bei  Beob.  78.  Von  den  übrigen  3  hierher  gehörenden 
Fällen  war  eine  Absciiwächung  von  unsicherem  Werthe  (Beob.  80)  nur 
am  4.  Tage  nachweisbar;  bei  d<!n  Beobb.  77  und  84  war  eine  Ab- 
schwächung mindestens  8,  l)ezw.  21  Tage  vorhanden.  Von  den  übrig 
bleibenden  5  Beobachtungen  mit  Sehstörung  waren  die  oi)tischen  Reflexe 

23* 


—     356     — 

bei  den  Beobb.  88  und  90  wahrscheinlich  dauernd  abgeschwächt,  bei 
der  Beob.  89  wurde  der  Hund  am  12.  Tage  vor  Ablauf  der  Abschwächung 
getödtet.  Der  totale  Ausfall  der  optischen  Reflexe  entsprach  bei  Beob.  86 
mit  5  Tagen  einer  Sehstörnng  von  nur  einem  Tage  und  bei  Beob.  90 
mit  28  Tagen  einer  Sehstörung  von  25  Tagen.  Auch  hier  reichte  also 
der  totale  Ausfall  des  optischen  Reflexes  weiter  als  die  Selistörung. 
Eine  Abweichung  zeigt  nur  die  Beob.  87,  bei  der  die  Selistörung  5  Tage 
anhielt,  während  die  optischen  Reflexe  nur  2  Tage  abgeschwächt  waren. 

Von  denjenigen  Beobachtungen,  bei  denen  zwar  keine  Sehstörung, 
wohl  aber  eine  Störimg  der  optischen  Reflexe  zu  beobachten  war,  sind 
die  Beobachtungen  77,  79,  83  und  85  insofern  nicht  eindeutig,  als  sich 
bei  ihnen  eine  mehr  oder  minder  ausgesprochene  Verwachsung  der 
Häute,  also  Zeichen  einer  vorangegangenen  Meningitis  fanden.  Da  nicht 
festzustellen  ist,  ob  diese  Meningitis  von  der  ersten  oder  zweiten  Ope- 
ration herrührt  und  inwieweit  sie  die  Function  meines  Facialiscentrums 
beeinträchtigte,  so  können  diese  Fälle  für  die  Beurtheilung  der  Ab- 
hängigkeit des  optischen  Reflexes  von  der  Apperception  der  Gesichts- 
objecte  nicht  verwerthet  werden. 

Andere  Einwendungen  mit  Bezug  auf  den  fraglichen  Punkt  lassen 
sich  gegen  die  Beobachtungen  78,  80,  81  und  88  insofern  erheben,  als 
bei  den  8  ersten  von  ihnen  die  Primäroperation  in  meinem  Orbicularis- 
centrum  und  in  den  beiden  andern  in  dessen  Nachbarschaft  mit  dem 
Erfolge  vorgenommen  worden  war,  dass  eine  Schädigung  der  optischen 
Reflexe  auf  kürzere  oder  längere  Zeit  eintrat.  Allerdings  hatte  sicli 
dieser  Defect  zur  Zeit  der  Secundäroperation  gänzlich  oder  fast  gänzlich 
wieder  verloren,  sodass  die  nun  erscheinende  hochgradige  Störung  der 
Function  auf  jene  Operation  direct  nicht  zurückgeführt  werden  kann. 
Jedoch  kann  man  einwenden,  dass  das  Wiederaufleben  der  Störung  der 
optischen  Reflexe  in  ähnlicher  Weise  zu  erklären  sei,  wie  das  wieder- 
holt beobachtete  Wiederaufleben  der  Motilitätsstörungen  in  den  Extre- 
mitäten als  Folge  von  Secundäroperationen  im  Occipitallappen. 

Wenn  ich  auch  diese  Einwände  keineswegs  durchgehends  als  be- 
rechtigt anzusehen  vermöchte,  so  erscheint  es  mir  doch  vorsichtiger,  von 
der  Verwerthung  derjenigen  Beobachtungen,  bei  denen  eine  Primärope- 
ration in  der  motorischen  Region  ausgeführt  worden  war,  für  die  Be- 
urtheilung des  Verhältnisses  der  Störung  der  optischen  Reflexe  zur  Seh- 
störung abzusehen. 

3.  Der  Nasenlidreflex  war  bei  den  14  hier  in  Frage  kommen- 
den Operationen  10  mal  ungestört,  2 mal  bestand  von  der  Primäropera- 
tion her  eine  Abschwächung,  der  eine  Abschwächung  der  optischen 
Reflexe  parallel  lief.     In  einem  3.  Falle  (Beob.  81)  bestand    gleichfalls 


—     357     — 

eine  Abschwächuiig  der  optischen  Reflexe  von  der  Primäroperation  her, 
während  der  Nasenlidreflex  nach  den  vorhandenen  Aufzeichnungen  am 
Schluss  der  primären  Beobachtung  keine  Differenz  mehr  zeigte,  am 
2.  Tage  nach  der  Secundäroperation  fehlte  und  dann  noch  eine  allmäh- 
lich abnehmende,  schliesslich  geringe  Differenz  erkennen  liess.  Ich 
lasse  dahingestellt,  ob  diese  nicht  noch  von  der  1.  Operation  herrührte, 
sich  der  Beobachtung  entzogen  hatte  und  durch  die  2.  Operation  nur 
eine  vorübergehende  Verschlimmerung  erfuhr.  Bei  der  Beob.  88  end- 
lich war  der  Nasonlidreflex  auf  die  Dauer  von  G  Tagen  abgeschwächt, 
ohne  dass  diese  Störung  auf  die  Primäroperation  bezogen  werden  durfte. 
In  diesem  Falle  reichte  die  Läsion  weiter  nach  vorn  bis  in  die  „Augen- 
i'egion"  hinein. 

B.    Atypische  Operationen. 
Beolbaclxtung"  91. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  69  (vergl.  dort  die  Figuren).  Trepanation 
rechts  hinten.  Hinterer  Rand  der  Knochenlücke  1  cm  vor  der  Lambdanaht, 
18  mm  sagittal,  etwas  weniger  frontal;  medialer  Rand  ca.  ^4  cm  von  der 
Mittellinie.  Abtragung  der  ganzen  freiliegenden  Rinde  ca.  1  cm  tief  und  der 
verdeckten  Partie  bis  zur  Falx. 


Fig.  145. 

Motilitätsstörungen:  Am  2.  Tage  auf  dem  Tisch  etwas  geringerer 
Widerstand  gegen  üislocationsversuche  linkerseits. 

Sehstörung:  Am  3.  Tage  stösst  der  Hund  beim  Laufen  rechts  und 
links  mit  dem  Kopfe  an,  fixirt  nie  deutlich,  scheint  Futter  nur  mit  Hülfe  des 
Geruchs  zu  finden,    läuft    dabei  Treppen    ganz    geschickt   dem  Rufe  oder  Gc- 


—     358     — 

rauschen  folgend  auf  und  ab,  ohne  jemals  gegen  die  Wand  von  vorn  her  an- 
zustossen.  Bindet  man  ihm  das  rechte  Auge  zu,  so  läuft  er  ganz  hülfios  um- 
her, rennt  mit  der  Schnauze  gegen  die  Wand,  stolpert  die  Treppenstufen  hin- 
unter, weil  er  den  Anfang  der  Stufen  nicht  bemerkt  etc.  Gegen  Fleisch:  Am 
2.  Tage  linl<s  amaurotisch,    rechts  ein  breiter  nasaler,  etwa  bis  /.ur  Mittellinie 


linlis     B  -         A         *      \  m     rechts 


Fig.  146. 

gehender  Streifen  blind;  3.  Tag:  Links  amaurotisch,  rechts  nur  eine  im  un- 
teren lateralen  Quadranten  liegende,  von  blinden  Partieen  umgebene  centrale 
Zone  sehend.  Am  4.  Tage  links  schmaler  nasaler,  etwa  den  vierten  Theil  des 
Gesichtsfeldes  einnehmender  Streifen  sehend,  rechts  unverändert.  Am  6.  bis 
8.  Tage  links  unverändert,  rechts  etwa  der  untere  äussere  Quadrant  sehend. 
Am  9.  Tage  links  nur  über  dem  Nasenrücken  sehend,  kein  wesentlicher  Unter- 
schied zwischen  oben  und  unten,  rechts  hat  sich  der  sehende  Theil  vom  un- 
teren äusseren  Quadranten  aus  nach  innen  und  oben  vergrössert.  11.  nnd 
12.  Tag:  Sehstörung  rechts  etwas  zurückgegangen.  Am  13.  Tage  scheint 
rechts  in  der  temporalen  Gesichtsfeldhälfte  keine  Sehstörung  mehr  zu  bestehen, 
links  nimmt  sie  noch  etwa  ^/g  ein,  doch  ist  der  innere  untere  Quadrant  wieder 
am  wenigsten  betheiligt.  14.  Tag:  Genaues  wiederholtes  Nachprüfen  ergiebt 
heute,  dass  rechts  der  obere  äussere  Quadrant  doch  noch  nicht  frei  ist,  links 
Sehstörung  etwas  zurückgegangen  zwischen  Y2  ^^^^  Vs'  ^^-  '^''S-  Deutliches 
Zurückgehen  der  Sehstörung  links.  Am  16.  Tage  erscheinen  nur  die  mittleren 
und  unteren  ^/g  der  Gesichtsfelder  ganz  frei,  vom  17.  Tage  an  ist  rechts  nur  eine 
obere  halbmondförmige  Zone  amblyopisch,  links  hat  sich  an  diesem  Tage  der 
mittlere  sehende  Theil  vergrössert.  Am  19.  Tage  ähnelt  die  Gestalt  der  linken 
der  fast  unverändert  gebliebenen  rechten  amblyopischen  Zone;  bis  zum  22. Tage 
besteht  beiderseits  eine  allmählich  kleiner  werdende  halbmondförmige  amblyo- 
pische  Zone  im  obersten  Theil  der  rechten  Gesichtsfelder.  Am  22.  Tage  ist 
dieselbe  links  verschwunden,  während  sie  rechts  nunmehr  lateral  noch  bis  zum 
36.  Tage  nachzuweisen  ist.     Von  da  an  bis  zum  68.  Tage    fehlt  jede  Sehstö- 


—     359     -- 

rung.  Gegen  Licht:  Bis  zum  9.  Tage  links  nicht  rcagirend,  vom  9.— 22.'l'age 
links  weniger  scheuend  als  rechts,  von  da  an  beiderseits  gleich. 

Optische  Reflexe:  Gegen  flache  Hand  links  bis  zum  14. Tage  fehlend, 
rechts  angedeutet,  mit  Ausnahme  des  3.  Tages,  wo  sie  gänzlich  fehlen,  von 
da  an  beiderseits  angedeutet  oder  fehlend,  am  68.  Tage  fehlen  sie. 

Nasenlid refl ex  intact. 

Getödtet  am  74.  Tage. 

Section:  Dura  und  Pia  frei.  Dura  nur  an  den  Rändern  der  Auflage- 
rung adhärent.  Die  Auflagerung  reicht  mit  ihrem  vorderen  Rande  bis  in  die 
Höhe  der  vordersten  Spitze  des  Bogens  der  Sylvischen  Windung,  mit  ihrem 
lateralen  Rande  nicht  ganz  bis  an  den  medialen  Rand  der  Hl,  Urwindung, 
mit  ihrem  medialen  Rande  ziemlich  weit  in  die  I.  Urwindung  hinein,  mit  ihrem 
hinteren  Rande  bleibt  sie  15  mm  vom  hinteren  Pol  entfernt.  Durchschnitt 
durch  die  Mitte  der  Auflagerung:  Rinde  und  Mark  der  11.  Urwindung  fehlen 
so  gut  wie  ganz,  nur  ein  lateraler  Streifen  der  Rinde  ist  erhalten,  ebenso  fehlt 
über  die  Hälfte  von  Rinde  und  Mark  der  I.  Urwindung.  Von  der  Auflagerung 
zieht  sich  ein  narbiger  Streifen  über  die  Balkenstrahlung  hinweg  bis  an  die 
eingezogene  mediale  Fläche;  dieser  Streifen  ist  von  Erweichungsherden  um- 
geben, die  sich  noch  in  die  I.  und  11.  Urwindung  erstrecken  und  setzt  sich 
noch  in  einer  hinter  der  Auflagerung  liegenden  Schnittfläche  fort.  Der  dorsale 
Theil  des  Marklagers  ist  zerstört,  nur  der  ventrale  Theil  desselben  und  ein 
Theil  der  zu  der  II.  Urwindung  gehörigen  Strahlung  ist  erhalten.  Der  Seiten- 
ventrikel ist  dreieckig  nach  oben  verzogen. 

Die  Exstirpation  nahm  die  vordere  und  mittlere  Partie  der  Seh- 
sphäre ein.  Demnach  hätte  dauernd  rindenblind  sein  müssen  ein  Theil 
der  Stelle  des  deutlichen  Sehens  und  der  grössere  Theil  der  unteren 
Hälfte  des  linken  Gesichtsfeldes.  Thatsächlich  bestand  zuerst  eine  typische 
Hemianopsie,  die  sich  derart  verlor,  dass  sich  zuerst  gerade  diejenigen 
Theile,  welche  rindenblind  hätten  sein  sollen,  nämlich  die  Stelle  des 
deutlichen  Sehens  und  die  unteren  Partien  des  Gesichtsfeldes  aufhellten, 
während  die  oberen  Partien,  die  intact  hätten  sein  sollen,  noch  länger 
blind  blieben.  Ausserdem  lebte  die  Sehstörung  des  rechten  Auges  wie- 
der auf.  Auch  sie  verschwand  in  der  Weise,  dass  zuerst  die  unteren 
Partien  des  Gesichtsfeldes  wieder  functionstüchtig  wurden.  Der  letzte 
Rest  der  Seh  Störung  betraf  die  obere  äussere  Peripherie. 

Beobadituiig-  9S. 

Aufdeckung  links  hinten,  hinterer  Rand  ^/^  cm  vor  der  Lambdanaht, 
medialer  Rand  ca.  3  mm  von  der  Mittellinie.  Knochenlücke  19  mm  sagittal, 
15  mm  frontal.  Abtragung  der  Dura  bis  auf  einen  schmalen  Streifen  am  hin- 
teren Rand  der  Lücke.  Das  freiliegende  Rindenstück  wird  dann  ca.  1  cm  tief 
umschnitten  und  dann  ebenso  tief  exslirpirt,  dabei  auch  die  mediale  unter  dem 


—     360     — 

Knochen  liegende  Rindenpartie  bis  zur  Falx  soweit  als  möglich  zerstört  und 
entfernt.    Starke  Blutung. 

Motilitätsstörungen:  Am  2.  Tage  auf  dem  Boden  dreht  er  nach 
links,  sonst  keine  deutlichen  Motilitätsstörungen:  auf  dem  Tische  rutscht  er 
mit  den  rechten  Beinen  davon,  lässt  dieselben  auch  mit  dem  Dorsum  aufsetzen, 


Fie-.  148. 


sobald  er  genügend  beruhigt  ist,  und  über  den  Tischrand  hängen.  Am  4.  Tage 
lässt  er  nur  noch  etwas  dislociren  und  setzt  besonders  vorn  die  Pfote  nicht 
weg,  wenn  man  sie  berührt;  am  5.  Tage  nur  noch  spurweise. 

In  der  Schwebe:  Hängt  an  den  ersten  Tagen  leicht  different  und 
reagirt  rechts  auf  Begreifen  weniger,  dann  nicht  mehr. 

Seil  Störung:     Gegen  Fleisch:    Am  2.   Tage  rechts  überhaupt  keine. 


i 


—     361     — 

links  in  nasalem,  sich  nach  oben  verbreiterndem  Streifen  keine  Reaction.  Am  3.  Tage 
sieht  er  rechts  unten  nasal,  links  ist  die  Sehstörung  oben  etwas  zurückgegangen ; 
am  4.  Tage  sieht  er  rechts  in  schmalem  nasalen  Streifen,  links  ist  das  Ge- 
sichtsfeld ganz  unten  frei,  sonst  noch  schmaler  nasaler  Streifen  amblyopisch. 
5.  Tag:  Rechts  hat  sich  der  sehende  Streifen  etwas  verbreitert,  links  Sehstö- 
rung kaum  noch  nachzuweisen.  6.  Tag:  Rechts  Sehstörang  ca.  ^j^,  unten  ist 
der  sehende  Streifen  etwas  breiter  als  oben.    Vom  7. — 9.  Tage  Sehstörung  ca. 


links    ■  ^1    rechts 


Fig.  149. 

die  Hälfte  des  Gesichtsfeldes,  vom  10. — 14.  Tage  gänzlich  ohne  Reaction  nur 
noch  etwa  Ys)  dann  kommt  eine  unsichere  Zone,  in  der  der  Hund  fixirt.  Vom 
15.  Tage  an  geht  die  Sehstörung  weiter  zurück,  am  23.  Tage  verschwunden. 
Gegen  Licht:  Rechts  am  2.  Tage  ohne  Reaction,  am  7.  Tage  auf  der  medialen 
Hälfte  scheuend,  am  10.  Tage  normal,  links  von  Anfang  an  stark  scheuend. 

Optische  Reflexe  fehlen  rechts  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung. 

Nasenlid refl ex  intact. 

Getödtet  wegen  Räude  nach  6  Wochen,  nachdem  eine  2.  Operation  rech- 
tcrseits  wegen  starker  Knochenblutung  unterbrochen  worden  war. 

Section:  Häute  normal,  nur  an  den  Rändern  der  Narbe  verwachsen. 
Die  Narbe  sitzt  genau  in  der  II.  Urwindung,  reicht  nach  hinten  bis  ca.  9  mm 
von  dem  hinteren  Pol  der  Hemisphäre,  nach  vorn  ca.  3  mm  über  eine,  von 
der  Spitze  der  Fossa  Sylvii  nach  der  Falx  gezogene  Linie  hinaus.  Sie  bleibt 
in  ihrem  mittleren  Theile,  wo  sie  sich  der  Medianspalte  am  meisten  nähert, 
6  mm  davon  entfernt.  1.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Die  Rinde 
der  n.  Urwindung  ist  ganz  zerstört,  ebenso  der  laterale  Rand  der  I,,  während 
die  TU.  Urwindung  ganz  intact  geblieben  ist.  Die  Narbe  erstreckt  sich  keil- 
förmig im  Markweiss  der  IL  Urwindung  nach  unten,  dasselbe  fast  ganz  aus- 
füllend. Vom  medialen  Rand  der  Narbenkappe  zieht  ein  Erweichungsstreifen 
bis  zur  medialen  Wand  des  Ventrikels,  der  hier  ausgezogen  und  erweitert  ist. 
2,  Durchschnitt  durch  das  vordere  Viertel  der  Narbe:  Lateral  von  der  Narbe 
ist  die  R,inde  der  IIL  Urwindung  bis  etwa  zur  Mitte  flach  durch  eine  von   der 


—     362     — 

Narbe  nach  lateral  sich  crstreclconde  Spalte  abgehoben.  Dieser  abgehobene 
Rindentheil  und  der  lateral  angrenzende  sind  abgeblasst.  Vom  lateralen  Rande 
der  Narbe  steigt  in  der  III.  Urwindung  an  der  Grenze  von  Mark  und  Rinde 
ein  Erweichungsstreifen  einige  Millimeter  nach  unten.  Die  Rinde  der  II.  Ur- 
windung und  der  laterale  Theil  der  I.  sind  durch  Narbengewebo  ersetzt.  Im 
Markweiss  der  II.  Urwindung  steigt  ebenfalls  ein  ganz  feiner  Erweichungs- 
streifen basalwärls,  um  in  einem  an  die  Ventrikelwand  anstossenden,  etwa 
hirsekorngrossen  Herd  zu  enden.  Die  dem  Sulcns  zwischen  der  1.  und  II.  Ur- 
windung folgende,  noch  unter  dem  lateralen  Rand  der  Narbenkappe  liegende 
Rinde  ist  aufgehellt. 

In  diesem  Falle  war  die  Stelle  A^  nebst  dem  darunter  liegenden 
Marklnger  jedenfalls  völlig  zerstört;  ausserdem  aber  noch  ein  beträcht- 
liches Stück  der  vorderen  Partie  der  Sehsphäre,  auch  der  I.  Urwindung. 
Die  Sebstörung  hätte  also  in  einer  Rindenblindheit  der  Stelle  des  deut- 
lichen Sehens  und  eines  Tlieiles  der  unteren  und  lateralen  Gesiclitsfeld- 
liälfte  bestehen  müssen.  Beobachtet  wurde  eine  typische  Hemianopsie, 
die  in  der  Weise  zurückging,  dass  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens 
schon  am  7.  Tage  frei  war,  während  in  der  Folge  sich  gerade  die  un- 
teren, anstatt  der  oberen  Gesichtsfeldpartien  zuerst  aufhellten.  Bemer- 
kenswerth  ist,  dass  die  Sehstörung  des  linken  gleichseitigen  Auges  in 
diesem  Falle  weit  über  die  ihr  zugewiesenen  und  in  der  Regel  auch 
von  ihr  innegehaltenen  Grenzen  hinausreichte. 

Beobaclitiiiigj-  93. 

Kleiner  junger  Hund,  kleiner  Schädel.  Aufdeckung  links  hinten  auf 
sagittal  17  mm,  frontal  16  mm.  Umschneidung  und  Exstirpation  des  freiliegen- 
den Rindentheils  ca.  1  cm  tief;  dann  wiid  mit  der  breiten  Seite  des  Präpara- 
tenhebers die  unter  dem  stehengebliebenen  medialen  Knochenrande  liegende 
Rindenpartie  bis  zur  Falx  unterschnitten  und  nach  Möglichkeit  zerstört. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  und  3.  Tage  sieht  er  nur  im 
grösseren  Theil  des  unteren  inneren  Quadranten  (links  schmaler  nasaler  Strei- 
fen ausgeschaltet).  Am  4.  und  5.  Tage  Reaction  im  schmalen  nasalen  Strei- 
fen, am  6.  Tage  auf  dem  nasalen  Drittel,  am  7.  Tage  auf  den  nasalen  zwei 
Dritteln,  reagirt  aber  rechts  weniger  energisch  als  links,  am  14.  Tage  nur 
noch  schmaler  temporaler  Streifen  reactionslos,  am  18.  Tage  keine  Sehstörung 
mehr.  Gegen  Licht:  Reaction  fehlt  am  2.  Tage,  links  scheut  der  Hund  ent- 
setzt, vom  3. — 5.  Tage  Reaction  nur  bei  Belichtung  des  sehenden  Theils  der 
Netzhaut,  vom  7.  Tage  an  beiderseits  gleiche  energische  Reaction. 

Optische  Reflexe  fehlen  rechts  bis  zum  Ende  der  Beobachtung. 

Getödtet  nach  einer  2.  Operation  4  Monate  nach  der  1. 

Section:  Häute  normal.  Hinterer  Pol  stark  eingezogen.  Auflagerung 
C)  mm  vom  hinteren  Pol  und  ebensoviel   von   der  Medianlinie  entfernt.     Sagil- 


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IX 


90, 


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ii  11.  15.  li. 


(zu  Beob.  94) 


Ficr.    150. 


?-2 


—     364     — 

talev  Durchmesser  15  mm,  frontaler  11  mm.  Ihr  vorderer  Theil  sitzt  auf  der 
II.  Urwindung  und  berührt  den  medialen  Rand  der  III.  Urwindung,  ihr  hin- 
terer Theil  reicht  bis  zur  I.  Urwindung  heran.     Vordere  Grenze  reicht  bis  zu 


Fio;.  151. 


reell  ts 


Fig.  152. 

einer  Linie,  welche  senkrecht  von  der  Spitze  der  Fossa  Sylvii  zur  Falx  gezogen 
ist.  Durchschnitt  mitten  durch  dieAuflagerung:  Die  graue  und  weisse  Substanz 
der  II.  Urwindung  fehlt  gänzlich.  An  ihre  Stelle  ist  eine  oben  weissliche, 
unten  gelbliche  Narbenkappe  getreten;  und  darunter  die  von  der  medialen 
Fläche  her  hineingezogenen  Windungen  (Randwulst  und  Gyrus  fornicatus). 
Zwischen  dieser  und  der  Narbenkappe  eine  Höhle.  2.  Durchschnitt  3  mm  nach 
vorn  durch  das   vordere  Drittel   der  Narbe:     Die   ganze  II.  Urwindung  ist  an 


365 


dieser  Stelle  durch  Narbengewebe  ersetzt,  welches  bis  an  die  Spitze  des  sehr 
stark  nach  oben  ausgezogenen  Seitenventrikels  reicht;  auch  das  laterale  Grau 
der  I.  Urwindung  ist  verloren  gegangen. 

Hier  war  die  Stelle  A^  mit  dem  subcorticalen  Marklager,  ferner 
ein  grosser  Tlieil  besonders  ihrer  vorderen,  dann  ihrer  hinteren  und 
lateralen  Cmgebung  gänzlich  mid  der  angrenzende  Theil  der  I.  Urwin- 
dung theilweise  zerstört  worden.  Dauernde  Rindenblindheit  der  Stelle 
des  deutlichen  Sehens,  sowie  des  grösseren  Theiles  des  Gesichtsfeldes 
hätte  nach  Munk  die  Folge  sein  müssen.  Die  Stelle  des  deut- 
lichen Sehens  fungirte  aber  bereits  am  7.  Tage  wieder.  Die 
Sehstörung  bestand  in  einer  typischen  Hemianopsie.  Kein  Theil  des 
Gesichtsfeldes  war  dauernd  rindenblind. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  93  (vergl.  dort  die  Figuren).  Aufdeckung  hin- 
ten rechts  auf  19  mm  sagittal,  16  mm  frontal.  Hinterer  Rand  des  Trepans 
3/4  cm  vor  der  Mitte  der  Lambdanaht;  medialer  Rand  der  Lücke  ca.  3  mm 
von  der  Mittellinie  entfernt.    Tiefe  Unterschneidung  des  freiliegenden  Rinden- 


Fig.  153. 

denstücks  mit  Präparatenheber  und  Abtragung  desselben  mit  der  Scheere,  auch 
der  medialen  Partie.  Dagegen  wird  die  Dura  in  einer  Breite  von  ca.  2  mm  am 
hinteren  Rande  der  Lücke  stehen  gelassen. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  rechtes  Auge  fast  die  ganze 
laterale  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  und  ein  breiter  (fast  ein  Drittel  des  Gesichts- 
feldes einnehmender)  nasaler  Streifen  amblyopisch.  Linkes  Auge:  Annähernd  das 


—     366     — 

obere  Drittel  der  nasalen  und  die  temporale  Hälfte  des  Gesichtsfeldes.  3.  Tag: 
Rechts  unverändert,  links  anscheinend  vollkommen  blind.  Stösst  bei  verbun- 
denem rechten  Auge  überall  an.  4.  Tag:  Rechts  gleiche  Figur  wie  am  2.  Tage, 
nur  ist  die  obere  Partie  des  sehenden  Quadranten  unsicher;  der  Hund  fixirt 
hier  erscheinendes  Fleisch,  schnappt  aber  nicht  zu.  Links  sieht  ein  schmaler 
mittlerer  Sector  der  unteren  Hälfte  des  Gesichtsfeldes.  6. — 9.  Tag:  Auf 
beiden  Augen  symmetrisch  ein  grösserer  mittlerer  Sector  im  unteren  Theil 
des  Gesichtsfeldes  sehend.  Auf  dem  Boden  ist  er  äusserst  unsicher  beim 
Suchen  nach  Fleisch.  10.  Tag:  Rechts  unverändert,  links  schliesst  sich  an 
die  laterale  Grenze  des  sehenden  ein  unsicherer,  bis  zum  Aeqnator  reichender 
Sector  an,  auf  dem  der  Hund  zwar  fixirt,  aber  nicht  zuschnappt.  13.  Tag: 
Rechts  unverändert,  links  reicht  der  unsichere  Sector  über  den  Aequator  hin- 
aus. 15.  Tag:  Rechts  kaum  verändert,  links  stark  aufgehellt,  doch  besteht 
temporal  und  oben  und  nasal  noch  ein  unsicheres  Gebiet,  auf  dem  der  Hund 
fixirt,  aber  nie  prompt  zuschnappt.  17.  Tag:  Rechts  hat  sich  der  sehende 
Sector  nach  oben  vergrössert.  Links  hat  sich  die  amblyopische  Partie  nach 
allen  Seiten  eingeengt;  ganz  prompt  reagirt  der  Hund  aber  auch  hier  nur  auf 
einem,  dem  rechten  Sector  entsprechenden  Felde.  19.  Tag:  Rechts  erreicht 
der  sehende  Sector  fast  die  obere  Grenze  des  Gesichtsfeldes,  links  ziemlich 
unverändert,  doch  ist  die  amblyopische  Partie  etwas  kleiner  geworden,  'iö-'i^ag: 
Links  gar  keine  Sehstörung  mehr,  rechts  lateraler  ziemlich  breiter,  medial  ein 
schmaler  Streifen  reactionslos.  29.  Tag:  Rechts  Sehstörung  lateral  ein  schma- 
ler Streifen.  32.  Tag:  Rechts  etwas  mehr  als  der  obere  äussere  Quadrant 
amblyopisch.  34.  Tag:  Die  Sehstörung  ist  medial  oben  und  lateral  unten 
etwas  zurückgegangen,  am  38.  Tage  nimmt  sie  noch  oben  aussen  eine  wenn 
auch  kleine,  doch  deutlich  nachweisbare  nicht  sehende  Stelle  ein.  Am  43.  Tage 
Sehstörung  nicht  mehr  sicher  nachzuweisen,  am  46.  Tage  oben  lateral  noch 
eine  amblyopische  Stelle,  unverändert  bis  zum  61.  Tage.  An  diesem  Tage 
findet  er  auf  der  Erde  vorgeworfene  Fleischstückchen  schlecht,  sucht  längere 
Zeit  herum,  und  findet  sie  nur  mehr  zufällig,  wenn  sie  nicht  weisses  Fett  ent- 
halten. 63.  Tag:  Gegen  Fleisch  in  der  Schwebe  lateral  und  nasal  oben  ein 
amblyopischer  Fleck.  Der  Unterschied  in  der  Reaction  zwischen  rechts  und 
links  ist  erheblich;  links  sieht  der  Hund  schon  ganz  lateral  und  reagirt 
schneller.  66.  Tag:  Auf  dem  Boden  findet  er  Fleisch  mit  dem  linken  Auge 
gut,  bei  verbundenem  linken  Auge  findet  er  es  durch  den  Geruch.  In  der 
Schwebe  ist  das  ganze  rechte  Gesichtsfeld  amblyopisch,  scheint  überhaupt 
wenig  Hunger  zu  haben,  da  er  auch  gegen  Fleisch  vor  dem  linken  Auge  und 
vor  der  Nase  mit  geringerer  Energie  reagirt.  67.  Tag:  Auf  dem  Boden  findet 
er  bei  verbundenem  linken  Auge  nur  langsam  oder  gar  nicht  vorgeworfenes 
Fleisch,  er  orientirt  sich  mit  Gehör  und  Geruch.  Wiederholt  nimmt  er  ein  auf 
dem  Boden  liegendes  (weisses!)  Stück  Watte  in  das  Maul.  Mit  dem  linken 
Auge  findet  er  (bei  verbundenem  rechten)  Fleisch  sofort.  In  der  Schwebe  sieht 
er  rechts  in  der  ganzen  oberen  Hälfte  und  einem  nasalen  Streifen  der  unteren 
Hälfte  nichts.  Ermüdet  leicht.  Figur  ähnlich  wie  am  2.  Tage.  71.  Tag:  Auf 
f-|em  Boden  findet  er  bei  verbundenem  linken  Auge  Fleisch  nur  langsam,  orien- 


—     367     — 

liri  sich  durch  Geruch,  linlvs  etwas  besser.  Am  Boden  liegende  Walle  nininil 
er  nicht  in  das  Maul.  In  der  Schwebe  sieht  er  rechts  in  der  ganzen  unteren 
Hälfte  und  nasal  oben.  Links  Ixcine  Sehslörung.  72.  Tag:  Auf  denn  Boden 
unverändert.  In  der  Schwebe  scheint  die  Sehstörung  etwas  abgenommen  zu 
haben.  75.  Tag:  Die  Sehstörung  hat  etwas  weiter  abgenommen,  sonst  unver- 
ändert. 78.  Tag:  Auf  dem  Boden  findet  der  Hund  mit  dem  rechten  Auge 
schlechter  als  mit  dem  linken  vorgeworfenes  Fleisch.  In  der  Schwebe  ist  oben 
aussen  ein  nicht  sehr  breiter  amblyopischer  Streifen.  82.  Tag:  Auf  der  Erde 
sieht  der  Hund  mit  dem  rechten  Auge  noch  immer  ziemlich  schlecht.  In  der 
Schwebe  besieht  anscheinend  keine  Sehstörung  mehr.  85.  Tag:  Bei  verbun- 
denem rechten  Auge  findet  er  Fleischstücke  besser  als  bei  verbundenem  linken. 
In  der  Schwebe  reagirt  er  links  schon  ganz  aussen  und  sehr  lebhaft,  rechts 
scheint  oben  aussen  noch  eine  Sehstörung  zu  bestehen,  jedenfalls  reagirt  er  in 
dem  oberen  äusseren  Quadranten  weniger  regelmässig  und  energisch.  90. Tag: 
Auf  dem  Boden  reagirt  er  rechts  schlechter  als  links.  In  der  Schwebe  rechts 
bei  gewöhnlicher  Absuchung  des  Gesichtsfeldes  keine  Sehstörung,  doch  reagirt 
er  gegen  senkrecht  auf  das  Auge  zugeführte  und  ruhig  gehaltene  kleine 
Fleischslückchen  erst  nach  gewisser  Zeit.  Links  fehlt  das  Symptom.  92. Tag: 
Keine  Sehstörung  mehr,  sieht  sofort,  auch  senkrecht  gegen  das  Auge  zuge- 
führtes Fleisch.  Gegen  Licht:  Am  2.  Tage  beiderseits  scheuend,  am  3,  Tage 
rechts  scheuend,  links  ganz  indifferent.  Am  5.  Tage  beiderseits  scheuend; 
10.  Tag:  Scheut  nur  im  sehenden  unteren  Sector.  13.  Tag:  Rechts  genau  dem 
Sector  entsprechend,  links  über  der  ganzen  temporalen  Hälfte;  15.  ^i'ag:  Links 
fast  über  dem  ganzen  Gesichtsfeld  heftig  scheuend,  rechts  unten  stärker  als 
oben.  17.  Tag:  Beiderseits  ohne  deutlichen  Unterschied  schon  weit  aussen 
reagirend.  19.  Tag:  Es  lässt  sich  immer  noch  zeigen,  dass  der  Hund  unten 
stärker  reagirt  als  oben.  22.  Tage:  Reagirt  beiderseits  unten  schon  weit 
aussen,  oben  beiderseits  erst  weiter  medial.  Führt  man  das  Licht  von  oben  nach 
unten,  so  merkt  er  zwar  im  oberen  Theil  des  Gesichtsfeldes  bereits  auf,  scheut 
aber  erst  deutlich,  wenn  man  unter  den  Aequator  kommt.  Vom  25.  Tage  an  bis 
zum  Schluss  der  Beobachtung  unter  unwesentlichen  Schwankungen  stets  beider- 
seits stark  scheuend. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  bis  zum  58. Tage  beiderseits  mit  Ausnahme 
eines  Tages  gänzlich,  doch  wird  er  bereits  am  52.  Tage  bei  jedem  Versuch 
sehr  unruhig,  sodann  fehlen  sie  rechts  noch  bis  zum  92.  Tage;  an  diesem 
Tage  und  am  Schluss  der  Beobachtung  (96.  Tag)  sind  sie  gegen  flache  Hand 
vorhanden,  fehlen  gegen  schmale  Hand.  Links  fehlten  sie  gleichfalls  fast 
während  der  ganzen  Beobachtungszeit  gänzlich,  doch  waren  sie  am  46.,  59., 
71.,  72.,  75.  und  78.  Tage  auf  flache  Hand,  vom  82.  Tage  an  auf  flache  Hand 
immer,  auf  schmale  Hand  gewöhnlich  vorhanden. 

Getödtet  nach  3^/2  Monaten. 

Section:  Häute  normal.  Die  Auflagerung  ist  vom  hinteren  Fol  10  mm, 
von  der  Medianlinie  6  mm  entfernt.  Sagittaler  Durchmesser  12  mm,  frontaler 
13  mm.     Vordere  Grenze   reicht  bis    zur   vorderen  Grenze    der   Munk'scheq 


—     368     — 

Selisphäre.  Sie  sitzt  auf  der  lateralen  Hälfte  der  I.  ürwlndung  und  der  ganzen 
11.  Urwindung  und  reicht  bis  an  den  medialen  Rand  der  III.  Urwindung. 
Durchschnitt  mitten  durch  die  Narbe  zeigt  ein  sehr  ähnliches  Bild  wie  Beob. 
93,  doch  ist  hier  mehr  von  der  allerdings  unterschnittenen  I.  Urwindung  und 
von  der  weissen  Substanz  des  grossen  Marklagers  erhalten.  2.  Durchschnitt 
ca.  3  mm  vor  dem  ersten,  etwa  den  vorderen  Rand  der  Narbe  treffend,  zeigt 
ein  ähnliches  Bild  wie  links,  wenn  auch  die  Zerstörung  nicht  ganz  so  hoch- 
gradig ist. 

Bei  dieser  Beobachtung  war  die  Stelle  Ai  und  das  darunter  liegende 
Mark  gänzlich  oder  fast  gänzlich  ausgeschaltet;  ich  will  nicht  entschei- 
den, ob  nicht  ein  Stückchen  ihrer  hinteren  Peripherie  stehen  geblieben 
ist.  Ausserdem  fehlte  ein  grosser  Tlieil  der  vorderen  und  lateralen 
Partie  der  Sehsphäre,  während  der  Randwulst  gleichfalls  schwer  ge- 
schädigt war.  Die  durcli  diese  Verletzungen  hervorgebrachte  Sehstö- 
rung hätte  also  nach  Mitnk  in  Rindenblindheit  der  Stelle  des  deutlichen 
Sehens  oder  doch  des  grösseren  Theiles  dieser  Stelle,  sowie  eines  Theiles 
der  unteren  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  bestehen  müssen.  Da  der  Eingriff 
hier  mehr  den  lateralen  Theil  der  Sehsphäre  betraf,  so  hätte  sich  die 
dadurch  bedingte  Sehstörung  des  linken  Auges  mehr  auf  den  medialen 
Theil  des  Gesichtsfeldes  beschränken  müssen.  Andererseits  sollte  der 
Eingriff"  in  die  I.  Ui'windung  aber  auch  eine  temporale  Sehstörung  zur 
Folge  haben.  Thatsächiich  war  am  2.  Tage  gerade  die  Stelle  des  deut- 
lichen Sehens  und  der  grössere  Theil  des  medialen  Gesichtsfeldes  des 
linken  Auges  frei  von  einer  Sehstörung.  Am  3.  Tage  war  dieses  Auge 
ganz  blind.  Dann  aber  erwies  sich  gerade  ein  unterer  mittlerer  Sector 
dieses  Auges  an  Stelle  eines  oberen  Ausschnittes  als  sehend  imd  dieser 
Sector  vergrösserte  sich  nach  beiden  Seiten  derart,  dass  das  amblyopische 
Gesichtsfeld  noch  bis  zuletzt  eine  obere  Zone  in  sich  schloss,  welche  schon 
ganz  zu  Anfang  hatte  sehend  werden,  wenn  nicht  überhaupt  bleiben 
sollen.  Was  die  seitlichen  Theile  des  Gesichtsfeldes  dieses  Auges  an- 
geht, so  entsprach  ihr  Verhalten  gleichfalls  nicht  dem  Munk' sehen 
Schema,  zunächst  insofern  nicht,  als  sich  auch  hier  die  Sehstörung, 
wenn  schon  längsam,  d.  h.  bis  zum  26.  Tage  verlor,  also  Rindenblind- 
heit nicht  bestand,  dann  aber  auch,  weil  die  Figur  des  gesetzten  Sco- 
tomes,  insoweit  die  anatomische  Läsion  sich  verfolgen  liess,  sich  mit 
den  Forderungen  Munk 's  nicht  deckte.  Der  mediale  Theil  dieses  De- 
fectes  ist  wie  in  anderen  Fällen  auf  ein  Wiederaufleben  des  durch  die 
linksseitige  Operation  gesetzten  Gesichtsfelddefectes  aufzufassen. 

Ganz  absonderlich  verlief  die  Sehstörung  auf  dem  gleichseitigen 
rechten  Auge.  Zunächst  sind  hier  die  wiederholt  eintretenden  Ver- 
schlimmerungen zu  beobachten.     Eine  erste  erschien   am  4.  Tage;    eine 


—     369     — 

zweite  aber  erst  am  66.  Tage,  nachdem  die  Sehstörung  bereits  fast  ganz 
zurückgegangeil  war,  mid  zwar  in  so  erheblichem  Maasse,  dass  der 
Hund  an  diesem  Tage  auf  dem  rechten  Auge  überhaupt  nicht  sah.  Am 
78.  Tage  nahm  die  Sehstörung  immer  noch  einen  grösseren  Raum  ein 
als  am  38.  Tage.  Offenbar  setzte  sich  diese  Sehstörung  aus  dem  durch 
den  2.  Eingriff  gesetzten  medialen  Gesichtsfelddefect  (A^ergl.  besonders 
den  19.— 26.  Tag)  und  dem  Wiederaufleben  des  durch  die  linksseitige 
Operation  bedingten  Defectes  zusammen.  Auch  hier  erschien  übrigens 
die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  bereits  gegen  (\en  17.  Tag  wieder  frei, 
um  nur  am  66.  Tage  einmal  in  der  allgemeinen  Blindheit  zu  verschwin- 
den. Endlich  bestand  eine  sehr  lang  anhaltende  Amblyopie  der  unteren 
Hälfte  des  Gesichtsfeldes  (Fleischsuchen). 

Altes  Thier  mit  dickem  harten  Schädel.  Aufdeckung  hinten  links  ca. 
■^/^  cm  vor  der  Lambdanaht,  2—3  mm  von  der  Mittellinie,  auf  17  mm  sagitlal, 
16  mm  frontal  im  Mittel.  Die  Oeffnung  ist  medial  breiter  und  lateral  schma- 
ler. Das  freiliegende  Hirnstück  wird  auf  ca.  1  cm  Tiefe  umschnitten,  dann 
mit  der  breiten  Seite  des  Präparatenhebers  unterschnitten,  wobei  die  Schneide, 
weil  sie  schwer  die  lateral  zu  enge  Lücke  passirte,  versehentlich  zu  tief  gerieth 
und  offenbar  die  Falx  durchtrennte;  wenigstens  scheint  der  später  eingeführte 
Daviel'sche  Löffel  weit  auf  die  andere  Seitezu  gelangen.  Das  um-  und  un- 
terschnittene  Hirnstück  wird  mit  der  Schere  abgetragen. 

Motilitätsstörungen  fehlen  in  den  Extremitäten.  Dreht  am  3.  Tage 
viel  nach  links. 

Sensibilitätsstörungen  im  rechten  Nasenloch  noch  am  8.  Tage 
nachweisbar. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Bis  zum  4.  Tage  rechts  bis  auf  schmalen 
nasalen  Streifen,  links  nur  am  2.  Tage  auf  schmalem  nasalen  Streifen,  am 
3.  Tage  unsicher,  am  4.  Tage  fehlend.  Der  ca.  vom  30.  Tage  an  wegen 
Unruhe,  namentlich  i  n  d  e  r  S  c  h  w  e  b  e  s  e  h  r  s  c  h  w  e  r  z  u  u  n  t  e  r  s  u  c  h  e  n  d  e 
Hund  reagirtbei  verschiedenen  Un  tersuchungsracth  öden  auf  den 
geschädigten  Theilen  seines  Ges ich tsfeldes  verschieden.  In  der 
Schwebe  nimmt  die  Sehstörung  vom  5.  — 18.  Tage  anscheinend  entsprechend 
den  Abbildungen  allmählich  von  medial  nach  lateral  derart  ab,  dass  sich  zu- 
erst eine  mediale  Zone  mit  zunächst  unsicherer  Reaction  aufhellt,  wobei  die 
untere  Hälfte  bevorzugt  wird.  Am  19.  Tage  bemerkt  er  Fleisch  nur  auf  der 
medialen  Hälfte;  am  25.  Tage  bemerkt  er  es  auf  dem  Tische  rechts  auf  der 
temporalen  Hälfte  nicht.  In  der  Schwebe  ist  Auge  und  Kopf  sehr  schwer  zu 
fixiren;  gelingt  dies,  so  schnappt  er  nach  Fleisch  erst  auf  dem  nasalen  Strei- 
fen. Am  27.  Tage  lässt  er  auf  dem  Boden  die  rechts  liegenden  Fleischstücke 
liegen,  sonst  die  gleichen  Resultate.  Vom  39. — 50.  Tage  ist  eine  allmählich 
verschwindende  Sehstörung  entsprechend   den  vVbbildungen,    dann    wenn   der 

Hitzig,  Gesammelte  Al)hancU.     11.  Theil.  24 


370 


Hund  sich  ruhig  hält,  in  der  Schwebe  zu  constatiren.  Damit  ist  der  wirkliche 
Thatbestand  aber  nicht  erschöpft.  Am  40.  Tage  erscheint  die  Amblyopie, 
wenn  auch  nicht  abgrenzbar,  doch  hochgradiger  als  am  Vortage  gezeichnet. 
Am  45.  Tage  wird  der  Hund  unruhig,  sowie  das  Fleisch  im  Gesichtsfelde  er- 
scheint; er  localisirt  anscheinend  nicht  richtig,  denn  er  fährt  mit  der  Schnauze 
in  der  Luft  herum  bis  er  das  Fleisch  findet.  Der  untere  laterale  Quadrant  sieht 
besser  als  der  obere.  Am  54.  Tage  ist  zwar  in  der  Schwebe  keine  Sehstörung 
mehr  nachzuweisen,  dagegen  findet  er  graues,  sich  von  der  grauen  Diele  wenig 


unterscheidendesFleisch  auf  dem  Boden  erst  nach  längerem  Suchen,  Fett  schnel- 
ler, aber  auch  nicht  sofort.  Am  60.  Tage  die  gleichen  Resultate.  Ausserdem  zeigt 
sich  aber,  dass  er  auch  bei  verbundenem  rechten  Auge  Fleisch  auf  dem  Boden 
nicht  sofort  findet.  Ferner  ergreift  er  daselbst  bei  verbundenem  linken  Auge 
wiederholt  ein  vorgeworfenes  Stück  Watte.  In  der  Schwebe  wird  er  rechts  sofort 
aufmerksam,  sobald  man  in  das  Gesichtsfeld  kommt,  schnappt  auch  zu;  manch- 
mal hat  es  den  Anschein,  als  wenn  er  nicht  richtig  projicire.  Vom 82.— 89.  Tage 
findet  er  auf  dem  Boden  vorgeworfenes  Fleisch  rechts  schlechter  als  links.  In 
der  Schwebe  reagirt  er  rechts  im  ganzen  Gesichtsfeld,    wenn    das  Fleisch  be- 


371 


wegt  wird;  werden  kleine  Pleischstückchen  mit  der  Pinceite  senkrecht  auf  das 
Auge  zugeführt  und  dann  ruhig  gehalten,  so  schnappt  er  immer  erst  nach 
einiger  Zeit  zu.  Links  ist  dieses  Phänomen  nicht  nachzuweisen,  der  Hund 
reagirt  sofort.  Gegen  Licht:  Reaction  rechts  bis  zum  6.  Tage  nur  auf  schma- 
lem, nasalen  Streifen,  links  scheut  er  stark.  Bis  zum  10.  Tage  Reaction  auf 
der  medialen  deutlich  stärker  als  auf  der  lateralen  Gesichtsfeldhälfte.    Bis  zum 


Fig.  155. 


links 


rechts 


Fig.  156. 

19.  Tage  ist  das  gleiche  Phänomen  bald  nachweisbar,  bald  nicht  nachweisbar, 
später  ist  keine  deutliche  Differenz  zwischen  beiden  Augen  zu  constatiren. 

Die  Sehstörung  bleibt  bis  zum  Tode  des  Hundes  ca.  4Monate  nach  dieser 
Operation  unverändert. 

Optische   Reflexe:    Fehlen    rechts    bis  zum  Ende  der  Beobachtung, 
links  vom  60.  Tage  an  ebenfalls  bis  zum  Ende  der  Beobachtung. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

24* 


—     372     — 

Getödtet  nach  4  Monaten;  inzwischen  eine  zweite  symmetrische  Operation. 

Section:  Die  beiden  Hemisphären  sind  in  ihren  hinteren,  zwischen  den 
Operationsstellen  liegenden  Theilen  mit  der  Falx  und  dem  Tentorium  fest  ver- 
wachsen. Die  ungefähr  11  mm  sagittal  und  12  mm  frontal  messende  Narbe 
nimmt  einen  grossen  Theil  der  Sehsphäre  ein  und  bedeckt  jedenfalls  die 
Stelle  A]^  gänzlich.  Ueberdies  reicht  sie  nach  vorn  genau  bis  zum  vorderen 
Rand  der  Sehsphäre;  ihr  hinterer  Rand  bleibt  5  mm  vom  hinteren  Hemisphä^ 
renrand  entfernt.  Ein  schmaler  medialer,  sowie  der  caudale  Streifen  der  Hemi- 
sphäre sind  narbig  eingezogen  und  oberflächlich  erweicht  und  zerfetzt.  Lateral 
reicht  die  Narbe  bis  zum  lateralen  Rand  der  11.  Urwindung.  Hinterer  Durch- 
schnitt durch  die  Mitte  der  Narbe:  Seitenventrikel  stark  erweitert,  sodass  von 
dem  dorsalen  Markweiss  so  gut  Avie  nichts  übrig  geblieben  ist;  die  ganze 
Hemisphäre  ist  stark  atrophisch.  Die  Rinde  und  das  darunter  liegende  Mark 
unterhalb  der  Narbenkappe  fehlen  grösstentheils  und  sind  durch  Narbengewebe 
ersetzt.  Die  sich  von  lateral  her  in  den  Defect  hineingelagert  habende  Rinde 
ist  deutlich  abgeblasst.  Die  mediale  Rinde  ist  entweder  gänzlich  zerstört  oder 
narbig  verändert.  Vom  Fusse  der  Hirnnarbe  zieht  sich  ein  breiter  mit  Blut- 
farbstoff durchsetzter  Erweichungsstreifen  nach. der  Falx  zu.  Der  Aquaeductus 
Sylvii  ist  namentlich  in  seiner  linken  Hälfte  sehr  erheblicli  dilatirt.  Vorderer 
Durchschnitt  2  mm  hinter  dem  vorderen  Rand  der  Narbe:  Die  Rinde  unter  der 
Narbenkappe  ist  vorhanden,  aber  gelblich  verfärbt  und  erweicht;  vom  medialen 
Rand  der  Narbenkappe  zieht  ein  Erweichungsstreifen  medial-basal  bis  zur 
Ventrikelwand  und  nach  der  Medianfläche  der  Hemisphäre  zu,  das  Rindengrau 
daselbst  fächerig  durchsetzend  und  zerstörend.  Die  an  die  Narbenkappe  an- 
grenzenden Rindenpartien  medial  und  lateral  davon  sind  aufgehellt. 

Hier  war  der  grössere  Theil  der  Convexität  der  Sehsphäre,  jeden- 
falls aber  die  Stelle  A^  und  die  vordere  Partie  vollständig  ausgeschaltet, 
am  wenigsten  betheiligt  war  noch  die  hintere  Partie.  Neben  der  Stelle 
des  deutlichen  Sehens  hätte  also  fast  das  ganze  Gesichtsfeld  am  wenig- 
sten seine  obere  Partie  rindenblind  sein  müssen.  Obschon  die  Sehstü- 
rung,  cn; sprechend  der  Grösse  der  Zerstörung  von  langer  Dauer  war, 
über  50  Tage,  war  doch  kein  Theil  der  Retina,  namentlich  nicht 
die  Stelle  des  deutlichen  Sehens,  dauernd  rindenblind.  Sie  ver- 
lief als  typische  Hemianopsie,  sich  typisch  von  nasal  unten  nach  tem- 
poral oben  aufhellend,  sodass  also  nicht  der  untere,  sondern  der  obere 
Theil  des  Gesichtsfeldes  stärker  betroffen  ei'schien. 

Beobaclitiivijs:  06. 

Aufdeckung  ganz  hinten  links  auf  18  mm  sagittal,  19  mm  frontal.  Der 
mediale  Rand  der  Knochenlücke  reicht  etwa  bis  zur  Mittellinie;  hinten  unten 
liegt  der  Sinus  transversus  frei.  Exstirpation  des  aufgedeckten  Rindenstückes 
mit  dem  Präparatenheber  ca.  1  cm  tief.  Sehr  starke,  aber  nicht  lange  anhal- 
tende Blutun«?. 


—     373     — 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  In  den  ersten  Tagen  hochgradig,  aber 
nicht  maximal,  wegen  Unruhe  des  Hundes  nicht  genau  abzugrenzen.  Am 
4.  Tage  Sehstörung  hochgradig,  es  scheint  nur  ein  schmaler  nasaler  Streifen 
frei  zu  sein,  nach  unten  temporalwärts  breiter  werdend.  5.  Tag.  Sehstörung 
zurückgegangen,  oben  ca.  Y2  unten  Yg.  Vom  6. — 26.  Tage  ein  sehr  allmäh- 
lich sich  einengender  und  verschwindender  temporaler  Streifen ;  links  noch  am 
23.  Tage  schmaler  nasaler  Streifen.     Gegen  Licht:   Reaction  bis  zum  4.  Tage 


Fiff.  157. 


Fiff.  158. 


rechts  fehlend,  links  deutlich,  von  da  an  auf  den  sehenden  Partien  vorhanden, 
aber  rechts  schwächer  als  links.  Am  11.  Tage  beiderseits  scheuend,  aber  links 
schon  etwas  weiter  aussen,  später  beiderseits  gleich. 

Optische  Reflexe:  Am  2.  Tage  rechts  gegen  flache  Hand  vorhanden, 
gegen  schmale  Hand  fehlend,  dann  bis  zum  6.  Tage  gänzlich  fehlend.  Vom 
6,-12.  Tage  angedeutet,  von  da  an  bis  zum  31.  Tage  gegen  flache  Hand  all- 


—     374     -^ 

mählich  zunehmend,  an  diesem  Tage  und  später  beiderseits  gleich  und  gegen 
schmale  Hand  angedeutet. 

Getödtet  nach  ca.  8  Wochen,  wegen  zahlreicher  Krampfanfälle,  die  nach 
einer  am  43.  Tage  ausgeführten  symmetrischen  Operation  auftraten. 

Sectio n:  Die  Pia  ist  von  der  Operationsstelle  an  nach  hinten  bis  an 
den  hinteren  Pol,  nach  vorn  und  medial  in  der  nächsten  Umgebung  der  Narbe 
und  bis  an  die  Medianspalte  der  Dura  fest  adhärent.  Die  Hirnnarbe  sitzt  ganz 
hinten  im  Bereich  der  I.  und  H.  Urwindung.  Hinterer  Querschnitt:  Die  Rinde 
und  die  anstossende  Marksubstan;;  fehlen   im  Bereiche  der  H.  Urwindung  gänz- 


links 


rechts 


Fig.  159. 

lieh,  im  Bereiche  der  1.  Urwindung  fast  gänzlich  und  sind  durch  eine  Narben- 
kappe ersetzt.  In  der  weissen  Substanz  unterhalb  des  lateralen  Endet  der 
Narbe  eine  Erweichungscyste.  Von  da  dorsal  eine  zweite  grössere  mit  der  vor- 
erwähnten durch  einen  kleinen  Spalt  communizirende  Höhle.  Von  da  dorsal 
lateral  ist  die  weisse  Substanz  gelbbräunlich  verfärbt  und  im  Bereich  der 
n.  Urwindung  ohne  Dazwischentreten  von  grauer  Substanz  direct  in  das  Nar- 
bengewebe übergehend.  Vorderer  Querschnitt:  Links:  2  mm  hinter  dem  vor- 
deren Rande  der  Narbe:  In  der  weissen  Substanz  makroskopisch  nichts  mehr. 
Ventrikel  etwas  nach  oben  verzogen.  Die  Rinde  der  II.  und  I.  Urwindung 
zum  Theil  fehlend,  zum  Theil  (in  der  Tiefe  der  Furche)  verschmälert. 

Die  Stelle  A^  und  die  hintere  Hälfte  der  Selisphäre  waren  zerstört. 
Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  und  der  grössere  Theil  der  oberen 
Hälfte  des  Gesichtsfeldes  hätten  dauernd  rindenblind  sein  sollen.  Die 
Stelle  des  deutlichen  Sehens  functionirte  jedoch  bereits  am  5.  Tage 
wieder,  während  die  anfänglich  vorhandene  Hemianopsie  gerade  aus  den 
oberen  Theilen  des  Gesichtsfeldes  ungewöhnlich  früh  verschwand  und 
sich  mehr  in  dessen  lateralstem  Theil  aufhielt. 


375 


Derselbe  Hund  von  Beobachtung  100.  Aufdeckung  rechts  hinten,  einige 
mm  vor  der  Mitte  der  Lambdanaht  auf  16  mm  sagittal  und  14  mm  frontal. 
Medialer  Rand  der  Lücke  ca.  3  mm  von  der  Mittellinie  entfernt.  Exstirpation 
ca.  ^4  cm  tief,  medial  noch  etwas  über  den  Rand  der  Lücke  hinaus. 

Motilitätsstörungen:  Fehlen,  ausser,  dass  er  am  4.  Tage  mit  Vor- 
liebe nach  rechts  dreht. 


K^-i  k"' 


Fig.  160. 

In  der  Schwebe:  Vorübergehend  am  4.  Tage  beim  Begreifen  links  vorn 
keine,  rechts  vorn  geringe,  hinten  beiderseits  lebhafte  Reaction.  Hängt  vorn 
links  etwas  gestreckt,  beiderseits  schlaff.  Bei  Pumpbewegungen  beiderseits 
gleich,  links  stärker  als  vorher  gestreckt. 


—     376     — 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  auf  beiden  Augen,  am 
4.  Tage  rechts  keine  Reaction,  links  auf  einer  nicht  ganz  dem  inneren  unteren 
Quadranten  entsprechenden  Stelle.  Auf  dem  Boden  findet  er  Fleisch  nur 
durch  den  Geruch,  stösst  mit  dem  Kopfe  an;  läuft  dabei  aber  ganz  munter 
umher.  5.  Tag:  In  der  Schwebe  unverändert,  auf  dem  Boden  sieht  er  grosse 
Stücke  vorgehaltenes  Fleisch  nicht.    6.  Tag:   In  der  Schwebe  reagirt  er  rechts 


Fig.  161. 


links 


rechts 


Fig.  162. 


unten  innen,  gleichviel  ob  man  von  unten  aussen  oder  von  oben  ionen  kommt, 
links  nur  in  einem  medialen  unteren  Sector.  Auf  dem  Boden  sieht  er  vorge- 
haltenes Fleisch  nur,  wenn  man  damit  vor  den  linken  unteren  inneren  Qua- 
dranten gelangt.  Sonst  tänzelt  er  auf  den  Hinterbeinen  umher,  die  Nase  in 
der  Luft,   schnüffelnd  und  schnappend,   dabei  dem  Fleisch  häufig  den  Rücken 


—     877     — 

zudrehend.  Stösst  nicht  melir  an.  7.  Tag:  In  der  Schwebe  rechts  hat  sich 
die  amblyopische  Partie  in  einen  lateralen,  oberhalb  des  Aequators  fast  bis  zur 
Mittellinie  reichenden,  unten  nur  etwa  die  laterale  Hälfte  des  unteren  Qua- 
dranten einnehmenden  und  einen  zweiten  halbmondförmigen  breiten  nasalen 
Teil  geteilt.  Links  hat  sich  der  Sector  gegen  gestern  vergrössert.  8.  Tag: 
Rechts  hat  sich  die  sehende  Partie  sowohl  nach  medial  als  auch  nach  lateral 
vergrössert,  links  unverändert.  11.  Tag:  Rechts  betrifft  die  amblyopische 
Stelle  ungefähr  den  lateralen  oberen  Quadranten  und  einen  medialen,  sich 
nach  unten  verbreiternden  Streifen.  Links  ist  der  obere  laterale  und  die  obere 
Hälfte  des  unteren  lateralen  Quadranten  amblyopisch;  im  oberen  medialen 
(Quadranten  ermüdet  er  leicht.  Beim  Hinunterlaufen  in  den  Stall  stösst  er  mit 
der  Nasenspitze  an  einen  an  ungewohnter  Stelle  stehenden  Waschkorb  an. 
12.  Tag:  Rechts  medial  unverändert,  lateral  hat  sich  die  amblyopische  Stelle 
unten  etwas  verkleinert,  dagegen  scheint  sie  nach  oben  mit  der  medialen  am- 
blyopischen  Stelle  zusammenzulaufen.  Links  hat  sich  der  sehende  Sector  etwas 
vergrössert.  Auf  dem  Boden  findet  er  Fleisch  nicht  sofort,  namentlich,  wenn 
sich  dasselbe  rechts  von  ihm  befindet.  13.  Tag:  Rechts  ist  lateral  die  am- 
blyopische Zone  kleiner  geworden;  in  der  Mitte  scheint  keine  Störung  mehr  zu 
bestellen.  Links  hat  sich  medial  die  amblyopische  Stelle  etwas  verkleinert. 
14.  Tag:  Rechts  besteht  lateral  oben,  wenn  überhaupt  noch  etwas,  nur  eine 
sehr  kleine  amblyopische  Zone.  Nasal  ist  ebenfalls  nichts  Sicheres  mehr  nach- 
zuweisen. Links  unverändert.  15.  Tag:  Rechts  ist  lateral  oben  ein  amblyo- 
pischer  Fleck  noch  deutlich  nachzuweisen,  nasal  ist  anscheinend  nichts  mehr. 
Links  befindet  sich  temporal  und  oben  eine  schmale  nicht  sehende  Zone,  im 
Uebrigen  sieht  er.  Auf  dem  Boden  dauert  es  immer  längere  Zeit  bis  er  ein 
liingeworfenes  Stückchen  gekochtes  Fleisch,  das  er  fallen  hört,  findet.  16.  Tag: 
Links  ist  der  amblyopische  Streifen  etwas  kleiner  geworden.  18.  Tag:  Rechts 
keine  deutliche  Sehstörung  mehr,  links  ist  oben  lateral  und  nasal,  je  noch  ein 
ambl3'opischer  Fleck,  ohne  dass  sie  in  einander  übergingen.  Auf  dem  Boden 
findet  er  vorgeworfenes  Fleisch,  das  links  fällt,  nicht  sogleich.  22.  Tag:  Pcrl- 
bohnengrosse,  mit  einer  Pincette  in  senkrechter  Richtung  plötzlich  vor  das 
Auge  geführte  Stückchen  Fleisch  beachtet  er,  solange  sie  ruhig  gehalten  werden, 
im  ganzen  Gesichtsfelde  nicht,  bei  der  geringsten  Bewegung,  die  das 
Fleisch  oder  der  Kopf  macht,  schnappt  er  aber  danach.  (Stossversuch.)  Links 
ansclieinend  keine  Störung  mehr.  Auf  dem  Boden  findet  er  vorgeworfenes 
Fleisch  nicht  sofort,  scheint  sich  mit  Gehör  und  Geruch  zu  orientieren.  26. Tag: 
Links  besteht  lateral  oben  ein  kleiner  amblyopischer  Fleck.  Rechts  Stoss- 
versuch positiv.  Auf  dem  Boden  findet  er  vorgeworfenes  Fleisch  nicht  sofort. 
35.  Tag:  Rechts  und  links  ist  wieder  eine,  den  oberen  lateralen  Quadranten 
einnehmende  Anopsie  nachzuweisen.  Auf  dem  Boden  sieht  er  rechts  ziemlich 
schlecht,  mit  der  Pincette  wagerecht  vorgehaltenes  Fleisch  findet  er  erst,  indem 
er  sich  an  derselben  entlang  schnüffelt.  39.  Tag:  Rechts  wie  links  unver- 
ändert. Auf  dem  Boden  sieht  er  etwas  besser,  findet  Fleisch  ziemlich  bald. 
41.  Tag:  Rechts  keine  Sehstörung  mehr,  links  ist  der  amblyopische  Fleck 
schmäler  geworden.     Auf  dem  Boden  mit  dem  rechten  Auge  immer  noch  sehr 


—     378     — 

unsicher.  Gegen  Licht:  Am  2.  Tage  scheute  er  rechts  sehr  stark,  links  gar- 
nioht.  4.  Tag:  Rechts  unsicher,  links  keine  Reaction,  macht  aber  mit  der 
Pfote  eine  Abwehrbewegung;  links  nur  unten  innen  Reaction.  6.und7.Tag: 
Links  nur  innerhalb  des  sehenden  Sectors,  rechts  im  ganzen  Gesichtsfeld 
scheuend.  8.  Tag:  Reaction  beiderseits,  aber  links  schwächer  als  rechts;  vom 
10.  Tage  an  bis  zum  Ende  der  Beobachtung  reagirt  er  beiderseits  höchst  lebhaft. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung  gänzlich, 
doch  ist  am  13.  und  15.  Tage  notirt,  dass  er  bei  diesen  Versuchen  un- 
ruhig wird. 

Gestorben  nach  ungefähr  6  Wochen. 

Section:  Häute  normal.  Auflagerung  ziemlich  symmetrisch  der  in 
Beobachtung  100  beschriebenen,  doch  weniger  weit  nach  vorn  reichend. 
Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe  zeigt  ein  ganz  ähnliches  Bild  wie 
Beobachtung  100,  nur  ist  hier  die  Balkenstrahlung  nicht  unterbrochen  und 
überhaupt  etwas  mächtiger,  als  auf  der  anderen  Seite.  Dagegen  reicht  die 
gelatinöse  Veränderung  der  Convexität  etwas  mehr  lateral.  Der  Ventrikel  ist 
massig  nach  oben  ausgezogen.  2.  Durchschnitt  durch  den  vorderen  Rand  der 
Narbe  am  gehärteten  Präparat  zeigt  die  dorsale  Rinde  der  II.  Urwindung  gänz- 
lich fehlend.    Seitenventrikel  stark  erweitert. 

Die  Läsion  begriff  hier  die  ganze  hintere  Hälfte  der  Sehsphäre  in 
sich  und  reichte  mit  ihrem  vorderen  Winkel  noch  erheblich  in  die 
vordere  Hälfte  hinein.  Die  Stelle  Ai  einschliesslich  des  darunter 
liegenden  Marklagers  war  gänzlich  zerstört. 

Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens,  sowie  der  obere  und  der  laterale 
Theil  des  Gesichtsfeldes  des  linken  Auges,  ferner  der  obere  Theil  des 
medialen  Abschnittes  des  rechten  Gesichtsfeldes  hätten  also  dauernd 
rindenblind  sein  müssen.  In  der  That  betraf  die  Sehstörung  des  linken 
Auges  den  oberen  und  den  lateralen  Theil  des  Gesichtsfeldes  insofern 
erheblich  stärker,  als  die  Aufhellung  desselben  im  unteren  und  medialen 
Teil  begann  und  dann  nach  oben  und  medial  fortschritt,  sodass  beim 
Tode  des  Thieres  nur  noch  ein  oberer  temporaler  Kreisausschnitt  blind 
war.  Indessen  würde  sich  vermuthlich,  wie  in  zahlreichen  anderen 
Fällen  auch  dieser  noch  aufgehellt  haben.  Die  übrigen  Theile  des 
Gesichtsfeldes,  insbesondere  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  waren  je- 
doch in  keinem  Falle  rindenblind. 

Besonders  bemerkenswert  ist  das  hochgradige  Wiederaufleben  der 
von  der  I.Operation  herrührenden  Sehstörung.  Das  gleichnamige  rechte 
Auge  war  bis  zum  5.  Tage  ganz  blind.  In  den  späteren  Stadien  Hess 
sich  nach  Aufhellung  der  mittleren  Partie  je  eine  auf  die  linke  und 
auf  die  rechte  Hemisphäre  zu  beziehende  Sehstörung  unterscheiden, 
wobei  wiederum  bemerkenswert  war,  dass  die  zu  der  1.  Operation  in 
Beziehung    stehende  Sehstörung    länger  anhielt   als    die   andere.      Auch 


—     379     — 

auf  dem  linken  Auge  trat  jlie  erstmalige  mediale  Sehstörunf.;  und  zwar 
vornehmlich  in  dem  oberen  Abschnitt  des  Streifens  wieder  auf. 

lieobacliLtulija-  OS. 

Derselbe  Hund  von  Beobachtung  95  (vergl.  dort  die  Figuren).  Auf- 
deckung rechts  fast  ganz  hinten  auf  16mm  sagittal,  17mm  frontal.  ExsLirpation 
der  Rinde  im  ganzen  Bezirk,  medial  bis  zur  Falx  mit  Präparatenheber  and 
üaviel'schem  Löffel. 

Moti  litätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  reagirt  er  in  der  Schwebe 
links  oberhalb  des  Aequators  und  ganz  lateral  unten,  sowie  medial  unten 
gewöhnlich  nicht.  Zeitweise  reagirt  er  jedoch  auf  der  medialen  Partie  unter- 
halb des  Aequators.  Gegen  kleine  Stückchen  Fleisch,  die  senkrecht  auf  nicht 
sehende  Teile  zugcstossen  werden,  reagirt  er  nicht.  Am  3.  Tage  besteht  rechts 
ein  schmaler  nasaler  nicht  sehender  Streifen;  senkrecht  gegen  das  Auge  ge- 
führte kleine  Stückchen  Fleisch  sieht  er  erst  nach  einiger  Zeit.  Links  sieht  er 
oberhalb  des  Aequators  nichts,  desgleichen  unterhalb  lateral  auf  einem 
schmalen  Streifen.  Am  4.  Tage  rechts  nur  noch  ein  ganz  schmaler  nasaler 
Streifen  blind,  links  nur  noch  ein  nicht  sehr  breiter  lateraler  Streifen,  sonst 
oben  keine  Sehstörung  mehr.  9.  Tag:  In  der  Schwebe  gegen  Fleisch  ist  links 
nichts  Sicheres  mehr  nachzuweisen;  rechts  besteht  bei  gewöhnlicher  Absuchung 
des  Gesichtsfeldes  keine  Sehstörung,  doch  sieht  er  senkrecht  gegen  das  Auge 
geführte  Fleischstücke  immer  erst,  wenn  sie  bewegt  werden.  Später  keine 
Aenderung  mehr.  Gegen  Licht:  Keine  erkennbare  Sehstörung,  wird  stets 
unruhig. 

(Die  geringere  Ausdehnung  und  Dauer  der  Sehstörung  erklärt  sich  viel- 
leicht daraus,  dass  die  Zerstörung  rechts  weniger  weit  nach  vorn  in  die  Tiefe 
gedrungen  ist.) 

Optische  Reflexe:  Links  überhaupt  ungestört,  rechts  beginnen 
sie  am  4.  Tage,  also  nach  mehr  als  3  Monaten  nach  der  1.  Operation  wieder- 
zukehren und  sind  am  23.  Tage  gegen  flache  und  schmale  Hand  vorhanden. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  nach  ungefähr  4^/2  Wochen. 

Section:  Auf  der  Mitte  der  Convexität  dicht  lateral  und  hinter  dem 
Gyrus  sigmoides  ist  die  Dura  leicht  mit  der  Pia  verklebt.  Die  13mm  sagittal 
und  18mm  frontal  messende  Narbe  sitzt  weiter  nach  hinten  und  medial  als 
links.  Sie  reicht  bis  an  die  Medianspalte  des  Gehirns  und  medial  bis  an  den 
hinteren  Pol,  lateral  bleibt  sie  5mm  vom  hinteren  Hemisphärenrand  entfernt. 
Der  vordere  Rand  bleibt  6mm  hinter  dem  vorderen  Rand  der  Sehsphäre  zurück. 
Hinterer  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Die  Rinde  unter  der  Narben- 
kappe ist  breit  zerstört,  medial  finden  sich  noch  Reste  des  Rindengraues,  die 
aber  stark  abgeblasst  und  durch  einen  von  medial  her  eindringenden  Er- 
weichungsherd durchsetzt  sind.  Von  dem  Fusse  der  Hirnnarbe  aus  zieht  ein 
breiter  Erweichungsstreifen  nach  der  vorerwähnten  medialen  Narbe  zu,  den 
Gyrus  fornicatus  an  dieser  Stelle  eher  noch  stärker  als  links  vollkommen  zer- 


—     380     — 

störend.  Vorderer  Durchschnitt  nahe  dem  vorderen  Rande  der  Narbe:  Unter 
der  lateralen  Partie  der  Narbenltappe  ist  die  Rinde  abgeblasst,  unter  der 
medialen  völlig  zerstört,  der  schmale  medial  davon  stehengebliebene  Rinden- 
streifen des  Randwulstes  stark  abgeblasst.  Diese  Narbe  erstreckt  sich  breit 
ca.  5  mm  basalwärts  und  sendet  ausserdem  Erweichungsstreifen  weiter  basal 
bis  zur  Ventrikelwand  und  nach  medial  nach  der  Medianfläche  der  Hemisphäre, 
deren  Rindengrau  sie  hier  fächerig  durchsetzt  und  im  Wesentlichen  zerstört, 
sodass  nur  noch  kleine  abgeblasste  Inseln  zwischen  den  Narbenmassen  übrig 
sind.  3.  Durchschnitt  dicht  voj  der  Narbe:  Rinde  völlig  intact  bis  auf  ein 
paar  punktförmige  Erweichungen  im  Rindengrau  resp.  an  der  Grenze  von 
Rindengrau  und  Markweiss  der  Medianfläche  der  Hemisphäre. 

Hier  war  die  Stelle  A^  gänzlich  zerstört,  ausserdem  aber  noch  der 
entsprechende  Teil  des  Randwulstes  und  ein  grosser  Theil  des  hinteren, 
sowie  des  lateralen  Abschnittes  der  Sehsphäre. 

Die  Sehstörung  hätte  folglich  nach  Munk  einmal  die  Stelle  des 
deutlichen  Sehens,  dann  aber  den  oberen  und  lateralen  Teil  des  Ge- 
sichtsfeldes des  linken  Auges,  sowie  einen  grossen  Teil  des  der  rechten 
Hemisphäre  zugeordneten  Abschnittes  des  rechten  Gesichtsfeldes  treffen 
müssen.  Alle  diese  Teile  hätten  dauernd  rindenblind  sein  sollen.  Nun 
war  aber  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  bereits  am  2.  Tage  frei.  Der. 
obere  Theil  des  Gesichtsfeldes  zeigte  sich  allerdings  hochgradig  betheiligt; 
aber  diese  Störung  war  nur  am  2.  und  3.  Tage  nachweisbar.  Dann 
bestand  die  Sehstöruiig,  solange  sie  überhaupt  noch  beobachtet  werden 
konnte,  wie  in  den  meisten  anderen  Fällen  nur  no©h  in  einem  tempo- 
ralen Streifen  fort.  Auch  auf  dem  rcciitcn  Auge  verschwand  die 
tyi)ische  mediale  Selistörung  gänzlich,  sodass  auch  hier  von  llindcn- 
Idiiulhcit  keine  Rede  war.  Dagegeii  bestand  die  residuäre  Sclistiirnng 
der  ].  Operation  in  Gestalt  einer  Hemiamblyojjie  fort. 

tJcolbsxelitiiiij»;-  OO. 

/Vufdeckung  ganz  hinten  links.  Knochenlücko  18  mm  sagitUil,  IG  mm 
frontal.  Die  freiliegende  Hirnpartic  wird  mehr  als  .1cm  tief  abgetragen,  d;uni 
auch  die  nach  der  Falx  zuliegendc  vom  Knochen  bedeckte  Rinde  ausgiebig 
unterschnitten  und  von  ihren  seitlichen  Verbindungen  getrennt,  Minimale 
Blutung. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch  mehrfach,  namentlich  in  den  ersten  Tagen 
wegen  Unaufmerksamkeit  nicht  deutlich  abzugrenzen.  Am  4.  Tage  bis  auf 
schmalen,  nasalen  Streifen  reaotionslos.  Am  6.  Tage  über  der  Horizontalen 
Sehstörung  noch  über  ^/s,  unter  derselben  weiter  nach  aussen  aufgehellt;  auch 
im  schmalen  nasalen  Streifen  links  nachweisbar.  Am  7.  Tage  noch  über  ^/a, 
am  8.  bis  10.  Tage  die  Hälfte  des  Gesichtsfeldes,  am  11.  Tage  nur  noch  im 
schmalen,  temporalen  Streifen,  vom  12.  Tage  an  keine  Sehstörung  mehr  nach- 


—     381     — 

zuweisen.    Gegen  Licht:   Bis  zum  6.  Tage  abgeschwächt,  scheinbar  nur  in 
nasalen  Partie  vorhanden,  nachher  normal. 

Opt.  Reflexe  fehlen  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung  (22.  'rag). 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Am  22.  Tage  symmetrische  Operation  mit  Eröffnung  des  Ventrilcels. 

Am  23.  Tage  getödtet  im  agonalen  Zustand. 


Piff.  163. 


links 


rechts 


Fig.  164. 

Section:  Dem  Hinterhauptslappen  sitzt  eine  ca.  17mm  sagittal  und 
15  mm  frontal  messende  Narbenkappe  auf,  die  nach  hinten  fast  bis  zum 
hinteren  Pol  reicht;  nach  medial  steht  noch  eine  ca.  3  mm  breite  Brücke 
glatter  Pvinde  bis  zur  Medianspalte.  Hinterer  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der 
Narbe:  Ventrikel  erweitert,  von  Blutcoagulum  erfüllt.  Unter  der  Narbenkappe 
findet  sich  bis   zur  Ventrikelwand  kein  normales  Hirngewebe  mehr;   dasselbe 


—     382     — 

ist  aufgehellt,  narbig  verändert,  von  blutigen  Erweichungsherden  durchsetzt. 
Ebenso  zeigt  sich  die  mediale  Rindenbrücke  unterschnitten  bis  zur  Median- 
spalte, aufgehellt.  Der  Einstich  hat  die  Ventrikelwand  lädirt,  dieselbe  zeigt 
sich,  wenn  man  das  Blutcoagulum  abhebt,  narbig  eingezogen.  Die  unter  der 
Kappe  liegende  blutig  durchsetzte  Narbe  zieht  sich  an  der  medialen  Be- 
grenzung des  Ventrikels  entlang  ziemlich  weit  basalwärts.  Beim  2.  Durch- 
schnitt (vorderer  Rand  der  Narbe)  zeigt  sich  der  mit  frischem  Blutcoagulum 
erfüllte  Ventrikel  sehr  stark  erweitert.  Der  Gyrus  fornicatus  etc.  ist  hier  ganz 
zerstört.  Das  im  Ventrikel  befindliche  Blut  ist  durch  diesen  Defect  von  der 
rechtsseitigen  Operationsstelle  nach  links  durchgebrochen.  Unter  der  nur  noch 
kleinen  Narbenkappe  finden  sich  die  Reste  der  blutig  durchsetzten  Hirnnarbc, 
die  aber  auch  hier  noch  bis  zum  Ventrikel  reicht. 

Hier  war  der  grössere  Theil  der  Sehsphäre,  namentlich  die  Stelle 
Ai  vollständig,  die  hintere  Partie  fast  vollständig  und  die  vordere 
Partie  in  ihrem  mittleren  Theil  zerstört.  Die  Zerstörung  reichte  bis  nn 
die  Ventrikel  wand. 

Die  Sehstörung  bestand  in  einer  typischen  Hemiamblyopie  von 
lltägiger  Dauer.  Rindenblind  war  also  kein  Theil  des  Gesichtsfeldes, 
insbesondere  nicht  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens. 

BeobaditiMigj-  lOO. 

Derselbe  Hund  von  Beobachtung  97  (vergl.  dort  die  Figuren).  Auf- 
deckung hinten  links  einige  Millimeter  vor  der  Lambdanaht  auf  sagittal  15mm, 
frontal  16  mm.  Medialer  Rand  der  Lücke  etwa  3  mm  von  der  Mittellinie  ent- 
fernt.    Exstirpation  der  Rinde  ca.  ^/^  cm  tief  bis  zur  Medianspalte. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch:  In  den  ersten  4  Tagen  in  der  Schwebe 
l^nicht  zu  untersuchen;  er  scheint  am  3.  Tage  auf  dem  rechten  Auge  ganz 
lind,  da  er  bei  verbundenem  linken  Auge  überall  anrennt  und  vorgeworfenes 
Fleisch  nirgends  findet.  Am  5.  Tage  reagirt  er  rechts  in  einem,  in  seiner 
Ausdehnung  nicht  näher  bestimmbaren  schmalen  nasalen  Streifen,  wahr- 
scheinlich aber  unter  der  Horizontalen  besser  als  oben.  Links  reagirt  er  auf 
einem  schmalen  nasalen  Streifen  nicht.  Vom  11. — 21.  Tage:  Sehstörung 
rechts  oben  reichlich  bis  zur  Mitte,  unten  nicht  ganz  soweit  reichend  wie 
oben,  am  22.  Tage  noch  deutlich  nachweisbar,  vom  23. — 26.  Tage  nicht  mehr 
sicher  nachzuweisen,  dann  verschwunden.  Gegen  Licht:  Vom  2. — 4.  Tage 
rechts  ohne  Reaction,  links  blinzelt  er  entweder  stark  oder  scheut;  vom  5. Tage 
an  scheut  er,  auch  bei  verbundenem  linken  Auge,  bei  Belichtung  des  sehenden 
Areals. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  rechts  während  der  ganzen  Beobachtungs- 
zeit gänzlich,  sind  links  sehr  stark. 

Gestorben  nach  2Y2  Monaten,  6  Wochen  nach  einer  2.  Operation. 

Section;   Häute  normal.      Die    Narbe  schneidet   nach  vorn    mit   einer 


■  —     383     — 

Senlirecliien  S|HLze  der  Fossa  Sylvii  —  Falx  ab;  medial  reicht  sie  bis  zu  dem 
stark  eingezogenen  medialen  Hand  der  I.  ürwindung;  lateral  umgrenzt  sie  den 
medialen  Rand  der  III.  Ürwindung,  nach  hinten  bleibt  sie  medial  2mm,  lateral 
5mm  vom  hinteren  Pol  entfernt.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Es 
fehlt  die  Rinde  der  Convexität  unter  der  ganzen  von  der  Narbe  bedeckten 
Stelle  gänzlich,  stellenweise  ist  sie  durch  eine  gallertige  Masse  ersetzt,  auch 
der  Randwulst  ist  zerstört.    Ebenso  fehlt  die  weisse  Substanz  unter  der  Narbe, 


Fig.  165. 

sodass  nur  ein  Theil  der  Balkenstrahlung  erhalten  geblieben  ist.  Auch  diese 
ist  lateral  über  dem  Kopf  des  Nucleus  caudatus  durch  einen  hämorrhagischen 
Erweichungsherd  so  gut  vi^ie  gänzlich  unterbrochen.  Der  Ventrikel  ist  massig 
nach  oben  ausgezogen.  2.  Durchschnitt  durch  den  vorderen  Rand  der  Narbe 
am  gehärteten  Präparat  zeigt  die  dorsale  Funde  der  I.  und  II.  ürwindung  ober- 
flächlich zerstört.    Seitenventrikel  stark  erweitert. 

Die  narbige  Auflagerung  reichte  hier  erheblich  über  den  vorderen 
Rand  der  Exstirpation  hinaus.  Die  gesetzte  Zerstörung  betruf  also 
neben  der  gänzlich  ausgeschalteten  Stelle  A^  vornehmlich  den  Rand- 
wulst und  den  mittleren  Theil  der  IL  ürwindung. 

Rindenblind  hätten  also  sein  müssen  einmal  die  Stelle  des  deut- 
lichen Sehens,  ferner  die  laterale  und  ein  Theil  der  oberen  Partie  des 
Gesichtsfeldes.  Thatsächlich  war  kein  Theil  desselben  rindenblind,  in- 
sofern die  Sehstörung  am  27.  Tage  gänzlich  verschwunden  und  insbe- 
sondere die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  bereits  am  11.  Tage  frei  war. 
Dagegen  waren  allerdings  die  lateralen  und  oberen  Theile  des  Gesichts- 
feldes stärker  und  länger  betroffen  als  die  medialen  und  unteren. 


—     384     — 

Tabelle    V. 

Centrale   Läsionen.     Atypisclic. 


o 

S  e  h  s  t  ö  r  1.1  n  g 

m 

Art  der 

Ort 

der  Operation 

- 

Optische 

3 

Bemer 

vungen 

6 

Operation 

(Section) 

gegen  Fleisch 

gegen 
Licht 

Reflexe 

G 

o 

CT 

91 


92 


Exstirpa- 

tion   ca.   1 

cm  tief. 


Exstirpa- 
tion  des 
aufgedeck- 
ten Rin- 
dentheils 
ca.  1  cm 
tiefu.  Zer 
Störung  der 
medialen 
Partie. 


Rechts.  Vom  hinteren 
Pol  1 5  mm  entfernt. 
Medialer  Rand  nahe 
der  Medianspalte ; 
lateraler  Rand  nahe 
dem  medialen  Rand 
der  III.  Urwindung. 
VordereGrenze  -.  Vor- 
derste Spitze  des 
Bogens  der  Sylvi- 
schen  Windung. 


Links.  Vom  hinteren 
Pol  9  mm,  von  der 
Mittellinie  6  mm  ent- 
fernt. Vordere  Grenze 
reicht  über  Senk- 
rechte Spitze  der 
Fossa  Sylvii  —  Falx 
3  mm  hinaus. 


Rechtes  Auge:  Wie-^Bis  zum  9. 
deraufleben  der  Seh-|Tage  links 
Störung.  Verschlim-  total,  bis 
merung  am  3.  Tage;  zum  22. 
Aufhellung  des  hoch-  Tage  abge 
gradigen  Defectes  schwächt, 
zuerst  unten  lateral, 
schliesslich  zuletzt 
oben  lateral.  Dauer 
16  Tage  länger  als 
links. 

Linkes  Auge :  Bis 
zum  3.  Tage  total, 
bis  zum  11.  Tage 
typisch  hemiano- 
pisch,  dann  Aufhel- 
lung von  unten  me- 
dial nach  oben.  Zu- 
letzt mehr  halbmond- 
förmiger oberer  De- 
fect.  Dauer  21  Tage. 


Linkes  Auge:  Am  2 
Tage  oben  bis  zur 
Mittellinie,  am  3. 
Tage  fast  bis  zur 
Mittellinie  reichend. 
Dauer  5  Tage,  oben 
immer  stärker. 

Rechtes  Auge:  Am 
2.  Tage  ganz  blind, 
dann  eine  typische, 
allmählich  von  unten 
innen  nach  oben 
aussen  zurückwei- 
chende Hemianopie. 
Längere  Zeit  unsi- 
cherer Grenzstreifen. 
Dauer  22  Tage. 


Wie  gegen 
Fleisch. 


In  der  Re- 
gel fehlend 
bis  zum 
68.  Tage. 


Fehlen 
noch  am 
29.  Tage 
gänzlich. 


Unge- 
stört. 


Unge- 
stört. 


Rechts  u.  link 
Wiederauf  le 
ben  der  altci 
Sehstörung. 


Motilitätsstö 
rungen  bis  :} 
5.  Tage. 
Rechtes  Aug^ 

unsicherer 
Grenzstreife) 

LIngewöhn-, 
liehe  Bethej 

ligung  drs 
linken  Aw'f 


385 


:q 


Art  der 
Operation 


Ort  der  Operation 
(Section) 


S  e  h  s  t  ü  r  u  n  o- 


gegen  Fleisch 


gegen 
Licht 


Optische 
Red  exe 


<5 


Bemerkungen 


14 


Exstirpa- 
tion  des 
aufgedeck- 
ten Rin- 
dentheils 
ca.  1  cm 
tief  u.  Zer- 
störung 
der  medi- 
alen   Par- 
tie. 

Exstirpa- 
tion  mit 
Zerstörung 
der  me- 
dialen 
Rinde. 


Links.  Vom  hinteren 
Pol  und  von  der  Me- 
dianlinie 6  mm  ent- 
fernt. Vordere  Grenze 
schneidet  an  einer 
Senkrechten  Spitze 
der  Fossa  Sylvii  — 
Falx  ab ,  laterale 
Grenze :  IIL  Urwin- 
dung.  Frontal  1 1 
mm,  sagittal  15  mm. 

Rechts.  Vom  hinteren 
Pol  10  mm,  von  der 
Medianlinie  6  mm 
entfernt.  Voi'dere 
Grenze  reicht  bis 
zum  vorderen  Rand 
der  „Sehsphäre",  la- 
teraleGrenze :  IILUr- 
windung.  Frontal 
18  mm,  sagittal 
12  mm. 


Zuerst  nur  den  unte- 
ren inneren  Qua- 
dranten freilassend, 
dann  allmählich  zu- 
rückweichende late- 
rale Hemianopie, 
Dauer  17  Tage. 


Rechtes  Auge:  Bis 
zum  4.  Tage  etwas 
mehr  als  lateralen 
unteren  Quadranten, 
bis  zum  15.  Tage 
unteren  Sector  frei- 
lassend; dann  nach 
oben  zurückwei- 
chend; am  26.  Tage 
auf  medialen  und 
lateralen  Streifen  be- 
schränkt; dann- bis 
gegen  den  43.  Tag 
im  oberen  Quadran- 
ten allmählich  zu- 
rückweichend. Bis 
zum  61.  Tage  theils 
an  der  gleichen 
Stelle,  theils  nicht 
nachweisbar.  Vom 
63.  Tage  an  2.  Ver- 
schlimmerung, die 
allmählich  von  un- 
ten innen  nach  oben 
aussen  zurückweicht, 
dabei  immer  Am- 
blyopie der  unteren 
Gesichtsfeldhälfte. 
Dauer  91  Tage. 
Linkes  Auge :  Am 
2.  Tage  etwas  mehr  als  unteren  medialen 
Quadranten  freilassend,  am  3.  Tage 
total,  bis  zum  14.  Tage  unteren  mitt- 
leren Sector  freilassend,  dann  allmäh- 
lich nach  oben  zurückweichend,  so- 
dass mediale  und  laterale  Ränder 
übrig  bleiben.    Dauer  24  Tage. 

Hitzig,  Gesammelte  Abhaiidl.    II.  Theil. 


Am  2.  Tage 
allgemein, 

bis  zum  5. 
Tage  nur 
auf  dem 

nicht- 
sehenden 
Theil,  am 

T.Tage  ver- 
schwun- 
den. 

Stärker  re- 
agirend  als 

gegen 
Fleisch,  im 
Allgemei- 
nen jedoch 
den  dabei 
zu  beob- 
achtenden 
Grenzen 
entspre- 
chend. 


Fehlen 
dauernd. 


Fehlen  bis 
zum  58. 
Tage  bei- 
derseits u. 
rechts  bis 
zum  92. 
Tage  gänz- 
lich; von 
diesem 
Tage  an 
rechts,  vom 
58.  Tage 
an  links 
allmählich 
wiederkeh- 
rend.    Am 
52.  Tage 
beiderseits 
anderwei- 
tige  moto- 
rische 
Reaction. 


Rechtes  Auge : 
Wiederauf- 
leben der  al- 
ten   Sehstö- 
rung, wieder- 
holte    Ver- 
schlimmerun- 
gen. Restliche 
Amblyopie  in 
aufgehellten 
Gesichtsfeld- 
partien. 


25 


386 


K 


S  e  h  s  t  ö  r  u  D  g 


Art  der   j 
Operation 


Ort  der  Operation 
(Section) 


gegen 
Licht 


Optisclie 
Reflexe 


Bemerkungen 


95 


96 


97 


Exstirpa- 

tion  ca. 

1   cm   tief. 


Links.  Der  grössere 
Theil  der  Sehsphäre. 
Vom  hinteren  Pol 
5  mm  entfernt.  Me- 
dialer Rand  nahe  der 
Medianlinie,  laterale 

Grenze :  lateralerRand 
der  IL  LTrwindung. 
Vordere  Grenze :  vor- 
derer Rand  der  Seh- 
sphäre. Frontal  12 
mm,  sagittal  11  mm. 


Exstirpa- 

tion  ca. 

1    cm   tief. 


Exstirpa- 

tion  ca. 

V4  cm  tief. 


Links.  Hinterer  Al3- 
schnitt  d.  Sehsphäre, 
1.  undll.Urwindung 
Hinterer  Pol.  Me- 
dialer Rand  nahe  d 
Medianspalte;  late- 
rale Grenze :  media- 
ler Rand  der  III.  Ur- 
-Windung. 

Rechts.  Annähernd 
Beob.  100  symrae 
frisch,  reicht  aber 
medial  nicht  so  weit 
nach  vorn.  Zerstö 
rung  der  ganzen  I. 
und  IL  Urwindung 
und  der  Marksub- 
stanz  mit  Ausnahme 
derBaikenstrahlunff. 


Linkes  Auge:  Am  2. 
Tage  auf  schmalem 
nasalen  Streifen,  am 

3.  Tag£  unsicher,  am 

4.  Tage  fehlend. 
Rechtes  Auge:  Bis 

zum  4.  Tage  typisch 
hemianopisch,  dann 
medial  lateral  zu- 
rückgehend, zuletzt 
oberer  lateral.  Fleck. 
Beim  Stossversuch 
und  beim  Fleisch- 
suchen auf  dem  Bo- 
den noch  am  89. 
Tage  hochgradige 
Amblyopie. 

Linkes  Auge:  Schma 
1er  nasaler  Streifen. 
Dauer  23  Tage. 

Rechtes  Auge :  Ty^ 
pische  Hemiopie, 
vom  6.  Tage  an  late- 
raler halbmondför 
miger  Defect.  Dauer 
26  Tage. 

Anfänglich  beiderseits 
total  blind.  Aufhel- 
lung rechts  vom  6. 
Tage  an,  in  der  Mitte 
nach  beiden  Seiten 
zunehmend,  zuletzt 
im  lateralen  oberen 

Quadranten;  links  vom 
4.  Tage  an  zuerst 
in  der  Mitte  unten, 
dann  nach  oben  zu- 
nehmend, zuletzt  im 
lateralen  oberen 
Quadranten.  Ambly- 
opie bei  Stossver 
such  und  auf  dem 
Boden  bis  zum 
Schluss. 


Anschei- 
nend wie 
gegen 
Fleisch. 


Fehlen 

rechts 

dauernd, 

aber    auch 

links    vom 

60.  Tage 

an. 


Rechts  bis 

zum  4. 
Tage  total, 
allmählich 
wieder- 
kehrend. 


Nur  bis 

zum 
10.  Tage. 


Bis  zum 
6.  Tage 
gänzlich 
fehlend, 
dann  all- 
mählich 
wieder- 
kehrend. 


Fehlen. 


Unge- 
stört. 


]    Tage    lang  j 
Sensibilitäts- 
störungen im 
rechten    Na- 
senloch. 


—     387 


m 


Art  der   j 
Operation 


Ort  der  Operation 
(Section) 


S  ö  h  s  t  ö  r  u  n  o- 


gegen  Fleisch 


gegen 
Licht 


Optische 
Reflexe 


•^      Bemerkungen 


^ 


98 


Exstirpa- 
tion. 


99 


Exstirpa- 
tion  über 
1    cm  tief. 


1100 


Exstirpa- 

tion  ca. 

V4  cm  tief. 


Rechts.  Hinten  me- 
dial bis  an  den  hin- 
teren Pol ,  lateral 
5  mm  entfernt,  me- 
dial bis  an  die  Me- 
dianspalte reichend. 
Laterale  Grenze : 
medialer  Rand  der 
Ill.Urwindung.  Vor- 
dere Grenze:  6  mm 
hinter  dem  vorderen 
Rand  der  Sehsphäre. 
Frontal  18  mm,  sa- 
gittal  13  mm. 


Linlis.  Hintere  Grenze 
fast  hinterer  Pol; 
medial  ca.  3  mm 
von  der  Medianspalte 
entfernt  bleibend 
Vordere  Grenze  nahe 
dem  vorderen  Rand 
der  Sehsphäre;  late 
rale  Grenze  nahe  dem 
lateralen  Rand  der 
IL  Urwindung. 

Links.  Hinten  medial 
2  mm,  lateral  5  mm 
vom     hinteren    Pol, 
medial    bis    an    die 
Medianspalte     rei- 
chend.       Laterale 
Grenze:      medialer 
Rand    der    IlL    Ur 
Windung;       vordere 
Grenze :    Senkrechte 
Spitze  der  Fossa  Syl 
vii  —  Falx. 


Rechtes  Auge:  Dau- 
ernde Aniblyopie  von 
der  1.  Operation,  bis 
gegen    den    9.   Tag 

schmaler  nasaler 
Streifen  blind. 

Linkes  Auge :  Bis 
zum  3.  Tage  ober- 
halb des  Aequators 
und  auf  einem  tem- 
poralen Streifen 
blind.  Vom  4.  bis 
gegen  den  9.  Tag 
nur  noch  tempora 
1er  Streifen. 


Hund  unaufmerksam 
Am  4.  Tage  hemi- 
anopisch.  Am  6. 
Tage  ca.  Vs^^is  z.  10, 
Tage  Hälfte  des  Ge- 
sichtsfeldes, 11.  Tag 
schmaler  temporaler 
Streifen,  12.  Tag 
verschwunden. 


Lintes  Auge :  Bis  zum 
5.  Tage  nasaler  Strei- 
fen blind. 

Rechtes  Auge:  Bis 
zum  4.  Tage  total, 
nachher  hcmiano- 
pisch  von  unten  me- 
dial nach  oben  lateral 
abnehmend.  Dauer 
höch.stens   26  Tage 


Fehlt. 


Bis  zum 

6.  Tage. 


Bis  zum 

4.  Tage  to 

tal,  dann 

auf  der 

amblyopi- 

sehen 

Partie. 


Links 
überhaupt 
ungestört; 
rechts   be- 
ginnen  sie 
am  4.  Tage, 
also  nach 
mehr  als 
3  Monaten 
nach  der 
1.  Opera- 
tion wie- 
derzukeh- 
ren und 
sind  am  23. 
Tage  gegen 
flache  und 

schmale 
Hand  vor- 
handen. 

Fehlen 
dauernd. 


Fehlen. 


Unge- 
stört. 


Unge- 
stört. 


Nach  Opera- 
tion hinten 
Intactheit  der 
opt.  Reflexe. 


Zusammenfassung. 
1.  Sehstörungen,      (aa.  Reaction    gegen    Fleisch):      Den    in 
der  Tabelle  Y  vereinigten  10  Versuchen  wohnt  deshalb  ein  besonderes 

25* 


~     388     — 

Interesse  bei,  weil  bei  ihnen  neben  der  Stelle  A^  noch  andere  benach- 
barte Theile  der  Convexität  in  grösserer  Ausdehnung  zerstört  waren. 
Wenn  also  die  Lehre  Munk's  begründet  wäre,  so  hätte  man  je  nach  der 
Lage  des  nachbarlichen  Rindendefectes  einen  der  Stelle  des  deutlichen 
Sehens  benachbarten  Gesichtsfelddefect  entweder  medial,  lateral,  oben 
oder  unten  entdecken  müssen,  und  da  ausserdem  noch  die  Stelle  des 
deutlichen  Sehens  unbrauchbar  geworden  sein  sollte,  so  hätte  ein  in 
dieser  Weise  vergrössertes  Scotom  der  wesentlichsten  Theile  des  Ge- 
sichtsfeldes der  Beobachtung '  um  so  weniger  leicht  entgehen  dürfen. 
Gleichzeitig  konnte  aber  die  Beobachtung  der  Folgen,  welche  die  ver- 
schiedenartig um  die  Stelle  A^  localisirten  Läsionen  für  die  einzelnen 
Theile  des  Gesichtsfeldes  gehabt  hatten  als  Prüfstein  für  die  Richtig- 
keit der  Projectionslehre  von  Munk  mit  Bezug  auf  die  fraglichen 
Regionen  dienen.  Aus  diesem  Grunde  habe  ich  die  einzelnen  Beobach- 
tungen der  Tabelle  V  derart  angeordnet,  dass  den  Anfang  machen  die- 
jenigen Beobachtungen,  bei  denen  die  Läsion  im  Anschluss  an  die  ähn- 
lich localisirte  Beob.  75  der  Tabelle  IV  a  den  vorderen  Abschnitt  der 
Hemisphäre  mit  in  ihren  Bereich  zog,  hieran  schliessen  sich  die  mehr 
hinten  und  an  diese  eine  mehr  medial  localisirte  Operation.  Die  Mit- 
verletzungen  des  lateralen  Abschnittes  habe  ich  nicht  besonders  berück- 
sichtigt. Zunächst  haben  wir  wieder  die  Frage  zu  beantworten  „ob 
die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  vorzugsweise  geschädigt 
und  ob  sie  rindenblind  war".  Wiederum  ergiebt  sich  für  alle  diese 
Fälle  ausnahmslos,  dass  kein  Theil  des  Gesichtsfeldes  dieser 
Hunde,  insbesondere  niciit  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens 
durch  die  Operation  rindenbliud  geworden  war,  sondern 
dass  alle,  auf  allen  Theilen  ihrer  Gesichtsfelder  das  Seh- 
vermögen wieder  erlangten,  nur  der  Hund  der  Beobb.  97  und  100 
starb  am  42.  Tage,  bevor  sich  ein  noch  restirender.  lateraler  oberer 
Sector  des  betreffenden  (linken)  Auges  aufgehellt  hatte. 

Sehen  wir  ferner  zu,  wann  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  im 
Verhältniss  zu  anderen  Theilen  des  Gesichtsfeldes^)  wieder  functions- 
tüchtig  wurde,  so  ergiebt  sich  Folgendes:  Beob.  98  ungestört  (17); 
Beob.  96—5  (28);  Beob.  92—7  (23);  Beob.  93—7  (18);  Beob.  99—8 
(12);   Beob.  100—11  (23—27);  Beob.  91— 14  (38);  Beob.  94—15  (92). 

Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  war  also  auch  in  diesen 
Fällen  keineswegs  vorzugsweise  geschädigt,  sondern  sie 
wurde  auch  hier  mit  zuerst  wieder  functionstüchtie;. 


1)  Die  eingeldammerte  Zahl  zeigt  den  Tag  an,   an  dem  das  Verschwin- 
den des  Scotoms  aus  dem  Gesichtsfeld  zuerst  notivt  ist. 


—     389     — 

Einer  besonderen  Erwähnung  bedürfen  die  Beobb.  95  und  97.  Bei 
der  ersteren  konnte  der  Hund  mit  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens 
zwar  relativ  früh,  am  6.  Tage  wieder  sehen,  d.  h.  er  schnappte  nach 
kleinen  Fleischstücken,  sobald  sie  von  der  Seite  her  eingeführt,  die 
Grenze  des  hvteralen  Scotoms  medialwärts  überschritten  hatten,  und 
ebenso  reagirte  schliesslich,  nachdem  das  Scotom  sich  gänzlich  ver- 
loren hatte  (am  54.  Tage)  das  ganze  Gesichtsfeld;  aber  es  bestand  noch 
eine  deutlich  wahrnehmbare  und  nicht  wieder  verschwindende  Amblyopie 
fort,  auf  die  dann  näher  einzugehen  sein  wird,  wenn  von  der  Art  der 
Sehstörung  gesprochen  werden  soll. 

Aehnlich,  aber  doch  noch  in  gewisser  Beziehung  anders  war  die 
Sachlage  bei  der  Beob.  97.  Anders  insofern,  als  der  Versuch  einer 
2.  symmetrischen  Operation  galt  und  als  die  restirende  Amblyopie  am 
stärksten  auf  der  der  Operation  gleichnamigen  Seite  hervortrat.  (Dass 
auf  der  gegenüberliegenden  Seite  noch  ein  lateraler  blinder  Fleck  bei 
dem  Tode  des  Thieres  vorhanden  war,  habe  ich  oben  bereits  augeführt.) 
Im  Uebrigen  aber  war  eine  der  Art  nach  gleiche  Amblyopie  des  ganzen 
Gesichtsfeldes  beiderseits  während  eines  verhältnissmässig  langen  Zeit- 
ramns  unschwer  zu  erkennen.  Auch  hierauf  werde  ich  später  zurück- 
kommen. 

Zu  denjenigen  Operationen,  welche  neben  der  Stelle  A^  den 
vorderen  Theil  oder  besonders  den  vorderen  Theil  der  Seh- 
sphäre in  Mitleidenschaft  zogen,  rechne  ich  die  Beobb.  91 — 95.  Bei 
der  Beob.  91  nahm  die  Operation  die  vordere  und  mittlere  Partie  der 
Sehsphäre  Munk's,  sowie  die  caudale  Partie  seiner  Angenregion,  also 
die  vordere  Partie  der  Sehsphäre  nach  der  Begrenzung  v.  Monakow's 
ein.  Die  Zerstörung  war,  wie  der  Durchschnitt  lehrt,  eine  sehr  hoch- 
gradige und  tiefgreifende.  Demnach  hätte  dauernd  rindenblind  sein 
müssen  ein  Theil  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens  und  der  grössere 
Theil  der  unteren  Hälfte  des  linken  Gesichtsfeldes.  Tliatsächlich  be- 
stand zuerst  eine  typische  Hemianopsie,  die  sich  derart  verlor,  dass  sich 
zuerst  gerade  diejenigen  Theile,  welche  rindenblind  hätten  sein  sollen, 
nämlich  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  und  die  unteren  Partien  des 
Gesichtsfeldes  aufhellten,  während  die  oberen  Partien,  die  intakt  hätten 
sein  sollen,  noch  länger  blind  blieben.  Es  folgt  die  Beob.  92.  Hier 
reichte  die  Zerstörung  in  frontaler  Richtung  gleichfalls  bis  in  die  Augen- 
region hinein,  und  hatte  fast  die  ganze  dorsale  Partie  des  Markes  zer- 
stört, sodass  das  Scotom  nach  der  Theorie  Munk's  ähnlich  wie  beider 
Beob.  91  postulirt  hätte  aussehen  müssen.  Tliatsächlich  aber  verlief  die 
Sehstörung  wieder  gerade  umgekehrt,  also  ähnlich  wie  bei  der  Beob.  91, 
derart,    dass    eine  typische  Hemianopsie    beobachtet  wurde,    die  in  der 


-     390     — 

Weise  zurückging,  dnss  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  schon  am 
7.  Tage  frei  war,  während  in  der  Folge  sich  gerade  die  unteren  an- 
statt der  oberen  Gesichtsfeldpartien  zuerst  aufhellten.  Bei  der  Beob.  93 
betraf  die  Ausschaltung  gleichfalls  noch  den  caudalen  Theil  der  Augen- 
region; ausserdem  hatte  sie  aber  dem  Anscheine  nach  auch  noch  den 
caudal  von  der  Stelle  Aj  liegenden  Abschnitt  mit  in  ihren  Bereich  ge- 
zogen. Das  dorsale  Mark  war  gänzlich  zu  Grunde  gegangen  und  von 
der  lateralen  und  medialen  Nachbarschaft  der  Auflagerung,  keinesfalls 
viel  functionsfähige  Substanz  übrig  geblieben.  Auch  hier  hätte  die 
Sehstörung  also,  um  dem  Schema  zu  entsprechen,  neben  der  Stelle  des 
deutlichen  Sehens  vornehmlich  den  unteren  Theil  des  Gesichtsfeldes, 
abgesehen  von  dem,  was  sonst  noch  hätte  fehlen  müssen,  einnehmen 
sollen.  Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  fungirte  aber  bereits  am 
7.  Tage  wieder.  Die  Sehstörung  bestand  in  einer  typischen  Hemianopsie, 
und  wenn  ein  Theil  des  Gesichtsfeldes  weniger  betroffen  war,  so  war 
es  gerade  der  untere  Theil  desselben.  Bemerkenswert!!  ist  ferner  im 
Gegensatz  zu  der  Grösse  der  angerichteten  Zerstörung  der  schnelle  Ab- 
lauf der  Sehstörung.  Bei  der  Beob.  94  reichte  die  Zerstörung  nur  bis 
an  die  vordere  Grenze  der  sogenannten  Sehsphäre  und  nahm  daselbst 
wenigstens  oberflächlich  in  frontaler  Richtung  nicht  deren  ganzes  Areal 
ein.  Der  Durchschnitt  zeigte  allerdings,  dass  in  der  Tiefe  mehr  als 
nach  dem  oberflächlichen  Ansehen  vermuthet  werden  durfte,  ausgeschaltet 
war.  Da  fast  die  ganze  hintere  Hälfte  der  Sehsphäre  intact  gelassen 
war,  so  hätte  wenigstens  die  obere  Hälfte  des  linken  Gesichtsfeldes 
freibleiben  müssen,  und  da,  wenn  überhaupt  ein  Theil  der  vorderen 
Hälfte  der  Sehsphäre  functionsfähig  geblieben  war,  dies  von  ihrer  me- 
dialen Partie  galt,  so  hätte  die  laterale  Partie  des  linken  Gesichtsfeldes 
sehend  bleiben  müssen.  Andererseits  sollte  der  Eingriff  in  die  1.  Ur- 
wiudung  aber  auch  eine  temporale  Sehstörung  zur  Folge  haben.  That- 
sächlich  war,  abgesehen  von  den  Beobachtungen  der  ersten  Tage,  gerade 
ein  unterer  mittlerer  Sector  des  linken  Auges  an  Stelle  eines  oberen 
Ausschnittes  sehend  und  dieser  Sector  vergrösserte  sich  nach  beiden 
Seiten  derart,  dass  das  amblyopische  Gesichtsfeld  noch  bis  zuletzt  eine 
obere  Zone  in  sich  schloss,  welche  schon  ganz  zu  Anfang  hätte  sehend 
werden,  wenn  nicht  überhaupt  bleiben  sollen.  Bei  der  Beob.  95  war 
der  grössere  Theil  der  Convexität  der  Sehsphäre,  jedenfalls  aber  die 
Stelle  Ai  und  die  vordere  Partie  vollständig  ausgeschaltet,  am  wenig- 
sten betheiligt  war  noch  die  hintere  Partie.  Neben  der  Stelle  des  deut- 
lichen Sehens  hätte  also  fast  das  ganze  Gesichtsfeld,  am  wenigsten 
seine  obere  Partie  rindenblind  sein  müssen.  Obschon  die  Sehstürung 
entsprechend    der  Grösse    der  Zerstörung  von    langer  Dauer  war,    über 


—     391     — 

50  Tage,  war  doch  kein  Theil  der  Retina,  namentlich  nicht  die  Stelle 
des  deuth'chen  Sehens,  danernd  rindenbiind.  Die  SeJistörung  verlief  als 
typische  Hemianopsie,  sich  typisch  von  nasal  unten  nach  temporal  oben 
aufhellend,  sodass  also  nicht  der  untere,  sondern  der  obere  Theil  des 
Gesichtsfeldes  stärker  betroffen  erschien. 

Wenn  sich  also  bei  der  Beob.  75  eine  wenigstens  oberflächliche 
Congnienz  der  Sehstörung  mit  den  Behauptungen  Mnnk's  insofern  er- 
kennen liess,  als  das  Scotom,  obschon  nur  vorübergehend,  doch  die 
unteren  Partien  des  Gesichtsfeldes  vorwiegend  betheiligte,  so  traf  dies 
bei  den  soeben  besprochenen  Beobachtungen  nicht  nur  nicht  zu,  son- 
dern in  so  gut  wie  allen  Fällen  trat  gerade  das  Gegentheil 
in  die  Erscheinung:  die  untere  Gesichtsfeldpartie  war  am 
wenigsten  betroffen. 

Zu  denjenigen  Operationen,  welche  neben  der  Stelle  A^  den 
hinteren  oder  besonders  den  hinteren  Theil  der  Sehsphäre 
in  Mitleidenschaft  zogen,  rechne  ich  die  Beobb.  96 — 99.  Bei  der  Beob.  96 
war  die  Stelle  A^  und  die  hintere  Hälfte  der  Selisphäre  zerstört.  Die 
Stelle  des  deutlichen  Sehens  und  der  grössere  Theil  der  oberen  Hälfte 
des  Gesichtsfeldes  hätten  dauernd  rindenblind  sein  sollen.  Die  Stelle 
des  deutlichen  Sehens  functionirte  jedoch  bereits  am  5.  Tage  wieder, 
während  die  anfänglich  vorhandene  Hemianopsie  gerade  aus  den  oberen 
Theilen  des  Gesichtsfeldes  ungewöhnlich  früh  verschwand  und  sich  mehr 
in  dessen  lateralstem  Theil  aufhielt.  Bei  der  Beob.  97  begriff  die  Lä- 
sion die  ganze  hintere  Hälfte  der  Sehsphäre  in  sich  und  reichte  mit 
ihrem  vorderen  Winkel  noch  erheblich  in  die  vordere  Hälfte  hinein. 
Die  Stelle  A^  einschliesslich  des  darunter  liegenden  Marklagers  war 
gänzlich  zerstört.  Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens,  sowie  der  obere 
und  der  laterale  Theil  des  Gesichtsfeldes  des  linken  Auges  hätten  also 
dauernd  rindenblind  sein  müssen.  In  der  That  betraf  die  Sehstörnng 
des  linken  Auges  den  oberen  und  den  lateralen  Theil  des  Gesichts- 
feldes insofern  erheblich  stärker,  als  die  Aufhellung  desselben  ira  unte- 
ren und  medialen  Theil  begann  und  dann  nach  oben  und  medial  fort- 
schritt,  sodass  beim  Tode  des  Thieres  nur  noch  ein  oberer  temporaler 
Kreisansschnitt  blind  war.  Indessen  würde  sich  vermuthlich,  wie  in 
zahlreichen  anderen  Fällen  auch  dieser  noch  aufgehellt  haben.  Die 
übrigen  Theile  des  Gesichtsfeldes,  insbesondere  die  Stelle  des  deutlichen 
Sehens,  waren  jedoch  in  keinem  Falle  rindenblind.  Bei  der  Beob.  98 
war  die  Stelle  Ai  gänzlich  zerstört,  ausserdem  aber  noch  der  ent- 
sprechende Theil  des  Randwulstes  und  ein  grosser  Theil  des  hinteren, 
sowie  des  lateralen  Abschnittes  der  Sehsphäre.  Die  Sehstörung  hätte 
folglich  nach  Mnnk  auf  dem  linken  Ange  einmal    die  Stelle  des  deut- 


—     392     — 

liehen  Sehens,  dann  aber  den  oberen  nnd  lateralen  Theil  des  Gesichts- 
feldes betreffen  müssen.  Alle  diese  Theile  hätten  dauernd  rindeublind 
sein  sollen.  Nun  war  aber  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  bereits 
am  2.  Tage  frei.  Der  obere  Theil  des  Gesichtsfeldes  zeigte  sich  aller- 
dings hochgradig  betheiligt;  aber  diese  Sehstörung  war  nur  am  2.  und 
3.  Tage  nachweisbar.  Dann  bestand  die  Sehstörung,  so  lange  sie  über- 
haupt noch  beobachtet  werden  konnte,  wie  in  den  meisten  anderen 
Fällen,  nur  noch  in  einem  temporalen  Streifen  fort.  Bei  der  Beob.  99 
war  der  grössere  Theil  der  -Sehsphäre,  namentlich  die  Stelle  Aj  voll- 
ständig, die  hintere  Partie  fast  vollständig  und  die  vordere  Partie  in 
ihrem  mittleren  Theil  zerstört.  Die  Zerstörung  reichte  bis  an  die  Ven- 
trikelwand. Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens,  welche  rindenblind  hätte 
sein  sollen,  hatte  sich  bereits  am  8.  Tage  wieder  erholt;  die  obere  Partie 
des  Gesichtsfeldes,  welche  vorwiegend  hätte  betroffen  sein  sollen,  war 
vorwiegend  betroffen,  war  aber  gleichfalls  nicht  rindenblind,  sondern 
functionirte  am  12.  Tage  bereits  wieder  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung. 

Die  Beob.  100  führe  ich  als  eine  solche  an,  bei  der  neben  der 
Stelle  Ai  vornehmlich  die  mediale  Partie  der  Sehsphäre  zer- 
stört war.  Die  gesetzte  Zerstörung  betraf  also  neben  der  gänzlich 
ausgeschalteten  Stelle  Ai  vornehmlich  den  Randwulst  und  den  mittleren 
Theil  der  II.  Urwindiing.  Rindenblind  hätten  also  sein  müssen  einmal 
die  Stelle  des  deutlichen  Sehens,  ferner  die  laterale  und  ein  Theil  der 
oberen  Partie  des  Gesichtsfeldes.  Thatsächlich  war  kein  Theil  desselben 
rindenblind,  insofern  die  Sehstörung  am  27.  Tage  gänzlich  verschwun- 
den und  insbesondere  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  bereits  am 
11.  Tage  frei  war.  Dagegen  waren  allerdings  die  lateralen  und  oberen 
Theile  des  Gesichtsfeldes  stärker  und  länger  betroffen  als  die  medialen 
und  unteren. 

Die  Dauer  der  Sehstörung  war  hier  entsprechend  der  Grösse  der 
Verletzung  im  Allgemeinen  grösser  als  bei  den  Objecten  der  vorigen 
Versuchsreihe.  Eine  besondere  Stellung  nehmen  dabei  die  Versuche  97, 
94  und  91  ein,  bei  denen  die  Verletzung  des  anderseitigen  Hinterhaupt- 
lappens ein  Wiederaufleben  der  erstmaligen  Sehstörung  zur  Folge  hatte, 
worauf  ich  später  zurückzukommen  beabsichtige.  Aber  auch  abgesehen 
von  diesen  Versuchen,  betrug  die  Dauer  der  nachweisbaren  Sehstörung 
bei  den  übriggebliebenen  6  Beobachtungen  12,  37,  18,  23,  27,  28  Tage. 

bb.  Die  Sehstörung  gegen  Licht  A^erhielt  sich  auch  in  diesen 
Fällen  annähernd  wie  die  gegen  Fleisch.  Besonders  zu  erwähnen  ist 
nur  die  Beob.  94,  bei  der  der  Hund  auf  den  oberen,  gegen  Fleisch 
noch  reactionslosen  Partien  mit  einer  abgeschwächten  Reaction,  mit 
Fixiren  anstatt  mit  Scheuen  antwortete,    ferner    die  Beob.  96,    bei    der 


—     393     — 

noch  eine  residuale  Abschwäclmng  der  normalen  Reaction  mit  Scheuen 
auf  den  vorher  blinden  Partien  zu  erkennen  war  und  endlich  die  ßeob.  94 
und  97,  bei  denen  die  Reaction  gegen  Licht  ausgesprochener  war  als 
die  gegen  Fleisch. 

2.  Die  optischen  Reflexe  waren  bei  einer  von  den  10  liier  in 
Frage  kommenden  Beobachtungen  (Beob.  98)  überhaupt  nicht  gestört. 
Bei  dieser  war  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  und  der  grössere  Theil 
der  unteren  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  von  Anfang  an  frei  von  einer 
Sehstörung.  Der  Hund  der  Beob.  97  starb  vor  gänzlichem  Ablauf  der 
Sehstörung.  Zu  dieser  Zeit,  am  41.  Tage,  fehlten  die  optischen  Reflexe 
noch  gänzlich,  während  die  Sehstörung  des  betreffenden  Auges  sich 
schon  seit  längerer  Zeit  auf  die  lateralsten  Partien  des  Gesichtsfeldes 
zurückgezogen  hatte.  Bei  den  noch  verbleibenden  8  Fällen  hielt  die 
Störung  der  optischen  Reflexe  gerade  wie  bei  der  vorigen  Serie  stets 
länger  an  als  die  Sehstörung  und  zwar  dauerte  ihre  totale  Aufhebung 
in  allen  Fällen  mit  Ausnahme  der  Beob.  96  länger  als  die  Sehstörung, 
obwohl  in  allen  diesen  Fällen  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  und 
deren  nasale  und  untere  Nachbarschaft  schon  längst  wieder  functionirten. 
Bei  der  Beob.  96  verschwand  die  totale  Aufhebung  der  optischen  Re- 
flexe gleichzeitig  mit  der  totalen  Blindheit  jener  Partien  am  5.  Tage; 
ihre  Abschwächung  wurde  aber  bis  zum  Ende  der  Beobachtung  min- 
destens 11  Tage  länger  als  die  Sehstörung  verfolgt.  Bei  allen  diesen 
Beobachtungen  mit  Ausnahme  der  Beob.  95  war  ihre  Störung  bei  Schluss 
der  Beobachtungszeit  noch  nicht  abgelaufen,  obwohl  die  letztere  in 
maximo  116  Tage  dauerte.  Besonders  zu  erwähnen  bleibt  nur  noch, 
dass  die  Hunde  der  Beobb.  93,  94  und  97  zeitweise  bei  Annäherung 
der  flachen  Hand  unruhig  wurden,  also  bekundeten,  dass  sie  sahen, 
während  der  optische  Reflex  ausblieb,  sowie  dass  der  Hund  der  Beob.  91 
zeitweise  mehr  oder  minder  deutliche  Reflexe  erkennen  liess,  während 
sie  an  anderen  dazwischen  liegenden  und  darauffolgenden  Tagen  wieder 
fehlten. 

Alles  in  allem  ergiebt  sich,  dass  die  Störung  der  opti- 
schen Reflexe  auch  in  diesen  Fällen  mit  wenigen  Ausnahmen 
erheblich  weiter  reichte  als  selbst  die  Reste  der  Sehstörung 
und  dass  sie  entsprechend  der  grösseren  Erheblichkeit  der 
Läsion  von  viel  längerer  Dauer  war  als  in  der  vorigen  Serie 
unserer  Beobachtungen. 

3.  Der  Nasenlidreflex  war  in  keinem  dieser  Fälle  als  gestört 
angemerkt. 

4.  Das  Verhältniss  der  Läsionen  zur  Sehstörung.  Von  den 
36    centralen  Operationen    interessiren    uns    in    erster  Linie    diejenigen 


—     394     — 

8  Beobachtungen,  bei  denen  gar  keine  Sehstörung  gegen  Fleisch  (in 
einem  Falle  eine  vorübergehende  Sehstörung  gegen  Licht)  zu  beobachten 
gewesen  war.  An  diese  reihen  sich  an  die  Beobb.  76,  82,  86  und  88, 
bei  denen  nur  eine  undeutliche,  bezw.  nur  am  2.  oder  3.  Tage  wahr- 
nehmbare Sehstörung  nachweisbar  war.  Von  diesen  zusammen  12  Ope- 
rationen betrafen  7  Unterschneidungen,  2  Anätzungen,  1  Auslöffelung 
und  2  anderweitige  Exstirpationen.  Alle  mit  Ausnahme  der  Beob.  76 
waren  als  Secundäroperationen  an  solchen  Gehirnen  ausgeführt  worden, 
bei  denen  schon  eine  oder  mehrere  andere  Operationen  ausserhalb  des 
Occipitalhirus  ausgeführt  worden  waren. 

Naturgemäss  war  weder  der  corticale  Umfang,  noch  die  Tiefe 
des  Eingriffs  bei  allen  diesen  Versuchen  gleich.  Jedoch  war  die 
Rinde  der  Stelle  AI  sicherlich  in  allen  Fällen  mindestens  bis  auf  kleine 
Grenzbezirke,  in  der  Regel  aber  über  diese  Grenzen  hinaus  ausge- 
schaltet worden  und  selbst  wenn  man,  z.  B.  bezüglich  der  Unter- 
schneidungen, unterstellen  sollte,  dass  die  Rinde  nicht  vollständig  ver- 
nichtet gewesen  wäre,  sondern  dass  von  ihr  aus  noch  irgendwelche 
brauchbare  hypothetische  Wege  bestanden  hätten,  was  übrigens  so  un- 
wahrscheinlich wie  möglich  ist,  so  wäre  die  Grösse  des  Trauma  doch 
immer  eine  derartige  gewesen,  dass  die  Function  der  angegriffenen 
Rinde  und  ihrer  nächsten  Umgebung  mindestens  für  längere  Zeit  hätte 
aufgehoben  sein  müssen.  Indessen  war  auch  die  Tiefe  der  ange- 
richteten Zerstörungen  keineswegs  gleichmässig  oder  vorwiegend  un- 
erheblich, wenn  auch,  wie  z.  B.  bei  der  Beobachtung  86  gelegentlich 
nur  die  Rinde  selbst  unterschnitten  war,  ohne  dass  sich  auf  dem 
Frontalschnitt  makroskopisch  tiefergehende  I^äsionen  hätten  erkennen 
lassen.  In  anderen  Fällen  wie  z.  B.  in  den  Beobachtungen  <si  und  76 
waren  dagegen  recht  tiefgreifende  Zerstörungen  der  weissen  Substanz 
angerichtet  worden. 

Aus  diesen  Versuchen  geht  jedenfalls  soviel  mit  Sicherheit  hervoi', 
dass  der  Hund  der  Stelle  A^  beraubt  werden  kann,  ohne  dass 
daraus  nothwendig  eine  nachweisbare  Einbusse  an  seinem  Seh- 
vermögen, insbesondere  an  dem  Sehvermögen  der  Stelle  des 
deutlichen  Sehens  folgen  müsste.  Diese  Stelle  kann  deshalb 
der  Rinde  der  Stelle  A^  unmöglich  coordinirt  sein,  ja,  sie  muss, 
wenn  sie  überhaupt  zum  Sehact  in  Beziehungen  steht,  was  ich 
nicht  bezweifeln  will,  durch  andere  corticale  Gebiete  voll- 
kommen vertretbar  sein.  Ebensowenig  kann  ein  Theil  der 
örtlich  zu  ihr  in  Beziehung  stehenden  weissen  Substanz  eine 
besondere  Wichtigkeit  für  den  ungestörten  Ablauf  des  Seh- 
actes  in  Anspruch  nehmen. 


—     395     — 

Die  Beobachtung  76  betrifft  eine  der  zu  allerletzt  von  mir  ausge 
führten  Operationen.  Sie  ist  von  ganz  besonderer  Wichtigkeit.  Ich 
hatte  bis  dabin  geglaubt,  dass  das  Ausbleiben  der  Sehstörung  nach 
Verletzungen  der  Stelle  A^  nur  bei  Secundäroperationen  zu  beobachten 
sei;  diese  Beobachtung  hat  mir  bewiesen,  dass  dies  auch  bei  Primär- 
operationen an  dieser  Stelle  vorkommen  kann,  denn  das,  was  hier  ganz 
passager  an  Sehstörung  in  die  Erscheinung  trat,  kommt  in  viel  höherem 
Grade  bei  Operationen  ausserhalb  der  Sebsphäre  vor. 

Angesichts  der  durch  diese  Beobachtungen  geschaffenen  Sachlage 
sind  die  sämmtlichen  anderen  Operationen  mit  positivem  Erfolg  von 
geringerer  Wichtigkeit.  Man  muss  von  vornherein  sagen,  dass  dieser 
positive  Erfolg  zwar  nicht  als  unbedingt  unabhängig  von  der  Aus- 
schaltung der  grauen  Rinde  der  Stelle  A^  angesehen  werden  muss,  dass 
die  Wahrscheinlichkeit  jedoch  bei  Weitem  grösser  ist,  dass  er  haupt- 
sächlich von  irgendwelchen,  einstweilen  nicht  näher  bekannten  Neben- 
verletzungen der  Sehbahn  abhängt.  Durchmustert  man  die  Querschnitte 
dieser  Gehirne  mit  ihren  ausgedehnten  Zerstörungen  des  grossen  Mark- 
lagers und  ihren  vielfach  weit  in  die  Tiefe  reichenden  Erweichungs- 
streifen, so  erscheint  dies  ohne  Weiteres  verständlich.  Indessen  kann 
etwas  Näheres  und  Sicheres  über  den  hier  vorliegenden  Mechanismus 
doch  auf  Grund  einer  so  oberflächlichen  anatomischen  Betrachtung,  wie 
sie  ein  oder  mehrere  Querschnitte  gestatten,  nicht  gesagt  werden;  erst 
die  Untersuchung  durch  das  Studium  von  Serienschnitten,  welche  in 
guten  Händen  ist,  kann  und  wird  vielleicht  Aufklärung  schaffen. 

b)  Laterale  Läsionen. 

Da  die  Ausschaltung  des  lateralen  Drittels  der  Sehsphäre  nur  Blind- 
heit des  medialen  Viertels  des  gleichseitigen  Auges  und  Ausschaltung 
der  lateralen  Hälfte  der  Sehsphäre  daneben  noch  Blindheit  des  medial- 
sten  Streifens  des  dem  s-eerenüberliegenden  Auge  zukommenden  Gesichts- 


links 


rechts 


links 


Fig.  95b. 


feldantheiles  zur  Folge    haben  sollte,    so    musste  der  Typus    der  durch 
solche  Ausschaltungen  entstehenden  Scotome  sich  wie  in  den  Figuren  95  b 


—     396     — 

darstellen.  Fraglich  war  also  zunächst,  ob  durch  Ausschaltung  des 
lateralen  Drittels  wirklich  nur  das  gleichseitige  Auge  oder  doch  minde- 
stens dieses  vornehmlich  geschädigt  würde,  und  ferner,  da  bei  der 
Natur  dieser  Eingriffe  ein  Uebergreifen  so  grosser  Läsionen  auf  den 
Selisphärenrest  mit  ziemlicher  Sicherheit  zu  erwarten  stand,  ob  wenig- 
stens durch  Partialexstirpationen  innerhalb  des  lateralen  Drittels  ein 
ausschliesslich  gleichseitiger  Gesichtsfelddefect  zu  erzielen  wäre.  Dann 
aber  war  hier  noch  eine  andere  Möglichkeit  gegeben,  den  Werth  dieser 
ganzen  Projectionslehre  durch  einen  einfachen  Doppelversuch  in  absolut 
entscheidender  Weise  zu  prüfen. 

Nahm  man  das  laterale  Drittel  z.  B.  der  linken  Sehsphäre  fort,  so 
sollte  darauf  Blindheit  des  medialen  Viertels  des  linken  Gesichtsfeldes 
folgen.  Nahm  man  dann  gleichzeitig  oder  in  einer  2.  Sitzung  die  late- 
rale Hälfte  der  rechten  Sehsphäre  fort,  so  musste  darauf,  abgesehen 
von  der  rechtsseitigen  Sehstörung,  ein  Ausfall  des  dem  nasalen  Viertel 
anliegenden  Gesichtsfeldstreifens  folgen,  sodass  der  Hund  nunmehr  auf 
dem  linken  Auge  eine  dauernde  nasale  Hemianopsie  haben  musste.  Nahm 
man  beiderseitig  die  laterale  Hälfte  der  Sehsphäre  fort,  so  musste  eine 
doppelseitige  dauernde  nasale  Hemianopsie  die  Folge  sein.  Zwar  war 
es  dann  Sache  des  Zufalls,  ob  diese  Scotome  gerade  mit  dem  vertica- 
len  Meridian  abschnitten  oder  nicht,  aber  jedenfalls  mussten  doch  die 
nasalen  Hälften  beider  Gesichtsfelder  fehlen,  und  da  sonst  in  der  Regel 
die  temporalen  Hälften  der  Gesichtsfelder  zu  fehlen  pflegen,  so  musste 
ein  derartiges  ungewöhnliches  Ereigniss  um  so  mehr  in  die  Augen 
springen. 

Das  zur  Entscheidung  dieser  3  Fragen  angesammelte  Material  habe 
ich  gemäss  den  3  Abtheilungen  der  Tabelle  VI  angeordnet. 

A.  Atypische  Operationen. 

Von  den  4  hier  angeführten  Operationen  hat  keine  rein  das  ihr 
zugewiesene  Gebiet  betroffen.  Ich  halte  dies  bei  der  Kleinheit  des  Areals 
und  der  Tendenz  dieser  Läsionen  zum  Uebergreifen  auf  Nachbargebiete 
auch  für  so  gut  wie  unmöglich,  jedenfalls  aber  Mühe  und  Zeitverlust 
nicht  lohnend.  Unter  diesen  Umständen  beschränke  ich  mich  auf  Wieder- 
gabe der  Abbildungen  und  die  tabellarische  Zusammenstellung  der  ge- 
wonnenen Resultate. 


397 


I?eol>aoHtiiiisr  lOl  xiiirt  lOQ. 


Fig.  167. 


Fig.  168. 


—     398 


13eol>a,clitimsr  103  uiidL  104. 


©0 


5. 


Fiff.  169. 


Fiff.  170. 


Fig.  171. 


3<J9     — 


T  ;i,  bell  0    Via. 

Laterale   Läsionen.     Atyp  isclif. 


m 


Art  der 
Operation 


Ort  der  Operation 

(Seetion) 


10 


102 


Exstirpa- 

tion  ca.  s/, 

cm  tief. 


Exstirpa- 

tion   ca.   7 

mm  tief. 


03 


Exstirpa- 

tion  ca.  ^/^ 

cm.  tief. 


04 


Links.  Hinterer  Theil 
der  IL  Urwindung 
und  nach  lateral  um- 
biegender Tlieil  der 
I.  Urwindung.  Sagit- 
tal  14  mm,  frontal 
6  mm.  Annähernd 
parallel  der  Mittel- 
linie. 


Rechts.  Absteigender 
Theil  der  I.  und  hin- 
terer Theil  der  IL 
Urwindung.  Sagittal 
1 1  mm,  frontal  6  mm. 
Annähernd  paralle 
der  Mittellinie. 


Sehstörung 


i;egen  Fleisch 


gegen 
Licht 


Links:  Oberer  nasa- 
ler Kreisabschnitt, 
allmählich  kleiner 
werdend, blind.  Dauer 
8  Tage. 
Rechts :  Vornehm- 
lich oberhalb,  nur 
am  2.  und  3.  Tage 
lateral  unterhalb  des 
Aequators;  typisch 
abnehmend.  Dauer 
13  Tage. 

Fehlt. 


Wie  gege 
Fleisch. 


Optische 
Reflexe 


Exstirpa- 

tion  ca.  ^/^ 

cm  tief. 


I 


Links.  Vorderer  Theil 
der  nach  unten  um- 
biegenden gegabel 
ten  I.  Urwindung  u 
hinterer  Rand  der  IL 
Urwindung  Laterale 
Ecke  11,5  mm  vom 
hinteren  Pol,  vor- 
dere Ecke  16  mm 
von  der  Median- 
spalte. Sagittal  7,5 
mm,  frontal  d  mm. 

Rechts.  Beide  Sehen 
kel  der  IL  Urwin 
düng.  Sagittal  8  mm, 
frontal  7  mm.  Hin- 
terer Rand  10,5  mm 
vom  hinteren  Pol, 
vordere  mediale  Ecke 
17,5  mm  von  der 
Mittellinie  entfernt. 


Fehlt. 


Rechts  an- 
fangs fehlend, 
vom  8.  Tage 
an  bis  zum. 
Schluss  der 
Beob.  gegen 
flache  Hand 
normal,  gegen 
schmale  Hand 
fehlend   oder 

abge- 
schwächt. 

Ungestört. 


Nasen  lid- 
reilex 


m 


Ungestört. 


Links:  Nasaler  blin- 
der Streifen  nur  am 
3.  Tage. 

Rechts:  Am  3.  Tage 
fast  der  ganze  obere 
Antheil  des  Gesichts- 
feldes, am  5.  Tage 
nur  noch  oberer 
äussscrer  Quadrant. 
Dauer  6  Tage. 


Fehlt  vom  5.  Tage 
an;  vorher  nicht  zu 
untersuchen. 


Nur  am  3 

Tage  Ab-. 

Schwä- 
chung der 
Reaction. 


Fehlen  bis  zum 
7.  Tage, 
dann    abge- 
schwächt. 


Ungestört. 


Abge- 
schwächt 
bis  zum 
5.  Tage. 


Wie  gegen 
Fleisch. 


Ungestört. 


Ungestört 


400     — 


inks       ^M  ^     '      ,1-,  "     m       rechts 


Fig.  172.    (Zu  Beob.  103  und  104  gehörig.) 
Z  US  a  m  m  en  f  as  s  u  n  g. 

1.  Sehstörungeii  (an.  Reaction  gegen  Fleisch):  Die  Auf- 
lagerung der  Beob.  101  sitzt  grösstentlieils  in  der  hinteren  Partie  des 
lateralen  Drittels  der  Sehsphäre  und  greift  mit  ihrer  vorderen  Ecke  in 
den  medialen  Streifen  der  lateralen  Hälfte  über.  Die  Sehstörung  des 
gleichseitigen  Auges  würde  also,  wenu  sie  andauernd  gewesen  wäre, 
insofern  sie  nur  den  oberen  Abschnitt  des  medialen  Streifens  betraf, 
dem  Postulat  entsprochen  haben,  sie  war  aber  nicht  andauernd,  son- 
dern bereits  am  9.  Tage,  5  Tage  früher  als  die  des  gegenüberliegenden 
Auges  verschwunden.  Diese  hätte  nur  ein  kleines  Stück  des  nasalsten 
Streifens  des  linksseitigen  Hemisphärenautheils  betreffen  sollen.  That- 
sächlich  war  jedoch  zunächst  der  ganze  oberhalb  des  Aequators  liegende 
Abschnitt  blind  und  dann  hellte  sich  dieser  Antheil  wie  gewöhnlich  von 
nasal  nach  temporal  auf,  sodass  der  Abschnitt,  welcher  hätte  blind 
bleibeji  sollen,  zuerst  wieder  frei  wurde. 

Die  3  anderen  Operationen,  ßeobb.  102,  103  und  104,  haben  das 
mit  einander  gemein,  dass  sie  mehr  den  medialsten  Abschnitt  der  late- 
ralen Hälfte  und  nur  wenig  den  medialen  Streifen  des  lateralen  Drittels 
der  Sehsphäre  betreffen.  Dabei  reicht  die  Läsion  der  Beob.  102  bis 
an  den  hinteren  Pol,  während  der  hintere  Rand  der  Läsionen  der 
ßeobb.  103  und  104  11,5  und  10,5  mm  vom  hinleren  Pol  entfernt 
blieben. 

Die  Sehstörung  hätte  also  bei  allen  3  Operationen  ein  Stück  des 
medialsten  Streifens  des  gegenseitigen  Gesichtsfeldantheils  und  ein  Stück 
des  nasalen  Gesichtsfeldes  der  gleichen  Seite  betreffen  müssen.  Statt 
dessen  fehlte  die  Sehstörnng  bei  der  Beob.  102  überhaupt  und  bei  der 
Beob.  104,  wenn  nicht  überhaupt,  jedenfalls  vom  5.  Tage  an.  Bei  der 
Beob.  103  aber,    wo  sie  auf  dem  rechten  Auge,  entsprechend  dem  Ab- 


—     401     — 

Stande  der  Liision  vom  hinteren  Pol  und  der  Mittellinie  den  oberston 
lateralen  Abschnitt  des  Gesichtsfeldes  hätte  freilassen  sollen,  nahm  sie 
gerade  diesen  vorzugsweise  ein,  während  der  nasale  Streifen  des  gleich- 
namigen Auges  nur  bis  zum  4.  Tage  blind  war. 

2.  Die  optischen  Reflexe  fehlen  bei  den  Beobb.  101  und  103, 
während  der  ersten  7  bezw.  6  Tage  gänzlich  und  waren  dann  bis  zum 
Schluss  der  betreffenden  Beobachtungen  abgeschwächt;  bei  den  Beobb. 
102  und  104  (annähernd  symmetrischen  Operationen  an  der  2.  Hemi- 
sphäre) waren  sie  (ebenso  wie  das  Sehvermögen)  nicht  altcrirt. 

3.  Der  Nasenlidreflex  war  nur  bei  der  Beob.  103  bis  zum  5.  Tage 
abgeschwächt. 

B.  Typische  Operationen. 

fi'.   Laterales   Drittel. 

Aufdeckung  eines  lateralen  Streifens  links  von  sagittal  20  mm,  frontal- 
vorn  6,5mm,  frontal-hinten  7mm.  Der  laterale  Rand  der  Lücke  ist  vorn  20mm, 
hinten  23  mm  von  der  Mittellinie  und  der  hintere  Rand  1—2  mm  von  der 
Lambdanaht  entfernt.  Exstirpation  auf  ca.  7  mm  Tiefe  mit  Messer  und  Präpa- 
ratenheber. 

Motilitätsstörungen:  In  der  rechten  Vorderpfote  bis  zum  13.  Tage, 
insofern  der  Hund  anfänglich  dislociren  und  mit  dem  Dorsum  aufsetzen  lässt 
und  später  den  sogenannten  Defect  der  Willensenergie  zeigt.  Keine  Störungen 
der  Sensibilität  und  in  der  Schwebe. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Links:  Nur  am  2.  Tage  schmaler  nasaler, 
oben  etwas  breiterer  Streifen.  Rechts:  Am  2.  Tage  blind  bis  auf  schmalen 
nasalen  Streifen,  der  sich  am  3.  Tage  unten,  vom  4. — 6.  Tage  unten  und  oben 
mehr  verbreitert,  während  am  7.  Tage  nur  noch  etwas  mehr  als  der  obere 
laterale  Quadrant  und  ein  lateraler  Streifen  im  unteren  Quadranten  und  am 
8.  Tage  neben  dem  letzteren  nur  der  obere  laterale  Quadrant  auf  Fleisch  nicht 
reagirt.  Am  9.  Tage  reagirt  nur  noch  der  obere  laterale  Quadrant,  am  10.  Tage 
nur  noch  ein  Kreisabschnitt  auf  Fleisch  nicht.  Am  13.  Tage  ist  die  Reaction 
daselbst  noch  unsicher,  am  16.  Tage  keine  Sehstörung  mehr  nachweisbar. 
Gegen  Licht:  Entsprechend  der  Sehstörung  gegen  Fleisch,  sehr  gut  abgrenzbar; 
am  16.  Tage  scheut  der  Hund  schon  weit  aussen. 

Optische  Reflexe:  Links:  Gegen  schmale  Hand  fehlend  oder  nur  an- 
gedeutet, gegen  flache  Hand  normal.  Rechts:  Fehlend  bis  zum  10.  Tage, 
dann  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung  gegen  flache  Hand  normal. 

Nasenlidreflex:  Eine  während  der  ganzen  Beobachtungszeit  anfäng- 
lich stärkere,  allmählich  abnehmende  Abschwächung  nachweisbar. 

Getödtet  nach  ca.  6 Y2  Wochen,  nachdem  inzwischen  eine  2.  symmetrische 
Operation  ausgeführt  worden  war. 

Section:   Häute  normal.    Die  20mm  sagittal  und  6mm  frontal  messende 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     II.  Tlieil.  26 


—     402 


Fio-.  173. 


Fie-.  174. 


—     403     — 

Nai'benkappe  sitzt  dem  lateralen  Schenkel  der  II.  Urwindung  und  dem  ab- 
steigenden Schenkel  der  I.  Urwindung  auf  und  reicht  vorn  gerade  bis  an  den 
hinteren  Rand  der  III.  Urwindung.  Der  hintere  Rand  reicht  bis  dicht  an  den 
hinteren  Pol,  der  mediale  bleibt  vorn  16mm,  hinten  15  mm  von  der  Median- 
spalte  entfernt.     1.   Durchschnitt  am  vorderen  Rande   der  Narbe  zeigt  keine 


links     H  H      rechts 


Fig.  175. 

Veränderungen.  2.  Durchschnitt  8  mm  weiter  nach  hinten:  Rinde  in  der 
Breite  der  Narbe  zerstört,  angrenzende  Rinde  abgeblasst.  Von  der  Narbe  aus 
erstrecl<t  sich  ein  rötlicher  Erweichungsstreifen  ins  Markweiss  bis  ins  Grau 
des  von  gegenüber  medialbasal  einschneidenden  Sulcus  calloso-marginalis. 

Die  Ausschaltung  nahm  das  laterale  Drittel  der  Sehsphäre  ein. 
Die  Sehstörung  hätte  also  auf  dem  linken  Auge  den  nasalen  Streifen 
dauernd  und  auf  dem  rechten  Auge  höchstens  den  medialsten  Gesichts- 
feldantheil  betreffen  dürfen.  Thatsächlich  war  sie  auf  dem  linken  Auge 
nur  am  2.  Tage  vorhanden,  während  sie  auf  dem  rechten  Auge  als 
typische  Hemianopsie  verlief. 

Beobaclii^iing-  106. 

Derselbe  Hund  von  Beobachtung  105  (vergl.  dort  die  Figuren).  Auf- 
deckung eines  lateralen  Streifens  rechts  auf  sagittal  20,5  mm,  frontal  vorn 
6  mm,  frontal  hinten  8  mm.  Der  laterale  Rand  der  Lücke  ist  vorn  20  mm, 
hinten  23  mm  von  der  Mittellinie  und  der  hintere  Rand  1—2  mm  von  der 
Lambdanaht  entfernt.  Exstirpation  ca.  7  mm  tief.  Die  Rinde  drängt  sich  von 
medial  in  die  Lücke  hinein. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch:  Fehlt  auf  dem  rechten  Auge  vom  2.  Tage 
bis  zum  Schluss  der  Beobachtung  gänzlich.  Auf  dem  linken  Auge  am  2. Tage 
Blindheit  bis  auf  eine  schmale  Zone  im  unteren  inneren  Quadranten,  am  S.Tage 

26* 


404 


oberhalb  des  Aequators  mit  Ausnahme  eines  nasalen  Streifens;  vom  4. — S.Tage 
im  oberen  lateralen  Quadranten,  am  9.  Tage  dort  unsicher,  vom  10.  Tage  bis 
zum  Schluss  der  Beobachtung  (28  Tage)  keine  Sehstörung  mehr,  auch  nicht 
beim  Stossversuch  und  beim  Fleischsuchen.  Gegen  Licht:  Fehlt  auf  dem 
rechten  Auge  überhaupt.     Auf  dem  linlcen   Auge  Keaction  am  2.  und  3.  Tage 


Fiff.  176. 


nur  nasal  vorhanden;  von  da  an  auf  dem  ganzen  Gesichtsfelde  in  Gestalt  von 
starkem  Scheuen. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  am  2.  Tage  beiderseits,  vom  3. — 11.  Tage 
nur  links,  dann  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung  gegen  Hache  Hand  abge- 
schwächt, gegen  schmale  Hand  fehlend. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  nach  4  Wochen. 

Section:  Häute  normal.  Die  Narbenkappe  sitzt  breit  der  II.  IJrwindung 
und  dem  absteigenden  Schenkel  der  I.  ürwindung  auf.  Sie  misst  sagittal 
20  mm,  frontal  in  der  Mitte  10  mm,  läuft  aber  vorn  und  hinten  spitz  aus.  Sie 
reicht  hinten  bis  dicht  an  den  hier  strahlig  eingezogenen  hinteren  Pol  und 
bleibt  vorn  3  mm  von  der  Senkrechten  Falx  —  hinterer  Rand  der  IV.  Ür- 
windung entfernt.  Der  mediale  Rand  bleibt  vorn  17  mm,  in  der  Mitte  10  mm 
und  hinten  9  mm  von  der  Medianspalte  entfernt.  1.  Durchschnitt  am  vorderen 
Rand  der  Narbe:  Die  lateralste  Kante  der  IL  Ürwindung  zeigt  einen  sich  bis 
ins  Mark  fortsetzenden  feinsten  Erweichungsstreifen.  2.  Durchschnitt  8  mm 
weiter  nach  hinten :  Die  Rinde  ist  in  der  ganzen  Breite  der  Narbe  zerstört  und 
von  dort  erstrecktsich  ein  fast  quadratischer  breiter  Zapfen  von  rötlich  durch- 
setzter Narbenmasse  quer  durch  das  Markweiss  bis  fast  an  'das  gegenüber- 
liegende Grau  der  medialen  Fläche  heran. 


—     405     — 

Die  Ausschaltung  betraf  das  laterale  Drittel,  wenn  auch  im 
vordersten  und  hintersten  Abschnitt  niclit  gänzlich,  dafür  war  die 
mediale  Nachbarschaft  der  mittleren  Partie  incl.  eines  Theiles  der 
Stelle  Ai  zerstört.  Der  nasale  Streifen  rechts,  der  zum  grösseren 
Theil  hätte  ausfallen  sollen,  war  gänzlich  frei,  links  betraf  die  Seh- 
störung vornehmlich  die  obere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes,  was  sich 
allenfalls  mit  der  Lehre  Munk's  vereinigen  Hess,  sie  war  aber  bereits 
am  10.  Tage  verschwunden. 

Beobaclitung'  lOT'. 

Schädellücke  links  lateral  parallel  der  Mittellinie,  sagittal  24  mm,  frontal 
vorn  7  mm,  frontal  hinten  12mm.  Der  Trepan  rutscht  bei  Durchbohrung  des 
sehr  dünnen  Schädels  etwas  aus  und  dringt  soeben  in  die  Schädelhöhle  ein. 
Die  Dura  wird  deshalb  nicht  eröffnet,  sondern  der  Versuch  abgebrochen  und 
die  Wunde  aseptisch  geschlossen.  Wiedereröffnung  der  Wunde  4  Tage  später, 
nachdem  sich  inzwischen  keinerlei  Störungen  gezeigt  haben.  Die  Dura  zeigt 
sich  innerhalb  der  Knochenlücke  verdickt  und  mit  Auflagerungen  bedeckt.    Die 


Hirnoberfläche  wird  in  einer  Breite  von  7  mm  freigelegt  und  auf  7  mm  Tiefe 
nach  Umschneidung  mit  dem  Messer  incl.  des  hinteren  Pols  herausgehoben. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:    Gegen  Fleisch:   Links:    Schmaler   nasaler  Streifen    bis 


—     406     — 

zum  4.  Tage,  am  5.  Tage  nur  noch  oben  medial  ein  blinder  Fleck,  am  6.  Tage 
keine  Sehstöning  mehr.  Rechts:  Bis  zum  5. Tage  deutlich  der  obere  temporale 
Quadrant,  am  6.  Tage  anscheinend  etwas  weniger  als  dieser,  am  7.  Tage 
wieder  annähernd  der  ganze  Quadrant  reactionslos,  am  9.  Tage  lässt  sich  die 
deiche  Sehstörung  nur  in    der  Schwebe,   aber  nicht  mehr  auf  dem  Schoosse 


Fig.  178. 


link? 


rechts 


Fig.  179. 

nachweisen;  am  11.  Tage  fehlt  sie  gänzlich.  Gegen  Licht:  Vom  2.-5.  Tage 
Keaction  beiderseits- fehlend,  vom  5.-7.  Tage  links  wenig  vorhanden,  rechts 
fehlend;  vom  7.— 11.  Tage  rechts  medial,  links  über  dem  ganzen  Gesichtsfeld 
vorhanden,  dann  beiderseits  gleich. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  rechts  bis  zum  10.  Tage,  am  11.  Tage  ab- 
geschwächt vorhanden. 


—     407     — 

Nasenlid refl ex  ungestört. 

Getödtet  nach  ca.  5  Wochen,  nachdem  inzwischen  eine  2.  symmetrische 
Operation  ausgeführt  worden  war. 

Section:  Häute  normal.  Die  Narbe  misst  sagittal  17mm,  frontal  in  der 
Mitte  8  mm  und  verjüngt  sich  nach  vorn  und  hinten  etwas.  Sie  sitzt  der 
IL  Urwindung  und  dem  absteigenden  Schenkel  der  I.  Urwindung  auf  und 
reicht  mit  ihrer  vordersten  lateralen  Kante  gerade  bis  an  den  hinteren  Rand 
der  [II.  Urwindung.  Der  hinterste  Rand  der  Narbe  reicht  bis  an  den  hinteren 
Pol,  der  mediale  Rand  bleibt  vorn  16  mm,  hinten  14  mm  von  der  Medianspalte 
entfernt.  1.  Durchschnitt  am  vorderen  Rande  der  Narbe:  Rinde  und  Mark  intact. 
2.  Durchschnitt  6mm  hinter  dem  vorderen  Rand  der  Narbe:  Die  Rinde  ist  in 
der  Breite  der  Narbe  völlig  zerstört.  Von  der  Narbe  geht  ein  röthlicher  Er- 
weichungsstreifen basal-medialwärts  mehrereMillimeter  in  dasMarkweiss  hinein. 

Nach  der  Aussclialtung  des  lateralen  Drittels  der  Sehsphäre  hätte 
Rindenblindheit  des  gleichseitigen  Gesichtsfeldantheiles  und  allenfalls 
noch  eine  Sehstörang  des  medialsteii  Streifens  des  gegenseitigen  Ge- 
sichtsfeldantheiles eintreten  sollen.  Während  nun  dei-  Letztere  ganz 
frei  blieb,  wurde  eine  bis  zum  11.  Tage  dauernde  Sehstörung  des 
lateralen  oberen  Quadranten,  welcher  seinerseits  hätte  frei  bleiben  sollen, 
beobachtet.  Der  nasale  Streifen  der  gleichen  Seite  war  nur  vom  2.  bis 
4.  Tage  blind,  am  5.  Tage  bestand  nur  noch  ein  kleiner  blinder  Fleck 
in  der  oberen  Ecke  dieses  Streifens,  der  am  G.  Tage  gleichfalls  ver- 
schwunden war. 

Beobaclitiiiig:  lOS. 

Derselbe  Hund  von  Beobachtung  107  (vergl.  dort  die  Figuren).  Schädel- 
lücke rechts  lateral  parallel  der  Mittellinie  sagittal  24  mm,  frontal  7  mm. 
Umschneidung  der  freiliegenden  Rinde  mit  dem  Messer  ca.  7  mm  tief  und 
Heraushebung  mit  dem  Präparatenheber. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  und  3.  Tage  keine  Sehstörung 
nachweisbar,  am  4.  Tage  und  nur  an  diesem  besteht  rechts  ein  schmaler 
nasaler  nicht  sehender  Streifen  und  links  eine  den  oberen  temporalen  Qua- 
dranten einnehmende  Sehstörung.  Am  5.  Tage  ist  die  Pveaction  an  letzterer 
Stelle  unsicher,  am  6.  Tage  normal.  Gegen  Licht  besteht  von  Anfang  bis  Ende 
der  Beobachtung  eine  intensive,   gegen  rechts  nicht  abgeschwächte  Reaction. 

Optische  Reflexe:  Verhalten  sich  rechts  bis  zum  Schluss  der  Beob- 
achtung ebenso  wie  sie  aus  der  Beobachtung  107  übernommen  waren,  d.  h. 
gegen  flache  Hand  abgeschwächt,  gegen  schmale  Hand  fehlend.  Links:  Am 
2.  und  3.  Tage  unverändert,  fehlen  am  4.  Tage,  sind  am  5.  Tage  nur  ange- 
deutet, dann  wieder  normal  vorhanden. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  nach  ca.  31/2  Wochen. 


—     408     — 

Section:  Häute  normal.  Die  eigentliche  Narbenkappe  misst  15  mm 
sagittal,  7  mm  frontal.  Sie  sitzt  im  Wesentlichen  dem  lateralen  Schenkel  und 
hinten  auch  etwas  dem  medialen  Schenkel  der  II.  Urwindung  auf  und  reicht 
vorn  bis  gerade  an  den  hinteren  Kand  der  III.  Urwindung.  Der  hintere  Rand 
der  Narbenkappe  schliesst  mit  dem  vorderen  Pvande  des  absteigenden  Schenkels 
der  I.  Urwindung  ab  und  bleibt  so  9  mm  von  dem  hinteren  Pol  entfernt. 
Dieser  Rindentheil  ist  aber  in  der  Breite  der  Narbenkappe  grob  zerklüftet  oder 


Fig.  180. 

oberflächlich  bis  zum  Pol  zerstört.  Der  vordere  Rand  der  Narbe  bleibt  circa 
2,5  mm  von  einer  Senkrechten  Falx  —  hinterer  Rand  der  IV.  Urwindung  ent- 
fernt, der  mediale  Rand  der  Zerstörung  bleibt  vorn  17  mm,  hinten  12  mm  von 
der  Medianspalte  entfernt.  1.  Durchschnitt  3  mm  hinter  dem  vorderen  Rand 
der  Narbe:  Die  lateralste  Kante  der  II.  und  die  medialste  der  III.  Urwindung 
sind  zerstört  und  von  der  Narbenkappe  gehen  Erweichungsstreifen  einige  Milli- 
meter weit  in  das  Mark  der  II.  und  III.  Urwindung  hinein.  2.  Durchschnitt 
4mm  weiter  nach  hinten:  Die  Rinde  unter  der  Narbenkappe,  insoweit  sie  nicht 
fehlt,  ist  abgeblasst;  von  der  Mitte  derselben  geht  ein  rother  Erweichungs- 
streifen im  Mark  der  IL  Urwindung  7  mm  basal -medialwärts,  eine  kleine 
Höhle  bildend. 

Nach  der  Ausschaltung  des  lateralen  Drittels  der  Sehsphäre  hätte 
Rindenblindheit  des  gleichseitigen  Gesichtsfeldantheiles  und  allenfalls 
noch  eine  Sehstörung  des  medialsten  Streifens  des  gegenseitigen  Ge- 
sichtsfeldantheiles eintreten  sollen.  Thatsächlich  bestand  nichts  von 
alledem.  Vielmehr  war  eine  deutliche  Sehstörung  überhaupt  nur  am 
4.  Tage  und  zwar  in  Gestalt  eines  nasalen  Streifens  des  gleichseitigen 
und  eines  Scotomes  des  oberen  lateralen  Quadranten  des  gegenseitigen 
Auges  nachweisbar. 


—     409     — 

13  e  ob  «eil  tun  JE*-  lOO. 

Kleiner  Hund;  Aufdeckung  links  hinten  auf  20nim  sagittal,  7mm  frontal. 
Der  laterale  Rand  der  Lücke  bleibt  vorn  und  hinten  25mm  von  der  Median- 
linie entfernt,  während  der  hintere  Rand  dicht  an  der  Lambdanaht  liegt, 
Excision  7mm  tief  in  der  ganzen  Ausdehnung  der  freiffelefften  Rinde. 


Fiff.  181. 


Fig.  182. 


Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  wegen  mangelnder  Reaction 
nicht,  am  3.  Tage  nur  insoweit  zu  untersuchen,  als  sich  feststellen  lässt,  dass 
beiderseits  oberhalb  des  Aequators  eine  hochgradige  Sehstörung  besteht,  die 
wahrscheinlich  die  ganze  obere  Gesichtsfeldhälfte  einnimmt.  Ausserdem  besteht 


—     410     — 

links  auch  unterhalb  ein  nasaler  Streifen.  4.  Tag:  Hund  reagirt  an  diesem 
Tage  sehr  scharf.  Rechts  die  ganze  obere  Gesichtsfeldhälfte  mit  dem  Aequator 
abschneidend  blind,  links  ausserdem  noch  ein  breiter  nasaler  Streifen  unter- 
halb des  Aequators.  Am  5.  Tage  auf  dem  Schoosse  fehlt  rechts  der  obere  Theil 
des  Gesichtsfeldes  mit  Ausnahme  eines  breiten  nasalen  Streifens;  links  er- 
scheint ein  breiter  nasaler  Streifen  blind.  In  der  Schwebe  schliesst  sich  rechts 
an  die  nichtsehende  Partie  noch  eine  ziemlich  breite  Grenzzone  an,  in  der  der 
Hund  zwar  aufmerkt  und  fixirt,  aber  nur  träge  zuschnappt.  Am  6.  Tage  rechts 
nur  insoicrn  verändert,  als  er  auf  der  gestern  träge  reagirenden  nasalen  Partie 
heute  hastig  zuschnappt;   links  ist  die  amblyopische  Partie,   namentlich  unten 


links       I  m^~  fl        rechts 


Fig.  183. 

schmaler  und  undeutlicher  geworden.  Am  7.  Tage  hat  die  Sehstörung  nach 
unten  medial  etwas  abgenommen,  es  befindet  sich  hier  eine  unsichere  Zone; 
links  noch  ein  nasaler  Streifen,  der  aber  nicht  ganz  deutlich  abzugrenzen  ist. 
Am  8.  Tage  ist  rechts  noch  eine  Sehstörung  nachzuweisen,  die  nicht  ganz  dem 
oberen  äusseren  Quadranten  entspricht;  links  nasaler  Streifen.  Am  9.  Tage  hat 
sich  die  blinde  laterale  Partie  etwas  aufgehellt,  der  Hund  sieht  hier  offenbar 
nur  undeutlich;  links  keine  Sehstörung.  Vom  10.  Tage  an  beiderseits  keine 
Schstörung  mehr. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  rechts  gänzlich  bis  zum  5.  Tage.  Vom  G. 
bis  10.  Tage  gegen  flache  Hand  abgeschwächt,  gegen  schmale  Hand  garnicht 
vorhanden.  Von  da  an  bis  zum  28.  Tage  (Schluss  der  Beobachtung)  auch  gegen 
schmale  Hand  allmählich  wiederkehrend,  aber  gegen  beide  Arten  der  Reizung 
abgeschwächt, 

Nasenlidrefl ex  nur  am  4.  Tage  rechts  abgeschwächt. 

Getödtet  nach  ca.  5  Wochen,  nachdem  inzwischen  eine  2.  symmetrische 
Operation,  die  in  Vereiterung  auslief,   ausgeführt  worden  war. 

Section:  Auf  der  rechten  (2.  Operationsseite)  Seite  grosse  subcutane 
Eiterhöhle.  Operationslücke  durch  Blutgerinnsel  geschlossen.  Häute  normal. 
Die  Auflagerung  sitzt  auf  der  I.  und  II.  Urwindung   und  reicht  vom  hinteren 


—     411     — 

Pol  bis  eben  in  die  Spitze  des  oberen  Bogens  der  111.  Urvvindung  hinein.  Sie 
misst  sagittal  21mm,  an  ihrer  breitesten  Stelle  frontal  9mm  und  verjüngt  sich 
in  ihrem  vorderen  Theile.  Mit  ihrem  medialen  Rande  bleibt  sie  vorn  16mm, 
hinten  10  mm  von  der  Medianlinie  entfernt,  von  der  stark  eingezogenen 
hintersten  medialen  Ecke  aber  nur  7 mm.  1.  Durchschnitt  durch  die  Mille  der 
Nnrl)e:  Die  dorsale  Rinde  der  11.  Urwindnng  fehlt  in  der  Breite  der  Narben- 
knppc,  von  der  sich  im  Markweiss  ein  gclbröthlich  gefärbter,  narbiger  Streifen 
basal-mcdialwärts  crstreclit.  2.  Durchschnitt  durch  das  vordere  DriUel  der 
Narbe:  Die  laterale  Ilälfic  der  II.  Urwindung  fehlt,  von  dort  steigt  ein  Ev- 
weichungsstreifcn  bi.i  nahe  an  den  Rand  des  Ventrikels.  Derselbe  ist  mit  JMter 
gclullL  und  die  Stanimganglien  sind  zum  grossen  Theil  erweicht. 

Der  I'jngriff  hatte  (his  laterale  Drittel,  hinten  aber  die  laterale 
Hälfte  zerstört.  Ivs  liätte  also  Kindenblindlieit  des  gleichseitigen  Ge- 
siclitsfeldantiieils  und  des  medialen  Streifens  des  gegenseitigen  Gesichts- 
feldantheils  in  seiner  oberen  Partie  eintreten  müssen.  Thatsächlicli  war 
fler  gleichseitige  Gesiclitsfeldantheil,  jedoch  nur  bis  incl.  des  8.  Tages 
blind:  auf  dem  gegenseitigen  Auge  nahm  die  Selistörung  aber  an- 
fänglich die  ganze  obere  Gesichtsfcldhälfte  ein  und  hellte  sich  dann 
von  innen  nach  aussen  auf,  sodass  der  mediale  Streifen  zuerst  wieder 
frei   war. 

Beobaditiiiigj-  HO. 

Aufdeckung  des  lateralen  Drittels  der  Sehsphäre  links  auf  sagittal  24mm, 
frontal  hinten  6,5mm,  frontal  vorn  7,5mm.  Der  mediale  Rand  der  Lücke  ist 
vorn  22mm  von  der  Mittellinie,  hinten  24mm  von  der  Höhe  der  Prot.  occ.  ext. 
entfernt;  der  hintere  Rand  liegt  dicht  an  der  Lambdanaht.  Umschneidung 
der  freiliegenden  Rinde  mit  dem  Messer,  Aushebung  mit  dem  Präparatenlicber. 

Motilitätsstörungen   fehlen. 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch:  Links:  Am  2.  Tage  ein  schmaler  nasaler 
Streifen  blind,  an  den  folgenden  Tagen  bis  zum  6.  Tage  ist  jede  Sehstörung 
mit  voller  Sicherheit  auszuschliessen,  mit  der  gleichen  Sicherheit  ist  aber  an 
diesem  Tage  der  schmale  nasale  blinde  Streifen  nachzuweisen.  Nachher  bis 
zum  Schluss  der  Beobachtung  fehlt  jedoch  diese  Sehstörung  wieder  gänzlich. 
Rechts:  Am  2.  Tage  blind  bis  auf  sclimalcn  nasalen  Streifen,  auf  dem  er  sieht, 
aber  oft  sehr  unsicher  projicirt.  Am  3.  Tage  ist  das  Auge  noch  ganz  blind 
bis  auf  einen  schmalen  nasalen  Streifen,  der  sich  unten  lateralwärts  halbmond- 
förmig fortsetzt.  Am  4.  Tage  hat  sich  der  sehende  Streifen  allgemein,  be- 
sonders aber  unten  lateral  erweitert;  am  5,  Tage  hat  sich  das  Gesichtsfeld  in 
den  gleichen  Richtungen  weiter  vergrössert,  doch  reicht  das  Scotom  noch  so- 
wohl über  den  Meridian  als  über  den  Äequator  hinaus.  Am  6.  und  7.  Tage 
erreicht  die  Sehstörung  nach  unten  eben  den  Äequator,  während  sie  medial 
noch  etwas  über  den  Meridian  hinausreicht.  Die  Sehstörung  bleibt  so  bis 
zum  50.  Tage,  an  dem  sie  nur  noch  den  oberen  äusseren  Quadranten  einnimmt, 


—     412     — 

um  sich  dann  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung  (84.  Tag)  bald  etwas  grösser, 
bald  etwas  kleiner,   immer  innerhalb  der  Grenzen   des  oberen  äusseren   Qua- 

(zu  Beob.  110.), 


Fig.  184. 


dranten  zu  präsentiren.      Gegen  Licht:   Genau  entsprechend   der  Sehstörung 
gegen   Fleisch,   doch   gab   es   einige   Tage   während    der   2.  Hiilfle   der  Beob- 


—     413     — 

achtung,  an  denen  der  sonst  sehr  lebhaft  reagirende  TTund  auf  heidcn  Seilen 
garnicht  reagirte. 

Optische  Reflexe:    Fehlen    rechts    gänzlich   bis  zum   8.  Tage;    von 
diesem  Tage  an  kehrten  sie  allmählich  wieder,  zeigten  aber  bis  zum  Schluss 


is.O. 


links 


rechts 


Fig.  186. 

der  Beobachtung  insofern  eine  Abschwächung,  als  sie  auch  dann  noch  gegen 
schmale  Hand  gänzlich  fehlten. 

Nasenlidreflex:  Abgeschwächt  mindestens  bis  zum  3.  Tage,  dann 
fehlen  Notizen  bis  zum  13.  Tage,  wo  keine  Differenz  mehr  bestand. 

Gestorben  nach  41/2  Monaten  an  Krämpfen,  wegen  derer  Beobachtung  113 
einzusehen  ist,  nachdem  inzwischen  eine  2.  Operation  am  rechten  Occipitalhirn 
ausgeführt  worden  war. 

Section:  Pia  beider  Hemisphären  sehr  blutreich.    Links  medial  von  der 


—     414     — 

Narbe  leicht  krisselig,  Dura  an  dieser  Stelle  ganz  leicht  adhärent.  Die  Auf- 
lagerung nimmt  den  absteigenden  Bogen  der  I.  und  IL  ürwindung  und  den 
hinteren  Winkel  des  Gipfels  der  III.  ein.  Sie  misst  sagittal  20,5  mm,  frontal 
10  mm.  Mit  ihrem  hinteren  Rande  reicht  sie  bis  an  den  hinteren  Pol,  mit 
ihrem  medialen  Rande  bleibt  sie  hinten  15  mm,  vorn  19  mm  von  der  Median- 
spalte entfernt.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Die  Rinde  fehlt  unter 
der  ganzen  Auflagerung;  darunter  erstreckt  sich  ein  graubräunlicher  Herd  in 
Gestalt  eines  Pilzslieles  bis  an  den  Seitenventril(el. 

Da  knapp  das  laterale  Drittel  der  linken  Hemisphäre  entfernt  war. 
hätte  die  Sehstörung  —  '  dauernde  Rindenbliudheit  —  nur  das  gleich- 
seitige Auge  betreffen  dürfen.  Gerade  dieses  Auge  zeigte  aber  eine 
kaum  neunenswerthe  Sehstörung  nur  am  2.  und  dann  wieder  ganz  vor- 
übergehend am  6.  Tage,  während  das  rechte  Auge,  welches  hätte  frei 
bleiben  sollen,  eine  hochgradige  und  im  oberen  äusseren  Quadranten 
ungewöhnlich  lange  fortbestehende  Sehstörung  von  hemianopischem 
Charakter  erkennen  liess. 

Beobsxchtviiig:  111. 

Aufdeckung  links  hinten  lateral  auf  7mm  frontal,  23  mm  sagittal.  Der 
laterale  Rand  bleibt  26mm  von  der  Medianspalte,  der  vordere  26  mm  von  der 
Lambdanaht  entfernt.  Exstirpation  des  freiliegenden  Rindenstückes  mit  voll- 
ständiger Zerstörung  des  noch  unter  dem  hinteren  Rande  liegenden  Hemi- 
sphärenpols in  der  Breite  des  Streifens  auf  ^4  cm  Tiefe. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Links:  Nasaler  Streifen  bis  zum 
13.  Tage.  Vom  14. — 18.  Tage  zweifelhaft,  dann  keine  Sehstörung  mehr. 
Rechts:  Vom  2.-6.  Tage  totale  Blindheit  bis  auf  einen  kleinen  medialen 
unteren  Kreisabschnitt;  vom  7. — 9.  Tage  typische  Hemianopsie,  von  da  an 
geht  die  Sehstörung  von  medial  nach  lateral  allmählich  zurück  und  zwar  so, 
dass  der  untere  Quadrant  sich  immer  zuerst  bessert.  Am  25.  Tage  sieht  nur 
noch  ein  oberer  lateraler  Kreisabschnitt  nicht;  vom  29.  Tage  an  ist  an  dieser 
Stelle  bald  eine  deutliche,  bald  eine  undeutliche  Sehstörung  zu  erkennen. 
Vom  58.  Tage  an  besteht  keine  Sehstörung  mehr.  Gegen  Licht:  Sehstörung 
in  den  ersten  Tagen  entsprechend  der  gegen  Fleisch.  Vom  10.  Tage  an  reagirt 
der  Hund  schon  weit  aussen  mit  Scheuen,  aber  stets  schwächer  als  medial  bis 
zum  26.  Tage,  dann  ist  die  Reaction  beiderseits  gleich. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  gänzlich  bis  zum  45.  Tage,  von  diesem 
Tage  an  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung  allmählich  zunehmend,  ab- 
geschwächt. 

Nasenlid refl ex  nur  am  2.  Tage  abgeschwächt. 

Getödtet  nach  ca.  4  Monaten,  nachdem  inzwischen  eine  2.  symmetrische 
Operation  ausgeführt  worden  war. 

Section:  Häute  normal.  Die  sagittal  18  mm,  frontal-hinten  8  mm, 
frontal-vorn    6,5  mm   messende  Auflagerung,    welche  nur  locker  mit  der  dar- 


415 


unterliegenden  Substanz  zusammenhängt,  findet  sich  im  lateralen  Theil  der 
Sehsphäre,  genau  entsprechend  dem  von  Munk  bezeichneten  lateralen  Drittel. 
Unter  ihr  befindet  sich  eine  ziemlich  tiefe  Grube.  Die  Narbe  reicht  bis  an  den 
hinteren   Pol,    medial-hinten   bleibt    sie    17  mm,    medial-vorn  2Ümm   von    der 


57. 

Fig.  187. 
Medianspalte  entfernt.    Durchschnitt    etwa    durch    die   Mitte    der  Narbe:   Die 
Ivinde  fehlt  unter  der  Auflagerung  gänzlich.    Von  da  aus  zieht  sich  ein  breiter 
narbiger  Spalt  nach  dem  Ventrikel  zu.   Zwischen  ihm  und  der  Spitze  des  sehr 


—     416     — 

stark  erweiterten  Ventrikels  findet  sich  ein  Ideinlinsengrosser  graubrauner  Er- 
weichungsherd. 

Die  Operation  hatte  das  laterale  Drittel  der  Munk'schen  Sehsphäre 
zerstört  und  war  mit  ihren  Folgen  bis  an  die  Spitze  des  Seiten- 
ventrikels vorgedrungen.  Der  Rest  der  Hemisphäre  erschien  aber 
makroskopisch   nicht  geschädigt.      Die  Störung   des  Sehvermögens  hätte 


Fig.  188. 


links 


rechts 


Fig.  189. 
sich  also  auf  den  medialen  Streifen  des  linken  Gesichtsfeldes  be- 
schränken müssen,  dieser  aber  hätte  dauernd  rindenblind  sein  müssen. 
Thatsächlich  war  er  aber  nur  bis  zum  13.  Tage  blind  und  vom  19.  Tage 
an  konnte  hier  überhaupt  keine  Sehstörung  mehr  nachgewiesen  werden. 
Dagegen  erschien  das  rechte  Auge,  welches  hätte  normal  sein  sollen, 
anfänglich  fast  maximal  geschädigt  und  Hess  dann  eine  langanhaltende, 
in  der  Form  der  typischen  Hemianopsie  ablaufende  Sehstörung  erkennen. 


—     417 


Tabelle    Vlb. 

Laterales    Drittel 


o 

Seh'störung 

bD 

C 

PQ 

Art  der 

Ort  der  Operation 

Optische 

Nasenlid- 

r^ 

d 

Operation 

(Section) 

gegen  Fleisch 

gegen 
Licht 

Reflexe 

reflex 

s 

pq 

105 

Exstirpa- 

Links.  Lateraler  Strei- 

Links:     Nur    am    2. 

Wie  gegen 

Fehlend 

Während 

Motili- 

tion ca.  7 

fen      im      lateralen 

Tage.  Rechts.  Dauer 

Fleisch. 

bis  zum 

der  ganzen 

tätsstö- 

mm tief. 

Schenkel  der  IL  und 

ca.    15    Tage,    typi- 

10. Tage, 

Beobach- 

rungen 

dem    absteigenden 

sche      Hemianopsie, 

dann  nor- 

tungszeit 

bis  zum 

Bogen  der  I.  Urwin- 

von  unten  nasal  nach 

mal. 

abge- 

13. Tage. 

dung.      Sagittal    20 

oben    temporal    all- 

schwächt. 

mm,   frontal   6  mm 

mählich    verschwin- 

15 —  16  mm  von  der 

dend. 

Mittellinie    entfernt. 

106 

Exstirpa- 

Rechts.        Lateraler 

Rechts   gänzlich   feh- 

Fehlt 

Bis  zum 

Unge- 

— 

tion  ca.  7 

Streifen  im  lateralen 

lend. 

rechts ; 

11.  Tage 

stört. 

mm  tief. 

Schenkel   der  II.  u. 

Links:  Dauer  9  Tage; 

links  nur 

fehlend. 

im   absteigenden 

am  2.  Tage  nur  un- 

am 2.  u.  3. 

dann  abge- 

Schenkel der  I.  Ur- 

terer  nasaler  Kreis- 

Tage nach- 

schwächt. 

windung.  Sagittal  20 

abschnitt       sehend, 

weisbar. 

mm,    frontal  in  der 

dann  Sehstörung  ober- 

Mitte  10   mm,    sich 

halb  des  Aequators, 

nach  vorn  und  hin- 

von nasal  nach  tem- 

ten   verjüngend.     9 

poral  abnehmend. 

bis  17  mm  von  der 

Mittellinie    entfernt. 

107 

Exstirpa- 

Links.  Laterales  Drit- 

Links:  Dauer  5  Tage ; 

Vom  2.— 5. 

Fehlen 

Unge- 

— 

tion  ca.  7 

tel    der    Sehsphäre, 

am  5.  Tage  nur  noch 

Tage    bei- 

rechts bis 

stört. 

mm  tief. 

excl.  vorderster  Win- 

oben medial. 

derseits 

zum   10. 

kel.  Sagittal  17  mm, 

Rechts.     Dauer  10 

vollstän- 

Tage, am 

frontal  in  der  Mitte 

Tage;  nur  im  oberen 

dig,  vom 

11.  Tage 

8  mm,  sich  nach  hin- 

temporalen Quadran- 

5.-7. 

abge- 

ten   und    vorn   ver- 

ten, nach  oben  tem- 

Tage links 

schwächt 

jüngend. 

1 

poral  verschwindend. 

wenig, 
rechts   gar 
keine  Re- 
action,vom 
7.— 10. 
Tage 
rechts  me- 
dial,   links 
über  dem 
ganzen  Ge- 
sichtsfeld 
scheuend, 
dann  nor- 
mal. 

vorhanden. 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     II.  Theil. 


27 


—     418     - 

o 

Sehstörung 

c 
p 

o 

CO 

Art  der 

Ort  der  Operation 

Optische 

Nasenlid- 

3 
M 

6 

Operation 

(Section) 

gegen  Fleisch 

gegen 
Licht 

Reflexe 

reflex 

108 

Exstirpa- 

Rechts.    Etwas   mehr 

Nur  am  4.  Tage  rechts 

Fehlt. 

Links:  Am 

Unge- 

tion ca.  7 

als  das  laterale  Drit- 

nasal,    links     oben 

4.  und  5. 

stört. 

mm  tief. 

tel    der    Sehsphäre, 

temporal. 

Tage  feh- 

hinten vielleicht  nicht 

lend,  bzw. 

ganz  vollsländig.  Sa- 

abge- 

gittal  15  mm,  fron- 

schwächt. 

tal  7  mm. 

dann  nor- 
mal. 
Rechts : 
Wie  vor  der 
Operation. 

109 

Exstirpa- 

Links.  In  der  IL  und 

Links:  Biszum4.Tage 

,  — 

Fehlen 

Nur  am  4. 

Eiterung 

tion  ca.  7 

im  absteigenden  Bo- 

ganze   obere   Hälfte 

gänzlich 

Tage 

bei  der 

mm  tief. 

gen    der    I.    Urwin- 

und   medialer  unte- 

bis zum 

rechts 

2.  Opera 

dung.      Sagittal   21 

rer  Streifen,  dann  bis 

5.  Tage, 

abge- 

tion. 

mm,  frontal   an  der 

incl.  8.  Tage  nur  me- 

dann bis 

schwächt. 

breitesten    Stelle    9 

dialer  Streifen. 

Schluss    d. 

mm.     Mit   dem  me- 

Rechts;  Bis  zum  4. 

Beob  (28. 

dialen  Rand  vorn  16 

Tage     ganze     obere 

Tag)  all- 

mm,  hinten  10  mm 

Gesichtsfeldhälfte, 

mählich 

von    der   Mittellinie 

dann  bis  zum  9.  Tage 

wieder- 

entfernt. 

typisch  abnehmend, 
obere  temporale  He- 
mianopsie. 

kehrend. 

110 

Exstir- 

Links.  Laterales  Drit- 

Links: Nur  am  2.  und 

Wie  gegen 

Fehlen 

Anfänglich 

— 

pation. 

tel    der    Schsphäre; 

6.      Tage       nasaler 

Fleisch. 

gänzlich 

abge- 

sagittal    20,5     mm. 

Streifen. 

bis ,  zum 

schwächt. 

frontal  10  mm.    Mit 

Rechts :     Typische 

8.  Tage, 

dem  medialen  Rand 

Hemianopsie,  typisch 

dann  all- 

15 —  19  mm  von  der 

zurückgehend,    oben 

mählich 

Medianspalte       ent- 

lateral in  die  Beob. 

wiederkeh- 

fernt. 

113  hineinreichend. 

rend,  dau- 
ernd abge- 
schwächt. 

111 

Exstirpa- 

Links.  Ijatcraics  Drit- 

Links:  Dauer  1 7 Tage. 

Dauer  26 

Fehlen  bis 

Nur  am  2. 

— 

tion  ca.  ''^ 

tel    der    Sehsphäre; 

Rechts:     Langdau- 

Tage.   An- 

zum 45. 

Tage 

cm  lief. 

sagittal  18mm,  fron- 

erndc   typisch    ver- 

fänglich 

Tage,  dann 

abge- 

tal 6,5—8  mm. 

laufende  Hemianop- 
sie. Dauer  57  Tage. 

wie  gegen 
Fleisch. 

bis  zum 
Schluss 
abge- 
schwächt. 

schwächt. 

1 

Z  u  s  a  m  m  e  n  f  a  s  s  u  ii  g. 

1.  Seh  Störungen:     Die  7  Beobachtungen  der  2.  Reihe  dieses  Ab- 

seil 

littes  haben  das  m 

t  einander  gemein, 

dass  die 

bei  ihnen 

vorgenom- 

—     419     — 

inenen  Eingriffe  das  laterale  Drittel  der  Sehsphäre  gänzlich,  nur  aus- 
nahmsweise nicht  total  ausschalteten,  während  die  Nachbarregionen  nur 
verhältnissraässig  wenig  betheiligt  waren.  Es  kam  nun  darauf  an,  ob 
wirklich  der  nasale  Streifen  des  gleichseitigen  Gesichtsfeldes  gänzlich 
oder  fast  gänzlich  rindenblind  sein  würde;  wenn  eine  Sehstörung  auf 
dem  gegenseitigen  Auge  auftrat  —  was  ja  selbstverständlich  auch  bei 
Innehaltung  der  vorbezeichneten  Grenzen  nicht  auszuschliessen  war  — 
so  niusste  sie  nach  der  Lehre  Munk"s  wieder  den  medialsten  Abschnitt 
des  gegenseitigen  Gesichtsfeldantheils  betreffen  und  musste  verhältniss- 
mässig  unbedeutend  sein. 

Auf  dem  gleichnamigen  Auge  war  gar  keine  Sehstörung  vor- 
handen einmal  bei  der  Beob.  106  (gegenseitiges  Auge  8  Tage),  an  einem 
Tage  einmal,  Beob.  105  (gegenseitiges  Auge  15  Tage),  einmal,  aber 
nicht  am  2.,  sondern  am  4.  Tage,  Beob.  108  (gegenseitiges  Auge  am 
4.  und  5.  Tage),  an  2  Tagen  einmal,  Beob.  110  und  zwar  am  2.  und 
6.  Tage  (gegenseitiges  Auge  ca.  4  Monate),  an  4  Tagen  einmal  Beob.  107 
(gegenseitiges  Auge  9  Tage),  an  7  Tagen  einmal,  Beob.  109  (gegen- 
seitiges Auge  8  Tage),  an  16  Tagen  einmal  Beob.  111  (gegenseitiges 
Auge  56  Tage). 

Rindenblindheit  des  gleichnamigen  Gesichtsfeldantheils 
wurde  also  in  keinem  einzigen  dieser  Fälle  beobachtet.  Dort, 
wo  überhaupt  eine  Sehstörung  zu  beobachten  war  —  in  einem 
Falle  fehlte  sie  gänzlich  —  dauerte  sie  ausnahmslos  kürzere, 
meist  sogar  sehr  viel  kürzere  Zeit  als  die  des  gegenüber- 
liegenden Auges.  Aber  auch  diese  fehlte  in  einem  Falle  (Beob.  108) 
so  gut  wie  gänzlich. 

Bezüglich  der  Form  des  zu  beobachtenden  Scotoms  ist  zunächst 
hervorzuheben,  dass  dasselbe  bei  der  Beob.  109  am  3.  und  4.  Tage  in- 
sofern eine  ganz  ungewöhnliche  Configuration  zeigte,  als  es  neben  dem 
gewöhnlichen  nasalen  Streifen  noch  die  ganze  obere  Gesichtsfeldhälfte 
einnahm.  Gleichzeitig  war  aber  auch  auf  dem  gegenüberliegenden  Auge 
die  obere  Hälfte  des  nasalen  Streifens,  die  unbetheiligt  hätte  sein  sollen, 
blind,  während  andererseits  die  untere  Hälfte  des  lateralen  Abschnittes, 
welche  gewöhnlich  blind  zu  sein  pflegt,  frei  war.  Im  Uebrigen  verhielt 
sich  die  Figur  des  Scotoms  so,  dass  entweder  nur  das  nasale  Viertel 
oder  nur  dessen  oberer  Abschnitt  oder  dieser  in  etwas  grösserer  Aus- 
dehnung blind  war  und  dass  das  Scotom  sich  entweder  plötzlich  verlor 
oder  sich  von  unten  nach  oben  allmählich  verkleinerte. 

Während  also  die  Sehstörung  des  gleichnamigen  Auges,  welche  zur 
Rindenblindheit  hätte  führen  sollen,  von  geringer  Bedeutung  war,  wenn 
sie  nicht  etwa  gänzlich   oder  so  gut  wie  gänzlich  fehlte,    war  die  Seh- 

27* 


—     420     — 

Störung  des  gegenüberliegenden  Auges,  welche  von  geringer  Bedeutung 
hätte  sein  sollen,  in  der  Regel  —  wenn  auch  nicht  ausnahmslos  — 
hochgradig,  von  verhältnissmässig  langer  Dauer,  und  gelegentlich  ver- 
schwand sie  sogar  überhaupt  nicht.  Aber  dort,  wo  sie  überhaupt  nicht 
verschwand,  betraf  sie  ebenso  wenig,  wie  in  den  anderen  Fällen,  wo 
sie  wieder  verschwand,  ausschliesslich  oder  doch  vorwiegend  den  vor- 
erwähnten mittleren  Streifen  des  Gesichtsfeldes,  sondern  sie  verlief 
wiederum  als  typische  temporale  Hemianopsie  mit  vorwiegender  Be- 
theiligung des  oberen  temporalen  Quadranten. 

Vergleicht  man  auf  den  Querschnitten  die  durch  diese  Operationen 
gesetzten  Zerstörungen,  so  ergiebt  sich,  dass  dieselben  mit  verhältniss- 
mässig sehr  unbedeutenden  Nebenverletzungen  verlaufen  sind.  Die  an- 
gegriffenen Windungsabschnitte  sind  in  der  Ausdelinung  der  Läsion 
gänzlich  zerstört;  unter  ihnen  erstrecken  sich  dann  mehr  oder  minder 
compakte  Erweichungsherde  in  die  Tiefe,  manchmal  bis  nahe  an  den 
Ventrikel,  aber  dies  sind  Vorkommnisse,  welche  bei  jeder  Exstirpation, 
auch  bei  solchen,  die  sich  allein  auf  den  Cortex  beschränken,  vorkom- 
men und  die  deshalb  immer  mit  in  den  Kauf  genommen  werden  müssen. 
Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  diesen  Herden  eine  andere  Bedeutung 
als  den  corticalen  Herden  beigemessen  werden  muss,  wie  ich  selbst  dies 
oft  genug  hervorgehoben  habe,  aber  derartige  Nebenverletzungen  müssen 
bei  den  Versuchen  Munk's  gerade  ebenso  gut  wie  bei  den  meinigen 
vorgekommen  sein.  Es  ist  deshalb  nicht  angängig,  meine  abweichen- 
den Resultate  mit  Bezug  auf  die  Betheiligung  des  contralateralen  Ge- 
sichtsfeldes auf  sie  zu  beziehen.  Ueberdies  ist  dies  der  nebensächliche 
Punkt.  Gleiciiviel  wie  es  sich  mit  der  Betheiligung  des  anderen  Auges 
verhalten  mochte,  immer  hätte  doch  der  gleichseitige  nasale  Streifen 
rindenblind  sein  müssen  und  dies  traf  eben  nicht  zu. 

2.  Die  optischen  Reflexe  verhielten  sich  ebenso  wie  die  Seh- 
störung bei  der  Beob.  108  —  2tägige  Dauer  der  Störungen;  bei  den 
Beobb.  105,  109,  110  und  111  dauerte  ihre  totale  Aufhebung  kürzere 
Zeit  als  die  Sehstörung,  indessen  functionirte  die  Stelle  des  deutlichen 
Sehens  und  deren  nasale  untere  Nachbarschaft  bei  allen  diesen  Beob- 
achtungen zum  Tlieil  schon  ziemlich  lange  wieder,  als  die  ersten  Zeichen 
der  Reflexthätigkeit  sich  wieder  einstellten,  luir  bei  der  Beob.  109  war 
gerade  um  diese  Zeit  eine  Unsicherheit  des  Sehens  an  jener  Stelle 
wahrzunehmen.  Andererseits  dauerte  die  Abschwächung  der  Reflexe 
bei  allen  diesen  Beobachtungen,  mit  Ausnahme  der  Beob.  105,  bei  der 
eine  Entscheidung  ausstand,  nicht  nur  über  das  Ende  der  Sehstöruug, 
sondern  auch  über  das  Ende  der  Beobachtung  hinaus.  Bei  der  Beob.  110 
lief,  wie  gesagt,  auch  die  Sehstöi'ung  nicht  gänzlich  ab, 


—     421     — 

Zu  erwähnen  bleibt  noch,  dass  der  Hund  der  ßeob.  105  längere 
Zeit  eine  Motilitätsstörung  in  der  einen  Vorderpfote  und  zwar  ohne 
entsprechende  Sensibilitätsstörung  erkennen  Hess. 


ß.   Laterale  Hälfte. 

£5eot>aclitiiiijjy  IIS. 

Aufdeckung  über  der  lateralen  Hälfte  der  linken  Sehsphäre  auf  sagittal 
22  mm,  frontal  12  mm.  Der  hintere  Rand  der  Lücke  bleibt  ca.  3  mm  von  der 
Lambdanaht,  ihr  lateraler  Rand  27  mm  von  der  Mittellinie  entfernt.  In  der 
Lücke  steht  eben  noch  der  obere  hintere  Winkel   der  III.  Urwindung  an.     Ex- 


Fig.  190. 

stirpation  der  freiliegenden  Rinde  ca.  ^/^  cm  tief  mit  völliger  Zerstörung  des 
hinteren  Pols  in  der  Breite  der  Lücke. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Auf  dem  linken  Auge  war  ein  nasaler 
blinder  Streifen  bis  zum  18.  Tage  nachweisbar;  an  diesem  Tage  war  es  un- 
sicher, ob  dort  noch  eine  Sehstörung  bestand;  am  20.  Tage  bestand  keine 
Sehstörung  mehr.  Rechts  war  der  Hund  bis  zum  5.  Tage  ganz  blind.  An 
diesem  Tage  fixirte  er  auf  einem  nasalen  Streifen  Fleisch,  ohne  es  aber  zu 
ergreifen.  Am  7.  und  8.  Tage  sieht  er  auf  diesem  Streifen  deutlich,  am  9.  Tage 
ist  die  Sehstörung  vornehmlich  unten  etwas  zurückgegangen.  So  bleibt  es 
bis  zum  20.  Tage.   An  diesem  Tage  nimmt  die  Sehstörung  nur  etwas  mehr  als 


^     42-2     — 

die  laterale  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  ein,  bleibt  so  bis  zum  31.  Tage,  wo  sie 
sich  auf  die  laterale  Gesichtsfeldhälfte  beschränkt.  Vom  35.  Tage  an  beginnt 
die  Sehstörung  unten  medial  abzunehmen,  zeigt  jedoch  am  42.  Tage  wieder 
eine  Verschlimmerung,  derart,  dass  der  Hund  in  einer  medialen  Grenzzone 
unsicher  reagirt.     So  bleibt  es  mit  allmählicher  Besserung  bis  zum  56.  Tage, 


Fig.  191. 


rechts 


Fig.  192. 

an  welchem  Tage  noch  das  laterale  Drittel  blind  ist.  Noch  am  72.  Tage 
(Schluss  der  Beobachtung)  ist  ein  blinder  Kreisabschnitt  im  oberen  äusseren 
Quadranten  nachweisbar.  Gegen  Licht:  Entsprechend  der  Sehstörung  gegen 
Fleisch,  vom  31.  Tage  ab  beiderseits  gleich  scheuend. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  vollständig  bis  zum  70.  Tage,  an  welchem 
sie  gegen  flache  Hand  abgeschwächt  nachweisbar  sind. 

Nasenlid refl ex  ungestört. 


—     42^     — 

GetÖdtet  nach  ca.  11  Wochen,  nachdem  eine  2.  symmetrisclie  OperatioH, 
an  der  der  Hund  zu  Grunde  ging,  ausgeführt  worden  war. 

Section:  Linke  Hemisphäre:  Häute  normal.  Die  Auflagerung  nimmt 
vornehmlich  die  U.,  ferner  den  absteigenden  Schenkel  der  I.  Urwindung  ein 
und  schneidet  mit  der  vorderen  Ecke  einen  dreieckigen  Zipfel  aus  dem  hinteren 
Theil  des  Bogens  der  HI.  Urwindung  ab.  Der  hintere  mediale  Theil  der  I.  Ur- 
windung ist  in  einer  Länge  von  sagittal  21  mm  sehr  stark  eingezogen,  sodass 
der  Oberwurm  fast  gänzlich  freiliegt.  Der  durch  die  Einziehung  entstandene 
Defect  ist  ausgefüllt  von  einer  derben,  mit  der  Falx,  aber  nicht  mit  der  Pia 
des  Gehirns  verwachsenen  Narbenmasse.  Die  Auflagerung  misst  sagittal 
27  mm,  frontal  in  der  Mitte  14  mm,  frontal  vorn  13  mm,  frontal  hinten  11,5  mm. 
Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Die  Rinde  der  IL  Urwindung  und  die 
darunterliegende  Marksubstanz  fehlen  völlig.  In  den  Defect  sind  die  benach- 
barten Rindenbezirke,  besonders  der  Bezirk  der  I.  Urwindung,  der  medialen 
Fläche  der  Hemisphäre  und  der  Sulcus  calloso-marginalis  hineingezogen  und 
in  ihrer  Configuration  völlig  verzogen.  Diese  Rindenpartien  sind  deutlich 
abgeblasst,  theilweise  dicht  an  der  Narbe  kaum  vom  Markweiss  zu  unter- 
scheiden. Von  der  Narbenkappe  geht  zwischen  den  in  den  Defect  hinein- 
gezogenen Nachbargebieten  hindurch  ein  feiner  röthlicher  Erweichungsstroifen 
bis  zur  Wand  des  Ventrikels. 

Die  colossale  Zerstörung  hatte  die  laterale  Hälfte  der  Sehsphäre 
sicherlich  gänzlich  ausgeschaltet.  Der  Hund  hätte  also  auf  dem  nasalen 
Streifen  seines  linken  Gesichtsfeldes  und  ebenso  auf  dem  medialsten, 
der  linken  Hemisphäre  entsprechenden  Streifen  des  rechten  Gesichts- 
feldes dauernd  rindenblind  sein  sollen.  Von  allem  war  das  Gegentheil 
der  Fall.  Zwar  liess  er  auf  dem  linken  Auge  anfänglich  den  gewöhn- 
lichen nasalen  Ausfall  deutlich  erkennen.  Dieser  war  aber  bereits  am 
20.  Tage  gänzlich  verschwunden.  Ebenso  verhielt  sich  die  Sehstörung 
des  rechten  Auges  ganz  analog  den  bei  anders  localisirten  Läsionen  zu 
beobachtenden  Sehstörungen.  Schliesslich  war  nicht  jener  medialste 
Streifen,  sondern  ein  lateralster  oberer  Kreisabschnitt  „rindenblind". 

Beobaclituug:  113. 

Derselbe  Hund  von  Beobachtung  110  (vergi.  dort  die  Figuren).  Auf- 
deckung der  ganzen  lateralen  Hälfte  der  Sehsphäre  rechts  auf  sagittal  24  mm, 
frontal  12  ^/^  mm,  genau  rechteckig.  Medialer  Rand  vorn  15  mm,  hinten  16  mm 
von  der  Mittellinie,  hinterer  Rand  einige  Millimeter  von  derLambdanaht  entfernt. 
Soweit  zu  beurtheilen,  liegt  eine  Ecke  von  der  III.  Urwindung  und  die  IL  Ur- 
windung noch  bis  einige  Millimeter  medial  von  dem  Sulcus,  der  sie  hälftet, 
frei.  Die  freiliegende  Rinde  wird  ca.  3  mm  tief  umschnitten  und  flach  mit 
dem  Präparatenheber  abgetragen,  wobei  auch  der  gerade  noch  unter  dem 
hinteren  Knochenrande  liegende  Pol  der  Hemisphäre  möglichst  gründlich  zer- 
stört wird. 


=-     424     — 

Motilitätsstörungen;  Hängt  bis  zum  5.  Tage,  abnehmend,  links  ge- 
streckter als  rechts;  beim  Begreifen  links  reactionslos,  vom  6.  Tage  an  nicht 
mehr.  Während  der  gleichen  Periode  dreht  der  Hund  viel  nach  rechts,  ohne 
in  seinen  Bewegungen  nach  links  behindert  zu  sein.  53.  Tag:  Der  Hund  war 
mehrmals  vom  Stuhl,  auf  den  er  immerfort  hinaufsprang,  heruntergeworfen 
worden;  bekommt  plötzlich  einen  doppelseitigen  Facialiskrarapf.  54.  Tag:  Die 
Krämpfe  haben  sich  oft  wiederholt.    An  diesem  Tage  besonders  rechtsseitige 


Fig.  193. 

Facialiskrämpfe  mit  ßetheiligung  der  Kau-,  Nacken-,  Hals-  und  Schlund- 
musculatur.  Speicheln.  1,5  Chloral  per  Klysma.  56.  Tag:  Anhalten  der 
Krämpfe.  Einmal  ein  allgemeiner  epileptischer  Krampfanfall;  hinterher  eigen- 
thümlich  verwirrt,  ängstlich  verstörter  Gesichtsausdruck;  halluzinirt  offenbar: 
sucht  bei  der  klinischen  Demonstration  die  Wände  hinaufzulaufen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch :  Rechts:  Die  alte  Sehstörung  besteht  im 
oberen  äusseren  Quadranten  bis  zum  24.  Tage  so  gut  wie  unverändert  fort, 
um  am  27.  Tage  undeutliche  Grenzen  zu  bekommen  und  bis  zum  36.  Tage 
gänzlich  zu  verschwinden.  Die  von  der  neuen  Operation  herrührende  Seh- 
störung dauert  bis  zum  8.  Tage;  sie  erscheint  bis  zu  diesem  Tage  in  Gestalt 
eines  oberhalb  ■  des  Aequators  ziemlich  breiten,  unterhalb  sich  zuspitzenden 
medialen  Streifens;  an  diesem  Tage  ist  nur  noch  ein  einfacher  medialer 
Streifen  nachweisbar.  Links:  Auf  dem  Boden  findet  er  am  2.  Tage  Fleisch 
nur,  wenn  es  rechts  seitlich  von  ihm  liegt.  In  der  Schwebe:  Am  2. Tage  nimmt 
die  Sehstörung  das  ganze  Gesichtsfeld  ein,  doch  ist  medial  unten  die  Blind- 
heit nicht  total,  Hund  schnuppert  hier  sofort,  projicirt  auch  richtig.  Am 
3.  Tage  hat  sich  die  vorbezeichnete  untere  nasale  Stelle  vielleicht  noch  etwas 
vergrössert,  doch  besteht  auch  da  immer  noch  eine  Sehstörung.  Am  4.  Tage 
schmaler  nasaler  sehender  Streifen,  am  5.  Tage  hat  sich  die  Sehstörung  bereits 
erheblich  aufgehellt,    völlig  sehend  erscheint   aber  nur   ein  schmaler  nasaler, 


—     425     — 

sich  unterhalb  des  Aequators  fast  bis  zum  Meridian  verbreiternder  Streifen. 
Am  6.  Tage  scheint  nur  noch  ein  breiter  lateraler  Streifen  blind,  an  diesen 
schliesst  sich  eine  unsichere,  medial  bis  über  den  Meridian  hinausreichende 
Zone.  Am  8.  Tage  nur  noch  ein  breiter  lateraler  Streifen;  vom  9. — 15.  Tage 
besteht  keine  Blindheit  mehr,  doch  reagirt  er  über  der  ganzen  lateralen  Partie 
weniger  prompt  und  vielfach  unsicher  tastend  und  ungenau  localisirend. 
Dieser  Zustand  verblasst  allmählich,  sodass  er  am  17.  Tage  gänzlich  ver- 
schwunden ist.  Von  da  an  bis  zum  Eintritt  der  Krämpfe  keine  Sehstörung 
mehr.  53.  Tag:  Der  Hund,  der  während  der  Untersuchung  der  anderen  noch 
ganz  munter  ist,  wird  plötzlich  scheu  und  sieht  links  am  Auge  vorbei- 
geworfenes Fleisch  nicht  (war  mehrmals  vom  Stuhl,  auf  den  er  immerfort 
hinaufsprang,  heruntergeworfen  worden).  Bei  der  Untersuchung  ergiebt  sich 
links  eine  Sehstörung,  die  die  ganze  obere  Gesichtsfeldhälfle  einnimmt  und 
unten  einen  schmalen  lateralen  Streifen.  Während  der  Untersuciiung  in  der 
Schwebe  tritt  plötzlich  ein  doppelseitiger  Facialiskrampf  auf.  Gegen  Licht: 
Entspricht  bis  zum  10.  Tage  der  Sehstörung  gegen  Fleisch;  von  diesem  Tage 
an  scheut  der  Hund  schon  weit  aussen. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  am  2.  Tage  beiderseits,  dann  nur  links  bis 
zum  14.  Tage,  wo  sie  gegen  flache  Hand  vorhanden  sind;  vom  17.  Tage  an 
sind  sie  auch  gegen  schmale  Hand  nachweisbar. 

Nasenliilreflex:  Fehlt  gänzlicli  am  2.  Tage  und  ist  dann  noch  einige 
Tage  abgeschwächt. 

Gestorben  nach  ca.  8  Wochen. 

Sectio n:  Pia  beider  Hemisphären  sehr  blutreich.  Die  Auflagerung 
nimmt  die  lateralen  zwei  Drittel  dos  Occipitallappens  ein.  Sie  misst  sagittal 
24  mm,  frontal-vorn  13,5  mm,  frontal-hinten  9,5  mm.  Mit  ihrem  medialen 
Rande  reicht  sie  bis  in  den  lateralen  Rand  der  I.  Urwindung  hinein  und  bleibt 
von  der  Medianlinie  vorn  11,5  mm,  nicht  ganz  hinten  10  mm  entfernt.  Durch- 
schnitt durch  die  Mitte  der  Narbe:  Rinde  und  Mark  fehlen  fast  im  ganzen 
Gebiete  der  Auflagerung  überhaupt,  fast  im  ganzen  dorsalen  Gebiete  fehlt  das 
Mark  gänzlich  und  ist  durch  einen  bräunlichen  gallertigen  Herd  ersetzt.  Nur 
innerhalb  der  lateralen  Grenze  der  Auflagerung  ist  ein  schmaler  und  innerhalb 
der  1.  Urwindung  ein  etwas  breiterer  Markzug  erhalten. 

Eiji  Durchschnitt  durch  das  Orbiculariscentrum  zeigt  keine  makros- 
kopischen Anomalien. 

Durch  die  vorangegangene  linksseitige  Operation  hätte  dauernde 
Rindenblindheit  des  nasalen  Streifens  des  linken  Gesichtsfeldes  und 
durch  die  darauffolgende  rechtsseitige  Operation  dauernde  Rinden- 
blindheit des  anschliessenden  medialen  Streifens  gesetzt  werden  sollen, 
sodass  der  Hund  nunmehr  auf  der  ganzen  medialen  Hälfte  seines 
linken  Gesichtsfeldes  dauernd  rindenblind  hätte  sein  müssen;  ausser- 
dem rausste  er  noch  auf  dem  nasalen  Streifen  seines  rechten  Gesichts- 
feldes dauernd  rindenblind  sein. 

Thatsächlich    traf    aber   nichts    dergleichen    zu,    ausser    dass    der 


—     426     -" 

gleichseitige  mediale  Streifen  wie  gewöhnlich  vorübergehend,  nicht 
dauernd  blind  war.  Schon  am  2.  Tage  sah  der  Hund  auf  dem  linken 
Auge  medial  etwas  und  die  Sehstörung  hellte  sich  alsdann  in  der  ge- 
wöhnlichen Weise  von  innen  nach  aussen  auf,  sodass  wieder  der  obere 
äussere  Quadrant  noch  zuletzt  geschädigt  blieb. 

Beobaclitviiijs'  114. 

Derselbe  Hund  von  Beobachtung  111  (vevgl.  dort  die  Figuren).  Auf- 
deckung rechts  hinten  lateral  auf  22  mm  sagittal,  16  mm  frontal.  Der  hintere 
Rand  bleibt  ca.  3  —  4  mm  von  der  Lambdanaht,  der  mediale  vorn  15  mm, 
hinten  16  mm  von  der  Mittellinie  entfernt.  Die  freiliegende  Rinde  (lateraler 
Rand  des  medialen  Schenkels,  sowie  lateraler  Schenkel  der  II.  Urwindung 
und  Winkel  der  III.  Urwindung)  wird  flach  ca.  3  mm  tief  abgetragen  mit  mög- 
lichst ausgiebiger  Zerstörung  des  hinteren  Pols. 

Motilitätsstörungen   fehlen. 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch:  Rechts:  In  Gestalt  einer  nasalen  Hemi- 
anopsie bis  zum    20.  Tage,   jedoch  so,    dass  diese   bereits    am  5.  Tage  ver- 


Fig.  194. 

schwunden  schien,  während  vom  6.- -12.  Tage  der  obere  Theil  des  nasalen 
Streifens  unsicher  appercipirte  und  dieser  dann  vom  13. — 20.  Tage  wieder  in 
seiner  ganzen  Ausdehnung  nachweisbar  war.  Links:  Vom  2.-4.  Tage  blind 
bis  auf  schmalen  nasalen  Streifen,  der  oben  noch  unsicher  ist,  vom  5. --8.  Tage 
sehende  Partie  nach  unten  lateral  verbreitert.  Vom  9. — 12.  Tage:  Die  me- 
dialste  Partie  oberhalb  des  Aequators  ist  immer  noch  nicht  ganz  frei,  der 
Hund  greift  hier  nicht  immer  und  wenig  prompt  zu.  Am  10.  Tage  schnappt 
er  über  den  Partien,  über  denen  er  auf  Fleisch  reagirt,  auch  stets  mehrmals 
nach  Watte,  dann  beachtet  er  sie  nicht  mehr.  Am  13.  Tage  ist  die  Sehstörung 
zurückgegangen;  medialer  Streifen    oberhalb    des    Aequators   noch    unsicher. 


—     427     — 

Unterer  medialer  Quadrant  frei  bis  über  den  verticalen  Meridian  hinaus,  sodass 
jetzt  die  früher  blinde  Stelle  des  deutlichen  Sehens  functionstüchtig  ist.  Vom 
15.— 21.  Tage:  Medialer  sehender  Streifen  oberhalb  des  Aequators  noch 
schmal,  aber  ganz  frei.  Unterhalb  reicht  die  sehende  Partie  bis  weit  lateral, 
doch  bleibt  immer  noch  ein  blinder  lateraler  Streifen.  Vom  21. — 25.  Tage  ist 
die  Sehstörung  nur  noch  oberhalb  des  Aequators  nachzuweisen,  während  unter- 
halb nur  noch  ein  lateraler  Streifen  unsicher  ist.  Vom  27. — 38.  Tage  ist 
daselbst  noch  ein  grösserer  Sector  blind,  in  dessen  Areal  noch  bis  zum  Schluss 
der  Beobachtung  Unsicherheit  besteht.  Gegen  Licht:  Entsprechend  der  Seh- 
störung gegen  Fleisch;  auf  den  gegen  Fleisch  reagirenden  Theilen  stark 
scheuend. 

Optische  Pveflexe:  Fehlen  links  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung 
gänzlich,  auf  dem  rechten  Auge  sind  sie  von  der  I.  Operation  her  auch  zu 
dieser  Zeit  noch  abgeschwächt. 

Nasenlidreflex  nur  am  2.  Tage  abgeschwächt. 

Getödtet  nach  ca.  9  Wochen. 

Section:  Häute  normal.  Die  Auflagerung  sitztauf  dem  absteigenden 
Schenkel  der  I.  und  IL  Urwindung  und  greift  lateral  noch  etwas  auf  die 
III.  Urwindung  über.  Sie  misst  sagittal  und  frontal  je  14  mm,  reicht  hinten 
bis  zum  hinteren  Pol  und  bleibt  von  der  Mittellinie  vorn  22  mm,  in  der  Mitte 
15  mm  entfernt.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Bei  der  Anlegung 
des  Querschnittes  ist  die  sehr  derbe  Auflagerung  mit  der  darunter  befindlichen 
Narbe  herausgebrochen.  Dabei  zeigt  sich,  dass  die  Narbe  bis  an  die  Wand 
des  ausserordentlich  stark  erweiterten  Seitenventrikels  gereicht  hat.  Ausser- 
dem steigt  noch  ein  schmaler  Erweichungsspalt  von  der  lateralen  Basis  der 
Narbe  im  Gebiete  der  IlL  Urwindung  nach  der  lateralen  Wand  des  Seiten- 
ventrikels. 

Bei  der  ersten  Operation  war  das  laterale  Drittel  der  linken  Seh- 
sphäre entfernt  worden;  dauernde  Rindenblindheit  des  nasalen  Abschnittes 
des  linken  Gesichtsfeldes  hätte  die  Folge  sein  sollen.  Bei  der  zweiten 
Operation  war  die  laterale  Hälfte  der  rechten  Sehsphäre  entfernt  worden; 
abgesehen  von  der  Schädigung  des  rechten  Auges  hätte  nunmehr  auch 
der  mittlere  Streifen  des  linken  Gesichtsfeldes  dauernd  rindenblind  sein 
sollen,  sodass  aus  der  Summe  der  Folgen  der  beiden  Operationen  eine 
linksseitige,  dauernde  nasale  Hemianopsie  resulliren  musste.  Anstatt 
dessen  trat  gerade  umgekehrt  die  bei  den  meisten  Operationen  inner- 
halb der  Sehsphäre  zu  beobachtende  typisch  ablaufende  temporale 
Hemianopsie  ein. 

Keobaclituiig-  US. 

Aufdeckung  beiderseits  zur  Freilegung  der  lateralen  Hälften  beider  Seh- 
sphären auf  links  sagittal  22  mm,  frontal  16  mm,  rechts  sagittal  21,5  mm, 
frontal  15,5  mm.  Die  Knochenlücken  bleiben  mit  ihren  hinteren  Rändern  bei- 
derseits mehrere  Millimeter  von  der  Lambdanaht  und  mit  ihren  lateralen  Ivän- 


—     428     — 

dern  beiderseits  vorn  27  mm,  hinten  28  mm  von  der  Mittellinie  entfernt.  Soviel 
zu  erkennen,  steht  beiderseits  die  laterale  Hälfte  des  medialen  Schenkels  und 
der  ganze  laterale  Schenkel  der  IL  Urwindung  und  der  Winkel  der  III.  Urwin- 
dung  an.    Exstirpation  ca.  3—4  mm  tief. 


Fig.  195. 


Fig.  196. 

[    Motilitätsstörungen  fehlen. 

Seh  Störung:  Bis  zum  14.  Tage  bewegt  sich  der  Hund  spontan  nicht, 
wird  er  zum  Laufen  gezwungen,  so  stösst  er  mit  beiden  Seiten  überall  an. 
Dann  beginnt  er  allmählich  immer  sicherer,  aber  stets  vorsichtig,  den  Kopf 
weit  vorgestreckt,  spontan  zu  laufen.  Gegen  Fleiscii:  Am  2.  Tage  nimmt  er 
Fleisch  nur,  wenn  man  es  an  die  Nase  stösst.  Am  3.  und  4.  Tage  rechts  ganz 
blind,  links  am  3.  Tage  medial  ganz  unten  scheinbar  ein  sehender  Fleck,    der 


429 


sicli  am  4.  Tage  auch  deutlich  gegen  Papier  und  Watte  nachweisen  lässt.  Vom 
5.-8.  Tage  in  der  Schwebe  unverändert,  nur  ist  links  der  mediale  sehende 
Fleck  weniger  sicher  nachzuweisen.  Wenn  auf  dem  Boden  oder  auf  dem  Tiscli 
am  7.  Tage  lange  Streifen  Pferdefleisch  vor  seinen  Augen  hin  und  her  bewegt 
werden,  so  merkt  er  weder  auf,  noch  folgt  er  je  mit  den  Augen.  Am  9.  Tage 
nimmt  er  kein  Fleisch  aus  der  Hand,  zerbeisst  aber  auf  dem  Boden  aufgelesene 
Knochen,  die  er  fallen  hört.  Scheut  links  unten  vor  einem  Glasgefäss  mit 
Wasser,  sodass  er  nicht  daraus  trinkt,    leckt  aber  eine  Lache   auf  dem  Boden 


Fia-.  197. 


links 


rechts 


Piff.  198. 


befindliches  Wasser  gierig.  Am  10.  und  IL  Tage  sieht  er  rechts  undeutlich 
medial  ganz  unten,  links  medial  unten  auf  schmalem  Streifen.  12.  und  13. 
Tag:   Rechts  nimmt  die  sehende  Stelle  nicht  ganz  den  unteren  medialen  Qua- 


—     430     — 

dranten  ein,  reicht  nach  lateral  bis  zum  verticalen  Meridian,  nach  oben  nicht 
ganz  bis  zum  Aeqnator.  Links  medial  und  unten  ganz  peripher  liegender 
schmaler  sehender  Streifen.  Vom  15.— 31.  Tage  rechts  unverändert,  links  hat 
sich  der  medial  unten  befindliche  Streifen  verbreitert.  Vom  32. — 37.  Tage 
links  noch  etwas  weiter  aufgehellt,  sodass  jetzt  beide  Gesichtsfelder  etwa  ein 
gleiches  Bild  bieten.  Vom  38. — 98.  Tage  (Schluss  der  Beob.)  rechts  unver- 
ändert, links  von  medial  her,  nicht  genau  abgrenzbar  aufgehellt.  Stelle  des 
deutlichen  Sehens  noch  beiderseits  blind.  98.  Tag:  Hund  orientirt  sich  gut 
im  Raum,  läuft  allein  vom  Stall  ins  Laboratorium,  stösst  an  seitliche  Hinder- 
nisse nicht  an,  wohl  aber  an  solche,  die  in  die  obere  Gesichtsfeldhälfte  fallen, 
z.  B.  an  einen  horizontalen  Gitterstab,  der  sich  50  cm  über  der  Erde  befindet. 
Auf  der  Erde  liegendes  Fleisch  findet  er  nur,  wenn  es  beim  eifrigen  Hin-  und 
Herschnuppern  unmittelbar  vor  seine  Nase  zu  liegen  kommt,  wahrscheinlich 
im  Wesentlichen  nur  mit  Hülfe  des  Geruchs.  Watte  ignorirt  er.  Gegen  Licht: 
Im  Allgemeinen  wie  gegen  Fleisch. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  im  Allgemeinen  beiderseits,  sind  jedoch 
manchmal  hervorzurufen,  wenn  man  die  Hand  von  unten  innen  her  auf  den 
sehenden  Theil  des  Auges  zuführt. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  am  98.  Tage. 

Section:  Häute  normal.  Links:  Die  Auflagerung  misst  sagittal  25  mm, 
frontal  16  mm.  Sie  sitzt  der  I.  und  IL  ürwindung  auf  und  schneidet  gerade 
noch  ein  dreieckiges  Stück  von  der  III.  Ürwindung  ab.  Mit  ihrer  vorderen 
medialen  Ecke  bleibt  sie  11,5  mm  von  der  Medianspalte  entfernt,  während  der 
hintere  Rand  dem  sehr  stark  eingezogenen  hinteren  Pol  anliegt.  Rechts:  Die 
Auflagerung  misst  sagittal  20  mm,  frontal  15,5  mm.  Sie  reicht  medial  an- 
nähernd bis  an  den  Sulcus  lateralis  (9  mm  von  der  Medianspalte),  nach  vorn 
schneidet  sie  gerade  noch  ein  dreieckiges  Stück  von  der  III.  Ürwindung  ab. 
Vorderer  Rand  links,  eine  Senkrechte:  Falx  —  vorderer  Rand  der  Auflagerung 
schneidet  noch  ein  Stück  des  hinteren  Bogens  der  IV.  ürwindung  ab.  Rechts 
fällt  die  Linie  um  ein  Geringes  weiter  nach  hinten.  Durchschnitt  beiderseits 
annähernd  durch  die  Mitte  der  Auflagerungen.  Links:  Die  gesammte  dorsale 
Partie  zwischen  Auflagerung  und  Ventrikel,  welcher  ausserordentlich  stark 
erweitert  nach  oben  gezogen  und  in  seiner  ependymären  Spitze  bräunlich  ver- 
färbt ist,  ist  in  eine  derbe  Narbenmasse  verwandelt.  Rechts:  Das  Bild  ist 
genau  dasselbe,  nur  dass  der  Ventrikel  nicht  ganz  so  stark  erweitert  ist  (der 
Schnitt  liegt  um  ein  Geringes  weiter  nach  hinten)  und  dass  entsprechend  der 
besser  conservirten  I.  ürwindung  etwas  von  dem  medialen  Markweiss,  das 
links  ganz  zu  Grunde  gegangen  ist,  übrig  geblieben  ist. 

Da  beiderseits  mindestens  die  ganze  laterale  Hälfte  der  Sehsphäre 
total  zerstört,  während  die  mediale  Hälfte,  wenn  auch  nur  theilweise 
erhalten  geblieben  war,  so  hätte  unter  allen  Umständen  mindestens 
dauernde  bilaterale  mediale  Rindenblindheit  die  Folge  sein  soUen;  da- 
gegen   durfte  ein  mehr  oder    minder    breiter    lateraler  Streifen    sehend 


431 


bleiben.  Thatsächlich  waren  beide  Augen  fast  ganz  biind  geworden, 
aber  statt  eines  lateralen  Streifens  war  beiderseits  ein  unterer  media- 
ler Abschnitt  erhalten  geblieben. 

Zu  bemerken  ist  in  diesem  Falle   noch  die  ausserordentlich  starke 
Schrumpfung  vornehmlich  des  hinteren  Theiles  der  linken  I.  Urwindnng. 

Tabelle   Vlc. 
L  a  t  e  r  a  1  e    H  ä  1  f  t  e. 


m 


112 


Art  der 
Operation 


Exstirpa- 

tion  ca.  ^/^ 

cm    tief. 


113 


114 


Exstirpa- 

tion   ca.   3 

mm  tief. 


Ort  der  Operation 
(Scction) 


Sehstörung 


gegen  Fleisch 


gegen 
Licht 


Optische 
Reflexe 


Nasen- 

lid- 

reflex 


Bemer- 
kungen 


Links :  LateraleHälfte; 
sagittal  27  mm,  fron- 
tal 11.5 — 14  mm 


Exstirpa- 

tion   ca.   3 

mm  tief. 


115 


Exstirpa- 

tion   ca.   S 

bis  4  mm 

tief. 


Rechts:  Laterale  zwei 
Drittel  d. Sehsphäre; 
sagittal  24  mm,  fron- 
tal 9,5 — 13,5  mm. 
Mit  dem  medialen 
Rand  vorn  11,5  mm 
nicht  ganz  hinten 
10  mm  entfernt. 


Rechts :    Laterale 
Hälfte  derSehsphäre; 
sagittal  14  mm,  fron- 
tal 14  mm. 


Beiderseits  laterale 
Hälfte  der  Sehsphäre ; 
Links:  sagittal  25 
mm,  frontal  16  mm; 
rechts:  sagittal  20 
mm,  frontal  15,5  mm. 


Links:  Dauer  19 Tage. 
Rechts:  Typische 
Hemianopsie,  typisch 
verschwindend;  an- 
fänglich auch  der 
mediale  Streifen 
blind.  Am  70.  Tage 
noch  lateraler  Fleck 
blind. 

Rechts:  Nasaleroben 
breiterer  Streifen  bis 
zum  7.  Tage.'  Am 
8.  Tage  Streifen  von 
gleicher  Breite. 

Links :  Anfänglich 
mit  Ausnahme  der 
unteren  nasalen  Ecke 
blind,  dann  typisch 
hemianopisch ,  ty 
pisch  zurückgehend. 
Dauer  ]  6  Tage 

Rechts :  Dauer  20  Tage 
bei  wechselnder  In- 
tensität, 
Links :    Temporale 

Hemianopsie,  typisch 
ablaufend  und  von 
sehr  langer  Dauer. 


Anfänglich  total,  dann 
hellt  sich  beiderseits 
ein  unterer  innerer 
Sector  auf.  Keine 
weitere  Besserung. 


Wie  gegen 

Fleisch. 

Dauer 

30  Tage 


Wie  gegen 
Fleisch  bis 

zum  10 
Tage,  dann 

fehlend. 


Fehlen  bis 
70.  Tage, 
dann  abge 
schwächt. 


Wie  gegen 

Fleisch ; 

auf  den 

gegen 

Fleisch  re- 

agir  enden 

Theilen 

stark 

scheuend. 

Im  Allge- 
meinen wie 
gegen 
Fleisch. 


Fehlen  bis 

zum  14. 
Tage,  dann 
bisincl.  16 
Tag   abge- 
schwächt. 


Unge- 
stört. 


Anfäng- 
lich ge- 
stört. 


Fehlen 
dauernd. 


Fehlen  so 

gut  wie 

ganz. 


Nur  am 

2.  Tage 

abge  - 

schwächt. 


Unge- 
stört. 


Schrum- 
pfung des 
hinteren 
Abschnit- 
tes des 
Seh Sphä- 
renrestes. 


Unsichere 
Grenzzone. 
Krämpfe. 
Wieder- 
auftreten 
der  Seh- 
störung. 


Am  2.  und 
13.  Tage 
Andjlyopie 
des  oberen 
Abschnit- 
tes des  me- 
dialen 
Streifens 
links. 

Hochgra- 
dige 
Schrum- 
pfung des 
hinteren 
Pols  links. 


—     432     — 

Zusammenfassung. 

].  Sehstörungen  (aa.  Reaction  gegen  Fleisch):  Bei  den 
Beobb.  112 — 115  war  regelmässig  die  laterale  Hälfte  oder  mehr  der 
Sehspbäre  ausgeschaltet  worden,  nachdem  bei  3  von  diesen  Operationen 
vorher  oder  gleichzeitig  mindestens  das  laterale  Drittel  der  anderen 
Hemisphäre  in  gleicher  Weise  geschädigt  worden  war. 

Der  Hund  der  4.  Beobachtung  (112)  ging  bei  einer  symmetrischen 
Operation  zu  Grunde.  Bei-  diesem  Hunde  hätte  also  nach  der  Lehre 
Munk"s  das  linke  gleichseitige  Auge  den  gewöhnlichen  nasalen  rinden- 
blinden Streifen,  das  gegenseitige  rechte  Auge  aber  luir  einen  die  late- 
rale Hälfte  des  medialen  Abschnittes  des  Gesichtsfeldes  einnehmenden  Strei- 
fen zeigen  dürfen.  Nun  deckte  die  Section  eine  überaus  starke  Retraction 
von  mehr  als  der  hinteren  Hälfte  des  medialen  Restes  der  Sehsphäre  auf. 
Unzweifelhaft  war  diese  dadurch  verschuldet,  dass  die  zu  ihr  verlaufen- 
den Antheile  der  Sehstrahlung  durch  die  Folgen  der  Ojjeration  ver- 
ni.chtet  waren.  Rindenblind  hätten  also  sein  müssen,  wenn  man  dies 
zugiebt,  auf  dem  linken  Auge  der  nasale  Streifen,  auf  dem  rechten 
Auge  der  vorbezeichnete  mittlere  Streifen,  die  Stelle  des  deutlichen 
Sehens  ganz  oder  zum  grössten  Theil  und  die  obere  Hälfte  des  Gesichts- 
feldes ganz  oder  zum  grössten  Theil;  dagegen  musste  die  untere  laterale 
Partie  des  Gesichtsfeldes  erhalten  sein.  Thatsächlich  war  die  Sehstö- 
rung auf  dem  linken  Auge  ungeachtet  dieser  colossalen  Zerstörung 
bereits  am  20.  Tage  wieder  gänzlich  verschwunden,  während  am  31.  Tage 
die  ganze  mediale  Hälfte  des  rechteu  Gesichtsfeldes  incl.  jenes  mittleren 
Streifens  wieder  functionirte.  Nur  insofern  deckt  sich  das  Resultat 
dieser  Beobachtungen  mit  deji  Postulaten  Munk's  als  ein  oberer  late- 
raler Kreisabschnitt,  wie  eben  auch  bei  anders  localisirten  Läsionen  bis 
zuletzt  blind  blieb.  Bemerkenswerth  ist  noch,  dass  dieser  Hund  bis 
zum  7.  Tage  auch  auf  dem  medialen  Streifen  des  rechten  Auges  eine 
Sehstörung  erkennen  Hess. 

Fassen  wir  die  Resultate  der  beiden  Beobb.  113  und  114  zusam- 
men, so  ergiebt  sich,  dass  ungeachtet  der  immensen,  bei  ihnen  an- 
gerichteten Zerstörungen  der  nasale  Streifen  des  gleichseitigen  Auges 
bei  der  ersteren  bereits  am  11.  und  bei  der  letzteren  definitiv  vom 
21.  Tage  an  wieder  functionirte.  Die  Sehstörung  des  gegenüberliegen- 
den linken  Auges  aber,  welche  wie  gesagt  in  einer  nasalen  Hemianopsie 
hätte  bestehen  sollen,  stellte  sich  thatsächlich  gerade  umgekehrt  heraus, 
sodass  beide  Male  zuerst  die  untere  nasale  Partie  frei  wurde  und  sich 
die  Sehstörung  alsdann  nach  dem  Typus  der  temporalen  Hemianopsie 
zurückbildete.  Rindenblind  war  ungeachtet  der  Ausschaltung  etwa  der 
Hälfte    beider    Sehsphären    kein    Theil    der  Gesichtsfelder,    wenn  auch 


—     433     — 

Beob.  114  im  oberen  lateralen  Quadranten  bis  zum  Schluss  der  Beob- 
achtung Unsicherheit  erkennen  Hess.  Hervorzuheben  ist  noch,  dass  die 
Sehstörung  der  Beob.  113  Infolge  von  Krampfanfällen  wieder  activ  wurde. 

Von  besonderem  Interesse  ist  die  Beob.  115.  Zunächst  zeigte  die 
linke  Hemisphäre  infolge  der  Schrumpfung  vornehmlich  des  hinteren 
Abschnittes  des  stehengebliebenen  Sehsphärenrestes  ein  ganz  ähnliches 
Bild  wie  die  linke  Hemisphäre  der  Beob.  112.  Sodann  kam  es  bei 
diesem  Hunde  wirklich  zur  Rindenblindheit  fast  des  ganzen  Gesichts- 
feldes beiderseits.  Functionsfähig  wurden  nur  die  untersten  und  nasal- 
sten Theile  beider  Gesichtsfelder.  Aber  gerade  diese  hätten  nach  dem 
Schema  Munk's  nebst  dem  Reste  der  nasalen  Hälfte  beider  Gesichts- 
felder rindenblind  sein  sollen,  während  die  temporalen  Hälften,  welche 
mindestens  zum  Theil  hätten  functionsfähig  bleiben  dürfen,  noch  am 
98.  Tage  blind  waren,  sodass  an  eine  fernere  Besserung  nicht  mehr  zu 
denken  war.  Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  war  beiderseits  nicht 
wieder  functionsfähig  geworden.  Mit  den  wieder  sehend  gewordenen 
kleinen  nasalen  Partien  konnte  der  Hund  Gegenstände  zwar  sehen,  aber 
nicht  deutlich  erkennen.  Wenn  auch  nicht  mit  mathematischer  Sicher- 
heit bewiesen,  so  halte  ich  es  doch  für  ganz  unzweifelhaft,  dass  der 
Hund  auf  diesen  Theilen  seines  Gesichtsfeldes  nur  einen  Theil  der  ihnen 
zukommenden  Sehschärfe  wieder  erlangt  hatte. 

bb.  Die  Sehstörung  gegen  Licht  verhielt  sich  im  Allgemeinen 
wie  die  gegen  Fleisch. 

2.  Die  optischen  Reflexe  fehlten  bei  der  Beob.  112  bis  zum 
70.  Tage,  zu  einer  Zeit  als  noch  ein  lateraler  oberer  Kreisabschnitt 
blind  war,  dann  waren  sie  abgeschwächt  vorhanden;  bei  der  Beob.  113 
fehlten  sie  13  Tage  gänzlich  und  waren  dann  anfänglich  gegen  flache, 
dann  auch  gegen  schmale  Hand  vorhanden,  während  die  Sehstöruug 
etwa  um  die  gleiche  Zeit  verschwand.  Bei  den  ßeobb.  114  und  115 
fehlten  sie  bis  zum  Schluss  der  Beobachtungen  gänzlich,  nur  dass  bei 
der  letzteren  in  der  späteren  Periode  manchmal  bei  der  Reizung  des 
sehenden  Abschnittes  eine  Reaction  hervorzurufen  war. 

3.  Der  Nasenlidreflex  war  bei  den  Beobb.  112  und  115  un- 
gestört, während  er  bei  den  Beobb.  113  und  114  eine  schnell  vorüber- 
gehende Störung  erkennen  Hess. 

4.  Sehen  wir  auch  von  den  Beobb.  101—104  ab,  die  für  sich  allein 
zu  einem  bestimmten  Schlüsse  nicht  ausreichen  würden,  so  lässt  sich 
doch  auf  Grund  des  gesammten  hier  angeführten  Materials  die  gestellte 
Frage  mit  aller  wünschenswerthen  Sicherheit  dahin  beantworten,  dass 
das  laterale  Drittel  der  Sehsphäre  keineswegs  ausschliess- 
lich   zur    Innervation    der    gleichseitigen  Retina    dient,    dass 

Hitzig,  Gesammelte  AbhaiuU-     II.  Theil.  28 


434 


diese  auch  von  anderen  Theilen  der  Sehspliäre  innervirt 
wird  und  dass  auch  der  ihm  anliegende  Abschnitt  der  Seh- 
sphäre nicht  als  Projectionsfeld  für  den  medialen  Abschnitt 
der  lateralen  Hälfte  der  gegenseitigen  Retina  anzusehen  ist. 
Derjenige  Theil  des  Gesichtsfeldes,  dessen  Sehkraft  immer 
entweder  von  vornherein  erhalten  ist  oder  zuerst  oder  allein 
wiederkehrt,  ist  auch  bei  Ausschaltung  der  lateralen  Ab- 
schnitte der  Sehsphäre  .sein  nasaler  unterer  Theil. 

c.  Mediale  Läsionen. 

Nach    den  Behauptungen  Munk's    sollen    durch  Ausschaltung    des 

medialen  Drittels    oder    der  medialen  Hälfte  der  Sehsphäre,    gleichviel 

wie  es  sich  mit  den  auf  S.  306,  307  erwähnten  Widersprüchen  verhalten 

mag,  der  Fig.  95c  entsprechende  Scotome  des  gegenseitigen  Auges  ent- 

links  rechts  links 


Fig.  95  c. 

stehen,  während  das  gleichseitige  Auge  nicht  geschädigt  sein  dürfte. 
Demnach  gab  die  Exstirpation  dieser  Theile,  namentlich  wenn  sie  sich 
nicht  zu  weit  lateral  erstreckte,  ein  ferneres  gutes  Mittel  für  die  Ent- 
scheidung der  im  vorstehenden  Abschnitt  aufgeworfenen  Frage  ab,  ob 
das  gleichseitige  Auge  wirklich  nur  von  der  einen  Hemisphäre  inner- 
virt werde.  Dasselbe  durfte  bei  so  localisirten  Eingriffen  entweder 
überhaupt  keine  Schädigung  erkennen  lassen  oder  diese  musste  wenig- 
stens ganz  vorübergehend  und  jedenfalls  viel  geringer  sein  als  die 
Schädigung  des  gegenüberliegenden  Auges. 

Bei  den  nachfolgenden  Untersuchungen  habe  ich  von  einer  Unter- 
scheidung zwischen  Ausschaltungen  des  medialen  Drittels  und  der  medi- 
alen Hälfte  von  vornherein  abgesehen,  denn  es  ist  mir  nach  den  Ergeb- 
nissen der  vorgetragenen  Experimente  gänzlich  unerfindlich,  auf  welche 
Weise  eine  solche  Unterscheidung  auch  bei  der  grössten  operativen 
Technik  practisch  durchführbar  sein  sollte. 

Oeolbaclitxiiig"  116. 

Ziemlich  grosser  Hund  von  11  kg  Gewicht.    Aufdeckung  des  Randwulstes 
links  auf  sagittal  27  irnn,  frontal  8  mm.    Derselbe  wird  ca.  1  cm  tief  mit  dem 


—     435     — 

Messer    uiuschnittcn    und  mit  dem  Präparate nli eher   bis  an  die  Falx  und   das 
Tentorium  herausffeliohen. 


Fla-.  199. 


Fis-.  200. 


links 


rechts 


Fig.  201. 

Wundheilung:  Bis  zum  5.  Tage  normal,  an  diesem  Tage  hat  sich  der 
Hund  den  Verband  abgerissen  und  die  Wunde  aufgekratzt,  sodass  eine  ver- 
eiternde Phlegmone  der  weichen  Schädeldecken  entsteht,  deretwegen  der  Hund 
am  8.  Tage  getödtet  wird. 

28* 


—     436     — 

Motilitätsstörungen  felilen. 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch:  Links:  Bis  zum  4.  Tage  unverändert, 
nasaler  Streifen  blind.  Rechts:  Am  2.  Tage  deutlich  laterale  Blindheit,  oben 
breiter  als  unten,  ausserdem  über  dem  ganzen  Gesichtsfeld  bis  auf  die  medialste 
Partie  Unsicherheit.  Am  3.  Tage  oben  lateral  unsicher,  unten  anscheinend 
sehend,    am   4.  Tage  lateraler  Streifen  ainblyopisch.     Gegen  Licht:  Nur  am 

2.  Tage  mit  Ausnahme  des  medialen  Streifens  reactionslos,  dann  normal. 

Optische  Reflexe:   Links  ungestört.     Rechts  am  2.  Tage  fehlend,  am 

3.  Tage  desgleichen,  doch  knurrt  der  Hund  jedesmal,  wenn  man  ihm  mit  der 
Hand  vor  das  Auge  kommt,  wüthend.  Am  4.  Tage  gegen  flache  Hand  ange- 
deutet, gegen  schmale  Hand  fehlend. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  am  S.Tage,  nachdem  der  Hund  in  den  letzten  STagen  kränkelte. 

Section:  Knochenlücke  durch  organisirte  Auflagerungen  völlig  abge- 
schlossen. Hirnhäute  normal.  Die  sagittal 26mm,  frontal9,5mm  messende  Narbe 
sitzt  ganz  medial  lediglich  in  der  I.  ürwindung,  nur  den  Rand  der  H.  etwas 
betheiligend.  Medial  derb  mit  der  Falx  verwachsen.  Sie  reicht  hinten  bis 
zum  hinteren  Pol,  vorn  bis  zu  einer  Senkrechten  Falx  —  Spitze  der  Fossa 
Sylvii,  1.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Der  dorsale  Theil  der 
L  Ürwindung  fehlt  gänzlich.  Die  Zerstörung  nimmt  aber  noch  die  mediale 
Hälfte  der  IL  Ürwindung  ein  und  erstreckt  sich  mit  einem  breiten  bajonettför- 
migen  Ausläufer  in  deren  laterale  Hälfte  hinein.  2.  Durchschnitt  dicht  vor 
dem  vorderen  Rande  der  Narbe:  Das  Bild  ist  ungefähr  dasselbe,  nur  ist  der 
bajonettförmige  Ausläufer  breiter  und  es  findet  sich  ein  bräunlicher  Erwei- 
chungsherd dicht  an  dem  Seitenventrikel  im  Bereich  des  Gyrus  fornicatus. 

Die  Zerstörung  hatte  das  mediale  Drittel  der  Selisphäre  ausge- 
schaltet. Das  gleichseitige  Auge  hätte  also  frei  sein,  das  gegenseitige 
Gesichtsfeld  aber  in  seinem  lateralen  Abschnitt  rindenblind  sein  sollen. 
Thatsächlich  war  das  gegenseitige  Gesichtsfeld  aber  bereits  vom  3.  Tage 
an  nur  sehr  wenig  betroffen,  während  sich  auf  dem  gleichseitigen  Auge  bis 
zum  4.  Tage  (Schluss  der  Beobachtung)  der  gewöhnliche  nasale  Streifen 
beobachten  liess. 

Oeobachtving-  IIT'. 

Ziemlich  grosser  (IOY2  kg  schwerer)  Hund.  Aufdeckung  eines  medialen 
Streifens  von  sagittal  22  mm,  frontal  8  mm  links.  Der  hintere  Rand  bleibt 
nur  einige  Millimeter  von  der  Lambdanaht  entfernt;  der  mediale  Rand  liegt 
.  dicht  an  der  Medianspalte.  Umschneidung  der  freigelegten  Partie  und  Heraus- 
hebung bis  zum  Tentorium  und  der  Falx  mit  Präparatenheber. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Links:  Auf  einem  nasalen  Streifen  bis 
zum  7.  Tage,  am  8.  Tage  verschwunden;  am  5.  Tage  fraglich,  ob  die  uutere 
Hälfte  noch  amblyopisch  ist.  Rechts:  Am  2.  Tage  ca.  zwei  Drittel  lateral 
blind,  im  Schooss  sclieint  die  blinde  Partie  nicht  ganz  so  breit.    Am  3.  Tage 


—     437     — 

unterhalb  desAequators  ca.  ^4)  oberhalb  unsicher.  Am  4;  Tage  entspricht 'die 
Sehstörung  dem  äusseren  oberen  Quadranten  und  dem  halben  unteren.  Auf 
dem  Boden  findet   er  mit   dem  rechten  Auge   lateral   liegendes  Fleisch  nicht. 


Fig.  202. 


Fig.  203. 

Am  5.  Tage  ist  die  Sehstörung  oben  zurückgegangen,  so  dass  nur  noch  das 
laterale  Drittel  blind  ist.  Am  6.  und  7.  Tage  ist  nur  noch  lateral  oben  ein 
kleiner  amblyopischer  Fleck  nachzuweisen,  der  am  8.  Tage  verschwunden  ist. 
Gegen  Licht  keine  Sehstörung. 

Optische  Reflexe:  Am  2.  Tage  rechts  fehlend,  bis  zum  6.  Tage  nur 
gegen  schmale  Hand  fehlend,  dann  beiderseits  gleich. 

Nasenlidr eflex  ungestört. 

Getödtet  nach  ca.  8 Y2  Wochen,  nachdem  inzwischen  eine  2.  symmetrische 
Operation  ausgeführt  worden  war. 

Section:   Häute  normal.     Die  sagittal  18  mm,  frontal  10  mm  messende 


-—     438     -^ 

ISTarbe  sitzt  der  sehr  schmalen  I.  und  dem  medialen  Schenl^el  der  II.  ürwin- 
dung'^auf,  genau  bis  zum  Sulcus  ectolateralis  reichend.  Ihr  hinteres  mediales 
Ende  bleibt  vom  hinteren  Pol  5  mm  zurück.  Medial  ist  die  Narbe  mit  der  Falx 
verwachsen,  sodass  man  die  genaue  Ausdehnung  der  Zerstörung  nicht  sehen 
kann.  1.  Durchschnitt  am  vorderen  Rande  der  Narbe:  Die  Rinde  der  I.  Ur- 
windung  erscheint  an  der  convexen  Fläche  leicht  röthlich  verförbt;   das  Mark- 


links    ^m  f  '^^H       rechts 


Fig.  204. 

lager  dieser  Windung  ist  ersetzt  durch  einen  rothen  Erweichungsherd.  2.  Durch- 
schnitt 11  mm  weiter  nach  hinten  an  der  Grenze  des  hinteren  Drittels:  Die 
I.  Urwindung  ist  durch  derbes  Narbengewebe  ersetzt,  zwischen  dem  sich  ein 
Rest  der  Rinde  stark  narbig  verändert  noch  abhebt.  Von  der  Narbe  geht  late- 
ral basal  ein  rother  Erweichungsstreifen  bis  an  den  Fuss  der  11.  Urwindung. 
Die  Zerstörung  nahm  mit  Ausnahme  des  hinteren  Pols  reichlich 
das  mediale  Drittel  der  Sehsphäre  ein.  Das  gleichseitige  Auge  hätte 
frei  von  Sehstörung  sein  sollen;  es  zeigte  den  gewöhnlichen  nasalen 
Streifen  bis  einschliesslich  des  7.  Tages;  das  gegenseitige  Auge  zeigte, 
der  Forderung  entsprechend,  wie  gewöhnlich  eine  temporale  Sehstörung. 

Beobaclitvingf  IIS. 

Derselbe  Hund  von  Beobachtung  117  (vergl.  dort  die  Figuren).  Auf- 
deckung eines  medialen  Streifens  von  sagittal  22  mm,  frontal-hinten  7  mm, 
frontal-vorn  12  mm.  Der  mediale  Rand  liegt  dicht  an  der  Medianspalte,  der 
hintere  Rand  dicht  am  Ansatz  des  Tentoriums.  Die  schmale  Knochenspange 
zwischen  linkem  und  rechtem  Schädeldefect  bricht  dabei  durch.  Es  wird  1  cm 
tief  entlang  dem  Sulcus  zwischen  I.  und  II.  Urwindung  eine  Umschneidung 
mit  dem  Messer  vorgenommen  und  dann  der  Randwulst  nach  der  Falx  zu  mit 
dem  Präparatenheber  herausgelöffelt.  Es  bleibt  auf  diese  Weise  in  den 
vorderen  Partien  der  Lücke,  wo  diese  12  mm  breit  ist,  ein  Streifen  Rinde,  der 
der  11.  Urwindung  angehört,  lateral  stehen.   ■ 


—     439     — 

Motilitätsstörungen  fehlen.  '  ' 

Sehstörung  fehlt  gegen  Fleisch  und  Licht. 

Optische  Reflexe  ungestört. 

Nasenlid refl ex  ungestört. 

Getödtet  am  5.  Tage. 

Sectio n:  Häute  normal.  Die  17,5  mm  sagittal,  8,5  mm  frontal  messende 
Narbe  sitzt  ganz  im  Bereich  der  I.  Urwindung  und  reicht  fast  bis  an  den 
hinteren  Pol.  Die  von  der  Dura  entblösste,  nicht  exstirpirte,  lateral  vorn  von 
der  Narbe  liegende  Rindenpartie  sieht  röthlich  tingirt  aus.  An  der  medialen 
Fläche  der  Hemisphäre  ist  die  Rinde  in  der  Länge  der  Narbe  bis  fast  an  den 
Sulcus  calloso-marginalis  heran  zertrümmert  und  blutig  durchsetzt.  1.  Durch- 
schnitt am  vorderen  Rande  der  Narbe:  Die  ganze  1.  ürwindang  mit  Ausnahme 
des  lateralen  Drittels  ist  von  blutigen  Erweichungsherden  durchsetzt,  die  sich 
in  Form  eines  Streifens  bis  in  den  Balken  fortsetzen.  2.  Durchschnitt  11  mm 
weiter  nach  hinten  an  der  Grenze  des  hinteren  Drittels:  Die  ganze  I.  Ur- 
windung mit  Ausnahme  der  lateralsten,  dem  Sulcus  zwischen  l.  und  II.  Ur- 
windung folgenden  Rinde  fehlt.  Die  blutige  Erweichung  geht  nach  lateral 
basal  zum  Fuss  der  II.  Urwindung. 

Das  mediale  Drittel  der  Sehsphäre  war  und  zwar  in  grösserer 
Tiefe  als  bei  der  Beobachtung  117  und  mit  stärkeren  secundären  Ver- 
änderungen als  dort  zerstört.  Die  geforderte  und  überhaupt  jede  Seli- 
störiing;  blieb  aus. 


Beobaclitwng"  HO. 

Ziemlich  grosser  Hund  von  14,5  kg  Gewicht.  Aufdeckung  eines  medialen 
Streifens  links  auf  sagittal  29mm,  frontal-vorn  8mm,  frontal  in  der  Mitte  9mm, 
frontal-hinten  10  mm.    Der  mediale  Rand  liegt  dicht  an  der  Medianspalte,  der 


(zu  Beob.  119. 


(zu  Beob.  120.) 


hintere  Rand  liegt  am  Ansatz  des  Tentoriums.  Es  liegt  die  I.  Urwindung 
frei.  Umschneidung  der  I.  Urwindung  auf  1  cm  tief  mit  dem  Messer,  Heraus- 
hebung der  umschnittenen  Partie  mit  dem  Präparatenheber  gegen  Falx  und 
Tentorium. 

Die  Wundheilung  erfuhr  insofern  eine  Störung,    als  die   beim  Vernähen 


_     440     — 

ümgeldappten  Wundränder  am  7.  Tage  angefrischt  werden  mussten,  worauf 
die  Wunde  unter  aseptischem  Verbände  ohne  Eiterung  bis  zum  25.  Tage  lang- 
sam zugranulirte. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Der  Hund  ist  sehr  unruhig,  sodass  genaue 
Untersuchung  gelegentlich  nur  in  der  Schwebe  möglich  ist.  Links:  Am  2. Tage 
nasaler  Streifen,   nicht  deutlich  nachweisbar,   ebenso  am  4.  Tage  anscheinend 


Fig.  206. 


linl(s 


rechts 


Fig.  207. 

nur   oben   nasal   ein   blinder  Fleck.     Am  3.  und  5.  Tage    deutlicher  nasaler 
Streifen,  am  6.  Tage  keine  deutliche  Sehstörung  mehr,    Rechts:   Weder  in  der 


—     441     — 

Schwebe  noch  durch  anderweitige  Untersuchungsmethöde  eine'  Sehstörung 
nachzuweisen.  Gegen  Licht  wendet  er  sich  am  4.  Tage  rechts  vielleicht  etwas 
weniger  energisch  ab  als  links,  sonst  keine  Sehstörung. 

Optische  Reflexe:  Am  2.  Tage  gegen  flache  Hand  beiderseits  gleich, 
gegen  schmale  Hand  rechts  fehlend  oder  angedeutet,  links  vorhanden.  Am 
3.  Tage  rechts  gänzlich  fehlend,  am  4.  Tage  gegen  flache  Hand  abgeschwächt 
vorhanden,  gegen  schmale  Hand  fehlend,  dann  abgeschwächt  bis  zum  30.  Tage 
(Schluss  der  Beobachtung),  zu  welcher  Zeit  noch  eine  zweifelhafte  Differenz 
bestand. 

Nasenlid refl ex  ungestört. 

Getödtet  nach  ca.  3  Monaten,  nachdem  inzwischen  eine  2.  symmetrische 
Operation  ausgeführt  worden  war. 

Section:  Häute  normal.  Die  Narbe  liegt  ganz  im  Randwulst.  Sie 
misst  sagittal  24  mm,  frontal-hinten  11  mm,  frontal-vorn  4,5  mm.  Am  hinteren 
Pol  ist  die  Windung  von  der  Mittellinie  bis  zum  Sulcus  lateralis  gänzlich 
zerstört.  Hier  greift  die  Zerstörung  auch  erheblich  auf  die  mediale  Fläche 
über.  Vorn  bleibt  zwischen  der  letzteren  und  der  Narbe,  wie  auch  zwischen 
dieser  und  dem  Gyrus  ectolateralis  noch  etwas  äusserlich  unversehrte  Substanz 
übrig.  Der  vordere  Rand  der  Narbe  reicht  bis  an  eine  Senkrechte:  Falx-Spitze 
der  Fossa  sylvii.  1.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Die  Rinde  im 
Bereiche  der  medialen  oberen  Hälfte  der  Kante  des  Randwulstes  fehlt.  2.  Durch- 
schnitt durch  den  vorderen  Rand  der  Narbe:  Hier  fehlt  nur  eben  die  dorsale 
Rinde  in  der  Mitte  des  Randwulstes. 

Bei  dem  vorstehenden  Versuch  war  der  mediale  Rand  der  Seli- 
spliäre  in  ihrem  hinteren  Tlieile  gänzlich,  in  ihrem  vorderen  Theile 
theilweise  mrd  zwar  so  zerstört,  dass  der  stehengebliebene  mediale 
Rest  der  Rinde  dem  Anscheine  nach  von  seiner  Markstrahlmig  abge- 
trennt war. 

Unter  allen  Umständen  hätte  eine  partielle  Rindenblindheit  im 
lateralen  Theile  des  rechten  Gesichtsfeldes  die  Folge  sein  müssen;  da- 
gegen durfte  das  linke  Gesichtsfeld  in  keiner  Weise  geschädigt  sein. 
Thatsächlich  fand  sich  gerade  umgekehrt  das  rechtsseitige  Gesichtsfeld 
ungeschädigt,  während  sich  im  linken  Gesichtsfeld  bis  zum  5.  Tage  eine 
mehr  oder  minder  deutliche  nasale  Sehstörung  erkennen  liess. 

KeobsiohtiMig"  ISO. 

Derselbe  Hund  von  Beobachtung  119  (vergl.  dort  die  Figuren).  Auf- 
deckung des  rechten  Randwulstes  auf  sagittal  29  mm,  frontal  8  mm  bis  zum 
Sulcus  lateralis.    Exstirpation  der  Rinde  ca.  1  cm  tief. 

Die  Wundheilung  erfuhr  bei  diesem  Versuch  insofern  eine  Störung,  als 
sich  der  Hund  am  5.  Tage  die  Wunde  breit  aufgekratzt  hatte,  in  welcher  die 
Knochenlücke  vollkommen  geschlossen  erschien.  Die  Heilung  erfolgte  unter 
aseptischem  Verband,  indem  die  Wunde  langsam  zugranulirte. 


—     442     — 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Der  sehr  muntere,  leicht  zu  untersuchende 
Hund  lässt  keinerlei  Sehstörung  erkennen,  nur  am  54,  Tage,  am  Tage  vor  der 
Tödtung,  reagirt  der  Hund  auf  einem  nasalen  Streifen  des  rechten  Gesichts- 
feldes sowohl  gegen  den  symmetrischen  Streifen  des  linken  Gesichtsfeldes, 
als  auch  gegen  den  Rest  des  rechten  Gesichtsfeldes  langsamer  und  unsicherer. 
Gegen  Licht:  Fehlt,  der  Hund  scheut  beiderseits  schon  weit  aussen. 

Optische  Pveflexe  ungestört. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Gotödtet  am  55.  Tage. 

Section.:  Häute  normal.  Die  Narbe  liegt  gänzlich  im  Randwulst,  misst 
sagittal  25,5  mm,  an  der  breitesten  in  ihrer  Mitte  gelegenen  Stelle  misst  sie 
frontal  9  mm,  vorn,  wo  sie  sich  allmählich  zuspitzt  4,5  mm.  Hier  bleibt  der 
mediale  Rand  frei.  Die  Rinde  ist  im  Bereiche  der  Narbe,  ausgenommen  eine 
ca.  7  mm  lange,  der  vordersten  Spitze  der  Narbe  entsprechende  Partie,  bis 
zum  Sulcus  calloso-marginalis  zerstört.  1.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der 
Narbe:  Die  ganze  mediale  Kante  bis  zum  Sulcus  calloso-marginalis  fehlt. 
2.  Durchschnitt  durch  den  vorderen  Rand  der  Narbe:  Die  Rinde  fehlt  über 
mehr  als  der  mittleren  Hälfte  des  Randwulstes.  Ferner  sieht  man  einen  ocker- 
farbigen Herd  in  der  dorsalen  Umgebung  des  Sulcus  calloso-marginalis.  Die 
Seitenventrikel  sind  beide  erweitert. 

Der  Randwulst  war  innerhalb  der  Sehsphäre  fast  in  deren  ganzem 
Umfange  bis  auf  den  Sulcus  calloso-marginalis  derart  zerstört,  dass  die 
Markstrahlung  verhältnissmässig  wenig  betheiligt  erschien.  Ein  Theil 
der  lateralen  Hälfte  des  linken  Gesichtsfeldes  hätte  dauernd  rinden- 
blind sein  sollen,  während  das  rechte  Gesichtsfeld  keinerlei  Schädigung 
erfahren  haben  dürfte.  Das  linke  Gesichtsfeld  erschien  aber  während 
der  ganzen  Dauer  der  Beobachtung  vollkommen  normal,  während  sich 
auf  dem  rechten  Gesichtsfelde  bei  Aufnahme  des  Schlussstatus  eine 
nasale  amblyopische  Zone  erkennen  Hess.  Es  muss  unentschieden  ge- 
lassen werden,  ob  diese  schon  früher  vorhanden  war. 

(Tabelle  VII.  s.  nebenseitig.) 


443     — 


Tabelle    VIT. 

Mediale    Läsionen. 


pq 


Art  der 
Operation 


Ort  der  Operation 
(Section) 


S  e  h  s  t  ö  r  II  n  ff 


gegen  Fleisch 


gegen 
Licht 


Optische 
Reflexe 


Bcmerlfungcn 


116 


Exstirpa- 

tion   ca.   1 

cm   tief. 


117 


Exstirpa- 

tion   ca.    1 

cm  tief. 


118 


119 


|120 


Links.     ßandwLiIst 
mit  Betheil  Lgung  der 
II.   Urwindung    und 
ihres  Marlilagers.  Sa 
gittal  26  mm,  fron 
tal  9,5  mm.  Hintere 
Grenze:  hinterer  Pol; 
vordere       Grenze: 
Senkrechte     Spitze 
der  Fossa  Sylvii  — 
Falx. 

Links.  Medialer  Strei- 
fen. Sagittal  18  mm, 
frontal  10  mm.  Hin- 
teres mediales  Ende 
5  mm  vom  hinteren 
Pol;  vordere  Grenze: 
vorderer  Rand  der 
Sehsphäre ;  laterale 
Grenze:  Sulcus  ecto- 
lateralis.  Zerstörung 
der  I.  Urwindung 
mit  Betheiligung  des 
grossen   Marklagers. 

Exstirpa-    Rechts  Medialer Strei-  Fehlt, 
tion   ca.   1    fen.     Sagittal    17,5 
cm  tief.      mm,  frontal  8,5  mm. 

Hinterer  Rand    fast    am     hinteren 
Vordere  Grenze:  Vorderer  Rand  der  Sehshpäre. 
Störung  fast  der  ganzen   I.  Urwindung  und  des  me 
dialen  Marklagers  bis  in  den  Balken  hinein 


Links :    Medialer 
Streifen. 

Rechts :     Lateraler 
Streifen.   Am 2. Tage 
auch  sonst    bis    auf 
medialen       Streifen 
amblyopisch. 
Dauer? 


Links :  Medialer  Strei- 
fen bis  zum  6.  Tage 
ebenso  lange  wie 
rechts. 

Rechts :  Dauer  6  Tage; 
laterale  Hemiano- 
pie,  zuletzt  lateral 
oben  amblyopischer 
Fleck. 


Nur  am  2.     2  Tage 
Tage.         fehlend, 
dann  abge- 
schwächt. 


Fehlt. 


Pol. 
Zer- 


Exstirpa- 

tion   ca.    1 

cm  tief. 


Exstirpa- 

tion   ca.    1 

cm  tief. 


Links.  Randwulst  mit 
Conservirung  schma- 
ler medialer  und  la- 
teraler Streifen  vorn. 
Sagittal  21  mm,  fron- 
tal-hinten  1 1  mm, 
frontal-vorn  4,5  mm. 

Rechts.  Randwulst 
und  Rinde  bis  zum 
Sulcus  calloso-mar- 
ginalis.  Sagittal  25,5 
mm,  frontal  4,5 — 9 
mm.  Freibleiben  des 
vorderen  Randes. 


Rechts  gänzlich    feh- 
lend. 

Links :  Nasale  Hemi- 
anopsie bis  inclusive 
5.  Tag. 


Fehlt;  nur  am  Ende 
der  Beob.  rechtssei- 
seitige  nasale  Am- 
blyopie.. 


Fehlt. 


Nur  am  4. 
Tage  an- 
gedeutet. 


Fehlt. 


Am  2.  Tage 
rechts  feh- 
lend, dann 
allmählich 
wiederkeh- 
rend. 
Dauer  5 
Tage. 


Ungestört. 


Gänzliches 

Fehlen  am 

3.  Tage, 

dann  Ab- 

schwä- 

chungnoch 

am  30.' 

Tage. 

Ungestört. 


Unge- 
stört. 


Knurren  bei 
Fehlen  der 
opt.  Rellexe. 
Phlegmone, 


Unge- 
stört. 


Unge- 
stört. 


Unge- 
stört. 


Unge- 
stört. 


Störung  der 
opt.  Reflexe 
bei  Fehlen  der 
Sehstörung. 


Wundheilung. 


—     444     — 


Zusammenfassung. 

1.  Selistörungen  (aa.  Reaction  gegen  Fleisch):  Betrachten 
wir  zunächst  das  Verhalten  des  gleichseitigen  Auges,  welches  bei 
diesen  5  Beobachtungen  hätte  frei  bleiben  sollen,  so  ergiebt  sich,  dass 
dasselbe  in  der  That  bei  den  Beobb.  118  und  120  frei  blieb.  Bei  der 
letzteren  fand  sich  freilich  bei  der  Aufnahme  des  Schlussstatus  am 
54.  Tage  ein  nasaler  amblyopischer  Streifen  vor,  wie  er  übrigens  schon 
zu  Anfang  zu  erwarten  gewesen  wäre  und  es  konnte  nun  nicht  mit 
Sicherheit  gesagt  werden,  wie  lange  dieser  Streifen  schon  bestand;  denn 
der  Hund  hatte  von  Anfang  an  und  schon  so  lange  keine  Sehstörung 
gehabt,  dass  er  schliesslich  nicht  mehr  regelmässig  untersucht  worden 
war.  Wir  wollen  also  auf  diese  Amblyopie,  welche  der  Hund  nach 
Munk  nicht  hätte  haben  dürfen,  kein  besonderes  Gewicht  legen.  Ande- 
rerseits fehlte  aber  bei  diesen  beiden  Beobachtungen,  welche  wiederum 
beide  die  2.  Hemisphäre  betrafen,  auf  dem  gegenseitigen  Auge,  wo  sie 
das  laterale  Drittel  oder  die  laterale  Hälfte  hätte  einnehmen  sollen, 
die  Sehstörung  gleichfalls  gänzlich. 

Bei  den  3  anderen  Beobachtungen  war  regelmässig  eine  Sehstörung 
des  gleichnamigen  Auges  vorhanden.  Bei  der  Beob.  116,  welche  wegen 
Erkrankung  des  Thieres  nicht  zu  Ende  verfolgt  werden  konnte,  war  sie 
während  der  Beobachtungszeit  —  4  Tage  —  und  zwar,  abgesehen  vom 
2.  Tage,  stärker  als  auf  dem  gegenseitigen  Auge  nachweisbar;  bei  der 
Beob.  117  war  sie  bis  zum  7.  Tage  —  ebensolange  wie  auf  dem  gegen- 
seitigen und  zwar  zuletzt  stärker  als  dort  —  nachweisbar.  Bei  der 
Beob.  119  endlich  fehlte  die  Sehstörung  auf  dem  gegenüber- 
liegenden Auge,  dessen  laterales  Drittel  sie  mindestens  hätte  ein- 
nehmen sollen,  gänzlich,  während  sie  auf  dem  gleichseitigen  Auge,  wo 
sie  hätte  fehlen  sollen,  bis  zum  5.  Tage  nachweisbar  war. 

Die  Sehstörung  des  gegenüberliegenden  Auges  betheiligte  in 
den  2  Fällen,  in  denen  sie  überhaupt  nachweisbar  war,  allerdings  die 
laterale  Seite  des  Gesichtsfeldes,  indessen  nahm  sie  doch  weder  dessen 
laterale  Hälfte,  noch  sein  laterales  Drittel  ein,  noch  bestand  sie  in 
Rindenblindheit,  sondern  sie  bestand  und  verlief,  wie  in  der  grossen 
Mehrzahl  aller  unserer  Fälle,  als  typische  Hemianopsie. 

Von  besonderem  Interesse  sind  die  Beobb.  119  und  120,  bei  denen 
die  Sehstörung  auf  beiden  Augen  entweder  ganz  fehlte  oder  nur  un- 
bedeutend und  von  kurzer  Dauer  war.  Vergleichen  wir  damit  den 
Sectionsbefund,   so  ergiebt  sich,    dass  die  Marksubstanz  bei  diesen  Ver- 


—     445     — 

suchen  äiLSserst  wenig    geschädigt  war,  während    ein  grosser  Tlifil  di-r 
medialen  grauen  Substanz  abgetragen  war. 

bb.  Eine  Sehstörung  gegen  Licht  war  entsprechend  dem  ge- 
ringen Grade  der  Sehstörung  gegen  Fleisch  in  diesen  Fällen  kaum  oder 
nicht  nachweisbar,  nur  bei  der  Beob.  116  war  sie  am  2.  Tage  und 
spurweise  bei  der  Beob.  119  am  4.  Tage  nachweisbar. 

2.  Die  optischen  Reflexe  waren  in  den  beiden  Fällen,  in  denen 
keine  Sehstörnng  bestand,  gleichfalls  ungestört.  Bei  der  Beob.  116 
fehlten  sie  2  Tage  und  waren  am  folgenden  Tage,  dem  letzten  der 
Beobachtungszeit,  abgeschwächt  vorhanden;  bei  der  Beob.  117  fehlten 
sie  einen  Tag  gänzlich  und  waren  dann  noch  4  Tage  abgeschwächt, 
die  Störung  dauerte  ebensolange  wie  die  Sehstörung.  Bei  der  Beob.  119 
endlich  fand  sich  ungeachtet  des  Fehlens  einer  Sehstörung  eine  anfäng- 
lich hochgradige  und  ca.  30  Tage  lang  anhaltende,  allmählich  abneh- 
mende Störung  des  optischen  Reflexes.  Bemerkenswerth  ist  in  dieser' 
Beziehung  auch,  dass  der  Hund  der  Beob.  116,  zu  einer  Zeit,  als  ihm 
die  optischen  Reflexe  gänzlich  fehlten,  jedesmal  wüthend  knurrte,  sobald 
man  ihm  mit  der  Hand  vor  das  Auge  kam,  wodurch  er  jedenfalls  be- 
kundete, dass  er  die  drohende  Hand  sah. 

3.  Der  Nasenlidreflex  war  in  allen  diesen  Fällen  ungestört. 

4.  Aus  den  vorstehenden  5  Beobachtungen  ergiebt  sich  zu- 
nächst, dass  die  mediale  Partie  der  Sehsphäre  in  ziemlich 
grosser  Ausdehnung  ohne  nachweisbare  Beeinträchtigung 
des  Sehactes  abgetragen  werden  kann.  Ferner,  dass  eine 
Sehstörung,  wenn  es  überhaupt  dazu  kommt,  das  gleich- 
seitige Auge  mindestens  mit  derselben,  wenn  nicht  mit 
grösserer  Intensität  befällt,  wie  das  gegenüberliegende,  und 
dass  sie  sich  im  Uebrigen  in  der  Form  und  im  Verlaufe  des 
Scotoms  nicht  wesentlich  von  den  durch  anderweitig  locali- 
sirte  Läsionen  hervorgebrachten  Scotomen  unterscheidet. 
Auch  diese  Beobachtungsreihe  spricht  also  entschieden 
gegen  die  alleinige  Projection  des  gleichseitigen  Retina- 
antheils  auf  das  laterale  Drittel  der  Sehsphäre. 

d)  Caudale  Läsionen. 

Die  Beobachtungen  dieses  Abschnittes  habe  ich  wieder  in  typische 
und  atypische  eingetheilt,  je  nachdem  nur  die  Spitze  des  Occipitallappens 
ganz  oder  fast  ganz  abgeschnitten  war  oder  anderweitige,  vornehmlich 
den  caudalen  Abschnitt    betreffende  Ausschaltnngen  vorlasen.     Zu    den 


—     446     — 

ei'sterou  rechne  ich  die  Beobachtungen  121  —  125,    zu  den    anderen  die 
Beobachtungen  126  — 132. 

Die  bei  diesen  Operationen  auftretenden  Scotome  sollten  nach  der 
Lehre  M  unk 's    dem  Typus  der  Abbildungen  95  d    entsprechen,    jedoch 


linlis 


rechts 


links 


1 

Fig.  95  d. 

so,  dass  die  als  typisch  bezeichneten  ein  kleineres  als  das  angegebene 
Areal  einnahmen,  Nvährend  die  Configuration  der  bei  den  atypischen 
auftretenden  Scotome  natürlich  der  jedesmaligen  Läsion  hätte  ent- 
sprechen sollen. 


A.    Typische  Operationen. 

Keolbaclitxiujs-  ISl. 

Aufdeckung  ganz  hinten  links  auf  10  mm  sagitial,  18  mm  frontal.  Der 
mediale  Knochenrand  liegt  dicht  an  der  Medianlinie,  der  hintere  Rand  dicht 
an  der  Lambdanaht.  Exstirpation  der  freiliegenden  Rinde  ca.  ^4  ^^'^  ^i^A 
auch  der  medialste  Antheil  des  hinteren  Pols  wird  mitentfernt.  Langanhaltende 
Blulung  zwisclien  Dura  und  lateralem  Knochenrande,  die  auf  Wachs  und  Ele- 
valion  des  Kopfes  steht. 


Fig.  208. 

Wundh eilung:  Nachdem  der  Hund  sich  die  ziemlich  stark  geschwellte 
Wunde  an  ihrer  lateralen  Ecke  am  5.  Tage  aufgekratzt  hatte,  sodass  sich  ein 
bluti'»'  seröses  Seci'ct    entleerte    und    ein  einfacher  NYiederverschluss  derselben 


—     447     — 

nicht  zur  Vereinigung  der  Wundränder  geführt  hatte,  wurden  die  Wundrändof 
am  6.  Tage  angefrischt  und  genäht,  sowie  am  Halse  eine  Gegenöffnung  ge- 
macht, in  die  ein  Drain  eingelegt  wurde.    Sodann  vollständiger  Kopfverband. 


Fig.  209. 


Fig.  210. 

Die  Wunde  heilte  allmählich,  indem  sich  gleichzeitig  durch  den  Drain  eine 
seröse  leicht  getrübte  Flüssigkeit  entleerte. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch.  Auf  dem  Boden  lässt  sich  durch  Fleisch- 
suchen keine  Sehstörung  nachweisen.  Am  2.  Tage  auf  dem  Tische  wahr- 
scheinlich rechts  oben  lateraler  Quadrant,  unten  schmaler  Streifen  amblyo- 
pisch,  links,  wenn  überhaupt,  nur  ein  schmaler  nasaler  Fleck  oben.  In  der 
Schwebe;   Am  2.  Tage  nicht  sicher  zu  prüfen,   da  der  Hund  zu  träge  reagirt.. 


—     448     — 

Am  3.  Tage  rechts  Sehstörung  oberhalb  des  Aequators  etwa  zwei  Drittel,  un- 
terhalb vielleicht  ein  ganz  schmaler  lateraler  Streifen  amblyopisch.  Links 
schmaler  oben  wenig  breiterer  nasaler  Streifen.  Am  4.  Tage  entspricht  die 
Sehstörung  rechts  nicht  mehr  ganz  dem  oberen  äusseren  Quadranten,  links 
nichts  mehr  nachzuweisen.  Am  5.  Tage  auch  rechts  überall  Reaction.  Gegen 
Licht:  Am  2.  Tage  rechts  medial  stark  scheuend,  lateral  nicht;  links  schon 
weit  aussen.  Nachher  Störungen  fehlend. 

Optische  Reflexe:  Rechts  gegen  schmale  Hand  bis  zum  27.  Tage  ab- 
geschwächt, manchmal  auch  gegen  flache  Hand  versagend,  später  normal. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  nach  ca.  7  Wochen,  nachdem  inzwischen  eine  2.  symmetrische 
Operation  ausgeführt  worden  war. 

Section:  Häute  normal,  zwischen  Dura  und  Gehirn  eine  Quantität 
Wachs,  die  dort  eine  deutliche  Impression  verursacht  hat.  Die  Narbe  sitzt  dem 
hinteren  Pol  auf,  fast  dessen  mediales  Ende  erreichend.  Sie  beschränkt  sich 
auf  die  L  und  II.  ürwindung,  misst  frontal  18  mm,  sagittal  in  der  Mitte 
11,5  mm,  medial  7  mm,  lateral  spitzt  sie  sich  zu.  Auf  einem  Sagittalschnitt, 
der  die  II.  Ürwindung  hälftet,  sieht  man,  dass  die  Zerstörung  sich  mit  einer 
annähernd  quadratischen  Fläche,  deren  Diagonale  annähernd  11,5mm  beträgt, 
in  die  Gehirnsubstanz  hineinerstreckt. 

Die  Zerstörung  betraf  etwa  das  hintere  Drittel  der  Sehsphäre. 
Die  Sehstörung  fand  sich,  der  Forderung  entsprechend,  vornehmlich  in 
der  oberen  Hälfte  des  Gesichtsfeldes.  Sie  war  aber  von  ganz  flüchtiger 
Dauer,  am  5.  Tage  bereits  verschwunden. 

Beobachtviiig,-  ISS. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  121.  Aufdeckung  rechts  hinten  symmetrisch 
auf  10  mm  sagittal,  18  mm  frontal.  Der  mediale  Rand  der  Knochenlücke  bleibt 
ca.  5— 6mm  von  der  Medianlinie  entfernt.  Exstirpation  der  freiliegenden  Rinde 
durch  Umschneidung  mit  dem  Messer  auf  1  cm  Tiefe  und  Heraushebung  mit 
dem  Präparatenheber.  Die  schmalen  unter  den  medialen  und  hinteren  Knochen- 
brücken liegenden  Rindenstreifen  werden  noch  mit  dem  Löffel  ausgiebig  zer- 
stört und  ausgelöffelt. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch:  Auf  dem  Boden  lässt  sich  durch 
Fleischsuchen  keine  Sehstörung  nachweisen.  In  der  Schwebe  und  auf  dem 
Schoosse:  Am  2.  Tage  frisst  der  Hund  nicht,  am  3.  Tage  keine  Sehstörung 
nachzuweisen,  nur  scheint  der  Hund  links  aussen  weniger  prompt  und  ener- 
gisch zuzuschnappen  als  rechts.  Später  lässt  sich  absolut  keine  Sehstörung 
nachweisen,  auch  dann  nicht,  wenn  ein  Beobachter  dem  auf  dem  Boden  sitzen- 
den Hunde  ein  Stück  Fleisch  vorhält,  dass  dieser  fixirt,  während  ein  zweiter 
Beobachter  von  hinten  oben  her  ein  zweites  Stück  Fleisch  langsam  in  das  Ge- 
sichtsfeld vorschiebt.  Vielmehr  fixirt  der  Hund  dieses  zweite  Stück  Fleisch 
und  springt  darnach,  sobald  es  in  dem  Gesichtsfelde  erscheint  genau  mit  der- 


—     449     — 

selben  Sicherheit,  wie  bei  der  Absuchung  aller  anderen  Partien  des  Gesichts- 
feldes. Gegen  Licht:  Am  2.  Tage  scheut  er  links  nur  über  der  medialen  Ge- 
sichtsfeldhälfte, später  beiderseits  schon  weit  aussen  reagirend. 


Fig.  211. 


Fig.  212. 

Optische  Reflexe  ungestört, 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  am  10.  Tage. 

Section:  Häute  normal.  Die  sagittal  8  mm,  frontal  15  mm  messende 
Auflagerung  sitzt  der  der  Beob,  121  symmetrisch,  nur  bleibt  die  mediale  Kante 
auf  3  mm  frei.  Die  Zerstörung  reicht  in  der  Diagonale  gemessen  ca.  9  mm  in 
das  Gehirn  hinein    und   ist   mehr    keilförmig   gestaltet,    als   auf  der  anderen 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     II.  Theil.  29 


—     450     — 

Seite,    sodass    ein    geringerer  Theil    der  weissen  Substanz    zerstört  erscheint 
als  dort. 

Die  Zerstörung  betraf  mit  Ausnalime  der  medialen  Ecke  des  hinteren 
Pols  das  hintere  Drittel  der  Sehsphäre.  Annähernd  das  obere  Drittel 
des  gegenseitigen  Gesichtsfeldantheils  hätte  rindenblind  sein  sollen;  es 
trat  aber  gar  keine,  wenigstens  keine  deutliche  Störung  ein. 

Mittelgrosser  Hund;  Aufdeckung  über  dem  hinteren  Pol  auf  10  mm 
sagittal,  20  mm  frontal.  Umschneidung  ca.  ^4  cm  tief  mit  dem  Messer  und 
Heraushebung  der  freigelegten  Partie  bis  an  die  Falx  und  das  Tentorium. 


Fig.  213. 

Motilitätsstörungen  iehlen . 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  besteht  links  ein  schmaler 
nasaler  amblyopischer  Streifen,  dessen  Ausdehnung  nicht  ganz  sicher  zu  be- 
stimmen ist,  rechts  ist  die  obere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  blind,  unterhalb  des 
Aequators  nur  ein  schmaler  lateraler  Streifen.  Am  3.  Tage  links  noch  ein 
blinder  nasaler,  oben  etwas  breiterer  Streifen,  rechts  lateral  oben  noch  ein 
blinder  Fleck.  Am  4.  Tage  links  nasal  noch  eine  Sehstörung,  die  aber  nicht 
genau  abzugrenzen  ist,    rechts  keine  Sehstörung  mehr;    am  5.  Tage   ist  auch 


—     451     — 

die  Sehstörung   linlcs  verschwunden.    Gegen  Licht:    Rcaction   ohne  nennens- 
werthe  Störung. 

Optische  Reflexe:  Rechts  am  2.  Tage  gegen    flache  Hand  deutlich, 
gegen  schmale  Hand  gar  nicht  vorhanden,  am  3.  Tage  gegen  flache  Hand  an- 


Fiff.  214. 


Fi2-.  215. 


gedeutet,  gegen  schmale  Hand  fehlend,  vom  4. — 9.  Tage  gänzlich  fehlend,  vom 
10.  Tage  an  wieder  normal. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  nach  ca. 51/2  Wochen,  nachdem  inzwischen  eine  2,  symmetrische 
Operation  ausgeführt  worden  war. 

29* 


—     452     — 

Section:  Häute  normal.  Die  Auflagerung  sitzt  genau  dem  hinteren  Pol 
auf,  erreicht  medial  die  Medianlinie  und  mit  ihrem  lateralen  Ende  die  laterale 
Grenze  des  medialen  Schenkels  der  II.  ürwindung.  Sie  misst  sagittal  7  mm, 
frontal  16  mm.  Sagittalschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe  im  Gebiete  der 
IL  ürwindung:  Der  hintere  Pol  fehlt.  An  seiner  Stelle  sitzt  ein  bräunlich 
verfärbter  Keil,  der  mit  seinen  Ausläufern  8  mm  tief  in  die  weisse  Substanz 
hineinreicht. 

Die  Zerstörung  nahm  ungefähr  das  hintere  Drittel  der  Sehsyhäre 
ein.  Ungefähr  das  obere  Drittel  des  gegenseitigen  Gesichtsfeldes  hätte 
rindenblind  sein  sollen.  Die  Sehstörung  betraf  allerdings  mehr  die 
obere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes,  sie  war  aber  am  4.  Tage  bereits  ver- 
schwunden. 


Derselbe  Hund  von  Beob.  123  (vgl.  dort  die  Figuren).  Aufdeckung  rechts 

Medialer  Rand  der 
Der  laterale  und  vordere  Rand  wird 


über  dem  hinteren  Pol  auf  8  mm  sagittal,  18,5  mm  frontal 


Knochenlücke  dicht  an  der  Medianlinie. 


Fig.  216. 

ca.  1  cm  tief  mit  dem  Messer  umschnitten  und  dann  das  freiliegende  Rinden- 
stück mit  dem  Präparatenheber  nach  Tentorium  und  Falx  zu  exstirpirt.  Hin- 
terster Rand  und  Randwulst  werden  ausgiebig  herausgelöffelt. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch:  An  den  beiden  ersten  Tagen  reagirt  der 
Hund  bei  übrigens  gutem  Befinden  so  träge,  dass  sich  nur  eine  nicht  genau 
abzugrenzende  nasale  Sehstörung  rechts  und  eine  mehr  temporale  und  obere 
Schstörung  links  erkennen  lässt.  Rechts  am  4.-6.  Tage  ein  deutlicher,  am 
7.  Tage  ein  undeutlicher  nasaler  blinder  Streifen.  Links  fandet  er  auf  dem 
Boden  Fleisch  immer  gut.    Auf  dem  Schosse   und  in  der  Schwebe,   vornehm- 


—     453     — 

lieh  in  letzterer  schwer  zu  untersuchen,  am  4.  Tage  oberhalb  des  Aequators 
unsicher,  unterhalb  stets  sicher  reagirend;  am  5.  Tage  in  der  oberen  Gesichts- 
feldhälfte, besonders  in  den  lateralen  Partien  noch  eine  Unsicherheit,  wenn 
auch  offenbar  keine  völlige  Blindheit,  am  7.  Tage  Unsicherheit,  aber  nicht 
völlige  Blindheit  oben  aussen,  medial  oben  nicht  mehr.  Am  8.  Tage  beider- 
seits keine  Sehstörung  mehr. 

Optische  Reflexe:  Links  Anfangs  gänzlich  fehlend,  vom  10. Tage  bis 
zum  Schluss  der  Beobachtung  gegen  flache  Hand  beiderseits  gleich,  gegen 
schmale  Hand  fehlend. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  am  16.  Tage. 

Section:  Häute  normal.  Die  Narbe  sitzt  genau  dem  hinteren  Pol  auf, 
erreicht  medial  die  Medianlinie  und  mit  ihrem  lateralen  Ende  das  mediale 
Drittel  der  H.  Urwindung.  Da  hier  die  I.  ürwindung  gegabelt  ist,  sitzt  die 
Narbe  vornehmlich  in  dieser.  Sie  misst  sagittal  9,5  mm,  frontal  17  mm. 
Sagittalschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe  im  Gebiete  der  II.  Urwindung:  Der 
hintere  Pol  fehlt.  An  seiner  Stelle  sitzt  ein  bräunlich  verfärbter  Keil,  der  mit 
seinen  Ausläufern  8  mm  tief  in  die  weisse  Substanz  hineinreicht. 

Das  hintere  Drittel  der  Sehsphäre  war  grösstentheils  zerstört.  Das 
obere  Drittel  des  gegenseitigen  Gesichtsfeldantheiles  hätte  rindenblind 
sein  sollen.  Die  Sehstörung  war  allerdings  nur  in  der  oberen  Hälfte 
des  Gesichtsfeldes  nachweisbar;  sie  bestand  aber  überhaupt  nur  in  Ani- 
l)lyopie,  nicht  in  Blindheit   und  war  bereits   am  8.  Tage  verschwunden. 

Beobadituiijss"   ISS. 

Ziemlich  grosser  Hund.  Aufdeckung  der  Rinde  auf  sagittal  9  mm, 
frontal  19  mm,  unmittelbar  vor  der  Lambdanaht,  sodass  der  hintere  Rand  der 
Lücke  noch  1  mm  hinter  dem  Ansatz  des  Tentoriums,  ihr  medialer  Rand  un- 
mittelbar an  der  Medianlinie  liegt.  Der  Knochen  war  lateral  vorn  noch  3  mm 
weiter  weggebrochen  worden.  Die  freiliegende  Rinde  wird  vorn  und  lateral 
1  cm  tief  mit  dem  Messer  umschnitten  und  dann  mit  dem  Präparatenheber 
nach  Tentorium  und  Falx  zu  ausgehoben.   Goringe  Blutung. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Links  besteht  ein  anfänglich  ziemlich 
breiter  nasaler  blinder  Streifen,  der,  allmählich  schmäler  werdend,  noch  am 
49.  Tage  kurz  vor  dem  Tode  des  Hundes,  sich  nachweisen  lässt.  Rechts:  Am 
2.  und  3.  Tage  wegen  träger  Reaction  schwer  zu  untersuchen,  doch  lässt  sich 
am  3.  Tage  feststellen,  dass  nur  ein  medialer  halbmondförmiger,  sich  mehr  im 
unteren  Quadranten  befindender  Streifen  frei  ist.  In  den  nächsten  Tagen  ist 
der  Hund  vornehmlich  auf  dem  Schosse  sehr  gut  zu  untersuchen,  am  4.  Tage 
ist  der  obere  laterale  Quadrant  und  die  medial  und  unten  angrenzende  Partie 
und  vom  5.— 13.  Tage  nur  der  obere  laterale  Quadrant  blind.  Vom  14.  bis 
27.  Tage  erscheint  diese  Stelle  insofern  amblyopisch,  als  der  Hund  Fleisch, 
dessen  Bild  dorthin  fällt,  zwar  fixirt,  aber  nicht  zuschnappt.   Am  27.  Tage  er- 


^    454     — 

scheint  diese  Stelle  kleiner  und  schlecht  abgegrenzt,  am  34.  Tage  ist  es  frag- 
lich, ob  dort  überhaupt  noch  eine  Sehstörung  existirt.  Am  36.  Tage  ist  sie 
sicher  verschwunden.   Gegen  Licht:  Die  Reaction  fehlt  in  den  ersten  vier  Tagen 


Fig.  218. 

beiderseits.  Vom  5.  Tage  an  ist  sie  links  vorhanden,  fehlt  rechts  bis  zum 
17.  Tage,  an  welchem  Tage  sie  dort  eher  stärker  als  links  erscheint.  Später 
war  sie  beiderseits  gleichmässig  vorhanden. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  rechts  bis  zum  4.  Tage;  von  diesem  Tage 
an  gegen  flache  Hand  vorhanden,  gegen  schmale  Hand  fehlend  bis  zum 
27.  Tage,  dann  beiderseits  gleich. 

Nasenlidreflex  uno-estört. 


—     455     — 

Gestorben  am  51.  Tage  ohne  besondere  Vorboten  nach  kurzem  allge- 
meinem epileptischem  Anfall. 

Section:  Häute  normal.  Die  sagittal-lateral  11  mm,  sagittal-medial 
14  mm  und  frontal  23  mm  messende  Narbe  hat  den  hinteren  Pol  bis  zur  me- 
dialen Ecke  zerstört.  Sie  sitzt  dem  absteigenden  Theil  der  I.  und  II,  Urwin- 
dung  in  der  Weise  auf,   dass  sie  mit  ihrer  vorderen  lateralen  Ecke  noch  4  mm 


Fig.  219. 


vom  hinteren  Rand  der  III.  ürwindung  entfernt  bleibt.  Sagittalschnitt  1  mm 
lateral  von  dem  Sulcus  lateralis.  Die  Narbenmasse  reicht  entsprechend  der 
Ausdehnung  der  oberflächlichen  Auflagerung  ca.  7  mm  tief  bis  ins  Markweiss. 
(Die  dunkle  Färbung  in  der  Scheitel-Hinterhauptsgegend  ist  ein  durch  blutige 
Imbibition  bei  der  Section  und  Nachdunkelung  in  Formol  hervorgebrachtes 
Kunstproduct.) 

Der  hintere  Abschnitt  des  Occipitallappens  war  bis  zur  Längsspalte 
gänzlich  ausgeschaltet  worden.  Der  Defect  reichte  noch  etwas  in  die 
weisse  Substanz  hinein.  Der  Hund  hätte  also  auf  den  obersten  Ab- 
schnitten seiner  beiden  Retinae  dauernd  rindenblind  sein  müssen.  That- 
sächlich  betraf  die  Sehstörung  mehr  den  oberen  lateralen  Quadranten 
des  rechten  Auges,  aber  sie  war  am  36.  Tage  gänzlich  verschwunden 
nachdem  sie  bereits  vom  14.  Tage  an  sich  in  eine  Amblyopie  verwan- 
delt hatte.  Auf  dem  linken  Auge,  auf  dem  sie  erheblich  dauerhafter 
als  rechts  war,  betraf  sie  dagegen  keineswegs  allein  den  oberen,  son- 
dern ebensowohl  den  unteren  Theil  des  medialen  Streifens  des  Ge- 
sichtsfeldes. 


■-     456 


Tabelle    Villa. 

Caudale   Läsionen.     Typische. 


m 


'^ 


Art  der 
Operation 


Ort  der  Operation 

(Section) 


Sehstörung 


gegen  Fleisch 


gegen 
Licht 


Optische 
Reflexe 


^ 


Bemerkungen 


121 


12-2 


123 


124 


125 


Exstirpa 

tion  ca. 

3/4  cm  tief. 


Exstirpa- 

tion  ca. 

1  cm   tief. 


Exstirpa- 

tion  ca. 

2/4  cm  tief, 


Exstirpa- 

tion  ca. 

1    cm  tief. 


Links.  Hinterer  Pul 
der  I.  und  IL  Urwin- 
dung:  sagittal  11,5 
mm,  frontal  18  mm. 


Exstirpa- 

tion  ca. 

1   cm  tief. 


der  I.  und   des  me 
dialen  Schenkels  der 
IL    Urwindung;    sa- 
gittal 7  mm,  frontal 
16  mm. 


Rechts.  Hinterer  Pol 
der  I.  und  des  me- 
dialen Drittels  der 
IL  Urwindung;  sa- 
gittal 9,5  mm,  fron- 
tal 17  mm. 


Links :'  Nasaler  Strei- 
fen von  nur  3  tägiger 
Dauer,  mehr  oben. 

Rechts:  Vornehmlich 
oberer  lateraler  Qua- 
drant von  nur  4  tägi' 
ger  Dauer. 

Rechts.  Hinterer  Pol  Keine  deutliche  Seh- 
der  I.  und  IL  Ur-  Störung. 
Windung;  medialster 
Theil  der  I.  Urwin- 
dung stehen  geblie- 
ben; sagittal  8  mm, 
frontal  15  mm. 

Links.     Hinterer  Pol  Links :  Nasaler  Strei- 


Links.  Hinterer  Pol 
der  1.  und  IL  Urwin- 
dung; frontal  hinten 
23  mm,  sagittall  11 
bis  14  mm  bis  4  mm 
nach  hinten  vom  hin- 
teren Rand  der  III. 
Urwindung. 


fen  bis  incl.  4.  Tag. 
Rechts:  Am  2.  Tage 
obere  Hälfte  und  la 
teraler  Streifen.  Am 
3.  oberer  lateraler 
Kreisabschnitt,  dann 
verschwunden. 

Rechts:  Bis  zum  6. 
Tage  ein  deutlicher, 
am  7.  Tage  undeut- 
licher nasaler  Strei- 
fen, dann  nichts  mehr. 

Links:  Nur  Amblyo- 
pie, keine  Blindheit 
bis  zum  4.  Tage 
oberhalb  des  Aequa- 
tors,  bis  zum  7.  Tage 
im  oberen  lateralen 
Quadranten ,  dann 
nichts  mehr. 

Links:  Nasaler  Strei- 
fen, am  49.  Tage 
noch  vorhanden. 

Rechts:  Typische  He- 
mianopsie am  36. 
Tage  verschwunden. 


Nur  rechts 

am  2.  Tage 

lateral. 


Nur  links 

am  2.  Tage 

lateral. 


Undeut- 
lich. 


Nur   abge- 
schwächt. 


Unge- 
stört. 


Total  bis 
zum  4. 
Tage  bei- 
derseits, 
bis  zum 
17.  Tage 
rechts, 
dann  vei'- 
schwun- 
den. 


Bis  zum 
10.  Tage 
gestört, 
dann,  nor- 
mal. 


Links  bis 
zum  10. 
Tage  gänz- 
lich feh- 
lend, dann 

abge- 
schwächt. 


Fehlen  bis 

zum  4. 

Tage,  bis 

zum  27. 

Tage  abge 

schwächt. 


Unge- 
stört. 


Unge- 
stört. 


Unge-  Gleichzeitige 
stört.  Sehstörung 
von  längerer 
Dauer. 


Unge- 
stört. 


Unge- 
stört. 


Gleichzeitige 

Sehstörung 

von  längerer 

Dauer. 


—     457     — 

Zusammenfassung. 
Bei  den  5   hier  in  Betracht    kommenden    Beobachtungen    war    die 
Spitze  des  Hinterhauptlappens  in  einer  Ausdehnung  von  je 
sagittal  frontal 

7—11,5  mm  18  mm 

8  „  ,15    „ 

7  „  16    „ 

9,ö  „  17    „ 

11-14       „  23    „ 

fortgeschnitten  worden.  Diese  Maasse  unterscheiden  sich  nicht  sehr 
wesentlich  von  einander,  nur  diejenigen  der  Beob.  125  sind  um  etwas 
grösser.  Noch  weniger  wäre  dies  der  Fall  gewesen,  wenn  ich  die  bei 
den  Operationen  gewählten  Dimensionen,  anstatt  wie  geschehen,  die  bei 
den  Sectionen  gefundenen  eingerückt  hätte. 

1.  Die  Sehstörung  (aa.  Reaction  gegen  Fleisch)  zeigt  un- 
geachtet dieser  anscheinenden  Uebereinstimmung  des  Eingriffes  sehr 
wesentliche  Verschiedenheiten.  Am  bemerk enswerthesten  ist  der  Um- 
stand, dass  bei  der  Beob.  122,  welche  eine  2.  symmetrische  Operation 
zu  der  Beob.  121  darstellt,  die  Sehstörung  gegen  Fleisch  ganz  fehlte, 
während  bei  der  1.  Operation  an  dem  gleichen  Hunde  eine,  wenn  auch 
gleichfalls  nicht  erhebliche  Sehstörung  constatirt  werden  konnte.  Bei 
diesem  Hunde  waren  die  Maasse  der  Auflagerung  bei  der  2.  Operation 
allerdings  etwas  kleiner,  auch  zeigte  die  Section,  dass  die  mediale 
Spitze  des  hinteren  Pols  entsprechend  den  über  die  Operation  gemachten 
Angaben  stehen  geblieben  war.  Indessen  waren  die  Maasse  beider 
Operationen  genau  gleich  und  der  stehengebliebene  Rest  des  hinteren 
Pols  kann  nach  der  umfänglichen  in  ihni  vorgenommenen  Auslöffelung 
unmöglich  noch  irgend  eine  P'unction  besessen  haben.  Während  somit 
die  Ausschaltung  der  grauen  Substanz  auf  beiden  Seiten  so  gut  wie 
identisch  war,  zeigte  die  Zerstörung  der  weissen  Substanz  bei  der  1.  Ope- 
ration eine,  wenn  auch  nur  um  2^/2  mm  grössere  Ausdehnung.  Ebenso 
sind  die  Ausschaltungen  bei  den  Beobb.  123  und  124  so  gut  wie  identisch, 
obschon  die  Maasse  der  Auflagerungen  sowohl  unter  einander  als  mit 
Bezug  auf  die  bei  der  Operation  gewählten  Maasse  etwas  von  einander 
differireti.  Hier  ist  auch  die  Masse  des  zerstörten  Keils  in  beiden  Fällen 
etwa  gleich,  jedoch  ist  seine  Configuration  in  dem  einen  Falle  etwas 
anders  wie  in  dem  anderen.  Bei  beiden  Beobachtungen  war  die  Seh- 
störung wieder  relativ  unerheblich  und  besonders  bei  der  Beob.  124, 
wo  sie  allerdings  erst  vom  4.  Tage  an  controlirt  werden  konnte,  nur  in 
Gestalt  einer  Amblyopie  nachweissbar.  Ganz  anders  stellt  sich  die 
Sache    bei    der  Beob.  125,    obschon    die  Operation    selbst    in  sagittaler 


—     458     — 

Richtung  kaum  mehr  als  bei  den  vorhergehenden  Operationen  entfernt 
hatte.  Bei  der  Section  fand  sich  allerdings,  dass  die  Auflagerung  und 
die  ihr  entsprechende  Zerstörung  um  mehrere  Millimeter  weiter  nach 
vorn  reichte  als  bei  jenen.  Vermuthlich  ist  dies  darauf  zu  beziehen, 
dass  bei  conservirter  Dura  der  Knochen  um  einige  Millimeter  weiter 
nach  vorn  abgebroclie)i  war.  Jedenfalls  besass  die  Sehstörung  hier, 
und  zwar  auf  dem  gleichseitigen  Auge  eine  Dauer  von  49  Tagen, 
während  ihre  längste  Dauer  bei  den  anderen  fraglichen  Operationen 
nur  7  Tage  betrug. 

Betrachten  wir  nun  die  Sehstörung  des  gleichnamigen  Auges,  so 
ergiebt  sich,  dass  sie  dort,  wo  das  gegenüber  liegende  Auge  geschädigt 
war,  gleichfalls  nachzuweisen  war,  und  dann  immer  den  nasalen  Streifen, 
nicht  nur  dessen  obersten  Winkel  einnahm;  letzteres  traf  nur  am  2.  Tage 
der  Beob.  121  zu. 

Die  Sehstörung  des  gegenüber  liegenden  Auges  entsprach  insofern 
dem  Postulate  Munks,  als  sie  immer  den  oberen  lateralen  Quadranten 
einnahm.  Wenn  sie  sich  ausserdem  bei  der  Beob.  121  am  2.  und  S.Tage, 
bei  der  Beob.  123  am  2.  Tage  und  bei  der  Beob.  125  am  3.  und  4.  Tage 
noch  in  die  untere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  hinein  erstreckte,  so  kann 
dies  sehr  wohl  auf  Nebenwirkungen  bezogen  werden.  Dagegen  entsprach 
sie  wegen  ihrer  Vergänglichkeit  nicht  diesen  Postulaten.  Die  graue 
Substanz  war  an  der  Convexität  und  an  der  hinteren  unteren  Fläche 
zusammen  in  einer  Ausdehnung  von  ca.  20  mm  zerstört  worden.  Man 
hätte  danach  Rindenblindheit  einer  sehr  ausgedehnten  Partie  des  unteren 
Abschnittes  der  Netzhäute  erwarten  sollen.  Dies  traf  aber  nicht  zu; 
die  Sehstörung  hatte  sich  vielmehr  bei  der  Beob.  121  bereits  am  5., 
bei  der  Beob.  123  am  4.  und  sogar  bei  der  Beob.  125  am  36.  Tage 
wieder  vollkommen  ausgeglichen. 

Auffällig  ist  noch  das  üebergreifen  der  Sehstörung  auf  den  oberen 
Theil  des  nasalen  Streifens  bei  der  Beob.  123  und  die  bereits  erwähnte, 
um  mindestens  14  Tage  längere  Dauer  der  Sehstörung  des  gleichnamigen 
Auges  bei   der  Beob.  125. 

bb.  Die  Sehstörung  gegen  Licht  giebt  zu  besonderen  Be- 
merkungen keinen  Anlass. 

2.  Die  optischen  Reflexe  waren  bei  der  Beob.  122,  bei  der 
auch  eine  Sehstörung  fehlte,  ungestört.  Bei  den  anderen  4  Beobachtun- 
gen waren  sie  mehr  oder  minder  lange  Zeit  gestört,  meist  länger  als 
das  Sehvermögen,  jedenfalls  immer  länger  als  das  Sehen  mit  der  Stelle 
des  deutlichen  Sehens  und  ihrer  Umgebung. 


—     459     — 

B.  Atypische  Operationen. 
Es  folgen  nun  3  Beobaclitungen,  bei  denen  grössere  Exstii-pationen 
in  der  caudalen  Partie  beider  Sehsphären  in  einer  Sit/AUig  ausgfjt'iilu-t 
wurden.  Von  diesen  entlief  das  Object  der  Beob.  128,  sodass  der 
Sectionsbericht  fehlt.  Gleichwohl  habe  ich  diese  Beobachtung  nicht 
auslassen  wollen,  weil  sie  innerhalb  gewisser  Grenzen  den  Behauptungen 
Munks  entspricht.  Den  Schluss  des  Abschnittes  bilden  4  Beobachtungen 
mit  mehr  oder  minder  grossen,  verschieden  gestalteten  coudalen  Zer- 
störungen. 

Beobaclitixiig-   IS 6. 

Aufdeckung  beiderseits  in  einer  Sitzung  ganz  hinten,  dicht  an  der 
Lambdanaht  auf  links  sagittal  16  mm,  frontal  12  mm;  rechts  sagittal  16  mm, 
frontal  15  mm.    Abtragung  der  Dura,  doch  wird  beiderseits  vorn  ein  schmaler 


Fi  ff.  220. 


Fig.  221. 


—     460     — 

Streifen  Dura  stehen  gelassen,  rechts  etwa  2  mm,  links  etwa  1  mm.  Exstir- 
pation  der  freiliegenden  Rinde  etwa  ^/^  cm  tief.  Zerstörung  der  Rinde  nnter- 
halb  der  medialen  Knochenränder  bis  zur  Falx,  links  noch  etwas  ausgiebiger 
als  rechts. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  beiderseits  blind  bis  auf 
einen  unteren  links  mittleren,  rechts  mehr  mittleren-lateralen  Sector,  auf  dessen 


Fig.  222. 


links 


rechts 


Fig.  223. 


lateralem  Drittel  die  Reaction  unsicher  ist.  Auf  dem  Boden  findet  er  beider- 
seits bei  einseitig  verbundenem  Auge  Fleisch  nach  kurzem  Suchen.  3.  Tag: 
Er   nimmt  Kork,    nachdem   er  Fleisch  erhalten  hat,    einise  Male  in  das  Maul. 


—     461     — 

kaut  und  lässt  ihn  dann  fallen;  als  ihm  dann  Fleisch  o'cgeben  wird,  nimmt 
er  es  das  erste  Mal  erst,  nachdem  er  es  berochon  hat,  später  fällt  er  dann 
wieder  auf  den  Kork  hinein.  4.  Tag:  Rechts  ist  die  Sehstörung  etwas  zurück- 
gegangen, er  reagirt  schon  sofort  unterhalb  des  Aequators;  es  besteht  dort 
nur  noch  ein  nasaler  Streifen.  Oberhalb  des  Aequators  und  links  unverändert. 
6.  Tag;  Beide  Gesichtsfelder  haben  sich  nach  oben,  links  auch  nach  beiden 
Seiten  erweitert;  auf  dem  Boden  findet  er  Fleisch  ziemlich  schnell.  7.  Tag: 
Links  ist  nur  noch  die  Partie  oberhalb  des  Aequators  blind,  rechts  lateral  und 
medial  je  ein,  lateral  etwas  weit  herunterreichender  Streifen,  die  oben  zusammen- 
laufen. Auf  dem  Boden  findet  er  Fleisch  sofort.  8.  Tag:  Beiderseits  nur  noch 
je  eine,  links  grössere  blinde  Sichel  im  oberen  Gesichtsfelde.  Vom  10.  Tage 
an  Sehslörung  nicht  mehr  nachzuweisen.  Gegen  Licht:  Am  2.  Tage  indifferent, 
doch  schnüffelt  er,  wenn  das  Licht  auf  die  sehenden  Partieen  fällt.  Am  S.Tage 
reagirt  er,  sobald  es  auf  die  sehenden  Partieen  fällt,  ziemlich  lebhaft.  Unver- 
ändert bis  zum  8.  Tage,  von  da  an  beiderseits  sehr  lebhafte  Reaction. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  beiderseits  bis  zum  8.  Tage,  an  diesem 
Tage  links  vorübergehend  auf  flache  Hand  vorhanden,  dann  wieder  fehlend 
bis  zum  15.  Tage,  von  da  an  beiderseits  auf  flache  fland  stets,  auf  schmale 
Hand  zuweilen  vorhanden. 

Getödtet  am  17.  Tage. 

Section:  Häute  normal.  Links:  Die  Auflagerung  erreicht  den  hinteren 
Pol,  reicht  medial  und  hinten  ganz  über  die  I.  Urwindung,  deren  medialer 
R,and  eingezogen  ist  und  der  gegen  die  andere  Hemisphäre  um  7  mm  nach 
vorn  verschoben  ist.  Lateral  reicht  sie  bis  über  den  medialen  Schenkel  der 
IL  Urwindung  nur  wenig  in  den  lateralen  Schenkel  hinein,  der  vordere  Rand 
schneidet  in  der  Höhe  der  hinteren  Grenze  der  IIL  Urwindung  ab.  Frontaler 
Durchmesser  der  Auflagerung  16  mm,  darüber  hinaus  medialwärts  noch  ca. 
1  mm  Verwachsung  der  Dura  mit  der  1.  Urwindung.  Sagittaler  Durchmesser 
14  mm.  Rechts:  Die  Auflagerung  reicht  gleichfalls  bis  an  den  hinteren  Pol, 
dessen  untere  Fläche  atrophisch  ist.  Sie  ist  von  der  Medianlinie  vorn  9  mm, 
hinten  G  mm  entfernt.  Sie  sitzt  auf  der  ganzen  II.  Urwindung  und  reicht  nur 
wenig  in  die  I.  hinein,  nach  vorn  reicht  sie  bis  zu  einer  Senkrechten  hintere 
Grenze  der  III.  Urwindung-Falx.  Frontaler  Durchmesser  14,5  mm,  sagittaler 
Durchmesser  14  mm.  Schrägschnitt  durch  die  Mitte  der  Auflagerung:  Links 
fehlt  der  mediale  Schenkel  der  IL  Urwindung  und  der  laterale  Theil  der  I.  Ur- 
windung gänzlich,  der  laterale  Schenkel  der  IL  Urwindung,  welcher  aber 
unterschnitten  ist,  hat  sich  in  dem  senkrecht  verlaufenden  Theil  der  Narbe 
hineingelegt.  Medial  erstreckt  sich  ein  erweichter  Spalt  in  den  oberen  Theil 
des  Randwulstes  hinein,  dessen  unterer  Theil  sich  auch  in  die  Narbe  hinein- 
gezogen hat.  Diese  endet  mit  einem  ziemlich  grossen  Erweichungsherd  2  mm 
über  der  stark  ausgezogenen  Spitze  des  Seitenventrikels.  Rechts:  Die  unter 
der  Auflagerung  liegende  Partie  ist  gleichfalls  zerstört.  Das  Bild  ist  dem  der 
anderen  Seite  sehr  ähnlich;  nur  ist  der  laterale  Schenkel  der  IL  Urwindung 
mit  zerstört.  Von  dem  an  der  Umbiegungsstelle  der  Windung  liegenden  Theil 
fehlt  nur  die  Rinde  medial,   der  laterale  Theil  ist  dort  bei  abgeblasster  Rinde 


—     462     — 

erhalten.  Grosse  Erweichuiigsherde  sind  im  Grau  des  Gyrus  fornicatus  und 
ziehen  sich  bis  an  die  Spitze  des  Seitenventrikels  hin.  2.  Durchschnitt  durch 
den  vorderen  Rand  der  Narbe:  Links:  Unter  der  Narbenkappe  ist  die  Rinde 
flach  zerstört,  doch  ist  das  Rindengrau  der  lateral  und  medial  von  der  11.  Ur- 
windung  einschneidenden  Sulci,  soweit  am  Müll  er -Präparat  zu  erkennen,  in- 
tact.  Im  Markweiss  der  II.  Urwindung  steigt  ein  Erweichungsstreifen  basal- 
wärts  und  biegt,  sich  immer  an  die  Grenzen  des  Graues  haltend,  in  das  Mark 
der  HI.  Urwindung  um  und  bildet  hier  einen  unregelmässig  gestalteten,  das 
Markweiss  der  Windung  nicht  ganz  ausfüllenden  Herd.  Ebenso  steigt  ein 
feiner  Streifen  im  Markweiss  der  I,  Urwindung  herab  und  endet  durch  eine 
feine  Verbindung  im  oben  erwähnten  Erweichungsherd  der  IL  Urwindung. 
Rechts:  Die  Rinde  ist  hier  nur  oberflächlich  unter  der  Narbenkappe  zerstört. 
Am  Markweiss  des  Randwulstes  findet  sich  noch  ein  kleiner  Erweichungs- 
herd, der  einen  Ausläufer  nach  dem  Fuss  der  IL  Urwindung  sendet.  Auf 
sagittalen  Durchschnitten  durch  die  hinteren  Pole  der  Hemisphären  erweist 
sich  das  Gewebe  unter  den  Auflagerungen  bis  zu  den  hinteren  Polen  narbig 
verändert. 

Da  die  Sehspliären  in  mehr  als  ihren  hinteren  Hälften  zerstört  oder 
unbrauchbar  gemacht  waren,  mussten  mindestens  die  oberen  Hälften 
beider  Gesichtsfelder  rindenblind  sein.  Thatsächlicli  betraf  die  Seh- 
störung  vornehmlich  die  oberen  Hälften,  sie  waren  aber  nicht  rinden- 
blind, sondern  sahen  bereits  am  10.  Tage  beide  wieder. 

Keol>aclitii.iig-  IST'. 

Aufdeckung  beiderseits  ganz  hinten,  rechts  auf  sagittal  10  mm,  frontal 
14  mm;  links  sagittal  10  mm,  frontal  15,5  mm.    Medialer  Rand  der  Knochen- 


lücke beiderseits  3  mm  von  der  Mittellinie  entfernt.  Exstirpation  der  freilie- 
genden Rinde  ca.  ^4  cm  tief  hinten  bis  an  das  Tentorium. 

M  0 1  i  1  i  t  ä  t  s  s  t  ö  r  u  n  g  e  n  f e  h  1  e  n . 

Sehstörung:  Auf  dem  Boden  vom  2.  Tage  an  ohne  jede  Störung.  In 
der  Schwebe  gegen  Fleisch :  v\.m  2.  Tage  üxirt  er  es  links,  mag  es  auch  ge- 
lialten  werden,  wo  es  will,  schnappt  aber  erst  zu,  wenn  es  ihm  in  die  Gegend 
der  Nase  gehalten  wird.  Rechts  reagirt  er  überhaupt  nicht.  (Hund  hält  sich 
plötzlich  mit  beiden  Pfoten  die  Augen  zu.)  Am  3.  Tage  reagirt  er  in  der 
Schwebe  nicht;  auf  dem  Boden  keinerlei  Zeichen  von  Sehstörung;  auf  dem 
Scliosse  anscheinend,  doch  wegen  unregelmässiger  Reaction  unsicher,  auf  bei- 
den Augen  schon  aussen  reagirend,   links  oben  innen   anscheinend  amblyopi- 


463 


sclier  Streifen.  Am  4.  Tage  in  fler  Scliwebe  auf  dem  obersten  Viertel  des 
rechten  Gesichtsfeldes  keine  Reaction,  links  schmaler  nasaler  Streifen,  das 
untere  Drittel  verschonend,  blind.  Am  5.  Tage  keine  Störung  mehr.  Gegen 
Licht:  Fehlt  Reaction  am  2.  Tage,  ist  dann  bis  zum  8.  Tage  gering,  später 
gewöhnlich  lebhaft. 


Piff.  225. 


links 


reclits 


Fig.  226. 

Optische  Reflexe:  Bereits  am  2.  Tage  beiderseits  auf  tlaehe  Hand 
vorhanden,  dann  links  auch  gewöhnlich  auf  schmale,  rechts  vom  15.  Tage  an 
auf  schmale  Hand  vorhanden. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  nach  ungefähr  2^/2  Wochen. 


—     464     — 

Section:  Häute  normal.  Linke  Hemisphäre:  Die  8  mm  sagittal  und 
lo  mm  frontal  messende  Narbe  sitzt  am  hinteren  Rande  des  Hinterhauptlap- 
pens, den  sie  stark  narbig  eingezogen  hat.  Von  der  Medianspalte  bleibt  sie 
7— 8  mm  entfernt,  sitzt  fast  ausschliesslich  der  II.  Urwindung  auf,  kaum  noch 
in  den  lateralen  Theil  der  I.  Urwindung  übergreifend.  Rechte  Hemisphäre: 
Die  12  mm  sagittal,  16  mm  frontal  messende  Narbe  reicht  medial  bis  fast  an 
die  Medianspalte,  dagegen  bleibt  sie  vom  hinteren  Pol  4  mm  entfernt.  Durch- 
schnitt durch  das  vordere  Viertel  der  linken  Narbe:  Rinde  nur  flach  erodirt, 
sonst  intact.  Im  Markvveiss  finden  sich  mehrere  blutig  verfärbte  Erweichungs- 
herde, die  theilweise  die  ganze  Breite  des  Marklagers  einnehmen.  2,  Durch- 
schnitt durch  das  hintere  Drittel:  Rinde  ist  in  der  ganzen  Ausdehnung  der 
Narbe  zerstört,  ebenso  das  darunterliegende,  hier  nur  millimeterbreite  Mark- 
lager bis  zum  gegenüberliegenden  Rindengrau  der  Basalfläche  des  Hinterhaupt- 
lappens. Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  rechten  Narbe :  Unter  der  medialen 
Hälfte  der  Narbenkappe  ist  die  Rinde  völlig  zerstört,  die  laterale  Hälfte  der 
Narbe  besteht  aus  Dura,  die  der  Rinde  adhärent  ist,  das  Rindengrau  darunter 
ist  makroskopisch  intact.  In  den  Defect  sind  nämlich  die  lateralen  Partieen 
hereingezogen.  Der  schmale  Streifen  Gehirn ,  der  sich  noch  medial  von  der 
Narbe  findet,  ist  aufgehellt  und  narbig  verzogen.  Von  dem  Narbendefect  aus 
geht  ein  breiter  blutiger  Erweichungsherd  medial-basalwärts  bis  zur  medialen 
Fläche  der  Hemisphäre,  die  Pia  durchbrechend.  An  dieser  Stelle  ist  die  Dura 
adhärent. 

Durch  die  Operation  war  beiderseits  ein  ziemlich  grosser  Abschnitt 
der  hinteren  Hälfte  der  Sehsphäre  zerstört,  bezw.  von  seinen  Verbin- 
dungen abgetrennt  worden.  Rindenblindheit  eines  grösseren  Theiles  der 
oberen  Gesichtsliälfte  hätte  die  Folge  sein  müssen.  Die  Sehstörung 
dauerte  aber  nur  4  Tage.  Innerhalb,  dieser  Zeit  schien  sie  rechts  mehr, 
links  weniger  dieser  Forderung  zu  entsprechen. 

Beobaclitnng:  ISl^. 

Aufdeckung  beiderseits  ganz  hinten  auf  links  10  nun  sagittal,  19,5  mm 
frontal;  rechts  11  mm  sagittal,  18  mm  frontal.  Medialer  Rand  der  Lücke  dicht 
an  der  Mittellinie.  Exstirpation  der  freiliegenden  Rinde  ca.  ^4  cm  tief,  ausser- 
dem beiderseits  Zerstörung  der  Rinde  unter  dem  medialen  Knochenrande. 
Links  liegt  der  Sinus  transversus  frei. 

Wundheilung:  Wunde  wurde  nach  dem  11.  Tage  mehrmals  aufge- 
bissen, eitert  dann  einige  Tage  oberflächlich. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Seh  Störung:  Auf  dem  Boden  findet  er  Fleisch  von  Anfang  an  sofort. 
In  der  Schwebe  gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  wegen  Apathie  nur  zu  bestimmen, 
dass  er  von  unten  kommendes  Fleisch  gewöhnlich,  von  oben  kommendes  nie 
fixirt.  Am  3.  Tage  sieht  ein  mittlerer  unterer  Sector  regelmässig,  ein  lateral 
daneben  liegender  schmalerer  Sector  unregelraässig;  auf  dem  linken  Auge 
siclit  die  untere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  mit  Ausnahme  einer  breitereii  tem- 


—     465     — 


portalen  und  einer  schmaleren  nasalen  Zone.  Am  4.  Tage  reagiri  er  auf  dem 
rechten  Auge  auf  je  einem  breiten  temporalen  und  nasalen  Streifen  nie,  sowie 
auf  dem  oberen  mittleren  Drittel  des  Gesichtsfeldes  unregelmässig;  auf  dem 
linken  Auge  fehlt  Reaction  auf  der  ganzen  oberen  Hälfte  und  auf  einem  schmalen 
nasalen  Streifen.  Am  5.  Tage  reagirt  er  rechts  auf  einen  ziemlich  breiten 
lateralen  und  einen  schmalen  nasalen  Streifen  nicht;  links  unterhalb  des 
Aequators    überall,     oberhalb     nur    auf    einem     schmalen     nasalen    Streifen 


Fig.  227. 

Reaction.  Am  6.  Tage  besteht  auf  beiden  Augen  nur  noch  ein  oberer 
lateraler,  links  etwas  weiter  herunterreichender  blinder  Streifen.  Auf  dem 
ganzen  Reste  der  Gesichtsfelder  gelingt  sogar  der  Stossversuch.  Kork 
nimmt  er,  wenn  zuerst  Fleisch  gegeben  wird,  das  1.  Mal  gierig,  kaut 
ihn,  das  2.  Mal  kaut  er  ihn  weniger  lange,  das  3.  Mal  speit  er  ihn  sofort 
aus,  das  4.  Mal  wendet  er  sich  unwillig  ab.  Wird  dann  Fleisch  wieder 
gegeben,  so  nimmt  er  den  folgenden  Kork  wohl  das  1.  Mal  ins  Maul,  kaut  ihn 
aber  nicht  und  das  2.  Mal  versagt  er.  Am  7.  Tage  ist  die  Sehstörung  auf  dem 
linken  Auge  verschwunden.  Auf  dem  rechten  Auge  erscheint  die  Sehstörung 
grösser,  sie  nimmt  fast  den  ganzen  oberen  temporalen  Quadranten  ein  und 
bleibt  annähernd  so  bis  zum  17.  Tage.  Am  19.  Tage  besteht  nur  noch  lateral 
oben  ein  amblyopischer  Fleck,  der  am  21.  Tage  nur  noch  unsicher  nachzu- 
weisen ist,  dann  entlief  der  Hund.   Gegen  Licht  keine  Störung. 

Optische  Reflexe:  Auf  flache  Hand  beiderseits  vom  2.  Tage  an,  auf 
schmale  Hand  links  vom  10.  Tage  an  abwechselnd  vorhanden. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Section  fehlt,  da  der  Hund  entlief. 

Die  Operation  hatte  beiderseits  das  hintere  Drittel  bis  die  hintere 
Hälfte  der  Sehsphäre  zerstört.  Der  grössere  Theil  der  oberen  Hälfte 
beider  Gesichtsfelder    hätte    rindenblind   sein  sollen.     Thatsächlich  ent- 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.     II.  Theil.  30 


—     466     — 

sprach    die  Localisatiou    der   Sehstörung    dieser    Forderung,    aber    ihre 
Dauer  betrug  links  nur  6,  rechts  etwa  21  Tage. 


Beobachfung-  ISO. 

Aufdeckung  ganz  hinten  links  auf  17  mm  sagittal,  13  mm  frontal.  Ein 
o  mm  breiter  Streifen  der  Dura  am  hinteren  Rande  der  Lücke  wird  stehen  ge- 
lassen. Exstirpation  der  freiliegenden  Rinde  ca.  ^j^  cm  tief;  ferner  Zerstörung 
der  Rinde  mit  Präparatenheber  unterhalb  des  medialen  Knochenrandes  ca.  3mm 
bis  zur  Falx. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Auf  dem  Boden  hat  er  beim  Auffinden  von  Fleisch  bis 
zum  13.  Tage  immer  Schwierigkeiten,  die  grösser  sind,  wenn  das  Fleisch  ruhig 
liegt,  geringer,  wenn  es  geworfen  wird  und  mit  Geräusch  zu  Boden  fällt.  In 
der  Schwebe  gegenFleisch:  Am  2.  Tage  Reaction  rechts  nur  auf  einem  schmalen 


Fig.  228. 

nasalen  Streifen,  links  überall  bis  auf  einen  nicht  sehr  breiten  nasalen  Streifen. 
Am  3.  Tage  ist  die  Störung  rechts  unten  etwas  zurückgegangen.  Das  rechte 
Auge  ist  am  8.  Tage  noch  unverändert;  links  besteht  an  diesem  Tage  oben 
nasal  noch  ein  schmaler  amblyopischer  Streifen.  Inzwischen  wird  beobachtet, 
dass  der  Hund  auf  weisses  Fleisch  und  Fett  besser  und  weiter  nach  aussen 
reagirt,  als  auf  gekochtes  Fleisch  und  rohes  Pferdefleisch.  Am  16.  Tage  be- 
steht nur  noch  ein  lateraler  amblyopischer  Streifen,  der  oben  etwas  breiler  als 


—     467     — 

unten  ist;    links  keine  Sohstörung  mehr,    am  21.  Tage  beiderseits    keine  Seli- 
störung  mehr.   Gegen  Licht  beiderseits  indifferent. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  rechts  bereits  l^/o  Stunden  nach  der  Ope- 
ration und  bis  zum  8.  Tage  gänzlicli,  von  da  an  gegen  flache  Hand,  besonders 
wenn  diese  von  der  Nase  herkommt,  Anfangs  schwach  vorhanden,  links  von 
Anfang  an  auch  gegen  schmale  Hand  vorhanden. 


Fig.  229. 


links 


rechts 


Fig.  230. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  ungefähr  nach  öYg  Wochen. 

Section:  Häute  normal.  Die  in  ihrem  grössten  sagittalen  Durchmesser 
14,  frontal  10  mm  messende  Narbe,  bleibt  mit  ihrer  hinteren  Spitze  3  mm  vom 
hinteren  Fol,  mit  ihrem  medialen  Rande  7  mm  von  der  Mittellinie  entfernt, 
mit  ihrer  vorderen  Spitze  2—3  mm    hinter  einer  Linie   zurück,    die   man  vom 

30* 


—     468     — 

hinteren  Rand  der  IV.  Urwindung  senkrecht  auf  die  Palx  ziehen  kann.  Sie 
sitzt  vornehmlich  in  der  lateralen  Hälfte  der  I.  und  der  medialen  der  IL  Ur- 
windung. Durchschnitt  mitten  durch  die  Narbe:  In  der  Substanz  der  IL  Ur- 
windung gewahrt  man  eine  gallertige  Narbe,  deren  Ausläufer  sich  tief  in  die 
I.  Urwindung  hineinerstrecken,  dagegen  die  weisse  Substanz  der  lateralen 
Hälfte  der  IL  Urwindung  nur  wenig  beschädigt  haben. 

Die  Zerstörung  betraf  excl.  des  hinteren  Pols  den  grösseren  Theil 
der  hinteren  und  einen  medialen  Theil  der  lateralen  Hälfte  der  Seh- 
sphäre, sowie  einen  Theil  der  Stelle  Ai.  Die  Sehstörung  hätte  also  vor- 
nehmlich, abgesehen  vom  linken  Auge,  den  oberen  und  medialen  Theil 
des  rechten  Gesichtsfeldes  betreffen  müssen.  Sie  hatte  jedoch  einen 
typisch  hemianopischen  Charakter  und  verlor  sich  auch  in  typischer 
Weise.  Das  linke  Auge  war  am  16.  Tage  frei.  Rindenblindbeit  be- 
stand überhaupt  nicht. 

BeobaclitTing'  130. 

Derselbe  Hund  von  Beob.129  (vgl.  dort  die  Figuren).  Aufdeckung  rechts 
ganz  hinten  auf  sagittal-lateral  6  mm,  sagittal-medial  9,  frontal  11mm-.  Hin- 
terer Knochenrand  1—2  mm  von  der  Lambdanaht  entfernt.  Exstirpation  der 
Rinde  im  ganzen  freiliegenden  Bezirk;  hinten  berührt  der  Präparatenheber  das 
Tentorium. 

M  0 1  i  1  i  t  ä  t  s  s  t  ö  r  u  n  g  e  n  f eh  1  e n . 

Sehstörung:  Beim  Fleischsuchen  auf  dem  Boden  sind  kaum  Störungen 
zu  bemerken.     In  der  Schwebe  gegen  Fleisch:   Am  2.  Tage   rechts   schmaler 


Fig.  231. 

nasaler  Streifen  blind,  links  sieht  er  nur  auf  dem  mittleren  Theil  des  Gesichts- 
feldes unterhalb  des  Aequators.  Am  3.  Tage  reagirt  der  Hund  links  oberhalb 
des  Aequators  nicht,   unten  reagirt  er;   rechts  besteht  anscheinend  oben  nasal 


—     469     — 

noch  ein  ziemlich  breiter  blinder  Streifen.  Am  4.  Tage  Reaction  links  in  der 
ganzen  unteren  Gesichtsfeldhälfte,  in  der  oberen  nur  medial  etwa  bis  zu  einem 
Drittel,  rechts  bis  auf  einen  oben  nasal  gelegenen  Streifen.  Am  9.  Tage  be- 
steht rechts  anscheinend  keine  Störung  mehr,  links  besteht  noch  eine  Störung, 
die  einen  schmalen  Streifen  im  obersten  Theil  des  Gesichtsfeldes  einnimmt. 
Später  keine  deutliche  Sehstörung  mehr.  Gegen  Licht:  Keine  Differenz  in  der 
überhaupt  nur  geringen  Reaction  nachweisbar. 

Optische  Reflexe  fehlen  links  gänzlich  bis  zum  6.  Tage,  dann  auf 
flache  Hand  vorhanden ;  rechts  auf  flache  Hand  ungestört. 

Nasenlid refl ex  ungestört. 

Getödtet  nach  14  Tagen. 

Section:  Häute  normal.  Die  in  ihrem  grössten  Durchmesser  sagittal 
8  mm,  frontal  7  mm  messende  Narbe  sitzt  der  Convexität  so  auf,  dass  sie  mit 
ihrem  hinteren  medialen  Rande  5  mm  vom  hinteren  Pol  entfernt  bleibt,  wäh- 
rend sie  ihn  mit  ihrem  lateralen  Rande  erreicht.  Mit  ihrer  vorderen  Spitze 
bleibt  sie  8  mm  von  der  Mittellinie  entfernt.  Sie  sitzt  gänzlich  in  dem  me- 
dialen Schenkel  der  H.  Urwindung  und  bleibt  mit  ihrem  vorderen  Rande  um 
8  mm  hinter  der  links  erwähnten  Linie  zurück.  Der  Durchschnitt  lässt  nicht 
viel  Veränderungen  erkennen;  erst  auf  einem  sagittalen  Schnitte  durch  die 
Mitte  des  hinteren  Abschnittes  sieht  man,  dass  eine  9  mm  tiefe  Höhle  vor- 
handen ist,  die  bis  ganz  an  die  hintere  Fläche  des  Hinterhauptlappens 
reicht. 

Zerstört  war  der  hintere  Abschnitt  des  medialen  Schenkels  der 
IL  Urwindung  bis  an  den  hinteren  Pol.  Demnach  hätte  vornehmlich 
das  Sehvermögen  im  oberen  Theil  des  linken  Gesichtsfeldes  geschädigt 
sein  sollen.  Dies  traf  auch  zu,  denn  die  Sehstörung  betraf  vornehmlich 
den  oberen  Theil  des  linken  Gesichtsfeldes;  sie  war  aber  bereits  am 
11.  Tage  gänzlich  verschwunden. 

Beolbaclitung'  131. 

Aufdeckung  hinten  rechts  auf  16  mm  sagittal,  13  mm  frontal.  Medialer 
Knochenrand  ca.  4  mm  von  der  Mittellinie  entfernt.  Exstirpation  der  frei- 
liegenden Rinde,  sowie  Zerstörung  der  Rinde  unterhalb  der  medialen  Knochen- 
brücke. 

Wundheilung:  Wunde  am  14. Tage  aufgebissen,  secernirt  am  17. Tage 
etwas,  am  22.  Tage  verheilt. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Auf  dem  Boden  ist  eine  nennenswerthe  Störung  nicht 
nachweisbar.  In  der  Schwebe  gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  zu  indifferent,  am 
S.Tage  links  schmaler  lateraler  blinder  Streifen.  Später  und  rechts  überhaupt 
keine  Störung  mehr  nachweisbar.   Gegen  Licht  keine  Störung  zu  erkennen. 

Optische  Reflexe:  Gegen  flache  Hand  links  ungestört,  gegen  schmale 
Hand  rechts  überhaupt,  links  vom  5.  Tage  an  vorhanden. 

Nasenlidreflex  ungestört. 


—     470     — 

Getödtet  6Wochen  nach  der  I.Operation,  nachdem  inzwischen  noch  eine 
2.  symmetrische  Operation  ausgeführt  worden  war. 

Section:  Häute  normal.  Die  sagittal  13,  frontal  10mm  messende  Narbe 
sitzt  der  Hauptsache  nach   auf  der  1.  Urwindung,  bleibt  3  mm  vom  medialen 


Fiff.  232. 


Fi. 


rechts 


Fig.  234. 

•Rand,  der  deutlich  narbig  eingezogen  ist  und  6  mm  vom  hinteren  Pol  entfernt. 
Durchschnitt  durch  das  hintere  Drittel  der  Narbe:  Die  unter  der  Operations- 
stelle befindliche  Rinde  ist  zerstört,  die  angrenzenden  Partien  offenbar  in  die 
Wunde  hineingezogen.     Von  der  Narbenkappe    gehen    mehrere    blutig  durch- 


—     471     — 

setzte  Erweichungsstreifen  aus:  basal-lateral  unter  dem  llindengrau  der  II.  Ur- 
windung  entlang,  das  darüber  deutlich  abgeblasst  ist  und  medial-basal  bis  an 
das  Grau  der  Medianfläche  der  Hemisphäre.  Die  medial  von  der  Narbe  liegende 
Rinde  ist  stark  aufgehellt. 

Ein  Tlieil  der  hintersten  Partie  der  Selisphäre  war  zerstört.  Dauernde 
Rindenblindheit  eines  Theiles  der  oberen  Gesichtsfeldhälfte  hätte  die 
Folge  sein  sollen.  Thatsächlich  bestand  nur  eine  kurzdauernde  Blind- 
heit auf  einer  schmalen  lateralen  Sichel  des  linken  Gesichtsfeldes. 

Beobaclxtwiijsy  13S. 

Derselbe  Hund  von  Beobachtung  131  (vgl.  dort  die  Figuren). 

Aufdeckung  ganz  hinten  links  auf  16  mm  sagittal,  17  mm  frontal.  Me- 
dialer Rand  der  Knochenlücke  4  mm  von  der  Mittellinie  entfernt.  Exstirpation 
der  freiliegenden  Rinde  ca.  ^4  c™  ^ief-  Es  wird  diesmal  nicht  die  unterhalb 
der  medialen  Knochenbrücke  liegende  Rinde  zerstört.  Der  Präparatenheber 
dringt  bis  an  das  Tentorium. 


Fig.  235. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Fehlt  auf  dem  Boden,  ebenso  in  der  Schwebe  gegen 
Fleisch  gänzlich ;    desgl.  gegen  Licht. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  rechts  nur  am  2.  Tage,  vom  3.  Tage  an 
gegen  flache,  vom  8.  Tage  an  auch  gegen  schmale  Hand  vorhanden. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  2Y2  Wochen  nach  der  Operation. 

Section:  Die  ca.  15  mm  sagittal  und  10  mm  frontal  messende  Narbe 
reicht  nach  hinten  bis  zum  Pol  des  Hinterbauptlappens,  nach  medial  hinten  bis 
zur  Medianspalte,  vorn  6  mm  entfernt  bleibend.  Nach  vorn  von  der  Narbenkappe 
erstreckt  sich  auf  der  Gehirnoberfläche  eine  ca.  1  cm  grosse  flache  Impres- 
sion, die  von  einer  darüber  gelagert  gewesenen  fibrösen  Verdickung  der  Dura 
herrührt.     (Organisirtes  Blutgerinsel?)   Häute   sonst  normal.     Auch  auf  einem 


-^     472     — 

durch  diese  Stelle  gelegten  Querschnitt  ist  die  Impression  deutlich  ,  die  Rinde 
zeigt  hier  jedoch  keine  besonderen  Veränderungen.  Durchschnitt  durch  die 
Mitte  der  Narbe:  Unter  der  Narbenkappe  ist  die  Rinde  entsprechend  dem 
grössten  Theil  der  I.  und  der  ganzen  II.  Urwindung  völlig  zerstört,  ausserdem 
erstreckt  sich  von  dort  ein  fast  wie  die  Narbe  breiter  blutig  durchsetzter  Er- 
weichungsherd basal,  resp.  medialwärts,  bis  an  das  gegenüberliegende  Rinden- 
grau, das  Markweiss  ausgedehnt  zerstörend.  Das  Rindengrau  lateral  und  be- 
sonders deutlich  medial  von  der, Narbe  ist  aufgehellt. 

Die  hintere  Hälfte  der  Sehspliäre  einschliesslich  des  zugehörigen 
Theiles  der  Stelle  A^  war  grösstentheils  zerstört.  Der  grössere  Theil 
der  oberen  Hälfte  des  rechten  Gesichtsfeldes  nebst  dem  zugehörigen 
Theil  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens  hätte  also  dauernd  rindenblind 
sein  sollen.     Thatsächlich  bestand  aber  gar  keine  Sehstörung. 


Tabelle    VHIb. 

Caudale   Läsionen.     Atypische. 


r^ 

Sehstörung 

IX] 

0 

ngen 

m 

Art  der 

Ort  der  Operation 

Optische 

r§ 

g 

6 

Operation 

(Section) 

gegen  Fleisch 

gegen 
Licht 

Reflexe 

g 
S 
pq 

1-26 

Exstirpa- 

Doppelseitig.  Hintere 

Nicht    ganz    symme- 

Entspre- 

Fehlen beider- 

tion ca.  3/4 

zwei  Drittel  der  Seh- 

trisch,  doch  beider- 

chend   der 

seits  bis  zum 

cm  tief. 

sphäre.    Links :    Sa- 

seits  von  Anfang  an 

Sehstö- 

15.  Tage, 

gittal  14  mm,  fron- 

den   unteren    Theil 

rung  gegen 

dann  noch  ab- 

tal 16  mm.    Rechts: 

freilassend,  nach 

Fleisch. 

geschwächt. 

Sagittal  14  mm,  fron- 

ob. zurückweichend. 

Dauer  8 

tal  14,5  mm.  Zei'stö- 

am    10.    Tage    ver- 

Tage. 

rung:    Links  haupt- 

schwunden. 

sächlich  des  media- 

len   Schenkels     der  II.  und  des  lateralen 

Theiles  der  I.  Urwindung;  rechts  ausser- 

dem noch  stärkere  Zerstörung  des  media- 

len Theils    des    lateralen  Schenkels    der 

11.  Urwindung. 

127 

Exstirpa- 

Doppelseitig.    Links-. 

Beiderseits  nur 4  Tage 

Beiderseits 

Nur  abge- 

Unge- 

— 

tion  ca.  ^/^ 

Vornehmlich  im  me- 

dauernd,  rechts  am 

am  2.  Tage 

ges  eh  wacht. 

stört. 

cm.  tief. 

dialen  Schenkel  der 
11.  Urwindung,    nur 
wenig   in  die  Nach- 
barwindung     über- 
greifend.  Sagittal  8 
mm,  frontal  13  mm. 
Rechts:     I.  und  II. 
Urwindung.  Sagittal 
12   mm,    frontal   16 
mm. 

oberen,  links  im  obe- 
ren   medialen  Theil 
des  Gesichtsfeldes. 

gänzlich, 
dann  bis 
zum  8. 
TageReac- 
tion   abge- 
schwächt. 

.- 

473 


pq 


Art  der 
Operation 


Ort  der  Operation 
(Section) 


SehstörunK 
gegen  Fleisch 


gegen 
Licht 


Optische 
Reflexe 


m 


128 


Exstirpa- 

tion  ca.  ^/^ 

cm  tief. 


129 


130 


Exstirpa- 

tion  ca.  ^/, 

cm  tief. 


Exstirpa 
tion  bis  an 
den  hinte- 
ren Pol 


131 


132 


Doppelseitig.  Sagittal 
10  u.  11  mm,  fron- 
tal 18  u.  19,5  mm 
bis  an  den  hinteren 
Pol  und  zur  Medi- 
dianlinie. 


Links.  Hinterer  Theil 
der  IL  und  I.  Urwin- 
dung  mit  Schonung 
des  hinteren  Pols. 
Sagittal  14  mm, 
frontal  10  mm. 


Rechts.  Hinterer  Theil 
des  medialen  Schen- 
kels der  IL  Ui'win- 
dung,  5  mm  vom  hin- 
teren Pol,  8  mm  von 
der  Mittellinie.  Sa- 
gittal 8  mm,  fron- 
tal 7  mm. 


Anfänglich  beiderseits 
nur  die  untere  me- 
diale Partie  frei- 
lassend, dann  sich 
nach  oben  verlie- 
rend, sodass  schliess- 
lich nur  laterale  Par- 
tien blind  bleiben. 
L.  am  7.,  r.  am  21. 
Tage  verschwunden. 

Links:  Nasaler  Strei- 
fen bis  incl.  15.  Tag; 
zuletzt     nur     noch 
oben. 
Rechts ; 
pisch, 
mehr 


Hemiano 
oben    immer 
als  unten, 


Exstirpa- 
tion. 


Exstirpa- 

tion  ca.  2/4 

cm  tieL 


Dauer  20  Tage. 

Rechts:  Nasaler Strei-  Keine  Dif- 
fen,  am  4.  Tage  nur  ferenz,  Re- 
noch    oben,    am    9.      action 
Tage     nicht  '  mehr  überhaupt 
nachweisbar.  gering, 

Links:  Am  2.  Tage 
nur  im  unteren  mitt- 
leren Theil,  am  3. 
Tage  die  ganze  un- 

_^__    "tere  Hälfte  des  Ge-  ___ 

Sichtsfeldes  sehend.  4.  Tag:  Reaction  in  der  ganzen 
unteren  und  ungefähr  im  medialen  Drittel  der  oberen 
Gesichtsfeldhälfte.  Am  9.  Tage  noch  oberer  Ring 
amblyopisch  am  11.  Tage  normal. 


Fehlt. 


Beiderseits 
indifferent. 


Rechts.  HintererTheil 
der  I.  Urwindung, 
3  mm  von  der  Me- 
dianlinie, 6  mm  vom 
hinteren  Pol.  Sagit- 
tal 13  mm,  frontal 
10  mm. 

Links.Medialer  Schen- 
kel der  IL  grösster 
Theil  der  I.  Urwin- 
dung, lateral.  Schen- 
kel der  IL  Urwin- 
dung zu  einem  klei- 
nen Theil.    Sagittal 

15  mm,  frontal  10  mm. 


Links:  Nur  am  3. 
Tage  schmaler  late- 
raler Streifen  blind, 
später,  sowie  rechts 
keine. 


Fehlt. 


Fehlt. 


Nur  abge- 
gesehwächt. 


Unge-       Ifiind 
stört.  1     entlief. 


Fehlen   rechts  Unge- 
gänzlich    bis  stört. 
S.Tage,  dann 
allmählich 

wieder 
kehrend. 


Fehlen  links 
gänzlich  bis 
zum  6.  Tage, 

dann   auf 
flache  Hand 
voi'handen. 


Fehlt. 


Abgeschwächt 

bis  zum  5. 

Tage,  dann 

normal. 


Fehlen     ganz 

lieh  einen  Tag, 

dann  noch 

5  Tage  abge^ 

schwächt, 


Unge- 
stört. 


Unge- 
stört. 


Unge- 
stört. 


Vorüber- 
gehendes 
Wieder- 
aufleben 
der  gleich- 
seitigen 
Sehstö- 
rung der 
1.  Ope- 
ration. 


—      474     — 

Zusammenfassung. 
1.  Sehstörungen  (aa.  Reaction  gegen  Fleisch):  Bei  der 
Beob.  126  war  reichlich  die  hintere  Hälfte  der  Sehsphären  zerstört 
oder  doch  unbrauchbar  gemacht,  das  Scotom  musste  also  dem  auf 
Fig.  95 d  wiedergegebenen  Typus  beiderseits  entsprechen,  mit  anderen 
Worten  beide  oberen  Gesichtsfeldhälften  mussten  rindenblind  sein;  auf 
das,  was  darüber  hinaus  noch  blind  war,  konnte  es  deshalb  nicht  an- 
kommen, weil  sowohl  die  -ursprüngliche  Läsiou,  als  auch  secundäre 
Erweichungen  sich  über  die  vorgezeicbneten  Grenzen  huiaus  erstreckten. 
Thatsächlich  erschienen  nun  zu  Anfang  der  Beobachtungszeit,  d.  h.  in 
den  ersten  5 — 6  Tagen  die  unteren  Gesichtsfeldpartien  theilweise  frei 
und  die  oberhalb  des  Aeqiiators  belegenen  blind;  aber  schon  am  7.  Tage 
hatte  sich  die  Sehstörung  des  rechten  Auges  auf  eine  obere  Sichel 
zurückgezogen,  am  8.  Tage  traf  dies  auch  für  das  linke  Auge  zu  und 
am  10.  Tage  war  die  Sehstörung  auf  beiden  Augen  verschwunden. 
Bei  der  Beob.  127  war  beiderseits  ein  schmaler  Streifen  des  hinteren 
Pols  und  linkerseits  ein  medialer  Streifen  stehengeblieben.  Ausserdem 
war  die  Ausschaltung  etwas  weniger  umfangreich  als  bei  der  Beob.  126; 
immerhin  war  der  Defect  ziemlich  gross,  um  so  mehr,  da  der  hintere 
Pol  wenigstens  linkerseits  nicht  mehr  functionsfähig  sein  konnte.  Jedoch 
musste  er  auch  rechterseits  von  seinem  Marklager  getrennt  sein.  Die 
Sehstörung,  welche  wenig  ausgesprochen  und  von  kurzer  Dauer  war, 
entsprach  am  4.  Tage,  dem  ersten  nnd  einzigen  Tage,  an  dem  sie  zu 
fixiren  war,  auf  dem  rechten  Auge  wenigstens  insofern  dem  Schema 
M  unk 's,  als  sie  sich  nur  in  der  oberen  Gesichtshälfte  hielt  und  dort 
den  obersten  Kreisabschnitt  einnahm.  Auf  dem  linken  Auge  fehlte 
jedoch  ein  in  dieser  Weise  characteristisches  Symptom.  Hier  war  nur 
am  2.  Tage  eine  allgemeine  Amblyopie  und  dann  bis  zum  4.  Tage  ein 
schmaler  oberer  nasaler  blinder  Streifen  nachzuweisen.  Am  5.  Tage 
war  die  Sehstörung  beiderseits  verschwunden.  Bei  der  Beob.  128,  zu 
der  die  Section  fehlt,  entsprach  die  Form  des  Scotoms  am  meisten  dem 
Schema  Munk's.  Auf  dem  linken  Auge  fehlte  bis  zum  5.  Tag  wirklich 
die  ganze  obere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  zuzüglich  des  von  der  gleich- 
seitigen Operation  herrührenden  medialen  Streifens.  An  diesem  Tage 
war  letzterer  verschwunden,  sodass  die  schematische  Figur  rein  in  die 
Erscheinung  trat.  Aber  schon  am  6.  Tage  war  nur  noch  ein  oberer  lateraler 
Streifen  blind,  und  am  folgenden  Tage  auch  dieser  verschwunden.  Noch 
deutlicher  trat  die  Figur  des  Schemas  auf  dem  rechten  Auge  hervor, 
insofern  daselbst  der  laterale  obere  Quadrant  bis  zum  17.  Tage,  wenn 
auch  in  etwas  schwankender  Ausdehnung  blind  blieb.  Indessen  war 
auch  hier  die  Sehstörung  am  21.  Tage  bis  auf  etwas  Unsicherheit  vor- 


—     475     — 

scliwunden.  Bei  der  Beob.  129  war  der  hintere  Pol  zwar  stehen  so- 
blieben,  aber  wahrscheinlich  von  seiner  Markstrahlung  grösstentheil.s 
abgetrennt.  Der  zwischen  der  Hinuiarbe  und  der  Mittellinie  liegende 
Streifen  war  grösstentheils  zerstört  worden,  ausserdem  reichte  die  Zer- 
störung nach  vorn  erheblich  in  die  Stelle  Ai  hinein.  Das  Scotom  hatte 
hier  den  typisch  liemiauopischen  Charakter,  verlor  sich  auch  in  dieser  Weise, 

Meiner  Ansicht  nach  trägt  diese  Beobachtung  zur  ErkUlrung  der 
vorhergehenden  und  mehrerer  anderen  früheren  bei.  Bei  der  Beob.  120 
reichte  die  Zerstörung  ebenso  wie  bei  einer  Anzahl  ähnlicher  Eingriffe 
weiter  nach  vorn  und  nahm  überhaupt  einen  grösseren  Raum  ein  als 
bei  anderen,  sonst  ähnlichen  Exstirpationen.  Infolgedessen  war  die 
Sehstörung  von  längerer  Dauer  und  dehnte  sich  auf  grosse  Theile,  ins- 
besondere die  unteren  Partien  des  Gesichtsfeldes  aus.  Auf  diese  Weise 
wurde  die  typische  Figur  des  Scotoms  maskirt,  sodass  dieselben  eben 
jene  typisch  hemianopische  Form  annahm  und  bei  der  überhaupt  nur 
kurzen  Dauer  dieser  Störungen  auch  unter  Beibehaltung  dieser  Form 
verschwand.  Bei  der  Beob.  130  war  der  hintere  Abschnitt  des  medialen 
Schenkels  der  II.  Ürwindung  bis  an  den  hinteren  Pol  zerstört.  Dem- 
nach hätte  vornehmlich  das  Sehvermögen  im  oberen  Theil  des  linken 
Gesichtsfeldes  geschädigt  sein  sollen.  Dies  traf  auch,  entsprechend  der 
soeben  gegebenen  Auseinandersetzung  zu,  denn  die  Sehstörung  betraf 
vornehmlich  den  oberen  Theil  des  linken  Gesichtsfeldes,  sie  war  aber 
bereits  am  11.  Tage  gänzlich  verschwunden.  Ausserdem  wurde  noch 
ein,  mehrere  Tage  anhaltendes  Wiederaufleben  der  Sehstörung  des 
medialen  Streifens  dieses  Gesichtsfeldes  beobachtet.  Bei  der  Beob.  131 
war  vornehmlich  der  hintere  Theil  des  Randwulstes  mit  Schonung  des 
hinteren  Pols  ausgeschaltet  worden,  doch  reichte  die  Zerstörung  noch 
erheblich  in  die  II.  ürwindung  hinein.  Dauernde  Rindenblindheit  eines 
Theiles  der  oberen  Gesichtsfeld  half  te  hätte  die  Folge  sein  sollen.  Tliat- 
sächlich  bestand  nur  eine  kurzdauernde  Blindheit  auf  einer  schmalen 
lateralen  Sichel  des  linken  Gesichtsfeldes.  Bei  der  Beob.  132  be- 
traf die  Zerstörung  den  bei  weitem  grössten  Theil  der  Stelle  Aj. 
Obschon  ihr  lateraler  Theil  und  ein  Stück  des  medialsten  Theils  des  Rand- 
vvulstes  geschont  war,  erwiesen  diese  Partien  sich  doch  schon  makroskopisch 
als  erheblich  geschädigt.  Der  grössere  Theil  der  oberen  Hälfte  des 
rechten  Gesichtsfeldes  nebst  dem  dazu  gehörigen  Theil  der  Stelle  des 
deutlichen  Sehens  hätte  also  dauernd  rindenblind  sein  sollen.  Thatsäch- 
licli  bestand  aber  gar  keine  Sehstörung. 

Die  Resultate  dieser  beiden  letzten  Beobachtungen  stehen  wieder 
in  entschiedenstem  Widerspruche  zu  der  Projectionslehre  Munk's  und 
den  Ergebnissen  der  vorher  angeführten  Beobachtungen,    insofern   diese 


—     476     — 

sich,  wenigstens  was  die  Oertliclikeit  der  producirten  Selistörung  anging, 
einigermaassen  mit  jener  Lehre  in  Einklang  bringen  liessen. 

bb.  Die  Sehstörung  gegen  Licht  verhielt  sich  im  Allgemeinen 
wie  die  gegen  Fleisch,  ohne  jedoch  überall  ebenso  deutlich  nachweisbar 
zu  sein,  ja,  bei  der  Beob.  128  schien  sie  überhaupt  gänzlich  zu  fehlen. 

2.  Die  optischen  Reflexe  verhielten  sich  bei  dieser  Reihe  von 
Beobachtungen  sehr  verschieden.  Bei  der  Beob.  126  fehlten  sie  ent- 
sprechend der  grossen  Ausddmung  der  Sehstörung  13  Tage  gänzlich, 
um  dann  noch  3  Tage  bis  zum  Abschluss  der  Beobachtung  abgeschwächt 
zu  bleiben.  Umgekehrt  bestand  bei  den  Beobb.  127,  131  und  132  ent- 
sprechend dem  geringen  Grade,  bezw.  dem  vollständigen  Fehlen  der 
Sehstörung  eine  kaum  nenneuswerthe  Störung  der  optischen  Reflexe.  Li 
allen  diesen  Fällen  war  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  und  ihre  Um- 
gebung von  vornherein  frei  gewesen.  Bei  der  Beob.  128  andererseits 
fehlten  die  optischen  Reflexe  ungeachtet  der  grossen  Ausdehnung  der 
Scotome  niemals  gänzlich,  während  sie  allerdings  insofern  mit  der  Seh- 
störung parallel  liefen,  als  sie  auf  dem  rechten  Auge,  auf  dem  die 
Sehstörung  erheblich  länger  anhielt,  während  der  ganzen  Dauer  der 
Beobachtung  gestört  blieben. 

Bei  den  Beobb.  128  und  130  endlich  fehlten  sie  8  bezw.  6  Tage 
gänzlich,  um  dann  noch  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung  abgeschwächt 
zu  bleiben.  La  dem  ersteren  Falle  war  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens 
bis  zu  diesem  Zeitpunkte  blind,  in  dem  anderen  war  sie  es  von  Anfang 
an  nicht. 

3.  Der  Nasenlidreflex  war  bei  allen  diesen  Beobachtungen 
ungestört. 

e)    Orale  Läsionen. 

Die  in  diesem  Abschnitte  mitgetheilten  23  Beobachtungen  habe  ich 
in  2  Gruppen,  typische  und  atypische,  nicht  nach  dem  Orte  der  Opera- 
tion, wie  in  den  anderen  Abschnitten,  sondern  nach  der  Art  des  opera- 
tiven Erfolges,  also  derart  geordnet,  dass  die  8  typischen  Beobachtungen 
einen  der  M  unk 'sehen  Forderung  wenigstens  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
entsprechenden  Erfolg  hatten,  während  die  15  atypischen  Beobachtungen 
einen  dieser  Forderung  nicht  entsprechenden  oder  gerade  den  entgegen- 
gesetzten Erfolg  hatten. 

Die  Abtragung  der  vorderen  Hälfte  der  Sehsphäre  hätte  nach  der 
Lehre  Munk's  Rindenblindheit  in  Form  der  in  der  Fig.  95c  dargestell- 
ten Scotome  zur  Folge  haben  sollen.  War  die  laterale  Partie  dieses 
Gebietes  stehen  gelassen  worden,  so  durfte  das  gleichseitige  Auge  kein 
Scotom  zeigen;  war  dagegen  die  mediale  Partie  dieses  Gebietes  frei- 
gelassen   worden,    so    musste  der  lateralste  Abschnitt  des  gegenseitigen 


—     477     — 

Gesichtsfeldes  frei  bleiben.  Meine  Versuche  erstrecken  sich  sowohl  ;mf 
Operationen,  bei  denen  die  ganze  vordere  Hälfte,  als  auch  auf  solche, 
bei  denen  nur  einzelne  Abschnitte  derselben  fortgenommeu  waren. 

links  rechts  links 


u, 

Fig.  95e. 

A.  Typische  Operationen. 

Beobachtiiiig:  133. 

Aufdeckung  links  hinten  auf  sagittal  12  mm,  frontal  24  mm.  Der  vor- 
dere Rand  bleibt  27  mm  von  der  Lambdanaht  entfernt,  der  mediale  liegt  dicht 
an  der  Medianspalte.  Exstirpation  der  freiliegenden  Rinde  2—3  mm  tief. 


(zu  ßeob.  144.) 


Fig.  236. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:   Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  typische  Hemianopsie,  linker 
Streifen  verhcältnissmässig  breit;   am  3.  Tage,  dann  unverändert  bis  inclusive 


—     478     — 

9.  Tag,  Aufhellung  der  unteren  nasalen  Partie;  am  10.  Tage  beginnt  die  Stelle 
des  deutlichen  Sehens  sich  aufzuhellen,  daran  schliesst  sich  eine  unsichere 
Grenzzone.    Am  1.3.  Tage  ist  die  Selistörung  aus  dem  ganzen  Gesichtsfeld  bis 


Fig.  2.37. 


links 


rechte 


Fiff.  238. 


auf  den  unteren  lateralen  Quadranten,  welcher  blind  ist,  verschwunden, 
am  19.  Tage  daselbst  nur  noch  ein  blinder  Kreisabschnitt,  am  20.  Tage  keine 
Sehslörung  mehr.  Auf  dem  linken  Auge  war  der  mediale  Streifen  nur  bis  zum 
9.  Tage  blind,  vom  10.— 13.  Tage  daselbst  Unsicherheit,  dann  keine  Sehstörung 
mehr.   Gegen  Licht  im  Allgemeinen  wie  gegen  Fleisch. 

Optische  Reflexe  fehlen  rechts  gänzlich. 

f^asenlidretlex  am  2.  Tage  leicht  abgeschwächt. 


—     479     — 

Gctödtet  nach  ca.  7  Wochen,  nachdem  inzvvisclicn  eine  2.  syiiuiii-lrisclic 
Operation  ausgeführt  worden  war. 

Section:  Häute  normal,  nur  erscheint  die  Pia  der  hinteren  Sehsphären- 
hälfte etwas  rauh.  Die  genau  rechtwinklige  23  mm  frontal,  12  mm  sagillal 
messende  Narbe  reicht  medial  bis  an  die  Medianspalte.  Der  hinlere  Rand 
bleibt  lateral  10  mm,  medial  8  mm  vom  hinteren  Pol  entfernt.  Der  vordere 
Rand  schneidet  genau  mit  einer  Senkrechten  Falx-hinteror  Rand  der  IV.  ür- 
windung  ab;  die  vordere  laterale  Ecke  schneidet  noch  einen  Winkel  aus  der 
III.  ürwindung  aus,  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Es  fehlt  die 
Rinde  vom  medialsten  Theil  der  III.  Ürwindung,  die  ganze  Rinde  der  11.  incl. 
die  der  Sulci  zwischen  I.  und  IL,  II.  und  III.  und  die  dorsale  Rinde  der 
I.  Ürwindung,  deren  Markweiss  grösstentheils  zerstört  ist.  Die  Zerstörung 
reicht  kegelförmig  ziemlich  tief  in  die  weisse  Substanz  hinein. 

Ausgeschaltet  war  die  ganze  vordere  Hälfte  der  Sehsphäre,  sccundär 
noch  ein  vorderer  Abschnitt  der  hinteren  Hälfte  mit  in  den  Bereich  der 
Zerstörung  hineingezogen.  Die  Stelle  A^  war  grösstentheils  vernichtet. 
Hiernach  hätte  die  untere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  incl.  der  Stelle  des 
deutlichen  Sehens  rindenblind  sein  sollen,  die  obere  Hälfte  des  Gesicht- 
feldes hätte  nur  in  ihren  unteren  Abschnitten  betroffen  seiu  dürfen. 
Thatsächlich  bestand  zunächst  eine  typische  Hemianopsie,  dann  aber 
war  in  der  Zeit  vom  33. — 19.  Tage  Blindheit  des  unteren  lateralen 
Quadranten  allmählich  von  oben  innen  nach  aussen  unten  verschwindend 
nachzuweisen.  Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  fungirte  bereits  am 
13.  Tage  wieder  vollkommen. 

Beolbaclxtiiiig:  134. 

Aufdeckung  links  hinten  15  mm  vor  der  Mitte  der  Lambdanaht  auf 
12  mm  sagittal,  22  mm  frontal.  Die  Lücke  reicht  fast  bis  an  die  Medianlinie 
und  liegt  etwas  von  lateral  hinten  schräg  nach  medial  vorn.  Exstirpation  der 
freigelegten  Rinde  auf  ca.  ^/^  cm  tief,  sodass  auch  das  noch  unter  dem  me- 
dialen Knochenrande  liegende  Stück  soweit  als  möglich  zerstört  wird. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  In  der  Schwebe  links  bis  zum  4.  Tage 
ein  schmaler  nasaler  Streifen  amblyopisch,  der  am  5.  Tage  noch  unsicher, 
später  normal  reagirt.  Rechts  am  2.  Tage  blind  bis  auf  eine  schmale  undeut- 
lich abgegrenzte  nasale  Zone,  über  der  der  Hund  stets  schnuppert,  aber  nie 
zuschnappt.  Am  3.  Tage  sieht  der  Hund  nasal  oberhalb  des  Aequators  auf 
einem  nasalen  Streifen,  der  sich  unterhalb  des  Aequators  fast  bis  zum  verti- 
calen  Meridian  verbreitert.  Am  4.  Tage  ist  die  Reaction  auf  dem  bis  dahin 
blinden  oberen  medialen  Theil  des  Gesichtsfeldes  unregelmässig  vorhanden. 
Am  5.  Tage  sind  die  lateralen  zwei  Drittel  unterhalb  des  Aequators  deutlich 
blind,  oberhalb  des  Aequators  ist  die  Reaction  nur  auf  einem  schmalen  late- 
ralen Streifen    unsicher,     Am  6.  Tage   ist   eine  Sehstörung  nicht  deutlich  zu 


—     480     — 

constatiren.  am  7.  Tage  ist  nur  noch  etwas  weniger  als  der  untere  laterale 
Quadrant  blind;  am  8.  Tage  nur  noch  ein  lateraler  Fleck  ebenda  und  am 
IJ.  Tage  ist  keine  Sehstörung  mehr  nachweisbar.  Am  20.  Tage  gelingt  auch 
der  Stossversuch  nicht,  d.  h.  er  ergreiftMdeine,  plötzlich  gegen  das  Auge  zuge- 


Fig.  239. 

stossenc  Fleischstücke  sofort.  Gegen  Licht:  Keaction  fehlt  bis  zum  3.  Tage 
lechts  gänzlich,  am  4.  und  5.  Tage  ist  sie  auf  einem  schmalen  nasalen  Streifen 
vorhanden,  am  8.  und  9.  Tage  scheut  der  Hund  nur  über  der  nasalen  Hälfte. 
Links  ist  dieReaction  nur  ausnahmsweise  energisch,  im  Allgemeinen  aber  träge. 

Optische  Reflexe  fehlen  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung. 

Nasenlid refl ex  nur  am.  2.  Tage  abgeschwächt. 

Getödtet  nach  7  Wochen,  nachdem  inzwischen  eine  2.  Operation  an  der 
anderen  Hemisphäre  ausgeführt  worden  war. 

Section:  Häute  normal.  Die  Narbe  sitzt  der  ganzen  IL,  der  lateralen 
Hälfte  der  I.  und  dem  medialen  Rande  der  III.  Urwindung  auf  und  vorläuft  in 
ihrem  langen  19  mm  messenden  Durchmesser  schräg  von  lateral  hinten  nach 
medial  vorn.   Der  sagittale  Durchmesser  beträgt  9  mm.   Der  vordere  Rand  der 


—     481     — 

Ilirnnarbe  reicht  bis  in  die  Hölie  der  Fossa  Sylvii,  der  liintorc  laterale  Rand  der 
Narbe  bleibt  13  mm,  der  hintere  mediale  19  mm  vom  hinteren  Toi  entfernt.  Hin- 
terer  Durchschnitt  durch  die  hintere  Ecke  der  Auflagerung:  Eine  dreieckige 
bräunliche  Narbe  in  der  Mitte  der  IL  ürwindung.  2.  Durchschnitt  2  mm  weiter 


Fig.  240. 


links 


rechts 


Fiff.  241. 


nach  vorn  durch  die  vordere  Grenze  des  hinteren  Drittels  der  Narbe:  Die  II. Ür- 
windung und  der  laterale  Theil  der  I.  ürwindung  sind  im  Gebiete  der  Narbe 
gänzlich  zerstört.  Die  Narbe  reicht  bis  2  mm  von  der  Spitze  des  Seitenven- 
trikels. Dieser  ist  stark  erweitert  und  nach  oben  ausgezogen.  .3.  Durchschnitt 
durch  den  vorderen  Rand  der  Narbe:  Hier  ist  nur  noch  ein  feiner  Spalt  zu 
sehen,  der  sich  von  der  lateralen  Partie  der  I.  ürwindung  medialwärts  durch 
das  Grau  hindurchzieht. 

Hitzig,  Geaammelte  Abiiandl.     II.  Theil.  31 


482 


Zerstörung  einer  schräg  verlaufenden  Partie  im  vorderen  Tlieil  der 
Sehsphäre  incl.  des  marginalen  Abschnittes  dieses  Theils.  Lateral  bleibt 
die  hintere  Hälfte,  medial  die  hinteren  drei  Viertel  frei.  Anfänglich 
typische  Hemianopsie,  die  sich  aber  nicht  typisch  zurückbildet,  sondern 
sich  vom  5. — 10.  Tage  in  der  unteren  Gesichtsfeldhälfte  insoweit  ent- 
sprechend der  Forderung  Munk's  localisirt.  Rindenblind  war  der  Hund 
daselbst  aber  nicht. 


Beobadituiig"  13^. 

Aufdeckung  links  hinten  auf  lo  mm  sagittal,  16  mm  frontal.  Der  hintere 
Rand  der  Knochenlücke  ist  16  mm  von  der  Lambdanaht  entfernt,  der  mediale 
liegt  dicht  an  der  Medianlinie,  Richtung  der  Lücke  senkrecht  zur  Medianlinie. 
Exstirpation  der  ganzen  freigelegten  Rinde  bis  zur  Falx  ca.  ^/^  cm  tief,  excl. 
ca.  1 — 2  mm  des  vordersten  Streifens. 


Fig.  243. 


—     483     — 

Motilitätsstörungen  fohlen. 

Sehstörung-:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  links  höclistcns  ein  ganz 
schmaler  nasaler  Streifen  Sehstörung.  Rechts:  In  der  Schwebe  ist  deutlich 
ersichtlich,    dass   die  Sehstörung  das  ganze  Auge  einnimmt,    dagegen  zeigt 


links 


rechts 


Pio-.  244. 


links 


rechts 


Fig.  245. 

sich,  wenn  man  den  Hund  zwischen  die  Kniee  nimmt,  dass  totale  Sehstörung 
nur  in  der  lateralen  Hälfte  besteht,  während  von  der  medialen  der  ganze  obere 
Quadrant  und  ein  bezüglich  der  Breite  nicht  sicher  bestimmbarer  Streifen  des 
unteren  Quadranten  weniger  intensiv  betroffen  ist.  Am  3.  Tage  links,  wenn 
überhaupt,  nur  ein  ganz  schmaler  nasaler  Streifen  amblyopisch,  reagirt  bereits 
über  der  Mitte  des  Nasenrückens.  Rechts  etwas  träge,  anscheinend  nur  auf 
einem  nasalen  Streifen  sehend.  Am  4.  Tage  ist  die  Sehstörung  links  ver- 
schwunden ,    rechts  auf  dem  unteren  äusseren    und  auf  einem    anliegenden 

31* 


—     484     — 

Streifen  des  inneren  Quadranten  reactionslos.  Am  5.  Tage  unterhalb  des 
Aequators  wie  am  4.  Tage,  ausserdem  oberhalb  des  Aequators  auf  dem  late- 
ralen Drittel.  6.  Tag:  Unterhalb  des  Aequators  unverändert,  oberhalb  des 
Aequators  noch  auf  dem  lateralen  Viertel.  Am  7.  Tage  ist  nur  noch  lateral 
unten  eine  kleine  unsichere  amblyopische  Zone  nachzuweisen.  Später  keine 
Sehstöruug  mehr.  Er  findet  auch  auf  dem  Boden  Fleisch  sofort  und  reagirt 
auch  auf  kleine  schnell  auf  das  Auge  zugestossene  Fleischstücke  regelmässig. 
(Stossversuch.)  Gegen  Licht:  Bis  zum  4,  Tage  entsprechend  der  Sehstörung 
gegen  Fleisch,   später  scheut  er  schon  weit  aussen  heftig. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  bis  zum  4.  Tage,  dann  gegen  flache  Hand 
stets  abgeschwächt  vorhanden,   gegen  schmale  Hand  fehlend. 

Nasenlid refl ex  ungestört, 

Getödtet  nach  l'^j^  Wochen,  nachdem  inzwischen  eine  2.  Operation  an 
der  anderen  Hemisphäre  ausgeführt  worden  war. 

Section:  Häute  normal.  Die  13  mm  sagittal,  15  mm  frontal  messende 
Narbe  sitzt  der  I.  und  II.  ürwindung  auf,  reicht  medial  bis  an  den  Rand  der 
Hemisphäre  und  lateral  bis  über  die  Mitte  der  sehr  breiten  II.  Ürwindung  hin- 
aus. Mit  ihrer  am  weitesten  vorspringenden  hinteren  Ecke  bleibt  sie  11  mm, 
ganz  lateral  17  mm  vom  hinteren  Pol  entfernt;  nach  vorn  reicht  sie  etwa  1  bis 
2  mm  über  eine  Senkrechte  Falx  —  hinterer  Rand  der  IV.  Ürwindung  hinaus. 
Von  der  Narbe  nach  der  Medianspalte  zieht  sich  eine  narbige  Einschnürung. 

1.  Durchschnitt  durch  das  vordere  Drittel  der  Auflagerung  zeigt  Fehlen  des 
dorsalen  Graues  und  einen  mehr  medialen  breiteren,  wie  einen  lateralen 
schmalen  Erweichungsstreifen,  die  sich  in  der  Höhe  der  Basis  der  I.  und 
IL  Ürwindung  vereinigen.  Die  hauptsächliche,  hier  nicht  sehr  ausgedehnte 
corticale  Zerstörung  erstreckt  sich  in  den  Markkegel  der  I.  ürwindung  hinein. 

2.  Durchschnitt  durch  das  hintere  Drittel  der  Auflagerung:  Die  Autlagerung 
sitzt  der  Rinde  nur  auf,  diese  selbst  ist  scheinbar  erhalten,  jedoch  offenbar 
durch  den  nach  hinten  liegenden  Theil  der  Windung  substituirt.  Dagegen 
sieht  man  über  der  Spitze  des  Seitenventrikels  eine  ziemlich  lange  und  breite 
eingesunkene  Stelle  im  grossen  Marklager,  welches  hochgradig  atrophisch  ist. 
Ebenso  ist  der  mediale  Theil  der  IL  ürwindung  stark  atrophisch,  der  Seiten- 
ventrikel ist  sehr  stark  nach  oben  ausgezogen. 

Ausschaltung  der  vorderen  Hälfte  der  Sehsphäre  mit  Ausnahme 
ihres  lateralen  Drittels.  Die  Sehstörung  sollte  vornehmlich  die  untere 
Hälfte  des  Gesichtsfeldes  und  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  betreffen. 
Thatsächlich  traf  dies  bis  incl.  des  6.  Tages  zu,  wenn  auch  am  2.  Tage 
ausserdem  noch  der  ganze  mediale  Theil  des  Gesichtsfeldes  amblyo- 
pisch,  der  obere  laterale  Theil  an  diesem,  am  5.  und  6.  Tage  blind 
war  und  wenn  anch  am  3.  Tage  die  Sehstörung  genau  wie  eine  Hemi- 
anopsie aussah.  Am  7.  Tage  war  nur  noch  ein  unterer  lateraler  Kreis- 
abschnitt blind    und  am  10.  Tage  keine  Sehstörung   mehr  nachweisbar. 


—     485     — 


Beobachtuiig'  130. 

Aufdeclmng  hinten  links  auf  11  mm  sagittal,  17  mm  frontal.  Der  hintere 
Rand  der  Knochenlücke  bleibt  17  mm  von  der  Lambdanaht,  der  mediale  3  mm 
von  der  Mittellinie  entfernt.  Exstirpation  der  freiliegenden  Rinde  ca.  '^j^  cm 
tief  und  ausgiebige  Zerstörung  des  unter  dem  medialen  Knochenrande  liegenden 
Streifens. 

Motilitätsstörungen:  Bis  zum  10.  Tage,  an  diesem  Tage  durch 
„Defect  der  Willensenergie"  nachweisbar.  Anfänglich  lässt  er  auch  die  rechte 
Hinterpfote  aufsetzen  und  zeigt  in  der  Schwebe  differente  Reaction. 


zu  Beob. 
136.) 


Fig.  246. 
Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  nicht  zu  untersuchen.  Am 
3.  Tage  auf  dem  Schoosse  links  schmaler  nasaler  amblyopischer  Streifen,  rechts 
Reaction  nur  im  medialen  oberen  Quadranten  und  schmalem  nasalen  Antheil 
vom  medialen  unteren.  Am  4.  und  5.  Tage  kein  sicheres  Resultat  zu  erlangen. 
Vom  6.— 11.  Tage  der  untere  laterale  Quadrant  mehr  minder  deutlich  ambly- 
opisch  oder  blind.  Findet  auf  dem  Boden  Fleisch,  dessen  Bild  auf  diesen 
Theil  des  Gesichtsfeldes  fällt  abnorm  langsam  und  unsicher.  Am  14.  Tage 
auf  dem  Schooss  keine  Sehstörung  zu  ermitteln,  in  der  Schwebe  nur  noch  eine 
ganz  geringe  unten  aussen.  Am  16.  Tage  auch  beim  Stossversuch  keine  Seh- 
störung mehr.  Gegen  L'cht:  Reaction  rechts  am  2.  Tage  gänzlich,  dann  bis 
zum  11.  Tage  entsprechend  dem  gegen  Fleisch  reactionslosen  Bezirke  fehlend. 
Nachher  über  dem  ganzen  Auge  vorhanden. 


486 


Optische  Pveflexc:  Fehlen  rechts  bis  zum  7.  Tage  gänzlich,  an  diesem 
Tage  gegen  flache  Hand  schwächer  als  links,  gegen  schmale  Hand  fehlend, 
vom  14.  Tage  an  gegen  flache  Hand  gleich  stark,  gegen  schmale  Hand  fehlend, 
dann  allmählich  auch  gegen  schmale  Hand  wiederkehrend. 


Fig.  247. 


links 


rechts 


Fig.  248. 

Nasenlidreflex:  Abgeschwächt  bis  zum  26.  Tage,  dann  beiderseits 
gleich. 

Getödtet  nach  ca.  7  Wochen,  nachdem  inzwischen  eine  2.  Operation  an 
der  anderen  Seite  ausgeführt  worden  war. 

Section:  Häute  normal.  Die  sagittal  an  der  breitesten  Stelle  in  der 
Mitte  10  mm,  frontal  16  mm  messende  Narbe  sitzt  der  ganzen  I.  und  II.  Urwin- 
dung  auf,  der  mediale  Rand  der  Hemisphäre  ist  stark  eingezogen.    Der  hintere 


—     487     — 

Rand  bleibt  medial  18,5  mm,  an  dem  hintersten  Vorspränge  15,5  mm,  ganz 
lateral  18  mm  von  dem  hinteren  Pol  entfernt.  Vorderer  Hand  entspricht  einer 
Senkrechten  Falx-Mitte  des  hinteren  Schenkels  der  IV.  Urwindung.  An  der 
medialen  Fläche  entsprechend  der  Mitte  der  Auflagerung  eine  narbige  Ein- 
ziehung. Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Die  11.  Urwindung,  sowie 
der  laterale  Theil  der  1.  Urwindung  fehlen  gänzlich,  der  mediale  Theil  der 
I.  Urwindung  ist  noch  theilweise  erhalten,  jedoch  fehlt  die  Rinde  dort  zum 
Theil,  theilweise  ist  sie  entfärbt.  Von  der  Auflagerung  zieht  sich  eine  drei- 
eckige Narbe  in  die  Tiefe,  wo  sie,  sich  immer  mehr  verjüngend,  mit  einem  feinen 
Spalt  dicht  an  der  Spitze  des  Seitenventrikels  endigt.  Ein  2.  Durchschnitt 
am  vorderen  Rande  der  Auflagerung  zeigt  auf  der  hinteren  Schnittfläche  noch 
ein  dem  eben  beschriebenen  sehr  ähnliches  Bild,  auf  der  vorderen  Schnitt- 
fläche fast  nichts  mehr. 

Exstirpation  des  vorderen  Drittels  der  Sehsphäre  und  der  an- 
liegenden Partie  der  Aiigenregiou  unter  Erhaltung  des  lateralen  Drittels 
der  Sehsphäre.  Die  Sehstörung  sollte  vornehmlich,  wenn  nicht  aus- 
schliesslich die  untere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  betreffen.  Dies  traf  zu, 
wenn  auch  noch  am  3.  Tage  die  obere  laterale  Hälfte  des  Gesichts- 
feldes blind  erschien.  Am  16.  Tage  war  jedoch  jede  Sehstörung  ver- 
schwunden. 


lieobachtniig'  IST'. 

Aufdeckung  links  hinten  auf  12  mm  sagittal,  16  mm  frontal.  Der  hintere 
Rand  der  Lücke  bleibt  17  mm  von  der  Lambdanaht,  der  mediale,  da  die  Ab- 
sicht bestand,  den  Randwulst  zu  schonen,  7  mm  von  der  Mittellinie  entfernt. 
Die  freiliegende  Rinde  wird  etwa  ^4  cm  tief  mit  dem  Präparatenheber  ex- 
stirpirt. 


Motilitätsstörungen:  Am  2.  und  3.  Tage  beim  Begreifen  Reflex  links 
gesteigert. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Links:  Am  2.  Tage  sicherer,  am  3.  und 
4.  Tage  unsicherer  nasaler  Streifen  amblyopisch.  Rechts:  Am  2.  und  3.  Tage 
das  ganze  Gesichtsfeld    mit  Ausnahme  eines   schmalen    nasalen  Streifens  am- 


Myopisch;  am  4.  Tage  hat  sich  das  obere  Drittel  des  Gesichtsfeldes  mit  Aus* 
nähme  eines  lateralen  Streifens  aufgehellt,  der  nasale  sehende  Streifen  hat 
sich  etwas  verbreitert.  Am  5.  Tage  besteht  nur  noch  eine  Sehstörang,  die 
nicht  mehr  ganz  den  unteren  lateralen  Quadranten  einnimmt,  an  diesen  beiden 


Fia-.  250. 


linlis 


rechts 


Fig.  251. 


Tagen  findet  er  bereits  Fleisch  auf  dem  Boden  ziemlich  schnell  und  sicher. 
Vom  6. — 31.  Tage  (Schluss  der  Beobachtung)  keine  Sehstörung  mehr;  auch 
der  ,,Stossversuch"  gelingt  nicht.  Gegen  Licht  verhält  sich  die  Reaction  bis 
zum  5.  Tage  wie  die  Reaction  gegen  Fleisch.  Vom  6. — 8.  Tage  fehlt  die  Re- 
action im  unteren  äusseren  Quadraten,  vom  9.  Tage  an  besteht  kein  Unter- 
schied mehr  gegen  links. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  rechts  bis  zum  19. Tage  gänzlich,  an  diesem 


—     489     — 

Tage  gegen  flache  Hand  vorhanden,  gegen  schmale  Hand  felilend,  ;ini  ^^.Tage 
gegen  flache  und  schmale  Hand  beiderseits  gleich. 

Nasenlidreflex  nur  am  3.  Tage  abgeschwtächt. 

Getödtet  nach  ca.  ö^/g  Wochen,  nachdem  inzwischen  eine  symmetrische 
mit  Vereiterung  endende  Operation  ausgeführt  worden  war. 

Section:  Die  rechte  Hemisphäre  ist  mit  Blutgerinnseln  bedeckt  und  die 
Pia  getrübt.  Ausgesprochene  Basalmeningitis.  Die  Pia  der  linken  Convexität 
ist  normal.  Die  sagittal  14  mm,  frontal  15  mm  messende  Auflagerung  nimmt 
die  lateralen  zwei  Drittel  der  I.  und  die  ganze  II.  ürwindung  ein;  sie  reicht 
mit  ihrem  vorderen  Rande  bis  etwas  nach  vorn  von  einer  Senkrechten  Palx  — 
hinterer  Rand  der  IV.  ürwindung,  mit  ihrem  medialen  Rande  bleibt  sie  6  mm 
von  der  Medianlinie,  mit  ihrem  hinteren  Rande  medial  12  mm,  lateral  14  mm 
vom  hinteren  Pol  entfernt.  1.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Auflagerung: 
Die  Zerstörung  betrifft  das  laterale  Drittel  der  I.  und  die  ganze  II.  Ürwindung. 
Von  der  Auflagerung  erstrecken  sich  kleinere  und  grössere  Erweichungsherde 
in  die  Tiefe  bis  ungefflhr  2  mm  von  der  Spitze  des  Seitenventrikels.  2.  Durch- 
schnitt am  vorderen  Rande  der  Auflagerung:  Die  Rinde  der  II.  Ürwindung  ist 
flach  erodirt,  die  Windung  selbst  atrophisch.  3.  Durchschnitt  durch  den  hin- 
teren Rand  der  Auflagerung:  Es  setzt  sich  die  oberflächliche  und  namentlich 
die  tieferliegende  Erweichung  in  Gestalt  einer  diffus  grau  bräunlich  verfärbten, 
ziemlich  grossen  Partie  in  den  vorderen  Rand  der  hinteren  Schnittfläche  fort. 
Beide  Seitenventrikel  enthalten  Eiter. 

Ausgeschaltet  war  etwa  die  vordere  Hälfte  der  Sehsphäre  mit  Aus- 
nahme eines  medialen  Streifens  und  die  caudale  Partie  der  Augen- 
region. Die  Sehstörung  sollte  den  unteren  Theil  des  Gesichtsfeldes 
betreffen.  Thatsächlich  traf  dies  für  den  4.  und  5.  Tag  zu.  Am  2. 
und  3.  Tage  bestand  typische  Hemianopsie,  von  der  am  4.  Tage  rest- 
lich noch  ein  schmaler  lateraler  Streifen  im  oberen  Gesichtsfeld  nach- 
zuweisen war. 

Beobachtniig-  13S. 

Aufdeckung  links  hinten  auf  9  mm  sagittal,  15  mm  frontal.  Der  mediale 
Rand  der  Lücke  bleibt  6  mm  von  der  Mittellinie,  der  hintere  Rand  15  mm  von 
der  Lambdanaht  entfernt.  Exstirpation  des  freiliegenden  Rindenstückes  ca. 
1  cm  tief  mit  Schonung  des  Randwulstes. 

Motilitätsstörungen:  Während  der  ganzen  Dauer  der  Beobachtung, 
besonders  im  Hinterbein,  allmählich  abnehmend  in  geringem  Grade  nach- 
weisbar. 

In  der  Schwebe:  Hängt  bis  zum  11.  Tage  (allmählich  abnehmend) 
leicht  gestreckt.  Reaction  auf  Begreifen  fehlt  dauernd. 

Seh  Störung:  2.  Tag:  Auf  dem  Boden  legt  er  sich,  wenn  Binde  vor 
dem  linken  Auge,  sofort  auf  die  Erde  und  rührt  sich  nicht;  am  3.  Tage  findet 
er  Fleisch  bei  verbundenem  linken  Auge  nur,  wenn  dasselbe  zufällig  dicht 
vor  die  Nase  zu  liegen  kommt,    während  er  schnuppernd  ziellos   hin  und  her 


—     490     — 

sucht;  läuft  oft  ganz  dicht  vorbei.  Auch  am  4.  Tage  findet  er  Fleisch  nur 
schlecht.  In  den  folgenden  Tagen  bis  zum  10.  Tage  findet  er  nur  noch  lateral 
liegendes  Fleisch  schlecht,  dann  kein  Unterschied  mehr  zwischen  rechts  und 
links.  In  der  Schwebe  gegen  Fleisch:  Links  besteht  ein  schmaler  nasaler  am- 
blyopischer  Streifen  bis  zum  5.  Tage,    am  6.  Tage   nicht   mehr  nachweisbar. 


Fig.  253. 


Rechts:  Am  2.  Tage  nicht  zu  untersuchen;  sehend:  Am  3.  Tage  schmaler 
nasaler  Streifen,  am  4.  Tage  nicht  ganz  nasales  Drittel,  vom  5. — 8.  Tage  na- 
sale Hälfte,  am  9.  Tage  zwei  Drittel.  Am  10.  und  11.  Tage  achtet  er  zwar 
über  dem  ganzen  Gesichtsfelde  auf,  reagirt  aber  nur  träge.  Am  12.  Tage, 
nicht  am  13.  Tage,  ist  links  wieder  ein  schmaler  nasaler  amblyopischer  Streifen 
nachweisbar;  rechts  besteht  am  12.  Tage  eine  Sehstörung  in  dem  unteren 
lateralen  Quadranten,  die  sich  als  Sichel  in  den  oberen  Qaadranten  fortsetzt. 
Am  13.  Tage  beginnt  rechts  eine  Cornealtrübung,  die  eine  weitere  Verfolgung 
der  Sehstörung  unmöglich  macht,  aber  an  diesem  Tage  noch  Amblyopie  in  der 
unteren  lateralen  Ecke  zu  erkennen  gestattet.     Gegen  Licht:    Reaction  ist  auf 


—     491     — 

der  linken  Seite  stets  sehr  lebhaft,  rechts  fehlt  sie  am  2.  Tage  gänzlicli,  dann 
ist  sie  auf  der  gegen  Fleisch  reagirenden  Partie  stets  deutlich  und  gut  ab- 
grenzbar vorhanden. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  bis  zum  13. Tage  rechts  gänzlich,  an  diesem 
Tage  anscheinend  gegen  flache  Hand  schwach  vorhanden. 

Nasenlidreflex  bis  zum  8.  Tage  abgeschv^^ächt,  später  nicht  mehr 
verfolgt. 

Gestorben  am  19.  Tage,  nachdem  er  sich  am  18.  Tage  die  bereits  voll- 
kommen geheilte  Wunde  aufgekratzt  hatte. 


rechts 


Fig.  -254. 

Section:  Häute  normal.  Die  sagittal  10  mm,  frontal  12  mm  messende 
Narbe  sitzt  der  IL  ürwindung  auf  und  berührt  die  beiden  Nachbarwindungen 
nur  mit  ihren  beiden  Rändern.  Ihr  vorderer  Rand  liegt  genau  in  einer  Senk- 
rechten Falx —  hinterer  Rand  der  IV.  Ürwindung,  medial  bleibt  sie  9mm  von 
der  Medianspalte,  hinten  in  der  Mitte  und  an  der  medialen  Ecke  14  mm,  an 
der  lateralen  Ecke  15,5  mm  vom  hinteren  Pol  entfernt.  Die  Convexität  der 
Hemisphäre  ist  in  ihrer  ganzen  hinteren  Hälfte  deutlich  gegen  rechts  einge- 
sunken. Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe.  Vordere  Schnittfläche:  Die 
Hirnnarbe  hat  eine  keilförmige  Gestalt  und  erreicht  mit  ihrer  Spitze  den  Sei- 
tenventrikel, eine  Blutung  in  diesen  hat  nicht  stattgefunden.  Das  Grau  der 
I.  Ürwindung  ist  intact  bis  auf  die  Rinde  des  zwischen  der  I.  und  II.  Ürwin- 
dung einschneidenden  Sulcus,  die  völlig  zerstört  ist.  In  bei  Weitem  höheren 
Grade  ist  die  mediale  Hälfte  der  III.  Ürwindung  zerstört,  vor  allem  auch  hier 
das  Grau  der  zwischen  der  H.  und  III.  ürwindung  einschneidenden  Furche. 
Die  IL  Ürwindung  ist  ganz  zerstört.  Die  der  Gehirnnarbe  gegenüberliegende 
Ventrikelwand  erscheint  eingekerbt,  so  dass  die  Möglichkeit,  dass  bei  der  Ope- 
ration hier  eine  Nebenverletzung  stattgefunden  hat,  nicht  auszuschliessen  ist, 
zumal  dieser  Kerb  genau  der  Stelle  gegenüberliegt,  wo  auch  dorsal  die  Ven- 
trikelwand zerstört  ist.  Auf  der  hinteren  Schnittfläche  desselben  Durchschnittes 
ist  das  Bild  insofern  ein  anderes,   als  die  Oberfläche  in  der  Narbengegend  be- 


—     492     — 

sonders  stark  eingesunken  ist  und  sich  von  dem  lateralen  Winkel  der  Hirn- 
uarbe,  die  eine  mehr  viereckige  Gestalt  hat,  ein  langer  Zipfel  an  dem  dorsalen 
Rande  des  Ventrikels  entlang  zieht.  Medial  erstreckt  sich  die  Erweichung 
unter  der  I.  Urwindung,  die  auch  ziemlich  stark  zerstört  ist,  in  den  Gyrus 
fornicatus  und  den  hinteren  Forceps  hinein.  Ein  Durchschnitt  am  hinteren 
Rande  der  Narhe  zeigt  keine  sichtbaren  Veränderungen  mehr. 

Die  von  E  ding  er  vorgenommene  mikroskopische  Untersuchung  nach 
Marchi  ergab  „bei  Freibleiben  der  primären  Endstätten  eine  nicht  unbedeu- 
tende Degeneration  des  linksseitigen  Tractus". 

Ungefähr  die  vordere  Hälfte  der  Sehsphäre  excl.  des  grösseren 
Theiles  des  Randwulstes,  der  aber  auch  stark  geschädigt  war,  war  aus- 
geschaltet worden.  Die  Sehstörung  sollte  deu  unteren  Theil  des  Ge- 
sichtsfeldes betreffen.  Thatsächlich  trug  sie  bis  zum  12.  Tage  excl. 
einen  ausgesprochen  hemianopischen  Charakter.  An  diesem  Tage  war 
nur  noch  etwa  der  untere  laterale  Quadrant  und  ein  oberer  lateraler 
Streifen  blind.  Eine  Keratitis  machte  zwar  die  fernere  Verfolgung  der 
Sehstörung  unmöglich,  indessen  ist  mit  Sicherheit  anzunehmen,  dass  sie 
analog  den  ähnlichen  Fällen,  z.  B.  Beobachtung  136,  abgelaufen  wäre. 
In  welchen  Beziehungen  die  Affectiou  des  Tractus  zu  ihr  stand,  muss 
zunächst  dahingestellt  bleiben. 

Beobachtviiigf  130. 

Aufdeckung  links  hinten  15  mm  vor  der  Lambdanaht,  dicht  an  der  Mittel- 
linie auf  16  mm  Quadrat.    Exstirpation  der  freiliegenden  Rinde  ca.  ^j^  cm  tief. 

Motilitätsstörungen  fehlen, 

Sehstörung:  Bei  oberflächlicher  Betrachtung  erscheint  der  Hund  zu- 
nächst auf  dem  rechten  Äuge,  abgesehen  von  einem  schmalen  nasalen  Streifen, 
ganz  blind,  da  er  auch  bei  unverbundenem  linken  Auge  mit  dem  rechten 
Vorderbein  über  den  Tischrand  tritt  und  bis  zum  6.  Tage  überall  anstösst, 
auch  auf  dem  Boden  vorgeworfenes  Fleisch  nicht  oder  nur  durch  den  Geruch 
fmdet.  Doch  ist  er  nicht  ganz  blind.  Reaction  gegen  Fleisch:  Schon  am 
2,  Tage  folgt  er  rechts  kleinen  Fleischstücken,  die  man  mit  einer  gewissen 
Geschwindigkeit  von  unten  nach  oben  oder  von  oben  nach  unten  bewegt,  mit 
dem  Auge,  besser  auf  dem  nasalen  Streifen,  dort  schnappt  er  bei  öfterer 
Wiederholung  auch  zu;  links  ist  ein  ziemlich  breiter  nasaler  Streifen  amblyo- 
pisch.  Am  3.  Tage  steckt  er  bei  den  erwähnten  Versuchen  manchmal  die 
Nase  in  die  Luft,  aber  ohne  das  Fleisch  zu  finden,  auf  dem  nasalen  Streifen 
findet  er  es  bis  bisweilen.  Am  5.  Tage  ergreift  er  ein  nasal  vorgehaltenes 
Stück  Kork,  kaut  es  und  speit  es  dann  aus;  beim  2.  Versuche  riecht  er  nur 
daran,  das  3.  Mal  ignorirt  er  es,  ein  gleich  darauf  vorgehaltenes  Stück  Fleisch 
ergreift  er.  Er  erkennt  das  Fleisch  also  durch  das  Gesicht.  12.  Tag:  In  der 
Schwebe  ist  der  rechte  sehende  Streifen  etwas  breiter  geworden.  Auf  dem 
Aequator  etwa  ein  Drittel  des  Gesichtsfeldes  betragend,   unten  fast  die  Hälfte. 


—     493     — 

(Zu  Beob.  139.) 


(zu  Beob.  140.) 


Links  ist  eine  Sehstörung  nicht  mehr  sicher  nachzuweisen.  13.  Tag:  Rechts 
reagirt  er  auf  einem  nasalen  Streifen,  der  in  der  Mitte  breiter  ist  als  unten ; 
jedenfalls  vermag  er  unten  nur  sehr  unsicher  zu  localisiren.  Links  sieht  er 
auf  einem  schmalen  nasalen  Streifen  nicht.  Auf  dem  Boden  beginnt  er  seit 
dem  7.  Tage  vorgeworfenes  Fleisch  allmählich  besser  zu  finden,  am  13.  Tage 


—     494     — 

findet  er  es  nach  einigem  Suchen,  sobald  es  in  den  sehenden  Theil  des 
Gesichtsfeldes  kommt.  Am  16.  Tage  Reaction  rechts  auf  dem  nasalen  Drittel 
immer,  auf  dem  mittleren  ungefähr  in  der  Hälfte  der  Fälle,  oben  besser  als 
unten,  auf  dem  lateralen  Drittel  nie;  links  anscheinend  keine  Störung  mehr. 
18.  Tag:  Auf  dem  Boden  findet  er  beiderseits  vorgeworfenes  Fleisch  fast  so- 
fort. In  der  Schwebe  reagirt  er  rechts  oberhalb  des  xiequators  oft  schon  ganz 
lateral,  zeitweise  aber  erst  von  der  Mittellinie  an,  unterhalb  des  Aequators  nur 


Fiff.  256. 


links 


rechts 


Fig.  257. 

auf  der  medialen  Hälfte,  links  nasal  unten  eher  als  oben.  Zwischen  den 
Knieen,  auf  dem  Boden  stehend,  sieht  er  Fleischstücke,  die  von  unten  kommen, 
nicht  sofort.  Fleisch,  das  von  oben  her  kommt,  sieht  er  sofort.  Am  19.  Tage 
reagirt  er  rechts  oben  nur  auf  einem  schmalen  lateralen  Streifen  nicht,  unten 
etwa  auf  dem  äusseren  Drittel  noch  nicht;  links  anscheinend  überall  Reaction. 
Sonst  wie  gestern.  Am  20.  Tage  Sehstörung  nicht  mehr  sicher  nachzuweisen, 
ai]a  21.  Tage  verschwunden.     Gegen  Licht   fehlt  die  Reaction  rechts  bis  zum 


495 


13.  Tage  gänzlich,  von  da  an,  anfänglicli  schwacli,  nachweisbar,  am  21.  Tage 
wie  links. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  rechts  bis  zum  20.  Tage  gänzlich,  an 
diesem  Tage  gegen  flache  Hand  vorhanden,  am  21.  Tage  auch  gegen  sclimale 
Hand. 

Nasenlidreflexe  ungestört. 

Gestorben  nach  ca.  2  Monaten;  inzwischen  eine  2.  Operation  der  an- 
deren Seite. 

Section:  Häute  normal.  Die  sagittal  19,  frontal  16  mm  messende 
Narbe  sitzt  der  Convexität  so  auf,  dass  der  mediale  Rand  derselben  bis  an  die 
Medianspalte  reicht,  der  hintere  vom  hinteren  Pol  noch  ca.  10  mm  entfernt 
bleibt.  Sie  nimmt  also  die  vordere  Hälfte  der  Stelle  A^  ein,  reicht  aber  hier 
medial  bis  zur  Medianspalte,   lateral  bis  zum  lateralen  Rand  der  11.  Urwin- 


links 


rechts 


Fig.  258. 


düng  und  nach  vorn  bis  annähernd  zur  vorderen  Grenze  der  sogenannten 
Augenregion.  Hinterer  Durchschnitt  durch  das  hintere  Drittel  der  Narbe: 
Die  Narbe  sitzt  dem  Rindengrau  auf,  dasselbe  scheinbar  grösstcntheils  un- 
versehrt lassend  bis  auf  eine  schmale  Partie  ungefähr  in  der  Mitte  der  Narben- 
kappe, wo  ein  feiner  gelblich-rother  Erweichungsstreifen,  welcher  der  gänzlich 
fehlenden  Tl.  ürwindung  entspricht,  die  Rinde  durchsetzt  und  in  der  nur  ganz 
schmalen  Markleiste  medial-basalwärts  verläuft,  um  sich  etwas  tiefer  im  Mark- 
weiss  der  Hemisphäre  lateral  und  medial  zu  gabeln,  so  dass  durch  den  medial 
gerichteten  Streifen  das  Mark  der  L  Ürwindung  völlig  substituirt  ist.  Die  Er- 
weichung hält  sich  dabei  aber  genau  an  die  Grenzen  des  Markes  und  lässt  das 
Grau  wenigstens  makroscopisch  unlädirt.  Vorderer  Durchschnitt  durch  das  vor- 
dere Drittel  der  Narbe:  Die  Rinde  ist  hier,  entsprechend  der  medialen  Hälfte 
der  Narbenkappe,  gänzlich  zerstört,  auch  die  unter  der  lateralen  Hälfte  ge- 
legene, sichtlich  von  lateral  her  in  die  Lücke  hineingezogene  Rindenpartie  ist 
aufgehellt.  An  Stelle  der  zerstörten  Rinde  befindet  sich  ein  ziemlich  derbes 
Narbengewebe,  das  sich  weiter  basal  in  Form  eines  breiten  Zapfens  bis  zur 
Wand  des  Ventrikels,   der  erweitert  und  nach  oben  ausgezogen  ist,   fortsetzt. 


—     496     — 

Auch  die  Ausstrahlung  des  Balkens  ist  dadurch  quer  durchschnitten  und  die 
linke  Hälfte  des  Balkens  selbst  nach  oben  verzogen.  Von  dem  Zapfen  trennt 
sich  nach  lateral  ein  schmaler  Erweichungsstreifen  ab,  der  zuerst  zwischen  der 
Rinde  und  der  lateralen  Wand  des  Ventrikels  dicht  an  dieser  entlang  zieht, 
sich  dann  von  ihr  entfernt  und  das  Markweiss  der  III.  Urwindung  grobfächerig 
durchsetzt. 

Die  vordere  Hälfte  der  Sehsphäre  und  die  vordere  Hälfte  der 
Stelle  Ai  waren  zerstört.  Die  untere  Hälfte  des  rechten  Gesichtsfeldes 
und  ein  Theil  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens  sollten  demnach  dauernd 
rindenblind  sein.  Thatsächlich  war  zunächst  eine  wohlcharakterisirte 
hemianopische  Selistörung  zu  beobachten,  die  in  der  gewöhnlichen 
Weise  zurückging.  Am  18.  und  19.  Tage  jedoch  eine  stärkere  Bethei- 
ligung, wenn  auch  nur  des  lateralen  Theiles  der  unteren  Gesichtsfeld- 
hälfte erkennen  liess.  Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  war  nur  etwa 
bis  zum  16.,  17.  Tage  ausgeschaltet. 

Bemerkenswerth  ist,  dass  in  diesem  Falle  die  Läsion  ziemlich  weit 
über  die  vordere  Grenze  der  Sehsphäre  hinausreichte. 

Keobaclxtviiig:  140. 

Derselbe  Hund  von  Beobachtung  139  (vergl.  dort  die  Figuren).  Auf- 
deckung rechts  hinten  15  mm  vor  der  Mitte  der  Lambdanaht  auf  16  mm  Qua- 
drat. Exstirpation  der  freiliegenden  Rinde  ^/^  cm  tief  und  ausgiebige  Zer- 
störung derselben  unterhalb  des  medialen  Knochenrandes  bis  zur  Falx. 

Motilitätsstörungen  fehlen  bis  zum  36.  Tage.  An  diesem  Tage 
allgemeine  Krämpfe,  in  Folge  deren  der  Hund  am  38.  Tage  stirbt. 

Seh  Störung:  Am  2.  Tage  Hund  sehr  munter.  Findet  auf  dem  Boden 
Fleisch  nur  durch  den  Geruch.  Dieses  Verhalten  wird  noch  bis  zu  Ende  der 
Beobachtung,  wenn  auch  allmählich  abnehmend,  constatii't.  Vom  4.  Tage  an 
wird  beobachtet,  dass  der  Hund  auf  Stühle  springt,  um  sich  des  auf  dem 
Tische  stehenden  Fleisches,  das  er  also  sehen  muss,  zu  bemächtigen.  In  der 
Schwebe:  Am  2.  Tage  sieht  er  durch  ein  Loch,  das  lateral  etwa  in  der  Höhe 
der  Schnauze  liegt.  Anscheinend  ist  dies  auf  beiden  Seiten  ziemlich  genau 
symmetrisch.  Am  3.  Tage  sieht  er  links  nur  auf  dem  unteren  inneren  Qua- 
dranten; rechts  lässt  sich  über  die  Sehstörung  schwer  entscheiden.  Jeden- 
falls reagirt  er  nie,  wenn  man  von  unten  kommt;  wenn  man  von  oben  kommt, 
scheint  es,  als  wenn  er  unten  medial  sieht  (auf  der  Zeichnung  durch  Punkti- 
rung  angedeutet).  4.  Tag:  Links  sieht  er  auf  der  ganzen  lateralen  Hälfte  des 
Gesichtsfeldes  nichts,  oben  reicht  die  Störung  noch  über  den  Meridian  hinaus; 
oben  nasal  ebenfalls  ein  schmaler  Streifen  amblyopisch.  Rechts  siebter  ober- 
halb des  Aequators  nur  medial  und  lateral  nichts,  unterhalb  überhaupt  nichts. 
6.  Tag:  Links  Reaction  auf  der  ganzen  oberen  Hälfte  des  Gesichtsfeldes,  auf 
der  unteren  nie:  rechts  ganz  medial  und  lateral  oberhalb  des  Aequators, 
ebenso  unterhalb  keine,  in  der  Mitte  oberhalb  gute  Reaction.     7.  Tag:  Rechts 


—     497     — 

reagirt  er  auch  oben  medial;  links  unterhalb  des  Aoquators  und  oben  lateral 
keine  Reaction.  8.  Tag:  Rechts:  Keine  lleaction  auf  dem  ganzen  unteren 
lateralen  und  dem  lateralen  Drittel  des  unteren  medialen  Quadranten,  sowie 
auf  einem  schmalen  oberen  lateralen  Streifen.  Auf  dem  Reste  des  Gesichts- 
feldes reagirt  er.  Links  ein  ziemlich  breiter  lateraler  Streifen  oben  wie  unten 
blind;  oben  ist  dieser  Streifen  etwas  breiter  als  unten.  Eine  genauere  Ab- 
suchung wird  durch  die  Ermüdung  des  Hundes  vereitelt.  9.  Tag:  Links  oben 
ist  die  Sehstörung  geringer  geworden,  sie  reicht  jedoch  noch  über  den  Aequator 
hinaus.    Rechts  unverändert.    11.  Tag:  Links  ist  nur  noch  der  äussere  untere 


Fig.  259. 

Quadrant  blind.  Rechts  sieht  er  oberhalb  des  Aequators  überall,  unterhalb 
nur  auf  einem  etwa  ein  Drittel  des  Gesichtsfeldes  einnehmenden  nasalen  Theil. 
Bis  zum  14,  Tage  fehlen  beiderseits  noch  die  unteren  äusseren  Quadranten, 
am  17.  Tage  nur  noch  rechts  der  untere  äussere  Quadrant  und  links  unten 
lateral  eine  schmale  Zone.  Am  19.  Tage  ist  beiderseits  eine  Sehstörung  nicht 
mehr  nachzuweisen;  im  unteren  Theil  des  Gesichtsfeldes  besinnt  er  sich  zu- 
weilen, ehe  er  zuschnappt.  Kork  nimmt  er  Anfangs  mehrere  Male,  verschmäht 
ihn  aber  dann.  Gleich  darauf  gezeigtes  Fleisch  nimmt  er  aber  sofort  wieder. 
Bis  zum  Ende  der  Beobachtung  sieht  er  auf  der  unteren  Hälfte  der  Gesichts- 
felder weisses  Fleisch  oder  Fett  zwar  sofort,  dunkles  aber  nur,  wenn  es  bewegt 
wird,  auf  der  oberen  Hälfte  der  Gesichtsfelder  sieht  er  auch  dunkles  Fleisch 
sofort.  Gegen  Licht:  Fehlt  Reaction  bis  zum  7.  Tage  beiderseits,  von  da  an 
beiderseits  unruhig. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  bis  zum  19.  Tage  beiderseits,  von  da 
an  rechts  auf  flache  Hand  vorhanden,  auf  schmale  Hand  und  links  dauernd 
fehlend. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Gestorben  nach  51/2  Wochen. 

Hitzig,  Gesarameitc  Abhandl.    II.  Tlieil.  33 


—     498     — 

Section:  Häute  normal.  Die  15  mm  im  Durchmesser  grosse,  ungefähr 
runde  Narbe  sitzt  der  Convexität  der  Hemisphäre  ungefähr  so  auf,  dass  sie 
sowohl  vom  hinteren  Rand,  als  von  der  Medianspalte  5  mm  entfernt  bleibt. 
Zur  Stelle  A^^  verhält  sie  sich  so,  dass  sie  lateral  darüber  hinausreicht,  wäh- 
rend sie  medial  noch  einen  schmalen  Streifen  intact  lässt.  Der  vordere  Rand 
bleibt  ca.  5  mm  hinter  einer  Senkrechten  Falx —  Spitze  der  Fossa  Sylvii  zurück. 
Hinterer  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Die  Rinde  ist  unter  der 
medialen  Hälfte  der  Narbenkappe  völlig,  unter  der  lateralen  zum  grössten 
Theil  zerstört.  Das  theils  erweichte  Narbengewebe  zieht  breit  medial -basal- 
wärts,  jedoch  noch  3 — 4  mm  von  der  Ventrikelwand  entfernt  bleibend  und  mit 
einem  feinen  Erweichungsstreifen  sich  bis  zur  medialen  Fläche  der  Hemisphäre 
fortsetzend,  so  dass  der  medial  von  der  Narbenkappe  gelegene  Rindenstreifen 
völlig  von  seiner  Verbindung  mit  dem  übrigen  Markweiss  abgetrennt  ist,  auch 
sind  die  Markleisten  dieses  Theiles  von  ganz  feinen  Erweichungsherden  durch- 
setzt, die  Rinde  jedoch  makroskopisch  nicht  wesentlich  verändert.  Vorderer 
Durchschnitt  2  mm  vor  der  Narbe  zeigt  nur  noch  einen  ganz  kleinen  blutigen 
Streifen  im  Markweiss  des  Theiles  des  Randwulstes,  der  nach  der  Medianfläche 
der  Hemisphäre  zu  gewandt  ist. 

Zerstört  war  der  grössere  Theil  der  vorderen  Hälfte  der  Sehsphäre 
und  fast  die  ganze  Stelle  A^.  Die  untere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  und 
die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  hätten  grösstentheils  dauernd  rinden- 
blind sein  sollen.  Thatsächlich  zeigte  sich  ein  höchst  auffälliger  Wechsel 
der  Erscheinungen.  Zunächst  hellten  sich  Partien  der  unteren  Gesichts- 
feldhälfte auf,  dann  verdunkelten  sich  diese,  während  die  obere  Ge- 
sichtsfeldhälfte frei  wurde.  Vorübergehend  erschien  jedoch  hier  wieder 
ein  stärkeres  Scotom,  während  der  äussere  untere  Quadrant  schliesslich 
bis  zum  18.  Tage  eine  allmählich  kleiner  werdende  Sehstörung  erkennen 
liess.  Während  von  dauernder  Rindenblindheit  also  auch  hier  keine 
Rede  war,  und  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  bereits  vom  8.  Tage 
an  functionirte,  entsprach  die  Lagerung  des  Scotoms  sonst  im  All- 
gemeinen dem  M  unk 'sehen  Schema.  Die  Sehstörung  hätte  auf  dem 
rechten  Auge  nur  den  unteren  Theil  des  medialen  Streifens  betreffen 
dürfen.  Thatsächlich  blieb  dieser,  aber  nur  einen,  den  7.  Tag,  länger 
blind  als  der  obere  Theil  dieses  Streifens.  Ausserdem  lebte  die  von 
der  1.  Operation  herrührende  Sehstörung  wieder  auf  und  zwar  so,  dass 
vornehmlich  die  untere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes,  später  bis  zum  18.  Tage 
nur  der  untere  äussere  Quadrant  blind  blieb.  Amblyopie  beider  Augen 
auf  den  früher  blinden  Partien  bestand  bis  zum  Ende  der  Beobachtung. 


—     499     — 


Tabelle  IXa. 
Orale    L  ä  s  i  o  n  e  n.      Typische. 


O 
0 

S  e  h  s  t  ö  r  u  n  g 

Nasen - 

pq 

Art  der 

Ort  der  Operation 

Optische 

lid- 
reflex 

Bemer- 

d 

Operation 

(Section) 

gegen  Fleisch 

gegen 
Licht 

Reilexc 

kungen 

133 

Exstirpa- 

Links.  Vordere  Hälfte 

Rechts:  Typische  He- 

Wie gegen 

Fehlen. 

Am 

tion   2  —  3 

der    Sehsphäre ;    sa- 

mianopsie    bis    zum 

Fleisch. 

2.  Tage 

mm  tief. 

gittal  1 2  mm,  frontal 
23  mm    bis    an   die 
Mittellinie. 

12.  Tage;    vom    13. 
bis  19.  Tage  nur  im 
unteren       lateralen 
Quadranten. 
Links :  -Medialer  Strei- 
fen;    am    13.   Tage 
verschwunden. 

abge- 
schwächt. 

134 

Exstirpa- 

Links.  Schräg  verlau- 

Rechts:      Anfänglich 

Bis  zum 

Fehlen. 

Am 

— 

tion  ca.  ^/^ 

fende    Ausschaltung 

typische  Hemianop- 

3. Tage 

2.  Tage 

cm  tief. 

im  oberen  Theii  der 

sie,  vom5. — 10. Tage 

tolal,  dann 

abge- 

Sehsphäre;    sagittal 

nur  in   der  unteren 

Reaction 

schwächt. 

9  mm,    schräg-fron- 

Hälfte des  Gesichts- 

immer nur 

tal  19  mm. 

feldes. 
Links :  Dauer  bis  zum 
6.  Tage. 

medial. 

135 

Exstirpa- 

Links.  Vorderer  Theil 

Rechts:    Bis   zum   9. 

Bis  zum 

Fehlen  bis 

Unge- 

— 

tion  ca.  ^ji 

der  Sehsphäre  in  die 

Tage      vornehmlich, 

4.  Tage 

zum 

stört. 

cm  tief. 

Augenregion     über- 

doch      nicht      aus- 

wie gegen 

4.  Tage, 

i 

greifend;  sagittal  13 

schliesslich    in    der 

Fleisch. 

dann   dau- 

mm, frontal  15  mm. 

unteren    Hälfte    des 
Gesichtsfeldes. 
Links:  Dauer  2  Tage. 

ernd  abge- 
schwächt. 

13G 

Exstirpa- 

Links.    Vorderes  und 

Rechts :  In  der  unteren 

Am  2.Ta.ge 

Fehlen  bis 

Abge- 

Motilitäts- 

tion ca.  3/4 

mediales  Drittel  der 

Hälfte  des  Gesichts- 

total, dann 

zum 

schwächt 

störungen 

cm    tief. 

Sehsphäre  übergrei- 

feldes, bezw.  im  un- 

wie gegen 

7.  Tage 

bis  zum 

bis  zum 

fend  in    die  Augen- 

teren lateralen  Qua- 

Fleisch. 

gänzlich. 

26.  Tage 

10.  Tage. 

region;    sagittal    10 
mm,  frontal  16  mm. 

dranten.     Dauer  15 
Tage. 

dann    sehr 

langsam      verschwin- 

Links: Dauer  4  Tage. 

dende  Abschwächung. 

137 

Exstirpa- 

Links.  Vordere  Hälfte 

Rechts:    Bis   zum   3. 

Im  Allge- 

Fehlen bis 

Am 

Sehstörung 

tion  ca.  ■V4 

der  Sehsphäre   excl. 

Tage     Hemianopsie, 

meinen  wie 

zum  19., 

3.  Tage 

gegen 

cm  tief. 

Randwulst ;   sagittal 

bis  zum  5.  Tage  obe- 

gegen 

sind  abge- 

abge- 

Licht von 

14  mm,    frontal  15 

rer    Theil    des    Ge- 

Fleisch, 

schwächt 

schwächt. 

längerer 

mm. 

sichtsfeldes  freiblei- 

jedoch von 

bis  zum 

Dauer  als 

bend. 

längerer 

24.  Tage. 

gegen 

Links :  Dauer  3  Tage. 

Dauer. 

Fleisch. 

138 

Exstirpa- 

Links.  Vordere  Hälfte 

Rechts :  Hemianopisch 

Am  2.  Tage 

Fehlen 

Anfäng- 

VomlS.Tg. 

tion  ca. 

der  Sehsphäre   excl. 

bis    zum    11.  Tage, 

total,  dann 

bis  zum 

lich 

an  krank. 

1  cm  tief. 

Randwulst,    sagittal 

später  oberer  Theil 

wie  gegen 

12.  Tage 

abge- 

Motilitäts- 

10 mm,    frontal  12 

des      Gesichtsfeldes 

Fleisch. 

incL 

schwächt. 

störungen 

mm. 

grösstentheils  frei. 
Links:    Noch  am  12. 
Tage. 

dauernd  in 

geringem 

Grade. 

32* 


500     — 


o 

m 

6 

Art  der 
Operation 

Ort  der  Operation 

(Section) 

S  e  h  s  t  ö  r  u  n 
gegen  Fleisch 

g 

gegen 
Licht 

Optische 
Reflexe 

Nasen- 

lid- 

reflex 

Bemer- 
kungen 

139 
140 

Exstirpa- 

tion  ca.  3/4 

cm  tief. 

Exstirpa- 
tion  ca.  ^/^ 
cm  tief  mit 
Zerquet- 
schung  des 
Rand- 
wulstes. 

Links.  Vordere  Hälfte 
der  Sehsphäre,  in  die 
Augenregion       weit 
übergreifend ;    sagit- 
tal  19  mm,    frontal 
16  mm. 

Rechts.  Vordere  Hälfte 
der    Sehsphäre    und 
fast  die  ganze  Stelle 
Aj ;  sagittal  15  mm, 
frontal  15  mm. 

Rechts:   Bis  zum  17. 
Tage  typisch  hemia- 
nopisch,  am  18.  und 
19.    Tage    mehr    in 
der   unteren    Hälfte 
des     Gesichtsfeldes, 
am    20.    Tage    ver- 
schwunden. 

Links :    Dauer  gleich 

rechts. 

Links :  Bis  zum  3.  Tage 
nur  kleinere  Partien 
im  unteren  Gesichts- 
feld freilassend,  spä- 
ter   fast    das   ganze 
obere     Gesichtsfeld, 
endlich  auch  den  un- 

Ungefähr 

wie  gegen 

Fleisch. 

Total  bis 

zum 
7.  Tage, 
dannReac- 
tion  vor- 
handen. 

Fehlen 

19  Tage 

gänzlich, 

dann  1  Tag 

abge- 
schwächt. 

Fehlen 
links    dau- 
ernd, 
rechts    bis 

zum 
19.  Tage. 

Unge- 
stört. 

Unge- 
stört. 

Dauernde 
Ambly- 
opie. 
Wieder- 
autleben 

der  rechts 
seitigen- 

teren  inneren  Quadranten.     Am  19.  Tage  verschwunden. 
Rechts:    Anfänglich  anscheinend  auf  Theilen   des  unteren  Gesichtsfeldes 
besser  sehend.    Vom  4.  Tage  an  oberes  Gesichtsfeld  zuerst  in  der  Mitte, 
dann  medial,  schliesslich  lateral  freiwerdend.    Blindheit  endlich  bis  zum 
18.  Tage  nur  im  unteren  lateralen  Quadranten,  dauernde  Ambh'opie. 

Seh- 
störung. 

B.    Atypische  Operationen. 


Beolba.clxtu.iig:  141. 

Derselbe  Hund  von  Beobachtung  135  (vergl.  dort  die  Figuren).  4  Wochen 
nach  der  1.  Operation.  Aufdeckung  rechts  hinten  auf  13  mm  sagittal,  17  mm 
frontal.  Der  hintere  Rand  der  Lücke  bleibt  16  mm  von  der  Lambdanaht,  der 
mediale  einige  Millimeter  von  der  Medianlinie  entfernt.  Exstirpation  der  frei- 
liegenden Rinde  etwa  ^/^  cm  tief  mit  völliger  Zerstörung  des  Randwulstes, 
soweit  er  medial  noch  von  Knochen  bedeckt  ist. 

Wunde  am  5.  Tage  lateral  aufgekratzt,  entleert  etwas  serös  blutige 
Flüssigkeit,  ist  aber  am  7.  Tage  unter  geeigneter  Behandlung  wieder  verheilt. 

Motilität:  Am  2.  Tage  leicht  gestört,  dann  normal. 

Sehstörung:  Fehlt  gegen  Fleisch  und  Licht;  der  Hund  findet  auch 
auf  dem  Boden  Fleisch  sofort. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  links  gänzlich  nur  am  2.  Tage,  sind  aber 
bereits  am  3.  Tage  gegen  flache  und  am  7.  Tage  auch  gegen  schmale  Hand 
vorhanden. 

Nasenlidreflex  nur  am  2.  Tage  abgeschwächt. 

Getödtet  nach  ca.  3Y2  Wochen. 


—     501     — 

Section:  Häute  normal.  Der  vordere  Rand  der  sagiUiil  1»  mm,  frontal 
12  mm  messenden  Narbe  schneidet  genau  mit  einer  Senlcrecliten  hinterer  Rand 
der  IV.  Urwindung— Falx  ab,  der  hintere  Rand  bleibt  iiljorall  21  mm  vom  hin- 
teren Pol,  der  mediale  4  mm  von  der  Medianlinie  entfernt.  Der  hintere  Pol 
der  Hemisphäre  und  der  hinter  der  Narbe  gelegene  Theil  des  lateralen  Schen- 
kels der  IL  Urwindung  ist  deutlich  eingesunken.  Von  der  Auflagerung  nach 
der  Medianspalte  zieht  sich  eine  narbige  Einschnürung.  1.  Durchschnitt  durch 
die  Mitte  der  Auflagerung:   Die  dorsale  Partie  der  Hemisphäre  ist  stark   ab- 


Fig.  260. 

geflacht.  Die  Basis  der  Hirnnarbe  hat  die  Grösse  der  Auflagerung,  die  Narbe 
selbst  eine  dreieckige  Gestalt  und  reicht  mit  ihrer  Spitze  bis  an  den  Seiten- 
ventrikel, wo  sie  die  ßalkenstrahlung  vollkommen  durchbrochen  hat.  Sie  hat 
ebenso  wie  das  Ependym  des  Seitenventrikels  eine  grau  gelatinöse  Färbung. 
Von  ihr  aus  zieht  sich  ein  Spalt  durch  den  Randwulst  bis  in  die  Medianspalte. 
Der  Seitenventrikel  ist  stark  dilatirt  und  nach  oben  ausgezogen.  2.  Durch- 
schnitt durch  den  hinteren  Rand  der  Narbe:  An  der  Grenze  zwischen  1.  und 
II.  Urwindung  befindet  sich  von  der  Furche  ausgehend  ein  ziemlich  grosser 
Erweichungsherd,  der  etwas  mehr  medial  in  die  Tiefe  zieht,  während  lateral 
von  demselben  eine  ähnliche,  aber  noch  erheblich  grössere  eingesunkene  Stelle 
als  links  sich  zeigt. 

Das  vordere  Drittel  der  Sehsphäre  excl.  des  lateralsten  Streifens 
war  ausgeschaltet.  Das  untere  Drittel  des  zugehörigen  Gesichtsfeldes 
hätte  fehlen  sollen;  thatsächlich  bestand  gar  keine  Sehstörung. 

Beobaclitniig:  14S. 

Derselbe  Hund  von  Beobachtung  134  (vergl.  dort  die  Figuren).  Circa 
3  Wochen    nach    der    1.  Operation.     Aufdeckung   rechts   hinten   auf  11mm 


—     502     — 

sagittal,  16  mm  frontal.  Die  rechteckige  Lücke,  die  senkrecht  auf  der  Mittel- 
linie steht,  bleibt  mit  ihrem  hinteren  Rande  15  mm  von  der  Lambdanaht,  mit 
ihrem  medialen  Rande  2 — 3  mm  von  der  Falx  entfernt.  Exstirpation  der  Rinde 
ca.  3/4  cm  tief,  wobei  der  Randwulst  mit  Präparatenheber  und  Löffel  möglichst 
vollständig  entfernt  wird. 

Motilitätsstörungen:  In  geringem  Grade  in  der  linken  Hinterpfote 
bis  zum  8.  Tage  nachweisbar. 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch:  2.  Tag:  Auf  dem  Boden  findet  er  bei 
unverbundenem  rechten  Auge  Fleischstücke,  auch  ganz  weisses  Fett,  nur,  wenn 
er  bei  eifrigem  Schnüffeln  zufällig  mit  der  Nase  anstösst.     In  der  Schwebe 


Fig.  261. 

links  schmaler  nasaler,  unten  etwas  breiterer,  sehender  Streifen;  rechts  schmaler 
nasaler  amblyopischer  Streifen  3.  Tag:  Auf  dem  Boden  findet  er  bei  verbun- 
denem rechten  Auge  nur  solche  Fleischstücke,  die  in  der  Richtung  seiner 
Körperaxe  und  nicht  zu  weit  entfernt  liegen,  also  entsprechend  dem  sehenden 
Theil  seines  Gesichtsfeldes,  wie  er  in  der  Schwebe  festgestellt  ist.  In  der 
Schwebe  links  oben  nur  schmaler  nasaler  sehender  Streifen,  unterhalb  des 
Aequators  sich  verbreiternd  bis  über  den  verticalen  Meridian  hinaus.  Rechts 
unverändert.  6.  Tag:  Auf  dem  Boden  findet  er  Fleisch  rechts  besser  als  links. 
In  der  Schwebe  rechts  ziemlich  unverändert,  links  nasal  oben  fast  bis  zum 
verticalen  Meridian,  unterhalb  des  Aequators  über  denselben  hinaussehend. 
7.  Tag:  Auf  dem  Boden  findet  er  Fleisch  links  nur,  wenn  es  unmittelbar  vor 
seinen  nasalen  Gesichtsfeldtheil  zu  liegen  kommt.  In  der  Schwebe  ist  links 
keine  sichere  Sehstörung  mehr  nachzuweisen,  doch  schnappt  er  hier  auch  nach 
Kork  und  Watte.  8.  Tag:  Auf  dem  Boden  unverändert.  In  der  Schwebe 
links  lateral  etwas  unsicher,  aber  keine  sicher  abgrenzbare  Sehstörung  mehr; 
rechts  keine  Sehstörung  mehr  nachzuweisen.  Am  9.  Tage  ist  auch  die  Seh- 
störung links  verschwunden.     Auf  dem  Boden  findet  er  Fleisch  mit  ziemlicher 


—     503     — 

Sicherheil,  auch  wenn  es  ganz  lateral  liegt.  26.  Tag:  Seither  keine  Sehstörung. 
Auf  dem  Boden  findet  er  Fleisch  mit  normaler  Schnelligkeit,  beschnuppert 
zwar  dazwischengeworfene  Korkstücke,  nimmt  sie  aber  nicht.  Gegen  Licht 
scheut  er  am  2.  Tage  auf  dem  linken  Auge  nicht,  später  in  der  Regel  auf  der 
gegen  Fleisch  reagirenden  Partie  des  Gesichtsfeldes,  jedoch  am  S.  Tage  nur 
auf  der  medialen  Gesichtsfeldhälfte,  am  26.  Tage  überall  sehr  empfindlicli. 

Optische  Reflexe:  Anfangs  gänzlich  fehlend,  später  und  noch  am 
26.  Tage  links  gegen  scbmale  Hand  fehlend,  gegen  Hache  Hand  angedeutet; 
rechts  während  der  ganzen  Dauer  der  Beobachtung  fehlend. 

Nasenlidreflex  nur  am  2.  Tage  etwas  abgeschwächt. 

Getödtet  nach  ca.  4  Wochen. 

Section:  Häute  normal.  Die  Narbe  sitzt  den  beiden  medialen  ürwin- 
dungen  auf  und  verletzt  den  medialen  Rand  der  HI.  Urwindung  noch  etwas. 
Sie  misst  frontal  17  mm,  sagittal  in  der  Mitte  8,5  mm  und  verjüngt  sich  so- 
wohl lateral  wie  medial  erheblich.  In  der  Mitte  bleibt  ihr  vorderer  Rand  von 
der  Linie  Spitze  der  Fossa  Sylvii —  Falx  4  mm,  an  der  Medianspalte  8  mm,  an 
der  lateralen  Ecke  6  mm  zurück.  Der  hintere  Rand  bleibt  lateral  12  mm,  in 
der  Mitte  9  mm,  ganz  medial  fast  6  mm  von  dem  stark  eingezogenen  hinteren 
Pol  zurück.  Hinterer  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Der  Defect 
erstreckt  sich  auf  die  l.  und  II.  Urwindung,  von  der  I.  Urwindung  fehlt  medial 
nur  die  dorsale  Partie,  das  mediale  basale  Grau  dieser  Windung  ist  erhalten; 
lateral  nimmt  die  Hirnnarbe  eine  trichterförmige  Gestalt  an  und  erstreckt  sich 
mit  einem  feinen  Erweichungsstreifen  bis  an  das  dorsale  Marklager.  Vorderer 
Durchschnitt  durch  die  vordere  Grenze,  der  Narbe:  Die  Narbe  sitzt  ganz  in  der 
I.  Urwindung  und  hat  deren  mediales  und  laterales  Grau  zum  Theil  unversehrt 
gelassen.  Ein  rother  Erweichungsstreifen  zieht  sich  in  das  mediale  Markweiss 
hinein.    Der  Ventrikel  ist  erweitert. 

Etwas  mehr  als  etwa  das  vordere  Drittel  der  Sehsphäre  war  aus- 
geschaltet. Mehr  als  das  untere  Drittel  des  Gesichtsfeldes  hätte  fehlen, 
die  obere  Partie  hätte  erhalten  sein  sollen.  Die  Sehstörung  betraf  aber 
vornehmlich  den  oberen  Theil  des  Gesichtsfeldes  und  war  am  9.  Tage 
bereits  verschwunden. 

Beobaclitniig-  143. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  136  (vgl.  dort  die  Figuren),  41/2  Wochen  nach 
der  1.  Operation.  Aufdeckung  rechts  hinten  auf  11  mm  sagittal,  17  mm  fron- 
tal. Der  hintere  Rand  der  Knochenlücke  liegt  17  mm  vor  der  Lambdanaht, 
der  mediale  nur  einige  Millimeter  von  der  Mittellinie  entfernt.  Exstirpation 
der  freiliegenden  Rinde  mindestens  1  cm  tief,  auch  die  Hirnpartie  unter  dem 
medialen  Knochenrande  wird  bis  zur  Falx  zerstört. 

Wunde  nässt  vom  4.-7.  Tage  oberflächlich,  heilt  dann  aber  unter  einem 
Kopfverband  schnell. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Seh  Störung:   Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  kein  sicheres  Urtheil  zu  er- 


—     504     — 

zielen.  Rechts  am  3.  Tage  unsicher,  am  4.  Tage  deutlich  ein  schmaler,  oben 
breiterer  lateraler  und  ein  breiterer  nasaler  Streifen  amblyopisch.  Am  3.  Tage 
findet  er  Fleisch  auf  dem  Boden  sehr  gut;  in  der  Schwebe  ermüdet  er  schnell 
und  achtet  bald  nicht  mehr  darauf;  jedenfalls  sieht  er  links  unterhalb  des 
Aequators  sicher  gut  bis  höchstens  auf  einen  schmalen  lateralen  Streifen.  Da- 
gegen lässt  es  sich  nicht  sicher  sagen,  ob  die  Sehstörung  oberhalb  nur  den 
äusseren  Quadranten   oder  sogar  die  ganze  obere  Gesichtsfeldhälfte  einnimmt. 


Fig.  262. 


4.  Tag:  Auf  dem  Boden  findet  er  jetzt  und  später  Fleisch  schnell  und  sicher. 
In  der  Schwebe  links  oberhalb  des  Aequators  ca.  zwei  Drittel,  unterhalb  ein 
unsicherer  lateraler  Streifen  blind.  Am  5.  Tage  ist  links  noch  lateral  ein 
kleiner  Fleck  oben,  rechts  keine  Sehstörung  mehr  zu  constatiren.  Vom  6. — 14. 
Tage  eine  unter  Calomel  gut  heilende  Cornealtrübung;  vom  14. — 18.  Tage 
keine  Sehstörung  mehr.  Gegen  Licht  unerheblich,  am  4.  Tage  bereits  weit 
aussen,  unten  jedoch  stärker  als  oben  reagirend. 

Optische  Reflexe:  Am  2. Tage  links  fehlend,  von  3.— 18. Tage  gegen 
flache  Hand  angedeutet,  gegen  schmale  Hand  fehlend.  Am  18.  Tage  gegen 
flache  und  schmale  Hand  beiderseits  gleich. 

Nasenlid refl ex  ungestört. 

Getödtet  nach  ca.  2Y2  Wochen. 

Section:  Häute  normal.  Die  frontal  18  mm,  sagittal  an  der  breitesten 
lateralen  Stelle  9  mm  messende  Narbe  sitzt  der  I.  und  II.  Urwindung  auf,  so- 
dass sie  gerade  noch  den  medialen  Rand  der  III.  Urwindung  erreicht.  Sie 
bleibt  mit  ihrem  hinteren  Rande  medial  16  mm,  lateral  14  mm  vom  hinteren 
Pol  entfernt;  eine  senkrechte:  Falx — hinterer  Rand  der  IV.  Urwindung  trifft 
den  vorderen  Rand  der  Narbe.  An  der  medialen  Fläche  entsprechend  der  Mitte 


—     505     — 

der  Aul'lagemng  eine  narbige  Einziehung.  Beide  7Vul'lag(;i'iingen,  sowohl  <iie 
rechte  wie  die  linke  convergiren  etwas  nach  der  Mittellinie  in  der  Jlichtung  von 
hinten  nach  vorn.  Durchschnitt  ganz  wenig  schräg,  von  hinten  lateral,  nach 
vorn  medial,  etwa  in  der  Richtung  des  grössten  Längsdurchmessers  der  Auf- 
lagerung: Die  Zerstörung  betrifft  die  ganze  II.  und  den  grössten  Theil  der 
1.  Urwindung.  Unter  der  Auflagerung  ist  ein  ungefähr  dreiecl<iger  Kaum,  der 
die  Spitze  des  Seitenventriliels  mit  seiner  Spitze  erreicht,  mit  maschigem  Ge- 
webe ausgefüllt.  Von  ihm  aus  geht  medialwärts  in  den  Gyrus  fornicatus  hin- 
ein ein  spaltartiger  Fortsatz.  Auf  der  hinteren  Fläche  desselben  Schnittes  ist 
dieser  Fortsatz  breiter,  erweitert  sich  zu  einer  Höhle. 

Etwa  das  vordere  Drittel  der  Selisphäre  war  ausgeschaltet  worden. 
Etwa  das  untere  Drittel  des  Gesichtsfeldes  hätte  rinden  blind  sein  sollen. 
Die  Selistöruug  betraf  aber  vornehmlich  die  obere  Hälfte  des  Gesichts- 
feldes und  war  bereits  am  5.  Tage  grösstentheils,  spätestens  am  14.  Tage 
vollständig  versehwunden. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  133  (vgl.  dort  die  Figuren)  Aufdeckung  rechts 
hinten  auf  sagittal  12  mm,  frontal  22  mm.  Der  vordere  Rand  bleibt  27  mm 
von  der  Lambdanaht  entfernt,  der  mediale  Rand  liegt  dicht  an  der  Median- 
spalte.   Exstirpation  der  fi'eiligenden  Rinde  ca.  2 — 3  mm  tief. 

Motilitätsstörungen  am  2.  Tage  angedeutet,  dann  fehlend. 


Fi  er.  263. 


Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Rechts:  Medialer  Streifen  bis  zum  5. Tage 
blind,  an  diesem  Tage  unsicher,  am  folgenden  Tage  anscheinend  normal. 
Links:   Am  2.  Tage  auf  nasalem  Streifen  unsicher,  sonst  blind.  Am  3.  und  4. 


—     506     — 

Tage  typisch  hemianopisch,  am  5.  Tage  vorher  blinde  Partie  nur  noch  unsicher, 
fixirt  fast  immer,  schnappt  aber  nur  selten  und  träge  zu;  am  G.Tage  nur  noch 
lateraler  oberer  Kreisabschnitt  unsicher,  am  7.  Tage  Sehstörung  verschwunden. 
Schlussuntersuchung  am  9.  Tage:  Hund  findet  Fleisch  prompt  auf  dem  Boden, 
folgt  geworfenem  Fleisch  rechts  wie  links  absolut  sicher  und  fängt  es.  Schnappt 
fast  momentan  in  der  Schwebe  und  auf  dem  Boden  nach  Fleisch,  das  von 
aussen  in  sein  Gesichtsfeld  geführt  wird.  Stelle  des  deutlichen  Sehens  intact, 
sicher  keine  Sehstörung  mehr.    Gegen  Licht  wie  gegen  Fleisch. 

Optische  Reflexe  fehlen  beiderseits  gänzlich. 

Nasenlidreflex  ungestört, 

Getödtet  am  10.  Tage. 

Section:  Häute  normal.  Die  genau  rechtwinklige  23mm  frontal,  12  mm 
sagittal  messende  Narbe  reicht  medial  bis  an  die  Medianspalte.  Der  hintere 
Rand  bleibt  lateral  13  mm,  medial  10  mm  vom  hinteren  Pol  entfernt.  Der 
vordere  Rand  schneidet  genau  mit  einer  Senkrechten  Falx  —  hinterer  Rand  der 
IV.  Urwindung  ab;  die  vordere  laterale  Ecke  schneidet  noch  einen  Winkel  aus 
der  III.  Urwindung  aus.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Es  fehlt  die 
Rinde  vom  medialen  Theil  der  III.  Urwindung,  die  ganze  Rinde  der  II.  incl. 
die  der  Sulci  zwischen  I.  und  II.,  II.  und  III.  und  die  dorsale  Rinde  der  I.  Ur- 
windung, welche  überhaupt  bis  nahe  an  den  Sulcus  calloso-marginalis  fast 
gänzlich  vernichtet  ist.  Die  Zerstörung  reicht  so  tief  in  die  Hemisphäre  hin- 
ein, dass  fast  nichts  von  dem  dorsalen  Mark  oberhalb  der  Ebene  des  Sulcus 
calloso-marginalis  übrig  geblieben  ist. 

Ausgeschaltet  war  die  ganze  vordere  Hälfte  der  Sehsphäre,  secundär 
noch  ein,  wenn  auch  etwas  kleinerer  vorderer  Abschnitt  der  hinteren 
Hälfte  als  bei  Beob.  133  mit  in  den  Bereich  der  Zerstörung  gezogen. 
Die  Stelle  Ai  war  zu  einem  grossen  Theil  vernichtet.  Hiernach  hätte 
die  untere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  incl.  der  Stelle  des  deutlichen 
Sehens  rindenblind  sein  sollen,  die  obere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  hätte 
nur  in  ihrem  untersten  Abschnitt  betroffen  sein  dürfen.  Thatsächlich 
bestand  eine  typische  Hemianopsie,  die  sich  in  typischer  Weise  verlor 
und  sich  nur  durch  ihre  höchst  auffallende  schnelle  Vergänglichkeit 
auszeichnete. 

Beofeaclituiig-  14S- 

Aufdeckung  links  hinten  auf  sagittal  12  mm,  frontal  20  mm.  DieKnocben- 
lücke  bleibt  mit  ihrem  vorderen  Rande  27  mm  von  der  Lambdanaht,  mit  ihrem 
medialen  Rande  einige  Millimeter  von  der  Mittellinie  entfernt.  Die  freiliegende 
Rinde  incl.  des  gerade  noch  anstehenden  Winkels  der  III.  Urwindung  und  des 
schmalen  noch  vom  Knochen  bedeckten  Randes  der  I.  Urwindung  werden 
ca.  3  mm  tief  abgetragen  bezw.  zerstört. 

Wundheilung:  Am  6.  Tage  hatte  sich  eine  pralle  Geschwulst  ge- 
bildet, aus  der  eine  ziemliche  Menge  blutig  seröser  Flüssigkeit  entleert  wurde, 
flcilung  der  Wunde  unter  aseptischem  Verband, 


507     — 


Moliliiätsstörungcn   ca.  6  Tage  lang  angedeutet. 

Seh  Störung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  auf  beiden  Augen  typische 
Hemianopsie,  rechts  auch  auf  dem  nasalen  Gesichtsfeld  nur  undeutiiciie 
Reaction.     Am  3.  Tage  auf  diesem  Streifen  deutliche  Rcaction,  sonst  unvor- 


(zu  Beob.  146.) 


Fig.  264. 

ändert.  Von  da  an  und  bis  zum  68.  Tage  unverändert.  Gegen  Licht:  Im 
Allgemeinen  wie  gegen  Fleisch,  nur  dass  der  Hund  an  einzelnen  Tagen  rechts 
überhaupt  nicht  reagirt. 

Optische  Reflexe:   Fehlen  rechts  dauernd,  sind  links  ungestört. 

Nasenlidreflex  anfänglich  abgeschwächt. 

Getödtet  am  84.  Tage,  nachdem  inzwischen  eine  2.  symmetrische  Opera- 
tion ausgeführt  worden  war. 

Section:  Häute  normal.  Die  20  mm  frontal,  sagittal- lateral  8  mm, 
in  der  Mitte  12  mm,  medial  10  mm  messende  Narbe  bleibt  mit  ihrem  medialen 
Rande  noch  5  mm  von  der  Medianspalte  (die  hier  stehen  gebliebene  Rinde  ist 
aber  oberflächlich  erodirt),  mit  ihrem  hinteren  Rande  lateral  12  mm,  medial 
nur  3  mm  vom  hinteren  Pol,  dessen  mediale  Hälfte  sehr  stark  eingezogen  ist, 
entfernt.  Vorderer  Rand  entspricht  einer  Senkrechten  Falx  —  hinterer  Rand 
der  IV.  Urwindung;  vordere  laterale  Ecke  schneidet  einen  Winkel  aus  der 
IIl.  Urwindung  aus.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Es  fehlt  die 
Rinde  vom  medialsten  Theil  der  III.  Urwindung,  die  ganze  Rinde  der  II.  incl. 
der  zwischen  der  I.  und  IL,  IL  und  111.  Urwindung  einschneidenden  Sulci 
und  die  Rinde  der  lateralen  Hälfte  der  I.  Urwindung,   während  die  mediale 


508 


Hälfte  nur  abgeblasst  ist.  Die  Zerstörung  reicht  bis  an  den  Sulcus  calloso- 
marginalis,  dessen  Rinde  noch  theilweise  zerstört  ist,  und  tief  in  das  Mark- 
lager  hinein.     Ein  Sagittalschnitt  zeigt,   dass  die  basale  mediale  Rinde  zwar 


Fio-.  265. 


links 


rechts 


Fig.  266. 


makroskopisch  intact,  aber  derart  nach  vorn  oben  gezogen  ist  und  der  Narben- 
tlcäche  derart  breit  anliegt,  dass  schlechterdings  nicht  abgesehen  werden  kann, 
auf  welchem  Wege  Faserzüge  von  hier  noch  ausgehen  könnten. 

Zerstörung  der  vorderen  Hälfte  der  Selisphäre,   secundäre  Betheili- 
gung der  hinteren  Hälfte,  dauernde  typische  Hemianopsie. 


—     509     — 


13eol>a,cJhLtiiiij>:  l'l-tJ. 

Derselbe  Hund  von  Beobachtung  145  (vergl.  dort  die  Figuren).  Auf- 
deckung rechts  hinten  auf  sagittal  12  mm,  frontal  21  mm.  Der  vordere  liand 
der  Knochenlücke  bleibt  27  mm  von  der  Lambdanaht,  der  mediale  4—5  mm 
von  der  Medianspalte  entfernt.  Abtragung  der  freiliegenden  und  des  unter 
dem  medialen  Knochenrande  liegenden  Stückes  Rinde  ca.  3  mm  tief. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Auf  dem  rechten  Auge  verlief  sie  so, 
dass  zu  der  von  der  I.  Operation  herrührenden  Hemianopsie  bis  incl.  dem 
7.  Tage  noch  die  oberen  zwei  Drittel  des  nasalen  Gesichtsfeldes  blind  waren, 
v^rährend  das  untere  Drittel  bis  zu  diesem  Tage  undeutlich,  dann  deutlich  sah. 
Von  da  an  bestand  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung  die  von  der  I.  Operation 


Fig.  267. 

herrührende  Hemianopsie  weiter.  Auf  dem  linken  Auge  sah  der  Hund  bis  zum 
7.  Tage  gleichfalls  nur,  und  zwar  undeutlich,  auf  einem  dem  rechten  Gesichts- 
feld symmetrischen  unteren  nasalen  Abschnitt.  Am  8.  Tage  reagirte  der  Hund 
auf  dem  medialen  Drittel,  wobei  es  zweifelhaft  blieb,  jedenfalls  nicht  mit 
Sicherheit  nachweisbar  war,  ob  der  durch  die  I.  Operation  geschädigte  nasale 
Streifen  noch  beeinträchtigt  war.  Am  9.  Tage  war  die  Sehstörung  auf  die 
Hälfte  zurückgegangen,  am  11.  Tage  hatte  sich  die  untere  Partie  bis  zu  einem 
noch  restirenden  Viertel  aufgehellt,  am  12.  Tage  bestand  noch  ein  oberer  late- 
raler blinder  Kreisabschnitt  und  am  14.  Tage  war  auch  dieser  verschwunden. 
Gegen  Licht  wie  gegen  Fleisch. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  anfänglich  und  sind  links  erst  am  12.  Tage 
andeutungsweise  vorhanden. 


—     510     — 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  am  15.  Tage. 

Section:  Häute  normal.  Die  23  mm  frontal,  sagittal- lateral  12  mm, 
sagittal-medial  10  mm  messende  Narbe  bleibt  mit  ihrem  medialen  Rande  1  bis 
2  mm  von  der  Medianspalte  entfernt,  doch  ist  die  stehen  gebliebene  Rinde  des 
Randwulstes  stark  zerfetzt  und  stark  eingezogen.  Der  hintere  Rand  bleibt 
lateral  11  mm,  medial  9  mm  vom  hinteren  Pol  entfernt.  Die  vordere  laterale 
Ecke  schneidet  noch  gerade  einen  Winkel  aus  der  III.  Urwindung  aus.  Vor- 
derer Rand  entspricht  einer  Senkrechten  Falx— hinterer  Rand  der  IV.  Urwin- 
dung. Durchschnitt  im  Allgemeinen  wie  bei  Beobachtung  145,  nur  ist  das 
stehen  gebliebene  Stück  Randwulst  bis  zur  Medianspalte  unterminirt  und  zer- 
fetzt. Die  Zerstörung  reicht  in  der  Tiefe  nicht  bis  zum  Sulcus  calloso-mar- 
ginalis  und  nicht  soweit  in  die  weisse  Substanz  hinein, 

Zerstörung  der  vorderen  Hälfte  der  Sehsphäre,  secimdäre  Betheili- 
gung der  hinteren  Hälfte,  typisch  ablaufende  Hemianopsie,  derart,  dass  die 
untere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes,  welche  rindenblind  hätte  werden  sollen, 
nicht  nur  nicht  rindenblind  war,  sondern  sich  zuerst  wieder  erholte. 

Beobadituiig-  \-4JT'. 

Aufdeckung  links  hinten  auf  11  mm  sagittal,  25  mm  frontal,  in  der  Mitte 
ist  die  Lücke  um  ca.  1  mm  nach  hinten  zu  breiter.  Der  vordere  Rand  der 
Knochenlücke  bleibt  27  mm  von  der  Lambdanaht  entfernt,  der  mediale  Rand 
reicht  bis  an  die  Medianspalte.  Die  freiliegende  Rinde  wird  ca.  2  mm  tief  ab- 
getragen. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Links:  In  den  ersten  3—4  Tagen  be- 
stand ein  oben  breiterer,  unten  schmalerer  nasaler  blinder  Streifen,  am  5.  und 
6.  Tage  nur  noch  ein  oberer  Kreisabschnitt,  der  am  7.  Tage  undeutlich,  am 
8.  Tage  verschwunden  war.  Rechts:  Am  2.  Tage  lässt  die  Sehstörung  den 
nasalen  Streifen  ganz  frei  und  besteht  in  dem  anliegenden  Streifen  bis  zum 
Meridian  und  Aequator  nur  in  Amblyopie;  am  3.  und  4.  Tage  hat  sie  sich 
lateralwärts  weiter  aufgehellt,  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  ist  noch  blind. 
Vom  5.-7.  Tage  reicht  sie  oberhalb  des  Aeqaators  noch  über  den  Meridian 
hinaus,  unterhalb  des  Aequators  besteht  noch  Amblyopie  von  ca.  der  Hälfte 
des  linksseitigen  Hemisphärenantheils.  Vom  8. — 10.  Tage  reicht  die  blinde 
Partie  lateral  noch  bis  etwas  unter  den  Aequator,  medial  schliesst  sich  eine 
amblyopische  Zone  an.  Am  11,  Tag  iest  die  letztere  verschwunden.  So  bleibt 
es  bis  zum  16.  Tage,  an  welchem  nur  noch  ein  lateraler  blinder  oberer  Kreis- 
abschnitt nachzuweisen  ist.  Vom  21.  Tage  an  besteht  daselbst  nur  noch  Un- 
sicherheit, die  am  24.  Tage  verschwunden  ist.  Gegen  Licht  entsprechend  der 
Sehstörung  gegen  Fleisch. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  bis  zum  7.  Tage,  von  diesem  Tage  an  bis 
zum  Schluss  der  Beob.  angedeutet  vorhanden, 

Nasenlidreflex  abgeschwächt  bis  zum  8,  Tage. 


511 


Z5 


(Zu  Beob.  148. 
Fia-.  268. 


Getödtet  nach  ca.  5  Wochen,  nachdem  inzwischen  eine  2.  symmetrische 
Operation  ausgeführt  worden  war. 

Section:  Häute  normal.  Der  hintere  Pol  ist  stark  eingezogen,  nament- 
lich in  seiner  mittleren,  weniger  in  seiner  medialen,  am  wenigsten  in  seiner 
lateralen  Partie.    Die    frontal  23  mm,    sagittal-lateral  12  mm,    sagittal-medial 


—     512     — 

10  mm  messende  Narbe  bleibt  medial  ca.  1  mm  von  der  Medianspalte,  liinten- 
medial  8  mm,  hinten-lateral  11  mm  vom  hinteren  Pol  entfernt.  Die  vordere 
Grenze  entspricht  einer  Senkrechten  Falx — hinterer  Rand  der  IV.Urwindung; 
die  vordere  laterale  Ecke  schneidet  noch  gerade  einen  Winkel  aus  der  III.  Ur- 
windung  heraus.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Es  fehlt  die  Rinde 
vom    medialsten  Theil  der  IIl.  Urwindung,    der    ganzen  II.  und  die  der  I.  bis 


Fig.  269. 


links 


rechts 


Fig.  270. 

auf  den  medialsten  Rand  derselben.  Der  schmale,  stehen  gebliebene  Rand  ist 
aber  abgeblasst,  die  Markleiste  fast  völlig  zerstört.  Die  Zerstörung  reicht 
kegelförmig  bis  ca.  1  mm  von  der  Spitze  des  stark  ausgezogenen  Seitenventri- 
kels und  bis  in  das  Grau  des  Sulcus  calloso-marginalis  hinein.  Der  Gyrus 
fornicatus  ist  stark  lateralwärts  nach  der  Narbe  zu  verzogen. 


—     513     — 

Die  vordere  Hälfte  der  Sehsphäre  war  gänzlich  ausgciscliultet 
worden;  secundär  war  auch  noch  der  Rest  der  Stelle  A^  zu  Grunde  ge- 
gangen. Die  untere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  und  die  Stelle  des  deut- 
lichen Sehens  hätten  rindenblind  sein  sollen.  Nichts  von  alledem  traf 
aber  zu.  Die  untere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  fiel  nicht  einmal  am 
2.  Tage  gänzlich  aus,  vielmehr  war  schon  an  diesem  Tage  und  später 
während  der  ganzen  Beobachtungszeit  die  obere  Hälfte  stärker  ge- 
schädigt. Bereits  am  8.  Tage  fehlte  von  der  unteren  Hälfte  nur  nocli 
ein  kleiner  oberer  Sector,  der  aber  am  16.  Tage  auch  schon  wieder 
fungirte,  während  am  24.  Tage  die  Function  auf  dem  ganzen  Gesichts- 
felde ungeachtet  der  Grösse  der  angerichteten  Zerstörung  wiedergekehrt 
war.     Die  Macula  functionirte  bereits  am  5.  Tage  wieder. 

Beobachtung;  l-4rS. 

Derselbe  Hund  von  Beob.  147  (vgl.  dort  die  Figuren).  Aufdeckung  rechts 
hinten  auf  12  mm  sagittal,  25  mm  frontal.  Der  vordere  Hand  der  Knochen- 
lücke bleibt  27  mm  von  der  Lambdanaht  entfernt,  der  mediale  Rand  reicht  bis 
an  die  Medianspalte.    Exstirpation  der  freiliegenden  Rinde  2 — 3  mm  tief. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Rechts:  Am  2.  Tage  fällt  ein  lateraler 
und  medialer  Streifen  aus,  letzterer  noch  bis  zum  8.  Tage,  vom  9. — 24.  Tage 
bestand  eine  deutliche  Unsicherheit  an  dieser  Stelle,  dann  sah  der  Hund  da 
wieder  anscheinend  normal.  Links:  Bis  zum  7.  Tage  fehlte  jede  Reaction,  an 
diesem  und  am  8.  Tage  war  die  Reaction  auf  dem  nasalen  Streifen  undeutlich 
vorhanden.  Diese  undeutliche  Reaction,  welche  sich  in  der  Art  documentirte, 
dass  der  Hund  auf  den  Reiz  des  in  diesen  Theileu  erscheinenden  Fleisches 
zwar  aufblickte,  das  Fleisch  aber  zuerst  nicht  und  dann  nur  unregelmässig  er- 
griff, es  also  offenbar  nicht  erkannte,  erstreckte  sich,  während  die  totale  Blind- 
heit allmählich  zurückwich,  bis  zum  15.  Tage  auf  den  ganzen  oberen  Gesichts- 
feldabschnitt, von  diesem  Tage  an  wich  sie  gleichfalls  lateral  zurück,  sodass  nun- 
mehrder  obere  innere  Quadrant  ganz  frei  war.  Inzwischen  war  die  totale  Blindheit 
bis  zum  16.  Tage  auf  die  temporaleHälfte  des  Gesichtsfeldes  zurückgewichen.  Vom 
17.  Tage  an  hellt  sich  auch  der  temporale  untere  Quadrant  auf,  sodass  am 
25.  Tage  die  ganze  untere  Gesichtsfeldhälfte  frei  war,  während  an  diesem  und 
den  nächsten  Tagen  die  blinde  Partie  wieder  etwa  zwei  Drittel  der  oberen  Ge- 
sichtsfeldhälfte einnahm.  Vom  28.— 31.  Tage  (Schluss  der  Beob.)  fand  sich 
nur  noch  eine  Unsicherheit  im  oberen  Theil  des  Gesichtsfeldes.  Gegen  Licht: 
Schon  anfänglich  Reaction  auf  dem  ganzen  Gesichtsfelde  links. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  links  bis  zum  Schluss  der  Beob.  total, 
während  sie  rechts  stets  angedeutet  vorhanden  sind. 

Getödtet  am  32,  Tage. 

Section:  Häute  normal.  Der  hintere  Pol  ist  von  medial  nach  lateral 
abnehmend  stark  retrahirt.  Die  frontal  25  mm,  sagittal  12  mm  messende  Narbe 
reicht  medial  bis  ganz  zur  Medianspalte  und   bleibt  mit  ihrem  hinteren  Rande 

Hitzi!^,  Gesammelte  Abhandl.     11.  Theil.  33 


—     514     — 

medial  7  mm,  lateral  10  mm  vom  liint.ereü  Pol  entfernt.  Die  laterale  vordere 
Ecke  schneidet  einen  Winkel  aus  der  HI.  Urwindung  heraus;  die  vordere 
Grenze  entspricht  genau  einer  Senkrechten  Falx — hinterer  Rand  der  IV.  Ur- 
windung.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Es  fehlt  der  medialste  Theil 
der  Rinde    der  III.  Urwindung.    die    ganze  Rindo  der  If.  incl.  der  zwischen  1. 


Fig.  271. 

und  IL,  IL  und  III.  Urvvindung  einschneidenden  Sulci  und  die  ganze  dorsale 
Rinde  der  I.  Urwindung,  deren  Markweiss  auch  fast  völlig  zerstört  ist.  Die 
Zerstörung  reicht  bis  in  das  Grau  des  Sulcus  calloso-marginalis  hinein  und 
bis  an  den  Seitenventrikel,  der  erweitert  ist  und  in  den  ein  Spalt  von  der  ober- 
tlächlichen  Hirnwunde  aus  hineinreicht.  Ausserdem  finden  .^ich  zur  Seite 
dieser  Höhle  noch  zahlreiche  kleinere  Erweichungsherde. 

Die  vordere  Hälfte  der  Sehsphäre  war  gänzlich  ausgeschaltet  worden; 
secuüdär  war  auch  noch  der  Rest  der  Stelle  A^  mindestens  grössten- 
theils  zu  Grunde  gegangen.  Die  untere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  und 
die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  hätten  rindenblind  sein  sollen.  Nichts 
von  alledem  traf  aber  zu.  Die  Sehstörung  verlief  im  Allgemeinen  als 
typische  Hemianopsie  und  zwar  so,  dass  sich  die  unteren  Partien  des 
Gesichtsfeldes  immer  zuerst  aufhellten  und  dass  zuletzt  nur  noch  eine 
unsichere  Partie  temporal  oben  zurückblieb.  Bemerkenswert!!  ist  das 
vorübergehende  Wiederaufleben  der  von  der  1.  Operation  herrührenden 
Sehstörung  auf  beiden  Augen.  Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  war 
bereits  am  12.  Tage  wieder  frei. 

Beobsiclxtunjsr  140. 

Aufdeckung    links    hinten    zur  Freilegung    der  vorderen  Hälfte  der  Seh- 
sphäre.   Die  frontal  24  mm    und  sagittal  13  mm  messende,    genau  rechteckige 


—     515     — 

Knochenlücko  bleibt  mit  ihrem  Rande  27  mm  von  der  fjambdanalil  und  mil 
ihrem  medialen  Rande  1—2  mm  von  der  Mittellinie  entfernt.  Es  liefet  die 
I.  Urwindung    bis  auf  ca.  1  mm,    die  11.    und  der  Winkel  der  lll.  Urwindung 


Fiff.  272. 


Pig-.  273. 

frei.  Diese  Partie  wird  ca.  3  mm  tief  umschnitten  und  ganz  flach  exstirpirt. 
Auch  der  noch  unter  dem  medialen  Knochenrande  liegende  medialste  Streifen 
des  Randwulstes  wird  herausgelöffelt. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Pleisch:  Am  2.  Tage  rechts  ganz  blind,  links 
schmaler  nasaler  Streifen,  vom  3. — 17.  Tage  unverändert  typische  rechtsseitige 
homonyme  Hemianopsie.    Gegen  Licht:  Entsprechend  gegen  Fleisch. 

Optische  Reflexe  fehlen  gänzlich. 

Nasenlid refl ex  ungestört. 

Gestorben  am  18.  Tage. 

Section:  Häute  normal.  Die  Auflagerung  reicht  von  der  Mittellinie  bis 
in  die  III.  Urwindung  hinein,  deren  medialen  Winkel  abschneidend.  Sic  misst 
sagittal-medial  12  mm,  sagittal-lateral  9  mm,  frontal  22  mm.  Auf  diese  Weise 
reicht  die  mediale  vordere  Spitze  noch  etwas  in  die  Augenregion  hinein.  Durch- 
schnitt (annähernd  diagonal  zur  Narbe,  aber  senkrecht  zur  Medianspalte): 
Rinde  und  Mark  fehlen  unter  der  Auflagerung  gänzlich.  Medial  ist  nur  die 
dorsale  Rindenschicht  abgetragen,  andererseits  zieht  sich  ein  Erweichungs- 
streifen   von    der  Narbe   in    das  mediale  Grau   hinein.    Das  grosse  Marklager 

33* 


—     516     — 

fehlt  dorsal  gänzlich;  die  Narbe  setzt  sich  mit  einer  multiloculären  Höhlenbil- 
dung bis  in  den  Ventrikel  fort,  dessen  dorsale  Wand  in  grosser  Ausdehnung 
verfärbt  erscheint.    Der  Ventrikel  ist  hochgradig  erweitert. 


links 


rechts 


Fig.  274. 

Da  die  vordere  Hälfte  der  Sehsphäre  lateral  ganz  und  medial  fast 
ganz  exstirpirt  war,  hätte  die  untere  Hälfte  beider  Gesichtsfelder  dauernd 
rindenblind,  die  obere  Hälfte  aber  intact  sein  sollen.  Thatsächlich  be- 
stand eine  bilaterale  homonyme  Hemianopsie  gerade  so,  als  wenn  die 
ganze  linke  Sehsphäre  extirpirt  worden  wäre,  so  lauge  die  Beobachtung 
reicht,  d.  h.  bis  zum  17.  Tage. 

Beobachtiing"  ISO. 

Aufdeckung  beiderseits  hinten  auf  9  mm  sagittal,  13  mm  frontal.  Vorderer 
Rand    der  Lücke  23  mm   vor   der  Lambdanaht,    medialer  Rand  links  10  mm, 


rechts  7  mm  von  der  Mittellinie  entfernt.  Exstirpation  der  freiliegenden  Rinde 
0,,5  cm  tief. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 


517 


Sehstörung:  Gegen  Fleisch  in  der  Schwebe:  Am  2.  Tage  auf  beiden 
Augen  reactionslos,  am  3.  Tage,  nachdem  er  Fleisch  erhalten  hat,  feiiit  die 
Reaction  rechts  oberhalb  des  Aeciuators  gänzlich,  vinicrlialb  des  Ao(|uators  auf 


Fiff.  276. 


Fig.  277. 

einem  breiteren  nasalen  und  einem  schmaleren  temporalen  Streifen.  Links 
Reaction  auf  einem  unteren  nasalen  Sector.  Am  4.  Tage  reagirt  er  rechts  auf 
einem  etwas  kleineren,  links  auf  einem  etwas  grösseren,  ähnlich  gelagerten 
Felde.  Am  5.  Tage  ist  beiderseits  die  ganze  mediale  Hälfte  und  das  mediale 
Drittel  des  unteren  äusseren  Quadranten  anscheinend  symmetrisch  aufgehellt. 
Ob  die  Sehstörung  im  linken  oberen  äusseren  Quadranten  noch  hochgradig  ist, 
erscheint  fraglich.  Am  10.  Tage  ist  rechts,  wenn  überhaupt  noch,  dann  nur 
sehr  wenig  nachzuweisen,  links  besteht  lateral  oben  noch  eine  schmale  ambly- 


^     518     — 

opische  Zone;  am  14,  Tage  beiderseits  keine  Störung  mehr  zu  constatiren. 
Gegen  Licht  ohne  Reaction  bis  zum  5.  Tage,  von  diesem  Tage  an  alimählich 
wiederkehrend. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  bis  zum  4.  Tage,  sind  rechts  vom  5.,  links 
vom  8.  Tage  an  gegen  flache  Hand,  vom  17.  Tage  an  beiderseits  auch  gegen 
schmale  Hand  vorhanden. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  nach  31/2  Wochen. 

Section:  Häute  normal.  Linke  Hemisphäre:  Die  ca.  13  mm  sagittal, 
15  mm  frontal  messende  Narbe  sitzt  vornehmlich  in  der  II.,    ebenso  wie  die  T., 


rechts 


Fig.  278. 

gegabelten  Urwindung,  den  medialen  Schenkel  dieser  und  fast  ebenso  den  la- 
teralen Schenkel  der  I.  Urwindung  einnehmend,  in  der  Mitte  7  mm  vom  hin- 
teren Rand  und  medial  in  der  Mitte  gleichfalls  7  mm  von  der  Medianspalte 
entfernt  bleibend.  Der  vordere  Rand  bleibt  ca.  2  mm  von  einer  Senkrechten 
Falx — hinterer  Rand  der  IV.  Urwindung  entfernt.  Rechte  Hemisphäre:  Die 
ungefähr  ebenso  grosse  Narbe  sitzt  symmetrisch.  Die  hinter  der  Narbe  liegende 
Hirnpartie  erscheint  nach  der  Narbe  zu  eingezogen.  Durchschnitt  links  durch 
die  Mitte  der  Narbe:  Ventrikel  erweitert.  Rinde  unter  der  Operationsstelle 
breit  zerstört,  die  benachbarten  Partien  sind  in  den  Defect  hineingezogen,  so- 
dass der  Querschnitt  der  Hemisphäre  links  etM^as  flacher  und  schmäler  erscheint 
als  rechts.  Von  der  Narbe  zieht  ein  feiner  Erweichungsstreifen  im  Markweiss 
nach  medial,  ausserdem  erstreckt  sich  ein  breiter  Zapfen  fast  bis  an  die  Wand 
des  Ventrikels.  Die  Narbe  reicht  bis  zum  Rindengrau  des  Sulcus  calloso.-mar- 
ginalis,  sodass  vom  Markweiss  nichts  mehr  übrig  ist.  Durchschnitt  rechts 
durch  die  Mitte  der  Narbe:  Ventrikel  erweitert.  Unter  der  Narbe  ist  die  Rinde^ 
völlig  zerstört,  der  Defect  durch  derbes  Narbengewebe. ersetzt.  Der  narbige, 
theilweise   blutig   erweichte  Zapfen    erstreckt   sich    von    der  Kappe  aus    weit 


—     519     — 

medial-basalwärts   bis   an  das  Grau  des  Sulcus  calloso-marf^inalis  und  Ms  an 
den  Ventrikel,  dessen  Rand  nach  der  Narbe  ausgezogen  ist. 

Der  grössere  Theil  der  vorderen  Hüfte  der  Sehsphäre  mit  Schonung 
ihres  vordersten  und  eines  breiten  medialen  Streifens  und  die  Stelle  Ai 
war  beiderseits  tief  bis  dicht  an  den  Ventrikel  reichend  und  das  dorsale 
Mark  fast  ganz  vernichtend,  ausgeschaltet  worden.  Vornehmlich  der 
untere  Theil  der  Gesichtsfelder  mit  Ausnahme  der  untersten  lateralsten 
Ecke  hätte  rindenblind  sein  sollen.  Thatsächlich  war  aber  anfänglich  nur 
ein  Theil  der  unteren  Gesichtsfelder  und  zwar  nicht  ihrer  lateralen  Ecken 
sehend  geblieben.  Vom  5.  Tage  an  zeigte  die  Sehstörung  den  Charakter  der 
typischen  Hemianopsie,  so  dass  sie  zuletzt  nur  noch  lateral  oben  bestand. 

Beobaclitung-  151. 

Dem  Hund  war  bei  einer  1.  Operation  links,  auf  die  sich  die  erste  Serie 
der  Gesichtsfelder  Fig.  279  bezieht,  4  Wochen  vorher  eine  grössere  Exstir- 
pation,  vornehmlich  die  vordere  Hälfte,  mit  Ausschluss  des  Randwulstes,  be- 
treffend, gemacht  worden.  Aufdeckung  rechts  hinten  auf  15  mm  sagittal, 
16  mm  frontal.  Die  Knochenlücke  ist  mit  ihrem  hinteren  Rande  15  mm  von 
der  Mitte  der  Lambdanaht,  mit  ihrem  medialen  Rande  5  mm  von  der  Mittel- 
linie entfernt.   Exstirpation  der  freiliegenden  Rinde  ca.  ^4  cm  tief. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Seh  Störung:  Auf  dem  Boden  findet  er  Fleisch  vor  dem  20.  Tage  nicht 
oder  nur  durch  den  Geruch,  am  22.  Tage  schon  besser,  am  30.  Tage  ziemlich 
bald,  am  36.  Tage  sofort.  In  der  Schwebe  gegen  Fleisch :  Am  2.  und  3.  Tage 
sieht  er  links  auf  einem  unteren  mittleren  Sector,  der  beiderseits  von  einem 
unsicher  reagirenden  Sector  begrenzt  wird;  rechts  bestellt  an  beiden  Tagen  in 
der  Mitte  des  Gesichtsfeldes  eine  sehende  Zone,  die  nach  oben  vom  Aequator 
und  nasal  wie  temporal  von  einem  nicht  sehenden  Streifen  begrenzt  wird.  Un- 
verändert bis  zum  12.  Tage.  An  diesem  Tage  fehlt  rechts  noch  die  ganze 
obere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  und  ein  lateraler,  in  den  unteren  Quadranten 
hineinreichender  Zipfel;  links  entspricht  die  blinde  Stelle  noch  ungefähr  der- 
jenigen, auf  der  er  am  3.  Tage  garnicht  sah.  Dann  unverändert  bis  zum 
19.  Tage;  an  diesem  Tage  links  auch  noch  unverändert,  rechts  besteht  noch 
eine  annähernd  ringförmige  blinde  Zone  an  der  oberen  Grenze  des  Gesichts- 
feldes. Am  20.  Tage  ist  links  noch  die  ganze  obere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes 
blind,  rechts  besteht  nur  noch  ein  breiter  lateraler  Streifen  im  oberen  Qua- 
dranten. Am  22.  Tage  ist  die  Sehstörung  rechts  unverändert,  links  besteht 
noch  eine  annähernd  halbmondförmige  Zone  im  oberen  lateralen  Quadranten, 
die  sich  noch  etwas  in  den  medialen  hineinerstreckt.  Am  30.  Tage  besteht 
rechts  lateral  oben  noch  ein  amblyopischer  Fleck,  links  noch  ein  schmaler 
lateraler  Streifen.  Am  32.  Tage  rechts  unverändert,  links  ist  nichts  Sicheres 
mehr  nachzuweisen,  am  36.  Tage  Störung  beiderseits  verschwunden.  Gegen 
Licht:  Indifferent  bis  zum  7.  Tage,  dann  lebhaft  reagirend,  sobald  das  Licht 
auf  den  sehenden  Abschnitt  fällt. 


—     520     — 


Optische  Reflexe:  Fehlen  bis  zum  36.  Tage  gänzlich,   dann  rechts 
manchmal  auf  flache  Hand  vorhanden. 


(Zu  Beob.  151.) 
Fig.  279. 

Nasenlidreflex  ungestört, 

Getödtet  nach  6  Wochen. 

Section:  Häute  normal.  Die  12  mm  im  Durchmesser  grosse  etwa  runde 
Narbe  sitzt  der  Convexität  so  auf,  dass  der  vordere  Rand  ungefähr  bis  an  eine 
Linie,  die  senkrecht  von  der  Spitze  der  Fossa  Sylvii  nach  der  Falx  gezogen 
ist  —  genau  symmetrisch  wie  links  —  reicht.  Der  hintere  Rand  bleibt  etwa 
16  mm  vom  hinteren  Pol  der  Hemisphäre,  der  mediale  10  mm  von  der  Median- 
spalte entfernt.  Die  Narbe  bedeckt  damit  die  Stelle  A^  nur  in  der  lateralen 
vorderen  Partie  und  liegt  sonst  vornehmlich  im  vorderen  Theil  der  Sehsphäre. 


-     521     — 

Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Narbe:  Die  Rinde  und  das  darunterliegende 
Mark  ist  in  der  Ausdehnung  der  Narbe  völlig  zerstört  und  durch  Narbengewebe 
ersetzt,  das  blutig  durchsetzt,  sich  breit  medial-basal  erstreckt  und  fast  bis  an 
die  Ventrikel  wand  reicht.  Der  Randwulst  wird  dadurch  völlig  von  seiner  Mark- 
faserung  abgetrennt.  Vorderer  Durchschnitt  ca.  2 — 3  mm  hinter  dem  vorderen 
Rande  der  Narbe:  Die  unter  der  Narbe  liegende  Rinde  der  II.  Urwindung  ist 


Fiff.  280. 


links 


rechts 


Fig.  281. 

theils  narbig  verändert,  theils  zerstört;  sie  quer  durchtrennend  geht  ein  Er- 
weichungsstreifen basal-medialwärts  und  erfüllt  fast  das  ganze  Markweiss  der 
II.  Urwindung.  Ein  zweiter  feiner  Erweichungsstreifen  geht  von  der  Narben- 
kappe aus  durch  die  hier  narbig  veränderte  Rinde  der  III.  Urwindung,  in  diese 
hinein  und  zwar  an  der  Grenze  von  Rinde  und  Markweiss  entlang  bis  zur  Tiefe 
des  einschneidenden  Sulcus.  Sagittalschnitte  durch  die  Narbe  zeigen,  dass  die 
Zerstörung  hinten  soweit  wie  die  Narbe,  vorn  nicht  ganz  soweit  reicht. 


—     522     — 

Zerstört  war  der  grössere  Theil  der  vorderen  Partie  der  Sehspliärd, 
etwa  ihr  vorderes  Drittel  excl.  des  medialen  Antheils,  in  die  Augen- 
region übergreifend,  imd  ein  Stück  der  Stelle  A^.  Die  Sehstörung  des 
linken  Auges  hätte  demnach,  da  der  Rest  der  Sehsphäre  intact  war, 
ausschliesslich  den  unteren  Theil  des  Gesichtsfeldes  excl.  der  lateralen 
Ecke  betreffen  dürfen;  dieser  hätte  aber  dauernd  rindenblind  sein 
müssen.  Thatsäclilich  war  aber  bei  einer  übrigens  sehr  hoch- 
gradigen Sehstörung  dieses  Auges  gerade  die  untere  Hälfte  des  Ge- 
sichtsfeldes schon  am  2.  Tage  theilweise  frei  und  hellte  sich  dann 
derart  auf,  dass  am  20.  Tage  die  ganze  untere  Hälfte  functions- 
tüchtig  und  die  obere  Hälfte  blind  war.  Bemerkenswerth  ist 
das  Wiederaufleben  der  Sehstörung  auf  dem  rechten  Auge,  welches 
zu  einer  mehr  als  einen  Monat  dauernden  Sehstörung  dieses  Auges 
führte. 

Beobaclitiuig,'  ISS. 

Aufdeckung  links  14  mm  vor  der  Mitte  der  Lambdanaht,  auf  18  mm 
Quadrat.  Medialer  Rand  ca.  3  mm  von  der  Mittellinie  entfernt.  Exstirpation 
mit  dem  Präparatenheber  und  der  Schere  im  Centrum  ca.  ^/^  cm  tief,  an  den 
Rändern  flacher,  ferner  Zerstörung  der  P\.inde  noch  ca.  2  mm  unter  dem  late- 
ralen Knochenrande. 

Motilitätsstörungen:  Läuft  2  Stunden  nach  der  Operation  bereits 
umher,  Volte  mit  grossem  Radius  nach  links.  Neigung  zum  Voltelaufen  bis 
zum  4.  Tage. 

In  der  Schwebe:  Hängt  beiderseits  gleich;  giebt  am  2.  Tage  beim  Be- 
greifen die  rechte  Vorderpfote,  Abschwächung  der  Reaction  beim  Begreifen  am 
3.  und  4,  Tage. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  am  2.  Tage  auf  dem  ganzen  rechten  Ge- 
sichtsfelde amblyopisch,  auf  einem  schmalen  nasalen  Streifen  reagirt  er  häufig, 
nicht  immer,  durch  Hinsehen.  Links  ein  schmaler,  nicht  genau  abgrenzbarer, 
nasaler  amblyopischer  Streifen.  3.  Tag:  rechts  hat  sich  der  nasale  Streifen 
etwas  verbreitert,  namentlich  unten.  Links  Sehstörung  anscheinend  ver- 
schwunden. Am  4.  Tage  hat  sich  der  sehende  Theil  des  Gesichtsfeldes  nach 
unten  etwas  vergrössert.  Am  5.  und  6.  Tage  weitere  Abnahme  der  Sehstörung 
von  schwankender  Intensität,  dann. Sehstörung  verschwunden.  Gegen  Licht: 
Am  2.  und  3.  Tage  fehlt  rechts  die  links  starke  Reaction ,  vom  4.  Tage  an 
Reaction  auch  rechts  vorhanden,  jedoch  bei  verbundenem  linken  Auge  rechts 
immer  deutlich  scwächer  als  links  bis  zum  21.  Tage. 

Optische  Reflexe:  Gänzlich  fehlend  bis  zum  9.  Tage,  dann  tage- 
weise gegen  flache  Hand  abgeschwächt  vorhanden  bis  zum  18.  Tage,  vom 
19.  Tage  gegen  flache  Hand  gut,  gegen  schmale  Hand  fehlend. 

Getödtet  nach  ca.  10  Wochen,  nach  einer  2.  Operation.  '         ■ 

Section:    Häute   normal.    Die   Auflaoeruns:    ist  vom   hinteren  Pol  14 


—     528     — 


bis  15  mm  entfernt,  von  der  Medianlinie  6  mm;  misst  sagittal^l4  mm,  frontal 
11  mm.  Sie  erstreckt  sich  medial  auf  den  lateralen  Thoil  der  i.  Urwindung  und 
sitzt  fast  auf  der  ganzen  II.  Urwindung,  vorderer  Rand  reicht  bis  an  die  vor- 


(Zu  Beob.  153.) 


Fig.  282. 

dere  Grenze  der  Munk'schen  Sehsphäre.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der 
Auflagerung:  Die  Zerstörung  betrifft  den  ganzen  von  der  Auflagerung  be- 
deckten Theil  und  erstreckt  sich  mit  einem  breiten  Zipfel  bis  nahe  an  den  dor- 
salen Rand  des  Seiten  Ventrikels,  lateral  geht  eine  Erweichungshöhle  bis  dicht 
an  den  Rand  der  II.  Urwindung. 

Da  die  vordere  Partie  der  linken  Sehsphäre  mit  Ausnahme  ihrer 
lateralen  und  medialen  Partie  ausgeschaltet  war,  so  hätte  die  Seh- 
störung auf  dem  rechten  Auge  die  untere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes 
mit  Ausnahme  seiner  lateralsten  Partie  betreffen  sollen,  während  das 
linke  Auge  freibleiben  sollte.  Letzteres  traf  allerdings  annähernd  zu, 
obwohl  die  Erweichung  bis  in  das  lateralste  Drittel  der  Sehsphäre 
vorgedrungen  war,    dagegen  verhielt    sich    die  Sehstörung    des  recliten 


524     — 


Fis:.  283. 


links 


rechts 


Fig-.  284. 

Auges  gerade  umgekehrt.  Nicht  die  untere,  sondern  die  obere  Hälfte 
und  nicht  die  mediale,  sondern  die  laterale  Partie  war  vornehmlich 
afficirt, 

Beobaclituiig'  lö3. 

Derselbe  Hund  von  Beobachtung  152  (vergi.  dort  die  Figuren).  Auf- 
decltung  rechts  15  mm  vor  der  Mitte  der  Lambdanaht  auf  18  mm  sagittal, 
16  mm  frontal.  Medialer  Rand  der  Lücke  ca.  3  mm  von  der  Mittellinie  ent- 
fernt. Exstirpation  der  Rinde  ^4  cm  tief.  Zerquetschung  und  Hervorholung 
der  Rinde  ca.  2  mm  unterhalb  des  lateralen  und  medialen  Knochenrandes. 


—     525     — 

Wunde  am  4.  Tage  geschwellt  und  druckempfindlich,  dann  nicht  mehr 
druckempfindlich,  aber  geschwellt,  sodass  am  5.  und  i).  Tage  eine  massige 
Menge  blutig  seröser  Flüssigkeit  entleert  wird.  Wunde  wieder  durch  Jodoform- 
collodium  geschlossen. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  in  der  Schwebe  links  bis  auf 
einen  schmalen  nasalen  Fleck  unten,  rechts  besteht  nasal  ein  ziemlich  breiter, 
lateral  und  oben  ein  schmaler  Streifen,  der  mit  dem  nasalen  zusammenläuft. 
Auf  der  Erde  findet  er  am  2.  und  3.  Tage  vorgeworfene  Fleischstücke  erst  nach 
längerer  Zeit   und   zwar  erst  dann,    wenn   sie  vor  das  rechte  Auge  zu  liegen 


Fiff.  285. 


kommen.  3.  und  4.  Tag:  in  der  Schwebe  links  unverändert,  rechts  besteht 
noch  oben  lateral  und  nasal  ein  Streifen,  der  aber  nicht  in  der  Mitte  zusammen- 
läuft. Am  4.  Tage  läuft  er  am  Boden  nur  langsam  umher,  stösst  wiederholt 
mit  dem  Kopfe  an;  findet  bei  verbundenem  rechten  Auge  vorgeworfenes  Fleisch 
nicht,  schnappt  nach  vorgehaltenem  Fleisch  nicht.  Ist  das  rechte  Auge  nicht 
verbunden,  findet  er  das  Fleisch,  aber  nicht  sofort.  5.  Tag:  In  der  Schwebe 
links  sieht  der  untere  nasale  Quadrant,  rechts  besteht  oben  temporal  eine  Seh- 
störung, die  nicht  genauer  abgrenzbar  ist,  da  der  von  anderer  Seite  gefütterte 
Hund  nicht  scharf  aufpasst.  Auf  dem  Boden  findet  er  bei  verbundenem  linken 
Auge  vorgeworfenes  Fleisch,  wenn  auch  nicht  sofort,  desgleichen  vorgehaltenes 
Fleisch,  wenn  es  unter  die  Horizontale  kommt;  mit  dem  linken  Auge  sieht  er 
es,  wenn  man  in  den  Bereich  der  sehenden  nasalen  Zone  damit  gelangt. 
8.  Tag:  In  der  Schwebe  reagirt  der  Hund,  wie  immer  in  den  letzten  Tagen, 
entschieden  träge.  Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  er  oftmals  die 
ihm  vorgehaltenen  Stückchen  Fleisch,  nach  denen  er  nicht  schnappt,  sieht,  da  er 
oft  unter  ganz  gleichen  Umständen  danach  schnappt.  Immer  reagirt  er  auffällig 


—     526     — 

langsam.  Im  Uebiigen  erscheint  rechts  der  temporale  obere  Quadrant  ambly- 
opisch,  das  Scotom  reicht  noch  etwas  über  die  Mitte  hinaus.  Links  hat  sich 
°die  sehende  Zone  erweitert,  sodass  er  in  einer  nasalen  Zone,  die  noch  nicht 
bis  zur  Mitte  reicht,  oben  und  unten  sieht.  Auf  dem  Boden  verhält  er  sich  wie 
am  4.  Tage.  12.  Tag:  Die  Sehstörung  rechts  betrifft  nur  noch  einen  kleinen 
Kreisabschnitt  im  oberen  lateralen  Quadranten,  sonst  keine Aenderung.  13.  Tag: 
Rechts  keine  Sehstörung  mehr,  links  nur  noch  im  oberen  Gesichtsfeld  ein  am- 
blyopischer  Sector.  19.  Tag:  Links  nur  noch  oben  lateral  ein  kleiner  ambly- 
opischcr  Kreisabschnitt.  26.  Tag:  Sehstörung  verschwunden.  Gegen  Licht: 
In  den  ersten  Tagen  sehr  indifferent,  am  5.  Tage  unruhig,  links  in  der  sehenden 
Zone,  rechts  im  ganzen  Gesichtsfelde.   Vom  8.  Tage  an  beiderseits  unruhig. 

Optische  Reflexe:  Fehlen  bis  zum  13.  Tage  beiderseits  gänzlich,  dann 
links  zuweilen  auf  flache  Hand  vorhanden. 

Getödtet  nach  ca.  7  Wochen. 

Section:  Häute  normal.  Die  Auflagerung  ist  vom  hinteren  Pol  10  mm, 
von  der  Medianlinie  8,5  mm  entfernt.  Sagittaler  Durchmesser  15  mm,  frontaler 
14  mm.  Die  Narbe  sitzt  auf  der  IL  Urwindung,  reicht  medial  etwas  in  die 
I.  Urwindung,  lateral  noch  etwas  in  die  III.  Urwindung,  vorn  reicht  sie  bis 
zur  vorderen  Grenze  der  M  unk 'sehen  Sehsphäre,  ein  Zipfel  noch  weiter  nach 
vorn.  Durchschnitt  durch  die  Mitte  der  Auflagerung:  Alles  unter  der  Auf- 
lagerung liegende  ist  gänzlich  zerstört.  Die  Zerstörung  reicht  noch  etwas 
weiter  über  die  II.  Urwindung  hinaus  in  die  III.  hinein.  Von  ihr  geht  eine  sich 
gabelförmig  theilende  Erweichungshöhle  aus  in  die  weisse  Substanz  hinein,  bis 
oberhalb  der  dorsalen  Spitze  des  Seitenventrikels. 

Zerstört  waren  die  vordere  Hälfte  der  Sehsphäre  mit  Ausnahme 
ihres  medialen  Theiles  und  die  Stelle  A^.  Demnach  hätten  dauernd 
rindenblind  sein  müssen  die  untere  Hälfte  des  linken  Gesichtsfeldes  mit 
Ausnahme  der  lateralen  Ecke  und  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens. 
Thatsächlich  war  die  untere  Hälfte  des  linken  Gesichtsfeldes  von  An- 
fang an  ara  wenigsten  betroffen,  bereits  am  5.  Tage  zur  Hälfte  und  am 
13.  Tage  gänzlich  frei,  während  die  letzten  Spuren  der  Sehstörung  auf 
der  oberen  Hälfte  erst  am  26.  Tage  gänzlich  verschwunden  waren.  Die 
Stelle  des  deutlichen  Sehens  war  bereits  am  8.  Tage  frei. 

JE?eol>a-chtviiig'  1S»4, 

Einem  Hunde  war  bei  einer  1.  Operation  links,  zu  der  die  1.  Serie  der 
Gesichtsfelder  gehört,  ca.  7  Wochen  vorher,  eine  grössere  Exstirpation,  den 
vorderen  Theil  der  Stelle  A^^  und  ein  nach  vorn  angrenzendes  Gebiet  betreffend, 
gemacht  worden.  Eine  typische  Hemianopsie  war  die  Folge  gewesen.  Auf- 
.deckung  rechts  hinten  auf  10,5mm  sagittal,  15mm  frontal.  Der  mediale  Rand 
bleibt  7  mm  von  der  Mittellinie,  der  hintere  Rand  16  mm  von  der  Lambdanaht 
entfernt.  Exstirpation  der  freiliegenden  Rinde  ca.  Y2  ^™  ^'^^j  Schonung  des 
Rand  Wulstes. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 


—     527 


Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Am  2.  Tage  nicht  zu  iintcr.siiciien. 
Hechts:  Am  3.  Tage  nasal  oben  ein:  unsicherer  Heck,  der  später  nicht  mein- 
nachzuweisen  ist.  Links:  Am  3.  und  4.  Tage  die  obere  lläll'te  des  Gosiclits- 
l'eldes  mit  Ausnahme  eines  nasalen  Streifens  reactionslos;  am3.Tage  aucli  unter- 
halb  des  Aequators  ein  schmaler  lateraler  Streifen  von  zweifelhafter  Ivcaction. 


(zu  Beob.  1540 
Fig.  286. 


Vom  5. — 7.  Tage  beschränkt  sich  die  Sehstörung  auf  den  oberen  lateralen  Qua- 
dranten, an  letzterem  Tage  reagirt  er  auf  dem  Schoosse  schon  weit  aussen; 
am  8.  Tage  fehlt  die  Reaction  in  der  Schwebe  nur  noch  auf  der  lateralen 
Hälfte  des  oberen  lateralen  Quadranten  gänzlich,  über  der  medialen  Hälfte  ist 
sie  unsicher.  Am  9.  Tage  besteht  noch  oben  aussen  ein  amblyopischer  Fleck, 
am  10.  Tage  reagirt  er  schon  weit  aussen,  aber  offenbar  etwas  unsicher;  er 
fixirt  zwar  sofort,  schnappt  aber  erst  nach  einigen  Secunden  zu.  Am  13.  Tage 
ist  die  Sehstörung  verschwunden.  Alle  späteren  Sehprüfungen,,  auch  die  mit 
dem  „Stossversuch"  ergaben  niemals  eine  Sehstörung.  Auf  dem  Boden  findet 
der  Hund  am'  5.  Tage  Fleisch  vielleicht  nicht  mit  ganz  normaler  Sicherheit, 
an    demselben  Tage   schnappt  der  hastig  und  gierig  zugreifende  Hund  in  der 


—     528     — 

Schwebe  zuerst  auch  nach  Kork,  den  er  kaut;  nachdem  er  sich  mehrmals  ge- 
täuscht, thut  er  es  nur  noch,  wenn  man  ihm  dazwischen  Fleisch  gereicht  hat. 
Kork,  Watte  und  Fleisch  zwischen  einander  auf  den  Boden  gestreut,  werden  in 


Fig.  287. 


links 


rechts 


Fiff.  288. 


gleicher  Weise  beschnuppert  und  gelegentlich  beim  hastigen  Fressen  auch 
Korkstücke  mitverschluckt.  Gegen  Licht  ist  der  Hund  sehr  empfindlich,  so 
dass  sich  die  gegen  Fleisch  vorhandene  Sehstörung,  aber  nur  bei  äusserster 
Vorsicht,  auch  gegen  Licht  abgrenzen  lässt. 

Optische  Reflexe:    Fehlen    links    gänzlich    bis   zum   4.  Tage;    vom 
5.  an  allmählich  wiederkehrend,  vom  8.  Tage  an  gegen  flache  Hand  beiderseits 


—     529     — 

gleich,  auch  gegen  schmale  ITand  vorhamlen  und  spalcr  nui'  gelfgfDlIich  ein- 
mal schwächer  als  rechts. 

N as  e n  1  i  d r e fl  e X  ungestört. 

Getödtet  nach  ca.  4  Wochen. 

Sectio  n:  Häute  normal.  Die  sagittal  7,5  mm,  Irontal  II  mm  messende 
Narbe    sitzt    der  lateralen  Hälfte   der  11.  und  der  medialen  Hälfte  der  IJI.  Ur- 


liüks        I     ■  ,S        rechts 


Fig.  289. 

Windung  auf;  sie  bleibt  mit  ihrem  medialen  Rande  12  mm  von  der  Mittellinie, 
mit  ihrem  hinteren  Rande  in  der  Mitte  1'6  mm  vom  hinteren  Pol  entfernt.  Ihr 
vorderer  R,and  schneidet  genau  mit  einer  Senkrechten  Falx  — hinterer  Rand  der 
IV.  Urwindung  ab.  1.  Durchschnitt  etwas  vor  der  Mitte  der  Narbe:  Die  Zer- 
störung betrifft  die  laterale  Hälfte  der  II.  und  die  mediale  Hälfte  der  III.  Ur- 
windung; die  Narbe  reicht  ziemlich  weit  in  die  Tiefe.  Der  Ventrikel  ist  aus- 
gezogen. 2.  Durchschnitt  durch  die  vordere  Grenze  der  Narbe  zeigt,  dass  an 
dieser  Stelle  die  Zerstörung  erheblich  weiter  in  die  Tiefe  reicht,  so  dass  fast 
die  Spitze  des  Ventrikels  erreicht  wird.  3.  Durchschnitt  2  mm  vor  der  vor- 
deren Grenze  der  Narbe:  Der  Schnitt  schneidet  die  IV.  Urwindung  an;  keine 
Veränderungen  mehr. 

Reichlich  die  laterale  Hälfte  von  etwa  der  vorderen  Hälfte  der 
Sehsphäre  war  ausgeschaltet  worden.  Rindenblind  hätte  sein  sollen 
auf  dem  linken  Auge  die  mediale  Partie  der  unteren  Hälfte  des  zu- 
gehörigen Gesichtsfeldes,  auf  dem  rechten  Auge  die  untere  Partie  des 
medialen  Streifens.  Thatsächlich  war  nicht  nur  nichts  rindenblind, 
sondern  die  Sehstörung  war  auch  gerade  umgekehrt  localisirt,  sodass 
sie  auf  dem  linken  Auge  die  obere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  und 
zwar  vornehmlich  deren  lateralen  Quadraten  und  auf  dem  rechten, 
überhaupt  kaum  nennenswerth  betroffenen  Auge  den  obersten  Abschnitt 
des  medialen  Streifens  einnahm. 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.    11.   Theil.  34 


-     530 


Beol>aclitiiiigr  ISS. 

Einem  Hunde  war  bei  einer  1.  Operation  links,  zu  der  die  1.  Serie  der 
Gesichtsfelder  gehört,  ca.  3  Wochen  vorher  ungefähr  die  vordere  Hälfte  der 
Sehsphäre  exstirpift  vporden.  Eine  schnell  ablaufende,  mehr  den  oberen  late- 
ralen Quadranten  betreffende  Hemianopsie  war  die  Folge  gewesen.  Aufdeckung 
rechts  hinten  auf  10,5  mm  sagittal,  15,5mm  frontal.  Medialer  Rand  der  Lücke 
6  mm  von  der  Medianlinie,  hintei-er  Rand  ca.  16  mm  von  der  Lambdanaht  ent- 
fernt. Umschneidung  der  Rinde  7 mm  tief  mit  dem  Messer,  Heraushebung  mit 
dem  Präparatenheber. 


'<?  (zu  Beob.  155.) 

Fig.  290. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  Rechts  am  2.  Tage  nichts  Sicheres.  Am 
3.  Tage  temporal  oben  ein  Scotom,  von  dem  nicht  sicher  ist,  ob  es  die  tem- 
porale Grenze  erreicht,  ausserdem  ein  deutlicher  medialer  Streifen,  am  4.  Tage 
temporaler  oberer  Sector  und  medialer  Streifen  deutlich.  Vom  5. — 7.  Tage  nur 
noch    medialer   oberer  Fleck    deutlich,    am  8.  Tage  undeutlich  amblyopisch, 


—     531     — 

dann  verschwunden.  Links:  Am  2.  Tage  oberhalb  des  Aoquators  starke  Seli- 
störung,  nicht  sicher,  wie  weit  medial  gehend;  unterhalb  schmaler  blinder 
Streifen.  Auf  dem  Boden  findet  er  Fleisch  bei  verbundenem  rechten  Auge'gut, 
wenn  es  medial  vor  seinem  Cjesichtsfelde  liegt,  sonst  nicht.  .3.  Tag:  Die  nicht 
sehende  Partie  ist  grösser  geworden,    so  dass   sie  nur  einen  unteren  nasalen 


Fio-.  291. 


links 


rechts 


Fiff.  292. 


Sector  freilässt.  Auf  dem  Boden  findet  der  Hund  Fleisch  nur  entsprechend 
diesem  Sector.  Am  4.  Tage  hat  sich  die  sehende  Partie  etwas  vergrössert. 
Am  5.  Tage  ist  nur  noch  die  ganze  obere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  blind  und 
noch  unterhalb  des  Aequators  lateral  ein  blinder  Streifen.  Auf  dem  Boden 
findet  er  Fleisch  tadellos  schnell  und  sicher.  Am  7.  Tage  ist  unterhalb  des 
Aequators  keinerlei  Sehstörung  mehr  nachzuweisen,   dagegen  besteht  oberhalb 


—     532     — 

überall  zum  mindesten  eine  starke  Unsicherheit.  Gelegentlich  fixirt  der  Hund 
hier  schon  überall,  vielfach  kann  man  aber  auch  das  Fleisch  hin  und  her  be- 
wegen, ohne  dass  er  zuschnappt,  was  stets  geschieht,  wenn  man  unterhalb  des 
Aequators  geht.  In  den  mittleren  Partien  scheint  der  Ausfall  noch  stärker  zu 
sein.  Am  8.  Tage  im  Wesentlichen  unverändert,  gänzlicher  Ausfall  der  Reac- 
tion  nur  lateral  oben.  Auf  dem  Boden  liegendes  Fleisch  findet  er  sehr  gut, 
dagegen  entspricht  die  Reaction  gegen  Fleisch,  das  von  hinten  und  oben  her 
dem  auf  dem  Boden  stehenden  Hund  in  das  Gesichtsfeld  eingeführt  wird  der 
anderweitigen  Reaction  dieser  Partie.  Vom  9. — 17.  Tage  ein  oberer  lateraler 
blinder  Fleck,  der  am  18.  Tage  auch  verschwunden  ist.  Gegen  Licht:  Genau 
entsprechend  der  Sehstörung  gegen  Fleisch. 

Optische  Reflexe:  Links  bis  zum  7.  Tage  gänzlich  fehlend,  vom 
8.  Tage  an  gegen  flache  Hand  wiederkehrend,  am  14.  Tage  gegen  flache  Hand 
beiderseits  gleich,  gegen  schmale  Hand  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung 
fehlend,  übrigens  auch  rechts  nur  wechselnd  und  schwach  vorhanden. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Getödtet  nach  19  Tagen. 

Section:  Häute  normal.  Die  Auflagerung  sitzt  in  der  IL  Urwindung 
und  schneidet  noch  ein  Stück  des  Bogens  der  III.  Urwindung  ab,  medial  reicht 
sie  gerade  bis  an  den  Rand  der  I.  Urwindung.  Der  vordere  Rand  der  Narbe 
schneidet  eine  Senkrechte  Falx —  Mitte  des  hinteren  Schenkels  der  IV. Urwin- 
dung. Sie  misst  frontal  12,5  mm,  sagittal  10  mm,  medial  verjüngt  sie  sich 
etwas.  Mit  ihrem  medialen  Rande  bleibt  sie  6  mm  von  der  Medianlinie,  mit 
ihrem  hinteren  Rande  lateral  12  mm,  medial  11  mm  vom  hinteren  Pol  ent- 
fernt. Dieser  ist  zwischen  beiden  Punkten  etwas  eingezogen.  1.  Durchschnitt 
durch  das  vordere  Viertel  der  Narbe:  An  der  Rinde  ist  nur  eine  Abblassung 
zu  bemerken,  dagegen  befindet  sich  in  der  III.  Urwindung  im  tiefen  Markweiss 
fast  bis  an  den  Ventrikel  reichend  ein  grosser  Erweichungsherd.  2.  Durch- 
schnitt etwas  hinter  der  Mitte  der  Narbe:  Das  Grau  der  I.  Urwindung  ist 
abgeblasst.  Die  Rinde  der  IL  und  der  mediale  Theil  der  III.  Urwindung  ist 
zerstört  bis  auf  das  Grau. des  zwischen  IL  und  III.  Urwindung  einschneidenden 
Sulcus.  Von  den  oberflächlichen  Zerstörungen  gehen  Erweichungsherde  basal- 
wärts,  das  stehengebliebene  Grau  des  erwähnten  Sulcus,  welches  sich  wahr- 
scheinlich von  vorn  her  in  die  Lücke  hineingeschoben  hat,  völlig  um- 
schliessend. 

Zerstört  war  etwas  mehr  als  die  vordere  Hälfte  der  Sehsphäre, 
ausschliesslich  des  Randwulstes.  Rindenbliud  hätte  sein  solleu  auf  dem 
linken  Auge  die  mediale  Partie  der  unteren  Hälfte  des  zugehörigen 
Gesichtsfeldes  auf  dem  rechten  Auge  die  untere  Partie  des  medialen 
Streifens.  Thatsächlich  verhielt  sich  die  Sehstörung  genau  umgekehrt. 
Schon  in  den  ersten  4  Tagen  zeigte  die  mediale  Partie  des  linken 
Auges  keine  oder  weniger  erhebliche  Sehstörungen,  während  der  ganze 
Rest  des  Gesichtsfeldes  blind  war;  vom  7.  Tage  an  localisirte  sich 
die  Sehstörimg  ausschliesslich  im  oberen  Tliell  des  Gesichtsfeldes  und 


—     583 


scliliesslich  vornehmlicli  in  dessen  lateralem  Sector.  Auch  auf  dem 
rechten  Auge  war  vornehmlich  der  oberemediale  Abschnitt  betrofl'en. 
Bemerkenswerth  ist  das  Wiederaufleben  der  von  (l(;r  I.  Operation  hei-- 
rührenden  Sehstörung  auf  beiden  Augen. 


Oral( 


Tabelle    IX b. 

Läsionen.     Atypische. 


m 


^ 


Art  der 
Operation 


Ort  der  Operation 
(Section) 


S  e  h  s  t  ö  r  u  n  p- 


geg-en  Fleisch 


Licht 


Optische 
Reflexe 


Nasen- 

lid- 

reflex 


Bemer- 
kungen 


141 


142 


141 


Exstirpa- 

tion  ca.  ^4 

cm  tief. 


Exstirpa- 

tion  ca.  2/4 

cm  tief. 


Exstirpa- 

tion    ca.  1 

cm  tief. 


Rechts.  Etwa  vorde- 
res Drittel  der  Seh- 
sphäre excl.  des  la- 
teralsten Streifens ; 
sagittal  9  mm,  fron- 
tal 12  mm. 


Rechts.  Etwas  mehr 
als  etwa  das  vordere 
Drittel  d.  Sehsphäre; 
sagittal  8,5  mm,  fron- 
tal  17  mm. 


Fehlt. 


Rechts.  Etwa  vorde- 
res Drittel  der  Seh- 
sphäre; sagittal  9 
mm,  frontal  18  mm. 


Typische  und  typisch 
verlaufende  Hemi- 
anopsie. Dauer  8 
Tage.  Amblyopie 
noch  auf  sehenden 
Partien  nachweisbar. 


Fehlt. 


Am  2.  Tage 
total,  dann 
im  Allge- 
meinen wie 
gegen 
Fleisch. 


Links :  Bis  zum  4. 
Tage  obere  Hälfte 
des  Gesichtsfeldes 
und  unterer  latera- 
ler Streifen,  vom  5 
Tage    an    nur   noch 

oberer    lateraler 
Kreisabschnitt. 

Rechts:  Wiederauf- 
leben der  von  der 
1.  Operation  herrüh- 
renden Sehstörung 
in  einem  lateralen 
Streifen,  vornehm- 
lich unterhalb  des 
Aequators. 


Unerheb- 
lich. 


Fehlen  nur 
am  2.  Tage, 
gegen 
flache 
Hand  be- 
reits am  3., 
gegen 
schmale 
Hand  am 
T.Tage  vor- 
handen. 
Anfangs 
ganz  feh- 
lend, vom 
20.  Tage 
an  und 
später 
stark  abge- 
schwächt 
vorhanden; 
rechts  dau- 
ernd feh 

lend. 
Am  2.  Tage 
fehlend, 
dann  bis 
zum  18. 
Tage  abge- 
schwächt, 
an    diesem 
Tage  nor 
mal. 


Am  2.Tag 

abge- 
schwächt. 


Motilitäts- 
störungen 
am  2.Tae;c. 


Am  2.Tag 

abge- 
schwächt 


Unge- 
stöi-t. 


Leichte 

Motilitäts- 
störungen 
bis  zum 
8.  Tage. 


Vom 

6.  Tage  an 

Corneal- 

trübuno;. 


534 


o 

Seh Störung 

Nasen- 

CO 

Art  der 

Ort  der  Operation 

Optische 

lid- 

Bemer- 

Operation 

(.Section) 

gegen  Fleisch 

gegen 
Licht 

Reflexe 

reflex 

kungen 

144 

Exstirpa- 

Rechts.   Vordere 

Typische    Hemianop- 

Wie gegen 

Fehlen  bei- 

Unge- 

.  . 

tiou  2  —  3 

Hälfte  der  Sehsphäre 

sie  bis  zum  4.  Tage, 

Fleisch. 

derseits 

stört. 

mm  tief. 

und    ein    Theil    der 
Stelle  Ai;  sagittal  12 
mm,  frontal  23  mm. 

Hemiamblyopie    am 
5.  Tage,  oberer  late- 
raler   Streifen     am- 
blyopisch  am  6.  Tage. 

gänzlich. 

145 

Exstirpa- 

Links.  Vordere  Hälfte 

Dauernde       typische 

Im  Allge- 

Fehlen. 

Anfäng- 

— 

tion    ca.  3 

der   Sehsphäre;    sa- 

Hemianopsie. 

meinen  wie 

lich  ab- 

mm tief. 

gittal     8 — 12     mm, 
frontal  20  mm.    Se- 
cundäre  Betheiligung 
der  hinteren  Hälfte. 

gegen 
Fleisch. 

ge- 
schwächt. 

146 

Exstirpa- 

.  Rechts.    Vordere 

Typisch      ablaufende 

Wie  gegen 

Fehlen  bis 

Unge- 

.— 

tion    ca.  3 

Hälfte      der       Seh- 

Hemianopsie, derart. 

Fleisch. 

zum  11. 

stört. 

mm  tief. 

sphäre;    sagittal   10 
bis  12  mm,    frontal 
23  mm.  Massige  se- 
cundäre  Betheiligung 
der  hinteren  Hälfte. 

dass  die  untere  Hälfte 
des      Gesichtsfeldes 
sich    zuerst    wieder 
erholte. 

Tage  incL, 
dann  an- 
deutungs- 
weise vor- 
handen. 

147 

Exstirpa- 

Links.  Vordere  Hälfte 

Hemianop)sie  mit 

Wie  gegen 

Fehlen  bis 

Abge- 

Nasaler 

tion    ca.  2 

der  Sehsphäre;    sa- 

schnellerer   Aufhel- 

Fleisch. 

incl.e.Tag, 

schwächt 

Streifen 

mm  tief. 

gittal    10—12    mm, 

lung    der   unteren 

dann  an- 

bis  zum 

links  an- 

frontal 23  mm.    Se- 

Gesichtsfeldhälfte 

deutungs - 

8.  Tage. 

fänglich 

cundäre       Betheili- 

ablaufend. 

weise  vor- 

etwas 

gung    der  Stelle  Aj 

handen. 

breiter  als 

und     der     hinteren 

gewöhn  1. 

Hälfte. 

148 

Exstirpa- 

Rechts.    Vordere 

Links:  Blindheit, bzw. 

Fehlt     auf 

Fehlen 

— 

Wieder- 

tion   ca.  2 

Hälfte  der  Sehsphäre; 

Amblyopie  des  gan- 

dem gan- 

links. 

aufleben 

bis    3  mm 

sagittal  12  mm,  fron- 

zen     Gesichtsfeldes 

zen  Ge- 

rechts  an- 

der von  der 

tief. 

tal  25  mm.    Secun- 

bis    zum    8.    Tage; 

sichtsfeld. 

gedeutet 

1.  Operat. 

däre       Betheiligung 

dann  typisch  ablau- 

vorhanden. 

herrühren- 

der   Stelle    A,    und 

fende    Hemianopsie, 

den  Seh- 

der hinteren  Hälfte. 

jedoch  so,    dass  die 
ganze    obere   Hälfte 
dss      Gesichtsfeldes 
erheblich  stärker  u. 
länger  betroffen  war 
als  die  untere. 

störung  auf 

beiden 

Augen. 

Differentc 

Reaction 

gegen 

Fleisch 

und  Licht. 

149 

Exstirpa- 

Links.  Vordere  Hälfte 

Typische    Hemianop- 

Wie gegen 

Fehlen 

Unge- 

Dauernde 

tion    ca.  3 

der   Sehsphäre;    sa- 

sie bis  zum  17.  Tage. 

Fleisch. 

gänzlich. 

stört. 

Hemi- 

mm tief. 

gittal     9—12     mm, 
frontal  22  nun. 

(Schluss   der  Beob.) 

anopsie. 

—     535     — 


O 

Schstörung 

1 

A  U,s(  "U- 

pq 

Art  der 

Ort  der  Operation 

Optische 

\](\- 

Bemer- 

d 

Operation 

(Section) 

gegen  Fleisch 

gegen 
Licht 

Reflexe 

1  l'.l- 

rcllex 

kungen 

150 

Exstirpa- 

Beiderseits.  Theil  der 

Bis  zum  4.  Tage  nur 

Total  bis 

Fehlen 

Unge- 

tion ca.  V2 

vorderen  Hälfte  der 

den  mittleren  Theil 

zum  5. 

rechts  bis 

stört. 

cm  tief. 

Sehsphäre  und  Stelle 

beider  Gesichtsfelder 

Tage,  dann 

zum    5., 

Aj ;  sagittal  1 3  mm, 

freilassend,  dann  bei- 

Reaction 

links  bis 

frontal  15  mm. 

derseits    in    Gestalt 
typischer     Hemian- 
opsie verschwindend. 

allmählich 
wieder- 
kehrend. 

zum  8. 

Tage,  dann 
abge- 
schwächt 
bis  zum 

17.  Tage. 

151 

Exstirpa- 

Rechts.    Etwa  vorde- 

Vornehmlich, vom  20. 

Vom  7. 

Fehlen 

Unge- 

Anfänglich 

tion  ca.  3/4 

res  Drittel  der  Seh- 

Tage an  ausschliess- 

Tage an 

dauernd. 

stört.  . 

amblyo- 

cm  tief. 

sphäre,    exclus.   des 

lich,  im  oberen  Theil 

wie    gegen 

pische 

Randwulstes ;   sagit- 

des Gesichtsfeldes. 

Fleisch. 

Randzone. 

tal  12  mm,    frontal 

Wieder- 

12 mm. 

aufleben 
der  rechts- 
seitigen 
Sehstörung 

152 

Exstirpa- 

Links.  Vordere  Hälfte 

Hemianopisch  mit  ty- 

Am 2.  und 

Bis  zum 

— 

Volte- 

tion ca.  ^/^ 

der    Sehsphäre    mit 

pischem   Ablauf, 

3.  Tage 

9.  Tage 

laufen. 

cm  tief. 

Ausnahme  ihrer  me- 
dialsten    und    late- 
ralsten   Partie ;    sa- 
gittal 14  mm,  fron- 
11  mm. 

Dauer  20  Tage. 

vollstän- 
dig, dann 
Abschwä- 
chung  der 
Reaction 
bis  incl. 
20.  Tag. 

gänzlich 
fehlend, 

dann  abge- 
schwächt 
bis  zum 

Schluss    d. 

Beobacht. 

153 

Exstirpa- 

Rechts.  Vordere  Par- 

Links:   Im  Allgemei- 

Vom 5.— 7.!    Fehlen 

— 

Wieder- 

tion ca.  2/4 

tie    der    Sehsphäre, 

nen      hemianopisch. 

Tage   incl. 

12  Tage 

aufleben 

cm  tief. 

medial     nicht    voll- 

doch   ist   der   obere 

wie    gegen 

beiderseits 

der  rechts- 

ständig,   und  Stelle 

Theil   des  Gesichts- 

Fleisch, 

gänzlich. 

seitigen 

Ai;  sagittal  15  mm. 

feldes     stärker     als 

dann  ver- 

dann links 

Sehstö- 

frontal 14  mm. 

gewöhnlich  betroffen. 
Dauer  25  Tage. 
Rechts:  Nasaler  Strei- 

schwun- 
den. 

abge- 
schwächt. 

rung. 

fen  von  nur  4tägigei 

Dauer,  dagegen  theil- 

weises    Wiederaufleben     der    alten     Seh- 

• 

störung  von  12tägig 

er  Dauer. 

154 

Exstirpa- 

Rechts.     Laterale 

Links:     Bis    zum    4. 

Wie  gegen 

Fehlen  bis 

Unge- 

— 

tioD  ca.  1/2 

Hälfte  etwa  der  vor- 

Tage   obere    Hälfte 

Fleisch. 

zum 

stört. 

cm  tief. 

deren  Partie  der Seh- 
sphäre;  sagittal  7,5 
mm,  frontal  11  mm. 

des     Gesichtsfeldes, 
vom     5. — 12.    Tage 
oberer  lateraler  Qua- 
drant ,     allmählich 
verschwindend. 

4.  Tage,  bis 
zum  S.Tage 

abge- 
schwächt. 

Rechts:     Nur   am  3. 

1 

Tage  spurenweise. 

1 

—     536     - 

- 

o 

ü 

Sehstörung 

Nasen- 

m 

Art  der 

Art  der  Operation 

Optische 

lid- 

Bemer- 

6 

Operation 

(Section) 

gegen  Fleisch 

gegen 
Licht 

Reflexe 

IJIU. 

reflex 

kungen 

155 

Exstirpa- 

Rechts.    Etwas  mehr|Links:     Vornehmlich 

Wie  gegen 

Fehlen  bis 

Unge- 

Wieder-   ' 

tion    ca.  7 

als  die  vordere  Hälfte 

die    obere  Gesichts- 

Fleisch. 

zum 

stört. 

aufleben 

mm  tief. 

der  Sehsphäre   excl. 

feldhälfte,     vom    2. 

7.  Tage, 

der  von  der 

1 

Randwulst;   sagittal 

bis    &.    Tage    auch 

abge- 

1. Operat. 

10  mm.  frontal  12,5 

noch    kleinere   oder 

schwächt 

herrühren- 

, 

mm. 

grössere  laterale  Ab- 
schnitte der  unteren 

min- 
destens bis 

den  Seh- 
störung auf 

Hälfte.       Dauer    17 

zum 

beiden 

Tage. 

14.  Tage. 

Augen ; 

Rechts:  Gleichfalls 

unsichere 

Yornehmlich  in    der 

Zonen. 

oberen  Partie. 

Verschlim- 
merung 
rechts  am 
3.  u.  4.  Tag. 

Zusammenfassung. 

1.  Sehstörungen  (aa.  Reaction  gegen  Fleisch).  Zunächst 
interessirt  wieder  die  Frage,  ob  alle  diese  Thiere  oder  einzelne 
von  ihnen  partiell  rindenblind  wurden  und  ob  diese  Blind- 
heit die  untere  Hälfte  des  betreffenden  Gesichtsfeldes  ganz 
oder  theilweise  einnahm. 

Bei  4  von  diesen  Versuchen  (Beobb.  138,  145,  148  und  149)  war 
die  Sehstörung  bei  Schluss  der  Beobachtung  nicht  abgelaufen.  Indessen 
kommt  die  Beob.  138  deshalb  nicht  in  Betracht,  weil  der  Hund  vom 
13.  Tage  an  wegen  Cornealtrübung  nicht  weiter  beobachtet  werden 
konnte  und  am  19.  Tage  bereits  verstarb.  Diese  Beobachtung  habe  ich 
den  typischen  zugezählt,  weil  das  Scotom  am  12.  Tage,  nachdem  an- 
fänglich eine  typische  Hemianopsie  bestanden  hatte,  vornehmlich,  wenn 
auch  nicht  ausschliesslich,  den  unteren  lateralen  Quadranten  des  gegen- 
seitigen Auges  eingenommen  hatte.  Zu  den  Rindenblinden  kann  der 
Fall  aber  deshalb  nicht  gerechnet  werden,  weil  das  restliche  Scotom 
sich  nach  dem  ganzen  Verlauf  bestimmt  in  kurzer  Zeit  verloren  hätte. 
Ebenso  wenig  kann  die  Beob.  148,  die  zu  den  atypischen  gehört,  hier- 
her gerechnet  werden,  denn  dieser  Hund  musste  aus  äusseren  Gründen 
getödtet  werden,  bevor  die  restliche  Amblyopie  —  nicht  Blindheit  — 
aus  dem  oberen  lateralen  Theil  des  Gesichtsfeldes  gänzlich  verschwunden 
war,  was  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  noch  geschehen  wäre. 

Dagegen  bestand  eine  dauernde  Blindheit  des  einen  Auges  that- 
sächlich  in  den  Beobb.  145  und  149.     In  dem  ersteren  Falle  blieb  das 


—     537     — 

Scotom  vom  3. — ft2.  Tage  voUkonimeii  unv(M-:iiHlcrl',  in  (l(;iii  2.  I'';illc 
blieb  es  vom  3. — 18.  Tage  uiivenindcrt,  an  \v<!lcliem  Tage  ihn-  llinid. 
ohne  vorher  krank  gewesen  zu  sein,  starb.  In  beitkin  Fällen  k;nni  inii 
Sicherheit  angenommen  werden,  dass  die  Blindheit  eine  (hiucrndc  war, 
denn  in  denjenigen  Fällen,  in  denen  sie  sich  überhaupt  verliert,  tritt 
eine  mehr  minder  erhebliche  Abnahme  in  dem  Umfange  des  Scotoms 
zwischen  dem  3.  und  18.  Tage  immer  ein.  "Von  Interesse  ist,  dass  das 
Scotom  in  beiden  Fällen  den  Charakter  einer  typischen  homonymen 
Hemianopsie  an  sich  trug.  Bei  der  Beob.  145  verlief  das  Scotom  des 
medialen  Streifens  der  zuerst  operirten  Seite  in  eigenthümiicher  Weise, 
worauf  wir  noch  zurückkommen. 

Fragen  wir,  was  diese  beiden  Beobachtungen  in  anatomischer  Be- 
ziehung Besonderes  und  Eigenthümlicbes  haben,  so  ergiebt  sich,  dass 
in  beiden  Fällen  das  dorsale  Mark  bis  zur  Höhe  des  Seitenventrikels 
ganz  oder  fast  ganz  fehlte,  während  bei  der  Beob.  145  der  bei  der 
Beob.  149  stark  geschädigte  Randwulst  möglicherweise  weniger  ge- 
schädigt war.  Indessen  muss  doch  gleich  gesagt  werden,  dass  ähnliche 
Zerstörungen  des  dorsalen  Marklagers  auch  ohne  den  gleichen  Erfolg 
für  das  Sehvermögen  zur  Beobachtung  kamen. 

Die  Configuration  des  Scotoms  entsprach  also  in  keinem 
dieser  beiden  Fälle  der  Forderung  Munk's. 

Andererseits  kam  ein  Fall  zur  Beobachtung  (Beob.  141),  bei  dem 
Partialexstirpation  dieses  Gebietes  gär  keine  Sehstörung  zur  Folge  hatte. 

Die  nächste  Frage  ist,  ob  das  Scotom  in  den  übrig  blei- 
benden 20  Fällen  thatsächlich  wenigstens  vorübergehend, 
die  untere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  oder  einen  Theil  der- 
selben einnahm.  Dies  traf  nur  in  8  von  diesen  Beobachtungen  zu. 
Hierzu  kommt  noch  die  Beob.  75  (atypische  centrale  Läsion),  womit 
die  Gesammtzahl  aller  von  mir  beobachteten  Scotome  dieser  Art  er- 
schöpft ist. 

Bei  6  von  diesen  Beobachtungen  war  der  Verlauf  derart,  dass  das 
Scotom  in  der  ersten  Zeit  (12,  4,  3,  11,  17  und  3  Tage)  wie  eine 
typische  Hemianopsie  aussah  und  die  Sehstörung  sich  erst  dann  ledig- 
lich in  der  unteren  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  localisirte,  ähnlich  wie  wir 
das  in  umgekehrter  Weise  bei  einzelnen  caudalen  Operationen  gesehen 
haben.  In  einem  Falle  (Beob.  140)  war  sogar  der  mediale  Abschnitt 
der  unteren  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  am  4.  und  5.  Tage  bereits  frei 
gewesen,  um  sodann  am  6.  und  7.  Tage  gänzlich  verdunkelt  zu 
erscheinen,  bis  das  Scotom  des  8.  Tages  wieder  demjenigen  des 
4.  Tages  glich. 

Bei  den  Beobb.  135  und  136    trat    die    stärkere    ßetheiligung    der 


—     538     — 

unteren  Gesichtsfeldhälfte  sofort  bei  Beginn  der  Beobachtung  am  2. 
bezw.  am  3.  Tage  in  die  Erscheinung. 

In  allen  Fällen,  gleichviel  wie  sie  sonst  beschaffen  waren,  zog  sich 
das  Scotom  von  innen  nach  aussen  derart  zurück,  dass  schliesslich  nur 
noch  ein  unterer  lateraler  Kreisabschnitt  als  verdunkelt  zu  erkennen  war. 

Bemerkenswerth  ist  Folgendes:  Von  den  8  typischen  Beobachtungen 
haben  5  das  mit  einander  gemein,  dass  sie  eine  von  2  an  je  einem  der 
beiden  Occipitallappen  ausgeführten  Operationen  ausmachen.  Bei  4  von 
diesen  (Beobb.  133 — 136)  betraf  nun  das  operative  Resultat  der  1.  Ope- 
ration die  untere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes,  sodass  sie  zu  den  Typischen 
zu  rechnen  waren,  während  das  operative  Resultat  der  2.  Operation 
umgekehrt  die  untere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  nicht  oder  nicht  vor- 
wiegend betraf,  sodass  sie  zu  den  Atypischen  zu  rechnen  waren,  nur 
in  einem  Falle  (Beobb.  139,  140)  war  das  operative  Resultat  auch  der 
2.  Beobachtung  und  zwar  in  weit  höherem  Grade  als  bei  der  1.  Opera- 
tion von  gleicher  Art.  Vergleicht  man  diese  operativen  Erfolge  mit 
der  Localisation  der  durch  die  Operation  gesetzten  Läsionen,  so  ergiebt 
sich  zunächst,  was  die  beiden  zuletzt  angeführten  Beobachtungen  an- 
geht, dass  die  Läsionen  ungeachtet  der  ungewöhnlichen  Gleichförmig- 
keit der  Scotome  bei  der  Beob.  140  keineswegs  symmetrisch  sassen, 
sondern  dass  die  Läsion  der  Beob.  139  sich  nach  vorn  annähernd  bis 
an  die  vordere  Grenze  der  Augenregion  erstreckte  und  auch  nach  hinten 
secundär  noch  einen  Theil  der  caudalen  Hälfte  der  Sehsphäre  mit  in 
ihren  Bereich  gezogen  hatte,  während  die  Läsion  der  Beob.  140  die 
Augenregion  mindestens  grösstentheils  frei  Hess.  In  beiden  Fällen  be- 
stand übrigens  eine  sehr  hochgradige,  fast  maximale  Zerstörung  des 
dorsalen  Marklagers.  Umgekehrt  finden  wir  bei  den  Beobb.  133  und 
144  bei  ganz  verschiedenem  operativem  Erfolg  eine  so  grosse  Symmetrie 
der  Läsion,  wie  sie  überhaupt  zu  erreichen  ist  und  bei  den  Beobb.  134/142, 
135/141  und  136/143  wenigstens  eine  annähernde  Symmetrie  in  dem 
hauptsächlich  in  Betracht  kommenden  Areal. 

So  hat  es  wider  Erwarten  den  Anschein,  als  ob  die  Aus- 
führung einer  symmetrischen  Operation  den  Ausfall  der  sym- 
metrischen Gesichtsfeldpartie  nicht  begünstigte,  sondern 
eher  verhinderte. 

Vergleichen  wir  sodann  die  atypischen  Beobachtungen 
mit  Bezug  auf  die  Localisation  der  Läsion  einerseits  und 
der  Sehstörung  andererseits  mit  den  typischen  Beobachtun- 
gen, so  begegnen  wir  gleichfalls  keineswegs  irgend  einer 
Gesetzmässigkeit.  Bis  auf  geringe,  nicht  in  Betracht  kommende 
Einzelheiten  entspricht  die  Localisation  der  Läsionen  in  den  Beobb.  145 


—     539     — 

bis  149  derjenigen  der  Beob.  133  (übrigens  luicii  144),  und  docli  ist 
der  operative  Erfolg  gerade  entgegengesetzt.  Ks  ist  zwar  richtig,  dass 
die  Ausschaltung  der  Rinde  in  dem  einen  Falle  etwas  weiter  nac^h 
vom,  in  dem  anderen  Falle  etwas  weiter  nach  hinten  reicht,  wie  dies 
überhaupt  bei  allen  derartigen  experimentellen  Läsionen  unvermeidlich 
ist.  Indessen  würde  darauf  doch  nur  dann  etwas  ankommen,  wenn  auf 
das  Stehenbleiben  einer  bestimmten,  z.  B.  der  vorderen  Ecke  oder  eines 
medialen  Streifens  gesetzmässig  der  ungestörte  Fortbestand  des  Seh- 
vermögens auf  einem  bestimmten  Abschnitte  des  Gesichtsfeldes  folgte 
oder  wenn  ein  solcher  gesetzmässiger  Einfluss  auf  die  Configuration  des 
Scotoms  zu  erkennen  wäre.  Dies  ist  aber  keineswegs  der  Fall.  Und 
gerade  um  diesen  Tlieil  der  Streitfrage  zu  beleuchten  sind  die  Partial- 
exstirpationen  ausgeführt  worden.  Sie  haben  ebenfalls  keiner- 
lei gesetzmässige  Beziehungen  einzelner  Theile  der  vorderen 
Hälfte  der  Sehsphäre  zu  bestimmten  Segmenten  der  Retina 
im  Sinne  Munk"s,  in  vielen  B^ällen  sogar  das  gerade  Gegen- 
theil  ergeben.  Wegen  der  näheren  Details  verweise  ich  auf  die  zu 
den  einzelnen  Beobachtungen  gegebenen  Resumes.  Ausserdem  macht 
die  Tiefe,  bis  zu  der  die  Läsion  in  allen  diesen  Fällen  vorgedrungen 
ist,  es  bereits  a  priori  im  allerhöchsten  Grade  unwahrscheinlich,  dass 
ein  stehengebliebener  oraler  oder  medialer  Rest  noch  Verbindungen 
nach  medialen  Centren  hin  gefunden  haben  könnte. 

bb.  Die  Sehstörung  gegen  Licht  verhielt  sich  auch  bei  diesen 
Beobachtungen  im  Allgemeinen  wie  die  gegen  Fleisch.  Hervorzuheben 
bleibt  nur,  dass  die  Reaction  gegen  Licht  bei  der  Beobachtung  137 
länger  fehlte  als  die  Reaction  gegen  Fleisch  und  dass  sie  umgekehrt 
bei  der  Beobachtung  143  überhaupt  nur  wenig  abgeschwächt  war  und 
namentlich  auch  auf  den  gegen  Fleisch  unempfindlichen  Partien  früher 
wieder  erschien  als  die  Reaction  gegen  letzteres;  endlich  dass  sie  bei 
der  Beobachtung  148  von  Anfang  an  auf  dem  ganzen  gegen  Fleisch 
vollkommen  reactionslosen  Gesichtsfelde  vorhanden  war,  so  dass  dieses 
Gesichtsfeld  jedenfalls  nur  als  amblyopisch  angesehen  werden  darf. 

2.  Die  optischen  Reflexe  fehlten  dauernd  gänzlich  bei  den 
beiden  Beobachtungen  145  und  149,  bei  denen  sich  auch  die  Hemi- 
anopsie nicht  wieder  verlor.  Der  Hund  der  Beobachtung  148  wurde 
getödtet,  der  Hund  der  Beobachtung  138  bekam  eine  Cornealtrübung, 
bevor  die  Sehstörung  ganz  abgelaufen  war.  In  beiden  Fällen  waren 
zu  der  Zeit,  als  sie  zuletzt  mit  Sicherheit  geprüft  werden  konnten, 
die  optischen  Reflexe  noch  nicht  wiedergekehrt,  obschon  die  Stelle 
des  deutlichen  Sehens  und  ihre  Umgebung  schon  längere  Zeit  wieder 
fungirte. 


—     540     — 

Sie  kehrten  bis  zum  Sclilnsse  der  Beobachtung  ferner  nicht  wieder, 
obschon  das  Sehvermögen  sich  im  ganzen  Gesichtsfelde  bereits  wieder 
eingestellt  hatte,  bei  den  Beobachtungen  133,  144,  134,  140  und  151. 
Bei  den  beiden  erstgedachten  Beobachtungen  reichte  die  Exstirpation 
der  Rinde  in  frontaler  Richtung  über  die  ganze  Sehsphäre  hinweg,  bei 
der  Beobachtung  140  hatte  die  Exstirpation  zwar  den  medialen  Rand 
stehen  lassen,  dieser  war  aber  bei  der  Operation  thnnlichst  zertrümmert 
worden.  In  diesem  Falle  bestand  aber  dauernde  Amblyopie.  Von  der 
Beobachtung  134  gilt  in  operativer  Hinsicht,  abgesehen  davon,  dass 
die  Exstirpation  schräg  verlief,  dasselbe.  Dagegen  war  bei  der  Beob- 
achtung 151  der  Randwulst  absichtlich  intact  gelassen  worden,  während 
-die  Zerstörung  allerdings  bis  an  den  Ventrikel  reichte,  so  dass  von  dem 
dorsalen  Mark  in  ihrem  Niveau  nichts  mehr  zu  sehen  war. 

Der  Hund  der  beiden  ersten  Beobachtungen  wurde  am  10.  Tage 
nach  der  2.  Operation  getödtet,  so  dass  es  immerhin  möglich,  wenn 
auch  nicht  wahrscheinlich  war,  dass  sich  die  optischen  Reflexe  auf 
seinem  linken  Auge  bei  längerem  Leben  noch  eingestellt  hätten.  Bei 
den  Beobachtungen  140,  134  und  151  kommt  dieser  Punkt  nicht  in 
Frage. 

Bei  einer  Beobachtung  (154)  dauerte  die  Störung  der  optischen 
Reflexe  mit  6  Tagen,  wovon  nur  3  Tage  total,  kürzere  Zeit  als  die 
Sehstörung  mit  12  Tagen.  In  diesem  Falle  sass  die  Läsion  gänzlich 
in  der  vorderen  Hälfte  der  Sehsphäre,  der  Randwulst  war  aber  ab- 
sichtlich geschont  worden,  auch  war  das  dorsale  Mark  nicht  ganz  ver- 
nichtet. Das  Scotom  hatte,  indem  es  sich  auf  die  obere  Hälfte  des 
Gesichtsfeldes  beschränkte,  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  von  vorn 
herein  frei  gelassen. 

Ausserdem  verlor  sich  die  Störung  der  optischen  Reflexe  vor  Ab- 
schluss  der  Beobachtung  des  Thieres  in  6  Fällen.  Bei  der  Beobach- 
tung 136  fehlten  sie  mit  7  Tagen  total  kürzere  Zeit  als  die  Dauer  der 
Sehstörung  (15  Tage)  betrug;  normal  waren  sie  erst  am  49.  Tage. 
Die  Zerstörung  sass  in  diesem  Falle  ganz  in  der  vorderen  Hälfte  der 
Sehsphäre,  reichte  bis  an  den  Ventrikel,  der  Randwulst  war  mit  zer- 
trümmert Avorden.  Die  Sehstörung,  welche  sich  vom  6.  Tage  an  im 
unteren  lateralen  (^)uadranten  gehalten  hatte,  hatte  von  diesem  Tage 
an  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  frei  gelassen.  Bei  der  Beobach- 
tung ]37,  bei  der  die  Sehstörung  nur  5  Tage  dauerte,  fehlten  die  opti- 
schen Reflexe  19  Tage  gänzlich  und  blieben  noch  5  Tage  abgeschwächt. 
Die  Läsion  erstreckte  sich  in  der  Sehsphäre  auch  hier  nur  auf  deren 
vordere  Hälfte;  der  Randwulst  war  zwar  geschont  worden,  erschien 
aber    durch    die    Operation    dennoch    g^eschädigt.      Bei    der    Beobach- 


—     541     — 

tuiig  139  dauerte  die  totale  Aufhel)niig  der  opti.sclieii  Reflexe  cibensc» 
lange  wie  die  Sehstörung,  tleren  Abscliwäcliuiig  nur  um  eiiKJu  Tag 
länger.  In  diesem  Falle  reichte  die  Zerstörung  nach  vorn  und  hinten 
über  die  Grenzen  der  vorderen  Hälfte  der  Sehsphäre  hinaus,  der  lland- 
wulst  war  mit  zerstört  worden  und  von  der  ganzen  dorsalen  Substanz 
der  Sehsphäre  innerhalb  der  bezeichneten  Stelle  nicht  viel  übrig  ge- 
blieben. Bei  der  Beobachtung  141  war  eine  6  tägige  Störung  der  opti- 
schen Reflexe  zu  beobachten,  obwohl  jede  Sehstörung  fehlte.  Die  Kx- 
stirpation  betraf  ausschliesslich  die  vordere  Hälfte  der  Sehsphäre, 
reichte  bis  an  den  Ventrikel  und  hatte  von  deren  Randwulst  kaum 
etwas  übrig  gelassen.  Bei  der  Beobachtung  143  hatte  die  Läsion  den 
gleichen  Charakter  wie  bei  der  eben  erwähnten,  die  Sehstörung  und  die 
fast  gänzliche  Aufhebung  der  optischen  Reflexe  hielt  16  Tage  an,  die 
Stelle  des  deutlichen  Sehens  war  von  Anfang  an  nicht  in  Mitleiden- 
schaft gezogen.  Bei  der  Beobachtung  150  (Doppeloperation)  war  die 
Störung  der  optischen  Reflexe  auf  beiden  Augen  am  17.  Tage  ver- 
schW'Unden,  nachdem  die  letzten  Spuren  der  Sehstörung  ebenfalls  gleich- 
zeitig am  14.  Tage  nicht  mehr  nachweisbar  gewesen  waren.  Hier  hatte 
die  Zerstörung  beiderseits  die  vordersten  und  medialsten  Partien  der 
Sehsphäre  intact  gelassen. 

Die  restirenden  7  Beobachtungen  (135,  142,  146,  147,  152,  153, 
und  155)  haben  das  mit  einander  gemein,  dass  die  Störung  der  opti- 
schen Reflexe  sich  bei  Abschluss  der  Beobachtung  noch  nicht  verloren 
hatte  und  die  6  ersten  von  ihnen  das,  dass  der  herausgeschnittene 
Theil  einen  Streifen  über  die  ganze  Breite  der  vorderen  Hälfte  der 
Sehsphäre,  incl.  des  Randwulstes,  zog,  oder  dass  dieser  letztere  wenig- 
stens zertrümmert  war,  während  der  Hund  der  Beobachtung  155,  bei 
dem  der  Randwulst  erhalten  geblieben  war,  bereits  am  19.  Tage,  einem 
Tage  nach  Ablauf  der  Sehstörung,  getödtet  wurde.  Von  den  anderen 
Hunden  dieser  Gruppe  wurde  nur  der  der  Beobachtung  146  unmittelbar 
nach  Ablauf  der  Sehstörung  (15.  Tag)  getödtet.  In  allen  diesen  Fällen 
-dauerte  also  die  Störung  der  optischen  Reflexe  mehr  oder  minder  er- 
heblich länger  als  die  Sehstörung. 

Fassen  wir  das  Verhältniss  der  Störung,  bezw.  des  Wiederauftretens 
der  optischen  Reflexe  zu  der  Art  der  Läsion  ins  Auge,  so  scheiden  zu- 
nächst die  6  Beobachtungen  (145,  149,  138,  148,  146  und  155)  aas  der 
Betrachtung  aus.  Von  den  übrigbleibenden  17  Beob.  fehlten  die  optischen 
Reflexe  bis  zum  Schluss  der  Beob.  gänzlich  bei  den  Beob.  133,  144, 
140,  134  und  151;  sie  waren  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung  mehr 
oder  minder  abgeschwächt  bei  den  Beobb.  135,  142,  147,  152  und  153. 
Bei  7  von  diesen  10  Beobachtungen  reichte  die  Zerstörung  in  frontaler 


—     542     — 

Richtung  über  die  ganze  Sehsphäre  hinaus:  bei  der  Beob.  151  der 
1.  Gruppe  war  der  Randwulst  geschont  worden,  bei  den  Beobb.  152, 
153  der  2.  Gruppe  war  er  unvollkommen  zerstört  und  bei  der  ersteren 
von  diesen  beiden  auch  ein  laterales  Stück  der  II.  Urwindung  nicht 
zerstört  worden.  In  wieweit  dennoch  eine  Zerstörung  oder  Leituugs- 
unterbrechuug  innerhalb  dieser  Gebiete  stattgefunden  hatte,  liess  sich 
durch  die  makroskopische  Besichtigung  eines  einzelnen  Frontalschnittes 
natürlich  nicht  entscheiden. 

Bei  den  7  Beobb.  136,  137,  139,  141,  143,  150  und  154  waren 
die  optischen  Reflexe  bei  Schluss  der  Beobachtung  wieder  normal;  nur 
bei  zweien  von  ihnen  (Beobb.  150  und  154)  reichte  die  Zerstörung 
ersichtlichlich  nicht  über  die  ganze  Breite  der  Sehsphäre  hinweg,  viel- 
mehr war  beide  Male  der  Randwulst  erhalten,  bei  den  anderen  5  Beob- 
achtungen erstreckte  sich  dem  Anscheine  nach  ein  zerstörter  Streifen 
von  der  Mittellinie  bis  zur  lateralen  Grenze  der  Sehsphäre. 

Aus  der  vorstehenden  Zusammenstellung  geht  in  üebereinstimmung 
mit  den  früher  angeführten  Erfahrungen  hervor,  dass  die  Störung  der 
optischen  Reflexe  fast  regelmässig  länger  dauert  als  die  Seh- 
störuug,  dass  sie  in  Ausnahmefällen  aber  (Beob.  154)  auch 
schneller  ablaufen  kann,  sowie  dass  eine,  die  ganze  Breite 
der  Sehsphäre  in  frontaler  Richtung  einnehmende  Läsion 
das  Zustandekommen  der  optischen  Reflexe  zwar  in  vielen, 
aber  nicht  in  allen  Fällen  dauernd  verhindert  oder  sie  in 
ihrer  Intensität  abschwächt. 

3.  Der  Nasenlidreflex  war  in  9  Fällen  abgeschwächt,  in 
5  Fällen  dauerte  das  Symptom  nur  1  Tag,  war  also  sicher  als  Nachbar- 
schaftsymptom zu  deuten.  Bei  der  Beob.  145  wurde  es  nicht  hinläng- 
lich lange  verfolgt.  Bei  der  Beob.  136  dauerte  die  Störung  des  Nasenlid- 
reflexes  26,  die  der  optischen  Reflexe  49  Tage;  bei  der  Beob.  138  dauerte 
die  Störung  des  Nasenlidrefleexs  mindestens  8  Tage,  wurde  dann  nicht 
weiter  verfolgt  und  bei  der  Beob.  147  7  Tage,  bei  dauernder  Störung 
der  optischen  Reflexe.  In  allen  diesen  Fällen  blieb  die  vordere  Grenze 
der  Läsion  weit  hinter  dem  Orbiculariscentrum  zurück;  auch  zeigten 
die  Hirnhäute  keine  Zeichen  einer  Entzündung,  die  sich  etwa  auf  dieses 
Centrum  ausgebreitet  hätte. 

^.    Ergebnisse. 
1.    Die  Rindenbliiidheit  und  die  Projectionslehre. 

Wir  haben  bereits  wiederholt  erörtert,  was  Munk  unter  Rinden- 
blindlieit  versteht.     Es  ist  kurz  gesagt,  der  gänzliche  und  dauernde 


—     543     — 

Verlust  der  Lichtempflndlichkeit  einer  beliebigen  Stelle  der  Nctzli;iut, 
verursacht  durch  Ausschaltung  einer  mit  dieser  Steile  in  directcni  ana- 
tomischem Zusammenhang  stehenden  Partien  der  Rinde.  Ebenso  wie 
der  Verlust  der  Lichtempfindlich keit  einer  solchen  Stelle  aus  der  ana- 
tomischen und  physiologischen  Ausschaltung  einzelner  mit  ihnen  in 
Zusammenhang  stehender  Rindenelemente,  setzt  sich  die  totale  Rinden- 
blindheit der  Retina  aus  der  totalen  Ausschaltung  sämmtlicher  der 
Sehfunction  dienender  Elemente  der  zugehörigen  Sehsphäre  zusammen. 
Im  Princip  müsste  man  also,  wenn  man  eine  genügend  feine  Unter- 
suchungsmethode hätte,  den  Ausfall  eines  jeden  einzelnen  Rindenelementes 
auf  der  Netzhaut  nachweisen  können.  Eine  solche  Untersuchungs- 
methode giebt  es  aber  selbstverständlich  nicht  und  wird  es  auch  nicht 
einmal  für  den  Menschen,  geschweige  denn  für  den  Hund  jemals  geben. 
Da  jedoch  noch  nach  der  letzten  hierhergehörigen  Auslassung  Munk's^) 
„die  centralen  Elemente  der  Sehsphäre,  in  welchen  die  Opticusfasern 
enden  imd  die  Gesichtswahrnehmung  statthatt,  regelmässig  und  con- 
tinuirlich  angeordnet  sind  wie  die  lichtempfindlichen  Netzhautelemente, 
von  welchen  die  Opticusfasern  entspringen,  derart,  dass  benachbarten 
Netzhautelementen  immer  benachbarte  wahrnehmende  Rindenelemente 
entsprechen",  so  muss  „mit  der  Exstirpation  einer  zusammenhängenden 
Rindenpartie  immer  die  Wahrnehmung  für  eine  zusammenhängende 
Partie  der  lichtempfindlichen  Netzhautelemente"  ausfallen  und  es  wird 
demnach  nur  von  der  Feinheit  der  Untersuchuugsmethode  abhängen,  wie 
gross  ein  solcher  Ausfall  einer  Netzhautpartie  sein  muss,  um  der  Aufmerk- 
samkeit nicht  zu  entgehen.  Wie  weit  die  von  mir  angewendeten  Unter- 
suchungsmethoden in  dieser  Beziehung  reichen,  soll  später  noch  erörtert 
werden.  Für  jetzt  wollen  wir  nur  die  vorstehend  beschriebenen  91  Ver- 
suche mit  Bezug  auf  die  Frage  der  „Rindenblindheit"  in  diesem  Sinne 
ins  Auge  fassen. 

Dabei  stellt  sich  nun  heraus,  dass  bei  diesen  91  Beobachtungen 
6  mal  „Blindheit"  bei  Abschluss  der  Beobachtung  noch  vorhanden 
war.  Zu  diesen  91  Beobachtungen  kommen  noch  einige,  die  sich  auf 
Operationen  an  der  anderen  Hemisphäre  von  solchen  Hunden  beziehen, 
deren  Krankengeschichte  hier  nur  rücksichtlich  der  2.  Operation  mit- 
getheilt  worden  ist,  sowie  zahlreiche  andere  aus  den  letzten  und 
früheren  Jahren  herrührende  Partialextirpationen,  von  deren  Mittheilung 
ich  abgesehen  habe,  und  bei  denen  sämmtlich  „Rindenblindheit"  bei 
Abschluss  der  Beobachtung  nicht  vorhanden  war. 

Betrachten    wir    den  Grad    der    bei   diesen  6  Beobachtungen 


1)  H.  Munk,  Gesammelte  Mittheilungen  1890.  S,  293,  294, 


—     544     — 

gesetzten    anatomischen    Veränderungen,    so    ergiebt    sich   Fol- 
gendes: 

1.  Beob.  97.  Operation  der  2.  Seite.  Grosser  Tlieil  der  Sehsphäre 
und  zwar  grosser  Theil  der  dorsalen  Partie  der  Rinde  und  des  Markes 
zerstört;  Tod  am  42.  Tage.    Totale  Restitution  noch  nicht  ausgeschlossen. 

2.  Beob.  112.  Laterale  Hälfte  der  Sehsphäre  mit  Schrumpfung 
des  hinteren  Pols;  totale  Zerstörung  des  dorsalen  Markes. 

3.  Beob.  115.  Beiderseits  mehr  als  die  laterale  Hälfte  der  Seh- 
sphäre, links  Einziehung  des  hinteren  Pols.  Zerstörung  links  bis  an 
den  Ventrikel,  rechts  bis  fast  an  den  Ventrikel. 

4.  Beob.  145.  Mehr  als  die  vordere  Hälfte  der  Sehsphäre, 
Schrumpfung  der  hinteren  Hälfte.  P'ast  gänzliche  Zerstörung  der  dor- 
salen Rinde  und  des  dorsalen  Markes.     Etwas  Randwailst  erhalten. 

5.  Beob.  149.  Vordere  Hälfte  der  Sehsphäre  fast  ganz  und  Theil 
der  Augenregion.  Fast  gänzliche  Zerstörung  der  dorsalen  Rinde  und 
des  dorsalen  Markes  bis  an  den  Ventrikel. 

Bei  diesen  5  Beobachtungen  waren  also  nicht  nur  sehr  grosse 
Ausschaltungen  der  optischen  Rinde  vorgenommen  worden,  sondern 
das  occipitale  Mark  war  auch,  mindestens  auf  den  angelegten  Quer- 
schnitten ganz  oder  so  gut  wie  ganz,  meist  bis  an  den  Ventrikel  zi« 
Grunde  gegangen.  Dabei  war  bei  der  Beob.  97  die  gänzliche  Restitu- 
tion deshalb  noch  nicht  ganz  ausgeschlossen,  weil  die  überhaupt 
schwankende  Sehstörung  der  oberen  äusseren  Gesichtsfeldpartie  noch 
in  der  letzen  Woche  vor  dem  Tode  eine  Abnahme  erfahren  hatte. 
Anders  liegen  die  anatomischen  Verhältnisse  und  der  experimentelle 
Erfolg  bei  der  Beob.  125.  Hier  war  gleichfalls  ein  recht  erheblicher 
Theil  und  zwar  sowohl  der  dorsalen  als  der  basalen  Rinde  des  Occipital- 
Jappens  ausgeschaltet  worden;  aber  die  Markstrahlung  war  in  viel  ge- 
ringerem Grade  als  bei  den  vorerwähnten  Beobachtungen  geschädigt 
worden.  Die  restirende  Sehstörung  betraf  in  diesem  einzigen  Falle,  als 
der  Hund  am  51.  Tage  starb,  ausschliesslich  das  gleichseitige  Auge, 
während  sie  auf  dem  gegenseitigen  Auge  bereits  am  36.  Tage  ver- 
schwunden war. 

Auch  in  diesem  Falle  war  eine  totale  Restitution  von  der  bei  der 
letzten  Untersuchung  in  der  Abnahme  begriffenen  SehstCtrung  nicht  aus- 
geschlossen. 

Rücksichtlicb  der  Localisation  der  Ausschaltungen  auf  der 
Seh  Sphäre  gehört  die  Beob.  97  zu  der  Gruppe  der  atypischen  cen- 
tralen Läsionen.  Sie  nahm  aber,  wie  gesagt,  einen  grossen  Theil  der 
Rinde  ein.  Die  Beobb.  112  und  115  gehören  zu  der  Gruppe  der 
lateralen  Läsionen   und    die  Beobb.    145    und    149    zu    der    der    oralen 


—     545     — 

Läsionen;  die  Beob.  125  endlich  zu  der  der  caudaien  l^äsioiien.  Dabei 
darf  nicht  unerwähnt  bleiben,  dass  bei  3  von  diesen  Beobachtungen  (112, 
115  und  145)  eine  hochgradige  Schrumpfung  der  ausserhalb  der  Ope- 
rationsgegend liegenden  Antheile  der  Sehsphäre,  der  hinteren  Hälfte, 
des  hinteren,  bezw.  hinteren  und  medialen  Abschnittes  schon  makro- 
skopisch in  die  Augen  fiel. 

Aus  diesen  Beobachtungen  geht  mindestens  soviel  hervor, 
dass  die  bei  ihnen  zu  beobachtende  residuäre  Blindheit  eben- 
sowohl auf  die  Ausschaltung  des  tieferen  Markes,  als  auf  die 
der  Rinde  und  des  M  arkes  der  Windungen  bezogen  werden  kann. 

Bei  der  ungeheuren  Mehrzahl  meiner  Beobachtungen  bestand  aber 
überhaupt  keine  residuäre  Blindheit.  Von  diesen  interessiren 
in  erster  Linie  diejenigen,  bei  denen  überhaupt  keine  Sehstöruug 
in  dem  Sinne  zu  beobachten  war,  dass  die  Reaction  gegen  Fleisch  auf 
bestimmten  Theilen  des  Gesichtsfeldes  gänzlich  ausfiel.  Es  sind  dies 
bei  den  centralen  Läsionen  die  Beobb.  77 — 81,  83 — 85;  hierzu 
kommen  noch  die  Beobb.  76,  82,  86  und  88,  bei  denen  die  Sehstörung 
so  unerheblich  und  vorübergehend  war,  dass  sie  nicht  in  Betracht  ge- 
zogen werden  kann. 

Ausser  bei  diesen  12  den  centralen  Läsiouen  zugerechneten  Beob- 
achtungen fehlte  die  Sehstörung  in  diesem  Sinne  noch  bei  6  ander- 
weitigen Beobachtungen,  von  denen  je  eine  Beobachtung  (102  und  141) 
in  die  laterale  und  in  die  orale  Hälfte  fiel  und  je  2  (Beobb.  118  u.  120, 
sowie  Beobb.  122  u.  132)  den  medialen,  bezw.  den  caudaien  Läsionen 
zugerechnet  wurden.  Alle  diese  Beobachtungen  betrafen  ausnahmslos 
Paralleloperationen  an  der  2.  Hemisphäre,  sodass  sich  damit  die 
Zahl  derjenigen  Beobachtungen,  bei  denen  eine  Sehstörung  als  Folge  einer 
zweiten  Operation  in  der  Sehsphäre  nicht  beobachtet  wurde,  auf  17 
beläuft.  In  diese  Zahl  sind  die  3  erwähnten  Beobachtungen  mit  mini- 
malen und  schnell  vorübergehenden  Sehstörungen  mit  einbegriffen. 
Ausserdem  gehört  noch  hierher  die  Beob.  119  (Paralleloperation  zu 
Beob.  120),  bei  der  die  Sehstörung  das  gegenüberliegende  Auge  freiliess 
und  nur  den  medialen  Streifen  der  gleichen  Seite  betraf,  den  sie  hätte 
freilassen  sollen,  während  andererseits  bei  der  Beob.  120,  am  Ende  der 
Beobachtung  der  frühere  intacte  Streifen  des  gleichseitigen  Auges, 
welcher  hätte  freibleiben  sollen  noch  eine  Amblyopie  erkeanen  Hess. 
Unerwähnt  lasse  ich  dabei  noch  eine  grössere  Zahl  von  Beobachtungen, 
bei  denen  sich  gleichfalls  eine  nur  wenige  Tage  dauernde,  aber  immer- 
hin ausgesprochene  Sehstörung  erkennen  Hess. 

Aus  der  Summe  der  angeführten  Beobachtungen  geht 
hervor,  dass  man  recht  erhebliche  Ausschaltungen  der  Rinde 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl.    II.  Theil.  35 


—     546     — 

innerhalb  jeder  einzelnen  Region  der  Convexität  der  „Seh- 
sphäre"  vornehmen  kann,  ohne  dass  darauf  Rindenblindheit, 
ja,  ohne  dass  dar  auf  auch  nur  vor  über  gehen  de  Blindheit  irgend 
eines  Abschnittes  der  Retina  nothwendig  folgen  muss.  Und 
es  geht  ferner  aus  der  Summe  dieser  und  der  ersterwähnten 
Beobachtungen  hervor,  dass  die  bei  jenen  und  bei  analogen 
Operationen  beobachtete  „Rindenblindheit"  überhaupt  nicht 
auf  den  partiellen  Verlust  der  Rinde,  sondern  auf  einen 
äquivalenten  Ausfall  der  Sehstrahlung  zurückzuführen  ist. 
Das  Ausbleiben  der  Sehstörung  nach  secundären  Ausschaltungen 
der  Stelle  Aj  hatte  ich  in  zwei  Vorträgen  i)  kurz  behandelt.  Kurz 
gesagt,  hatte  ich  mitgetheilt,  dass  Sehstörungen  nach  Eingriffen  in  das 
Occipitalhirn  in  der  Regel  dann  ausbleiben,  wenn  ihnen  einige  Zeit  vor- 
her ein  Eingriff  in  den  Gyrus  sigm.  der  gleichen  Seite  vorangegangeu 
ist.  Noch  bevor  ich  die  verheissene  und  hier  gegebene  ausführliche 
Mittheilung  meiner  Versuche  folgen  lassen  konnte,  hat  Munk^)  die- 
selben, meine  anderweitigen  Arbeiten  und  mich  persönlich  in  maassloser 
Weise  angegriffen.  Ich  hatte  damals  auf  jenen  Theil  dieser  Angriffe 
erwidert 3):  „Wenn  das  entsprechende  Material  vorliegt,  wird  sich  darT 
über  discutiren  lassen,  jetzt  nicht."  Hören  wir  also,  was  Herr  Munk 
an  Einwendungen  vorzubringen  hat.  Er  erklärt  die  Ergebnisse  meiner 
Versuche  kurzweg  für  „grundfalsch",  ohne  diese  Versuche  auch  nur  zu 
kennen  und  stützt  sich  zum  Beweise  seiner  Behauptungen  darauf,  dass 
er  solche  Secundäroperationen  in  der  Stelle  A^,  wie  ich  sie  angegeben 
hatte,  8  Mal  ausgeführt  habe,  ohne  dass  eine  Sehstörung  ausgeblieben 
sei.  Es  kommt  indessen  darauf  garnichts  an,  ob  jener  Autor  bei  seineu  8 
oder  beliebig  vielen  Versuchen  eine  Sehstörung  erhalten  hat,  sondern, 
wie  derselbe  ganz  genau  weiss,  lediglich  darauf,  ob  diese  Sehstörung 
als  nothwendige  Folge  der  Ausschaltung  der  Stelle  A^  (oder  eines 
beliebigen  anderen  Theiles  der  Sehsphäre)  eintreten  muss.  Meine  Mit- 
theilungen bezogen  sich  nur  auf  oberflächliche  Zerstörungen;  dass 
Zerstörungen,  welche  die  Sehstrahlung  in  beliebiger  Ausdehnung  unter- 
brechen, auch  unter  den  angegebenen  Umständen  zu  Sehstörungen  führen 


1)  E.  Hitzig,  ,,üeber  das  corticale  Sehen  des  Hundes".  Archiv  für 
Psychiatrie  Bd.  33.  und  ,,Ueber  den  Mechanismus  gewisser  corticaler  Sehstö- 
rungen des  Hundes".    Berl.  klin.  Wochenschr.    1900.   No.  45. 

2)  H.  Munk,  Zur  Physiologie  der  Grosshirnrinde.  Verhandl.  d.  physiol. 
GeseUsch.  zu  Berlin.   No.  10—11.   1902. 

3)  E.  Hitzig,  Ueber  die  motorische  l^'unction  des  Hundehinis  und  über 
die  Polemik  des  Herrn  Munk.    Archiv  für  Psychiatrie  Bd.  36.    H.  2. 


—     547     — 

können,  versteht  sich  von  selbst;  ich  habe  selbst  in  der  vorstellenden 
Casuistik  solche  Beispiele  angeführt.  Nun  sollen  aber  die  fraglichen 
Sehstörungen  nach  der  Behauptung  Munk's  durch  jede  Ausschaltung 
•der  Rinde  der  Stelle  A^  auf  2 — 3  mm  Tiefe  gesetzmässig  bedingt  sein. 
Dieser  operativen  Forderung  habe  ich  entsprochen,  ohne  dass  der  als 
noth wendig  hingestellte  Erfolg  eintrat. 

Das  Angeführte  ist  nun  alles,  was  Munk  gegen  mich  vorzubringen 
hat.  Er  schliesst  daraus  ohne  Weiteres,  dass  ich  mich  getäuscht  habe 
und  benutzt  dieses  auf  so  wohlfeile  Weise  gewonnene  Resultat  —  charak- 
teristisch für  seine  Polemik  —  um  an  einer  späteren  Stelle  seines  Auf- 
satzes das  Misstrauen  des  Lesers  gegen  meine  Feststellung  des  Fehlens 
von  Sehstörungen  auch  bei  anderen  Gelegenheiten  zu  ervpecken,  indem 
•er  gerade  so  als  ob  er  etwas  Positives  bewiesen  hätte,  sagt:  „Nach  den 
Erfahrungen,  die  wir  bei  den  Doppeloperationen  machten,  lässt  sich 
dem  nicht  vertrauen,  dass  keine  Sehstörung  bestand,  wo  Herr  Hitzig 
keine  fand."  Solche  Erfahrungen  hatte  Herr  Munk  aber  eben  nicht 
gemacht.  Bei  diesem  Anlass  spricht  er  auch  die  Vermuthung  aus,  dass 
gewisse  Ergebnisse,  auf  die  ich  später  zu  sprechen  kommen  werde, 
darauf  beruhen  möchten,  dass  meine  Ausschaltungen  nicht  gross  oder 
nicht  tief  genug  gewesen  seien.  Es  erscheint  deshalb  erforderlich,  noch 
einmal,  wie  angekündigt,  auf  die  relative  Sicherheit  der  Unter- 
suchungsmethoden zurückzukommen  und  den  anatomischen 
Wert  der  vorgenommenen  Zerstörungen  zu  besprechen. 

Soviel  ich  ersehe,  bestanden  die  zu  den  verschiedenen  Zeiten  seiner 
Publicationen  mitgetheilten  Untersuchungsmethoden  Munk's,  insoweit 
die  partielle  Rindenblindheit  in  Frage  kommt,  darin,  dass  er  Hunden, 
von  denen  nicht  gesagt  ist,  dass  sie  unter  besondere  Bedingungen  ver- 
setzt worden  wären,  Stücke  Fleisch,  deren  Grösse  nicht  angegeben  ist, 
vor  dem  Auge  vorüberführte,  dass  er  Stücke  Fleisch  vor  dem  einen 
oder  dem  anderen  Auge  vorbeiwarf,  oder  solche  so  vor  den  Hund  hin- 
legte, oder  ihm  so  vor  das  Auge  hielt,  dass  ihr  Bild  auf  die  Macula 
fallen  musste  oder  darin,  dass  er  den  Hund  auf  grössere  Mengen  am 
Boden  liegender  Fleischstücke  losliess,  oder  dass  er  ihm  Licht  vor  das 
Auge  brachte,  oder  dass  er  die  Kopfhaltung  der  an  verschiedenen 
Stellen  der  Sehsphäre  operirten  Hunde  beobachtete,  und  dass  er  dann 
aus  der  Veränderung  der  Reaction  auf  das  gänzliche  Ausfallen  der 
Lichtempfindung  schloss.  Solche  Untersuchungen,  bei  denen  es  sich 
nur  um  Feststellung  eines  kleinen  Restes  von  Lichtempfindung  bei  nicht 
ganz  gelungener  Totalexstirpation  der  Sehsphäre  handelt,  interessiren 
hier  nicht. 

Ich    habe    Eingangs    dieser    Abhandlung    angeführt,    dass    Bern- 


—     548     — 

lieimer  es  neuerdings  als  unmöglich  erklärt  hat,  bei  Thieren  Theil- 
defecte  im  Gesichtsfeld  mit  Bestimmtheit  festzustellen  und  in  der  That 
sehe  ich  nicht,  wie  dies  mit  Hülfe  der  sonst  gebräuchlichen,  insbesondere 
der  von  Munk  angegebenen  Methoden  möglich  sein  sollte.  Wenn  ein 
Hund  z.  B.  ein  schnell  bei  seinem  Auge  vorüberfliegendes  Stück  Fleisch 
nicht  beachtet,  so  lässt  dies  zwar  mit  Sicherheit  auf  das  Vorhandensein 
einer  Sehstörung,  aber  keineswegs  auf  das  gänzliche  Ausfallen  der 
Lichtempfindung  auf  irgend  einem  Theile  der  Retina  schliessen,  ge- 
schweige denn,  dass  sich  ein  solcher  Theil  abgrenzen  Hesse,  denn  das 
Resultat  kann  sehr  wohl  lediglich  auf  einer  Abschwächuug  ihrer 
Lichtempfindlichkeit  beruhen.  In  welcher  Weise  es  zu  ermöglichen  ist, 
dass  das  Bild  eines  vor  einem  Hunde  liegenden  Stückes  Fleisch  oder  das 
Bild  eines  Stückes  Fleisch,  welches  man  dem  Hund  auf  die  der  Macula 
entsprechende  Stelle  des  Gesichtsfeldes  hält,  gerade  auf  die  Macula  und 
nur  auf  diese  fällt,  ist  mir,  wenn  man  nicht  die  von  mir  angewendeten 
Cautelen  anwendet,  unerklärlich  etc.  Üeber  das  Vorhandensein,  wenn 
auch  nicht  über  den  Umfang  oberer  oder  unterer  Gesichtsfelddefecte 
könnte  die  veränderte  Kopfhaltung  der  Hunde  vielleicht  Aufschluss 
geben,  indessen  habe  ich  auch  bei  solchen  Hunden,  deren  Scotome  am 
meisten  zur  Production  solcher  Symptome  disponirt  hätten,  nichts  davon 
beobachten  können.  Es  bleibt  also  lediglich  die  Prüfung  der  Reaction 
der  einzelnen  Theile  des  Gesichtsfeldes  durch  Vorbeiführung  von  Fleisch 
oder  Licht  in  dieselben  übrig.  Wird  diese  Methode  aber  ohne  weitere 
Cautelen  angewendet,  so  führt  sie  überhaupt  nur  bei  einer  beschränkten 
Anzahl  von  Thieren  zu  einem  Resultate  und  unter  allen  Umständen  ist 
sie  viel  roher  als  die  von  mir  angegebene  Modification,  bei  der  der 
schwebende  und  auf  diese  Weise  ruhig  gehaltene  Hund  nur  die  Spitze 
der  mit  einem  ganz  kleinen  Stückchen  Fleisch  armirten  Pincette  zu 
sehen  bekommt.  Im  Uebrigen  verweise  ich  auf  das  auf  S.  300  Gesagte 
und  kann  nur  wiederholen,  dass  es  bei  dieser  Methode  zwar  möglich 
ist,  „dass  ein  Hund,  welcher  auf  ein  in  seinem  Gesichtsfeld  erscheinen- 
des Stück  Fleisch  nicht  reagirt,  keine  Sehstörung  hat,  dass  es  aber 
absolut  unmöglich  ist,  dass  ein  Hund,  welcher  auf  ein  in  einem  belie- 
bigen Theile  seines  Gesichtsfeldes  erscheinendes  Stück  Fleisch  reagirt, 
auf  dem  entsprechenden  Theile  seiner  Retina  rindenblind  ist." 

Munk  hat  in  dem  vorerwähnten  Angriffe  gegen  mich  behauptet, 
ich  hätte  mich  getäuscht  und  durchblicken  lassen,  er  hege  bestimmte 
Vermuthungen,  wie  dies  geschehen  sei,  wolle  diese  aber  unterdrücken, 
damit  ich  nicht  bogenlang  dagegen  polemisire.  Ohne  ein  Wort  über 
diese  Art  der  Polemik  zu  verlieren,  bemerke  ich  nur,  dass  ich  eine 
lange  Reihe    von   Jahren    hindurch   jeden    einzelnen    Hund    mit    vielen 


—     549     — 

hunderten,  ja  tausenden  einzelner  Prüfungen  untersucht  liabo,  sodass  ein 
Irrthum  über  das  rein  Thatsächliche  meiner Eeobaclitungen  über  die  von  mir 
selbst  angegebenen  Grenzen  hinaus  vollkommen  ausgeschlossen  ist. 

Prüfen  wir  die  Resultate  unser  beiderseitigen  Untersuchungen 
näher,  so  muss  die  Dürftigkeit  der  Angaben  Munk's  über  das,  was  er 
partielle  Rindenblindheit  nennt  und  die  Falschheit,  ja  die  Unmöglichkeit 
seiner  Behauptungen  aufs  Aeusserste  befremden.  Ebensowenig  wie  wir 
von  ihm  etwas  Genaueres  über  die  theoretisch  zu  erwartenden  Scotome 
erfahren  haben,  finden  wir  etwas  Genaueres  über  den  Umfang  der  that- 
sächlich  eingetretenen  Gesichtsfelddefecte  und  vornehmlich  über  ihren 
Decursus.  Wir  erfahren  nur,  dass  der  operirte  Hund  anfänglich  z.  B.  seelen- 
blind war  und  nachdem  er  von  diesem  Symptom  durch  die  Erziehung  des 
Herrn  Munk  curirt  worden  war,  auf  einer  bestimmten  Stelle  seiner 
Retina  rindenblind  ist.  Was  das  Trauma  der  Sehsphäre  sonst  noch  für 
Folgen  für  das  Sehen  gehabt,  wie  sie  sich  von  der  sog.  Seelenbliudheit 
haben  unterscheiden  lassen  und  wie  sie  sich  verloren,  davon  weiss  der 
Autor  uns  nichts  zu  berichten.  Nun  ist  der  Hund  partiell  rindenblind, 
er  hat  nach  der  Behauptung  Munks  einen  zweiten  blinden  Fleck,  der 
unter  Umständen  recht  gross  sein  und  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens 
einschliessen  kann.  Goltz  und  Loeb  haben  bemerkt,  dass  solche 
Hunde,  denen  man  nach  den  eigenen  Angaben  Munk's  von  ihrer  par- 
tiellen Rindenblindheit  ohne  nähere  Prüfung  nichts  anmerken  soll, 
colossal  schielen  müssten,  während  sie  thatsächlich  nicht  schielten. 
Wirklich  hat  auch  niemand,  auch  Munk  nicht,  behauptet,  dass  Hunde 
nach  Eingriff  in  ihre  Sehsphären  dauernd  an  Strabismus  litten.  Dies  hat 
ihn  aber  weder  dazu  veranlasst,  etwas  auf  jenen  Einwand  zu  erwidern, 
noch  seine  Behauptungen  fallen  zu  lassen. 

Vergleichen  wir  dagegen  damit  die  Resultate  der  vorstehenden 
Untersuchungen,  so  ergiebt  sich,  dass  es  uns  nicht  nur  gelungen  ist, 
die  operativ  erzeugten  einzelnen  Gesichtsfelddefecte  in  ihrer 
Entstehung  und  ihrem  Verlaufe  im  Groben  nachzuweisen, 
sondern  dass  wir  damit  auch  zu  weiterer  Einsicht  in  die 
Art  der  gesetzten  Sehstörung  gelangt  sind.  Ich  bestreite  hier- 
nach Herrn  Munk,  und  jedem,  wer  es  auch  sein  mag,  das  Recht,  die 
Richtigkeit  meiner  thatsächlichen  Angaben  zu  bezweifeln,  insbesondere 
aber  zu  behaupten:  „Es  Hesse  sich  dem  nicht  vertrauen,  dass  keine 
Sehstörung  bestand,  wo  ich  keine  fand".  Wer  meine  Untersuchungen 
in  dem  erforderlichen  Umfange  und  mit  dem  unerlässlichen  Geschick 
wiederholt,  der  wird  sie  bestätigen i). 

1)   Ich  habe  gegründete  Veranlassung  zu  der  Annahme,   dass  dies,   seit- 
dem ich  das  vorstehende  schrieb,  bereits  geschehen  ist. 


—     550     — 

Was  den  Umfang  der  von  mir  in  diesen  Fällen  angerichteten 
Zerstörungen  angeht,  so  befinden  sich  unter  den  mitgetheilten  Beob- 
achtungen ohne  dauernde,  ja  selbst  vorübergehende  Sehstörung  genug 
solche,  bei  denen  die  Stelle  A^  in  dem  vom  Munk  angegebenen  Um- 
fange und  in  grösserer  Tiefe  gänzlich  zerstört  war  und  anders  localisirte 
Beobachtungen  von  gleichem  und  grösserem  Umfange.  Statt  alles 
weiteren  verweise  ich  nur  auf  die  Beob.  76,  bei  der  die  Stelle  A^  bis 
tief  in  das  Marklager  hinein  zerstört  war. 

Munk  wird  zwar  nicht  beanspruchen  dürfen,  dass  die  Läsionen 
der  Versuche  anderer  grösser  sein  müssen  als  die  Läsionen,  durch  die 
er  selbst  Rindenblindheit  hervorbrachte,  indessen  sind  in  den  vor- 
stehenden Untersuchungen  zahlreiche  Fälle,  in  denen  erheblich  grössere 
Läsionen  solche  Folgen  nicht  hatten,  mitgetheilt  worden.  Der  Ein- 
wand, die  von  mir  vorgenommenen  Eingriffe  hätten  nicht 
den  vorgeschriebenen  Um  fang  oder  die  vorgeschriebene  Tiefe 
gehabt,  wird  damit  hinfällig.  , 

Wir  haben  uns  bisher  nur  mit  der  Minorität  jener  Fälle  beschäftigt, 
bei  denen  entweder  ausnahmsweise  Rindenblindheit  eintrat,  oder  die 
postulirte  Sehstörung  ganz  ausblieb.  Unter  der  Majorität  derjenigen 
Fälle,  bei  denen  eine  anfänglich  vorhandene  Blindheit  sich  wieder 
ausglich,  befinden  sich  aber  auch  solche,  bei  denen,  wie  z.  B.  Beobb.  133, 
144  und  146,  durch  colossale  Zerstörung  mehr  als  die  halbe  Sehsphäre 
ausgeschaltet  worden  war,  ohne  dass  (dauernde)  partielle  Rindenblindheit 
eintrat.  Es  mag  dies  genügen,  um  einem  solchen  Einwände,  mag  er  sich 
nun  gegen  die  bereits  erwähnten  oder  gegen  die  ferner  zu  erwähnenden 
Resultate  richten,  zu  begegnen.  Die  Versuche  Munk 's  über  die  Pro- 
duetion  partieller  Rindenblindheit  haben  meines  Wissens  von  keiner 
Seite  eine  Bestätigung  in  dem  Sinne  erfahren,  dass  dieses  Symptom 
infolge  partieller  Ausschaltung  der  Rinde  eintreten  müsse.  Selbst 
solche  Autoreu,  die  wie  v.  Monakow^)  sich  soweit  als  irgend  möglich 
auf  Seite  Munk 's  stellen,  treten  ihm  mit  Bezug  auf  diesen  Punkt  auf 
das  Entschiedenste  entgegen.  Andererseits  hatte  ich  2)  die  Angaben 
Loeb's,  welcher  schon  vor  langer  Zeit  behauptete  ,,es  könne  jede 
Stelle  der  Rinde  des  Hinterhauptlappens  weggenommen  werden,  ohne 
dass  die  geringste  Sehstörung  darauf  erfolge",  indem  ich  sie  als  im 
höchsten  Grade  verdächtig  bezeichnete,  stark  bezweifelt.  Ich  war  hierzu 
nicht   allein    durch    die    von    mir    nachgewiesene    Unzuverlässigkeit   der 


1)  V.  Monakow,  Ueber  den  gegenwärtigen  Stand    der  Frage  nach  der 
Localisation  ita  Grosshirn.   z.  ß.  8.  655. 

2)  E.  Hitzig,  Historisches,  Kritisches  etc.  Diese  Untersuchungen  S.53flf. 


—     551     — 

Angabeil  dieses  Autors  in  der  LocalisutionsIVage  überliaupt,  sondern  insbe- 
sondere durch  seine  Angaben  über  diejenigen  Operationen  (vergi.  a.  a.  ().), 
bei  denen  keinerlei  Sehstörung  eingetreten  sein  sollte,  veranlasst  worden. 

Diese  Zweifel  kann  ich  jetzt  nur  in  verstärktem  Maasse  aus- 
sprechen; sicherlich  haben  die  Hunde  nach  diesen  Eingriffen  zeitweise 
schwere  Sehstörungen  gehabt;  aber  deshalb  bleibt  die  so  ailgemoiu 
ausgesprochene  Behauptung,  „dass  jede  Stelle  der  Rinde  des  Hinter- 
hauptlappens weggenommen  werden  könne,  ohne  dass  die  geringste  Seh- 
störung darauf  erfolge"  doch  richtig;  unrichtig  ist  sie  nur  mit  Bezug  auf 
Operationen,  von  dem  ihnen  durch  Loeb  gegebenen  Umfange,  nament- 
lich sofern  es  sich  um  Primäroperationen  handelt' 

Eine  andere  Frage  ist  die,  ob  die  totale  Entfernung  der 
Sehsphäre  totale,  dauernde  Blindheit  —  Rindenblindheit  — 
zur  Folge  hat.  Diese  Frage  bin  ich  geneigt  in  dem  Sinne  zu  be- 
jahen, dass  nach  totaler  Entfernung  der  Sehsphären,  bewusste  Licht- 
empfindungen nicht  mehr  zu  Stande  kommen.  Indessen  fragt  es  sich 
weiter,  was  man  unter  „Sehsphäre"  verstehen  will.  v.  Monakow^) 
hatte  diese  Grenzen  auf  Grund  von  Untersuchungen,  die  er  au  ihm  von 
Munk  selbst  gelieferten  Gehirnen  vorgenommen  hatte,  soweit  über  die 
von  Letzterem  gezogene  vordere  Grenze  hinaus  nach  vorn  gelegt,  dass 
noch  der  grössere  Theil  der  Augenregion  ihr  zufiel.  Munk^)  hat  dieser 
Ansicht  v.  Monakow's,  indem  er  sich  im  Wesentlichen  auf  seine  par- 
tiellen Exstirpationsversuche  in  dieser  Gegend  stützte,  lebhaft  wider- 
sprochen. Welche  Bedeutung  den  Resultaten  dieser  partiellen  Exstir- 
pationsversuche beizumessen  ist,  haben  wir  bereits  gesehen  und  werden 
wir  noch  ferner  sehen.  Wie  eine  Ironie  klingt  aber  das  fernere 
Schicksal  dieser  Frage.  Munk  hatte  a.  a.  0.  den  Wunsch  nach  Fort- 
setzung der  „ausgezeichneten  Versuche  v.  Monakow's",  zu  denen  er 
das  Material  liefern  wolle,  ausgesprochen.  Dies  ist  nun  mit  dem  Erfolge 
geschehen,  dass  v.  Monakow  in  jeder  seiner  späteren  Arbeiten  den 
bezeichneten  Standpunkt  mit  Entschiedenheit  aufrecht  erhalten  hat, 
ohne  aber  die  Einwendungen  Munk's  zu  erwähnen,  während  Letzterer 3), 
ohne  sich  wieder  mit  dem  Standpunkte  v.  Monakow's  zu  beschäftigen, 
noch    in    seiner    letzten  Arbeit  die  Richtigkeit   seiner  alten  Begrenzung 


1)  V.  Monakow,  Experimentelle  und  pathologisch-anatomische  Unter- 
suchungen über  die  optischen  Centren  und  Bahnen.  Archiv  für  Psychiatrie. 
Bd.  XX.    Heft  3. 

2)  H.  Munk,  Gesammelte  Mittheilungen  1890.    S.  313 ff.   Anm.  167. 

3)  H.  Munk,  Ueber  die  Ausdehnung  der  Sinnessphären.  Sitzungsberichte 
1899.   II. 


—     552     — 

versichert.  Die  von  mir  mitgetheilteii  Versuche  haben  mir  zwar  den  sehr 
bestimmten  Eindruck,  dass  v.  Monalvow  gegen  Munk  Recht  hat, 
hinterlassen,  sie  sind  aber  zur  definitiven  Entscheidung  dieser  Frage 
nicht  geeignet;  ich  habe  deshalb  Herrn  Dr.  Kalberiah  zu  ihrer  weiteren 
Verfolgung  angeregt,  dessen  Arbeit  wird  dem  vorliegenden  Aufsatze 
unmittelbar  folgen;  der  Leser  wird  also  alsbald  Gelegenheit  haben,  sich 
eingehender  mit  dieser  Frage  zu  beschäftigen. 

Die  Lehre  Munk's  von  der  Projection  der  Retina  auf  die 
Sehsphären  habe  ich  im  Vorhergehenden  ausführlich  dargelegt.  Das 
Princip  derselben  besteht  darin,  dass  jedes  wahrnehmende  Rindenelement 
mit  einem  Retinaelement  direct^)  verbunden  sei  und  Munk  hat  diese 
Vorstellung  noch  durch  sein  bekanntes  in  alle  Lehrbücher  übergegangenes 
Schema  2)  besonders  bekräftigt.  Demgegenüber  hatte  v.  Monakow 
schon  1889  und  dann  immer  wieder  die  sich  wohl  Jedem  aufdrängende 
Meinung  betont,  dass  eine  solche  Projection,  wenn  sie  überhaupt  statt- 
hätte, auf  die  primären  Opticuscentren,  in  denen  die  Sehfasern  bekannt- 
lich eine  Unterbrechung  erfahren,  geschehen  müsste.  Ich  werde  auf  die 
Theorie  v.  Monakow's  später  zurückkommen.  An  dieser  Stelle  be- 
gnüge ich  mich,  darauf  hinzuweisen,  dass  ein  gesetzmässiger  Ausfall 
bestimmt  localisirter  Retinaelemente  in  Folge  von  Ausschaltung  corre- 
spondirender  Rindenelemente  unmöglich  ist,  wenn  eine  Unterbrechung 
durch  eingeschaltete  Ganglien  statthat. 

Indess  noch  aus  einem  anderen  experimentell  anatomischen  Grunde 
erscheint  die  Behauptung  Munk's,  dass  auf  Ausschaltung  eines  be- 
stimmten Rindenbezirkes  regelmässig  Ausfall  eines  bestimmten  und  nur 
dieses  Bezirkes  der  Retina  folge,  unmöglich.  Sie  wäre  nur  dann  mög- 
lich, wenn  es  thatsächlich  gelänge  die  Zerstörung  auf  die  Rinde  und 
allenfalls  auf  die  zugehörige  innerhalb  der  Windung  aufsteigende  Mark- 
strahlung zu  beschränken.  Dies  gelingt  aber,  wie  ich  bereits  in  einer 
der  ersten  dieser  Abhandlungen  3)  nachgewiesen  habe,    wegen    des  Ein- 


1)  In  einer  späteren  Anmerkung  (Gesammelte  Mittheilungen  Anmerk.  62, 
S.  79)  hat  Munk  den  Sinn  seiner  ursprünglichen  Auslassungen  etwas  zu  mo- 
dificiren  gesucht,  indem  er  sagt:  „Dass  von  correspondirenden  Punkten  die 
Rede  ist,  besagt  natürlich  nicht,  dass  von  jedem  einzelnen  Retinaelemente  eine 
Opticusfaser  zu  einem  einzelnen  Rindenelemente  verläuft;  sondern  es  können 
an  oder  vor  den  Rindenelementen  sowohl,  wie  auch  an  oder  hinter  den  Retina- 
elementen netzförmige  Anastomosen  bestehen  und  die  Opticusfasern  nur  die 
Verbindungen  zwischen  den  Netzen  herstellen".  An  der  Hauptsache  wird  da- 
durch ersichtlich  nichts  geändert. 

2)  Munk  a.  a.  0.   S.  73,  74. 

3)  E.  Hitzig,  Historisches,  Kritisches  etc.   Diese  Untersuchungen  S.41ff. 


—     553     — 

tretens  secuudärer  Erweichungen  und  Blutungen  in  den  tiofor  gelegenen 
Markmassen  des  Gehirns  nicht.  Ich  verweise  auf  das  a.  a.  0.  darüber 
Gesagte.  Die  Bedingungen  für  das  Auftreten  solcher  secundärer  Er- 
weichungen und  Blutungen  sind  aber  bei  Eingriffen  in  den  Occipital- 
lappen  wegen  der  grösseren  Ausdehnung,  die  sie  dort  haben  müssen, 
bei  Weitem  günstiger,  als  bei  Eingriffen  in  das  Frontalhirn. 

Ich  habe  eine  grosse  Anzahl  der  von  mir  operirten  Gehirne  Herrn 
Prof.  Edinger  in  Frankfurt  a.  M.  zur  anatomischen  Untersuchung  über- 
lassen. Dieser,  der  über  das  anderweitige  Resultat  seiner  Unter- 
suchungen voraussichtlich  später  berichten  wird,  schreibt  mir  über  den 
fraglichen  Punkt  Folgendes:  „Wir  haben  bei  allen  Hunden  fast  den 
gleichen  Befund  erheben  können.  Die  Rinde  ist  ganz  rein  abgeschält, 
aber  unter  den  Läsionen  befindet  sich  jedes  Mal,  bald  rechts,  bald 
links,  bald  doppelseitig  ein  Spalt,  der  mit  lockerem  Gewebe  erfüllt  ist, 
manchmal  auch  eine  Cyste,  und  dieser  geht  bis  dicht  an  den  Ventrikel 
heran.  Dabei  erreicht  er  immer  den  dorsalen  Abschnitt  der 
aus  dem  Hinterhauptslappen  zum  Thalamus  und  zum  Geni- 
culatum  laterale  ziehenden  Fasermengen.  Ich  lege  Ihnen  hier 
eine  Zeichnung  (s.  die  Tafel)  bei,  welche  das  besonders  schön  zeigt. 
Die  Rinde  in  der  Umgebung  der  Läsion  zeigt  immer  Blutpunkte  und 
kann  für  reichlich  1  cm  frontalwärts  keineswegs  als  intact  angesehen 
werden.  Ausserordentlich  flach  ist  immer  die  Abtragung,  so  dass 
gerade  immer  das  Marklager  erreicht  wird.  In  dieser  Beziehung  sind 
also  die  Operationen  ideal. 

So  bestätigt  sich  also  vollständig  Ihre  Vermuthung  von  der  Be- 
deutung der  Verletzung  für  das  Mark,  wenn  bei  so  kleinen,  vorsichtigen 
Operationen,  wie  sie  an  diesen  Hunden  vorlagen,  traumatische  Ver- 
änderungen bis  in  die  Sehstrahlung  eintreten,  dann  wird  es  wohl  den 
von  anderen  Forschern  operirten  Hunden  auch  nicht  besser  gegangen 
sein." 

Und  „ich  glaube,  man  könnte  irgendwo  in  der  occipitalen  Hälfte 
operiren,  man  müsste  immer  Sehstörung  bekommen,  weil  es  offenbar 
garnicht  möglich  ist  —  das  zeigen  ja  Ihre  flachen  Abtragungen  —  diese 
tiefen  Cysten  etc.  zu  vermeiden.  Die  aber  erreichen  bei  der  relativen 
Dünne  des  occipitalen  Markes  immer  dessen  Strahlung. 

Da  in  keinem  Falle  die  Rindenverletzung  grösser  war,  als  sich  aus 
Ihrer  nach  dem  Präparat  aufgenommenen  Schilderung  ergiebt  etc." 

An  der  Mehrzahl  der  Gehirne,  auf  die  Edinger  sich  hier  bezieht, 
waren  flache  Abtragungen  —  „auf  2 -3  mm  Tiefe"  —  vorgenommen 
worden.  Da  es  nun  schon  bei  diesen  zu  tief  greifenden  ungewollten 
Neben  Verletzungen    kommt,    wie    ich    das    seit  vielen  Jahren  weiss,    so 


—     554     — 

habe  ich,  wie  bereits  erwähnt,  vorgezogen,  bei  einer  grösseren  Zahl  von 
Versuchen  die  Rinde  gleich  bis  auf  den  Grund  der  Windungen  abzu- 
tragen, wenigstens  war  dann  der  Versuch  unzweideutig  und  ich  vor  dem 
richtig  von  mir  vorausgesehenen  Einwand,  dass  der  functionsfähig  ge- 
bliebene Grund  der  Windungen  steilengeblieben  sei,  gesichert.  Natür- 
lich entstehen  auf  diese  Weise  noch  grössere  Verwüstungen  als  die 
eben  geschilderten;  ich  verweise  in  dieser  Beziehung  einfach  auf  die 
von  mir  gegebenen  Abbildungen  von  Frontalschnitten.  Jedoch  schützt 
auch,  wie  wir  eben  gehört  haben,  die  Innehaltung  der  von  Mtink  vor- 
geschriebenen Grenze  von  2 — 3  mm  Tiefe  keineswegs  vor  solchen,  ins- 
besondere dann  nicht,  wenn  die  Abtragungen,  die  von  Munk  vorge- 
schriebene Flächenausdehnung  auf  eine  ganze  Hälfte  einer  Sehsphäre 
besitzen.  Man  vergleiche  hierzu  die  Abbildungen  zu  den  Beobb.  133, 
144  und  145,  bei  denen  die  vordere  Hälfte  der  Sehsphäre  abgetragen, 
die  hintere  Hälfte  aber  partiell  oder  gänzlich  mit  in  den  Defect  hinein- 
gezogen war.  Besonders  stark  treten  diese  Veränderungen  in  den  Ab- 
bildungen zu  den  Beobb.  112  und  115  mit  lateralen  Ausschaltungen 
hervor,  bei  deren  letzterer  die  directe  Verletzung  etwa  3 — 4  mm  tief 
reichte,  während  die  erstere  bis  auf  0,75  cm  in  die  Tiefe  drang.  Bei 
der  Beob.  149  war  die  directe  Läsion  wieder  oberflächlich  gewesen  und 
dennoch  war  das  ganze  dorsale  Mark  bis  an  den  Ventrikel  zerstört, 
während  der  hintere  Pol  bei  äusserer  Besichtigung  nicht  eingezogen 
erschien.  Oberflächlich  war  die  Läsion  auch  bei  den  Beobb.  147  und 
148  (orale  Hälfte)  gev^'esen.  Wie  bei  der  letztgedachten  Beobachtung 
war  das  dorsale  Mark,  obschon  noch  nicht  einmal  in  der  gleichen 
Ausdehnung  zerstört  und  dennoch  war  hier  die  caudale  Hälfte  der 
Sehsphäre  bei  Beob.  147  besonders  stark  in  ihrer  Mitte,  bei  Beob.  148 
besonders  stark  in  ihrem  medialen  Abschnitt  in  die  Vernichtung  mit 
hineingezogen  worden. 

Es  ist  ganz  klar,  dass  man,  mag  man  operiren  wie  man  will,  die 
Ausdehnung  des  Eingriffes  nicht  in  der  Hand  hat.  Bei  grösserer 
Flächen ausdehnung  der  Läsion  nehmen  auch  die  secundären  Zerstörungen 
in  der  Tiefe  an  Umfang  zu.  Dadurch  werden  Markstrahlungen  zu  ent- 
fernten Windungen  unterbrochen,  sie  degeneriren  und  nach  Maassgabe 
dieses  Processes  legen  sich  immer  mehr  und  mehr  Nachbartheile  in  die 
Hirnlücke  hinein,  sodass  es  eben  zu  solchen  allgemeinen  oder  partiellen 
Retractionen  einzelner  Abschnitte  kommt,  wie  sie  die  von  mir  ange- 
führten und  zahlreiche  andere  Abbildungen  zeigen.  Wer  vermag  aber 
im  Einzelfalle  ohne  Untersuchung  durch  Schnittserien  zu  übersehen  und 
vorauszusagen,  welche  Abschnitte  der  Sehstrahlung  auf  diese  Weise  zu 
Grunde  gegangen  sind! 


—     555     — 

Von  allen  diesen  grundlegenden  Verhältnissen  linden  wir  Ijoi  Muiik 
kein  Wort.  Sie  sind  auch  mit  seiner  Lehre  unvereinbar.  Ks  kann  sich 
also  nur  fragen,  ob  er  sie  nicht  gekajint  oder  sich  ihre  Bedeutung  nicht 
klar  gemacht  hat  und  damit  blind  in  die  gröbsten  Schlingen  gegangen 
ist,  oder  ob  er  sie  nicht  hat  sehen  wollen. 

Ich  schliesse  hieran  noch  einige  Bemerkungen  über  die  anderwei- 
tigen anatomischen  Verhältnisse  unserer  Beobachtungen.  Die  Hirnnarbe 
und  die  ihr  aufsitzende  narbige  Auflagerung  ist  in  der  Regel  vor  dem 
Photographiren  mit  einer  Anilinfarbe  gefärbt  worden,  um  ihre  Abgren- 
zung von  dem  umgebenden  Gewebe  besser  hervortreten  zu  lassen.  Üiese 
Farbe  dringt  auch,  wenn  hinlängliche  Mengen  aufgetragen  sind,  in  die 
Tiefe  der  Hirnnarbe  ein,  färbt  aber  das  umgebende  Hirngewebe  niclit 
mit,  so  dass  auf  der  Platte  ein  sehr  genaues  Bild  der  auf  dem  Quer- 
schnitt angerichteten  Zerstörung  erscheint. 

Die  Herstellung  der  Photographien  ist  und  konnte  auch  leider  mit 
Rücksicht  auf  die  Perspective  nicht  immer  nach  denselben  Gesichts- 
punkten erfolgen,  da  die  Absicht,  die  Narbe  selbst  möglichst  genau  zur 
Anschauung  zu  bringen,  im  Vordergrunde  stehen  musste.  Auf  diese 
Weise  erscheint  deren  Verhältniss  zam  hinteren  oder  medialen  Rand 
nicht  selten  unrichtig,  die  Zwischenräume  perspectivisch  verkürzt.  In- 
dessen ergaben  sich  auch  an  den  Präparaten  selbst  überaus  zahlreiche, 
ich  möchte  sagen,  regelmässig  Differenzen  zwischen  den  bei  der  Opera- 
tion eingehaltenen  und  bei  der  Section  ermittelten  Maassen,  die  auf 
verschiedene  Umstände  zurückzuführen  sind.  Alle  diese  Maasse  sind 
am  Schädel,  der  Knochenlücke  und  am  Präparat  mit  einem  spitzen 
Zirkel  abgegriffen  worden  und  die  Umschneidung  bezw.  Umstechung  der 
auszuschaltenden  Partie  hat  an  den  Rändern  der  Knochenlücke  bezw. 
der  Dura  stattgefunden,  so  dass  ein  Irrthum  in  dieser  Beziehung  nicht 
möglich  ist.  Dagegen  sind  einige  Irrthümer  in  der  beabsichtigten  Loca- 
lisation  der  Eingriffe  durch  folgende  Umstände  bedingt  worden.  Viel- 
fach sind  die  Maasse  von  der  Höhe  der  Lambdanaht  aus  genommen 
worden.  Da  sich  auf  dieser  nun  meistens  ein  Knochenwulst  von  sehr 
verschiedener  Mächtigkeit  befindet,  kann  man  sich  über  die  Grösse  des 
sagittalen  Durchmessers  des  abgegriffenen  Knochenstückes  leicht  täuschen. 
Man  niisst  deshalb  besser  vom  vorderen  Rande  der  Naht.  Jedoch  sind 
auch  dann  noch  Täuschungen  möglich,  weil  der  Sinus  transversus  bald 
mehr  vor,  bald  mehr  unter  der  Naht  liegt,  oder  weil  diese  Naht  sich 
in  ihrem  lateralen  Theile  bald  mehr,  bald  weniger  nach  hinten  krümmt. 
Aus  ähnlichen  Gründen  können  Irrthümer  auch  an  der  medialen  Grenze 
entstehen.     Und  endlich  kommen    hier  die  individuellen  Abweichungen 


—     556     — 

in  der  Configuration  des  Gehirns  selbst,  auf  die  ich  schon  in  meinen 
ersten  Arbeiten  aufmerksam  gemacht  habe,  in  Betracht. 

Andere  Differenzen  werden  durch  die  Art  des  Eingriffs,  die  Art 
und  die  Zeit  des  Heilungsprocesses  bedingt.  Im  Allgemeinen  erscheint 
die  Narbe  eines  grossen  Eingriffes  natürlich  grösser  als  die  eines  kleinen, 
indessen  ist  das  Verhältniss  zwischen  der  Grösse  des  Eingriffes  und  der 
Narbe  keineswegs  constant.  Man  wird  auf  Querschnitten  nicht  selten 
ganz  kleinen  Narben  begegnen,  während  die  Ausschaltung  sich  gleich- 
wohl über  mehrere  Windungen  erstreckte.  In  diesem  Falle  hat  die 
Narbe  sich  also  retrahirt  und  entsprechend  erscheint  auch  die  corticale 
Auflagerung  kleiner.  In  anderen  Fällen  erscheint  die  letztere  aber  nach 
der  einen  und  der  anderen  Richtung  hin  grösser,  wenn  die  Narben- 
bildung sich  z.  B.  unter  ein  der  Schädeldecke  beraubtes  Stück  Dura 
oder  auf  ein  in  Folge  der  Vernarbung  eingesunkenes  Stück  Gehirn  hat 
vorschieben  können.  Besonders  auffällig  wirkt  es,  wenn  man  auf  einem 
Frontalschnitt,  der  einer  Steile  entspricht,  an  welcher  man  ein  com- 
pactes Stück  Gehirn  entfernt  hat,  einen  auf  den  ersten  Anblick  nicht 
gröblich  verletzten  Gyrus  antrifft,  wie  z.  B.  auf  dem  hinteren  Durch- 
schnitt zu  Beobachtung  135.  Hier  hatte  sich  das  hinter  der  Lücke 
befindliche  Stück  Gyrus,  dessen  Markstrahlung  verloren  gegangen  war, 
in  die  Lücke  hineingelegt.  So  gewann  es  den  Anschein,  als  ob  die 
Auflagerung  der  Convexität  nur  aufsitze.  Natürlich  können  auf  diese 
Weise  wieder  allerhand  Complicationen  entstehen.  Nicht  immer  liegen 
die  Verhältnisse  so  klar  wie  in  dem  angführten  Falle.  Mit  Bezug  hier- 
auf hat  mir  Herr  Edinger  auf  meine  Anfrage  berichtet,  dass  bei  den 
von  ihm  untersuchten  Gehirnen  die  unter  der  Auflagerung  gelegene 
Rinde,  auch  wenn  sie  makroskopisch  nicht  hochgradig  verändert  er- 
schien, sich  mikroskopisch  doch  als  Narbengewebe  oder  nur  aus  Glia 
bestehend  erwies.  Aehnliche  Verhältnisse  liegen  unzweifelhaft  in  den- 
jenigen Fällen  vor,  bei  denen  ich  von  der  Hirnwunde  aus  medial  mit 
dem  Spatel  und  dem  Löfl^el  so  weit  vordrang,  bis  ich  den  Widerstand 
der  Falx  fühlte,  dann  das  über  dem  Instrument  liegende  Stück  Gehirn 
herausholte  und  zerstörte  und  dann  gleichwohl  auf  dem  Frontalschnitt 
einen  scheinbar  intacten  Randwulst  vorfand.  Auch  hier  hatte  sich 
offenbar  die  hinter  oder  vor  dem  Durchschnitt  liegende  Partie  in  die 
-gesetzte  Lücke  hineingelegt. 

Ich  habe  alle  diese  Umstände  dargelegt,  weil  ich  nach  der  zur 
Genüge  bekannten  Kampfweise  von  Munk  darauf  gefasst  sein  muss, 
dass  er,  der  die  gesammlen  Umstände  und  den  Verlauf  auch  nicht 
einer  einzigen  Beobachtung  beschrieben  hat  und  sich  mit  seinen  An- 
gaben   somit    in    ein  undurchdringliches  Dunkel    hüllt,    sich  gegenüber 


-      557     — 

der  vernichtenden  Wucht  der  gegen  ihn  sprecheiulcii  Th;it.s:iclieii  durun 
klammert,  dass  bei  dieser  oder  jener  Operation  ein  Stückchen  Rinde 
stehen  geblieben,  oder  diese  oder  jene  Operation  nicht  nach  seinen 
Wünschen  ausgeführt  sei.  Ich  habe  jede  einzelne  meiner  Beobachtungen 
mit  sehr  kritischen  Augen  betrachtet  und  sie  da,  wo  sie  einen  Punkt 
unentschieden  Hess,  durch  andere  Beobachtungen  ergänzt,  so  dass  ich 
jeder  beliebigen  Art  von  Kritik  mit  Seelenruhe  entgegensehen  darf. 
Indessen  sind  diese  Darlegungen  auch,  abgesehen  hiervon,  für  den 
objectiv  urtheilenden  Leser  und  ganz  besonders  für  Nacharbeiter  nicht 
ohne  Interesse. 

Eine  Projection  in  dem  Sinne,  dass  bestimmte  Elemente 
oder  Abschnitte  der  Retina  nur  vermittelst  bestimmter 
Elemente  oder  Abschnitte  des  Cortex  sehen  könnten,  existirt 
also,  wie  sich  gezeigt  hat,  nicht.  Es  wäre  aber  möglich,  dass 
eine  Art  von  Projection  in  dem  Sinne  stattfände,  dass  die  von  den 
einzelnen  Abschnitten  der  Retina  zuströmenden  Lichtreize  gesetz- 
mässig  zu  bestimmten  Abschnitten  des  Cortex  geleitet  würden,  dass 
diese  Abschnitte  des  Cortex  aber  nach  ihrer  Eliminirung  durch  andere 
Abschnitte  vertreten  werden  könnten.  In  diesem  Falle  würde  zwar 
gesetzmässig  Blindheit  correspondirender  Netzhautabschnitte  entstehen, 
aber  es  würde  das  eben  nur  eine  vorübergehende,  keine  Rindenblindheit 
sein.  V.  Monakow  hat  eine  solche  Ansicht  ausgesprochen,  auf  die  ich 
alsbald  eingehen  werde.  Zuvor  wollen  wir  jedoch  sehen,  was  uns  das 
eigene  angehäufte  Material  lehrt.  Wir  können  dabei,  auch  wenn  die 
gedachte  Voraussetzung  zuträfe,  wie  ich  wiederhole,  nicht  darauf 
rechnen,  dass  der  vorübergehende  Gesichtsfelddefect  jederzeit  die 
schematisch  vorgeschriebene  Figur  darstelle;  denn  die  Hirndefecte 
lassen  sich  eben  nicht  in  der  dazu  erforderlichen  Weise  abgrenzen,  und 
ferner  verändert  der  beschriebene  Decursus  der  Sehstörung  fast  täglich 
etwas  an  dem  Aussehen  des  Gesichtsfeldes.  Aber  unter  allen  Um- 
ständen müsste  unter  der  angenommenen  Voraussetzung  der 
fragliche  Theil  des  Gesichtsfeldes  von  Anfang  an  ganz  oder 
zu  dem  entsprechenden  Theile  in  die  Figur  des  Scotoms 
hineingezogen  sein  und  darin  entsprechend  seiner  relativen 
Grösse  bis  zum  gänzlichen  Ablauf  der  Sehstörung  verharren 

Fassen  wir  von  diesem  Standpunkte  aus  zunächst  wieder  die  sechs 
Beobachtungen  mit  residuärer  Blindheit  bei  Abschluss  der  Beobachtung 
ins  Auge,  so  haben  aus  dieser  Zahl  die  beiden  Beobb.  145  und  149 
deshalb  auszuscheiden,  weil  eine  homonyme  bilaterale  Hemianopsie 
zurückblieb.  Obschon  beide  Male  nur  der  A^ordere  Theil  der  Sehsphäre 
ausgeschaltet    war,    musste    nämlich    nach    Lage    der  Sache    doch    an- 


—     558     — 

genommen  werden,  dass  die  ganze  Sehstrahlung  unterbrochen  war.  Bei 
den  Beobb.  97  und  112  bestand  die  residuäre  Sehstörung  in  einem 
oberen  lateralen  Fleck,  der  von  Anfang  an  blind  war.  Da  die  Aus- 
schaltung in  beiden  Fällen  den  hinteren  Pol  ganz  oder  grösstentheils 
in  sich  schloss,  so  sprechen  jene  Beobachtungen  insoweit  wenigstens 
nicht  gegen  jene  Voraussetzung,  obschon  die  fragliche  Stelle  bei 
Läsionen  von  sehr  verschiedener  Localisation,  hauptsächlich  und  am 
längsten  geschädigt  zu  sein  pflegt.  Dagegen  entsprach  die  anderweitige 
Localisation  der  Sehstörung  bei  der  Beob.  112  nicht  der  Localisation 
der  Verletzung,  sondern  sie  widersprach  ihr  (vgl.  Resume  zu  Beob.  112). 
Bei  der  Beob.  115  wurden  die  unteren  medialen  Theile  beider  Gesichts- 
felder zuerst  wieder  sehend,  und  nur  sie  erlangten  überhaupt  das 
Sehvermögen  wieder,  während  gerade  sie  dauernd  rindenblind  hätten 
sein  sollen.  Bei  der  Beob.  125  lässt  sich  die  Sehstörung  des  gegen- 
überliegenden Auges  mit  jener  Annahme  vereinigen,  die  Sehstörung 
des  gleichseitigen  jedoch  nur  insoweit,  als  nur  der  obere  Theil  des 
Streifens  hätte  rindenblind  sein  dürfen,  während  der  ganze  mediale 
Streifen  gleichmässig  geschädigt  erschien. 

Die  20  auf  S.  545  f.  erwähnten  Beobachtungen,  bei  denen  gar 
keine  Sehstörung  zu  beobachten  war,  einschliesslich  der  a.  a.  0.  dazu 
gerechneten  Beobachtungen,  stehen  gleichfalls  im  Widerspruch  mit  jener 
Voraussetzung. 

Die  typischen  centralen  Läsionen  verliefen  in  der  Regel  als 
typische  Hemianopsien.  Die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  war  deshalb 
in  der  Regel  an  der  Sehstörung  zunächst  mitbetheiligt,  sie  war  es 
aber  nicht  vorwiegend  und  vornehmlich  nicht  bis  zu  Ende,  sondern  sie 
ei'langte  im  Gegentheil  mit  zuerst  ihre  Sehkraft  wieder.  Man  könnte 
also  die  Mehrzahl  dieser  Operationen  als  direct  gegen  die  fragliche 
Annahme  sprechend  anführen.  Sehen  wir  jedoch  von  der  Betheiligung 
der  Stelle  des  deutlichen  Sehens  ab,  so  bleiben  folgende  Beobachtungen 
zu  erwähnen.  Bei  der  Beob.  65  entsprach  die  stärkere  Betheiligung 
des  oberen  lateralen  Quadranten  des  gegenüberliegenden  Auges  der 
stärkeren  Betheiligung  des  hinteren  Pols,  während  die  Betheiligung  des 
gleichseitigen  Gesichtsfeldes  der  Voraussetzung  widersprach.  Anderer- 
seits zeigen  die  Gesichtsfelder  der  Beobb.  66  und  68  ganz  ähnliche 
Bilder  wie  die  Beob.  65,  ohne  dass  jene  stärkere  Betheiligung  des 
hinteren  Pols  vorlag.  Endlich  ist  die  mehrerwähnte  Beob.  75  insofern 
als  für  die  Voraussetzung  sprechend  anzuführen,  als  nicht  nur  die 
ganz  ausnahmsweise  stärkere  Betheiligung  der  Stelle  des  deutlichen 
Sehens,  sondern  auch  die  seltene  vorwiegende  Betheiligung  des  unteren 
lateralen    Quadranten,     ja    sogar    die    vorwiegende    Betheiligung     des 


—     559     — 

mittleren  Theiles  des  gleichseitigen  nasalen  Streifens  entsprechend  der 
Localisation  der  Liision  vorlag.  Geradezu  ein  Musterhund;  hjider  ist 
es  der  einzige  seiner  Art! 

Von  den  atypischen  centralen  Läsionen  gilt  sowohl  rücksicht- 
lich der  Form,  sowie  des  Verlaufes  des  Scotoms,  als  rücksichtlich  der 
Betheiligung  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens  im  Allgemeinen  dasselbe, 
was  von  den  typischen  Operationen  gesagt  ist;  jedoch  spricht  der 
Verlauf  des  Scotoms  in  seiner  Beziehung  zu  der  Ausschaltung  in  viel 
mehr  Fällen  direct  gegen  die  fragliche  Voraussetzung.  Insbesondere 
wurde  in  keinem  einzigen  Falle  eine  stärkere  Betheiligung  des  unteren 
äusseren  Quadranten  gefunden,  obwohl  die  Läsion  wiederholt  den  oralen 
Abschnitt  der  Sehsphäre  neben  der  Stelle  A^  in  sich  schloss.  Nament- 
lich fand  sich  bei  den  Beobb.  91  und  94,  bei  denen  der  hintere  Ab- 
schnitt der  Sehsphäre  stehen  gelassen  worden  war,  in  directem  Wider- 
spruch zu  der  Voraussetzung  das  Scotom  vornehmlich  in  den  oberen 
Theilen  des  Gesichtsfeldes  localisirt,  während  dessen  untere  Abschnitte 
verhältnissmässig  früh  frei  wurden.  Jedoch  stehen  auch  die  Resultate 
der  Beobb.  92,  96  und  98,  wegen  deren  ich  auf  die  Resumes  verweise, 
nicht  im  Einklang  mit  der  Hypothese. 

Bezüglich  der  atypischen  lateralen  Läsionen  verweise  ich 
auf  das  auf  S.  400  f.  zusammenfassend  Gesagte.  Es  geht  daraus  her- 
vor, dass  alle  diese  Resultate  im  Widerspruch  mit  der  Voraussetzung 
stehen. 

Ebenso  verweise  ich  bezüglich  der  typischen  lateralen 
Läsionen  auf  die  entsprechenden  Zusammenfassungen  auf  S.  418  ff. 
Es  erhellt  aus  ihnen,  dass  die  Sehstörung  des  gleichnamigen  Auges, 
wo  sie  überhaupt  vorhanden  war,  schneller  ablief,  als  die  des  gegen- 
überliegenden Auges,  während  eine  ausschliessliche  Betheiligung  des 
lateralen  Streifens  der  medialen  Hälfte  dieses  Auges  in  keinem  einzigen 
Falle  in  die  Erscheinung  ti'at.  Diese  Beobachtungen  sprechen  also 
sämmtlich  gegen  die  Hypothese,  insbesondere  gegen  eine  auch  nur 
relative  Projection  des  lateralen  Abschnittes  der  Retina  auf  die  gleich- 
namige Hemisphäre. 

Die  medialen  Läsionen  ergeben  gleichfalls  nichts  für,  dagegen 
viel  gegen  die  Annahme  Sprechendes.  Aus  den  Resumes  S.  434  ff.  hebe 
ich  nur  das  Resultat  der  Beob.  119  hervor,  bei  der  die  Sehstörung  des 
gegenüberliegenden  Auges,  welche  hätte  vorhanden  sein  sollen,  fehlte, 
während  die  auf  dem  medialen  Streifen  des  gleichseitigen  Auges  vor- 
übergehend nachweisbare  Sehstörung  hätte  fehlen  sollen. 

Bei  den  caudalen  Operationen  ist  die  Sachlage  anders.  Was 
zunächst  die  typischen  Operationen  angeht,  so  ergiebt  sich,    dass  bei 


—     560     — 

den  noch  in  Betracht  kommenden  Beobachtungen  das  gegenüberliegende 
Auge  —  von  dem  gleichseitigen  wollen  wir  absehen  —  thatsächlich 
vorwiegend,  wenn  auch  nicht  ausschliesslich  hi  der  oberen  Hälfte  seines 
Gesichtsfeldes  geschädigt  war.  Von  den  atypischen  Operationen 
(vgl.  S.  474  ff.)  spricht  die  Beob.  131,  bei  der  statt  eines  oberen  ein 
laterales  Scotom  in  die  Erscheinung  trat,  gegen  die  Hypothese,  die 
Beob.  129,  welche  entsprechend  einer  ausgedehnten  Ausschaltung  eine 
typische  Hemianopsie  erkennen  liess,  spricht  mindestens  nicht  dagegen, 
die  anderen  Beobb.  126,  127,  128  und  130  sprechen  aber  mit  ihrer 
vorwiegenden  Betbeiligung  der  oberen  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  bei  — 
wie  noch  besonders  erwähnt  zu  werden  verdient  —  relativ  geringer 
Betheiligung  des  lateralen  Streifens  für  dieselbe. 

Die  oralen  Läsionen  habe  ich  bereits  im  Sinne  der  jetzt  dis- 
cutirten  Hypothese  in  typische  und  atypische  Beobachtungen  eingetheilt 
(vergl.  S.  476  ff.),  sodass  hier  nur  anzuführen  bleibt,  dass  8  von 
ihnen  für  diese  und  12  gegen  sie  sprechen.  Unter  den  letzteren  be- 
finden sich  nicht  nur  solche  mit  typisch  ablaufender  Hemianopsie, 
sondern  (Beob.  151,  154  und  155)  auch  solche,  bei  denen  die 
untere  Gesichtsfeldhälfte  in  exquisiter  Weise  verschont  blieb,  während 
die  obere  Gesichtsfeldhälfte  in  hohem  Grade  geschädigt  war,  obwohl 
über  die  Localisation  der  Zerstörung  in  der  oralen  Hälfte  der  Seh- 
sphäre kein  Zweifel  bestehen  konnte.  Alle  drei  Beobachtungen  be- 
ziehen sich  übrigens  auf  zweite  Operationen. 

Andererseits  habe  ich  unter  den  typischen  Beobachtungen  unter 
Berücksichtigung  des  Umstandes,  dass  das  operative  Resultat  durch 
Nebenverletzungen  und  Fernewirkungen  zeitweise  verdunkelt  werden 
kann,  auch  solche  Beobachtungen  angeführt,  bei  denen  die  stärkere 
Betheiligung  der  unteren  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  nur  die  kürzeste 
Zeit,  sei  es  auch  nur  einen  Tag,  in  die  Erscheinung  trat.  Alle  diese 
Beobachtungen  beziehen  sich  übrigens  auf  erste  Operationen  mit  Aus- 
nahme der  Beob.  140,  bei  der  die  Läsion  asymmetrisch  sass. 

Fassen  wir  die  im  Einzelnen  discutirten  Resultate  kurz  zusammen, 
so  ergiebt  sich,  dass  von  den  91  Beobachtungen,  insoweit  sie  überhaupt 
für  die  gestellte  Frage  verwerthbar  sind,  16  dafür  und  59  dagegen 
sprechen.  Nehmen  wir  aber  auch  an,  dass  aus  jenen  59  alle  Beob- 
achtungen, die  irgend  einen  Zweifel  zulassen,  ausgeschieden  und  diese 
sowie  alle  Beobachtungen,  die  sich  weder  nach  der  einen  noch  nach 
der  anderen  Richtung  hin  mit  Bestimmtheit  verwerthen  lassen,  den  für 
die  Hypothese  sprechenden  zuzurechnen  seien,  so  würde  immer  noch 
eine  Majorität  von  gegen  sie  sprechenden  Beobachtungen  übrig  bleiben. 
Von    einer    solchen    Gesetzmässigkeit     in    den     Beziehungen 


—     561     — 

zwischen  Retina  und  Cortex,  wie  sie  die  Grundlage  jener 
Voraussetzung  v.  Monakow's  bildet,  kann  also  nicht  die 
Rede  sein.  M^ohl  aber  ist  anzuerkennen,  dass  die  temporäre 
Blindheit  der  unteren  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  ausschliess- 
lich auf  Läsionen  der  vorderen  Hälfte  der  Sehsphäre  folgt, 
und  dass  Läsionen  des  hinteren  Abschnittes  der  Sehsphäre 
öfter  Scotome  in  dem  oberen  Segment  des  Gesichtsfeldes 
unter  Schonung  des  sonst  fast  regelmässig  betheiligten  late- 
ralen Segments  zur  Folge  haben. 

Sehen  wir  uns  nunmehr  die  Feststellungen  v.  Monakow's  über 
die  bisher  beleuchteten  Punkte  und  die  Hypothese  näher  an,  ver- 
mittelst deren  er  die  sich  überall  aufdrängenden  anatomischen  und 
physiologischen  Widersprüche  wenigstens  einigermaassen  mit  den  Be- 
hauptungen Munk's  zu  vereinbaren  sucht,  indem  wir  damit  gleich- 
zeitig die  Resultate,  welche  Bernheim  er  aus  seinen  anatomischen 
und    experimentellen    Untersuchungen    geschöpft  hat,    zusammenhalten! 

Ueber  die  Congruenz   der  Stelle  Ai^    mit  der  Stelle    des  deutlichen 

Sehens  äussert  sich  v.  Monakow   wie  folgt:  ., Diese  und  andere 

(auch  eigene)  Beobachtungen  hatten  mich  zu  der  Annahme  geführt,  dass 
die  Stelle  des  deutlichsten  Sehens  überhaupt  nicht  in    einer    engen 

corticalen  Zone   repräsentirt  sein  könne.  —  • Bei  der  indirecten 

Repräsentation  der  Macula  in  der  Rinde  muss  vielmehr  dem  Umstände 
Rechnung  getragen  werden,  dass  die  einzelnen  Punkte  der  Stelle  des 
deutlichsten  Sehens,  ihren  weittragenden  Aufgaben  entsprechend,  in 
möglichst  reicher  und  ausgedehnter  Weise  mit  der  Masse 
der  occipitalen  Rindenoberfläche,  weniger  aber  mit  ganz 
distincten  Stellen  der  letzteren  in  enge  Verbindung  treten"^). 

Genau    auf    demselben  Standpunkt    steht   Bernheimer^).       Ueber 


1)  Ich  citire  zwar  hier  und  in  dem  Folgenden  nach  v.  Monakow  „Ueber 
den  gegenwärtigen  Stand  der  Frage  nach  der  Localisation  im  Grosshirn.  Er- 
gebnisse der  Physiologie.  Erster  Jahrgang"  und  nach  meinem  dazugehörigen 
Aufsatz  „Einige  Bemerkungen  zu  der  Arbeit  C.  v.  Monakow's  etc.  Dieses 
Arch.  Bd.  36.  H.  3";  es  ist  aber  nicht  ohne  Interesse,  dass  v.  Monakow 
die  gleichen  Ansichten  schon  seit  einer  Reihe  von  Jahren  ausgesprochen  und 
durch  neue  Untersuchungen  immer  und  immer  wieder  bestätigt  hat,  ohne  dass 
Munk  sich  je  zu  einer  Rectificirung  seiner  Behauptungen  bewogen  gefunden 
hätte.  Zuerst  finde  ich  die  hier  erwähnte  Ansicht  (Archiv  für  Psychiatrie.  1892. 
Bd.  XXIV.    H.  1.   S.  91,  92)  ausgesprochen. 

2)  St.  Bernheim  er,  Anatomische  und  experimentelle  Untersuchungen' 
über  die  corticalen  Sehcentren.    Xlin.  Monatsblätter  f.  Augenheilk.    1900  und 

Hitzig  ,  Gesammelte  Abhanrtl.    II.  Theü.  ■  36 


—     562     — 

die  Zugehörigkeit  der  lateralen  Parthie  der  Sehsphäre  zu  der  late- 
ralen Parthie  der  Netzhaut  des  gleichseitigen  Auges  heisst  es  bei 
V.  Monakow  a.  a.  0.:  „Munk  hat  meines  Wissens  in  der  weiteren 
Folge  seiner  Untersuchungen  an  der  Lehre,  dass  das  laterale  dem  un- 
gekreuzten  N.-opt.  Bündel  entsprechende  Retinafeld  ausschliesslich  der 
lateralen  Parthie  seiner  Sehsphäre  angehöre,  nicht  mehr  festgehalten." 
Diese  Aeiisserung  v.  Monakow's  habe  ich  nicht  ohne  einige  Ver- 
wunderung gelesen.  Es  konnte  ihm  doch  unmöglich  entgehen,  dass 
die  ganze  Lehre  Munk's  von  der  Projection  der  Netzhäute  auf  die 
Rinde,  sogar  in  den  Augen  Munk's  in  sich  zusammenstürzen  musste, 
sobald  er  ihre  Anwendbarkeit  auf  den  lateralen  Abschnitt  des  Occi- 
pitalhirns  oder  einen  beliebigen  anderen  Abschnitt  desselben  nicht  mehr 
aufrecht  hielt.  Thatsächlich  hat  Munk  aber  nichts  von  dem,  was  er 
einmal  gesagt  hatte,  in  klarer  und  unzweideutiger  Weise  widerrufen 
oder  sonst  zu  erkennen  gegeben,  dass  er  irgend  etwas  Nennenswerthes 
davon  nicht  mehr  aufrecht  halte.  Wäre  dies  aber  geschehen,  so 
würde  sich  v.  Monakow  eines  so  erstaunlichen  Ereignisses  sicherlich 
genau  erinnern  und  die  Quelle  anzugeben  wissen.  Jedenfalls  geht 
aus  dem  Gesagten  hervor,  dass  er  auch  in  diesem  Punkte  der  Ansicht 
Munk's  nicht  ist." 

Zu  den  gleichen  Resultaten  wie  rücksichtlich  der  Beziehungen  der 
Stelle  Ai  und  der  lateralen  Parthie  der  Sehsphäre  zur  Retina  gelangt 
v.  Monakow  aber  consequenter  Weise  auch  bezüglich  aller  anderen 
Theile  der  Sehsphäre.  Diese  Auffassung  gipfelt  bereits  in  folgender 
charakteristischen  Aeusserung  aus  dem  Jahre  1892:  „Zur  Erklärung 
all  dieser  Widersprüche  müsste  man  womöglich  für  jeden  ein- 
zelnen Fall  eine  besondere  Art  der  Projection  der  Netzhaut  auf  die 
Sehsphäre  annehmen,  und  selbst  dann  wäre  es  noch  keine  leichte  Auf- 
gabe, die  Verhältnisse  so  zu  construiren,  dass  Alles  stimmen  würde." 
(a.  a.  0.     Bd.  XXIV.     H.  I.     S.  86.) 

V.  Monakow  und  Bernheimer  kommen  hiernach  zu  der  über- 
einstimmenden, entschiedenen,  zuerst  von  dem  ersteren  ausgesprochenen 
Ansicht,  dass  alle  Theile  der  Retina,  insbesondere  aber  die 
Macula,  durch  Vermittelung  der  primären  Opticuscentreu 
mit  allen  Theilen  der  Sehrinde  in  Verbindung  treten  können. 
Wenn  wir  von  der  Frage  der  Restitution  sprechen,  werden  wir  den 
vorausgesetzten    anatomischen    Mechanismus    dieser   Function    erörtern. 

Dagegen  gehen  ihre  Ansichten    mit  Bezug    auf  eine    relative  in- 


Dio  Wurzelgebiete  der  Augennerven  etc.      Handbuch  d.  Augenheilk.     2.  Aufl- 
Bd.  1.   S.  100  des  Sep.-Abdr. 


—     563     — 

directe  Projection,  welche  v.  Monakow  annehiruiii  zu  dürfen 
glaubt,  auseinander.  Letztereri)  meint,  „es  sei  nicht  daran  zu  zweiCehi, 
dass  die  verschiedenen  Quadranten  der  Retina  bei  den  höheren  Säugern 
zu  bestimmten  Abschnitten  der  Sehsphäre  in  viel  engeren  Be- 
ziehungen stehen  als  zu  anderen."  Diese  Projection  muss  seiner 
Ansicht  nach  „in  dem  Sinne  vorhanden  sein,  dass  die  von  Jugend  an 
für  Reizaufnahme  aus  einer  bestimmten  Richtung  benutzten  Wege  resp. 
Abschnitte  im  Corpus  gen.  ext.  und  dann  auch  in  der  Seh- 
sphäre auch  später  noch  vor  allen  anderen  bevorzugt 
werden.  So  bilden  sich  relativ  feste  Innervationswege  in 
ganz  bestimmten  Richtungen  und  im  Sinne  der  raschesten  Beförderung 
in  der  Richtung  des  geringsten  Widerstandes."  Bernheimer^)  ist 
dagegen  der  Ansicht,  dass  in  der  topographischen  Projection  auf  das 
Corpus  gen.  keine  unbedingte  Regelmässigkeit  bestehe.  Jedenfalls  sei 
sie  bei  höheren  Säugethieren  (Affen)  und  beim  Menschen  keine  be- 
stimmte und  vermuthlich  eine  individuell  verschiedene. 

V.  Monakow  hat  sich,  abgesehen  von  den  Angaben  M  unk 's, 
durch  einige  klinische  Beobachtungen  von  Henschen,  welche  mit 
Bezug  auf  die  vorderen  und  caudalen  Abschnitte  jene  Angaben  zu 
stützen  schienen,  ferner  durch  einen  Versuch  Schäfer's,  der  nach 
einer  caudalen  Exstirpation  beim  Affen  das  untere  Segment  des  Ge- 
sichtsfeldes noch  sehend  fand  und  endlich  durch  die  bei  Faradisirung 
der  einzelnen  Abschnitte  der  Sehsphäre  auftretenden  Augenbeweguugen 
leiten  lassen. 

Zwingend  sind  diese  Beweise  einstweilen  keineswegs.  Die  klini- 
schen Beobachtungen  am  Menschen  führten  Bernheimer  zu  dem  ent- 
gegengesetzten Resultate  wie  Henschen.  Das  eine  positive  Resultat, 
zu  dem  Schäfer  beim  Aifen  gelangte,  könnte  zwar  an  seiner  an  und 
für  sich  geringen  Beweiskraft  durch  meine  vorstehend  mitgetheilten 
Beobachtungen  zu  gewinnen  scheinen.  Denn  meines  Wissens  hat  bisher 
Niemand  eine  so  grosse  Zahl  von  experimentell  auf  die  obere  und 
namentlich  auf  die  untere  Gesichtsfeld hälfte  localisirten  Scotomen  nach- 
gewiesen. Diesen  bestätigenden  Resultaten  steht  aber  jene  immense 
Majorität  von  widersprechenden  Resultaten  gegenüber. 

Die  Beziehungen  der  durch  occipitale  Reizung  hervorgebrachten 
Augenbewegungen  zu  der  Projectionslehre,  auf  die  ich  im  Einzelnen 
nicht  eingehen  kann,  sind  bisher  nichts  weniger  als  klar.  Nachdem 
bereits  Tamburini  und  Sepilli  einen  Theil  dieser  Bewegungen  richtig 


1)  V.  Monakow,  Ergebnisse  S.  656 f.  und  660. 

2)  St.  Bernheimer,  Die  Wurzelgebiete  etc.    a.  a.  0.   Kap.  VI. 

36* 


—     564     — 

beschrieben  hatten  und  Schäfer,  der  sie  eingehend  studirte,  die  Auf- 
merksamkeit wieder  darauf  gelenkt  hatte,  waren  sie  schon  von  Danillo, 
Bechterew  und  P.  Rosenbach  zum  Gegenstand  besonderer  Arbeiten 
gemacht  worden,  als  H.  Munk^)  diese  Untersuchungen  nach  den  von 
diesen  Autoren  angegebenen  Methoden  wiederholte  und  ihre  Resultate 
als  eine  Bestätigung  seiner  Projectionslehre  für  sich  in  Anspruch  nahm. 
Im  Wesentlichen  ergiebt  sich  als  die  Ansicht  dieses  Forschers,  der 
meisten  seiner  Vorgänger  und  auch  des  neuesten  Arbeiters  auf  diesem 
Gebiete  Berger 's  2),  dass  die  meist  conjugirten  Augenbewegungen, 
welche  je  nach  dem  Orte  der  Reizung  nach  der  gegenüberliegenden 
Seite,  nach  oben,  nach  unten  etc.  auftreten,  als  Folgen  subjectiver 
Lichtempfindungen,  denen  das  Auge  folgt,  aufzufassen  sind,  und  dass 
sie  ihren  Weg  nicht  auf  einem  associatorischen  Umwege  über  das 
Frontalhirn,  sondern  direct  nach  den  subcorticalen  motorischen  Augen- 
muskelcentren nehmen.  Nun  findet  sich  n.  A.  aber,  dass  Munk  durch 
jene  Reizversuche  von  Neuem  den  Nachweis  für  die  Coordination  der 
Stelle  Ai  zu  der  Macula  und  des  lateralen  Drittels  der  Sehsphäre  zu 
der  gleichnamigen  Retina  führt,  obwohl  die  Stelle  A^  sicherlich  allen 
anderen  Regionen  eher  als  der  Macula  coordinirt  ist  und  obwohl  Munk 
an  die  Zugehörigkeit  des  lateralen  Drittels  der  Sehsphäre  zur  gleich- 
namigen Retina  nach  v.  Monakow  selbst  nicht  mehr  glauben  soll. 
Aber  auch  abgesehen  davon,  schliessen  die  Resultate  meiner  eigenen 
Untersuchungen  es  aus,  dass  die  Dinge  sich  in  der  von  Munk  gewollten 
Weise  abspielen.  Wenn  z.  B.  ein  Hund  nach  Abtragung  der  caudalen 
Partie  der  Sehsphäre  auf  dem  oberen  Segment  des  Gesichtsfeldes  nicht 
nur  wieder  sehen  lernt,  sondern  auch  Stücke  Fleisch,  vy eiche  in  diesem 
Theile  seines  Gesichtsfeldes  erscheinen,  fixirt  und  sicher  ergreift,  so 
muss  deren  Bild  nicht  nur  auf  andere  Theile  der  Sehsphäre  projicirt 
und  dort  appercipirt  werden,  sondern  es  müssen  auch  von  dort,  nicht 
allein  von  den  exstirpirten  Abschnirten,  motorische  Radiärfasern  ent- 
springen, welche  den  Impuls  zu  den  subcorticalen  Centren  der  Augen- 
nerven fortleiten.  Da  sich  nun  dieses  Schauspiel  nach  Exstirpation  jedes 
einzelnen  Gebietes  der  Rinde  wiederholt,    so  muss  nicht  nur  jeder  ein- 


1)  Mit  welchem  Rechte  Munk,  der  die  Arbeiten  jener  Autoren  natürlich 
(abgesehzn  von  den  im  Texte  behandelten  Arbeiten  Schäfer 's)  nur  in  einer 
Anmerkung  zu  einem  Vortrage  citirt,  von  einem  ,, Streifzug  in  ein  jungfräu- 
liches Gebiet"  reden  konnte,  nachdem  dieses  Gebiet  schon  von  so  vielen 
Autoren  befruchtet  worden  war,  ist  meinem  Verständniss  entgangen. 

2)  H.  Berger,  Experimentelle  Untersuchungen  über  die  von  der  Seh- 
sphäre aus  ausgelösten  Augenbewegungen.  Monatsschr.  f.  Psych,  u.  Neurol. 
Bd.  IX,  Heft.  3. 


—     565     — 

zelne  Abschnitt  der  Sehsphäre  jeden  anderen  in  seincsr  optisclien, 
sondern  auch  in  seiner  motorischen  Leistung  vertreten  können.  Immer- 
hin würde  ja  dieses  Ergebniss  unter  der  letztgedachten  Voraussetzung, 
Avenn  auch  nicht  mit  der  Projectionslehre  Munk's,  so  doch  mit  der 
Hypothese  v.  Monakow 's  vereinbar  sein,  wenn  wirklich  eine  auch  nur 
vorübergehende  Abhängigkeit  des  Sehvermögens  bestimmter  Abschnitte 
der  Retina  von  bestimmten  Abschnitten  der  Sehsphäre  bestünde.  Dies 
triiTt  aber,  wie  wir  gesehen  haben,  nicht  zu. 

unter  diesen  umständen  besitzt  die  frühere  Ansicht 
V.  Monakow's,  dass  man  für  jeden  einzelnen  Fall  eine  be- 
sondere Art  der  Projection  würde  construiren  müssen  und 
die  jetzige  Ansicht  ßernheimer's,  dass  die  Fortleitung  der 
optischen  Reizwellen  von  dem  Corpus  gen.  zur  Sehsphäre 
individuellen  Schwankungen  unterliege,  eine  bei  Weitem 
grössere  Wahrscheinlichkeit.  Jedoch  hat  es  den  Anschein, 
als  ob  unter  diesen  Schwankungen  nähere  Beziehungen  der 
vorderen  Abschnitte  der  Sehsphäre  zu  den  oberen  und  solche 
der  hinteren  Abschnitte  der  Sehsphäre  zu  den  unteren  Ab- 
schnitten der  Retina  eine  gewisse  Rolle  spielten.  — 

Fassen  wir  hiernach  das  Resultat  dieses  Abschnittes  unserer  Unter- 
suchungen in  wenige  Worte  zusammen,  so  ergiebt  sich: 

1.  Rindenblindheit  irgend  welcher,  geschweige  denn  in 
einem  gesetzmässigen  Yerhältniss  stehender  Abschnitte  der 
Retina  tritt  nach  Partialexstirpationen  der  Sehrinde  in 
keinem  Falle  ein.  Wird  sie  beobachtet,  so  ist  sie  eine  Folge 
von  ausgedehnten  Verletzungen   der  Sehstrahlung. 

2.  Eine  gesetzmässige  Abhängigkeit  der  Lichtempfind- 
lichkeit bestimmter  Stellen  der  Retina  von  bestimmten 
Theilen  der'Sehrinde  ist  auch  nicht  einmal  mit  Bezug  auf 
den  vorübergehenden  Ausfall  des  Sehvermögens  nach  Par- 
tialexstirpationen gegeben;  vielmehr  bestehen  allem  An- 
scheine nach  in  dieser  Beziehung  weitgehende  individuelle 
Verschiedenheiten. 

3.  Insbesondere  steht  die  Stelle  A^  in  keinen  näheren 
Beziehungen  zur  Macula,  so  dass  ihre  Ausschaltung  zu  einer 
besonders  schweren  Schädigung  des  Sehactes  führte.  Im 
Gegentheil  kann  gerade  sie  leichter  als  irgend  eine  andere, 
gleich  grosse  Stelle  der  Sehrinde  ohne  irgend  erhebliche 
Störung  des  Sehactes  ausgeschaltet  werden. 


566     — 


2.   Die  Seeleubliudlieit  und  die  BescliafFenlieit  der  corticalen 

Sehstörimg. 

Munk  hat  die  Seeleablindlieit,  welche  als  Folge  der  einseitigen i) 
oder  doppelseitigen  Exstirpation  der  Stelle  A^  entstehen  soll,  in  Kurzem 
so  charakterisirt,  dass  der  Hund  alle  Erinnerungsbilder  der  früheren 
Gesichtswahrnehmungen  derart  verloren  hat,  dass  er  die  einzelnen  Ge- 
sichtsobjecte,  obwohl  er  sie  s'ieht,  nicht  mehr  erkennt,  sie  also  nicht 
mehr  zu  identificiren  vermag.  Insbesondere  auch  „machen  ihn  Finger 
und  Feuer,  dem  Auge  genähert,  nicht  mehr  blinzeln".  Indessen  lernt 
der  Hund  innerhalb  eines  Zeitraumes  von  3 — 5  Wochen  mit  den  ihm 
verbliebenen  Theilen  seiner  Sehrinde,  deren  Zellen  nunmehr  von  Neuem 
mit  Erinnerungsbildern  besetzt  werden,  wieder  erkennen.  Welche 
Gegenstände  und  wann  er  sie  wiedererkennen  lernt,  ist  insofern  in  die 
Hand  des  Experimentators  gelegt,  als  der  Hund  nur  diejenigen  Gegen- 
stände wiedererkennt,  welche  ihm  vorher  mit  ihren  ihn  interessirenden 
Eigenschaften  bekannt  gegeben  worden  sind.  „Fährt  man  im  Verlaufe 
der  1.  Woche  mehrmals  mit  dem  Finger  an  oder  in  die  Augen  des 
Hundes,  so  tritt  von  der  Zeit  an  regelmässig  Blinzeln  auf  Näherung 
des  Fingers  ein;  sonst  kommt  dieses  Blinzeln  ohne  alles  Zuthun  erst 
in  der  2.  oder  3.  Woche  zur  Beobachtung.  Drückt  man  in  der 
2.  Woche  ein  brennendes  Streichholz,  nachdem  man  es  vor  den  Augen 
gehalten,  an  die  Nase  des  Hundes,  so  dass  es  ihn  schmerzt,  so  weicht 
der  Hund  fernerhin  stets  mit  dem  Kopfe  zurück,  sobald  er  wieder  das 
Feuer  sieht;  brennt  man  ihn  ebenso  erst  in  der  5.  Woche,  so  hat  ihn 
bis  dahin  das  Feuer  nicht  genirt  und  er  kennt  es  erst  jetzt."  (Ges. 
Abh.  S.  93,  94.) 

Goltz  und  Loeb  haben  von  einer  so  beschaffenen  Seelenblindheit 
als  Folge  von  Abtragungen  innerhalb  der  Sehregion  ebensowenig  wie 
von  dem  Auftreten  von  Rindenblindheit  etwas  auffinden  können.  Der 
erstere  nannte  die  von  ihm  beobachtete  Sehstörung,  vi'elche  mit  Stö- 
rungen auf  den  anderen  Sinnesgebieten  und  übrigens  auch  mit  psychi- 
schen Störungen  vergesellschaft  war,  „Hirnsehschwäche"  und  erklärte 
sie,  insoweit  sie  nicht  das  Product  von  Demenz  ist,  durch  einen  „ausser- 


1)  V.  Monakow  (Ergebnisse,  S.  657)  irrt  sich  mit  der  Angabe,  dass 
Munk  die  Seelenblindheit  nur  nach  doppelseitiger  Exstirpation  der  Stelle  Aj^ 
entstehen  liesse.  Vielmehr  sitzen  die  Erinnerungsbilder  nach  Munk  (Ges. 
Abh.  S.  23)  in  jeder  Hemisphäre  gesondert  und  können  aus  ihr  gesondert 
herausgeschnitten  werden. 


—     5G7     — 

ordentlich  geringen  Farbensinn  und  auch  einen  sehr  vorsehloclitertea 
Ortssinn  der  Netzhaut"  i). 

In  der  Annahme  von  dem  Fehlen  einer  totalen  Schstr.niiig  nach 
solchen  Abtragmigen  (Reaction  auf  Schütteln  des  Fleisches  \ov  dem 
amblyopischen  Abschnitt)  bezeichnete  Loeb  die  zu  beobachtende  Stö- 
rung als  Hemiamblyopie  und  wies  übrigens  nach,  dass  die  von  ihr  ge- 
setzten Symptome  sich  „auch  ohne  alles  Zuthun  des  Experimentators" 
derart  wieder  verlieren  können,  dass  der  Hund  auch  dann  alsbald  Alles 
wiedererkennt,  wenn  man  ihn  eine  gewisse  Zeit  im  Dunkeln  gehalten 
und  ihm  garnichts  von  den  ihn  interessirenden  Gesichtsobjecten  gezeigt 
hat.  Zu  dem  gleichen  Resultat  kam  Bernheimer^)  beim  Affen  und 
er  sowohl  wie  a'.  Monakow  und  Andere  bestreiten,  dass  die  Seelen- 
blindheit, insofern  sie  überhaupt  vorkommt  und  sich  erkennen  lässt, 
ein  Product  der  Zerstörung  der  Rinde  der  Stelle  A^  oder  anderer  be- 
stimmter Theile  der  Rinde  des  Sehcentrums  sein  könne;  vielmehr  hänge 
ihr  Auftreten  von  dem  Maasse  der  Zerstörung  kurzer  oder  langer  Asso- 
ciationsbahnen  ab. 

Unsere  eigenen  Versuche  lehren  uns,  was  die  Dauer  der 
Sehstörung  angeht,  wenn  wir  nur  die  typischen  Läsionen  der  Stelle  A^, 
insoweit  sie  überhaupt  zu  Sehstörungen  führten,  und  nur  die  Reaction 
gegen  Fleisch  ins  Auge  fassen,  dass  diese  Dauer  9,  22,  16,  21,  17,  7, 
22,  10,  13,  16,  17  und  1  Tag  betrug.  Obschon  hierbei  auch  diejenigen 
Reste  der  Sehstörang,  welche  nur  die  obere  laterale  Ecke  des  Gesichts- 
feldes einnahmen,  die  also  mit  „Seelenblindheit"  gar  nichts  zu  thun 
haben,  und  die  Munk  bei  seiner  Art  der  Untersuchung  garnicht  finden 
konnte,  berücksichtigt  worden  sind,  blieb  die  Dauer  der  Sehstörung  im 
Durchschnitt  weit  hinter  dem  von  Munk  angegebenen  Zeitraum  von 
3- — 5  Wochen  zurück.  Den  Zeitraum  von  3  Wochen  überschritt  sie  mit 
22  Tagen  nur  2  mal,  dagegen  verschwand  die  Sehstöruug  in  5  Fällen 
vor  Ablauf  der  2.  Woche.  Es  geht  also  auch  hieraus  hervor,  dass  die 
von  mir  angewendeten  Methoden  der  Untersuchung  bei  w^eitem  besser 
geeignet  sind,  die  Wiederkehr  des  Sehvermögens  nachzuweisen,  ebenso 
wie  sie  besser  geeignet  sind,  kleine  umschriebene  Reste  von  Scotomen 
aufzudecken.  Noch  mehr  würde  dies  hervortreten,  wenn  ich  anstatt 
des  Zeitpunktes  des  gänzlichen  Verschwindens  der  Sehstörang  nur  den- 
jenigen Zeitpunkt  berücksichtigt  hätte,  zu  dem  der  Hund  auf  der  Stelle 
des  deutlichen  Sehens  Fleisch  wieder  sah  und  erkannte. 


1)  Goltz,   Gesammelte  Abhandlungen.    1881.    S.  175. 

2)  Bern  heim  er.  Anatomische  und  experimentelle  Untersuchungen  über 
die  corticalen  Sehcentren.    Klin.  Monatsblätter  für  Augenheilkunde.    1900. 


—     568     — 

Die  Dauer  der  Sehstörung  bei  den  anders  localisirten  Läsionen 
war  sehr  verschieden.  Manchmal  verschwand  letztere  überhaupt  nicht, 
oder  sie  war  von  sehr  langer  Dauer.  Andererseits  fehlte  sie  in  zahl- 
reichen Fällen  gänzlich,  oder  sie  war  von  sehr  kurzer  Dauer.  Für 
unsere  späteren  Erörterungen  interessirt  uns  nur  die  letztere  Gruppe. 
Aus  dieser  haben  wir  bereits  die  Läsionen  mit  fehlender  Sehstörung 
herausgehoben;  hier  führe  ich  nur  noch  einige  anderweitige  Beobach- 
tungen an,  bei  denen  die  Sehstörung  nicht  über  eine  Woche  hinaus 
dauerte  (die  Zahl  der  Tage  eingeklammert):  Beobachtungen  117  (6), 
121  (4),  123  (3),  124  (7),  127  (4),  131  (2)  und  144  (6).  Munk  pflegt, 
wenn  er  von  der  Sehstörung  spricht,  immer  nur  von  dem  zu  reden, 
was  man  nach  dem  3. — 5.  Tage  beobachten  könne  und  hat  mich  aufs 
heftigste  angegriffen,  weil  ich  meine  Beobachtungen  mit  der  Operation 
selbst  beginnen  lasse.  Hätte  ich  das,  was  vor  dem  5.  Tage  zu  sehen 
ist,  unberücksichtigt  gelassen,  so  würde  die  Zahl  der  Läsionen  der  Seh- 
sphäre, nach  denen  eine  Sehstörung  nicht  nachweisbar  war,  noch  recht 
erheblich  anwachsen. 

Ueber  die  Vertheilung  des  Scotoms  auf  beide  Augen  habe 
ich  bereits  früher  gesagt,  dass  sie  im  Allgemeinen  der  Angabe  Munk's 
entspricht,  also  auf  dem  gleichseitigen  Auge  das  mediale  Viertel  ein- 
nimmt, welches  sie  auf  dem  gegenseitigen  Ange  freilässt,  indessen 
kommen  doch  nicht  uninteressante  Ausnahmen  vor.  In  einzelnen  Fällen 
war  —  den  Munk 'sehen  Angaben  entsprechend  oder  widersprechend  — 
nur  der  obere  Abschnitt  des  gleichseitigen  Auges  blind,  in  einem  Falle 
(Beobachtung  75)  war  es  nur  ein  mittlerer  Ausschnitt.  Vielfach  erschien 
der  gleichseitige  Ausfall  kleiner,  in  einigen  Fällen  aber  und  dann  stets 
in  der  oberen  Hälfte  (Beobachtungen  92,  113,  147)  grösser  als  in  der 
Norm.  In  einem  Falle  (Beobachtung  109)  war  aber  vor  dem  5.  Tage, 
ausser  dem  medialen  Streifen,  noch  die  ganze  obere  Gesichtsfeldhälfte 
und  ausserdem  gleichfalls  abnormer  Weise  auch  die  obere  Hälfte  des 
gegenseitigen  medialen  Streifens  blind.  Entsprechend  dieser  ungleichen 
Empfindlichkeit  der  oberen  und  unteren  Hälfte  verlor  sich  die  Sehstö- 
rung ausnahmslos  zuerst  unten  und  in  den  spärlichen  Fällen,  in  denen 
nur  ein  Fiest  von  Sehvermögen  dauernd  erhalten  blieb,  war  die  untere 
mediale  Ecke  so  begünstigt.  Von  gleichem  Interesse  ist  die  mehr- 
fach gemachte  Beobachtung,  dass  auch  bei  einseitigen  Operationen,  bei 
denen  es  sich  also  nicht  um  ein  Wiederaufleben  einer  anscheinend  ver- 
schwundenen Sehstörung  handeln  konnte,  irgend  welche  Lichtempfind- 
lichkeit  des  medialen  Streifens  des  gegenüber  liegenden  Auges  in  den 
ersten  Tagen  nicht  oder  nur  partiell  nachweisbar  war  (Beobachtung  92), 


—     569     — 

oder  dass   dieser  Streifen   zuerst   aniblyopisch   crs(;lii(;ii  (Heobiiclitun^cii 
135,  145). 

Im  Zusammenhang  hiermit  stehen  die  sehr  merkwürdigen  Beobb. 
145  mid  146.  Hier  war  infolge  der  linksseitigen  Läsion  eine  homo- 
nyme rechtsseitige  Hemianopsie,  also  auch  auf  dem  linken  Auge,  zu- 
rückgeblieben. Als  der  Hund  nun  nach  ca.  10  Wochen  rechts  operirt 
wurde,  war  dadurch  sicherlich  kein  Grund  zur  Restitution  des  schein- 
bar „rindenblinden"  linksseitigen  Streifens  gegeben.  Nichtsdestoweniger 
sah  der  Hund  schon  am  2.  Tage,  wenn  auch  undeutlich,  mit  der  unteren 
Ecke  dieses  Streifens  wieder  imd  am  9.  Tage  schien  er  auf  dem 
ganzen  Streifen  wieder  deutlich  zu  sehen.  Ebenso  war  die  symmetrische 
rechte  Ecke,  welche  durch  die  2.  Operation  hätte  rindenblind  sein 
sollen,  schon  am  2.  Tage  amblyopisch  und  am  8.  Tage  der  ganze 
Streifen  wieder  functionstüchtig.  Schrader^)  und  Stefani  machten 
ganz  constante  Beobachtungen  an  Vögeln,  welche  diesen  scheinbar 
dunklen  Sachverhalt  vollkommen  aufklären.  Nahmen  sie  einem  Vogel 
die  linke  Hemisphäre,  so  wurde  das  rechte  Auge  scheinbar  ganz  blind; 
nahmen  sie  ihm  aber  auch  noch  das  linke  Auge,  so  wurde  das  rechte 
Auge  wieder  scheinbar  normal  sehend.  Wie  man  diesen  Vorgang  nun 
auch  sonst  in  seinen  Einzelheiten  erklären  mag,  so  ist  doch  soviel  im 
höchsten  Grade  wahrscheinlich,  dass  der  gesammte  Sehapparat  des 
rechten  Auges  auch  zu  der  Zeit,  da  dieses  Auge  anscheinend  nicht  sah, 
nicht  gänzlich  von  der  Function  ausgeschlossen  war,  sondern  dass  diese  der 
Aufmerksamkeit  nur  entging  und  dass  seine  Sehkraft  wieder  erstarkte,  nach- 
dem das  Thier  auf  seine  alleinige  Benutzung  angewiesen  war.  Ganz  das 
Gleiche  gilt  für  die  fraglichen  Erscheinungen  in  unseren  Beobb.  145  u.  146, 
bei  deren  letzterer  das  Thier  eben  zunächst  auf  beiden  Augen  mit  Aus- 
nahme der  beiden  unteren  medialen  Ecken  blind  war,  sodass  es  zur 
Benutzung  dieser  gezwungen  wurde.  Ferner  geht  aber  aus  den  ange- 
führten Tliatsachen  mit  Sicherheit  hervor,  dass  bei  dem  Hunde 
individuelle  Verschiedenheiten  mit  Bezug  auf  die  Zuord- 
nung der  beiden  Netzhautabschnitte  auf  die  beiden  Hemi- 
sphären bestehen  und  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit,  dass 
die  lateralen  Streifen  beider  Retinae  von  beiden  Hemi- 
sphären   innervirt    werden. 

Der  Decursus  der  Sehstörungen  ist  bisher  meines  Wissens 
von  Niemandem    beschrieben    worden.     Dieser    Decursus    vollzieht    sich 


1)  Schrader,  Ueber  die  Stellung  des  Grosshirns  im  Reflexmechanismus 
des  centralen  Nervensystems  der  Wirbelthiere.  Archiv  für  experimentelle  Patho- 
logie und  Pharmakologie.    Bd.  XXIX. 


—     570     — 

so,  dass  die  Aufhellung  der  Verdunkelung,  wenn  sie  nicht  überhaupt 
ausbleibt,  ausnahmslos  von  medial  nach  lateral  und  in  der  Mehrzahl 
der  Fälle  (ausgenommen  sind  die  Scotome  der  unteren  Hälfte  des  Ge- 
sichtsfeldes) gleichzeitig  von  unten  nach  oben  erfolgt.  Der  vollständigen 
Wiederkehr  des  Sehvermögens  ging  in  zahlreichen  Fällen  (Beobb.  94, 
109,  113,  133,  135,  144,  147,  148,  151,  154  und  155)  entweder  auf 
einer  Randzone  oder  auf  einem  Quadranten  oder  auf  dem  ganzen  Scotom 
die  von  mir  oben  S.  300  beschriebene  Unsicherheit  der  Reaction 
vorher. 

In  diesen  Fällen  liess  sich  also  ohne  Weiteres  das  Vorhandensein 
einer  Amblyopie  auf  einzelnen  Theilen  oder  auf  dem  ganzen  ge- 
schädigten Gesichtsfeldantheil  nachweisen.  Dies  gelang  jedoch  noch 
auf  mannigfache  andere  Weise.  In  ziemlich  zahlreichen  Fällen  (Beobb. 
71,  89,  98,  117,  128  und  148)  reagirten  die  Hunde  auf  Theilen  ihrer 
Gesichtsfelder,  welche  keinerlei  Reaction  gegen  Fleisch  erkennen  Hessen, 
gegen  Licht  sehr  ausgesprochen  und  zwar  sogar  gelegentlich  von  An- 
fang der  Beobachtung  an.  Bemerkenswerth  ist  nach  dieser  Richtung 
hin  die  Beob.  148,  insofern  dort  das  infolge  Wiederauflebens  der  Seh- 
störung des  medialen  Streifens  des  linken  Auges  anfänglich  gegen 
Fleisch  gänzlich  blinde  Gesichtsfeld  gegen  Licht  von  Anfang  an  eine 
sehr  ausgesprochene  Reaction  erkennen  liess.  Andererseits  nahm  in  den 
Beobb.  98  und  117  die  Sehstörung  gegen  Fleisch  überhaupt  nur  einen 
Theil  des  der  verletzten  Hemisphäre  zugeordneten  Areals  des  Gesichts- 
feldes ein.  Das  umgekehrte  Verhalten,  nämlich  das  Fehlen  einer  Seh- 
störung gegen  Fleisch  bei  gleichzeitigem  Vorhandensein  einer  einseitigen 
Sehstörung  gegen  Licht,  habe  ich  nur  in  einem  Falle  (Beob.  85)  beob- 
achtet, gelegentlich  (Beob.  94)  merkt  der  Hund  auf  früher  gegen 
Fleisch  reactionslosen  Segmenten  zwar  auf,  wenn  dort  Licht  erscheint, 
scheut  aber  erst,  wenn  es  in  besser  sehende  Segmente  eintritt. 

Vorübergehende  Sehschwäche  einzelner  Segmente  trat  auch  da- 
durch hervor,  dass  einzelne  Hunde  (Beobb.  66,  67,  68  und  71)  in  der 
Schwebe  auf  diesen  Segmenten  und  nur  auf  diesen  gegen  Fleisch  nicht 
reagirten,  während  auf  dem  Schoosse  das  ganze  Gesichtsfeld  frei  er- 
schien. Unzweifelhaft  wirkte  in  diesen  Fällen  das  Aufhängen  als  eine 
Hemmung,  welche  auf  den  besser  sehenden  Stellen  den  Reiz  des 
Fleisches  nicht  überwog,  ihn  auf  den  schlechter  sehenden  Stellen  aber 
überwog.  Es  sei  bemerkt,  dass  das  Gleiche  in  einzelnen  Fällen  auch 
rücksichtlich  des  optischen  Reflexes  beobachtet  wurde. 

Andererseits  gelang  es  in  einigen  Fällen  (z.  B.  Beob.  95)  eine  ein- 
seitige, sonst  nicht  erkennbare  partielle  Hypaesthesie  der  Netzhaut  da- 
durch nachzuweisen,  dass  man  dem  Hund,  während  er  aus  einer  Schüssel 


—     571     — 

Gemüse  frass,  oder  in  der  Schwebe  eine  luiher  golialteiic  llniid  fixirte 
kleine  Fleischstückchen  in  das  Gesichtsfeld  einführte.  Auf  der  gesunden 
Seite  reagirte  er  in  diesen  Fällen,  sobald  das  Fleisch  in  das  Gesichts- 
feld eintrat,  auf  der  kranken  Seite  erst,  wenn  es  den  medialen  Ab- 
schnitt des  Gesichtsfeldes  erreichte. 

Noch  von  grösserem  Intere^sse  ist  eine  andere  Art  von  Beob- 
achtungen. Ich  habe  bereits  bei  einer  früheren  Gelegenheit i)  gezeigt, 
dass  aus  den  Resultaten  der  Untersuchung  von  Hunden  mit  Gesichtsob- 
jecten  verschiedener  Natur  wegen  des  maassgebenden  Einflusses  der 
Aufmerksamkeit  die  Diagnose  einer  Amblyopie  nicht  sicher  zu  stellen 
ist.  Unverletzte  Hunde  springen  z.  B.  ebenso  gut  nach  einer  leeren 
wie  nach  einer  Fleischpincette  auf,  nachdem  sie  vorher  Fleisch  von  der 
gleichen  Stelle  erhalten  haben.  Ganz  dieselben  Erfahrungen  macht 
man  auch  in  der  Schwebe.  Es  giebt  zwar  kluge  und  misstrauische 
Hunde,  die  ein  Gesichtsobject  regelmässig  erst  beriechen,  ehe  sie  da- 
nach schnappen,  besonders  wenn  sie  nicht  zu  hungrig  sind ;  aber 
solche  Thiere  sind  verhältnissmässig  selten.  Lässt  man  in  dem  Ge- 
sichtsfeld eines  schwebenden  Hundes  irgend  einen  Gegenstand,  Fleisch, 
Kork  oder  Watte  von  der  Seite  her  auftauchen,  nachdem  er  von  daher 
Fleisch  erhalten  hat,  so  schnappt  er  danach.  War  es  ein  Fremd- 
körper, so  speit  er  ihn  aus,  häufig,  nachdem  er  erst  daran  gekaut 
hat.  Sieht  der  Hund  sich  so  betrogen,  so  untersucht  er  das  Object, 
manchmal  schon  bei  dem  zweiten  Versuche,  manchmal  aber  erst  nach 
wiederholten  Täuschungen.  Giebt  man  ihm  dann  zwischendurch  wieder 
Fleisch,  so  schnappt  er  wieder  ohne  Besinnen  nach  dem  nächsten  Ge- 
sichtsobject, gleichviel  welcher  Natur  es  ist,  und  so  kann  man  das 
Spiel  nicht  selten  beliebig  oft  wiederholen.  Natürlich  verhalten  sich 
die  Hunde  in  Einzelheiten  verschieden,  aber  es  kommt  dabei  auf  den 
Charakter  des  Hundes  und  seine  Gier,  nicht  darauf  an,  ob  man  ein 
gesundes  oder  krankes  Auge,  oder  einen  überhaupt  nicht  operirten 
Hund  untersucht.  Solche  Versuche  habe  ich  sehr  oft  gemacht  und  sie 
auch  bei  einigen  der  oben  referirten  Beobachtungen  angeführt. 

Nichtsdestoweniger  führt  die  Untersuchung  mit  Gesichtsobjecten 
von  verschiedener  Farbe  nicht  selten  zu  bestimmten  Resultaten.  Man 
beobachtet  Hunde  (Beobb.  94  und  95),  bei  denen  die  Untersuchung  in 
der  Schwebe  local  und  allgemein  keine  Sehstörung  mehr  ergiebt, 
während  sie  auf  dem  Boden  graues  Fleisch  entweder  nicht  oder  nur 
durch  den  Geruch,  weisses  Fleisch,  Fett  oder  Watte  aber  sofort  bezw. 
schneller    auffinden    und    ergreifen.     Ebenso    sehen   gelegentlich  Hunde 


1)  E.  Hitzig,  Der  Versuch  Loeb's.    Diese  Untersuchungen  S.  28. 


—     572     — 

weisse  Objecte  auf  sonst  noch  amblyopischen  Segmenten.  (Beobb.  129, 
140.) 

Im  Ferneren  lassen  sich  amblyopische  Sebstörungen  auf  scheinbar 
restituirten  Segmenten  des  Gesichtsfeldes  noch  durch  den  Stossversuch 
nachweisen,  insofern  bei  diesem  ein  kleines  plötzlich  in  das  Gesichtsfeld 
eingeführtes  Fleischstück  erst  nach  längerer  Zeit  (Beobb.  94,  95),  oder 
wenn  es  oder  der  Kopf  bewegt  wird,  berücksichtigt  wird,  oder  insofern 
der  Hund  Fleisch  erst  berücksichtigt,  nachdem  er  es  auf  diese  Weise 
mehrmals  erhalten  hat  (Beob.  70).  Dieses  Verhalten  zeigt  sich  übrigens 
sehr  häufig  auch  bei  gesunden  Hunden,  wenn  man  ihnen  von  oben  la- 
teral ein  Stück  Fleisch  zeigt;  sie  vernachlässigen  das  erste,  schnappen 
aber  regelmässig  nach  dem  zweiten  Stück.  Dies  ist  nur  so  zu  erklären,  dass 
der  Hund  das  Fleisch  zwar  sieht,  aber  dass  er  es  nur  undeutlich  sieht, 
sodass  er  es  überhaupt  nicht  zu  identificiren  vermag ;  auch  wenn  er 
endlich  danach  schnappt,  geschieht  es  nicht,  weil  er  das  Fleisch  nun 
erkennt,  sondern  weil  er  aus  der  Gegend  des  amblyopischen  oder  des 
indirecten  Sehens  schon  Fleisch  erhalten  hat.  Mit  der  Seelenblindheit 
hat  das  Phänomen  schon  deshalb  nichts  zu  thun,  weil  es  eben  auch 
bei  unverletzten  Hunden  beobachtet  wird,  und  weil  man  die  gleichen 
Versuche  an  verschiedenen  aufeinander  folgenden  Tagen  mit  Erfolg 
wiederholen  kann. 

Anzeichen  vonDefect  des  Ortssinnes  der  Netzhaut,  welche 
sich  dadurch  documentirten,  dass  der  Hund  zu  bestimmten  Perioden  auf 
das  in  seinem  Gesichtsfelde  erscheinende  Fleisch  zwar  sofort  aufmerk- 
sam wurde,  dann  aber  nicht  sogleich  fixirte,  und  entsprechend"  der 
Einstellung  zuschnappte,  sondern  ziellos  in  der  Luft  herumschnüffelte 
oder  herumschnappte,  wurden  in  zahlreichen  Fällen  dann  beobachtet, 
wenn  das  übrigens  reactionslose  Gesichtsfeld  in  seinem  medialen 
Streifen  nur  amblyopisch  erschien,  gelegentlich  (Beob.  95),  auch  von 
peripheren  Segmenten  des  Gesichtsfeldes  aus. 

Aus  den  vorstehenden  Beobachtungen  geht  mit  Sicher- 
heit hervor,  dass  der  Hund  zunächst  eine  Periode  durch- 
machen kann,  während  deren  er  auf  den  in  den  Abbildungen 
angedeuteten  Theilen  seines  Gesichtsfeldes  Gegenstände 
überhaupt  nicht  wahrnimmt.  Dann  folgt  eine  zweite  Periode, 
während  deren  er  auf  diesen  Theilen  seines  Gesichtsfeldes 
Gegenstände  zwar  wahrnimmt,  aber  nicht  erkennt  und 
schlecht  localisirt.  Hängt  er  in  der  Schwebe,  so  nimmt  er  einen 
zwischen  seinem  Auge  und  dem  Fenster  erscheinenden  dunklen  Gegen- 
stand zwar  wahr,  aber  er  vermag  denselben  Gegenstand  auch  bei 
darauf    gerichteter  Aufmerksamkeit    nicht    zu    erkennen,  ja,  unter  ver- 


—     573     — 

Huderteii  Versuchsbedingungen  nicht  einmal  zu  sehen.  Wenn  er  den- 
noch danach  schnappt,  so  geschieht  es,  weil  er  weiss,  dass  ihm  bei 
diesen  Versuchen  Fleisch  gereicht  wird.  Aber  er  findet  es  schlecht, 
geht  nicht  direct  auf  den  bestimmten  Punkt  im  Räume  los,  sondern 
schnappt  planlos  in  der  Luft  herum.  Ferner  ergiebt  sich  für  mich 
unzweifelhaft,  dass  der  üefect  in  der  Identificirang  der  Gegenstände  darauf 
beruht,  dass  der  Hund  sie  undeutlicher  und  lichtschwächer  wahrnimmt, 
mit  einem  Worte,  dass  die  Schwelle  für  die  Erregbarkeit  der  Netzhaut 
höher  liegt.  Dies  ergiebt  sich  aus  einer  Reihe  verschiedener  Umstände;  er- 
stens daraus,  dass  er  Fleischstücke,  welche  sich  nicht,  wie  bei  dem  Versuch 
in  der  Schwebe  als  dunkler  Fleck  im  Sehraum  abzeichnen,  sondern  auf 
dem  annähernd  gleichfarbigen  Fussboden  liegen,  überhaupt  nicht  bemerkt, 
sodass  er  sie  nur  durch  Zufall  findet,  sowie  daraus,  dass  er  weisses, 
also  das  Licht  stärker  reiiectirendes  Fleisch  oder  Fett  leichter  findet 
als  gekochtes  Fleisch  und  daraus,  dass  es  ihm  mit  der  Watte  ähnlich 
geht.  Da  er  diese  aber  ins  Maul  nimmt,  so  ist  klar,  dass  er  sie  zwar 
besser  als  Fleisch  sieht,  aber  dennoch  nicht  gut  genug,  um  sie  durch 
das  Auge  als  Fremdkörper  zu  erkennen.  Zweitens  wird  dies  durch  die 
entscheidende  Rolle  bewiesen,  welche  die  Aufmerksamkeit  bei  dem  Ge- 
lingen der  Versuche  spielt.  Wird  die  Aufmerksamkeit  des  Hundes 
nicht  abgelenkt,  so  appercipirt  er  auf  den  früher  nicht  sehenden  und 
noch  jetzt  amblyopischen  Teilen  seines  Gesichtsfeldes  ohne  Weiteres, 
wird  sie  aber  dadurch  abgelenkt,  dass  man  ihm  auf  dem  Tische  eine 
mit  Futter  gefüllte  Schüssel  vorhält,  oder  ihn  in  der  Schwebe  die  er- 
hobene Hand  fixiren  lässt,  so  appercipirt  er  Fleischstücke  nicht,  schlecht 
oder  besser,  je  nachdem  man  von  lateralwärts  nach  der  Medianebene 
zu  vorrückt.  Ein  Beweis  für  die  geringere  Empfindlichkeit  des  Seh- 
appavates  liegt  auch  darin,  dass  der  Hund  kleine,  ihm  plötzlich  in  das 
Gesichtsfeld  gebrachte  Stückchen  Fleisch  erst  nach  längerer  Zeit,  oder 
erst,  wenn  sie  bewegt  werden,  wahrnimmt.  Letzteres  Verhalten  braucht 
nicht  auf  einen  bestimmten  Fleck  der  Netzhaut  localisirt  zu  sein, 
sondern  kann  sich  auf  die  ganze,  von  der  verletzten  Hemisphäre  inner- 
virte  Netzhautparthie  erstrecken,  sodass  auch  von  partieller  „Rinden- 
blindheit" nicht  die  Rede  sein  kann.  Ebensowenig  entspricht  es  der 
Seelenblindheit. 

Die  vorstehend  angeführten  Ansichten  von  Goltz  und  Loeb 
über  die  Art  der  Sehstörung  haben  sich  ^  also  nach  einer  gewissen 
Richtung  hin,  aber  eben  doch  nur  theilweise  als  zutreifend  erwiesen 
Richtig  sind  sie  insofern,  als  das  Wesen  der  Sehstörung  bei  sehr  vielen 
Hunden    während    gewisser  Perioden   und  bei  anderen  Hunden  dauernd 


—     574     — 

in  einer  Amblyopie  (Loeb),  die  sich  aus  einem  Defect  des  Farben- 
uud  Ortssinnes  der  Netzhaut  (Goltz)  zusammensetzt,  besteht. 

Dagegen  ist  Goltz  nicht  im  Recht,  wenn  er  in  einem  späteren 
Aufsatze  diese  seine  eigene  Erklärung  nur  auf  einseitig  operirte  Hunde 
angewendet  wissen  will,  während  bei  doppelseitig  operirten  die  Demenz 
die  Hauptrolle  spiele.  Dies  mag  für  solche  Hunde  gelten,  welche  nach 
den  Methoden  oder  mit  den  colossalen  Verstümmelungen  von  Goltz 
operirt  worden  sind.  Ich  muss  sehr  nachdrücklich  hervorheben,  dass 
fast  sämmtliche  von  mir  doppelseitig  im  Occipitallappen  operirte 
Hunde  ihre  gelegentlich  recht  grossen  Verstümmelungen  ohne  oder  nur 
mit  ganz  vorübergehenden  Zeichen  von  Demenz  ertrugen.  Ferner  ist 
die  Ansicht  beider  Forscher,  dass  die  Sehstörung  nur  in  „Hirnseh- 
schwäche", nicht  aber  in  vorübergehender  oder  dauernder  partieller 
Blindheit  bestehe,  auch  in  der  Formulirung  Loeb's.  dass  eine  solche 
Blindheit  nur  ein  unf;lücklicher  Zufall  wie  etwa  der  Tod  sei,  meiner 
Ansicht  nach  unzutreffend.  Die  Thatsache,  dass  Hunde  nach  Aus- 
schaltung der  ganzen  Sehrinde  oder  einer  ganzen  Sehstrahlung  dauernd 
blind  werden  müssen  und  nicht  nur  blind  werden  können,  halte  ich 
für  ausgemacht.  Nun  kann  zwar  niemand  wissen,  ob  Hunde,  welche 
von  einem  geschädigten  Segment  aus  zeitweise  garnicht  reagireu,  dort 
garnichts  sehen.  Noch  viel  weniger  kann  aber  jemand  wissen,  ob  sie 
dort  etwas  sehen.  Denn  die  Beobachtung  Loeb's,  dass  solche  Hunde 
von  den  fraglichen  Stellen  aus  zwar  nicht  auf  ruhig  gehaltenes,  wohl 
aber  auf  bewegtes  Fleisch  reagiren,  findet  allerdings  in  mancherlei  von 
mir  erwähnten  Beobachtungen  ihi'e  Bestätigung,  aber  sie  ist  nichts 
weniger  als  allgemein  gültig.  Die  Mehrzahl  dieser  Hunde  bleibt  zeit- 
weise absolut  ruhig,  man  mag  welche  Vorgänge  auch  immer  sich  vor 
dem  anscheinend  blinden  Segment  abspielen  lassen. 

Jedoch  haben  beide  Autoren  und  mit  ihnen  v.  Monakow, 
Bernheimer  u.  a.  wieder  darin  recht,  dass  die  Gesammtheit  dieser 
Symptome  mit  dem  als  „Seelenblindheit"  bezeichneten  Phänomen  nicht 
das  Mindeste  gemein  hat.  Es  handelt  sich  dabei  eben  nicht  um  eine 
Störung  der  Association,    sondern    um  eine  Störung  der  Wahrnehmung. 

Den  Eintritt  der  Seelenblindheit  nach  Ausschaltung  der  Stelle  A^, 
hat  Munk  auch  insbesondere  dadurch  zu  beweisen  gesucht,  dass  er 
angab,  der  normal  auf  Annäherung  des  Fingers,  der  Faust  oder  des 
Lichtes  erfolgende  Lidschluss  bliebe  nach  der  gedachten  Operation  aus 
(a.  a.  0.  S.  22),  sei  aber  dadurch,  dass  man  dem  Thiere  mit  dem 
Finger  vor  oder  in  das  Auge  fahre  oder  es  an  der  Nase  brenne  wieder 
hervorzurufen,  auch  wende  der  Hund  nach  einer  späteren  Angabe  den 
Kopf    auf  Lichtreiz    erst    dann    ab,    wenn  man  diese  Procedur  mit  ihm 


—     575     — 

vorgenommen  habe.  Sonst  aber  komme  dieses  Blinzeln  ohne  alles 
Zuthnn  erst  in  der  zweiten  oder  dritten  Wociie  zur  Beobachtung.  Das 
Abwenden  des  Kopfes  auf  den  Lichtreiz  trete  aber  erst  dann  ein,  z.  B. 
in  der  5.  Woche,  wenn  man  den  Hund  durch  Brennen  an  der  Nase 
genirt  habe.  Von  allen  phantasievollen  Schilderungen  M  unk 's  gehört 
diese  vielleicht  am  meisten,  noch  mehr  wie  jede  andere  in  das  Gebiet 
der  eigenen  Vorstellungstliätigkeit.  Die  Richtigstellung  des  wirklichen 
Sachverhaltes  erscheint  aber  umso  nothwendiger.  als  noch  die  neuesten 
italienischen  Experimentatoren  aus  dem  Ausbleiben  des  optischen  Re- 
flexes (Gesticulationsversuche  Luciani's)  zu  Unrecht  auf  das  Bestehen 
oder  Fortbestehen  einer  Sehstörung  schliessen. 

Man  hat  hier  zu  unterscheiden  zwischen  den  optischen  Reflexen 
und  dem  Abwenden  des  Kopfes  auf  den  Lichtreiz.  Nach  den  vorstehend 
referirten  Angaben  Munks  soll  die  erste  Reaction  auch  ohne  alles  Zu- 
thun  des  Experimentators,  aber  dann  verspätet,  in  der  2. — 3.  Woche, 
die  letztere  Reaction,  aber  nur  wenn  man  den  Hund  mit  dem  Feuer  ge- 
nirt  hat,  z.  B.  in  der  5.  Woche  eintreten.  Sehen  wir  nun  zunächst  von 
dem  „Zutliun"  des  Experimentators  ab,  so  ist  es  unzutreffend,  dass  die 
Hunde  im  Allgemeinen  in  der  2. — 3.  Woche  wieder  in  den  Besitz  des 
optischen  Reflexes  gelangten.  Bei  manchen  stellt  er  sich  viel  früher 
wieder  ein  und  bei  sehr  vielen  viel  später  oder  überhaupt  nicht.  Noch 
unzutreffender  ist  die  Angabe,  dass  das  Scheuen  des  Hundes  vor  dem 
Lichte  später  und  erst  nach  Vornahme  unangenehmer  Proceduren  einträte. 
Wenn  man  diese  beiden  Reactionen  mit  einander  vergleicht,  ist  es  im 
Gegentheil  höchst  auffällig,  wieviel  eher  der  Hund  auf  den  Lichtreiz  mit 
Abwenden  des  Kopfes,  als  auf  die  Annäherung  der  flachen  Hand  oder 
gar  des  Fingers  mit  Lidschluss  reagirt.  Richtig  ist  nur,  dass  operirte 
Hunde,  gleichviel  ob  die  Operation  die  Stelle  Ai  getroffen  hat  oder  nicht, 
manchmal  zu  einer  gewissen  Zeit  den  Kopf  auf  den  Lichtzeiz  einseitig  erst 
abwenden,  wenn  man  sie  an  der  Nase  gebrannt  hat,  genau  so,  wie  die 
vorher  erwähnten  Hunde  auf  Fleisch  erst  reagieren,  wenn  sie  etwas  da- 
von erhalten  haben.  Daraus  geht  aber  nur  hervor,  dass  sie  das  Ge- 
sichtsobject  (wegen  Amblyopie)  undeutlich,  gleichwohl  aber  deutlich 
genug  sehen,  um  es  nach  dem  Verbrennen  wiedererkennen  zu  können.  Für 
die  Annahme,  dass  die  herausgeschnittenen  Vorstellungen  durch  neue  er- 
setzt worden  seien,  lässt  sich  schon  deshalb  nichts  daraus  ableiten,  weil 
der  Versuch  nicht  selten  mehrere  Tage  hintereinander  mit  dem  gleichen 
Erfolge  wiederholt  werden  kaiui,  und  weil  die  Thiere  in  der  Regel  jene 
Reaction  auf  Licht  und  zwar  unter  Umständen  sehr  früh  wiederge- 
winnen, auch  wenn  sie  niemals  gebrannt  worden  sind.  Endlich  ist  es  mehr 
als  fraglich,    ob  das  Scheuen  der  Hunde  überhaupt   auf  der  Erfahrung, 


—     576     — 

dass  das  Licht  ihnen  Schmerzen  bereitet,  beruht,  denn  frisch  in  das 
Laboratorium  gebrachte  Hunde,  die  doch  voraussichtlich  nicht  sämmt- 
lich  von  ihren  Vorbesitzern  an  der  Nase  gebrannt  worden  sind,  pflegen 
auch  vor  dem  Lichte  zu  scheuen,  ja,  jeder  glänzende  Gegenstand,  z.  B. 
eine  Flasche  (Goltz),  kann  sie  mit  demselben  Abscheu  erfüllen. 

Unrichtig  ist  dagegen  wieder  der  ganze  Rest  der  Angabe  Munks. 
Schon  die  Schilderung  des  physiologischen  Verhaltens  der  Hunde  ist  un- 
zutreffend. Auf  die  plötzliche  Annäherung  des  Fingers  folgt  der  Lid- 
schluss  verhältuissmässig  selten,  ja,  er  bleibt  sogar  häufig  auf  die  plötz- 
liche Annäherung  der  Schmalseite  der  Hand  aus;  nur  auf  die  plötz- 
liche Annäherung  der  flachen  Hand  habe  ich  regelmässig  Lidschluss 
erfolgen  sehen.  In  einer  früheren  Arbeit  i)  habe  ich  bereits  angeführt, 
dass  Böen  sei  zwar  mit  der  Angabe,  dass  Lidschluss  auf  den  Lichtreiz 
überhaupt  nicht  eintrete,  zu  weit  geht,  aber  noch  weniger  richtig  ist  es, 
wenn  Munk  Blinzeln  gleichsam  als  die  regelmässige  physiologische  Re- 
action  auf  den  Lichtreiz  anführt. 

„Grundfalsch"  sind  weiter,  um  mich  der  Ausdrucksweise  Munks 
zu  bedienen,  dessen  Angaben  über  die  Abhängigkeit  der  Restitution  der 
optischen  Reflexe  von  der  vorgängigen  Application  der  vorerwähnten 
Reize  auf  das  Auge  oder  die  Nase.  Ich  habe  den  Decursus  der  op- 
tischen Reflexe,  welcher  Munk  gänzlich  unbekannt  ist,  und  ihr  Ver- 
halten zur  Sehstörung  in  den  zusammenfassenden  Besprechungen  der 
einzelnen  Serien  meiner  Beobachtungen  bereits  einer  Prüfung  unterzogen 
und  kann  deshalb  auf  diese  verweisen.  Im  Allgemeinen  ist  darüber  zu 
sagen,  dass  die  zu  beobachtenden  Erscheinungen  bei  gleicher  Grösse  der 
Läsion  keinen  wesentlichen  Unterschied  erkennen  lassen,  gleichviel  an 
welchem  Theile  der  Convexität  dieselbe  angebracht  wird,  nur  dass  viel- 
leicht grosse  Ausschaltungen  des  vorderen  Abschnittes  die  Restitution 
erschweren.  In  der  Regel,  aber  nicht  immer,  tritt  die  Störung  gemein- 
schaftlich mit  der  Sehstörung  auf,  sie  kann  sich  dann  an  sich  und  gegen- 
über der  Sehstörung  längere  Zeit  sehr  verschieden  verhalten  und  ihre 
Wiederkehr  kann  schliesslich  ganz  plötzlich  oder  derart  erfolgen,  dass, 
unter  Schwankungen,  ein  sehr  allmähliches  Anwachsen  des  Reizeffectes 
—  leichtes  Zucken  besonders  des  oberen  Lides  (wobei  es  sein  Bewenden 
haben  kann),  wenig  energischer,  manchmal  bei  Wiederholung  sich  ab- 
schwächender Lidschluss  gegen  flache  Hand,  Zunahme  der  Energie  des 
Lidschlusses,  Eintritt  der  Reaction  auf  schmale  Hand  —  sich  einstellt. 
Dabei  hat  ganz  allgemein  gesprochen  die  Störung  der  optischen  Reflexe 


1)  E.  Hitzig,    Historisches,    Kritisches    etc.      Diese    Untersuchungen. 
S.  101. 


—     577     — 

eine  längere  Dauer  als  die  Selistöruiig.  Auf  (licsou  l)(;(uirsus  hat  die 
Anbringung  der  mehrfach  erwähnten  Reize  Mii  iiks  inclit  den  gering.st(;n 
bestimmenden  Rinfluss,  obschon  es  sich  ebenso  wie  bei  den  vorher  er- 
wähnten Versuchen  mit  Fleisch  und  Licht  gelegentlich  ereignen  mag  — 
ich  habe  es  nicht  gesehen  — ,  dass  ein  nur  noch  leicht  aniblyopischer 
Hund,  dessen  motorische  Bahnen  von  der  Sehsphäre  abwärts  wieder  offen 
sind,  erst  dann  das  Auge  schliesst,  wenn  man  ihm  mit  dem  Finger  hin- 
eingefahren ist.  In  allen  Fällen,  die  ich  beobachtet  habe,  konnte  mau 
mit  den  Hunden,  selbst  wenn  sie  dem  Anscheine  nach  wieder  normal 
sahen,  machen  was  man  wollte,  ohne  dass  dadurch  etwas  an  dem  Ver- 
halten des  optischen  Reflexes  geändert  worden  wäre. 

Die  Störung  der  optischen  Reflexe  erweist  sich  also  als  ein  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  selbständiges  Symptom.  Mit  Bezug  hierauf  und 
mit  Bezug  auf  die  sonst  dabei  zu  beobachtenden  Eigenthümlichkeiten 
hatte  ichi)  früher  gesagt:  „.  .  .  Die  optischen  Reflexe  .  .  .  können  unge- 
achtet einer  gleichseitigen  hochgradigen  Sehstörung  vorhanden  sein  und 
sie  können  fehlen,  obwohl  keine  Sehstörung  mehr  besteht." 

Munk^)  hat  auf  diese  in  einem  Vortrage  enthaltenen  Bemerkungen 
ohne  die  Vorlegung  des  zugehörigen  Materials  abzuwarten.  Folgendes  er- 
widert: „Da  ist  nun  zu  beachten,  dass  ich  nur  nach  der  Exstirpation 
der  Stelle  A^  und  noch  grösseren  Exstirpationen,  wenn  Seelenblindheit 
bis  Rindenblindheit  herbeigeführt  war,  nicht  nach  kleineren  Exstirpa- 
tionen der  Sehsphäre  regelmässig  den  Reflex  ausbleiben  sah.  Demge- 
mäss  ist,  weil  Herr  Hitzig  weder  darüber  Auskunft  giebt,  was  er  unter 
„hochgradiger  Sehstörung"  versteht,  noch  die  Grösse  seiner  Exstirpationen 
anzeigt,  und  weil  er  sogar  hervorhebt,  dass  es  oberflächliche  Verletziingen 
waren,  die  er  ausführte,  die  Auffassung  wohlbegründet,  dass  die  Hitzig- 
scheu  Exstirpationen  in  den  betreffenden  Fällen  einfach  zu  wenig  aus- 
gedehnt gewesen  sind,  um  den  Reflex  verschwinden  zu  machen.  Anderer- 
seits lässt  sich  nicht  nur  nach  den  Erfahrungen,  die  wir  bei  den  Doppel- 
operationen machten,  dem  nicht  vertrauen,  dass  keine  Sehstörung  bestand, 
wo  Herr  Hitzig  keine  fand,  sondern  geht  es  auch  gerade  aus  den  paar 
Notizen,  die  Herr  Hitzig  über  seine  einschlägigen  Versuche  mitgetheilt 
hat,  hervor,  dass  die  Versuche  nicht  ohne  Entzündungen  abliefen  und 
daher  dort,  wo  bei  anscheinendem  Fehlen  einer  Sehstörung  der  Reflex 
gestört  war,  ausser  der  Sehsphäre  noch  die  Rinde  des  Gyrus  coronalis, 
die  dem  Sphincter  palpebrarum  zugeordnet  ist,  geschädigt  sein  koimte." 

1)  E.  Hitzig,   Ueber   den   Mechanismus  etc.     Berl.  klin.  Wochenschrift. 
1900.   Nr.  45. 

2)  H.  Munk,  Zar  Physiologie  der  Grosshirnrinde,  Verhandlungen  der 
physiol.  Gesellschaft  zu  Berlin.   1901/02.   Nr.  10—11. 

Hitzig,  Gesammelte  Abliaiull.    IL  Thcll.  37 


—     578     — 

Alles,  was  Munk  hier  anführt,  ist  „unrichtig"  und  schwebt  in  der 
Luft.  Er  hatte  das  Ausbleiben  des  optischen  Reflexes  und  seine  Wieder- 
kehr nach  meinem  vorstehenden  Referat  von  dem  Auftreten  und  Ver- 
schwinden der  Seelenblindheit  abhängig  gemacht.  Nur  um  die  Erörte- 
rung dieser  Frage,  d.  h.  um  die  Beziehungen  der  optischen  Reflexe  zur 
Seelenblindheit  und  zum  Sehen  überhaupt  handelt  es  sich. 

Durch  den  Versuch  war  also  einfach  die  Frage  zu  entscheiden, 
läuft  der  einseitige  Verlust  der  optischen  Reflexe  immer  parallel  einer 
einseitigen  temporären  oder  'dauernden  Blindheit  des  Hundes,  wie  dies 
nach  der  Behauptung  Munk's  sein  soll,  oder  besteht  ein  solcher  Pa- 
rallelismus nicht,  hat  der  sehende  Hund  immer  und  zu  allen  Zeiten 
seinen  ungeschädigten  optischen  Reflex,  und  hat  der  nicht  sehende  zu 
der  Zeit,  da  er  nicht  sieht,  keinen  optischen  Reflex.  Damit  wird  auch 
der  sonderbare  Einwand  Munk's,  dass  ich  nicht  angegeben  habe,  was 
ich  unter  hochgradiger  Sehstörung  verstehe,  hinfällig.  Munk  hat  mir 
entgegen  gehalten,  er  habe  den  optischen  Reflex  nur  dann  regelmässig 
fehlen  sehen,  wenn  Seelenblindheit  bis  Riudenblindheit  bestand.  Dass 
der  total  rindenblinde  Hund  seine  optischen  Reflexe  besässe,  habe  ich 
nicht  behauptet  und  Seelenblindheit  nach  circumscripten  Eingriffen  in 
den  Occipitallappen  des  Hundes  giebt  es  nicht.  Aber  darauf  kommt  es 
auch  hier  garnicht  an.  Zur  Kritik  der  Lehre  Munk's  kam  es  einzig 
und  allein  darauf  an,  ob  die  fraglichen  Hunde  auf  die  gewöhnlichen 
Reize  anderweitig  in  der  gewöhnlichen  Weise  reagirten  und  dadurch 
bewiesen,  dass  sie  die  Natur  der  Reizobjecte  erkannten  oder  nicht. 
Munk's  seelenblinde  Hunde  .  sollen  ja  sehen  und  die  Gesichtsobjeete 
nur  nicht  erkennen;  der  von  mir  erwähnte  eine  Hund  mit  hochgradiger 
Sehstörung  sah  zeitweise  nicht  oder  gab  wenigstens  zeitweise  kein 
Zeichen,  dass  er  Gesichtsobjeete  erkannte  und  hatte  dennoch  seinen 
optischen  Reflex  conservirt. 

Die  Beobachtung,  von  der  damals  die  Rede  war,  wüU  ich  hier  kurz 
referiren. 

Beobachtung-  1S6, 

Aufdeckung  links  hinten  auf  19  mm  sagittal,  15  mm  frontal,  einige  mm 
von  der  Mittellinie;  Aetzung  mit  5  proc.  Carbolsäure. 

Motilitätsstörungen  fehlen . 

Sehstörung:  Am  2.  Tage  blind  bis  auf  nasalen  Streifen,  auf  welchem 
er  auf  Fleisch  und  Licht  reagirt.  7\.bnahme  schon  am  3.  Tage;  Reaction  gegen 
Licht  manchmal  schon  bis  zur  Mitte  des  Gesichtsfeldes;  am  9.  Tage  unsicher 
ob  noch  Sehstörung;  am  11.  Tage  keine  Sehstörung  mehr. 

Optische  Reflexe  ungestört. 

Naseniidreflex  ung-estört. 


—     579     — 

Getödtet  nach  ca.  5  Wochen. 

Sectio n:  Häute  normal.  Die  Auflagerung  misst  sagittal  19,  frontal 
12,5mm;  sie  reicht  medial  bis  an  den  lateralen  Rand  des  Randwulstos,  lateral 
bis  fast  an  den  medialen  Rand  der  III.  Urwindung  und  erreicht  mit  ihrer  hin- 
teren Spitze  den  hinteren  Pol. 

In  diesem  Falle  war  also  —  und  lediglich  darauf  kommt  es  an 
—  der  optische  Reflex  erhalten,  obwohl  der  Hund,  dem  die  Stelle  A^ 
hochgradig  geschädigt  worden  war,  am  zweiten  Tage  auf  dem  ganzen 
von  der  linken  Hemisphäre  abhängigen  Abschnitt  des  Gesichtsfeldes 
Fleisch  und  Licht  sicherlich  nicht  erkannte.  Von  geringerem  Interesse 
sind  die  nächsten  Tage,  riicksichtlich  deren  man  ja  darüber  streiten 
könnte,  ob  er  nicht  mit  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens  die  drohende 
Hand  erkannte,  obschon  der  daselbst  auf  Fleisch  niemals  und  auf  Licht 
nur  unregelmässig  reagirte. 

Von  den  anderweitigen  für  die  relative  Unabhängigkeit  der  Störung 
der  optischen  Eeflexe  von  der  Sehstörang  sprechenden  Beobachtungen 
führe  ich  die  folgenden  an. 

Beobachtung  IST^. 

Aufdeckung  hinten  links  auf  sagittal  20mm,  frontal  16mm.  Anätzung  mit 
5proc.  Carbolsäure. 

Motilitätsstörungen  fehlen. 

Sehstörung:  Gegen  Fleisch:  am  zweiten  Tage  rechts  überhaupt  keine 
Reaction,  vom  3. — 5.  Tage  wird  von  lateral  kommendes  Fleisch  schon  vor  der 
Mitte  des  Gesichtsfeldes  fixirt,  ergriffen  aber  erst  nach  Ueberschreitung  der 
Mitte.  Am  6.  Tage  erst  im  nasalen  Rand,  am  7.  Tage  im  nasalen  Rand  und 
im  ganzen  unteren  inneren  Quadranten,  vom  9. — 11.  Tage  sieht  er  nur  im 
nasalen  Streifen,  am  13.  Tage  Fixiren  gelegentlich  auch  im  temporalen  Ge- 
sichtsfeld, Zugreifen  aber  erst  dicht  an  der  Nase;  am  14.  Tage  beobachtet  er 
es  rechts  schon  aussen,  greift  aber  erst  auf  breitem  nasalen  Streifen  danach, 
am  15.  Tage  im  nasalen  Streifen,  am  16.  Tage  bis  zur  Mitte  des  Gesichtsfeldes 
Reaction,  am  17.  Tage  auch  im  temporalen  Gesichtsfeld,  vom  19.  Tage  an 
normal.  Gegen  Licht:  am  2.  Tage  fehlt  die  Reaction  rechts,  von  da  an  beider- 
seits gleich. 

Optische  Pveflexe:  Am  2.  Tage  gegen  flache  und  schmale  Hand 
normal,  vom  3. — 5.  Tage  gegen  flache  Hand  vorhanden,  gegen  schmale  Hand 
fehlend,  am  6.  Tage  gegen  flache  Hand  abgeschwächt,  gegen  schmale  Hand 
fehlend,  vom  7.-9.  Tage  fehlend,  am  11.  Tage  gegen  flache  Hand  spurweise, 
gegen  schmale  Hand  0;  vom  13. — 17.  Tage  gegen  flache  Hand  abgeschwächt, 
gegen  schmale  Hand  fehlend;  bis  zum  35.  Tage  gegen  flache  und  schmale  Hand 
abgeschwächt,  später  normal. 

Nasenlidreflex  ungestört. 

Gestorben  nach  ca.  2Y2  Monaten  in  Folge  einer  2.  Operation. 

37* 


—     580     — 

Section:  Hirnhäute  normal.  Die  Auflagerung  reicht  lateral  etwas  über 
die  StelleAj  und  medial  etwas  über  die  Mitte  des  Randwulstes  hinaus,  wo  sie 
in  ein  durch  eine  Erweichung  gebildetes,  bis  an  die  Medianspalte  reichendes 
Loch  endet. 

Auch  in  diesem  Falle  gab  der  Hund  also  am  ersten  Tage  kein 
Zeichen  davon,  dass  er  anderweitige  Reize  erkannte,  während  die 
optischen  Reflexe  nicht  gestört  erschienen.  Dann  folgte  eine  ziemlich 
langdauernde  Periode  von  Amblyopie  schwankender  Intensität,  während 
deren  die  optischen  Reflexe  eine  bis  zum  temporären  gänzlichen  Verlust 
gehende  Abschwächung  erfuhren.  Auch  hier  liegt  das  hauptsächliche 
Interesse  in   deu  Beobachtungen  des  zweiten  Tages. 

Sodann  ist  hier  die  Beob.  76,  auf  deren  Wortlaut  ich  verweise, 
anzuführen.  Bei  ihr  war  die  Macula  von  Anfang  an  frei,  eine  Seh- 
störung bestand  überhaupt  nur  am  2.  Tage  und  dann  nur  auf  der 
lateralen  Hälfte  des  Gesichtsfeldes.  Gleichwohl  fehlten  die  optischen 
Reflexe  bis  zum  16.  Tage  gänzlich  und  blieben  noch  bis  zum  Tode  des 
Thieres  abgeschwächt.  Endlich  verweise  ich  noch  auf  die  Beob.  123, 
bei  der  zwar  eine  Sehstörung  von  2  tägiger  Dauer  vorhanden,  die 
Macula  aber  gleichfalls  von  Anfang  an  frei  war,  während  die  optischen 
Reflexe  an  den  beiden  ersten  Beobachlungstagen  mit  abnehmender 
Intensität  vorhanden  waren  und  sich  dann,  obschon  das  Sehen  in- 
zwischen keine  Störung  mehr  erkennen  Hess,  auf  längere  Zeit  gänzlich 
verloren. 

In  allen  diesen  Fällen  war  weder  der  Naseulidreflex  zu  irgend 
einer  Zeit  gestört,  noch  liess  die  Section  irgend  welche  Veränderungen 
der  Hirnhäute,  auf  die  die  Störung  der  optischen  Reflexe  hätte  bezogen 
werden  können,  erkennen. 

Naturgemäss  sind  Beobachtungen  dieser  Art  verhältnissniässig 
selten,  wenn  ich  auch  noch  einige  andere  Gleiches  bedeutende  besitze. 
Unendlich  viel  zahlreicher  als  diese  Fälle,  bei  denen  die  Sehstörung 
entweder  ganz  fehlte  oder  nur  auf  die  kürzeste  Zeit  eben  angedeutet 
erschien,  während  die  optischeu  Reflexe  eine  mehr  oder  minder  hoch- 
gradige und  anhaltende  Störung  erfuhren,  sind  in  jeder  einzelnen  Gruppe 
diejenigen  Fälle,  bei  denen  zwar  anfänglich  eine  hochgradigere  Seh- 
störung  bestand,  bei  denen  aber  der  optische  Reflex  nach  Verschwinden 
der  Sehstörung  noch  sehr  lange  oder  dauernd  gestört  blieb,  und  diese 
Beobachtungen  allein  würden  schon  die  Hinfälligkeit  dieses  Theiles  der 
M  unk 'sehen  Lehre  erweisen. 

Ueber  die  Einwendungen,  dass  ich  thatsächlich  vorhandene  Seh- 
störungen nicht  habe  auffinden  können,  und  dass  das  Orbicularis- 
centrum  durch  secundäre  Entzündungen  beschädigt    gewesen    sei,    habe 


—     581     — 

ich  mich  bereits  im  Vorstehenden,  S.  300 ff.,  mid  an  anderem  Orte 
geäussert.  Ich  recapitulire  nur,  dass  Munk  in  ersterer  Beziehung  als 
einzigen  Beweis  gegen  mich  nur  Vermuthungen  besitzt,  die  er  aber 
nicht  aussprechen  will  und  mm  hier  mit  der  auf  so  woldfeile  Weise 
gewonnenen  Gewissheit  als  Beweis  operirt.  Ueberdies  fehlt  es  in  den 
vorstehenden  Beobachtungen  nicht  an  Beispielen,  bei  denen  die  Hunde 
nach  dem  Licht  oder  der  drohenden  Hand  bissen,  wüthend  knurrten, 
sich  die  Augen  zuhielten,  unruhig  wurden  oder  das  Licht  mit  der  Pfote 
ausschlugen  (ßeobb.  71,  94,  116),  also  den  unzweideutigsten  Beweis  für 
Sehen  und  Erkennen  des  ihnen  unbequemen  Gesichtsobjectes  gaben  und 
dennoch  keinen,  optischen  Reflex  besassen. 

Was  aber  den  Einwand,  es  habe  sich  eine  Entzündung  von  der 
Operationsstelle  auf  den  Gyrus  coronalis  ausgedehnt,  angeht,  so  besitzt 
Munk  als  einzigen  Beweis  dafür  nur  die  allerdings  unbestrittene  That- 
sache,  dass  meine  Beobachtungen  mit  den  seinigen  im  Widerspruch 
stehen.  Wenn  ein  anderer  Beobachter  solche  abweichenden  Beob- 
achtungen macht,  „so  kann  es  nicht  anders  sein",  als  dass  beliebige 
andere  Regionen  durch  die  Operation  geschädigt  worden  sind.  Wenn 
dieser  Beweis  genügt,  „so  sehe  ich  nicht  ein,  aus  welchem  Grunde 
andere  Leute  noch  zu  experimentiren  brauchen,  sie  können  dies  Ge- 
schäft einfach  Herrn  Munk  überlassen,  der  sie  dann  schon  ex  cathedra 
belehren  wird." 

Im  Uebrigen  habe  ich  zur  Entkräftung  des  letztgedachten  Ein- 
wandes,  den  ich  sehr  wohl  verausgesehen  habe,  das  Verhalten  des 
Nasenlidreflexes  bei  allen  meinen  Beobachtungen  verfolgt  und  referirt 
und  überdies  den  Zustand  der  Hirnhäute  beschrieben.  Der  Leser  kann 
sich  ja  ohne  Weiteres  überzeugen,  ob  ich  in  dieser  Hinsicht  mit  der 
nötigen  Sorgfalt  und  Vorsicht  verfahren  bin  oder  nicht. 

Ich  hatte  in  dem  angefochtenen  Vortrag  die  Frage  aufgeworfen: 
„Besteht  eine  solche  unbedingte  Abhängigkeit  des  optischen  Reflexes 
von  der  Sehstörung  in  allen  Fällen  experimenteller  corticaler  Seh- 
störung oder  besteht  sie  nicht?"  Diese  Frage  ist  nach  dem  Vorge- 
tragenen, was  Munk  auch  immer  dagegen  einwenden  mag,  in  ver- 
neinendem Sinne  zu  beantworten  und  es  folgt  daraus,  dass  ein 
Schluss  auf  das  Vorhandensein  oder  die  Beseitigung  von 
„Seelenblindheit"  aus  dem  Fehlen  oder  Vorhandensein  des 
optischen  Reflexes  nicht  gezogen  werden  kann. 

Eine  Frage  für  sich  ist  es,  ob  mit  den  vorstehend  erwähnten  Beob- 
achtungen der  Beweis  zu  führen  ist,  dass  der  optische  Reflex  auch 
subcortical  ausgelösst  werden  kann  —  eine  Frage,  die  ich  für  unent- 
schieden hielt.     Auf  diese  Frage  komme  ich  weiter  unten  kurz  zurück. 


—     582     — 

Hier  handelt  es  sich  um  die  Entscheidung  der  Frage,  ob  meine  eigenen 
Beobachtungen  oder  die  Behauptungen  von  Munk,  dass  das  Fehlen 
des  optischen  Reflexes  ein  Zeichen  von  Seelenblindheit  sei  und  mit  der 
erwähnten  Cur  der  Seeleublindheit  gleichfalls  curirt  werde,  mit  dem, 
was  wir  sonst  über  die  Physiologie  der  Sehrinde  wissen,  besser  ver- 
einbar ist.  Nun  geht  aus  den  oben  erwähnten  Arbeiten  über  die  durch 
die  Faradisirung  des  Occipitalhirns  entstehenden  Augenbeweguugen  her- 
vor, dass  jedenfalls  ein  directer  Weg  von  dort  nach  den  motorischen 
Kernen  der  Augenmuskeln  —  auch  des  Orbicularis  palp.  —  besteht, 
während  eine  Verbindung  der  Sehregion  mit  dem  corticalen  Orbicularis- 
centrum  durch  Associationsbahnen  aus  andern  Gründen  so  gut  wie 
sichergestellt  erscheint.  Wird  nun  ein  Theil  des  Occipitalhirns  ausge- 
schaltet, so  können  diese  centrifugalen  oder  associatorischen  Wege  un- 
zweifelhaft mehr  oder  minder  hochgradig  geschädigt  sein  und  es  wäre 
absolut  nicht  zu  begreifen,  welchen  Einfluss  unter  diesen  Umständen 
die  manchmal  ausserordentlich  schnelle  Wiederkehr  des  Sehvermögens 
oder,  wenn  man  sich  auf  den  Staudpunkt  Munk 's  stellen  will,  das 
Verschwinden  der  Seelenblindheit  auf  die  Wiederkehr  des  optischen 
Reflexes  ausüben  könnte.  Dagegen  entspricht  die  in  so  zahlreichen 
Fällen  beobachtete,  ganz  allmähliche  Wiederkehr  dieses  Reflexes,  sowie 
seine  nicht  selten  dauernde  Abschwächung  —  Erscheinungen,  von 
denen  Munk  garnichts  weiss  —  durchaus  unseren  anderweitigen  Er- 
fahrungen über  die  Erstarkuug  zeitweilig  verlegter  oder  collateraler 
Bahnen. 

Meiner  Meinung  nach  lassen  sich  aus  dem  Vorgetragenen  die 
nachstehenden  Schlüsse  ziehen: 

1.  Da  wir  aus  den  anatomischen  Untersuchungen  v.  Mo- 
nakow's  und  Anderer  wissen,  dass  jede  Ausschaltung  eines 
Theiles  seiner  Sehsphäre  zu  einer  secundären  Degeneration 
bestimmter  Zellgruppen  der  primären  Opticuscentren  führt, 
so  ist  es  sehr  wahrscheinlich,  dass  dadurch  jedesmal  eine 
Veränderung  des  Sehactes  bedingt  wird,  auch  wenn  diese, 
ebenso  wie  beim  Menschen,  auch  beim  Hunde  und  Affen  sich 
der  Erkennung  entzieht.  Dies  gilt  natürlich  auch  A^on  den- 
jenigen Zeiträumen,  in  denen  eine  vorher  nachweisbare  Seh- 
störung keine  erkennbaren  Zeichen  mehr  hinterlassen  hat. 

2.  Keinerlei  Anzeichen  bestehen  dafür,  dass  diese  Ver- 
änderung des  Sehactes  beim  Hunde,  wenn  und  solange  sie 
nachweisbar  ist  in  „  Seelenblindheit",  also  in  einem  Verluste 
der  Erinnerungsbilder  der  Gesichtsobjecte  bestehe,  oder  dass 
die  Restitution  durch  Wiedererwerb  verloren  gegangener  Ge- 


—     583     — 

Sichtsvorstellungen  bedingt  und  durch  das  Eingreifen  des 
Experimentators  zu  vermitteln  s(!i.  Vielmehr  lassen  sich 
alle  zu  beobachtenden  Erscheinungen,  insoweit  sie  mit  dem 
Sehact  zusammenhängen,  durch  eine  Herabsetzung  der  Licht- 
empfindlichkeit, des  Farbensinnes  und  des  Ortssinnes  der 
Sehorgane  erklären. 

3.  Diese  Functionsschwäche  tritt,  abgesehen  von  ge- 
wissen individuellen  Verschiedenheiten,  ausnahmslos  am 
stärksten  in  den  oberen  lateralen  und  am  schwächsten  in 
den  unteren  medialen  Abschnitten  des  Gesichtsfeldes  her- 
vor, derart,  dass  die  medialen,  namentlich  deren  unterste 
Abschnitte,  sowohl  von  Anfang  an  weniger  geschädigt  er- 
scheinen, als  auch  sich  von  ihrer  Schädigung  am  schnellsten 
und  in  der  Diagonale  von  unten  innen  nach  oben  aussen 
wieder  erholen. 

4.  Wendet  man  auf  diese  Erfahrungen  die  bezüglich  der 
Vertretung  der  Macula  des  Menschen  in  der  Rinde  von 
V.  Monakow  avifgesteli  te  und  von  Bernheimer  acceptirte 
Theorie  an,  so  wäre  daraus  zu  schliessen,  einmal,  dass  die 
Bedeutung  der  Retina  für  das  Sehen  des  Hundes  in  der 
Richtung  dieser  Diagonale  nach  den  unteren  und  nasalen 
Theilen  des  Gesichtsfeldes  zu  anwächst  und  zweitens,  dass 
die  einzelnen  Segmente  der  Retina  entsprechend  dieser  ihrer 
verschiedenen  Wichtigkeit  für  die  Existenzbedingungen  des 
Hundes  mit  verschiedener  Mächtigkeit  in  den  einzelnen 
Segmenten  der  Sehsphäre  vertreten  sind.  Unzweifelhaft 
trifft  diese  erste  Folgerung  für  den  Hund  deshalb  zu,  weil 
für  ihn,  indem  er  für  das  Aufsuchen  seiner  Nahrung  auf  dem 
Boden  und  mit  Hülfe  der  Nase  angewiesen  ist,  die  unteren 
und  nasalen  Abschnitte  des  Gesichtsfeldes  die  grösste,  und 
die  oberen  lateralen  Abschnitte  desselben  die  geringste 
Wichtigkeit  besitzen.  Im  Zusammenhang  hiermit  steht  auch 
die  Thatsache,  dass  die  Trennungslinie  der  beiden  Gesichts- 
feldhälften nicht  in  deren  Meridian,  sondern  erheblich  weiter 
medianwärts  liegt.  Dagegen  steht  mit  dieser  Auffassung 
nicht  im  Widerspruch,  dass  die  Macula  selbstverständlich 
auch  beim  Hunde  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  und  Er- 
kennens  für  die  einmal  aufgespürten  und  fixirten  Objecto 
bleibt.  Sie  participirt,  wenn  auch  nicht  in  erster  Linie,  an 
der  Bevorzugung  dieses  Theiles  des  Gesichtsfeldes.  — 

Ich   habe  oben  S.  290 ff.  die  Behauptung  Loeb's,  dass  der  operirte 


—     584     — 

Hund  immer  mit  der  Stelle  des  deutlichen  Sehens  am  Besten  sehe,  eine 
Behauptung,  der  sich  Goltz  angeschlossen  hatte,  ausführlich  erörtert 
und  nachgewiesen,  dass  das  von  ihm  behauptete  Verhalten  nach  seiner 
eigenen  Schilderung  des  Sachverhaltes  in  sich  unmöglich  sei.  Aus  dem 
Vorgetragenen  ergiebt  sich  nun,  dass  der  Irrthum  von  Loeb  und 
Goltz  aus  ihrer  Unbekanntschaft  mit  dem  Decursus  der  operativen 
Sehstörung  fliesst. 

Der  eine  Theil  der  von  ihm  mitgetheilten  Beobachtungen,  welcher 
die  Angaben  Munk's  über  'die  Betheiligung  jeder  der  beiden  Hemi- 
sphären   au    der    Innervation    der    beiden    Ptetinae    betrifft,    entspricht 

—  wenn  auch  nicht  in  allen  Fällen  —  der  Wirklichkeit,  aber  dieser 
Theil  widerspricht  wieder  der  Angabe,  dass  die  Stelle  des  deutlichen 
Sehens  immer  am  Besten  sehe.  Der  andere  Theil  dieser  Angaben,  der 
sich  also  auf  das  Sehen  der  lateralen  ^/^  des  Gesichtsfeldes  bezieht,  ist 
deshalb  unrichtig,  weil  er  sich  offenbar  auf  die  Untersuchung  von 
solchen  Hunden  stützt,  bei  denen  die  Sehstörung  sich  bereits  in  oder 
über  die  Stelle  des  deutlichen  Sehens  zurückgezogen  hatte.  Diese 
Stelle  wird,  wie  wir  gesehen  haben,  relativ  früh  frei,  und  um  so  leichter 
konnte  deshalb  jener  Irrthum  entstehen;  aber  in  der  Majorität  aller 
Fälle  von  grösseren  Ausschaltungen  der  Sehrinde,  auch  wenn  diese 
nicht  zur  Rindeublindheit  führen,  ist  sie  anfänglich  mit  in  das  Scotom 
einbezogen,  so  dass  davon,  dass  sie  immer  am  Besten  sehe,  nicht  wohl 
die  Rede  sein  kann. 

III.     Der  Mechanismus    des  Sehens,    der  Sehstörung    und    der 

Restitution. 

Weiui  selbst  tiefgreifende  Läsionen  der  Sehsphäre  in  der  Regel 
vorübergehende,  aber  eben  nur  solche  und  manchmal  gar  keine  erkenn- 
baren Sehstörungen  zur  Folge  haben,  so  müssen  ausserhalb  der  Seh- 
sphäre solche  Organe  vorhanden  sein,  welche  in  der  Norm  das  Sehen 
und  in  der  Pathologie  die  Aufhebung  und  die  Wiederkehr  des  Sehens 
vermitteln.  Ganz  besonders  wird  diese  Auffassung  dadurch  zu  einer 
zwingenden  Nothwendigkeit,    dass  es  sowohl  nach  occipitalen    als  auch 

—  wenngleich  seltener  —  nach  frontalen  Eingriffen  gew^öhnlich  zu 
totaler  homonymer  Hemianopsie  oder  Hemiamblyopie  kommt,  welche 
sich  dann  nach  den  in  dem  A^orstehenden  geschilderten  Gesetzen  wieder 
verliert.  Welchen  Antheil  man  auch  immer  den  Einflüssen  der  sog. 
Nebenwirkungen  an  diesen  Erscheinungen  zuschreiben  mag,  sie  reichen 
zu  ihrer  vollständigen  und  befriedigenden  Aufklärung  nicht  hin,  so  dass 
ich  von  ihrer  Erörterung  um  so  mehr  absehen  kann,  als  davon  auch  in 


—     585     — 

meinen  Arbeiten  schon  oft  genug  die  llede  gewesen  ist.  Goltz  und 
seine  Schüler  waren  durch  diese  Erfahrungen  bekanntlich  dazu  vci'- 
anlasst  worden,  die  subcorticalen  Ganglien  zur  Erklärung  dieser  Phä- 
nomene heranzuziehen;  sie  gingen  jedoch  darin  insofern  zu  weit,  als 
sie  —  wie  ich  dies  schon  in  den  vorstehenden  Abhandlungen  erläutert 
habe  —  dem  Grosshirn  und  namentlich  dessen  einzelnen  Regionen 
keinerlei  specifische  Verrichtungen  zugestehen  wollten,  während  seine 
Gegner  —  Munlv  u.  A.  —  wieder  in  den  entgegengesetzten  Fehler 
verfielen. 

V.  Monakow')  hat  nun  neuerdings  eine  Theorie  entwickelt,  welche 
den  erwähnten  Voraussetzungen  in  fruchtbarer,  wenn  auch  noch  nicht 
überall  befriedigender  Weise  Rechnung  trägt;  wir  wissen,  vornehmlich 
durch  seine  eigenen  Versuche,  dass  ein  System  von  Ganglienzellen  der 
primären  Opticuscentren,  insbesondere  des  Corpus  geniculatum  laterale, 
nach  Ausschaltungen  innerhalb  der  Sehsphäre  degenerirt.  xVndererseits 
degenerirt  in  Folge  von  Enucleation  eines  Auges  die  gelatinöse  Sub- 
stanz dieses  Ganglion,  in  welche  sich  die  Endbäumchen  der  centri- 
petalen  Opticusfasern  einsenken.  Verschont  bleibt  in  dem  einen  wie 
in  dem  anderen  Falle  ein  von  Golgi  entdecktes,  aber  von  ihm  irrthüm- 
lich  für  sensibel  gehaltenes  System  von  Zellen,  welches  mit  seinen 
Endbäumchen,  ohne  centripetal  oder  centrifugal  markhaltige  Nerven- 
fasern zu  versenden,  mit  den  Endbäumchen  der  Opticusfasern  und  jenem 
anderen  System  von  Ganglienzellen  in  Contact  tritt.  Diese  Ganglien- 
zellen hat  V.  Monakow  als  Schaltzellen  bezeichnet  und  ihnen  die 
Fähigkeit  zugesprochen,  „Erregungen  von  verschiedenen  Seiten  zu  em- 
pfangen und  sie  nach  verschiedenen  Richtungen  zu  übertragen  und  dies 
alles  durch  Vermittelung  der  Substantia  gelatinosa".  In  der  Regel 
erfolgt  die  Weiterbeförderung  der  Reize  auf  dem  kürzesten  Wege,  also 
durch  die  den  einzelnen  Opticusfasern  zunächst  gelegenen  Zellencom- 
plexe.  Wird  aber  die  Function  einer  grösseren  oder  geringeren  Zahl 
von  Neuronen  des  Projectionssystems  Ganglion  geniculatum  —  Rinde 
durch  einen  Herd  in  der  Sehsphäre  ausgeschaltet,  so  können  gleich- 
wohl die  Reize,  welche  durch  Vermittelung  der  nächst  betheiligten 
Opticusfasern  anlangen,  auf  dem  Wege  durch  die  Substantia  gelatinosa 
und  die  Schaltzellen    noch  sämmtiich    auf  die  Rinde    projicirt  werden. 


1)  V.  Monakow,  Ueber  den  gegenwärtigen  Stcand  der  Frage  nach  der 
Localisation  im  Grosshirn.  Ergebnisse  der  Physiologie.  Erster  Jahrgang. 
S.  647  f.,  659  etc.  und  Experimentelle  und  pathologisch-anatomische  Unter- 
suchungen über  die  optischen  Centren  und  Bahnen  nebst  klinischen  Beiträgen 
zur  corticalen  Hemianopsie  und  Alexie.  Archiv  für  Psychiatrie.  Bd.  XXIV. 
H.  1.    8.87  ff. 


—     586     — 

Auf  diese  Weise  würde  sich  allerdings  jene  relative  Projection  der 
Netzhaut  auf  die  Sehsphäre,  von  der  oben  S.  562  ff.  die  Rede  war  und 
die  Tbatsache  erklären,  dass  partielle  Rindenblindheit,  wie  V.Monakow 
selbst  zugiebt,  nicht  nothwendig  auf  Partialexstirpationen  der  Sehsphäre 
folgt.  Indessen  steht  der  allgemeinen  Anwendbarkeit  dieser  Lehre  doch 
die  Majorität  meiner  Beobachtungen  entgegen,  da  aus  diesen  hervor- 
geht, dass  selbst  so  lockere  Beziehungen  zwischen  den  einzelnen  Seg- 
menten der  Retina  und  denen  der  Rinde  nur  in  einer  Minderzahl  von 
Fällen  und  nur  mit  Bezug  auf  einzelne  corticale  Areale  bestehen.  Zu 
dieser  Majorität  gehören  namentlich  auch  diejenigen  Beobachtungen, 
bei  denen  eine  erkennbare  oder  eine  nennenswerthe  Sehstörung  in  Folge 
von  ausgedehnten  Rindenexstirpationen  nicht  eintrat.  M'ie  ich  aus 
physiologischen,  nimmt  ßernheimer,  der  im  Uebrigen  gleichfalls  die 
Auffassung  v.  Monakow 's  theilt,  aus  anatomischen  Gründen  an,  dass 
in  dieser  Beziehung  die  grössten  individuellen  Verschiedenheiten  be- 
stehen. 

Nach  der  Theorie  v.  Monakow's^)  würde  sich  „eine  acute  Hemi- 
amblyopie,  wie  sie  Hitzig  nach  Abtragung  der  Stelle  Ai^)  erhalten 
hat,  so  erklären,  dass  die  in  der  Zone  Ai  (von  Munk)  normaliter 
ziehenden  Sehstrahlungsfasern  bereits  in  ihren  Ursprungszelleu  im 
Corp.  gen.  ext.  (in  Folge  der  Continuitätstrennung)  nicht  nur  lahm 
gelegt  würden  und  secundär  degenerirten,  sondern  durch  ihre  plötz 
liehe  Ausscheidung  aus  dem  gesammten  optischen  Verband 
die  ganze  Leitungsorganisation  im  Corp.  gen.  ext.  vorüber- 
gehend derart  beeinträchtigen  würden,  dass  auch  die  ausser 
directer  Beziehung  mit  A^  stehenden  Nervenzellen  des  Corp. 
gen.  ext.  (Nachbarzellen)  vorübergehend  (bis  zur  Neuorganisation 
der  Umschaltung)  ihre  Thätigkeit  ganz  einstellten".  Diesen  Vor- 
gang nennt  er  „Diaschisis".  In  gleicher  Weise  erklärt  v.  Monakow 
auch  die  nach  anderweitigen  Eingriffen  in  den  Cortex  auftretenden 
Erscheinungen,  z.  B.  die  motorischen  Lähmungserscheinungen  und  deren 
partielle  Restitution.  Der  Annahme  der  Mitwirkung  von  besonderen 
Hemmungsnerven  bei  diesen  Vorgängen  steht  er  ablehnend  —  wie 
übrigens  auch  ich  —  gegenüber,  während  er  die  Betheiligung  anderer 
Nebenwirkungen,  auf  die  ich  mich  hier  nicht  nochmals  einlassen  will, 
zulässt.  Das  hauptsächliche  Bindeglied  zwischen  dem  Ein- 
griff   und    der   vorübergehenden  Störung    findet  er    aber    „in 


1)  V.  Monakow,   Ergebnisse.    S.  570  f. 

2)  Solche  Hemiamblyopien  oder  Hemianopsien  treten  übrigens,   wie  man 
gesehen  hat,  keineswegs  allein  nach  Abtragung  der  Stelle  A^^  auf. 


—     587     — 

der  Entziehung  einer  wesentlichen  Erregungs(iuelle  der 
Uebertrngungszelle  durch  den  Wegfall"  eines  bestimniten 
Zuleitungsweges,  durch  welche  eben  die  Diaschisis  bewirkt  wird. 
V.  Monakow  exemplificirt  hier  mit  den  bei  den  frontalen  Schädi- 
gungen gemachten  Erfahrungen  und  demgemäss  ist  ihm  die  Pyramiden- 
bahn jener  bei  den  motorischen  Erscheinungen  in  Betracht  kommende 
Zuleitungsweg.  Aber  abgesehen  davon,  ob  man  den  optischen  Theil 
der  Sehstrahlung  als  einen  solchen  Erregungsweg  für  die  Zeilen  des 
Ganglion  geniculatum  laterale  betrachten  kann,  beweist  gerade  das 
gewählte  Beispiel  das  Gegentheil  von  dem,  was  es  beweisen  soll,  denn 
nach  den  Versuchen  von  Stärlinge  r^)  und  seiner  Nacharbeiter 
kann  die  Durchschneidung  der  Pyramiden  so  gut  wie  symptomlos 
bleiben,  oder  sie  hat  wenigstens  keineswegs  adäquate  Symptome  zur 
Folge;  ungeachtet  der  Durchschneidung  des  Stranges,  in  dem  all  diese 
ErreguDgswege  zusammenliegen,  tritt  also  keine  solche  Diaschisis  ein, 
mit  anderen  Worten,  es  fehlen  die  höchst  auffälligen  Erscheinungen, 
durch  welche  die  ersten  dem  corticalen  Eingriff  folgenden  Tage  cha- 
rakterisirt  werden.  Danach  hat  es  nicht  den  Anschein,  als  wenn  das 
Wesentliche  des  Vorganges  in  dem  Ausfalle  der  Bahn  und  der  sie 
durchlaufenden  Erregungen  bestehe,  sondern  es  ist  für  den  motorischen 
Theil  dieser  Störungen  jedenfalls  in  der  veränderten  Function  der 
Rinde  zu  suchen.  Ich^)  habe  mich  über  diese  Frage  vor  einiger  Zeit 
wie  folgt  geäussert:  „Wenn  bei  dem  cortical  verstümmelten  Hunde  und 
im  gewissen  Sinne  auch  beim  Affen  zunächst  ein  wirres  Durcheinander 
oder  wohl  auch  ein  gänzliches  Fehleu  der  motorischen  Aeusserungen 
zu  beobachten  ist,  so  erklärt  sich  dies,  insoweit  nicht  Hemmungs-Shok- 
Wirkungen  Platz  greifen,  dadurch,  dass  die  restirenden  motorischen 
Impulse  in  einer  ungewohnten  und  regellosen  Form  abgegeben  werden. 
Allmälig  findet  dann  mit  dem  Aufhören  der  Shokwirkungen  eine  An- 
passung an  die  neuen  Verhältnisse  und  gleichzeitig  eine  Bahnnng  noch 
vorhandener  Leitungswege  statt."  Ich  will  nun  dahingestellt  sein 
lassen,  ob  der  Process  sich  physiologisch  oder  psychologisch  betrachtet, 
bei  einem  centripetalen  Vorgange  genau  parallel  jenem  centrifugalen 
Vorgange  abspielen  muss,  ich  lege  auch  nicht  das  gleiche  Gewicht  wie 
v.  Monakow  darauf,  ob  man  die  temporäre  Hemmung  der  Function 
jener    Organe    als    Product    einer    Reizung    oder    einer  Lähmung,    oder 


1)  Starlinger,   „Die  Durchschneidung  beider  Pyramiden  beim  Hunde". 
Jahrbuch  für  Psychiatrie.    Bd.  XV.    H.  1. 

2)  E.  Hitzig,   Hughlings  Jackson  und   die  motorischen  Rindencentren. 
Berlin  1900.   S.  37. 


—     588     — 

beider  auffassen  will.  Aber  rein  thatsächlich  sprechen  die  neuen  von 
mir  beigebrachten  Erfahrungen  über  die  Folgen  von  operativen  Ein- 
griffen in  die  Sehrinde  doch  ebenso  gegen  die  Hypothese  v.  Monakow's 
über  die  Gründe  der  „Diaschisis",  wie  die  oben  erwähnten  Erfahrungen 
über  die  Folgen  operativer  Eingriffe  in  das  cortico-musculäre  Gebiet. 
Denn  diese  Hypothese  reicht  nur  für  die  von  v.  Monakow  erwähnten  Fälle 
mit  positivem  Resultate  aus,  sie  versagt  aber  für  alle  jene  Fälle,  in 
denen  die  Sehstörung  ausblieb.  Denn  hier  sieht  man  keine  optischen 
Wirkungen  der  Diaschisis  eintreten,  obschon  hier  ganz  der  gleiche 
Wegfall  einer  wesentlichen  Erregungsquelle  der  üebertragungszelle,  wie 
bei  jenen  anderen  Fällen  angenommen  werden  muss. 

Ich  stimme  mit  v.  Monakow  also  insofern  überein,  dass  jeder 
Eingriff  in  die  Sehrinde  eine  solche  Störung  der  Leitungsorganisation 
im  Corpus  geniculatum  extern,  zur  Folge  haben  kann,  dass  sämmtliche 
Nervenzellen  desselben  ihre  Thätigkeit  vorübergehend,  d.  h.  bis  zur 
Neuorganisation  der  Leitung  einstellen,  ich  kann  aber  nicht  zugeben, 
dass  eine  zutreffende,  auf  alle  Beobachtungen  passende  Erklärung  dieses 
Vorganges,  den  ich  dem  allgemeinen  Sprachgebrauch  folgend  als 
Hemmung  bezeichne,  bisher  erbracht  sei. 

Ebenso  wenig  kann-  ich  eine  Polemik,  welche  v.  Monakow  vor 
Kurzem  gegen  eine  von  mir  mit  allem  Vorbehalt  i)  geäusserte  Hypo- 
these gerichtet  hat,  als  berechtigt  anerkennen.  Ich  hatte  eine  Anzahl 
der  nach  corticalen  Eingriffen  zu  beobachtenden  Erscheinungen  durch 
Veränderxmgen  in  den  subcorticalen  Centren  erklärt  und  hatte  dann  ge- 
meint, diese  seien  „vielleicht"  auf  secundäre  Degeneration  zurückzu- 
führen; diese  Veränderungen  müssten  sich  aber  in  jedem  Falle  von 
dem  einen  auf  das  andere  subcorticale  Centrum  ausdehnen,  v.  Mona- 
kow hat  dagegen  eingewendet,  diese  nur  von  mir  bisher  beobachteten 
Erscheinungen  bedürften  der  sorgfältigen  Nachprüfung  auf  ihre  That- 
sächlichkeit  und  meine  Erklärung  baute  sich  auf  zwei  unerwiesenen 
anatomischen  Voraussetzungen  auf,  „a)  auf  die,  dass  die  secundären 
Zerfallsproducte  der  Nervenfasern  einen  Reiz  auf  ihre  Nachbarschaft 
ausüben,  und  b)  dass  centrifugale  Fasern  vom  Gyrus  sigmoides  und  von  A^ 
zu  den  primären,  subcorticalen  optischen  Centren  ziehen".  Von  beiden  wisse 
man  aber  nichts.  Ich  leugne  nun  durchaus  nicht  ab,  dass  ich  auch  in  diesem 
Falle,  wie  schon  recht  oft,  von  mir  zuerst  und  allein  beobachtete  Thatsachen 


1)  Ich  sagte  mit  Bezug  darauf  wörtlich:  Ich  verkenne  keineswegs,  dass 
sich  zahlreiche  anderweitige  Fragen  bei  dem  Studium  dieser  Thatsachen  auf- 
drängen und  dass  auch  die  hier  erläuterten  Fragen  einer  verschiedenen  Be- 
trachtungsweise zugänglich  sind.     (Ueber  den  Mechanismus  etc.) 


—     589     — 

veröffentlicht  habe,  und  Niemuiul  wird  sic^li  nudir  IVoueii  :ds  icli,  wcmi 
dieselben  auch  diesmal  auf  ihre  „ThatsiichlichUeit"  nachgeprüft  werden, 
indessen  glaube  ich  doch,  dass  die  Resultate  früherer  Nachprüfmigen 
eine  besondere  Veranlassung  zu  einer  solchen  Bemerkung  nicht  gegeben 
haben.  Die  Voraussetzung  ad  a)  habe  ich  aber  garnicht  ausgesprochen, 
sondern  v.  Monakow  vermuthet  sie  nur  bei  mir,  ich  kann  also  billig 
dahingestellt  sein  lassen,  was  es  damit  auf  sich  hat.  Was  die  Voraus- 
setzung ad  b)  angeht,  so  weiss  ^  abgesehen  von  strittigen  anatomischen 
Fragen  —  Niemand  besser  als  v.  Monakow,  dass  markhaltige  Ver- 
bindungen von  dem  Gyrus  sigmoides  nach  dem  Thalamus  opticus  führen 
und  welche  marklosen  Verbindungen  von  dort  nach  andern  subcorticalen 
Centren  führen,  weiss  vermuthlich  Niemand. 

Indessen  war  dies  eine  Hypothese  oder  eigentlich  der  Theil  einer 
Hypothese,  auf  die  ich,  wie  erwähnt,  ein  besonderes  Gewicht  nicht 
legte.  Es  kam  mir  nur  auf  den  Nachweis  an,  dass  die  zu  beob- 
achtenden Erscheinungen  durch  die  alleinige  Inanspruch- 
nahme der  Rinde  nicht  zu  erklären  seien  und  hierin  stimme  ich 
ja  mit  V.  Monakow  überein.  Beide  nehmen  wir  an,  dass  corticale 
Eingriffe  zu  organischen  und  functionellen  Veränderungen  in  den  pri- 
mären Gentren  führen.  Die  Differenz  besteht  nur  darin,  dass  die  Er- 
gebnisse meiner  Versuche  mich  zur  Annahme  einer  weiteren  Ausbreitung 
der  Folgen  des  Eingriffes  durch  das  Centralnervensystem  zwingen,  als 
dies  den  Anschauungen  v.  Mouakow's  entspricht. 

Die  damalige  Fragestellung  gründete  sich  auf  folgende  üeberlegung. 
Wenn  die  durch  verschiedene  Eingriffe  in  das  Grosshirn  entstehenden 
Sehstörungen  sämmtlich  auf  die  Rinde  zu  beziehen  waren,  so  w-aren 
einzig  zwei  Dinge  möglich i),  „entweder  der  Hund  hatte  nur  ein  corti- 
cales,  im  Hinterhauptslappen  belegenes  Sehcentram,  oder  er  besass 
deren  mehrere,  von  denen  mindestens  eines  im  Vorderlappen  belegen 
sein  musste.  War  die  letztere  Annahme  zutreffend,  so  musste  eine  suc- 
cessive  Verletzung  der  verschiedeneu,  dem  Sehen  dienenden  corticalen 
Gebiete  mit  Nothwendigkeit  eine  Summirung  vorhandener  oder  ein 
erneutes  Wiederaufleben  bereits  verschwundener  Sehstörungen  herbeiführen. 
War  die  erstere  Annahme  zutreffend,  so  brauchten  solche  Erscheinungen 
bei  successiven  Eingriffen  keineswegs  einzutreffen;  aber  über  das,  was 
man  dabei  zu  sehen  bekommen  würde,  konnte  man  zunächst  nur  Ver- 
muthungen    hegen".      Bei    den    zur    Entscheidung    dieser    Frage    ange- 


1)  E.  Hitzig,  „Ueber  das  corticale  Sehen  des  Hundes".  Vortrag, 
gehalten  in  der  Section  für  Neurologie  des  13.  internationalen  medicinischen 
Congresses  zu  Paris.    Archiv  für  Psychiatrie.    Bd.  33.  1900. 


—     590     — 

stellteil  Versuchen  hatte  ich  dann  gefunden,  dass  schon  nach  einfacher 
Aufdeckung  des  Gyrus  sigmoides,  sowie  nach  anderen  Schädigungen  seiner 
Rinde  oder  seiner  Markstrahlung  Sehstörungen  eintreten  können,  dass 
diese  Sehstörungen  aber  ausbleiben  können,  wenn  eine 
Operation  innerhalb  der  Sehsphäre,  die  selbst  Sehstörungen 
zur  Folge  hatte,  vorangegangen  ist,  ferner,  dass  auch  Seh- 
störungen nach  Verletzungen  des  Occipitalhirns  ausbleiben 
können,  wenn  eine  Verletzung  des  Gyrus  signi.  vorange- 
gangen war.  Von  jener -Suramirung  vorhandener  oder  dem 
Wiederaufleben  verschwundener  Sehstörungen  war  also  erst 
recht  gar  keine  Rede. 

Die  letzteren  Beobachtungen  habe  ich  in  der  Casuistik  der  vor- 
liegenden Abhandlung  unter  dem  Abschnitt  „centrale  secundäre  Opera- 
tionen" mit  den  notwendigen  Einzelheiten  raitgetheilt  Aus  den  Resul- 
taten dieser  Versuche  hatte  ich  den  Schluss  gezogen,  dass  der  Gyrus 
sigm.  überh.'iupt  kein  Sehcentrum  und  die  damals  hauptsächlich  ins 
Auge  gefasste  Stelle  A^    kein  Sehcentrum  im  Sinae  Munk's  sei. 

Da  die  Sehstörung  in  allen  diesen  Fällen,  so  ausgedehnt  sie  auch 
sein  mochte,  immer  vergänglich  war,  so  fasste  ich  sie  dem  Sprachge- 
brauch gemäss,  als  Folge  einer  Hemmung  auf  und  bezeichnete  als 
Ursache  dieser  Hemmung  einen  Reiz.  Ich  wiederhole  aber,  dass  es  mir 
auf  diese  beiden  Bezeichnungen  ganz  und  gar  nicht  ankommt.  Ausge- 
schlossen war  dabei  aber  keineswegs,  dass  ein  Theil  der  durch  den 
Eingriff  in  die  Sehsphäre  entstehenden  Sehstörung  direct  auf  den  Aus- 
fall des  ausgeschalteten  Stückes  Rinde  zu  beziehen  sei:  denn  dass  die 
Sehrinde  zur  Apperception  der  optischen  Wahrnehmungen  bestimmt  sei, 
habe  ich  natürlich  nie  bezweifelt.  Nur  allein  auf  die  Rinde,  wne 
Munk  dies  gethan  hatte,  oder  hauptsächlich  auf  die  Rinde  konnte 
sie  unmöglich  bezogen  werden. 

Auf  eine  Erschütterung  oder  eine  Beleidigung  der  Sehsphäre 
konnten  die  frontalen  Sehstörungen  schon  deshalb  nicht  zurückgeführt 
werden,  weil  der  Eingriff  bei  einfacher  Aufdeckung  zu  geringfügig  war 
und  weil  diese  Sehstörungen,  wenn  sie  vielfach  auch  nur  von  kurzer 
Dauer  waren,  unter  Umständen  auch  eine  längere  Dauer,  22 — 24  Tage, 
besassen,  während  es  genug  P'älle  von  directen  Verletzungen  der  Seh- 
sphäre giebt,  bei  denen  die  Sehstörung  von  erheblich  kürzerer  Dauer  ist. 

Munk  (a.  a.  0.  S.  3)  hat  mir  unter  anderem  seither  eingevvendet: 
„Es  konnte  nicht  anders  sein",  als  dass  sich  eine  Encephalitis  oder 
Encephalomeningitis  eingestellt  und  sich  später  wieder  zurückgebildet 
hatte,  ohne  sichtbare  Spuren  zu  hinterlassen.  Wenn  Herr  Munk  die 
von  ihm  mit  Vorliebe  gebrauchte  Redewendung  „es  konnte  nicht  anders 


—     591     — 

sein"  anwendet,  so  ist  es  immer  anders  und  dies  trifft  aiicli  im  \fir- 
liegenden  Falle  zu.  Encophalitidcn  oder  Encophalomeningitiden  sind 
mir  natürlich  auch  vorgekommen,  aber  ich  habe  sie  dann  beschrieben 
und  sachgemäss  gewürdigt.  In  den  zum  Beweise  benutzten  Fällen 
waren  sie  jedoch  nicht  aufzufinden  und  dass  solche  Vorgänge  sich 
zurückbilden  sollten,  ohne  sichtbare  Spuren  zu  hinterlassen,  ist  nichts 
als  eine  willkürliche  Behauptung  des  Herrn  Munk,  welche  man  deshalb 
ganz  unberücksichtigt  lassen  kann,  weil  niemand  ausser  ihm  selbst  an 
sie  glauben  wird,  dafern  er  selbst  dies  etwa  thun  sollte i). 

Wenn  der  Gyrus  sigm.  kein  optisches  Centrum  war,  obschon  seine 
Verletzung  nicht  selten  zu  Sehstörungen  führt,  während  eine  Behelligung 
der  Sehsphäre  nicht  zur  Erklärung  benutzt  werden  kann,  so  war  bei 
Weitem  das  Wahrscheinlichste,  dass  die  wesentliche  Rolle  bei  dem  Zu- 
standekommen der  fraglichen  Erscheinungen  die  subcorticalen  Ganglien 
spielen. 

Auch  der  Umstand,  dass  die  frontale,  wie  die  occipitale  Sehstörung 
jedesmal  den  hemianopischen  Charakter  trug,  sprach  in  diesem  Sinne 
und  endlich  bestärkte  das  Verhalten  der  optischen  Reflexe  in  dieser 
Auffassung.  Ich  schloss  unter  diesen  Umständen,  dass  die  subcorticalen 
Centren  jedesmal  bei  der  zeitweisen  Einstellung  der  Function  eine 
wesentliche  Rolle  spielten  und  dass  dabei,  je  nach  dem  Orte  des  Ein- 
griffs, das  eine  Mal  eine  Uebertragung  des  Reizes  von  dem  motorischen 
auf  das  optische  oder  von  dem  optischen  auf  das  motorische  Centrum 
statthätte. 

Zu  den  eben  recapitulirten  Thatsachen  kommen  nun  die  neuen 
Thatsachen  hinzu,  erstens,  dass  die  Sehstörung  selbst  nach  grossen  und 
tiefgreifenden  Ausschaltungen  von  Stücken  des  Occipitalhirns  relativ 
häufig  fehlen  oder  minimal  sein  kann,  wenn  eine  Zerstörung 
innerhalb  der  anderen  Hemisphäre  vorangegangen  ist. 
Zweitens,  dass  sogar,  in  allerdings  selteneren  Fällen,  eine  flächenhaft, 
nicht  unerhebliche  Ausschaltung  innerhalb  des  Occipitalhirns,  auch 
wenn  keine  andere  Operation  vorhergegangen  ist,  keine  oder  doch  nur 
eine  kaum  nachweisbare  Sehstörung  zur  Folge  hat;  drittens,  dass  die 
Vornahme  einer  symmetrischen  Operation  innerhalb  des  Occipitalhirns 
das  Auftreten  eines  symmetrisch  gestalteten  Scotoms  nicht  begünstigt, 
sondern  eher  zu  verhindern  scheint. 


1)  Vergl.  hierzu  den  ersten  Theii  dieser  Abhandlung,  frontale  Läsionen 
diese  Untersuchungen  S.  181,  meinen  Aufsatz  „Ueber  die  motorische  Region 
des  Hundehirns  und  über  die  Polemik  des  Herrn  Munk 's".  Archiv  für  Psy- 
chiatrie Bd.  XXXVI.  Heft  2. 


—     592     — 

Bleiben  wir  uiin  zunächst  bei  der  oben  entwickelten  Theorie  von 
der  Rolle,  welche  die  snbcorticale  Schaltvorrichtung  beim  Sehen  und 
bei  der  Entstehung  der  Sehstörung  spielt,  stehen,  so  ist  nicht  zu  be- 
zweifehi,  dass  sie  durch  diese  Thatsachen  die  festeste  Begründung  er- 
fährt. Denn  wenn  grosse  Stücke  der  Sehrinde  einer  vorher  unberührten 
Hemisphäre  ohne  erkennbare  Sehstörung  ausgeschaltet  werden  können, 
so  ist  klar,  dass  der  bewusste  Sehact,  wenn  auch  keinenfalls  in  seiner 
normalen  Schärfe  ohne  Mitwirkung  dieses  Stückes  Sehrinde  vor  sich 
gehen  kann,  dass  also  di'e  in  anderen  Fällen,  z.  B.  bei  der  vorange- 
gangenen symmetrischen  Operation  auftretende  Sehstörang  überhaupt 
nicht  nothwendig  auf  den  Ausfall  dieses  Stückes  Rinde  bezogen  werden 
muss  und  auch  nicht  auf  _eine  Erschütterung  des  Restes  der  Sehsphäre 
bezogen  werden  kann,  sondern  mindestens  zu  einem  grossen  Theile, 
wenn  nicht  ganz  auf  eine  Störung  des  subcorticalen  Mechanismus  zu 
beziehen  ist. 

Ich  möchte  hierzu  jedoch  erläuternd  hervorheben,  dass  hier  nur 
von  der  Convexität  und  einem  Theile  der  medialen  und  basalen  Fläche 
die  Rede  ist.  Wie  sich  die  Gegend  der  Calcarina  mit  ihrer  medialen 
und  basalen  Nachbarschaft  verhält,  in  der  nach  neueren  Untersuchungen 
CHen  scheu,  v.  Monakow,  Beruheimer  u.  a.)  das  haupt- 
sächliche Sehcentrum  zu  vermuthen  ist,  will  ich  unerörtert  lassen. 

Wir  haben  also  die  jeder  aprioristischen  Annahme  zuwiderlaufende 
Thatsache  vor  uns,  dass  das  Auftreten  einer  Seh  Störung  sowohl  durch 
eine  vorgängige  Beschädigung  der  gleichen,  als  auch  der  2.  Hemi- 
sphäre erschwert  werden  kann,  und  die  Erklärung  dafür  ist  in  keiner 
anderen  Weise  zu  finden,  als  dass  die  Zustände,  die  Lei- 
tung s  v  o  r  r  i  c  h  t  u  n  g  e  n  der  subcorticalen  C  e  n  t  r  e  n 
durch  die  v  o  r  g  ä  n  g  i  g  e  Operation  in  e  n  t  s  p  i-  e  c  h  e  n  d  e  r 
Weise  verändert  worden  sind. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  nun  die  oben  ad  3  und  2  angeführten 
Thatsachen,  so  scheint  sich  das  Folgende  über  die  Leitungsverhält- 
nisse in  den  subcorticalen  optischen  Centren  (vornehmlich  also  dem 
Ganglion  geniculatum  laterale)  zu  ergeben.  Die  Schaltungsvorrichtung 
hat  im  Allgemeinen  den  Zweck,  eine  gleichmässige  Vertheilung  der 
Lichtreize  auf  die  gesammte  corticale  Sehfläche  nach  Maassgabe  der 
Dichte  der  in  die  einzelnen  Segmente  einmündenden  Fasern  der  Seh- 
strahlung zu  bewirken.  Besonders  intime  Leitungsverhältnisse  zwischen 
einzelnen  Opticusfasern  und  einzelnen  ürsprungszellen  des  corticalen 
Neurons  im  Ganglion  geniculatum  laterale  brauchen  in  der  Norm  nicht 
zu  existiren.  Deshalb  kann  unter  günstigen  Umständen  ein  Theil  der 
Sehrinde  ausgeschaltet  werden,  ohne  dass  die   von  irgend  einem  Theile 


—     593     — 

der  Netzhaut  hen-ühreiuleu  Liclitreize  dem  ßewusstseiii  verloren  zu 
gehen  brauchen.  (Hierdurch  unterscheidet  sich  die  Sehrinde  sehr 
wesentlich  von  der  motorischen  Rinde.)  In  weniger  günstigen  Fällen 
bewirkt  der  durch  den  Eingriff  gesetzte  Reiz,  oder  wie  man  es  sonst 
nennen  will,  eine  Hemmung  der  Thätigkeit  des  Ganglion,  welche  sich 
zwar  gleichmässig  auf  alle  Theile  desselben  erstreckt,  al)cr  naturgemäss 
auf  denjenigen  Segmenten  der  Retina  am  leichtesten  erkennbar  wird, 
welche  die  wenigsten  Fasern  in  das  Ganglion  entsenden.  Dies  sind 
ihre  medialen  und  unteren  Parthien,  sodass  in  der  iMehrzahl  der  Fälle 
als  Folge  solcher  Eingriffe  eine  vorübergehende  Schädigung  der  ein- 
zelnen Segmente  des  Gesichtsfeldes  zunehmend  in  der  Richtung  der 
Diagonale  von  unten  nasal  nach  oben  temporal  eintritt.  In  Ausnahme- 
fällen vermag  sich  jedoch  diese  Hemmung  einseitig  in  oder  durch 
die  Schaltungsvorrichtung  derart  auszubreiten,  dass  andere  Theile  des 
Gesichtsfeldes  zeitweise  stumpfer  oder  garnicht  wahrnehmen,  wobei  mir 
Jceiueswegs  ausgeschlossen  erscheint,  dass  diese  Veränderung  der  Erreg- 
barkeit sich  durch  die  Substantia  gelatinosa  auf  die  Endbäumchen  in 
der  Nachbarschaft  endigender  Retinafasern  fortsetzt.  In  dieser  Weise 
würde  sich  also  die  ausnahmsweise  stärker  hervortretende  Betheiligung 
der  untersten  oder  der  obersten  Segmente  des  Gesichtsfeldes  erklären. 
Erscheint  also  in  diesem  Falle  die  Leitungsfähigkeit  innerhalb  des 
Ganglion  vorübergehend  partiell  beschränkt,  so  kann  man  sich  umge- 
kehrt vorstellen,  dass  sie  durch  eine  vorangehende  Operation,  gleich- 
viel ob  diese  den  frontalen  Abschnitt  der  gleichen  oder  den  occipitalen 
Abschnitt  der  entgegengesetzten  Hemisphäre  betrifft,  derart  verändert 
wird,  dass  ihre  Zugänglichkeit  gegen  hemmende  Einflüsse  abnimmt, 
sodass  nunmehr  der  Einfluss  einer  Ausschaltung  sich  deshalb  nicht 
oder  weniger  geltend  machen  kann,  weil  die  Vertheilung  der  Lichtreize 
auf  den  ganzen  Rest  der  Hemisphäre  ungestört  gleichmässig  erfolgt. 
Auch  für  diejenigen  Fälle,  bei  denen  die  erste  Operation  eine  indi- 
viduell verschiedene  Vulnerabilität  einzelner  —  ich  meine  hier  die 
oberen  —  Netzhautsegmente  ergab,  resultirt  daraus  für  den  Erfolg  der 
zweiten  Operation,  dass  nunmehr  die  Schädigung  der  einzelnen  Seg- 
mente der  Netzhaut  wieder  nach  Maassgabe  des  Reichthums  ihrer  Ver- 
tretung im   Ganglion  stattfindet. 

Welche  Einflüsse  in  dieser  Weise  wirksam  werden,  entzieht  sich 
zunächst  unserer  Beurtheilung.  Jedenfalls  ergiebt  sich  aber,  dass  die 
einzelnen  subcorticalen  Ganglien  in  sehr  nahen  Beziehungen  zu  ein- 
ander stehen.  Mit  Rücksicht  auf  die  Beziehungen  der  primären  Opticus- 
centren  der  beiden  Hemisphären  zu  einander  könnte  man  die  ge- 
wonnenen Erfahrungen  auf  commissurale  Verbindungen  zur  Vermittelung 

Hitzig,  Gesammelte  Abfiandl.     II.  Theil.  38 


—     594     — 

des  gemeinschaftlichen  Sehactes  bezieheu.  Weichen  Zwecli  die  Ver- 
bindungen innerhalb  der  gleichen  Hemisphäre  haben  könnten,  versage 
ich  mir  zu  erörtern. 

Nur  auf  einen  hierhergehörigen  Punkt  muss  ich  kurz  zurück- 
kommen. Ich  meine  die  bei  unseren  Beobachtungen  so  häufig  vor- 
kommende Störung  des  optischen  Reflexes.  Wir  haben  oben  S.  581  f. 
bereits  erörtert,  dass  dieses  Symptom  durch  eine  corticale  Unter- 
brechung oder  Behinderung  der  associatorischen  oder  centrifugalen 
Bahnen  bedingt  sein  kann.  Wir  haben  aber  ferner  gesehen,  dass  sich 
nicht  alle  beobachteten  Erscheinungen  auf  diese  W^eise  erklären  lassen. 
Es  liegt  deshalb  der  Gedanke  nahe,  dass  der  optische  Reflex,  nicht 
wie  Munk  will,  ausschliesslich  ein  Rindenreflex  ist,  sondern,  dass 
er  auch  subcortical  ausgelöst  und  ebenfalls  subcortical  durch  Ueber- 
tragung  von  Reizen  von  einem  auf  das  andere  Centrum  geschädigt 
werden  kann. 

Das  Wiederaufleben  einer  längst  verschwundenen  Seh- 
störung nach  einem  Eingriff  in  die  zweite  Hemisphäre  kann 
nicht  ohne  Zuhülfenahme  der  soeben  gewonnenen  Erfahrungen  be- 
trachtet werden.  Luciani  und  Tamburini^)  hatten  bereits  ähnliche 
Beobachtungen  gemacht.  Soweit  meine  Kenntniss  der  Literatur  reicht, 
haben  die  meisten  Autoren,  wie  z.  B.  auch  Munk,  diese  Thatsachen  mit 
Stillschweigen  übergangen,  oder  die  wenig  zahlreichen  unter  ihnen, 
welche  das  Symptom  kennen,  haben  es  als  einen  Beweis  für  die  Ver- 
tretung beider  Gesichtsfeldhälften  in  beiden  Hemisphären  angesehen  und 
auf  diese  Anschauung  auch  ihre  Theorien  über  die  Restitution  gegründet. 

Durch  meine  Beobachtungen  wird  aber  die  Möglichkeit,  dass  die 
zweite  Hemisphäre  für  die  zuerst  geschädigte  eintrete  und  das  Wieder- 
aufleben der  Sehstörung  nach  ihrer  Verletzung  demgemäss  auf  die 
Entfernung  des  vicariirenden  Stückes  Rinde  zu  beziehen  sei,  gänzlich 
ausgeschlossen.  Denn  wenn  dies  zuträfe,  so  raüsste  die  Sehstörung 
natürlich  bei  jeder  symmetrischen  Operation  wieder  aufleben.  Dies 
ist  aber  nicht  nur  nicht  der  Fall,  denn  ich  habe  das  Symptom  bei 
den  hier  angeführten  Operationen  im  Ganzen  nur  8  mal  beobachtet, 
sondern  die  symmetrischen  Operationen  zeichneten  sich  gerade  dadurch 
aus,  dass  sogar  die  Sehstörung  des  contralateralen  Auges  neben  der 
des  gleichseitigen  Auges  nicht  selten  ausblieb. 

Es  bleiben  also  nur  zwei  Möglichkeiten  übrig.  Entweder  wird 
durch  die  Schädlichkeiten  der  zweiten  Operation  ein  neuer  Herd  in  der 
zuerst    operirten  Hemisphäre  gesetzt,    oder    aber  die  Beeinflussung    der 


1)  Luciani  und  Tamburini,  Centri  psico-sensori  corticali.   1879. 


—     595     — 

subcorticalen  Ganglien    durch    die    zweite  Operation   überträgt   sich  auf 
die  Ganglien  der  anderen  Seite. 

Spontane  Verschlimmerungen  einzelner  Symptome,  namentlicli  der 
Sehstörung  kommen  bei  unseren  Hunden  nicht  ganz  selten  vor.  Munk 
hat  Derartiges  bereits  beobachtet  und  auf  Verschlimmerung  des  ablau- 
fenden Entzündungsprocesses  bezogen.  Auch  ich  selbst  habe  ähnliche 
Bemerkiuigen  in  den  vorstehenden  Beobachtungen  angeführt.  Wenn 
solche  Ereignisse  spontan  vorkommen,  so  ist  es  natürlich  erst  recht 
nicht  ausgeschlossen,  dass  sie  sich  in  Folge  der  durch  eine  Trepanation 
mit  Ausschaltung  von  Hirnsubstanz  unter  gleichzeitiger  Aether- Mor- 
phiumnarkose gesetzten  Schädlichkeiten  einfinden  können.  In  der  That 
habe  ich  auch  anlässlich  der  Secuudäroperationen  an  der  gleichen 
Hemisphäre  bei  einzelnen  Fällen  erwähnt,  dass  sich  früher  vorhanden 
gewesene  motorische  Symptome  wieder  eingestellt  oder  verschlimmert 
hatten.  Andererseits  sind  dies  seltene  Ereignisse  und  namentlich  hat 
sich  gezeigt,  dass  niemals  eine  durch  eine  occipitale  Läsion  gesetzte 
Sehstöruug  wieder  auflebte,  wenn  darauf  eine  frontale  Secundäropera- 
tion  folgte.  Wenn  somit  aus  diesen  allgemeinen  Gründen  nicht  zu 
beweisen,  aber  auch  nicht  auszuschliessen  ist,  dass  das  Wiederaufleben 
■der  Sehstörung  auf  einer  Wiedererkrankung  der  zuerst  geschädigten 
Hemisphäre  beruht,  so  gilt  das  Gleiche  von  der  Annahme,  dass  es 
■darauf  zu  beziehen  ist.  dass  das  zuerst  geschädigte  Corpus  geniculatum 
laterale  etc.  durch  die  zweite  Operation  in  Mitleidenschaft  gezogen  wird. 
Besteht  ein  solcher  Zusammenhang  der  vitalen  Eigenschaften  der  sub- 
corticalen Ganglien  beider  Seiten,  wie  wir  ihn  oben  anzunehmen  ge- 
zwungen waren,  überhaupt,  so  kann  er  sich  natürlich  auch  nach  der 
fraglichen  Richtung  hin  äussern. 

Ich  habe  versucht,  den  Ursachen  der  Erscheinung  durch  Verglei- 
chung  der  Scotome  der  hier  in  Frage  kommenden  Beobachtungen  näher 
zu  kommen,  ohne  dabei  glücklicher  zu  sein.  Es  ergiebt  sich  dabei  nur, 
dass  in  3  Fällen  (Beobachtungen  143,  148  und  153)  die  Dauer  des 
Symptoms  so  kurz  war  —  3,1  und  3  Tage  — ,  dass  man  Mühe  hat, 
dabei  an  das  Auftreten  von  neuen  Entzündungsherden  zu  denken;  in- 
dessen ist  dies  keineswegs  entscheidend.  Im  Uebrigen  ergiebt  sich  aus 
der  Betrachtung  dieser  Scotome,  entsprechend  dem,  was  wir  über  die 
primär  entstehenden  Scotome  gelernt  haben,  dass  wieder,  mit  einer 
Ausnahme,  die  hauptsächlich  exponirten  oberen  lateralen  Segmente  des 
Gesichtsfeldes  am  meisten  und  am  längsten  verdunkelt  waren.  Die 
eine  Ausnahme  betrifft  die  Beobachtung  140,  bei  der  nach  einer  nicht 
vollkommen  symmetrischen  zweiten  Operation  unter  Schwankungen 
vornehmlich    die  untere  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  geschädigt  war,    und 

88* 


—     596     — 

schliesslich  der  untere  laterale  Sector  desselben  am  längsten  geschädigt 
blieb.  Aus  alledem  lässt  sich  also  irgend  etwas  Bestimmtes  nicht  ab- 
leiten. 


IV.  Rückblicke  und  Schlüsse  auf  die  Entstehung  der  optischen 

Apperceptionen. 

Die  Fragestell ang,  welche  ich  diesem  Abschnitte  meiner  Unter- 
suchungen vorausschickte,  hatte  folgenden  Wortlaut: 

1.  Entstehen  corticale  Sehstörungen  tliatsächlich  nur  durch  Eingriffe 
in  die  von  Munk  sog.  Sehsphäre,  oder  können  sie  auch  durch  Eingriffe 
in  andere  corticale  Gebiete  hervorgebracht  werden  und  welches  sind 
diese  Gebiete? 

2.  Welcher  Art  sind  die  durch  corticale  Läsionen  hervorgebrachten 
Sehstörungen,  sind  sie  hemianopischer  Natur  oder  nicht,  insbesondere 
entsprechen  sie  den  Lehren  Munks? 

3.  Sind  diese  Sehstörungen  sämmtlich  oder  zum  Theil  auf  die  Ver- 
letzung der  Rinde  zu  beziehen,  oder  entstehen  sie  sämmtlich  oder  zum 
Theil  durch  Vermittelung  der  subcorticalen  Gebilde? 

Wenn  die  Frage  3.  in  letzterem  Sinne  zu  beantworten  war,  so  waren 
4.  die  Bedingungen  dieser  Art  von  Fernewirkung  (Hemmung  der  Thätig- 
keit  subcorticaler  optischer  Centren),  ihre  Stellung  im  cerebralen  Me- 
chanismus und  ihre  Bedeutung  durch  fernere  Versuche  nocb  festzu- 
stellen. 

Die  erste  dieser  Fragen  erforderte  eine  Würdigung  nach  zwei 
verschiedenen  Richtungen  hin.  Ich  habe  dargelegt,  dass  die  occipitale 
Sehregion  nach  den  anatomischen  Untersuchungen  v.  Monakows  ausser 
der  Sehsphäre  Munks  noch  den  caudalen  Theil  der  sog.  Augenregion 
des  Letzteren,  welcher  dieser  Autor  inzwischen  andere  als  Sehfunctionen 
zugewiesen  hatte,  in  sich  begreift.  Diese  anatomischen  Untersuchungen 
mussten  durch  physiologische  Versuche  controlirt  werden.  Da  die  im 
Vorstehenden  mitgetheilten  Operationen  zwar  vielfach  über  die  vorderen 
Grenzen  der  sog.  Sehsphäre  in  die  sog.  Augenregion  hineinreichten, 
während  keine  von  ihnen  sich  gänzlich  innerhalb  des  streitigen  Grenz- 
feldes hielt,  so  konnten  zwar  aus  ihnen  gewisse  Eindrücke  resultiren, 
die  Frage  selbst  aber  nicht  endgültig  entschieden  werden.  Die  nach- 
stehende Arbeit  des  Herr  Dr.  Kalberlah  hat  nun  die  Entscheidung  im 
Sinne  v.  Monakows  getroffen. 

Nach  der  andern  Richtung  hin  war  zu  untersuchen,  ob  wirklich  nur 
die  Schädigung  der  occipitalen  Region  zu  Sehstörungen  führe,  oder 
ob  der  gleiche  Erfols  auch  bei  Läsiouen  anderer  und  zwar  welcher  cor- 


—     597      — 

ticaler  Gebiete  einträte.  Diese  Untersucliungsreibe  hübe  ich  bis  zu  dem 
Nachweise  geführt,  dass  Verletzungen  nicht  nur  der  Kinde,  sondern  auch 
der  Markstrahlung  des  Gyrus  sigm.  Sehstörungen  zur  Folge  haben  können, 
wähi-end  Verletzungen  der  lateralen  Nachbarwindungen  dieses  Gyrus  und 
des  unter  ihnen  liegenden  Marklagers  keine  solche  Folgen  nach  sich 
ziehen.  Auch  diese  Untersuchungen  sind  nicht  zu  Ende  geführt,  da 
einige  Gebiete  des  Cortex  einer  systematischen  Prüfung  nicht  unter- 
zogen wurden. 

Für  die  Würdigung  dieser  Ergebnisse  gegenüber  den  von  Munk 
gegen  sie  erhobenen  Angriffen  kommen  namentlich  folgende  Umstände 
in  Betracht:  Frontale  Sehstörungeu  traten  nicht  nur  in  Folge  von 
schweren,  sondern  auch  von  verhältnissmässig  leichten  Eingriffen,  wie 
die  einfache  Freilegung  der  Rinde  auf,  während  die  sog.  Sehsphäre, 
namentlich  bei  Secundäroperationen,  schweren  Verletzungen  unterzogen 
werden  kann,  ohne  dass  eine  deutliche  oder  eine  überhaupt  nachweis- 
bare Sehstörung  aufzutreten  braucht.  Ausserdem  kamen  zahlreiche  occi- 
pitale  Verletzungen  zur  Beobachtung,  bei  denen  die  Sehstörung  nicht 
länger  dauerte  oder  ausgesprochener  war,  als  bei  einer  Anzahl  von  fron- 
talen Verletzungen.  Der  positive  Erfolg  frontaler  Eingriffe  konnte  also 
auf  eine  Erschütterung  der  ganzen  Hemisphäre  oder  ihrer  Sehrinde  nicht 
bezogen  werden.  Anderweitige  von  Munk  vorgebrachte  Einwendungen 
sind  sowohl  in  der  vorstehenden  Abhandlung,  als  auch  in  dem  Auf- 
satze „üeber  die  Function  der  motorischen  Region  des  Hundehirns  etc." 
(Archiv  für  Psychiatrie  Bd.  36.    H.  3)  ausführlich  widerlegt  worden. 

Die  zweite  Frage  hatte  eine  Reihe  verschiedener,  zu  einem  System 
geordneter  Behauptungen  zum  Gegenstand,  welche  man  in  ihrer  Totalität 
als  die  Projectionslehre  Munks  bezeichnen  kann. 

Zunächst  war  die  Richtigkeit  der  Angabe  zu  prüfen,  ob  das  late- 
rale Viertel  einer  jeden  Retina  regelmässig  der  gleichnamigen  Hemi- 
sphäre und  der  Rest  jeder  Retina  der  ungleichnamigen  Hemisphäre  zu- 
geordnet ist.  Diese  Angabe  hat  sich  im  grossen  ganzen  als  richtig 
erwiesen,  so  jedoch,  dass  der  gleichnamige  Antheil  manchmal  grösser, 
manchmal,  vornehmlich  in  seinen  unteren  Abschnitten,  kleiner  als  an- 
gegeben erscheint.  In  einzelnen  Fällen  wurde  die  ganze  obere  Hälfte 
oder  sogar  das  ganze  oder  fast  das  ganze  gegenseitige  Gesichtsfeld  vor- 
übergehend geschädigt.  Im  Allgemeinen  resultirte  der  Eindruck  als  ob, 
abgesehen  von  individuellen  Verschiedenheiten,  das  laterale  Viertel  der 
Retina  von  beiden  Hemisphären,  stärker  allerdings  von  der  gleich- 
namigen, innervirt  werde. 

Sodann  fragte  es  sich,  ob  dieser  gleichseitige  Autheil  der  Retina 
thatsächlich    nur    von    dem    lateralen  Drittel    der  Hemisphäre  innervirt 


—     598     — 

werde  und  ob  dieser  occipitale  Abschnitt  ausschliesslich  den  Zwecken 
dieser  Innervation  diene,  wie  Munk  wollte,  oder  ob  die  centralen  End- 
stätten dieser  Retinafasern  in  anderer  Weise  augeordnet  seien.  Der  Ver- 
such hat  hier  ganz  und  gar  gegen  Munk  entschieden.  Nicht  nur  hatte 
die  Ausschaltung  dieses  Theiles  der  Sehregion  niemals  dauernde  Blind- 
heit des  lateralen  Viertels  der  gleichseitigen  Retina  zur  Folge,  sondern 
es  zeigte  sich  sogar,  dass  die  gegenseitige  Retina  durch  so  localisirte 
Eingriffe  stärker  und  anhaltender  geschädigt  wurde  als  die  gleichnamige. 
Ebenso  trat  das  gleiche  Scotom  des  gleichnamigen  Auges  so  gut  wie 
regelmässig  als  Folge  von  anders  localisirten,  selbst  von  Eingriffen  in 
den  medialsten  Abschnitt  der  Hemisphäre  ein. 

Ein  zweiter  Punkt  von  besonderer  Wichtigkeit  war  die  Erforschung 
der  Function  der  Stelle  A^.  Eine  lange  Reihe  von  Versuchen  lehrte, 
dass  diese  Stelle  keineswegs  eine  Projection  der  Maculafasern  in  sich 
birgt,  oder  überhaupt  in  besonders  nahen  Beziehungen  zum  Sehact 
steht.  Im  Gegentheil  kann  man  sagen,  dass  diese  Beziehungen  be- 
sonders lockere  sind.  Denn  die  Verletzung  oder  Ausschaltung  dieser 
Stelle  kann  zwar  zu  Sehstörungen  führen,  indessen  können  diese  aus- 
bleiben, oder  doch  von  ganz  geringer  Intensität  und  Dauer  sein.  Treten 
sie  aber  ein,  so  haben  sie  nichts  gemein  mit  dem  Krankheitszustande 
der  „Seelenblindheit",  sie  bestehen  keineswegs  in  dem  Verlust  aller 
oder  der  meisten  Erinnerungsbilder,  sondern  in  mehr  oder  minder  hoch- 
gradiger Sehschwäche. 

.  Zu  den  gleichen  Resultaten  führen  Partialexstirpationen  des  medi- 
alen, des  hinteren  und  des  vorderen  Abschnittes  der  Sehsphäre.  Immer 
resultirt  daraus  eine  je  nach  dem  Umfange  und  der  Tiefe  der  Ausschal- 
tung mehr  oder  minder  anhaltende  Sehschwäche.  Diese  Sehschwäche 
besteht  also  nicht  wie  Munk  will,  in  dauernder  partieller  Rindenblind- 
heit, aber  sie  localisirt  sich  auch  keineswegs  gesetzmässig  auf  be- 
stimmte, bestimmten  Partien  der  „Sehsphäre"  correspondirende  Ab- 
schnitte der  Retina,  sondern  sie  besteht  im  Allgemeinen  in  einer  tem- 
poralen von  nasal  unten  nach  temporal  oben  zurückweichenden  Hemianop- 
sie oder  Hemiamblyopie.  Jedoch  giebt  es  auch  hier  insofern  individuelle 
Verschiedenheiten,  als  Partialexstirpationen  ohne  oder  ohne  nennens- 
■werthe  Sehstörungen  verlaufen  können  und  insofern  als  Partialexstir- 
pationen des  vorderen  Abschnittes  der  „Sehsphäre"  in  einer  Minorität 
von  Fällen  die  oberen  und  Partialexstirpationen  des  hinteren  Abschnittes 
gleichfalls  in  einer  Minorität  von  Fällen  die  untere  Hälfte  der  Retina 
vorwiegend  betreffen. 

Eine  Projection  der  Retina  auf  die  Convexität  der    „Seh- 


—     599     — 

Sphäre"  im  Sinne  Munk's  Tindet  also  in  kciiiior  Weise  statt. 
Das  Krankheitsbild  der  Seeleuhl  i  iidhei  t  ist  diireti  Aus- 
schaltungen innerhalb  dieser  Region  niemals,  das  Krank- 
heitsbild der  partiellen  Rindenblindheit,  wenn  überhaupt, 
dann  keinenfalls  durch  partielle  Zerstörung  der  Sehrinde 
hervorzurufen. 

Diese  Resultate  entsprechen  nicht  nur  in  vielen  Punkten  den  An- 
gaben V.  Monakow's,  Bernheimer's,  Goltz',  Lüb's  und  Anderer, 
sondern  die  widersprechenden  Angaben  Munk's  sind  auch  aus  dem 
aprioristischen  Grunde  gänzlich  unglaubwürdig,  weil  jede  grössere  Aus- 
schaltung der  Rinde  zu  secundären  Erweichungen  oder  sonstigen  Aus- 
schaltungen der  Sehstrahlung  führt. 

Die  Lehre  von  dem  Zusammenhange  bestimmter  Retina  —  und  be- 
stimmter Rindenelemente,  mag  man  sich  ihn  nun  als  einen  directen 
oder  durch  vorgelagerte  Fasernetze  vermittelten  vorstellen,  wie  auch 
die  Lehre  von  den  local  deponirten  Erinnerungsbildern,  verschwindet 
deshalb  schon  aus  diesen  rein  thatsächlichen  Gründen,  ganz  abgesehen 
von  dem,  was  sich  aus  anatomischen  und  psychologischen  Gründen  da- 
gegen sagen  lässt,  aus  dem  Bereiche  der  Möglichkeit. 

Eine  Anzahl  der  „Irrthümer"  Munk's  mag  sich  daraus  erklären, 
dass  er  mit  seinen  unzulänglichen  Uiitersuchungsmethoden  die  nach 
grösseren  Exstirpationen  verbliebenen  Reste  von  Lichtempfindung  am- 
blyopischer  Gesichtsfeldpartien  nicht  zu  entdecken  vermochte :  oder* 
daraus,  dass  er  die  ausnahmsweise  zu  beobachtenden  Resultate  einzelner 
localisirter  Verletzungen  generalisirte.  Dennoch  bleibt  es  unbegreiflich 
Avie  er  bei  Jahrzehnte  lang  fortgesetzten  Untersuchungen  ungeachtet  des 
Widerspruches  selbst  seiner  besten  Freunde  seine  „Irrthümer"  aufrecht 
zu  erhalten  vermochte.  Die  Haltung  v.  Monakow's  —  und  er  steht 
mit  ihr  nicht  allein  —  zwingt  mich  dazu,  ausdrücklich  hervorzuheben, 
dass  seine  rein  thatsächlichen  Angaben,  sowie  die  aus  ihnen  gezogenen 
Schlüsse  in  allen  wesentlichen  Punkten  der  Lehre  Munk's  direct  zu- 
widerlaufen ;  ausgenommen  davon  ist  nur  die  Lehre  von  der  partiellen 
Decussation  (Luciani)  und  die  von  der  Existenz  einer  occipital  be- 
grenzten Sehregion  im  Allgemeinen. 

Auch  diese  Reihe  von  Untersuchungen  habe  ich  nicht  ihrem  voll- 
ständigen Abschlüsse  zuführen  können.  Es  ist  im  höchsten  Grade 
wahrscheinlich,  dass  derjenige  Theil  des  Hundehirns,  welcher  der 
menschlichlichen  Calcarina  entspricht,  in  besonders  nahen  Beziehungen 
zum  Sehact  steht,  oder  vielleicht  richtiger  ausgedrückt,  dass  Zerstö- 
rungen   innerhalb    dieses  Gebietes    besonders   schwere    und    anhaltende 


—     600     — 

Sehstörungen  nach  sich  ziehen.  Diese  Seite  der  Frage  habe  ich  nicht 
mehr  bearbeiten  können. 

Die  Beantwortung  der  dritten  Frage  erwächst  zunächst  auf 
einem  gewissermaassen  hypothetischen  Boden.  Es  hat  sich  als  unmög- 
lich erwiesen,  die  graue  Rinde  auf  2 — 3  mm  Tiefe,  wie  Munk  will, 
so  zu  zerstören,  dass  dabei  Verletzungen  des  Markes,  insbesondere  der 
Sehstrahlung  und  der  Associationsbahnen  ausgeschlossen  wären  und 
diese  Unmöglichkeit  wird  um  so  grösser,  wenn  die  Zerstörung  sich  auf 
die  den  Grund  der  Windungen  auskleidende  Rinde  ausdehnen  soll. 
Freilich  hat  Munk  den  Versuch  gemacht,  diesem  letzteren  Theile  der 
Rinde  andere  als  optische  Functionen  zu  vindiciren;  er  hat  aber  nicht 
den  Versuch  gemacht,  diese  Behauptung  zu  begründen.  Wenn  nuji 
Verletzungen  der  weissen  Substanz  untrennbar  mit  solchen  der  grauen 
Substanz  verknüpft  sind,  so  wird  man  mit  Sicherheit  den  Antheil  oder 
das  Maass  des  Antheils,  den  die  Eine  und  die  Andere  an  der  Function 
und  an  der  Functionsstörung  hat,  nicht  abmessen  können.  Um  nur  auf 
eine  Möglichkeit,  die  geltend  gemacht  werden  könnte,  hinzuweisen, 
wäre  es  denkbar,  dass  die  Functionsstörung  am  letzten  Ende  darauf 
beruhe,  dass  die  auf  kurzen  markhaltigen  Bahnen  vor  sich  gehende 
Association  zwischen  benachbarten  corticalen  Gebieten  eine  Unterbrechung 
erfahren  hätte. 

Wir  stossen  hier  also  genau  auf  dieselbe  Schwierigkeit,  der  wir 
bereits  im  Jahre  1870  bei  den  ersten  Versuchen  am  Gyrus  sigm.  be- 
gegneten, und  wir  können  über  dieselbe  auch  jetzt  nur  mit  der  gleichen 
Argumentation  wie  damals  hinwegkommen:  Man  kann  nicht  einsehen, 
welchem  Zwecke  die  Fasern  der  Sehstrahlung  bei  ihrer  Auflösung  in 
die  occipitale  Rinde  dienen  könnten,  wenn  nicht  der  Vermittlung  der 
corticalen  Aufgaben  des  Sehactes.  Man  würde  somit  doch  nur  aus  den 
bereits  bekannten  Eigenschaften  der  Sehstrahlung  auf  die  noch  unbe- 
kannten Eigenschaften  ihrer  Ursprungs-  oder  Endstätten,  der  Sehrinde, 
schliessen.  Ja,  mau  befindet  sich  hier  bei  genauerer  Betrachtung  in 
einer  noch  ungünstigeren  Lage  als  bei  der  Beurtheilung  der  Folgen 
frontaler  Eingriffe.  Denn  bei  diesen  tolgt  mit  unfehlbarer  Sicherheit 
auf  jede  Beleidigung  der  Rinde  eine  combinirte  Motiiitäts-  und  Sensi- 
bilitätsstörung, während  Sehstörungen  keiueswegs  mit  unfehlbarer 
Sicherheit  auf  Eingriffe  in  die  Convexität  des  Occipitalhirns  folgen. 
Indessen  liegt  vielleicht  gerade  in  dieser  Schwierigkeit  ein  Fingerzeig 
für  die  Auffindung  des  Weges,  auf  dem  die  Lösung  der  uns  beschäfti- 
genden Frage  gelingen  mag,  nur  wird  mau  sich  vorher  von  dem  tief 
eingewurzelten    Glauben    an    die    Projectionslehre,    welcher    bisher    ein 


—     601     — 

Hindernis  alles  weiteren  Fortschreitens  der  Krkeiuitniss  aiil'  diesem  Ge- 
biete gewesen  ist,  frei  machen  müssen. 

Es  unterliegt  für  mich  keinem  Zweifel,  dass  der  gesammte  MecJia- 
nismus  des  Vorstellens  und  WoUens  nach  grossen  einheitlichen  Principien 
aufgebaut  ist.  Wenn  aber  auch  die  einzelnen  diesen  Aufgaben  dienen- 
den Apparate  in  den  einzelnen  zu  Systemen  vereinigten  Abschnitten 
der  Ccntralorgane  dem  Principe  nach  wiederkehren,  so  werden  sie  sich 
doch  in  den  Einzelheiten  ihres  Aufbaues  und  ihrer  Zusammenordnung 
den  jedesmaligen  Bedürfnissen  der  einzelnen  Functionen  anzupassen 
haben. 

In  dieser  Beziehung  begegnen  wir  einem  grundsätzhchen  Unter- 
schiede zwischen  dem  motorischen  and  dem  optischen  Felde.  In  diesem 
ist  die  Function  an  sich  einheitlich;  sie  besteht,  kurz  gesagt,  in  der 
psychischen  Verwerthung  der  durch  den  Sehapparat  centripetal  proji- 
cirten  Lichtwellen.  In  jenen  ist  sie  zusammengesetzt;  denn  sie  besteht, 
kurz  gesagt,  in  der  psychischen 'Verwerthung  der  Bewegungsantriebe 
verschiedensten  Ursprunges  für  alle  einzelnen  unsern  Organismus  zu- 
sammensetzenden Bewegungsapparate.  Ein  zutreffender  Vergleich  kann 
deshalb  nur  zwischen  der  einzelnen  motorischen  Provinz  einerseits  und 
dem  gesammten  optischen  Felde  andererseits  gezogen  werden. 

Betrachten  wir  nun  die  Eigenschaften  einer  jeden  solchen  Provinz, 
wie  sie  seiner  Zeit  schon  von  Fritsch  und  mir  aufgedeckt,  aber 
seitdem  mit  Beharrlichkeit  ignorirt  worden  sind,  so  finden  wir, 
dass  schon  beim  Hunde,  deutlicher  beim  Affen,  die  eigentlichen 
Foci,  d.  h.  die  Stellen  der  grössten  Erregbarkeit  von  Gebieten  exceu- 
trisch  abnehmender  Erregbarkeit  eingefasst  werden.  Diese  Erfahrung, 
welche  seither  von  Sherrington  an  grösseren  Affen  bestätigt  worden 
ist,  hat  mich  schon  an  allem  Anfange  meiner  Untersuchungen  zur 
Aeusserung  der  Vermuthung  veranlasst,  dass  jene  Centren  nur  Sammel- 
plätze abgeben,  durch  deren  Vermitteluug  die  Lebensäusserungen 
weiterer  Gebiete  der  Rinde  in  die  Peripiierie  geworfen  würden.  Ist 
dieser  Vergleich  also  zutreffend,  dann  würde  die  Gesammtheit  der  cor- 
ticalen  Sehreg;ion  mit  ihren  corticalen  und  extracorticalen  Verbindungen 
der  Vollziehung  des  Sehactes  in  seiner  idealen  Vollkommenheit  derart 
dienen,  dass  hier  ein  centraler  Focus  existirte,  der  für  die  optischen 
Geschehnisse  in  ähnlicher  Weise  einen  Sammelplatz  abgebe,  wie  jene 
motorischen  Foci  für  jede  einzelne  Provinz  der  motorischen  Rinde. 

Es  könnte  scheinen,  dass  Munk  einen  solchen  P'ocus  in  seiner 
Stelle  Ai  gefunden  hätte  oder  doch  hätte  finden  wollen.  Indessen  be- 
sitzt diese  Stelle,  wie  wir  gesehen  haben,  weder  die  ihr  zugeschriebene 
noch  die  von  ihr  geforderte  Bedeutung  für  den  Sehact.     Und  weiterhin 


—     602     — 

hat  die  vergängliche  Seelenblindheit,  welche  aus  ihrer  Ausschaltung 
resultiren  soll,  keinerlei  Aehnlichkeit  mit  denjenigen  Erscheinungen, 
welche  ich  von  der  Ausschaltung  eines  solchen  Focus  erwarten  würde. 
Wohl  aber  finde  ich  diese  Erscheinungen  in  demjenigen  Krankheitsbilde 
wieder,  welches  uns  die  Ausschaltungen,  namentlich  die  doppelseitigen 
Ausschaltungen  der  Wände  der  Calcarina  beim  Menschen  liefern,  sodass 
diese  Frage  in  dem  mir  vorschwebenden  Sinne  eine  befriedigende  Er- 
ledigung fände,  wenn  sich  die  Erfahrungen  der  menschlichen  Pathologie 
ohne  weiteres  in  die  Ergebnisse  der  experimentellen  Pathologie  des 
Hundehirns  einfügen  Hessen.  Immerhin  spricht  der  Parallelismus  der 
vergänglichen  Sehstörungen  kleinerer  anderweitig  localisirter  occipitaler 
Läsionen  beim  Menschen  und  beim  Himde  mindestens  nicht  gegen  diese 
Weiterführung  des  Vergleiches  ihrer  anatomisch-physiologischen  Con- 
struction. 

Diese  Vergänglichkeit  der  Sehstörung  einerseits,  ihre  temporäre 
Totalität  andererseits  haben  mit  Nothwendigkeit  zu  der  Ueberzeugung 
führen  müssen,  dass  ein  Theil  der  Ursachen  dieser  Sehstörung  ausser- 
halb der  Rinde  zu  suchen  sei.  Wenn  wir  nun  weiter  sehen,  dass 
kleinere  Ausschaltungen  innerhalb  der  Sehregion  die  optische  Vor- 
stellungsthätigkeit  des  Thieres  dauernd  nicht  nachweisbar  alteriren, 
während  grosse  Ausschaltungen,  insoweit  sich  ihre  Wirkung  überhaupt 
erkennen  lässt,  immer  eine  quantitative  Veränderung  der  Vorstellungs- 
thätigkeit,  also  eine  mehr  oder  minder  deutliche  Abschwächung  der 
Sehfunction  bis  zu  ihrem  gänzlichen  Verluste  nach  sich  ziehen,  so 
lassen  sich  daraus  auf  directem  Wege  nur  begrenzte  und  bedingte 
Schlüsse  ziehen. 

Zunächst  hat  es  den  Anschein,  was  ja  auch  begreiflich  genug  ist, 
als  ob  die  gesammte  Sehrinde  des  Hundes  mehr  einheitlichen  Func- 
tionen diene,  während  sich  die  des  Menschen  durch  Einschiebung  von 
neuen  associatorischen  Organisationen  zu  einem  Complex  von  Provinzen 
von  qualitativ  verschiedener  Bedeutung  entwickelt,  die  ihr  gemein- 
schaftliches Bindeglied  nur  in  dem  allen  gemeinschaftlichen  optischen 
Factor  besitzen. 

Weiterhin  aber  erscheint  es  unmöglich,  die  Entstehung  der 
optischen  Vorstellung  auf  directem  Wege  örtlich  in  ihre  verschiedenen 
Componenten  zu  zerlegen,  denn  da  die  Eliminirung  eines  bestimmten 
corticalen  Areals  regelmässig  die  Eliminirung  eines  correspondirendea 
subcorticalen  Areals  zur  Folge  hat,  so  wird  sich  niemals  entscheiden 
lassen,  ob  die  eigentliche  Ursache  des  nachweisbaren  optischen  Defectes 
in  der  Rinde  oder    in    den  subcorticalen  Ganglien  zu    suchen    ist.     Da- 


—     603     — 

gegen  kann  man  versuchen,  sich  den  psychisclicn  Vorgang  auf  iiidii-ec- 
tem  Wege  khar  zu  machen. 

Die  Vorstellung,  dass  die  Rinde  das  Organ  der  Vorstellnngs- 
thätigkeit  im  engeren  und  höheren  Sinne  und  dass  sie  nur  dieses 
Organ  sei,  war  früher  allgemein  verbreitet.  Munk  hat  freilich  ver- 
sucht, aus  ihr  etwas  anderes  zu  machen,  nämlich  ein  Organ,  in  dem 
auch  die  ersten  Sinnesempfindungen  und  -Wahrnehmungen  statthaben, 
indessen  können  wir  diesen  Versuch  wohl  als  der  Vergangenheit  an- 
gehörig betrachten.  Man  kann  sich  deshalb  wohl  des  von  mir  früher 
angewendeten  Bildes  bedienen,  dass  die  Rinde  so  auf  das  in  den 
primären  Opticuscentren  entworfene  Bild  wie  das  Auge  auf  das  in  der 
Camera  obscura  entworfene  Bild  herabblickt.  In  weiterer  Ausführung 
dieses  Gedankenganges  und  in  der  Ueberzeugung  von  der  grundsätz- 
lichen Einheitlichkeit  innerhalb  der  einzelnen  Organisationen  unseres 
psychischen  Mechanismus  sei  mir  ferner  die  Reproduction  einer  früher 
von  mir  gegebenen  Darlegung  über  die  allgemeine  Einrichtung  dieses 
Mechanismus  gestattet  i): 

„Die  vollkommene  Beherrschung  der  feinsten  Einzelheiten  der 
Muskelbewegungen  durch  das  Sensorium,  ohne  dass  dieses  doch  zu 
einer  bewussten  Kenntniss  der  Muskelzustände  gelangt,  ist  immer  als 
Thatsache  hingenommen  worden,  ohne  je  verstanden  zu  werden.  Diese 
Thatsache  wird  aber  unserem  Verständnisse  näher  gerückt,  wenn  wir 
annehmen,  dass  das  Cerebellum  im  Verein  mit  den  ihm  beigeordneten 
subcorticalen  Organen,  vermöge  der  sich  in  jenen  grauen  Massen  voll- 
ziehenden anatomischen  und  functionellen  Vereinigung  einer  Reihe  von 
Sinnesnerven,  zur  Bildung  von  Vorstellungen  niederer  Ordnung 
befähigt  ist  und  dass  es  diese  Vorstellungen  dem  Grosshirn  als  ein 
Ganzes  übermittelt.  Das  Grosshirn  als  '  alleiniges  Organ  des  Bewusst- 
seius  vermag  zw'ar  mit  diesem  Vorproduct  der  Vorstellungen  zu  rechnen, 
es  vermag  aber  nicht  in  die  Einzelheiten  der  diesem  zu  Grunde  liegen- 
den, unter  der  Schwelle  des  Bewusstseins  verlaufenden  Vorgänge  ein- 
zudringen. Nach  meiner  Auffassung  der  Hirnfunctionen  stehen  die 
Coordinationsorgane  mit  dieser  Form  der  Bethätigung  dem  Bewusst- 
seinsorgane  gegenüber  nicht  allein,  sondern  die  Bethätigung  der  anderen 
Sinnesorgane,  diejenige  des  Gesichts,  des  Gehörs  etc.,  vollzieht  sich  in 
gleicher  Weise,  derart,  dass  die  auf  den  nach  aussen  gewendeten 
Bahnen  anlangenden  Sinnesreize  in  den  grauen  Massen  der  Basis 
sämmtlich  zu  den  von  mir  so  genannten  Vorstellungen  niederer  Ordnung 


1)  E.  Hitzig,    „Der  Schwindel".     Nothnagers,   Specielle  Pathologie 
und  Therapie  Bd.  XII,  II,  III.   S.  46. 


—     604     — 

ausgearbeitet  und  in  dieser  Form  erst  dem  Bevvusstseinsorgan  über- 
mittelt werden." 

Fragen  wir  uns  nun  nach  der  Herkunft  und  der  Zusammensetzung 
dieses  primären  optischen  Bildes,  mit  dem  die  Vorstellungsthätigkeit 
der  Rinde  za  rechnen  hat,  so  ist  natürlich  die  allererste  Frage  die,  an 
welcher  Stelle  diejenige  Trausformirung  der  Aetherwellen  in  ein  solches 
Vorproduct  psychischen  Geschehens  erfolgt,  mit  dem  die  bewusste  Vor- 
stellungsthätigkeit zu  rechnen  vermag. 

Diese  optischen  Bilder  stellen  nach  der  allgemeinen  Auffassung 
nichts  Einfaches,  sondern  vielmehr  Bilder  dar,  die  aus  dem  Zusammen- 
wirken von  Lichtempfindungen  und  anderen,  vornehmlich  räumlichen 
Empfindungen  hervorgehen.  Sie  besitzen  in  dieser  Beziehmig  also 
jene  Eigenschaft,  welche  sie  denjenigen  Bildern  parallel  setzt,  die  in 
dem  Coordinationsorgan-  entstehen  und  von  diesem  dem  Vorstelluugs- 
organ  als  Vorproduct  seiner  bewussten  Vorstellungsthätigkeit  geliefert 
werden.  Fraglich  kann  nur  erscheinen,  ob  diese  Formation  des 
optischen  Gesammtbildes  erst  in  der  Rinde  oder  bereits  in  den  hinter 
derselben  gelegenen  Organen  vor  sich  geht. 

Wenn  diese  Frage  vielleicht  auch  nicht  mit  absoluter  Sicherheit 
zu  beantworten  ist,  so  können  wir  doch  ans  der  vergleichenden  Ana- 
tomie und  der  experimentellen  Physiologie  eine  Anzahl  von  Thatsachen 
entnehmen,  die  einen  Schluss  von  ziemlich  grosser  Wahrscheinlichkeit 
gestatten.  Ich  gehe  bei  dieser  Auseinandersetzung  von  den  überaus 
interessanten  Beobachtungen  aus,  die  Schrader^)  an  Falken  in  ihrem 
Verhältniss  zu  bewegten  Gegenständen,  besonders  zu  weissen  Mäusen, 
machte.  In  der  Periode  vor  der  Entwickelung  des  Grosshirns  reagirten 
die  Thiere  auf  den  Anblick  zappelnder  Mäuse  oder  anderer  bewegter 
Gegenstände  mit  Geschrei  und  Festkrallen  rein  reflectorisch.  Nach 
Entwickelung  des  Grossbirns  hatten  sie  erst  Furcht  vor  den  Thieren 
und  mussten  die  Mäusejagd  erst  lernen.  Wurden  ihnen  alsdann  beide 
Grosshirnhemisphären  genommen,  so  verfolgten  sie  nach  Ablauf  einer 
Periode  der  Hemmung  die  Mäuse  wie  vorher  unter  Geschrei  und  be- 
arbeiteten sie  mit  den  Krallen,  nachdem  sie  sie  ergriffen  hatten,  solange 
sie  sich  bewegten.  Hörten  die  Bewegungen  aber  wegen  des  Todes  der 
Mäuse  oder  aus  anderen  Gründen  auf,  so  hüpften  die  Falken  davon, 
ohne  sich  weiter  um  ihre  Beute  zu  bekümmern,  anstatt  sie,  wie  un- 
verstümmelte  Falken,    zu  verspeisen.     Aus    diesen  Beobachtungen    geht 


1)  M.  Schrader,  „Ueber  die  Stellung  des  Grosshirns  im  Reflexmecha- 
nismus  des  centralen  Nervensystems  der  Wirbelthiere".  Archiv  für  exp.  Path. 
und  Pharmak.  Bd.  XIX. 


—     605     — 

hervor,  class  bei  den  Falken  unterhalb  dos  (irossiiii'ns,  also  t)cvor  das- 
selbe entwickelt  oder  nachdem  es  abgetragen  worden  ist,  (]iosiclitsl)ild(!r 
entstehen,  welche  mit  den  zur  Hervorbringung  einer  coinplicirten  lieiJH! 
von  Bewegungen  erforderlichen  Eigenscliarten  ausgestattet  sind.  Dagegen 
associiren  sich  diese  Gesichtsbilder  mangels  des  Grosshirns  niclit  infhr 
mit  Vorstellungen  beliebiger  Herkunft,  so  dass  z.  B.  aus  ihnen  der  auf 
die  Verwerthung  der  Beute  als  Nahrung  gerichtete  Impuls  nicht  mehr 
abgeleitet  zu  werden  vermag,  wie  sich  denn  die  Falken  um  das  Treiben 
der  Mäuse,  soweit  sie  deren  Bewegungen  nicht  sehen  oder  mit  ihren 
Krallen  fühlen,  nicht  weiter  kümmern. 

Dieser  Rest  von  psychischen  Fähigkeiten  ist,  insofern  er  eine 
durch  Sinneseindrücke  anzuregende,  dem  Bewusstsein  fremde  Kette  von 
vorgebildeten  Bewegungen  in  sich  begreift,  den  Leistungen  des  infra- 
corticalen  Coordinationsapparates  durchaus  parallel  zu  setzen.  Er  ist 
bei  den  Falken  an  die  Existenz  der  bei  ihnen  wie  bei  den  Vögeln 
überhaupt  mächtig  entwickelten  Lobi  optici  (Corpora  bigemina  anteriora) 
gebunden.  Steigen  wir  weiter  in  der  Thierreihe  hinab,  so  begegnen 
wir  sehr  bald  gar  keinem  wahrnehmbaren  Einfluss  der  Abtragung  des 
Grosshirns  auf  die  Abwickelung  der  optisch-motorischen  Function; 
steigen  wir  in  dieser  Reihe  weiter  hinauf,  so  nimmt  dieser  Einfluss 
alsbald  derart  zu,  dass  es  schwer  fällt  oder  vielleicht  überhaupt  nicht 
mehr  gelingt,  neben  der  Pupillarreaction  noch  andere  Antworts- 
bewegungen auf  den  Lichtreiz  gesetzmässig  hervorzubringen. 

Diese  Reihe  von  Erfahrungen  findet  ihre  Erklärung  nach  der  einen 
Richtung  hin  unzweifelhaft  darin,  dass  die  allereinfachsten,  sich  ledig- 
lich auf  dem  Reflexwege  abspielenden  optisch-motorischen  Lebens- 
erscheinungen auch  nur  bestimmter,  nach  dem  allereinfachsten  Reflex- 
typus gebauter  anatomischer  Vorrichtungen  bedürfen,  die  sich  auch 
örtlich  immer  mehr  und  mehr  dem  Rückenmark  nähern;  während  nach 
der  anderen  Richtung  hin  die  reichere  Angliederung  aus  immer  mehr 
und  mehr  Sinnesgebieten  herstammender  associatorischer  Vorgänge  die 
Abwickelung  der  optisch-motorischen  Lebenserscheinungen  immer  mehr 
und  mehr  nach  dem  Grosshirn  vorschiebt.  Ich  stimme  v.  Monakow 
in  der  Annahme  vollkommen  bei,  dass  die  phylogenetisch  älteren  Pro- 
vinzen, von  denen  er  namentlich  das  Dach  des  Mittelhirns  (im  ge- 
wählten Beispiele  die  Lobi  optici)  anführt,  ihre  ursprüngliche  Function 
im  Princip  nicht  ganz  verlieren,  also  auch  in  der  höchsten  Entwicke- 
lungsstufe  noch  zur  Production  des  endlichen  optischen  Bildes  beitragen; 
ich  stimme  ihm  aber  insoweit  nicht  bei,  als  er  diese  Mitwirkung  als 
einen  Rest  bewusster  Lichtempfindung  bezeichnet.  Diese  Art  der 
Lichtempfindung  wie  der  extracorticalen  Empfindung  überhaupt  liegt  für 


—     606     — 

mich  unter  der  Schwelle  des  ßewusstseiiis  —  wo  ein  solches  existirt  — 
denn  ich  vermuthe  ein  extracorticales  Bewusstsein  weder  beim  Menschen 
noch  bei  irgendwelchen  Thieren.  Alles  in  Allem  erwächst  aber  aus 
diesen  Erfahrungen  die  grösste  Wahrscheinlichkeit,  dass  nur  die  Wahr- 
nehmung des  optischen  Bildes  und  dessen  associatorische  Verarbeitung 
bei  den  höheren  Säugethieren  cortical  localisirt,  dessen  Entstehung  und 
einfache  reflectorische  Verarbeitung  aber  auch  bei  ihnen  wie  bei  den 
nächst  niederen  Thierspecies  infracortical  von  Statten  gehe. 

Fassen  wir  nun  jene  extracorticalen,  dem  Sehact  dienenden  Organi- 
sationen ins  Auge,  so  hat  es  nach  dem  heutigen  Standpunkt  des 
Wissens  den  Anschein,  als  wenn  es  von  den  primären  Sehcentren  das 
Corpus  geniculatum  laterale  wäre,  welches  für  den  reinen  optischen 
Sehact  vornehmlich,  wenn  nicht  ausschliesslich,  in  Betracht  käme. 
Diesem  Ganglion  hat  nun  v.  Monakow,  wie  wir  gesehen  haben,  die 
Aufgaben  einer  Schaltungsvorrichtung  zugeschrieben,  ohne  dass  er  sich 
hinreichend  unzweideutig  darüber  ausliesse,  welchen  Antheil  an  der 
Entstehung  des  optischen  Bildes  er  bei  ihm,  den  primären  Opticus- 
centren  überhaupt  und  bei  dem  Cortex  vermutheti).  Während  er  sich 
einerseits  zu  Gunsten  Munk's  gegen  die  soeben  von  mir  entwickelte 
Anschauung  wendet,  nach  der  die  Rinde  das  fertige  Bild  nur  apper- 
cipirt  und  associirt,  gesteht  er  andererseits,  wie  angeführt,  sogar  dem 
Mittelhirndach  einen  Rest  bewusster  Lichtempfindung  zu.  Das  sind 
unvereinbare  Widersprüche,  die  sich  lediglich  aus  seiner  schwankenden 
Haltung  gegenüber  M unk  erklären  und  die  überhaupt  aus  der  Literatur 
erst  dann  verschwinden  w^erden,  wenn  man  sich  daran  gewöhnt, 
zwischen  Empfindung,  hier  also  Lichtempfindung,  und  Bewusstsein,  hier 
also  bewusste  Lichtempfindung,  scharf  zu  unterscheiden  und  das  Be- 
wusstsein eben  ausschliesslich  im  Grosshirnmantel  zu  suchen. 

Das  Corpus  geniculatum  laterale  setzt  sich  nach  seinen  Unter- 
suchungen einmal  aus  dem  phylogenetisch  jungen  Sehsphärenantheil, 
den  Ursprüngen  des  corticalen  Neurons,  zusammen,  dem  das  optische 
Bild  nach  meinen  bisherigen  Auseinandersetzungen  bereits  fertig  über- 
liefert werden  muss;  in  der  That  sehen  wir  auch,  dass  dieses  fertige 
Bild  selbst  nach  relativ  grossen,  einen  grossen  Theil  dieser  Neuronen- 
gruppe  vernichtenden  corticalen  Ausschaltungen  ohne  wahrnehmbare 
Veränderung  cortical  weiter  verarbeitet  werden  kann.  Andererseits  be- 
steht neben   dem  Einstrahlungsbezirk  der  Opticusfasern,    welcher,   wenn 


1)  Vergl.  meinen  Aufsatz:  „Einige  Bemerkungen  zu  der  Arbeit  C.  v.  Mo- 
w's  „Ueber  den  gegenwärtigen  Stand  nach  d 
tion  im  Grossliirn".    Archiv  für  Psychiatrie  Bd.  36. 


nakow's  „Ueber  den  gegenwärtigen  Stand  nach  der  Frage  von  der  Localisa- 


—     607     — 

auch  unter  örtlichen  Verschiedenheiten,  die  notliwendige  Voraussetzung 
eines  jeden  Sehactes  ist,  nur  nocli  eine  rehitiv  kleine  Gruppe;  von 
Zellen,  denen  v.  Monakow  eben  die  Function  der  Vcrtheilung  der 
Lichtreize  zuschreibt  und  es  entsteht  nun  die  Frage,  ob  diesen  Ge- 
])ilden  nebenher  ein  wesentlicher  Antheil  an  jener  Transformation  der 
Aetherwellen  in  ein  optisches  Bild  zukommt.  Diese  Frage  wird  sich 
ohne  Weiteres  nicht  entscheiden  lassen,  wenngleich  die  ältere  Schule 
und  ich  mit  ihr  bisher  geneigt  war,  der  Gesammtheit  der  primären 
Opticuscentren  ohne  nähere  Differenzirung  eine  solche  Function  zuzu- 
schreiben. Wenn  wir  aber  berücksichtigen,  dass  ein  optisches  Bild 
den  niederen  mit  Augen  begabten  Thierspecies  ohne  Vermittelung  so 
complicirter  Vorrichtungen  fertig  zugeführt  wird,  so  lässt  dies  sehr 
wohl  die  Frage  aufwerfen,  ob  das  Wesentliche  des  Processes 
nicht  überhaupt  ganz  und  gar  in  die  Peripherie,  d.  h.  in  die 
Retina  zu  verlegen  ist.  Die  Retina  wird  wegen  ihrer  Structur  ana- 
tomisch und  ferner  entwicklungsgeschichtlich  von  jeher  als  ein  extra 
cerebraler  Theil  des  Gehirns  betrachtet,  und  es  ist  nur  consequent, 
wenn  man  sie  auch  physiologisch  nicht  anders  ansieht.  Der  Sehact 
würde  sich  dann  bei  allen  Geschöpfen,  von  denen  angefangen,  die  nur 
mit  einem  lichtempfindlichen  Pigmentfleck  begabt  sind,  bis  zu  dem  mit 
dem  vollkommensten  optischen  Apparate  ausgestatteten  Menschen  hinauf, 
in  der  Weise  abspielen,  dass  die  aus  Lichtwellen  hervorgehenden  Bilder 
der  Aussenwelt,  insoweit  das  Lidividuum  zu  deren  Aufnahme  und  Ver- 
werthung  überhaupt  befähigt  ist,  bereits  in  der  Peripherie  in  organische, 
mit  Bezug  auf  ihren  optischen  Theil  fertige  Bilder  überführt  werden,  deren 
weitere  Zusammensetzung  und  associatorische  Verwerthung  dann  wieder  von 
dem  Hinzukommen  neuer  und  höher  entwickelter  Organisationen  abhängt. 
Diese  Auffassung  mag  den  Einen  vielleicht  aJs  eine  nicht  hin- 
reichend bewiesene  Hypothese,  den  Andern  heut  oder  doch  in  einer 
nahen  Zukunft  als  eine  triviale  Nothwendigkeit  erscheinen.  Ich  kann 
daran  nichts  ändern,  ich  gebe  eben  nur  meine  eigene  Auffassung 
wieder.  Wie  wenig  selbstverständlich  diese  aber  bis  heute  war,  das 
mag  die  folgende  Auslassung  Munk's^)  beweisen:  „Die  Lehre  vom 
Grosshirn,  wie  ich  sie  vorfand,  ist  damit  hinsichtlich  der  niedersten 
Functionen  des  Grosshirns  als  unrichtig  dargethan.  Nicht  schon  das 
Sehen,  nicht  der  Gesichtseindruck  sollte  an  das  Grosshirn  gebunden 
sein,  sondern  erst  die  geistige  Auffassung  des  Gesichtseindruckes:  in 
niederen  Hirntheilen  (subcorticalen  Sinnescentren)  sollten  die  Gesichts- 
empfindungen entstehen  und   für  Bewegungen  Verwerthung  finden,    und 


1)  H.  Munk,  „Gesammelte  Mittheilungen".   S.  280/Sl. 


—     608     — 

erst  die  aus  den  Gesichtsempfindungen  gebildeten  Vorstellungen,  das 
Erkennen  oder  Verstehen  und  die  Erinnerung  des  Gesehenen,  sollten 
Leistungen  des  Grosshirns,  seiner  Rinde  sein.  Beim  Säugethier  ist 
schon  der  Anfang  alles  Sehens,  die  Lichtempfinduug,  eine  Function 
seines  Grosshirns."  Und  ein  fernerer  Beweis  hierfür  liegt  in  der  oben 
skizzirten  Haltung  v.  Monakow 's,  eines  der  besten  Kenner  der  Hirn- 
physiologie. 

Um  den  Gegensatz  noch  einmal  mit  aller  Schärfe  zu  charakteri- 
siren:  Für  mich  besteht  der  Anfang  alles  Sehens  in  der  Er- 
zeugung des  fertigen  optischen  Bildes  in  der  Retina,  die 
Fortsetzung  des  Sehens  in  der  Combination  dieses  optischen 
Bildes  mit  motorischen,  vielleicht  auch  noch  anderen  Inner- 
vationsgefühlen  zu  Vorstellungen  niederer  Ordnung  in  den 
infracorticalen  Centren  und  die  höchste,  an  die  Existenz 
eines  Cortex  gebundene  Entwickelung  des  Sehens  in  der 
Apperception  dieser  Vorstellungen  niederer  Ordnung  und 
ihrer  Association  mit  Vorstellungen  und  Gefühlen  (Gefühls- 
vorstellungen) anderer  Herkunft. 


Erklärung  der  Tafel  Seite  553.     Die  untere  Hälfte   des  Schnittes  ist 
schematisch  gezeichnet. 


Anmerkung. 

36)  Zur  Begründung  dieses  Vorwurfs  gebe  ich  den  hierher  gehörigen  Theil 
aus  meiner  Vertheidigung  gegen  die  Angriffe  des  Herrn  H.  Munk  wieder.  Er 
diene  zugleich  zur  Begründung  meiner  eigenen  Ansprüche.  Den  Rest  dieser 
Polemik,  in  soweit  sie  nicht  Aufnahme  in  den  Text  gefunden  hat,  unter- 
drücke ich. 

Aus:  „Ueber  die  Function  der  motorischen  Region  des  Hunde- 
hirns und  über  die  Polemik  des  Herrn  H.  Munk." 

"Die  nach  Eingriffen  in  den  Gyrus  sigmoides  auftretenden  Bewegungs- 
störungen sind  bekanntlich  zuerst  in  der  von  Fritsch  und  mir  gemeinschaftlich 
publicirten  Abhandlung  beschrieben  worden.  Wir  hatten  damals  einen  Theil 
der  Hemisphäre  als  motorisch  „im  Sinne  von  Schiff"  bezeichnet,  indem  wir 
dabei  die  Lehre  dieses  Forschers,  dass  es  neben  einer  sensiblen  und  ästheso- 
dischen  Substanz  eine  motorische  und  kinesodische  Substanz  gäbe,  im  Auge 
hatten.  Um  so  mehr  erschien  diese  Bezeichnung  gerechtfertigt,  als  jener  Theil 
der  Hemisphäre  nicht  nur  auf  den  elektrischen  Reiz  mit  Bewegungen  antwortete, 
sondern  auch  seinen  Zusammenhang  mit  dem  anderweitigen  motorischen 
Apparat  eben  durch  das  Eintreten  jener  Bewegungsstörungen  erkennen  Hess. 
Auch  die  späteren  Beobachtungen  an  aufgehängten  Hunden,  sowie  manches 
Andere  sprachen  in  dem  gleichen  Sinne.  Indessen  galt  uns  doch  schon  damals 
jene  Bezeichnung  „motorisch"  nur  als  etwas  rein  Aeusserliches,  indem  wir  uns 
über  die  Bedeutung  der  Function,  die  wir  jenen  Hirntheilen  zuschrieben,  soweit 
es  damals  möglich  war,  gleichzeitig  in  nicht  misszuverstehender  Weise  aus- 
sprachen. Ich  habe  in  meinen  späteren  Arbeiten  ungeachtet  dessen,  was  fremde 
und  eigene  Untersuchungen  an  neuen  Thatsachen  über  die  Eigenschaften  dieses 
Hirntheils  beibrachten,  den  Namen  „motorische  Pvegion"  beibehalten,  weil  ich 
einen  besseren,  der  nicht  zugleich  eine  langathmige  Umschreibung  enthalten 
hätte,  nicht  wusste. 

Nun  hat  Herr  Munk  sich  8  Jahre  nach  unserer  ersten  Mittheilung 
in  dieser  Beziehung  folgendermaassen  ausgesprochen  i) :  „Der  eiyenthümliche 
Weg,  auf  ivelchem  wir  zu  unserer  jetzigen  Kenntniss  von  der  Grosshirn- 
rinde   gelangt  sind,    hat   auch  einen    eigenthiimlichen   Nachtlieil    mit  sich  ge- 


1)  H.  Munk,  Gesammelte  Mittheilungen  1890.    S.  47,  48. 

Hitzig,  Gesammelte  Abhandl,    IL  Theil.  39 


—     610     —  . 

bracht.  Die  Reizversuche .,  welchen  wir  die  Erschliessung  des  früher  unzu- 
gänglichen Gebietes  verdanken,  haben  den  Glauben  an  motorische  Centra  oder, 
tvie  diejenigen  sie  lieber  nenrien,  welche  den  physiologisch  w^fassbaren 
„  Willen'"''  dort  angreifen  lassen,  an  psychomotorische  Centra  in  der  Gross- 
hirnrinde  rasch  so  fest  einwurzeln  lassen,  dass  es  eine  schwere  Aufgabe  ge- 
lüorden  ist,  den  Glauben  zu  beseitigen.  Und  wenn  ich  auch  selber,  seitdem 
das  Verständniss  der  Fühlsphäre  sich  mir  eröffnet  hat,  mit  der  Annahme 
von  Gentren,  wie  sie  sonst  der  Bewegungsanregung  dietien,  innerhalb  der 
Grosshirnrinde  gurnichts  mehr  anzufangen  weiss,  so  habe  ich  es  mir  doch 
nicht  verhehlt,  dass  ein  ganz  umfassender  Nachweis  des  Wesens  der  Fühl- 
sphäre verlangt  werden  könnte,  um  die  Existenz  eines  motorischen  Abschnittes 
der  Grosshirnrinde  zu  widerlegen. —  dass  man  es  in  dem  als  Fühl- 
sphäre bezeichneten  Abschnitte  der  Grosshirnrinde  bloss  mit  Wahrnehmungen 
und  Vorstellungen,  die  aus  den  Gefühlsempfindungen  fliessen,  zu  thun  hat, 
und  dass  demgemäss  mir  die  Bewegungsvorstellungen  in  der  Fühlsphäre  die 
Ursachen  aer  sogenannten  icillkürlichen  Beivegungen  sind.'"''  Und  an  einer 
früheren  Stelle  dieser  Mittheilungen i)  heisst  es  ferner:  „Wenn  es  trotzdem 
hinsichtlich  der  Functionen  dieses  Bindenabschnittes  nicht  zur  Klarheit  ge- 
kommen war,  so  war  der  Grund  vornehmlich  darin  gelegen,  dass  noch  die 
leitenden  Gesichtspunkte   für  die  richtige  Beurtheilung  der  Versuchsergebnisse 

fehlten, und  wenn  ich  iyn  vorigen  Jahr  mich  darauf  hatte  beschränken 

müssen,  Ihnen  unseren  Rindenab schnitt  als  die  motorische  Sphäre  den  hin- 
teren sensoriellen  Sphären  gegenüberzustellen,  so  glaube  ich  Sie  heute  zu  einem 
tieferen  Verständnisse  auch  dieses  Rindenabschnittes  führen  zu  können.'"'' 

Herr  Munk  sucht  also  bei  seinen  Lesern  den  Glauben  zu  erwecken,  dass 
es  vor  ihm  an  Klarheit  über  die  Functionen  dieses  Rindenabschnittes,  an  ihrem 
tieferen  Verständniss  gefehlt  habe,  indem  man  sie  als  motorische  oder  psycho- 
motorische Regionen  bezeichnete  und  dass  die  Schuld  daran  gelegen  hätte, 
dass  man  von  den  Resultaten  der  Reizversuche  ausgegangen  sei.  Er  selbst 
habe,  nachdem  er  zu  jenem  tieferen  Verständniss  gelangt  sei  mit  der  Annahme 
von  Centren,  wie  sie  sonst  der  Bewegungsanregung  dienen,  innerhalb  der 
Grosshirnrinde  garnichts  mehr  anzufangen  gewusst.  Zunächst  enthalten  die 
beiden  letzten  Sätze  nichts  als  Unrichtigkeit  und  Spiegelfechterei.  Es  ist  un- 
richtig, dass  die  Reizversuche  den  Anlass  zu  der  von  mir  gegebenen  Erklärung 
der  Functionen  jenes  Hirnabschnittes  geliefert  haben.  Wir  haben  schon  in  jener 
ersten  Abhandlung  ausdrücklich  hervorgehoben,  dass  sie  zur  Lösung  solcher 
Fragen  nicht  geeignet  seien  und  dann  wörtlich  hinzugefügt:  „Indessen  giebt 
es  einen  anderen  Weg,  die  Frage  nach  der  Bedeutung  der  einzelneji  Theile 
der  Binde  experimentell  zu  lösen;  es  ist  die  Exstirpation  circum- 
scripter  und  genau  bekannter  Theile  derselben^).'''  Und  wenn  Herr 
Munk  nun  den  Glauben  zu  erwecken  versucht,  irgend  jemand  oder  gar  ich 
-hätte  an  die  Existenz  von  solchen  motorischen  Centren  in  der  Hirnrinde  ge- 
glaubt, wie  sie  sich  etwa  im  Rückenmark  oder  sonst  wo  finden,  so  beruht  dies 
auf  einer  willkürlichen  Fiction,  die  keinen  anderen  Zweck  haben  kann,  als  den 


1)  H.  Munk  a.  a.  0.  S.  32. 

2)  E.  Hitzig,  Untersuchungen  über  das  Gehirn.    1874.    S.  28. 


—     611     — 

Leser   über   den  wahren  Sachverhalt   zu  täuschen    unrl    ein  nicht  existirendes 
Verdienst  des  Herrn  Munk  zu  construiren. 

Es  ist  ja  gewiss  nicht  angenehm  für  einen  wissenschaftlichen  Forscher, 
wenn  er  sich  sagen  lassen  muss,  es  habe  ihm  an  einem  tieferen  Verständniss 
und  an  der  nöthigen  Klarheit  mit  Bezug  auf  die  eigenen  Entdeckungen  gefehlt. 
Wäre  es  aber  richtig,  könnte  der  Beweis  dafür  erbracht  werden,  so  würde  man 
es  sich  schon  müssen  gefallen  lassen,  doch  nur  unter  dieser  Bedingung;  aber 
schon  zu  dieser  Zeit  verfuhr  Herr  Munk  nach  der  von  mir  bereits  gekenn- 
zeichneten Manier,  er  macht  dem  Gegner  Vorwürfe,  ohne  sie  zu  begründen,  da 
sonst  alsbald  die  Nichtigkeit  dieser  Vorwürfe  erkenntlich  werden  würde.  That- 
sächlich  reducirt  sich  aber  das  tiefere  Verständniss,  die  grössere  Klarheit  des 
Herrn  Munk  der  Hauptsache  nach  lediglich  auf  eine  Umtaufe,  auf  eine  Aende- 
rung  der  bis  dahin  üblichen  Namengebung.  Er  führt  in  gar  keiner  Weise  an, 
was  er  an  meiner  Auffassung  auszusetzen  hat  und  wodurch  sich  die  seinige 
im  Princip  von  ihr  unterscheidet.  Zum  Verständniss  ist  es  nöthig,  dasjenige, 
was  ich  selbst  vor  den  angeführten  Arbeiten  des  Herrn  Munk  in  dieser  Sache 
gesagt  habe,  mit  dem  Inhalte  derselben  zu  vergleichen. 

In  der  citirten  Arbeit  aus  dem  Jahre  1870  definirten  wir  den  Zustand 
der  operirten  Thiere  mit  folgenden  Worten :  „Sie  hatten  offenbar  nur  ein 
mangelhaftes  Bewusstsein  von  den  Zuständen  dieses  Gliedes,  die  Fähig- 
keit, sich  vollkommene  Vorstellungen  über  dasselbe  zu  bilden,  war 
ihnen  abhanden  gekommen.'^  Dann  wird  ihr  Zustand  mit  der  tabischen  Ataxie 
verglichen. 

Bei  jenen  ersten  Versuchen  waren  mir,  wegen  der  Kleinheit  der  bei  ihnen 
angerichteten  Zerstörungen,  die  sonst .  bei  Eingriffen  in  den  Gyrus  sigmoides 
zu  beobachtenden  Störungen  der  Hautsensibilität  entgangen.  Schiff,  der  viel 
grössere  Zerstörungen  anrichtete,  hat  das  Verdienst  sie  aufgefunden  und  zuerst 
genauer  studirt  zu  haben,  aber  er  beging  den  Fehler,  nun  die  sämmtlichen 
durch  jene  Eingriffe  hervorgebrachten  Symptome  auf  Störungen  der  Hautsensi- 
bilität zu  beziehen  und  daran  andere  unhaltbare  Theorien  anzuknüpfen,  durch 
die  die  ganze  Localisationslehre  in  Frage  gestellt  wurde.  Es  ist  nöthig,  dies 
zu  wissen  und  zu  berücksichtigen,  wenn  man  den  Gedankengang  und  den 
Wortlaut  meiner  Publicationen  aus  jener  Zeit,  deren  Aufgabe  zum  Theil  in  der 
Widerlegung  der  Theorien  Schiffs,  denen  sich  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
auch  Goltz  angeschlossen  hatte,  bestand,  richtig  auffassen  will. 

Es  kam  mir  zunächst  darauf  an,  die  Ableitung  der  Gesammtheit  jener 
Störungen  aus  der  Hautanästhesie  als  unrichtig  darzuthun.  Zu  diesem  Zwecke 
habe  ich  damals^)  schon  auf  die  Nothwendigkeit  der  Unterscheidung  zwischen 
der  Hautsensibilität  und  den  sensiblen  Eigenschaften  des  Bewegungsapparates 
hingewiesen.  Ich  habe  dann  ausführlich  erörtert  und  durch  Versuche  bewiesen, 
dass  die  hauptsächlichsten  jener  Bewegungsstörungen  deshalb  nicht  durch 
Störungen  der  Hautsensibilität   erkärt    werden   können,    weil   sie  zu  einer  Zeit 


1)   E.  Hitzig,    Ueber  die   Einwände   des   Herrn  Prof.  Goltz   in  Strass- 
burg.    Fveichert's  und  du  Bois-Reymond's  Arch.   1876.   Heft  6. 

39* 


—     612     — 

nachweisbar  sind,  zu  der  Störungen  der  Hautsensibilität  nicht  oder  nicht  mehr 
nachgewiesen  werden  können  i).  Dazu  kam  noch,  dass  die  Störung  der  iso- 
lirten  intentioneilen  Bewegung,  ferner  die  von  mir  gefundene  eigen thümliche 
Deviation  der  Extremitäten  schwächender  Hunde  und  meine  Beobachtung,  dass 
solche  Hunde  blindlings  mit  der  kranken  Pfote  über  den  Tischrand  ins  Leere 
treten,  unmöglich  zu  der  Störung  der  Hautsensibilität  in  Beziehung  ge- 
bracht werden  konnten.  Diese  letztere  Erscheinung  hatte  ich  so  gedeutet, 
„rfass  die  Bunde  sich  mit  der  kranken  Vorderpfote  so  benehmen,  als  ob  jür 
dieses  Glied  die  Gesichtseindrücke  nicht  existiren  oder  als  ob  die  Gesichts- 
eindrücke nicht  zur  Bildung  von  Vorsielhmgen  für  dasselbe  veriverthet  würden''''. 
Es  handelt  sich  hierbei  also  um  einen  Defect  der  Vorstellungsthätigkeit 
mit  Bezug  auf  die  afficirte  Extremität,  gerade  so  wie  ich  einen  solchen 
rücksichtlich  der  anderen  seiner  Zeit  von  mir  als  Störung  des  Muskel- 
bewusstseins  bezeichneten  Bewegungsstörungen  angenommen  hatte.  Und  in 
gleicher  Weise  erklärte  ich  den  von  Goltz  zuerst  gefundenen  Verlust  der 
Fähigkeit  isolirter  intentioneller  Bewegung,  indem  ich  sagte:  Meiner  Ansicht 
nach  reicht  der  Bund  die  Pfote  darum  nicht,  toeil  er  sich  keine  oder  nur 
unvollkommene  Vorstellungen  von  dem  Zustande  der  Bewegungsorgane  dieses 
Gliedes  bilden  kann.  Denn  wenn  er  die  Zustände  seiner  Bewegungsorgane 
auf  Grund  eines  Willensaktes  isolirt  und  in  zweckmässiger  Weise  ändern 
soll,  so  ist  erforderlich,  dass  sein  Sensorium  von  diesen  Zuständen,  wenn 
auch  nur  in  der  hier  die  Regel  bildenden  unklaren  V/eise  Kenntniss  hat." 
Ich  sagte  dann  ferner,  indem  ich  annahm,  dass  auch  die  Störungen  der  Haut- 
sensibilität einer  analogen  Deutung  unterliegen,  dass  „alle  diese  Phäno- 
mene das  Gemeinschaftliche  besitzeri,  dass  äusserliche  Zustände 
—  —  —  vom  Sensorium  für  die  Bewegungen  des  kranken  Gliedes 
aber  nur  für  dieses  nicht  in  Rechnung  gestellt  werden'"''. 

Alles,  was  ich  hier  gesagt  habe,  stellt  sich  damit  nur  als  eine 
Ausdehnung  der  bereits  in  meiner  ersten  Arbeit  gegebenen 
Deutung  auf  andere  Vorstellungsquellen  in  dem  Sinne  dar, 
dass  es  sich  bei  allen  jenen  Symptomen  nur  um  eine  Bewusst- 
seinsstörung,  eine  Alteration,  eine  theilweise  Aufhebung  der 
Vorstellungsthätigkeit  handle.  Davon,  dass  ich  irgend  welche,  den 
subcorticalen  ähnliche  Apparate  in  der  Hirnrinde  gesucht  hätte,  ist  nie  und 
nirgends  die  Rede  gewesen. 

Sehen  wir  nun  zu,  was  Herr  Munk  an  die  Stelle  der  vorgetragenen  Lehre 
gesetzt  hat,  so  mögen  zunächst  hier  einige  wörtliche  Citate  Platz  finden: 

a)2)  „Doch  sind  die  Störungen  als  Motilitäts-  und  Sensibilüätsstörungen 


1)  Ich  bemerke  übrigens,  dass  ich  Beobachtungen,  bei  denen  die  Hunde 
die  afficirte  Vorderpfote  auf  die  leiseste  Berührung  fortsetzten,  dieselbe  Pfote 
aber  gleichwohl  dislociren  und  mit  dem  Dorsum  aufsetzen  Hessen,  sehr  oft  ge- 
macht habe. 

2)  Ich  versehe  die  einzelnen  Citate  mit  Buchstaben,  um  in  der  Folge 
einfacher  darauf  verweisen  zu  können. 


—     613     — 

überhaupt  nur  schlecht  charakterisirt  und  (jerade  auf  eine  bessere  Avffassuug 
u?id   Würdigung  derselben  kommt  es  an}'' ^) 

Dies  war,  wie  aus  dem  Vorstehenden  hervorgeht,  längst,  zum  Theil  von 
Anfang  an  geschehen,  so  dass  sich  der  Anspruch  des  Herrn  Munk  als  eine 
grundlose  Ueberhebung  darstellt, 

b)  „Nichts  anderes  aber  ist  es  nun,  das  nach  Exstirpationen  im  Be- 
reiche unseres  Rindenabschnittes  CDE  zur  Beobachtung  kommt,  als  der  Ver- 
lust und  die  allmähliche  Restitution  derjenigen  Vorstellungen,  in  den  schwe- 
reren Fällen  auch  der  Verlust  derjenigen  Wahrnehmurigen^  von  welchen  eben 
die  Rede  war}'  (a.  a.  0.  S.  33). 

Was  Herr  Munk  unter  Vorstellungen  und  Wahrnehmungen  versteht, 
erhellt  aus  einem  Satze  auf  der  vorhergehenden  Seite,  wo  er  mit  Bezug 
auf  seine  Sehsphäre  sagt  c)  „und  wie  dort,  so  ist  auch  hier  der  Ort,  wo 
die  Wahrnehmung  statthat  und  die  Vorstellungen,  die  Erinnerungsbilder  der 
Wahrnehmungen  ihren  Sitz  haben."    Und  auf  Seite  32  ebenda  heisst  es: 

d)  „Indem  die  Hautempfindungen  zum  Bewusstsein  kommen,  führen 
sie  zu  zweierlei  Wahrnehmungen  oder,  wie  wir  in  diesem  Gebiete  die  Wahr- 
nehmungen gut  bezeichnen.,  Gefühlen:  dem  Berührungs-  oder  Druckgefühle 
und  dem  Temperaturgefühle  —  —  — .  Aus  den  ersteren  ■ —  —  —  gehen 
die  Berührungs-  oder  Druckvorstellungen  hervor  —  —  — .  Dazu  kommen 
die  M%iskelemp>findungen,  die  Muskelgefühle  —  —  — .  Endlich  bilden  eine 
letzte  Gruppe  von  Gefühlen  die  Innervationsgefühle." 

e)  „Dass  die  Neubildung  gerade  so  vorschreitet ,  wie  ich  Ihnen  vorher 
die  Entstehung  aller  Gefühlsvorstellungen  zergliedert  habe,  dass  nämlich  erst 
die  einfachere?!,  dann  die  verwickeiteren  Vorstellungen  sich  wieder  einfinden, 
das  ist  Ihrer  Aufmerksamkeit  sicher  nicht  entgangen"   (ebenda  S.  37). 

f)  ,, Jetzt  nun,  nachdem  durch  geschlossene  Versuchsreihen  dargethan  ist, 
wie  im  Falle  der  Restitution  in  der  Fühlsphäre  immer  erst  die  einfacheren 
und  dann  die  verwickeiteren  Gefühlsvorstellungen  sich  wieder  einstellten,  erst 
die  Druckvorstellungen,  dann  die  Lagevorstellungen,  endlich  die  Tast-  und 
Bewegungsvorstellungen  wiederkehren,  und  wie  weiter  durch  grosse  Exstir- 
pationen in  der  Fühlsphäre  die  Tast-  und  Bewegungsvorstellungen  allein, 
durch  grössere  Exstirpationen  mit  ihnen  die  Lagevorstellungen,  endlich  durch 
noch  grössere  Exstirpationen  auch  die  Druckvorstellungen  für  die  Dauer 
zum  Verschwinden  gebracht  werden:  jetzt,  meine  ich,  wird  man  sich  nicht 
mehr  der  Erkenntniss  verschliessen  können,  dass  man  es  in  dem  als  Fühl- 
spliäre  bezeichneten  Abschnitt  der  Grosshirnrinde  bloss  mit  Wahrnehmungen 
und  Vorstellungen,  die  aus  den  Gefühlsempfindungen  fliessen,  zu  thun  hat, 
und  dass  demgemäss  nur  die  Bewegungsvorstellungen  in  der  Fühlsphäre  die 
Ursachen  der  sogenannten  willkürlichen  Bewegungen   sind^''    (ebenda    S.  48). 

Endlich  heisst  es  ebenda  S.  60  g)  „und  damit  erklärte  ich  das 
höchste,  das  hier  überhaupt  zu  erzielen  wäre,  erreicht,  indem  aus 
dem  bleibenden  Verluste  aller  Gefühlsvorstellungen  des  Körpertheiles  auch  auf 
den  Untergang  aller  die  Gefühlsvorstellungen  constituirender  Gefühlsivahr- 
nehmungen  oder  Gefühle  sich  schliessen  Hesse.''' 

1)  H.  Miink  a.a.O.   S.  34. 


—     614     — 

Ich  habe  mich  oft  gefragt,  ob  sich  wohl  einer  von  denjenigen  Autoren, 
die  die  Lehre  von  den  Fühlsphären  des  Herrn  Munk  so  bereitwillig  über- 
nommen und  ihm  jenes  von  ihm  in  Anspruch  genommene  „tiefere  Verständniss" 
ohne  Weiteres  zugesprochen  haben,  die  Mühe  gegeben  hat,  über  den  Unter- 
schied zwischen  dieser  und  meiner  eigenen  Lehre  nachzudenken  und  ob  über- 
haupt ein  Forscher  dieser  Lehre  soweit  auf  den  Leib  gerückt  ist,  dass  er  die 
Richtigkeit  ihrer  Begründung  und  die  von  ihr  verheissene  Klarheit  mit  seinen 
eigenen  Augen  erkennen  konnte.  Da  ich  die  psychologische  Literatur  nicht  zu 
verfolgen  vermag,  habe  ich  mir  diese  Frage  nie  vollständig  beantworten 
können;  sonst  habe  ich  aber  nichts  Dergleichen  gefunden.  Ich  hatte  eigentlich 
die  Absicht,  mich  hier  dieser  Aufgabe  zu  unterziehen,  bin  aber  aus  Zweck- 
mässigkeitsgründen davon  zurückgekommen;  dagegen  empfehle  ich  sie  der 
Aufmerksamkeit  eines  Psychologen  mit  naturwissenschaftlicher  Vorbildung, 

Ich  selbst  beschränke  mich  auf  die  Erwähnung  einiger  weniger  Punkte. 
Dabei  wird  es  auf  die  Beleuchtung  der  Frage  ankommen,  ob  die  Behauptungen 
des  Herrn  Munk  richtig,  bewiesen,  erweisbar  sind  und  dann  gleichviel,  ob 
richtig  oder  unrichtig,  ob  sie  ihn  dazu  berechtigten,  seine  Lehre  als  etwas 
grundsätzlich  Neues  und  Anderes  der  meinigen  gegenüber  zu  stellen.  Vorerst 
interessirt  uns  die  Frage,  wie  Herr  Munk  zu  der  Erkenntniss  gekommen  ist, 
und  wie  er  den  Beweis  zu  führen  vermag,  dass  nicht  nur  alle  Gefiihlsvor- 
stellungen,  sondern  auch  alle  Gefühle  in  seiner  Gefühlssphäre  ihren  Sitz  haben 
und  mit  ihr  vernichtet  werden.  Der  einzige  Beweis,  den  er  dafür  beizubringen 
vermag,  soll  aber  (g)  in  dem  bleibenden  Verluste  aller  Gefühls  Vorstellungen 
des  Körpertheiles  bestehen,  aus  dem  er  einen  Rückschluss  auch  auf  die  Ver- 
nichtung aller  Gefühle  macht.  Hierdurch  wird  aber  nicht  das  Geringste  be- 
wiesen. Denn  von  dem  Vorhandensein  von  Gefühlen,  man  mag  diesen  Aus- 
druck definiren,  wie  man  will,  erfahren  wir  nur  etwas  durch  die  Beobachtung 
der  aus  Vorstellungen  fliessenden  willkürlichen  Bewegungen  und  der  reflec- 
torischen  Bewegungen.  Nun  werden  die  letzteren,  insoweit  sie  hier  in  Betracht 
kommen,  auch  durch  Zerstörung  beider  „Fühlsphären"  nicht  dauernd  ver- 
nichtet. In  welcher  Weise  Herr  Munk  also  erkennen  will,  ob  ein  Thier,  welches 
seiner  Annahme  nach  keine  Gefühlsvorstellungen  mehr,  hat,  zu  irgend  einer 
Zeit  bei  grösseren  oder  kleineren  Verletzungen  noch  isolirte  Wahrnehmungen 
oder  Gefühle  besitzt  oder  nicht,  in  welcher  Weise  die  von  ihm  des  Breiteren  ge- 
schilderte Restitution  der  Function  jener  Gefühlsvorstellung  zu  Stande  kommen 
soll,  wie  sie  bei  seinen  anatomischen  Annahmen  von  Wahrnehmungs-  und  Vor- 
stellungszellen überhaupt  denkbar  ist,  das  bleibt  sein  Geheimniss. 

Besonderes  Gewicht  legt  Herr  Munk  (e  und  f)  auf  den  angeblich  ge- 
führten Nachweis  des  gesetzmässigen  Verschwindens  und  Wiederkehrens  der 
einzelnen  Gefühle  und  Gefühlsvorstellungon.  Ich  will  jetzt  dahingestellt  sein 
lassen,  ob  sich  diese  physiologischen  Vorstellungen  des  Herrn  Munk  mit  seinen 
anatomischen  Vorstellungen  über  die  Rinde  überhaupt  vereinigen  lassen. 
Thatsächlich  ist  jener  Nachweis  aber  weder  geführt,  noch  sind  die  Behaup- 
tungen des  Herrn  Munk  zutreflend.  Bei  der  Restitution  bessern  sich  alle  Func- 
tionen der  Extremität  gleichzeitig,   am  weitesten  zurück  bleibt  aber  immer  die 


—     615     — 

Kestitution  der  liauptsächlichstea  Function  jenes  RindenabscliniLtes,  der  Vcr- 
mittelung  des  Bewusstseins  von  den  Zuständen  der  Musculatur  (vielleicht  auch 
der  Gelenke),  wie  ich  dies  von  jeher  betont  habe.  Und  gerade  dasjenige 
Moment,  auf  dessen  Constatirung  Herr  Munk  sich  am  meisten  zu  Gute  thut, 
nämlich  dass  erst  die  einfacheren,  dann  die  verwickeiteren  Vorstellungen  sicli 
wieder  herstellten,  existirt  in  Wirklichkeit  nicht.  Wäre  Herr  Munk  klar  ge- 
wesen, so  hätte  er  sehen  müssen,  dass  es  hier  gar  keine  verwickeiteren  Vor- 
stellungen im  Gegensatz  zu  einfacheren  giebt,  sondern  dass  nur  Vorstellungen 
verschiedener  Herkunft  zu  der  normalen  Ausführung  eines  complicirten  Actes, 
der  geordneten  willkürlichen  Bewegungen,  zusammenwirken. 

Ich  hatte  1)  mich  über  die  Entstehung  der  willkürlichen  Muskelbewegung 
mit  Bezug  auf  die  motorische  Region,  Avie  folgt  geäussert: 

„D/e  UehermiUeluny  von  solchen,  grossentheüs  unbewussten  Vorstellungen 
über  jede  einzelne  Bewegungs]phase  bildet  eine  der  nothio endigen  Vorbedin- 
gungen für  den  normalen  Ablauf  der  ihr  folgenden  Phase,  und  man  hat 
hiernach,  wenn  man  auch  die  scheinbare  Muskelruhe  als  eine  Bewegungs- 
phase auffasst,  ganz  allgemein  in  den  Muslcelzuständen  eine  der  verschiedenen 
Ursachen  zu  erkennen,  welche  den  Organismus  zu  den  loillkürlichen  Bewe- 
gu7igen  vera7ilassen,  und  diese  selbst  reguliren.  Nehmen  icir  an,  es  gäbe 
keine  anderen  Sinnesreize  und  Wahrnehmungen,  und  wir  hätten  es  vielmehr 
mit  einer  einfachen,  mit  dem  Impulse  versehenen  Bewegungsmaschine  der 
gedachten  Art  zu  thun,  so  können  ivir  uns  auf  Grund  des  eben  Entwickelten 
sehr  wohl  vorstellen,  dass  eine  solche  zur  Ausführung  zweckmässiger  Bewe- 
gungen ausreicht." 

Und  ferner^): 

„Denn  wenn  er  die  Zustände  seiner  Bewegungsorgane  auf  Grund  eines 
Willensaktes  isolirt  und  in  zweckmässiger  Weise  ändern  soll,  so  ist  erfor- 
derlich, dass  sein  Sensorium  von  diesen  Zuständen,  wenn  auch  nur  in  der 
hier  die  Regel  bildenden  unklaren    Weise  Kenntniss  hat.  —  —   — • 

Zur  Auslösung  von  Bewegungen  ganz  allgemein  gesprochen,  also  z.  B. 
von  Ortsbewegungen,  ist  die  Gesammtsumme  dieser  Kenntniss,  welche  sich 
nämlich  aus  den  einzelnen  Factoren  der  die  einzelnen  Glieder  betreffenden 
Bewusstseinsvorgänge  zusammensetzt,  nicht  erforderlich.  Es  genügt  hier,  dass 
der  Bewegunqsimptds  überha-upt  von  der  Grosshirnrinde  zu  den  niederen 
Bewegungscentren  gelange,  um  ihre  Maschinerie  in  Thättgkeit  zu  setzen.  Die 
kranken  Glieder  spielen  dann  so  gut  es  ohne  das  ihnen  angehörende  Theil 
Grosshirnrinde  gehen  will,  eben  mit.  Sofort  macht  sich  aber  der  Defect  im 
Grossliirn  bei  der  Bewegung  bemerklich  dadurch,  dass  der  Hund  die  Pfote 
in  den  einzelnen  Gelenken  ungeschickt  bewegt,  sie  nach  innen  oder  aussen 
setzt,  sie  mit  dem  Dorsum  aufsetzt  u.  s.w.  — Es  ist  'nur  ein  Zu- 
fall, wenn  die  Pfote  normale  Beioegungen  macht,  in  der  Regel  fällt  die  der 
Norm  adaequate  Begrenzung  der  einzelnen  BewegungsgVeder^  die  nur  aus 
der  unaufhörlichen  Kenntnissnahme  jeder  einzelnen  Bewegungsphase  resul- 
tiren  kann,  dahin.'''' 


1)  E.  Hitzig,  Untersuchungen  über  das  Gehirn.    1874.    S.  61. 

2)  E.  Hitzig,   Ueber  die  Einwände  des  Herrn  Prof.  Goltz,     a.  a.  0. 
S.  405. 


—     616     — 

Herr  Munk  hat  als  höchstes  und  letztes  Endergebniss  seiner  Unter- 
suchungen und  Ueberlegungen  den  Satz  aufgestellt  (f),  „dass  nur  die  Be- 
wegung-worsteliungen  in  der  Fühlsphäre  die  Ursachen  der  sogenannten  willkür- 
lichen Bewegungen  sind'"''.  Dieser  Satz  ist  an  sich  falsch,  was  an  ihm  aber 
richtig  ist,  war  theils  bekannt,  theils  längst  vor  Herrn  Munk  durch  mich  aus 
meinen  eigenen  Versuchen  abgeleitet  worden.  Längst  bekannt,  ja  eine  triviale 
Nothwendigkeit  ist  es,  dass  nur  die  Bewegungsvorstellungen  die  Ursache  der 
willkürlichen  Bewegungen  sind.  Falsch  ist  es  aber,  dass  nur  die  Bewegungs- 
vorstellungen in  der  „Fühlsphäre"  ihre  Ursachen  sind^). 

Die  Ursache  einer  Bewegungsvorstellung  kann  z.  B.  der  Anblick  eines 
Stückes  Fleisch  sein,  sodass  der  Hund  infolge  der  Gesichtsvorstellung  sich  auf 
das  Fleisch  zu  bewegt.  Unzweifelhaft  ist  dies  eine  infolge  einer  Bewegungs- 
vorstellung auftretende  willkürliche  Bewegung,  und  doch  kann  sie  sich  ohne 
Mitwirkung  der  entsprechenden  Abschnitte  der  motorischen  Region  vollziehen. 
Natürlich  entsteht  die  Vorstellung  des  Fleisches,  sowie  der  Trieb,  sich  seiner 
zu  bemächtigen,  in  der  optischen  Region  und  vielleicht  noch  an  anderen  Orten. 
Natürlich  bildet  er  eine  Componente  der  Bewegungsvorstellung,  thatsächlich 
bewegt  sich  der  Hund  auch  nach  Verlust  der  entsprechenden  moto- 
rischen Centren  auf  das  Fleisch  zu  und  aus  allen  diesen  Gründen  ist  das 
falsch,  was  Herr  Munk  behauptet.  Richtig  ist  nur  das,  was  ich  in  den  vor- 
stehenden Citaten  angeführt  und  oft  genug  wiederholt  und  zusaramengefasst 
habe,  nämlich,  dass  jene  Hirnprovinzen  zur  Bildung  von  Vor- 
stellungen von  den  gesammten  Zuständen  des  Körpertheiles  be- 
stimmt sind  und  dass  deshalb  die  Ausführung  nicht  nur  zweck- 
mässiger, sondern  gleichzeitig  auch  normaler  Bewegungen  ohne 
ihre  Mitwirkung  nicht  von  statten  gehen  kann. 

Herr  Munk  mag  nun  mit  den  Einzelheiten,  von  denen  hier  die  Rede  war. 
Recht  haben  oder  nicht.  Der  Hauptsache  nach  gipfelt  sein  ganzes  Raisonnement 
in  dem  Satze,  dass  meine  motorische  Region,  die  er  für  seine  Zwecke 
„Fühlsphäre"  zu  taufen  beliebt  hat,  zur  Bildung  vonVorstellungen 
dient,  aus  denen  er  wiederum  für  seine  Zwecke  Gefühle  und  Ge- 
fühlsvorstellungen gemacht  hat,  und  dass  die  Ausschaltung 
dieser  Region  die  Vorstellungen  von  den  Zuständen  der  zuge- 
hörigen Körpertheile  und  damit  auch  deren  Bewegungen  stört. 
Dies  ist  aber  in  allem  Wesentlichen  genau  dasselbe,  was  ich 
Jahre  vor  Herrn  Munk  bereits  dargelegt  hatte,  sodass  wahrlich  ein 
nicht  geringer  Muth  dazu  gehört,  dem  wissenschaftlichen  Publicum  die  Fabel 
vorzusetzen,  er  habe  erst  zu  dem  wirklichen  Verständniss  meiner  Entdeckungen 


1)  Es  ist  unmöglich,  dass  Herr  Munk  dies  nicht  ebenso  gut  gewusst  hat, 
wie  jedermann.  Wenn  er  nichtsdestoweniger  mit  den  angeführten  Worten 
etwas  ganz  Widersinniges  behauptete,  so  ist  dies  offensichtlich  auf  die  Ver- 
blendung zurückzuführen,  in  die  er  mit  dem  Bestreben  gerathen  war,  doch 
lioch  eine  zündende  Entdeckung  zu  machen,  wo  nichts  mehr  zu  entdecken  war. 


—    (;i7    — 

verholfeii,  um  sich  dann,  wenn  ich  zu  proteslircn  wat^o,  darüber  zu  beschweren, 
dass  ich  ihn  seines  Eigenthums  beraube. 

Herr  Munk  hat  sich  hiermit  aber  nicht  begnügt.  Ich  hatte  seiner 
Zeit  die  einzelnen  corticalen  Regionen  für  die  Innervation  der  einzelnen  Miis- 
kelgebiete  unter  Aufwendung  unsäglicher  Mühe  auf  das  Genaueste  abgegrenzt. 
Herr  Munk  hat  sich  dann  später  bemüssigt  gefanden,  diese  Abgrenzung  in  an- 
derer Weise  vorzunehmen.  Das  Nähere  darüber  möge  der  Leser  in  meinen 
früheren  Abhandlungen  i)  nachlesen.  Er  sagt  aber  nie  und  nirgends,  in  wel- 
cher Weise  er  diese  Grenzen  bestimmt  hat  und  aus  welchen  Gründen  er  meine 
Abgrenzung  für  unrichtig  hielt.  Dabei  musste  es  ihm  sogar  passiren,  dass  er 
seine  eigenen  Grenzen  wieder  abänderte,  wobei  er  sich  gelegentlich  in  die  von 
mir  gezogenen  Grenzen  zurückfand.  Für  alles  Dieses  fehlt  jede  Spur  einer 
Erklärung.  Ich  glaube  nicht,  dass  irgend  ein  Forscher  und  vornehmlich  ein 
Forscher  auf  dem  Gebiete  der  Physiologie  es  billigen  wird,  dass  man  so  mit 
den  Angaben  derjenigen  Autoren  umgeht,  auf  deren  Schultern  man  zu  stehen 
glaubt,  und  dass  man  überhaupt  seine  Untersuchungsergebnisse  in  einer  so 
unordentlichen  Weise  vorträgt. 

Ich  habe  mich  an  den  angeführten  Orten  bereits  bedauernd  darüber  ge- 
äussert, dass  Herr  Munk  in  dieser  Weise  verfahren  sei  and  es  mag  sein,  dass 
er  mit  den  Worten,  „dass  ich  über  diese  und  jeneAngabe,  die  mir  widersprach, 
mich  nicht  geäussert  habe",  diese  Stellen  im  Auge  gehabt  hat;  andere  als  diese 
Stellen  und  die  vorher  erwähnte  Arbeit  von  Exner  können  ihm  wenigstens 
meines  Erinnerns  keine  Veranlassung  zu  diesen  W^orten  gegeben  haben.  Die 
Thatsachen,  von  denen  hier  die  Rede  ist,  habe  ich  längst  vor  Herrn  Munk 's 
ersten  Arbeiten  festgestellt;  wenn  er  also  den  Mangel  jeder  Erläuterung,  wie 
es  den  Anschein  hat,  damit  hätte  entschuldigen  wollen,  dass  er  seitdem  auf 
die  Sache  nicht  zurückgekommen  sei,  so  wäre  dies  wieder  eine  grundlose  Be- 
hauptung. 

Herr  Munk,  dem  es  niemals  an  Scheingründen  fehlt,  wird  voraussicht- 
lich einwenden,  dass  es  sich  bei  mir  um  Reizversuche  und  bei  ihm  um  Läh- 
mungsversuche handele.  Dies  wäre  indessen  thatsächlich  nur  ein  Scheingrand. 
Für  eine  vollständige  Erforschung  der  physiologischen  Function  der  Hinrinde 
müssen  Reiz-  und  Lähmungsversuche  selbstverständlich  zusammenwirken;  für 
die  Abgrenzung  der  einzelnen  Gebiete  innerhalb  der  motorischen  Region  — 
und  nur  auf  diese,  nicht  auf  die  benutzten  Mittel  kommt  es  an  —  verdienen 
Reizversache  jedoch  in  jedem  Falle  den  Vorzug  und  in  keinem  Falle  durfte 
Herr  Munk  diese  Versuche  einfach  bei  Seite  schieben.  Aber  freilich  mit  einigen 
Abänderungen  dieser  Ahgrenzungen  und  mit  Verschweigung  einer  Anzahl  von 
localisatorischen  Angaben,  die  ich  auf  diesem  Gebiete  gemacht  habe,  liess  sich 
um  so  leichter  die  Transformirung  meiner  motorischen  Region  in  die  ,,Pühl- 
sphäre"  des  Herrn  Munk  vornehmen.  Und  so  hat  Herr  Munk  es  dann  glück- 
lich erreicht,    dass    im  Laufe  der  Jahre   allmählich   bei   immer  mehr  Autoren 


])  E.  Hitzig,  Alte  und  neue  Untersuchungen  etc.    Archiv  f.  Psychiatrie 
Bd.  34.  S.  6  ff.  und  Bd.  36.   S.  45 ff, 


—     618     — 

dasjenige  als  ,, Fühlsphäre"  von  Munk    bezeichnet  wird,    was  man  früher  als 
„motorische  Region"  von  Hitzig  bezeichnete. 

In  der  Hoffnung,  dass  die  wissenschaftliche  Forschung  mir  im  Laufe  der 
Zeit  gerecht  werden  würde,  habe  ich  lange  Jahre  zu  diesen  Machenschaften 
geduldig  geschwiegen.  Es  kam  dazu  die  Abneigung  gegen  eine  Polemik,  die 
nicht  mit  der  Publication  der  Fortsetzung  meiner  Arbeiten  Hand  in  Hand  ging. 
Meine  Hoffnung  hat  mich  aber  getäuscht.  Immer  mehr,  namentlich  in  Deutsch- 
land, hat  man  meine  Betheiligung  an  der  Gründung  und  dem  Ausbau  der 
Localisationslehre  auf  die  Entdeckung  der  elektrischen  Erregbarkeit  des  Gross- 
hirns zurückgedrängt  und  Herrn  Munk  alles  weitere  Verdienst  zugeschrieben. 
Ungeachtet  dessen  würde  ich  mich  mit  der  bei  der  Wiederaufnahme  der  Ver- 
öffentlichung meiner  selbstständigen  Arbeiten  von  selbst  gegebenen  einfachen 
Darlegung  des  Sachverhaltes  begnügt  haben,  wenn  Herr  Munk  nicht  die  Kühn- 
heit besessen  hätte,  mir  die  Beraubung  Anderer  vorzuwerfen.  Man  kann  ja  nun 
ermessen,  wer  den  Anderen  beraubt  hat,  Herr  Munk  oder  ich. 


Druck  vi>n   L.  Scliumacher  in  Berlin   N.  24. 


iCdianer  del 


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