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http://www.archive.org/details/platonischestudi00boni :
PLATONISCHE STUDIEN,
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PLATONISCHE STUDIEN
H. BONITZ.
ZWEITE AUFLAGE.
BERLIN :
FRANZ VAHLEN. > j#
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Seit Schleiermachers grundlegendem Werke über
Platon haben vorzugsweise zwei Gegenstände wissen-
schaftlicher Untersuchung die Platonischen Forscher be-
schäftigt, nämlich die Aufgabe, aus dem gesammten,
von unechten Zusätzen befreiten, nach der Zeitfolge ge-
ordneten literarischen Nachlasse Platons das Bild seiner
geistigen Eigenart in ihrem Entwicklungsgange herzu-
stellen, und die damit verwandte aber nicht zusammen-
fallende, den aus den einzelnen Dialogen zu ermit-
telnden Gedankengehalt zum einheitlichen Systeme der
Platonischen Philosophie zu verbinden. Über den hohen
Zielen dieser weitgreifenden Untersuchungen darf jedoch
eine einfache, eng begrenzte Aufgabe Platonischer For-
schung nicht übersehen werden. Jeder einzelne Dialog
Platons ist ein in sich abgeschlossenes Ganzes und stellt
daher an den Leser zunächst die Forderung, ihn als
solches, der Absicht des Verfassers entsprechend, aufzu-
fassen; und dieser Forderung muss genügt sein, ehe wir
das einzelne Werk als einen Zug zu dem Gesammtbilde
Platons, seinen Gedankengehalt als ein Moment für das
va
Ganze des Platonischen Systems mit Sicherheit verwer-
then können. Diese elementare Aufgabe rein für sich,
abgetrennt von jenen weiter liegenden Zielen, an einigen
der bedeutenderen Dialoge Platons zu behandeln, hatten
mich vor längerer Zeit besonders zwei mit Recht hoch-
geschätzte Werke veranlasst: Steinharts „Einleitungen
zu Müllers Übersetzung der Platonischen Dialoge“ und
Susemihls „Genetische Entwicklung der Platonischen
Philosophie“. Denn so grofs und unbestritten das Ver-
dienst dieser Werke für die, Platonischen Forschungen
ist, so schienen mir dieselben doch durch die unmittel-
bare Verbindung der engeren Aufgabe der Erklärung
des einzelnen Dialogs mit seiner Einreihung in das Ge-
sammtbild Platons, durch willkürliche Einmischung der
eignen Reflexionen in die Darstellung des Gedanken-
ganges des Schriftstellers, durch sinnreiche oder sinn-
reich scheinende Deutungen von kleinen Einzelheiten der
Dialoge u. ä. m.*) der sicheren Auffassung der einzelnen
Dialoge nicht weniger Gefährdung als Förderung zu
bringen. Diesem gegenüber versuchte ich in den bei-
den Heften der „Platonischen Studien“ (Sitzungsberichte
der phil.-hist. Cl. der kais. Wiener Akad. d. Wiss. 1858
*) Als Beleg für das hier ausgesprochene Urtheil hatte ich im Vorwort
zur ersten Auflage einige mir charakteristisch scheinende Beispiele angeführt,
welche für Susemihl Anlass zu einer ausführlichen Entgegnung (Genet. Ent-
wickl. Bd. II, 2. S. VI-XIX) geworden sind. Ich stelle es den geneigten Le-
sern anheim zu beurtheilen, ob durch dieselbe die Beweiskraft der von mir
angeführten Beispiele erschüttert wird, unterlasse es aber sie zu wiederholen,
da ich den Inhalt der Abhandlungen selbst für ausreichend halte das obige
Urtheil zu rechtfertigen.
ΥΠ
und 1860, und daraus gleichzeitig in Separatabdrücken
ausgegeben) an den Dialogen Gorgias, Theätetos, Euthy-
demos, Sophistes zu zeigen, dass durch die strenge Unter-
ordnung unter den von Platon eingeschlagenen Gedanken-
gang und die von ihm selbst beabsichtigte und kenntlich
genug bezeichnete Gliederung, die vollständige Resigna-
tion auf die Einfügung eigner Erfindungen in den Gedan-
kengang des Schriftstellers, kurz durch genaues Einhal-
ten der Gesetze der Hermeneutik, welche für das Ganze
von Schriftwerken nicht minder Geltung haben als für
deren einzelne Sätze und Abschnitte, die Absicht des
einzelnen Dialogs sich mit jener Annäherung an Evidenz
bestimmen lasse, welche auf diesem Gebiete überhaupt
erreichbar ist. Der von schätzbaren Seiten ausgespro-
chenen Aufforderung zu einer neuen Auflage dieser bald
nach ihrem Erscheinen vergriffenen Abhandlungen zu
entsprechen war ich seit ein paar Jahren willens; aber
die Ausführung der Absicht verzögerte sich, weil ich
in der. Revision, durch welche eine neue Auflage ihr
Erscheinen zu rechtfertigen hat, wiederholt durch an-
dere Arbeiten unterbrochen wurde. Sollte in der jetzt
erscheinenden, durchgängig revidirten Bearbeitung irgend
eine bedeutendere Monographie übersehen sein, so wolle
man dies freundlichst entschuldigen aus der Schwierig-
keit, welche eine Vollständigkeit in dieser Beziehung
hat*), und aus dem Umstande, dass die Revision in weit
*) So ist mir die Abhandlung von Kreienbühl über Platons Theätetos,
obgleich seit längerer Zeit bestellt, erst während des Druckes dieser Schrift
zugegangen, so dass ich nicht mehr in der Lage war sie zu berücksichtigen.
VII 3
von einander getrennten Zeiten hergestellt ist. Dass ich
auf Schaarschmidts Kritik der unter Platons Namen über-
lieferten Schriften nicht überall, wo sich ein Anlass bot,
eingegangen bin, ist absichtlich geschehen; ich glaubte,
dass die beispielsweise Prüfung der Schaarschmidtschen
Beweisführung in ein paar Fällen zur Charakteristik des
von ihm eingeschlagenen Verfahrens ausreichen würde.
Dem Wiederabdrucke der „Platonischen Studien“
habe ich einige Abhandlungen zur Erklärung anderer
Platonischer Dialoge beigefügt, welche zum Theil bei
verschiedenen Anlässen gedruckt, zum Theil noch un-
gedruckt waren. Da die Zeit ihrer Abfassung oder ihres
ersten Erscheinens sachlich gleichgiltig ist, so habe ich
sie nach einer gewissen Verwandtschaft des Inhaltes ge-
ordnet. Sie können als Fortsetzung der in der ersten
‚ Auflage dieser Studien enthaltenen Abhandlungen an-
gesehen werden, indem sie dieselben Grundsätze der Er-
klärung zur Geltung zu bringen suchen. Wenn in den-
selben die Kritik anderer Auffassungen unterblieben oder
nicht in gleichem Mafse ausgeführt ist wie in den er-
steren Abhandlungen, so werden mir diese wol das Ver-
trauen erworben haben, dass ich die abweichenden An-
sichten in Erwägung gezogen habe. — Der Aufsatz über
Euthyphron war bereits geschrieben, ehe die umsichtig
abgefasste Einleitung in der Wohlrabschen Schulaus-
gabe erschienen war; der Unterschied in dem Gesammt-
ergebnis schien mir auch jetzt noch die Veröffentlichung
des Aufsatzes zu rechtfertigen.
ΙΧ
Drei von den neu hinzugefügten Abhandlungen be-
ziehen sich auf die Erklärung von Dialogen Platons,
welche in der Gymnasiallectüre vorzukommen pflegen.
Der Dialog Protagoras, seinem Inhalte nach für Prima-
ner eines Gymnasiums durchweg verständlich, seinem
Umfange nach durch die Schullectüre in mäfsiger Zeit
abzuschlielsen, ist in solchem Mafse charakteristisch für
Platons dialogische Kunst und belehrend über Bildungs-
zustände des Sokratischen Zeitalters, dass ich ihn nicht
blofs „eventuell“, wie vor kurzem eine Directorencon-
ferenz sich entschied, in den Kanon der Schullectüre
aufnehmen, sondern es für ein Unrecht ansehen würde,
dies Meisterwerk Platons den Schülern des Gymnasiums
vorzuenthalten. Laches und Euthyphron sind schon seit
längerer Zeit, und das mit Recht, regelmälsig Gegen-
stand der Schullectüre. In Betreff der Schulerklärung
dieser Dialoge füge ich aus wiederholter Erfahrung die
Versicherung hinzu, dass, ohne den Aufwand ausführ-
licher Excurse, nur durch die an sich nothwendigen Mittel
der Erklärung — das Einhalten sachgemälser Einschnitte
in der Lectüre, die Hinweisung auf die vom Schriftsteller
selbst bezeichnete Gliederung, das Zusammenfassen des
Gedankenganges der einzelnen Abschnitte — die Schüler
zu der Gesammtauffassung, wie ich sie in diesen Ab-
handlungen zu begründen versuche, können hingeführt
werden, und dass das Verfolgen dieses Zieles das Inter-
esse an der Lectüre belebt und vertieft, ohne ihrer
sprachlichen Verwerthung Eintrag zu thun oder den
Χ
Zeitaufwand zu erhöhen. Möchte auch für die Zwecke
der Schullectüre die von mir versuchte Analyse der be-
zeichneten Dialoge freundliche Beachtung finden und
einigen Nutzen bringen.
Berlin, im September 1875.
H. Bonitz.
INHALT.
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Ze Frklärung des Dialogs Euthyphron *. . .-. . vu. er. 215
Bemerkungen zu dem Abschnitt des Dialogs Charmides p. 165—172. . 228
15 Beklärung des Dialogs Protagoras . .. . 2.2... zo... - ΘΝ
Zur Erklärung des Dialogs Phädros . ........ en ee ER
Die im Phädon enthaltenen Beweise für die Unsterblichkeit der mensch-
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249
GORGIAN.
Gedankengang und Gliederung des Gespräches.
Einleitung. Ohne dass der Scenerie des Gespräches eine
eingehendere Darstellung gewidmet oder der Kreis von Zuhörern
näher bezeichnet würde, der die Unterredner umgibt 1), wird der
Leser nur unter die Personen eingeführt, welche hernach einen
thätigen Antheil am Gespräche nehmen. Sokrates kommt mit
seinem Schüler Chärephon an den nicht näher bestimmten
Ort — es liegt nahe an einen Öffentlichen Ort, z. B. das Lykeion
zu denken?) —, an welchem so eben Gorgias unter dem Bei-
*) Sitzungsberichte der kaiserl. Akad. ἃ. Wissensch. Phil. hist. Classe. 1858. Bd. 27.
S. 248—279. (Separatabdruck 5. 10—41.)
ἡ Die Voraussetzung, dass ein Kreis von stummen Zuhörern die Träger
des Gepräches umgibt, folgt besonders aus 458 C, sowohl aus Gorgias' Wor-
ten: σχοπεῖν οὖν Yp χαὶ τὸ τούτων, μὴ τινας αὐτῶν χατέχομεν βουλομένους
τι χαὶ ἄλλο πράττειν, als aus der Erwiderung des Chärephon: Τοῦ μὲν
θορύβου, ὦ Τοργία τε καὶ Σώχρατες, αὐτοὶ ἀχούετε τούτων τῶν ἀνδρῶν,
βουλομένων ἀκούειν, ἐάν τι λέγητε. Dazu kann die Erwähnung der ἔνδον
ὄγτες, denen Gorgias so eben einen Vortrag gehalten hat 447 C: ἐκέλευε γοῦν
νῦν δὴ ἐρωτᾶν 6 τι τις βούλοιτο τῶν ἔνδον ὄντων, χαὶ πρὸς ἅπαντα ἔφη ἀποχρι-
νεῖσϑαι, insofern hinzugenommen werden, als das Fortgehen dieser Zuhörer-
schaft wenigstens nicht bezeichnet ist. Ferner vgl. 455 Ο: ἴσως γὰρ χαὶ τυγχά-
νει τις τῶν ἔνδον ὄντων μαϑητῆς son βουλόμενος γενέσθαι. 473 BE: — ἃ
οὐδεὶς ἂν φήσειεν ἀνθρώπων, ἐπεὶ ἐροῦ τινὰ τουτωνί, 490 B: ἐὰν ἐν τῷ αὐτῷ
ὦμεν, ὥσπερ νῦν, πολλοὶ ἄνϑρωποι χτλ.
2) In der ersten Auflage hatte ich, der verbreiteten Erklärung folgend,
das Zusammentreffen des Sokrates und Chärephon mit Kallikles vor oder in
das Haus des Kallikles gesetzt, worin dann zugleich die Annahme enthalten
ist, dass das eigentliche Gespräch selbst jedenfalls in dem Hause des Kalli-
kles stattfinde. Von dieser Auffassung hätte schon die Bemerkung Schleier-
machers zu 447 B Οὐχοῦν ὅταν βούλησϑε παρ᾽ ἐμὲ ἥχειν οἴχαδε abhalten sollen,
da sie die Unvereinbarkeit einer solchen Auffassung mit den Worten des
Bonitz, Platonische Studien. 1
2 GORGIAS.
fall der versammelten Zuhörer einen Vortrag beendigt hat. Dem
ihn begleitenden Kallikles erklärt Sokrates, unter dem Ausdruck
des Bedauerns über seine Verspätung, dass es ihm weniger darum
zu thun sei einen Vortrag des Gorgias zu hören, sondern dass
er wünsche ein Gespräch mit ihm zu führen, und zwar über
das Wesen der von ihm geübten Kunst. Kallikles glaubt die
Bereitwilligkeit des Gorgias zur Erfüllung dieses Begehrens um
so sicherer zusagen zu können, als Gorgias so eben die Auf-
forderung, ihm Fragen zu stollerk, an die Versammlung gerich-
tet und darauf Rede stehen zu wollen erklärt hat (ὁ. 1).
I. Gespräch zwischen Sokrates und Gorgias. Was ist die Rhetorik?
(ec. 2—15).
I. Begriffsbestimmung der Rhetorik. — Polos drängt sich
zunächst vor, statt des durch den so eben gehaltenen Vortrag
angeblich ermüdeten Gorgias Rede zu stehen; aber da er, ohne
auf die Frage nach dem Wesen und Begriff der Rhetorik ein-
zugehen, sogleich zu ihrem Lobe, also zur Frage nach ihrem
Werthe überspringt (c. 2), tritt auf des Sokrates Wunsch Gor-
gias in die Unterredung ein und verspricht dem Sokrates in
möglichster Präcision auf seine Fragen zu antworten; denn auch
darein setzt er einen Ruhm, dass ihn an Kürze niemand über-
bieten könne (c. 3). Imdem nun von der allgemeinsten Bezeich-
nung des Gegenstandes, mit dem die Rhetorik sich beschäftigt,
durch dessen Angabe Gorgias schon eine ausreichende Defini-
tion gegeben zu haben glaubt, ausgegangen wird, und Sokrates
hier wie im weiteren Verlauf dieses Abschnittes mit dem Er-
weise, dass die angebliche Definition noch zu weit sei, jedes-
mal für die weitere Eintheilung und Eingrenzung des Umfanges
einen Gesichtspunct bezeichnet, den Gorgias annimmt, wird
endlich zu der Definition gelangt, dass die Rhetorik eine auf
blofsem Glauben, nicht auf Wissen beruhende Überzeugung in
Textes klar nachweist. Die Auslegung Schieiermachers, der die obigen Worte
des Textes entsprechen, ist neuerdings von Chr. Cron in seiner erklären-
den Ausgabe des Gorgias (1867. Κ΄. 18f.) und in seinen »Beiträgen zur Er-
klärung des Platonischen Gor gias. 1870« 5. 25—35 durch umsichtige Prüfung
der entgegengesetzten Ansichten zu voller Sicherheit gebracht.
250
GORGIAS. 3
Versammlungen hervorrufe, namentlich wo es sich um Fragen
über Recht oder Unrecht handle. Es lässt sich, erklärt nach
dem Abschlusse dieser Definition Gorgias, von der Rhetorik
möglicherweise auch ein unrechter Gebrauch machen ; wo Fälle
dieser Art vorkommen, hat man, eben so wie auf dem Gebiete
anderer Künste, nicht gegen den Lehrer, sondern gegen den
Schüler, der die unrechte Anwendung macht, die Vorwürfe zu
richten (ec. 3—11).
2. Zwischen dieser den möglichen Missbrauch der Rheto-
rik anerkennenden Bemerkung des Gorgias und der im Ge-
spräche mit ihm gewonnenen Definition der Rhetorik findet
Sokrates einen Widerspruch; ehe er diesen nachzuweisen unter-
nimmt, schickt er die Bemerkung voraus, dass es ihm nicht um
Rechtbehalten, sondern ausschliefslich um die Wahrheit zu thun
sei. Indem hiedurch veranlasst Gorgias über seine Gesinnung
die gleiche Erklärung abgibt, gewinnt die nachfolgende Nach-
weisung des Widerspruchs den Charakter einer gemeinsamen
Untersuchung und Verständigung (c. 12).
3. Aufzeigung des Widerspruchs. Der Redner, dies ist
eine von Gorgias selbst anerkannte unmittelbare Folgerung aus
der Definition, gewinnt vor Nichtwissenden den Schein des Wis-
sens, ohne dass er ein Wissen zu besitzen braucht. Es fragt
sich, ob auch für das der Rhetorik wichtigste Gebiet, die Frage
über Recht und Unrecht, das Gleiche stattfindet, dass der Red-
ner ein Wissen nicht bedürfe. Gorgias erklärt, in diesem Be-
reiche müsse der Redner allerdings Wissen besitzen. Ist dies
der Fall, folgert hieraus Sokrates, besitzt der Redner ein Wis-
sen über Recht und Unrecht, so ist es, da das Wissen des Gu-
ten nothwendig das Wollen und Thun desselben mit sich bringt,
unmöglich, dass er von seiner Kunst einen ungerechten Ge-
brauch mache. Also die Definition, die Gorgias selbst über We-
sen und Bedingungen der Rhetorik gegeben hat, steht mit sei-
ner Erklärung über einen möglichen Missbrauch der Rhetorik
in einem Widerspruche, dessen Erörterung und Lösung sehr weit
führen würde (c. 13—15).
1*
4 GORGIAS.
II. Gespräch zwischen Sokrates und Polos. Welchen Werth und
welche wirkliche Macht besitzt die Rhetorik? (e. 16—36.)
I. In den vorgeworfenen Widerspruch, erklärt Polos das
Gespräch aufnehmend, ist Gorgias nur dadurch verfallen, dass
er sich scheute, auf die ungebührliche Frage des Sokrates, ob
über Recht und Unrecht der Redner ein Wissen bedürfe, ver-
neinend zu antworten. Sokrates sieht ın diesem Einwand des
jüngeren Mannes eine glückliche Förderung für sie die älteren
Männer, wenn sie in etwas gefehlt haben, und überlässt, nach
dringender Mahnung zur Entfernung alles unnützen 'Geredes,
dem Polos die Gesprächsführung, so dass dieser, in der Stellung
des Fragenden und Gesprächsleiters, ihn eines Besseren beleh-
ren solle. Aber von der Frage nach dem Wesen der Rhetorik, 2
mit welcher Polos die beabsichtigte Widerlegung des Sokrates
beginnt, springt derselbe, ehe sie genügend beantwortet ist, schon
zu der nach dem Werthe und der Macht der Rhetorik über, so
dass Sokrates sich bestimmt findet in zusammenhängender Rede
darzulegen, worin er das Wesen der thatsächlich geübten Rhe-
torik finde. Er unterscheidet zu diesem Zwecke in den Be-
schäftigungen,, welche den Leib oder die Seele des Menschen
betreffen, sei es ihre urprüngliche Bildung, sei es die Wieder-
herstellung des Verbildeten und Entstellten, zwei Classen: die
eine erstrebt das Beste des Leibes oder der Seele, die andere
hat nur das Angenehme und die Lust (ἡδονή) zum Zwecke,
nimmt aber die Maske der auf das wirkliche Beste gerichteten
Bestrebungen an. Jener ersteren Kategorie gehört auf dem Ge-
biete des Seelenlebens Gesetzgebung und Rechtspflege an, der
letzteren Sophistik und Rhetorik. Diese sind also blofse Fer-
tigkeiten des Schmeichelns, nicht Künste, welche das wahrhaft
Gute zu erreichen suchen (ὁ. 17—20).
2. Statt diese principielle Unterscheidung zu bestreiten,
wozu Sokrates auffordert, eilt Polos sogleich zu der Frage, ob
denn nicht anzuerkennen sei, dass die Redner eine grofse Macht
besitzen. Die Unbestimmtheit in den Fragen des Polos, von
Sokrates in jedem einzelnen Falle gerügt, führt, damit die Un-
tersuchung überhaupt nur einen Fortgang gewinnen könne, bald
dazu, dass Polos selbst dem Sokrates die Stellung des Fragen-
den überlässt und antworten zu wollen verspricht (c. 21, 22).
u ἀν ee
GORGIAS. 5
a) Polos hatte als Beweis für die Macht des Redners aus-
gesprochen, dass derselbe in jedem einzelnen Falle zu bewerk-
stelligen vermöge was ıhm beliebe. Dass hierin ein Zeichen
der Macht liege, bestreitet Sokrates durch die Unterscheidung
von Mittel und Zweck. Gegenstand unseres Wollens ist der
Zweck, jedes Mittel wird nur um des Zweckes willen gewählt;
Zweck ist einzig das Gute, während das Gegentheil davon, das
Übel, und das zwischen beiden liegende Indifferente nur ge-
wählt wird als Mittel zum Guten. Diese Unterscheidungen zu-
gestanden, ergibt sich, dass wenn die Einsicht mangelhaft ist,
häufig Jemand thut, was ihm im einzelnen Falle beliebt, ohne da-
durch das zu thun, was er wirklich will. Wenn also Macht darın
besteht, das zu erreichen, was man will, so kann man sie dem
Redner deshalb noch nicht zuschreiben,, weil er im einzelnen
Falle bewerkstelligt, was ihm eben beliebt (c. 23, 24, p. 408 E).
Polos versteckt das unumgängliche Zugeständnis seiner Nieder-
lage in die Frage, ob Sokrates nicht dennoch diese äulserliche
Macht des Redners, zur Verurtheilung oder Freisprechung zu
bringen wen ihm beliebe u. s. w., gern annehmen würde; die
Entgegnung des Sokrates, dass er nur die gerechte Ausübung
solcher Macht annehmen möchte, führt zu der Frage:
δ) ob die Ausübung solcher Macht unter jeder Bedingung
ein Gut sei?
α. Der wirklichen Discussion dieser Frage geht ein Vor-
gefecht methodologischen Inhalts voraus, durch welches der ei-
gentliche Fragepunct zu strengerer Formulirung gelangt und die
Anwendung blofs rhetorischer Mittel der Bestreitung (z. B. der
Berufung auf Zeugen, des Hinüberziehens der Sache in das
Lächerliche u. a. m.) statt wissenschaftlich überzeugender Be-
weise abgelehnt wird. Von Sokrates selbst erst darauf geführt,
gibt Polos seiner Behauptung die bestimmtere Fassung’), dass
3) Eine andere Bedeutung geben den Stellen, um die es sich hier han-
delt, nämlich 469 C & μαχάριε --- 470 C χάκιον, und 472 1) ἀδιχῶν δὲ δὴ —
472 E φημί Steinhart und Susemihl. Steinhart Κ΄. 368: „Aber merk-
würdig ist es, wie sich Sokrates hier noch zu der Fassungskraft des Polos
und seiner übrigen Zuhörer herablässt. Der so rein sittliche, dem Alter-
thume noch ziemlich fremde Gedanke, den wir schon im Kriton aus Sokra-
tes’ Munde hörten, dass Unrechtleiden besser und beglückender sei als Un-
0 GORGIAS.
Unrecht thun zu können nur dann ein Gut sei, wenn man es
ungestraft thun dürfe; Sokrates dagegen erklärt Unrechtthun
schlechthin für ein Übel, grölser als Unrechtleiden;, und ein
noch gröfseres Übel als das Unrechtthun an sich sei es, wenn
jemand für Unrecht, das er thut, ungestraft bleibe (c. 24—29
med.).
3. Polos gibt von dem Unrechtthun zwar nicht zu, dass es
ein gröfseres Übel (χάχιον), wohl aber, dass es hässlicher (αἴσχιον)
sei als Unrechtleiden ; er gibt ferner zu, dass etwas schön sei
entweder um der Annehmlichkeit oder um des Nutzens, um-
gekehrt hässlich um des damit verbundenen Schmerzes oder
Übels willen. Indem nun die von Polos dem Unrechtthun zu-
geschriebene Hässlichkeit sich nicht auf einen damit verbun-
denen Schmerz zurückführen lässt, so muss sie auf dem darin
enthaltenen Übel beruhen. Also Unrechtthun, muss Polos selbst
zugeben, ist ein gröfseres Übel als Unrechtleiden. — Da nun
ferner die Wirkung der Ursache entspricht, die Strafe also,
welche das Recht wieder herstellt, die Ungerechtigkeit dessen,
der Unrecht gethan hat, aufhebt, so ist gestraft zu werden eine
Wohlthat und ein Gut für den, der Unrecht gethan hat, und
ungestraft zu bleiben ist für ihn ein gröfseres Übel (c. 29 med.
—535).
rechtthun, wird hier ganz äulserlich und sinnlich dadurch begründet, dass
der Ungerechte immer die Rache des Gesetzes fürchten müsse, vor welcher
der Gerechte sicher sei.“ — Susemihl 8. 94: „Mit grolser Kunst steigt nun
die Beweisführung für diesen Satz vom Niederen zum Höheren auf. An-
fangs wird ganz vom Standpuncte des Polos aus gezeigt, dass nicht im-
mer der Unrechthandelnde glücklicher ist, sofern er nämlich die Strafe des
Gesetzes fürchten muss.“ Beide Ausleger betrachten also die fraglichen Ab-
schnitte als einen Theil des gegen Polos geführten Beweises. Die im Texte
von mir bezeichnete Auffassung ist durch die Worte selbst wie durch den
Zusammenhang des Nächstfolgenden sicher gestellt. Polos selbst nimmt diese
Worte nicht als eine Widerlegung seines Satzes auf, sondern bezeichnet durch
seine schnelle Beistimmung (472 D ἥκιστά γε, 472 E φημί), dass er von So-
krates nur ausdrücklich ausgesprochen findet, was er selbst stillschweigend
immer bei seinem Preise der Macht zum Unrechtthun vorausgesetzt hatte
(469 E οὐ δῆτα οὕτω ye.); und vor allem, die scharfe Formulirung der bei-
derseitigen Ansichten, also des eigentlichen Fragepunctes, von welchem aus
erst der Beginn des Beweises gerechnet werden kann, tritt erst ein 472 E ff.,
nachdem diese nähere Bestimmung zu dem Satze des Polos hinzugefügt ist.
253
aa Dr
(GHORGIAS. m
3. Hieraus wird nun die Summe gezogen, dass in dem von
Polos gepriesenen, als Macht bezeichneten thatsächlichen Ver-
mögen der Redner, ungestraft Unrecht zu thun, eine wirkliche
Macht nicht liegt, sondern eine solche vielmehr in der entgegen-
gesetzten Handlungsweise liegen würde, nämlich in der Enthal-
tung vom Unrechtthun und in der Herbeiführung der Strafe für
Unrecht, das wir selbst oder das unsere Freunde gethan haben
(ὁ. 36).
III. Gespräch zwischen Sokrates und Kallikles. Worin besteht die
Lebensaufgabe? ist politische Rhetorik oder ist Philosophie ein wür-
diges Lebensziel? (c. 37—83.)
Kallikles bezeichnet richtig, durch welches Zugeständnis
jeder der beiden bisherigen Unterredner dahin gedrängt sei, mit
sich selbst in Widerspruch zu gerathen. Sokrates benütze zu
solchen Widerlegungen die Zweideutigkeit des Begriffes Recht,
unter welchem man bald das natürliche, bald das gesetzlich fest-
gestellte verstehe; jenes gebe dem Stärkeren den Vorrang der
Macht, dieses verlange Gleichheit der Vertheilung im Interesse der
Schwächeren. Die kleinliche, auf Wortverdrehungen beruhende
Methode, welche Sokrates in der Discussion anwende, sei nur ein
Ergebnis der Beschäftigung mit Philosophie, welche als ein Ju-
sendunterricht in mäfsigem Tmfange betrieben Empfehlung ver-
diene, aber zum Berufe des Lebens gemacht den Mann, der sich
ihr hingebe, entwürdige, ıhn unerfahren in dem öffentlichen
Staatsleben und rechtlich schutzlos mache. Er solle diese auf-
geben und sich der bedeutenderen Beschäftigung, nämlich der
Rhetorik und Politik, widmen. Für die Frage, die hiedurch
gestellt ist, ob in der Philosophie oder in.der Politik und Rhe-
torıik die wahre Lebensaufgabe des Mannes liege, erwartet So-
krates aus dem Gespräch mit Kallikles eine unbedingt giltige
Entscheidung, da Kallikles aufser der Schärfe der Einsicht zu-
gleich den vollen Freimuth besitze, seine Überzeugung ohne jede
Scheu unverhohlen auszusprechen (c. 37—42).
1. Die sittliche Lebensanschauung des Kallikles wird auf ihren principiellen
Ausdruck, die Identification der Lust mit dem Guten, zurückgeführt.
Kallikles soll zunächst den von ihm aufgestellten Grund-
.. /
satz des Naturrechtes, das Recht des Stärkeren (τὸν χρείττω Ap-
GORGIAS.
nn
ya χαὶ πλέον ἔχειν τῶν ἡττόνων), bestimmter erklären, da χρείτ--
τῶν mannigfache Auffassungen zulässt. Die zuerst gegebene
Auslegung der χρείττονες als der physisch Stärkeren bringt den
Kallikles in Widerspruch mit sich selbst; die nächste Erklärung
der Stärkeren als der Besseren, χρείττονες als βελτίονες, setzt aber
nur ein Wort für das andere, ohne dadurch zur Verständigung
etwas beizutragen. Auf die Erklärung, die Kallikles hierauf,
durch Sokrates’ Frage geleitet, gibt, dass unter den Stärkeren
die Einsichtigeren zu verstehen seien und es den Einsichtigeren
zukomme, über die an Einsicht ihnen nachstehenden zu herr-
schen und im Vortheil zu sein (490 A), reicht noch nicht aus,
da weder das Gebiet der Einsicht noch das des Vortheils be-
zeichnet ist; denn wollte man den Satz so deuten, dass der-
jenige, der über bestimmte Gegenstände, z. b. über Nahrungs-
mittel, höhere Einsicht habe, mehr derselben besitzen solle, als
der minder Einsichtige, so verfiele man im offenbare Unge-
reimtheiten. Dadurch gelangt Kallikles zu der bestimmten Fas-
sung seines Satzes: denjenigen, welche in den Angelegenheiten
des Staates die grölsere Einsicht und Energie besitzen (Ypovı-
μώτεροι χαὶ ἀνδρειότεροι), kommt es zu, über die andern im Vor-
theil zu sein und zu herrschen (c. 43—46). Die Frage, welche
Sokrates hieran knüpft, ob es für diese Einsichtigen sich ge-
höre, nicht nur andere, sondern auch sich selbst zu beherr-
schen, gibt dem Kallikles den Anlass, mit Hohn über die Ein-
falt der Selbstbeherrschung zu erklären: nicht Einschränkung
und Beherrschung der Begierden, sondern unbeschränkte Hin-
gebung an dieselben mit der Fähigkeit, sie im vollen Mafse zu
befriedigen, sei Tugend und Glückseligkeit (492 C). In diesem
Satze findet Sokrates die Überzeugung ausgesprochen, welche die
meisten zwar hegen, aber auszusprechen sich scheuen. Die ein-
dringende Prüfung dieses Satzes wird endgiltige Entscheidung
darüber bringen, auf welche Weise man zu leben hat (ἵνα τῷ
’
ὅντι χατάδηλον γένηται πῶς βιωτέον 492 D). ὁ. 43—47. 492 D.
2. Widerlegung der behaupteten Identität der Lust und des Guten.
Sokrates bezeichnet zunächst in allegorischen Darstellungen
die Werthlosigkeit der Lust; aber er thut dies mit der ausdrücklich
ausgesprochenen Überzeugung, dass solche Allegorieen keine be-
a 1.223
ren
GORGIAS. 9
weisende Kraft haben). Kallikles weils ihnen ebenso treffende
und eben so wenig beweisende Bilder für seine Ansicht entgegen
4) Auch in, diesem Falle glaube ich die im Texte bezeichnete einfachere
Auffassung gegen Steinhart und Susemihl, die anderes und mehr in der
betreffenden Stelle 492 E — 494 B finden, aus Platons eigenen Worten recht-
fertigen zu können. Steinhart 8. 378: „Die heillose Lebensansicht und
die auf sie, gegründete durch und durch unsittliche Lebenskunst des Kalli-
kles wird nun im vierten Abschnitte durch die hier zuerst von Platon gründ-
lich erörterte Unterscheidung des Guten und Angenehmen bis auf ihre letz-
ten Gründe zurückgeführt und ihre Nichtigkeit vollständig nachgewiesen.
Aber erst durch einen allmählichen Übergang bricht Sokrates sich Bahn zu
dieser ernsten Betrachtung. Fr erinnert in einer höchst anmuthig aus feier-
lichem Ernst und spielendem Scherz gemischten 'einleitenden Rede den Kal-
likles an tiefsinnige und erhabene Dichterworte, worin das leibliche Leben
mit einer Art geistigen Todes und die den Lüsten und Leidenschaften hin-
gegebene Seele mit einem durchlöcherten Fasse, in welches man mit einem
Siebe Wasser schöpft, verglichen wird, und knüpft daran die liebliche Para-
bel von den beiden Fässern. Unverkennbar tritt in diesen Übergängen eine
feine künstlerische Absicht unseres Platon hervor. Der leidenschaftlichen und
stürmischen Rede des Kallikles, durch welche das Gemüth des Lesers noth-
wendig aufgeregt und mit sittlichem Unwillen erfüllt werden musste, durfte
nicht sofort eine ruhige dialektische Erörterung folgen; da tritt nun jene in
Bildern und Symbolen an das Höchste und Tiefste erinnernde Rede als ein
bedeutsames Vorspiel zu den folgenden ernsten und wichtigen Betrachtun-
gen ein, und übt, indem sie der verletzenden Disharmonie der Rede des
Kallikles' die lieblichste Harmonie entgegensetzt, auf die Seele eine durch-
aus beruhigende und versöhnende Wirkung. Denn das dichterische Gewand
lässt die grolsen Gedanken durchschimmern, dass die Herrschaft der Lust
nicht das wahre Leben, sondern der Tod des Geistes sei, dass sie die Seele
zur Aufnahme reinerer und höherer Ideen unfähig mache und zu einem
eitlen, nichtigen, unseligen Leben führe. Dem Kallikles freilich will
der hinter der Hülle der Dichtung verborgene Ernst nicht einleuch-
ten; scheinbar im Sinne der Anhänger des Herakleitos und der Theorie von
dem ewigen Flusse der Dinge, in der That aber im Geiste der Schüler Ari-
stipps, welche das wahre Leben in eine beständige leichte Bewegung der
Seele setzten, bleibt er dabei, dass ein Leben ohne den immer neuen Wechsel
von Lust und Befriedigung kein frisches und reges Leben, sondern der star-
ren Ruhe des Steines zu vergleichen sei.“ — Nicht Kallikles allein ist es,
dem der Ernst nicht einleuchten will, Sokrates selbst bezeichnet, dass er
diesen Allegorien Beweiskraft abspricht, 493 D: ἀλλὰ πότερον rei) τί σε καὶ
Im Ν 4 e ΝᾺ 48 as
μετατίϑεσαι — ἢ οὐδ᾽ ἂν ἄλλα πολλὰ τοιαῦτα μυϑολογῶ, οὐδέν τι μᾶλλον μετα-
θήσει; 494 A: πείϑω τί σε ταῦτα λέγων --- ἢ οὐ πείϑω; So spricht niemand,
der in seinen Darlegungen, welcher Form sie auch seien, eine beweisende
Kraft voraussetzt; so lässt am wenigsten Platon den Sokrates da sprechen,
wo er Überzeugung schaffen will. Man kann daher nicht Susemihl bei-
stimmen, der $. 96 vom folgenden Abschnitt (494 A—498D) sagt, dass darin
10 (GORGIAS.
zu stellen. Aber diese bildlichen Auffassungen dienen dazu, dass
das Angenehme oder die Lust (ἡδονή, ἡδύ) als Befriedigung eines 256
Begehrens an sich bezeichnet wird. Welches der Gegenstand des
Begehrens sei, diese Consequenz seiner Ansicht wird Kallikles ge-
trieben selbst anzuerkennen, ist vollkommen gleichgiltig; die be-
friedigung jedes beliebigen Begehrens ist das Angenehme oder die
Lust5), und diese allein ist ein Gut. Gegen den zu solcher
Bestimmtheit formulirten Satz, Lust oder Angenehmes und Gut
sei identisch, richtet nun Sokrates seine beiden Beweise®). Der
erste ist aus der Natur der Begriffe selbst entlehnt, wie diese
im vorausgehenden festgesetzt wurden. Das Gute schliefst sein
eigenes Gegentheil, das Übel oder das Böse, aus, so dass nicht
demselben Subjecte beides zugleich zukommen kann. Dagegen
die Lust oder das Angenehme besteht in der Befriedigung eines
„strenger wissenschaftlich gezeigt‘ werde, also schon in diesem einen
nur minder strengen Beweis findet; vielmehr bezeichnen die angeführten
"Worte des Sokrates in aller Deutlichkeit, dass Platon in solchen Bildern
nicht eine beweisende Kraft anerkennt, sondern nur den bildlich anschau-
lichen Ausdruck für eine Überzeugung, welche bereits auf anderem Wege
sicher gestellt sein muss. Aulser dieser methodologischen Bedeutung des
fraglichen Abschnittes ist aber allerdings die andere anzuerkennen, dass da-
durch Kallikles veranlasst wird, das ἡδύ geradezu und unbedingt in Befrie-
digung des Begehrens zu setzen. Damit ist noch nicht ein Beweis für
die sittliche Werthlosigkeit des ἡδύ gegeben, sondern nur die Grund-
lage, auf welcher erst der Beweis erbaut werden kann.
5) Diese beiden an sich sehr bestimmt zu unterscheidenden Begriffe habe
ich absichtlich ununterschieden als Übersetzung für ἡδύ oder ἡδονή gesetzt;
denn gerade darauf, dass unter ἡδύ und ἡδονή ausschlielslich die Befriedi-
gung eines Begehrens verstanden wird, das als Begehren Schmerz, λύπη, ist,
dass also von ἡδοναὶ χαϑαραί Phileb. 52 C, d.h. ὅσα τὰς ἐνδείας avarsthiitous
ἔχοντα καὶ ἀλύπους τὰς πληρώσεις αἰσϑητὰς καὶ ἡδείας, καϑαρὰς λυπῶν,
παραδίδωσιν Phil. 51 B, die Rede nicht ist, hierauf allein ruht die Giltigkeit
des ersten der zwei für den Unterschied von ἡδύ und ἀγαϑόν geführten Be-
weise.
6) Der Beginn der Beweisführung, nachdem die Formulirung des Satzes
vollständig hergestellt und anerkannt ist, wird deutlich durch die Worte be-
zeichnet 495 Ο ἐπιχειρῶμεν ἄρα τῷ λόγῳ ὡς σοῦ σπουδάζοντος; — Anders sucht
H. Anton (,die Dialoge Gorgias und Phädrus“ in Fichte’s Zeitschrift für
Philosophie 1859, Bd. 35, S. 81—113, vgl. insbesondere 8. 85) die Plato-
nischen Beweise für den Unterschied des Guten und der Lust zu gliedern;
dieser Versuch ist von Cron, „Beiträge zur Erklärung ‘des Gorgias etc,“
S. 66, Anm. 2, widerlegt.
25
Ξι΄
(HORGIAS. 1
Begehrens; das, Begehren als solches ist ein Gefühl des Schmer-
zes; mit dem Aufhören des Begehrens, also des Schmerzgefüh-
les, hört auch die Befriedigung, also das Lustgefühl auf. Das
Gefühl der Lust schliefst also sein eigenes Gegentheil, den
Schmerz des Begehrens, als nothwendige Bedingung ein. Also
sind Lust oder Angenehmes und Gut nicht identisch. — Der
zweite”) Beweis ruht auf imeonsequenten Erklärungen des Kal-
likles selbst. Indem dieser vorher der Einsicht und der Tapfer-
keit einen Werth an sich zuerkannt hat, so dass durch ihren
Besitz Männer tüchtig, gut, tugendhaft (#yadot) sein sollen, und
indem er doch nachher die Lust als das einzige Gut bezeichnet
hat, so bedarf es nur der Hinweisung auf nahe liegende Bei-
spiele der Erfahrung, um nachzuweisen, dass diese zweierlei
Werthbestimmungen mit einander im Widerspruche stehen. Das
durch jeden dieser beiden Beweise nothwendig gewordene Auf-
geben der behaupteten Identität von Lust und Gut kleidet Kal-
likles in die Form ein‘), als habe er nur scherzend, um den
Sokrates zu versuchen, die Identität von Lust und Gut behauptet
und als verstehe es sich von selbst, dass unter den Lüsten ein
Unterschied bestehe, eimige gut, andere schlecht und ein Übel
seien (ὁ. 47--- 4).
7) Dass in dem vorhergehenden Abschnitte 495 E—497 E nur ein Be-
weis für den Unterschied von ἀγαϑόν und ἡδύ enthalten ist und man nicht
mit Steinhart S. 379 die Deduction in zwei verschiedene Beweise ausein-
anderlegen darf, wird durch die obige Darlegung erwiesen sein. Sie ist im
Einklang mit den ausdrücklichen Worten des Sokrates, der die letzten Ant-
worten des Kallikles in dieser Deduction als Abschluss des bereits zugege-
gebener erfordert 497 C: ὅδεν οὖν ἀπέλιπες, ἀποχρίνου, während der neue
Beweis deutlich eben als ein neuer angeführt wird durch die Worte 497 1):
ἐὰν δὲ βούλῃ, καὶ τῇ δ᾽ ἐπίσχεψαι" οἵμαι γάρ σοι οὐδὲ ταύτῃ ὁμολογεῖσθαι.
8) ,499,B: Καλλ. Πάλαι τοί σου ἀχροῶμιαι, ὦ Σώχρατες, χαϑομολογῶν, ἐνὴ)υ--
μνούμενος ὅτι, χἂν παίζων τίς σοι ἐνδῷ ὁτιοῦν, τούτου ἄσμενος ἔχει ὥσπερ τὰ
μειράχια. ὡς δὴ, σὺ οἴει ἐμὲ ἢ zul ἄλλον. ὁντινοῦν ἀνθρώπων οὐγ
ἤγετοθαι τὸς μὲν βελτίους ἧδονάς, τὰς δὲ γείρους. Diese Worte Platons
werden die im Texte gegebene Auffassung erweisen; anders Steinhart
S. 350: „Nun erst dämmert dem Kallikles die Ahnung auf, dass
man. zwischen guten und schlechten Genüssen unterscheiden müsse“ u. 5. w.
Man wird in Platons Worten zu dieser Darstellung schwerlich einen Au-
lass finden.
12 GORGIAS.
3. Auf Grund des erwiesenen Unterschiedes zwischen der Lust und dem Gu-
ten werden die in den Gesprächen mit Gorgias und Poios gewonnenen Sätze
endgiltig festgestellt.
Ist einmal unter den Lüsten eın Unterschied anerkannt,
dass einige derselben ein Gut, andere ein Übel sind, so folgt
unmittelbar, dass nicht die Lust absolutes Ziel unseres Strebens
sein kann, sondern das Gute das Ziel alles unseres Handelns
und um seinetwillen erst die Lust erstrebenswerth ist, nicht um-
gekehrt. Die Unterscheidung der Künste, welche Sokrates un-
erwiesen, aber von Polos nicht bestritten, aufgestellt hat, dass
einige die Lust, andere das Gute®) bezwecken, ist also hiemit
gerechtfertigt und der ausschliefsliche Werth der letztern zuge-
standen. Die Anwendung dieser Unterscheidung auf die Künste
der Musik und Poesie, dass dieselben nämlich, unbekümmert
um das Gute, nur die Lust der Zuhörer sich zur Aufgabe.
machen, gibt Kallikles unbedenklich zu; nicht zu dem gleichen
Zugeständnisse ist er bereit bei der Beredsamkeit, von welcher
er vielmehr erklärt, dass sie in manchen Fällen das Beste, in
andern allerdings nur die Lust erstrebe. Auch mit diesem Zu-
geständnisse zufrieden entwickelt Sokrates die Eigenschaften und
Bedingungen einer auf das Beste der Seele gerichteten Bered-
samkeit. Sie muss, da das Gute in der Ordnung und dem
Malse besteht, dieses ın der Seele herzustellen suchen, muss
die Mafslosigkeit (axoAasta) zurückweisen, also züchtigen (χολά- 255
ζειν) und zur Selbstbeherrschung und durch sie zugleich zu allen
Tugenden, zur Gerechtigkeit, Tapferkeit, Frömmigkeit führen.
Es bestehen also die früheren Ergebnisse, welche, angeblich nur
durch die Scheu des Gorgias und dann des Polos gewonnen,
das Unrechtthun als ein grölseres Übel "als das Unrechtleiden,
die Straflosigkeit nach gethanem Unrecht als das gröfste Übel,
die Nothwendigkeit der Einsicht über Recht und Unrecht vor
Aneignung der Rhetorik feststellten, und es ist kein Grund vor-
handen, dem Sokrates seine Beschäftigung mit Philosophie darum
zum Vorwurf zu machen, weil er sich durch sie dem Erleiden
9%, Durch die wechselnde Übersetzung von τὸ ἀγαϑόν, bald als „das
Gut“ bald als „das Gute“, suchte ich der im Gebrauche des griechischen
Wortes Eeponden und für den Beweisgang nothvendigen Amphibolie gerecht
zu werden.
er να
war
nr ραν er
259
(GORGTAS. 13
von Unrecht schutzlos preisgebe. Der Werth des Schutzes vor
Unrechtthun und vor Unrechtleiden bestimmt sich ja nunmehr
darnach, dass Unrechtthun unzweifelhaft das grölsere Übel ist als
Unrechtleiden. Vor eigenem Unrechtthun schützt, da niemand
wissentlich und absichtlich Unrecht thut, nur die Einsicht in
Recht und Unrecht; vor Unrechtleiden schützt nur Einstimmig-
keit, ja innere Gleichheit mit der herrschenden Gewalt, also
Schlechtigkeit bei ihrer Schlechtigkeit. Wollte man dagegen
einwenden, dass der sein Leben in Gefahr setze, der eine solche
Einstimmung, mit der Herrschergewalt nicht suche, so müsste
man consequent jenen Beschäftigungen, welche auf Erhaltung
des Lebens an sich hinarbeiten, also der Kunst des Schwim-
mens, des Schiffens, der Befestigung u. ä. den höchsten Werth
zuerkennen, was doch niemandem beikommt. Nicht das Leben
an sich, sondern das sittlich edle Leben ist ein Gut. — KRalli-
kles, der von dem Puncte an, wo seine allgemeinen Zugeständ-
nisse über Lust und Gut speciell auf die Werthschätzung der
Rhetorik Anwendung erhielten, immer unwilliger wurde zu ant-
worten und trotz der Bitten der Mitunterredner den Sokrates
allein die Folgerungen aus der bereits festgestellten Grundlage
ziehen liels, nur bereit Einwendungen zu machen, wo er nicht
beistimmen könne, ist allmählich wieder williger in die Theil-
nahme am Gespräche eingegangen und kann sich bei den zu-
letzt gewonnenen Ergebnissen der charakteristischen Erklärung
nicht enthalten, dass er die Richtigkeit von Sokrates’ Sätzen an-
erkenne, aber, wie es auch den meisten ergehe, sie nicht zu
seiner eigenen Überzeugung machen könne!) (c. 54—69).
4. Entscheidung über die Frage, ob der thatsächlich geübten Rhetorik und
Politik oder der ethischen Philosophie im Platonischen Sinne der Vorzug ge-
bühre.
Aus der festgestellten Unterscheidung von Lust und Gut,
die als von Kallikles selbst anerkannt von neuem 1) den Aus-
gangspunct bildet,” ergibt sich, dass nur diejenige Betheiligung
10) 513 Ο: οὐχ οἵδ᾽ ὅντινά μοι τρόπον δοχεῖς εὖ λέγειν, ὦ Σώχρατες"
πέπονθα δὲ τὸ τῶν πολλῶν πάϑος" οὐ πάνυ σοι πείϑομαι.
1) 513 Ο: ἀλλ᾽ ἐὰν πολλάκις ἴσως καὶ βέλτιον ταὐτὰ ταῦτα διασχο-
πώμεϑα, πεισϑήῆσει. ἀναμνήσϑητι δ᾽ οὖν χτλ.
14 GORGIAS.
an der Verwaltung des Staates Billigung verdient ‚ welche auf
der Einsicht in das Beste und auf der eigenen Fähigkeit die
Bürger zu bessern beruht. An diesem Malsstabe gemessen kann
keiner der athenischen Staatsmänner, auch nicht aus der ruhm-
vollen Vergangenheit des Staates, bestehen; diejenigen unter
ıhnen, welche im höchsten Ansehen und Nachruhm stehen,
haben nur die Fähigkeit bewiesen, den Bürgern die an sich
gleichgiltigen, sittlich werthlosen Dinge in reichlichem Maße zu
verschaffen, aber nicht die Bürger zu bessern. Das: Verfahren
des Staates gegen die Staatsmänner, die längere Zeit an seiner
Spitze standen, ist selbst ein Erfahrungsbeweis für diesen Satz.
Über Undank des Staates darf sich ein Staatsmann ebensowenig
beklagen, als ein Sophist, der den Einzelnen zur Tugend zu
erziehen verspricht und für den Einzelnen genau dasselbe ist,
was der Politiker für den Staat, sich über den Undank seines
Zöglings zu beschweren ein Recht hat. Denn da Bildung zur
Tugend ihre Aufgabe ist, so beweist der angebliche Undank
nur, dass die Aufgabe nicht erfüllt wurde. Sokrates, der in all
seinem Reden und Thun, um alles andere unbekümmert, aus-
schlielslich das an sich Gute erstrebt, darf sich rühmen, allein
oder mit äulserst wenigen Politik im wahren Sinne des Wortes
zu treiben, mögen auch für sein Leben und seine Person ge-
genüber dem Unverstand der Menge die schlimmsten Folgen zu
besorgen sein; selbst dem Tode sieht derjenige furchtlos ent-
gegen, der seine Seele vor Unrecht bewahrt hat (c. 69 — 78).
5. Mythus über den Zustand der Seele nach dem Tode.
Nachdem der ausschliefsliche und unbedingte Werth des
sittlich Guten gegenüber den Reizen der Lust und dem Schein
der äulsern Macht so erwiesen ist, dass einzelne Einwendungen
nicht mehr Gegengründe bringen, sondern nur zeigen, wie das
als erwiesen Anerkannte noch nicht zur Überzeugung und Ge-
sinnung des Mitunterredners geworden ist, „knüpft Sokrates in
einer Lehrdichtung diese Überzeugungen an den Glauben des
Volkes an; denn die Dichtung von dem Todtengerichte, bei
welchem die Seele in ihrer eigenen Gestalt, entkleidet alles dem
Leibe und dem irdischen Leben angehörigen Schimmers, gerich-
tet und je nach der Reinheit und Schönheit ihres irdischen Le-
260
+ 7, Ten
201
(ἀοπαιλϑ. 15
bens oder deren Gegentheil zur Seligkeit oder zur Verdammnis
bestimmt wird, diese Dichtung lehnt sich an die im Mythus
enthaltenen Elemente, so dass sie dieselben nur zu grölserer
Klarheit erhebt. ‚Was vorher begrifflich erwiesen ist, dasselbe
wird hierdurch als Ahnung von ältester Zeit her im Glauben
des Volkes nachgewiesen (c. 79—82).
Schluss. Es besteht also über die wahre Lebensaufgabe
unerschüttert die Entscheidung, die Gorgias und Polos unwill-
kürlich anerkannten und die Kallikles durch seinen unverhohle-
nen Widerspruch nur fester hat begründen helfen (c. 83).
\
Zur Rechtfertigung der bezeichneten Gliederung des
Gespräches.
1. Dass mit den im obigen bezeichneten drei Hauptabschnit-
ten ‚wirklich diejenige Gliederung getroffen ist, welche der
Schriftsteller selbst seinem Werke gegeben hat, ist schon zu-
nächst aus der Anwendung zu ersehen, welche Platon von dem
Kunstmittel des Gespräches macht. Sokrates wird ein-
geführt sich unterredend mit drei Personen, mit Gorgias, Polos,
Kallikles.. Das Gespräch ist nicht in der Weise angelegt, dass
fortwährend alle drei Mitunterredner einen auch nur nahezu
gleichmälsigen Theil an der Unterredung mit Sokrates hätten,
sondern nach einander ist jeder derselben eine Zeit lang der
eigentliche Träger des Gesprächs mit Sokrates, erst Gorgias,
dann Polos, zuletzt Kallikles. Diese successive Betheiligung der
drei Unterredner ist freilich nicht in der kleinlich pedantischen
Weise ausgeführt, dass in dem Abschnitte, in welchem Sokrates
mit Gorgias die Unterredung führt, die beiden andern nicht ein
einziges Wort hinzugäben, das ihre geistige 'Theilnahme an dem
Inhalte und dem Gange des Gespräches bezeugte, und gleicher-
weise in den Abschnitten, in denen Sokrates mit Polos, dann
mit Kallikles sich unterredet; eine so ausschliefsende Durch-
führung der Succession in der Betheiligung der einzelnen Unter-
redner würde ja auch die Gefahr bringen, dass das Gespräch,
als Kunstwerk betrachtet, in ganz gesonderte Theile auseinander
file. Aber es ist doch jede dieser drei Personen durch eimen
erheblichen Theil des Werkes in solchem Mafse Hauptträger des
10 GORGIAS.
Gespräches mit Sokrates, dass Äufserungen der beiden an-
deren nur hinzu kommen, bald um die rege Theilnahme am
Gespräche zu bezeugen, um eine drohende Unterbrechung zu
beseitigen und den Unterredner zur Fortsetzung zu bestimmen,
bald um eine Unbestimmtheit, in welche das Gespräch schien
sich verlaufen zu wollen, entfernen zu helfen. Läge das blofse
Factum vor, dass Platon in diesem Werke die drei dem Sokra-
tes gegenüber gestellten Unterredner nach einander auftreten
lässt, selbst ohne dass das successive Auftreten noch besonders
markirt wäre, drei Unterredner übrigens, die man nicht als blolse
Wiederholungen etwa der Personification desselben Gedankens,
sondern als drei von einander wesentlich verschiedene Personen
anerkennen muss: so müsste man schon hiedurch allein zu der
Annahme sich bestimmt finden, dass durch die Verschiedenheit
der successiven Hauptträger des Gespräches die Hauptabschnitte
des Gespräches bezeichnet sind; man würde sonst, so scheint es,
dem Philosophen, dessen künstlerische Vollendung man immer
bewundert, verständige Überlegung in der Anwendung der Kunst-
mittel des Gespräches absprechen.
2. Es kommt aber noch hinzu, dass das Auftreten eines
neuen Hauptträgers des Gespräches jedesmal beson-
ders markirt ist, sowohl durch Bezeichnung des neuen An-
fanges mit Verwerfung dessen, was unmittelbar vorher gewonnen
war oder gewonnen zu sein schien, als auch dadurch, dass zu-
nächst vorher ein Abschluss des Gedankenganges kenntlich ge-
macht ist. Man hat dies Verhältnis nie verkannt beim Anfange
von Cap. 37. Das Gespräch mit Polos ist, da dieser den Ge-
danken des Sokrates nichts mehr entgegenzusetzen weils, bis zu
einem Ziele geführt, über das hinaus sich eine Steigerung nicht
recht denken lässt; denn die Behauptung des Polos über die
unglaublich hohe Bedeutung der Rhetorik ist in ihr volles Ge-
gentheil umgekehrt und Polos kann dagegen nichts einwenden.
Wie hierin ein Abschluss für die mit Polos verhandelte Frage
über den Werth der Rhetorik liegt, so tritt der neue Unterredner
nicht in der Absicht auf, um die bisherige Discussion fortzu-
setzen, sondern um mit Aufhebung aller bisher gewonnenen Re-
sultate ganz von neuem anzufangen. Denn wer das ganze bis-
herige Gespräch für einen blofsen Scherz erklärt, für ein
GORGIAS. 17
leichtfertiges Spiel mit der Amphibolie von Worten, der be-
zeichnet damit deutlich genug, dass er in dem bisherigen nicht
20) eine Grundlage findet, auf der er fortbauen könnte, sondern eine
andere Basis gesucht werden muss. Aber nicht minder deutlich,
ja genau mit denselben Mitteln ist bei Cap. 16 der Abschnitt
kenntlich gemacht. Sokrates hat unmittelbar vorher diejenigen
Erklärungen des Gorgias kurz wiederholt und schlagend zusam-
mengestellt, die einen innern Widerspruch enthalten. „Wie sich
das eigentlich verhalten mag, ὁ Gorgias,“ setzt Sokrates hinzu,
„das erfordert eine gar nicht kurze Unterredung um es befriedi-
gend zu untersuchen !?),“ So lässt Platon seinen Sokrates als
Leiter des Gespräches nicht sprechen, wo eine Gedankenreihe
fortgeführt werden soll, sondern wo sie auf einem Puncte ange-
langt ist, über den hinaus der Schriftsteller sie zunächst nicht
weiter zu veıfolgen beabsichtigt. Und Polos tritt dem bisher
Gefundenen in derselben Weise entgegen, wie an jener Stelle
Kallikles; denn sein Zweifel, ob Sokrates über die Rhetorik
wirklich so denke, wie er sich eben ausgesprochen, ist unzwei-
deutig eine Aufhebung der vorigen Resultate und die Forderung
einer neu begründeten Untersuchung. Noch in anderen charak-
teristischen Momenten ist die Stelle zu Anfang des 16. Cap.
mit dem 37. Cap., welches allgemein als ein Hauptabschnitt
anerkannt wird, in Übereinstimmung. Dem neuen Unterredner
wird es jedesmal leicht, diejenige unnöthige Concession des vor-
hergehenden Unterredners aufzuweisen, durch welche dem So-
krates sein Beweis ermöglicht wurde!3), zum deutlichen Zeichen,
dass die Voraussetzungen, von welchen im vorhergehenden Theile
die Beweisführung ausging, im folgenden aufgegeben werden
sollen. Ferner, Sokrates knüpft jedesmal an das Auftreten des
neuen Unterredners, einmal offenbar ironisch, das andere mal
12) 461 A: ταῦτα οὖν ὅπῃ ποτὲ ἔχει, μὰ τὸν κύνα, ὦ Γοργία, οὐχ ὀλίγης
συνουσίας ἐστὶν ὥστε ἱχανῶς διασχέψασϑαι.
13) 461 B: ὅτι Γοργίας ἡσχύνϑη σοὶ μὴ προσομολογῆσαι τὸν ῥητοριχὸν ἄνδρα
μὴ οὐχὶ χαὶ τὰ δίχαια εἰδέναι καὶ τὰ καλὰ καὶ τὰ ἀγαϑά — ἔπειτα ἐκ ταύτης
ἴσως τῆς ὁμολογίας ἐναντίον τι συνέβη ἐν τοῖς λόγοις χτλ. 482 D: οὐχ ἄγαμαι
Πῶλον, ὅτι σοι συνεχώρησε τὸ ἀδιχεῖν αἴσχιον εἶναι τοῦ ἀδιχεῖσϑαι" ἐκ ταύτης '
jap αὖ τῆς ὁμολογίας αὐτὸς ὑπὸ σοῦ συμποδισϑεὶς ἐν τοῖς λόγοις ἐπεστομίσϑη,
αἰσχυνϑεὶς ἃ ἐνόει εἰπεῖν.
Bonitz, Platonische Studien.
τῷ
18 ' GORGIAS.
im Ernste, die Erwartung einer gründlicheren Führung der Un-
tersuchung. Des Polos jugendliche Rüstigkeit wird die Fehler
beseitigen, in welche sie, Sokrates und Gorgias, vielleicht die
Schwäche des Alters ‚geführt hat; der glückliche Verein von
Freundschaft, Einsicht und Freimüthigkeit, der sich in Kallikles 263
findet, gibt die sichere Bürgschaft, dass alles, was mit ihm fest-
gesetzt wird, volle Gültigkeit hat und behält 14).
3. Sind auf diese Weise die Gelenke, welche die einzelnen
Hauptglieder zugleich verbinden und unterscheiden, auf das
deutlichste bezeichnet, so zeigt wiederum jedes dieser Haupt-
glieder eine in sich gleichartige und von den beiden
anderen verschiedene Gestaltung. Die drei Hauptab-
schnitte unterscheiden sich durch den Charakter der in jedem
von ihnen der Kritik unterworfenen sittlichen Lebensanschauung,
durch die Tiefe der gegen dieselbe vorgebrachten Gründe, end-
lich durch den ganzen Ton und die Form der Gesprächsführung.
In der Person des Gorgias stellt uns Platon noch die prin-
cipielle Anerkennung von Recht und Sittlichkeit dar; der
Platonische Gorgiäs scheut sich, für den Redner auch auf dem
Gebiete von Recht und Unrecht den blofsen Schein des Wissens
zu erfordern, auf diesem Gebiete soll der Redner Einsicht er-
worben haben. In dieser Scheu selbst liegt jene principielle
Anerkennung. Aber mittelbar in den Consequenzen kommt
Gorgias (wenigstens nach den Grundsätzen Platonischer Ethik)
mit jener Anerkennung selbst in Widerspruch, weil er auf eine
blofs formelle, der sittlichen Einsicht entbehrende Gewandtheit
überhaupt einen Werth legt. — In Polos zeichnet Platon das
haltungslose Schwanken zwischen einer Bewunderung des
äulseren Glanzes und der äufseren Macht ohne Rücksicht auf
Sittlichkeit, und doch anderseits einer Scheu, das Edle des
Rechtes zu verleugnen. Platon macht ihn so recht zum Typus
der gewöhnlichen sittlich-unsittlichen Halbheit. Der glänzende
14) 461 C: ὦ χά
ἵνα ἐπειδὰν αὐτοὶ πρεσ
ἐπανορ )ῶτε ἡμῶν τὸν βίον χαὶ ἐν ἔργοις χαὶ ἐν λόγοις. 486 E: εὖ οἶδ᾽ ὅτι, ἅν μοι σὺ
᾿ Ih t pyols > ᾽
ἤλλιστε Πῶλε, ἀλλά τοι ἐξεπίτηδες χτώμεϑα ἑταίρους καὶ υἱεῖς,
σβύτεροι γιγνόμενοι σφαλλώμεϑα, παρόντες ὑμεῖς οἱ νεώτεροι
ὁμολογῆσῃς περὶ ὧν ἢ ἐμὴ ψυχὴ δοξάζει, ταῦτ᾽ ἤδη ἐστὶν αὐτὰ τἀληϑή., ἐννοῶ
γάρ, ὅτι τὸν μέλλοντα βασανιεῖν ἱχανῶς ψυχῆς πέρι ὀρθῶς τε ζώσης χαὶ μὴ τρία
ἄρα δεῖ ἔχειν, ἃ σὺ πάντα ἔχεις, ἐπιστήμην τε καὶ εὔνοιαν χαὶ παρρησίαν. χτλ.
GORGIAS. 19
Hof des Usurpators Archelaos, der seinen Weg zum Thron mit
dem Blute der nächsten Anverwandten gefärbt, fesselt des Polos
Bewunderung; ungestraft nach Belieben Unrecht thun können,
ist ihm eine hohe, beneidenswerthe Macht; aber dass bei dem
364 allen dem Unrechtthun doch ein gewisser Makel anhaftet, dass
es hässlicher ist als Unrechtleiden , wagt er nicht in Abrede zu
stellen. — Der Platonische Kallikles 5) endlich tritt mit der
principiellen Verleugnung der Sittlichkeit unverhohlen
hervor. Gerechtigkeit, Mäfsigung der Begierden sind Erfindungen
der Schwachen, denen der Starke sich nicht zu unterwerfen
braucht; es gibt nur eins, das Werth an sich hat und ein Gut
ist, nämlich den Genuss. Eine oberflächliche Aufklärung hat
die Unbefangenheit sittlicher Überzeugung und Gesinnung auf-
gehoben, aber nicht vermocht an deren Stelle wissenschaftliche
Begründung zu setzen. Die Consequenzen dieser Aufklärung
15) Kallikles ist uns nur aus der Darstellung Platons im Gorgias bekannt.
Dieser Umstand hat τοι (Beiträge zur Erklärung des Platonischen Gorgias,
1870, S. 1—25) veranlasst, die Ansicht aufzustellen und ausführlich zu be-
gründen, Kallikles sei ein Pseudonym und unter seiner Maske habe Platon
den Kritias darstellen wollen. Es würden sich gewiss von den sophistisch
gebildeten Staatsmännern jener Zeit und von den Rhetoren (man denke z. B.
an Thrasymachus im ersten Buche des Platonischen Staates) zahlreiche Pa-
rallelen zu den von Kallikles vertretenen Überzeugungen beibringen lassen ;
sie würden aber doch nur Bestätigungen der Worte Platons selbst sein, dass
diese Ueberzeugungen eine weite Verbreitung haben, σαφῶς γὰρ σὺ νῦν λέγεις,
ἃ οἱ ἄλλοι διανοοῦνται μέν, λέγειν δὲ οὐκ ἐθέλουσιν 492 D. Aber ein Pseudo-
nym als Unterredner mit andern bekannten, bei ihren wirklichen Namen ge-
nannten Personen, überdies noch in Beziehung gebracht zu andern, unzwei-
felhaft historischen Personen (vgl. 519 A, 487 C) ist etwas so Fremdartiges,
dass eine solche Annahme, auf blofser Conjectur beruhend, unzulässig er-
scheint. Ist es denn bei unserer höchst fragmentarischen Kenntnis der
Personen jener Zeit etwas so auffallendes, wenn uns eine Persönlichkeit,
statt uns ganz unbekannt zu bleiben, aus einem einzigen Zeugnisse zur
Kenntnis kommt? — Gotschlich („Über die Veranlassung des Platonischen
Dialogs Gorgias und die Polemik in demselben.“ Schulprogramm von Beu-
then o/s. 1871) bringt zu den Äufserungen des Kallikles zahlreiche Verglei-
ehungen mit Stellen aus Reden des Isokrates; der Schluss, den derselbe
hieraus zieht, dass im Kallikles „ein aus der Isokratischen Schule hervorge-
gangener politischer Redner gezeichnet“ (S. 4) und die Kritik der Rhetorik
im Dialoge Gorgias ausdrücklich gegen die Isokratische Schule gerichtet sei,
scheint mir durch die beigebrachten, sonst dankenswerthen Vergleichungen
nicht ausreichend begründet.
9%
-
20 GORGIAS.
verkündet Kallikles in der stolzen Freude des Sieges der Geistes-
freiheit über altväterische Vorurtheile. Darum soll Kallikles
keineswegs als seiner persönlichen Handlungsweise nach unsitt-
lich dargestellt werden, und Gewandtheit des Denkens zeichnet
ihn vor den andern Unterrednern so sichtlich aus, dass auch in
dieser Hinsicht der letzte, ausführlichste, entscheidende Theil des
Gespräches mit Recht ihm übertragen ist. Man würde leicht zu
dem treffend gezeichneten Bilde des feinen Weltmannes Kallikles
Parallelen aus anderen Zeiten aufstellen, man würde die drei in
diesem Dialoge nach einander auftretenden Personen leicht mit
Stufen des allgemeinen Ganges der sittlichen und geistigen Cultur
Griechenlands, namentlich Athens in der zweiten Hälfte des
fünften Jahrhunderts, zusammenstellen können, wenn dies nicht
von dem hier vorliegenden Zwecke zu weit abführte; denn es
kommt uns nur darauf an, den verschiedenen Charakter der drei
unterschiedenen Hauptabschnitte aufzuzeigen in der Verschieden-
heit der sittlichen Lebensanschauung, welche in jedem derselben
Platon darstellt und bekämpft.
Die Steigerung in der Unsittlichkeit der Grundsätze zeigte
sich schon deutlich in der stolzen Überlegenheit, mit der jeder
folgende Unterredner den vorhergehenden übersieht und den
Punct richtig bezeichnet, durch den jener mit sich selbst in
Widerspruch gerieth. Dem verschiedenen Standpuncte der drei
Unterredner entspricht genau die Art der Gründe, welche
gegen sie angewendet werden. Gegenüber der Überzeu-
gung, welche Gorgias vertritt, braucht der Werth der Gerech-
tigkeit und überhaupt der Sittlichkeit nieht mit einem Worte
erhärtet zu werden, er ist ja von Gorgias selbst auf das voll-
ständigste anerkannt; es genügt darauf hinzuweisen, dass mit
einer solchen Anerkennung der Werth, der auf eine Fertigkeit
des blofsen Scheines gelegt wird, nicht bestehen kann. Die:
Halbheit des Polos wird in ihren eigenen Schlingen gefangen:
es zeigt sich, dass er sich selbst nicht klar gemacht hat, was
er unter der Macht versteht, die er rühmend der Rhetorik zu-
schreibt, anderseits was er dadurch zugesteht, dass er dem
Unrechtthun Schönheit abspricht. War dies eine Beweisführung
nur in Folge der inconsequenten Zugeständnisse des Unterred-
ners und durch Benützung des ungenauen Gebrauches von
GORGIAS. 21
Worten, deren Begriff im allgemeinen Sprachgebrauche etwas
Schwankendes hat!®), so wird dagegen der principiellen Ver-
werfung alles Sittlichen gegenüber der Unterschied der Sittlich-
keit von der blofsen Befriedigung des Begehrens und somit das
Princip der Ethik selbst festgestellt, nicht auf Grund benützter
zufälliger Concessionen des Gegners, sondern aus den Begriffen
selbst, — natürlich in deren Platonischer Auffassung, aber so, dass
der Beweis in Platons Sinne unbedingte Giltigkeit hat.
Nicht geringer als in der Gründlichkeit der Beweisführung
ist der Unterschied der drei Hauptabschnitte in der Form der
Unterredung. Das Gespräch mit Gorgias nimmt einen durch-
aus geraden Weg, einfach den logischen Forderungen der De-
266 finition durch immer engere Begrenzung des Umfanges und dann
der Nachweisung des Widerspruches in den gewonnenen Aus-
sagen nachgehend. Wo Sokrates Bemerkungen ausspricht zur
Methodik der Forschung, was zwar nicht häufig geschieht, aber
16) Nur diese Bedeutung nämlich kann ich darin finden, dass Platon den
Begriff des Schönen zur Vermittlung nimmt, um dadurch die Unsittlichkeit
des ἀδιχεῖν dem Polos nachzuweisen. Etwas Hässliches im ἀδιχεῖν anzuerken-
nen, wird der Platonische Polos durch eine gewisse sittliche Scheu bestimmt.
Der Begriff xaiöy aber ist im gewöhnlichen Gebrauch noch ein so schwan-
kender, dass Platon, auf diese Unsicherheit gestützt, die Beistimmung des
Polos erwarten darf, wenn er ihn auf 755 und ὠφέλιμον oder ἀγαϑόν (vergl.
474 E: ἢ ὠφέλιμα εἶναι ἢ ἡδέα. — 475 A: ἡδονῇ τε καὶ ἀγαϑᾧ ὁριζό--
pevos τὸ χαλόν) zurückführt. Anders Steinhart 5. 368: „Zwar scheint es
schon auf einen höheren Standpunct hinzuweisen, wenn Sokrates den Polos
zuzugeben nöthigt, dass Unrecht leiden schöner sei, als Unrecht thun“
(aber dies nöthigt ja Platon den Polos gar nicht zuzugeben, sondern dies
ist vielmehr die Form, unter der Polos seine eigene Ansicht ausspricht und
dadurch die Handhabe für weitere Folgerungen .darbietet) : „aber auch an
dem Schönen wird hier noch allein das Moment des Nützlichen hervorge-
hoben, so dass dieser scheinbar so schön und erhaben klingende Satz fast
zu einer trivialen Erfahrungsmaxime wird. Aber gerade hierin lässt uns Pla-
ton die Lehrweisheit seines Sokrates erblicken, der, indem er sich zu den
beschränkten Ansichten seines Zuhörerkreises scheinbar herabstimmt, sie nach
und nach zu seinen freieren und höheren Standpuncten zu erheben weils.“
Ebenso wenig kann ich in dem von Platon eingeschlagenen Gedankengange
eine Berechtigung zu der Auslegung Susemihl’s erkennen. 8. 98. „Klar
ist es, warum das Gute zunächst durch den Mittelbegriff des Schönen von
dem Angenehmen geschieden wird, eben weil die Tugend auf Mafs, Ordnung
und somit Schönheit beruht.“
22 GORGIAS.
doch nicht ganz fehlt, gibt er ihnen nicht die Form einer Be-
lehrung oder gar einer Zurechtweisung seines Mitunterredners,
sondern einer Rechtfertigung seines eigenen Verfahrens 17). So-
krates macht die ehrende Voraussetzung, dass es dem Gorgias
ebenso wie ihm selbst auf Erforschung der Wahrheit, nicht auf
Rechthaben ankomme, und selbst des Gorgias indirecter Ver-
such, der Nachweisung des Widerspruches auszuweichen, wird
in einer die Achtung vor ihm nicht beeinträchtigenden Weise
als eine Höflichkeitsrücksicht für die Versammlung dargestellt 18).
— Der zweite Abschnitt ist überaus reich an Weisungen über
die Methode wissenschaftlich strenger Untersuchung der Sache
gegenüber rhetorischer Prunksucht und Rechthaberei, und zwar
werden dieselben durchweg nicht nur als Belehrung des Mit-
unterredners, sondern noch überdies in dem Tone überlegener
Zurechtweisung gegeben. Der Platonische Polos ist nicht im
Stande den eigentlichen Fragepunct festzuhalten, sondern springt,
ohne ihn nur scharf aufgefasst zu haben, von dessen flüchtiger
Berücksichtigung sogleich auf einen Gegenstand über, den er
in langer Rede hofft ausführen zu können; statt der Gründe
hören wir von ihm Declamationen mit den mancherlei Mitteln
des rhetorischen Effectes!. Von der Halbheit der sittlichen
Haltung ist für Platon die Halbheit des Scheinwissens untrenn-
bar, ebenso wie umgekehrt Einsicht und Sittlichkeit des Wollens
17) 453 CD: τοῦ οὖν ἕνεχα αὐτὸς ὑποπτεύων σὲ ἐρήσομαι, AAN οὐκ αὐτὸς
λέγω; οὐ σοῦ ἕνεχα, ἀλλὰ τοῦ λόγου χτὰ. 454 Ο: ὅπερ γὰρ λέγω, τοῦ ἑξῆς ἕνεχα
περαίνεσθαι τὸν λόγον ἐρωτῶ», οὐ σοῦ ἕνεχα χτλ.
3
18) 458 B: ἀλλὰ φημὶ μὲν ἔγωγε, ὦ Σώχρατες, χαὶ αὐτὸς τοιοῦτος εἶναι, οἷον
,
ν
Ξ
σὺ ὑφηγεῖ " ἴσως μέντοι χρῆν ἐννοεῖν χαὶ τὸ τῶν παρόντων.
τ
19) Ablehnung der μαχρολογία 461 D: τὴν μαχρολογίαν, & Πῶλε, ἣν zadep-
ins —. 461 E: σοῦ μακρὰ λέγοντος χαὶ μὴ ἐθέλοντος τὸ ἐρωτώμενον droxptve-
σϑαι. — Des Polos Abspringen vom eigentlichen Gegenstande der Frage
462 C: ἤδη πέπυσαι παρ᾽ ἐμοῦ, ὅ τι φημὶ αὐτὴν εἶναι; — 463 Ο: ἐγὼ δὲ αὐτῷ
οὐκ ἀποχρινοῦμαι πρότερον, εἴτε χαλὸν εἴτε αἰσγρὸν ἡγοῦμαι εἶναι τὴν ῥητοριχῆν, πρὶν
ἂν πρῶτον ἀποχρίνωμαι ὅ τι ἐστίν. Vermischung zweier Fragen 466 C: ἔπειτα
δύο ἅμα με ἐρωτᾷς. — Anwendung rhetorischer Mittel 471 D: δοχεῖς εὖ πρὸς
τὴν ῥητορικὴν πεπαιδεῦσϑαι, τοῦ δὲ διαλέγεσθαι ἠμεληχέναι —, und zwar speciell,
Zeugenanführung 471 E: ἐπειδὰν — μάρτυρας πολλοὺς παρέχωνται χαὶ εὐδο--
κίμους, vgl. 474 A: ἕνα μὲν παρασγέσϑαι μάρτυρα ἐπίσταμαι χτὰ. Schreckmittel
418 1): μορμολύττει αὖ, ὦ γενναῖε Πῶλε, χαὶ οὐχ ἐλέγχεις. Hohn 473 E: γελᾷς ;
ἄλλο αὖ τοῦτο εἶδος ἐλέγχου ἐστίν, ἐπειδάν τίς τι εἴπῃ, καταγελᾶν, ἐλέγχειν δὲ μῇ
267
\
GORGIAS. 25
ihm nothwendig verbunden erscheinen. Die Stellung, welche
Polos auf ethischem Gebiete einnimmt, ist daher in Platons
Sinne die geeignete, die Forderungen wissenschaftlicher Metho-
dik an einzelnen Beispielen geltend zu machen. — Kallikles
erfährt derlei Zurechtweisungen methodologischer Art nicht; wo
auf das Unzureichende symbolischer Darstellung vor der Durch-
führung des Beweises aus den Begriffen hingewiesen werden soll,
ist es Sokrates selbst, der beispielsweise diesen Weg einschlägt 20),
Vielmehr wird des Kallikles unverhohlene Consequenz wiederholt
durch die Erklärung anerkannt, dass, was im Gespräche mit ihm
werde festgestellt werden, unbedingte Giltigkeit habe?!). Aber
charakteristisch und von den vorigen Theilen unterschei-
dend ist die Weise, wie Kallikles sich der Beschämung des
Eingestehens eines von ihm begangenen Widerspruches zu ent-
winden sucht; er klagt über die sophistischen Winkelzüge und
die Rechthaberei des Sokrates (σοφίζεσϑαι, ἄνω χάτω στρέφειν,
orAoyeızeiy)22): was er zurücknehmen muss, hat er ja schon früher
so gemeint oder nur zum Scherze aufgestellt, um zu sehen, wie
Sokrates sich eine Freude daraus machen werde es zu bestrei-
ten 23); was er den Gründen nachgeben muss, das gibt er vor
nur aus Gefälligkeit gegen Sokrates oder gegen Gorgias zuzu-
geben 2) ; als nur noch die ihm schon im voraus wohl ersicht-
liche Summe zu ziehen ist aus den Posten, die er im einzelnen
20) Vgl. oben Anm. 4.
21) 486 E: εὖ οἵδ᾽ ὅτι, ἄν por σὺ ὁμολογήσῃς περὶ ὧν ἣ ἐμὴ ψυχὴ δοξάζει,
ταῦτ ἤδη ἐστὶν αὐτὰ τἀληϑῆ. 487 E: ἐάν τι σὺ ἐν τοῖς λόγοις ὁμολογήσῃς μοι,
βεβασανισμένον τοῦτ᾽ ἤδη ἔσται ἱχανῶς ὑπ᾽ ἐμοῦ τε καὶ σοῦ, χαὶ οὐχέτι αὐτὸ ὃε--
ἥσει ἐπὶ ἄλλην βάσανον ἀναφέρειν.
=) ᾿
2) 497 A: οὐχ old ἅττα σοφίζει, ὦ Σώκρατες. - 511 A: οὐχ οἶδ᾽ ὅπῃ στρέ-
φεις ἑχάστοτε τοὺς λόγους ἄνω καὶ κάτω, ὦ Σώχρατες. 515 Β: φιλόνεικος εἴ, ὦ
Σώκρατες. ;
28) 489 Ο: εἰπέ μοι, ὦ Σώχρατες, οὐχ αἰσχύνει, τηλικοῦτος ὥν, ὀνόματα ϑη-
ρεύων, χαὶ ἐάν τις ῥήματι ἁμάρτῃ, ἕρμαιον τοῦτο ποιούμενος ; ἐμὲ γὰρ οἴει ἄλλο
τι λέγειν τὸ χρείττους εἶναι ἢ τὸ βελτίους; οὐ πάλαι σοι λέγω, ὅτι ταὐτόν
x - γ
φημι εἶναι τὸ βέλτιον καὶ τὸ χρεῖττον; 491 A: ἀλλ᾽ ἔγωγε καὶ πάλαι λέγω. 499 B
vgl. in Anm. 8.
4) 501 C: — ἀλλὰ συγχωρῶ, ἵνα σοι καὶ περανϑῇ ὁ λόγος καὶ Γοργίᾳ τῷδε
χαρίσωμαι. --- 510 A: ἔστω σοι τοῦτο, ὦ Σώχρατες, οὕτως ἵνα διαπεράνῃς τὸν λό--
γον. --- 513 E: ἔστω, εἰ βούλει, σοὶ οὕτως. --- 514 A: πάνυ γε, εἴ σοι ἥδιον. —
516B: πάνυ γε, ἵνα σοι γαρίσωμαι. — 516 C: βούλει σοι ὁμολογήσω ;
24 GORGIAS.
schon alle zugestanden hat, da will er nicht mehr antworten und
macht dadurch an dieser Stelle, wo ein Zugestehen seinerseits
gar nicht erst noch erforderlich ist, eben sein Schweigen zum
beredtesten Eingeständnisse der Niederlage); und bei allem dem
fehlt doch die Anerkennung nicht, dass Sokrates’ Gründe un- 268
widerleglich sind und nur die bei ihm einmal festgewurzelten
Ansichten und Neigungen der Aneignung der Überzeugung ent-
gegenstehen 326).
4. Die bisher entwickelten Gründe für die behauptete Glie-
derung des Platonischen Gorgias waren von äufserlichen und
formalen Gesichtspuneten entlehnt; denn es fragte sich nur,
inwiefern in der Darstellung Zeichen der Trennung und cha-
rakteristische Unterschiede der angenommenen drei Haupt-
abschnitte liegen. Das auf diese Weise gewonnene Resultat
kann als richtig und erwiesen erst dann gelten, wenn es sich
durch den Gedankeninhalt jener Hauptabschnitte be-
währt, nämlich dadurch, dass jeder dieser Hauptabschnitte eine
Frage in ununterbrochenem Zusammenhange behandelt und zu
einem vollständigen oder relativen Abschlusse bringt, eine Frage,
die von der im vorausgehenden behandelten bestimmt unter-
schieden und mit ihr nicht in unmittelbaren Gedankenzusammen-
hang gebracht ist.
Die Frage, welche im ersten Abschnitte die Unterredner be-
schäftigt, wird sogleich mit dem Beginne des Dialogs ausge-
sprochen: Sokrates sucht bei Gorgias Aufklärung über den Begriff
derjenigen Kunst, für deren Lehrer er sich erklärt, also über den
Begriff der Rhetorik. Die allmähliche Feststellung dieser Defini-
tion und zwar im Sinne des Gorgias, den Sokrates nur veranlasst
seine Gedanker zur begrifflichen Schärfe zu bringen, beschäftigt
diese beiden Unterredner während des gröfsten Theiles ihres Ge-
spräches. Aus dem von Gorgias selbst aufgestellten Begriffe und
den dadurch bezeichneten Bedingungen der Rhetorik im Ver- ᾿
gleiche mit der von ihm unveranlasst, zur eigenen Rechtferti-
2) 497 A: οὐχ οἵδ᾽ ἅττα σοφίζει, ὦ Σώχρατες und das Folgende bis 497
Ο. — 505 C: οὐχ οἵδ᾽ ἅττα λέγεις, ὦ Σώχρατες, ἀλλ᾽ ἄλλον τινὰ ἐρώτα und das
Folgende bis 506 Ο.
2) 513 Ο 5. in Anm. 10.
"ur
GORGIAS. 25
gung gethanen Äufserung über die Möglichkeit ungerechter
Anwendung dieser Kunst, ergibt sich sodann der Widerspruch,
in welchem sich Gorgias in Betreff der ethischen und wissen-
schaftlichen Grundlage seiner Kunst befinde.
Im zweiten Hauptabschnitte zeigt der zusammenfassende
Schluss (cap. 36. τίς ἢ μεγάλη χρεία ἐστὶ τῆς ῥητορικῆς ; δεῖ γὰρ
Ex τῶν νῦν ὡμολογημένων χτλ.), dass alle Theile der mannigfach
verschlungenen Erörterung auf das eine Ziel hinstreben, den
Werth und die Macht der thatsächlich geübten Rhetorik aufzu-
zeigen, während der erste Hauptabschnitt seinen Höhepunct da
erreicht hat, wo der Begriff der Rhetorik vollständig hergestellt
ist. - Demnach könnte es scheinen, dass der Theil des Dialogs,
den ich als zweiten Hauptabschnitt bezeichnet habe, nur als eine
Fortsetzung, als die ergänzende zweite Hälfte des ersten Haupt-
abschnittes zu betrachten sei und dass diese Zusammengehörig-
keit vom Verfasser selbst deutlich genug bezeichnet werde. Das
Urtheil über Werth und Macht der Rhetorik kann ja nur aus
ihrem durch den Begriff zu bestimmenden Wesen gefolgert wer-
den, wıe dies auch thatsächlich in diesem Abschnitte der Fall
ist. Und der Schriftsteller selbst hat, so scheint es, diese un-
unterbrochene Zusammengehörigkeit durch bemerkliche Zeichen
angedeutet. Schon im ersten Hauptabschnitte versucht Polos,
so lange er an dem Gespräche Theil nimmt, fortwährend von
dem zu bestimmenden Wesen der Rhetorik auf das Lob ihrer
Macht überzugehen, und Sokrates selbst spricht sein Staunen
aus über die wunderbare Macht der Rhetorik (ἥτις ποτὲ ἡ δύνα -
υἱς ἐστι τῆς ρητοριχῆς" δαιμονία γάρ τις ἔμοιγε χαταφαίνεται τὸ μέγε-
dos οὕτω σχοποῦντι p. 456 A); und anderseits beginnt Polos
den zweiten Hauptabschnitt mit der an Sokrates gerichteten
Frage nach dem Wesen der Rhetorik (sd αὐτὴν τίνα φὴς εἶναι:
p- 462 B), sucht von der unvollständigen Beantwortung dieser
Frage sofort zu einem Lobe der Rhetorik zu eilen (οὐχοῦν χαλόν
σοι δοχεῖ ἢ ῥητοριχὴ εἶναι p. 462 C), und muss es sich dann ge-
fallen lassen, dass Sokrates wiederum eine Definition der Rhe-
torik aufstellt. Aber gerade das Verhältnis dieser Sokratischen
Definition zu der vorher von Gorgias unter Sokrates’ Anleitung
hergestellten zeigt, dass zwischen dem ersten und zweiten Haupt-
abschnitt keine Continuität besteht, sondern das Eingreifen des
26 GORGIAS.
Polos in das Gespräch im Sinne Platons einen wesentlichen
Wendepunct bezeichnet. Nicht mit der von Gorgias hergestell-
ten Definition stehen die dem Polos abgenöthigten Zugeständ-
nisse in unmittelbarer Verbindung, sondern mit der Sokratischen,
und zwischen diesen beiden Definitionen der Rhetorik und Er-
klärungen über den von ihr verfolgten Zweck besteht eine we-
sentliche Verschiedenheit?”). Gorgias’ Erklärung der Rhetorik,
dass sie die Kunst sei, welche in den Fragen über Recht und
Unrecht Überzeugung bei den Zuhörern schafft, nicht Belehrung
und Wissen (ἢ ῥητοριχὴ πειϑοῦς δημιουργός ἐστι πιστευτιχῆς, ἀλλ᾽ οὐ
BEN
διδασχαλιχῆς περὶ τὸ δίχαιον χαὶ ἄδιχον p. 455 A), würde, abgesehen
5 Auf diese Verschiedenheit seiner eigenen Erklärung der Rhetorik
von der Definition des Gorgias weist, scheint mir, der Platonische Sokrates
deutlich genug hin, 462 Εἰ: ὀκνῶ γὰρ Γοργίου ἕνεκα λέγειν, μὴ οἴηταί με δια-
κωμῳδεῖν τὸ ἑαυτοῦ ἐπιτήδευμα" ἐγὼ δέ, εἰ μὲν τοῦτό ἐστιν ἣ δητοριχὴ ἣν Top-
ylas ἐπιτηδεύει, οὐκ olda’ καὶ γὰρ ἄρτι Ex τοῦ λόγου οὐδὲν ἡμῖν χαταφανὲς ἐγέ-
νετο, τί ποτε οὗτος ἡγεῖται᾽ ὃ δ᾽ ἐγὼ χαλῶ τὴν ῥητορικήῆν, πράγματός τινός ἐστι
μόριον οὐδενὸς τῶν χαλῶν. Die erklärenden Ausgaben schweigen über diese
Stelle, als sei ihre Auffassung zweifellos; die Übersetzungen Schleiermachers
und Müllers führen zu der Voraussetzung, dass die Übersetzer τοῦτο zum
Subjecte machten, und in den damit im Zusammenhang zu betrachtenden
Worten ὃ δ᾽ ἐγὼ χαλῶ τὴν ῥητοριχήν ist in Müllers Übersetzung „Was ich
aber Redekunst nenne“ gewiss, in Schleiermachers Übersetzung „Was ich aber
die Redekunst nenne“ wenigstens möglich, dass 5 als Object, τὴν βδητοριχῆν
als Prädicat verstanden ist. Mir scheint es durch den sprachlichen Ausdruck
und durch den Gedankenzusammenhang nothwendig, τοῦτο und 5 als Prädi-
cat aufzufassen. Der Platonische Sokrates hat auf die Frage des Polos nach
dem Wesen der Rhetorik geantwortet, sie sei eine Fertigkeit, ein gewisses
Wohlgefühl und eine Lust zu bewirken (χάριτός τινος zal ἡδονῆς ἐργασία 462 C),
und dieselbe nach diesem ihrem Charakter mit der Kochkunst auf gleiche
Linie gestellt. Genauere Erklärung hierüber zu geben, sagt Sokrates, scheue
er sich um des Gorgias willen, dass es nicht scheine, er wolle die Kunst
desselben spottend herabsetzen. Ob nun die Rhetorik, welche Gorgias be-
treibt, eine unsittliche Fertigkeit der Schmeichelei (τοῦτο) sei, das wisse er
nicht zu sagen; denn aus den Aussagen des Gorgias sei dessen Ansicht nicht
klar geworden, nämlich ob die Rhetorik ein ἄδιχον πρᾶγμα (460 E) sei oder
nicht; denn die Forderung des Wissens über Recht und Unrecht einerseits
und die anerkannte Möglichkeit einer ungerechten Anwendung der Rhetorik
anderseits führten in ihrem widersprechenden Verhältnisse unter einander zu
keinem klar abgeschlossenen Urtheil über den sittlichen Werth der Rheto-
rik. Das aber, fährt Sokrates fort, wofür ich die Rhetorik erkläre, nämlich
für πολιτιχῆς μορίου εἴδωλον 463 D, das ist ein Theil einer Beschäftigung,
nämlich der Schmeichelei, die nicht zu den edeln gehört.
2τὸ
GORGIAS. 21
von der im folgenden verwendeten, nicht durch die Sache an sich
gegebenen Begrenzung des Grebietes, die Beistimmung Platons ha-
ben und ihm keinen Anlass zu einem Tadel oder Vorwurfe gegen
diese Kunst geben. Einen Angriffspunct bietet diese Definition
dem Platon erst dadurch, dass Gorgias die Wahrscheinlichkeit
herstellbar erachtet, ohne dass der Redner Einsicht in die Wahr-
heit der Sache habe, was er nachdrücklichst als einen besonde-
ren Vorzug der Redekunst rühmt. Seine Missbilligung dieses
Punctes, der im Phädrus eingehend behandelt ist, bezeichnet
der Platonische Sokrates zwar deutlich genug (εἰ μὲν ἐλαττοῦται
7 μὴ ἐλαττοῦται ὁ ῥήτωρ τῶν ἄλλων διὰ τὸ οὕτως ἔχειν, αὐτίχα ἐπι-
σχεψόμεϑα, ἐάν τι ἡμῖν πρὸς λόγον ἢ p. 459 C, vgl. 465 A);
aber nicht von diesem Puncte aus verwickelt Sokrates den Gor-
gias in Widersprüche, sondern vielmehr dadurch, dass Gorglas
von dem Redner auf dem Gebiete des Rechtes Wissen zu be-
anspruchen erklärt und dabei dennoch einen ungerechten Ge-
brauch der Redekunst für möglich hält. Gorgias hatte die For-
derung aufgestellt, dass man von der Rhetorik einen sittlichen,
gerechten Gebrauch machen soll (διχαίως χαὶ τῇ ῥητοριχῇ χρῆ-
sdaı p. 457 B), eine Forderung, mit welcher Polos’ Preis der
erfolgreichen Ungerechtigkeit nicht vereinbar wäre; Sokrates
nimmt in seine Erklärung der thatsächlichen Rhetorik , die
Polos ohne Widerrede sich gefallen lässt, sogleich einen unsitt-
lichen Zweek auf, dass die Rhetorik die Lust, nicht das Gute
erstrebe. Auf dieser Bestimmung ruht, wie noch später im Ge-
spräch mit Kallikles erinnert wird p. 500 A ff., die Widerlegung
des Polos und ist in keine Beziehung zu der im ersten Haupt-
abschnitte mit Gorgias verhandelten Definition gebracht. Der
Gedankeninhalt zeigt also an derselben Stelle ein Anheben von
einem neuen Ausgangspunct ohne Verwerthung des vorher er-
reichten Ergebnisses, wo die äulsere Form des Gespräches, das
Eintreten des Polos in die Stellung des Hauptträgers des Ge-
spräches sammt den damit zusammenhängenden Umständen uns
veranlasst einen neuen Hauptabschnitt beginnen zu lassen.
Am unverkennbarsten bezieht sich der gesammte dritte Ab-
schnitt, das Gespräch mit Kallikles, auf die Frage: welches ist
der wahre Lebensberuf? wird derselbe durch das Studium der
Philosophie im Platonischen Sinne, oder wird er durch die Be-
28 GORGIAS.
schäftigung mit Politik und Rhetorik nach deren thatsächlichem
Charakter erfüllt? Zu dieser Frage formulirt Sokrates sogleich
die allgemeinen Vorwürfe, die Kallikles gegen ihn erhoben hat,
und bezeichnet sie als den hochwichtigen Gegenstand der Unter-
suchung, die man zu führen habe 358) ; diese Frage ist es, welche
durch den Schluss als gelöst und in unbedingter Giltigkeit ent-
schieden bezeichnet wird?) ; nur durch die Beziehung auf diese
Frage erhält die Kritik der athenischen Staatsmänner und 21
erhalten die mannigfachen Erwägungen der praktischen Verhält-
nisse ihre Bedeutung; diese Frage tritt bedeutungsvoll an jeder
Stelle wieder hervor, an welcher der Dialog irgend eine wesent-
liche Wendung nimmt").
Für die einzelnen Abschnitte des umfangreichen Gespräches
mit Kallikles ist in der obigen Inhaltsübersicht das Thema durch
eine Überschrift kurz bezeichnet. Dass in der Unterscheidung
gerade dieser Abschnitte die Weisungen des Dialogs selbst be-
folgt sind, wird sich, hoffe ich, nachweisen lassen. Nach den
längeren Reden des Kallikles und Sokrates, durch welche der
Gegenstand der Frage bezeichnet ist, wird der Anfang der Un-
tersuchung deutlich markirt durch die Worte 488 Β ἐξ ἀρχῆς δέ
wor ἐπανάλαβε πῶς φὴς τὸ δίχαιον ἔχειν χτλ. Diese Aufforderung,
die ausgesprochene Lebensansicht zu vollkommen klarer und be-
stimmter Fassung zu bringen, ist erfüllt durch die Erklärung des
Kallikles τρυφὴ χαὶ ἀχολασία al ἐλευϑερία ἐὰν ἐπιχουρίαν ἔχῃ, τοῦτ᾽
ἐστὶν ἀρετή τε χαὶ εὐδαιμονία 492 C, welche Sokrates als die un-
38) 487 E: πάντων δὲ χαλλίστη ἐστὶν ἡ σχέψις, ὦ Καλλίχλεις, περὶ τούτων
ὧν σὺ δῆ μοι ἐπετίμησας, ποῖόν τινα χρὴ εἶναι τὸν ἄνδρα χαὶ τί ἐπιτηδεύειν χαὶ
μέχρι τοῦ, χαὶ πρεσβύτερον χαι νεώτερον ὄντα.
20) 527 Β: οὐχ ER ἀποδεῖξαι, ὡς δεῖ ἄλλον τινὰ βίον ζῆν ἢ τοῦτον χτλ. —
527 E: ὥσπερ οὖν ἡγεμόνι τῷ λόγῳ χρησώμεϑα τῷ νῦν παραφανέντι, ὅτι οὗτος ὁ
- πρόπος ἄριστος τοῦ βίου χτλ.
80) 492 D: δέομαι οὖν ἐγώ σου μιηδενὶ τρόπῳ ἀνεῖναι, ἵνα τῷ ὄντι κατάδηλον
Ἰένηται πῶς βιωτέον. — 500 C: ὁρᾷς γὰρ ὅτι περὶ τούτου εἰσὶν ἡμῖν οἱ Ἀόγοι, οὗ
τί ἂν μᾶλλον σπουδάσειέ τις χαὶ σμικρὸν νοῦν ἔχων ἄνϑρωπος, ἢ τοῦτο, ὅντινα
χρὴ τρόπον ζῆν, πότερον ἐπὶ ὃν σὺ παραχαλεῖς ἐμὲ χτλ. (vgl. 505 E. 508 C). —
512 Εἰ: — τὸ ἐπὶ τούτῳ σχεπτέον, τίν᾽ ἂν τρόπον τοῦτον ὃν μέλλοι χρόνον βιῶ-
ναι ὡς ἄριστα βιῴη, ἄρα ἐξομοιῶν αὑτὸν τῇ πολιτείᾳ ταύτῃ ἐν ἡ ἂν οἰχῇ κτλ. ---
515 A: — ἐπειδὴ σὺ μὲν αὐτὸς ἄρτι ἄρχει πράττειν τὰ τῆς πόλεως πράγματα, ἐμὲ
δὲ παραχαλεῖς χαὶ ὀνειδίζεις ὅτι οὐ πράττω, οὐχ ἐπισχεψόμεϑα ἀλλήλους χτλ. vgl.
5214. Ὦ.
GORGIAS. 29
verhohlene Aussage einer verbreiteten, aber gewöhnlich sich ver-
hüllenden Gesinnung anerkennt. Die daran sich anschliefsende
Aufforderung des Sokrates an Kallikles, nicht nachzulassen, da-
mit offenbar werde, wie man leben solle (ἵνα τῷ ὄντι χατάδηλον
γένηται, πῶς βιωτέον 492 D), macht kenntlich, dass jetzt, nach
Formulirung des Satzes, die Prüfung desselben beginnt. Abge-
schlossen ist die Prüfung desselben an der Stelle 499 B, wo
Kallikles den Unterschied der Lust und des Guten anzuerken-
nen sich gezwungen sieht; die Worte, mit denen Sokrates dies
Zugeständnis aufnimmt, heben den Unterschied der jetzigen Er-
klärung des Kallikles gegen die frühere scharf hervor ἢ. Von
der Untersuchung der Begriffe ἀγαϑόν und δύ, deren Ergebnis
Sokrates ausführlich anerkennen lässt, hebt sich bestimmt ab die
Anwendung des gewonnenen Ergebnisses, um dadurch die von
Gorgias und Polos zugegebenen Sätze?) gegen den Widerspruch
des Kallikles festzustellen. Innerhalb des hierauf bezüglichen
Abschnittes tritt zwar ein Unterschied in der Gesprächsform ein,
indem nach Kallikles’ Weigerung weiter zu antworten 505 C ff.,
Sokrates allein die Untersuchung fortführt 506 C; aber ein Ab-
schnitt und Ruhepunct im Gedankengange ist durch diese for-
male Änderung nicht bezeichnet, denn nach kurzer Recapitula-
tion setzt Sokrates die weitere Entwickelung von dem bereits
erreichten Puncte aus fort. Die Weigerung des Kallikles bringt
nur zur Anschauung, dass er den Gründen des Sokrates zu wider-
sprechen nicht vermag, aber auch ihre Ergebnisse sich nicht als
Überzeugung aneignen kann, kurz dasselbe, was Kallikles am
Schlusse ausdrücklich sagt 513 (Οὐ οὐχ old” ὅντινά μοι τρόπον δο-
χεῖς εὖ λέγειν, ὦ Σώχρατες: πέπονθα δὲ τὸ τῶν πολλῶν πάϑος" οὐ
πάνυ σοι πείϑομαι. Die auf diese Zustimmung folgende Erörte-
rung wird durch die Worte des Sokrates ἀλλ᾽ ἐὰν πολλάχις χαὶ
βέλτιον ἴσως ταὐτὰ ταῦτα σχοπώμεϑα, πεισϑήσει. ἀναμνήσϑητι οὖν χτλ.
8ὴ 499 Ο: ἔστι δὲ δή, ὡς ἔοιχεν, ὃ νῦν λέγεις, ὅτι ἡδοναί τινές εἰσιν αἱ μὲν
Gyadat, αἱ δὲ χαχαΐ, vgl. mit den früheren Worten 495 A: πότερον φὴς εἶναι
τὸ αὐτὸ ἡδὺ χαὶ ἀγαϑόν, ἢ εἶναί τι τῶν ἡδέων ὃ οὐχ ἔστιν ἀγαϑόν; und des Kal-
likles Antwort darauf.
32) 499 E: ἕνεχα γάρ που τῶν ἀγαϑῶν ἅπαντα ἡμῖν ἔδοξε πραχτέον εἶναι, εἰ
μνημονεύεις, ἐμοί τε χαὶ Πώλῳ. — 500 A: ἀναμνησϑῶμεν δὴ ὧν αὖ ἐγὼ πρὸς
Πῶλον χαὶ Γοργίαν ἐτύγχανον λέγων.
90 GORGIAS.
als eine neu anhebende Gedankenreihe von der vorherigen un-
terschieden; sie dient zugleich dazu, die früher 503 C nur all-
gemein gehaltene Kritik der grolsen attischen Staatsmänner aus
der Vergangenheit im einzelnen genauer auszuführen. Dass end-
lich von der beweisenden Erörterung der Mythus 523 A ff. sich
bestimmt abhebt,- bedarf nicht noch besonderer Erwähnung.
5. Wenn es im vorhergehenden gelungen ist, zur Bestim-
mung der Gliederung des Dialogs und des Gegenstandes der
Verhandlung in jedem der Hauptabschnitte streng und aus-
schliefslich den Andeutungen Platons zu folgen, so muss dadurch
zugleich Sicherheit in Aufstellung des einheitlichen Zweckes
erreicht sein.
Dass jeder der drei Hauptabschnitte eine eigenthümliche
Frage behandelt, gibt dem Werke den Charakter eines wirk-
lichen Dialoges, nicht einer in dialogische Form umgeschriebe-
nen systematischen Abhandlung; dass nach der Niederlage jedes
einzelnen der Unterredner ein neuer Kämpfer in noch grölserer-
Entschiedenheit auftritt, gibt dem Dialoge neben der steigenden
Gründlichkeit der Beweisführung zugleich dramatische Lebendig-
keit; aber die Einheit des Werkes kann nur darin liegen, dass
die in den einzelnen Abschnitten durchgeführten Gedankenreihen
nach demselben Puncte hinzielen, die in den einzelnen Ab-
schnitten enthaltenen Discussionen zur Beantwortung einer und
derselben Frage dienen. Schwerlich kann dann noch ein Zweifel
sein, dass die mit Kallikles verhandelte Frage: „Ist Philosophie
im Platonischen Sinne, oder ist politische Rhetorik in ihrem
damaligen thatsächlichen Zustande eine würdige Lebensaufgabe ?*
den Kern und Zweck des ganzen Dialogs bezeichnet; denn ihrer
Beantwortung dienen mittelbar auch die beiden ersten Ab-
schnitte. Im ersten stellt Platon die Rhetorik durch den Mund
ihres geachteten Repräsentanten als eine Gewandtheit des Schei-
nes dar, im zweiten erklärt er ebenfalls durch einen ihrer Ver-
treter den Genuss, die Erfüllung des jedesmaligen augenblick- 272
lichen Beliebens für das Ziel, in dessen Erreichung sie ihre
Macht sucht. Ist hierdurch der thatsächliche Hintergrund des
leeren Scheines und des Unsittlichen gezeichnet, so stellt dann
der dritte Abschnitt dem Dünkel des Meinens die Sicherheit des
Wissens, dem blolsen Genusse das an sich Gute gegenüber, und
219
GORGIAS. 31
sichert namentlich diese letztere Unterscheidung gegen den Ver-
such sie in Abrede zu stellen. An den begrifflichen Beweis
derselben schliefst sich die Anwendung auf verschiedene Kreise
des Lebens und die Anknüpfung der wissenschaftlich begründeten
Sätze an die Ahnungen des Volksglaubens. — Es handelt sich
in diesem Dialoge nicht darum, die Philosophie nach ihrem
ganzen Umfange in ihrer hohen Bedeutung darzulegen, sondern,
so untrennbar verbunden für Platon übrigens die theoretische
und die praktische Seite der Philosophie ist, Gegenstand die-
ses Dialogs ist nur die Ethik, die Philosophie als sittliche Le-
bensaufgabe oder Lebenskunst; daher bildet die Nachweisung
des Unterschiedes, nicht von Sein und Schein oder von Wissen
und Meinen, sondern von Gut und Lust den Kern des Dialogs,
so dass nach seiner Feststellung die Folgerungen ungehindert
fortschreiten können. Die Bedeutung der Ethik und die Ver-
tiefung in sie ist nicht an sich dargelegt, sondern im Gegen-
satze zu der in voller Blüthe stehenden Rhetorik und der
Beschäftigung mit ihr®) ; daher erklärt sich, dass von der Dar-
stellung der Rhetorik ausgegangen und jedes begrifflich gewon-
3) Die hier gegebene Bestimmung des einheitlichen Zweckes, den Pla-
ton im Dialoge Gorgias verfolgt, stimmt mit dem überein, was Schleier-
macher in seiner Ausdrucksweise und zugleich im Zusammenhange mit sei-
ner Anordnung der gesammten Dialoge darüber erklärt, Einleitung zum
Gorgias S. 7 (3. Aufl.): „Und an der Lösung dieser Aufgabe wird natürlich
auf einem zweifachen Wege gearbeitet, indem, ohne jedoch beides in ver-
schiedenen Schriften gänzlich zu trennen, theils das bisher für Wissenschaft
und Kunst gehaltene in seinem Unwerth aufgedeckt wird, theils Versuche
gemacht werden, eben vom Erkennen jenes Gegensatzes aus das Wesen der
Wissenschaft und Kunst und ihre Grundlage richtig darzustellen. Der Gor-
gias nun steht eben desshalb an der Spitze dieses Theils, weil er vorberei-
tend mehr bei jenem stehen bleibt als auf dieses sich einlässt,
und ganz von der ethischen Seite ausgehend die hier stattfindende Verwir-
rung bei beiden Enden anfasst, bei der innersten Gesinnung, als der Wur-
zel, und bei der zu Tage ausgehenden Anmalsung, als den Früchten.“ S. 11:
„Nämlich in der Hauptsache, in der Art wie das Einzelne, die Rhetorik als
Beispiel des leeren Scheines in der Kunst’mit dem allgemeinen Zwecke der
ganzen Darstellung, dem Bestreben, den Gegensatz zwischen dem Ewigen und
Fliefsenden auf der praktischen Seite aufzusuchen, zusammenhängt“ u. s. w.
Anders Steinhart $. 341: „Am sichersten dürften wir wohl das von Platon
schon im Euthydemus aufgestellte Ideal einer höchsten, vollkommensten, jedes
wahrhafte Wissen und jede echte Kunst in sich fassenden, ethisch-politischen
Lebenskunst als den Grundgedanken des Gespräches ansehen, in welchem
92 GORGIAS.
nene Resultat zu ihrer Kritik angewendet wird. Es handelt
sich um die Rhetorik als Organ der politischen Thätigkeit ’*),
nicht um die Rhetorik in ihrer nach Platonischen Grundsätzen
unwissenschaftlichen Haltlosigkeit; dass dieser letztere Gesichts-
punct eine ganz andere Art der Kritik ergeben würde, kann am
augenfälligsten der Platonische Phädrus erweisen. Mit der
Rhetorik werden andere Lebensberufe, welche den Genuss, nicht
das Gute erstreben und auf einem Takte der Erfahrung, nicht
auf fester Einsicht beruhen, in ihrem Charakter gleichgesetzt;
die Grundlagen zur Kritik der thatsächlichen Rhetorik in ihrem
unsittlichen Wesen sind so gelegt, dass sie zugleich zur Kritik
dieser gesammten unsittlichen, gehaltsleeren Lebensrichtungen
ausreichen; aber ausgeführt ist die Kritik nur gegenüber der
Rhetorik. Für das Verständnis des Gedankeninhaltes des Wer-
kes im einzelnen wie in seiner Richtung auf einen einheitlichen
Zweck macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob man an-
nimmt, Platon denke bei der in diesem Dialoge enthaltenen Ver-
theidigung des Sokrates an den historischen Sokrates oder an sich
selbst, also ob man annimmt, er rechtfertige den Sokrates oder er
rechtfertige sich selbst darüber, dass er sich einzig der Philo-
sophie widmete, während die allgemeine Überzeugung von ihm
eine thätige Betheiligung an der Verwaltung des Staates erwartete
und nur diese achten würde; doch dürfte die Ansicht Schleier-
machers, der im Gorgias „eine Apologie des Platon“ sieht, sich
zu hoher Wahrscheinlichkeit erheben lassen 35).
alle Theile und Beziehungen desselben ihren Mittelpunet haben, und auf
welchen sich ohne Zwang auch die scheinbar abschweifenden Betrachtungen
zurückführen lassen.“ Die Darstellung der „falschen sophistischen Rhetorik“
wird a. a. Ὁ. nur als der „Ausgangspunct“ bezeichnet, den Platon treffend
zur Erreichung jenes Zweckes gewählt habe, wiewohl es später 5. 344, 346
gelegentlich scheint, als werde dieser negativen Seite doch ein etwas grölse-
res Gewicht beigelegt; aber dass es sich im Dialoge eben um diesen Ge-
gensatz handle, wird nicht anerkannt. Noch unbedingter erklärt Suse-
mihl S. 99 „die Darstellung der Philosophie als der ethisch-politischen
Lebenskunst für den Mittelpunct des Werkes“.
#4), Vergl. Schleiermacher ἃ. ἃ. O. 5. 8: „Die Rhetorik nämlich wird
hier, wohl zu merken, für die gesammte scheinbare Politik, aber auch nur
für sie gebraucht.“
85) Es genüge, hierüber auf Schleiermacher selbst a. a. Ὁ. 8. 15.
und auf Steinharts Bestreitung desselben 8. 387 f. zu verweisen; mit der
GORGIAS. 33
274 6. Steinhart, dem in diesem Puncte Susemihl voll-
kommen beistimmt, gliedert (S. 358—360) den Dialog Gorgias,
nach Ausscheidung des kurzen einleitenden Abschnittes (Cap. 1,
2) in fünf Haupttheile: Cap. 3—20, 21—36, 37—46, 47—61,
62—83, und zwar mit der Bemerkung, dass der hiedurch be-
zeichneten „künstlerischen Composition des Dialogs die philo-
sophische Gliederung und Folge der vielfach in einander ver-
schlungenen und doch zu demselben Ziele führenden Gedanken-
reihen entspreche.“ (ὃ. 360.)
„In dem ersten Theile (Cap. 3—20), wo abwechselnd Gorgias
und Polos gegen Sokrates auftreten, beginnt die Handlung mit einem
heitern Wortgefechte, in welchem es sich blofs noch um die Bedeu-
tung und den Nutzen der Rhetorik zu handeln scheint; erst gegen
das Ende tritt, in der Gegeneinanderstellung der falschen und echten
Künste, der Gegensatz, der durch den ganzen Dialog hindurchgeht,
deutlicher hervor. Ganz symmetrisch entspricht hier einer längern
Erörterung des Gorgias, welche den Dialog auf einige Zeit unter-
bricht, eine längere Rede des Sokrates am Schlusse des Abschnittes.
Der zweite Theil (Cap. 21—36), in welchem Gorgias ganz zurück-
tritt und Polos allein mit Sokrates im Kampfe bleibt, stellt den Ge-
gensatz schon in grölserer Schärfe heraus. Der Willkür, welche man
im gemeinen Leben Freiheit nennt, tritt die wahre Freiheit des sitt-
lichen Willens, der willkürlichen Macht, die im Grunde die grölste
Ohnmacht ist, die sittliche Macht des Rechtes und des Gesetzes, der
Ungerechtigkeit die Gerechtigkeit gegenüber, bis zuletzt, im Gegen-
satze zu dem verkehrten, auf Willkür und Unrecht beruhenden Welt-
laufe, die etwas an das Wunderbare streifende Schilderung eines idea-
len Zustandes der Menschheit hervortritt, in welchem jeder, der sich
eines Unrechts schuldig wisse, für sich selbst, jeder auch für seine
schuldigen Freunde mit aller Kraft der Beredsamkeit die Strafe begeh-
ren, nicht sich oder diese derselben zu entziehen, die Feinde dagegen
von ihr auf alle Weise zu befreien suchen werde, weil der Zweck der
Strafe Besserung, mithin das straflose Verharren in der Ungerechtig-
keit das gröfste aller Übel sei, da es den natürlichsten Weg der Bes-
serung abschneide. Auch hier wechselt bei jedem der beiden Unter-
redner das raschere Wechselgespräch zuweilen mit längeren Erörterun- ᾿
gen. In Inhalt und Form bilden so die beiden ersten Theile, in
welchen im ganzen die kurze Wechselrede vorherrscht, ein gröfseres
Ganzes. Ebenso sind auch die drei folgenden Abschnitte, in welchen
Kallikles allein sich mit Sokrates unterredet und auf beiden Seiten
letzteren ist überdies zu vergleichen die davon merklich verschiedene Bezie-
hung, welche Steinhart III, S. 25 und 62 der als Episode im Theätetos
vorkommenden Vertheidigung der Philosophie zuschreibt.
Bonitz, Platonische Studien. 3
94 GORGIAS.
immer mehr die Neigung zu längern Reden überwiegt, ein eng ver-
bundenes Ganzes. In dem dritten Theile (Cap. 37—.46) erscheint der
Gegensatz der menschlichen Willkür gegen das göttliche Gesetz auf
seiner höchsten Spitze, die Willkür tritt in ihren beiden Hauptformen
gegen das Recht in den Kampf; zuerst objectiv als Aufgebung aller
gesetzlichen und rechtlichen Staatsordnung, als Anarchie, als unbe-
dingte Herrschaft des Stärkern, dann subjectiv als bewusster Wider- 275
spruch der Lust gegen das Sittengesetz, als völlige Ungebundenheit,
als unbedingte Herrschaft des blinden Triebes und seines Strebens
nach Befriedigung. Je höher nun hier der sündhafte Stolz und Trotz
des Eigenwillens sein Haupt erhob, desto glänzender tritt in den bei-
den folgenden Theilen der Sieg des guten Princips hervor. Schon im
Anfange des vierten Abschnitts (Cap. 47—61) schlagen die tief ern-
sten, ahnungsvollen Aussprüche von Dichtern und Philosophen über
ein dem gewöhnlichen Blicke verborgenes, höheres Leben einen die
nachfolgenden erhabenen Gedanken würdig einleitenden, feierlichen
Grundton an. In dem sich sogleich anschlielsenden dialektischen
Kampfe wird dann die Lust in ihrer ganzen Nichtigkeit dargestellt
und das Gute als die einzig wahre Richtschnur im Leben anerkannt.
Nachdem so die unsittliche Lebenspraxis in ihrem Mittelpuncte über-
wunden ist, erscheint der Gegensatz eines doppelten Lebens und einer
doppelten Kunst in seiner ganzen Klarheit und führt zu der höchsten
Idee des Dialogs, zu der Idee der die Welt beherrschenden Harmonie
und malsvollen Ordnung. Endlich enthüllt sich, als Frucht der heifsen
und ernsten Kämpfe, mit seiner ebenso erschütternden als erhebenden
Macht gleichsam das Schicksal unserer Gesprächshandlung im fünften
Theil (Cap. 62—83), in welchem das Sittengesetz zuerst an die Gesetze
des Universums, sodann ‚an die ewige, von Gott bestimmte sittliche
Weltordnung angeknüpft wird. Hier laufen, gerade wie am Schlusse
einer Tragödie, alle Fäden der reichen Handlung zusammen und jeder
Missklang wird zur reinsten Harmonie. Die sittliche Reinigung der
Gefühle und Leidenschaften, welche Aristoteles als den Zweck der Tra-
gödie ansieht, ist auch hier vollbracht. Die Lehrdichtung von der
ewigen Vergeltung können wir als den Epilog des philosophischen
Drama bezeichnen und mit den am Ausgang der Tragödien so ge-
wöhnlichen Göttererscheinungen vergleichen. Die nochmalige Zusam-
menfassung der Hauptgedanken des Dialogs im letzten Capitel erinnert
an die Anapästen, welche am Schlusse die Grundidee der Tragödien
in kurzen Worten auszusprechen pflegen. Mit dem grolsen Ernst der
ganzen Darstellung hängt übrigens auch das zusammen, dass die Zu-
hörer hier nicht als mithandelnd, wie im Protagoras und im Euthy-
demos, sondern nur als ruhige Zeugen des Gespräches aufgeführt
werden.“
Sehen wir ganz ab von der durch diese Darlegung der an-
geblichen Gliederung des Dialogs sich hindurchziehenden und
vorher ausführlich durchgeführten Vergleichung mit der Tragö-
210
GORGIAS. 35
die: die dramatische Natur eines wissenschaftlichen Dialogs mit
der eines Drama selbst, und speciell einer Tragödie, in solcher
"Weise gleichzusetzen, fördert unmöglich die Einsicht in das eine
oder das andere, dazu liegen beide zu weit auseinander; die
Fünftheiligkeit ist bekanntlich nicht Gesetz, ja nicht einmal
überwiegender Brauch der antiken griechischen Tragödie. Am
verfehltesten ist offenbar die Vergleichung des Mythus, der am
Schlusse des Dialogs eintritt, nachdem über die den Dialog durch-
ziehenden Gegensätze die Entscheidung auf wissenschaftlichem
Wege bereits erreicht ist, mit den Göttererscheinungen in der
Exodos mancher Tragödien, durch welche ein sonst nicht lös-
‚barer Conflict erst durchschnitten werden soll. Es handelt sich,
das ist hier wie in allen ähnlichen Fällen die Hauptsache, nicht
um eine Gliederung, durch welche wir uns nach irgend welchem
subjectiven Belieben die Gedanken Platons zurechtlegen und
uns in denselben orientiren, sondern um diejenige Gliederung,
welche Platon selbst mit hinlänglicher Deutlichkeit bezeichnet
haben muss, wenn er es uns soll möglich gemacht haben, uns
in seinen Gedankengang zu finden und den Zweck des Ganzen
daraus in seinem Sinne wieder zu construiren. Das Ende eines
Abschnittes muss als Abschluss einer Gedankenreihe, der Anfang
als das Anheben einer andern Gedankenreihe deutlich bezeichnet
sein. Unmöglich kann man diese Kriterien am Schlusse des
20. oder des 46. Cap., unmöglich also an diesen Stellen ein Ge-
lenk der Hauptgliederung bezeichnet finden. Am Schlusse von
Cap. 20 ist der Platonische Sokrates so eben mit der Auseinan-
dersetzung des Gegensatzes jener Künste oder vielmehr kunst-
losen Verrichtungen, welche nur das Angenehme und die Lust
zu ihrem Zwecke haben, gegen die Künste, welche das Gute
und Beste zu erreichen suchen, zu Ende gelangt, und fordert
nun den Polos auf, von dieser seiner Antwort den gehörigen
Gebrauch zu machen. Da kann doch nicht mit dem Schlusse
der Erörterung des Sokrates, an welche sich die nächsten Fragen
des Polos auf das untrennbarste anschliefsen, ein Abschnitt ge-
setzt werden, sondern derselbe könnte immer noch eher am An-
fange der längeren Erörterung des Sokrates angenommen werden,
um zwei Capitel früher, wenn nicht schon ein flüchtiger Blick
auf diese letztere Stelle dies mindestens ebenso unmöglich machte.
3*
36 GORGIAS.
Eben so wenig ist zu sehen, wie mit dem Schlusse von
Cap. 46 ein Hauptabschnitt erreicht sei. Durch des Sokrates
Fragen gedrängt ist hier Kallikles bis zu der unumwundenen
Erklärung fortgeschritten, dass in der unbegrenzten Erfüllung
der Begierden, wenn ihr nur die nöthigen Mittel überall zu Ge-
bote stehen, die Tugend und Glückseligkeit bestehe. Mag man
dies immerhin mit Recht als den Höhepunct der offen erklärten
Feindschaft gegen die Forderungen der Sittlichkeit bezeichnen:
die eigentliche Wendung zur entscheidenden Widerlegung solcher
Gedanken tritt noch nicht einmal hier ein, sondern erst nach-
dem jener Satz auf die noch strengere Formel zurückgebracht
ist, dass die Lust und das Gute identisch seien, Cap. 49; denn .
erst nach dieser Formulirung beginnt Sokrates die Entgegnung 277
mit der deutlichen Bezeichnung, dass es sich nun um ernst-
lichen Beweis handle.
Und eben so wenig lässt sich zugeben, dass mit Cap. 62 ein
neuer Abschnitt, oder gar ein neuer Hauptabschnitt des Dialo-
ges beginne. Dem entscheidenden Beweise, dass angenehm und
gut, Genuss und Tugend nicht identisch sind, ist Kallikles ohne
Weigerung antwortend gefolgt; die vollkommene Niederlage,
welche dieser Beweis ihm bringt, sucht er noch dadurch zu ver-
bergen, dass er sich stellt, als habe er ja schon vorher gar nicht
anders darüber gedacht, als begriffe er nicht, wie Sokrates eine
scherzende Äufserung so ernst nehmen könne. Auch bei den
Folgerungen, welche Sokrates aus der gesicherten Grundlage
zieht, ist Kallikles noch längere Zeit zu antworten bereit; denn
Sokrates stürzt nicht in eiliger Hast auf sein Ziel zu, sondern
nähert sich demselben nur in allmählich immer enger dasselbe
umschlielsenden Kreisen. In dem Mafse, als Kallikles sieht,
dass seine liebsten Überzeugungen und Neigungen bedroht sind
und sich nicht mehr vertheidigen lassen, wird er einsylbiger und
unwilliger zum Antworten, und lässt sich endlich selbst durch
Gorgias’ Zureden nicht dazu bestimmen weiter regelmälsig Rede
zu stehen. Es bedarf ja nunmehr der Zustimmung des Kalli-
kles nicht weiter, da er bereits zu allem Einzelnen seime Bei-
stimmung erklärt hat, aus dem nun unwidersprechlich das
letzte Ergebnis folgt. Sokrates beginnt daher mit den folgenden
Worten nicht eine neue Gedankenreihe, er vergegenwärtigt viel-
218
GORGIAS. 37
mehr blofs, was Kallıkles bereits als richtig anerkannt hat, und
kann, ohne dass eine ausdrückliche Einstimmung erst noch er-
forderlich scheine, daran leicht die letzten Folgerungen anschlie-
(sen. Ja selbst der Unterschied in der äulseren Gesprächsform,
dass Sokrates eine Zeit lang fast ausschlielslich spricht, ist kein
fester, sondern ein fliefsender. Schon vorher sucht sich allmäh-
lich Kallikles dem Antworten zu entziehen, und ebenso wird er
bald, wo ihm keine Gefahr zu drohen scheint (c. 65), wieder all-
mählich in dasselbe hineingezogen ; ja nach dem vollkommen ab-
schliefsenden Beweise für den Werth des Lebens in der Philo-
sophie und den Unwerth der politischen Rhetorik erklärt Kalli-
kles, dass er die Gründe des Sokrates anerkennen müsse, wenn
sie auch in ihm noch keine Überzeugung erwirkt hätten (c. 69,
513C). Wir sehen hier Wogen des Gespräches, die uns in
dessen frische Beweglichkeit versetzen und den Charakter des
Unterredners lebendig zeichnen, aber wir sehen nicht ein festes
Ufer, das diese Wogen begrenzte. Dagegen beginnt innerhalb
des dritten Haupttheiles mit Cap. 69 ein untergeordneter Ab-
schnitt; mit dem Schlusse des vorausgehenden Capitels ist auf
die Entscheidung unter den beiden in Frage gestellten Lebens-
berufen zurückgelenkt und ihr auf Kallikles Anwendung gege-
ben. Kallikles und Sokrates bezeichnen, jeder in seiner Weise,
dass hier ein Ruhepunct gewonnen ist, Kallikles durch die An-
erkennung der Gründe, obgleich er noch nicht überzeugt sei,
Sokrates durch die Bemerkung, dass zur Aneignung dieser Über-
zeugung eine wiederholte Erwägung derselben Gedanken erfor-
derlich sei; und eben eine neue, etwas anders gestaltete An-
wendung derselben vorher festgestellten Grundsätze beginnt
nun Sokrates, also eine neue Unterabtheilung des dritten Haupt-
theiles.
Es kann vielleicht gleichgiltig oder doch unerheblich schei-
nen, ob man an dieser oder jener Stelle einen grölseren oder einen
untergeordneten Einschnitt in dem Dialoge glaubt erkennen zu
sollen, und kleinlich, diesen Gegenstand in besondere Discussion
zu ziehen. Sollte ein solcher Einwurf gemacht werden, so dürf-
ten die Consequenzen, die sich unzertrennlich daran knüpfen,
ob die Gliederung im Sinne des Schriftstellers getroffen
ist oder nicht, den Einwurf schon an sich entkräften. Es ist
98 ; GORGIAS.
unmöglich, den Gang der Gedanken in voller Klarheit und
Durchsichtigkeit zu erkennen, wenn man nicht die Marksteine,
welche ihn abgrenzen und von denen aus eine theilweis neue
Richtung beginnt, richtig erkannt hat. Man vergleiche die Cha-
rakteristik, welche in der oben angeführten Stelle Steinhart über
die einzelnen von ihm unterschiedenen Abschnitte gibt (die dar-
auf folgende ausführliche Erörterung 8. 361— 387 geht weiter
in das Einzelne und gibt darüber viel interessante und geist-
reiche Bemerkungen, aber sie erhöht nicht die Bestimmtheit
der Unterscheidungen oder des Zusammenhanges), oder man lese
den Auszug, den Susemihl nach derselben Gliederung von dem
Inhalte des Dialoges gibt S. 91 — 98, und frage sich, ob dadurch
eine Vorstellung von einem streng zusammenhängenden Gedan-
kengange und eine Einsicht in denselben gewonnen, ob damit
das Lob, das man dem Platon als philosophischem Künstler mit
fast verschwenderischer Hand spendet, gerechtfertigt oder in
Zweifel gestellt wird. Die an die Spitze dieser Erörterungen
gestellte Übersicht über den Gedankengang des Werkes mag zu-
gleich versuchen, die in jenen Schriften enthaltenen Darlegun-
gen zu kritisiren. Ein Eingehen in das Einzelne ist, wenn jene
Übersicht überzeugend war, nicht weiter nöthig, und wenn sie
es noch nicht war, durch die blofs negative Weise, die unver-
meidlich wäre, erfolglos. Sind aber die einzelnen Glieder nicht
richtig geschieden und die Fragen nicht erkannt, welche in jedem
der Hauptabschnitte discutirt und entschieden werden, so kann
auch in der Bestimmung des einheitlichen Zweckes nicht Evi-
denz erreicht werden, sondern nach subjectivem Belieben wird
ein Gesichtspunct ausschliefslich hervortreten oder zurückgescho-
ben werden. Die Differenzen in der Bestimmung der Aufgabe
des ganzen Dialogs, auf welche oben (δ. 31, Anmerk. 33) hin-
gewiesen wurde, rühren vornehmlich daher, dass nicht zuerst die
Scheidung der Haupttheile und die Aufgabe eines jeden dersel-
ben zur vollen Sicherheit gebracht ist.‘
7. Nach der Veröffentlichung der vorstehenden Abhandlung
haben Deuschle und Cron®) die Gliederung des Dialogs
80), Deuschle, Dispositionen Platonischer Dialoge, Zeitschrift für das
Gymnasialwesen XIV, 5. XV, 1, wieder abgedruckt als Anhang zur zweiten
219
GORGIAS. 39
dargelegt und mit der Entwicklung ihrer eigenen Überzeugungen
eine Kritik der von mir ausgesprochenen verbunden. Deuschle
zerlegt das kunstvolle Gewebe des Dialogs bis in seine einzel-
sten Fäden und findet durchweg, von der obersten Gliederung
bis zu den letzten und speciellsten herab, die Zweitheilung gleich-
mälsig durchgeführt, eine Symmetrie, welche, trotz des bekannt-
lich von Platon auf die Dichotomie für die Begriffstheilungen
gelegten Werthes, eher Zweifel als Zutrauen zu erwecken ge-
eignet scheint. In dieses Kleinste hinein Deuschle zu folgen,
muss ich mir, nach der ursprünglichen Anlage dieser Abhand-
lung, versagen und halte es auch nicht für förderlich. Cron be-
beschränkt sich darauf, die hauptsächliche Gliederung des Dia-
loges aufzuzeigen 57), in ähnlicher Weise, wie dies von mir im
Auflage (1867) der erklärenden Ausgabe des Gorgias. — Cron, Beiträge zur
Erklärung des Platonischen Gorgias im Ganzen und Einzelnen. 1870. 8. 47
— 175,
37) Cron gibt a. a. O. 8. 72 folgende Disposition des Dialogs.
Einleitung. Erklärung des Sokrates über den Zweck seines Kommens {c.1).
Ausführung (ο. 2— 82).
I. Gespräch des Sokrates mit Gorgias und Polos. Was ist und was ver-
mag die Rhetorik? (c. 2— 36.)
1. Gespräch des Sokrates mit Gorgias: Die Rhetorik ist die Kunst,
durch Reden ohne Belehrung Überzeugung hervorzubringen, beson-
ders auf dem Gebiete des Rechtes (c. 2—15).
2. Gespräch des Sokrates mit Polos: Die Rhetorik ist keine wirk-
liche Kunst, sondern nur Schmeichel- und Scheinkunst, und ihre
Macht keine wirkliche, sondern nur eine vermeintliche (ce. 16—36).
II. Gespräch des Sokrates mit Kallikles: Was ist der wahre Lebensberuf?
BT 18}
1. Nicht Philosophie, die nur zur Jugendbildung gehört, sondern Rhe-
torik, die Sicherheit gewährt und Macht verleiht, erklärt Kallikles als
den Beruf des Mannes, der auf dem Recht des Stärkeren beruht.
(Rede des Zethos.) (c. 37—41.)
2. Prüfung dieser Ansicht, die zur Aufstellung einer Theorie der Lust
führt, welche Sokrates durch die Theorie des Guten widerlegt und
dadurch seine frühere Behauptung über den Werth der Rhetorik recht-
fertigt (c. 42—68).
3. Nicht das Streben nach Herrschaft und Macht im Dienst der Menge
nach dem Beispiel der bisherigen Staatsmänner, sondern Verwirk-
lichung des Guten ohne Rücksicht auf die Gefahr des Lebens ist die
wahre Aufgabe des Mannes, insbesondere des rechten Staatsmannes.
(Antwort des Amphion.) (c. 69—78.)
40 GORGIAS.
obigen versucht ist; die Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit
von Crons Beiträgen zur Erklärung Platons machen es mir zur
Pflicht, auf die wesentlichen Differenzpuncte einzugehen; mit-
telbar werden dadurch auch Deuschles Gründe mit berück-
sichtigt.
Cron betrachtet, hierin mit Deuschle im Einklang, die bei-
den Abschnitte, das Gespräch mit Gorgias und mit Polos, nicht
als zwei Hauptabschnitte des Dialogs, sondern erklärt, „dass es
seinem Inhalte nach nur ein Gespräch ist, das durch die ge-
meinsame Thätigkeit des Gorgias und Polos mit Sokrates zu
Stande kommt.“ (S. 57.) Auf die Gründe, welche Cron hierzu
bestimmt haben, ist indirect schon oben 8. 25 ff. durch genaue
Darlegung der sachlichen Scheidung zwischen den beiden von
mir als Hauptabschnitte betrachteten Theilen Rücksicht genom-
men; doch wird es zweckmäfsig sein, auf das Einzelne noch
einzugehen.
Den Umstand, dass von den drei Mitunterrednern des So-
krates „nach einander jeder eine Zeit lang der eigentliche Träger
des Gesprächs mit Sokrates ist, erst Gorgias, dann Polos, zu-
letzt Kallikles“ (s. oben ὃ. 15), habe ich in der obigen Darstel-
lung als ein äufseres Zeichen der beabsichtigten Gliederung des
Dialogs bstrachtet. Cron mindert das Gewicht dieses Grundes,
so weit er sich auf Gorgias und Polos bezieht, durch Hinwei-
sung darauf, „dass die Gespräche, die Sokrates mit Gorgias und
Polos führt, mannigfach in und mit einander verschlungen sind“
(a. a. Ο. 8. 52), und schliefst aus dieser Mittelstellung zwischen
Trennung und Verbindung, dafs diese beiden Gespräche als
Unterabtheilungen eines gemeinsamen Hauptabschnittes zu be-
trachten seien. Das verschiedene Mals, in welchem an dem Ge-
spräche des einen Hauptunterredners ein anderer seine Theil-
nahme bezeigt, ist mir nicht entgangen und oben 8. 15f. so
bezeichnet, dass ich auch jetzt nichts daran glaube ändern zu
III. Religiöse Bekräftigung dieser Ansicht (c. 79—82).
1. Sage von dem Gericht über die Seelen nach dem Tode (c. 79).
2. Folgerungen daraus für den Zustand der Seelen nach dem Tode (c. 80
---82).
Schluss. Rückblick auf die vorhergehenden Gespräche und Ermahnung
c. 83).
GORGIAS. 41
sollen. Wenn man aber unbefangen die Worte, welche Gorgias
zu dem von Sokrates mit Polos geführten Gespräche hinzugibt
(p- 463 A — 464 A, denn hierauf beschränkt sich das Ganze),
nach Umfang und Inhalt betrachtet, so wird dadurch die That-
sache, dass Cap. 16—36 Polos der Träger des Gesprächs mit So-
krates ist, gewiss nicht als beeinträchtigt erscheinen können.
Den Übergang der Gesprächsführung von Gorgias auf Polos
bezeichnet Cron (a. a. Ὁ. 8. 57) in der Weise: „Da Gorgias sich
in die Schlingen seiner eigenen Aussagen verwickelt hat, da
überlässt er ohne Widerstreben das Wort dem Polos, der mit
Beiseitsetzung jener Bedenklichkeit, an der Gorgias gestrauchelt
war, den ursprünglichen Gegenstand des Gespräches wieder auf-
nimmt etc.“ Aber schwerlich dürfte doch die Art, wie Polos
eintritt, als ein Überlassen der Gesprächsführung seitens des Gor-
gias treffend bezeichnet sein. Die letzten Worte des Sokrates
an Gorgias (ταῦτα οὖν ὅπῃ ποτὲ ἔχει, μὰ τὸν χύνα, ὦ Γοργία, οὐκ
ὀλίγης συνουσίας ἐστὶν ὥστε ἱκανῶς διασχέψασϑαι p. 461 A)
tragen nach bekanntem Sprachgebrauche (vgl. z. Β. Euthyphr.
p- 9 B. 14 B) vielmehr den Charakter des Abschliefsens und
der Ablehnung eines weiteren Eingehens, als der Ankündigung
einer zu beginnenden Untersuchung. Und Polos tritt dem
Gorgias gegenüber, ebenso wie später Kallikles gegen die beiden
vorherigen Unterredner, mit verwerfendem Tadel ein, nicht als
Fortsetzer einer ihm „überlassenen“ Gesprächsführung. So weit
aus der Form und den Formeln des Gespräches ein Schluss auf
die vom Verfasser beabsichtigte Gliederung des Gedankengangs
berechtigt ist, wird sich die Übereinstimmung der Anfänge von
Cap. 16 und Cap. 37 nicht verkennen lassen.
Wenn ich ferner die drei Hauptabschnitte des Gespräches
als „durch den Charakter der in jedem von ihnen der Kritik
unterworfenen sittlichen Lebensanschauung“ unterschieden be-
zeichnete, so sucht CUron auch diesen Unterschied theils zu min-
dern, thbeils zu beseitigen. „Glaube man ja nicht“, schreibt
Cron 8. 56, „dass dem Gorgias bessere sittliche Grundsätze als
dem Polos zugeschrieben werden sollen, weil jener noch von dem
Rechte etwas wissen will, dieser sich einer solchen Forderung
ohne Bedenken entschlägt; es ist nur wissenschaftliche Halbheit,
welche den Gorgias, als er von den Fragen des Sokrates be-
42 GORGIAS.
drängt wird, zu diesem Geständnis treibt, und Polos, der im
Grunde des Herzens ganz dieselbe Ansicht hegt wie Gorgias,
aber den Fehler erkennt, durch den sich Gorgias eben eine
Blöfse gegeben hat, trägt kein Bedenken, seinen Meister ob
dieser Halbheit zurechtzuweisen, um bald darauf dem gleichen
Tadel zu unterliegen.“ „Der ältere Lehrmeister und sein jünge-
rer Geselle sind solidarisch verbunden und betrachten sich auch
als solche.“ S.54. 55. „Auch jetzt, als Polos bereits seinem
Schicksal entgegengeht, nachdem er in dem Gespräch mit So-
krätes seine Unfähigkeit im Fragen und Antworten mehrfach zur
Schau getragen hat, gibt Gorgias noch sein Einverständnis mit
Polos zu erkennen.“ S. ὅθ. Man mag über die Consequenzen
der sittlichen Überzeugungen des Gorgias denken wie man will:
dass zwischen der von Gorgias ausgesprochenen Verwerfung
eines ungerechten Gebrauches der Rhetorik und dem Preise der
Ungerechtigkeit, sofern sie sich Straflosigkeit zu erwerben weils,
der dem Polos in den Mund gelegt wird, ein Unterschied be-
steht und von Platon zu kenntlichem Ausdruck gebracht wird,
lässt sich nicht in Abrede stellen; ich bin daher nicht in der
Lage, von der oben S. 18 ff. versuchten Unterscheidung der sitt-
lichen Lebensanschauung der drei Hauptunterredner etwas auf-
zugeben. Zwar versichert Cron, dass Gorgias sein Einverständ-
nis mit Polos zu erkennen gebe; aber er hat unterlassen, die
Worte des Dialogs zu bezeichnen, aus denen er dies schlielst,
und mir ist es nicht gelungen sie ausfindig zu machen. Gor-
gias veranlasst den Sokrates, seine Ansicht über das Wesen der
Rhetorik auszusprechen, und folgt ihm beistimmend in der Vor-
bereitung dieser Darlegung, so weit es sich um Feststellung des
allgemeinen Unterschiedes von Schein und Sein auf körperlichem
und geistigem Gebiete handelt p. 464 A; dagegen bei der An-
wendung dieser allgemeinen Kategorien auf die Rhetorik, also
wo es sich eigentlich um Charakterisirung der Rhetorik handelt,
da unterlässt Sokrates den Gorgias weiter in das Gespräch zu
ziehen, und vermeidet es Gorgias’ Zustimmung oder Widerspruch
mit einem Worte anzudeuten. Es ist daher nicht möglich, Crons
jehauptung, dass Gorgias seine Zustimmung zu Polos „zu er-
kennen gebe“, in ihrer Bedeutung zu würdigen, ehe sie aus-
drücklich belegt ist.
GORGIAS. 43
Den entscheidenden Beweis für die von ihm aufgestellte
Gliederung findet Cron darin, dass dem Inhalte nach das mit
Gorgias und das mit Polos geführte Gespräch „in der That nur
ein Gespräch ist, das durch die gemeinsame Thätigkeit des Gor-
gias und Polos mit Sokrates zu Stande kommt.“ S.57. „Polos
nimmt den Gegenstand des zwischen Sokrates und Gorgias geführ-
ten Gespräches an der Stelle, wo sein Vorgänger stehen blieb,
wieder auf.“ S.58. Die Widerlegung dieser den Inhalt der
fraglichen beiden Abschnitte treffenden Auffassung habe ich
schon oben 5: 25 ff. mit der Entwicklung des Gedankenganges zu
verbinden gesucht, und darf es daher unterlassen aufs neue dar-
auf einzugehen.
In der speciellen Gliederung des dritten Haupttheiles, des
Gespräches mit Kallikles, hatte mich wiederholte Erwägung des
Dialogs schon vor dem Erscheinen der Cronschen Abhandlung
zu Modificationen der in der ersten Auflage gegebenen Darstel-
lung geführt, weniger in der Feststellung der Haltpuncte, als in
der Bezeichnung der Über- und Unterordnung; die oben 8. 7 fl.
versuchte und S. 28 ff. begründete Gliederung ist im wesentlichen
mit Crons Darstellung 5. 73 in Übereinstimmung, trotz der
äufserlichen Unterschiede in der Zählung von Abschnitten. Wenn
aber Cron a. ἃ. Ὁ. den Mythus nicht als einen Unterabschnitt
des mit Kallikles geführten Gesprächs, sondern als einen coor-
dinirten Haupttheil des ganzen Werkes ansieht, so kann ich
diese Auffassung in den Worten des Dialogs selbst, die allein
hiefür mafsgebend sein müssen, nicht begründet finden. Die
Erzählung des Mythus ist mit den letzten Worten des mit Kal-
likles geführten Gespräches in unmittelbare Verbindung gebracht,
522 E: πολλῶν γὰρ ἀδικημάτων γέμοντα τὴν ψυχὴν εἰς Ἅιδου ἀφι--
χέσϑαι πάντων ἔσχατον καχῶν ἐστίν. εἰ δὲ βούλει, σοὶ ἐγώ, ὡς τοῦτο
οὕτως ἔχει, ἐθέλω λόγον λέξαι, und dieser Ankündigung, σοὶ
ἐθέλω λέξαι, entsprechend wird sie durch gehäufte, an Kallikles
allein gerichtete Anrede (524 A, 525 E, 526 ACD) als dem mit
diesem geführten Gespräche angehörig bezeichnet.
THEATETOS,
Inhaltsangabe und Gliederung des Gespräches.
Gespräch zwischen Eukleides und Terpsion, als =
Vorwort des eigentlichen Gespräches, c. 1. — Euklei-
des von Megara hat dem Athener Theätetos, der, im Kriege
verwundet und überdies erkrankt, von Korinth nach Athen ge-
bracht wurde, eine Strecke weit das Geleit gegeben. Auf dem
Rückwege trifft er mit Terpsion zusammen und erzählt ihm das
so eben Geschehene. Die Tapferkeit, welche Theätetos im Kriege
bewiesen hat, mahnt den Eukleides daran, wie wahr einst So-
krates kurz vor seinem Tode in einem inhaltsreichen Gespräche,
das er mit dem Jünglinge Theätetos und dem geachteten Mathe-
matiker Theodoros geführt, die zukünftige Charakterentwicke-
lung des Theätetos geahnt habe. Den Wunsch des Terpsion,
den Inhalt jenes Sokratischen Gespräches kennen zu lernen, kann
Eukleides vollständiger erfüllen, als es durch mündliche Erzäh-
lung möglich sein würde, da er das Gespräch damals sogleich
aufgeschrieben und diese Aufzeichnung selbst überdies mit des
Sokrates Hilfe im einzelnen berichtigt hat. In der Aufzeich-
nung habe er, um die ermüdende Wiederkehr des „sagte ich“,
„sagte er“ zu vermeiden, die Form der Wiedererzählung durch
Sokrates aufgegeben und das Gespräch unmittelbar wie es ge-
führt wurde dargestellt. Die auf solche Weise hergestellte Schrift
liest nun den beiden Männern, nachdem sie zu Eukleides’ Hause 280
gelangt sind, ein Sklave vor.
*) Sitzungsberichte etc. Bd. 27. S. 279—316. (Separatabdruck 5. 41—73.)
THRERÄTETosS. 45
Gespräch des Sokrates, Theodoros, Theätetos.
— Einleitung c. 2—7. Sokrates, in einem Gymnasium mit
Theodoros im Gespräche begriffen, fragt diesen, welche unter
den Jünglingen Athens ihm durch ihre Talente die besten Hoff-
nungen erwecken. Theodoros hebt den in seiner Gestalt und
seinen Gesichtszügen dem Sokrates ähnlichen, also gewiss nicht
durch körperliche Schönheit anziehenden Theätetos unter allen
hervor. Theätetos wird zum Gespräche herbeigerufen. Von
dem Lobe, welches Theodoros dem Eifer und dem Talente des
Theätetos im Erlernen der Mathematik gespendet hatte, geht
Sokrates, da das Lernen darin besteht Wissen zu erreichen, zu
der allgemeinen Frage über:
Was ist das Wissen oder die Wissenschaft? τί ἐστιν
ἐπιστήμη:
Theodoros lehnt, als in solcher Discussion ungeübt, die Be-
antwortung der Frage ab und verweist den Sokrates an den
Jüngling Theätetos. Dieser, der Aufforderung bereitwillig fol-
gend, beantwortet die Frage zunächst durch die Aufzählung ein-
zelner Wissenschaften. Den von Sokrates gegen diese Antwort
geltend gemachten Unterschied zwischen dem einheitlichen zu-
sammenfassenden Begriff und dem Herabsteigen in den Umfang
versteht T’heätetos sogleich, und beweist sein Verständnis durch
ein Beispiel aus der Mathematik, indem er erzählt, wie er selbst
versucht habe die Gesammtheit aller einzelnen Quadratwurzeln
unter die beiden allgemeinen Begriffe der rationalen und irratio-
nalen zusammen zu fassen. Auch über die von Sokrates aufge-
worfene Frage nach dem Wesen des Wissens erklärt Theätetos
schon öfters nachgedacht zu haben, aber ohne zu einer befrie-
digenden Antwort aus eigener Kraft oder durch Mittheilung an-
derer zu kommen, und ohne doch anderseits das Nachdenken
darüber aufgeben zu können. In diesem von Theätetos beschrie-
benen Seelenzustande erkennt Sokrates die Geburtswehen des
Gedankens, denen beizustehen ihm verliehen sei. Er vermöge
zu erkennen, wessen Seele wirklich Gedanken aus sich zu ge-
bären fähig sei, sodann die Geburtswehen der Gedanken zu eır-
regen und die Gedanken an das Licht zu bringen, endlich die
an das Licht gebrachte Geburt zu untersuchen, ob sie ein blofses
46 THEÄTETOS.
Nebelbild oder eine leibhafte Gestalt sei. Den Gedankenerzeu-
gungen anderer gegenüber verhalte er sich ganz so, wie eine
Hebamme zu den leiblichen Geburten; ohne selbst Gedanken
mitzutheilen !) helfe er der Gedankenentwickelung bei anderen,
die von ihm nicht empfiengen, aber doch auch ohne seinen Bei-
stand die Kinder ihres eigenen Geistes nicht zur Welt bringen
würden. 'Theätetos möge sich daher seiner Führung zuversicht-
lich anvertrauen, und auch dann nicht irre werden, wenn ein
Gedanke, der unter Mühen und zu endlicher Freude an das
Licht gebracht wurde, von ihm nachher als hohl und nichtig
nachgewiesen werde. Mit solchem Vertrauen möge sich Theä-
tetos von neuem an der Beantwortung der Frage nach dem all-
gemeinen Begriffe des Wissens versuchen.
I. Erste Definition. Die Wahrnehmung ist Wissen, ἡ αἴσϑησις ἐπιστήμη,
C. s—30.
1. Diese Definition wird durch Identification mit den Philosophemen
des Protagoras und Herakleitos erläutert (c. 8—15).
Die Antwort, in welcher Theätetos zunächst seine Ansicht
ausspricht, nämlich in der Wahrnehmung liege das Wissen, er-
klärt Sokrates sogleich für zusammentreffend mit dem Philoso-
pheme des Protagoras. Denn wenn Protagoras erklärt: „Aller
Dinge Mals ist der Mensch, der seienden, dass sie sind, der nicht
seienden, dass sie nicht sind,* so bedeuten doch diese Worte:
so wie etwas mir erscheint, also wie es sich mir in der Wahr-
1) 150 D: rap’ ἐμοῦ οὐδὲν πώποτε μαϑόντες, AAN αὐτοὶ παρ αὑτῶν πολλὰ
χαὶ καλὰ εὑρόντες τε χαὶ χατέχοντες. Wenn der Platonische Sokrates allge-
mein von sich sagt 150 Ὁ: ἄγονός εἰμι σοφίας --- — μαιεύεσϑαί με 6 ϑεὸς
ἀναγχάζει, Ἰεννᾶν δὲ ἀπεκώλυσεν, so wird man, um diese Äufserung in Pla-
tons Sinn zu fassen, einen Zug aus dem Bilde hinzunehmen müssen, durch
welches Sokrates seine Methode erläutert, 149 B: στερίφαις μὲν οὖν ἄρα
οὐκ ἔδωχε μαιεύεσϑαι, ὅτι ἡ ἀνθρωπίνη φύσις ἀσϑενεστέρα ἢ λαβεῖν τέχνην
ὧν ἂν ἢ ἄπειρος. Es wäre wenigstens nicht zweckmälsig, diesen Zug in dem
Bilde durch ausdrückliche Motivirung besonders hervorzuheben, wenn er
auf das durch das Bild zu erläuternde keine Anwendung haben sollte. Gibt
man ihm diese Anwendung, so bezieht sich dann ἄγονός εἰμι σοφίας nicht all-
gemein auf Unfähigkeit zu eigener Gedankenproduction, sondern auf seine
Methode, im Gespräche die Gedanken des Mitunterredners zur Entwickelung
gelangen zu lassen, nicht selbst fertige Resultate mitzutheilen.
231
THEÄTETOoS. 47
nehmung darstellt, so ist es mir; so wie es dir erscheint, so ist
es dir. Stillschweigende Voraussetzung dieses Satzes ist, dass
nichts an sich ist oder eine bestimmte Qualität hat, sondern
immer erst die Beziehung zu einem andern, die Verbindung mit
ihm es ist, durch die es zu etwas wird. Hiedurch trifft des Pro-
232 tagoras Satz mit jener, vorzüglich von Herakleitos ausgebildeten,
aber nicht ihm allein angehörigen Lehre zusammen, dass über-
haupt nur Bewegung, kein bleibendes Sein an sich vorauszu-
setzen sei, einer Lehre, die uns schon durch die gewöhnlichsten
Erfahrungen nahe gerückt wird; denn auf dem sinnlichen wie
auf dem geistigen Gebiete bringt und fördert Bewegung das Leben,
Ruhe den Tod. Also weder das wahrnehmende Subject noch das
wahrgenommene Object ist etwas an sich, sondern jedes Wahrneh-
mende oder Wahrgenommene wird erst das, was es ist, durch seine
Beziehung auf ein anderes und für dieses andere. Mit den Grund-
sätzen: „Nichts kann gröfser oder kleiner werden an Masse oder
Zahl, so lange es sich selbst gleich ist; was nicht eine Hinzufügung
oder eine Hinwegnahme erfährt, kann nicht grölser oder kleiner
werden, sondern muss sich selbst gleich bleiben; es kann nicht
etwas, das früher nicht war, später sein, ohne geworden zu
sein“, steht die Protagoreisch - Herakleitische Lehre in Wider-
spruch. Diese Grundsätze setzen eben eine in jedem Einzelnen
(Subjecte oder Objecte) an sich und beziehungslos vorhandene
Qualität voraus?), hingegen nach des Protagoras und Heraklei-
tos Lehre ist jede Qualität eines wahrgenommenen Objectes und
jeder Inhalt der Wahrnehmung eines Subjectes nur ein Ergeb-
nis von zusammentreffenden, theils langsameren, theils schnel-
leren und daher in weitere Ferne reichenden Bewegungen. Wen-
det man nun, um der Wahrnehmung den Charakter des irr-
thumsfreien Wissens abzusprechen, ein, dass die Wahrnehmungen
2) 154 B: οὐχοῦν el μὲν ὃ παραμετρούμεϑα ἢ οὗ ἐφαπτόμεϑα μέγα ἢ λευχὸν
ἢ θερμὸν ἦν, οὐκ ἄν ποτε ἄλλῳ προσπεσὸν ἄλλο ἂν ἐγεγόνει, αὐτό γε μηδὲν με-
ταβάλλον " εἰ δὲ αὖ τὸ παραμετρούμενον ἢ ἐφαπτόμενον ἕχαστον ἣν τούτων, οὐχ
ἂν αὖ ἄλλου προσελθόντος ἤ τι παϑόντος αὐτὸ μηδὲν παϑὸν ἄλλο ἂν ἐγένετο. Ich
habe mit Bekker, Stallbaum (Wohlrab) und den Züricher Herausgebern die
Conjectur des Cornarius ὃ παραμετρούμεϑα vorausgesetzt, weil ich aus der
von K. F. Hermann vertheidigten handschriftlichen Lesart ᾧ παραμετρούμεϑα
keinen befriedigenden Sinn gewinnen kann.
48 THEÄTETOs.
des Kranken, des Wahnsinnigen, des Träumenden doch unmög-
lich wahr sein könnten, so wird schon in dem Einwande ein
festes Sein von Qualitäten angenommen und die absolute Rela-
tivität aller durch die Wahrnehmung sich darbietenden Qualitä-
ten verkannt. Im Zustande der Krankheit, des Wahnsinns, des
Schlafes ist eben der Wahrnehmende ein anderer als im Zu-
stande der körperlichen und geistigen Gesundheit und des 288
Wachens; das Ergebnis seines Zusammentreffens mit einem Ob-
jecte in jenem Zustande muss also ein anderes sein als in die-
sem. Aber da jede Wahrnehmung nothwendig Wahrnehmung
dieses einzelnen Objectes von diesem einzelnen in solchem Zu-
stande befindlichen Subjecte ist, so gehört die eine Wahrneh-
mung so gut wie die andere der Wesenheit des Wahrnehmenden
selbst an?) und lässt Irrthum nicht zu, ist also deshalb, weil
irrthumsfrei, Wissen.
Die Definition des Theätetos, dass die Wahrnehmung
Wissen sei, hat sich mithin als identisch erwiesen mit den
Philosophemen des Protagoras und Herakleitos; es gilt nunmehr
ihre Haltbarkeit genauer zu untersuchen.
᾿
2. Durch Widerlegung der gegen den Satz des Protagoras zunächst sich dar-
bietenden, in Platons Sinne nicht stichhaltigen Einwendungen wird der Pro-
tagoreische Satz selbst weiter erläutert‘) (6, 16—2]).
Mit demselben Rechte, wendet Sokrates ein, wie den Men-
schen, konnte Protagoras jedes Thier, d. h. überhaupt jedes
3) 160 C: ἀληϑὴς ἄρα ἐμοὶ ἡ ἐμὴ alsdmsıc" τῆς γὰρ ἐμῆς οὐσίας ἀεί
στι. — — πῶς ἂν οὖν ἀψευδὴς ὧν χαὶ μὴ πταίων τῇ διανοίᾳ περὶ τὰ ὄντα ἢ
(Ὁ).
Ἰηνόμενα οὐχ ἐπιστήμων ἂν εἴην ὦνπερ αἰσϑητήῆς ;
4 Durch den Zusatz, dass die Widerlegung der fraglichen Einwürfe zur
Erläuterung des Protagoreischen Satzes verwendet wird, habe ich von den
Gegenbemerkungen Ribbings I. ὃ. 125. 152 denjenigen Theil berücksichtigt,
der für die vorliegende Aufgabe, die Aufgabe der treuen Wiedergabe des
Gedankenganges, allein mir begründet erscheint. Denn dass die in diesem
Abschnitte besprochenen Einwürfe zu vollständigerer Erläuterung des Pro-
tagoreischen Satzes dienen, bezeichnet Platon selbst in dem letzten Theile die-
ses Abschnittes deutlich und unverhüllt. Die Frage dagegen, ob die Ein-
würfe in c. 16—21 an sich giltig sind, gehört nicht in den Versuch einer
gewissenhaften Inhaltsangabe, ja nicht einmal in den Versuch, Absicht und
Ergebnis des Dialogs aufzufinden. — Der Einwand Ribbings $. 152, es sei
„ebenso unwahrscheinlich als gegen die Art Platons, dass etwas, dem er selbst
keinen Werth beilegt, oder überhaupt ein nur Negatives, womit keine posi-
284
THEÄTEToS. 49
wahrnehmende Wesen für den Mafsstab aller Dinge erklären,
da jede Wahrnehmung als solche für den Wahrnehmenden un-
zweifelhafte Wirklichkeit hat, also nicht zu ersehen ist, warum
der Mensch in dieser Hinsicht vor den Thieren einen Vorzug
haben und anderseits den Göttern nachgestellt werden solle,
oder wodurch der Anspruch des Weisen, Lehrer für andere zu
sein, begründet sein solle, da jeder ohne Unterschied das Mals
der Wahrheit sei. Ein solcher Einwand, entgegnet Sokrates
selbst in Protagoras’ Namen, macht auf die Menge, die durch
derlei Zusammenstellung der Menschen mit den Thieren und
mit den Göttern in Verwirrung gebracht wird, einen Eindruck;
aber die zwingende Kraft eines Beweises hat derselbe nicht, er
ist eben nur eine rhetorische Benützung der blofsen Wahrschein-
lichkeit5). (—163 A.) — Der Satz, dass -Wahrnehmung Wissen
ist, scheint ferner widerlegt zu werden in Fällen, wo Jemand
Züge von Buchstaben sieht, ohne lesen zu können, oder Worte
einer Sprache hört, die er nicht versteht. Dass dieser Einwand
leicht abzulehnen ist, bezeichnet Platon, indem er den Theäte-
tos selbst dessen Widerlegung vorbringen lässt: Gegenstand der
Wahrnehmung sind in diesen Fällen doch nur die Züge der
Buchstaben und die Klänge der Worte; das Lesen oder Ver-
stehen der Worte ist nicht eine Sache der Wahrnehmung.
(—163 C.) — Eine andere Einwendung wird aus dem Verhält-
tive Absicht verbunden ist, gesondert aufgeführt werde“, dürfte, selbst wenn
die vorher anerkannte positive Absicht mit der Beseitigung der Einwürfe
nicht verbunden wird, doch nicht haltbar sein. Vergleicht man die augen-
scheinliche Ähnlichkeit des p. 165 B vorgebrachten Einwurfes mit den im
Euthydemus behandelten Sophismen, ferner die zur Charakteristik einzelner
Einwürfe und ihrer Urheber angewendeten Ausdrücke ἄφυχτον ἐρώτημα p. 165 B
(Euthyd. 276 E), ἀνέχπληχτος ἀνήρ, πελταστιχὸς ἀνὴρ μισϑοφόρος ἐν λόγοις pP. 165
B, D, so kann man schwerlich die Überzeugung abweisen, dass man es hier
nicht mit Einwürfen von Platons eigner Erfindung zu thun hat, sondern mit
solchen, die damals von sophistischer Seite und sonst viel besprochen wur-
den. Vielleicht finden dadurch die Ausdrücke ὗς ἢ χυνοχέφαλος p. 161 C,
durch welche Platon dem Protagoras zu dem ünveis p. 166 C Anlass gibt,
noch eine anderweite Beziehung.
5) 162 Ὁ: ταῖς οὖν δημηγορίαις ὀξέως ὑπαχούεις καὶ πείϑει --- — χαὶ ἃ
οἱ πολλοὶ ἂν ἀποδέχοιντο ἀχούοντες, λέγετε ταῦτα --- ---, ἀπόδειξιν δὲ χαὶ
ἀνάγκην οὐδ᾽ ἡντινοῦν λέγετε, ἀλλὰ τῷ εἰκότι χρῆσϑε. vgl. Phaedr. 267 A.
273 A.
Bonitz, Platonische Studien. 4
50 THEÄTETOS.
nisse des Gedächtnisses zur Wahrnehmuug entlehnt. Wenn
nämlich anerkannt wird, dass man auch dasjenige weils, was
man nach dem Aufhören der Wahrnehmung im Gedächtnisse
bewahrt hat, und wenn anderseits Wissen ausschlie/[slich®)
in die Wahrnehmung gesetzt wird, so ergibt sich, dass wer
einen Gegenstand durch Erinnerung ohne eben gegenwärtige
Wahrnehmung weils, ihn zugleich weils und nicht weils. Ob
in dieser Argumentation ein wirklicher Gegengrund gegen den
Satz des Protagoras enthalten sei oder nicht, würde sich erst
dann entscheiden lassen, wenn man wüsste, was Protagoras selbst
zu seiner Rechtfertigung würde entgegnet haben. In dem glei-
chen Falle befindet man sich gegenüber anderen Einwendungen,
die ebenfalls beabsichtigen zu zeigen, dass man zu gleicher Zeit
weils und nicht weils, sofern die Wahrnehmung für Wissen er-
klärt wird; z. B. wenn man ein Auge geöffnet, das andere ver-
schlossen hat, also denselben Gegenstand zugleich mit dem
einen sieht, mit dem andern nicht sieht, so ergibt sich, inso-
fern Sehen dem Wissen gleichgesetzt wird, dass man dasselbe
zugleich weils und nicht weils (—165 D).
Gegen Einwürfe dieser Art führt Sokrates den Protagoras
selbst als sich rechtfertigend ein. Alle derlei Einwürfe, lässt er
den Protagoras sagen, ruhen ausschlielslich darauf, dass man
Unterschiedenheiten des wahrnehmenden Subjectes nicht in Er-
wägung zieht und es als dasselbe betrachtet, während es ein
anderes geworden ist, oder auch zu derselben Zeit nicht das-
selbe das wahrnehmende Subject für entgegengesetztes Wahr-
nehmen und Nichtwahrnehmen ist. So ist es unberechtigt, die
Aufbewahrung eines Eindruckes im Gedächtnisse, nachdem der
Act der Wahrnehmung vorüber ist, der Wahrnehmung selbst
gleich zu setzen und dadurch den Schein eines Widerspruches
herbeizuführen; das gleiche gilt von den übrigen Fällen. Durch
alle Argumentationen dieser Art ist keineswegs widerlegt, dass
jede Wahrnehmung dem einzelnen wahrnehmenden Subjecte an-
gehört und für dieses unabweisliche Wirklichkeit und Wahrheit
hat. Dieser gleiche Anspruch aller auf Wahrheit hebt den ver-
%, Denn es heilst 164 B: τῶν ἀδυνάτων δή τι ξυμβαίνειν φαίνεται, ἐάν τις
ἐπιστήμην καὶ αἴσϑησιν ταὐτὸν φῇ εἶναι.
25
5
THEÄTETOoS. 51
schiedenen Werth der Wahrnehmungen und den Unterschied
des Weisen von dem Unweisen keineswegs auf; es ist dies der-
selbe Unterschied, wie auf dem leiblichen Gebiete der der Ge-
sundheit und Krankheit. Der Lehrer ist Arzt der Seele; er hat
nicht dahin zu wirken, dass die Wahrnehmungen seines Schülers
wahr werden — er hat ihnen Wahrheit gar nicht erst zu geben,
wie er sie ihnen auch nicht nehmen kann —, sondern dass sie aus
krankhaften gesunde werden. Alle bisherigen Einwürfe, entgegnet
Protagoras, sind sophistisch auf die Überzeugung der Menge be-
rechnet, nicht gegründet auf ein wirkliches Eingehen in die
Sache. Solche Entgegnungen sind bei einem zum Scherze an-
gestellten rechthaberischen Streite an ihrem Platze, nicht bei
einer wirklichen Untersuchung; da gehört es sich, knabenhaft
lächerlicher Scheingründe sich zu enthalten und mit männlichem
Ernste die Sache anzugreifen (—168 C).
Dieser Rechtfertigung, welche Sokrates in des Protagoras
Namen ausgeführt hat, zollt Theodoros seinen Beifall, und lässt
sich dazu bestimmen, um auch den Schein der leichtfertigen
Behandlung entfernt zu halten, seinerseits in der nun anzustel-
lenden genaueren Prüfung der Protagoreischen Lehre dem So-
krates Rede zu stehen (—169 D).
3. Entscheidende und in Platons Sinne giltige Widerlegung der Protagoreischen
Lehre (c. 22—26).
Da Protagoras nicht selbst anwesend die Vertheidigung
seines Satzes führen kann, so muss man, soll die Bestreitung
Anspruch auf Giltigkeit haben, sich streng an seine eigenen
Worte und an die unmittelbarsten Folgerungen daraus halten.
a) Protagoras erklärt, dass die Ansicht, Meinung, Vorstel-
lung eines jeden für eben diesen Wahrheit habe, τὸ δοχοῦν ἑχά--
στῳ τοῦτο xal εἶναί φησί που ᾧ δοχεῖ (170 A). Nun ist es aber
unleugbare Ansicht und Überzeugung der Menschen, dass unter
ihnen ein Unterschied der Weisheit und Unweisheit bestehe,
und zwar betrachten sie in dieser Unterscheidung Weisheit als
Erkenntnis der Wahrheit, Unweisheit als Verfallen in Irrthum.
Indem Protagoras dieser Ansicht auf Grund seiner eigenen Lehre
Wahrheit zugestehen muss, also das Gegentheil seines eigenen
Satzes gleicherweise als wahr anerkennt, hebt er seinen eigenen
Satz auf (170 A—171D).
ΔῈ
THEÄTETOS.
or
ιῷ
b) Der Unterschied der Weisheit und der Unweisheit wird
am augenfälligsten da anerkannt, wo es sich um die Überzeu-
gungen über gut oder übel, nützlich oder schädlich, d. h. all-
gemein, wo es sich um die Beschaffenheit eines zukünftigen Zu-
standes handelt. Man mag zugeben, dass die gegenwärtige Wahr-
nehmung für denjenigen, der dieselbe hat, unabweislich wahr
ist, man mag auch zugeben, dass etwas Recht ist, insofern und
so lange es dem Staate als solches erscheint: aber die Ansicht
darüber, welchen Erfolg in der Zukunft etwas gegenwärtig ge-
schehendes hat, also unter anderm auch die Ansicht über nütz-
lich oder schädlich, hat nicht bei einem jeden gleichen Anspruch
auf Gültigkeit; hier unterscheidet sich augenscheinlich das Wissen
der Sache von dem Nichtwissen (171 E--172 B. 177 C — 179 ©).
— In die Erörterung dieses zweiten Gesichtspunctes ist ein-
gefügt eine den unmittelbaren Gedankenzusammenhang unter-
brechende, als Episode ausdrücklich bezeichnete Vergleichung
zwischen der geistigen Vertiefung in Philosophie und dem Leben
in Gerichtshöfen und sonstigen öffentlichen Geschäften (172 C —
177 Οὐ. Der geistige Zwang, der die ganze Beschäftigung be-
herrscht, die Geringfügigkeit der Gegenstände, um die es sich
handelt, und die Kleinlichkeit der Gesinnung, die aus solcher
Thätigkeit nothwendig hervorgeht, auf der einen Seite, die
geistige Freiheit, die Erhabenheit der Gegenstände, der Adel der
Gesinnung auf der andern Seite: das sind die Grundzüge zu dem
beiderseitigen Bilde, das Platon den Sokrates entwerfen lässt.
Die Episode schliefst mit der Erklärung, dass nur in der mög-
lichsten Annäherung an das unbedingt gute Wesen der Gottheit
Weisheit und Tugend bestehe, alles andere dagegen, was sich
sonst diesen Namen anmalst, gemeiner und niedriger Natur sei. —
5
Diese beiden Gründe, der eine entlehnt aus dem Wider-
spruche der Ansichten, denen gleicher Anspruch auf Wahrheit
zugestanden wird, der andere aus der unverkennbaren Verschie-
denheit in der Gültigkeit der Ansichten über das Zukünftige,
sind in Platons Sinne giltige und entscheidende Gründe gegen
die Protagoreische Lehre. Hingegen dass in jedem einzelnen
Falle der Sinneseindruck?), aus welchem Wahrnehmungen und
7), 179 Ο: περὶ δὲ τὸ παρὸν ἑχάστῳ πάϑος, ἐξ ὧν αἱ αἰσϑήσεις χαὶ al
THEÄTETOS. 53
257 Vorstellungen hervorgehen, wahr ist, das lässt sich allerdings
nicht bestreiten.
4. Widerlegung der Herakleitischen Lehre (c. 27—29. 184 A).
Die Prüfung der Herakleitischen Lehre von der allgemeinen
ewigen Bewegung, welche mit der Definition des 'Theätetos vom
Wissen als Wahrnehmung identifieirt war, wird durch eine Schil-
derung des Verhaltens der Herakleiteer bei Discussionen einge-
leitet; ihre Erörterungen sind ein echtes Abbild ihrer Lehre von
der ewigen Bewegung, indem sie schlechterdings bei nichts
Stand halten. Den Gegensatz zu ihnen bilden die Eleaten, die
schlechterdings keine Bewegung als wirklich anerkennen (179 D
5:..81.8]:
Wenn Bewegung absolut gesetzt wird, so muss dies heilsen:
jedes Ding erfährt fortwährend jede Art der Bewegung, also so-
wohl Veränderung des Ortes als der Qualität; denn wollte man
den Dingen nur die eine Art der Bewegung zuschreiben, die
andere ihnen absprechen, so würde man, da in dem Begriffe der
Bewegung beide Arten enthalten sind, den Dingen eben so sehr
Bewegung als Ruhe zuschreiben®. Nun besteht Wahrneh-
mung im Zusammentreffen des, eben durch dieses Zusammen-
treffen erst dazu werdenden 'Thätigen und Leidenden, oder
Wahrgenommenen und Wahrnehmenden. Beides ist aber in
steter Änderung des Ortes sowohl als der Qualität begriffen. Die
Wahrnehmung ist also in demselben Augenblicke, in welchem
sie eintritt, auch schon eine andere; es gibt in der Sprache gar
nicht irgend ein Wort, durch welches sich diese Nichtgiltigkeit
und Gültigkeit irgend eimer Wahrnehmung bezeichnen lielse.
Die Herakleitische Lehre vom unbedingten Werden, durch
welche die Geitung des Wahrnehmens als Wissen begründet
\ , [4 , , Θ - r ’ > - v φν" ya“
χατὰ ταύτας δόξαι γίγνονται, χαλεπώτερον ἑλεῖν ὡς οὐχ ἀληϑεῖς. ἴσως δὲ οὐδὲν
λέγω" ἀνάλωτοι γάρ, εἰ ἔτυχον, εἰσί, καὶ οἱ φάσχοντες αὐτὰς ἐναργεῖς τε εἶναι καὶ
ἐπιστήμας τάγα ἂν ὄντα λέγοιεν, χαὶ Θεαίτητος ὅδε οὐχ ἀπὸ σχοποῦ εἴρηχεν αἴσϑη-
|
σιν) χαὶ ἐπιστήμην ταὐτὸν θέμενος. Das Letztere wird allerdings nachher wi-
..29. i sichti schei ; des παρὸν πάϑος
derlegt c. 29. 30, aber die vorsichtige Unterscheidung des παρὸν πάϑος von
αἴσϑησις zeigt zugleich, was unbestritten stehen bleibt.
8) 181 E: εἰ δέ γε μή, χινούμενά τε αὐτοῖς χαὶ ἑστῶτα φανεῖται, χαὶ οὐδὲν
μᾶλλον ὀρϑῶς ἕξει εἰπεῖν ὅτι χινεῖται τὰ πάντα ἢ ὅτι ἕστηχεν.
54 THEÄTETOS.
werden sollte®), hebt daher vielmehr die Möglichkeit der Wahr-
nehmung selbst auf.
Die entsprechende Erörterung der entgegengesetzten Lehre
der Eleaten wird auf den Grund hin, dass dies zu weit führe
und nicht dürfe leichthin abgethan werden, für jetzt abgelehnt,
und nach der als abgeschlossen ausdrücklich anerkannten Wi-
derlegung der Protagoreischen und Herakleitischen Lehre (183 C)
zur Prüfung der von Theätetos selbst aufgestellten Definition
des Wissens zurückgekehrt.
5. Widerlegung der Definition des Theätetos selbst, dass Wahrnehmung
Wissen sei (c. 29, 30).
Die Sinne sind nur das Werkzeug, vermittelst dessen wir
etwas wahrnehmen, sie sind nicht das, womit oder wodureh wir
wahrnehmen, δι᾿ οὗ αἰσϑανόμεϑα, nicht ᾧ αἰσϑανόμεϑα. Prädicate,
welche nicht die blofse Wahrnehmung irgend eines einzelnen
Sinnes enthalten, sondern auf die Wahrnehmungen verschiede-
ner Sinne sich beziehen oder auch den Wahrnehmungen aller
Sinne gemeinschaftlich sind, gehören der zusammenfassenden,
durch kein Sinneswerkzeug vermittelten Thätigkeit der Seele
selbst an. In diese Kategorie fällt die Aussage des Seins, der
Identität und Verschiedenheit, der Ähnlichkeit und der Unähn-
lichkeit, der Einheit, Vielheit und der bestimmten Zahl, des
Schönen und Hässlichen, des Guten und des Üblen. Nun gibt
es aber keine Wahrheit ohne Theilnahme am Sein, und Wahr-
heit wieder ist das charakteristische Merkmal des Wissens 19).
Also da das Sein nicht Inhalt des Sinneseindruckes ist, sondern
in der die Sinneseindrücke vergleichenden Überlegung der Seele
selbst ausgesagt wird, so ist nicht Wahrnehmung Wissen, sondern
Wissen ist da zu suchen, wo die Seele an und für sich, ohne
Vermittelung eines Sinnesorganes, überlegt und entscheidet, im
258
δοξάζειν; daher ergibt sich, da man nicht jede δόξα, Vorstellung !!)
9 183 A: rpodupndetsw ἀποδεῖξαι ὅτι πάντα κινεῖται, ἵνα δὴ ἐχείνη ἡ ἀπό-
χρισις (nämlich dass Wissen im Wahrnehmen bestehe) ὀρϑὴ φανῇ.
10) 186 Ο: Οἷόν τε οὖν ἀλ᾿ηϑείας τυχεῖν, ᾧ μηδὲ οὐσίας; --- ᾿Αδύνατον. ---
05 δὲ ἀληϑείας τις ἀτυχήσει, ποτὲ τούτου ἐπιστήμων ἔσται; — Kai πῶς ἄν,
ὦ Σώχρατες.
11) δόξα ist, da es überall durch dasselbe Wort wiedergegeben werden
TnEAÄTETos. 55
(Meinung, Ansicht), für Wissen halten kann, sondern nur die
richtige, wahre, als Definition des Wissens: ἢ ἀληϑὴς δόξα ἐπι--
στήμη.
II. Zweite Definition. Die richtige Vorstellung (Meinung, Ansicht)
ist Wissen, ἡ ἀληϑὴς δόξα ἐπιστήμη. (ec. 31—38).
A. Indem durch die Definition, welche nur der richtigen
Vorstellung die Geltung des Wissens zuschreibt, das Vorhan-
densein irriger Vorstellungen vorausgesetzt wird, erklärt Sokrates,
es habe ihn schon oft die Frage beunruhigt, worin denn dieser
Vorgang bestehe und auf welche Weise er entstehe, τί ποτ᾽ ἐστὶ
τοῦτο τὸ πάϑος (τὸ δοξάζειν τινὰ ψευδὴ) rap ἡμῖν χαὶ τίνα τρόπον
ἐγγιγνόμενον 187 D. Diese Frage, als zur Sache gehörig, soll in
Betracht gezogen werden (c. 31—37).
1. Versuch den Irrthum zu definiren, indem vorausgesetzt
wird, dass es jedem Gegenstande gegenüber nur entweder ein
Wissen 12) oder ein Nichtwissen desselben gibt, die Vorgänge des
muss, durch „Vorstellung“ übersetzt. Vergl. Schleiermachers Anmerkung
zu 187 A. Dass das deutsche Wort den weiten Umfang des griechischen
nicht vollkommen deckt, sollte durch die bei seinem ersten Vorkommen in
Parenthese beigefügten Worte bezeichnet werden.
12) εἰδέναι ἢ pn εἰδέναι, wie hier 188 A und häufig im weiteren Verlaufe
steht, übersetzt Schleiermacher „darum wissen“, nicht „etwas wissen“, und
bemerkt darüber: „Platon bedient sich hier eines gar nicht wissenschaftlich
bestimmten, überhaupt gar nicht der Wissenschaft besonders angeeigneten
Ausdruckes aus dem gemeinen Leben, um die Resultate der Wahrnehmung
und Vorstellung zu bezeichnen. Es war keiner vorhanden, der für alle fol-
genden Fälle in unserer Sprache schicklich gewesen wäre und ebenso wenig
wissenschaftliche Anmalsung hätte. Denn von dem eigentlichen Wissen un-
terscheidet sich dieser durch die Structur hinlänglich.“ In dieser Bemerkung
ist meines Erachtens Unhaltbares mit Treffendem verbunden. Wo Platon
in philosophischen Erörterungen das Verbum εἰδέναι gebraucht, da setzt er
so gut wie Aristoteles (vgl. Index Aristot. 217b 20) es begrifflich dem ἐπίστα-
σϑάι gleich. Das ergibt sich nicht nur aus Stellen anderer Dialoge, z. B.
Phäed. 75 D: τὸ yap εἰδέναι τοῦτ᾽ ἐότί, λαβόντα τοῦ ἐπιστήμην ἔχειν χαὶ μὴ dro-
λωλεχέναι, Gorg. 454 E: βούλει οὖν δύο εἴδη ϑῶμεν πειθοῦς, τὸ μὲν πίστιν
παρεχόμενον ἄνευ τοῦ εἰδέναι τὸ δ᾽ ἐπιστήμην, u. a.m., sondern dasselbe er-
weist sich in unserm Dialoge, indem dem vorherrschenden Gebrauche von el-
δέναι gelegentlich ἐπίστασϑαι eingemischt wird, vgl. 191 1). E mit 192 Α ff. Ein
solcher Wechsel im Ausdrucke würde schlechthin unmöglich sein, wenn Pla-
ton εἰδέναι in dem von Schleiermacher bezeichneten und für die Auffassung
dieses Theiles des Dialoges sehr bedeutsamen Unterschiede von ἐπίστασαι
56 k THEÄTETOS.
Lernens und Vergessens dagegen noch ganz aulser Betracht ge- 289
lassen werden (188 A— 190 E).
a. (Erwägung der Frage vom Gesichtspuncte des Subjec-
tes.) Das Gewusste nicht wissen, das Nichtgewusste wissen,
ein Gewusstes für ein anderes Gewusstes oder Nichtgewusstes,
ein Nichtgewusstes für ein anderes Nichtgewusstes oder Gewuss-
tes halten — ist alles gleich unmöglich, da in jedem der Fälle
das Entgegengesetzte, Wissen nämlich und Nichtwissen, in Be-
zug auf dasselbe Object behauptet wird (188 A—O).
b. (Erwägung der Frage vom Gesichtspuncte des Objec-
tes.) Seiendes für Nichtseiendes halten und umgekehrt ist
ebenso unmöglich, da Nichtseiendes vorstellen überhaupt nicht
vorstellen heifst, also auch hier Entgegengesetztes, Vorstellen
und Nichtvorstellen, in Bezug auf dasselbe Object behauptet
wird (188 C— 189 B). |
ce. Die Annahme, dass der Irrthum in einer Verwechslung
der Vorstellungen bestehe, ἀλλοδοξεῖν, führt auf die gleichen
Widersprüche; denn indem der in der Vorstellung liegenden
Bestimmtheit eine geistige Überlegung, ein inneres Gespräch
vorausgeht, so müsste man, damit eine Verwechselung stattfinde,
in diesem Gespräche zu sich selbst sagen, dass irgend ein ge-
wusster Gegenstand ein anderer, eben als verschieden gewusster,
sei, wodurch also das Gewusste nicht gewusst würde!3). Und
ebenso fällt in einen der früheren Widersprüche die Annahme
zurück, dass etwas Gewusstes mit etwas Nichtgewusstem ver-
wechselt werde (189 C— 190 E).
2. Versuch die Entstehung des Irrthums zu erklären durch
Unterscheidung der gegenwärtigen Wahrnehmung von
ihrer Aufbewahrung im Gedächtnisse (191 A— 196 ἢ).
gemeint hätte. Richtig dagegen ist, dass ἐπίστασϑαι ungleich mehr den Cha-
rakter des terminus technicus trägt als εἰδέναι. Dafür, dass Platon in dem
vorliegenden Abschnitte von Anfang an und weitaus überwiegend in dem
fernern Verlaufe desselben, trotz der begrifilichen Unterschiedslosigkeit den
vulgären Ausdruck dem technischen vorzog, um dessen Definition es sich
eben handelt, bieten sich wahrscheinliche Gründe leicht genug dar.
13) Als das gemeinsame Argument in dieser Erörterung wird dieser Ge-
danke später wieder bezeichnet 196 B: οὐχοῦν εἰς τοὺς πρώτους πάλιν ἀνῆ-
wer λόγους; — — ἵνα μὴ τὰ αὐτὰ ὁ αὐτὸς ἀναγχάζοιτο εἰδὼς μὴ εἰδέναι ἅμα.
THEÄTETOS. 57
290 a) Das Gedächtnis wird verglichen mit einem Wachs, wel-
ches von der Wahrnehmung die Eindrücke wie die eines Siegel-
ringes bewahrt 11), deutlich oder undeutlich, fest oder minder
fest. Irrthum findet sich weder in den Wahrnehmungen an sich,
noch in den vom Gedächtnis aufbewahrten Bildern an sich,
sondern in der Verbindung und Beziehung beider 15), insofern
nämlich eine gegenwärtige Wahrnehmung nicht auf das ihr zu-
gehörige Bild im Gedächtnisse, sondern auf ein anderes bezogen
und mit ihm gleichgesetzt wird (191 A— 194 B).
δ) Hierdurch erklärt sich nicht allein der Irrthum überhaupt,
sondern auch die grölsere oder geringere Geneigtheit des einen
und des andern zum Irrthum. In dem Malse nämlich, als die
Bilder im Gedächtnisse deutlich ausgeprägt, sicher auseinander
gehalten und treu bewahrt sind, welche Eigenschaften durch
verschiedene Beschaffenheiten jenes als Bild genommenen Wach-
ses bezeichnet werden, in demselben Malse ist Irrthum fern ge-
halten; durch die gegentheiligen Eigenschaften wird die Gefahr
des Irrthums herbeigeführt (194 © — 195 B).
c) Diese Erklärung des Irrthums reicht aber doch nicht aus;
denn es wäre hiernach unmöglich, dass in Fällen, wo keine
Wahrnehmung in Betracht kommt, sondern es sich ausschliels-
lich um Vorstellungen im blofsen Denken handelt, z. B. bei
reinen abstracten Zahlen, ein Irrthum vorkomme; und doch liegt
die Thatsache vor, dass auch in diesen Fällen Irrthum sich
findet (195 B— 196 D).
3. Versuch die Entstehung des Irrthums zu erklären durch
Unterscheidung des ruhenden Besitzes eines Wissens von
seiner gegenwärtigen Anwendung (196 D—200D).
Wenn man durch belehrende Mittheilung oder durch eige-
nes Forschen in den Besitz eines mannigfaltigen Wissens ge-
langt ist, so befindet man sich in dem gleichen Fall wie jemand,
der einen Taubenschlag besitzt mit einer ansehnlichen Anzahl
14) Die genaue Übereinstimmung mit der Aristotelischen Erklärung de
anim. II, 12. 424a 17: ἣ μὲν αἴσϑησίς ἐστι τὸ δεχτιχὸν τῶν αἰσϑητῶν εἰδῶν ἄνευ
τῆς ὕλης, οἷον ὁ χηρὸς τοῦ δαχτυλίου ἄνευ τοῦ σιδήρου χτὰ. hat keinem Leser
entgehen können.
15) 195 CO: εὕρηχας δὴ ψευδῆ δόξαν, ὅτι οὔτε ἐν ταῖς αἰσήσεσίν ἐστι πρὸς
ἀλλήλας οὔτ᾽ ἐν ταῖς διανοίαις, ἀλλ᾽ ἐν τῇ συνάψει αἰσϑήσεως πρὸς διάνοιαν.
58 THEÄTETOS.
von Tauben. Dieser Mann ist Eigenthümer der Tauben und 29]
hat dadurch die Möglichkeit!®), wann es ihm beliebt, irgend eine
der Tauben in seinen Händen zu halten, er muss sie aber, um
sie wirklich zu halten, erst wieder ergreifen. Ebenso steht es
mit unserem Wissen; das gewonnene Wissen, das unser Eigen-
thum ist, haben wir darum noch nicht jeden Augenblick gegen-
wärtig, sondern es bedarf eines geistigen Wiederergreifens, das
sich mit jenem Wiederfassen der bereits eingefangenen Tauben
vergleichen lässt. Hierbei kann nun ein Fehlgreifen eben so
gut stattfinden, wie bei dem Wiederfassen der eingeschlossenen
Tauben ; ein solches Fehlgreifen ist dann der Irrthum in Fällen,
in denen von einer falschen Beziehung zwischen Wahrnehmung
und Gedächtnisbild nicht die Rede ist (196 D—199 (Ὁ.
Aber hierbei wäre doch, damit eine solche Verwechslung |
möglich sei, die Voraussetzung, dass man etwas, indem man es
wisse, zugleich nicht wisse, wie bei den Fällen des ersten Er-
klärungsversuches. Oder soll man annehmen, dass in dem
Taubenschlage der Seele, dem ruhenden Wissen, aufser dem
mannigfaltigen Wissen auch ein mannigfaltiges Nichtwissen ent-
halten sei, und soll man dann weiter ein Wissen dieses Wissens
und Nichtwissens voraussetzen und so fort ins unendliche 17) ?
16) 197 C: δύναμιν μὲν αὐτῷ περὶ αὐτὰς παραγεγονέναι — λαβεῖν Zul δχεῖν.
Über die Durchführung dieser Unterscheidung in der Aristotelischen Termi-
nologie s. Trendelenburg zu de an. p. 314 ff. und meine Anmerkung zu Met.
096. 1048a 34.
17) Man känn einerseits schwerlich verkennen, dass die Annahme eines
Wissens des Wissens sammt dem unendlichen Progress, zu dem sie cönse-
quent führt, an der vorliegenden Stelle verworfen wird, und man wird an-
derseits unabweislich an die im Charmides diseutirte ἐπιστήμη ἐπιστήμης ge-
mahnt. Von diesem im Charmides ausgesprochenen Gedanken hatte Schleier-
macher (in der Einleitung zum Charmides) angedeutet, dass er von Platon
keineswegs, wie es den Worten nach scheine, zurückgewiesen werde, son-
dern seine Giltigkeit in Platons Sinne behalte; Schleiermachers Andeutun-
gen hierüber haben durchweg Beistimmung gefunden. Brandis, Griech. röm.
Philos. II, 1, 5. 205; Steinhart 1, $. 285; Susemihl 5. 27. Welche
Schwierigkeiten es macht, die vorliegende Stelle mit jener Auffassung des
Charmides in Einklang zu bringen, wolle man ersehen aus Steinhart III,
5. 80 f. Trotz der beachtenswerthen Beistimmung, welche die Schleierma-
chersche Bemerkung zum Charmides gefunden hat, bin ich überzeugt, dass sie
sich, selbst ohne alle Berücksichtigung der vorliegenden Stelle des Theätetos,
als unbegründet erweisen lässt. (Vgl. unten die Bemerkungen zum Charmides.)
292
'THEÄTETOS. 59
— Es ist keine Aussicht, den Irrthum erklären zu können, be-
vor in das Wesen des Wissens Einsicht gewonnen ist (199 C
- 200D).
B. Die Prüfung der Definition selbst, dass richtiges Vor-
stellen (Meinen) Wissen sei, δόξα ἀληϑὴς ἐπιστήμη, wird einfach
durch die Berufung auf eine als unzweifelhaft betrachtete That-
sache abgemacht. Die Redekunst schafft vor Gericht und in
Volksversammlungen Überzeugungen; wenn durch diese Über-
zeugungen auch das Richtige getroffen wird, so ist doch nach
Malsgabe der dabei angewendeten und anwendbaren Mittel das
so gewonnene richtige Meinen deshalb noch nicht ein Wissen.
Die Definition lässt sich also nicht halten (200 D—2010).
III. Dritte Definition. Richtige Vorstellung in Verbindung mit Er-
klärung ist Wissen, δόξα ἀληϑὴς μετὰ λόγου ἐπιστήμη (201 0 — 210 A).
A. Nicht als seinen eigenen neuen Versuch, sondern als
eine von andern vernommene Ansicht spricht Theätetos diese
neue Definition des Wissens aus; ebenso bezeichnet Sokrates
dieselbe als eine ihm schon bekannte, und bestimmt den Sinn,
in welchem diese Ansicht aufgestellt werde, näher dahin, dass
die einfachen Elemente eine Erklärung nicht zulassen, sondern
erst ihre Verbindung einer Erklärung fähig sei; jene könnten
nur durch einen Namen bezeichnet, diese durch nähere Rechen-
schaft erklärt werden. Als Beispiel hierfür dient die Sylbe im
Verhältnis zu den einzelnen Lauten (Buchstaben), aus denen sie
besteht. Die Sylbe kann durch Erklärung beschrieben, die ein-
zelnen Laute können aber nur genannt werden. Die Namen
συλλαβή und στοιχεῖον führen noch besonders auf Anwendung ge-
rade dieses Beispiels (201 CE — 203 0).
1. Ist nun, um die Sache an diesem Beispiele durchzufüh-
ren, die Sylbe der Gesammtheit ihrer einzelnen Elemente (Laute)
gleich, so ergibt sich aus dieser Erklärung von Wissen, dass
man die @esammtheit dessen wisse, das man im einzelnen nicht
weils (203C—D).
2. Oder vielleicht ist die Sylbe eine von der Gesammtheit
der Elemente verschiedene einheitliche Gestalt 15) 7 Soll dies der
18) 203 E: χρῆν γὰρ ἴσως τὴν συλλαβὴν τίϑεσϑαι pm τὰ στοιχεῖα, ἀλλ᾽ ἐξ
60 THEÄTETOS.
Fall sein, so muss das Ganze (ὅλον) etwas von dem Gesammten
(πᾶν, πάντα) Unterschiedenes sein; doch lässt sich dies in allen
Fällen, wo etwas aus Theilen besteht, nicht nachweisen, und
doch nur in diesen Fällen ist ja überhaupt von einem Ganzen
die Rede.
Die Sylbe müsste also, soll sie nicht die Gesammtheit der
Elemente sein, eine einheitliche, nicht aus Theilen bestehende
Gestalt?) sein. Dann fällt aber die Sylbe unter denselben Ge-
sichtspunct, wie vorher das Element; sie ist, eben als nicht auf
Theile zurückführbar, nicht Gegenstand des Wissens (203 D
— 205 E).
3. Übrigens führt die Aufmerksamkeit auf den wirklichen
Gang, den man bei jedem Lernen einschlägt, vielmehr zu der
entgegengesetzten Ansicht. Denn gerade die einfachen Elemente
sind es, die vor allem sicheres Eigenthum des Wissens werden
müssen; sie sind erkennbarer als ihre Combinationen und für
die Einsicht in die letzteren entscheidend (206 A—C).
B. Um die Definition δόξα ἀληϑὴς μετὰ λόγου ἐπιστήμη all-
gemein zu prüfen, muss man fragen, was unter der Erklärung,
λόγος, zu verstehen ist. Das Wort lässt eine dreifache Auffas-
sung zu; es ist also zu sehen, ob durch eine derselben das un-
terscheidende Merkmal der richtigen Vorstellung vom Wissen
gewonnen wird.
1. Unter λόγος kann das Aussprechen in Worten ge-
meint sein. Da dies jedem überhaupt der Sprache mächtigen
möglich ist, so käme hierdurch zur richtigen Vorstellung kein
Merkmal hinzu, und jede richtige Vorstellung wäre dann schon
ein Wissen, was bereits im vorigen widerlegt war (206 C—E).
2. Unter λόγος kann die Aufzählung der einzelnen
Elemente gemeint sein. Aber das Beispiel der Sylbe, das
vorher typisch angewendet war, zeigt, dass ohne ein Hindurch-
gehen durch die geordnete Reihe der Elemente eine richtige
Vorstellung überhaupt nicht stattfindet. Also auch unter dieser
Voraussetzung würde man eine μετὰ λόγου δόξα ὀρϑή erhalten, die
Zaral, εἰ Ἢ = \ ὟΝ ἰδέ ’ Jar « - » ev a‘ u
EHLEINWYV ἐν τι ἵέεγόνος εἰῦος, ἰόξαν μῖαν AUTO αὐτοῦ ξεχον, ἕτερον 0E τῶν στοι-
χείων .
19) 205 Ο: μία τις ἰδέα ἀμέριστος συλλαβὴ ἂν εἴη.
29
[75
THEAÄTETOS. 61
sich von der blofsen δόξα ὀρϑή nicht unterschiede, also noch
nicht Wissen wäre (206 E— 208 B).
3. Unter λόγος kann die Angabe des unterscheiden-
den Merkmales verstanden werden. Aber eine richtige Vor-
stellung irgend eines bestimmten Gegenstandes ist nicht mög-
lich ohne richtige Vorstellung eben des Merkmales, das ihn von
allen andern unterscheidet. Wird also unter λύγος eben nur die
richtige Vorstellung des unterscheidenden Merkmales verstanden,
so kommt dadurch zur richtigen Vorstellung nichts weiteres
hinzu (mithin bleibt der frühere Beweis, dass diese noch nicht
Wissen ist, in Giltigkeit); wird dagegen darunter das Wissen
des unterscheidenden Merkmals verstanden, so bewegt sich die
Definition im Kreise, da sie Wissen durch Wissen definirt
(208 C— 210 A).
Schluss. Weder Wahrnehmung, noch richtige Vorstellung,
noch richtige Vorstellung mit Erklärung ist Wissen. Wir sind
durch die Erörterung um so viel weiter gekommen, dass wir
nicht etwas für Wissen halten, das keinen Anspruch hat dafür
zu gelten.
Zur Rechtfertigung der bezeichneten Gliederung des
Gespräches.
1. Wenn im obigen der Gedankengang des Platonischen
Theätetos richtig nach derjenigen Gliederung bezeichnet ist,
welche Platon dem Dialoge gegeben hat, so muss diese Darle-
gung selbst ihr bester und entscheidender Beweis sein; das
Richtige und Einfache hat in sich die Kraft, die Willkür der
Künstelei abzuwehren. Indessen geschätzte Forscher auf diesem
Gebiete haben eine selbst in wesentlichen Puncten abweichende
‘Gliederung gefunden ; diesen gegenüber wird es nicht überflüssig
sein nachzuweisen, dass diejenige Abtheilung, welche ich im
obigen gegeben habe, überall von Platon auf das ausdrücklichste
bezeichnet wird.
Sehen wir ab von den mehrfachen Einleitungen, die uns
allmählich zu der Behandlung des Gegenstandes selbst hinführen,
nämlich erstens derjenigen Einleitung, durch welche das ganze
Gespräch als ein wiedererzähltes dargestellt wird, c. 1 (auf den
62 THEÄTETOoS.
vielfach gedeuteten Zweck dieser Fiction ist es für die vorlie-
gende Aufgabe nicht nöthig einzugehen), dann zweitens der
Einleitung des Gespräches selbst, durch die wir mit den Per-
sonen desselben bekannt gemacht werden (c. 2 — c. 3, 145 E),
endlich nach der Aufstellung der Frage: „Was heilst Wissen?“
denjenigen einleitenden Bemerkungen, durch welche das Suchen
nach dem Begriffe von dem Herabsteigen in den Umfang, und
die wissenschaftliche Forschung von der Mittheilung fertiger Re-
sultate unterschieden wird (c. 3, 146 A — ο. 7, 151 D): so unter-
scheiden sich in der von da an geführten Untersuchung über
den Begriff des Wissens drei Haupttheile mit einer Deutlichkeit,
welche jede Verschiedenheit der Ansichten ausgeschlossen hat.
Darüber, dass die drei Definitionen des Wissens: Wahrnehmung,
Vorstellung, Vorstellung mit Erklärung, die drei Haupttheile
des Dialoges constituiren, ist nie ein Zweifel gewesen.
Aber bei der weiteren Gliederung des ersten Haupttheiles
(ce. 8— 30) zeigen sich Verschiedenheiten, welche eine Hinwei-
sung auf die von Platon selbst deutlich gesetzten Grenzsteine
der einzelnen Abschnitte erforderlich machen 2%).
Ein solcher ist nun zuerst in c. 15 zu ersehen. Von der
Aufstellung der dem 'Theätetos in den Mund gelegten Defini-
tion, dass Wahrnehmung Wissen sei, war Platon sofort zu der
Nachweisung übergegangen, dass hiemit der Protagoreische Satz
zusammenfalle, und dass beide auf die Herakleitische Voraus-
setzung des allgemeinen und unbedingten Werdens zurückführen.
Die Nachweisung dieser Übereinstimmung und die begründende
Erklärung des gemeinsamen, in diesen Sätzen unter verschiede-
nen Formen ausgesprochenen Gedankens wird durch c. 15 ab-
geschlossen, indem Sokrates sagt?!): „Vortrefflich hast du er-
20) Peipers (Syst. Plat. I. S. 273 ff.) spricht zu der von mir bezeichneten
Gliederung des ersten Haupttheiles seine Zustimmung aus. Von den For-
mulirungen, durch welche Peipers den Inhalt jedes der fünf Abschnitte kurz
zusammenfasst, und von den weiteren Unterabtheilungen, welche er in je-
dem dieser Abschnitte setzt, habe ich mir nur wenig aneignen können.
21) 160 D: παγκάλως ἄρα σοι εἴρηται ὅτι ἐπιστήμη οὐχ ἄλλο τί ἐστιν ἢ
αἴσϑησις, zu εἰς ταὐτὸν συμπέπτωκε, χατὰ μὲν “Ὅμηρον καὶ Ἡράκλειτον καὶ
πᾶν τὸ τοιοῦτον φῦλον οἷον ῥεύματα χινεῖσϑαι τὰ πάντα, κατὰ δὲ Πρωταγόραν τὸν
σοφώτατον πάντων χρημάτων ἄνϑρωπον μέτρον εἶναι, κατὰ δὲ Θεαίτητον τούτων
295
THEÄTETOS. 63
klärt, dass Wissen nichts anderes ist als Wahrnehmung, und es
fällt in eins zusammen, dass nach Herakleitos alles in bestän-
diger Bewegung begriffen, nach Protagoras der Mensch das Mals
aller Dinge, nach Theätetos unter diesen Voraussetzungen die
Wahrnehmung Wissen ist.“ „Dieses Kind unseres Geistes“
heilst es daun weiter, „haben wir endlich nach langer Mühe an
das Licht der Welt gebracht; wir wollen nun untersuchen , ob
es der Pflege und des Auferziehens werth ist. Ich kann nicht
aus eigenem Wissen erklären, ob die im vorigen ausgesproche-
nen Sätze wahr sind oder nicht; aber ich will versuchen es im
Gespräche mit Theätetos zu erforschen.“ Wenn der erste Theil
der hier ausgezogenen Stelle den deutlichen Abschluss des
26 bis dahin Erörterten gibt, so enthält ebenso bestimmt ihr zwei-
ter Theil die Ankündigung der nun zu beginnenden Kritik.
In der Kritik der Protagoreischen Lehre c. 16--26 kann es
keinem Leser entgehen, dass Platon von Einwendungen, denen
er kein entscheidendes Gewicht beilegt, zu andern fortschreitet,
in denen er die Widerlegung der Protagoreischen Lehre findet.
Diese beiden Abschnitte in der Bestreitung des Protagoreischen
Philosophems sind durch c. 21 ausdrücklich von einander ge-
schieden. Denn nachdem der Platonische Sokrates die vorheri-
gen Einwendungen durch eine in Protagoras’ eigenem Namen
vorgetragene Erörterung abgewiesen hat, stellt er die Forderung
ernster und gründlicher Untersuchung auf und gibt ihrer Erfül-
lung einen Ausdruck in der Gestaltung des Dialogs selbst, in-
dem nunmehr Theodoros sich dazu verstehen muss, der Mit-
unterredner' des Sokrates zu werden. Die Unterhandlungen
hierüber??) bilden eine so augenscheinliche Unterbrechung der
Untersuchung über den Gegenstand selbst, dass Platon minde-
οὕτως ἐχόντων αἴσϑησιν ἐπιστήμην γίγνεσθαι. ἢ γάρ, ὦ Θεαίτητε, φῶμεν τοῦτο
σὸν μιν εἶναι οἷον νεογενὲς παιδίον, ἐμὸν δὲ μαίευμα; — — Τοῦτο μὲν δὴ
μόλις ποτὲ ἐγεννήσαμεν, ὅ τι δῆ ποτε τυγχάνει ὄν. μετὰ δὲ τὸν τόκον τὰ
ἀμιφιδρόμια αὐτοῦ ὡς ἀληϑῶς ἐν κύχλῳ περιϑρεχτέον τῷ λόγῳ, σκοπουμέ -
νους μὴ λάϑῃ ἡμᾶς οὐχ ἄξιον ὃν τροφῆς τὸ γιγνόμενον, ἀλλὰ ἀνεμιαῖόν τε χαὶ
ψεῦδος. ἢ σὺ οἴει πάντως δεῖν τό γε σὸν τρέφειν χαὶ μιὴ ἀποτιϑέναι, ἢ καὶ ἀνέξει
ἐλεγχόμενον ὁρῶν, χαὶ οὐ σφόδρα γχαλεπανεῖς, ἐάν τις σοῦ ὡς πρωτοτόκου αὐτὸ
ὑφαιρῇ; — — καὶ νῦν τοῦτο παρὰ τοῦδε πειράσομαι —.
2) 168 C --- 109 Ὁ.
64 THEÄTETOS.
stens ganz unkünstlerisch verfahren wäre, hätte er nicht eben
dadurch einen Halt und Wendepuncet im Gange der Unter-
suchung fixiren wollen. Dazu bezeichnen überdies die Worte des
Theodoros23) einerseits, vor allem aber anderseits des Sokrates
erneute strengere Formulirung der Protagoreischen Lehre zur
Grundlegung ihrer Bestreitung 2), dass hier ein neuer Abschnitt
der Discussion beginnt.
Die in Platons Sinne entscheidende Bestreitung des Prota-
goreischen Philosophems wird durch den Schluss von ce. 26 be-
endigt, die beiden entscheidenden Beweise werden in kurzer Fas-
sung recapitulirt und die Lehre des Protagoras als hierdurch voll-
giltig widerlegt bezeichnet. „Durch diesen eben geführten Beweis“,
erkennt Theodoros an, „scheint der Protagoreische Satz wider-
legt zu sein, so wie auch durch den früheren über Anerkennung
widerstreitender Ansichten;* „auch noch sonst auf mannigfache
Weise,“ fügt Sokrates hinzu, „lässt sich ein Satz dieses Inhaltes 297
widerlegen ?5).“ So spricht wer den bisherigen Beweisgang ab-
schliefst, indem er die Möglichkeit, noch andere Gesichtspuncte
zu gleichem Zwecke zu verfolgen, anerkennt, ohne darauf weiter
einzugehen. Mit dieser Erklärung des Abschlusses verbindet sich
zugleich die Ankündigung der nunmehr an die Reihe kommen-
den Frage: „wir müssen nun an die Lehre von der unbedingten
Bewegung näher herantreten und untersuchen ob sie in sich
gesund ist 2%) .*
Innerhalb dieses dritten Abschnittes des ersten Hauptthei-
les habe ich die längere Vergleichung zwischen der Philosophie
und den politisch-rhetorischen Beschäftigungen als eine blofse
3) 169 Ο: οὐδὲν ἔτι ἀντιλέγω, ἀλλὰ λέγε ὅπῃ ἐθέλεις χτλ. --- — ἀλλὰ δὴ
πειράσομαί γε καϑ᾿ ὅσον ἂν δύνωμαι.
#4) 169 D: τοῦδε τοίνυν πρῶτον πάλιν ἀντιλαβώμεϑα οὗπερ χαὶ πρότερον κτλ.
bis 170 A.
>) 179 A: μετρίως ἄρα ἡμῖν πρὸς τὸν διδάσκαλόν σου εἰρήσεται, . ὅτι
ἀνάγκη αὐτῷ ὁμολογεῖν σοφῴώτερόν τε ἄλλον ἄλλου εἶναι χτὰ. — -- Ἐχείνῃ μοι
δοχεῖ, ὦ Σῴώχρατες, μάλιστα ἁλίσκεσϑαι ὁ λόγος, ἁλισχόμενος χαὶ ταύτῃ, ἡ τὰς
τῶν ἄλλων δόξας κυρίας ποιεῖ χτὰ. --- Πολλαχῇ, ὦ Θεόδωρε, καὶ ἄλλῃ ἂν τό γε
τοιοῦτον ἁλοίη pi) πᾶσαν παντὸς and δόξαν εἶναι. ἐ
ἢ 179 D: προσιτέον οὖ" ἐγγυτέρω, ὡς ὁ ὑπὲρ Πρωταγόρου λόγος ἐπέ-
ταττε, καὶ σχεπτέον τὴν φερομένην ταύτην οὐσίαν διαχρούοντα, εἴτε ὑγιὲς
εἴτε σαϑρὸν φϑέγγεται. ᾿
Ν THEÄTETOoSs. 65
Episode bezeichnet (5. $S: 52). Es versteht sich, dass für den
Zweck des gesammten Dialogs oder für die Zeitumstände,
unter denen Platon ihn schrieb, dieser Abschnitt seine besondere
Bedeutung 27), und dass Platon seine Gründe gehabt haben wird, in
solcher Ausführlichkeit darüber zu handeln. Aber für diejenige
Stelle des Dialogs, an welcher diese Erörterung eintritt, ist sie
eine den Gedankenzusammenhang schlechthin unterbrechende
und einfach als solche Unterbrechung von Platon bezeichnete
Episode. Sokrates fragt, nach kurzer Bezeichnung der Eile und
Hast, welche die politischen Redner dränge, ob er sich „zu dem
Gegenstande der Untersuchung zurückwenden ?) oder auch als
Gegenbild die wahrhaften Philosophen zeichnen solle. Und am
Schlusse heifst es: „doch lass uns nun hievon abstehen, da es
298 ja überhaupt nur als ein Beiwerk gesagt ist; es möchte uns
sonst, wie es immer voller zuströmt, den ursprünglichen Gegen-
stand unserer Unterredung ganz verschütten ?®).“ Vor allem aber:
die Beweisführung gegen Protagoras zieht aus dieser Vergleichung
schlechterdings keinen Nutzen, sondern durch Recapitulation
wird der Beweis gerade an der Stelle wieder aufgenommen,
bis zu welcher er vor dem Beginne jenes Preises der Philo-
sophie gelangt war®®). Alles offenkundige, in sich zusammen-
stimmende und unbestreitbare Zeichen dafür, dass an der be-
treffenden Stelle des Dialogs jener Abschnitt 172 CE —177C
schlechthin eine Unterbrechung des Gedankenganges bildet.
Der vierte Abschnitt des ersten Haupttheiles erhält in mehr-
facher Weise Zeichen des Abschlusses. Sokrates erklärt, mit
2) In der ersteren Hinsicht sind Andeutungen am Schlusse gegeben,
S. 87; in der andern Hinsicht, dass nämlich die eigenthümlichen Zeitum-
stände, unter denen Platon den Dialog abgefasst haben mag, Anlass zu dem
Inhalte ufd der nachdrücklichen Ausführlichkeit dieser Episode gegeben
haben können, ist es misslich, sich Vermuthungen hinzugeben, da eine ge-
naue Bestimmung der Abfassungzeit des Theätetos bis jetzt nicht gesichert ist.
28) 173 B: τοὺς δὲ τοῦ ἡμετέρου γοροῦ πότερον βούλει διελϑόντες ἢ ἐάσαντες
πάλιν ἐπὶ τὸν λόγον τρεπώμεϑα, ἵνα μὴ χαί, ὃ νῦν δὴ ἐλέγομεν, λίαν πολὺ
τῇ ἐλευϑερίᾳ χαὶ μεταλήψει τῶν λόγων χαταχρώμεϑα.
29) 177 B: περὶ μὲν οὖν τούτων, ἐπειδὴ καὶ πάρεργα τυγχάνει λεγόμενα,
ἀποστῶμεν. εἰ δὲ μή, πλείω ἀεὶ ἐπιρρέοντα καταχώσει ἡμῶν τὸν ἐξ ἀρχῆς λόγον "
ἐπὶ δὲ τὰ ἔμπροσϑεν ἴωμεν, εἰ χαὶ σοὶ δοχεῖ.
80) 177 C: οὐχοῦν ἐνταῦ ϑά που ἦμεν τοῦ λόγον, ἐν ᾧ ἔφαμεν κτλ.
Bonitz, Platonische Studien. 5
66 THEÄTETOSs.
der Lehre, dass jeder Mensch aller Dinge Mafs sei, und ebenso
mit der Lehre von der unbedingten Bewegung seien sie nun-
mehr fertig®!), und Theodoros, der den Ernst der Prüfung dieser
Lehre zu repräsentiren hatte, wird seiner Verpflichtung als Mit-
unterredner ausdrücklich enthoben 33). Ferner,. eine Trennung
dieses Abschnittes von dem nächstfolgenden wird dadurch noch
deutlicher bezeichnet, dass der Vorschlag einer als Gegenstück
zur Kritik des Herakleitos nahe gelegten Kritik der Eleatischen
Lehre ausdrücklich abgelehnt wird ®). Endlich, es wird als ein
neuer, durch die bisherigen Erörterungen noch durchaus nicht
abgethaner oder auch nur ermnstlich berührter Fragepunet die
Untersuchung der von Theätetos aufgestellten Definition selbst
angekündigt ®); denn wenngleich zwischen der Definition des
Theätetos einerseits und den Protagoreischen und Herakleitischen
Lehren anderseits eine Einstimmigkeit zu Anfange des Dialoges 299
nachgewiesen ist, so bleibt es doch noch etwas verschiedenes,
diejenige Form zu untersuchen, welche Protagoras und Herakleitos
einem solchen Gedanken gegeben haben, und dagegen die De-
finition selbst, abgesehen hievon, zur Prüfung zu ziehen. Als
ein solcher neuer Gegenstand wird diese Untersuchung ange-
kündigt.
Dass dieser fünfte Abschnitt mit der Erklärung, die Iden-
tität von Wahrnehmen und Wissen sei also nunmehr widerlegt,
und mit diesem Abschnitte zugleich der erste Haupttheil selbst
abgeschlossen ist, 187 A, B, bedarf keines weitern Beweises.
2. Vielleicht ist es manchem Leser als eine überflüssige
Kleinlichkeit erschienen, dass ich für jeden der Abschnitte des
ersten Haupttheiles die Grenzzeichen im einzelnen aufzeigte,
durch welche Platon ihn von dem vorausgehenden und nach-
folgenden ausdrücklich abgetrennt hat. In der vorhergehenden
31) 183 B: οὐχοῦν, & Θεόδωρε, τοῦ τε σοῦ ἑταίρου ἀπηλλάγμεϑα — —
ἐπιστήμην τε αἴσϑησιν οὐ συγχωρησόμεϑα χατά 1ε τὴν τοῦ πάντα χινεῖσϑαι
μέϑοδον.
32) 183 C: τούτων γὰρ περανϑέντων χαὶ ἐμὲ δεῖ ἀπηλλάγχϑαι σοι ἀποχρι-
νόμενον χατὰ τὰς συνϑῆχας, ἐπειδὴ τὸ περὶ τοῦ Πρωταγόρου λόγου τέλος σγοίη.
3) 183 D — 184 A.
#9) 184 B: δεῖ δὲ οὐδέτερα, ἀλλὰ Θεαίτητον ὧν χυεῖ περὶ ἐπιστήμης
πειρᾶσθαι ἡμᾶς τῇ μαιευτιχῇ τέχνῃ ἀπολῦσαι.
"00
THEÄTETOS. 67
Darlegung des Gedankenganges war ja bereits, und zwar im
unmittelbarsten Anschlusse an Platons eigene Worte, für jeden
der Abschnitte ein bestimmter, von den anderen unterschiedener
Gegenstand der Untersuchung aufgezeigt, so dass, scheint es,
schon hierdurch die Gliederung hinlänglich gesichert ist, auch
wenn sich keine besonderen Zeichen der Trennung unter den
einzelnen Abschnitten nachweisen liefsen. Ich musste diesen er-
müdend weitläufigen Weg einschlagen, um auch den leisesten
Schein. zu vermeiden, als ob ich einer von anderen Seiten mit
voller Sicherheit vertretenen Auffassung eben nur eine andere
subjective Ansicht entgegenstellte, und zu zeigen, dass ich
schlechterdings nur den zwingenden Weisungen des Schriftstel-
lers selbst mich füge.
Steinhart hebt es?) als ein besonderes Moment in der
kunstvollen Anlage des Dialogs hervor, „dass dieselbe Einthei-
lung, die dem Ganzen zu Grunde liegt, sich auch in jedem ein-
zelnen Theile ganz in denselben Verhältnissen wiederholt. Dies
tritt am klarsten in dem ersten Abschnitte hervor. Der Satz
des Protagoras wird hier nach einander in drei Vorträgen des
Sokrates beleuchtet und in den damit verbundenen Erörterungen
nach allen diesen Seiten hin vollständig widerlegt. Diese drei
Erörterungen verhalten sich gerade so zu einander, wie die drei
Theile des ganzen Dialogs, auch sie stellen den Fortschritt des
Denkens von der einzelnen Wahrnehmung zur Vorstellung und
durch diese zur Verstandesreflexion dar“ u. s.w. Diesen Ge-
danken bezeichnet Susemihl in seiner Recension der Steinhart-
schen Einleitung als eine überraschend neue Entdeckung 56), und
macht nur im einzelnen einige Einwendungen gegen dessen
specielle Ausführung. Er schlieflst sich dann auch, wie hiernach
zu erwarten ist, in seiner eigenen Entwickelung des Gedanken-
ganges an diese von Steinhart entdeckte Gliederung an. Da
seine Abweichungen für unseren Zweck von minderer Erheblich-
keit sind und sich bei ihm jeder der einzelnen Abschnitte genau
begrenzt und der angebliche Inhalt eines jeden derselben be-
stimmt formulirt findet, so werden wir, ohne Wesentliches zu
'3) In der Einleitung zum Theätetos, Platon III. 8. 35 ff.
3) In den Jahnschen Jahrbüchern, Bd. 68, S. 276.
5"
68 THREÄTETOos.
übergehen, uns auf die Kritik der von ihm aufgestellten Glie-
derung beschränken dürfen.
Susemihl also 3”) gliedert den ersten Haupttheil in folgende
drei Abschnitte: 1. 151 E—166 A, „erster oder vorbereitender
Absatz“, 2. 166 A— 176 B, „Nothwendigkeit einer tieferen Psy-
chologie nach der eigenen Lehre des Protagoras“, 3. 179 C—
186C, „wirkliche Anknüpfung der Wahrnehmung an einen specu-
lativeren Hintergrund“. Betrachten wir zunächst die hierdurch
gesetzten einzelnen Einschnitte, dann die Formulirung des In-
haltes jedes der einzelnen Abschnitte, endlich das Urtheil Suse-
mihls über die Episode.
Wenn Susemihl mit 179 C einen Abschnitt beginnen lässt,
so fällt dies im wesentlichen mit derjenigen Abtheilung zusammen,
die ich oben 8. 53 als das Ende des dritten und den Anfang
des vierten Abschnittes bezeichnet habe; dass man genauer nicht
179 C: πολλαχῇ, ὦ Θεόδωρε, sondern προσιτέον οὖν ἐγγυτέρω —
χαὶ σχεπτέον χτλ. als den Anfang des neuen Abschnittes zu be-
zeichnen hätte, zeigt eine Erwägung des Inhaltes und selbst des
sprachlichen Ausdruckes, da sich 179 C noch ganz im Ab-
schlusse des vorherigen bewegt.
Indessen hierüber ist nicht nöthig zu rechten, dagegen ist
es unzulässig bei 166 A, d.h. bei dem Beginn der Vertheidi-
gungsrede, welche Sokrates dem Protagoras selbst in den Mund
legt, den Anfang eines neuen Abschnittes zu statuiren. Wenn
diejenigen Einwendungen, welche im vorherigen gegen die Pro-
tagoreische Lehre vorgebracht wurden, als stichhaltig und unbe-
stritten hingestellt wären, so hätte man vollkommen Recht, in
der dem Protagoras geliehenen Vertheidigungsrede einen Wende-
punct des Gespräches zu erkennen. Aber davon findet das ge-
rade Gegentheil statt. Die bisher gemachten Einwürfe sind ent-
weder als blofs auf die Überredung der Menge berechnet unter
den Werth eines wirklichen Beweises herabgedrückt 35), oder sie
sind, um ihre Haltlosigkeit zu zeigen, von dem Jünglinge
Theätetos sogleich zurückgewiesen 39), oder es wird bei andern,
37) Genetische Entw. ἃ. Plat. Philos. I. 8. 182 — 192.
3) 162 D. E. 5. oben Anm. 5.
3) 163 B.C.
301
THEÄTETOS. 69
deren Widerlegung nicht sogleich auf ihre Aufstellung folgt,
wenigstens auf die Wahrscheinlichkeit hingewiesen, dass man
triumphire, bevor der Sieg wirklich gewonnen sei #0); endlich
selbst die Anordnung, dass zuletzt eine ganze Menge von Einwen-
dungen in einem an das Komische streifenden Ausdrucke ge-
häuft wird 4, zeigt deutlich, welchen Werth Platon auf diese
Einwürfe legt. In der vollkommen gleichen Richtung, welche
schon im vorherigen von 161 C an eingeschlagen und festgehal-
ten war, bewegt sich nun die dem Protagoras zugeschriebene
Vertheidigungsrede; indem dieselbe die vorher geltend gemach-
ten Gründe zur Rechtfertigung der Protagoreischen Lehre unter
ihre gemeinsamen Gesichtspuncte zusammenfasst, bildet sie den
angemessenen Abschluss eines Abschnittes, der sich mit den
leichthin aufgeworfenen und leicht zu beseitigenden Einwürfen
gegen Protagoras beschäftigt, nicht den Anfang eines neuen Ab-
schnittes.
Hat sich hiermit der von Susemihl im Unterschiede von der
obigen Inhaltsangabe statuirte Einschnitt nicht als haltbar er-
wiesen, so wird sich die entgegengesetzte Unrichtigkeit, näm-
lich dass Wendepuncte des Gespräches, die Platon selbst be-
zeichnet, nicht als solche anerkannt sind, in der misslungenen
Zusammenfassung des Inhaltes der angeblichen drei Theile be-
kunden.
Für den ersten der von ihm gesetzten Abschnitte hat Suse-
mihl den Inhalt bestimmt zu bezeichnen ganz unterlassen, son-
dern, indem er ihn „vorbereitender Absatz“ nennt, dadurch nur
302 seine Stellung zu dem folgenden angegeben. Mag man nun
immerhin und mit Recht jene weitere Ausführung der kurzen
Definition „Wahrnehmung ist Wissen“, durch welche der Sinn
des Satzes erläutert und mit den Sätzen des Protagoras und He-
rakleitos in eine begründende Beziehung gebracht wird, so dass
40) 164 C: φαινόμεϑά μοι ἀλεχτρυόνος ἀγεννοῦς δίχην, πρὶν νενιχηχέναι,
ἀποπηδήσαντες ἀπὸ τοῦ λόγου ἄδειν. --- ἀντιλογικῶς ἐοίκαμεν πρὸς τὰς τῶν
ὀνομάτων ὁμολογίας ἀνομολογησάμενοι χαὶ τοιούτῳ τινὶ περιγενόμενοι τοῦ λόγου
ἀγαπᾶν, zul οὐ φάσχοντες ἀγωνισταὶ ἀλλὰ φιλόσοφοι εἶναι λανθάνομεν ταὐτὰ
ἐχείνοις τοῖς δεινοῖς ἀνὸράσι ποιοῦντες.
4) 165 B—E.
70 THEÄTETOS.
erst hierdurch diese Ansicht als vollständig ausgesprochen 42) er-
scheint, als „vorbereitend“ bezeichnen — denn allerdings ist die
vollständige und ausgeführte Darlegung dieser Ansicht die Vor-
bereitung oder die Grundlage zu der beabsichtigten Kritik —,
so hat man doch kein Recht, einen Theil dieser Kritik mit der
blofsen Entwickelung der Thesis selbst als ein Continuum zusam-
menzufassen. Also sogar durch diese überaus allgemeine Formel
lässt sich das Übergehen des bei 161 B aufgezeigten Einschnit-
tes nicht überdecken.
Noch weniger wird es möglich sein, in der Überschrift,
welche Susemihl seinem zweiten Abschnitte gibt, den Inhalt
dessen, was wir bei Platon wirklich lesen, wieder zu erkennen.
Erinnern wir uns, dass Protagoras in seiner Vertheidigung auf
die Unterscheidung der Erinnerung von der gegenwärtigen Wahr-
nehmung dringt, und den Unterschied von weise und unweise
aufrecht hält trotz des gleichen Anspruches aller an Wahrheit,
und dass dagegen der Platonische Sokrates jene beiden ent-
scheidenden Gründe gegen die Protagoreische Lehre vorbringt,
den Gegensatz der auf Wahrheit gleichen Anspruch erhebenden
Ansichten, die verschiedene Geltung der Ansichten über das
Zukünftige — und aufserdem die Beschäftigung mit Philoso-
phie der politisch-rhetorischen gegenüberstellt. Allerdings, die
Unterscheidung der Erinnerung von der Wahrnehmung, auf wel-
che sich Protagoras als auf ein unzweifelhaftes, allen bekann-
tes Factum beruft, könnte zu den Anfängen einer Psycho-
logie führen, wenn dieser Unterschied selbst nach seinem realen
Grunde Gegenstand weiterer Untersuchung würde; aber Erörte-
rungen dieser Art, und wäre es nur in der elementaren ver-
suchenden Weise, die der folgende Haupttheil uns zeigt, finden
sich hier durchaus nicht. In allen folgenden Erörterungen dieser
von Susemihl zu einem Abschnitte verbundenen Partie des
Dialogs ersieht man noch weniger die Möglichkeit einer An-
knüpfung an Psychologie; in der Darlegung Susemihls sucht
man vergeblich nach einer Rechtfertigung der Überschrift, durch
welche der angebliche zweite Absatz zusammengefasst sein soll.
42) 160 E: τοῦτο μὲν δή, ὡς ἔοιχε, μόλις ποτὲ ἐγεννήσαμεν χτὰ. vgl.
Anm. 21.
=
303
THEÄTETOoS. 71
Bis eine solche rechtfertigende Nachweisung gegeben ist, wird
es verzeihlich erscheinen, wenn ich in solcher Zusammenfassung
nur eine unberechtigte individuelle Ansicht zu erkennen vermag.
Zu einem dritten Absatz des ersten Haupttheiles verbindet
Susemihl 179 C— 186 E. Imnerhalb dieses angeblichen Abschnit-
tes finden wir erstens die Angabe, in wie weit den Sinnesein-
drücken unleugbare Giltigkeit zuzuerkennen ist, 179 C, zweitens
die Nachweisung, dass die Herakleitische Bewegungslehre die
Möglichkeit einer Wahrnehmung aufhebt, 1179 1) --- 188 Ο, end-
lich drittens den Erweis, dass diejenigen Begriffe, durch welche
der Inhalt der Wahrnehmungen gedacht wird, insbesondere der
Begriff des Seins, durch welchen derselbe erst Anspruch auf
Wahrheit erhält, nicht durch die Sinnesorgane vermittelt werden,
sondern der 'Thätigkeit der Seele an sich angehören, 184— 189 E.
Die Worte „Speculation und speculativ“ werden in verschiede-
nen philosophischen Systemen in einem so wesentlich verschie-
denen Sinne genommen, dass es gewiss möglich ist, in irgend
einem Sinne sie auf die verschiedenen Gedanken, die hier als
ein Continuum zusammengefasst werden sollen, anzuwenden,
und das unbestimmte Bild eines „speculativeren Hinter-
grundes“ erweitert noch möglichst den Bereich der Deutung,
der uns schon ohnehin freigestellt ist; aber dass man durch eine
solche Angabe nicht einen Begriff von dem erhält, was Platon
wirklich in dieser Stelle behandelt, werden unbefangene Leser
leicht zugeben, und im Zusammenhange mit den obigen Erör-
terungen die Folgerung anerkennen, dass das Misslingen einer
treffenden Zusammenfassung eben daher rührt, weil Einschnitte
in den Dialog nach subjectiver Willkür gesetzt sind, nicht nach
gewissenhafter Befolgung der von Platon selbst deutlich gesetz-
ten Zeichen.
Endlich der Vergleichung zwischen der Philosophie und
dem praktischen Staatsleben, welche ich oben 8. 52 als Epi-
sode hezeichnete, sucht Susemihl ihre Zugehörigkeit gerade für
diejenige Stelle, an welcher sie sich findet, nachzuweisen. „In-
zwischen“, heilst es a. a. O. 8. 187, „kann Platon an der Conse-
quenz der sensualistischen Ansicht, welche auch auf dem ethisch-
politischen Boden den Gegensatz eines objectiv Guten und Bösen
leugnet und statt dessen nur die verständige Berechnung des
72 THEÄTETOos.
blofs äufserlich Nützlichen oder Verderblichen, der gröfseren An- 301
nehmlichkeit oder Unannehmlickeit übrig lässt, wie sie auch im
letzten Theile des Dialogs Protagoras als die einzige Weisheit
des sophistischen Eudämonismus sich darstellte — ich sage, Platon
kann an ihr nicht vorübergehen, ohne das Verderbliche derselben
hervorzuheben, zumal da sie nicht blofs Protagoreisch, sondern die
allgemein verbreitete in den Staaten ist, 172 A,B. Dies geschieht
nun in der Episode 172C—177C, indem er in begeisterter
Rede dem Treiben der gewöhnlichen Staats- und Weltmänner
das Ideal des echten Philosophen gegenüberstellt* u. s. w. Es
ist an sich gewiss möglich, dass ein solcher Zusammenhang
im Geiste des Schriftstellers stattgefunden habe; wollen wir ihn
aber als den wirklichen Zusammenhang behaupten, so müssen
wir das Recht dazu aus der Art und Weise entlehnen, wie der
Schriftsteller selbst diese Erörterung an das vorherige anknüpft
oder wie er von ihr zur unterbrochenen Untersuchung zurück-
lenkt; sonst sind wir in der Gefahr, über Vorgänge im Platoni-
schen Geiste uns auf das Gebiet der Dichtung zu verlieren.
Aber bei Platon finden wir von einer Verbindung, wie sie nach
Susemihls Auffassung erwartet werden müsste, nicht die lei-
seste Andeutung. Nicht an die eben erwähnten Begriffe des
Gerechten und Ungerechten, des Nützlichen und Schädlichen,
sondern an die Bemerkung, dass ein neuer wichtiger Gegenstand
der Untersuchung sich aufdränge, schliefst sich der Gedanke an,
dass ja die Unterredner Musse zu solcher Forschung haben und
nicht wie die Redner vor Gerichte durch das Ablaufen der
Wasseruhr zur Eile gedrängt werden, und daran dann weiter
die ganze Vergleichung der beiderseitigen Beschäftigungen. Und
am Schlusse findet sich eben so wenig eine Benützung der ethi-
schen Schilderung des philosophischen Ideals für die eben be-
handelte Frage, sondern eine Recapitulation als nach einer Un-
terbrechung 177 C. Man mag daher immerhin eine Auffassung,
wie die Susemihlsche interessant und geistreich finden oder nicht,
darum handelt es sich gar nicht; das eine ist gewiss, dass sie
in Platon etwas hineinträgt, wozu uns Platon nicht das geringste
Recht gibt.
3. Im zweiten Haupttheile, 7 ἀληϑὴς δόξα ἐπιστήμη,
157 B— 201 C, ist es vor allem nothwendig, die Unterscheidung
THEÄTETOoS. 73
zweier Abschnitte sicher zu stellen, deren höchst verschiedener
äulserer Umfang leicht den Anlass gibt, dieses ihr Verhältnis
805 innerhalb des Haupttheiles zu verkennen. Die Definition, dass
in der wahren Vorstellung das Wissen liege, setzt für die Vor-
stellung die Möglichkeit des Irrthums voraus; daran knüpft sich
daher die Frage nach dem Wesen und der -Entstehung der irr-
thümlichen Vorstellungen. Diese Untersuchung wird als eine
besondere Frage ausdrücklich angekündigt und eingeleitet, und
eben so ausdrücklich wird ihr Abschluss bezeichnet. „Es beun-
ruhigt mich“, sagt Sokrates, „jetzt sowohl 415: auch schon sonst
oft, dass ich in grolser Verlegenheit bin bei mir selbst und anderen
gegenüber, weil ich nicht zu sagen weils, was doch eigentlich
bei irrthümlicher Vorstellung in uns vorgeht, und auf welche
Weise sie entsteht.“ Und Theätetos ermuntert zu dem Versuche
irgend einer Erklärung durch die Erinnerung an die eben erst
geschilderte Musse des Philosophen. Der Spur nachzugehen
findet Sokrates passend, da es besser sei, weniges gut, als
vieles ungenügend abzuschlielsen #3). Wie hiermit diese Unter-
suchung über Wesen und Entstehung der unrichtigen Vorstellung
umständlich angekündigt und eingeleitet wird, so wird anderseits
ihr Ende und der Übergang zu einer andern Gedankenreihe beson-
ders bezeichnet. „Wir haben nicht recht gethan“, heilst es, als
die Untersuchung nicht zu einem vollständig befriedigenden Er-
gebnisse geführt hat, „das Wesen der falschen Vorstellung früher
erforschen zu wollen, ehe wir das Wesen des Wissens gefunden
haben. Fragen wir also von neuem, was denn das Wissen
ist 44).“ Und indem auf solche Aufforderung Theätetos die von
ihm aufgestellte Definition des Wissens als noch unbestritten
wieder vergegenwärtigt, so folgt nun in einer, von der ganzen
48) 187 C: ϑράττει μέ πως νῦν τε χαὶ ἄλλοτε δὴ πολλάχις, ὥστ ἐν ἀπορίᾳ
πολλῇ πρὸς ἐμαυτὸν zul πρὸς ἄλλον γεγονέναι, οὐχ ἔχοντα εἰπεῖν τί ποτ᾽ ἐστὶ
τοῦτο τὸ πάϑος παρ᾽ ἡμῖν χαὶ τίνα τρόπον ἐγγιγνόμενον. --- Τὸ ποῖον
δή; — Τὸ δοξάζειν τινὰ bevor χτὰ. --- — ἴσως γὰρ οὐχ ἀπὸ χαιροῦ πάλιν
ὥσπερ ἴχνος μετελθεῖν. χρεῖττον yap ποῦ σμιχρὸν εὖ ἢ πολὺ μὴ ἱχανῶς πε-
ρᾶναι.
4 200 0: — ὅτι οὐκ ὀρϑῶς ψευδῆ δόξαν προτέραν ζητοῦμεν ἐπιστήμης, ἐχεί-
νὴν ἀφέντες; τὸ δ᾽ ἐστὶν ἀδύνατον γνῶναι πρὶν ἄν τις ἐπιστήμην ἱκανῶς λάβῃ τί
ῳ rn ’ - - ’ ες ’
ποτ ἐστίν. --- — Τί οὖν τις ἐρεῖ πάλιν ἐξ ἀργῆς ἐπιστήμην; οὐ γάρ που ἀπε-
ροῦμέν γέ πω.
74 THEÄTETOos.
bisherigen Entwiekelung durchaus verschiedenen Weise der kurze
Erweis, dass richtige Vorstellung noch nicht Wissen ist. Die
Versuche psychologischer Erklärungen, welche im bisherigen
angestellt wurden, bleiben dabei ganz unberücksichtigt; es wird 306
einfach auf die Thatsache hingewiesen, dass im praktischen
Leben, namentlich in den Verhandlungen vor Gericht, häufig‘
eine richtige Vorstellung über irgend einen Gegenstand beige-
bracht wird, wo von Wissen gar nicht die Rede sein kann.
Ist die Unterscheidung dieser beiden, an Umfang sehr un-
gleichen Abschnitte, in welche der zweite Haupttheil sich zu-
nächst scheidet, hierdurch sicher gestellt, so unterliegt die wei-
tere, nur den ersten Abschnitt treffende Gliederung keiner
Schwierigkeit und ist nicht Gegenstand verschiedener Ansichten.
Es reicht aus mit einem Worte darauf hinzuweisen, dass auch hier
Platon sich nicht begnügt, aus der deutlichen Verschiedenheit des
Inhaltes jedes der drei Erklärungsversuche den Leser die Glie-
derung ersehen zu lassen, sondern jedes dieser einzelnen Glieder
noch durch stark markirte Gesprächswendungen von seinem
Vorgänger und Nachfolger unterscheidet. Wir werden jedesmal
an die Nothwendigkeit erinnert, in dieser Frage nichts unver-
sucht zu lassen, das folgende wird als ein neuer Versuch, ja
als ein neues Wagnis angekündigt 45) ; kurz man darf wohl sagen,
mit einer an Peinlichkeit grenzenden Sorgfalt ist Platon bemüht,
jedem Verwischen oder Übersehen der Abgrenzungen vorzu-
beugen.
4. Von der Gliederung, welche ich für den zweiten Haupt-
theil des Dialogs bezeichnet und zu begründen versucht habe,
weicht Susemihl in einigen Puncten ab. Er betrachtet den
seinem Umfange nach freilich nur kurzen Abschnitt 200 D—
201C, nicht als einen zweiten Hauptabschnitt, der von dem
umfangreichen ersten 187 E— 200 D bestimmt abgehoben ist,
sondern gliedert den ganzen zweiten Haupttheil in drei Ab-
schnitte, welche in ihrer Abgrenzung mit den von mir bezeich-
45) 190 E: οὐκ ἐρῶ σοι πρὶν ἂν πανταχῇ neipad& σχοπῶν. alsyuvol-
nv Ἰὰρ av ὑπὲρ ἡμῶν χτὰλ. — Und ähnlich wieder, nachdem der zweite Er-
klärungsversuch sich als unzureichend erwiesen hat, 196 D: ὅμως δέ, πάντα
ap τολμητέον, zT.
᾽
307
THEÄTETOSs. 75
neten Abtheilungen 1, 2, 3 des Hauptabschnittes A grölsten-
theils zusammenstimmen, und zieht in seinen dritten Abschnitt
jene Erörterung 200 D—201 C mit ein, die ich als zweiten Haupt-
abschnitt glaubte bezeichnen zu sollen. Den Inhalt dieser drei
Abschnitte bezeichnet Susemihl auf folgende Weise: „Erster
Absatz. Die Möglichkeit der falschen Vorstellung 187 A— 191A.
Zweiter Theil. Die falsche Vorstellung als unrichtige Beziehung
zwischen Wahrnehmung und Vorstellung 191 A— 195 B. Dritter
Theil. Der Irrthum als Verwechslung verschiedener Vorstellungen
195 C— 201 E.* Am Schlusse seiner Analyse fasst Susemihl
den Gedankengang des ganzen zweiten Theiles in folgender
Weise zusammen.
„Die ganze Beweisführung des zweiten Hauptabschnittes“, sagt
Susemihl S. 198, „nimmt also folgenden Gang. Im ersten Absatz
wird die Möglichkeit der falschen Vorstellung überhaupt bestritten,
im zweiten als Verwechslung von Vorstellung und Wahrnehmung, im
dritten als die von Vorstellungen unter einander zugegeben, d. ἢ.
die richtige Vorstellung kann nicht mit der Erkenntnis identisch sein,
weil damit die Möglichkeit des Irrthums, die sich doch erweisen lässt,
ausgeschlossen wäre. Dann liefert nun aber der eben besprochene
Schluss auch die Unterscheidungsmomente. Das Wissen schlielst den
Irrthum, die richtige Vorstellung dagegen nicht die falsche aus, beim
Wissen gibt es keinen Unterschied des Besitzens und Gebrauchens,
sondern nur ein Haben oder Nichthaben, die Vorstellung ist endlich
eben deshalb im steten Werden, das Wissen beharrt im festen Sein.
Eben deshalb ist das Wesen der falschen Vorstellung nur andeu-
tend und gleichnisweise bezeichnet, und Platon selbst verspottet die
Unzulänglichkeit solcher materiellen Gleichnisse als eines blolsen Noth-
behelfs, p. 200 B. Indem sich nun aber die Beweisführung den An-
schein gibt, als seien nicht einmal solche Andeutungen gefunden, so
wird scheinbar noch einmal bewiesen, dass die richtige Vor-
stellung noch nicht Erkenntnis sein könne, weil die öffentlichen Red-
ner wohl die erstere, aber unmöglich die letztere einzuflöfsen ver-
mögen. In Wahrheit ist dies nur wieder eine Anwendung aufs
praktische Leben, ein ergänzendes Seitenstück zu jener Ent-
gegenstellung des Philosophen und des Staatsmannes im ersten Ab-
schnitt. Dort, wo der Abstand von der Wahrheit noch grölser war,
trat nur der Tadel gegen den letzteren hervor, hier, wo die Betrach-
tung sich bereits weit höher emporgeschwungen hat, wird derselbe
durch die bedingte Anerkennung gemildert.“
Hiergegen habe ich zu bemerken:
Erstens. Platon unterscheidet auf das bestimmteste den
Abschnitt 200 D—201 C von der ganzen bisherigen, als miss-
76 THEÄTETOoSs.
lungen bezeichneten Untersuchung über Wesen und Entstehung
des Irrthums. Wollen wir also, was jedenfalls des Auslegers
erste Pflicht ist, den Weisungen des Schriftstellers selbst, vollends
so stark markirten, folgen, so dürfen wir nicht in dem Abschnitte
200 D— 201 C einen integrirenden Theil oder einen nebensäch-
lichen Anhang des dritten Abschnittes der Untersuchung über
den Irrthum sehen wollen. Und wenn wirklich die Untersuchung
über Wesen und Entstehung des Irrthums zu einem, jedenfalls
indirecten, Beweise für den Unterschied von Vorstellung und
Wissen wird, worauf ich nachher (vgl. 8.83 δ.) eingehen werde,
so wird in dem fraglichen Abschnitte 200 D—201 E diese Un-
terscheidung nicht blofs „scheinbar noch einmal bewiesen“,
sondern es wird ein Beweis aus einem, von der ganzen bisheri-
gen Untersuchung verschiedenen Gesichtspuncte gegeben.
Dass der fragliche Abschnitt „eine Anwendung aufs praktische
Leben sei“, vermag ich in demselben durch keinerlei mit Platons
Worten vereinbarer Deutung zu finden; vielmehr auf eine als
anerkannt vorausgesetzte Thatsache der Erfahrung beruft sich
Platon, um an ihr den Unterschied von Vorstellung und Wissen
als einen zweifellos anerkannten aufzuzeigen.
Zweitens. Dass der Schluss des zweiten Abschnittes nicht
195 B, sondern 196 D zu setzen ist, beweist der Inhalt eben so
wohl als die Form der Darstellung. Durch die Unterscheidung
der Wahrnehmung von ihrer Aufbewahrung im Gedächtnisse
scheint eine Erklärung der falschen Vorstellung erreicht zu sein,
195 B; die Nachweisung nun, dass diese Erklärung bei weitem
nicht ausreicht, sondern den umfassendsten und wichtigsten Be-
reich des Irrthums unberührt lässt, gehört, als die begrenzende
Kritik dieses Erklärungsversuches, noch seiner Discussion an,
nicht der Darlegung des neuen Versuches, der eben wegen der
erkannten Mangelhaftigkeit des vorigen unternommen wird. Auf
diese durch den Inhalt gegebene Gliederung macht Platon über-
dies hinlänglich aufmerksam; denn der folgende Erklärungsver-
such wird als ein neuer nicht nur durch das πάντα γὰρ τολμη-
τέον 196 D angekündigt, sondern noch durch einige dem Über-
gange dienende, an das Scherzhafte streifende Bemerkungen
196 D— 197 A von dem vorigen abgeschieden.
Drittens. Dass „im ersten Absatz die Möglichkeit der fal-
909
THEÄTEToS. 77
schen Vorstellung überhaupt bestritten, im zweiten als Verwechs-
lung von Vorstellung und Wahrnehmung, im dritten als die von
Vorstellungen unter einander zugegeben werde“, kann ich als
richtige Wiedergabe des Inhaltes dieser Abschnitte nicht aner-
kennen. Platon scheint mir durch die Formulirung, welche er
der Frage über die falsche Vorstellung gibt: τί ποτ᾽ ἐστὶ τοῦτο
τὸ πάϑος παρ᾽ npiv χαὶ τίνα τρόπον ἐγγιγνόμενον 187D, schon
den Gang der Untersuchung zu bezeichnen. Denn thatsächlich
unternimmt er in dem ersten Abschnitte das Wesen des Irrthums
zu bestimmen, in dem zweiten und dritten eine Erklärung seiner
Entstehung zu geben. Der Versuch einer Begriffsbestimmung
des Irrthums misslingt, indem er jedesmal, unter verschiedenen
Formen des Ausdruckes, auf einen inneren Widerspruch führt.
Die Versuche, die Entstehung des Irrthums zu erklären, haben
Erfolg nur für ein eng begrenztes Gebiet, nämlich das der Be-
ziehung der gegenwärtigen Wahrnehmung zu Gedächtnisbildern ;
für das übrige weite Gebiet der falschen Vorstellung werden sie
als erfolglos mit solcher Klarheit und Bestimmtheit nachgewiesen,
dass ich zu der gegentheiligen Inhaltsangabe Susemihls, sie wür-
den „zugegeben“, in den Platonischen Worten einen Anlass
nicht zu finden vermag.
5. Der dritte Haupttheil wird in einer merklich ande-
ren Weise eingeleitet als die beiden vorhergehenden. In den
beiden ersten stellt der Mitunterredner 'Theätetos selbst eine
Definition des Wissens auf; diese Aufstellung gibt in dem ersten
Falle den Anlass, auf andere damit im wesentlichen überein-
stimmende Philosopheme einzugehen, nach deren Kritik erst die
Prüfung der Definition selbst folgt; im zweiten Falle gibt die
Definition den Anlass, eine mit ihr im Zusammenhang stehende,
damals viel discutirte Frage zu behandeln, nach deren Abschlusse
dann wiederum die 'Theätetische Definition selbst zur Erwägung
kommt. In diesem dritten Theile nun wird die neue Definition
selbst nicht als des 'Theätetos eigener Gedanke bezeichnet, son-
dern als ein von einem andern aufgestellter Satz. Die fremde
Definition des Wissens 415... δόξα ἀληϑὴς μετὰ λόγου“ wird nun
— und hierin ist der Gang des dritten Haupttheiles dem in den
vorigen eingeschlagenen gleichartig — zunächst speciell nach
demjenigen Sinne kritisirt, in welchem sie aufgestellt ist, sodann
78 THEÄTETOoS.
wird sie allgemein, ohne Beschränkung auf die vom Urheber ihr
gegebene specielle Bedeutung, gewürdigt. Die Scheidung dieser
beiden Abschnitte, in welche der dritte Haupttheil zunächst zer-
fällt, ist durch 206 © deutlich bezeichnet; denn nachdem die
inneren Widersprüche in der behaupteten Definition und ihr
Widerspruch gegen denjenigen Gang, den das Wissen auf jedem
Gebiete wirklich nimmt, aufgezeigt ist, heilst es: „doch hierüber
liefsen sich, wie uns scheint, auch noch andere Beweise vor-
bringen; lass uns aber darüber nicht vergessen die aufgestellte
Definition selbst in Betracht zu ziehen, was man denn eigent-
lich darunter versteht, wenn man richtige Vorstellung mit Er-
klärung für vollendetes Wissen hält4%).“ Wenn gleich minder
umständlich als in den meisten ähnlichen Fällen unseres Dia-
logs ist doch hiermit völlig bestimmt der Abschluss der vorher- 310
gehenden Gedankenreihe, zu der man es ablehnt noch weiteres,
sich reichlich darbietendes hinzuzufügen, und die Ankündigung
les nunmehr folgenden als eines neuen Gegenstandes gegeben.
Die weitere Gliederung des zweiten Abschnittes nun ist dadurch
von Platon selbst hervorgehoben, dass er sogleich beim Beginn
dreierlei Auslegung von λόγος als überhaupt möglich ankündigt??)
und nach Besprechung jeder der beiden ersten Auslegungen be-
merkt, man dürfe darum die aufgestellte Definition noch nicht
verwerfen #%), sondern habe zu versuchen, ob sie sich nicht in
der folgenden Weise der Auslegung werde halten lassen.
Bei diesem letzten Haupttheile wird es nicht erforderlich
sein, diejenige Gliederung, die ich darzulegen und zu beweisen
versucht habe, gegenüber der Darstellung Susemihls besonders
zu rechtfertigen, da Susemihl die Gliederung in zwei Abschnitte,
welche ich als die nächste und übergeordnete in diesem "Theile
bezeichnet habe, weder anerkennt noch verwirft, sondern in
seiner Angabe des Gedankenganges den Inhalt des ersten Ab-
4) 206 C: ἀλλὰ δὴ τούτου μὲν ἔτι κἂν ἄλλαι φανεῖεν ἀποδείξεις, ὡς ἐμοὶ
δοχεῖ (vergl. den ähnlichen Abschluss 119 C. Anm. 25), τὸ δὲ προχείμιενον μὴ
ἐπιλαϑώμεϑα δι᾿ αὐτὰ ἰδεῖν, 6 τι δή ποτε καὶ λέγεται τὸ μετὰ δόξης ἀχηϑοῦς λόγον
προσγενόμιενον τὴν τελεωτάτην ἐπιστήμιην γεγονέναι.
4 206 Ὁ: τριῶν γὰρ ἕν τί μοι δοχεῖ λέγειν.
48) 200 E: μιὴ τοίνυν ῥᾳδίως χαταγιγνώσκωμεν τὸ μιηδὲν εἰρηχέναι τὸν
ἀποφηνάμενον ach. --- 2085 Β: A μήπω κατηγορῶνμιεν κτλ.
311
THEÄTETOoSs. 79
schnittes 201 E—206 B geradezu in das zweite Glied des zweiten
Abschnittes 207 A— 208 B einfügt, als ob es dorthin gehöre
und einen integrirenden Theil desselben bilde). Eine solche
Umstellung kann nicht den Anspruch machen, für treue Re-
production des von Platon selbst beabsichtigten Gedankenganges
zu gelten, und stimmt wenig zu- dem Lobe, das dem künstle-
risch gestaltenden Talente dieses Schriftstellers auch von Suse-
mihl überall gespendet wird.
6. Wenn im vorherigen die Gliederung des Dialogs in der
von mir bezeichneten Art wirklich erwiesen ist, so wird die Frage
nach dem einheitlichen Zwecke und dem Ergebnisse
des Dialogs kaum einer ausführlichen Discussion bedürfen.
Sogleich nach dem Abschlusse der Einleitung und der kur-
zen Vorbereitung des Gespräches wird die Frage „Was ist
Wissen?“ als Gegenstand der Untersuchung aufgestellt: die
Frage wird durch den ganzen Dialog hindurch festgehalten, so
dass, von sonstigen Erinnerungen an dieselbe abgesehen 5°), bei
jedem Übergange zu einem neuen Haupttheile und am Schlusse
des Ganzen!) das Thema ausdrücklich vergegenwärtigt wird.
Die Behandlung der Frage nach dem Wesen des Wissens in
dem vorliegenden Dialog ist eine negative und kritische®?);
es werden Definitionen aufgestellt, die sich als unhaltbar erwei-
sen, und es werden zugleich Philosopheme früherer und dem
Platon gleichzeitiger Denker, die mit den aufgestellten Defini-
49) In gleicher Weise verfährt auch schon Stallbaum in den Prolego-
menen seiner Ausgabe $. 27 f. Die specielle Abhandlung Stallbaums: „De
argumento et artificio Theaeteti Platonici (Lips. 1838)“ ist mir nur aus An-
führungen bekannt.
50) 163 A. 196 Ὁ.
51) 151 D. 187 B. 200 1). 201 1). 210 A. B.
52) Diese Auffassung ist im Einklange mit Brandis, Gesch. II, 1, S.192:
„Im Theätetos wird die Frage nach dem Begriffe des Wissens dialektisch-
polemisch durch Beseitigung der damals herrschenden entweder durchaus sen-
sualistischen oder doch unklaren und ungenügenden Annahmen erörtert,“
und mit Zeller, Philos. ἃ. Griechen 3. Aufl. II, 1. 5. 492 ff. Auch mit
Schleiermacher dürfte dieselbe im wesentlichen zusammentreffen ; da in
seiner Einleitung die Bezeichnung des einheitlichen Zweckes und Ergeb-
nisses dieses Dialogs nicht präcis formulirt ist, so ist die Möglichkeit ge-
blieben, ihn anders zu verstehen. — Gegen diese Auffassung erklärt sich
Ribbing I. S. 153 ff.
80 THEÄTETOoS.
tionen in wesentlichem Zusammenhange stehen, der Kritik un-
terworfen. Diese beiden Seiten der Behandlung der Frage stehen
in vollem Einklang zu einander; denn zur Erörterung dessen,
was das Wissen nicht ist, liegt ein hauptsächlicher Anlass darin,
dass die zurückgewiesenen Definitionen entweder in den gewöhn-
lichen Ansichten oder bei bestimmten Philosophen Geltung haben.
Aber so wesentlich verwandt die beiden Seiten der Behandlung
sind, so sind dieselben doch nicht in einander gemischt, sondern
durch den ganzen Dialog hindurch streng und klar unterschieden.
Um sich von der Bestimmtheit dieser Unterscheidung in der
Durchführung zu überzeugen, kann man’ versuchen diejenigen
Abschnitte an einander zu reihen, in denen die successiv auf-
gestellten Definitionen selbst behandelt werden, also dass man
auf 151 E sogleich folgen lässt 184 B— 187 C, 200 E— 201 1),
206 C—210, und man wird einen lückenlosen Zusammenhang
des Gedankenganges finden. Die Wahrnehmung hat nicht An-
spruch darauf für Wissen zu gelten, denn die Aussage des
Seins wird nicht durch die Sinneseindrücke gegeben, sondern ist
ein Ergebnis der reinen Thätigkeit des Denkens. Dass aber
auch die richtige Vorstellung noch nicht Wissen ist, lehrt augen-
scheinlich die Erfahrung in zahlreichen Fällen, wo durch. die 312
Mittel der Redekunst eine Versammlung zu richtiger Ansicht
über einen Gegenstand geführt wird, ohne dass eine wirkliche
Einsicht und ein Wissen möglich wäre. Endlich die zur riehti-
gen Vorstellung hinzukommende Erklärung fügt, was man auch
unter Erklärung verstehen möge, derselben nichts Wesentliches
hinzu, das sie über die Natur der Vorstellung erheben und ihr
den Charakter des Wissens geben könnte.
Der widerlegenden Erörterung jeder Definition geht eine
Kritik von Philosophemen voraus, die mit der betreffenden De-
finition im wesentlichen zusammenfallen, oder eine Discussion
von Fragen, die mit derselben in genauem innerem Zusammen-
hange stehen. So geht der Widerlegung der Definition, welche
das Wissen in der Wahrnehmung findet, die Kritik der Prota-
goreischen und Herakleitischen Sätze voraus, nachdem zunächst
deren Zusammenhang mit dieser Definition nachgewiesen ist
(152 A— 160 D), auf welchen, zur Begründung für die Vor-
nahme dieser Kritik, auch im weiteren Verlaufe noch mehrmals
THEÄTETOS. 81
hingewiesen wird53). Die Kritik der Protagoreischen Lehre
führt dazu, den Satz des Protagoras auf das Gebiet seiner Gil-
tigkeit zu beschränken; die subjective und unabweisbare Natur
der Sinneseindrücke als solcher ist unbestreitbar, und insoweit
ist der Satz des Protagoras wahr; aber er führt in Widersprüche
mit sich selbst und mit der unleugbaren Natur der Dinge, so-
bald er über diese Grenze hinaus auf Vorstellungen, Ansichten,
Meinungen überhaupt ausgedehnt wird). Die Herakleitische
Lehre aber hebt durch die Voraussetzung des unbedingten Wer-
dens sogar die Möglichkeit der Wahrnehmung auf; dass unter
dieser Voraussetzung noch weniger von einem Wissen die Rede
sein kann, würde sich durch Hinzunahme des später ausgespro-
chenen Satzes ergeben, dass man Wahrheit nicht erreichen
81) könne, wenn man nicht das Sein erreicht 53).
Die Discussion der zweiten Definition unterscheidet sich in
zwei beachtenswerthen Puncten von dem bei Behandlung der er-
sten und der dritten Definition eingeschlagenen Gange. Erstens.
Während im ersten und im dritten Haupttheil die Kritik sich
gegen Sätze bestimmter Philosophen richtet, welche im ersten
Haupttheile ausdrücklich genannt, im dritten so deutlich bezeich-
net werden, als dies dem Sokrates konnte in den Mund gelegt
werden, wird hier vielmehr durch Sokrates selbst ein Gegenstand
in die Untersuchung gezogen, der mit der behandelten Aufgabe
und zwar auf diesem Stadium der Lösungsversuche in genauem
Zusammenhange steht. Nur der wahren Vorstellung hat Theä-
tetos zugeschrieben, dass sie Wissen sei, denn es gäbe auch eine
irrige Vorstellung (ἐπειδὴ χαὶ ψευδής ἐστι δόξα p. 187 B). Hiermit
ist allerdings die von Sokrates als ihn viel beschäftigend aufgewor-
3) 163 A: — σχοπῶμεν εἰ ἄρα ἐστὶν ἐπιστήμη τε χαὶ αἴσϑησις ταὐτὸν ἢ
ἕτερον. εἰς γὰρ τοῦτό που πᾶς ὁ λόγος ἡμῖν ἔτεινε, χαὶ τούτου χάριν τὰ πολλὰ
χαὶ ἄτοπα ταῦτα ἐχινήσαμεν. --- 183 A: --- προϑυμιηϑεῖσιν ἀποδεῖξαι ὅτι πάντα
κινεῖται, ἵνα δὴ ἐχείνη ἡ ἀπόχρισις ὀρθὴ φανῇ. vgl. Anm. 9.
5) Die Widerlegung des Protagoras ist begründet auf die Formulirung:
τὸ δοκοῦν ἑκάστῳ τοῦτο καὶ εἶναί φησί που ᾧ δοχεῖ 170 A, die wir nach der
vorausgehenden Einleitung ἐκ τοῦ ἐχείνου λόγου ὡς διὰ βραχυτάτων λάβω-
μεν τὴν ὁμολογίαν als die eigenen Worte des Protagoras zu betrachten haben.
Hingegen in Betreff der Sinneseindrücke heilst es 179 C: περὶ δὲ τὸ παρὸν
ἑχάστῳ πάϑος — — χαλεπώτερον ἑλεῖν ὡς οὐκ ἀλχηϑεῖς vergl. Anm. 7.
55) 180 C: οἷόν τε οὖν ἀληϑείας τυχεῖν, ᾧ μιηδὲ οὐσίας ; --- ᾿Αδύνατον. ---
Bonitz, Platonische Studien. 6
82 THEÄTETOoS.
fene Frage nach dem Wesen und der Entstehung der irrigen
Vorstellung durch die Natur der Sache selbst motivirt. Wenn
wir aber erwägen, dass die Leugnung der Möglichkeit des Iır-
thums (οὐχ ἔστι ψεύδεσθαι) uns wiederholt von Platon als ein in
sophistischen Gefechten damals viel angewendeter Satz erwähnt
wird 5%), ferner dass dieser Satz, mag er uns auch in unseren
Quellen nur in diesem eristischen Gebrauche entgegen treten,
jedenfalls seinen Ursprung in ernstlichen Fragen nach dem We-
sen des Wissens hatte: so wird die Annahme gerechtfertigt er-
scheinen, dass auch dieser, der Untersuchung der irrigen Vor-
stellung gewidmete umfassende Abschnitt zugleich eine kritische
Beziehung zu gewissen verbreiteten Ansichten von Philosophen
und Sophisten habe. Warum Platon diese kritische Beziehung
nicht, wie in den übrigen Fällen, direct und ausdrücklich be-
zeichnet hat, darüber lassen sich verschiedene Vermuthungen
aufstellen, auf welche einzugehen ich unterlasse, da sie sich
schwerlich zu einem ausreichenden Grade von Sicherheit bringen
lassen. — Ungleich bedeutender ist der zweite Unterschied. Die
erkenntnis-theoretischen Sätze des Protagoras, des Herakleitos,
des Antisthenes werden direct widerlegt, und es wird dadurch
festgestellt, was Wissen nicht ist. Den Satz οὐχ ἔστι bevdssdar,
οὐχ ἔστι ψευδὴ δοξάζειν verwirft natürlich Platon eben so bestimmt,
als die oben erwähnten Philosopheme; aber die dem Gegenstande
gewidmete Untersuchung bringt diese Verwerfung keineswegs zu
directem Ausdruck, es hat vielmehr den Anschein, dass sie jenen
Satz begründe. Denn nachdem das Vorhandensein irriger Vor-
stellung als eine unzweifelhafte Thatsache ausgesprochen ist
(ἐπειδὴ χαὶ ψευδής ἐστι δόξα 187 B), wird der Begriff der irrigen
Vorstellung und die Erklärung ihrer Entstehung gesucht. Das er-
stere misslingt gänzlich, das zweite fast gänzlich; das Misslingen
und seine Consequenz ist am schärfsten ausgesprochen am Schlusse
des der Auffindung des Begriffes und des dem ersten Erklärungs-
versuche der Entstehung des Irrthums gewidmeten Abschnittes
190 E: οὔτε γὰρ ταύτῃ οὔτε χατὰ τὰ πρότερα φανήσεται ψευδὴς ἐν ἡμῖν
5) Vgl. Euthyd. 256 C — 287 A. Cratyl. 429 D (Verwandtschaft damit
hat auch die Behauptung der Unmöglichkeit des Lernens Men, 80 D). Zel-
ler, Gr. Phil. 3. Aufl. I. 905. Ribbing, Genet. Darst. I. $. 160.
THEÄTETOoS. 89
οὖσα δόξα, 190 Ὁ : νῦν δὲ ἤτοι οὐχ ἔστι ψευδὴς δόξα, ἢ ἅ τις οἶδεν, οἷόν
τε μὴ εἰδέναι" χαὶ τούτων πότερα αἱρεῖ; Durch solche Erwägungen
wird es nahe gelegt, für den fraglichen Abschnitt eine andere
Auffassung zu suchen, durch welche derselbe für die Kritik der
zweiten Definition vollständigere Bedeutung gewinnt und somit
der Gang der Untersuchung im zweiten Haupttheil dem in
dem ersten und dritten analoger werde. Eine solche Auffassung
lässt sich allerdings finden. Alle Widersprüche, in welche der
Versuch der Definition des Irrthums und die Versuche der Er-
klärung seiner Entstehung verwickeln, kommen auf den einen
Satz zurück, dass es unmöglich ist, ἅ τις olös μὴ εἰδέναι. Es
wird von dem Satze ausgegangen, dass es für Auffassung irgend
eines Objectes keine andere Möglichkeit gebe als Wissen oder
Nichtwissen, ἄλλο γ᾽ οὐδὲν λείπεται περὶ ἕχαστον πλὴν εἰδέναι ἢ
μὴ εἰδέναι 188 A, wodurch stillschweigend δοξάζειν, das ja doch
auch die geistige Auffassung eines Objectes ist, dem εἰδέναι
gleichgestellt wird. Da nun unter dieser Voraussetzung die Er-
klärung des Wesens und der Entstehung des Irrtthums unmög-
lich, der Irrthum aber doch eine unbestreitbare Thatsache ist,
so erweist sich die Voraussetzung als unhaltbar; der Abschnitt
über die ψευδὴς δόξα wird zu einem apagogischen Beweise der
Verschiedenheit von δόξα und ἐπιστήμη; dem dann ein kurzer
directer Beweis, unmittelbar auf eine unbestrittene Thatsache
gegründet, zur Seite gestellt wird”). — Ich verkenne keines-
57) Am präcisesten spricht diese Auffassung Zeller aus Phil. ἃ, Gr.
3. Aufl. 11. 1. 5. 493: „d. h. Wissen und richtige Vorstellung können nicht
dasselbe sein, denn die richtige Vorstellung schliefst die Möglichkeit der
falschen nicht aus, durch’s Wissen dagegen ist diese ausgeschlossen ; die Vor-
stellung kann wahr oder falsch, das Wissen nur wahr sein; man kann nicht
falsch wissen, sondern nur wissen oder nicht wissen.“ Zur Kritik der von
mir bereits in der ersten Auflage dieser Abhandlung in den wesentlichen
Puncten dargelegten Ansicht bemerkt Zeller in der Anmerkung: „...
während mir seine (des Abschnittes über die ψευδὴς δόξα) Bedeutung bei
darin zu liegen scheint, dass gezeigt wird: wenn die δόξα ἀληϑῆς mit der
ἐπιστήμη zusammenfiele, so wäre die δόξα ψευδής unerklärlich, dass also die
von Theätet gegebene Definition der ἐπιστήμη als δόξα ἀληδῆς auf apago-
gischem Wege widerlegt wird. Für diese Auffassung spricht meines Erach-
tens schon die Erwägung, dass unser Abschnitt nur bei ihr mit dem 'Thema
des ganzen Gesprächs in eine innere Verbindung kommt, während er bei
jeder andern als eine unmotivirte und unverhältnismäfsig ausführliche Epi-
6*
94 THEÄTETOS.
wegs, dass der von Platon eingeschlagene Gedankengang, ohne
ihm fremdartige Elemente einzufügen, sich zu einem apagogi-
schen Beweise in dem dargelegten Sinne hätte anwenden lassen,
und dass es berechtigt ist, in einer Darstellung der Platonischen
Lehre vom Wissen diese Consequenz zu ziehen; eben so wenig
ist zu verkennen, dass man durch eine solche Deutung zu einer
fester geschlossenen Fügung der ganzen Untersuchung gelangt.
Dennoch bin ich, wo es sich um Auffassung der Absicht dieses
Dialogs handelt, nicht im Stande mich dieser Combination an-
zuschliefsen. Es fehlt nicht nur jede, auch die leiseste Andeu-
tung Platons, dass dem Misslingen der Versuche diese apagogisch
beweisende Bedeutung gegeben werden solle, sondern der Leser
wird ganz direct zu anderer Auffassung angeleitet. Auf die Mo-
tivirung der Untersuchung des Irrthums ist schon früher (8. 73)
hingewiesen ; sollte der Leser darauf hingeführt werden, dass
darin nicht blofs eine mit der aufgestellten Definition zusammen-
hängende Frage, sondern die Widerlegung dieser Definition selbst
zu sehen sei, so war es gewiss nicht zweckmälsig, das Anstellen
dieser Untersuchung durch Erinnerung an die freie Mulse der wis-
senschaftlichen Forschung zu rechtfertigen oder zu entschuldigen
187 D,E. Ferner, sollte die Untersuchung des Irrthums als apago-
gischer Beweis für den Unterschied von δόξα und ἐπιστήμη verstan-
den werden, so war das ungleich ersichtlicher durch Beschränkung
auf die Definition des Irrthums (188 A—190 ἘΠ) zu erreichen;
die darauf folgenden psychologischen Erklärungsversuche seiner
Entstehung bringen nicht nur dem angeblichen apagogischen
sode den Zusammenhang der Untersuchung über den Begriff der ἐπιστήμη
unterbrich.; und zur Bestätigung dient ihr die ganze weitere Ausführung.
Die Schwierigkeiten, mit denen ihr zufolge die Erklärung der falschen Vor-
stellung zu kämpfen hat, führen sich schlielslich alle auf den Grundwider-
spruch zurück, dass man das, was man weils, zugleich auch wieder nicht
wissen oder mit einem andern verwechseln müsste, vgl.199 C #. 196 C u.a.
Dieser Widerspruch verschwindet aber, sobald man die Voraussetzung (187 C)
aufgibt, dass das Gegenstück der δόξα ψευδῆς, die δόξα ἀληϑῆς, mit dem
Wissen zusammenfalle; denn die richtige Vorstellung kann allerdings (wie
dies Plato auch Meno 97 E, Tim. 51 E sagt) in Irrthum umschlagen , woge-
gen dies seiner Ansicht nach beim Wissen unmöglich ist.“ Was mich auch
bei erneuter Erwägung des Gegenstandes abhält diese Auffassung mir an-
zueignen, ist oben im "Texte bezeichnet.
314
'THEÄTETOS. 35
Beweise keine Verstärkung, sondern beeinträchtigen entschieden
seine Beweiskraft, da ja, wenn auch nur auf eng begrenztem
Gebiet (195 B ff.), die Erklärung der Entstehung des Irrthums
wirklich gelingt. Endlich der Cap. 38 geführte Beweis für den
Unterschied von δόξα und ἐπιστήμη wird durchaus als ein πάλιν
ἐξ ἀρχῆς Aufnehmen der Untersuchung bezeichnet, nicht als die
Hinzufügung eines zweiten Beweises zu einem bereits durchge-
führten ersten. Wir werden also, wenn wir nicht diesen Dialog
überschreiten und Platons ausdrücklichen Weisungen widerspre-
chen wollen, uns darauf beschränken müssen, Absicht und Be-
deutung dieser Untersuchung über den Irrthum in dem zu finden,
was Platon selbst bezeichnet. Die Definition des Wissens als
δόξα ἀληϑής gibt den Anlass, die δόξα ψευδής, welche von dem
Anspruche als Wissen zu gelten ausgeschlossen ist, in ihrem
Wesen und ihrer Entstehung zu erklären, und führt dadurch in
ein Gebiet damals philosophisch und sophistisch viel bewegter
Discussionen. Das Eingehen in dieselben bietet für Platon die
Gelegenheit zu psychologischen Erörterungen, welche darzulegen
für ihn einen Werth an sich haben mochte. Aber es zeigt sich
als unmöglich, zu einem befriedigenden Ergebnisse dieser Unter-
suchungen zu gelangen, bevor das Wesen des Wissens festge-
stellt ist. So wird dann, um kritisch diesem Ziele näher zu
kommen, die zweite Definition der Prüfung unterworfen und als
unhaltbar erwiesen.
Endlich die dritte Definition des Wissens wird zunächst in
einer bestimmten historisch gegebenen Form, in Anlehnung
nämlich an Antisthenes 5S), discutirt, und erst von hier aus zur
allgemeinen Prüfung der Definition an sich fortgeschritten.
Also Kritik der von Platon als unhaltbar verworfenen De-
finitionen des Wissens und derjenigen Philosopheme, in welchen
dieselben unmittelbar oder mittelbar zur Geltung gekommen sind,
58) Die Beziehung auf Antisthenes ist, nach Schleiermachers Be-
merkung in der Einleitung, fast ausnahmslos von den folgenden Erklärern
als sicher anerkannt, und lässt sich auch nach Arist. Met. H 3. 1043b 23
(vergl. meine Anmerk. zu d. St.) schwerlich in Zweifel ziehen. Die Erörte-
rungen von Brandis, Zeller, Schwegler für die Schleiermachersche
Auffassung und die von K. F.Hermann und Steinhart dagegen citirt und
bespricht Susemihl Κ΄. 200 ἢ,
80 THEÄTETOS.
diese blols negative Bedeutung — wendet man ein — soll der
Theätetos haben? Bleibt man nicht durch solche untergeordnete
Annahme oberflächlich an den Worten haften und verkennt die
eigentliche Absicht Platons, der wie in so vielen kleineren,
scheinbar skeptischen Dialogen, Laches, Charmides, Euthy-
phron u. s. w., für den aufmerksamen Leser in die Negation
sogleich die Position mit hineingelegt hat? — Aber man hat
fürs erste kein Recht, die negative Bedeutung des Dialogs, als
sei sie etwas geringes, herabzusetzen. Für eine Philosophie, die
im Conflicte zu anderen, aus der Vergangenheit mit Beifall über-
lieferten oder in der Gegenwart sich ausbreitenden Lehrmei-
nungen sich einen sicheren Boden verschaffen will, ist die
Kritik der entgegengesetzten Überzeugungen keineswegs eine
untergeordnete Aufgabe, sondern das nothwendige Gegenstück
zu der positiven Darlegung der eigenen Lehre. Ferner, die Ver-
gleichung eines Oharmides, Laches u. a. trifft die Sache nicht;
diese Dialoge schliefsen durchweg mit dem Zweifel, nicht mit
der bestimmten Erklärung des sicheren Abschlusses einer Unter-
suchung, und enthalten eine Anleitung zu positiven Ergebnissen
dadurch, dass keineswegs alle im Laufe des Gespräches aufge-
stellten Ansichten eine wirkliche und vollständige Widerlegung
erfahren haben, also es nur gilt, das unerschüttert gelassene in
eigenem Nachdenken zu sammeln. Endlich Platon macht im
Theätetos wiederholt und nachdrücklich darauf aufmerksam, wie
wichtiges schon damit gewonnen sein werde, wenn fest stehe,
was man nicht für Wissen halten dürfe 5°), dass wir diesen
Äufserungen gewiss die Absicht beilegen müssen, die Bedeutung
59) 187 A: ἀλλ᾽ οὔ τι μὴν δὴ τούτου 7’ ἕνεκα ἠρχόμεϑα διαλεγόμενοι, ἵνα
εὕρωμεν τί ποτ᾽ οὐχ ἔστιν ἐπιστήμη, ἀλλὰ τί ἐστιν. ὅμως δὲ τοσοῦτόν 1ε προ-
βεβ 1% 22037 ὥστε μὴ ζητεῖν αὐτὴν ἐν αἰσϑήσει τὸ παράπαν; — 150: -- ἢ
εὑρήσομεν ἐφ᾽ ὃ ἐρχόμεϑα, ἢ ἦττον οἰησόμεϑα εἰδέναι ἃ μιηδαμῇ ἰσμεῖν χαί τοι
οὐκ ἂν εἴη μεμπτὸς Be, ὁ τοιοῦτος. — 187 E: χρεῖττον γάρ που σμιχρὸν
Ύ Ἅ. ἋΔ x « \ , Μ' x »" 4
εὖ ἢ πολὺ μὴ ἱκανῶς περᾶναι. — 210 C: ἐὰν τοίνυν ἄλλων μετὰ ταῦτα ἐγχύμων
ἐπιχειρῇς γίγνεσϑαι, ὦ Θεαίτητε, ἐάν τε γίγνῃ, βελτιόνων Eser πλήρης διὰ τὴν νῦν
͵ ΟΝ \ T +
ἐξέτασιν, ἐάν τε χενὸς ἧς, ἦττον ἔσει βαρὺς τοῖς συνοῦσι zul ἡμερώτερος, σωφρό-
᾿ τ 5
vos οὐχ οἰόμενος εἰδέναι ὃ μιὴ οἴσϑα, womit noch der letzte Theil aus der Be-
schreibung der Sokratischen Mäeutik zu vergleichen ist, 151 C. D, eine Stelle,
die unverkennbar auf ein blo[s negatives Resultat der Untersuchung vorbe-
reitet.
THEÄTETOS. 87
‘gerade der Kritik gegen etwaige Vorwürfe der Inhaltlosigkeit
515’sicher zu stellen. Allerdings werden an ein paar Stellen die
Schranken der blolsen Negation durchbrochen. Man wird nicht
leicht übersehen, dass nach Erklärung der Wahrnehmung als
zusammentreffender Bewegung von Object und Subject die Frage
des Sokrates an 'T'heätetos folgt: „Stimmst du denn dazu bei, dass
das Gute und das Schöne und alles, was wir so eben durch-
gingen, nicht sei sondern stets werde 6%)?“ oder dass nach Ver-
theidigung der Protagoreischen Lehre gegen unhaltbare Angriffe
Sokrates den Theodoros fragt, ob denn in Beziehung auf Sätze
der Mathematik seine, des Fachkundigen, Ansicht nur den-
selben Anspruch auf Giltigkeit habe, wie die eines jeden ande-
ren ἢ. Endlich die Schilderung des Philosophen, dessen Ge-
danken auf die Betrachtung der Gerechtigkeit an sich u. ä.
gerichtet seien, schliefst damit, dass in der Annäherung und
Verähnlichung zu der Reinheit des göttlichen Wesens und der
Erhebung über die sinnliche Natur allein wahre Weisheit und
wahre Tugend enthalten ist®). In allen diesen Äufserungen
60) 157 1): λέγε τοίνυν πάλιν, εἴ σοι ἀρέσχει τὸ pen τι εἶναι ἀλλὰ γίγνεσϑαι
ἀεὶ ἀγαϑὸν χαὶ καλὸν χαὶ πάντα ἃ ἄρτι διῇμεν. An ἀγαϑόν und χαλόν zu
denken, ist im vorausgehenden kein Anlass.
61) 169 A: ἀλλ᾽ ἴϑι, ὦ ἄριστε, ὀλίγον ἐπίσπου, μέχρι τούτου αὐτοῦ ἕως ἂν
εἰδῶμεν εἴτε ἄρα σὲ δεῖ διαγραμμιάτων πέρι μέτρον εἶναι, εἴτε πάντες ὁμοίως
σοὶ ἱχανοὶ ἑαυτοῖς εἴς τε ἀστρονομίαν καὶ τἄλλα ὧν δὴ σὺ πέρι αἰτίαν ἔχεις
διαφέρειν.
62) 175 Ο: εἰς σχέψιν αὐτῆς δικαιοσύνης τε καὶ ἀδιχίας, τί τε ἑχάτερον
αὐτοῖν χαὶ τί τῶν πάντων ἢ ἀλλήλων διαφέρετον; -- 110 Ο: ϑεὸς οὐδαμῇ οὐδα-
μῶς ἄδικος, ἀλλ᾽ ὡς οἷόν τε διχαιότατος, χαὶ οὐχ ἔστιν αὐτῷ ὁμοιότερον οὐδὲν ἢ
ὃς ἂν ἡμῶν αὖ γένηται ὅτι δικαιότατος. περὶ τούτου καὶ ἡ ὡς ἀλχηϑῶς δεινότης
ἀνδρὸς χαὶ οὐδενία τε καὶ ἀνανδρία. ἣ μὲν γὰρ τούτου γνῶσις σοφία χαὶ ἀρετὴ
ἀληϑινή χτὰ. Vgl. über den Zweck dieser Episode Schleiermachers
Einleitung zum Theät. S. 124 f. (3. Aufl.): „Wie fast bei jeder Behandlung
einer einzelnen Frage in diesem Gespräch eine Abschweifung vorkommt, in
welcher gerade auf das wahre und rechte, welches in der Abhandlung nir-
gends hervortritt, deutlich hingewiesen wird; so ist auch in das Ganze selbst
eine grolse Abschweifung gesetzt, welche diese Andeutungen in Masse ent-
hält, für die unmittelbare Fortschreitung des Gespräches aber eine höchst
willkürliche Unterbrechung zu sein scheint, nicht ungezwungener herbeige-
führt und nicht besser in Mals und Zügel gehalten, als jene wohl mit Recht
so sehr getadelte im Phädros, die ganze Stelle nämlich von der letzten Wider-
legung des Protagoreischen Satzes, wo der Unterschied zwischen den Zöglin-
88 THEÄTETOoSs.
liegt eine Hinweisung darauf, dass nach Platons Überzeugung 316
das Wissen ein durchaus anderes Object hat, als Wahrneh-
mung und Vorstellung. Aber diese Andeutungen sind weder
durch den Zusammenhang des Gedankenganges mit Nothwen-
digkeit herbeigeführt, noch werden sie in dem weiteren Verlaufe
der Kritik irgend verwerthet; man hat also, trotz dieser gele-
gentlichen Seitenblicke auf die realen Ideen als Object und In-
halt des Wissens und gerade um der Weise willen, wie diesel-
ben geschehen, kein Recht zu sagen, dass in der negativen
Kritik und durch dieselbe auch eine positive Erklärung über das
Wesen des Wissens im Platonischen Sinne gegeben sei.
Indem die Entscheidung über den einheitlichen Zweck und
das Ergebnis des ganzen Dialogs in strenger Consequenz aus
der vorher dargelegten Gliederung gefolgert ist, so wird die
ausführliche Rechtfertigung jener Gliederung mich wohl der
Verpflichtung überheben, auch in Betreff des Resultates die
abweichenden Urtheile anderer Forscher‘) zur Erwägung zu
ziehen; ich würde dadurch ohnehin genöthigt sein, manches
aus dem vorherigen nur nochmals zu wiederholen.
gen der Philosophie und denen der Rhetorik und ähnlicher Künste gezeich-
net wird, und das Göttliche, Wahre und Gute in seiner eigenthümlichen, der
Beschränktheit auf das Persönliche ganz entgegengesetzten Natur hervortritt.
Und zwar absichtlich scheint diese Abschweifung bald an den Anfang ge-
stellt, damit wenigstens der aufmerksame Leser einen hellen Punct habe,
ermittelt dessen er sich in den verschlungenen Irrgängen des Gespräches
zurecht finden könnte.“
63) Steinhart III, S. 19: „Die wesentliche Aufgabe und üb alle Theile
beherrschende Grundgedanke des Dialogs ist mithin die Nachweisung des
Ganges, auf welchem die Seele durch immer zunehmende Läuterung und
Vergeistigung ihrer Vorstellungen zur Erkenntnis der Wahrheit gelangt, oder
von der künstlerischen Seite aufgefasst, das Bild des werdenden Denkers.“ —
S. 94: „Den Nachweis aber zu geben, wie Wahrnehmung und Vorstellung
sich nach den nothwendigen Gesetzen des Geistes allmählich zum Wissen
fortbilden, das ist eben die Aufgabe unseres Dialogs, der deshalb für die
ganze Geschichte der Philosophie von der grölsten Bedeutung ist.“ — Suse-
mihl billigt diese Auffassung Steinharts, da er ihn denjenigen zurechnet,
„die über die Grundgedanken des Gespräches "am richtigsten geurtheilt
haben“ ($. 208), und gibt dazu selbst S. 207—210 nähere Bestimmungen,
die, von ihrer Richtigkeit ganz abgesehen, schwerlich durchweg zur Klar-
heit zu bringen sind.
248
249
EUTHYDEMONS.
Übersicht des Inhaltes.
In demjenigen Theile des Platonischen Euthydemos, der
den Hauptstamm des ganzen Werkes bildet, betheiligen sich am
Gespräche Sokrates, die beiden Tugend- und Weisheitslehrer
Euthydemos und Dionysodoros, und zwei athenische Jünglinge
von angesehener Geburt, Kleinias und Ktesippos; diese Gruppe
von Sprechenden ist von einem doppelten Kreise von Zuhörern
umgeben, der Schaar von Verehrern des schönen Kleinias und
dem Chor von Anhängern der beiden Sophisten. Wenn in man-
chen Platonischen Dialogen selbst eine noch gröfsere Zahl von
Personen zu thätiger Theilnahme am Gespräche verwendet wird
(z. B. im Protagoras), so unterscheidet sich von ihnen Euthy-
demos darin, dass die Personen nicht nur successiv zu je zwei
Träger des Gespräches sind, sondern selbst durch längere Partien
desselben drei oder vier an dem Gespräche sich gleichmälsig
betheiligen, jede in einer für sie charakteristischen Weise, keine
nur wie der Schatten oder Doppelgänger einer anderen. — Die-
ses Gespräch nun ist umgeben von einem anderen des Sokrates
mit Kriton; diesem seinem Freunde erzählt Sokrates das Ge-
spräch wieder, das er und jene beiden Jünglinge mit den beiden
Sophisten geführt haben. Die Form der Wiedererzählung des
Gespräches erhält dadurch eine in die ganze Composition des
Dialogs tiefer eingreifende Bedeutung, dass das Gespräch mit
Kriton nicht nur die Wiedererzählung einleitet, sondern auch
*) Sitzungsberichte der kaiserl. Akademie der Wiss. Phil. hist, Classe. Bd. 33. 8. 248—
255. (Separatabdruck 5. 4—41.)
90 EuTHYDEMos.
nach Beendigung der Erzählung das Ganze beurtheilend ab-
schliefst und selbst in ihren Verlauf unterbrechend eingreift.
Kriton erkundigt sich bei Sokrates nach den Männern, mit
denen Sokrates am verflossenen Tage im Lykeion ein längeres
Gespräch geführt hat. Die Unterredenden sind von einem so
dichten Kreise von Zuhörern umgeben gewesen, dass Kriton
nichts sicheres hat hören können. Sokrates gibt über die Person
der beiden Sophisten, Euthydemos und Dionysodoros, und über
ihre früheren Beschäftigungen Auskunft. Ihre Weisheit hat dem
Sokrates solche Bewunderung eingeflölst, dass er sich ihnen in
die Lehre geben will und den Kriton auffordert mit ihm daran
Theil zu nehmen. Kriton begehrt vorher das am vorigen Tage
geführte Gespräch zu hören, um daraus zu entnehmen, was sie
denn eigentlich bei jenen Lehrern lernen würden (ec. 1).
Sokrates erzählt zunächst den Anlass des Gespräches. In
dem Lykeion trifft mit Sokrates das Brüderpaar Euthydemos und
Dionysodoros zusammen, begleitet von einer Schaar von Anhän-
gern, dazu eine Anzahl athenischer Jünglinge, welche den
schönen Kleinias bewundernd umgeben; unter den Verehrern
desselben hebt sich Ktesippos hervor. In dem sich anknüpfen-
den Gespräche bezeichnen die beiden Fremden als ihren jetzigen
Beruf den Unterricht in der Tugend; zu der von anderen So-
phisten gleich ihnen gegebenen Versicherung, dass sie die Tu-
gend auf das beste zu lehren verstünden, fügen sie ihrerseits
noch das besondere Versprechen des schnellen Erfolges ihres
Unterrichtes hinzu!). Für das Vorhaben, welches sie aussprechen,
Proben ihrer Künste abzulegen, werden sich, versichert Sokrates,
bereitwillige und eifrige Schüler in Menge finden; schon die
jetzt eben bei dem Gespräche Anwesenden werden alle ohne
Ausnahme den Unterricht dieser neuen Lehrer suchen. Um
durch ihren Unterricht einen Erfolg zu erreichen, erklären die
Sophisten auf des Sokrates Frage, sei es nicht erforderlich, dass 250
der Schüler von der Lehrbarkeit der Tugend und von ihrer, der
Sophisten, Lehrfähigkeit schon überzeugt sei. Die beiden So-
phisten müssen also, schliefst daraus Sokrates unter Zustimmung
. gm: γ 1 » .» " 4 δ
ἡ Euthyd. 273 1): ᾿Αρετήν, ἔφη, ὦ Σώχρατες, οἱἰόμεϑα οἵω τ εἶναι παρα-
δοῦναι χάλλιστ᾽ ἀνθρώπων zul τάχιστα.
25
-
EuTHYDEnMos. 91
der Sophisten, vorzüglich befähigt sein, zum Studium der Weis-
heit und zur Bemühung um Tugend Lust zu erwecken und an-
zueifern. Die Sophisten möchten daher für jetzt nicht von
ihrem Tugendunterricht selbst eine Probe ablegen, da diese ja
doch zu weit führen würde, sondern diese von ihnen ebenfalls
beanspruchte Fähigkeit zeigen, nämlich die, von der Nothwen-
digkeit der Bemühung um Wissenschaft und Tugend zu über-
zeugen. Diese Probe möchten sie an Kleinias ablegen, an dessen
tüchtiger und edler Bildung sehr viel gelegen sei (c. 2—4).
I. (Euthydemos, Dionysodoros, Kleinias.) Auf die Frage
des Euthydemos?) : πότεροί εἰσι τῶν ἀνθρώπων οἱ μανϑάνοντες, οἱ
σοφοὶ ἢ οἱ ἀμαϑεῖς (7), antwortet Kleinias zunächst: οἱ σοφοί,
und wird von Euthydemos widerlegt durch den Grund, dass wer
etwas lernt, das noch nicht weils, was er lernt. Dionysodoros
ergreift sogleich das Wort, um die daraus gefolgerte andere Be-
antwortung der Frage: οἱ ἀμαϑεῖς, zu widerlegen durch Hinwei-
sung auf die I'hatsache, dass in der Schule, wenn der Elementar-
lehrer etwas vorsagt, die Klugen und nicht die Dummen es
lernen. Die so eben behandelte Frage wird von Euthydemos
sofort in die geschärftere Form gebracht: πότερον οἱ μανϑάνοντες
μανϑάνουσιν ἃ ἐπίστανται ἢ ἃ μὴ ἐπίστανται (2); diesmal gibt
Kleinias dem Euthydemos?) die entgegengesetzte Antwort als
vorher, nämlich ἃ οὐχ ἐπίστανται, und wird von Euthydemos wi-
derlegt durch Anwendung des schon von Dionysodoros gebrauch-
ten Beispiels. Wenn der Elementarlehrer etwas vorsagt, so
besteht das Vorgesagte aus Buchstaben; der zuhörende und ler-
nende Schüler kennt alle Buchstaben ; indem er also das Vor-
2) In der Formulirung der einzelnen Sophismen sind die griechischen
Worte dann beibehalten, wenn ihre Übertragung ins Deutsche den Punct,
um den es sich handelt, verdunkeln oder doch sonst eine Erläuterung nö-
thig machen würde.
3) Schon die Durchführung dieser ersten beiden Sophismen ist für die
Haltung des Sophistenpaares und für das Verhältnis des einen zum andern
charakteristisch. Euthydemos gibt den Ton an, Dionysodoros ist gewöhnt
an der richtigen Stelle sicher einzufallen. Bei Fragen, die eine entgegen-
gesetzte Antwort zulassen oder zuzulassen scheinen, vertritt keiner die eine
der beiden entgegengesetzten Antworten, sondern jeder bestreitet die eben
ausgesprochene; also bestreitet Euthydemos in der zweiten Argumentation
das, was er selbst in der ersten erwiesen. hatte, und ebenso Dionysodoros,
92 EUTHYDEMOoS.
gesagte lernt, so lernt er was er bereits weils. Dionysodoros
dagegen macht diesmal die entgegengesetzte Seite geltend, dass
Lernen ein Erwerben, nicht ein Besitz des Wissens ist; die Ler-
nenden lernen also ἃ μὴ &rlstavrar (c. 5—6). !
A. (Sokrates, Kleinias.), Sokrates sucht den Kleinias aus
der Verwirrung, in welche ihn dieses Gefecht gebracht hat, zu
beruhigen durch die Versicherung, dass alles bisherige offenbar
nur ein Spiel war, ausgeführt durch Benützung der Doppelbe-
deutung, in welcher dasselbe Wort μανϑάνειν gebraucht wird, da
es sowohl das erste Erwerben eines Wissens als das Verwenden
eines schon erworbenen Wissens bezeichne. Derlei Fragen seien
ein blofses Spiel, weil man durch sie, und wenn man ihrer
noch so viele verstehe, in der Kenntnis der Dinge selbst nicht
vorwärts gebracht werde, sondern nur seinen Scherz mit den
Unterrednern treiben könne. Die gegebene Zusage, den Kleinias
von der Nothwendigkeit der Bemühung um Wissen und Tugend
zu überzeugen und dadurch zu diesen Beschäftigungen aufzu-
muntern, würden die beiden Sophisten gewiss nachher erfüllen ;
er wolle ihnen durch ein freilich nur aus dem Stegreife ausge-
führtes Beispiel zeigen, wie er sich einen solchen Unterricht
denke (c. 7). Zu diesem Ende führt Sokrates folgenden Ge-
dankengang durch.
Alle Menschen streben nach Glückseligkeit (εὖ πράττειν, εὐδαι-
wovia), also nach dem Besitze zahlreicher Güter. Dahin gehören
Reichthum, Gesundheit, edle Abstammung, Macht und Ehre,
Besonnenheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Weisheit. Das gute
Glück, das richtige Treffen, εὐτυχία ἢ, hat man nicht nöthig in
4) Durch die Anwendung des zwiefachen Ausdruckes in der Übersetzung
von εὐτυχία habe ich der Umbildung der üblichen Bedeutung dieses Wortes,
die Platon hier vornimmt, zu entsprechen gesucht. In dem gewöhnlichen
Sprachgebrauche bezeichnet εὐτυχία das günstige Zusammentreffen von Um-
ständen, die von dem handelnden Subjecte nicht abhängig sind (Men. 99 A:
τὰ γὰρ ἀπὸ τύχης γιγνόμενα οὐχ ἀνϑρωπίνῃ ἡγεμονίᾳ γίγνεται. Arist. Rhet. 1,5.
1361b 39 ff.: εὐτυχία δ᾽ ἐστίν, ὧν ἡ τύχη ἀγαϑῶν αἰτία... ἔστι δὲ χαὶ τῶν
παρὰ λόγον ἀγαϑῶν αἰτία τύχη); für die an der vorliegenden Stelle dem Worte
gegebene Bedeutung, dass es dasjenige Treffen des Richtigen bezeichne, das
von der Einsicht und der verständigen Wahl des Handelnden selbst ab-
hängt, weils ich sichere anderweite Belegstellen nicht beizubringen. Dass
diese Umbildung der Bedeutung als eine ungewöhnliche empfunden wurde,
Pe
EuUTHYDEMOoS. 95
=
die Reihe der Güter mit einzurechnen, denn Einsicht gibt in
jedem einzelnen Falle die Fähigkeit das Richtige zu treffen, also
εὐτυχεῖν. — Die Güter geben uns nun Glückseligkeit nur unter
der Voraussetzung, dass sie uns Nutzen bringen; um uns nützen
zu können reicht es nicht aus, dass wir sie besitzen, sondern es
%2 ist erforderlich, dass wir sie gebrauchen, und zwar, dass wir sie
richtig gebrauchen; denn durch falschen Gebrauch wird der Be-
sitz dessen, was man sonst ein Gut nennt, zu einem grölseren
_ Übel, als der Mangel desselben es sein würde. Der richtige
Gebrauch ist bedingt durch Einsicht, Wissen. Alle übrigen
Güter sind also nicht an sich ein Gut, sondern werden es erst
durch das Vorhandensein der Einsicht; das einzige, was an sich
und schlechthin ein Gut ist, ıst also die Weisheit, und das
einzige unbedingte Übel die Unwissenheit. Dass die Weis-
heit lehrbar ist und nicht von selbst oder durch Zufall den
Menschen zukommt, wird von Kleinias dem Sokrates als eine
ausgemachte Sache zugestanden. Unter dieser Voraussetzung
ergibt sich, da Weisheit das einzige Gut an sich ist, dass man
nichts so eifrig zu erstreben hat als Weisheit.
Hiermit erklärt Sokrates den beiden Sophisten ein Beispiel
des Unterrichtes gegeben zu haben, von dem sie eine Probe ab-
dürfte schon daraus zu folgern sein, dass der Verfasser der Eudemischen
„Ethik 7, 14. 1247b 14 durch ein ausdrückliches Citat der vorliegenden Stelle
darauf Rücksicht nimmt: ἢ χαὶ πᾶσαι ἂν αἱ ἐπιστῆμαι, ὥσπερ ἔφη Σωχράτης,
εὐτυχίαι ἦσαν. Der Platonische Sokrates bezeichnet, wenn ich nicht irre,
das Ungewöhnliche in seiner Anwendung dieses Wortes selbst durch die
stark aufgetragene Zuversichtlichkeit, mit welcher er sie einführt, und durch
die Erwähnung der Verwunderung seines Mitunterredners darüber, ἣ σοφία
δήπου, ἦν δ᾽ ἐγώ, εὐτυχία ἐστί᾽ τοῦτο δὲ κἂν παῖς γνοίη. χαὶ ὃς ἐθαύμα-
σεν" οὕτως ἔτι νέος τε χαὶ εὐήϑης ἐστί. Und ferner sucht er seine Deutung
des Wortes im weiteren Verlaufe dem Sprachgefühle dadurch näher zu brin-
gen, dass er zu εὐτυχεῖν als synonyme Erklärung τυγχάνειν und als Gegen-
satz ἁμαρτάνειν hinzufügt, 280 A: 7) σοφία ἄρα πανταχοῦ εὐτυχεῖν ποιεῖ τοὺς
ἀνθρώπους" οὐ γὰρ δήπου ἁμαρτάνοι γ᾽ ἄν ποτέ τις σοφίᾳ, ἀλλ᾽ ἀνάγκη ὀρϑῶς
πράττειν χαὶ τυγχάνειν. Für zu gewaltsam, so weit uns in solchen Fragen
überhaupt ein Urtheil zusteht, wird man die an dieser Stelle absichtlich vor-
genommene Umdeutung des Wortes nicht. halten, wenn man bedenkt, dass
ἀτυχεῖν bekanntlich nicht nur bedeutet “unglücklich sein’, sondern auch
‘einen bestimmten Zweck verfehlen’, Arist. Nub. 427: λέγε νῦν ἡμῖν 6 τι σοι
δρῶμεν, ϑαρρῶν, ὡς οὐκ ἀτυγήσεις. Xen. Cyrop. 1, 3, 14: χαὶ ἄλλα ὁπόσα ἂν
βούλῃ λέγων πρὸς ἐμὲ οὐκ ἀτυχήσεις. Her. 9, 111 u.a.
94 EUTHYDEMOoS.
legen sollten, des Unterrichtes nämlich, der, von der Nothwen-
digkeit der Erwerbung von Wissen überzeugend, zu dieser Be-
schäftigung ermuntert. Sie möchten nun auf diesem Wege fort-
fahren und dem Jüngling nachweisen, ob der ganze Bereich des
Wissens Gegenstand der Beschäftigung sein müsse, oder ob es
ein bestimmtes einzelnes Gebiet des Wissens gebe, von dessen
Erwerbung die Glückseligkeit abhänge (c. 7—10).
II. (Euthydemos, Dionysodoros, Sokrates, Ktesippos.) Wenn
ihr wünscht, beginnt Dionysodoros, dass Kleinias weise werde,
was er jetzt nicht ist, so wünscht ihr seinen Untergang, denn ὃς
μὲν οὐχ ἔστι, βούλεσϑε αὐτὸν γενέσϑαι, ὃς δ᾽ ἔστι νῦν, μηχέτι εἶναι (3):
Aufgeregt hierdurch wirft Ktesippos dem Dionysodoros Lüge vor;
doch Euthydemos entgegnet mit der Erklärung, dass Lüge, Un-
wahrheit, Irrthum unmöglich ist: οὐχ οἷόν τε ψεύδεσθαι (4); denn
wer etwas sagt, der sagt kein anderes der seienden Dinge als
jenes, welches er eben sagt, mithin ein Seiendes, also die Wahr-
heit. Dem Einwande des Ktesippos, dass doch in dem vorlie-
genden Falle sie nicht das Seiende sagen, stellt Euthydemos
den Satz entgegen, dass man das Nichtseiende nicht sagen
könne (5). Denn am Nichtseienden lässt sich keinerlei Thätig-
keit vornehmen, also auch nicht die des Sagens. Aber, ent-
gegnet Ktesippos, Dionysodoros sagt zwar τὰ ὄντα, οὐ μέντοι ὡς
ἔχει. Der Bemühung des Dionysodoros nachsuweisen, dass es
unmöglich sei λέγειν τὰ ὄντα ὡς ἔχει (6), setzt Ktesippos, die von
Dionysodoros angewendeten Künste sogleich selbst anwendend,
entgegen, dass es sich allerdings gehöre τοὺς χαχοὺς χαχῶς, τοὺς
ψυχροὺς ψυχρῶς λέγειν. Den hiemit beginnenden Ton des hefti-
gen Zankes sucht Sokrates durch scherzende Worte zu beseitigen,
die mit der Bitte an Dionysodoros schlielsen, Dionysodoros möge
es nicht sogleich für eine Schmähung halten, wenn Ktesippos
einem Satze von ihm widerspreche. Aber, entgegnet Dionyso-
doros, es ist überhaupt nicht möglich zu widersprechen (7).
Denn es gibt nur folgende Möglichkeiten: ἀμφότεροι λέγουσι τὸν
τοῦ πράγματος λόγον, οὐδέτερος λέγει τὸν τοῦ πράγματος λόγον, ὁ
μὲν ἕτερος λέγει τὸν τοῦ πράγματος λόγον 0 δὲ ἕτερος ἄλλον ἄλλου
πράγματος: in keinem dieser Fälle aber findet ein Widerspruch
des einen gegen den anderen statt. An die Stelle des hierüber
für den Augenblick verstummenden Ktesippos eintretend erinnert
EUTHYDEMOoS. 95
Sokrates daran, dass dieser Satz mit dem Protagoreischen von
der Unmöglichkeit des Irrthums zusammenfalle. Indem die So-
phisten diesen anerkennen, benehmen sie sich zugleich, wie
Sokrates ihnen nachweist, die Möglichkeit irgend jemand zu
widerlegen, und es ist nicht zu begreifen, wie sie unter solchen
Voraussetzungen sich als Lehrer von irgend etwas darstellen
können, was sie ja doch durch ihre anfängliche Zusage gethan
haben. An diesen vor längerer Zeit gethanen Ausspruch erin-
nert zu werden, lehnt Dionysodoros ab und verlangt vielmehr,
Sokrates solle mit dem, was eben gegenwärtig gesagt werde,
etwas anzufangen verstehen. Aber mit diesen Sätzen etwas an-
fangen kann doch nichts anderes bedeuten, als ihre Widerlegung
unternehmen; widerlegen ist vorher als unmöglich nachgewiesen,
also fragt Sokrates τί νοεῖ τοῦτο τὸ ῥῆμα; (8). Diesen Ausdruck
des Sokrates unternimmt zwar Dionysodoros durch die Frage:
πότερον ψυχὴν ἔχοντα νοεῖ τὰ νοοῦντα N χαὶ τὰ ἄψυχα; als verkehrt
nachzuweisen; aber schon die blofse Absicht der Widerlegung
wird von Sokrates zurückgeschlagen durch die Hinweisung darauf,
dass Irrthum als unmöglich anerkannt ist, also dem Sokrates
nicht kann nachgewiesen werden. Das Wiedereintreten des
Ktesippos in das Gespräch nach dieser augenscheinlichen Nie-
derlage der Sophisten droht von neuem das Ganze in die Hef-
tigkeit eines Gezänkes ausgehen zu lassen, darum tritt nochmals
Sokrates beruhigend ein. Alles bisherige sei nur Scherz der
trefflichen Männer gewesen, die proteusartig alle möglichen Ge-
34 stalten annähmen. Man dürfe aber nicht ablassen, bis sie sich
in ihrer wahren Gestalt zeigen würden. Um sie dazu zu be-
stimmen, will Sokrates ihnen noch ein Beispiel des von ihnen
erwarteten Unterrichtes geben (c. 11—16).
B. (Sokrates, Kleinias, Kriton.) Sokrates knüpft das Ge-
spräch mit Kleinias genau an dem Puncte an, bis zu welchem
er vorher den Jüngling geführt hatte. Dass man Wissen er-
streben muss, ist vorher erwiesen ; es ist aber nur ein solches
Wissen unbedingt erstrebenswerth, das uns Nutzen bringt, also,
folgert Sokrates weiter, ein solches, bei welchem das Hervor-
bringen seines Gegenstandes mit der Einsicht in seinen richtigen
Gebrauch zusammenfällt. Weder die Kunst des Redenschreibers
noch die des Feldherrn fallen unter diesen Begriff; denn sie
96 EUTHYDEMOS.
müssen die Ergebnisse ihrer 'Thätigkeit einer von ihnen ver-
schiedenen Kunst zur Verwendung übergeben. Das Treffende
der Antworten des Kleinias, der sich nicht mehr auf die blofse
Beistimmung zu den Fragen des Sokrates beschränkt, sondern
in der eingeschlagenen Richtung auf eigenen Fülsen weiter
schreitet, veranlasst den die Erzählung anhörenden Kriton zum
Ausdrucke der Verwunderung. Den übrigen Theil seiner Unter-
redung mit Kleinias gibt hierauf Sokrates nicht in der vorher
eingehaltenen Vollständigkeit wieder, sondern bezeichnet nur in
einem mit Kriton fortgesetzten Gespräche die Hauptpunete des
Ganges und des Ergebnisses. Als diejenige geistige Thätigkeit,
bei welcher das Hervorbringen des Gegenstandes mit der Ein-
sicht in seinen Gebrauch zusammenfalle, habe sich ihnen die
mit der Staatskunst identische königliche Kunst dargestellt. Aber
die weitere Forschung über das Wesen der königlichen Kunst
habe zu keinem Ergebnisse geführt; denn die königliche Kunst
müsse, sofern sie ihrer Aufgabe entsprechen solle, ein Gut
schaffen; ein Gut an sich sei nur das Wissen; die königliche
Kunst müsse also ein Wissen hervorbringen, aber nach den
früheren Ergebnissen dürfe, was sie hervorbringe, nicht jedes
beliebige Wissen sein, sondern es müsse nur ein ihr selbst glei-
ches Wissen sein. Indem so als Thätigkeit dieser königlichen
Kunst sich ergibt, dass sie keine andere Wissenschaft aufser
sich selbst mittheilt, so ist für den Inhalt dieses Wissens keine
Bestimmung gewonnen). In dieser Noth, erzählt Sokrates,
habe er sich an die Weisheitslehrer zurückgewendet, dass sie
nachweisen möchten, welches denn die Wissenschaft sei, durch
deren Erwerb wir das übrige Leben glücklich verleben würden
17-197.
5) Der Gedankengang, durch den dies bewiesen wird, ist in folgenden
Worten des Dialogs bezeichnet 292 A—D: — ὠφέλιμον αὐτὴν δεῖ εἶναι
(τὴν βασιλικὴν τέχνην). --- Οὐχοῦν ἀγαϑόν γέ τι δεῖ ἡμῖν αὐτὴν παραδιδόναι; ---
7 \ ἢ" >, a e a , ΟῚ if vw Ἅ A #
Αγαϑὸν δέ γέ που ὡμολογήσαμεν — οὐδὲν εἶναι ἄλλο ἢ ἐπιστήμην τινά. —
Οὐκοῦν — — ἔδει σοφοὺς ποιεῖν χαὶ ἐπιστήμης μεταδιδόναι. — ᾿Αλλὰ τίνα δὴ
r - x » N Sm ᾿Ν» x
ἐπιστήμην, ἢ τί χρησόμεϑα; τῶν μὲν γὰρ ἔργων οὐδενὸς δεῖ αὐτὴν δημιουργὸν
εἶναι τῶν μήτε χαχῶν μήτε ἀγαϑῶν, ἐπιστήμην δὲ παραδιδόναι μηδεμίαν
ἄλλην ἢ αὐτὴν ἑαυτήν.
255
EUTHYDEMoSs. 97
II. (Buthydemos, Dionysodoros, Sokrates, Ktesippos.) Auf
die Frage des Euthydemos, ob Sokrates es vorziehe, in der frag-
lichen Kunst unterwiesen zu werden, oder erwiesen zu sehen,
dass er sie bereits besitze, wählt Sokrates das letztere. Euthy-
demos erfüllt die gegebene Zusage, indem er erweist, dass, wer
irgend etwas weils, alles weils (9) ; denn wer irgend etwas weils,
ist ein Wissender; es kann niemand zugleich das Gegentheil
von dem sein, was er ist, also nicht zugleich Wissender und
Nichtwissender ; also wer Wissender ist, ist in keiner Hinsicht
Nichtwissender, weils mithin alles. Der Erfahrungsprobe in
einer Kleinigkeit, welche Ktesippos erfordert, indem er zugleich
verspricht den Sophisten sodann alles glauben zu wollen, ent-
ziehen sich dieselben hartnäckig; dagegen sind sie kühn, alle
einzelnen Consequenzen über den Umfang ihres Wissens, die
Ktesippos ihnen entgegenhält, zuzugestehen. Die Frage des
Sokrates, ob Euthydemos diesen absoluten Umfang des Wissens
auch immer besessen habe, selbst vor seiner Geburt, bejaht
Euthydemos nicht allein, sondern übernimmt es auch dem So-
krates zu erweisen, dass dieser immer alles gewusst habe. Denn
wer etwas weils, der hat dieses Wissen durch irgend etwas
(irgend ein Organ des Wissens), und zwar weils er immer alles
durch dasselbe Organ, also weils er immer alles (720). So ge-
zwungen immer alles zu wissen, fragt Sokrates den Dionysodo-
r0S: „Weils ich auch derlei Dinge, wie z. B., dass die guten
Männer ungerecht sind!“ Dem Dionysodoros bringt das unbe-
dachte Bejahen dieser Frage einen Verweis von seinem Genossen
und eigenes Erröthen. Die Sophisten haben, um aus der
Schlinge, in welcher sie selbst sich gefangen haben, wenigstens
scheinbar zu entkommen, kein anderes Mittel, als dass sie dem
Sokrates Antwort auf seine Fragen unbedingt verweigern und
36 von ihm nur verlangen, dass er ihnen auf ihre Fragen Rede
stehe. Durch Anwendung dieses Gewaltmittels und unter Be-
nützung der zufälligen Anknüpfungspuncte, die ein Wort dar-
bietet, reihen sie ein Kunststück der Verdrehung an das andere;
es lässt sich daher in einem Auszuge nicht wohl der Kitt be-
zeichnen, welcher die einzelnen Sätze an einander bindet, son-
dern nur eine Übersicht der Sophismen selbst geben. Sophro-
niskos, des Sokrates Vater, ist verschieden von Charidemos;
Bonitz, Platonische Studien. 7
98 EuUTHYDEMoS.
Charidemos ist Vater; Sophroniskos ist also verschieden von
einem Vater, also nicht Vater (771), ὃ ἕτερος πατρός τινος οὐχ ἔστι
πατήρ. Umgekehrt, wer Vater von irgend jemand ist, ist Vater,
kann also schlechterdings nicht Nicht-Vater sein, ist also Vater
von allen (72). — Der Hund ist dein; der Hund ist Vater; also
der Hund ist dein Vater (73). — Kein Mensch bedarf einer
Menge von Gütern; denn Heilmittel, Arzneien sind (für die
Kranken nämlich) ein Gut; man braucht Arzneien nicht in
grolser Fülle; also niemand bedarf einer grolsen Fülle von
Gütern (74). Die Behandlung dieses Satzes gibt dem Ktesippos
zufälligen Anlass, das Sophisma 78 mit einem ebenbürtigen
Spalse zu parodiren, indem er die Skythen aus ihren eigenen
Schädeln (d. h. den in ihrem Besitze befindlichen Schädeln von
getödteten Feinden) trinken lässt. — Sehen wir τὰ δυνατὰ δρᾶν
7 τὰ ἀδύνατα (15)? Der Antwort: τὰ δυνατά, wird entgegengehal-
ten, dass wir ja doch das Kleid sehen, und dies ist ἀδύνατον
ὁρᾶν. Ist es möglich σιγῶντα λέγειν (16), λέγοντα σιγᾶν (17)? Der
verneinenden Antwort wird entgegengehalten, dass wir doch auch
λέγομεν τὰ σιγῶντα und σιγῶμεν τὰ λέγοντα. --- Es ist unmöglich,
dass ein einzelner schöner Gegenstand, verschieden von dem
Schönen an sich, schön sei durch die παρουσία des Schönen an
sich (758); denn daraus würde folgen, dass jemand durch die
Anwesenheit eines Ochsen selbst zum Ochsen werde. Sokrates
erwidert diesen Beweis, indem er den Dionysodoros durch Ge-
brauch desselben Wortes ἕτερον für jedes der beiden einander
entgegengesetzten Glieder verstrickt; ein Mittel, welches Sokra-
tes selbst in dieser Wiedererzählung an Kriton als Nachahmung
der von den Sophisten geübten Künste bezeichnet‘). — Ἄρα 37
προσήχει τὸν μάγειρον χαταχόπτειν χαὶ ἐχδέρειν (19); Aus der Be-
jahung der Frage wird gefolgert, dass der recht handelt, welcher
χαταχύπτει um ἐχδέρει τὸν μάγειρον. — Mit den dir angehörigen
Thieren steht es dir frei zu thun nach Belieben, sie zu verkau-
6) Sokrates sagt selbst 301 B: ἤδη δὲ τοῖν ἀνδροῖν τὴν σοφίαν ἐπεχείρουν
σιμεῖσϑαι, ἅτε ἐπιϑυμῶν αὐτῆς. Hiernach ist die Behauptung Susemihls
zu beschränken $. 141: „es fällt ihm (dem Ktesippos) nur die Rolle anheim,
die Sophisten mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen, da dieselbe für den
Sokrates selbst nicht würdig genug ist;“ denn in dieser Allgemein-
heit ausgesprochen ist sie nicht richtig.
ΕΠΤΗΥΘΕΜΟΒ. 99
fen, zu verschenken, zu schlachten. 'T'hiere heilsen alle leben-
den Wesen. Apollon ist dein. Apollon ist ein lebendes Wesen,
also Apollon ist σὸν ζῷον, und du darfst ihn verkaufen, ver-
schenken, schlachten (20). — Der Ausruf des Staunens von
Ktesippos: Πύππαξ, ὦ ᾿ Ηράχλεις, führt noch die Frage des Dio-
nysodoros herbei, ob Pyppax Herakles, oder Herakles Pyppax
561 (27).
Der Sturm des Gelächters, erzählt Sokrates, habe hier dem
Gespräche ein Ende gemacht, und er selbst habe, von der wun-
derbaren Weisheit der Männer bewältigt, sich zu ihrem Lobe
und Preise gewendet. Er preist aber an ihrer Weisheit beson-
ders dreierlei: dass sie sich um die Meinung der Menge nicht
kümmern, denn die Menge würde es vorziehen, mit solchen
Reden sich widerlegen zu lassen, als selbst andere zu widerle-
gen; dass sie durch ihre Sätze, welche die Verbindung eines
Prädicates mit einem Subjecte unmöglich machen, nicht nur ande-
ren, sondern auch sich selbst den Mund verschlielsen, und dass
ihre Weisheit sich in so kurzer Zeit aneignen lasse, wie das
Beispiel des Ktesippos zeige (c. 20—29).
(Sokrates, Kriton). Der erneuerten Aufforderung des So-
krates an Kriton, er möge überlegen, ob sie nicht gemeinsam
zu diesen Männern in die Lehre gehen wollten, setzt Kriton
die ernste Mahnung entgegen, dass Sokrates solchen Verkehr
meiden möge. Als nämlich Kriton von jenem Gespräche, das
er, zu entfernt stehend, nicht hatte hören können, nach Hause
ging, hatte ein Mann von bedeutendem Selbstbewusstsein über
seine eigene Weisheit (οἰόμενος πάνυ εἶναι σοφός 304 D) den So-
krates getadelt, dass er mit Männern verkehre, die leeres Ge-
schwätz trieben, und auf Dinge, die es nicht verdienten, grolse
Mühe verwendeten; den Tadel, den er über die beiden Weis-
heitslehrer ausgesprochen, hatte er, da dieselben zu den tüch-
tigsten unter ihren Zeitgenossen gehörten, auf die Philosophie
überhaupt ausgedehnt. Der Mann, der dies geäulsert, war, wie
auf Sokrates’ Frage Kriton erklärt, ein Redekünstler, der, ohne
selbst öffentlich aufzutreten, für andere Reden schreibt und im
höchsten Rufe der Tüchtigkeit in seiner Kunst steht. Die Män-
ner dieser Kunst, weist Sokrates in seiner Erwiederung nach,
253 wollen zwischen Philosophie und Politik eine Mittelstellung ein-
7*+
100 EUTHYDEMOoS.
nehmen und bilden sich ein, dadurch vor Philosophen sowohl
wie vor Staatsmännern den Vorzug zu haben; aber wenn Phi-
losophie und Politik jede ihren eigenthümlichen von dem der
anderen wesentlich verschiedenen Werth haben, so steht die Ver-
bindung, die von jeder nur einen Theil sich aneignen möchte,
beiden nach. Bei der Frage aber, ob Kriton seinen Sohn Kri-
tobulos, für dessen Bildung zu sorgen nun Zeit sei, der Philo-
sophie anvertrauen solle, möge sich Kriton in Würdigung der
Philosophie selbst nicht durch die wohlbegründete Gering-
schätzung der Mittelmälsigen auf diesem Gebiete bestimmen lassen
— denn solche fänden sich auf jedem Gebiete menschlicher Be-
schäftigung in Überzahl —, sondern die Sache selbst an sich prüfen,
und wenn sie sich als werthvoll erweise, unbesorgt der Philosophie
seinen Sohn wie sich selbst zur Bildung anvertrauen (c. 30—32).
Zur Erläuterung.
Eine übersichtliche Angabe des Inhaltes muss bei dem Pla-
tonischen Euthydemos mehr als bei anderen Platonischen Schrif-
ten darauf verzichten, zugleich von dem künstlerischen Cha-
rakter des Dialogs eine Vorstellung zu geben; die raschen Wen-
dungen des Gespräches, der Übermuth in dem einen Theile
des Dialogs, die scharf dagegen contrastirende Ruhe belehrender
Unterredung in dem andern lassen einen Auszug eben nicht
zu. Wohl aber ist aus einer Inhaltsangabe, wie sie im obigen
versucht ist, die Gliederung des Dialogs, auf welche es für das
Verständnis des Ganzen wesentlich ankommt, ersichtlich. Die
allgemeine Gliederung in bestimmte Hauptabschnitte ist kaum
in einem anderen Platonischen Dialoge deutlicher bezeichnet
als im Euthydemos. Der Hauptstamm des Gespräches ist ein-
geschlossen von einem Gespräche des Sokrates mit Kriton, das
auch in der Mitte des Verlaufes des von Sokrates dem Kriton
wiedererzählten Gespräches einmal eingreift; so wichtig dieses
umgebende Gespräch sich erweist, um den Zweck des Ganzen
sicher zu bestimmen, so erscheint es doch in formeller Hinsicht
. zunächst nur als der Rahmen des lebensvollen Bildes, welches
uns durch den dazwischen enthaltenen Theil des Dialoges dar-
geboten wird. Sehen wir von diesem Rahmen zunächst ab, so
EuTHYDEMos. 101
gliedert sich der Haupttheil des Gespräches (c. ὅ 28) deutlich
durch die Verschiedenheit der Personen, welche die Leitung des
29 Gespräches führen; in drei Reihen der Discussion (I, II, II)
nehmen die beiden Tugend- und Weisheitslehrer, Euthydemos
und Dionysodoros, diese Stellung ein, in den zwei dazwischen
liegenden Reihen (A, B) Sokrates; Sokrates führt sein Ge-
spräch ausschliefslich mit Kleinias, die beiden Weisheitslehrer
wenden sich auch zunächst nur an Kleinias, doch treten in ihr
Gespräch bei seinem weiteren Verlaufe auch Ktesippos und
selbst Sokrates ein. So unterscheiden sich fünf Gesprächsreihen,
jedoch in der Art, dass die drei sophistischen einerseits, die zwei
Sokratischen anderseits sich trotz der äufserlichen Trennung zu
je einer Gruppe zusammenschliefsen. Jede dieser beiden grölse-
ren Gruppen steht zunächst in sich selbst in genauem Zusam-
menhange, dann in bestimmtem Verhältnisse zu der anderen
Gruppe.
Die drei Reihen des Sophistengespräches machen höchstens
auf den ersten Anblick den Eindruck eines blofsen Spieles mit
Sophismen, man bemerkt bald, dass in dem Unsinn doch Me-
thode herrscht”); denn in den zunächst auf einander folgenden
Trugschlüssen und Räthselfragen zeigt sich eine Gleichheit oder
Verwandtschaft der formellen Mittel der Täuschung und daneben
7) Dass Methode und bestimmte Ordnung in der Aneinanderreihung der
Sophismen herrsche, stellt Stallbaum schon für das zweite der Sophisten-
gespräche in Abrede; um wie viel mehr muss er dann das gleiche für das
dritte behaupten. Er bemerkt nämlich am Schlusse des Auszuges aus dem
zweiten Gespräche, 5. 27 der Ausgabe: „Frustra per hanc sermonis partem
certum aliquem anquiras sententiarum et argumentationum ordinem: nam so-
phistae desultoria levitate adeo incerta via vagantur et oberrant, ut quae-
cunque argutiarum et praestigiarum ostentationi aliquo modo inservire pos--
sint, ea arripiant cupidissime et ad alios fallendos decipiendosque studiose
adhibeant.“ Unzweifelhaft zeichnet Platon in den Sophistengesprächen ein
charakteristisches Bild von der leichtfertigen Oberflächlichkeit einer Eristik,
die an jedes zufällig sich darbietende Wort ihre Räthselfragen und paradoxen
Sätze anknüpfend, ihrerseits keinerlei Methode der Anordung oder Prin-
eip der Entwicklung einhält. Aber dadurch ist noch keineswegs abgeschnit-
ten, dass bei dieser künstlerischen Nachbildung der Eristik Platon seiner-
seits in der scheinbaren Regellosigkeit und Willkür eine bestimmte Ordnung
durchblicken lasse. Dass dies wirklich der Fall ist, wird im folgenden nach-
zuweisen unternommen,
on
102 EuUTHYDEMOoSs.
ein gewisser, bald näherer, bald entfernterer Zusammenhang des
Inhaltes. Verfolgen wir etwas genauer jeden dieser beiden Ge-
sichtspuncte der Anordnung, die Form der Sophismen und
ihren Inhalt.
Für die beiden ersten neckischen Räthselfragen (7, 2) be-
zeichnet Sokrates selbst als den gemeinsamen Grund, auf dem
sie beruhen, die täuschende Benützung einer verschiedenen Be-
deutung desselben Wortes μανϑάνειν (c. 7. 277 E. vgl. Arist. Soph. 200
El. 4. 165° 32 8). Wodurch in den Sophismen des zweiten Streit-
ganges die Täuschung bewirkt werde, ist nicht ausdrücklich an-
gegeben, doch tritt es in einigen Fällen deutlich hervor. Wenn
in dem ersten Sophisma (3) die Aufhebung eines Prädicates zur
Aufhebung der Existenz des Subjectes gemacht wird, so ist da-
bei die stillschweigende Voraussetzung, dass Prädicat und Sub-
jeet identisch seien, also die Aufhebung des einen zugleich noth-
wendig das andere treffe. Sollte man sich versucht finden, eine
andere Erklärung dieses Trugschlusses vorzuziehen, so findet
man sich in der eben bezeichneten dadurch bestätigt, dass sie
in den nächstfolgenden, nämlich 4, 7, augenscheinlicher zu Tage
tritt. Es ist nicht möglich zu irren, lautet der vierte Trug-
schluss, denn, wer etwas sagt, muss λέγειν τὸ πρᾶγμα περὶ οὗ ἂν
ὃ λόγος ἢ, woraus dann folgt οὐχ ἄλλο λέγει τῶν ὄντων ἢ ἐχεῖνο
ὅπερ λέγει (c. 12. 284 A). Dies hat überhaupt einen Sinn nur
unter der Voraussetzung, dass für jede Aussage nur das Sub-
ject derselben in Betracht komme, worin dann weiter die An-
nahme enthalten ist, dass das Prädicat mit dem Subjecte iden-
tisch sei. Das ist noch offenbarer in dem siebenten Trugschlusse:
Man kann nicht einander widersprechen: denn entweder sprechen
die beiden, denen man zuschreiben will, dass sie einander wider-
sprechen, τοῦ αὐτοῦ πράγματος λόγον oder οὐ τοῦ αὐτοῦ πράγματος
λόγον. Im letzteren Falle fehlt für den Begriff des Streites die
Gemeinsamkeit des Gegenstandes, im ersteren die Verschieden--
heit der Aussage; denn wer τοῦ αὐτοῦ πράγματος λόγον λέγει, der
sagt eben dasselbe. Also die Identität des λύγος τοῦ πράγματος,
worunter man in diesem Zusammenhang das über den Gegen-
stand ausgesagte Prädicat verstehen muss, ergibt sich aus der
Identität des πρᾶγμα selbst, eine Voraussetzung, die nur gilt
unter der weiteren Voraussetzung, dass Subject und Prädicat
201
EuTHYDEMoS. 103
identisch seien. — Nicht auf den gleichen Grund der Täuschung
kommt die diesen Streitgang abschliefende Räthselfrage (δ) τί
γοεῖ τὸ ῥῆμα zurück; wir haben bei ihr auch keinen Anlass, ein
gleiches formelles Princip zu erwarten. In die Enge getrieben
durch die Fragen des Sokrates machen die Sophisten ihren Cha-
rakter geltend, sich an jedes Wort zu hängen (παντὸς ῥήματος
ἀντέχονται 305 A); durch die Oberflächlichkeit dieses blofsen
Wortwitzes lässt Platon eben den zweiten Streitgang durch Aus-
arten in einen Zank, welchen Sokrates beruhigend beilegt, sein
Ende finden. — Bei dem fünften Sophisma: „Man kann das
Nichtseiende nicht sagen, weil sich an dem Nichtseienden über-
haupt keine Thätigkeit vornehmen lässt, also auch kein Sagen,
das unter den allgemeinen Begriff des Thuns fällt“ — ist es
mindestens zweifelhaft, ob es auf dieselbe Voraussetzung zurück-
zuführen ist, auf der 3, 4, 7 beruhen. Die Täuschung scheint
vielmehr, wenn wir einfach den Worten des Platon folgen, darin
zu liegen, dass das Denken, und somit dessen Äufserung im
Aussagen, der äulseren Werkthätigkeit gleich gesetzt wird; wie
also bei der letzteren, so ist auch bei der ersteren ein reales
Object erforderlich. Mittelbar zeigt sich dann allerdings die
vorher besprochene Voraussetzung der Identität von Subject und
Prädicat auch für diesen Fall in ihrer Geltung; denn wenn Kte-
sippos gegen die Behauptung der Sophisten einwendet, dass,
wer unwahres sage, τὰ ὄντα μὲν τρόπον τινὰ λέγει; οὐ μέντοι ὥς γε
ἔχει (6. 12. 284 C), so liegt in diesem Einwande, dass das
Verhältnis von Subject und Prädicat allein über Wahrheit und
Irrthum entscheidet, nicht die Existenz des Subjectes als solchen.
Der Einwand des Ktesippos wird zurückgeschlagen durch einen
Wortwitz (6), indem ὡς ἔχει nicht blofs auf den Inhalt der
Aussage, sondern, unter Benützung des von Ktesippos ange-
wendeten sprachlichen Ausdruckes, zugleich auf die subjective
Art des Aussagens gedeutet wird. Aber der Kern des Einwan-
des, nämlich die Geltendmachung des Verhältnisses von Subject
und Prädicat°®), darf uns als Weisung gelten, dass im vor-
8) Susemihl bezeichnet $. 131 den von Ktesippos erhobenen Einwand
in folgender Weise: „Ktesippos erinnert an die Unterscheidung eines ab-
soluten und relativen Nichtseins und Werdens 284 C,“ Man muss sich an
104 EUTHYDEMoSs.
ausgehenden ein solches Verhältnis nicht vorausgesetzt ist —
und es bleibt dann als Gegensatz dazu nur die Voraussetzung %2
der einfachen Identität von Subject und Prädicat. — Sehen wir
also innerhalb des zweiten Sophistengespräches ab von den
blofsen Wortspielen (6 ὡς ἔχει, 8 τί νοεῖ τὸ ῥῆμα), welche zur
persönlichen Charakteristik der Sophisten da eintreten, wo diesel-
ben in ihren eigenen Schlingen sich gefangen finden, so kommen
alle übrigen Sophismen des zweiten Streitganges entweder un-
mittelbar oder doch mittelbar auf dieselbe Voraussetzung zu-
rück, nämlich die der Identität von Subject und Prädicat im lo-
gischen Urtheile.
Bei den ersten beiden Sophismen des dritten Sophistenge-
spräches (9, 70) hat es Platon dem Leser direct ausgesprochen,
worauf die Täuschung beruht. Wenn die Sophisten mit des
Sokrates eigenem Zugeständnisse erweisen wollen, dass wer et-
was weils, alles wisse und dass er immer alles wisse, so
lässt Platon den Sokrates deutlich hervorheben®), welche be-
die Erörterungen Platons im Dialoge Sophistes über das Sein des μὴ ὄν er-
innern, um nur zu begreifen, wie Susemihl darauf kommt, den höchst ein-
fach und natürlich ausgesprochenen Einwand des Ktesippos so zu bezeich-
nen. Zu einer solchen Übertragung in die Ausdrucksweise einer andern
Untersuchung liegt nun ein Grund oder ein Recht gar nicht vor; sie ver-
deckt noch überdies den Zusammenhang, in welchem dort, im Sophistes,
derartiges sich findet; denn es handelt sich ja dort, wenn wir das Ziel und
die Aufgabe des Dialogs ins Auge fassen, ebenfalls um die Zulässigkeit der
Verbindung eines Prädicates mit einem von ihm verschiedenen Subjecte;
vollends zu dem Hineinziehen des „Werdens“ geben die Worte des Ktesip-
pos auch nicht die Spur eines Anlasses. Das Unpassende dieser ganzen
Übersetzung der Worte des Ktesippos in eine durchaus verschiedene Aus-
drucksweise zeigt sich noch besonders darin, dass es danach unmöglich wird,
die possenhafte Verdrehung, welcher der Einwand unterworfen wird, zu be-
greifen.
9) Euthyd. 293 C: Οὐκοῦν ἐπιστήμων εἶ, εἴπερ ἐπίστασαι; Πάνυ γε, τού-
του 1ε αὐτοῦ. (Οὐδὲν διαφέρει" ἀλλ᾽ οὐκ ἀνάγχη σε ἔχει πάντα ἐπίστασϑαι
ἐπιστήμονά ye ὄντα; Μὰ Δί᾽, ἔφην ἐγώ ἐπεὶ πολλὰ ἄλλ᾽ οὐχ ἐπίσταμαι. Οὐκοῦν
εἴ τι μὴ ἐπίστασαι, οὐκ ἐπιστήμων el. Ἐ κείνου γε, ὦ φίλε, ἣν δ᾽ ἐγώ. Nach-
drücklicher kann wohl kaum bei solcher Kürze der schlagenden Ant-
worten bezeichnet werden, dass die unter einander verschiedenen Ob-
Jecte des Wissens und des Nichtwissens, diese nothwendig hinzuzudenkenden
Glieder der Relation, weggelassen werden müssen, um den Schein des Wi-
derspruches herzustellen. — Mit ausdrücklichen Worten wird bei dem fol-
EUTHYDEMOoSs. 105
schränkenden Bedingungen der Aussagen aufgegeben werden
müssen, um zu der überraschenden unmöglichen Folgerung zu
gelangen. Die ganze Kunst ist also, dass auf die Unaufmerk-
samkeit des Mitunterredners gerechnet wird, indem man diejeni-
gen beschränkenden Bedingungen, unter denen allein die Aus-
sage Gültigkeit hat, unvermerkt weglässt und so zu allgemeiner,
unbedingter Gültigkeit gelangt. Im formaler Hinsicht vollkom-
men diesen Sophismen gleich sind die beiden folgenden (77,
12); denn aus πατήρ τινος — mag nun dieses τινὸς ausdrück-
lich hinzugesetzt oder, als bei einem Relationsbegriffe noth-
wendig vorauszusetzend, nur hinzugedacht werden — wird πατήρ
schlechthin, also aus ἕτερος πατρός τινος wird ἕτερος πατρός, somit
οὐ πατήρ, und aus πατήρ τινος zunächst πατήρ schlechthin, und
23 indem sodann zu der hierdurch gewonnenen scheinbaren All-
gemeinheit eine Relationsbeziehung wieder hinzugenommen wird,
πατὴρ πάντων. — Der folgende Trugschluss (73): ὃ χύων ἐστὶ
σός, ὃ χύων ἐστὶ πατήρ, ὃ χύων ἐστὶ σὸς πατήρ setzt wenigstens
für die eine Prämisse dieselbe wohfeile Kunst voraus, die wir
in den vorhergehenden fanden; denn es muss in der zweiten
Prämisse der zu πατήρ hinzuzudenkende, die Aussage auf ihre
wirkliche Bedeutung beschränkende Genetiv — ὃ χύων ἐστὶ πατὴρ
τοῦ χυναρίου — erst weggelassen sein, ehe auch nur die Vorbe-
reitungen vorhanden sind zur Ausführung des zweiten Fehlers,
nämlich die Prädicate, welche demselben Subjecte beigelegt sind,
so zu addiren, dass man sie zu einander in eine durch die
zufällige sprachliche Form erleichterte, aber logisch ganz will-
kürliche Verbindung bringt. — Nicht vollkommen gleich, aber
sehr nahe verwandt ist hiermit das formale Princip des So-
phisma 74, denn der Satz: οὐδεὶς ἄνϑρωπος δεῖται πολλῶν aya-
ϑῶν wird als giltig nachgewiesen bei einer besonderen Art von
ayada, nämlich der φάρμαχα, und was in dem beschränkten Falle
des einzelnen Beispiels gilt, wird als giltig für den allgemeinen
Begriff betrachtet.
genden Trugschlusse derselben Art die von Sokrates eingehaltene Hinzu-
fügung der beschränkenden Bedingung als ein παραφϑέγγεσϑαι, rupapdeypu
von den Eristikern bezeichnet und dessen Entfernung geboten, um das be-
absichtigte Ziel erreichen zu können, 296 A,B.
{06 EuTHYDEMoS.
Während man die in den Sophismen 9—/4 zur Schau ge-
tragenen Fehler als logische bezeichnen kann, kommt in den
folgenden alles zurück auf willkürliche Verwerthung einer ver-
schieden deutbaren grammatischen Verbindung. In δρῶμεν ra
δυνατὰ δρᾶν (75) kann für ὁρᾶν grammatisches Subject τὰ δυνατά
sein oder ein unbestimmtes persönliches Pronomen, "fähig, dass
es sieht’, oder "fähig, dass man es sieht’; in σιγῶντα λέγειν,
λέγοντα σιγᾶν, προσήχει τὸν μάγειρον χαταχόπτειν (16, 17, 19) kön-
nen die Accusative Subject oder Object sein. In dem dazwi-
schen eingelegten Scherz über die Platonische Ideenlehre (78)
wird παρουσία aus der Bedeutung, die es als philosophischer
Terminus hat, in die des gewöhnlichen Gebrauches verdreht,
um lächerliche Sonderbarkeiten daraus zu erschliefsen. Das vor-
letzte Sophisma (26) Ἀπόλλων σός ἐστιν, ἔξεστιν οὖν Ἀπόλλωνα
ἀποδόσϑαι etc. ist gleichsam ein Knäuel verschiedener logischer
Kunstmittel; es wird für deos der Allgemeinbegriff dazu, ζῷον,
substituirt, aber das Possessivum σός bei ζῷον beibehalten in
einem anderen Sinne, als den es bei eos hatte; endlich wird
für ζῷον in Seinem allgemeinen Sinn etwas behauptet, was nur
für einen enger begrenzten Theil des Umfanges dieses Begriffes
nachgewiesen war. Endlich Πύππαξ, ὦ Ἡράχλεις (27) fällt im
die fadeste Weise grammatischer Verdrehung des Nebeneinan-
stehens zweier Worte, als müssten diese jedenfalls Apposition zu
einander sein 10).
10, Dass in der bunten Mannigfaltigkeit auch des dritten Sophistengefech-
tes eine bestimmte Gruppirung nach gleichartigen Gesichtspuncten zu finden
sei, spricht Steinhart in seiner Einleitung aus. Ich hebe die darauf be-
zügliche Stelle aus, um zu zeigen, worin der Unterschied der im obigen dar-
gelegten Gliederung von der Steinhartschen liegt; es wird sich danach leich-
ter beurtheilen lassen, ob die von mir angegebene Gruppirung wirklich der
Absicht Platons entspricht. Steinhart S. 22f.: „In dem nun folgenden ver-
worrenen Wortkampfe der Sophisten mit dem Sokrates und dem Ktesippos
scheint sich wirklich der zusammenhaltende Faden ganz zu verlieren, und
kein Wunder ist es, wenn Stallbaum hier, wie schon in den früheren Wort-
gefechten, allen Plan und alle Ordnung gänzlich vermisst. Aber bei einer
eindringenderen Betrachtung werden wir doch auch hier Plan und Zusam-
menhang so wenig verkennen, als die Verbindung mit dem Grundgedanken
des Dialogs. Denn alle, auch die lächerlichsten Trugspiele der Sophisten
bewegen sich auf demselben Felde: sie weisen darauf hin, zu welchen Un-
gereimtheiten es führen müsste, wenn man auf einzelne, vielfach bedingte
264
EUTHYDEMOoS. 107
205 Man wird in einer gesprächsweisen Aneinanderreihung von
Sophismen — und betrachten wir die drei Sophistengespräche
und mit einander in Wechselwirkung stehende Dinge, oder auch auf Be-
griffe, die ihren ganz bestimmten Umfang haben, die absoluten und unbe-
dingten Urtheile des Gorgias oder des Protagoras anwenden wollte. Die
Anerkennung, dass in der endlichen, überall beschränkten Welt
kein richtiges Urtheil ohne Relation und die aus der Relation her-
vorgehende Limitation gebildet werden könne, und dass mit jedem
bestimmten Prädicate an dem Subject auch schon eine Beziehung auf eine
bestimmte Begrifissphäre gesetzt sei, aufserhalb deren das Urtheil gar keine
Giltigkeit mehr hat, ist der Gewinn, der für den denkenden Leser aus die-
ser bunten Zusammenhäufung der albernsten Trugsätze hervorgehen muss.
Am klarsten tritt dies bei dem von Euthydemos aufgestellten Satze hervor,
dass, wer einmal etwas weils, zu jeder Zeit alles wissen müsse, indem der
Wissende nicht zugleich auch nach einer andern Seite hin ein Nicehtwissen -
der sein könne. Die wiederholten Verwahrungen des Sokrates, dass jedes
Wissen ein relatives, durch ein bestimmtes Object bedingtes und nur in die-
ser Beziehung ein wirkliches, in jeder andern nur ein mögliches sei,
werden von den Sophisten nicht angenommen, die ja nur verwirren wollten,
und überdies, gleich den Megarikern, ihren Geistesverwandten, das Mög-
liche und das Wirkliche für identisch hielten.“ — — „Als nun aber
Sokrates, an seine Hauptaufgabe wieder anknüpfend, fragte, ob denn auch
jemand das wissen könne, dass die Guten ungerecht seien, eine Frage, die
schon auf die hohe Bedeutung der Gerechtigkeit in der Ethik hinweist, wie
sie im Gorgias hervortritt, springen die Sophisten sofort, aus Furcht sich
entweder zu widersprechen oder allzu Tolles sagen zu müssen, von der Sache
ab, und versetzen nun den Streit auf das grammatische Gebiet,
indem sie auch hier, wo alles relativ ist, durch fortwährende Verwechs-
lung absoluter und relativer Prädicate die ungereimtesten Dinge vor-
bringen. Hier sind es namentlich drei grammatische, ganz auf der Relation
beruhende Verhältnisse, von welchen die Sophisten keinen Begriff zu haben
scheinen: das Verhältnis des Subjectes zum Prädicat, des Attributes zur
Substanz, des Objecetes zum Subject. So zeugte die Ungereimtheit, dass,
wer Vater sei, aller Dinge Vater sei, von einem, gleichviel ob absichtlichen
oder aus Beschränktheit hervorgegangenen Verkennen der Wechselbeziehung
relativer Begriffe, die sich wie Substanz und Attribut zu einander verhalten ;
die Tollheit, dass mit dem Prädicate „dein“ auch alle Subjeete, welchen die-
ses Prädicat beigelegt werden kann, mitgesetzt sein müssen, und nach einer
andern Seite hin, dass dieses „dein“ auf alle Dinge in demselben Sinne, dem
des unbedingten Eigenthums, zu beziehen sei, verrieth eine völlige Unkennt-
nis der wechselseitigen Bedingtheit des Subject- und Prädicatbegriffes; end-
lich die Verwechslung des Subjeetes und des Objectes und die Nichtunter-
scheidung der für beides in der abhängigen Rede zusammenfallenden Sprach-
formen veranlasste die kindischen Schülerschwänke mit dem Reden des
Schweigenden und dem Schweigen des Redenden und die anderen Taschen-
ΝΩ͂Ν
108 EuUTHYDEMOoS.
zunächst nur von diesem Gesichtspuncte —, bei welcher nach 266
der natürlichen Weise eines wirklichen Gespräches jedes folgende
spielereien ähnlicher Art.“ — Für's erste vindicirt Steinhart den Sophismen
über πάντα ἐπίστασθαι und ἀεὶ πάντα ἐπίστασθαι eine Bedeutung, zu deren
Annahme die Worte Platons keinerlei Anlass geben. Nicht darum handelt
es sich, „dass in der endlichen, überall beschränkten Welt kein richtiges
Urtheil ohne Relation und die aus der Relation hervorgehende Limitation
gebildet werden könne“, sondern es werden eben solche Urtheile zur Dis-
cussion gewählt, die nur in einem bestimmt beschränkten Umfange Giltigkeit
haben, und die Beziehung dieser für die Giltigkeit erforderlichen Beschrän-
kungen soll den Zuhörern entwunden werden. — Zweitens, in die Erklä-
rung der Sophismen die Unterscheidung des möglichen Wissens von dem
wirklichen hinein zu bringen, gibt die Darstellung Platons kein Recht; an
diese aber haben wir uns zu halten, wenn wir die Frage, aus welchen Feh-
lern Platon den Trugschluss ableitet, ohne Willkür beantworten wollen.
Platon aber lässt den Sokrates wiederholt hervorheben, dass der ursprünglich |
als wahr anerkannte Satz, von welchem in der Discussion ausgegangen wird,
nur für ein bestimmtes Object, in bestimmter Beschränkung Giltigkeit hat,
und dass diese Beschränkung willkürlich weggelassen werden muss, um zu
dem Scheine der Allgemeingiltigkeit zu gelangen (vergl. Anm. 9). — Drittens,
nach Steinharts Darstellung beginnt mit dem Sophisma 10 ein neues, von
den vorigen verschiedenes formales Prineip der Gruppirung; folgen wir da-
gegen den Weisungen, die in Platons eigenen Worten liegen, so müssen wir
das Sophisma 10 sammt dem folgenden oder den beiden folgenden noch der-
selben Art zurechnen, welcher 8 und 9 angehören; denn auch für das So-
phisma 10 so gut wie für die beiden vorausgehenden lässt Platon den Sokra-
tes ausdrücklich ‚hervorheben, dass die wissentliche Weglassung einer die
Geltung des Satzes beschränkenden Bedingung erforderlich ist, um zu dem
erstrebten Ziele zu gelangen. Die Worte Τοὐμοῦ y’, 298 A, haben in dieser
Hinsicht genau dieselbe Bedeutung, welche für ähnliche Vewahrungen des
Sokrates in den beiden nächst vorhergehenden Sophismen in Anm. 9 nach-
gewiesen ist. — Die so eben bestrittene Stelle der Steinhartschen Einleitung
ist ihrem Inhalte nach von Susemihl $. 131 aufgenommen, es genügt also
dagegen das in Beziehung auf die Steinhartsche Erörterung Bemerkte. Übri-
gens steht mit dieser Erklärung Susemihls 5. 131, durch welche er die Ver-
schiedenheit formaler Prineipien als bestimmend für die Gruppirung der So-
phismen anerkennt, eine andere $. 137 nicht im Einklange. An dieser
letzteren Stelle nämlich führt Susemihl als Platons Urtheil über die ge-
sammten im Euthydemos vorkommenden Sophismen folgendes an: „(Pla-
ton) weist ausdrücklich darauf hin, es bedürfe, um die Nichtswürdigkeit
dieses Treibens zu durchschauen, nur der Anfangsgründe des Wissens, näm-
lich, wie er sich mit einem gutmüthigen Spotte auf den Prodikos 277 E aus-
drückt, der Prodikeischen Synonymik, d. h. es beruhe auf so augenschein-
lichen Verwechslungen nahe liegender Begriffe, dass sie selbst der einfache
gesunde Menschenverstand aus einander zu halten wisse.“ Platon lässt dies
EUTHYDEMOoS. 109
durch besonderen Anlass hervorgerufen, nicht als gleichartiges
Beispiel dem vorhergehenden angeschlossen wird, jene strenge,
ja peinliche Scheidung nach den verschiedenen Rubriken nicht
erwarten, welche eine systematische Behandlung des Gegenstan-
des, nämlich der Trugschlüsse als solcher, einhalten müsste.
Hält man diesen Unterschied fest, dass es sich eben nicht um
eine systematische Gliederung der Trugschlüsse als solcher han-
delt, so wird man die klare Gruppirung der Sophismen um
bestimmte formale Mittelpuncte desto vollständiger anerken-
nen. Zuerst werden paradoxe Sätze durch den Missbrauch der
verschiedenen Bedeutungen desselben Wortes bewiesen (7, 2);
dann führt die Voraussetzung der Identität von Subject und
Prädicat zu Trugschlüssen (3, 4, 5, 7); in einer folgenden
Gruppe wird durch Weglassung von bestimmten Bedingungen,
unter denen eine Aussage gilt, von ihrer beschränkten Geltung
zur unbedingten und allgemeinen übergesprungen (9—/4); end-
lich wird die Möglichkeit verschiedener syntaktischer Verbin-
dung derselben Wortform ausgebeutet (75, 76, 17, 19, 21). Was
innerhalb jeder von diesen, nach formalen Unterschieden be-
zeichneten Gruppen aus dem sie zusammenhaltenden Charakter
heraustritt (6, 8, 18, 20) ist einestheils an Umfang gering, ande-
rentheils zeigt es kenntlich genug den Zweck, dem es im Ge-
spräche dient. Dies ist in Betreff der zweiten Gruppe (6, 6)
schon vorher angedeutet, in der letzten aber ist der plumpe
Scherz über die Platonischen Ideen (78) offenbar in eine ihm
fremde Umgebung gestellt, aus welcher er um so mehr sich
heraushebt und die Absicht bestimmter Beziehung auf historische
Vorgänge mit grölster Wahrscheinlichkeit errathen lässt; und von
den abschliefsenden Sophismen (20) versteht es sich wohl von
selbst, dass sie ein effectvolles Finale zu bilden haben, geschehe
dies nun durch grölsere Verwicklung oder durch extreme Fadheit.
den Sokrates nur in Betreff der ersten beiden Sophismen aussprechen ;
wenn man hierin, wie Susemihl an der angeführten Stelle ihrem weitern Zu-
sammenhange nach offenbar thut, Platons Urtheil über den formalen Grund
aller im Euthydemos enthaltenen Sophismen glaubt finden zu sollen, so
muss man alle auf täuschende Benützung der Doppeldeutigkeit desselben
Wortes zurückführen — im Widerspruche mit dem, was Susemihl selbst
S. 131 schreibt, und im Widerspruche mit dem offenbaren Sachverhalte.
110 EurHnyYDEnmos.
Man würde die Anordnung der Sophismen in den drei Streit- %7
gängen nur zur Hälfte würdigen, wenn man sich auf die im
vorigen nachgewiesene Gruppirung nach formalen Prineipien
beschränkte; denn eben so offenbar liegt zugleich eine zweite,
mit der ersten weder in ihrem Grunde, noch in den sich da-
durch ergebenden Theilungspuncten zusammentreffende Glie-
derung vor. Es scheidet sich nämlich die erste Hälfte der So-
phismen (d. h. der erste und der zweite Streitgang und die
beiden ersten Sophismen des dritten Streitganges, /—1/0) durch
die Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigen, auffallend
von der dann noch übrigen Masse (7/7—27) 1). In der ersten
Hälfte bewegt sich die Discussion um die beiden Begriffe Ler-
nen und Wissen, Begriffe, deren Untersuchung und Feststellung
für die Philosophie unerlässlich ist und welche in jener Zeit
gerade Gegenstand des lebhaftesten Streites unter den verschie-
denen philosophischen Schulen waren 12) ; in der zweiten Hälfte
τ Hierauf hat im allgemeinen, ohne ausdrückliche Bezeichnung des
Wendepunctes, schon Schleiermachers Übers. 3. Aufl. I, 1. 5. 273 treffend
hingewiesen: „wie der Gehalt der aufgeworfenen sophistischen Fragen immer
abnimmt.“
12) Nur dies darf der ersten Hälfte der Sophismen in ihrem Gegensatze
zu der zweiten Hälfte zugeschrieben werden, dass die Gegenstände, um
welche sie sich bewegen, wirklich philosophische Probleme enthalten, und
zwar solche Probleme, welche damals die bedeutendsten Denker ernstlich
beschäftigten. Etwas davon wesentlich verschiedenes ist es, wenn einige Er-
klärer des Dialogs den Sophismen selbst eine „gewisse Wahrheit“
zuschreiben. So äulsert sich Steinhart nach Erläuterung der für die ersten
beiden Sophismen benutzten Doppeldeutigkeit von Worten ὃ. 17 in folgen-
der Weise: „— Zugleich wird aber schon hier auf die im Menon weiter ver-
folgte Frage nach den in der menschlichen Seele vorhandenen Grundbedin-
gungen des Lernens hingedeutet. Denn jedes Lernen setzt einen schon in
der Seele liegenden, der Befruchtung harrenden Gedankenkeim, gewisser-
malsen ein schlummerndes Wissen voraus, und insofern enthält der paradoxe
Satz des Sophisten, dass man nur lernen könne, was man schon wisse, auch
abgesehen von jenem Doppelsinn, eine gewisse Wahrheit. Aber der So-
phist hatte bei seiner Behauptung theils, gerade wie später die Megariker,
das Mögliche mit dem Wirklichen verwechselt, theils auch hier, wie immer,
zunächst nur an das gedächtnismälsige Lernen gedacht, das allerdings einen
von aulsen gegebenen und in seinen ersten Elementen schon in den Geist
aufgenommenen Stoff voraussetzt.“ Dasselbe sagt, nur mit Weglassung man-
cher nicht haltbarer Voraussetzungen über die Abfassungszeit des Euthyde-
mos an sich und im Vergleiche zu anderen Platonischen Dialogen, Suse-
EuUTHYDEMOoS. 111
268 zeigt das Herumspringen unter den verschiedensten Gegenstän-
den, dass eben die Gegenstände selbst etwas vollkommen gleich-
giltiges sind Die erste Hälfte beweist im Sinne der beiden
Sophisten, dass Lernen weder den Wissenden zuzuschreiben
sei noch den Nichtwissenden, dass Irrthum und Widerspruch
nicht möglich sei, dass endlich, wer irgend etwas weils, alles
wisse. Es bedarf kaum noch einer besonderen Zusammenfas-
sung, um in dieser ersten Hälfte als Überzeugung der Sophisten
dargelegt zu finden: es gibt kein Lernen, es gibt kein Wissen.
Ist die Geltung dieser Begriffe einmal aufgehoben, so bleibt als
Gegenstand des Zeitvertreibes durch Reden nur die äulsere
Schale der Gedanken, das Wort. Worte dem Unterredner ge-
wandt unterschlagen und einschmuggeln, dieselben Worte inner-
halb desselben Satzes in verschiedene Beziehungen setzen, das
ist das einzige, was noch übrig bleibt; ein Gedankenin-
halt existirt nicht. Die willkürliche Mannigfaltigkeit der Ge-
genstände ist daher für den zweiten Theil der Sophismen ebenso
positiv charakteristisch, wie die erste Hälfte durch die Gemein-
samkeit eines Gegenstandes zusammengehalten wird 1).
mihl 8. 130. — Die Begriffe des Lernens und Wissens, um welche sich die
ersten beiden Sophismen drehen, können Gegenstand ernstlicher Unter-
suchung sein und waren es zur Zeit des Sokrates und Platon wirklich; für
Streitkünstler, wie es die hier vorgeführten sind, waren diese Fragen nur
die bequemste Gelegenheit, paradoxe Sätze aufzustellen und Entgegengesetz-
tes mit gleichem Scheine der Wahrheit zu beweisen. Es ist gewiss möglich
— Steinharts und Susemihls Bemerkungen beweisen dies — selbst in die so-
phistische Behandlung dieser Fragen eine den Streitenden selbst unbewusste
(Susemihl a. a. ©.) Andeutung der Wahrheit hineinzulegen ; aber — und dar-
auf kommt es doch für die Auffassung des Dialogs ausschliefslich an — dass
Platon die sophistischen Beweisführungen nicht so auffasste und von sei-
nen Lesern nicht so wollte aufgefasst wissen, darüber belehrt er uns aus-
drücklich durch die öfters erwähnten Worte des Sokrates 277 E.
13) Es ist hiernach unzulässig, den im Euthydemos vorkommenden So-
phismen im allgemeinen einen philosophischen Werth zuschreiben zu
wollen, ohne einerseits den Unterschied der zweiten Hälfte gegen die erste
bestimmt zu betonen, anderseits auch für die erste Hälfte die vorher (Anm. 12)
bezeichnete bestimmte Beschränkung aufrecht zu halten. Dass eine solche
Verwahrung gegen eine weiter gehende Schätzung der Sophismen nicht über-
flüssig ist, wird die Vergleichung einiger Stellen aus der Steinhartschen
Einleitung und aus Susemihls Werke zeigen. Steinhart 8. 6 f.: „Auch
Euthydemos und Dionysodoros schwankten, wie schon bemerkt wurde, zwi-
112 EUTHYDEMOoS.
Die bisher dargelegte Gliederung der drei Sophistengespräche 209
hat vielleicht in sich selbst solche Evidenz, dass eine weitere
schen Protagoras und Gorgias und entlehnten ihre verfänglichen Formeln
und Behauptungen bald von jenem, bald von diesem, natürlich nur als blofse
Fechtwaffen, um ein tieferes Verständnis derselben unbekümmert. In dieser
Sphäre nun hatten jene bald tiefsinnigen, bald kindischen und leeren Gedan-
kenspiele und dialektischen Wortkämpfe, welche sich durch die ganze grie-
chische Philosophie hindurchziehen, namentlich aber in der fast durchaus
formalen, auf eleatischem Grunde sich erhebenden megarischen Schule wu-
cherten, allerdings ihre Berechtigung, da sie zuerst die gewaltigen Gegen-
sätze des Seins und des Werdens, der Einheit und der Vielheit, des abso-
lut unendlichen und des endlich bedingten, des allgemeinen und des ein-
zelnen, der Idee und der Wirklichkeit in kurzen Formeln darstellten und
dadurch tiefere Denker zur Lösung jener Widersprüche anregten. Jene
eristische Dialektik erscheint sonach als eine vorübende Gymnastik
des Denkens, als ein Vorspiel einer tieferen Denk- und Sprachwissen-
schaft, und jene kindischen Wortgefechte waren in der That eine
nothwendige Entwickelungsstufe, gleichsam die Flegeljahre der ju-
gendlichen Philosophie; wir sehen sie daher, wenn auch in immer anderen
Formen, bei allen philosophisch gebildeten Völkern zu allen Zeiten wieder-
kehren, in welchen eine neue Geistesrichtung sich in einem neuen Gedan-
kensysteme ihre Bahn bricht.“ 8.10: „Wir dürfen es aber nicht für eine
blofs ironische Redensart halten, wenn Sokrates sagt, er habe sich bei
jenen Männern in die Schule gegeben, um ihre Weisheit zu lernen;
denn es liegt darin die Anerkennung, dass die von ihnen und ihren Genos-
sen aufgestellten Antinomien ein nothwendiges Moment und eine zu
überwindende, aber nicht geringzuschätzende Vorstufe zur wahren
dialektischen Kunst und zu höheren Erkenntnissen waren.“ (Dasselbe wie- .
derholt Susemihl 8. 133.) 5. 25: „So steht überall hinter den kindischen
und neckenden Spielen der wissenschaftliche Ernst der wahren Dialektik,
dem es nicht blofs um die plastische Schilderung jener verkehrten After-
weisheit, sondern auch um die Bezeichnung der Antinomien zu thun war,
die von dem denkenden Geiste noch überwunden werden mussten. Aber
hartnäckig in diesen Widersprüchen stecken zu bleiben, und sie wohl gar
für hohe Weisheit auszugeben, das bezeichnet Sokrates als eine Versündigung
an dem Geiste der Wahrheit mit den schönen Worten, dass es ehrenvoller
sei, durch solche Gründe widerlegt zu werden, als andere durch sie zu
widerlegen.“ — Es ist wahr, dass sich an den Ernst und die Vertiefung der
Speculation, wenn ihre Ergebnisse aus dem Geleise der üblichen Weltansicht
heraustreten, der oberflächliche Gebrauch dieser Ergebnisse als einer blofsen
Scheidemünze des Gespräches und der leichtfertig parodirende Scherz gern
anschlielst; davon geben nicht nur jene eristischen Belustigungen Zeugnis,
die uns Platon unter Euthydemos’ und Dionysodoros’ Namen vorführt, son-
dern es lielsen sich leicht aus neueren Zeiten die entsprechenden Beispiele
vergleichen. Aber in diesen Momenten liegt nicht eine „Entwickelungsstufe
ἘΤΗΥΡΈΜΟΞϑ. 113
-
210 Bestätigung nicht nöthig erscheint; dennoch mag schliefslich
auf einzelne von Platon selbst gegebene Andeutungen der Glie-
derung hingewiesen werden. In Betreff der Zusammenordnung
nach formalen Gesichtspuncten der in den Sophismen begange-
nen logischen Fehler ist zu bemerken, dass zwei Gesichtspuncte
der Philosophie“; will man einmal Vergleiche anstellen, so hätte man sie
vielmehr mit Wucherpflanzen zu vergleichen, welche die innere Triebkraft
des Baumes zu ersticken drohen und auch wirklich zeitweise gehemmt
haben. Und wenn Platon den Sokrates sagen lässt, er wolle bei diesen
Eristikern in die Schule gehen, so bedarf die Ausschlie/slichkeit des
ironischen Sinnes einer solchen Äufserung dann keines weiteren Beweises,
wenn im nachfolgenden die Absicht des ganzen Dialogs richtig nachgewie-
sen ist; sucht man aber nach einer einzelnen beweisenden Stelle, so darf
man wohl auf 301 B verweisen, da Sokrates zeigt, durch welch oberfläch-
liches Wortspiel er seine Nachahmung der sophistischen Weisheit, ἅτε ἐπι-
ϑυμῶν αὐτῆς, bekundet. Die Ausschliefslichkeit des ironischen Sinnes
jener Äulserung erweist auch, unter ausdrücklicher Beziehung auf die Be-
merkung Steinharts, Rug. Bonghi in seiner Einleitung zum Euthydemos,
Opere di Platone nuovamente tradotte, Milano 1857. Vol. I, S. 24 und 8. 143
Anm. 6. — Susemihl 5. 134: „Allen diesen Zügen gemäls gestaltet sich
nun auch die Polemik, in dialektisch-ethischer Richtung gegen die Sophisten,
praktisch gegen die gewöhnlichen Staatsmänner und Rhetoren. In ersterer
Beziehung wird zunächst streng dialektisch das Princip der Sophisten
selbst für ein einseitiges erklärt und darum die innere Nothwendig-
keit aller jener absurden Consequenzen anerkannt, zugleich aber
auch nach der ethischen Seite bestimmt genug hervorgekehrt, dass nur ein
gänzlicher Mangel von reiner Liebe zur Wahrheit dahin verleiten konnte,
bei denselben stehen zu bleiben“ u.s. w. Wenn man dies oder ähnliches
läse in Beziehung auf den Platonischen Sophistes, dass in diesem Dialog
Platon das Prineip oder die Methode oder die Ergebnisse der Herakleitischen
sowohl als der Eleatischen Philosophie für „einseitig“ erkläre, so könnte man
einer solchen Bemerkung nur beipflichten. Aber dass Platon im Euthyde-
mos das Prineip der dort auftretenden Sophisten für „einseitig“ erkläre und
die „innere Nothwendigkeit jener absurden Consequenzen“ anerkenne, das
vermag ich nicht zu verstehen. Platon’ weist mindestens für einen er-
heblichen Theil der Sophismen die Methode der wissentlichen Verdrehung
und Unterschlagung von Gedanken als Methode der Sophisten in ihrem
Streite nach; wissentliche Verdrehung und Unterschlagung pflegt man aber
auf keinem Gebiete als blofse Einseitigkeit bei innerer Nothwendigkeit zu
betrachten. Man mag über den wissenschaftlichen Werth der im Platoni-
schen Euthydemos enthaltenen Sophismen selbst urtheilen, wie man will
— darum handelt es sich hier nicht; man sollte aber nicht Platon, unter
dem Scheine der Auslegung seiner Schrift, Urtheile unterschieben, die von
seiner deutlich bezeichneten Überzeugung wesentlich verschieden sind.
Bonitz, Platonische Studien. 8
114 EUTHYDEMOS.
Platon selbst deutlich bezeichnet, den ersten und dritten unter
den vier vorher angegebenen: den ersten, die Benützung der
mehrfachen Bedeutung desselben Wortes, indem er ganz aus-
drücklich den Sokrates durch dieses Mittel den Scherz auflösen
lässt (ec. 7. 277 E), den anderen, die Weglassung beschränken-
der Bedingungen, indem er den Sokrates, den Mitunterredner
der Sophisten in diesem Falle, auf die beschränkenden Be-
dingungen wiederholt allen Nachdruck legen und sie nur auf Ge-
heifs der Sophisten aufgeben lässt (vgl. oben ὃ. 104 und Anm. 9
und 10). Einer solchen von Platon selbst gegebenen Bezeich-
nung des formalen Principes der Zusammenordnung entbehren
wir bei dem zweiten Gesichtspuncte und dem vierten; bei die-
sem letzten ist die gleichartige Verdrehung syntaktischer Ver-
hältnisse so offenbar, dass es fast zudringlich gegen die Leser
wäre, sie noch besonders bezeichnen zu wollen; bei dem zwei-
ten aber ist die Zusammengehörigkeit des Gedankeninhaltes
so bedeutend, überdies die nachher zu erwägende polemisch-
kritische Beziehung auf andere philosophische Systeme in dem
Malse bestimmend, dass man es immerhin wird fraglich lassen
müssen, ob es überwiegend die Gleichartigkeit der logischen
Form ist, welche hier die Gruppirung bestimmt. Anderseits
wird die Unterscheidung von zwei Haupttheilen nach dem dis-
eutirten Inhalte durch die Darstellungsweise des Dialogs uns
noch insofern nahe gelegt, als nach den beiden Beweisen, welche
die Sophisten für den unbeschränkten Umfang des Wissens ge-
führt haben, sie jedesmal durch Entgegenhalten bestimmter ein-
zelner Consequenzen in die Enge getrieben werden, 294 A—
295 A, 296 D—297 D, so dass sie suchen müssen aus diesem
Gebiete, dessen äufserste Grenzen sie erreicht hatten, sich gänz-
lich zurückzuziehen.
Dass jedes der beiden Gespräche des Sokrates mit Kleinias
in sich einen ununterbrochenen Gedankengang darstellt, in wel-
chem nach Platons Überzeugung sich keine Lücken finden
aufser solche, die durch Berufung auf sonst schon Behandeltes
zu ergänzen oder als noch unerfüllte Aufgaben bezeichnet sind,
bedarf nach der ganzen Form jedes dieser beiden Gespräche
keines Erweises; das zweite aber knüpft an das erstere an, unter
τῷ
71
EUTHYDEMOoS. 115
ausdrücklicher Vergegenwärtigung der Stelle, bis zu der man
gelangt war (c. 17. 288 D).
Was irgend ein Gut für den Menschen sein kann, das wird
dazu erst wirklich durch die seine Anwendung leitende Einsicht,
durch φρόνησις, ἐπιστήμη, σοφία. Also Weisheit ist für den Men-
schen das einzige Gut an sich. Dass Weisheit durch Lehre zu
erwerben, also διδαχτόν ist, wird von Kleinias als ein anerkann-
ter Satz zugestanden. Es fragt sich dann: ist zur Erreichung
vollkommener Glückseligkeit jede Wissenschaft, oder ist eine
bestimmte Wissenschaft zu erstreben? Dasjenige Wissen, fährt
hieran anknüpfend das zweite Sokratische Gespräch fort, welches
an sich das höchste und ausreichende menschliche Gut sein soll,
muss so beschaffen sein, dass in ihm das Hervorbringen des
Gutes mit der Einsicht in seinen richtigen Gebrauch zusammen-
fällt. Diese Wissenschaft ist die königliche Kunst, τέχνη Bası-
λική, identisch mit der Staatskunst. Da nun ein wirkliches Gut
nur die Einsicht, das Wissen ist, so würde die königliche Kunst
ein Wissen sein, das ein Wissen hervorbringt. Es fehlt also,
bei unbedingter Anerkennung der Nothwendigkeit eines
solchen Wissens, noch die Bezeichnung des Objectes dieses
Wissens.
Jede dieser beiden Gesprächsreihen, die aus drei Abschnitten
bestehende sophistische so wie die in zwei Abschnitte getheilte
Sokratische, verfolgt ihren Gedankengang in voller Selbständig-
keit, ohne im einzelnen entgegnend auf die andere einzugehen.
272 Aber die Gleichheit der Aufgabe, der Gegensatz der in ihrer Lö-
sung angewendeten Mittel und des Erfolges gibt dem Ganzen
dieser Sokratischen Gespräche mit Kleinias eine augenscheinliche
Beziehung zu den Gesprächen der Sophisten mit Kleinias, Kte-
sippos und Sokrates. Aufgabe der Sophistengespräche ebenso
wie der Sokratischen ist es, den Jüngling von der Nothwendig-
keit des Studiums der Philosophie zu überzeugen, προτρέπειν πρὸς
φιλοσοφίαν. Während die Sophisten schon mit ihrer ersten Frage
den sinnigen Jüngling in eine Verwirrung setzen, aus der er
sich nicht wieder erholt, den geistig gewandten und oberflächlich
übermüthigen dagegen in ihre Kunststücke so rasch einweihen,
dass er bald sie mit den eigenen Waffen schlägt: bringt Sokra-
8*+
110 EUTHYDEMoSs.
tes den strebsamen und ermstlich nachdenkenden Jüngling Klei-
nias in einen bestimmten Gang des Denkens, dass er durch
Einhalten dieser Richtung selbst den Fragen des Meisters um
ein paar Schritte voraus kommen kann !#). Endlich während die
Sophisten dem Jüngling, dem sie Eifer zur Wissenschaft bei-
bringen sollen, nachweisen, dass Lernen und Wissen gar nicht
möglich sind, zeigt Sokrates in den beiden, zwischen die um-
gebenden Streitgänge der Sophisten eingelegten Gesprächen,
dass das Wissen allein unbedingten sittlichen Werth hat, und
führt, indem die Erreichbarkeit des Wissens als ein schon an-
derweit sicherer Satz zugegeben wird, zu der Nothwendigkeit
eines solchen Wissens hın, bei welchem Wissen und Thun unbe-
dingt zusammenfalle.
Aber diese allgemeine Correspondenz der beiden Sokratischen |
Gespräche zu den drei Streitgängen der Sophisten darf hervor-
tretende Eigenthümlichkeiten der Sokratischen Gespräche, die 273
für die Einsicht in die Absicht des ganzen Dialogs jedenfalls in
14; So ungefähr spricht sich Steinhart 8. 11 (unter Berücksichtigung
auch anderer Ansichten ὃ. 75 Anm. 13) über die fragliche Stelle des Dialogs
290 B aus. Susemihl bestreitet dies $S. 134: „Ja selbst wo die Wirkungen
des Sokratischen Unterrichts so recht im vollen Mafse geschildert werden,
indem der junge Kleinias mit einem Male ohne weitere Anleitung die be-
deutendsten philosophischen Sätze aus sich selber entwickelt, 290 B ff., da
wird dies nicht sowohl der Sokratischen Methode, als dem geistigen, per-
sönlichen Einflusse des Sokrates überhaupt zugeschrieben.“ Sieht man ganz
ab von den etwas übertreibenden Ausdrücken, in denen Susemihl die Äufse-
rungen des Kleinias charakterisirt, so muss man vor allem fragen: Inwiefern
zeigt Platon in dem Dialoge Euthydemos den „geistigen, persönlichen Ein-
fluss“ des Sokrates so, dass man diesen von dem Erfolge der besonnenen
klaren Gedankenentwicklung unterscheiden kann? Gibt uns der Dialog
selbst für diese Unterscheidung irgend eine Weisung? — Wenn dies nicht
der Fall ist — und es möchte schwer sein, derlei sichere Indicien beizubrin-
gen —, so befinden wir uns auf dem weiten und schlüpfrigen Gebiete des
Meinens, von dem gerathen ist den Fuls fern zu halten. — [Über die tref-
fende Antwort des Kleinias lässt Platon den Kriton seine Verwunderung
aussprechen und den Sokrates ausweichend scherzen; gewiss nicht, um das
sofort zurückzunehmen, was er so eben ausgesprochen hat. Ich denke viel-
mehr, der Scherz weist darauf hin, dass die blols skizzenhafte Andeutung
des Verfahrens, durch welches Jünglinge der Philosophie zu gewinnen sind,
den Erfolg des wissenschaftlichen Verkehrs, der in Wirklichkeit erst ein all-
mählicher ist, in einer wunderbar scheinenden Weise an den Anfang des
Verkehres rückt. Vgl. unten 8. 134 ff.]
EUTHYDEMOoS. 117
Betracht kommen müssen, nicht übersehen lassen. Drei Mo-
mente scheinen besonders beachtenswerth. Erstens, innerhalb
der beiden Sokratischen Gespräche kommt kaum irgend ein er-
heblicher Gedanke vor, den man nicht in anderen Platonischen
Dialogen, theils solchen, deren Abfassung der des Euthydemos
vorausgeht, theils solchen, die später fallen, ebenfalls ausgespro-
chen und gröfstentheils vollständiger entweder in der Begründung
oder in den Folgerungen behandelt fände, als im Euthydemos 15).
Zweitens, der weitere Verlauf des Gespräches über das Wesen
derjenigen Wissenschaft, bei der Wissen und Thun zusammen-
falle, wird nicht mehr in seiner vollständigen Durchführung mit
Kleinias dargestellt, sondern blofs seinem ungefähren Gange und
seinem resultatlosen Abschlusse nach von Sokrates dem Kriton
übersichtlich erzählt. Endlich, die subjective Erreichbarkeit des
. Wissens, διδαχτὸν ἢ σοφία, wird nicht erwiesen oder durch Zurück-
führung auf andere Annahmen glaublich gemacht, sondern ein-
fach als unzweifelhaft vorausgesetzt. Obgleich daher die Sophi-
stengespräche zu dem Ergebnisse führen, dass Wissen und
15) Es wird genügen, unter ausdrücklicher Beschränkung auf den Inhalt
der beiden Gespräche des Sokrates mit Kleinias, an die hauptsächlichsten
Puncte dieser Übereinstimmung zu erinnern. Die Aufzählung der Güter:
πλουτεῖν, ὑγιαίνειν, χαλὸν εἶναι Euth. 279 A ist ebenso Gorg. 451 E im An-
schlusse an das bekannte Skolion gegeben. Über den Unterschied der οὔτε
ἀγαϑὰ οὔτε xaxd von den ἀγαϑά und χαχά Euth. 280 Τὸ, vergl. Gorg. 467 E ff.
Dass jedes der Güter, die man gewöhnlich in diese Reihe rechnet, erst durch
die Einsicht zu einem Gute wird, durch den Mangel derselben aber ins
Gegentheil umschlägt, Euth. 281 D, kann man im Protagoras, Menon,
Gorgias und sonst des weiteren behandelt finden Prot. 345 B, 352 C, Men.
88 C, Gorg. 466 E, 467'A, Charm. 172 A. Dass zur Erlangung von Weisheit
jegliches zu thun und zu willfahren löblich ist, wird, wie es Euth. 282 B
berührt ist, im Symp. 184 C ff. ausgeführt. Die Lehrbarkeit der Weisheit
und, was damit in nothwendigem Zusammenhange steht, der Tugend, von
Kleinias dem Sokrates Euth. 282 C als eine ausgemachte Wahrheit zugestan-
den, bildet den Gegenstand des Beweises im ganzen Dialoge Menon. Durch
die Charakteristik der Redekunst Euth. 290 A wird man an die, selbst in
den Ausdrücken ähnliche Stelle Gorg. 454 E ff. erinnert. Die Identität der
königlichen mit der Staatskunst wird, wie Euth. 291 C, so Pol. 259 D ausge-
sprochen, und die im Euthydemos absichtlich offen gelassene Frage über
das Object dieses Wissens oder dieser Kunst findet im Politikos ebenfalls ihre
Beantwortung. Dass ihr die Feldherrnkunst untergeordnet ist, lesen wir
im Pol. 305 A ebenso wie Euth. 290 C, 1),
118 EurTH YDEMoSs.
Erwerben des Wissens unmöglich ist, und dagegen in dem ὅ50--
kratischen Gespräche die Möglichkeit zum Wissen zu gelangen
berührt wird, so kann doch nicht dieser Gegenstand es sein,
um dessen Erweis als solchen es sich handelte; denn mit der
Voraussetzung einer solchen Absicht stünde beides im Wider-
spruche, sowohl dass das Sokratische Gespräch keine im ein-
zelnen entgegnende Beziehung. auf die Sophistenbeweise nimmt,
als dass es denjenigen Punct, in welchem der Nerv der Wider-
legung enthalten sein würde, die Lehrbarkeit des Wissens (und
der Tugend), einfach als schon sicher und zugestanden hinnimmt.
Ein Verfahren, das unbegreiflich bleiben müsste, wenn man den
Erweis oder die Widerlegung der Sophistensätze über Lernen
und Wissen als Aufgabe des Werkes zu betrachten hätte, ge-
winnt seine vollständige Aufhellung, sobald wir Platons eigenen
Weisungen über seine Absicht folgen. Die Sophisten werden zu
»
einer ἐπίδειξις aufgefordert und gehen gern darauf ein (c. 4);
ihre ἐπί ΠΣ Ἂν gibt, da sich der Anfang als ein blofser, mit dem
Jünglinge getriebener Scherz betrachten lässt, dem Sokrates An-
lass, en des Beispiels halber eine ἐπίδειξις. seinerseits entge-
genzustellen (278 D). Also: Selbstdarstellung der So-
phisten und dagegen Selbstdarstellung des Sokrates
in ihrem unterrichtenden und bildenden Verkehr
mit der Jugend, das zeigt sich als Absicht dieser alterniren-
den Gespräche, sowohl wenn wir ihren Gang, als wenn wir die
ausdrücklichen Worte, mit denen sie eingeführt werden, in Be-
tracht ziehen.
Als Gegenstand dieses, der eigenen Selbstdarstellung dienen-
den geistigen Verkehres mit der Jugend haben sowohl die So-
phisten als Sokrates nicht irgend einen beliebigen Punet ihrer
Lehre auszuwählen; sondern beide haben die Aufgabe, den
Jüngling, an den sie sich wenden, zum Streben nach Weisheit
anzuregen. Für das Sophistenpaar wird diese Aufgabe aus dem,
was sie selbst als ihr Geschäft bezeichnet haben, ausdrücklich
dedueirt. Sie erklären von sich, dass sie Tugend zu lehren ver-
mögen. Sie setzen bei ihren Schülern, um einen Erfolg zu er-
reichen, nicht schon irgend eine Überzeugung voraus, sondern
können auch den unterrichten, der die Überzeugung von der
Lehrbarkeit der Tugend noch nicht hat. Sie sprechen sich
274
or
EUTHYDEMOos. 119
folglich eine vorzügliche Fähigkeit zu, jemanden zum Streben
nach Tugend zu bestimmen und zu ermuntern, χάλλιστ᾽ ἂν προ-
τρέψαιτε — εἰς ἀρετῆς ἐπιμέλειαν (275 A), Sokrates fügt ihnen
ohne besonderen Beweis zu der ἀρετῆς ἐπιμέλεια noch die φιλο--
σοφία, d.h. die ἐπιμέλεια σοφίας, hinzu, χάλλιστ᾽ ἂν προτρέψαιτε
εἰς φιλοσοφίαν χαὶ ἀρετὴς ἐπιμέλειαν. In Platons Sinn ist dies
nicht erschlichen; denn indem die Sophisten selbst die Tugend
als einen Gegenstand der Lehre bezeichnen, διδαχτόν, müssen sie
dieselbe für ein Wissen anerkennen oder doch zum Wissen in
bestimmte Beziehung setzen. Dass Platon den Sokrates diesen
Zusatz zu dem von den Sophisten selbst ausgesprochenen Ver-
sprechen nicht besonders deduciren lässt, darf man wohl als ab-
sichtliche Charakteristik für die Oberflächlichkeit und die Ruhm-
redigkeit der dargestellten Wortkünstler betrachten ; sie bemerken
gar nicht, dass ihnen ihre eigene Zusage aus dem Munde des
Sokrates etwas modifieirt zurückgegeben wird, und würden es
nicht über sich gewinnen können, irgend etwas durch ihren Un-
terricht nicht vermögen zu wollen. Nicht diesen Unterricht
selbst nun in Weisheit und Tugend, den die Sophisten geben
zu wollen versprechen, werden sie aufgefordert als ein Probe-
stück ihrer Kunst darzustellen — dies würde ja, heilst es 274 1),
275 A, zu weit führen —, sondern sie sollen nur den Jüngling
zu der Überzeugung von der Nothwendigkeit dieser ernstlichen
Beschäftigung bestimmen. Von derselben προτρεπτιχὴ σοφία (278C),
also der Methode, Jünglinge zu dem Studium der Philosophie
zu bestimmen, verspricht Sokrates bei dem Beginne seiner Un-
terredung mit Kleinias eine Probe zu geben, welche seine Über-
zeugung über diesen Gegenstand darlege. Dieser Absicht gemäfs
beschränkt sich das Gespräch des Sokrates darauf, die Noth-
wendigkeit der Philosophie zu erweisen und ihre höchste
Aufgabe, aber eben nur als Aufgabe, zu bezeichnen, also nur
darzulegen, wie dasjenige Wissen, das den erwiesenen Forde-
rungen entsprechen würde, beschaffen sein müsste, und welche
inneren Schwierigkeiten der Begriff eines solchen Wissens dar-
bietet; aber zur Lösung dieser Schwierigkeiten wird nicht
einmal ein Anfang gemacht!%). Und selbst die Methode,
16) Daraus, dass der Platonische Sokrates die Frage nach dem Inhalte
120 EurTHYDEMos.
durch welche der unbedingte Werth des Wissens erwiesen und
der Wissenstrieb erzeugt wird, kommt nur in dem Anfange des
Gespräches zu wirklicher Ausführung; dass in dem weitern Ver-
lauf nur eine Bezeichnung des einzuschlagenden Weges gegeben
werden soll, zeigt deutlich der Übergang aus dem Wiedergeben
des Gespräches selbst in die blolse Wiedererzählung seines
Inhaltes.
Erweist sich hiernach der aus den drei Sophistengesprächen 276
und den beiden Sokratischen Gesprächen bestehende Hauptstamm
des Dialogs durch Inhalt, Erfolg, Motivirung der Gespräche als
eine Selbstdarstellung der Sophisten und des Sokrates in ihrer
Bemühung, Jünglinge zu dem sittlichen Ernste geistiger Beschäf-
tigung und Wissensstrebens anzuregen, so brauchen wir nur
noch die in der Einleitung und dem Schlusse enthaltenen Mo-
mente hinzuzunehmen, um die specielle Richtung zu erkennen,
in welcher diese Selbstdarstellung gegeben wird, und so über
den Grundgedanken des ganzen Dialogs Gewissheit zu erhalten.
Auf die Bildung des Kleinias wird besonderer Werth gelegt.
Schönheit der Gestalt, reiche natürliche Begabung, Abstammung
aus angesehenem Geschlechte machen ihn wie einer edlen Bil-
dung besonders fähig, so der Verführung auf Irrwege leicht zu-
gänglich (275 A, B). Anderseits ist Kriton auf die Bildung
seines Sohnes bedacht und in nicht geringer Unruhe über die
Mittel, die er dazu wählen soll. Ist es gefahrlos, ihn durch
Philosophie bilden zu lassen? Blickt Kriton auf Sokrates, so er-
und Gegenstande der königlichen und Staatskunst nur in ihren inneren
Schwierigkeiten darlegt und diese gänzlich ungelöst lässt, darf man natür-
lich nicht folgern, dass dem Platon selbst bei Abfassung des Euthydemos
diese Frage noch unlösbar erschienen oder ungelöst gewesen sei. (Vgl. Miche-
lis, die Philosophie Platons I. S. 277: „Indem Platon diese Consequenz der
absoluten Denkwillkür zu ihrem vollen Ausdruck kommen lässt, und ihr
gegenüber den Begriff der echten Politik als der königlichen Kunst ent-
wickelt, die das Endziel von allem, die Erreichung des wahren Zieles des
Menschenlebens in sich schlielst, ohne doch auch für sie jetzt schon den
eigentlichen Inhalt finden zu können, so ist ete.“). Ich erwähne dies
nur, weil diese Art der Folgerung in der Erklärung Platonischer Dialoge
weit verbreitet ist. Man sollte aber bei dieser Art zu folgern doch in Er-
wägung ziehen, ob denn jene Ruhe und Sicherheit der Discussion einer
Frage als Frage für jemand möglich ist, für den sie eben nur noch Problem
ist und eine Möglichkeit der Lösung sich nicht dargeboten hat.
ΕΠΠΤΗΥΘΈΜΟΞΒ. 121
scheint ihm ein solcher Entschluss nicht nur gefahrlos, sondern
nothwendig; beachtet er dagegen die Männer, die sich für Phi-
losophen und Erzieher zur Tugend ausgeben, so schreckt ihn
die Verkehrtheit dieser Männer ab, so dass er nicht weils, wie
er sich entschliefsen dürfe den jungen Menschen zur Philosophie
aufzumuntern. Darauf entgegnet Sokrates, unter Hinweisung
auf die grofse Mehrheit des Mittelmälsigen und Ungenügenden,
die sich auf dem Gebiete jeder Kunst und jedes Wissens finde:
„Lass also die, welche Philosophie zu ihrem Geschäfte machen,
ganz bei Seite, ob sie gut oder schlecht sind, und prüfe nur die
Sache selbst recht gründlich und genau; und erscheint sie dir
als schlecht, so wehre jedermann davon ab, nicht nur deine
Söhne, erscheint sie aber auch dir so, wie sie mir vorkommt,
so gehe ihr getrost nach und übe sie, du selbst, wie man zu
sagen pflegt, und deine Kinder“ (307 B).
Diese Schlussworte des Dialogs geben, wenn es dessen be-
darf, noch den letzten entscheidenden Beweis für die Absicht
des Ganzen:
„Der Beruf der Philosophie, die wahre Bildnerin
der Jugend zu sein, wird gerechtfertigt gegenüber
der Scheinweisheit, die an ihre Stelle eintreten will,
durch Selbst-Darstellung der einen und der an-
deren!’).“
17) Ob durch diese Zusammenfassung alle Momente des Dialogs ge-
wissenhafte Beachtung gefunden haben, möge noch die Vergleichung mit den
anderweiten darüber ausgesprochenen Ansichten zeigen. K. F. Hermann
S. 467: „— So wenig uns auf der einen Seite der Mangel einer tieferen phi-
losophischen Bedeutung bestimmen kann, mit Ast das Ganze für unplato-
nisch zu erklären, eben so wenig werden wir auch im einzelnen einen höhern
Zweck finden wollen, als den der Gegensatz der ostentatorischen und blols
auf eigenem Vortheil beruhenden Protreptik der Sophisten mit den einfachen
und sachgemälsen Principien Sokratischer Weisheit mit sich bringt.“ Bran-
dis II, 1. S. 172, nn.: „Verspottende Darstellung eitler sophistischer Fech-
terkünste und kurze Nachweisung der Weisheit als derjenigen Kunst, die
ihren Gegenstand zugleich hervorzubringen und zu gebrauchen im Stande,
d.h. als der wahren Staats- oder königlichen Kunst, bildet die beiden sehr
ungleichen Bestandtheile des Euthydemos, die zu der Einheit eines Dialogs
zu verknüpfen den Plato theils der am Schluss hervortretende Zweck, die
wahre Philosophie, in ihrem Unterschiede von der Sophistik, gegen die Ver-
unglimpfungen der Rhetoren zu vertheidigen, theils Nothwehr gegen die
122 EuTHYDEMOoS.
Während die Scheinweisheit die Möglichkeit des Lernens 278
aufhebt und jede geistige Beschäftigung zu einem spielenden
Kritik einiger Sokratiker veranlasst zu haben scheint.“ Zeller (Pauly,
Realencykl. V, 5. 1693) : „Demselben Streite mit der Sophistik um die Mög-
lichkeit und den sittlichen Zweck des Wissens gehört der Euthydemos an,
eine platonische Nebenschrift, welche theils in überfliefsendem Spott, theils
in ruhiger Lehrrede die Frivolität der sophistischen, wohl auch der cynischen
Eristik bekämpft und ihr den Ernst der Sokratischen Dialektik entgegen-
stellt.“ Was in den angeführten Stellen diese verdienten Forscher als Inhalt
und Aufgabe des Euthydemos bezeichnen, ist ohne Zweifel in demselben
enthalten; aber die eigenthümliche Richtung, welche der Gegensatz
zwischen Scheinweisheit und Platonischer Philosophie gerade in diesem Werke
erhält, ist daraus nicht zu erkennen. — Ähnliches gilt, wenn man von der
unberechtigten Bezugnahme auf Gorgias absieht, von derjenigen Bezeichnung
des Grundgedankens, welche Steinhart 8. 16 f. gibt: „Dieser durch alle
Theile sich hindurchziehende Grundgedanke ist der Begriff des wahren Wis-
sens und Lernens und des Strebens nach der höchsten Wissenschaft, die zu-
gleich die vollendete Tugend und die höchste Staatskunst ist, im Gegensatze
zu den von entgegengesetzten Anfangspuncten aus in der Aufhebung aller
festen Wahrheit und alles logischen Denkens sich begegnenden Theorien
des Protagoras und des Gorgias und zu der an diese Theorien sich anschlie-
(senden Scheinweisheit jener um Wahrheit und Sittlichkeit unbekümmerten
Sophisten, denen die Dialektik zur bodenlosen, mit leeren Formeln fechten-
den Streitkunst, das Mittel also zum Zweck wurde.“ Aber an anderen Stel-
len seiner Einleitung nimmt Steinhart in seine Formulirung des Grundge-
dankens des Dialogs Momente auf, die man auf das bestimmteste bestreiten
muss. Dies geschieht Κ΄. 7 f. und kürzer zusammengefasst S. 26: „Wir haben
also in unserem Dialog den ersten, wenn auch noch mehr spielenden Ver-
such Platons, zwischen den schroffen Einseitigkeiten der in ihren Endpunc-
ten noch dazu zusammenlaufenden Lehren des Herakleitos und der Eleaten
eine Ausgleichung zu finden; im Kratylos, im Theätetos und Sophisten aber
werden wir ihn bald entschiedener nach diesem Ziele streben sehen.“ Dass
auf die Schule des Herakleitos und auf die Eleatische eine Beziehung im
Euthydemos vorauszusetzen kein Recht ist, hat bereits Susemihl nachgewie-
sen. Aber gesetzt, die Sophismen eines Euthydemos und Dionysodoros dürf-
ten als letzte Ausläufer der Herakleitischen und Eleatischen Philosophie be-
trachtet werden, so ist das jedenfalls eine höchst eigenthümliche „Vermitt-
lung“ dieser Gegensätze, wenn Platon die Consequenzen der einen wie der
andern Seite sich durch ihre blofse Selbstdarstellung in ihrer Nichtigkeit und
Leerheit darstellen lässt. Auch ist es gewiss kein glücklicher Gedanke, und
vor allem, es findet in Platons eigenen Worten keine Berechtigung, den Euthy-
demos in der bezeichneten Weise mit dem Kratylos, Theätetos, Sophistes
unter denselben Gesichtspunct zusammenfassen zu wollen. — Wenn endlich
Susemihl 5. 133 schreibt: „Die vorläufige Charakteristik der Philosophie
als der vereinigten Dialektik und Ethik oder Politik dürfte die Hauptauf-
EUTHYDEMOoS. 123
Zeitvertreib mit blofsen Worten macht, erweist die Philosophie
das Wissen als das einzige sittliche Gut und zeigt zugleich die
Aufgabe dieses Wissens. Die Erfolge des Unterrichtes werden
bei jeder dieser beiden Seiten typisch dargestellt an Ktesippos,
der in jugendlichem Übermuthe die Räthselspiele der Sophisten
schnell begreift, nachahmt und überbietet, und an Kleinias,
dessen sinnige Bescheidenheit dazu erstarkt, den Weg, auf den
sie geleitet wird, selbst weiter zu verfolgen.
Wenn hiermit, nach Anleitung der von Platon selbst ge-
gebenen Weisungen, die Absicht des Dialogs richtig bezeichnet
ist, so haben wir nicht nöthig die Abfassung desselben dadurch
gewissermalsen erst zu entschuldigen, dass wir ihn für eine blofse
279 Gelegenheitsschrift ausgeben 18. Man würde sich ja sonst ge-
gabe dieses Werkes sein,“ so erfordert diese Charakteristik schwerlich eine
ernstliche Bestreitung. So unbestimmt und allgemein, dass sie es unmög-
lich macht das Eigenthümliche dieses Dialogs daraus zu ahnen, enthält sie
doch zugleich anderseits zu viel, da auf einen einzelnen, im Dialoge nicht einmal
ausgeführten Gedanken aller Werth gelegt ist. Auch Deuschle bestreitet
(Jahn’sche Jahrb. 71, S. 759 ff.) diese Auffassung, nur ist seine Entgegnung
mit Hypothesen complieirt, in die ich nicht vermag ihm zu folgen. — Dage-
gen ist der eigenthümliche Gesichtspunet des Platonischen Euthydemos längst
treffend von Welcker bezeichnet, wenn man auch nicht darum allen seinen
Bemerkungen über diesen Dialog beistimmen mag, vgl. Kl. Schr. II, S. 440:
„Nehmen wir aber an, dass Platon hier nicht gegen Lehren und einzelne
bedeutende Personen streitend mit dem Baue der Wissenschaft beschäftigt
sei und weder frühere Behauptungen zu bestätigen noch erfahrene Einwen-
Gaungen in ihr Nichts aufzulösen beabsichtige, sondern eine zwar innerlich
nichtige, aber durch den Beifall der Menge für den Augenblick nicht gleich-
giltige verderbliche Art des Jugendunterrichts angreife, und also der Vorzug
nicht in der Tiefe der Gegengründe, sondern in der Kraft der Wirkung und
satirischen Zeichnung zu suchen sei, so stimmt unter diesem Gesichtspunct
alles wohl überein.“ — „Ein Vater wie Kriton wird durch solche Sophisten
irre, ob er seinen Sohn überall in der Philosophie unterrichten lassen soll
(306 C).“ Dieselben Gesichtspunete hebt Rug. Bonghi in seiner Einleitung
zum Euthydemos (Opere di Platone nuovamente tradotte. Vol. 1) hervor,
namentlich in der lebhaften Schilderung der damaligen Gegensätze der An-
sichten über die Bildung der Jugend. 8. 17 f.
18) Diese Entschuldigung des Werkes als einer blolsen Gelegenheits-
schrift spricht zuerst Schleiermacher aus, II, 1 (3. Aufl.) S. 273: „Und
wenn auch niemand gerade zweifeln dürfte, ob Platon wohl so etwas könnte
verfasst haben, so wird doch jeder nach einer besonderen Veranlassung
fragen zu einer Schrift, die nur als gelegentlich gedacht werden kann“
u.s.w. Die gleiche Erklärung gibt Brandis II, 1, 8.173, nn: „Nichts
124 EUTHYDEMOoS.
zwungen sehen, selbst den Gorgias auf die gleiche Stellung einer
Gelegenheitsschrift hinabzudrücken; denn die Analogie zwischen
dem Grundgedanken des einen und des andern dieser beiden
Dialoge leuchtet auf den ersten Blick ein. Wenn im Gorgias
erwiesen wird, dass Philosophie im Sinne Platons und nicht die
politische Rhetorik, wie sie zu jener Zeit verbreitet war, der
wahre sittliche Lebensberuf des Mannes ist, so wird hier er-
wiesen, dass die Philosophie im Sinne Platons, und nicht ein
sophistischer Unterricht, wie er damals weit verbreitet und be-
nützt war, die wahre sittliche Bildnerin der höher strebenden
Jugend ist. Wie verschieden auch die Mittel sind, mit denen
der eine und der andere Gedanke durchgeführt wird, die Ver-
wandtschaft und genaue Zusammengehörigkeit beider ist so offen-
bar, dass dieselbe vielleicht selbst der Richtigkeit der Auffassung Ὁ
zur Bestätigung dienen kann.
Welchen Seiten gegenüber die Philosophie im Sinne Platons
für ihren Beruf als Bildnerin der Tugend erst noch einer be-
sonderen Rechtfertigung bedarf, darüber lässt der Dialog selbst
keinen Zweifel. Der natürliche Verstand und schlichte Bürger-
sinn 19) verwirft mit Unwillen die sophistischen Künsteleien; aber
mit ihnen theilt das ernste wissenschaftliche Streben eines Sokrates
desto weniger enthält es, wenn auch nur als Gelegenheitsschrift zu
betrachten, nicht unwesentliche Erörterungen“ u. s. w. Dasselbe bezeichnet
auch Zeller in der Anm. 17 angeführten Stelle durch den Ausdruck Neben-
schrift.
19) Mehr oder Tieferes, als ich in diesen Worten bezeichnet, möchte ich
nicht wagen in die Charakteristik des Kriton, wie dieser Dialog sie gibt,
zu legen. Steinhart 5. 12 nennt Kriton noch „den wissbegierigen und streb-
samen“; aber es möchte doch schwer sein, am Kriton des Euthydemos ein
weiteres und eingehenderes Interesse für die wissenschaftlichen Bewegungen
und Gegensätze seiner Zeit nachzuweisen, als wir es bei den wohlhabenden
Athenern überhaupt vorauszusetzen haben. Hiermit in voller Uebereinstim-
mung ist das Bild des Kriton, welches wir aus den übrigen Platonischen
Dialogen erhalten; überall erkennen wir den treuen, zu jedem Opfer berei-
ten Freund des Sokrates, der, von aufrichtiger persönlicher Hochachtung
vor Sokrates erfüllt, von diesem wiederum volles Vertrauen erfährt; aber
nirgends erscheint er als ein strebsamer Schüler oder als ein mitforschender
Genosse des Sokratischen Philosophirens. (Vgl. über ihn auch Zeller I, 1.
S. 166, 1.) Besonders charakteristisch ist in dieser Hinsicht die Stellung,
die ihm im Dialoge Phädon gegeben wird.
ἘΤΗΥΘΈΜΟΚΒ. 125
oder Platon nicht blofs den Namen, sondern hat selbst aulser-
dem zu ihnen so manche unleugbare Verwandtschaft, dass es
begreiflich ist, wenn Mangel an unterscheidender Einsicht in die
20 Sache mit der leichtfertigen Sophistenweisheit zugleich das ge-
wissenhafte Streben nach Wissen verwirft. Anderseits entzieht
dilettantischer Hochmuth der Philosophie durch seine vornehm
herablassende Anerkennung ihren wahren Werth. Es gehöre
wohl zur edlen Bildung, von Philosophie Kenntnis genommen
zu haben, aber ihr in ihre letzten Consequenzen nachzugehen
- sei pedantische Beschränktheit; eine mälsige Beschäftigung mit
Philosophie, eine mälsige Beschäftigung mit der Staatskunst,
beides in richtige Verbindung gebracht, schaffe die rechte Bil-
dung des edlen Mannes). Jener aus Verwechslung und man-
gelnder Einsicht hervorgegangenen Verwerfung der Philosophie
wird deren Unterschied von der Sophistik anschaulich dargestellt ;
diese hochmüthige Herabsetzung der Philosophie wird darauf hin-
gewiesen, dass das Streben nach Wissen nicht anders seine Be-
friedigung finden könne, als in einem Wissen, das von dem Thun
untrennbar ist, Philosophie und Politik also gar nicht aulser ein-
ander liegen, so dass man zwischen ihnen eine Mittelstellung
einnehmen könnte, sondern in ihren Principien zusammenfallen 2).
In der Person des Kriton und des als λογογράφος bezeichneten
Isokrates®) werden die Vertreter des einen und des andern Ur-
20) Euthyd. 305 Ὁ: μετρίως μὲν γὰρ φιλοσοφίας ἔχειν, μετρίως δὲ πολιτι-
χῶν, πάνυ ἐξ εἰχότος λόγου. Genau dieselbe Ansicht über die Erfordernisse
einer wahren Bildung wird dem Kallikles und seinem Kreise zugeschrieben,
Gorg. 487 C: ἐνίχα ἐν ὑμῖν τοιάδε τις δόξα, μιὴ προϑυμεῖσϑαι εἰς τὴν] ἀχρίβειαν
φιλοσοφεῖν, ἀλλὰ εὐλαβεῖσϑαι παρεχελεύεσϑε ἀλλήλοις, ὅπως μὴ πέρα τοῦ δέοντος
σοφώτεροι γενόμενοι λήσετε διαφϑαρέντες.
2) Dass nach Platons Überzeugung Philosophie und Politik im wahren
Sinne dieses Wortes nicht einen Gegensatz bilden, sondern eine des Namens
würdige Politik nur auf der Philosophie als Grundlage erbaut werden kann,
ist, selbst noch vom Politikos und dem Staate abgesehen, im Gorgias deut-
lich ausgesprochen, namentlich wenn 521 D Sokrates von sich sagt: Olpaı
per ὀλίγων ᾿Αϑηναίων, ἵνα μὴ εἴπω μόνος, ἐπιχειρεῖν τῇ ὡς ἀληϑῶς πολιτιχῇ
τέχνῃ χτὰ. In gleichem Sinne spricht sich Steinhart aus S. 25.
22) Dass unter dem λογογράφος kein anderer als Isokrates gemeint ist,
hat Spengel in seiner Abhandlung: „Isokrates und Platon“ (Abhandl. der
philos.-philol. Classe der bair. Akad. ἃ. W. VIII. 3. 1855) zur Evidenz ge-
bracht. Ehe ein Versuch gemacht ist — und bisher ist dies meines Wis-
126 ΕἘΠΠΤΗΥΘΈΜΟΞΒ.
theils in so allgemein typischer Weise charakterisirt, dass es
schwer ankommt, die sich von selbst aufdrängenden Anwendungen
auf weit davon entlegene Zeiten unberührt zu lassen, aber zu- 21
gleich in so genauer Würdigung der damaligen Culturzustände
der Hellenen und speciell der Athener, dass man sieht, es be-
darf nicht der Annahme eines besonderen einzelnen Anlasses,
um die Abfassung dieses Dialogs begreiflich zu finden, sondern
er gehört vielmehr zu der Ülasse jener Platonischen Dialoge,
welche die Stellung der Philosophie in der gesammten damaligen
Cultur zu sichern bestimmt sind.
Wie uns der Platonische Euthydemos unmittelbar zeigt,
welche Seiten es sind, auf deren Urtheil über die Philosophie
als Mittel und Inhalt der Jugendbildung Platon belehrend oder
bestreitend Bezug nimmt, so lässt sich aus ihm auch ersehen,
welche Erscheinungen einer blofsen Scheinweisheit es sind, denen
gegenüber Platon den Unterschied und den Werth der wahren
Philosophie zu erhärten sucht, oder wenn nicht unmittelbar er-
sehen, so doch mit gröfster Wahrscheinlichkeit erschliefsen. In
dieser Hinsicht haben wir unverhohlen anzuerkennen, dass den
Zeitgenossen leichte Andeutungen ganz anders verständlich sein
mussten, als sie es uns sind, und uns Combinationen nur zu
einer Wahrscheinlichkeit führen, wo den gebildeten Zeitgenossen
die Absicht unmittelbar anschaulich war. Die Richtung für
diese Combinationen ist bereits durch Schleiermacher 2) treffend
bezeichnet, und der dazu verwendbare Stoff von Nachrichten ist
seitdem so vollständig zusammengebracht*!), dass es ausreichen
wird, in möglichst bündig beweisender Form daran zu erinnern.
Als Repräsentanten der Afterweisheit, welche an die Stelle
der Philosophie als Bildnerin der Jugend sich eindrängt, treten
sens nicht geschehen —, die Ergebnisse jener Abhandlung, die für den Pla-
tonischen Phädros noch wichtiger sind als den Euthydemos, zu widerlegen,
ist es unnöthig, ein Wort zur Verstärkung der Gründe hinzuzufügen.
2) Schleiermacher a. a. O. S. 276: „Es wird sehr wahrscheinlien, dass
Platon unter dem Namen jener beiden Sophisten viel mehr die megarische
Schule und den Antisthenes angefochten hat.“
ἢ Man überblickt die Data, aus denen die Beziehung einiger Partien
des Euthydemos auf Antisthenes hervorgeht, am klarsten und vollständig-
sten aus den Anmerkungen in Zellers Philos. d.Gr. II. 1. S.212f. (2. Aufl.)
EUTHYDEMOoS. #27
in dem Dialoge die Brüder Euthydemos und Dionysodoros auf.
Euthydemos wird auch sonst noch als Sophist erwähnt, Diony-
sodoros dagegen nur als Lehrer des Kriegswesens. Hierauf ruht
die Vermuthung Welckers 2), dass Dionysodoros gar nicht Sophist
gewesen, sondern nur Euthydemos; es liege eine eigenthümliche
Schalkheit Platons darin, die beiden Brüder, deren einer mit
Worten, der andere mit Waffen fechten lehrte, zur Durch-
22 führung desselben Wortgefechtes zu verbinden — eine Ver-
muthung, die so ansprechend und witzig sie ist, doch, als eben
nur aus dem Mangel an anderweiten Nachrichten über Diony-
sodoros erschlossen, sich nicht zu völliger Evidenz bringen lässt.
Von Euthydemos aber ist ersichtlich, dass er, obgleich als Weis-
heitslehrer auch sonst noch historisch constatirt, doch nicht mit
den angesehensten Männern, welche diesen Beruf verfolgten, auf
gleiche Linie gestellt wird?%). Ferner, diesem Brüderpaare wird
25) Vergl. Welcker, Kl. Schriften. II. 8. 443.
%) Winckelmann hat in seiner Speeialausgabe des Euthydemos (Leipzig
1833) ὃ. XXIV—XXVIII das Ansehen, in welchem Euthydemos bei seinen
Zeitgenossen gestanden hat, in ein möglichst günstiges Licht zu stellen ge-
sucht. „Quamobrem animus fert, conquirere veterum de Euthydemo et Dio-
nysodoro testimonia, quorum quaedam latuerunt nostri dialogi interpretes,
ut his juxta se positis elucesecat, nobilissimos fuisse illos sophistas.“ Un-
ter diesen testimoniis wird auch unbedenklich Plat. Soph. 251 Β, Ο τῶν γερόν-
τῶν τοῖς ὀψιμαϑέσι mit angeführt, Worte, an deren Beziehung auf Antisthe-
nes wohl kein Zweifel mehr besteht, vergl. Zeller, Philos. ἃ. Gr. II. 1. 8.210,
3 (2. Aufl.). Übersehen ist dagegen die von Welcker a. a. Ὁ. 8. 442, Anm.
139 eitirte Stelle aus Aleinous Introd. ad Plat. dogm. cap. 6. Wenn man
selbst nicht in Abzug bringen wollte, wie viel von jenen wenigen und den
Euthydemos keineswegs so bedeutend erhebenden Anführungen auf den Pla-
tonischen Dialog selbst zurückgeht, so wird man sich doch nicht bestimmt
finden, daraus auf nobilissimi sophistae zu schlielsen. Winckelmanns
Nachweisungen führt K. F. Hermann S$. 467 und Anm. 359 mit Beistim-
mung an. Auf diese Gründe mag es wohl zurückgehen, wenn Steinhart
S. 3 erklärt, dass, freilich „unter den geringeren Sophisten“, Euthydemos und
Dionysodoros „sich einen ziemlichen Namen erworben“ hatten. Die Aner-
kennung, welche Steinhart hier mit der bezeichneten Einschränkung aus-
spricht, wird noch bedeutend gehoben, wenn derselbe S. Sf. schreibt: „Beide
Werke (Protagoras und Euthydemos) stellen, wie schon der grölsere Hippias,
das Treiben der Sophisten und ihrer Anhänger mit einer von schalkhaftem
jugendlichem Übermuthe übersprudelnden, frischen und fröhlichen, aber nie
bitteren und vernichtenden, vielmehr auch den Gegner mild und heiter
anerkennenden Komik dar, so dass wir bei Lesung derselben jenes von
128 EUTHYDEMOoS.
eine grolse Menge von Trußschlüssen und Räthselfragen zuge- 288
schrieben, von denen gar Manche vollkommen oder beinahe
ι
\
\
\
allen Missklängen freie ästhetische Behagen empfinden, das die gelungen-
sten Werke der alten Komödie in uns erregen. Wie viel herber und stren-
ger ist schon der Ton, den Platon im Gorgias anstimmt.“ Es ist mir nicht
möglich, dieses Urtheil über die „mild und heiter anerkennende Komik“
mit dem feinen Gefühle gerade für die künstlerische Seite der Platonischen
Dialoge, das sich in Steinharts Einleitungen durchweg bekundet, in Ein-
klang zu bringen. Man kann doch die extremen Derbheiten nicht über-
sehen, welche Platon den Ktesippos gegen dieses Sophistenpaar gebrauchen
lässt; auch die Selbstverhöhnung, welche er dem Dionysodoros durch die
äulserst verfängliche Art des gewählten Beispiels 301 A ('Eav οὖν, ἔφη, παρα-
γένηταί σοι βοῦς, βοῦς εἶ, χαὶ ὅτι νῦν ἐγώ σοι πάρειμι, Διονυ σόδωρος el)
in den Mund legt, ist schwerlich einem Missverständnisse unterworfen. Und
möchte man derlei zu beseitigen versuchen, so ist doch nicht zu beseitigen,
durch welch kindische Amphibolie Sokrates ausdrücklich erklärt, ihre Weis-
heit nachzuahmen, 301 B. Eben so wenig ist die Lobrede misszudeuten,
welche Sokrates diesen Sophisten nach Beendigung ihrer Epideixis hält, 303 C
— 304 B. Und vor allem, wenn im weiteren Verlaufe Sokrates gar nicht auf
eine Entgegnung gegen diese Kuuststückchen eingeht, sondern es ihnen
überlässt sich durch ihre Selbstdarstellung ad absurdum zu führen, so ist es
doch schlechthin unmöglich, darin eine „heiter anerkennende Komik“ zu fin-
den, und nicht vielmehr eine vernichtende Satire (vergl. Welcker a. a. O.
S. 440). — [Einige andere noch nachweisbare Träger des Namens Euthyde-
mos führt Winckelmann a. a. Ὁ. S. XXV, Anm. a an. Schaarschmidt, wel-
cher den Dialog Euthydemos für die Fälschung eines Nachahmers ansieht,
worüber unten S. 131 ff. gehandelt wird, betrachtet („Sammlung der Plato-
nischen Schriften ete.“ S. 341) die Figur des Euthydemos selbst als eine
Combination des von Aristoteles in den Elenchen und des davon verschie-
denen von Xenophon in den Memorabilien 4, 2 erwähnten Euthydemos. Um
die Unhaltbarkeit solcher Hypothesen, zumal in Verbindung mit der An-
nahme, dass ein compilirender Nachahmer den Dialog verfasst habe, einzu-
sehen, hat man nur nöthig, den ganzen auf ihn bezüglichen Abschnitt der
Xenophontischen Schrift nachzulesen und sich nicht auf die von Schaar-
schmidt herausgehobenen Paragraphen zu beschränken.] — Mit der Werth-
schätzung des Sophistenpaares steht in einem gewissen Zusammenhange die
Deutung, welche Steinhart dem im Dialoge vorausgesetzten Greisenalter des
Sokrates gibt; er sei nämlich eben als Altersgenosse den Greisen gegenüber
gestellt, damit er durch keine Rücksicht gebunden „die schärfste Lauge des
feinsten Spottes“ (S. 10) gegen sie ausgielsen konnte. Ganz abgesehen da-
von, wie wir diese „schärfste Lauge“ mit der Anerkennung einer heiteren
Komik einigen sollen — wird es denn dem Jünglinge Ktesippos irgend ver-
wiesen, dass er zu groben Beleidigungen gegen das Sophistenpaar fortschrei-
tet? Sokrates sucht dann jedesmal nur den Gang des Gespräches vor der
Ausartung in Gezänk zu bewahren. Dass übrigens die in dem Dialoge er-
25
EuTHYDEMoSs. 129
gleich sich in der Aristotelischen Schrift über die sophistischen
. Trugschlüsse wiederfinden, ohne dass Aristoteles dieselben, ob-
_
gleich er doch den Euthydemos einmal’ nennt, ausdrücklich auf
diesen zurückführte 27) oder irgend etwas zu der Annahme be-
rechtigte, dass Aristoteles die mit dem Platonischen Euthydemos
übereinstimmenden Trugschlüsse eben aus der Platonischen Schrift
entlehnt habe. Dadurch wird wenigstens höchst wahrscheinlich,
dass auf des Brüderpaares Namen Platon vereinigt hat, was an
Trugschlüssen und verfänglichen Fragen zu jener Zeit im Um-
laufe war, oder diejenige Blumenlese aus den sämmtlichen vor-
handenen gegeben und hier und da noch besser herausgeputzt 25)
hat, die ihm für seine Zwecke am geeignetsten schien. — Eind-
lich, es ist nicht nothwendig vorauszusetzen, dass Platon, wenn
er die eristische Scheinweisheit der wahren Philosophie gegen-
überstellt, in den Umfang jener, zu deren Repräsentanten er die
streitsüchtigen Brüder gemacht hat, nur Sätze von solchen
Männern gezogen habe, die wir jetzt, wie sich uns die Ge-
dankenbewegung jener Zeit nunmehr in bestimmten Contrasten
darstellt, den Sophisten zurechnen; es kann sehr wohl sein,
kennbaren Data nicht einmal auf die Annahme des Greisenalters des Sokra-
tes führen, hat Munk (Die natürliche Ordnung der Plat. Schr. S. 166 f.) ein-
gehend nachgewiesen; und wenn jene Data auf die Voraussetzung vom
Greisenalter des Sokrates führten, so könnten den Platon zu dieser Darstel-
lung manche andere Gründe bestimmt haben, z. B. die uns nicht näher be-
kannten Zeitverhältnisse des Euthydemos und Dionysodoros und ihres Aufent-
haltes in Athen, oder die Beziehungen auf Antisthenes oder manches andere.
Aber gewiss nicht der Grund, den Susemihl annimmt, nämlich dadurch
„den reiferen Charakter des Dialoges anzudeuten“ S. 142. Was müssen wir
dann von den Dialogen Protagoras und Gorgias, was vollends vom Parme-
nides urtheilen? Und wie weit ist denn eine solche Ausdeutung überhaupt
noch von dem Principe entfernt, nach welchem Munk die „natürliche Ord-
nung“ der Platonischen Dialoge hergestellt hat?
27) Identisch mit den Sophismen 1, 2 des Platonischen Euthydemos ist
Arist. Soph. el. 4. 165b 32 ff. 166° 30, mit Sophisma 13 Arist. 24. 1792 34,
b14, 39, 1802 4; mit Sophisma 16 Ar. 4. 166% 12, 19. 1772 22. Mit Sophisma 9
lässt sich vergleichen, obgleich die Behandlungsweise eine andere ist, Ar. 4.
1662 31. — Euthydemos, der Sophist, nicht der Platonische Dialog, wird
erwähnt 20. 177b 12, als Urheber eines im Platonischen Dialoge nicht vor-
kommenden Sophisma.
28) Unverkennbar von Platon selbst in eine interessantere Form und
Combination gebracht ist das Sophisma 90.
Bonitz, Platonische Studien. 9
130 EUTHYDEMoSs.
dass er auch gleichzeitige Denker mit einschliefst, deren ernstem
Streben der Ehrenname der Philosophie nicht abgesprochen wer-
den darf, während Platon ihre Lehren mit denen der Sophisten
auf gleiche Linie stellte. Man braucht sich nur daran zu er-
innern, dass nicht nur die Aristophanische Komödie zwischen
Sokrates und den gleichzeitigen Sophisten oder den älteren Natur-
philosophen einen Unterschied nicht anerkennt, sondern auch
die Reden des Isokrates den Platon, den Antisthenes und die
Sophisten als die Streitkünstler zusammenfassen, die auf nichtige
Dinge eine unnütze Mühe verwenden?®). Mag es daher Anti-
sthenes auch noch so sehr verdienen, dass man seine Einsicht
in ein wirkliches philosophisches Problem zu Ehren bringe und
gegen den Vorwurf leerer Eristik schütze 50), so würde es doch
durch den Gegensatz der Lehre des Antisthenes gegen die des
Platon, durch die paradoxe Form und die Erfolglosigkeit!) des
Antisthenischen Philosophirens, vielleicht noch überdies durch
die spielende Anwendung, die etwa von den Antisthenischen
Sätzen gemacht werden mochte, vollkommen begreiflich werden,
wenn Platon ihn unter die Sophisten rechnete. Dass dies wirk-
lich der Fall ist, lässt sich nach der Übereinstimmung der in
dem zweiten sophistischen Streitgange behandelten Sätze mit 25
der Lehre des Antisthenes unmöglich in Abrede stellen #2). Da-
durch gewinnt dann auch die in dem dritten Streitgange vor-
kommende, aus der gesammten Umgebung sich durch ihren In-
halt auffallend heraushebende Berührung der Platonischen Ideen-
29) Sogleich zu Anfang der Rede Helena ὃ 1 werden Antisthenes, Platon
und οἱ περὶ τὰς ἔριδας διατρίβοντες in einer Reihe aufgeführt; in der Rede
gegen die Sophisten geht der Ausdruck ὃ 1 οἱ περὶ τὰς ἔριδας διατρίβοντες, wie
der Inhalt des nächstfolgenden erweist, ausdrücklich auf Platon; Panath.
ὃ 26 müssen wir τοὺς διαλόγους τοὺς ἐριστιχοὺς χαλουμένους auf die Platoni-
schen Dialoge beziehen (Spengel a. a. Ὁ). $. 752) u. a. m.
3) Hartenstein, Über die Bedeutung der megarischen Schule für- die
Geschichte der metaphysischen Probleme, in dessen „Historisch-philosophi-
schen Abhandlungen“ S. 127—147, besonders 8. 138 ff.
31) Hartenstein a. a. Ο. S. 146.
32) Die Übereinstimmung der in dem zweiten Streitgange behandelten
Sätze mit den Lehren des Antisthenes erweist Zeller an der Anm. 24 be-
zeichneten Stelle. Zu vergleichen ist damit überdies die Polemik Platons
gegen Antisthenes im Theätetos 201 D ff. und im Sophistes 251 B.
4
<
EvurHYDEnmos. 131
lehre ihre passende Beziehung. Antisthenes hatte dieselbe, wie
uns ausdrücklich berichtet wird 85), bestritten. Platon entgegnet
auf diese Bestreitung, indem er sie einem sehr unbedeutenden
Gesellen in den Mund legt, und indem er ferner zum Inhalt
des Einwandes selbst die blofse Missdeutung eines Wortes macht
und dasselbe Wort in ähnlicher Weise zu höhnenden Folge-
rungen benützt.
C. Schaarschmidt hat in der Schrift „Die Sammlung der
Platonischen Schriften ete. 1866“, durch welche er unter den als
Platonisch überlieferten Dialogen vollständiger als jemand vor
ihm aufzuräumen unternommen, auch den Euthydemos S. 326
—342 schonungslos aus der Reihe der Platonischen Werke aus-
geschieden. Ein Verwerfungsurtheil, das aus einer grolsen Zahl
von Gründen abgeleitet ist, deren jeder, selbst wenn er an sich
richtig wäre, nur einen geringen Bruchtheil von Geltung bean-
spruchen könnte, erfordert zu vollständiger Widerlegung grolse
Weitläufigkeit; man würde kaum anders verfahren können, als
dass man Schaarschmidts Erörterung wieder abdruckte und an
jedem Puncte mit einem widerlegenden Commentar begleitete.
Von solcher Vollständigkeit der Widerlegung muss ich absehen ;
da ich aber in dem Wiederabdrucke der obigen Abhandlung über
den Euthydemos, trotz des inzwischen erschienenen Schaar-
schmidtschen Buches, diesen Dialog eben so zweifellos, wie in
der ersten Auflage, als Platons Werk betrachte, so glaube ich
durch Eingehen auf einige der von Schaarschmidt besonders
hervorgehobenen Gründe zeigen zu sollen, dass dieselben mir nicht
unbekannt waren.
Bei der Verwerfung des Dialoges Euthydemos wendet Schaar-
schmidt die Waffe nicht an, welche er in mehrern andern Fällen
mit besonderm Glücke führt, nämlich den Inhalt und Gedanken-
gang eines bisher für Platons Werk geltenden Dialogs so zu
zerpflücken, dass, wenn der Dialog wirklich diese Gestalt hätte,
wir allerdings an seinem Platonischen Ursprung zweifeln müssten.
Er erklärt vielmehr, dass in meiner Abhandlung „Anlage und
Gliederung des Dialogs sehr gut dargelegt“ sei; aber die hierin
3) Zeller a. a. O. S. 212, Anm. 1 und 3. Hartenstein a. a. Ὁ. S. 140.
Ἢ
132 EurTHYDEMos.
liegende Anerkennung des jedenfalls wohl überlegten Planes als
eines von dem Verfasser des Dialogs selbst gefassten, nicht erst
durch Deutung hineingetragenen, vermag ihn nicht abzuhalten,
alles in diesem Dialoge unplatonisch zu finden: die Gespräche
des Sokrates mit Kleinias, die Sophistengespräche, die Com-
position des Ganzen, die stilistische Form.
Erstens, die Gespräche des Sokrates mit Kleinias. In dem
ersten dieser Gespräche ec. 7—10 ist das Resultat „immerhin ein
im Sinne der Sokratik wichtiges“, aber es ist „auf unlautere
Weise“ erlangt, 5. 332. Zunächst widerspricht die „um der
vorliegenden Stelle des Euthydem willen angenommene“, „in
der ganzen classischen Gräcität, unerhörte* (S. 331) Bedeutung
von εὐτυχία und ihre dadurch begründete Zurückführung auf die
Einsicht den bestimmtesten ‚Erklärungen des Sokrates selbst,
z. B. Xen. Mem. 3, 9, 44. Diesem Bedenken zu Liebe habe ich
die obige Bemerkung δ. 92, A. 4 dahin erweitert, dass ich das-
jenige ausdrücklich hinzugefügt habe, dessen Ergänzung seitens
des aufmerksamen Lesers ich als selbstverständlich vorausgesetzt
hatte. Indessen die Umbildung des Gebrauches von εὐτυχία mag
als griechisch zulässig und als speciell für Sokrates oder Platon
zulässig durch jene Bemerkungen erwiesen sein oder nicht: jeden-
falls hätte Schaarschmidt, wenn er dieses Moment gegen den
Platonischen Ursprung des Dialogs anwenden wollte, folgende
nahe liegende Erwägung nicht unterlassen sollen. Den „Nach-
ahmer“, der den Euthydemos auf Platons Namen gefälscht hat,
denkt sich Schaarschmidt als einen Mann, der: mit Xenophon-
tischen, Platonischen, Aristotelischen Schriften wohl bekannt ist.
Xenophons Memorabilien haben ihm die beiden Personen darge-
boten, welche Hauptträger des Gespräches sind (S. 341f.); „aus
dem Compendium des Aristoteles, wie aus einem Arsenal“ (8.329)
hat er „die meisten der im Gespräche vorkommenden Sophis-
men“ (S.341) entnommen; die Platonischen Schriften kennt er
so gut, dass er, „aulser Stande, die inneren Züge der Platoni-
schen Kunst zu erreichen, welche er allerwege nachzuahmen
sucht, zum Ersatz dafür die Äufserlichkeiten der Platonischen
Werke wiederzugeben trachtet“ (S. 339) und „seinen Stil dem
Platonischen ziemlich geschickt nachzubilden weils“ (S. 342).
Soll man nun denken, dass ein Gelehrter, der so bewandert ist
EuUTHYDEMoSs. 133
in der einschlägigen philosophischen Literatur, jene von Xeno-
phon berichteten Äufserungen des Sokrates über εὐτυχία nicht
gekannt, oder dass er, obgleich mit ihnen wohl bekannt, bei der
Absicht nachahmender Fälschung in so auffallender Weise von
ihnen abzuweichen gewagt hätte? Es versteht sich von selbst,
dass, was von dem Nachahmer unbegreiflich ist, bei Platon
selbst gar kein Bedenken hat. — Aber aulser dieser Verkehrt-
heit im Gebrauche von εὐτυχία, „steckt in der Argumentation des
Euthydemischen Sokrates noch ein andrer Fehler. Zum Glück,
so heilst es p. 280.B, gehört nicht nur das Vorhandensein, son-
dern auch der richtige Gebrauch der Güter. Diesen lehrt die
Weisheit, also kommt auf diese Alles an u. s. w. Nun war
aber schon vorher die Weisheit selbst mit unter die Güter ge-
zählt (p. 279 B, C), ja sie war als das höchste, wesentliche Gut
bezeichnet worden (p. 280 B: σοφίας παρούσης, ᾧ ἂν παρῇ; μηδὲν
προσδεῖσϑαι εὐτυχίας). Das Vorhandensein der Weisheit involvirt
ferner nach der Ansicht des Verfassers auch den richtigen Ge-
brauch; wozu also die ganze zweite Gedankenreihe (von p. 280 B
an), welche doch auf kein anderes Resultat führt, als
was schon vorher gewonnen war? Der Verfasser war,
als er wieder von ayada πολλά (p. 280 B) zu reden anfıeng, in
den unphilosophischen Begriff der ayada, wonach diese Reich-
thum, Gesundheit, Stärke und andere äulsere Dinge sind, zurück-
gesunken, hat die Tugenden, besonders die Weisheit, welche
er vorher den Gütern zuzählte, vergessen und holt sie nun wie-
der nach, um dem Sokratischen Standpunct, wonach das Wissen
das höchste menschliche Gut ist, gerecht zu werden. Ja, man
kann in dieser zweiten Argumentation sogar eine petitio principil
erblicken, insofern von dem schon feststehenden Satze, dass das
Glück mit der Weisheit identisch sei, ausgegangen wird.“ —
Von einer Vergesslichkeit des Sokrates dürfte hier so wenig die
Rede sein wie im Protagoras, wo er selbst sich ihrer beschuldigt,
sondern nur von einer Unaufmerksamkeit des Lesers. Beide
&edankenreihen sind in voller Klarheit und Schärfe von ein-
ander unterschieden In der ersten werden, ganz ähnlich wie
im Gorgias p. 451 E ff., diejenigen Güter aufgezählt, welche die
allgemeine Überzeugung als solche anerkennt; neben äufseren
Gütern finden auch geistige Vorzüge ihre Stelle; auch das Glück
134 EUTHYDEMOoS.
noch in diese Reihe aufzunehmen scheint kein Anlass zu sein,
da ja die bereits erwähnte Einsicht zum glücklichen Treffen des
Richtigen und Erreichen des Zweckes führen wird. Diese Güter
bilden eine Reihe selbständiger Glieder; jedes derselben
gilt für ein Gut an sich. Gegenüber nun diesem Ausdrucke
der verbreiteten Weltansicht zeigt die zweite Gedankenreihe,
dass die vermeintlichen äufseren Güter gar nicht Güter an sich
sind, sondern es nur werden können durch die Einsicht (p
οὖν ὄφελός τι τῶν ἄλλων χτημάτων ἄνευ φρονήσεως χαὶ σοφίας ;
281 B); dass es also nicht eine Reihe von Gütern gibt, sondern
nur ein Gut, die Einsicht oder die Weisheit (ἄλλο τι ἢ τῶν μὲν
ἄλλων οὐδὲν ὃν οὔτε ἀγαϑὸν οὔτε χαχόν, τούτων δὲ δυοῖν ὄντοιν ἢ
υὲν σοφία ἀγαϑόν, ἢ δὲ ἀμαϑία χαχόν;; 281 E). Dieser Fortschritt
in der Gedankenentwicklung ist in solchem Malse deutlich und
bestimmt markirt, dass er nicht wohl einem halbwegs aufmerk-
samen Leser entgehen kann, es sei denn, dass die schon ge-
fasste Überzeugung von der Mangelhaftigkeit des Dialogs seinen
Blick trübt.
Nicht geringere Vorwürfe findet Schaarschmidt gegen das
zweite Gespräch des Sokrates mit Kleinias e. 17—19 zu erheben.
In der „königlichen Kunst“ erkennt zwar Schaarschmidt einen
eigenthümlich Platonischen Gedanken an; indem aber der Euthy-
demische Sokrates die Erörterung wie rathlos da abbricht, wo
der Inhalt dieses Wissens aufzusuchen ist, setzt sich der Platons
Namen vorgebende Verfasser folgendem Tadel aus: „Und dies sollte
ein Mann geschrieben haben, welcher in eben dem Werke, wor-
auf hier angespielt wird, ausdrücklich darauf aufmerksam macht,
dass es nichts helfe, das Wissen zum höchsten Gut zu erklären,
wenn man ihm nicht einen Inhalt, d. h. eine nähere Bestim-
mung dessen, worin dieses Wissen bestehen soll, gibt?!“ (8. 333.)
Und ferner, da in dem von Sokrates wiedererzählten zweiten
Gespräche dem Jüngling Kleinias eine treffende, die Frage des
Meisters selbst um ein paar Schritte überholende Antwort zuge-
schrieben wird, so bemerkt dagegen Schaarschmidt: „Der Autor.
des Gespräches selbst gibt uns hier die Handhabe zu gerechtem
Tadel an. Nachdem er nämlich den Krito, wie bemerkt, seine
Verwunderung über die ungewöhnliche Einsicht des Kleinias
hat ausdrücken lassen, lässt er den Sokratesin seiner
EuTHYDEMos. 135
Erzählung unsicher werden. „Dann ist’s vielleicht Ktesipp
gewesen“, muss er dem Krito entgegnen, und als Krito auch
dies nicht glauben will, muss „einer der Götter“ vorrücken, da
die tiefsinnigen Äufserungen über das Verhältnis der Dialektik
zu den andern Wissenschaften u. s. w. nun doch einmal vor-
gekommen sein sollen. Hier hatte also den Verfasser
das Gefühl beschlichen, dass er dem Charakter des
Kleinias einen ihm fremdartigen Weisheitszug ver-
liehen habe; er sucht sein Versehen durch einen Deus ex
machina wieder gut zu machen.“ (S. 338.) Man staunt, wenn
man dies liest, wie ein Verkennen der deutlichst bezeichneten Ab-
sichten des Dialogs sich den Schein überlegener kunstrichter-
licher Weisheit gibt. Der Ausdruck der Verwunderung, welcher
dem Kriton in den Mund gelegt ist, wird geradezu als ein sol-
cher behandelt, der dem Verfasser des Dialogs von einem Kri-
tiker gemacht werde, während doch der Verfasser selbst es ist,
der ihn sıch selbst machen lässt. Wenn ihn „das Gefühl be-
schlich, dem Charakter des Kleinias einen ihm fremdartigen
Weisheitszug verliehen zu haben“, so war es ja überaus leicht
diesem Gefühle nachzugeben; er brauchte nur das, was er den
Kleinias sagen lässt, in leicht herzustellender Wendung dem
Sokrates selbst zuzuschreiben. Nicht ein Unsicherwerden des
„Euthydemischen“ Sokrates in seiner Erzählung vermag ich in
den Worten zu lesen, sondern ein heiteres Spiel, das er mit der
Verwunderung des Kriton treibt, ein Spiel, das noch dazu dienen
kann, über Charakter und Zweck dieser Partien des Dialogs, in
denen Sokrates sich mit Kleinias unterredet, die letzten Zweifel
zu benehmen. Die Gespräche des Sokrates mit Kleinias haben,
wie im Eingange des ersten 278 D ausdrücklich gesagt ist, die
Aufgabe, das Verfahren zu zeigen, durch welches Jünglinge von
dem unbedingten sittlichen Werthe des Wissens zu überzeugen
und zu ernstlichem Weisheitsstreben zu ermuntern sind. Nur
die Umrisse solcher bildenden und anregenden Methode des Ge-
spräches sollen gegeben werden; das ist deutlich genug dadurch
bezeichnet, dass der Platonische Sokrates nachher von einer
Wiedergabe des Gespräches selbst zu einem blofsen Referiren
seiner Richtung und seines Zieles übergeht; die vollständige
Ausführung würde ja zu einer vollständigen Einleitung in die
180 ἘΠΤΗΥΘΈΜΟΒ.
Philosophie. Solch methodisches Gespräch lässt allmählich die
geistigen Kräfte des Jünglings zur Selbständigkeit des Denkens
erstarken; was in Wirklichkeit erst allmählich eintritt, das rückt
die skizzenhafte Darstellung in die unmittelbare Nähe des An-
fanges; die Verwunderung, die darüber Kriton aussprechen muss,
und die scherzhaft ausweichend beantwortet wird, ist, wenn es
denn einmal in ernster Lehrhaftigkeit soll ausgesprochen werden,
die Bezeichnung dafür, dass in der Skizze zusammengedrängt
ist, was in der Wirklichkeit viel weiter von einander entfernt
liegt. — Dass das Gespräch des Sokrates mit Kleinias fast durch-
weg solche Fragen berührt, die in andern Platonischen Dialogen
in eingehender Untersuchung behandelt sind, liegt in der Natur
des verfolgten Zweckes. Für Schaarschmidt ist freilich diese
Uebereinstimmung schon ein sicheres Zeichen von der Entlehnung
durch einen fälschenden Nachahmer. „Man braucht eigentlich
nur diesen Punct festzuhalten, um schon dadurch über die Echt-
heit des Gespräches im höchsten Grade bedenklich zu werden.
Plato ist ein so durchaus origineller Geist, dass er gewiss nichts
zweimal thut: hier müsste er nicht blofs im allgemeinen, sondern
auch vielfach im besondern sich selbst nachgeahmt haben.“ (S. 327.)
Ganz abgesehen davon, dass dieser zuversichtlich ausgesprochene
Grundsatz einer Originalität, die nichts zweimal thun kann,
unter den Platonischen Dialogen eine noch gründlichere Nieder-
lage anrichten würde, als Schaarschmidt beabsichtigt hat: man
darf sich einfach auf das Urtheil jedes aufmerksamen Lesers be-
rufen, zu entscheiden, ob das Gespräch des Sokrates mit Kleinias
die Hand des zusammentragenden Nachahmers verräth, oder
vielmehr die sichere und freie Herrschaft des Denkers über seine
eignen Gedanken zeigt. — Aber die Gedankenentwicklung schliefst
ja mit einem offenbaren Mangel, mit der unbeantwortet gelassnen
Frage nach dem Inhalte jenes königlichen Wissens. „Und dies
sollte ein Mann geschrieben haben, welcher in eben dem Werke,
worauf hier angespielt wird, ausdrücklich darauf aufmerksam
macht, dass es nichts helfe, das Wissen zum höchsten Gut zu erklä-
ren, wenn man ihm nicht einen Inhalt, d.h. eine nähere Bestim-
mung dessen, worin dieses Wissen bestehen soll, gibt.* (δ. 333).
Nun, dem Fälscher war es ja doch leicht, wenn er durch diesen
Mangel besorgen musste die Falschheit seines vorgegebenen
0
EurHuYyDEMmos. 137
&
Namens zu verrathen, aus der einmal benutzten Quelle noch
weiter zu schöpfen. Platon aber versteht es τῇ χειρὶ σπείρειν,
οὐχ ὕλῳ τῷ ϑυλάχῳ. Den Wissenstrieb zu wecken, ist die Auf-
gabe des Gespräches;; die stark betonte Rathlosigkeit des Sokrates
ist — wenn man hieran einen Leser Platons erst noch erinnern
soll — nicht ein Zeichen der eignen Zweifel oder der Unsicher-
heit, in welcher der Platonische Sokrates sich befindet, sondern
es werden dadurch dem Leser Probleme der Forschung in leb-
hafter Energie zum Bewusstsein gebracht. Und hier dient die
Fiction von Sokrates’ Rathlosigkeit zugleich als das künstlerische
Mittel, in die Frage an die Sophisten zurückzulenken.
Doch genug und vielleicht schon zu viel .über Schaarschmidts
Einwürfe gegen den Platonischen Charakter der von Sokrates
mit Kleinias geführten Gespräche; ich will versuchen, über
einige der andern Punkte mich kürzer zu fassen. Im Betreff
der Sophistengespräche hat meine Abhandlung, natürlich ohne
dass ich es zu ahnen vermochte, „die Handhabe zu der schon
von Ast unternommenen, aber nicht vollständig durchgeführten
Notheuse des Dialogs geboten“, denn ich habe nachgewiesen,
dass „dieser andere Theil, die Sophistenreden, sich seinem Kern
nach mit dem, was bei Aristoteles vorkommt, mehr oder weniger
deckt“ (5. 327). Zum Belege dafür wird auf die oben $. 129
unverändert abgedruckte Anmerkung 27 verwiesen und „Näheres
später“ versprochen. Dieses Nähere findet sich an folgenden
zwei Stellen: „Wie billig war es dagegen für einen Nachahmer,
aus dem Compendium des Aristoteles, wie aus einem Arsenal,
eine Reihe von Sophismen zu entnehmen und diese mit
einigen andern, im wissenschaftlichen Verkehr umlaufenden Trug-
schlüssen vermehrt, den Vertretern der Sophistik in den Mund
zu legen, wobei Aristoteles gleich den Namen eines solchen Ver-
treters bot, Xenophon den andern hergeben musste“ (S. 329).
„Den Träger der Titelrolle, Euthydemos, finden wir zunächst
eben da, wo die meisten der im Gespräch vorkommen-
den Sophismen herstammen, in den Aristotelischen Elenchen
(S. 341)*, und dazu wird wieder auf dieselbe eine Stelle meiner
Abhandlung verwiesen. Sehen wir einmal davon ab, ob durch
die Entlehnung des Materials von Sophismen, diese Entlehnung
als thatsächlich vorausgesetzt, die Composition des fraglichen
138 EUTHYDEMOS.
I'heiles des Euthydemos selbst erklärt sein würde; meine Ab-
handlung hat in der scheinbaren Willkür des Ausschüttens von
Sophismen die leitenden Gesichtspuncte nachzuweisen versucht,
welche nicht nach der Manier eines nachahmenden und com-
pilirenden Fälschers sind. Fragen wir vielmehr blofs nach dem
Verhältnis des Stoffes im Euthydemos und in den Aristotelischen
KElenchen. An der von Schaarschmidt wiederholt citirten Stelle
habe ich nachgewiesen, dass von den 21 im Euthydemos vor-
kommenden Sophismen (und Schaarschmidt hat gegen diese
Zählung nichts eingewendet) fünf mit den von Aristoteles be-
handelten vollkommen oder nahezu zusammenfallen. Man wird
Schaarschmidt nicht abhalten können, diese fünf als den „Kern“
der sämmtlichen anzusehen; dass er dann diese fünf, weit ver-
streut im Platonischen Euthydemos vorkommenden Sophismen
„eine Reihe von Sophismen“ nennt, ist schon ein etwas kühnerer
Gebrauch des Wortes Reihe; wenn er aber diese fünf von den
einundzwanzig als „die meisten“ bezeichnet, so würde es sehr
schätzbar und interessant sein, wenn er selbst die Nachweisung
dafür gäbe; aber meine Anmerkung als Zeugnis dafür anzurufen
ist ein Taschenspielerstück, in welchem man versucht ist den
Einfluss der längeren Beschäftigung mit den Sophistenreden zu
vermuthen.
Den unplatonischen Ursprung des Dialogs findet Schaar-
schmidt ferner und vornehmlich durch die gesammte Composition
des Dialogs erwiesen. Ich will die Hauptpuncte der Anklage
in des Verfassers eigenen Worten herausheben. „Wie schon
Ast bemerkt hat, zeigt der Euthydem in der allgemeinen Sce-
nerie deutliche Spuren, dem Platonischen Protagoras nachgebil-
det zu sein“ (S. 327); am Protagoras, als zweifelloser Norm,
wird sodann der Euthydemos in mehrfacher Beziehung gemessen
und gerichtet. „Die Sophisten werden ım Euthydem zwar von
Ktesipp in die Enge getrieben (283 Eff.), sie werden sogar aus-
gelacht, aber sie werden nicht widerlegt. Plato war dabei
ein viel zu tiefer Geist, als dass er bei der Darstellung der So-
phistik sich au deren äulsere formale Gebrechen, die Trug-
schlüsse, allein sollte gehalten haben. Er geht im Protagoras,
noch mehr aber im Gorgias und in der Republik auf den Kern
Jer Sache, auf die egoistische, hedonische Weltanschauung,
EUTHYDEMOS. 139
welche der Sophistik als deren eigentlicher corrumpirender Geist
zu Grunde liegt. Einem blofs logischen Lehrzwecken dienenden
Compendium, wie dem des Aristoteles, ist es angemessen, die
Sophismen nach Abtheilungen zusammenzustellen, nicht aber
dem Platonischen Dialoge, welcher, immer aus dem Ganzen
herausgearbeitet, die Totalität der Weltanschauung vertritt.
Setzen wir aber den unmöglichen Fall, dass Plato sich vor-
genommen hätte, die logisch-formelle Seite der Sophisten einmal
isolirt zu geilseln — würde er das nicht besser zu thun verstan-
den haben, als im Euthydem geschieht! Würde alsdann sein
Sokrates nicht die logischen Fehler der Gegner rectificirt und,
wozu in der That p. 277 E ein schwacher Anfang gemacht wird,
die Quelle dieser ihrer Irrthümer aufgedeckt haben? (δ. 335.)
Den ersten Regeln der Dramatik widerspricht die Zeichnung der
Figur des Sokrates selbst, in welcher drei Momente oder drei
Hauptzüge hervortreten, welche schlechterdings nicht zusammen-
passen: „der Zug einer durchgängigen, sehr weit getriebenen
Ironie, zweitens einer philosophisch-dialektischen Lehrhaftigkeit,
endlich einer den Sophisten gegenüber geübten reflectirenden
Kritik“ (S. 336). „Und mag nun auch diese Ironie des Sokrates
durchsichtig genug aufgetragen sein — nirgends wird uns an-
gedeutet, dass die Jünglinge sie als solche verstanden haben,
oder dass die Sophisten dadurch gezähmt und beschämt werden,
wie es doch die poetische Gerechtigkeit erfordert. Wie anders
macht es der Platonische Sokrates im Protagoras und Gorgias“ etc.
(S. 328). „Ungeschickt“ ist die Einreihung des Dialogs in die
Erzählung an „einen alten Mitphilosophirenden“, Kriton (S. 328);
undramatisch in der Episode am Schlusse die unzweideutige
Anspielung auf Isokrates. „Vlato lässt wohl seinen Sokrates
die wissenschaftlichen Ansichten Späterer kritisiren, wie z. B.
die Antisthenische Erkenntnislehre im Theätet, aber niemals
deutet er auf die nachmaligen Philosophen selbst hin; erst in
den unechten Dialogen, wie, hier, dann später im Sophista, Kra-
tylus, Philebus kommt der F'ehler vor, dass solche spätere Phi-
losophen, wenn auch nicht mit Nennung des Namens, so doch
mit deutlicher Bezeichnung von Sokrates herbeigezogen werden,
als ob sie seine Zeitgenossen gewesen wären, da sie doch nur
Zeitgenossen oder Vorgänger der Dialogschreiber waren“ (S, 334),
140 EUTHYDEMOoS.
Gegen diese Anklagen — und ich habe wissentlich keinen
Hauptpunct ausgelassen — würde es zur Widerlegung hinreichen,
sie einfach dem Urtheile der Leser zu überlassen. Indessen
Schaarschmidt verwirft dieses im Euthydemos eingeschlagene Ver-
fahren so entschieden, dass ich ihm darin nachgeben und einige
Gesichtspuncte der Entgegnung andeuten will.
Die äufsere Scenerie des Euthydemos bietet zu der des Pro-
tagoras nur wenige Vergleichungspuncte, zum 'Theil von unter-
geordneter Bedeutung; zu der Annahme, der Euthydemos sei dem
Protagoras nachgebildet, geben sie keinen Anlass, eben so wenig
eine Berechtigung den Euthydemos am Protagoras als einem
Kanon für Platonischen Charakter zu messen. Platon bekämpft
die bedeutenden und hervorragenden Erscheinungen der Sophi-
stik und Rhetorik, einen Protagoras und Gorgias, mit den ihrer
Bedeutung entsprechenden Waffen ernster Widerlegung und
Nachweisung der Widersprüche, in welche ihre Ansichten sich
verwickeln. Aber dass der Name der Sophisten noch eine ganz
andere Classe geistig unbedeutender und doch durch logisch-
grammatische Kunststücke vorübergehenden Beifall erhaschender
Männer umfasste, das beweist der Dialog Euthydemos selbst,
mag ihn nun Platon oder ein Nachahmer auf seinen Namen ge-
schrieben haben. Dass es unter Platons Würde, für ıhn un-
möglich sei, an Männern, die eine andere Seite als die „logisch-
formelle“ selbst nicht darbieten, eben diese „isolirt zu geilseln“,
ist eine Behauptung, welche in der beabsichtigten Beweisführung
eine petitio principii in sich schliefst. Welchem Kritiker fällt
es ein, bedeutende und nichtige Gegner mit denselben Waffen
zu bekämpfen? Und Platon sollen wir zumuthen, dass er, in-
dem er die Kunstform des Dialogs anwendet, um die Gegner
sittlich - ernster Wissenschaft zu bekämpfen, hoch und niedrig
unter diesen Gegnern gleichstelle, und nicht gegen das Un-
bedeutende die Waffe anwende, die ihm zu aller Zeit gebührt
hat, die Waffe der Lächerlichkeit!? Man hat die Platonischen
Dialoge häufig mit Dramen verglichen, und für einen Theil
der Dialoge hat diese Vergleichung innerhalb gewisser Grenzen
eine Berechtigung. Die gröfsten Tragiker der Athener waren
zugleich Meister im Satyrdrama ; Platon fordert sogar, gegen die
literarische Sitte seines Volkes, dass der Meister in der Tragödie
a
EuUTHYDEMoSs. 141
es zugleich in der Komödie sei. Freuen wir uns, dass Platon
auf seinem dramatischen Gebiete seine eigene Forderung erfüllt
und seinen Meisterwerken im ernsten Drama eine Komödie von
drastischer Wirkung zur Seite gesetzt hat. — Den mit ästheti-
schen Kunstausdrücken gewaffneten Vorwurf, als habe die Figur
des Sokrates keine innere Consequenz, würde Platon schwerlich
anders als mit einem Lächeln erwidert haben, im Bewusstsein
der idealen Lebenswahrheit seiner Zeichnung; uns, die wir nur
dem Gerüchte aus der Vergangenheit lauschen, ist die Möglich-
keit geblieben, den Sokrates des Euthydemos Zug für Zug mit
dem von Alcibiades im Symposion entworfenen Bilde zu ver-
gleichen und daran zu bewähren. — Dass das Gericht des Ver-
lachens nicht blofs von den Lesern des Dialogs, sondern schon
von den fingirten Zuhörern der Wortverdreher über diese geübt
ist, dass sie also die Ironıe des Sokrates vollkommen verstanden,
ist durch den Dialog so deutlich bezeichnet, dass Schaarschmidts
Zweifel daran mir unverständlich ist. — Der Vorwurf der „Un-
geschicklichkeit“ gegen das umgebende Gespräch mit Kriton ist
ausschlielslich daraus zu begründen, dass Kriton als ein „alter
Mitphilosophirender“ bezeichnet ist; dass und warum ich dieser
Charakteristik nicht beistimmen kann, ist schon oben 8. 124
dargelegt. — Um endlich die Anspielung auf Isokrates zu einem
Einwande gegen den Platonischen Ursprung des Dialogs zuzu-
spitzen, muss mit einem beliebten Cirkelbeweise die Unechtheit
mehrerer anderer Dialoge schon als bewiesen betrachtet werden;
und doch bleibt der unbestreitbare 'Theätetos übrig, dessen Bezie-
hung auf Antisthenes von der des Euthydemos auf Isokrates uns
denselben Unterschied zeigt, wie er zwischen dem gesammten
Charakter dieser beiden Dialoge besteht. Männer von der Über-
zeugung, man solle μετρίως μὲν φιλοσοφίας ἔχειν, μετρίως δὲ πο-
λιτιχῶν (305 D) — und diese bildet den Kern der Charakteristik —
gab es eben so gut schon zu Sokrates’ Zeit; also kann auf einen
solchen doch gewiss Platon den Sokrates viel unbedenklicher
Bezug nehmen lassen, als auf die Antisthenische Erkenntnis-
theorie, die zu Sokrates Zeit wohl noch nicht existirt haben
wird. Platon konnte sehr wohl Anlass haben, durch Hinzu-
fügung einiger persönlicher Züge zu bewirken, dass seine Zeit-
genossen an Isokrates denken mussten; sie werden hiegegen
142 EUTHYDEMOS.
eben so wenig ein ästhetisches Bedenken gehabt haben, wie ge-
gen die unzweifelhaften Anspielungen in Tragödien aus dem
heroischen Sagenkreise auf Personen und Ereignisse der Gegen-
wart, gar nicht zu reden von dem bekannten, scherzhaft über-
müthigen Anachronismus in der Rede des Aristophanes im
Symposion #4). -
Endlich noch eine Bemerkung über die stilistische Form des
Euthydemos, dieses Wort in weiterem Sinne gefasst; denn gegen
den Stil in eigentlichster Bedeutung hat Schaarschmidt nichts er-
hebliches einzuwenden. „Übrigens zeigt der Dialog auch im
Sprachgebrauch manche Abweichungen von der Platonischen Rede,
wovon schon Ast einiges angemerkt hat; doch bewahrt der
Verfasser im Ganzen sich eine ziemliche Reinheit der Sprache,
der namentlich keine Aristotelischen Wendungen und Ausdrücke
anzumerken sind, und er weifs seinen Stil dem Platonischen
ziemlich geschickt nachzubilden“ (S. 342). Hätte Schaarschmidt
schon die verdienstliche Textausgabe des Euthydemos von Schanz
benutzen können, so würde diese Anerkennung wohl noch viel
beschränkter gelautet haben; denn Schanz zählt nicht weniger
als 71 Worte und Formen auf, „quae secundum Astium apud
Platonem in Dialogo Euthydemo solo extare videntur*, ohne
sich übrigens — und mit Recht — dadurch an dem Platoni-
schen Ursprung des Dialogs irre machen zu lassen. — Aber die
sprachliche Form im weiteren Sinne setzt sich mannigfachem
Tadel Schaarschmidts aus. Dieselbe Vergleichung sei kurz
nach einander wiederholt 276 D und 277 D; abgesehen von dem
Gewichte eines solchen Vorwurfes ist die Thatsache selbst nicht
richtig, dass es sich um dieselbe Vergleichung handle. — „Auch
im Herbeiziehen von Dichterstellen und sprüchwörtlichen Redens-
arten gefällt sich der Verfasser, deren einige dunkel und nicht
recht passend sind, wie z. B. 285 B ὥσπερ ἐν Καρὶ ἐν ἐμοὶ ἔστω
9 χίνδυνος, oder an Dichterstellen 304 B τὸ γὰρ σπάνιον, ὦ Εὐυϑύ--
Önvs, τίμιον. τὸ δὲ ὕδωρ εὐωνότατον, ἄριστὸν ὄν, ὡς ἔφη Πίνδαρος,
wobei jede Pointe fehlt“ (5. 340). „Dunkel“ ist die Bedeutung
des angewendeten Sprüchwortes nicht einmal für uns, noch we-
niger wohl für die gleichzeitigen Leser. Dass „jede Pointe fehlt“,
%#) Vgl. Zeller, Ph. d. Gr. 3, Aufl. $. 416 f.
EUTHYDEMos. 143
ist jedenfalls eine unbegründbare Behauptung; der Verfasser
kann höchstens aussprechen, dass wir die Pointe des Scherzes
nicht erkennen; was würde wohl aus der Aristophanischen Ko-
mödie werden, wenn wir unser Unvermögen, die Pointe eines
Scherzes vollkommen zu verstehen, zu einem Symptome der
Unechtheit machen wollten? Sollte denn aber wirklich so ohne
Pointe die Äufserung sein, in der Sokrates vor dem Herabdrücken
des Preises dieser Weisheit warnt und sie mit dem Wasser ver-
gleicht? Die gegenübergestellte Werthschätzung des Wassers
würde an ironischer Färbung noch gewinnen, wenn wir anneh-
men, was leicht möglich ist, dass der feierliche Pindarische
Spruch ἄριστον μὲν ὕδωρ gern von heiterer Gresellschaft da an-
gewendet wurde, wo man durch die That dieser Werthschätzung
widersprach. — „Der übermälsige Gebrauch von Gleichnissen,
Metaphern, Wortspielen® (8. 339), die „Übertreibungen“ (8. 340)
im Ausdrucke machen den Platonischen Ursprung zweifelhaft.
Ich denke vielmehr, insoweit diese Bemerkung wahr ist, beweist
sie nur, dass der Verfasser, wer er auch sein mag, die sprach-
liche Darstellung mit dem vorher bezeichneten Charakter des
Dialogs in besten Einklang gebracht hat, und dass solche Herr-
schaft über die Sprachmittel gewiss Platons nicht unwürdig ist.
— „Mit Recht macht schon Ast darauf aufmerksam, dass der
Verfasser seine Gelehrsamkeit zur Schau tragen wollte, indem
er Andeutungen von sonst unbekannten Dingen und Personen
(die akarnanischen Brüder 271 E, der Musiker Konnos 272 0,
295 D) mache.“ Um diese Bemerkung richtig auszudrücken, ist
statt „unbekannten“ zu setzen „uns unbekannten“, und damit
tritt zugleich ihre Nichtigkeit deutlich zu Tage.
Ich habe im obigen, wie ich bereits im Eingange bemerkt,
Schaarschmidts Gründe für seine „Notheuse“ des Dialogs nicht
sämmtlich zur Erörterung gebracht, sondern, um grölsere Weit-
läufigkeit zu vermeiden, mich auf die hauptsächlichsten be-
schränkt; schon aus ihrer Discussion wird ersichtlich sein,
welche Haltbarkeit die Gründe haben, die mit der Sicherheit
überlegener Kritik über alte Vorurtheile vorgebracht werden,
und wird es gerechtfertigt erscheinen, dass ich trotz Schaar-
schmidts Verwerfungsurtheil den Euthydemos für ein Werk Pla-
tons halte.
ΦΟΡΗΤΙΝΈΤΕ δ,
Gedankengang und Gliederung des Dialogs.
Einleitung (ec. 1, 2). In den Schlussworten des 'Theäte- τ
tos spricht Sokrates gegen den Mathematiker Theodoros die Auf-
forderung aus, dass man am andern Morgen wieder zum Ge-
spräche zusammenkommen wolle. An diese Worte, in denen
man übrigens nach der Weise des Schlusses mancher anderen
Platonischen Dialoge keineswegs die bestimmte Zusage einer
Fortsetzung finden würde!), knüpft der Anfang des Sophistes
an; denn der gestrigen Verabredung gemäls erklärt Theodoros
dem Sokrates sich eingefunden zu haben. Aufser dem Theätetos,
dem Theilnehmer an dem gestrigen Gespräche, bringt Theodoros
zugleich einen Gast aus Elea mit, der der Parmenideisch-Zeno-
nischen Schule angehöre, aber nicht, wie so manche Männer
dieser Richtung, ein Klopffechter mit Worten, sondern ein
wahrer Freund der Weisheit, ein Philosoph sei. Solche echte
Philosophen, erklärt Sokrates, seien schwer zu erkennen; Philo-
soph, Staatsmann, Sophist seien mannigfacher Verwechslung unter
*) Sitzungsberichte οἷο, Bd. 33. S. 285—333. (Separatabdruck S. 41—89.) s
ἢ So schlielst der Laches mit den Worten: ᾿Αλλὰ ποιήσω, ὦ Λυσίμαχε,
ταῦτα, zu ἥξω παρὰ σὲ αὔριον, ἢν ϑεὸς ἐθέλῃ, und am Schlusse des Prota-
goras 901 Τὴ heilst es: περὶ τούτων δὲ εἰσαῦϑις, ὅταν βούλῃ, διέξιμεν, ohne
dass man daraus folgern wird, Platon habe beabsichtigt einen andern Dialog
daran anzuschliefsen. Darauf, dass die Anknüpfung nur eine einseitige, des
Sophisten an den Theätetos, ist, aber keineswegs der Theätetos, aufser durch
jene nichts erweisende Schlussformel, auf die Fortsetzung in einem andern
Dialoge hinweist, macht Deulsen aufmerksam, Commentatio de Platonis So-
phistae compositione ac doctrina. Bonn 1869, Κ΄. 64. n. 122.
286
SOPHISTES. 145
einander ausgesetzt; darum möchte Sokrates gern hören, wie
man dort in Elea über diesen Gegenstand denke, ob man diese
Worte nur für verschiedene Namen desselben Begriffes halte,
oder die Begriffe selbst unterscheide. Der Eleatische Gast er-
klärt seine Bereitwilligkeit auf diese Frage einzugehen; über
ähnliche Gegenstände sagt Theodoros habe er schon vorher den
Gast gefragt und derselbe habe erklärt, darüber ausreichendes
gehört zu haben. Gefragt, ob er diesen Gegenstand lieber in
ununterbrochenem Vortrage oder in Frage und Antwort darlegen
werde, erklärt der Eleat die letztere Form ın dem Falle vorzu-
ziehen, wenn der Unterredner, an den er sich werde zu wenden
haben, leicht lenksam sei. Theätetos besitzt diese Eigenschaft;
im Gespräche mit ihm will also der Eleat die gestellten Fragen
beantworten, und zwar zunächst die über das Wesen des So-
phisten. — Der Eleat und Theätetos sind von da an die aus-
schliefslichen Theilnehmer an der Unterredung.
I. Aufsuchung der Definition des Sophisten (c. 3—24).
Es handelt sich darum, durch eine Erklärung das Wesen
des Sophisten zu bestimmen, so dass man fortan nicht nur den-
selben Namen gebrauche, sondern mit ihm auch den Gedanken
desselben Wesens (τί ἐστι) verbinde. Die Schwierigkeit, eine
Definition des Sophisten zu geben, macht es rathsam, dass man
die Methode des Definirens erst an einem Objecte versuche, das,
an sich geringfügig und vollkommen bekannt, doch zu seiner
Erklärung nicht minder zahlreiche Merkmale erfordere?); ein
solches Object für die Methode der Definition ist der Angel-
fischer (c. 3).
Beispiel der Methode des Definirens (c. 4—7). Die
Beschäftigung des Angelfischers ist eine Kunst, nicht eine blofs
2) Die Worte Platons 218 E: τί δῆτα προταξαίμεϑ᾽ ἂν εὔγνωστον μὲν καὶ
σμιχρόν, λόγον δὲ μηδενὸς ἐλάττονα ἔχον τῶν μειζόνων, sind im obigen
nicht sowohl übersetzt, als in derjenigen Bedeutung umschrieben, die wir
nach dem Gebrauche von λόγος im letzten Abschnitte des Theätetos und nach
der Absicht dieses Beispieles selbst nicht in Zweifel ziehen können. Tref-
fend übersetzt Schleiermacher „nicht kürzerer Fiklärung bedürfendes‘“,
dagegen führt sowohl Stallbaums „nec tamen minorem habeat definitionis
artem“, als Müllers „einer eben so umfassenden Erörterung fähig“ von
der Hauptsache ab.
Bonitz, Platonische Studien. 10
140 SOPHISTES.
kunstlose Thätigkeit. Man findet den Begriff des Angelfischers,
indem man den Umfang der Kunst fortwährend theilt, bis man
zu der den Angelfischer allein treffenden Bestimmtheit gelangt :
ist. Die Kunst scheidet sich in eine schaffende und eine er-
werbende; der Erwerb geschieht entweder ‚mit Zustimmung des-
sen, was man erwirbt, oder gegen dessen Willen, in dem letztern
Falle entweder durch das Mittel des offenen Kampfes oder auf
versteckte Weise. In diesem letzteren Zweige der Erwerbungs-
kunst, der Jagd, scheidet sich die Jagd auf Belebtes von der auf
Unbelebtes, dann weiter nach den Arten des Belebten, der le-
benden Wesen; zu der Jagd auf Fische so gelangt, unterscheidet
man weiter die Zeit, die Art und die Mittel der Jagd, und er-
reicht so, durch fortwährende dichotomische Ausscheidung, eine
Bestimmung der sämmtlichen Merkmale, so dass man dann. nicht
mehr über den Namen allein, sondern auch über den Begriff
des Gegenstandes im Einklange ist (c. 4—7).
Nach derselben Methode der successiven Eintheilung des
Umfanges soll nun die Definition des Sophisten hergestellt werden.
A. Aufsuchen der Definition des Sophisten durch die successive Theilung
des Gebietes der Kunstthätigkeit (ec. 8—19).
1. Der Sophist stimmt insoweit mit dem Angelfischer zu-
sammen, dass er eine Kunst des Erwerbes und zwar eine Jagd
treibt, aber er unterscheidet sich von ihm durch den Gegenstand
seiner Jagd; dieses Object sind Menschen, Jünglinge. Der So- .
phist treibt seine Jagd durch Überredung, nicht durch Gewalt; im
Privatverkehr, nicht im öffentlichen Leben; um Geld dafür zu
erhalten, nicht mit Aufopferung der eigenen Geldmittel; unter
dem Vorgeben Tugend zu lehren, nicht zur blofsen Unterhal-
tung (c. S—10 Anfang. 223 B).
2. Die Beschäftigung des Sophisten findet sich aber auch
in einem andern von den vorher unterschiedenen Bereichen der
Kunstthätigkeit, nämlich derjenigen Kunst, welche nicht durch
Jagd, sondern durch Tausch erwirbt. Ein Gebiet dieses Erwerbes
durch Tausch besteht im Verkaufe von Waaren, seien es selbst-
verfertigte oder von andern erkaufte. Der Sophist treibt diesen
Verkauf als Grofshändler von Stadt zu Stadt ziehend; seine
Waaren dienen zur Nahrung des Geistes, nicht des Körpers;
SOPHISTES. 147
das Wissen, dessen Handel er betreibt, hat nicht irgend etwas
anderes, sondern die Tugend zu seinem Gegenstande (223 C—
224 D).
3. 4. Aber eben so gut kann der Sophist den Vertrieb seiner
Waaren an demselben Orte ausführen, sei es als Krämer, der
fremde Arbeit verkauft, sei es als Handwerker, der seine eigene
Arbeit ‚absetzt (224 1), E).
5. Im Gegensatze zu derjenigen Kunst des Erwerbes, welche
ihren Zweck durch Mittel der List im Verborgenen erreicht, gab
es eine andere, welche offenen Kampf führt; auch in ihrem Um-
fange findet sich die Beschäftigung des Sophisten. Der Sophist
führt diesen Kampf nicht mit körperlichen Waffen, sondern mit
Worten ; nicht in langen Vorträgen an eine Versammlung, son-
dern in kurzer Frage und Antwort an die einzelnen; nicht in
kunstlosem Gerede, sondern in kunstgeübtem Gefechte; nicht
mit Preisgebung der eigenen Mittel zur Belästigung anderer,
sondern zum Behufe des eigenen Erwerbes (c. 12).
6. Unter den Beschäftigungen des häuslichen Dienstes finden
sich einige, deren gemeinsames Merkmal das Sichten und Schei-
den ist. Diejenigen Künste des Sichtens, welche das Schlechte
ausscheiden und nur das Gute zurückbehalten, bezwecken Rei-
nigung; die Reinigung hat den Körper oder den Geist zu ihrem
ÖObjecte. Die Reinigung des Geistes ist eine zwiefache, da sich
die Übel des Geistes so unterscheiden, wie auf dem körperlichen
Gebiete Krankheit und Hässlichkeit; sie bezweckt also entweder
Entfernung der Bösartigkeit, welche in Zügellosigkeit, Übermuth,
Feigheit u. ἃ. besteht, oder der Hässlichkeit, welche ausschliels-
lich in der Unwissenheit liegt; und wie auf dem Gebiete der
körperlichen Reinigung die Heilkunst von der Gymnastik, so
unterscheidet sich auf dem der geistigen Reinigung die Rechts-
pflege vom Unterrichte. Im Bereiche des Unterrichtes ist beson-
ders bedeutend die Entfernung derjenigen Unwissenheit, bei
welcher man sich einbildet das zu wissen, was man nicht weils,
also die Bildung und Erziehung (παιδεία). Sie wird entweder
in der altherkömmlichen Weise väterlicher Ermahnung ausgeführt,
oder dadurch, dass man den Zögling in die Widersprüche seiner
eigenen Gedanken verwickelt und dadurch zum Bewusstsein
seiner Unwissenheit bringt. Ob man in diesem letzten Ein-
10*
148 SOPHISTES.
theilungsgliede wirklich die Sophistik gefunden habe, ist freilich
noch unsicher; es könnte auch sein, wie ja Ähnlichkeiten zur
Täuschung Anlass geben, dass man vielmehr die ihr ähnliche
edle Beschäftigung gefunden habe (c. 13—18).
Die bisher aufgestellten Definitionen werden hierauf, um
einen Ruhepunct der Besinnung zu gewinnen, recapitulirt; aber
schon ihre Vielheit beweist, dass es nicht gelungen ist, den ein-
heitlichen Zweck, dem die gesammte 'Thätigkeit dieser Kunst
zustrebt, aufzufinden®). Es wird daher vielmehr im Aufsuchen
3) 232 A: "Ap’ οὖν ἐννοεῖς, ὅταν ἐπιστήμων τις πολλῶν φαίνηται, μιᾶς δὲ
τέχνης ὀνόματι προσαγορεύηται, τὸ φάντασμα τοῦτο ὡς οὐκ ἔσϑ᾽ ὑγιές, ἀλλὰ δῆ-
λον ὡς ὁ πάσγων αὐτὸ πρός τινα τέχνην οὐ δύναται κατιδεῖν ἐχεῖνο αὐτῆς, εἰς
ὃ πάντα τὰ μαϑήματα ταῦτα βλέπει, διὸ καὶ πολλοῖς ὀνόμασιν dv’ ἑνὸς τὸν
ἔχοντα αὐτὰ προσαγορεύει. --- ἱΚινδυνεύει τοῦτο ταύτῃ πῃ μάλιστα πεφυκέναι. —
Μὴ τοίνυν ἡμεῖς γε αὐτὸ ἐν τῇ ζητήσει δι’ ἀργίαν πάσχωμεν, ἀλλ᾽ ἀναλάβωμεν
ἕν πρῶτον τῶν περὶ τὸν σοφιστὴν εἰρημένων. ἕν γάρ τί μοι μάλιστα χατεφάνη
αὐτὸν μιηνῦον. Diese Worte Platons, deren wesentlicher Inhalt oben im Texte
kurz zusammengefasst ist, erfahren eine ganz andere Auslegung bei Stein-
hart 5. 443: „Wie nun Platon hier (d. ἢ. 218 C) offenbar den Antisthenes
im Sinne hat, so zielt er am Schlusse dieses Abschnittes mit dem Geständ-
nis, dass sich aus den verschiedenen Beschreibungen des Sophisten nur eine
Reihe von Namen, aber kein allgemeiner Begriff für die Sophistik
ergeben habe, auf die Megariker, denen ihre Ideen nur verschiedene Na-
men für ihr höchstes Prineip, nicht allgemeine, alles Besondere in sich fas-
sende Begriffe waren.“ Der Gegensatz von Name und Begriff wird un-
berechtigt in die Worte Platons hineingetragen;; in diesen findet sich vielmehr
nur der Vorwurf, dass man ein unbestimmt mannigfaches gefunden habe
statt einer Einheit. Wenn für eine durch ihren Namen als einheitlich be-
zeichnete Kunst, μιᾶς τέχνης ὀνόματι, als Object nur eine Mannigfaltigkeit
von Gegenständen des Wissens sich zeigt, πολλῶν ἐπιστήμων τις φαίνηται,
so hat man das einheitliche Ziel dieser Kunst noch nicht erkannt und ist
dadurch genöthigt, den, der die fragliche Kunst besitzt, durch eine Menge
von Namen statt durch einen einzigen zu bezeichnen, ein Fall, der so
eben bei der Erklärung des Sophisten sich ergab. Sollte der „Reihe von
Namen“ wirklich „der allgemeine Begriff“ gegenübergestellt sein, so
könnte nicht gesagt sein πολλοῖς ὀνόμασιν avi’ ἑνός, nämlich ὀνόματος (vgl.
auch μιᾶς τέχνης dvöp.artı), sondern den πολλοῖς ὀνόμασιν müsste eis λόγος
entgegengesetzt sein. — Zur Annahme einer Beziehung auf die Megariker ist
in den Worten Platons kein Anlass vorhanden; ihre εἴδη waren, wie uns eben
Platons Sophistes zeigt, nicht blols verschiedene Namen desselben Principes,
ja indem sie die χοινωνία τῶν yeyov in Abrede stellten, konnten sie sogar
für ihre vielen εἴδη andere als mit dem Subjecte identische Prädicate nicht
zugeben. — Steinharts Bemerkung hat in solchem Grade die Beistimmung
Susemihls gefunden, dass er sie wörtlich aufgenommen hat. 8. 293.
289
b SOPHISTES. 149
der Definition des Sophisten von einem solchen Merkmal aus-
zugehen sein, das ihn am bestimmtesten charakterisirt (c. 19).
B. Aufsuchen der Definition des Sophisten durch Ausgehen von einem
bestimmten charakteristischen Merkmale desselben (c. 20 — 24).
Die Beschäftigung des Sophisten besteht unzweifelhaft im
Streitgespräche, sowohl selbst dieses zu führen, als andere zu
90 seiner Führung anzuleiten. Den Gegenstand für diese Streit-
gespräche nehmen die Sophisten aus allen Gebieten der gött-
lichen und menschlichen Dinge, der äufseren Natur und der
sittlichen Verhältnisse; also schlechthin alles ist Inhalt ihres
Streitgespräches. Alles zu wissen ist für den Menschen un-
möglich. Das Streitgespräch der Sophisten gründet sich also
nicht auf ein wirkliches Wissen, sondern auf den Schein des
Wissens, es ist eine blofse Nachahmung des wirklichen Wissens.
In der Nachahmung selbst scheiden sich zwei Arten; die eine
hält in ihren Bildern genau die Verhältnisse des nachzubilden-
den Objectes ein und schafft Ebenbilder; die andere gibt diese
wirklichen Verhältnisse auf und, nur bemüht dem ferner stehen-
den den Schein der Ähnlichkeit vorzuspiegeln, schafft sie Trug-
bilder. Man mag noch in Zweifel sein, welche von diesen
beiden Arten der Nachahmung der Sophist betreibe, jedenfalls
ist man durch diese Definition des Sophisten als eines Streit-
künstlers des Scheinwissens und der Täuschung in die grölsten
Schwierigkeiten gerathen. Denn hierbei ist die Voraussetzung
gemacht, dass Irrthum und Täuschung in den Reden wie in
den Ansichten wirklich vorhanden sei, also weiter, da der Irr-
thum Seiendes als nichtseiend, Nichtseiendes als seiend setzt,
dass das Nichtseiende in gewissem Sinne doch sei. Eine solche
Annahme hatte Parmenides immer in Wort und Schrift?) un-
bedingt verboten. Es ist also nothwendig, die Zulässigkeit dieser
Annahme einer Prüfung zu unterweıfen.
ἢ 237 A: ἀρχόμενός τε χαὶ διὰ τέλους τοῦτο ἀπεμαρτύρατο, πεζῇ τε ὧδε
ἑχάστοτε λέγων χαὶ μετὰ μέτρων. Durch die letzteren Worte ist an sich nicht
der im Texte gegebene Gegensatz von Wort und Schrift, sondern der von
Prosa und gebundener Rede bezeichnet. Da aber die Abfassung einer pro-
saischen Schrift von Parmenides alle glaubwürdigen Zeugnisse gegen sich
hat (Zeller, Phil. d. Gr. 2. Aufl. I. S. 398); da ferner der Ausdruck πεζῇ
s, 80 SOPHISTES.
II. Nachweisung, dass in gewissem Sinne das Nichtseiende ist
(e. 35 — 47).
A. Darlegung der in dem Begriffe des Nichtseienden liegenden
Schwierigkeiten (c. 28 --- 29).
1. In welchen Fällen soll man überhaupt das Wort „das
Nichtseiende“* anzuwenden berechtigt sein? Man darf es nicht
irgend einem Seienden als Prädicat beilegen, also auch nicht
dem Etwas; denn das Etwas ıst ein Seiendes. Wer also das 291
Nichtseiende aussagt, der sagt nicht irgend Etwas, also Nichts
aus, und sagt überhaupt nicht aus (c. 25). — Eben so wenig
kann dem Nichtseienden irgend ein Seiendes als Prädicat bei-
gelegt werden, also, da die Zahl ein Seiendes ist, auch keime
Zahl, weder die Einheit noch die Vielheit. Es ist also das
Nichtseiende, da es, um gedacht und ausgesprochen zu werden,
nothwendig als ein Nichtseiendes oder als mehrere Nicht-
seiende gedacht werden müsste, nicht denkbar, nicht aussprech-
bar. Aber dieser Satz bringt den, der ihn ausspricht, in innere
Widersprüche; denn indem er sagt, dass das Nichtseiende (oder
die Nichtseienden) nicht aussprechbar ist (oder sind), verbindet
er mit dem Nichtseienden das Sein und solche Begriffe (die
Zahlbegriffe), die nur dem Gebiete des Seienden angehören.
Der blofse Versuch, das Nichtseiende auszusprechen ohne
λέγων mündliche Äulserungen sehr wohl bezeichnen kann, und ἑχάστοτε,
welches Wort nur auf das erste der beiden Glieder des Gegensatzes zu be-
ziehen sprachlich zulässig ist und durch den Gedanken empfohlen wird, sehr
passend auf die „bei jeder Gelegenheit“ gethanen mündlichen Äufserungen
sich beziehen lässt: so wird es gerechtfertigt erscheinen, wenn ich πεζῇ und
werd μέτρων auf den Unterschied prosaischer mündlicher Rede und schrift-
licher Dichtung deute. Schanz, Spec. crit. p. 22, erinnert zur Erläuterung
der vorliegenden Stelle an die im Griechischen wie im Lateinischen häufige
Verbindung von Gegensätzen in der Weise, „ut neutrum contrariorum mem-
brum per se ipsum explicare liceat, sed semper cum altero coniunetum in-
telligendum sit“, und erklärt demgemäls ἀρχόμενός τε χαὶ διὰ τέλους durch
semper, πεζῇ λέγων καὶ μετὰ μέτρων durch quocumque modo. Ich kann je-
doch auch nach Erwägung der von Schanz beigebrachten Beispiele mich nicht
überzeugen, dass der Ausdruck πεζῇ angewendet sein sollte, ohne dass da-
bei der Gedanke von prosaischer Darstellung vorschwebte, und dies kann
doch dann keine andere als mündliche sein. Deshalb habe ich trotz Schanz’
beachtenswerther Bemerkungen geglaubt, die obige Deutung beibehalten zu
sollen.
SOPHISTES. 151
ihm irgend eine ausschliefslich dem Seienden angehörige Be-
stimmtheit beizulegen, scheitert an der Unmöglichkeit (6. 26 —
27.239 0).
2. a) In den eben dargelegten Widersprüchen, in welche
die Verknüpfung des Nichtseienden mit dem Seienden verwickelt,
wird der Sophist die Mittel finden, den Versuch einer Bestim-
mung seines Wesens zu vereiteln. _ Versuchen wir nämlich, ihn
als einen Künstler von Bildern) aufzufassen, so führt der Be-
griff des Bildes in die eben entwickelten Widersprüche. Denn
das Bild soll seinem Gegenstande gleich sein und doch dieser
Gegenstand nicht sein ®); sein Begriff zwingt also zu der Vor-
5) Ich habe den Namen der gesammten Gattung „Bild“ gesetzt, nicht
den Namen einer der untergeordneten Arten „Ebenbild, Trugbild“, weil die-
ser Unterscheidung, die im vorigen vielleicht nur zur Erläuterung des Um-
fanges des Begriffs der pipmrixt ausgeführt war, hier weiter keine Folge
gegeben wird. Welche der beiden Arten der bilderschaffenden Kunst man
dem Sophisten zuzuschreiben habe, ist vorher 236 C als nicht bestimmbar
bezeichnet. Für die Nachweisung, dass die Erklärung der Sophistik als
einer bilderschaffenden Kunst ein Sein des Nichtseienden als Consequenz
ergibt, ist die Unterscheidung von Ebenbild und Trugbild gleichgiltig; dem
entspricht es, dass in dem diesem Gesichtspuncte gewidmeten Abschnitte
239 Ο — 240 C Platon mit den vorher für Ebenbilder und für Trugbilder
unterschiedenen Ausdrücken wechselt, so wie er nacher 241 E (εἴτε εἰδώλων
εἴτε εἰχόνων εἴτε μιμνημάτων εἴτε φαντασμάτων αὐτῶν) den Unterschied als gleich-
giltig bezeichnet. Vielmehr werden von den Folgerungen aus dem allgemei-
nen Begriffe des Bildes (239 Ὁ — 240 ΟἹ unterschieden die Folgerungen aus
dem Begriffe der Täuschung, ἀπατᾶν, Ψευδῆ δοξάζειν. — In der ersten Auf-
lage dieser Abhandlung hatte ich geglaubt, jene Unterscheidung von Eben-
bild und Trugbild auch in diesem Abschnitte 239 © — 240 C durchführen zu
sollen und zu diesem Behufe 239 D in den Worten ὅταν εἰδωλοποιὸν αὐτὸν
χαλῶμεν mach ὅταν die Partikel δέ eingefügt. Diesen Versuch bestreitet mit
Recht Deulsen p. 25 f.
6) Dass durch die oben im Texte gesetzten Worte der wesentliche Inhalt
der 240 A, B enthaltenen Argumentation richtig bezeichnet ist, lässt sich schon
aus den das Ganze klar abschlielsenden Worten ersehen: κινδυνεύει τοιαύτην
τινὰ πεπλέχϑαι συμπλοχὴν τὸ μιὴ ὃν τῷ ὄντι, χαὶ μάλα ἄτοπον. Wie aber im
einzelnen die ursprünglichen Worte Platons herzustellen sein mögen, das
wird sich bei den Irrthümern, zu denen das häufige Vorkommen von ὄν und
ὄντως und die Leichtigkeit der Verwechslung von οὐκ ὄν mit οὔχουν Anlass
gaben, schwerlich zu voller Sicherheit bringen lassen. Nur zwei Puncte halte
ich in der weiteren Eimendation der Stelle auf der Grundlage der Bekker-
schen Recension für sicher. Erstens, die Worte ἀλλ᾽ ἔστι γε μὴν sind nicht
ein Einwand, den der Eleatische Freund sich selbst macht, sondern müssen
152 SOPHISTES.
aussetzung, dass das Nichtseiende in gewissem Sinne sei (239 D 292
— 400). fr
b) Soll aber der Sophist ein Künstler sein, der durch Trug-
bilder täuscht, also unseren Geist zu irrigen Meinungen führt,
so wird hiermit angenommen, dass es möglich ‚sei zu irren, also
Nichtseiendes für seiend, Seiendes für nichtseiend zu. halten.
Dies ist aber, da sich mit dem Nichtseienden das Seiende in
keinerlei Verbindung bringen lässt, schlechthin unmöglich
(240 Ὁ —- 241 B). |
dem Theätetos zugewiesen werden. Diese evidente Emendation Schleier-
machers hat unter den auf die Bekkersche folgenden Ausgaben nur die
Hermannsche (übrigens ohne Beziehung auf Schleiermacher) sich
angeeignet; von ihr aus hat Hermann einen weiteren sichern Schritt zur
Emendation gethan, indem er aus dem interrogativen πῶς das indefinite πώς
gemacht hat, ἀλλ᾽ ἔστι γε μὴν πως. Zweitens, indem das Ebenbild als ἐναντίον
&knYoös und ferner das ἀληθινόν als ὄντως ὄν bezeichnet wird, so kann das
Ebenbild οὐχ ὄντως ὄν oder ὄντως οὐχ ὄν genannt werden, aber gewiss nicht
οὐχ ὄντως οὐχ ὄν, wie Hermann an der ersteren Stelle, allerdings im An-
schlusse an die besten Handschriften (οὐχ ὄντων οὐχ ὄν MAI, οὐχ ὄντως οὐχ
ὃν Ξ, οὐχ ὃν die übrigen) schreibt, und schwerlich auch nur οὐχ ὃν οὐχ ὄντως
heilsen, wie an der zweiten Stelle alle Ausgaben haben; diese Ausdrucks-
weise würde, wenngleich sich im letzteren Falle zur Noth das zweite οὐχ als
blofse Wiederholung der einfachen Negation bei einer näher bestimmenden
Modification erklären oder entschuldigen liefse, doch fast muthwillig das Ver-
ständnis erschweren, im Widerspruche mit dem Charakter des ganzen Ab-
schnittes. An der ersteren Stelle hat die Züricher Ausgabe nach Baiters
Conjectur das allein passende οὐχ ὄντως ὄν gegen die Handschriften in den
Text aufgenommen; auch an der zweiten wird die von Schleiermächer
angedeutete Nothwendigkeit anerkannt werden müssen, die handschriftliche
Überlieferung zu verlassen. Der ganze Abschnitt würde hiernach lauten:
8. Τί δῆτα, ᾧ ξένε, εἴδωλον av φαῖμεν εἶναι πλὴν γε τὸ πρὸς τἀληϑινὸν ἀφωμοιω-
͵ er - - 0 ENT 2 , R en a x
μένον ἕτερον τοιοῦτον: — Ξ. Ἕτερον δὲ λέγεις τοιοῦτον ἀληϑινόν, Mr ἐπὶ τίνι τὸ
= - Ἢ τ» ΔΆ ΜΕ N - Ἢ rt
τοιοῦτον eines; — Θ. Οὐδαμῶς ἀληϑινόν γε, AAN ἐοικὸς μέν. — Ξ. [Ἄρα τὸ
ἀδνηϑιυνὸν ὄντως ὃν λέγων ; — Θ. θὕτως. --- Ξ. Τί δέ; τὸ μὴ ἀκχηϑινὸν ap ἐναντίον
ἀκηϑοῦς; --- Θ. Τί μήν; — Ξ. Οὐκ ὄντως ὃν ἄρα λέγεις τὸ ἐοιχός; εἴπερ αὐτό
δ “ὧδ x ER any — ar Fr
ye μὴ ἀληϑινὸν ἐρεῖς. — ©. AAN ἔστι γε μὴν πως. — Ξ. Οὔχουν. ἀληϑῶς: γε
r N» \ Be Dur] Ἴ a v - ᾿ ν ΕΥ "
φῇς. -- Θ. Οὐ γὰρ οὖν πλήν y εἰκὼν ὄντως. — Ξ. Οὐχ ὄντως ὃν ἄρα
ὄντως ἐστὶν ὄντος ἣν λέγόμεν εἰκόνα (oder Οὐχ ὄντως ὃν ἄρα ἐστὶν -ὄντως ἣν
λέγομεν εἰκόνα). Madvig Advers. crit. I 381 schreibt: Ξε. Θὺὐχ ὄντως οὐχ ὃν
ἄτῃ λέ: “ τὴ ἐς " ἦε a 5 ara Ν "ἢ uk ὃ ΑΝ ἐρεῖς ἸΑλλ᾽ ἔ [A Ὕ
(ρα λέγεις τὸ ἐοιχός, εἴπερ αὐτό γε μὴ ἀνηϑινὸν ἐρεῖς. στὶ γε 'μῆν πως.
Θεαίτ. Οὐχ ὃν ἀληϑῶς γε ἔφην. Es ist anzuerkennen, ἀ685. οὐχ ὃν besser
beglaubigt ist als οὔκουν, ἔφην besser als φής. Aber die Emendation Schleier-
machers, welche derselbe recht that nicht einer Begründung bedürftig zu
erachten, ist von Madvig gar nicht berücksichtigt.
293
294
SOPHISTES. 193
In solche Schwierigkeiten verwickelt der Begriff des Sophi-'
sten; lösen lassen sich diese Schwierigkeiten nur dann, wenn
der Satz des Parmenides widerlegt, also erwiesen wird, dass in
gewissem Sinne das Nichtseiende ist und das Seiende nicht ist.
Der Versuch eines solchen Beweises darf nicht als Impietät ge-
gen Parmenides betrachtet werden. Um den Beweis zu führen,
ist es nöthig, vom Nichtseienden, in welchem sich die Schwie-
rigkeiten zunächst zeigten, auf das Seiende überzugehen, mithin
die Lehren zu prüfen, in denen sich Philosophen über die Zahl
und die Qualität des Seienden ausgesprochen haben (ὁ. 29).
B. Darlegung der in den philosophischen Lehren über das Seiende
enthaltenen Schwierigkeiten (c. 30 — 36. 250 BE).
Die Philosophen, welche sich über das Seiende ausgesprochen
haben, über seine Zahl, seine Qualität, seine Beziehungen zu
einander, scheinen nur einen Mythus vorzutragen, unbekümmert
darum, was die Menge der Zuhörer davon versteht. Es ist also
nothwendig, ihre Lehren einer genauen Prüfung zu unterziehen
(ec. 30).
I. Philosopheme, die über die Zahl’) des Seien-
den bestimmtes festgestellt haben (ce. 31, 32).
a) Diejenigen Philosophen, welche zwei Seiende annehmen,
mögen erklären, was sie unter dem Sein verstehen. Verstehen
7) Die Unterscheidung, welche ich hier in die Überschriften gelegt habe,
„Zahl des Seienden“, „Qualität des Seienden“, ist von Platon selbst nicht
ausdrücklich bezeichnet; ich glaube dieselbe jedoch durch den unmittelbaren
Thatbestand des Dialogs rechtfertigen zu können. Platon unterscheidet näm-
lich deutlich diejenigen Philosophen, durch deren Kritisirung er beweist, dass
der Begriff des Seins nicht mindere Schwierigkeiten bietet als der des Nicht-
seins, in zwei Gruppen; diese Unterscheidung ist bei dem Beginne der ersten
Gruppe angekündigt 243 C: τῶν μὲν τοίνυν πολλῶν πέρι χαὶ μετὰ τοῦτο
σκεψόμεϑα --- περὶ δὲ τοῦ μεγίστου τε χαὶ ἀρχηγοῦ πρῶτον δὴ σχεπτέον,
und wird wieder aufgenommen nach Beendigung der Kritik der ersten Gruppe
beim Übergange zur zweiten 245 E: τοὺς μὲν τοίνυν διαχριβολογουμένους ὄντος
τε πέρι χαὶ μὴ πάντας μὲν οὐ διεληλύϑαμεν, ὅμως δὲ ἱχανῶς ἐχέτω " τοὺς
δὲ ἄλλως λέγοντας αὖ ϑεατέον. Dass die hier an zweiter Stelle gegebene
Bezeichnung der dort an erster Stelle stehenden identisch ist und umgekehrt,
ist auf den ersten Blick ersichtlich. Nun behandelt Platon in der ersten
Gruppe diejenigen Philosophen, welche zwei seiende Principien oder ein ein-
ziges Seiendes aufstellten, in der zweiten diejenigen, welche nur dem Mate-
riellen und welche nur den Begriffen Realität zuschrieben. Jene kritisirt er
154 SOPHISTES.
sie darunter etwas von den beiden vorausgesetzten Seienden ver-
schiedenes, so nehmen sie in Wahrheit drei Seiende an, nicht
in der Weise, dass er durch Anwendung des Begriffes des Seins und durch
stillschweigende Hinzunahme des Motivs der Ideenlehre aus ihren Vor-
aussetzungen andere Folgerungen in Betreff der Zahl zieht; diese dagegen
so, dass er den Vertheidigern des ausschliefslich materiellen Seins die
Nothwendigkeit der Annahme geistiger Realitäten, den Vertheidigern der
unveränderlichen Begriffe die Nothwendigkeit des Lebens und der Bewegung
in ihnen zeigt, jede von beiden Seiten also von ihren Voraussetzungen aus
zu anderen Erklärungen über die Qualität des Seienden bringt. ° Daraus
sind, unter Hinzunahme der Worte Platons bei dem Beginne des ganzen
Abschnittes über das Seiende 242 C: τὰ ὄντα διορίσασθαι πόσα Te χαὶ ποῖά
ἐστιν, die Überschriften gefolgert, welche also allerdings die von Platon an
den betreffenden Einschnitten selbst gegebenen Bezeichnungen um etwas
überschreiten. Platon bezeichnet die erste Gruppe von Philosophen einmal
dadurch, dass es sich bei ihnen um das μέγιστόν τε zal ἀρχηγόν, nämlich um
τὸ ὄν handle, das andere mal als διαχριβολογουμένους ὄντος τε πέρι καὶ μιῇ; die
zweite Gruppe einmal dadurch, dass sie von τὰ πολλά handeln, dann als
ἄλλως λέγοντας. Diese letztere Stelle 245 E, hat mannigfache Auslegungen
erfahren; διαχριβολογεῖσθαι soll Lob, ἄλλως λέγειν Tadel enthalten (Deycks,
Stallbaum), oder διαχριβολογεῖσϑαι Tadel, ἄλλως λέγειν Lob (Susemihl
S. 298. Anm. 452), oder keines von beiden soll Lob oder Tadel enthalten
und ἄλλως λέγειν einfach bedeuten „welche anders reden“, d. h. sich in anderer
Weise über den Gegenstand erklären (Zeller, Philos. d. Gr. 2. Aufl. II,
S. 181 A.). Diese letzte Auslegung von ἄλλως λέγειν ist unverkennbar die
sprachlich allein berechtigte. (Zur Übersetzung Deuschles τοὺς ἄλλως
λέγοντας „die freieren Denker“ sehe ich weder in den Worten an sich noch
in dem Gegensatze eine Berechtigung.) Ebenso ist anzuerkennen, dass die
erklärende Umschreibung, welche Zeller (a. a. ©. 2. Aufl. 5. 181; 3. Aufl.
S. 218) von den Worten τοὺς διαχριβολογουμένους ὄντος τε πέρι καὶ μιὴ ὄντος
gibt „bei denen sich, wie bei den Eleaten, alles um den Gegensatz des Seien-
den und Nichtseienden dreht“, dem Wortlaute wohl entspricht. Aber ich
vermag ihm deshalb nicht beizupflichten, weil bei dieser Auffassung die Worte
nur zur Bezeichnung der Eleaten passen, und doch nach dem Zusammen-
hange die beiden p. 243D—245E behandelten philosophischen Richtungen
zusammenfassen müssen. Dieser Übelstand wird dadurch nicht beseitigt, dass
Zeller in der 3. Auflage 5. 218 statt der Worte „wie bei den Eleaten“ setzt
„wie bei den von p. 243D an besprochenen Philosophen“; denn die‘ von
Zeller gegebene Auslegung der Worte τοὺς διαχριβολογουμένους κτὰ, passt eben
nicht auf die von p. 243 D— 244 B besprochenen Philosophen, sondern nur
auf die von p. 244B an behandelten Eleaten. Wenn man erwägt, dass an
der Stelle 243 C, welche für die Philosophen der zweiten Gruppe doch um
etwas bezeichnender ist als dıe spätere, τὰ πολλά als charakteristisches Wort
für sie angewendet wird; ferner, dass die Atomisten und die Megariker, also
die Philosophen der zweiten Gruppe, eine unbestimmte Vielheit von
u Δὰν
. SOPHISTES. 155
zwei. Setzen sie es dagegen als einem der beiden Seienden
295 oder als beiden zusammengenommen identisch, so kommt ihre
Annahme auf die Voraussetzung eines einzigen Seienden zu-
rück) (c. 31).
Seienden aufstellen, die der ersten Gruppe dagegen eine bestimmte An-
zahl, und dass eben diese Zahl den Ausgangspunct für die über sie geübte
Kritik abgibt: so dürfte es sich empfehlen , unter διαχριβολογουμιένους χτλ.
zu verstehen „diejenigen, die sich genau bestimmend (nämlich die Zahl genau
bestimmend) über das Seiende und Nichtseiende erklären“. Und irre ich
nicht, so kommt indireet Zeller trotz ausdrücklicher Missbilligung meiner
Erklärung im wesentlichen auf die gleiche Auffassung, indem er hinzufügt
(3. Aufl. $. 218): „Bei denjenigen nämlich, auf welche Plato 248 1ὺ kommt,
ist die Hauptfrage nicht die, ob es mehrere Seiende gibt, oder nur
Eines ein Seiendes, alles andere dagegen ein Nichtseiendes ist, sondern
die, ob es nur Körperliches oder Unkörperliches gibt; an die Stelle von
jenem Gegensatze tritt dieser.“ Denn hiermit wird ja nicht mehr der blolse
„Gegensatz des Seienden und Nichtseienden“, sondern die genauere Bestim-
mung der Zahl des Seienden zum gemeinsamen Charakterzug der fraglichen
Philosophien gemacht. — Der von mir durch die Überschriften bezeichnete
Gegensatz der beiden Abschnitte „Zahl des Seienden“, „Qualität des
Seienden“, trifft zusammen mit der Bemerkung Deuschles, Einleitung zur
Übersetzung S. 304 Anm. : „Während die Kritik, welche das Sein als prä-
dicativen Begriff zum Ausgangspunct nahm, die Principien nach ihrer Zahl
oder Quantität prüfte, wendet sich die jetzige der Qualität derselben
zu.“ Nur kann ich mit dieser Unterscheidung diejenige, welche Deuschle
in den Überschriften der Inhaltsübersicht gibt, „Kritik der Systeme nach dem
Gesichtspuncte prädicativer Auffassung ‚des Seins“, „Kritik der Systeme
nach substantieller Fassung des Seins“ 8. 310 ff. trotz der 8. 304 darüber
gemachten Bemerkungen nicht in Einklang bringen.
8) Dieser Abschnitt 243 E— 244 A wird nach dem Vorgange Zellers
(Phil. d. Gr. 2. Aufl. 11, S. 415) von allen neueren Erklärern anders aufge-
falst, als im obigen angedeutet ist. Zeller schreibt nämlich: „Jener (der
Dialog Sophistes 243 B ΠῚ) beweist gegen die Lehre von einer ursprüng-
lichen Vielheit des Seins aus dem Begriffe des Seins selbst, dass alles, so-
fern ihm das Sein zukommt, insoferne auch eines sei.“ Dem entsprechend
heilst es bei Steinhart δ. 450 in Beziehung auf die vorliegende Stelle:
„Mit meisterhafter, echt philosophischer Dialektik zeigt nun Platon, dass
weder der abstracte Monismus, noch der Dualismus in ihrer Einseitigkeit
haltbar seien, sondern beide nothwendig in ihr Gegentheil um-
schlagen.“ Ebenso Susemihl: 8,296: „In jedem Falle führt der Stand-
punet der Vielheit auf den Monismus und zwar auf den des Seins zu-
rück.“ Michelis δι 196: „Nachdem zuerst nach der Consequenz des Den-
kens jede Mehrheit von letzten Prineipien ausgeschlossen und also der
einige Begriff des Seins als die letzte Consequenz des Denkens mit
voller Klarheit hingestellt ist, 243 D— 244 B“ u. 5. ἢ, Deuschle, Einlei-
150 Ξ SOPHISTES.
δ᾽ Die Annahme dagegen eines einzigen Seienden führt in 2%
nicht geringere Widersprüche. Eins und Seiendes sind zwei
verschiedene Namen. Ist die Verschiedenheit des Namens Zei-
chen für die Verschiedenheit der benannten Dinge, so ergibt
sich, dass sie zwei Seiende voraussetzen, nicht blofs eines. Sollte
tung zur Übers. 8. 303: „Diesen Systemen gegenüber zeigt Platon, dass ihrer
Vielheit doch immer die Einheit des Seinsbegriffes zu Grunde liege.“ Aber
in all diesen Auffassungen, mag auch ihre merkwürdige Einstimmigkeit beim
ersten Anblick etwas Überzeugendes haben, ist nur ein Theil der Worte
Platons berücksichtigt, der andere ganz bei Seite geschoben. Platon schreibt:
φέρε, ὁπόσοι ϑερμὸν χαὶ ψυχρὸν ἤ τινε δύο τοιούτω τὰ πάντ' εἶναί φατε, τί ποτε
ἄρα τοῦτ᾽ ἐπ᾽ ἀμφοῖν φϑέγγεσϑε, λέγοντες ἄμφω καὶ ἐχάτερον εἶναι; τί τὸ εἶναι
το ὑπολάβωμεν ὑμῶν; πότερον τρίτον παρὰ τὰ δύο ἐχεῖνα, καὶ τρία τὸ πᾶν
[ὩΣ
bo ἔτι zu ὑμᾶς τιϑῶμεν; οὐ γάρ ποὺ τοῖν γε δυοῖν χαλοῦντες ϑάτε -
pov ὃν ἀμφότερα ὁμοίως εἶναι λέγετε. σχεδὸν γὰρ ἂν ἀμφοτέρως ἕν, ἀλλ᾽ οὐ δύο
εἴτην. --- ᾿Αληϑῆ λέγεις. — ᾿Αλλ᾽ ἄρα τὰ ἄμφω βούλεσϑε χαλεῖν ὄν. --- Ἴσως. —
᾿Αλλ᾽, © φίλοι, φήσομεν, χἂν οὕτω τὰ δύο λέγοιτ᾽ ἂν σαφέστατα ἕν. -- ᾿θρϑότατα
εἴρηχας. Platon unterscheidet deutlich drei Möglichkeiten, das Verhältnis
des Seins zu den vorausgesetzten beiden Prineipien zu denken, 1. τὸ ὃν
παρὰ τὰ δύο, 2. τοῖν δυοῖν ϑάτερον ὄν, 3. τὰ ἄμφω ὄν: Die beiden letz-
teren Voraussetzungen führen von der Annahme zweier Principien zu dem
Schlusse auf ein einziges Sein: ἕν, ἀλλ᾽ οὐ δύο εἴτην ἄν und χἂν οὕτω τὰ δύο
λέγοιτ᾽ ἂν σαφέστατα ἕν. Die erste Voraussetzung dagegen lässt aus zwei Prin-
eipien drei werden: τρία τὸ πᾶν ἀλλὰ μὴ δύο ἔτι za ὑμᾶς τιϑῶμεν. Wir
haben kein Recht, diese erste von Platon in gleiche Linie gestellte Voraus-
setzung als nicht eben so ernstlich gemeint und eben so betont zu betrach-
ten, wie die beiden anderen; es herrscht in ihr genau die nämliche Weise
des Schlielsens, wie in dem folgenden Abschnitte 244 B--D, wo Platon
von dem einen Seienden des Parmenides zu einer Zweiheit fortschreitet,
die nämliche, die aus einem umfangreichen Theile des Platonischen Parme-
nides bekannt genug ist. — Zeller gibt in der 3. Auflage $. 546 eine aus-
führliche Rechtfertigung seiner Auffassung gegen meine Einwendung, im
wesentlichen, wenn ich recht verstehe, des Sinnes, dass durch die an erster
Stelle gesetzte Folgerung einer Dreiheit des Seienden indirect, durch deren
selbstverständliche Unhaltbarkeit, die Zurückführung auf Einheit des Seien-
den bezeichnet sei. Ich verkenne keineswegs, dass Plato diesen Weg der
Widerlegung hätte einschlagen können ; aber mit den Worten Platons diese
Auslegung in Einklang zu bringen vermag ich nicht. (Der Vorwurf, den
mir Deulsen a. a. o. S. 42 deswegen macht „qui quae dixerit scriptor magis
spectat quam quae velit.“ würde dann zutreffen, wenn das, was Platon sagt,
der ihm untergelegten Absicht wenigstens nicht widerspräche.) Und für
den von Platon verfolgten Zweck der blofsen Widerlegung genügt es doch
gewiss, wenn er, sei es auch aus verschiedenen Gesichtspuncten, die frag-
liche philosophische Ansicht mit sich selbst in Widerspruch bringt.
297
SOPHISTES. 157
dagegen die Verschiedenheit des Namens nicht als Zeichen für
die Verschiedenheit der Sache gelten, so geräth man in jedem
Falle in lächerliche Folgerungen, mag man nun annehmen, dass
zwei Namen dasselbe Ding bezeichnen, oder dass es einen Na-
men gebe, der nur des Namens Namen sei (244 B—D). — Fer-
ner, die Philsophen, welche Einheit des Seienden voraussetzen,
schreiben ihm Ganzheit zu. Darin liegt nothwendig die An-
nahme einer Mehrheit?) von Theilen, und die Einheit ist dann
nicht mehr das Wesen des Seienden, sondern nur eine zu der
Mehrheit des Seienden hinzukommende Bestimmtheit, πάδϑος.
Gehört aber anderseits die Ganzheit nicht zu seinem Wesen, so
ist es überhaupt nicht; denn alles, was ist oder geworden ist,
das muss, was es ist, ganz sein (244 D— 245 E).
2. Philosopheme, welche über die Qualität des
Seienden bestimmtes festgestellt haben (c. 33 — 35).
Über die Qualität des Seienden ist der gewaltigste Kampf
ausgebrochen. Die einen wollen als seiend nur anerkennen,
was mit den Händen zu greifen ist, Körper und Seiendes ist
ihnen identisch ; die anderen sehen in unkörperlichen, dem Den-
ken angehörigen Begriffen die einzige Wesenheit, und erkennen
in dem, was ihren Gegnern Wesenheit ist, nur ein Werden an,
nicht ein Sein. Von jeder der beiden Seiten ist Rechenschaft
zu fordern, was sie unter dem Seienden denken (c. 33).
a) Die Verfechter der ausschliefslichen Realität der Körper
müssen doch das Vorhandensein lebendiger Wesen anerkennen,
und anerkennen, dass in diesen eine Seele ist, welche gerecht
oder ungerecht, verständig oder unverständig sein kann; es muss
also der Seele Gerechtigkeit, Ungerechtigkeit u. ä. einwohnen,
und Gerechtigkeit, Ungerechtigkeit u. ἃ. müssen, um der Seele
einwohnen zu können, etwas wirkliches sein. Mögen nun im-
merhin die Vertheidiger der körperlichen Wesenheit, wie dies
einige wirklich thun, selbst die Seele für etwas Körperliches
erklären, so müssen sie doch in der Gerechtigkeit, Ungerechtig-
9 Nichts weiter als Mehrheit oder Vielheit der Theile liegt in dem Be-
griffe des Ganzen, nichts weiter wird von Platon an der betreffenden Stelle
244 E—245 B ausgesprochen; von „unendlicher Vielheit“ mit Steinhart
S. 452 zu reden, ist kein Anlass.
158 SOPHISTES.
keit u. ἃ. etwas Unkörperliches und doch wirklich Seiendes an-
erkennen. Sie müssen also einen solchen Begriff des Seienden
aufstellen, unter den beides gleich sehr fällt, sowohl die von
ihnen vorausgesetzten körperlichen, als die von ihnen nothwen-
dig anzuerkennenden unkörperlichen Wesenheiten. Sie werden
daher, mag dies auch im weiteren Verlaufe uns und ihnen selbst
nicht ausreichen, keinen anderen Begriff aufstellen können, als
dass alles dasjenige sei, was eine Kraft ist des 'Thuns oder
Leidens 10) (c. 34).
10) Der Gang dieser Beweisführung gegen die ausschlielsliche Annahme
materieller Wesenheiten ist im obigen streng nach Platons Worten bezeich-
net, und wird verständlich sein, wenn man die Principien der Ideenlehre als
anerkannt voraussetzt. Von den Vertheidigern des materiellen Seins wird
angenommen, dass sie die sittlichen Unterschiede anerkennen (d. h. mit Den-
kern, welche auch diese Unterschiede nicht anerkennen, geht Platon auf
eine Discussion gar nicht ein); indem sie diese anerkennen, erkennen sie
zugleich (vorausgesetzt nämlich die Giltigkeit der Principien der Ideenlehre)
das Sein der Gerechtigkeit u. 5. f. an, müssen also einen solchen Begriff
des Seins aufstellen, der zugleich auf das Materielle und auf diese geisti-
gen Realitäten passt. — Dieser einfache Gang ist von Steinhart, Susemihl,
Michelis in auffallender Weise verdeckt und verkannt. Steinhart 5. 454:
„Der Materialist wird darauf hingewiesen, dass er oft genug von einer Seele
und von allgemeinen Begriffen, wie Tugend, Vernunft, Gerechtigkeit rede
und dadurch unbewusst und unwillkürlich das Dasein einer über die Kör-
perwelt hinausliegenden, unsichtbaren Welt zugebe. Aber auch wenn er
consequent genug wäre, die Seele für etwas Körperliches und ihre Begriffe
und Vorstellungen für körperliche Affectionen und Stimmungen zu erklären,
würde er doch den Begriff des Seins anerkennen müssen. Ein Sein
aber kann niemand ohne eine Kraft sich denken, die bald als thätige Wirk-
samkeit, bald als leidende Empfänglichkeit sich kundgibt.« Nicht weil er
den Begriff des Seins anerkennen müsste, sondern weil er, der gemach-
ten Voraussetzung gemäls, die Giltigkeit der sittlichen Begriffe, mit-
hin ihre Realität anerkannte, darum muss er einen solchen Begriff des
Seins aufstellen, dass sinnliche und geistige Realität gleich sehr unter ihn
fällt. — Den gleichen Fehler, den Begriff der δύναμις zur Grundlage der
Widerlegung der Atomisten zu machen, statt in ihm nach Platons Worten
eine Folgerung aus den Zugeständnissen anzuerkennen, welche den Ato-
misten zugeschrieben werden, scheint Deuschle zu begehen, wenn er (In-
haltsübersicht vor der Übers. 8. 311) schreibt: „Nachweis, dass es unkör-
perliche Objecte gibt, und zwar thatsächlich (Seele) und begrifflich aus dem
Begriffe des Seins als δύναμις.“ — An der Darstellung von Michelis lässt
sich der Widerspruch gegen die Worte Platons noch evidenter nachweisen,
8. 186: „Wir setzten sie also als solche, dass sie den Begriff der Seele und
der Gerechtigkeit nicht leugnen, so dass, wenn sie auch die Seele noch nicht
SOPHISTES. 159
298 b) Die Freunde der Begriffe stellen Werden und Sein in
scharfer Trennung einander gegenüber. Mit dem Werden sollen
wir durch den Leib in Verbindung stehen, durch das Denken da-
gegen mit der wahrhaften Wesenheit, die ewig unveränderlich ist.
Nun kann aber unter der Gemeinschaft des Denkens mit dem
unveränderlich Seienden nur gemeint sein, dass das Denken
dasselbe erkenne, das Seiende erkannt werde. Erkennen ist
eine Thätigkeit, also muss Erkanntwerden ein Leiden, ein Af-
fieirtwerden sein. Es muss also dem Seienden Bewegung we-
nigstens insofern, als es erkannt wird, zugeschrieben werden.
Und kann man sich denn, lässt Platon den Eleatischen Gast aus-
rufen, überhaupt überzeugen, dass Bewegung und Leben, Seele
299 und Verstand dem unbedingt Seienden nicht einwohne, son-
als etwas unkörperliches fassen, sie doch den Unterschied von gerecht und
ungerecht anerkennend die Gerechtigkeit, durch Theilnahme an welcher die
Seele gerecht ist, als etwas (also als etwas unsinnlich seiendes) anerkennen
müssen. Dies zugebend oder doch wenigstens nicht zu leugnen vermögend,
erscheinen sie allerdings schon sehr gebessert, gegenüber den eigentlichen
Stammhaltern dieser Lehre, welche nur das sinnlich greifbare als
real anerkennen. Aber auch diese müssen doch wenigstens die Kraft
als etwas im sinnlichen wirkendes, also wirkliches anerkennen.“ Aber Platons
Beweisführung hat keine Geltung für diejenigen, „welche nur das sinnlich
greifbare als real anerkennen“, sondern Platon sagt ausdrücklich: εἰ γάρ τι
zur σμιχρὸν ἐδψέλουσι τῶν ὄντων συγχωρεῖν ἀσώματον (nämlich das Sein
der Gerechtigkeit u. 5. f.), ἐξαρχεῖ" τὸ γὰρ ἐπί τε τούτοις καὶ ἐπ᾿ ἐκείνοις
ὅσα ἔχει σῶμα ξυμφυὲς γεγονός χτὰλ. — Am eigenthümlichsten Susemihl
S. 298: „Den Materialisten zunächst wird der Mangel einer bewegenden
oder wirkenden Ursache entgegengehalten. Dass sie mit den geistigen anch
alle sittlichen Begriffe, Tugend und Laster, wegleugnen müssten, ist mehr
ein Vorwurf als eine Widerlegung. Die letztere liegt vielmehr darin, dass
es nach ihren Prämissen gar kein ζῶον geben kann, 246 E, d.h. dass ihnen
die Thatsache des Lebens unerklärbar ist, weil das Körperliche doch nicht
selbst der Grund dazu sein kann, dass es sowohl lebendige als leblose Kör-
per gibt, sondern nur die Seele. Was über die sittlichen Begriffe gesagt
wird, ist sodann nur eine weitere Folgerung hieraus. Da nun demnach so-
wohl der Körper, das Belebte und Bewegte, als die Seele, das Belebende
und Bewegende, unter das Sein gehört, so muss das letztere nothwendig
sowohl die Möglichkeit des Leidens als die Kraft des Wirkens in sich tra-
gen.“ In dieser Umschreibung ist Platons Gedankengang so sehr verkehrt,
dass ich jedem Satze Susemihls das bisher Gesagte und vor allem Platons
eigene Worte entgegenstellen müsste, wenn ich eine Kritik unternehmen
wollte.
160 SOPHISTES.
dern es in erhabener Heiligkeit ohne Geist unbeweglich stehe!) ?
Man muss also das Bewegte und die Bewegung als seiend, das
Seiende als bewegt!2) anerkennen. Aber dem Seienden Bewe-
gung absolut, ohne das Gleichbleiben der Ruhe, zuzuschreiben,
ist nicht möglich, weil dadurch die Möglichkeit der Erkenntnis
des Seienden aufgehoben würde. Also da keine der beiden Be-
stimmungen ausschlielslich dem Seienden zuzuschreiben ist, so
bleibt nur die Annahme übrig, dass das Seiende ruhend und
bewegt sei (c. 35).
3. Widersprüche in den über das Seiende gewon-
nenen Ergebnissen (ec. 36).
Der Begriff des Seienden, zu dem wir hiermit gelangt sind,
ist denselben Entgegnungen ausgesetzt, welche sich am Anfange
der Darlegung der Philosopheme über das Seiende zeigten. Wir
setzen Bewegung und Ruhe als seiend; damit kann nicht ge-
meint sein, dass wir die Bewegung als Ruhe, die Ruhe als Be-
wegung setzten, denn diese beiden sind einander entgegengesetzt;
sondern wir setzen das Seiende als ein drittes, von Bewegung
oder Ruhe verschiedenes. Das Seiende ist also seiner Natur
nach weder in Ruhe noch in Bewegung. Aber wie soll man
1) In der obigen Umschreibung bin ich der in der Züricher und Her-
mannschen Ausgabe durch die Interpunction: ἀλλὰ σεμνὸν χαὶ ἅγιον, νοῦν
οὐχ ἔχον, ἀκίνητον ἑστὸς εἶναι bezeichneten Auffassung gefolgt, bei welcher
durch die Epitheta σεμνός und ἅγιος die Bewegungslosigkeit scherzend und
mit einer spottenden Beziehung auf die betreffende philosophische Schule
als vornehme und erhabne Ruhe bezeichnet wird. (Vgl. Phädr. 275 D:
δεινὸν γάρ που τοῦτ᾽ ἔχει γραφὴ χαὶ ὡς ἀληϑῶς ὅμοιον ζωγραφίᾳ. καὶ γὰρ τὰ
ἐκείνης ἔχγονα ἕστηχε μὲν ὡς ζῶντα, ἐὰν δ᾽ ἀνέρῃ τι, σεμνῶς πάνυ σιγᾷ, und die
zu σεμνός im Index Aristotelicus p. 676b 32 ff. nachgewiesenen Synonyma.)
Ich verkenne jedoch nicht, dass die andere Auffassung (Bekker, Schleier-
macher, Stallbaum), welche σεμνὸν χαὶ ἅγιον als Epitheta von νοῦν betrachtet,
sich ebenfalls rechtfertigen lässt.
12) Diese letzteren Worte „das Seiende als ia sind in dem Plato-
are Texte nicht ausdrücklich enthalten; dass Platon sie als in den vor-
hergehenden schon mit ausgesprochen betrachtet, ersieht man aus dem fol-
genden, worin ihr Inhalt unverkennbar vorausgesetzt wird. — Der Ver-
muthung, welche Deufsen $. 48 u. 82. unter Zustimmung zu dieser Auffas-
sung, daran des weiteren knüpft, dass in der Überlieferung des Textes etwas
ausgefallen sei, kann ich mich, abgesehen von sonstigen Bedenken gegen
eine solche Annahme, deshalb nicht anschlielsen, weil erst nachher p. 250 B, C
diese andere Seite des Gedankenganges ausdrücklich entwickelt wird.
SOPHISTES. 161
sich das denken? denn was nicht in Bewegung ist, ist in Ruhe,
was nicht in Ruhe, das ist in Bewegung.
Nachdem sich nun gezeigt hat, dass die begriffliche Be-
stimmung des Seienden nicht geringeren Schwierigkeiten unter-
liegt, als die des Nichtseienden, so ist: doch die Hoffnung ge-
wonnen, dass in dem Mafse, als über das eine von beiden
Einsicht erlangt ist, sei es bestimmte oder nur ungefähre, die-
selbe sich auch auf das andere erstrecken wird (c. 36).
C. Die Gemeinschaft der Begriffe !3) untereinander (c. 36. Schl. — 47).
3. Aufgabe der Dialektik (c. 36 Schl. — 39).
In welchem Sinne, fragt sich, benennen wir dasselbe Ding
mit verschiedenen Namen? — Wir legen demselben Dinge eine
Mehrheit von Prädicaten bei und bezeichnen so das Eine doch
300 wieder als ein Vieles mit vielen Namen. Nur Beschränktheit 11)
des Denkens hat dies verbieten können und fordern, dass jedes
Ding nur sich selbst zum Prädicate erhalte, der Mensch nur als
Mensch, das Gute als gut bezeichnet werde u. s. f. Um aber
in dieser Frage zu einer allgemeinen Entscheidung zu gelangen,
muss untersucht werden, welcherlei Gemeinschaft unter den Be-
griffen besteht. Die Gemeinschaft absolut zu leugnen, ist nicht
möglich, da wer sie leugnet, doch in seinen sonstigen Voraus-
setzungen, ja selbst eben in dieser Leugnung der Gemeinschaft,
nothwendig das Sein mit anderen Begriffen verbindet. (251 C —
252 D.) Will man dagegen alle Begriffe beliebig unter einander
Verbindungen eingehen lassen, so muss man auch entgegen-
gesetztes von einander aussagen, dass die Bewegung ruhe, die
Ruhe bewegt sei. (252 1), E.) Es bleibt. also nur die Annahme
übrig, dass in Betreff der Gemeinschaft der Begriffe ein Unter-
schied unter den Begriffen bestehe, dass also gewisse Begriffe
mit gewissen anderen Verbindungen einzugehen geeignet seien,
mit anderen nicht. Dies zu erkennen und zu unterscheiden, ist
13) Die Übersetzung von yevn durch „Begriffe“ (Gattungen, Arten) ist
gewählt, um der Erklärung nicht schon vorzugreifen. Dass unter γένη Ideen
im Platonischen Sinne des Wortes verstanden sind, ist hernach zu erweisen
versucht S. 183 ff.
14) Die πενία περὶ φρόνησιν erinnert lebhaft an das Beiwort ἀπαίδευτοι,
welches Aristoteles Met. H. 3, 1043 b24 den Antistheneern gibt.
Bonitz, Platonische Studien. 11
162 SOPHISTES.
#
"Aufgabe einer Wissenschaft (τέχνη), der Dialektik, begrifflich die
Gattung in ihre Arten zu theilen und weder dasselbe als ver-
schieden zu setzen noch umgekehrt'5). Wir sind hiernach zu 301
15) Die hierauf in den Worten Οὐκοῦν ὅ γε τοῦτο δυνατὸς --- χατὰ γένος
ἐπίστασϑαι 253 1), E folgende genauere Beschreibung der Aufgabe der Dialektik
habe ich absichtlich unterlassen in einer auszugsweisen Umschreibung wieder-
zugeben, weil ich eine Erklärung, die den Worten Platons vollkommen ge-
recht würde und zugleich den Gedanken zu evidenter Klarheit brächte, nicht
gefunden habe. Man wolle die verschiedenen Erklärungen vergleichen bei
Schleiermacher und Stallbaum z. ἃ. St.; an Stallbaums „vortreffliche
und sachgemälse Erklärung“ schliefst sich Susemihl an, S. 305; ob
Michelis $S. 188 derselben folgt oder nicht, weils ich nicht sicher anzu-
geben; auch die Weise, wie Deuschle (Übers. 5. 388, Jahnsche Jahrb. 71,
S. 763, vgl. ebend. 77, S. 731 ff.) die vier Glieder auf zwei redueirt, ist mir
nicht klar geworden; einen von allen abweichenden Weg schlägt Steinhart
ein, S. 459 ἢ. — Schleiermacher ist so aufrichtig, unter vollständiger Dar-
legung der Motive seiner Erklärung zugleich zu bemerken, dass sie ihn nicht
vollkommen befriedige und worin noch eine Schwierigkeit ungelöst bleibe;
Stallbaum ist seiner Erklärung vollkommen sicher. „Ita igitur huic loco, qui
acutissimis viris ad interpretandum visus est longe difficillimus, tandem lucem
suam affudisse videbimur.“ Und doch sind die Worte μίαν αὖ dr ὅλων πολλῶν
ἐν ἑνὶ ξυνημμένην, welche Schleiermacher mit Recht als den Sitz der haupt-
sächlichen Schwierigkeit bezeichnet hat, durch Stallbaum eben so wenig zur
Klarheit gebracht. — Dass durch die ersten beiden Glieder die Unterordnung
der Artbegriffe unter ihren Gattungsbegriff bezeichnet ist, kann keinem Zwei-
fel unterliegen. Ob darin freilich vollkommen dasselbe, nur einmal nach
der Richtung des Absteigens, dann nach der des Aufsteigens, oder ob doch
noch ein gewisser Unterschied gemeint ist, wird sich schwer entscheiden
lassen: die Wahl der Ausdrücke πάντη διατεταμένην und ἔξω ϑεν περιεχομένας
deutet wohl auf einen Unterschied. Es ist möglich, dass Platon die Unter-
ordnung der Artbegriffe unter ihren Gattungsbegriff einerseits und die Ver-
bindung jedes Begriffes mit dem des Seins anderseits als einander nicht
vollkommen gleichzusetzend betrachtete, und das eine Glied diesem, das
andere jenem zur Beschreibung dienen sollte; nur ist beides, die vermuthete
Verschiedenheit der Verhältnisse und ihre Beschreibung, so unbestimmt,
dass man mit mälsiger Kunst der Deutung jedes der beiden Verhältnisse
jeder der beiden Beschreibungen wird anpassen können. Durch das vierte
Glied ist unzweifelhaft der vollkommen trennende Gegensatz (χωρὶς πάντη
διωρισμένας) bezeichnet, z. B. στάσις χίνησις, ταὐτὸν ϑάτερον. Für das dritte
Glied aber wird sich eine ausreichende Deutung schwerlich finden lassen,
wenn man nur auf die allgemeinen logischen Beziehungen das Augenmerk
richtet und nicht vielmehr das im folgenden behandelte specielle Beispiel
der fünf besonders wichtigen Begriffe schon mit in Rechnung bringt, nur
vielleicht in etwas anderer Weise, als Schleiermacher es bereits unternommen
hat. Der Begriff der Selbigkeit erstreckt sich über oder durch die Gesammt-
30
τῷ
SoPHIsTES. 163
dem Begriff des Philosophen gelangt, statt zu dem des Sophi-
sten; beide sind gleich schwierig zu finden; wie der eine in
den Glanz des Seienden, so versteckt sich der andere in das
Dunkel des Nichtseienden.
2. Dialektische Untersuchung der Begriffe Seien-
des, Ruhe, Bewegung, Selbiges, Verschiedenes (e. 40
—44 Anfg.).
Da also einige Begriffe mit einander in Gemeinschaft zu
treten geeignet sind, andre nicht, so wollen wir diese Gemein-
schaft untersuchen, nicht in Betreff aller Begriffe, sondern in
Betreff einiger der höchsten. Als solche zeigten sich im vorigen
die Begriffe: das Seiende, die Ruhe, die Bewegung. Ruhe und
Bewegung sind mit einander unverbindbar, das Seiende aber
geht mit jedem der beiden die Verbindung ein. Jeder der drei
Begriffe, sich selbst identisch, ist von den anderen verschieden.
Die hierbei zur Anwendung gekommenen Begriffe der Selbigkeit
und der Verschiedenheit fallen mit keinem der bisher angewen-
deten zusammen. Der Versuch, die Begriffe der Selbigkeit und
der Verschiedenheit mit denen der Ruhe und der Bewegung zu
identificiren, führt zu der Consequenz, dass die Bewegung Ruhe,
die Ruhe Bewegung ist (255 A, B). Wollte man aber den Begriff
der Selbigkeit als identisch dem des Seienden setzen, so würde
daraus folgen, dass man Bewegung und Ruhe, wie man beide
als seiend bezeichnet, so beide als selbig zu bezeichnen hätte 10).
Wollte man dagegen den Begriff der Verschiedenheit für iden-
heit der Begriffe in ihrer Vielheit (δι ὅλων πολλῶν), blidet aber nicht eine
Umschliefsung derselben (ἔξωϑεν περιεχομένας) und erstreckt sich über sie
nicht in jeder Hinsicht (πάντη διατεταμιένην), sondern ist eben nur mit jedem
einzelnen verknüpft (ev ἑνὶ ξυνημμένην), jeder ist sich selbst identisch. —
Neuerdings hat Peipers (Die Erkenntnisstheorie Platons, ὃ. 612 ff.) die frag-
liche Stelle ausführlich behandelt. Obgleich A. Hirzel in der Recension von
Peipers’ Buche (Jenaische Lit. Ztg. 1875, S. 470) versichert, dass „die treffende
Erklärung allem bisherigen confusen und gekünstelten Gerede ein Ende
mache“, so finde ich mich doch durch dieselbe über die wesentlichsten Schwie-
rigkeiten nicht aufgeklärt.
16) 255 B: ᾿Αλλ᾽ εἰ τὸ ὃν χαὶ τὸ ταὐτὸν μηδὲν διάφορον σημαίνετον, κίνησιν
αὖ πάλιν χαὶ στάσιν ἀμφότερα εἶναι λέγοντες ἀμφότερα οὕτως αὐτὰ ταὐτὸν ὡς ὄντα
προσεροῦμεν. Selbst alle Voraussetzungen Platons zugestanden, scheint diese
Beweisführung nicht giltig; es wird eben jedem einzelnen der beiden der
δ᾽
Begriff des Seins und der Begriff der Selbigkeit beigelegt.
116?
104 SoPHISTES.
tisch mit dem Seienden halten, so würde, da Verschiedenheit
immer die Relation zu einem anderen erfordert, sich daraus er-
geben, dass auch das Seiende alles relativ sei, während doch
von dem Seienden einiges an sich, anderes relativ ist. Also als
vierter und fünfter Begriff ist Selbigkeit und Verschiedenheit
hinzuzunehmen; jedes Seiende ist verschieden 'von dem anderen
nicht durch seine Natur, sondern durch Theilnahme an dem
Begriff der Verschiedenheit {c. 40). — Betrachtet man nun von
diesen fünf Begriffen einen nach dem andern, so ergibt sich
folgendes. Die Bewegung ist verschieden von der Ruhe, sie ist
nicht Ruhe, aber sie ist, durch Theilnahme an dem Seienden.
Sie ist verschieden von dem Selbigen, ist nicht das Selbige, hat
aber, insoferne sie sich selbst gleich ist, Theil an dem Selbigen.
Es würde nach der Analogie dieser Ergebnisse nicht einmal
auffallen können, wenn die Bewegung in gewissem Sinne als
ruhend und theilnehmend an der Ruhe zu bezeichnen wäre 17).
Ferner, die Bewegung ist verschieden von der Verschiedenheit,
aber hat doch in gewissem Sinne Theil an ihr. Endlich, als vom
Seienden verschieden ist die Bewegung nicht seiend, und doch
wieder theilnehmend am Seienden, also seiend. Jedem Begriffe
kommt also ein zahlreiches Seiendes und eine unendliche Menge
des Nichtseienden zu. Das Seiende selbst ist in so vielfacher
Weise nicht seiend, so vieles Anderes es gibt. Das Nichtseiende
ebenso wie das Nichtschöne, Nichtgerechte, bedeutet eben nur
den Unterschied eines Seienden gegen ein andres Seiendes, und
ist mithin selbst eine in die Menge des Seienden einzurechnende
Art!S). Im Gegensatze zu dem Verbote des Parmenides ist nicht
blols das Sein des Nichtseienden anzuerkennen, sondern auch
τὸ Obgleich Platon übrigens den einander entgegengesetzten Begriffen
(γένη) die gegenseitige Gemeinschaft (χοινωνία) abspricht, so ergibt sich doch
dieselbe z. B. für χίνησις und στάσις mittelbar als Folgerung daraus, dass das
Seiende mit jedem der beiden in Gemeinschaft steht. Unverkennbar ist die
Rückbeziehung der vorliegenden Stelle auf 259 Ο, D Τῷ δὴ φιλοσόφῳ — Euvan-
φότερα λέγειν. — Deulsen $. 55 u. 92 zieht diese Auffassung der fraglichen
Worte 256 Β Οὐκοῦν χἂν εἴ πῃ μετελάμβανεν χτὰ. in Zweifel, ohne jedoch
eine abweichende Erklärung mit Sicherheit aufzustellen.
18) 258 C: ὥσπερ τὸ μέγα ἣν μέγα al τὸ καλὸν ἦν καλὸν χαὶ τὸ μὴ μέγα
μὴ μέγα καὶ τὸ μὴ χαλὸν μὴ καλόν, οὕτω δὲ zul τὸ μὴ ὃν κατὰ ταὐτὸν ἦν τε
καὶ ἔστι μιὴ ὄν, ἐνάριϑμιον τῶν πολλῶν ὄντων εἶδος ἕν.
303
SOPHISTES. 165
sein Begriff festzustellen, dass es nämlich die Verschiedenheit
von Seiendem gegen Seiendes ist. Indem also jedes Seiende
vieles ist und vieles nicht ist, so darf man weder seine Freude
daran haben, demselben Seienden entgegengesetzte Prädicate zu
geben, noch auch durch solche Beilegung entgegengesetzter
Prädicate schon einen Satz als unmöglich erwiesen zu haben
glauben, sondern muss zu unterscheiden suchen, in welcher Hin-
sicht demselben Seienden entgegengesetztes beigelegt wird. Jede
Gemeinschaft aber der Begriffe untereinander abschneiden zu
wollen, hiefse die Möglichkeit der Rede überhaupt aufheben
(6. 41 — c. 44 Anfg.).
3. Das Nichtseiende tritt mit der Rede und Mei-
nung in Gemeinschaft (c. 44—47).
Hierdurch ist der Übergang!®) dargeboten, um zur Rede
(Aussage, logischem Urtheil, λόγος) überzugehen. Auch die Rede
ist ja eine der Gattungen des Seienden; die vorher geführte
Untersuchung ist also auch auf die Rede auszudehnen, und wenn
vorher das Nichtseiende sich als über alles Seiende ausgebreitet
erwies, so fragt sich nun, ob es auch mit der Rede und Meinung
_ (Ansicht, δόξα, Vorstellung, φαντασία) in Verbindung tritt. Denn
da das Sein des Nichtseienden im allgemeinen erwiesen ist, der
Irrthum aber in der Rede und Meinung darin liegt, dass Nicht-
seiendes als seiend ausgesagt wird und umgekehrt, so liefse sich
die Wirklichkeit des Irrthumes nur dann noch bestreiten, wenn
die Gemeinschaft des Nichtseienden mit der Rede könnte ge-
leugnet werden. Um hierüber zur Entscheidung zu gelangen,
ist zunächst das Wesen der Aussage, des logischen Urtheiles,
zu bestimmen. Nicht der einzelne Begriff an sich, auch nicht
die Aufeinanderfolge von Begriffen der 'Thätigkeit oder von Be-
griffen der Subjecte der Thätigkeit ergibt eine Aussage, sondern
diese entsteht erst durch Verbindung eines Begriffes der Thätig-
keit mit dem eines Subjectes derselben; also grammatisch: erst
die Verbindung eines Verbums mit einem Nomen ergibt einen
Satz. Jeder Satz ist Aussage über irgend etwas?%). Dass durch
19) Die Absicht des Überganges zu einer relativ verschiedenen Ge-
dankenreihe ist durch den Ausdruck 260 A σχόπει τοίνυν ὡς ἐν χατρ ᾧ χτλ.
deutlich bezeichnet.
20) Die Erklärung, dass auch die falsche Aussage doch Aussage über ein
100 SOPHISTES.
den Satz sowohl Seiendes wie Nichtseiendes als seiend einem 39
Subjeete kann beigelegt werden, wird nachgewiesen an der
Gegenüberstellung der beiden Beispiele: 'Theätetos sitzt, Theätetos
fliegt. Auch der letztere Satz ist Aussage über ein bestimmtes
Etwas, aber er sagt von ihm das Nichtseiende als seiend aus.
Ist hierdurch die Wirklichkeit des Irrthumes in der Rede nach-
gewiesen, so ergibt sich die gleiche Folgerung für das Denken
als ein inneres Reden ohne Sprache, für die Meinung als die
abschliefsende Bejahung oder Verneinung in diesem innerlichen
Reden, und für die Vorstellung als die mit Wahrnehmung ver-
bundene Meinung. Nachdem aber die Wirklichkeit des Irrthums
auf diesen Gebieten sichergestellt ist, so sind damit die Schwie-
rigkeiten gehoben, welche vorher der Definition des Sophisten
entgegenstanden; zu ihrem Abschlusse wird also nunmehr aus-
drücklich zurückgelenkt.
I. Abschluss der Definition des Sophisten (ce. 48—52).
Der Versuch einer Definition des Sophisten war abgebrochen
worden, als man bis dahin gelangt war, dass der Sophist eine
Kunst des Hervorbringens entweder von Ebenbildern oder von
Trugbildern übe, die-Möglichkeit aber eines Ebenbildes oder
eines 'Trugbildes in Zweifel gezogen wurde. Diese Möglichkeit
ist jetzt sichergestellt: es kann also durch weitere Theilung die
specifische Eigenthümlichkeit des Sophisten bestimmt werden.
Vorher war, nach allgemeiner Theilung der Kunst in schöpferische
und in erwerbende, der Sophist der letzteren eingeordnet wor-
den. Jetzt soll, da der Sophist in den Umfang der nachahmen-
den Kunst fällt, die hervorbringende, schöpferische Kunst ein-
getheilt werden. Sie ist entweder eine göttliche oder eine
menschliche, und jede derselben wiederum entweder ein Hervor-
bringen von den Dingen selbst oder von Abbildern. Die mensch-
liche bilderschaffende Kunst, in deren Bereich der Sophist fällt,
bestimmtes Etwas ist (263 C: Ἔπειτα δέ ye τινός. — Οὕτως. — Εἰ δὲ μὴ
ἔστι σός, οὐχ ἄλλου γε οὐδενός), ist gegen den Satz des Antisthenes gerichtet,
dass die falsche Aussage gar keinen Gegenstand habe, auf den sie sich be-
ziehe (Zeller, Philos. d. Gr. 2. Aufl. II, 5. 213),. wie wir denselben den
Streitkünsten des Euthydemos im gleichnamigen Dialoge c. 12 und 14 zu
Grunde liegen sehen.
SOPHISTES. 167
schafft entweder Ebenbilder oder 'Trugbilder — denn die Wirk-
lichkeit auch dieser letzteren ist nunmehr aulser Zweifel. Von
dieser trugbildnerischen Kunst übt der Sophist diejenige Art aus,
bei welcher der Nachahmer selbst das Organ der Nachahmung
ist; er übt dieselbe aus nicht auf Grund eines wirklichen Wissens
305 des Gegenstandes, den er nachahmt, sondern nur in unsicherer
Meinung darüber, nicht in einfältiger Voraussetzung eines solchen
Wissens, sondern seine Unwissenheit selbst vermuthend, nicht
vor dem Volke in langen Reden, sondern vor dem einzelnen in
kurzer Rede und Gegenrede, den Unterredner in Widersprüche
mit sich selbst verwickelnd. Die Zusammenfassung der auf
diese Weise gewonnenen Merkmale ergibt den Begriff des So-
phisten.
Zur Rechtfertigung der bezeichneten Gliederung.
In dem Dialoge Sophistes nimmt die Gesprächsform eine
noch erheblich untergeordnetere Stellung ein als im 'T'heätetos,
zu welchem derselbe durch die Wahl der Unterredner und durch
die ausdrücklichen Bemerkungen am Schlusse des T'häetetos und
im Anfange des Sophistes in nahe Beziehung gebracht ist. Nicht
genug, dass durch den ganzen Dialog, mit Ausschluss der weni-
gen, einer Begrülsung des Eleatischen Gastes und dem Aufstellen
der zu behandelnden Frage gewidmeten einleitenden Worte
(6. 1—2), die beiden Unterredner ununterbrochen dieselben blei-
ben, ohne dass Sokrates, der die Frage aufgeworfen, auch nur
am Schlusse das vollständige Gelingen der Beantwortung con-
statirte: die Gesprächsform wird selbst ausdrücklich als etwas
gleichgiltiges bezeichnet, 217 C. Wir können daher für Auf-
findung der dem Ganzen zu Grunde liegenden Gliederung in der
Form des Dialoges als solcher Andeutungen, wie andere Pla-
tonische Dialoge uns deren reichlichst geben ?!), nicht erwarten,
sondern wir sind hierfür, trotz der dem Werke äufserlich an-
21) Wie sehr die Beachtung der verschiedenen Kunstmittel des Gespräches
zum Auffinden der Gliederung in solchen Schriften Platons beiträgt, die im
vollen Sinne des Wortes Dialoge sind, ist in der Abhandlung über den Dialog
Gorgias 8. 15 ff. nachgewiesen.
108 SOPHISTES.
haftenden Gesprächsform, ausschliefslich auf diejenigen Kenn-
zeichen angewiesen, die sich auch bei der Form der Abhandlung
finden würden. Solcherlei Zeichen der Gliederung sind inner-
halb des Dialoges Sophistes in einer Deutlichkeit und Ausdrück-
lichkeit angewendet, dass es an sich genügen würde, in der
obigen Angabe des Gedankenganges zugleich der Gliederung
durch äufsere Abtheilungen und Überschriften einen bestimmten
Ausdruck gegeben zu haben; dennoch dürften einige Worte zur
Rechtfertigung erforderlich sein, damit die Abweichung der im
obigen angegebenen Gliederung von derjenigen, die Steinhart
und Susemihl bezeichnen, nicht als zufällig oder willkürlich
erscheine.
Dass der Dialog Sophistes sich in zwei Hauptmassen scheidet,
gleichsam eine umschliefsende Schale und einen eingeschlossenen
Kern, diese bei dem Anblicke des Werkes sich unmittelbar auf-
dringende Bemerkung wiederholt sich, nachdem sie einmal durch
Schleiermacher ihren präcisen Ausdruck erhalten hat, in
jeder Einleitung zu dem Dialoge??). Mit dieser durchaus sach-
gemälsen Bezeichnung der Disposition ist es aber nicht in vollem
Einklange, wenn dann dennoch von Steinhart und Susemihl fünf
Abschnitte wie coordinirt aufgezählt werden; durch diese blofse
Nebeneinanderstellung verdunkelt sich wenigstens die Erinnerung
daran, dass unter diesen, nur nach der äufseren Succession ge-
zählten Abschnitten der erste mit dem fünften einerseits, der
zweite, dritte und vierte zusammen anderseits je einen Haupt-
theil der gesammten Abhandlung bilden. Übrigens beginnt der
zweite, abschliefsende Theil der umschliefsenden Abhandlung,
also nach der Steinhart-Susemihlschen Ausdrucksweise der fünfte
Abschnitt des Dialoges, mit c. 48. 264 C, nicht, wie Susemihl
22) Schleiermacher II, 2 (3. Aufl.), 5. 87—89, Steinhart $. 436, Suse-
mihl S. 286. Steinhart erinnert a. a. Ὁ. an die in den „Dialogen der ersten
Reihe“ häufig ersichtliche Zweitheilung des Ganzen, und bezeichnet die Eigen-
thümlichkeit, dass der eine der beiden Theile den andern umschlielst, als
etwas jenen gegenüber neues. Diese Bemerkung ist nicht durchaus wahr;
denn analysirt man den Euthyphron aufmerksam, so wird man auch in
ihm den einen der beiden Haupttheile von dem andern umschlossen finden;
das Verkennen dieses Momentes in der Construction des Dialogs hat zu
manchen Unrichtigkeiten in der Auffassung des Ganzen Anlass gegeben.
306
SOPHISTES. 169
(5. 308 f.) angibt, mit 260 A (ὁ. 44; in der obigen Inhalts-
angabe II, C, 3). Die Schwierigkeit den Sophisten zu definiren
ergab sich daraus, dass Täuschung und Iırthum als Merkmale
in seine Definition aufgenommen werden sollten, und doch die
Möglichkeit des Irrthums in Zweifel gezogen wurde; dieser
Zweifel ferner entstand daher, weil die Annahme der Wirklich-
keit des Irrthums auf die weitere Voraussetzung führte, dass das
Nichtseiende sei. Diese gegen die Definition des Sophisten sich
erhebende Schwierigkeit ist nun dadurch noch nicht vollständig
gelöst, dass das Sein des Nichtseienden (260 A), sondern erst
307 dadurch, dass die Möglichkeit und Wirklichkeit des Irrthums
nachgewiesen ist (c. 47 Schl. 264 C). Platon selbst bezeichnet
mit den ausdrücklichsten Worten, dass erst mit c. 48. 264 ©
die bis zu jenen Schwierigkeiten geführte Aufgabe der Begriffs-
erklärung wieder aufgenommen wird. Der über das Sein des
Nichtseienden im allgemeinen geführte Beweis würde, erklärt
Platon selbst 260 E, dem Sophisten immer noch einen den Ab-
schluss der Definition unmöglich machenden Ausweg lassen ;
dieser ist erst durch die Erörterung über die Wirklichkeit des
Irrthums abgeschnitten ; erst nach Beendigung dieser Nachweisung
erklärt Platon, dass die erforderliche Untersuchung abgeschlossen
sei und der vorher abgerissene Faden des Definitionsversuches
wieder angeknüpft werde, 264 Ὁ: ἐπειδὴ nEpyavrar?) ταῦτα, τῶν
ἔμπροσϑεν avauynod@pev xar εἶδος διαιρέσεων. Der Haupt-
einschnitt also, welchen Susemihl bei 260 A setzt, ist, als
Platons deutlich bezeichneter Absicht widersprechend, zu ver-
werfen.
In der ersten Hälfte des umschliefsenden Theiles der Ab-
handlung, c. 3—23, oder wenn man die beispielsweise Durch-
führung einer anderen Definition davon abscheidet, e. 8—23,
ist von Steinhart, Susemihl, Michelis eine durch Platon bestimmt
bezeichnete, von Schleiermacher bereits richtig erkannte und
angezeigte?!) Unterscheidung zweier Hauptabschnitte übersehen.
28) Man vergleiche hiermit noch 264 D: νῦν δέ γ᾽ ἐπειδὴ πέφανται
μὲν λόγος, πέφανται δ᾽ οὖσα δόξα ψευδής χτλ.
24) Schleiermacher II, 2. (3. Aufl.) S. 88. „— — wie er dann auch zuletzt,
wo der Gegenstand richtig und erschöpfend dargestellt wird, nicht mehr so
vom Allgemeinen, sondern von einer bestimmten Anschauung ausgeht.“
170 SOPHISTES.
Es werden nämlich zuerst Definitionen des Sophisten hergestellt
durch die Methode des dichotomischen Herabsteigens in den Um-
fang des Begriffes, indem man dem allgemeinen Begriffe kunst-
mälsiger Beschäftigung auf diesem Wege successiv bestimmende
Merkmale hinzufügt. Es wird sodann zweitens eine Definition
des Sophisten gesucht, indem von einem einzelnen charakteri-
stischen Merkmale des Sophisten ausgegangen wird und aus ihm
weitere Folgerungen entwickelt werden: der unbegrenzte Umfang
von Gegenständen, über welche der Sophist streitet und streiten
lehrt, mache es undenkbar, dass der Sophist über alle ein wirk-
liches Wissen besitze u. 5. f£ Man würde in dieser evidenten
Verschiedenheit der Methode, selbst ohne eine sonstige ausdrück-
liche Andeutung Platons, ein Hindernis finden müssen, die auf
dem ersteren Wege gefundenen Erklärungen mit der auf dem
zweiten Wege begonnenen auf gleiche Linie zu stellen; aber
Platon lässt es, wie er ja in diesem ganzen Dialoge das Gerüste
der Disposition mit einer fast zudringlichen Deutlichkeit vor
Augen stellt, an bestimmten Anzeichen der Unterscheidung nicht
fehlen. Die sämmtlichen nach der ersteren Weise gefundenen
Definitionen, deren Platon an dieser Stelle®) sechs zählt, wer-
den der Reihe nach recapitulirt c. 19, schon an sich ein deut-
liches Zeichen für den Abschluss einer Gedankenreihe. Nicht
genug, Platon weist sodann darauf hin, die Menge und Ver-
schiedenheit der so gefundenen Definitionen zeige uns, dass wir
das Wesen, den eigentlichen Einheitspunet der Sophistenkunst
nicht aufgefunden haben. Das Bewusstsein der Ungewissheit
wird noch dadurch erhöht, dass die zuletzt gefundene Definition,
gefunden mit vollkommen denselben Mitteln wie die vorher-
gehenden, offenbar nicht den Sophisten traf, sondern sein edles
Gegenbild, den Philosophen). Es ist also auf dem Wege der
Nicht übersehen ist diese Bemerkung Schleiermachers von Deuschle in
der Inhaltsübersicht vor seiner Übersetzung S. 309 f.; inwiefern sich die hier
gegebene Auffassung des Gegensatzes der zweiten Definitionsweise gegen die
erste von der dort von Deuschle angedeuteten unterscheidet, ist aus den
Worten des Textes zu ersehen.
35) Dagegen beweist τέταρτον 225 E, dass er dort die beiden Definitionen
des Sophisten als χάπηλος und als αὐτοπώλης unter einer einzigen Nummer
gezählt hat.
2) Wenn Platon nicht mit einer Sylbe angedeutet hätte, dass die c. 13—18
308
SOPHISTES. 171
300 Dichotomie eine sichere Definition des Sophisten nicht gewonnen;
die Überzeugung von der Sicherheit ist nicht nur dadurch ab-
entwickelte Definition nicht den Sophisten treffe, sondern den Philosophen,
so müsste doch schon der flüchtigste Gedanke an den Zusammenhang inner-
halb desselben Dialogs unzweifelhaft zu dieser Überzeugung führen. Platon
definirt an der bezeichneten Stelle eine Beschäftigung, für welche ὁ περὶ τὴν
μάταιον ὃ οἕ οσοφίαν γιγνόμενος ἔλεγχος (231 B) Aufgabe ist; dagegen bildet
in der endgiltigen Definition des Begriffes des Sophisten δόξα in verschiedener
Form des Ausdruckes stets ein entscheidendes Moment der Charakteristik :
der Sophist ist δοξομιμητῆς 267 E, besitzt eine So&aotınn 268 C, 233 C,
δοξομιμιητικὴ τέχνη 267 E. Eine Geistesthätigkeit, welche darauf ausgeht,
die δοξοσοφία zu entfernen, kann Platon mit derjenigen, welche darauf
bedacht ist sie herzustellen, unmöglich gleichsetzen wollen. Man ver-
gleiche ferner, wie genau die Beschreibung, welche Platon ce. 17. 230 B-E
gibt, mit der Schilderung der Thätigkeit des Sokrates zusammenstimmt, wie
wir dieselbe oft genug bei Platon, z. B. in der Apologie, im Theätetos,
lesen: man wird mehr als Ähnlichkeit, man muss vollkommene Identität der
beiderseitigen Darstellungen anerkennen. — Aber trotz dieser Deutlichkeit
der Sache selbst überlässt Platon das Erkennen des Unterschiedes nicht der
Combination des Lesers, sondern gibt die ausdrücklichsten Weisungen, dass
die zuletzt gewonnene Definition gar nicht den Anspruch machen kann, sich
auf das Wesen des Sophisten zu beziehen. Ich trage Bedenken, sagt der
Eleatische Gast, die Männer der so eben beschriebenen Beschäftigung Sophisten
zu nennen; eine Ähnlichkeit darf uns dabei nicht irre führen, das Wildeste
sieht oft dem Zahmsten ähnlich, und gerade bei derlei Ähnlichkeiten ist die
gröfste Vorsicht erforderlich, 231 A. Und wiederum bei der Recapitulation
wird diese Definition, insofern sie den Sophisten treffen soll, ausdrücklich
als noch in Frage gestellt, ἀμφισβητήσιμος, bezeichnet, 231 E. — Ich musste
auf diese, dem Leser sich von selbst darbietenden Momente so ausführlich
hinweisen, weil in merkwürdiger Übereinstimmung Steinhart, Susemihl,
Deuschle, Michelis bemüht sind, auch die fragliche Definition in Platons
Sinne auf den Sophisten zu beziehen. Steinhart 5. 437: „— — worauf
die vierte Definition, in welcher ihm die Sphäre der Befreiung der Seele
von der Unwissenheit, durch Widerlegung ihrer gedankenlosen Vorstellungen
und durch das damit verbundene Gefühl der Beschämung und Verwirrung
angewiesen wird, uns dicht an die schmale Grenzlinie hinanführt, welche
das Reich der Philosophie von dem der Sophistik scheidet.“ 8. 444:
„Die vierte Definition bezeichnet ganz genau den Punct, wo die echte und
falsche Dialektik, die Gebiete des Sophisten und Philosophen, sich
am nächsten berühren und nur noch durch eine schmale Grenzlinie von
einander getrennt sind.“ Eine Vorbereitung zu den in diesen Worten aus-
gesprochenen Gedanken ist es, dass dem Sokrates selbst, insofern er zu dem
beschämenden Bewusstsein der Unwissenheit, des blo[sen Meinens führt, ein
„sophistisches Element“ zugeschrieben wird, 8. 420, während doch wieder
die Sophistik in dieser Thätigkeit ‚ihren Berührungspunet mit der wahren
172 SOPHISTES.
geschnitten, dass sich eine Mehrheit von Definitionen ergab statt
der nothwendigen Einheit, sondern auch dadurch, dass der wich-
tigste Gegensatz, der des Sophisten zum Philosophen, bei dieser
Weise der Forschung sich versteckte. Wir wollen nun nicht,
lässt Platon den Eleaten sagen, durch Trägheit es uns wider-
fahren lassen, dass uns die Wesenserklärung des Sophisten ent-
ginge; lass uns vielmehr eines von den Merkmalen des Sophisten
wieder vornehmen, welches offenbar ihn charakterisirte, ἕν γάρ τί
wor μάλιστα χατεφάνη αὐτὸν μηνῦον 232 B. Der nunmehr einge-
schlagene Weg ist also nicht nur an sich ein anderer, sondern
wird durch die bisher berührten Andeutungen von Platon selbst
als ein von dem ersten verschiedener bezeichnet?). Zur
Philosophie“ haben soll, S. 431. — Fast mit denselben Worten finden wir
dieselben Gedanken von Susemihl wiederholt, wenn in der fraglichen
Definition „die stärkste Annäherung zwischen Sophisten und Philosophen“
sich finden soll, S. 292, und „eine wahrhaft philosophische Sophistik
und Antilogik, welche durch die Aufdeckung von Antinomien blofs die Lö-
sung derselben unternimmt, anerkannt wird“, S. 310. Dasselbe scheint,
schon nach dem Anklange an die zuletzt angeführten Worte, Deuschle
zu meinen, Einl. zur Übers. 5. 308. — Nicht ganz in dieser sicheren Be-
stimmtheit, aber unter sichtbarem Einflusse der so eben angeführten Äufse-
rungen spricht sich Michelis über denselben Punct aus, S. 184: „Auch
dieses Geschäft“ (nämlich von der falschen Einbildung eines Wissens zu be-
freien) „trifft nun freilich bei dem Sophisten zu, obgleich der Eleat nur
mit Widerstreben den Sophisten als den Elenktiker und Reiniger der Seele
von der Scheinweisheit darstellen kann.“ Und etwas später, ὃ. 193, ent-
schliefst sich Michelis nur dazu, zu erklären, dass diese Definition „eigent-
lich aufserhalb des Begriffes des Sophisten steht“ u. 5. w. Man sieht, die
Zuversicht zu der Richtigkeit der Steinhart-Susemihlschen Auffassung ist hier
wankend geworden, aber eine davon abweichende Ansicht versteckt sich noch
schüchtern. Darum dürfte es nicht überflüssig erscheinen, für die entgegen-
gesetzte Überzeugung, die man schon von Schleiermacher ausgesprochen
finden kann (I, 2. 5. 59, 3. Aufl.), die Beweise ausgeführt zu haben.
Dass sich diese Auffassung in den Zusammenhang des ganzen Dialogs trefi-
lich fügt, ist oben im Texte nachgewiesen.
27) Deulsen stellt in Abrede, dass mit Cap. 20 ein anderes, von den
bisherigen Definitionsversuchen verschiedenes Verfahren eingeschlagen werde,
vielmehr finde sich dasselbe schon in der sechsten Definition, vgl. a. a. O.
S. 19. „sicut enim in definitione sexta a domesticis quibusdam negotiis 226 B
ad διαχριτιχήν ascendebatur, deinde ab hac per χαϑαρτιχήν aliaque deinceps
membra ad germanum illum sophistam descendebatur, eodem modo in septima
ab arte 'contradicendi sine cognitione’ ascenditur ad εἰδωλοποιιχήν. 235 B seu
νιμητυκήν 235 C, deinde vero hospes iam ad sophistam descensurus iamque
ΝΣ
SoPHISTES. 173
Bestimmung des Werthes, den zur Verständigung über die De-
finition eines noch Zweifeln unterworfenen Begriffes die dicho-
tomische Methode für Platon habe, gibt der Verlauf des Dialogs
selbst Grundlagen. Denn die sämmtlichen durch die Methode
der Dichotomie hergestellten Definitionen verlaufen erfolglos,
dagegen gibt der auf dem anderen Wege unternommene Versuch
der Begriffserklärung den Anlass zu weiter eingehenden Unter-
suchungen über das Nichtsein, das Sein und die Begriffsver-
bindungen, und erst nachdem die nach der zweiten Methode
gesuchte Definition bereits zu einem bestimmten Abschlusse ge-
langt ist, wird der Gedanke wieder aufgenommen, sie durch
Dichotomie in ein allgemeines System von Begriffen einzuord-
nen. — Hierzu kommt nun, dass Platon in der Ausführung der
dichotomischen Methode für das Aufsuchen der Definition un-
verkennbar reichlichen Scherz treibt. Auf mancherlei einzelne
de eo triumphaturus 235 CO, dum dubitat, utri εἰδωλοποιιχῆς parti, εἰκαστιχῇ
an φανταστιχῇ illum subdat, subito 236 C circumfunditur tenebris“ etc. Diese
Zusammenstellung halte ich nicht für zutreffend. In der sechsten Definition
wird von einer umfangreichen Beschäftigung ausgegangen, der Reinigung,
und dieser der Sophist eben so untergeordnet, wie in den vorhergehenden
Fällen der Erwerbkunst, der Jägerkunst u. a. m. Bei dem neuen Definitions-
versuche dagegen wird zuerst das eigenthümliche Wesen des Sophisten selbst
festzustellen unternommen, nämlich dass er ἀντιλογιχὸς περὶ πάντων sei, und
erst von hier aus wird er anderen weiteren Bereichen der Beschäftigung ein-
gereiht. Dieser Gegensatz ist unleugbar; dass Platon selbst den neuen Gang
als einen von dem vorigen verschiedenen hat von seinen Lesern wollen an-
gesehen wissen, beweisen die oben im Texte gegebenen Nachweisungen,
deren Widerlegung Deufsen nicht unternommen hat. Übrigens scheint in-
direct Deulsen den bezeichneten Unterschied anzuerkennen, indem er p. 67
schreibt: „quatenus vero sophistae definitio esse potest, eatenus haud deest.
εἴδωλον et Ψεῦδος sunt, quae Platonis opinione ipsam sophistae naturam con-
stituant; et hae eius notae ad Eleatas convincendos sufficiunt, hae autem
notae, unice verae, non dividendo inveniebantur, sed ita, ut in sophistae
indolem, qualis usu constaret, acrius inquireretur.“ — Den Unterschied
des Verfahrens in den früheren Definitionsversuchen gegenüber dem neuen
formulirt Petersen S. 20 in einer vielleicht noch zutreffenderen Weise: „in
prioribus tacite sumi, quod in ultima longiore quaestione investigetur inven-
tumque confirmetur, eas scilicet notionis definiendae notas, ad quas divi-
dendi prineipia dirigantur.“ — Gegen Deulsens Nachweisung ὃ. 19 ff. gleich
auffallender und als absichtlich zu betrachtender Fehler in der letzten Defini-
tion wie in den vorherigen vgl. Pilger, Über die Athetese des Platonischen
Sophistes 5. 12 f.
174 SoPHISTES,
Puncte dieser scherzhaften Handhabung der Dichotomne ist bereits
treffend hingewiesen 28) ; das Bedeutendste in dieser Hinsicht ist
aber jedenfalls der Gang dieser dichotomischen Definitionen im
allgemeinen. Denn während das Wesen und die Bedeutung der
dichotomischen Eintheilung gerade in der Sicherheit des gegen-
seitigen Ausschliefsens der coordinirten Theilungsglieder
liegt, sehen wir, dass Platon den Sophisten unmittelbar nach
einander, gleich genau und gleich ungenau, solchen einander
ausschlielsenden Theilungsgliedern unterordnet, einmal der μετα-
βλητιχή, das andere mal der ysıpwrızy, und unter den beiden
einander entgegengesetzten Arten dieser letzteren wieder einmal
der ἀγωνιστιχή, das andere mal der ϑηρευτιχή; alle diese Arten
und Unterarten gehören der τέχνη χτητιχή an; nachdem aber auf
dem zweiten Wege eine Begriffserklärung des Sophisten erreicht
ist, die in voller Geltung bleibt, wird die Kunst des Sophisten 31:
nunmehr nicht der χτητιχή, sondern der ihr entgegengesetzten
ποιητική eingeordnet. Man kann die Gesammtheit dieser nach
demselben Ziele hinweisenden Momente schwerlich für zufällig
ansehen, und wird in ihnen wohl die Erklärung Platons anzu-
erkennen haben, dass erst nach gewonnener Einsicht in die
wesentlichen und charakteristischen Merkmale des Einzelobjeetes
der Forschung sich die Einreihung desselben in eine umfassende
Gliederung mit Sicherheit vornehmen lasse, und dass selbst die
Gesichtspuncte der Gliederung, die Eintheilungsgründe, erst _
durch jene Einsicht gewonnen werden. Die διαιρέσεις χατ᾽ εἴδη
verlieren dadurch im Sinne Platons nicht ihren Werth für die
systematische Ordnung von Begriffen; sie verlieren nur die Aus-
schliefslichkeit der Geltung beim Aufsuchen einer Definition. —
Wie viel man übrigens Definitionen zählen will als von Platon
auf dem Wege der Dichotomie hergestellt, ob vier oder sechs,
ist gleichgiltig. Bleibt sich ja Platon selbst in dieser Zählung
nicht gleich, was doch gewiss nicht der Fall wäre, wenn er auf
ihre bestimmte Anzahl einen Werth legte. Der obigen Inhalts-
>) Schleiermacher II, 2. S. 88, Susemihl $. 292 f., Deufsen p. 11—17.
Dagegen Petersen p. 15—22. — Wodurch der Scherz veranlasst, gegen wen
der darin enthaltene Spott gerichtet sei, wird sich schwerlich mit voller Sicher-
heit ermitteln lassen. Höchst ansprechend und wahrscheinlich ist die Ver-
muthung, welche Zeller (3. Aufl. II, 1. $. 215, 4) darüber ausspricht.
SOPHISTES. 175
angabe ist diejenige Zählung zu Grunde gelegt, welche Platon
selbst bei der Recapitulation einhält (c. 19); man könnte sich
aber eben so gut durch Platons eigene Darstellung 223 C—224E
veranlasst finden, die Definitionen 2, 3, 4 als Modificationen
einer einzigen, nämlich der Einreihung der Sophistik unter die
μεταβλητιχή, zu betrachten?®) und demnach nur vier, statt sechs
Definitionen zu zählen.
Innerhalb der zweiten Hauptmasse des Dialogs, dem um-
schlossenen 'T'heile (II der obigen Inhaltsangabe), stellt sich die
allgemeinste Gliederung durch die Sache selbst — in Platons
Sinne — einfach dar, und wird durch Platons ausdrückliche
Worte noch mehrfach bezeichnet. Um zu erweisen, dass das
Nichtseiende in gewissem Sinne ist, und um daraus die Möglich-
keit des Irrthums abzuleiten, werden erstens die Schwierigkeiten
dargelegt, welche im Begriffe des Nichtseienden liegen, zweitens
diejenigen, welche aus dem Begriffe des Seienden in den that-
sächlich vorhandenen philosophischen Systemen sich‘ ergeben;
die Schwierigkeiten beider Seiten werden sodann durch die Lehre
von der gegenseitigen Gemeinschaft der Begriffe gelöst. Dass
812) nach der Erörterung der Aporien über das Nichtseiende ein Ab-
schnitt gemacht ist, bezeichnet Platon selbst durch die längere
Unterbrechung der Untersuchung; das ganze 29. Capitel ist,
nachdem die Undenkbarkeit des Nichtseienden bis zum Abschlusse
dargelegt ist, nicht der Fortsetzung der Untersuchung selbst,
sondern der Besprechung des Entschlusses zu ihrer weiteren Fort-
setzung und der Entschuldigung der Polemik, die sich daran
knüpfen müsse, gewidmet, eine Unterbrechung, wie sie ein mit
Überlegung schreibender Schriftsteller nur da kann eintreten
lassen, wo ein Wendepunct der Abhandlung eintritt, die eine
Gedankenreihe abgeschlossen ist und eine andere begonnen wer-
den soll. Die im folgenden beginnende Gedankenreihe bezeich-
net Platon selbst als der zunächst vorhergehenden entgegenge-
setzt, 242 C: „Über das Nichtseiende sind wir in Unruhe und
Zweifel, über das Seiende glauben wir klar zu sehen ; erwägen wir,
ob nicht gleiche Schwierigkeiten uns hier entgegenstehen 3°).*
39) So Michelis 8. 183.
80) 242 C: τὰ δοχοῦντα νῦν ἐναργῶς ἔχειν ἐπισχέψασϑαι πρῶτον, μή πῃ τε-
170 SoPHISTES.
Und an dem Ende der Aporien über das Seiende und der Kritik
anderer Philosophen wird einerseits rückweisend die für das
vorhergehende von mir bezeichnete Gliederung ausdrücklich con-
statirt, indem die Aporien über das Nichtseiende und über das
Seiende als zwei einander gleiche Reihen erwähnt werden,
250 E: ἐπειδὴ δὲ ἐξ ἴσου τό τε ὃν xal τὸ μὴ ὃν ἀπορίας μετειλή-
φατον; anderseits wird diese Stelle selbst als ein Einschnitt in
dem Gange der Abhandlung bezeichnet, denn Platon erklärt die
blofse Darlegung der Aporien für abgeschlossen, τοῦτο μὲν
τοίνυν ἐνταῦϑα χείσϑω διηπορημένον 9), und beginnt das fol-
gende mit einer Frage: λέγωμεν δὴ χαϑ' ὅν τινά ποτε τρόπον πολλοῖς 313
ὀνόμασι ταὐτὸν τοῦτο ἑχάστοτε προσαγορεύομεν, deren Inhalt mit dem
vorhergehenden in keinem unmittelbaren Zusammenhange steht,
sondern deren Beantwortung erst in der davon ausgehenden
Untersuchung sich als geeignet erweist, die beiden Reihen der
Aporien zu lösen.
Vergleichen wir mit dieser durch Platon selbst bezeichneten
Gliederung diejenige, welche wir von Steinhart und Susemihl
angegeben finden. Die äulsere Abgrenzung der mittleren Haupt-
masse wird, wenn man von der Ungenauigkeit in der Coordina-
tion absieht (s. oben S. 168), von Steinhart ebenso festgesetzt,
wie in der obigen Inhaltsangabe geschehen ist; Susemihl schliefst
die mittlere Hauptmasse an früherer Stelle 260 A, mit Unrecht,
ταραγμένοι μὲν ὦμεν περὶ ταῦτα, ῥαδίως δ᾽ ἀλλήλοις ὁμολογῶμεν ὡς εὐχρινῶς
ἔχοντες.
31) Diese Worte sind in auffallend gleicher Weise in der Schleiermacher-
schen und Müllerschen Übersetzung unrichtig wiedergegeben. Schleiermacher:
„Das liege also hier so unentschieden.“ Müller: „Das bleibe also hier in
Zweifel gestellt.“ Sieht man selbst von der schiefen Beziehung ab, welche
diese Übersetzungen den Worten geben (denn man möchte nach den Worten
der Übersetzungen glauben, es solle dahin gestellt bleiben, ob das Seiende
oder das Nichtseiende mehr Schwierigkeiten dargeboten habe), so ist die
abschliefsende Bedeutung von χεῖσϑαι nicht gehörig beachtet, das Perfectum
διηπορημιένον ganz übersehen und einem ἐν ἀπορίᾳ ὄν gleich aufgefasst, end-
lich die specielle Bedeutung des Compositum διαπορεῖν, welches an διελϑεῖν
τὰς ἀπορίας erinnert (241 B, vgl. Index Aristotelicus p. 1810 11— 29), unbe-
achtet geblieben. Die einfache Beachtung dieser in den Worten selbst ent-
scheidend gegebenen Momente führt zu dem Sinne: „Das Durchgehen der
Schwierigkeiten bleibe nun an der Stelle, bis zu der wir gelangt sind, abge-
schlossen.“
“14
SOoPHISTES. 177
wie vorher nachgewiesen wurde. Innerhalb des mittleren Haupt-
theiles unterscheidet jeder dieser beiden Erklärer ebenfalls drei
Abschnitte, aber die von ihnen bezeichneten Einschnittspuncte
stimmen weder unter einander, noch mit der obigen Darlegung
überein32). Steinhart schlielst den ersten Abschnitt (in seiner
Zählung den zweiten) mit Capitel 32. Aber schon die sprach-
liche Form des Anfanges des folgenden Capitels muss eine solche
Annahme verbieten: Τοὺς μιὲὲν τοίνυν διαχριβολογουμένους ὄντος τε
πέρι χαὶ μὴ πάντας μὲν οὐ διεληλύϑαμεν, ὅμως δὲ ἱχανῶς ἐχέτω"
τοὺς δὲ ἄλλως λέγοντας αὖ ϑεατέον. Durch diese Worte wird an
die 243 Ο getroffene Unterscheidung zweier Gruppen von Philo-
sophen, welche Platon der Kritik unterwerfen will, erinnert, und
die hier beginnende Kritik als zweites Glied zu der 243 C ein-
geleiteten bezeichnet. Man würde also nicht hier, sondern bei
243 © den Haupteinschnitt setzen müssen. Nun wolle man
aber diese letztere Stelle 243 © selbst im Zusammenhange lesen,
um sich zu überzeugen, dass man von ihr aus weiter zurück-
gewiesen wird bis zu 242 B, dem Anfange des 30. Capitels, also.
dem oben gesetzten Anfangspuncte des zweiten Abschnittes. —
Den zweiten, nach seiner Zählung dritten Abschnitt schliefst
Steinhart mit Capitel 39 und beginnt den folgenden mit Capi-
tel 40. Nun lese man den Anfang des 40. Capitels®®): „Da
wir nunmehr darüber einverstanden sind, dass einige Begriffe
(Gattungen, γένη) in Gemeinschaft mit einander zu treten ge-
eignet sind, andere nicht, manche in weiterem, andere in
engerem Umfange, so wollen wir einige der höchsten Begriffe
vornehmen und untersuchen, was ein jeder derselben ist, und
welche Fähigkeit der Gemeinschaft mit anderen er hat.“ Dies
schliefst sich folgernd an das unmittelbar vorher erörterte
32) Zu leichterer Übersicht stehe hier die von Steinhart und die von Suse-
mihl bezeichnete Eintheilung. Steinhart: 1. c.3—23; 2. c. 24—32; 3.
ο. 33—39; 4. ο. 40—47; 5. ο. 48—52. — Susemihl: 1. 218B—236 Ὁ;
2. — 247 E; ὃ. —251 A; 4. —260 A; 5. — Schluss. — Deuschle (Einl.
zur Übers. 5. 309 ff.) verbindet 2 und 3 der Susemihlschen Gliederung in
seinen zweiten Haupttheil.
3) c. 40. 254 B: ὅτ᾽ οὖν δὴ τὰ μὲν ἡμῖν τῶν γενῶν ὡμολόγηται χοιγω-
νεῖν ἐθέλειν ἀλλήλοις, τὰ δὲ μή, καὶ τὰ μὲν ἐπ᾽ ὀλίγον, τὰ δ᾽ ἐπὶ πολλά, τὰ δὲ
zul διὰ πάντων οὐδὲν χωλύειν τοῖς πᾶσι χεχοινωνηχέναι, τὸ δὴ μετὰ τοῦτο
ξυνεπισπώμεϑα τῷ λόγῳ σχοποῦντες χτλ.
Bonitz, Platonische Studien. 12
178 SOPHISTES.
an, kann also nicht durch einen Haupteinschnitt von der mit
251 A beginnenden Gedankenreihe getrennt werden; dass da-
gegen bei 251 A ein unmittelbarer Anschluss an die voraus-
gehende Gedankenreihe sich nicht findet, ist vorher nachge-
wiesen. — Diesen Einschnitt bei 251 A erkennt Susemihl
gleich der oben von mir gegebenen Disposition an; dagegen
schlielst er den ersten, seinen zweiten, Abschnitt mit Cap. 34,
247 E, lässt also den folgenden mit der Widerlegung der „Freunde
der Begriffe“, οἱ τῶν ἰδεῶν φίλοι, beginnen. Die Kritik dieser
Lehre ist von Platon vorher 246 A, B ausdrücklich nur als das
zweite Glied in der Kritik entgegengesetzter, mit einander in
heftigem Kampfe begriffener Philosopheme bezeichnet, da die
einen als seiend nur das sinnlich wahrnehmbare, die anderen
nur die Begriffe anerkennen. Man braucht also hier wiederum
nur Platons eigene Worte gewissenhaft zur Geltung zu.bringen,
um sich für das Setzen eines Hauptabschnittes von 247 E bis
auf 246 A, c. 33 zurückgewiesen zu sehen, also bis zu der Stelle,
an welcher Steinhart den ersten Abschnitt schliefst. Dass wir
aber von dieser Stelle aus wieder weiter zurückgeführt werden
bis zum Anfange von Capitel 30, d. h. bis zu dem in der obigen
Inhaltsangabe bezeichneten Abschlusse des ersten Abschnittes,
ist so eben bei Erwägung der Steinhartschen Gliederung nach-
gewiesen. — Als ein äufseres Symptom davon, dass die von
Susemihl angegebene Gliederung nicht Platonisch ist, kann man
übrigens schon die Überschriften betrachten, durch welche er
den Gesammtinhalt und Charakter jedes der beiden Abschnitte
nach der von ihm fixirten Begrenzung bezeichnen will. Im
ersten Abschnitte nämlich soll eine „Widerlegung des abstraeten
Nichtseins und Seins“ gegeben, im zweiten „das Sein in con-
ereter Bestimmung“ behandelt sein. Man ist sicherlich in Ge-
fahr, die Gedanken Platons zu verfehlen und willkürlich umzu-
ändern, wenn man sich genöthigt sieht, zur blofsen Zusammen-
fassung eines Gedankencomplexes (nicht etwa zu seiner Kritik,
denn da kann der Fall ein anderer sein) Begriffe in Anwendung
zu bringen, die der Platonischen Philosophie so fremd sind wie
die hier angewendeten.
Die vorstehenden Bemerkungen werden hoffentlich zur Evi-
denz gebracht haben, dass die in der obigen Inhaltsangabe be-
315
316
SOPHISTES. 179
zeichnete Gliederung nichts weiter ist, als eine gewissenhafte
Erfüllung der von Platon selbst bestimmt ausgesprochenen For-
derungen, mit Entfernung jeder eigenen Willkür in beliebiger
Zusammenfassung oder Trennung der von Platon uns vorge-
führten Gedankenreihen. Die bisherige Rechtfertigung bezog
sich nur auf die Hauptabschnitte (I, A, B; II, A, B, C); dass
auch in der weiteren Gliederung die oben gegebene Disposition
von den bisher berührten Darstellungen in manchen Puncten
abweicht, ist mir wohl bekannt. Ks würde ermüden diese Unter-
schiede ins einzelne zu verfolgen, und scheint auch nicht er-
forderlich; wenn die Begründung der allgemeinen Gliederung
Evidenz erreicht hat, so sind dadurch schon die Gesichtspuncte
für die untergeordneten Abtheilungen sichergestellt.
Zweck und Ergebnisse des Dialogs.
1. Der Dialog Sophistes stellt nach wenigen einleitenden
Worten eine bestimmte Frage auf, nämlich die nach der Defini-
tion des Sophisten; diese Frage wird durch den ganzen Verlauf
des Dialoges festgehalten und wird selbst da, wo hinzuge-
kommene Untersuchungen sie in Vergessenheit zu bringen schei-
nen, von neuem in Erinnerung gebracht?!) ; der Dialog schliefst
ab, sobald für diese, in seinem Beginne aufgestellte Frage eine
befriedigende, keinem Zweifel mehr: unterworfene Lösung ge-
funden ist. Man ist hiernach in vollem Rechte, wenn man zu-
nächst voraussetzt, die Bestimmung des Wesens des Sophisten
sei die Aufgabe, auf deren Lösung es Platon bei Abfassung
dieses Dialoges ankam. Aber gegen eine solche, zunächst un-
zweifelhaft berechtigte Voraussetzung erheben sich gewichtige
Bedenken. Zu dem Zwecke, den hiernach Platon verfolgen
sollte, stehen die angewendeten Mittel in keinem Verhältnisse.
Um die Definition des Sophisten zur Anerkennung zu bringen,
ist es, da Irrthum, Täuschung, Scheinwissen seine charakteristi-
schen Merkmale bilden, erforderlich, dass Irrthum als möglich
und wirklich anerkannt, und dann weiter, da Irrthum darin be-
steht, Nichtseiendes als seiend zu setzen und umgekehıt, dass
84) 239 C—E. 240 C. 241 B. 253 C. 258 B. 260 Ὁ.
127
180 SOPHISTES.
ein gewisses Sein des Nichtseienden zugestanden werde. Mit der
Erörterung dieser Frage beschäftigt sich der mittlere Theil des
Dialogs, der nicht nur an äulserem Umfange den umschlielsen-
den übertrifft, sondern noch ungleich mehr in seinem Inhalte
ihn überwiegt; denn während jener die Umfassung bildende
Theil über das Wesen des Sophisten und über die mannigfaltigen
Formen seiner Erscheinung nichts enthält, was wir nicht von
Platon noch sonst öfters ausgeführt fänden, gibt uns der, nach
der Form der Einkleidung nur als Mittel angewendete innere
Theil des Dialogs Gedankenentwicklungen, die sich fast sämmt-
lich nur in diesem Dialoge finden und für die Auffassung der
Platonischen Lehre an sich und in ihrem Verhältnisse zu anderen
Philosophemen von der äulsersten Wichtigkeit sind®5). Mag man
nun also diese Einreihung der wichtigen Gedankenentwicklungen
in die Versuche der Definition des Sophisten loben oder tadeln,
mag man den Contrast des ausgesprochenen Zweckes zu den
angewendeten Mitteln durch die sinnige Vergleichung mit Schale
und Kern überdecken, oder mag man endlich versteckteren Be-
ziehungen zwischen dem inneren und äufseren Theile nach-
forschen, die, als von Platon selbst gar nicht angedeutet, sich
schwerlich über die Wahrscheinlichkeit einer Vermuthung er-
heben lassen: jedenfalls sieht man sich zu der Anerkennung
gezwungen, dass der mittlere Theil nicht blofs die Bedeutung
eines unentbehrlichen Mittels zu beanspruchen hat, sondern dass
ihm seine selbständige, vielleicht die hauptsächlichste Bedeutung
zuzuschreiben ist.
Aber auch in dem mittleren Theile steht der verfolgte Zweck
zu den angewendeten Mitteln in einem Verhältnisse, welches
Beachtung verdient. Zu dem Erweise, dass dem Nichtseienden
in gewissem Sinne Sein zuzuschreiben ist, und zu dem hieraus
— wirklich oder scheinbar — abgeleiteten Beweise für die Wirk-
lichkeit des Irrthums führt direct nur derjenige Abschnitt, der
von der gegenseitigen Gemeinschaft der Begriffe handelt (II, C).
Die vorhergehenden beiden Abschnitte tragen zu diesem Be-
85). Diese Erwägungen über das Verhältnis des umschlielsenden und des
innern Haupttheiles des Sophistes findet man schon von Schleiermacher aus-
geführt, a. ἃ. Ὁ. ὅδ. 87.
317
SOPHISTES. 181
weise, der doch als die zu lösende Aufgabe aufgestellt ist,
nichts bei. Man hat also ein Recht vorauszusetzen, dass es
Platon auf den Inhalt dieser Abschnitte (II. A, B.) an sich an-
kam; sonst lässt sich nicht wohl annehmen, dass er dieselben,
ohne dass sie zu dem ausgesprochenen Zwecke einen Beitrag
geben, dennoch eingefügt hätte. Diese beiden Abschnitte aber
enthalten eine Kritik Platons über fast die sämmtlichen Grund-
ansichten der griechischen Philosophen vor Sokrates und der
bedeutendsten dem Platon gleichzeitigen Sokratiker. Jedem die-
ser Philosopheme sucht Platon nachzuweisen, dass es sich selbst
aufhebe oder über sich hinaus führe. Den ältesten Naturphilo-
sophen, wenn sie zwei Grundstoffe als seiend voraussetzten δ),
weist Platon nach, dass die Erwägung des Verhältnisses dersel-
ben zu dem Sein, das ihnen beiden zugeschrieben wird, von
der angenommenen Zweiheit entweder auf eine Dreiheit oder auf
eine Einheit führe — ein Beweis, der sich offenbar auf jede
andere bestimmte Zahl von Principien ebenso anwenden lässt”),
Das eine Seiende des Parmenides>®) führt durch die Unter-
scheidung der Begriffe Eins und Sein, und vollends durch die
von Parmenides ausgesprochene, von Platon als nothwendig
anerkannte Behauptung der Ganzheit des Seienden zu der Vor-
aussetzung einer Mehrheit von Seienden. Die ewige Bewegung
des Herakleitos®?) und in anderer Weise die Beschränkung des
9185 Antisthenes 2%) auf identische Urtheile hebt jedes Reden und
Denken, somit jede Möglichkeit der Philosophie auf. Diejenigen
Philosophen !!), welche nur das sinnlich Greifbare, räumlich
3%) Über die Schwierigkeit der Angabe, auf welche bestimmte Philo-
sophen Platon Bezug genommen habe, vgl. Steinhart 8. 557 f. Anm. 22
und 23.
37) 244 B: παρὰ δὲ τούτων χαὶ παρὰ τῶν ἄλλων, ὅσοι πλεῖον ἑνὸς λέ-
γουσι τὸ πᾶν εἶναι. Vgl. Brandis, Gesch. II, 1. S. 211, n.
38) 0.32, 244 B—245 E.
39) 249 B: καὶ μὴν ἐὰν αὖ φερόμενα καὶ χινούμενα πάντ᾽ εἶναι συγχωρῶμεν,
χαὶ τούτῳ τῷ λόγῳ ταὐτὸν τοῦτο ἐχ τῶν ὄντων ἐξαιρήσομεν. Dass die in diesen
Worten bezeichnete Herakleitische Lehre jede Möglichkeit des Erkennens
aufhebt, hatte Platon bereits im Theätetos ausgeführt.
40) Sichere Beziehungen auf Antisthenes, abgesehen von solchen Stellen,
die unberechtigt auf ihn gedeutet sind, finden sich 251 A—C. 259 D,E.
263 © (vgl. über diese letzte Stelle Anm, 20).
#) Die Worte, durch welche Platon diese Lehre bezeichnet, 246 A—
182 SOPHISTES.
Ausgedehnte als seiend wollen gelten lassen, kann man durch
genügende Gründe zu der Anerkennung bringen, dass es auch
etwas Unsinnliches gibt, dem das Sein um nichts weniger zu-
kommt. Und den Megarikern 32), die ausschliefslich in unbeweg-
lichen unveränderlichen Begriffen das Seiende finden, kann das
Unbefriedigende ihrer Annahme nachgewiesen werden. Eine
Lösung aller der Schwierigkeiten, in welche frühere und gleich-
zeitige Philosopheme führen, eine Ausfüllung derjenigen Lücken,
welche sie in der principiellen Erkenntnis des Seienden zurück-
lassen, wird gesucht und gefunden in derjenigen Entwicklung,
welche der Platonischen Ideenlehre die darauffolgende Darlegung
der gegenseitigen Gemeinschaft der Begriffe gibt.
Wenn hiermit der Inhalt und Zweck des mittleren 'Theiles
des Dialogs richtig getroffen ist, so lässt sich vielleicht von
da aus zu dem äufseren Theile eine derartige Verbindung fin-
den, dass dieser nicht mehr zur blofsen Einrahmung und zum
blofsen Anlasse der eigentlich beabsichtigten Untersuchungen
wird. Die Ideenlehre, entwickelt durch die Lehre von der ge-
genseitigen Gemeinschaft der Begriffe, löst nach Platons Über-
zeugung die Schwierigkeiten, in welche sich alle früheren Phi-
losopheme verwickelt haben; sie weist auch zugleich dem
Sophisten seine nicht zu bestreitende Stelle äufserhalb des
Gebietes der Philosophie an. Die Kritik, welche Platon durch ;
positive Aufstellung der Lehre von der Gemeinschaft der Begriffe
247 E, passen genau auf die Atomisten; innerhalb dieser Schule sind auch
jene von Platon angedeuteten Unterschiede der Ansichten über die Geltung
sittlicher Begriffe, wenn nicht ausdrücklich nachweisbar, doch höchst wahr-
scheinlich; die Anerkennung ihrer Geltung, die sich Platon als Grundlage
seiner Bestreitung zugeben lässt, liegt in den Fragmenten aus Demokrits
Schriften noch deutlich vor. Dass die Atomisten als gleichzeitige Gegner
der Megariker dargestellt werden, hat nach den wahrscheinlichsten Angaben
über die Lebenszeit des Demokritos (Zeller, Phil. d. G., 2. Aufl. I, S. 576 ἢ
nichts auffallendes. — Schleiermacher sieht in der Beschreibung derjenigen
Philosophen, welche nur Materielles als seiend anerkennen, eine Beziehung
auf Aristippos (a. a. Ὁ. 8. 93); die Nachrichten, welche wir über die Ari-
stippische Lehre haben, geben hierzu keinen Anhaltspunct.
42) Der Beweis, dass unter den „Freunden der Begriffe“ (oder Ideen)
246 A, 248 A—249 D, die Megariker zu verstehen sind, ist unter Berück-
sichtigung aller darüber aufgestellten Ansichten erschöpfend geführt von
Zeller ἃ. ἃ. ©. II. S. 180 £.
SOPHISTES. 183
gegen alle anderen Philosopheme ausübt, würde hiernach auf
diejenigen mit ausgedehnt, welche den Namen der Philosophie
beanspruchen, ohne ein Anrecht daran zu haben. — Das Nahe-
liegende dieser Combination 45) mag es entschuldigen, dass ich
durch ihr Aussprechen den Bereich der aus dem Dialoge selbst
sicher zu ziehenden Schlüsse überschreite; es geschieht mit der
ausdrücklichen Erklärung, dass dies eine blolse Vermuthung ist
und sich wahrscheinlich eben so gut manche andere Anlässe
denken lassen, welche Platon bestimmten, die Untersuchung
über die Gemeinschaft der Begriffe und die Kritik der Philoso-
pheme über das Seiende gerade in den Versuch einer Definition
des Sophisten einzureihen.
2. Ehe ich auf den Inhalt des wichtigsten 'Theiles des Dia-
loges, des Abschnittes nämlich über χοινωνία τῶν γενῶν in seiner
Stellung zu den Principien der Platonischen Lehre näher einzu-
gehen versuche, wird es gerathen sein, mit der bisher ent-
wickelten Auffassung des Dialogs diejenigen zu vergleichen,
welche derselbe bei Platonischen Forschern in neuester Zeit ge-
funden hat.
Es ist im vorigen stillschweigend vorausgesetzt, dass, wo
Platon im Sophistes von Begriffen (εἴδη, γένη) und ihrer Ge-
meinschaft unter einander handelt, der Inhalt der Begriffe, das
Was, welches in den Begriffen gedacht wird, ihm nicht für ein
blofses Object des Denkens (νόημα) 14), sondern für etwas abge-
sehen vom Denken (χωριστόν) an sich Seiendes gelte, d. h. für
eine Idee im Platonischen Sinne dieses Wortes. Gegen diese
Grundvoraussetzung erhebt Steinhart Einspruch, indem er
davor warnt, Verstandesbegriffe mit Ideen zu verwechseln und
nur von den ersteren im Dialoge Sophistes gehandelt findet
(a. a. Ὁ. 8. 424, 441). Man mag nach der Bedeutung, welche
in der gegenwärtigen philosophischen "Terminologie die Worte
18). Das Verhältnis des äufseren 'T'heiles des Dialogs Sophistes zu dem
mittleren Theile wird in allen Einleitungen zu diesem Dialoge in Betracht
gezogen; doch ist es mir nicht möglich, die darüber dargelegten Ansichten
in eine feste Formulirung zu bringen.
4) Parm. 132 B: Τί οὖν, φάναι, ἕν ἕκαστόν ἐστι τῶν νοημάτων, νόημα
δὲ οὐδενός; ᾿Αλλ᾽ ἀδύνατον, εἰπεῖν. ᾿Αλλὰ τινός; Ναί. "Ovros ἢ οὐχ ὄντος:
Ὄντος.
184 SOPHISTES.
Verstand, Begriff, Idee haben, vollkommen berechtigt sein, Ver-
standesbegriffe oder Begriffe überhaupt von Ideen zu unterschei-
den; aber für Idee in dem Sinne Platons existirt dieser Unter-
schied nicht, wie dies Susemihl (Jahnsche Jahrbücher, Bd. 68,
S. 414 f.) mit Recht erwidert hat. Dass aber das Charak-
teristische der Idee im Platonischen Sinne, nämlich die Realität
des Was des Begriffes, im Dialoge Sophistes vorausgesetzt wird,
zeigt sich durchweg; es wird zum Beweis hierfür genügen, an
einige hervortretende Stellen zu erinnern. Die Anerkennung
von gerecht oder ungerecht als einer Eigenschaft der Seele, ein
Zugeständnis, welches als von den Atomisten gemacht voraus-
gesetzt wird, verwandelt sich sogleich in die Anerkennung, dass
Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit als etwas Seiendes der
Seele einwohne (247 A). Jede Zahl ist etwas Seiendes (238 A),
doch aus keinem anderen Grunde, als weil sie Objeet und In-
halt eines begrifflichen Denkens ist). Das Etwas, τὶ, lässt
sich an sich, isolirt von dem Seienden, gar nicht denken
und aussprechen (237 D). Der Philosoph steht in beständigem
denkendem Verkehr mit der Idee des Seienden, τῇ τοῦ ὄντος
ἀεὶ διὰ λογισμῶν προσχείμενος ἰδέᾳ (254 A). Die Verschiedenheit
wird nicht blofs als τὸ ϑάτερον, ἣ τοῦ ϑατέρου φύσις (256 E, 257 Q),
sondern auch als ἢ ϑατέρου ἰδέα (255 ἘΠ), als εἶδος ἕν ἐνάριϑμον
τῶν πολλῶν ὄντων [258 C) bezeichnet. Die Ausdrücke μετέχειν,
χοινωνεῖν, die in dem wichtigsten Abschnitte über die Verbin-
dung der Begriffe herrschen, so wie παρουσία an der vorher
angeführten Stelle (247 A) sind die technischen Ausdrücke für
Verhältnisse der Ideen im Platonischen Sinne, u. 5. w. Gewiss
beweise genug, dass der Grundgedanke der Ideenlehre in dem
ganzen Dialoge vorausgesetzt, und dass zur Einführung des un-
platonischen Unterschiedes von Verstandesbegriffen und Ideen
auch nicht der leiseste Anlass vorhanden ist.
Als Zweck und Aufgabe des gesammten Dialogs bezeichnet
Steinhart „die Unterscheidung der echten und falschen Dialektik“
(S. 431, 426), und findet hierfür bei Susemihl (Jahnsche Jahr-
bücher, Bd. 68, S. 415, Genet. Entw. etc. S. 310), der sogar
„die echte Dialektik“ als eine „wahrhaft concrete Dialektik“
5) Vgl. Theät. 185 C.
320
321
SOoPHISTES. 185
bezeichnet, vollständige Beistimmung, obgleich Susemihl sodann
im weiteren Verlaufe seiner Erörterung seine Ansicht über den
Grundgedanken des Dialogs noch merklich anders formulırt.
Wenn in der Erklärung eines Platonischen Werkes das mannig-
fach deutbare, seinen Gebrauch proteusartig wechselnde Wort
Dialektik angewendet wird, so hat man wohl ein Recht zu er-
warten, es werde in dem Platonischen Sinne angewendet sein.
Platon bezeichnet diejenige Art ein wissenschaftliches Gespräch
zu führen, und weiter dann diejenige Beschäftigung mit Be-
griffen und ihren Verhältnissen, in welcher er die Bürgschaft
für die Erkenntnis des Seienden sieht, als Dialektik; die Dia-
lektik ist ihm daher in solchem Malse Grundlage der gesammten
Philosophie, dass sie gewissermalsen der Philosophie selbst gleich
gesetzt werden kann. Platon bringt häufig in seinen Dialogen
sein — oder seines Sokrates — wissenschaftliches Verfahren in
Gegensatz zu den nichtigen Mitteln der Rechthaberei, welche
von Lehrern der politischen Tüchtigkeit und Redegewandtheit
angewendet wurden; aber nirgends, so viel ich weils, bezeichnet
Platon die von ihm getadelte und verworfene Weise als Dialek-
tik, als „falsche Dialektik,“ sondern als Eristik, Agonistik, So-
phistik, nirgends macht er in der Dialektik den Unterschied
einer echten und einer falschen Art. Imsofern ist der Ausdruck
nicht wohl gewählt, wenn zur Angabe des Inhaltes eines Pla-
tonischen Dialoges die Unterscheidung wahrer und falscher Dia-
lektik eingeführt wird. Aber substituirt man selbst für das un-
ter diesen Worten gemeinte einen richtigen Ausdruck, so wird
doch die Sache selbst dadurch nicht richtig. Über den Unter-
schied Platonischer Dialektik und unwissenschaftlicher Eristik
findet man mannigfache, den Gegenstand in Platons Sinne so
gut wie erschöpfende Bemerkungen namentlich in den Dialogen
Protagoras, Gorgias, Menon, Euthydemos. Im Sophistes wird
die Aufgabe der Dialektik bezeichnet (253 D), es wird ein Theil
dieser Aufgabe durch die Untersuchung einiger besonders wich-
tiger Begriffe ausgeführt (254 D — 258 C), es gehören auch die
in eigenthümlicher Mischung von Scherz und Ernst ausgeführten
Begriffseintheilungen am Anfange und am Schlusse des Dialogs
unzweifelhaft der Aufgabe der Dialektik an; aber weder an den
Philosophen, welche Platon bestreitet, noch an dem Sophisten,
186 SOPHISTES.
dessen Definition den Anlass zur Untersuchung gibt, wird die
unwissenschaftliche Methode in ihrem Gegensatze zur Plato-
nischen dargestellt. Es werden die Sätze der Philosophen von
Platonischen Voraussetzungen aus kritisirt, es wird dem Sophi- 322
sten seine Thätigkeit im Bereiche des Irrthums und der Täu-
schung angewiesen; aber der Gegensatz „wahrer und falscher
Dialektik“ als einheitlicher Zweck des Dialogs, ja selbst nur
als eine einzelne Aufgabe unter mehreren anderen, ist aus dem
Dialoge selbst weder nachgewiesen noch nachweisbar.
Im weiteren Verlaufe seiner Erörterung über die „Grund-
idee“ des Sophistes bezeichnet es Susemihl*) als Zweck die-
ses Dialogs „die Ideenlehre zu begründen“. Hierin stimmt ihm
Deuschle bei, mit dem näher bestimmenden Zusatze, der
Sophistes gebe „eine Begründung der Ideenlehre durch die
Lehre vom Urtheile“. Und Michelis, dessen Schrift wir,
nach den Worten der Vorrede zu schliefsen, als ausdrücklich
gegen Susemihl gerichtet betrachten dürfen, setzt als erste der-
jenigen Bemerkungen, durch welche er über den Inhalt des So-
phistes orientiren will: „Im Sophistes vollzieht sich die höchste
Aufgabe des Platonischen Denkens in der Ausgleichung der Be-
griffe des Seins und der Bewegung und insoweit die Grund-
legung der Platonischen Ideenlehre.* Wenn ich von
Forschern, die im Platon heimisch sind, in solcher Einhelligkeit
über den Grundgedanken des Dialogs diese Erklärung abgege-
ben lese, zu welcher es mir nicht möglich ist in dem Dialoge
selbst irgend einen Anhaltspunct zu finden, so muss ich fast
glauben, dass sie unter Ideenlehre und unter Begründung der
Ideenlehre etwas wesentlich anderes verstehen, als man nach dem
allgemeinen Sprachgebrauche darunter zu denken hat. Ich glaube
daher — δεῖ γὰρ ἀεὶ παντὸς πέρι τὸ πρᾶγμα αὐτὸ μᾶλλον διὰ
λόγων ἢ τοὔνομα μόνον συνομολογήσασϑαι χωρὶς λόγου --- um
leeren Wortstreit zu vermeiden, kurz bezeichnen zu müssen,
was ich unter Begründung der Ideenlehre verstehe.
Unter Ideenlehre verstehe ich die für die Platonische Phi-
4) Susemihl S. 310 f. Deuschle in den Jahnschen Jahrb. Bd. ΤΙ, 8. 764,
und damit im wesentlichen übereinstimmend in der Einleitung zu seiner
Übers. 8. 299 f. Michelis a. a. Ὁ. S. 194.
a ψοὰ
SOPHISTES. 187
losophie charakteristische Lehre, dass das Was des logischen
Begriffes als solches selbständige Realität hat; diese Auffassung
des Begriffes „Ideenlehre“ ist durch die zahlreichen Stellen des
Aristoteles gesichert, wo er von den οἱ τὰς ἰδέας (τὰ εἴδη) τιϑέμενοι
323 oder λέγοντες spricht, und findet sich jetzt in allen Darstellungen
der griechischen Philosophie. „Begründung“ der Ideenlehre
kann in historischem oder in philosophischem Sinne gemeint
sein. Im ersteren Falle besteht sie in der sicheren oder wahr-
scheinlichen Nachweisung derjenigen Einwirkungen früherer
Philosopheme auf Platon, durch welche er zu dieser Annahme
geführt wurde; im letzteren Falle hat sie diejenigen Gedanken-
reihen nachzuweisen, durch welche Platon selbst, abgesehen
davon, aus welchen Anregungen sie hervorgegangen sein mögen,
die Nothwendigkeit jener Annahme zu beweisen suchte. Platon
und Aristoteles bieten das vollkommen ausreichende Material,
um eine „Begründung“ der Ideenlehre in dem einen oder andern
Sinne daraus zu entnehmen; aber im Dialoge Sophistes ist dazu
nichts enthalten. In dem den inneren Theil umschliefsenden
Abschnitte kann eine Begründung der Ideenlehre nicht einmal
gesucht werden. Aber von der Stelle an, wo die Frage nach
dem Sein des Nichtseienden behandelt wird, erweist sich. die
Ideenlehre als bereits vorausgesetzt. Dies zeigt sich nicht
nur in den so eben (ὃ. 184) angeführten Stellen, von denen
einige sogleich in den Anfang des fraglichen Abschnittes fallen,
sondern auch eben so augenscheinlich in dem Gedankengange,
durch welchen aus der Annahme von zwei Seienden (243 D, E
und dann aus der Annahme eines einzigen Seienden widerspre-
chende Folgerungen abgeleitet werden. Die Beweiskraft dieser
widerlegenden Folgerungen liegt einzig darin, dass dem Was
eines logischen Begriffes als solchem Realität zugeschrieben ist;
sobald man dies, das heifst also den Inhalt der Platonischen
Ideenlehre selbst, nicht zugesteht, ist es nicht möglich, aus dem
Sein zweier ursprünglicher, von einander qualitativ unterschie-
dener Realen auf das dritte, das Sein selbst, zu schliefsen, und
das gleiche gilt bei der Platonischen Kritik der Parmenideischen
Lehre. Ferner, wenn es sich im Sophistes um „Begründung“
der Ideenlehre handelte, so würde doch die Philosophie der Me-
gariker nicht so einfach angeführt werden: νοητὰ ἄττα χαὶ ἀσώματα
188 SOPHISTES.
εἴδη, βιαζόμενοι τὴν ἀληϑινὴν οὐσίαν εἶναι ; denn eben insoweit durch
diese Worte die Lehre der Megariker bezeichnet wird, stimmt
sie mit der Platonischen Lehre überein, und es ist mit gröfster
Wahrscheinlichkeit vorauszusetzen, dass ihre „Begründung“ in
jeder der beiden Bedeutungen dieselbe war wie die der Plato-
nischen Lehre. Hatte also Platon, wie man ihm zuschreibt, im
Sophistes die Absicht, die „Begründung“ seiner Ideenlehre zu
geben, so war es nicht zulässig, die in der Grundlage mit ihr:
übereinstimmende oder wenigstens sehr nahe verwandte Lehre
so einfach als Thatsache hinzustellen. Endlich in dem wichtig-
sten Abschnitte des Sophistes, dem über die χοινωνία τῶν γενῶν,
wird nicht „begründet“, dass der Inhalt der Begriffe als sol-
cher real ist, sondern es werden unter dieser Voraussetzung
Folgerungen über ihr Verhältnis unter einander gezogen !?).
Es ist mir hiernach unmöglich, in den von den genannten
Forschern (Steinhart, Susemihl, Deuschle, Michelis) abgegebenen
Erklärungen über den Grundgedanken und den Zweck des So-
phistes einen auch nur annähernd oder theilweise richtigen Aus-
druck des wirklichen Inhaltes dieser Platonischen Schrift zu fin-
den; vielmehr führt die prüfende Erwägung dieser abweichenden
Erklärungen zur Bestätigung des vorher ausgesprochenen Ge-
dankens®®) :
Platon gibt im Sophistes der schon als feststehend voraus-
gesetzten Ideenlehre durch die Lehre von der xoıywyta τῶν γενῶν
eine weitere Entwicklung in der Art, dass dadurch die in allen
bisherigen Philosophemen zurückbleibenden Schwierigkeiten ihre
1 Wenn hiernach von einer „Begründung der. Ideenlehre“ durch den
Dialog Sophistes zu reden kein Anlass ist, so verliert dadurch auch die Com-
bination Steinharts ὃ. 472, „dass die im Sophist errungenen Hauptresultate
in den spätern Dialogen, namentlich schon im Phädros, vorausgesetzt wer-
den“, ihre thatsächliche Grundlage. Ob man umgekehrt die Beziehung des
Inhaltes des Sophistes, vor allem die Lehre von der χοινωνία τῶν γενῶν mit
Susemihl S. 301 als einen „berichtigeenden Rückblick“ auf den Phädros
zu betrachten habe, wird nachher zur Erwägung kommen.
48) Diese Auffassung des Dialogs wird verworfen von Deulsen 8. 61 fl.
insbesondere 8. 65), Ribbing I. S. 209. Anm. Es mag für jetzt genügen,
dass ich zur Rechtfertigung derselben mich auf den gesammten Gang der
im obigen enthaltenen Begründung beziehe.
SOPHISTES. 189
Lösung finden und selbst dem blofsen Scheinwissen seine sichere
Stelle aulserhalb des Bereiches der Philosophie angewiesen wird.
Wenn sich der Gedanke, dass in dem positiven Inhalte des
Sophistes, dem Abschnitte über die Gemeinschaft der Begriffe,
eine Begründung der Ideenlehre enthalten sei, als unhaltbar er-
wiesen, so erhebt sich dagegen die Frage, in welchem Zusammen-
hange diese Lehre mit der Grundlage der Ideenlehre stehe, also
vor allem, ob die Lehre von der Gemeinschaft der Begriffe mit
denjenigen Gedankenreihen im Einklange steht, aus denen die
Platonische Ideenlehre hervorgegangen ist. Gehen wir noch kurz
auf diese Frage ein, welche die Erklärung des Dialogs Sophistes
an sich allerdings überschreitet.
3. Welche Momente in der Entwicklung der griechischen
Philosophie die Platonische Ideenlehre hervorgerufen haben, mit
325 welchen Schlüssen Platon selbst die Realität der Ideen zu be-
weisen unternimmt, darüber ist jetzt durch die aufmerksame
Vergleichung der Aristotelischen Zeugnisse mit den Worten Pla-
tons ein so sicheres Wissen erreicht, dass in den historischen
Darstellungen der Platonischen Lehre die Verschiedenheit der
eigenen philosophischen Richtung der Darsteller nur noch auf
Einzelheiten des Ausdruckes oder auf das etwaige Urtheil über
die innere Haltbarkeit der Lehre Einfluss ausübt, das wesent-
liche aber der Darstellung selbst überall dasselbe ist. Es reicht
darum hin, mit wenigen Worten an diese Hauptpuncte zu er-
innern 49).
49) Das Verdienst, zu einer Zeit, wo die psychologisirende Richtung der
Kantischen und die phantasirende der Schellingschen Philosophie noch jedes
unbefangene Verständnis Platons schienen unmöglich machen zu sollen, zu-
erst den Begriff der Platonischen Idee und die philosophischen Motive dieser
Lehre mit voller Klarheit dargelegt zu haben, gebührt einer kurzen Abhand-
lung Herbarts: De Platonici systematis fundamento. Gotting. 1795. Diese
Abhandlung scheint indessen erst von der Zeit an Beachtung gefunden zu
haben, seit die eindringenden Studien des Platon und Aristoteles im wesent-
lichen zu den gleichen Resultaten hierüber geführt haben. Entscheidende
Wirkung hat in dieser Hinsicht die gediegene Untersuchung Zellers ge-
habt, „Die Darstellung der Platonischen Lehre bei Aristoteles“ (Platon. Stu-
dien Κ΄. 196—300). — In der nachfolgenden durch den Zusammenhang er-
forderten Skizze habe ich nicht für nöthig gehalten, die einzelnen Stellen
aus Platon zu citiren; man findet dieselben vollständig bei Zeller, Philos.
ἃ. Gr. 11. 1. 2. Aufl. 8.412 — 427. 3. Aufl. S. 541—562.
100 SOPHISTES.
Soll es überhaupt ein Wissen (Erkennen, &rtsraodaı, ἐπιστήμη)
geben, so muss das Object desselben dem Wesen des Wissens
und den darin enthaltenen Forderungen entsprechen. Die Ge-
genstände der sinnlichen Wahrnehmung sind nicht fähig, Object
des Wissens zu sein; denn unterworfen der Veränderung setzen
sie in die Nothwendigkeit, demselben Dinge in seiner Identität
entgegengesetzte, einander ausschlielsende Prädicate zuzuschrei-
ben. Die allgemeinen Begriffe dagegen sind diesem inneren
Widerspruche, dem die ihrem Umfange angehörigen Einzeldinge
anheimfallen, nicht unterworfen; dasjenige, was in den allge-
meinen Begriffen gedacht wird, bleibt von der Veränderung der
Sinnendinge unberührt. Also nur der Inhalt der allgemeinen
Begriffe ist Inhalt und Object des Erkennens, und, da durch
Wissen und Erkennen die Realität eines Objects vorausgesetzt
wird, als solcher etwas an sich Seiendes. Der Schluss, dass
etwas, weil es Inhalt eines allgemeinen Begriffes ist, darum
selbständige Realität aufserhalb des Denkens an sich habe, also
2. B. die bestimmte Zahl, zwei, drei u. 5. f., nicht das Ge-
zählte, etwas selbständig Reales sei, dieser Schluss steht für
Platon so unerschütterlich fest, wie der im wesentlichen gleiche
für Parmenides. Platons Zuversicht, so zu schliefsen, erklärt
sich daraus, dass die Neuheit der Beschäftigung mit Begriffen
als solchen, wie dieselbe erst durch Sokrates in die griechische
Philosophie eingeführt war, die Begriffe selbst als Objecte der
Untersuchung wie etwas selbständig Reales erscheinen liels;
ferner daraus, dass die Aufmerksamkeit Platons sich vornehmlich
auf Begriffe des ethischen Gebietes richtete, demnächst auf ma-
thematische; bei jenen aber ist es der Anspruch des sittlichen
Urtheiles auf unbedingte Giltigkeit, bei diesen die von subjec-
tivem Belieben unabhängige allgemeine Geltung, welche ihnen
leicht den Schein der objeetiven Realität gibt.
Es ist nicht nöthig noch hierher gehörig, die innere Halt-
barkeit des Gedankenganges, durch welchen Platon zur Realität
der Ideen gelangt, an sich zu prüfen; aber seine Richtigkeit und
Nothwendigkeit vollkommen zugestanden, so folgt daraus doch
nur, dass das Was der allgemeinen Begriffe, weil es ein Gegen-
stand des Erkennens ist, an sich ist; das Sein selbst, die
Realität als solche, ist aber nicht ein Was des Gedachten. Dass
927
SOPHISTES. 191
nun Platon als Ideen nicht nur τὸ χαλόν. τὸ ἀγαϑόν u. 5. f., son-
dern auch τὸ ὃν αὐτὸ χαϑ' αὑτό, also ohne ein bestimmtes Was,
welches sei, aufstellt, überschreitet selbst den Bereich dessen,
was aus seinen Prämissen sich ergibt. Die Allgemeinheit, welche
der Begriff des Seins mit denen theilt, die ein-Was ausdrücken,
der Umstand ferner, dass die griechische Philosophie, noch un-
beholfen im Ausdrucke der Abstractionen, zwischen τὸ ὄν und
τὸ εἶναι nicht streng schied, erklärt diese weitergreifende Be-
hauptung, rechtfertigt sie aber nicht in dem Sinne, dass sie für
eine consequente Folgerung aus den zur Ideenlehre führenden
Gründen gelten könnte. Dadurch nun, dass das Sein oder das
Seiende selbst als eine der Ideen gesetzt wird, ergibt sich so-
gleich für die Ideenlehre eine Modification, welche man unmög-
lich als blofse Synonymität zweier Ausdrücke betrachten kann.
Während nämlich einerseits der Inhalt eines jeden Begriffes,
weil Object des Erkennens, darum an sich ist, kommt ihm ander-
seits das Sein aus seiner Gemeinschaft mit der Idee des Seien-
den, und die ihm an sich zugeschriebene Realität wird dadurch
eine bedingte, aus der Beziehung zu einer andern Idee ent-
lehnte. Die Gemeinschaft unter Ideen, welche sich insoweit nur
als eine Verbindung jeder einzelnen der übrigen Ideen mit der
des Seienden zeigt, erhält aber von einer andern Seite her noch
eine weitere Ausdehnung.
Ein Wissen und Erkennen ist nicht in dem Denken von
Begriffen oder von den ihnen entsprechenden Realen als ein-
zelnen enthalten, sondern in dem Urtheile, also in derjenigen
Verbindung von Begriffen, durch welche der eine zum Prädicate
des andern gemacht wird. Ist nun einmal der Inhalt der ein-
zelnen Begriffe selbst als real gesetzt, so sind in Betreff der
Verhältnisse derselben unter einander nur zweierlei Annahmen
denkbar. Entweder diejenigen logischen Verhältnisse, durch
welche ein Begriff dem andern untergeordnet ist, einer zum Prä-
dicat des andern werden kann u. 5. f., werden für die als real
gesetzten Begriffe in Abrede gestellt, oder sie werden für die-
selben als wirklich vorhanden anerkannt. Im ersteren Falle ge-
langt man dahin, dass von jedem Begriffe nur er selbst ausgesagt
werden kann, also nur identische Urtheile (A ist A) zulässig
sind ; in solcher Weise hielten die Antistheniker und die spätern
192 SOPHISTES.
Megariker die Unveränderlichkeit und unbedingte Einheitlichkeit
der Begriffe aufrecht mit Aufhebung jeder Möglichkeit eines
Wissens. Werden dagegen anderseits die logischen Verhältnisse
unter den realen Begriffen als wirklich vorhanden anerkannt, so
erhalten sie, als allgemein begrifflich gedacht und als Object
eines Wissens, die gleiche reale Bedeutung wie die Begriffe
selbst; also Identität, Verschiedenheit u. 5. f., welche das Ver-
hältnis unter Begriffen bezeichnen, sind ebenso etwas Seiendes,
wie der Inhalt selbst derjenigen Begriffe, deren Verhältnis sie
bezeichnen 5%). Die logische Frage nach dem Verhältnisse der
Begriffe unter einander wird zu der ontologischen über die Ge-
meinschaft der seienden Dinge, über die χοινωνία τῶν γενῶν.
Indem nun, wie vorher bemerkt wurde, das Seiende selbst
eine der realen Ideen ist, folglich jede andere Idee ist durch
ihre Gemeinschaft mit der Idee des Seienden, so ergibt sich,
dass unter einander entgegengesetzte Ideen: Ruhe, Bewegung,
dlas Schöne, das Hässliche u. a. m., da jede derselben ist, gleich
sehr Gemeinschaft haben mit der Idee des Seienden, also, da in
ler Gemeinschaft Gegenseitigkeit liegt5!), anderseits das Seiende,
obgleich an sich weder in Ruhe noch in Bewegung, weder schön
noch hässlich, doch eben so sehr in Ruhe als in Bewegung,
50) Anders spricht sich hierüber Michelis aus $. 188: „Hier stöfst dem
Eleaten ernstlich das Bedenken auf, ob nicht diese abgeleiteten Begriffe nur
als an den andern (also als Formalbegriffe) zu nehmen und diese mit den
ersten dreien doch nicht auf dieselbe Stufe zu stellen seien. Aber diese Be-
denken werden beseitigt“ u. s.w. Den Gedanken, dass dieser Begriff nur
etwas „an den andern“ sein möchte, leitet Michelis aus den Worten
Platons ab, 254 E: τί ποτ᾽ αὖ νῦν οὕτως εἰρήχαμεν τό τε ταὐτὸν καὶ ϑάτερον ;
πότερα δύο ένη τινὲ αὐτώ, τῶν μὲν τριῶν ἄλλω, ξυμμιγνυμένω μιὴν ἐχείνοις ἐξ
ἀνάγκης ἀεί, χαὶ περὶ πέντε ἀλλ᾽ οὐ περὶ τριῶν ὡς ὄντων αὐτῶν σχεπτέον ; ἢ τό
τε ταὐτὸν τοῦτο χαὶ θάτερον ὡς ἐκείνων τι προσαγορεύοντες λανϑάνομεν ἡμᾶς
αὐτούς; Offenbar hat Michelis die Worte ὡς ἐχείνων τι in dem Sinne auf-
gefasst „etwas an jenen Begriffen“. Aber dass diese Worte bedeuten „einen
von jenen vorher angeführten Begriffen“, geht aus der folgenden Beweis-
führung Platons unwiderleglich hervor.
51) Diesen Satz „da in der Gemeinschaft Gegenseitigkeit liegt“ begleitet
Deu/sen $. 57 n. 104 mit einem Ausrufungszeichen und charakterisirt ihn
durch „mirifico modo“. Der Satz ist aber meines Erachtens in dem Begriff
von χοινωνεῖν, χοιγωνία, ganz abgesehen von der speciellen Deutung, welche
man diesen Worten geben mag, dergestalt enthalten, dass er einer weitern
Begründung nicht bedarf.
ws
325
SOPHISTES. 193
schön als hässlich sein kann. Nimmt man noch hinzu, dass
diese Möglichkeit der Gemeinschaft einer jeden in dieselbe
eintretenden Idee als eine reale Eigenschaft zugeschrieben wird,
so ergibt sich, dass die Ideen zu Kräften werden, und es
begreift sich, dass sie in rascher Folgerung als lebendige
Kräfte gesetzt werden. Dieselbe Verbindung also des Entgegen-
gesetzten in der Einheit desselben Dinges, welche dazu trieb,
die Realität den sinnlichen Dingen abzusprechen und ausschliels-
lich den Begriffen zuzuschreiben als Ideen , überträgt sich hier-
mit auf die Ideen selbst.
Dass durch diese Weiterführung die Ideenlehre in Wider-
spruch mit ihrer eignen Grundlage geräth, wird nicht blofs von
Strümpell52) entsprechend dem von ihm verfolgten kritischen
Zwecke bezeichnet, sondern wird eben so unverhohlen, behufs
klarer Einsicht in den Platonischen Gedankengang, von Zeller
dargelegt, von dem letzteren zugleich mit Hinweisung auf die
Motive, welche zu diesem Widerspruche trieben. „Platos Phi-
losophie“, schreibt Zeller 53), „ist von Hause aus weit weniger
auf die Erklärung des Werdens, als auf die Betrachtung des
Seins angelegt, die Begriffe, welche in den Ideen hypostasirt
sind, stellen zunächst nur das dar, was im Wechsel der Erschei-
nungen beharrt, nicht die Ursache dieses Werdens; wenn er sie
zugleich auch als lebendige Kräfte fasst, so ist dies ein Zu-
geständnis, welches ihm die Thatsachen des natür-
lichen und des geistigen Lebens abgenöthigt ha-
ben’!), dem aber die Hauptrichtung seines Systems widerstrebt,
52) Strümpell, Gesch. der theor. Philos. der Griechen. 8. 124 ff.
53) Ich entlehne die Worte der 3. Aufl. der Phil. ἃ, Gr. II. 1. 8. 581ff. ;
durch die bestimmtere Fassung derselben sind zugleich die Bemerkungen
überflüssig geworden, zu denen der Wortlaut der 2. Aufl. des Zellerschen
Werkes mir bei der ersten Publication dieses Aufsatzes Anlass gab.
5) Den wesentlich gleichen Gedanken, dass durch die in der χοινωνία
τῶν γενῶν enthaltene Weiterbildung der Ideenlehre Platon versuche, die „That-
sachen des natürlichen und geistigen Lebens“ von der Grundlage seiner Ideen-
lehre aus erklärlich zu machen, hat bereits früher Hartenstein in seiner Ab-
handlung über die Bedeutung der Megarischen Schule (Verhandlungen der
sächs. Ges. ἃ. Wiss. 1848. S. 194. Kl. Schriften. S. 132) ausgesprochen :
„Schlössen sich die dialektischen Erörterungen der Gespräche Parmenides und
Sophistes zu klareren Ergebnissen ab, als dies der Fall ist, und führte nament-
Bonitz, Platonische Studien, 13
104 SOPHISTES.
und das mit seinen sonstigen Annahmen über die
Ideen sich nicht in Einklang bringen lässt. Es lässt
sich erklären, warum er sich bei dem Versuche einer allseitigen
Ausbildung seiner Ideenlehre auch diesem Gedanken nicht ver-
schloss“ οἷο. Und in Betreff der Unvermeidlichkeit dieses inne-
ren Widerspruchs, a. a. Ὁ. Anm.: „Es ist allerdings ein Wider-
spruch, den Ideen Bewegung, Leben u. s. f. beizulegen, und
zugleich von ihnen zu behaupten, sie seien keiner Veränderung
lich die Entwicklung im Sophistes pag. 244—258 über die χοινωνία τῶν ἰδεῶν
nicht auf dieselben Widersprüche zurück, welche den Plato veranlasst hatten
die Ideen von den sinnlichen Dingen abzutrennen, so würde man vielleicht
sagen können, dass jene dialektischen Erörterungen den Zweck haben, nicht
blofs die Verhältnisse der Ideenwelt, sondern auch den Übergang der Ideen
in die Erscheinungswelt als das relativ Nichtseiende dialektisch darzulegen.“
Wenn nämlich auf der einen Seite den Dingen der Erscheinungswelt das
Sein darum abgesprochen wird, weil jedem derselben zugleich ein Nichtsein
eben dessen, was es ist, anhaftet (das einzelne Schöne z. B. ist auch häss-
lich u. s. f.), und doch die einzelnen sinnlichen Dinge von den seienden
Ideen, durcli deren παρουσία sie das sind, was sie sind, nicht absolut getrennt
werden; und wenn nun anderseits für die Ideen selbst eine gewisse Ver-
bindung von Sein und Nichtsein, für die Idee des Seins insbesondere die
Gemeinschaft mit entgegengesetzten Ideen nachzuweisen unternommen ist,
so ist mindestens durch die Gleichheit der Ausdrücke in beiden Fällen —
Verbindung von Sein und Nichtsein -— der Schein veranlasst, dass hier-
durch ein Übergang von den Ideen zu den sinnlichen Dingen, eine Begrün-
dung der sinnlichen Dinge ausschlielslich auf die Ideen hergestellt sei. Dass
in der später von Platon unternommenen Ausführung der Naturphilosophie
(denn dass der Timäos später als der Sophistes abgefasst ist, darf als zweifel-
los betrachtet werden) Plato nicht diesen Weg verfolgt hat, um die sinnliche
Erscheinungswelt erklärlich zu machen, sondern einen andern eingeschlagen
hat, dessen innere Widersprüche durch die Hülle der mythischen Darstellung
überdeckt sind, darf nicht als ein Grund gegen jene Auffassung der χοινωνία
τῶν γενῶν und Folgerung aus derselben angesehen werden. Da ohne inneren
Widerspruch von der Grundlage der Ideenlehre aus zu einer Erklärung der
veränderlichen Sinnenwelt nicht kann gelangt werden, so ist es nicht auf-
fallend, ‘wenn dieser Widerspruch verschiedene Gestalten annimmt. Vgl.
Zeller a. a. OÖ. S. 583: „Wiewohl sich ihm daher immer wieder die Noth-
wendigkeit aufdrängt, in den Ideen neben den Urbildern zugleich auch die
wirkenden Ursachen anzuschauen, kann er diesen Gedanken doch nicht wirk-
lich durchführen, und greift statt dessen schliefslich für die Erklärung der
Erscheinungswelt zu jenen mythischen Darstellungen, welche für die Lücken
der wissenschaftlichen Entwicklung doch nur einen schwachen Ersatz
geben.“ — Gegen die im obigen enthaltene Auffassung sprechen sich aus
Deufsen Κ. 30, Ribbing I. S. 210 ἢ.
ΞΟΡΗΙΒΤΈΒ. 195
irgend einer Art fähig; aber es ist ein Widerspruch, in den sich
Plato verwickeln musste, sobald er die beiden Grundbestim-
mungen seiner Ideenlehre — dass die Ideen einerseits von der
Veränderlichkeit, Getheiltheit und Unvollkommenheit des sinn-
liehen Seins nicht berührt werden, anderseits aber doch zugleich
das allein ursprünglich Reale und für das abgeleitete Sein der
alleinige Grund aller Realität seien — mit einander vereinigen
330 wollte.“ Anders stellen sich zu der in der χοινωνία τῶν γενῶν
enthaltenen Entwicklung der Ideenlehre Steinhart und Susemihl.
Steinhart rühmt den „unermesslichen Fortschritt zu einer klaren
und richtigen Erkenntnis der höchsten Wahrheiten, den dieser
Dialog in Platons Entwicklungsgeschichte bezeichnet“ (S. 456);
Susemihl sieht in der Verwandlung der Ideen in lebendige
Kräfte „einen berichtigenden Rückblick auf die im Phädrus
331 noch als unbeweglich angeschauten Ideen“ (S. 301). Warum
ich in diese Lobeserhebungen nicht einstimmen kann, ist vorher
dargelegt.
4. Schliefslich mögen noch zwei für die Auffassung des ge-
sammten Dialogs Sophistes nicht gleichgiltige Momente in Be-
tracht gezogen werden,
Dass der Abschnitt über die χοινωνία τῶν γενῶν den wich-
tigsten positiven Ertrag des Sophistes enthält, wird von keinem
Erklärer. in Zweifel gezogen. Nehmen wir nun einmal an, man
lese diesen Abschnitt ohne irgend einen Gedanken daran, dass
γένη, εἴδη für Platon eine andere Bedeutung haben als die der
allgemeinen Begriffe in ihrer verschiedenen Abstufung, so würde
man sich über das Missverhältnis zwischen dem Inhalt dieses
Abschnittes und der Bedeutung, welche er unverkennbar für die
gesammte Untersuchung hat, nicht genug wundern können. Dass
die Bewegung Bewegung ist und nicht Ruhe, die Ruhe Ruhe
‚und. nicht Bewegung, dass also die Bewegung sich selbst iden-
tisch und von der Ruhe verschieden, die Ruhe sich selbst iden-
tisch und von der Bewegung verschieden, dass jedem Begriffe
sich manche andere als Prädicat zuschreiben lassen, und dass
unendlich viele durch ein negatives Urtheil von ihm auszu-
schliefsen sind: diese und ähnliche Sätze sollen die Lösung ge-
ben für Fragen der Philosophie, deren Schwierigkeiten vorher
dargelegt und in den lebhaftesten Farben geschildert sind?
132
196 SOPHISTES.
Aber die Sache erhält eine wesentlich andere Gestalt, sobald
wir uns vergegenwärtigen, dass für Platon jedes logische Ver-
hältnis eben als solches die Geltung selbständiger Realität hat,
und dass in der Voraussetzung dieser Geltung die Bedeutung
der ganzen Erörterung legt. Der charakteristische, die Kritik
der Megarischen Lehre abschliefsende Ausruf: Τί δὲ πρὸς Διός;
ὡς ἀληϑῶς χίνησιν χαὶ ζωὴν χαὶ ψυχὴν χαὶ φρόνησιν ἢ ῥαδίως πει-
ee Πόλεις, ἀπο] som ΨΟΧῊΝ αν ΡΟΝ ENTE Ὁ
΄ m «- δ 4 \ - \ Eu εν ὃ \ m
σϑησόμεϑα τῷ παντελῶς Oyrı μὴ παρεῖναι, μηδὲ ζῆν αὐτὸ μηδὲ φρονεῖν,
5 \ x SR - 2 „ 2.08 [φ \ τ .
ἀλλὰ σεμνὸν χαὶ AyLov, νοῦν οὐχ ἔχον, ἀχίνητον ἑστὸς εἶναι ; bezeichnet
das Ziel, das in Platons Überzeugung bereits feststeht, trotz des
darin enthaltenen Widerspruches zu seinem eigenen Begriffe der
Idee; die Lehre von der χοινωνία τῶν γενῶν dient dann dazu,
diese Überzeugung zu rechtfertigen, aber unter der Voraussetzung,
dass logische Verhältnisse als sojche etwas Reales sind. Man
verdeckt aber die wahre Beschaffenheit der Sache, wenn man»)
diese Behandlungsweise als eine „nur noch erst formal lo-
gische* oder als eine „Platon nicht endgiltig befriedigende“ be-
zeichnet, oder sagt, dass „auch aus dem logischen Gesichts-
uncte die Unwahrheit jenes Gegensatzes (des Seins und Nicht-
J
seins) nachgewiesen“ werde; und man verkehrt geradezu den
Inhalt des Sophistes, wenn man ihm zumuthet, dass in ihm die
„klare Erfassung des Unterschiedes des Formal- und Realbegriffes,
die Unterscheidung des Formalen und Realen im Denken“ ent-
halten sei. Vielmehr erhält der ganze entscheidende Abschnitt
332
seine Bedeutung, ja seine Verständlichkeit in jedem seiner Aus-
drücke nur unter der Voraussetzung der Realität des Inhaltes
der Begriffe, und zwar eben so sehr derjenigen, welche eine
blolse Beziehung ausdrücken, also der „Formalbegriffe“, als der
(wirklich oder scheinbar) an sich bestimmbaren; und diese on-
tologische Geltung des Logischen ist keineswegs etwas Vorläu-
figes, Platon selbst „nicht endgiltig Befriedigendes“, sondern
ist der wesentliche Charakterzug der Platonischen Ideenlehre
selbst.
5) Die Bemerkungen, auf welche hier Bezug genommen ist, finden sich,
die erste bei Susemihl $. 302 und übereinstimmend damit bei Deuschle,
Einl. zur Übers. 5. 304, die zweite und vierte bei Michelis $. 197, 201
(vgl. Anm. 50), die dritte bei Steinhart $. 447.
: SOPHISTES. 197
Das Verhältnis der Unterscheidung eines Begriffes vom an-
dern, allgemein als Begriff gesetzt, ist das ϑάτερον oder das μὴ
v he . . . .
ὃν. Fragt man nun, was das μὴ ὃν ist, so ist hierauf keine
Antwort zu geben als τὸ μὴ ὃν βεβαίως ἔστι τὴν αὑτοῦ φύσιν
4 er ἘΣ \
ἔχον, ὥσπερ τὸ μέγα ἦν μέγα χαὶ τὸ χαλὸν ἦν χαλὸν χαὶ τὸ μὴ
μέγα μὴ μέγα χαὶ τὸ μὴ χαλὸν μὴ χαλόν, οὕτω δὲ χαὶ τὸ μὴ ὃν
τὰ » 14 .
χατὰ ταὐτὸν ἦν τε χαὶ ἔστι μὴ ὅν (258 B,C). Aristoteles hat
daher nach seinen logischen und ontologischen Grundsätzen
vollkommen Recht, wenn er dagegen Einsprache erhebt, dass
\ 4 > \ v \ NEN ”
aus τὸ μὴ ὃν ἐστι un ὅν gefolgert werde τὸ μὴ ὃν ἔστιν. Aber
er nimmt an der Stelle, wo er diese, meines Wissens bisher
noch nicht auf Platon bezogene Kritik übt%), darauf nicht
Rücksicht, dass für Platon einerseits schon in der Natur des
Allgemeinbegriffes die Folgerung des Seins für τὸ ϑάτερον oder
\ Ὰ v .. εἰ . . \ \ Y 5,
τὸ μὴ ὃν begründet ist, anderseits in dem Satze τὸ μὴ ὃν ἐστι
N % . r ee, . N _® v
333 un Ὅν eine χοινωνία des μὴ ὃν mit dem Sein, also ὃν, enthalten
ist, welche ihn zu dem Satze berechtigt τὸ μὴ ὃν ἔστι πῃ.
Ist aber durch diese Nachweisung des Seins des Nichtseien-
den die Realität des Irrthums, welche zu erweisen als Zweck
jener Nachweisung bezeichnet wird, wirklich erwiesen, selbst
unter dem Zugeständnisse aller Platonischen Prämissen? Das
Recht hieran zu zweifeln 5”) wolle man aus folgenden Erwägun-
gen entnehmen. Das Nichtseiende ist nichtseiend, es ist also,
geben wir zu, in gewissem Sinne seiend. An jedem seienden
Begriff ist viel Seiendes, aber unzählig viel Nichtseiendes (περὶ
΄ ἊΨ - 5 Eu \ r ΟῚ ἐν. Υ aN IC \
ἔχαστον ἄρα τῶν εἰδῶν πολὺ μέν ἐστι τὸ ὃν, ἄπειρον δὲ πλήϑει τὸ
ld w . . .
μὴ ὃν. 256 E). Aber es ist doch bestimmtes Seiendes, wel-
ches an jedem Begriff ist, und davon unterschiedenes be-
5%) Arist. Soph. el. 25. 180% 23 ff. τοὺς δὲ παρὰ τὸ κυρίως τόδε ἢ πῇ ἣ
ποῦ ἢ πῶς ἢ πρός τι λέγεσϑαι καὶ pn) ἁπλῶς, λυτέον σχοποῦντι χτὰ. --- εἰσὶ δὲ
πάντες ol τοιοῦτοι λόγοι τοῦτ᾽ ἔχοντες, ap’ ἐνδέχεται τὸ μιὴὴ ὃν εἶναι; ἀλλὰ μὴν
ἔστι γέ τι μὴ ὄν. ὁμοίως δὲ χαὶ τὸ ὃν οὐχ ἔσται" οὐ γὰρ ἔσται τι τῶν ὄντων.
57) Ohne Bezeichnung eines Zweifels wird der Gang der Beweisführung
von Steinhart S. 440 so angegeben: „Die am Schlusse dieses Abschnittes
aus jenen Vordersätzen gezogene Folgerung, dass, wie überall ein Sein mit
einem Nichtsein sich verbinde, so im Denken und Reden auch eine falsche
Verknüpfung der Begriffe zu Urtheilen, also Irrthum und Unwahrheit mög-
lich sei, führt uns auf die vorher abgebrochene letzte Beschreibung dıs
Sophisten zurück.“
198 SOPHISTES.
stimmtes Nichtseiendes, welches an demselben ist. Weder
in jenem Seienden, noch in diesem Nichtseienden ist Irrthum
enthalten, sondern wahre Erkenntnis. Irrthum aber besteht nach
Platons eigener Angabe darin, dass Nichtseiendes als seiend,
Seiendes als nichtseiend ausgesagt wird. Dieses Sein des
Nichtseienden ist im vorhergehenden nicht nachgewiesen — es
konnte nicht nachgewiesen werden, weil sonst der Irrthum
als wahre Erkenntnis nachgewiesen wäre. Daher ist es
begreiflich, dass nach Beendigung der ganzen umfassenden Er-
örterung über das Sein des Nichtseienden nicht aus ihr die
Möglichkeit des Irrthums abgeleitet, sondern einfach an
einem Beispiel die thatsächliche Wirklichkeit dessel-
ben dargelegt wird.
ZUR ERKLÄRUNG DES DIALOGS LACHES.
‚ Der Dialog Laches gehört in die Reihe derjenigen kleineren
' Platonischen Dialoge, bei denen der Mangel einer ausdrücklichen
Beglaubigung durch Aristoteles, die wirkliche oder scheinbare
Resultatlosigkeit der wissenschaftlichen Untersuchung, das Miss-
verhältnis der umfangreichen Einkleidung zu dem wissenschaft-
lichen Gehalte und ähnliche Gesichtspuncte verwendet worden
sind, um die Autorschaft Platons zu: bestreiten. Die Schaar-
schmidtsche Schrift, welche bekanntlich in der „Sammlung der
Platonischen Schriften“ am gründlichsten aufgeräumt hat, schlägt
in Betreff des Dialoges Laches denselben Weg ein, wie bei den
übrigen kleineren in Frage kommenden Dialogen: durch eine
Zerpflückung und Zerbröckelung des Inhaltes wird eine solche
Verkehrtheit der Composition und Nichtigkeit des Resultates nach-
gewiesen, dass daraus. geschlossen wird, es sei unmöglich
den Dialog für ein Werk Platons zu halten; nur als eine Er-
gänzung dieses hauptsächlichen Beweises ist es zu betrachten,
dass in sprachlicher und sachlicher Hinsicht aus der Ueberein-
stimmung mit andern Platonischen Stellen eben so wie aus der
Abweichung von ihnen Gründe der Verdächtigung entlehnt wer-
-
ἘΞ
den. Die von Schaarschmidt angewendete Methode der Bestrei-
tung veranlasst mich zu dem Versuche, durch eine gewissenhafte
Darlegung des Gedankenganges und der vom Verfasser deutlich
bezeichneten Gliederung des Dialoges nachzuweisen, dass Inhalt
und Composition des Dialoges zu einer Bestreitung seines Plato-
nischen Erg kein Recht geben. Insoweit diese Nachwei-
*) Hermes Bd. 5. 5. 429 — 442.
200 LAcHEes.
sung gelingt, würde sie, unabhängig von der Frage nach dem
Verfasser des Dialogs, ein Beitrag zu seiner Erklärung sein.
Von den einzelnen Einwendungen Schaarschmidts, die ja doch
ihr Gewicht erst aus der allgemeinen Nichtigkeitserklärung des
Dialogs entlehnen, mögen dann anhangsweise die erheblichsten
kurz berührt werden.
Der Gedankengang des Dialogs Laches ist folgender.
Zwei athenische Greise, Lysimachos und Melesias, die ruhm-
losen Söhne der berühmten Staatsmänner Aristides und Thucy-
dides, haben an die beiden geachteten athenischen Feldherren
Nikias und Laches die Einladung gerichtet, mit ihnen der Kunst-
production eines Fechtmeisters (Hoplomachen) zuzuschauen, und
erklären nun nach beendigter Schau die Absicht ihrer Einladung.
In dem beschämenden Bewusstsein ihrer Ruhmlosigkeit wünschen
sie in ihren beim Gespräche anwesenden jugendlichen Söhnen
mit den Namen zugleich den Ruhm der Grolsväter sich erneuern
zu sehen, und wollen zu diesem Zwecke kein Mittel der Bildung
unversucht lassen; von den beiden Feldherren erbitten sie sich
nun den Rath darüber, ob das Erlernen der Hoplomachie ein
für die Jugendbildung zweckmälsiges Mittel sei. Die beiden
Feldherren sind zum Aussprechen ihrer Ueberzeugung bereit, nur
macht Laches darauf aufmerksam, dass ein competenterer Rath-
geber als sie beide der mit anwesende Sokrates sei, der ja der
Frage der Jugendbildung sein ernstliches Nachdenken widme.
Sokrates, obgleich Demosgenosse des Lysimachos, ist diesem nur
dem Namen nach bekannt, von den beiden Jünglingen dagegen
um seiner anregenden Gespräche willen verehrt, von Laches
wegen der in der Schlacht bei Delion erwiesenen Tapferkeit hoch-
geachtet. So richtet Lysimachos, erfreut in der persönlichen
Bekanntschaft des Sokrates das freundschaftliche Verhältnis zu ası
dessen Vater zu ermeuern, auch an ihn die gleiche Bitte, und
Sokrates verspricht ihr Folge zu geben, nur wünsche er, als der
jüngere und minder erfahrene, erst die Ansichten der, beiden
Feldherren zu hören (c. 1—4).
Nikias spricht sich für die Hoplomachie als Bildungsmittel
der Jugend aus;, diese Beschäftigung halte die Jünglinge von
schlechtem Zeitvertreib ab, sie sei an sich eine nützliche
Kampfesübung und wecke aufserdem Interesse für weitere mili-
ΤΙΛΟΗΒΕ. 201
tärısche Ausbildung in der Taktik, endlich trage sie dazu bei,
der Tapferkeit eine edle Haltung zu verleihen (6. 5).
Laches dagegen spricht der Hoplomachie, falls man sie über-
haupt für einen Unterrichtsgegenstand ansehen dürfe, jeden Werth
ab. Das beweise die Erfahrung. Die eigentlichen Kriegskünstler,
die Spartaner, betrieben die Hoplomachie nicht, und Hoplo-
machen träten mit ihren Productionen in Sparta nie auf. Kein
Künstler solcher Hoplomachie habe sich im Kriege ausgezeichnet,
ja der eben jetzt unter lautem Beifalle aufgetretene habe sich in
wirklicher Schlacht lächerlich gemacht. Diese Kunst zu erlernen
habe weder für den Feigen einen Werth noch für den Tapferen,
denn jenen verführe sie zu verderblicher Einbildung, diesem ziehe
sie eine schärfere, Beurtheilung zu (c. 6—8).
Bei diesem Widerstreite der Urtheile erbittet und erwartet
Lysimachos, dass Sokrates durch seine Beistimmung zu einem
der beiden den Ausschlag geben werde. Sokrates lehnt diese
Erwartung ab, denn nicht die Mehrzahl der Stimmen dürfe die
Entscheidung geben, sondern die Einsicht, und zwar die Ein-
sicht in den wirklichen Gegenstand der Frage; dieser sei im
vorliegenden Falle nicht die Hoplomachie, welche nur die Be-
deutung eines Mittels habe, sondern der durch dieses Mittel er-
strebte Zweck, die Bildung der Jünglinge zu männlicher Tüch-
tigkeit. Zu einem Rathe hierüber sei nur berechtigt, wer seine
Kenntnisse auf diesem Gebiete aufweisen könne, entweder durch
Berufung auf die Lehrer, die er gehabt, oder auf die Erfolge
seiner eigenen bildenden und erziehenden Thätigkeit. Er könne
auf keine der beiden Weisen seine Berechtigung erweisen ; Nikias
und Laches würden es gewiss vermögen, weil sie sonst nicht so
zuversichtlich ihr Urtheil würden abgegeben haben. Auf die
naive Zustimmung des Lysimachos zu der von Sokrates in Aus-
sicht gestellten Erörterung bemerkt Nikias, dass jedes Gespräch
mit Sokrates auf die Forderung der Selbstprüfung hinauslaufe,
432 eine Forderung, zu deren Erfüllung Laches sich dem Sokrates
gegenüber bereit erklärt, da bei Sokrates That und Wort in
edlem Einklange stehe. Zu einer thätigen 'Theilnahme an solcher
Erörterung bekennt Lysimachos sich für zu altersschwach und
übergibt die Führung des Gespräches ausschhelslich dem Sokrates
und den beiden Feldherren (ὁ. 9— 15 Anf.).
202 LAcHes.
Die in Aussicht genommene Selbstprüfung ersetzt nun So-
krates durch die Aufstellung der Frage: was ist Tugend. Ihre
Beantwortung könne insofern als Ersatz gelten, als derjenige,
der sich auf Tugend und auf Bildung zur Tugend verstehe, doch
gewiss anzugeben vermöge, was Tugend ist. Wegen des weiten
Umfanges dieses Begriffes wollten sie übrigens die Frage auf den
Theil der Tugend beschränken, um den es sich hier zunächst
handle, die Tapferkeit. Es fragt sich also: was ist Tapfer-
heit (c. 15. 16).
Zunächst versucht Laches, diesen Begriff zu definiren. Seine
erste Definition, dass Tapferkeit darin bestehe, auf seinem Posten
auszuharren, muss Laches selbst als zu eng anerkennen; denn
Tapferkeit lässt sich noch in anderen Fällen als im Kriege, und
im Kriege selbst noch in anderer als der bezeichneten Weise
zeigen (c. 17—19 Anf.). — Die zweite Definition des Laches,
Tapferkeit sei eine gewisse Beharrlichkeit der Seele, erweist sich
als zu weit. Denn die Tapferkeit ist etwas sittlich werthvolles,
χαλόν; aber nicht jede Beharrlichkeit hat sittlichen Werth, son-
dern nur die mit Einsicht verbundene. Welches ist nun der
Gegenstand dieser Einsicht? Sokrates erwähnt beispielsweise
Fälle einer Einsicht in die Mittel, einer Gefahr zu begegnen,
oder einer Einsicht darüber, dass die Gefahr nur eine scheinbare,
keine wirkliche ist. Indem sich offenbar zeigt, dass eine der-
artige Einsicht der Beharrlichkeit den Charakter ‚der Tapferkeit
vielmehr benimmt , statt ihr sittlichen Werth zu sichern, so bleibt
die Definition der Tapferkeit unentschieden, obgleich Laches sich
bewusst ist eine Vorstellung darüber zu haben, was denn die
Tapferkeit sei (c. 19— 22).
So wendet sich denn Sokrates unter Laches’ Zustimmung
mit der gleichen Frage an Nikias. Unter Berufung auf Sokrates’
eigne Erklärung, dass man tüchtig nur in den Dingen sein könne,
die man wisse und verstehe, definirt Nikias die Tapferkeit als
ein Wissen dessen, was zu fürchten und was nicht zu fürchten
ist. — Gegen diese Erklärung erhebt zunächst Laches zwei Ein-
würfe. Erstens, für jedes einzelne Gebiet wüssten die Sach-
kundigen, z. B. für Krankheitsfälle die Aerzte, den zu erwar-
tenden günstigen oder ungünstigen Erfolg, für die allgemeinsten 433
Ereignisse wüssten die Seher den Erfolg; also diese würden die
LAcHEs. 203
Tapferen sein. Dagegen erklärt Nikias, dass es sich nicht um
die äufsere Erscheinung des Erfolges handele, sondern darum,
ob dieser Erfolg für den, den er trifft, ein wirkliches Gut oder
ein Übel sei (c. 22— 24). Den zweiten Einwurf des Laches,
dass nach dieser Definition man Thieren nicht könne Tapferkeit
zuschreiben, erkennt Nikias als sachlich richtig an, aber nicht
als einen Einwurf gegen seine Definition; T'hiere könnten wohl
furchtlos sein, aber Tapferkeit könne nur denen, die Einsicht
besitzen, zugeschrieben werden (c. 25, 26). — Hierauf über-
nimmt Sokrates selbst die Prüfung der von Nikias aufgestellten
Definition. Tapferkeit ist, so war vorausgesetzt, ein Theil der
Tugend. Nun hat aber doch Wissen dessen, was zu fürchten
ist und was nicht, wie Tapferkeit definirt ist, keine andere Be-
deutung als Wissen der zu erwartenden Güter oder Übel. Das
Urtheil über Gut oder Übel bleibt aber das nämliche, mag das
Gut und Übel der Gegenwart , Vergangenheit oder Zukunft an-
gehören. Folglich ist in Wahrheit Tapferkeit definirt als Ein-
sicht überhaupt in das, was ein Gut und was ein Übel ist, und
es ist hiermit nicht ein Theil der Tugend, sondern die Tugend
überhaupt definirt (27—29).
Den Spott des Laches, dass auch ihm die Definition der
Tapferkeit nicht gelungen sei, erwidert Nikias mit der Versiche-
rung, dass für ihn in der Nachweisung des Mangels seiner Ant-
wort nur der Antrieb zu weiterer Erforschung der Sache liege.
Beide aber sind einig darin, den Greisen zu rathen, sich in den
Fragen über die tüchtige Bildung ihrer Söhne an Sokrates zu
wenden; Lysimachos, als der Sprecher beider, nimmt diesen
Rath gern an und erlangt des Sokrates bereitwillige Zustimmung
(6. 80, 81).
Durch die dialogische Form scheiden sich die Abschnitte, in
denen Lysimachos am Gespräche theilnimmt (c. 1—15, 30, 31),
von dem Theile, in welchem sich dieser ausdrücklich davon
zurückzieht und dessen Führung dem Sokrates, Nikias und
Laches allein überlässt. Diesem Unterschiede in der Form des
Dialogs entspricht der Inhalt; in jenen umgebenden Abschnitten ist
die specielle Frage über die Bildung der beiden Jünglinge und
über die Anwendung eines damals eben in Brauch kommenden
204 LAcHes.
Bildungsmittels behandelt, in dem mittleren die Frage nach der
Definition der Tapferkeit. Innerhalb des ersten Abschnittes
(e. 1—15) bildet das Eintreten des Sokrates in das Gespräch
einen in formaler Hinsicht bedeutenden Wendepunct, ὁ. 9: 685 434
hat die gleiche Bedeutung für den Inhalt; die speciellste Frage
über ein einzelnes Bildungsmittel führt den, der sie gründlich
und sicher beantworten will, zu der allgemeinen Frage nach dem
Wesen der Tugend. Vor dem Eintreten des Sokrates in das Ge-
spräch spricht zuerst Nikias in längerem Zusammenhange, dann
Laches; sachlich unterscheiden sich diese beiden Abschnitte. so,
dass von Nikias Gründe aus der Natur der Sache geltend gemacht,
von Laches gewöhnliche und bekannte Erfahrungen 'vorgebracht
werden, wesentlich derselbe Unterschied, der in dem zweiten,
die Definition der Tapferkeit behandelnden Theile des Dialoges
zwischen Laches und Nikias eingehalten wird. — In diesem
zweiten Theile nämlich scheiden sich durch die Form des Ge-
sprächs der Abschnitt, in welchem Laches, von dem, in welchem
Nikias eine Definition der Tapferkeit zu geben sucht, ο. 16—21,
22—29, in dem letzteren wieder die Partie, in welcher Laches die
Definition des Nikias bestreitet ec. 22—26, von der, in welcher
Sokrates seine Einwendung gegen dieselbe begründet c. 27—29.
Auch hier entsprechen den formalen Unterschieden die sachlichen;
Laches bezeichnet, auf Grund der Erfahrung und im Einklange
mit den üblichen Ansichten, zunächst die äufsere Erscheinung
der kriegerischen Tapferkeit, sodann einen allgemeinen Charakter-
zug derselben; Nikias unternimmt es die wesentliche Grundlage
anzugeben, auf der ihr sittlicher Werth beruht. Und während
die Einwendungen des Laches gegen Nikias nur den verbreiteten
Ansichten einen Ausdruck und dadurch dem Nikias Anlass geben
seine Definition näher zu erläutern, zeigen die Gegenbemerkungen
des Sokrates die logischen Mängel der Definition.
Der Dialog schliefst unentschieden insofern, als zu. einer
unbestrittenen Definition der Tapferkeit nicht gelangt ist; dass
dennoch die sämmtlichen Unterredner am Schlusse ihr volles
Vertrauen zu Sokrates beweisen, dem das Auffinden der gesuchten
Definition nicht gelungen: ist, würde durch die Composition (65
Dialoges nicht gerechtfertigt erscheinen , wenn nicht trotz ‚dieser
scheinbaren Erfolglosigkeit die Lösung der. Frage wirklich ge-
οι
LacHes. 205
geben wäre. Gegeben ist sie nämlich in den Sätzen, die unbe-
stritten stehen bleiben. Unbestritten bleibt, dass die Tapfer-
keit eine auf Einsicht beruhende Beharrlichkeit des Charakters
ist; aber der Gegenstand dieser Einsicht, durch welche die
Tapferkeit erst einen sittlichen Werth erhält, ist unbestimmt ge-
lassen. Unbestritten bleibt anderseits, dass Tugend in der Ein-
sicht über das was ein Gut und was ein Übel ist, besteht oder
darauf beruht; aber unentschieden ist gelassen, was speciell die
Tapferkeit im Unterschiede von anderen Tugenden charakteri-
sire. Wir brauchen nur die unbestritten gelassenen und dadurch
als giltig anerkannten Sätze zu verbinden, um darin die voll-
ständige Definition der Tapferkeit zu haben; der Gegenstand der
Einsicht ist bestimmt, durch welche die Beharrlichkeit einen sitt-
lichen Werth gewinnt, und für das in dieser Einsicht beruhende
allgemeine Wesen der Tugend ist die Beharrlichkeit als das spe-
cifische Merkmal anerkannt, durch welches die Tapferkeit sich
von den anderen Tugenden unterscheidet. Der Dialog führt also
durch seinen eignen Inhalt mit Ausschliefsung jedes willkürlichen
Hineindeutelns auf die Definition der Tapferkeit!) als der auf
sittlicher Einsicht beruhenden Beharrlichkeit.
1) Zeller nimmt in der 3. Auflage seiner Phil. ἃ. Gr. II, 1. 8. 502, 1
auf die obige Erörterung Bezug und bestreitet, dass die von mir versuchte
Auffassung des Dialogs von willkürlicher Deutung frei sei. „Mir scheint
aber diese Combination doch etwas mehr in dem Gespräche zu finden als
wirklich darin liegt. Denn Sokrates bestreitet 192 D ff. nicht blofs die Vor-
stellung, als ob eine unverständige Beharrlichkeit den Namen der Tapferkeit
verdiene, sondern vorher noch zeigt er, dass auch die Definition der letzteren
als φρόνιμος χαρτερία nicht zutreffe; und sind auch die Gründe, mit denen
er dies beweist, vom Sokratisch-Platonischen Standpuncte selbst aus keines-
wegs unwiderleglich, so wird doch hier mit keinem Worte darauf hinge-
wiesen, dass sie nicht ernstlich gemeint seien: es wird gezeigt, die Tapfer-
keit sei weder eine χαρτερία φρόνιμος noch eine ἄφρων χαρτέρησις, woraus man
doch nur schliefsen kann, dass ihr Wesen überhaupt nicht in der χαρτερία
bestehe. Anderseits wird die von Nikias vorgetragene echt Sokratische De-
finition, wie soeben bemerkt wurde, nicht unbedingt bestritten, sondern es
wird nur nachgewiesen, dass sie sich mit der Voraussetzung, als ob die
Tapferkeit blofs ein Theil der Tugend sei, nicht vertrage; ob aber der Fehler
in jener Definition oder in dieser Voraussetzung liege, wird nicht gesagt.
Mir scheint nach dem Standpunct, den Plato auch im Protagoras einnimmt,
nur das letztere seine Meinung sein zu können, so dass demnach das Positive,
auf welches die scheinbar ergebnislose Erörterung des Laches hindeutet, in
200 LAcHEs.
Wenn die im obigen bezeichnete Gliederung des ‚Dialogs 436
Laches zu den von dem Verfasser selbst durch die dialogische -
dem Sokratischen Satze läge, dass auch die Tapferkeit, wie alle Tugend, auf
ein Wissen, die Erkenntnis des Guten, zurückführe.“ — Ich habe mich bei
erneuter Erwägung des Gegenstandes von dem entscheidenden Gewichte der
von Zeller entwickelten Gründe nicht überzeugen können. Dass man über-
all, wo man jemanden als ἀνδρεῖος anerkennt, ihm eine χαρτερία zuschreibt,
wird weder an sich, noch durch die angewendeten Beispiele in Zweifel ge-
zogen. Aber da nicht jede χαρτερία als sittlich edle Handlung und als ἀνδρεία
anzuerkennen ist. so fragt sich, welche Art der χαρτερία aus dem gesammten
Umfange des Begriffes durch ein besonderes Merkmal herauszuheben ist.
Gesetzt nun, es würde in unserem Dialoge wirklich ausgesprochen, dass „die
Tapferkeit weder eine χαρτερία φρόνιμος noch eine ἄφρων zaptepnars“ sei, 50
würde selbst daraus nicht mit ausschlielsender Nothwendigkeit folgen, „dass
ihr Wesen überhaupt nicht in der καρτερία bestehe“, sondern es bliebe auch
die andere Möglichkeit, dass die bestimmenden Merkmale aus einem dis-
paraten Gebiete gewählt seien, also jedes der beiden entgegengesetzten Merk-
male gleich wenig geeignet sei das Wesen der ἀνδρεία zu bestimmen. Aber
thatsächlich darf man doch wohl diese gleichmälsige Negation der beiden
Glieder „weder eine χαρτερία φρόνιμος noch eine ἄφρων “upripnsıs“ unserem
Dialoge nicht zuschreiben, sondern die Erklärung über jedes derselben ist
wesentlich verschieden. Dass eine χαρτερία μετ ἀφροσύνης nicht könne eine
Tugend sein, dass sie vielmehr, um auf diese Anerkennung Anspruch zu
haben, eine zaprepta μετὰ φρονήσεως sein müsse, wird von beiden Unterrednern
als zweifellos angenommen, p. 192 C,D. Aber zu φρόνησις ist die Bezeich-
nung des Objectes der Einsicht erforderlich , ἡ eis τί φρόνιμος. Indem nun
versuchsweise solche Objeete angeführt werden, von denen Einsicht zu be-
sitzen den Werth der zuprepta vielmehr herabsetzt und aufhebt statt ihn zu
erhöhen und zu veredlen, scheint der Versuch, auf diesem Wege das Wesen
der ἀνδρεία zu finden, vergeblich und wird aufgegeben. Hätte nun Platon,
wie Zeller anzunehmen scheint, den Leser zu der. Folgerung veranlassen
wollen, „dass das Wesen der ἀνδρεία überhaupt nicht in der χαρτερία bestehe“,
so hätte er, meines Erachtens, dazu einen unzweckmälsigen Weg einge-
schlagen; denn da aus der Natur der blofs beispielsweise gewählten Objecte
der Einsicht die Schwierigkeiten entstehen und die Aufzählung der mög-
lichen Objecte keineswegs als abgeschlossen erscheint, so führt der von Platon
eingeschlagene Gedankengang den Leser vielmehr auf die Vermuthung,, dass
eben in dieser Wahl der Fehler und Mangel zu suchen sei. Nun vermisst
Zeller eine Andeutung dafür, dass die allerdings nicht unwiderleglichen
Gründe gegen die φρόνιμος καρτερία „nicht ernstlich gemeint seien“, Sollte
nicht, selbst ohne eine bestimmte Andeutung, in der nachfolgenden Auf-
stellung des wirklichen Objectes der φρόνησις die ausreichende Weisung für
das Verständnis enthalten sein? Aber wenn ich nicht irre, fehlt nicht einmal
die vermisste speciellere Andeutung. Denn um die Definition ἐπιστήμη τῶν
δεινῶν χαὶ τῶν ϑαρραλέων in ihrer richtigen Bedeutung zu sichern, werden
LacHes. 207
Form gegebenen Zeichen nichts hinzugefügt hat, und das Er-
gebnis des Dialogs selbst die unabweisliche Folgerung aus der
hergestellten Disposition ist: so werden dadurch die Hauptvor-
würfe gegen den Laches beseitigt sein. Die Composition hat
eine Einfachheit und Durchsichtigkeit, dass man, wenn ein
anderer als Platon der Verfasser des Laches ist, nur wünschen
muss, es möchten von diesem namenlosen Verfasser sich noch
mehr Arbeiten erhalten haben; und das Ergebnis ist für den
aufmerksamen, mitdenkenden Leser ein vollkommen bestimmtes,
der Platonischen Lehre genau entsprechendes, in welchem nur
ein flüchtiges Haften an der Oberfläche einen Widerspruch zu
dem letzten Theile des Protagoras?) finden kann. Die „Glorifi-
eirung des Sokrates“ ?) ist also nicht unbegründet, wie Schaar-
durch die von Laches in der Form des Einwandes vorgebrachten Beispiele
solche Fälle zur Sprache gebracht, die den vorher zur Widerlegung der
φρόνιμος χαρτερία angewendeten durchaus analog sind, ja das erste Beispiel
(195 B ἰατρός) ist nahezu die Wiederaufnahme eines dort (192 D) angewen-
deten. Und ferner, während in der mit Nikias geführten Untersuchung die
Ausdrücke ἐπιστήμη τῶν δεινῶν, σοφία die herrschenden sind, so fehlt doch
die Anwendung des Wortes φρόνιμος nicht, 197 C ἀνδρεῖα δὲ (χαλῶ) τὰ φρόνιμα
περὶ ὧν λέγω. — Erwägungen dieser Art, die sich leicht noch weiter ins
einzelne verfolgen lassen, machen es mir unmöglich, mir die Auffassung
Zellers anzueignen, und bestimmen mich, die oben im Texte dargelegte un-
verändert beizubehalten. Dass in der schliefslich erwähnten Vergleichung
des Protagoras kein Gegengrund gegen meine Auffassung enthalten ist, habe
ich in den Bemerkungen zu diesem Dialog darzulegen versucht.
: ἢ Schaarschmidt S. 410: „—, womit sich der noch grölsere Übelstand
verbindet, dass die sokratische Definition der Tapferkeit aus dem Protagoras
mit den anderen Erklärungen dieser Tugend das Schicksal, widerlegt und
verworfen zu werden, theilt.“ Im letzten Theile des Protagoras wird er-
wiesen, dass auch die Tapferkeit auf Wissen beruht, dass sie eine ἐπιστήμη
τῶν δεινῶν χαὶ τῶν μὴ δεινῶν ist; es wird nicht gesagt oder angedeutet, dass
hiermit ihre vollständige Definition, zur Unterscheidung von andern Tugenden,
gegeben sei; nur auf die Nachweisung der allen Tugenden gemeinsamen
Abhängigkeit von dem Wissen kommt es an. Dass die Tapferkeit ἐπιστήμη
τῶν δεινῶν χαὶ τῶν μιὴ δεινῶν sei, wird im Laches nicht bestritten, sondern
nur, dass hiermit ihr specifischer Unterschied von andern Tugenden aus-
reichend bezeichnet sei.
3) Schaarschmidt Κ΄. 411: „Freilich liefern die Platonischen Gespräche
auch Idealisirung und Glorifieirung des Sokrates, aber immer so, dass Sokrates
eben durch seine formelle Kunst der Dialektik und den speculativen Gehalt
seiner Unterredungen als der grolse Philosoph dargestellt wird, während im
Laches zwischen dem ihm zuertheilten Lobe und seinem dürftigen Auftreten
208 LacHes.
schmidt behauptet; Sokrates führt wirklich von den irrigen oder 437
doch mangelhaften Vorstellungen über die Tapferkeit, wie die-
selben verbreitet sind und in den Worten des Laches und Nikias
ihren Ausdruck erhalten, zur Einsicht in das Wesen dieser Tu-
gend, wenn er auch nicht, wie für unaufmerksame Leser, die
Definition selbst schliefslich noch summirend ausspricht.
Zu dem aus Composition und Inhalt von Schaarschmidt ge-
führten Hauptbeweise, dass der Laches zu schlecht sei, um für
ein Werk Platons gelten zu können — eine Beweisführung, die
ich hoffe hiermit als verfehlt nachgewiesen zu haben —, kommt
bei Schaarschmidt nur wie ergänzend noch die Nachweisung,
dass der Laches voll sei von Entlehnungen, theils aus echt
Platonischen, theils aus anderen unechten Dialogen, so dass
wir so glücklich seien, unter diesen unechten selbst zu einer
chronologischen Folge zu gelangen. Man glaubt bei der Leetüre
dieser Vorwürfe über Entlehnungen den Athenäos in etwas ver-
änderter Maske neu belebt zu hören; wusste jener für alle Ge-
danken Platons andere Urheber nachzuweisen, so geschieht hier
das gleiche, um zu zeigen, dass die angeblich unechten Dialoge
sich nur aus den Schätzen des echten Platon versorgt haben.
Entlehnt aber sollen sein, um bei dem hervortretendsten stehen
zu bleiben, Gedanken, Personen und Ausdrücke. Dass Sokrates
über die Geistesbildung der Jünglinge den besten Rath ertheile,
ist entlehnt aus dem angeblich unechten Euthydemos; das Thema
der Tapferkeit stammt aus Protagoras; der Uebergang von irgend ἡ
einer anderen Frage über eine "Tugend zu der über ihr Wesen,
die Erwähnung von Lehrern der Tugend und die Bemerkung,
dass Sokrates nicht in der Lage gewesen, die Sophisten, welche
sich für Lehrer der Tugend ausgeben, zu hören, das alles ist eitel
Benutzung des ebenfalls unechten Menon. — Wenn Demosthenes
in seinen Philippischen Reden die gleichen Gedanken in mannig-
fachen Variationen zum Ausdruck bringt, so sieht jeder Leser
nur, welches die Grundsätze dieses Staatsmannes sind, es fällt
ein nicht zu lösender Widerspruch obwaltet, woran die dramatische Einheit
des Gespräches und damit der Glaube an dessen Platonische Abkunft schei-
tert. — Sonach wäre die Prosopographie des Gesprächs ebenso verfehlt, wie
dessen philosophischer Inhalt nichtig ist.“
438
Lachs. 309
keinem ein, daraus einen Verdacht der Unechtheit zu schöpfen ;
die wirklichen Entlehnungen, die wir in den Nachahmungen vor
uns haben, charakterisiren sich in ganz anderer Weise. Soll es
Platon nicht erlaubt sein, auf Gedanken, welche in dem Mittel-
punete der Sokratischen und seiner eignen Lehre stehen, auf die
Fragen, zu welchen die Culturverhältnisse seiner Zeit und seine
eigne Stellung zu ihnen führten, in mehr als einer seiner Schriften
einzugehen? Und von der bezeichneten Art ist ja doch alles,
was als Entlehnung zum Beweise der Unechtheit soll verwerthet
werden. — Was die Personen betrifft, so sollen Nikias und
Laches an den Dialog Euthydemos erinnern und den Platz der
beiden dort vorgeführten Sophisten Euthydemos und Dionysodoros
\
einnehmen (a. a. (Ὁ. δ΄. 411). Man muss es sich versagen, die
Unhaltbarkeit solcher Zusammenstellung stärker zu bezeichnen,
da Schaarschmidt doch zurückhaltender spricht und den Nikias
und Laches nur „gewissermalsen“ den Platz jener Sophisten
einnehmen lässt. Aber ganz evident sind Lysimachos und Melesias
aus Menon hergeholt (a. a. ©. δ. 412); denn dort wird erwähnt,
dass Aristides seinen Sohn Lysimachos zwar auf andern Gebieten
wohl unterrichten liefs, aber ihn nicht zu einem tüchtigen Staats-
manne bildete, und in dem gleichen Sinne wird nachher unter
andern Melesias, des T'hucydides Sohn, genannt; und diese Ent-
lehnung geschieht ungeschickt genug, denn die Vorwürfe gegen
Aristides und Thhucydides im Laches „enthalten einen Widerspruch
zu dem in Menon vorgebrachten“, und bei dem vorausgesetzten
„Verhältnis des Lebensalters des Lysimachos zum Sokrates“ hat
der Verfasser des Laches die Chronologie wenig beachtet. Ein
Widerspruch liegt nun gewiss darin nicht, dass dieselbe That-
sache, die Ruhmlosigkeit der Söhne berühmter Staatsmänner, in
anderer Weise vom Platonischen Sokrates, in anderer von diesen
Söhnen selbst verwerthet wird. Indem Sokrates zu jener 'That-
sache die Voraussetzung hinzunimmt, dass jene berühmten Staats-
männer den Wunsch hatten, ihre Söhne zu gleicher Bedeutung
zu bilden, und in der Lage waren, alle zu diesem Zwecke mög-
lichen Mittel anzuwenden, so folgert er, es müsse die Tugend
überhaupt nicht lehrbar sein; die Sohne selbst dagegen glauben
in der Thatsache ohne weiteres den Beweis zu ersehen, dass ihre
Väter über den Staatsgeschäften die Sorge für die Ihrigen ver-
Bonitz, Platonische Studien. 14
210 LacHes.
säumten. Eine chronologische Schwierigkeit bleibt allerdings,
nur trifft sie nicht das Lebensalter des Lysimachos im Verhältnis
zu dem des Sokrates, sondern das des Melesias; doch sind wir
bei derselben nicht im Stande, sie zu völliger Bestimmtheit zu
bringen, und würden selbst dann, wenn wir es könnten, nach
der Analogie zweifellos echter Platonischer Werke uns bedenken
müssen, daraus einen Schluss auf die Unechtheit des Dialoges
zu ziehen‘). Und wenn endlich das Auftreten des Lysimachos
und Melesias, zusammengehalten mit ihrer Erwähnung im Menon,
zu einem Zeichen der Entlehnung werden soll, so werden wir
gegen den Phädros oder das Symposion bedenklich werden müs-
sen, da in beiden die ängstliche Folgsamkeit des Phädros gegen
seinen Arzt in vollkommen gleicher Weise verspottet wird, ja
wie weit liegt es denn dann noch entfernt, zu dem 'Thrasymachos
der Republik den Keim im Phädros zu finden. — Sollen wir
nach diesen Beispielen die angeblichen Entlehnungen im sprach-
lichen Ausdruck noch in Betracht ziehen? Bei der angelegentlichen
Aufforderung zum Besuche findet sich im Laches wie im Eingange
der Republik zu dem positiven Ausdruck noch der negative μὴ
ἄλλως ποίει ἢ hinzugefügt, die Thatsache des Rückzuges bei Delion
4) Aristides war schon in der Schlacht bei Marathon (Plut. Arist. 5), es
ist daher ein chronologisch durchaus wahrscheinliches Verhältnis, dass der
älteste Sohn des Aristides, als solchen lässt uns ihn der grolsväterliche Name
439
voraussetzen, zu dem 469 oder 470 gebornen Sokrates im Verhältnis des -
Greises zu dem Manne stand. — Nicht das gleiche ergibt sich in Betreff
des Melesias. 'Thucydides besals noch im Jahre 444 eine solche Bedeutung
im Staate, dass seine Verbannung als eine wesentliche Machtzunahme für
Perikles betrachtet werden konnte. Es ist dabei immerhin möglich, dass er
um diese Zeit schon in hohem Alter stand und Melesias einige Jahre älter
war als Sokrates. Aber jedenfalls liegt darin, dass des Aristides und des
Thucydides älteste Söhne wie ungefähre Altersgenossen eingeführt werden,
eine chronologische Schwierigkeit.
5) Schaarschmidt $. 413, „Wie schon Ast bemerkt, erinnert die Weise,
wie Lysimachos sich zu Anfang 181 B, C mit freundschaftlichen Vorwürfen
an Sokrates wendet, an den Kephalos in der Republik, besonders 328 C, D,
wobei das χρῆν μὲν — μὴ ἄλλως ποίει, ἀλλὰ σύνισϑι wörtlich hinüberge-
nommen ist. Doch wie albern und verworren, setzt Ast mit Recht hinzu,
erscheint das Geschwätz des Lysimachos gegen die schöne und heitere Red-
seligkeit des alten Kephalos.“ Wenn Ähnlichkeit der Situationen zu einem
Beweise der Entlehnung umgestempelt wird, so wird es auch bei den von
Schaarschmidt dem Platon gelassenen Dialogen nicht an Schwierigkeiten
410
LacHes. 211
und der dabei von Sokrates bewiesenen Unerschröckenheit wird
mit ähnlichen Worten im Laches wie im Symposion erwähnt;
das Bild der unruhig bewegten See für das Schwanken und Wogen
der Zweifel, der Jagd für die Unablässigkeit im Verfolgen eines
Zieles der Untersuchung, alle diese Ausdrucksweisen des Laches
finden sich auch in Platonischen Werken, welche Schaarschmidt
als echt bestehen lässt. Führwahr, ein Schriftsteller, der auf die
Wahrung seines Eigenthums bedacht sein will, wird sich hüten
müssen in verschiedenen Schriften dieselbe Sache mit fast glei-
chen Worten zu erwähnen, etwa in verschiedenen Schriften von
dem Sturme der Leidenschaften, dem Schwanken des Zweifels,
dem schlüpfrigen Boden einer Untersuchung u. a. zu sprechen;
er wird sich dadurch in den Verdacht bringen, sein eigner Nach-
ahmer zu sein.
Die angeblichen Entlehnungen des Laches aus anderen
Platonischen Dialogen können so wenig wie die vermeintliche
Leerheit seines Inhaltes und Mangelhaftigkeit seiner Composition
den Beweis herstellen, dass der Dialog Laches des Platon un-
würdig sei und nicht könne von ihm verfasst sein. Dass für
den Laches nicht ein positiv jeden Zweifel ausschlielsendes Zeug-
nis des Aristoteles vorhanden ist, darin hat allerdings Schaar-
schmidt Recht; nur ist dies eben nichts neues, und neu nur die
Wendung, dass der blofse Mangel ausdrücklicher Beglaubigung
schon zu einem Gewichte in der Wagschale des Zweifels gemacht
wird. Die bekannten, mit dem Inhalte des Laches zusammen-
treffenden Bemerkungen der Aristotelischen Ethik können sich
blofs auf verbreitete Ansichten, sie können sich auf das in einer
Schrift vorkommende beziehen. Das letztere ist nach Aristoteles’
Weise das wahrscheinlichere; unter dieser Voraussetzung und
der weiteren, dass der Laches, mit dem die Bemerkungen des
fehlen. Albern und verworren und ein blofses Geschwätz sind die Worte
des Lysimachos nicht; dass in die des Kephalos noch ein anderes Ethos
hineingelegt ist, entspricht eben der Charakteristik des Kephalos, die von
der des Lysimachos durchaus verschieden ist. Zusammenstimmend sind nur
die fünf, nicht aufeinanderfolgenden Worte, welche in solchem Falle kaum
zu umgehen waren, χρῆν und σύνισϑι, und die bei angelegentlichen, in herz-
lichem Tone ausgesprochenen Aufforderungen übliche Gesprächsformel μὴ
ἄλλως ποίει, aufser Rep. I 328 D z. B. II 369 B. Phäd. 117 A.
14}
91Ὁ Lacuss.
Aristoteles genau zusammentreffen,, die fragliche Schrift ist, folgt
immer nur, dass zur Zeit der Abfassung der Nikomachischen
Ethik der Dialog Laches bereits vorhanden war, aber allerdings
noch nicht, dass Aristoteles den Laches als eine Platonische
Schrift betrachtet hat. Aber gegen diejenige Wendung, welche
Schaarschmidt (a. a. ©. 8. 406) den Aristotelischen Bemerkungen
zu geben sucht, dass vielleicht aus ihınen der Verfasser des Laches
erst geschöpft habe, muss man sich als gegen einen. völlig
unerweisbaren Gedanken verwahren. Wenn Aristoteles sagt τὸν
φόβον ὁρίζονται προσδοχίαν xaxod Eth. Nic. II 9. 1115%9, und es
dagegen in Laches heilst δέος γὰρ εἶναι προσδοχίαν μέλλοντος χαχοῦ
195 B, so ist das an sich nicht erforderliche μέλλοντος nicht ein
P’leonasmus, „der einem schärferen Denker nicht zuzutrauen ist“
und der daher den Nachahmer verräth; sondern es wird nur be-
reits in dem Ausdruck der Definition das allerdings im Begriffe
der προσδοχία enthaltene Moment bezeichnet, welches in der
unmittelbar folgenden Erörterung für den Gegensatz der zukünf-
tigen und der gegenwärtigen Uebel erforderlich ist. — Ja noch
mehr, die Erklärung des Laches, dass die Tapferkeit sei ἢ τῶν
δεινῶν χαὶ ϑαρραλέων ἐπιστήμη 195 A, 196 D, 199 C, soll nur eine
in die Sokratisch - Platonische Sprache gemachte Rückübersetzung
der Aristotelischen Definition sein, dass ἢ ἀνδρεία μεσότης ἐστὶ
περὶ φόβους χαὶ ϑάρρη. Diese Mischung von Aristötelischem
und Platonischem Eigenthume ergab dann, sagt Schaarschmidt,
„einen so getrübten Ausdruck, dass statt des richtigen Gegen-
satzes von Furcht (φόβοι) und Kühnheit (ϑάρρη) die unklare
Entgegensetzung von furchtbar (δεινά) und kühnlich (dappakea )
erfolgt.“ Getrübt und unklar ist der Ausdruck nur in der fal-
schen deutschen Uebersetzung, klar und rein der griechische
Ausdruck; denn ϑαρραλέος ist nicht nur die Eigenschaft des
ϑαρρῶν, sondern auch der Dinge ἅ τις ϑαρρεῖ. So findet sich
ϑαρραλέος von Homer an gebraucht, so findet es sich oft genug
in den von Schaarschmidt nicht angegriffenen Platonischen
Schriften. ἢ Es ist gewiss sehr „kühnlich“, dass Schaarschmidt
6), Unbegreiflich ist, dass Schaarschmidt der vollkommen gleiche Ge-
brauch von ϑαρραλέος im Protagoras entgangen ist. Wenn in dem letzten
Abschnitte desselben sonst regelmäfsig δεινά und pi) δεινά einander entgegen-
441
Hi
LAcHEes. Sales,
seine Unkenntnis dieser bekannten 'Thatsache des griechischen
Sprachgebrauches dem Verfasser des Laches zur Schuld anrech-
τῷ
net, und es wird erlaubt sein, nach diesem Beispiele die allge-
meine Rüge Schaarschmidts gegen die Sprache des Dialogs
Laches 7) so lange unbeachtet zu lassen, bis sie zu vollkommner
Bestimmtheit präcisirt ist.
Es ist weder schwer noch neu, gegen die Composition des
Laches in einer Hinsicht Tadel auszusprechen: die Einkleidung
über den Werth der Hoplomachie nimmt einen unverhältnis-
mälsig grolsen Umfang ein im Vergleich zu derjenigen begriff-
lichen Untersuchung, zu der sie doch unverkennbar hinführen
soll. Damit man sich bedenke, aus einer solchen, an sich rich-
tigen Bemerkung Folgerungen zu ziehen, möchte ich schliefslich
noch auf zwei Gesichtspuncte hinweisen. Erstens, es ist für
uns nicht mehr zu ermitteln, welchen speciellen Anlass eine
derartige von Platon gewählte Einkleidung hat; wir können
daher die Möglichkeit nicht im voraus zurückweisen, dass die
Ausführlichkeit in dem, was für die begriffliche Untersuchung
blofse Einkleidung ist, für Platon durch besondere Umstände
motivirt war. Zweitens, man hebt Mängel der Composition in
denjenigen Dialogen hervor, bei denen die Unvollständigkeit der
Beglaubigung eine Bestreitung des Platonischen Ursprungs er-
möglicht; sie werden wenig oder nicht berührt bei Werken, deren
Platonischer Ursprung nicht kann in Zweifel gezogen werden.
Es ist üblich, den Phädros auch in Betreff seiner Composition
zu bewundern ; ist es denn aber wirklich tadellos, dass das Ver-
hältnis des zweiten Theiles zu dem Inhalte der Reden des
gesetzt werden, z. Ὁ. 360 C, D, so wird einmal dem pr, δεινά das synonyme
ϑαρραλέα substituirt, 359 U πότερον οἱ μὲν δειλοὶ ἐπὶ τὰ θαρραλέα ἔρχονται, οἱ
δὲ ἀνδρεῖοι ἐπὶ τὰ δεινά, und dies ἐπὶ τὰ ϑαρραλέα wird nachher umschrieben
durch ἐπὶ & 1ε ϑαρροῦσιν 359 1). Dass dieser Gebrauch bei Platon nicht auf
diesen einen Beleg aus dem Protagoras beschränkt ist, weist schon Ast im
Lexikon nach, indem er Rep. V 450 E, Legg. XII 959 B mit Recht anführt.
Die gleiche Gebrauchsweise liest man schon im Homer Α΄ 229 μᾶλλον Yarrwpr)
χαὶ ϑαρσαλεώτερον ἔσται, dieselbe Bedeutung von ϑαρσαλέος erkennt man in
dem adverbiellem Gebrauche bei Thucydides 2, 51 ἐν τῷ ϑαρσαλέῳ εἶναι.
7) 8. 414: „Auch die Sprache des Dialogs lässt manches zu wünschen
übrig und entfernt sich, auch abgesehen von der Berücksichtigung des ari-
stotelischen Gebrauchs, vielfach von der der echt Platonischen Werke.“
214 Lachs.
ersten T'heiles, namentlich zu der umfassenden letzten, nur aus
ein paar Andeutungen zu erschlieisen ist? Oder pflegt etwa der
Republik gegenüber der Vorwurf betont zu werden, dass der Um-
fang und Inhalt des Gespräches die mit Recht bewundeıte Form der
Einkleidung ganz durchbricht? Hält man sich einmal berechtigt,
aus der Form der Compositon Schlüsse für oder gegen Platons
Autorschaft zu ziehen, so ist doch mindestens die Anwendung
eines gleichen Malses erforderlich, wenn überhaupt von Kritik
und nicht von blofsem Belieben die Rede sein soll.
ZUR ERKLÄRUNG DES DIALOGS
EUTHYPHRON.
Schleiermacher hat in seinem das Verständnis Platons neu
begründenden Werke sich ein besonders hervortretendes Verdienst
um die kleineren Dialoge Platons erworben ; war man sonst ge-
wohnt, die Bemerkung Ciceros (Acad. I. 13 “Platonis in libris
nihil adfirmatur et in utramque partem multa disseruntur, de
omnibus quaeritur, nihil certi dieitur) jedenfalls für diese klei-
neren Schriften Platons gelten zu lassen, so zeigt Schleiermacher,
dass deren Resultatlosigkeit blolser Schein ist, dass das Wort
der Lösung zwar nicht zur Bequemlichkeit für unaufmerksame
Leser am Schlusse ausdrücklich ausgesprochen, wohl aber dem
nachdenkenden Leser der Weg der Lösung bestimmt vorgezeich-
net ist. Eine Ausnahme hiervon macht Schleiermacher beim
Euthyphron; es finden sich, schreibt er, in demselben nicht
solche indirecte Andeutungen, welche den aufmerksamen Leser
hinreichend mit der Ansicht des Verfassers bekannt machen.
Wenn dieser Umstand leicht den Verdacht erregen könne, ob
nicht der Euthyphron zu denjenigen Gesprächen gehöre, die dem
Platon abzusprechen sind, so sucht doch Schleiermacher die nach
seiner Ueberzeugung nicht abzuleugnenden Mängel aus der Ver-
flechtung des wissenschaftlichen Inhalts des Dialogs mit seiner
apologetischen Tendenz und aus der Eilfertigkeit der Abfassung
in der Zeit der Anklage des Sokrates zu erklären, und wagt be-
sonders deshalb nicht das Verdammungsurtheil über die Schrift
entscheidend, auszusprechen, weil wir keine Spur haben von
einem Sokratiker, der so Platonisch noch als dieses Gespräch ist,
210 EvrmyPHRon.
componirt und geschrieben hätte, und in die spätere Zeit eigent-
licher Nachahmung die Schrift wohl nicht zu setzen ist. Die
vorsichtigen Zweifel Schleiermachers haben nicht nur bei den
Männern, welche den schriftlichen Nachlass Platons auf einen
erheblich kleineren Umfang zu beschränken suchten, sondern
auch bei besonnenern Forschern zu unumwundener Verwerfung
geführt); auf der anderen Seite wird von den Gelehrten, welche
den Dialog als Platonisch betrachten (z. B. Hermann, Steinhart,
Susemihl), grofsentheils eine Künstlichkeit der Deutung?) zum
Auffinden seiner Absicht und seines Ergebnisses aufgewendet,
die mir weder mit Platonischer Weise noch mit der einfachen
Composition dieses kurzen Dialogs vereinbar scheint. Ich hoffe,
es lässt sich aus der blofsen Vergegenwärtigung des Ganges des
Gespräches, ohne irgend etwas in dasselbe willkürlich hineinzu-
tragen, die Absicht Platons mit Sicherheit erkennen und erweisen.
Vor der Halle des Basileus treffen Sokrates und Euthyphron
zusammen, jener begriffen in der Voruntersuchung der gegen
ihn erhobenen Anklage der Unfrömmigkeit, dieser um seinen
eignen Vater wegen fahrlässiger Tödtung anzuklagen. Sokrates
erzählt heiter scherzend den Inhalt der gegen ihn erhobenen
Anklage. Euthyphron theilt erwidernd den Rechtsfall mit, der
ihn zur Anklage bestimmt. Sein Vater hatte auf Naxos einen
Tagelöhner, der in Trunkenheit einen Genossen getödtet, in
Fesseln gelegt und bei dem Exegeten in Athen um Bescheid
für diesen Fall angefragt; in der Zwischenzeit aber kam der
Mörder im Gefängnisse in Folge der Vernachlässigung, die er
erfuhr, selbst um. Kuthyphron erhebt nun wegen der unvor-
sätzlichen 'Tödtung die Anklage gegen seinen Vater. Dem Be-
!) Die Stellung der verschiedenen Forscher auf diesem Gebiete zur Frage
über die Echtheit des Euthyphron bezeichnet Zeller, Griech. Phil. 3. Aufl.
II. 1. 8.418, 1. Nur hätte Überweg nicht zu den Vertheidigern der Echt-
heit gestellt werden sollen, da er Plat. Schr. S. 251 die Spuren des Fälschers
nachweist und sogar über seinen Namen eine Vermuthung ausspricht, und
Gesch. ἃ. Phil. 4. Aufl. I. 8. 123 den Euthyphron wenigstens zu den „nicht
völlig als echt gesicherten Dialogen“ rechnet.
>), In noch höherem Malse trifft dies die Abhandlung „Über Platons
Euthyp'ron“ von Rud. Schultze (Progr. Wittstock 1870,, in deren Schluss-
abschnitte überdies sich einige erhebliche Misverständnisse Platonischer Leh-
ren finden,
EUTHYPHRON. 217
denken des Sokrates, dass solche Handlungsweise gegen den
eignen Vater unfromm sei, entgegnet Euthyphron mit der
zweifellosen Sicherheit eines Mannes, der als Seher aus der
Frömmigkeit seinen Lebensberuf macht. Darum entschliefst sich
Sokrates, der bisher auf diesem Gebiete als Autodidakt dem
Zufalle sich überlassen habe und dadurch der Anklage des Me-
letus verfallen sei, bei Euthyphron in den Unterricht zu gehen,
um so, wenn er auch fernerhin seinem Ankläger Anstols geben
sollte, die Anklage von sich auf seinen Lehrer, den Euthyphron,
abzulenken. Euthyphron möge also erklären, worin das Wesen
von fromm und unfromm bestehe (τί φὴς εἶναι τὸ ὅσιον χαὶ τὸ
ἀνόσιον; p. 5 D). Trotz der vorher ausgesprochenen Forderung,
es solle das in allen Fällen gleichmälsige Wesen der Frömmig-
keit angegeben werden, antwortet Euthyphron auf die Frage
zunächst durch Anführung eines einzelnen Falles: fromm sei so
zu handeln, wie er es jetzt thue, nämlich den Uebelthäter an-
zuklagen, auch wenn es der eigene Vater sein sollte; er beruft
sich hierfür auf das Verfahren des Zeus gegen seinen eigenen
Vater. An solche Kämpfe und Gewaltsamkeiten unter den Göt-
tern zu glauben, von denen Euthyphron noch auffallendere Bei-
spiele beizubringen bereit ist, erklärt sich Sokrates unfähig und
vermuthet, dass eben dies den Anlass zu der gegen ihn erhobenen
Anklage gegeben habe. Aber abgesehen von diesem fraglichen
Punet, die Antwort des Euthyphron hat nur einen einzelnen
Fall getroffen, nieht das allgemein giltige Wesen der Frömmig-
keit. Dieser begründeten Zurechtweisung folgend definirt nun
Euthyphron das Fromme als das Gottgefällige (ἔστι τοίνυν τὸ μὲν
n-
τοῖς ϑεοῖς προςφιλὲς ὅσιον, τὸ δὲ μὴ προςφιλὲς ἀνόσιον p 6 E).
Aber, entgegnet Sokrates, unter den Göttern findet sich nach
Euthyphrons eigner Erklärung Streit; Streit aber beruht unter
Göttern wie unter Menschen auf einem Gegensatze der Über-
zeugungen im Gebiete des sittlichen Urtheils. Indem nun einem
jeden nur das lieb und werth ist, was er für gut, schön, edel
hält, so ergibt sich aus der durch den Streit der Götter bewie-
senen Verschiedenheit ihres sittlichen Urtheils, dass nicht dasselbe
allen Göttern lieb ist, sondern was einigen lieb und wohlgefällig,
dasselbe andern verhasst ist. Die Aufgabe, die hiernach mit
Recht an Euthyphron zu stellen ist, zu zeigen, woran er denn
218 EvrHuYPHRoN.
erkenne, dass seine Handlungsweise die Billigung aller Götter
habe, erlässt Sokrates dem ausweichenden Euthyphron und hilft
selbst zur Berichtigung der Definition in folgende Form: fromm
sei dasjenige, was allen Göttern wohlgefällig sei (τοῦτο εἶναι τὸ
ὅσιον, ὃ ἂν πάντες οἱ ϑεοὶ φιλῶσι, χαὶ τὸ ἐναντίον, Ὁ ἂν πάντες οἱ
sol υἱσῶσιν, ἀνόσιον p. 9 E). Aber bei dieser logisch berich-
tigten Form der Definition erhebt sich die weitere Frage, ob
denn die T'hatsache, dass etwas von den Göttern geliebt wird,
der Grund ist es als fromm anzuerkennen, oder umgekehrt, der
Charakter einer Handlung als einer frommen und sittlich reinen
die Ursache davon ist, dass sie von den Göttern geliebt wird.
Die Vergleichung der analogen Fälle entscheidet für das letz-
tere; das Geliebtwerden von den Göttern ist nur etwas, was dem
Frommen in Folge einer anderweit hinzutretenden Beziehung
widerfährt, ein πάϑος, eine abgeleitete Eigenschaft, aber nicht
das Wesen, die οὐσία des ὅσιον. Der Bestimmung darüber, worin
das Wesen der Frömmigkeit und sittlichen Reinheit bestehe,
sind wir durch die Zurückführung auf ein blofses Aceidens der-
selben, die Gottgefälligkeit, um keimen Schritt näher gerückt
(p- 11 B).
Den Klagen des Euthyphron, dass Sokrates alles, was Euthy-
phron als fest und unerschütterlich aufstelle, in Schwanken
bringe und in Bewegung setze, gibt dieser dahin nach, dass er
nun selbst versucht zu definiren, was Frömmigkeit sei. Den
Ausgangspunet des Sokrates, dass Frömmigkeit ein Theil der
Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit sei (τὸ ὅσιον μέρος τοῦ διχαίου
Ρ. 121), δίχαιον in dem bekannten weiteren Sinne, und μέρος in
seiner logischen Bedeutung), erkennt Euthyphron unbedenklich
als richtig an. Es kommt also darauf an, zu bestimmen, wel-
cher 'Theil der Rechtschaffenheit die Frömmigkeit ist. Unver-
kennbar nun unterscheiden wir, ob sich die Rechtschaffenheit
erweist in der den Menschen oder in der den Göttern zuzu-
wendenden Sorge (depareta), und bezeichnen die letztere als
Frömmigkeit. Bei der den Menschen gewidmeten Sorge erweist
sich die Rechtschaffenheit dadurch, dass sie auf das Beste der
behandelten gerichtet ist; den Göttern gegenüber aber kann
nur in dem richtigen Dienste die Rechtschaffenheit des mensch-
Jiehen Verkehres liegen. Jeder Dienst nun setzt eine Werk-
EurnyPrmxox. 219
thätigkeit voraus, für deren Zwecke er das Mittel ist. Wollen
wir also das Wesen der Frömmigkeit bestimmen, so müssen wir
angeben können, welches denn das Werk der Götter ist, zu
dessen Ausführung sie die Menschen in Dienst nehmen. Dieser
bestimmt gestellten Frage des Sokrates weicht Euthyphron zu-
nächst durch allgemeine Wendungen und, da diese nicht An-
nahme finden, durch die Erklärung aus, es würde zu weit füh-
ren, hierauf genaue Antwort zu geben; Frömmigkeit bestehe
eben, kurz gesagt, darin, dass man es verstehe, im Opfern und
Beten den Göttern wohlgefälliges zu thun. Da nun in diesem
Beten und Opfern, das heilst in diesem Verkehre des Forderns
und des Gebens, den Göttern doch nichts gegeben werden kann,
was ihnen nothwendig oder nützlich wäre, sondern die Gaben
an die Götter nur Ehrengaben sein können zu der Götter Wohl-
gefallen, so ist die Erklärung im Kreislaufe zu der vorher wider-
legten, fromm sei das Gottgefällige, zurückgekehrt, und Sokrates
sieht sich somit in der Hoffnung getäuscht, durch Euthyphron
über das Wesen der Frömmigkeit Belehrung zu erhalten.
Dies der einfache Gang und der wesentliche Gedankengehalt
des kurzen Dialoges. Die Zweigliedrigkeit des Gespräches bie-
tet eine, nicht blofs die äulsere Form, sondern auch das Ge-
dankenverhältnis der beiden Glieder treffende Vergleichung mit
Laches, welche ich als zur Sache nicht nothwendig gehörend,
übergehe. Die erste Reihe der Definitionen erweist sich durch
ihren Inhalt wie durch die Person, der sie zugeschrieben wer-
den, als Kritik der verbreiteten Ansichten über das Wesen der
Frömmigkeit. Ausgegangen wird wie gewöhnlich in der dem
Euthyphron gleichartigen Klasse Platonischer Dialoge von dem
logischen Fehler, dass der einzelne Fall, diese einzelne für
fromm gehaltene Handlung, an die Stelle des allgemeinen Be-
griffes gesetzt ist. Dieser Fehler wird nicht nur, wie dies jedes-
mal geschieht), dazu verwendet, die Sokratische Forschung der
3) Dass Schaarschmidt, Samml. Plat. Schr. 5. 394, in diesem von dem
Verfasser des Dialoges hervorgehobenen Gegensatze des Einzelnen und des
einheitlichen Begriffes, unter Verweisung auf ähnliche Stellen, welche sich
erheblich vermehren lassen, ein Zeichen des Nachahmers und Fälschers fin-
det, bedarf wohl keiner Widerlegung. Wenn in dem ὁρίζεσϑαι χαϑόλου die
epcchemachende philosophische That des Sokrates liegt, so ist es nur in Ord-
220 EurnuyYPHRonN.
Begriffsbestimmung in helleres Licht zu setzen, als eine blols
theoretische Erörterung es vermöchte, sondern zeigt zugleich an
diesem einzelnen Falle, wie in den verbreiteten unklaren An-
sichten selbst Handlungen sittlicher Verwerflichkeit oder Zwei-
deutigkeit durch den ehrenden Namen der Frömmigkeit ver-
schleiert werden. Unter Beseitigung dieses logischen Fehlers
spricht sodann Euthyphron für die Frömmigkeit diejenige Er-
klärung aus, welche gewiss mit ihm jeder Hellene würde gege-
ben haben und welche eben so zu allen Zeiten auf unmittelbare
Zustimmung rechnen darf!): fromm sei das Gott Wohlgefällige.
Der vorher von Euthyphron nachdrücklichst geltend gemachte
Glaube an Streit und Kampf unter den Göttern gibt den Anlass,
diese Definition dahin zu modificiren, es reiche nicht aus, dass
eine Handlung einem der Götter wohlgefällig sei; sondern sie
müsse die Billigung aller Götter haben, um für fromm erachtet
zu werden. Wir legen in diesen Gang nichts fremdartiges hin-
ein, wenn wir sagen, dass dadurch die Definition von den Zu-
fälligkeiten befreit wird, welche in dem speciellen Inhalte irgend
welcher volksthümlichen religiösen Vorstellungen liegen; es würde
ja auf dasselbe hinauslaufen, ob man ὅσιον erklärt als das ὃ av
πᾶσι τοῖς ϑεοῖς προςφιλὲς ἡ oder ὃ ἂν τῷ ϑεῷ προςφιλὲς n- Erst
gegen die so von anhaftenden Zufälligkeiten gereinigte Definition
richtet sich der entscheidende Gegensatz des Sokrates durch die
nung, dass sein Schüler Platon, wo er von den verbreiteten Ansichten zur
Einsicht in das Wesen zu führen sucht, seinen Sokrates den Unterschied
des Inhaltes des Begriffes von seinem Umfange immer von neuem hervor-
heben lässt. Beachtenswerth ist vielmehr, dass in den Dialogen, welche
trotz Schaarschmidts Verdammungsurtheil ihren Piatonischen Namen wohl
bewahren werden, dieser im wesentlichen gleiche Gedankengang immer wieder
in eigenthümlicher Weise für den besonderen Zweck der jedesmaligen Unter-
suchung verwendet ist.
') Die obige, schwerlich zu bestreitende Bemerkung möge zugleich als
Entgegnung angesehen werden gegen die Behauptung Schaarschmidts, die
Unerheblielkeit der Irrthümer, gegen welche sich die Kritik im Euthyphron
richte, sei ein Zeichen seines unplatonischen Ursprungs. „Es sind ja nicht
erhebliche Irrthümer, die hier widerlegt, nicht alte oder neue Sophismen,
die als solche dargethan werden, kurz nicht eine sachliche Kritik, welche
sich an die Persönlichkeiten anknüpfte, sondern eine rein die Person
des Euthyphron treffende, auf die es für wissbegierige Leser doch
wahrlich nicht ankam.“ a. a. Ὁ. 8. 392.
ΕἰΤΗΥΡΗΝΟΝ. 221]
Nachweisung, dass sie leer ist; sie bezeichnet nicht das We-
sen des ὅσιον, sondern nur eine aus seinem vorausgesetzten
Wesen hervorgehende Consequenz: das sittlich Reine und Hei-
lige darf auf die Billigung der Götter oder des göttlichen Wesens
rechnen.
Dieser Leerheit der Definition kann nur dadurch begegnet
werden, dass, wie in der zweiten Gedankenreihe geschieht, die
Frömmigkeit sogleich vom Anfauge an unter den Begriff der
Sittlichkeit subsumirt wird; denn in dieser allgemeinen Bedeu-
tung ist, wie schon vorher bemerkt wurde, δίχαιον nach grie-
chischem Sprachgebrauche zu verstehen, wenn ὅσιον als μέρος
τοῦ δικαίου bezeichnet wird p. 12 D. Die bereitwillige Zustim-
mung des Euthyphron hierzu, welche das Gespräch voraussetzt,
ist durch die im Griechischen üblichen Verbindungen δίχαιον χαὶ
ὅσιον, νόμιμον χαὶ ὅσιον hinlänglich motivirt. Die Anwendung
des biegsamen, in seiner Mehrdeutigkeit für uns kaum über-
setzbaren Wortes θεραπεία führt leicht zu der Anerkennung des
Satzes, dass Frömmigkeit diejenige Handlungsweise ist, durch
welche der Mensch zum Organe der göttlichen Thätigkeit wird.
Gegen diese Gedankenentwicklung bringt Sokrates an keiner
Stelle irgend ein Bedenken vor; der blofse Umstand, dass er
selbst die in Frage kommenden Erklärungen aufgestellt hatte,
würde an sich, wie andere zweifellos Platonische Dialoge bewei-
sen, einen solchen Gang nicht ausschliefsen. -Wir sind also
berechtigt, in dieser Erklärung des Verfassers eigne Überzeu-
gung zu erkennen. »ie bedarf, um zu vollständiger Bestimmt-
heit zu gelangen, noch der Beantwortung der Frage, was denn
der Inhalt oder der Zweck der göttlichen Thätigkeit sei, für
welche dienendes Werkzeug zu sein das Wesen der menschlichen
Frömmigkeit ausmache. Wie Platon diese Frage, vor deren
Beantwortung er in charakteristischer Weise den Euthyphron
ausweichen lässt, selbst beantworten würde, ist aus unzweideu-
tigen Äufserungen in anderen seiner Schriften mit Sicherheit zu
erschliefsen. Wollte man es selbst noch als zweifelhaft betrach-
ten, was mir nicht zu bezweifeln scheint, dass Platon den Be-
griff des göttlichen Wesens mit der ἰδέα τοὺ ἀγαϑοὺ identificirt,
so steht doch unerschütterlich der bekannte Satz im 'limäos,
wo als das Wesen der Gottheit, aus welchem die Weltordnung
222 KUurHYPHRON.
erklärt werden soll, nichts anderes angegeben wird, als ἀγαϑὸς ἦν,
und eben so unerschütterlich die ausführliche Erörterung im
zweiten Buche der Politie, wo gegenüber den in den Dichtun-
gen ausgesprochenen herabwürdigenden Volksmeinungen über
die Götter die Überzeugung zum Ausdruck gebracht wird, dass
absolute Heiligkeit das Wesen der Gottheit sei (χάλλιστος xal
ἄριστος ὧν... μένει ἀεὶ ἁπλῶς ἐν τῇ αὑτοῦ μορφῇ) und nichts an-
deres als das Gute auf die göttliche Causalität zurückgeführt
werden dürfe (μὴ πάντων αἴτιον τὸν ϑεὸν ἀλλὰ τῶν Ayadav). Er-
gänzen wir auf diese Weise aus Platonischem Eigenthume den
Dialog an der Stelle, wo sein Gang charakteristisch unter-
brochen wird, so gelangen wir zu der Definition, dass Frömmig-
keit nichts anderes ist als die vollendete Sittlichkeit, nur unter
der Form, dass sich der Mensch bewusst ist, hierdurch das die-
nende Organ für das göttliche Wirken zu sein. Als den Sinn
Platons richtig treffend bewährt sich diese Auffassung durch Er-
wägung folgender 'Thatsachen. Wo Platon nachweisbar den
üblichen Ansichten folgt (z. B. im Protagoras), da zählt er unter
den verschiedenen Äufserungen menschlicher Sittlichkeit, den
einzelnen "Tugenden, die Frömmigkeit mit auf; dagegen thut er
derselben keine Erwähnung, wo er selbst nach eigener Überzeu-
gung den Begriff der Tugend nach den verschiedenen Richtun-
gen ihrer Äufserung gliedert (z.'B. in der Politie), und beweist
hierdurch, dass ihm die Frömmigkeit nicht eine einzelne, etwa
der Besonnenheit oder der Gerechtigkeit zu eoordinirende Tu-
gend ist. Dagegen das gesammte Wesen der Sittlichkeit be-
zeichnet Platon einerseits als das den Willen nothwendig be-
stimmende Wissen des Guten, anderseits als eine Verähnlichung
mit dem göttlichen Wesen und ein dienendes Sichanschlielsen
an dasselbe, ὁμοίωσις τῷ dew, ἕπεσϑαι τῷ, ϑεῷ, und dies selbst in
Dialogen (z. B. 'Theätetos), denen man nicht eine blofs populäre
Ausdrucksweise zuschreiben wird, er ıdentificirt also deutlich
‚den richtigen Begriff der Frömmigkeit mit dem der gesammten
Sittlichkeit.
Man wird schwerlich in Zweifel ziehen können, dass die
im bisherigen dargelegte Kritik der üblichen Ansichten über
Frömmigkeit, sowie der schlielslich gewonnene Begriff der Fröm-
migkeit Platonisch seien, oder dass dieses positive Ergebnis als
=
ö BUTHYPHRON. 223
ein ausreichender wissenschaftlicher Inhalt des kurzen Dialoges
zu betrachten sei. Aber das lässt sich mit einem Scheine des
Rechts einwenden, dass eben das positive Ergebnis nicht aus
diesem Dialoge, sondern durch Ergänzung aus anderen Plato-
nischen Werken gewonnen sei, also keinen Anspruch habe, für
eine Auslegung dieses Dialoges zu gelten; in ihm fehlten eben,
wie Schleiermacher schreibt, der skeptischen Behandlung die in-
direeten Andeutungen, ein Mangel, der sich vielleicht aus der
Eilfertigkeit der Abfassung oder aus dem Überwiegen der apo-
logetischen Tendenz erklären lasse. Ich kann diesen Einwand
nicht als begründet änsehen,; denn jene indirecten Andeutungen
finden sich, scheint mir, in diesem Dialoge nicht minder als in
den anderen mit ihm vergleichbaren. Zweimal lässt der Ver-
fasser den frommen Euthyphron einer bestimmt gestellten, in
den Bereich des von ihm beanspruchten Wissens gehörigen Frage
auf eine dem Leser besonders kenntlich gemachte Weise aus-
weichen, gewiss doch zum Zeichen, dass in der durch diese
Frage eingeschlagenen Richtung der Gedankengang fortgesetzt
werden mülste, um zur Lösung der Aufgabe zu gelangen.
Euthyphron hat (p. 8 ΕἸ die Überzeugung ausgesprochen, dass
die von ihm jetzt unternommene Handlung gewiss die Billigung
aller Götter habe. Der durch diese Versicherung vollkommen
berechtigten Frage des Sokrates, woran er denn erkenne (τί σοι
τεχμήριον), dass diese Handlungsweise den Beifall aller Götter
habe, weicht Euthyphron aus, weil ihre Beantwortung zu weit-
läufig sein würde (οὐχ ὀλίγον ἔργον ἐστί) ; in der Frage selbst
liegt die Forderung, dass das Wesen des ὅσιον an sich zu be-
stimmen ist, so dass sich daraus der Beifall der Götter als eine
Consequenz ergibt, nicht aber aus dem behaupteten oder voraus-
gesetzten Beifall der Götter ein Urtheil über die Sittlichkeit der
betreffenden Handlung erschlossen werden kann. Mit demselben
Vorwande ὅτι πλείονος ἔργου ἐστί (p. 14 B), sogar unter aus-
drücklicher Zurückweisung auf den vorigen, eben erwähnten
Fall, weicht Euthyphron da aus, wo er nach dem Inhalte-und
Zwecke der göttlichen Wirksamkeit gefragt ist; noch deutlicher
als im vorigen Falle liegt vor, dass in dieser Richtung der Ge-
dankengang zu verfolgen, diese Frage zu beantworten ist, um
zum Abschlusse einer giltigen Begriffsbestimmung der Frömmig-
224 EvumuyPpmRonN.
keit zu gelangen®). Die Ergänzung nun, die hier erforderlich
ist, habe ich allerdings im obigen aus anderen Dialogen Platons _
entlehnt, aber nur vorläufig der Abkürzung wegen; der Weg sie
zu finden, ıst von dem Verfasser ın der ersten Hälfte des Dia-
loges selbst hinreichend angedeutet. Dem unverhohlenen Glau-
bensbekenntnisse des Euthyphron, welches den Göttern Leiden-
schaften und Unsittlichkeit jeder Art beimisst, setzt Sokrates die
Erklärung gegenüber, dass er solche Ansichten über das gött-
liche Wesen nur mit Unwillen (δυσχερῶς p. 6 A) anzuhören
und nicht zu billigen vermöge. Wir brauchen diese Verwer-
fung der sittlich herabwürdigenden Ansichten über das göttliche
Wesen nur in einen positiven Ausdruck umzusetzen, wodurch
an ihrem Inhalte nichts geändert wird, um genau und vollstän-
dig aus dem Dialoge selbst, ohne willkürlichen Zusatz aus
eigenen Gedanken oder aus anderen Schriften Platons, die Be-
autwortung der entscheidenden, an Euthyphron gerichteten Frage
über den Inhalt der göttlichen Wirksamkeit und mit ihr den
unbestrittenen Abschluss der Definition der Frömmigkeit zu
haben.
Auf die Frage nach der Echtheit des Dialogs Euthyphron
und auf die damit in Verbindung gebrachte nach der Abfassungs-
zeit halte ich nicht für noöthig ausführlich einzugehen. Die
Zweifel an dem Platonischen Ursprung des Euthyphron haben
nachweislich ihren Ausgangspunct in den erwähnten Bemerkun-
gen Schleiermachers über die Mängel dieses Dialogs. Wenn es
mir gelungen sein sollte, durch die gegebene Darlegung seines
Gedankengehaltes diese Bemerkung zu entkräften, so ist damit
>) Zu dieser Stelle p. 14 B bemerkt Schaarschmidt 8.391: „Es ist wohl
möglich, dass sich daraus der Platonische Begriff der ὁσιότης entwickeln lässt;
aber dass er im vorliegenden Dialoge nicht entwickelt ist, steht um so mehr
fest, als Sokrates, wie Euthyphron auf seine Frage nach dem Gegenstande
der göttlichen Werke keine Auskunft geben kann und zu einer neuen Er-
klärung abspringt, die Verhandlung weiter gehen lässt. Man hat also aus
dem Dialoge wenigstens kein Recht, jene Erklärung als positiver, denn die
andern sind, anzusehen.“ Die Entgegnung hierauf ist, denke ich, schon im
obigen Texte enthalten. Die fragliche Erklärung der Frömmigkeit bleibt
unbestritten; die Ergänzung derjenigen Bestimmung, auf deren Mangel nach-
drücklich hingewiesen wird, findet der aufmerksame Leser an einer anderen
Stelle des Dialogs.
EvuruyPHRoN. 23235
zugleich der eigentliche Angriffspunct beseitigt; denn alle übri-
gen Einwendungen laufen entweder darauf hinaus, dem Euthy-
phron einen minderen Werth der künstlerischen Composition im
Vergleich zu anderen Dialogen zuzuschreiben, wogegen zu strei-
ten Thorheit wäre, oder einzelne Worte und Wendungen in
einer Weise zu bemängeln, dass der Vorwurf meistentheils auf
den Tadler zurückfällt statt den Verfasser des Dialogs zu tref-
fen, wovon nachher ein Beispiel. Aus den Bedenken über den
wissenschaftlichen Inhalt des Dialogs ist bei Schleiermacher der
Gedanke hervorgegangen, in dem Überwiegen eines apologe-
tischen Zweckes die Erklärung hierfür zu suchen, ein Gedanke,
der nach Schleiermacher bei allen Erklärern Billigung gefunden
hat; ich zweifle ob mit Recht. Gewiss, wenn in dem Dialoge
der Lauterkeit der religiösen Gedanken des Sokrates der unsin-
nige Aberglaube des für fromm sich haltenden und geltenden
Euthyphron gegenübergestellt wird, so erscheint die Anklage des
Sokrates auf Asebie, an welche die Einkleidung des Dialogs
noch ausdrücklich erinnert, wie eine Ironie. Aber abgesehen
von dieser durch die Scenerie gegebenen Erinnerung an die
Anklage des Sokrates ist doch des Apologetischen in dem Dia-
loge nicht wesentlich mehr zu finden, als eben in jedem Plato-
nischen Dialoge, in welchem uns Sokrates in seinem Verkehre
mit Jünglingen dargestellt wird; denn gegenüber dieser Einwir-
kung des Sokrates auf den sittlichen Ernst und die wissenschaft-
liche Bescheidenheit der Jünglinge muss ja ebenfalls die gegen
ihn als Verderber der Jugend erhobene Anklage wie ein blolser
Scherz erscheinen. — Die Voraussetzung eines apologetischen
/weckes zur Erklärung und Rechtfertigung des Dialogs hat
Schleiermacher weiter zu der Annahme geführt, die Abfassung
des Dialogs in die Zeit zwischen der Anklage und der Gerichts-
verhandlung, also in der That gleichzeitig mit der scheinbaren
Zeit des Gespräches zu setzen. Diese Zeitbestimmung Schleier-
machers hat bei den Platonischen Forschern theils Entgegnung,
theils Zustimmung gefunden®). Wenn der vorausgesetzte apo-
logetische Zweck auf das eben angedeutete Mals zurückgeführt
ist, so schwindet für die Zeitbestimmung ein wesentliches Fun-
-
6) Zeller, Gr. Phil 3. Aufl. II, 1. 5. 161, 1.
Bonitz, Platonische Studien. 15
226 EuruyPnRron.
dament; und wenn nach der obigen Darlegung dem Dialog ein
ausreichender Gedankengehalt zuerkannt wird, so. bedarf es nicht
zu seiner Entschuldigung der Annahme, dass er eilfertig in der
Zeit des schwebenden Processes abgefasst sei. Zu einer wahr-
scheinlichen Combination über die Abfassungszeit des Euthy-
phron haben wir dann freilich keine anderen Anhaltspuncte, als
jene wenigen und nicht sehr sicheren, welche für alle Platoni-
schen Dialoge vorhanden sind’).
Zum Schlusse nur anhangsweise ein Beispiel, wie der ein-
mal angeregte Zweifel an dem Platonischen Ursprunge des Dia-
logs selbst einen sonst so ruhig überlegenden, in den Plato-
nischen Schriften durchaus heimischen Forscher — denn dies
war Überweg — an den plansten und klarsten Stellen Anstols
finden lies. Wo Platon zuerst die Frage τί ἐστι τὸ ὅσιον auf-
wirft, macht er darauf aufmerksam, dass er nicht einen einzelnen
Fall will angegeben wissen, sondern den allgemeinen Begriff:
ποῖόν τι τὸ εὐσεβὲς φὴς εἶναι χαὶ τὸ ἀσεβὲς χαὶ περὶ φόνου χαὶ περὶ
τῶν ἄλλων; ἢ οὐ ταὐτόν ἐστιν ἐν πάσῃ πράξει τὸ ὅσιον αὐτὸ αὑτῷ,
χαὶ τὸ ἀνόσιον αὖ τοῦ μὲν ὁσίου παντὸς ἐναντίον, αὐτὸ δὲ αὐτῷ
ὅμοιον χαὶ ἔχον μίαν τινὰ ἰδέαν χατὰ τὴν ἀνοσιότητα πᾶν, ὃ τί περ
ἂν μέλλῃ ἀνόσιον εἶναι; p.5D. MHieran tadelt Überweg Platon.
Schr. 8. 251 und findet dadurch den Fälscher angedeutet: „die
wenig dialektische Art, wie im Euthyphron die Ideenlehre gleich
von vorn herein eingeführt wird, das Prädicat ἔχον ἰδέαν, auf
das ὅσιον (und das ἀνόσιον) αὐτό bezogen, welches doch vielmehr
selbst eine ἰδέα ist, während das ἔχειν von der Einzelhandlung
gesagt sein sollte‘).“ Aber von Ideenlehre in dem specifisch
7) Man kann in dieser Hinsicht jetzt auf Zeller verweisen, der in der drit-
ten Auflage seiner Gr. Phil. der Frage über die Reihenfolge der Platonischen
Schriften einen besondern Abschnitt 5. 422 —469 gewidmet und mit bekann-
ter Klarheit und Herrschaft über den Stoff die in Betracht kommenden Mo-
mente umsichtig verwerthet hat. i
8) An derselben Stelle nimmt aus ähnlichen Gründen Schaarschmidt An-
stols a. a. ©. 8.394. Ihm gegenüber hat freilich die Verweisung auf die
Parallelstellen im Menon. und im Politikos keine Beweiskraft, da diese Dia-
loge demselben Verwerfungsurtheile anheimfallen. Auffallend ist nur, dass.
er an der vollkommen gleichartigen Stelle des Menon die Spuren des unpla-
tonischen Fälschers und an dieser Stelle des Euthyphron die Kennzeichen
des Nachahmers des ersten Fälschers (auch zu dem ihm anstölsigen εἰς ἐχεί--
EUTHYPHRoN. 227
Platonischen Sinne ist hier nicht die Rede, wie schon vor dieser
Bemerkung Überwegs Zeller (Gr. Phil. 2. Aufl. II 1. 8. 338, 1)
gelegentlich erinnert hatte. Das Pronomen αὐτό ist falsch be-
zogen; es ist nicht gemeint τὸ ὅσιον αὐτό, sondern αὐτὸ αὑτῷ
ταὐτόν, wie hernach αὐτὸ αὑτῷ ὅμοιον. Der Ausdruck ἔχον μίαν
τινὰ ἰδέαν χατὰ τὴν ἀνοσιότητα πᾶν ist für ἀνόσιον ganz treffend
gewählt: in seinem gesammten Umfange (πᾶν) hat es, insofern es
ἀγόσιον ist, eine einheitliche, gemeinsame Gestalt, μίαν τινὰ ἰδέαν,
einen einheitlichen Charakter. Unbegreiflich ist es, dass ein
Kenner des Platon sich nicht daran erinnerte, dass mit fast den-
selben Worten im Menon (p. 72 (ΟἹ der einheitliche Begriff der
Tugend beschrieben ist: οὕτω δὴ χαὶ περὶ τῶν ἀρετῶν " χἂν εἰ πολ-
Aal χαὶ παντοδαπαί εἰσιν, ἕν γέ τι εἶδος ταὐτὸν ἅπασαι ἔχουσι, δι
ὁ εἰσὶν ἀρεταί, und dass im Politikos (262 B) für eine solche Be-
griffsgliederung, welche nicht den Umfang willkürlich zerstückelt,
gefordert wird, ἀλλὰ τὸ μέρος ἅμα εἶδος ἐχέτω. Eben so wenig
Anlass hat die Verwunderung Überwegs darüber, dass auf ἀνό-
σιον dieselbe Forderung des μίαν ἔχειν ἰδέαν ausgedehnt ist; denn
die Einheitlichkeit des gemeinsamen Begriffes von ἀνόσιον lässt
sich doch nieht in Abrede stellen, und nur von dieser ist hier
die Rede. Gesetzt aber, es wäre mit Überweg an ἰδέα τοῦ Avo-
σίου im Sinne der Realität des Begriffes, also der Idee im Pla-
tonischen Sinne, zu denken, so mag man wohl ein Recht haben,
in solcher Annahme mit Aristoteles einen inneren Widerspruch
der Ideenlehre zu finden ; aber für unplatonisch darf man diese
Annahme nicht ausgeben, so lange sich nicht Stellen beseitigen
lassen wie Rep. V 476 A, wo von ἄδιχον und xaxoy eben so gut
wie von δίχαιον und ayadoy eine Idee gesetzt wird, und andere
längst schon gesammelte Stellen des gleichen Sinnes. — Ich
habe beispielsweise einen sprachlichen Einwand in Betracht
gezogen; es würde nicht schwer sein, bei den übrigen zu dem
gleichen Resultate zu gelangen.
νην {τὴν löse) ἀποβλέπων χαὶ χρώμενος αὐτῇ παραδείγματι Euth. 6 E wäre auf
das gleichartige ἕν γέ τι. eldos... εἰς, ὃ χαλῶς ποὺ ἔχει ἀποβλέψαντα Men.
72 Οἱ zu verweisen gewesen) zu bezeichnen unterlassen hat.
or
*
BEMERKUNGEN ZU DEM ABSCHNITT DES
DIALOGS CHARMIDES p. 165—172.
συ
Eine Bemerkung Schleiermachers zu dem eigenthümlichen
und schwierigen Abschnitte des Dialogs Charmides p. 165—172,
der über das Wissen des Wissens handelt, hat sowohl bei Brandis
(Gr. Röm. Phil. II, 1 8. 205) als bei Steinhart (I δ. 285) und
Susemihl (I S. 27) so vollständige Billigung gefunden, dass diese
Übereinstimmung, hinzutretend zu dem Gewichte einer Schleier-
macherschen Überzeugung, geeignet ist, gegen eine Bestreitung
derselben Bedenken zu erwecken. Ich will versuchen, die
Gründe darzulegen, welche mich zu entgegengesetzter Über-
zeugung bestimmen; zuvor eine kurze Darlegung des Gegen-
standes der Frage.
Der Dialog Charmides sucht den Begriff der σωφροσύνη zu
bestimmen, d. h., in den mannigfaltigen Vorstellungen, welche
sich mit dem Gebrauche dieses Wortes zu verbinden pflegen,
werden die ihnen anhaftenden Mängel und die Unbestimmtheit
nachgewiesen, in ähnlicher Weise, wie dies im Dialoge Laches
mit dem Worte ἀνδρεία geschieht, und der Dialog schliefst, ohne
dass ausdrücklich eine Definition des in Frage gestellten Be-
griffes zu Stande gebracht ist. Der jüngere unter den beiden
Unterrednern, mit denen Sokrates den Gegenstand verhandelt,
der kindlich unbefangene Charmides, führt nur äulserliche Merk-
male der Besonnenheit an, die Ruhe, die Bescheidenheit und
Schamhaftigkeit des Handelns, Merkmale, in denen sich leicht,
mit ernsten und scherzhaften Mitteln, der Mangel eines sittlichen
Gehaltes nachweisen lässt. Tiefer auf die Sache selbst gehen
JHARMIDES. 229
die darauf folgenden Definitionsversuche des sophistisch gebil-
deten und gewandten Kritias ein. In der zuerst von ihm ver-
theidigten Definition, Besonnenheit bestehe darin, dass jeder das
Seine thue, weils Kritias den Einwendungen des Sokrates gegen-
über nur den ungleich allgemeinern Sinn festzuhalten, Besonnen-
heit bestehe darın, das Gute und Schöne zu thun. Von Sokrates
darauf aufmerksam gemacht, dass das Thun des Rechten nicht
würde als Besonnenheit anzuerkennen sein, wenn es nicht mit
dem Bewusstsein verbunden ist, dass man eben das Rechte und
Gute thut, ändert Kritias, alles Frühere bereitwillig zurück-
nehmend, seine Definition dahin, dass das Wesen der Besonnen-
heit in der Selbsterkenntnis bestehe. Indem der Delphische
Gott den in seinen Tempel Eintretenden jenen Spruch: Erkenne
dich selbst, zurufe, so wolle er damit nichts anderes als zur
Besonnenheit auffordern. Um zu einer Verständigung über diese
Definition zu gelangen und dadurch den Grund zu ihrer Prüfung
zu legen, stellt nach inductiver Betrachtung anderer Arten des
Wissens Sokrates die Frage (p. 166 B): 7 σωφροσύνη τίνος ἐστὶν
ἐπιστήμη, ὃ τυγχάνει ἕτερον ὃν αὐτῆς τῆς σωφροσύνης ; welches ist
das von der Besonnenheit selbst unterschiedene Ob-
ject jenes Wissens, welches du Besonnenheit nennst. Hierauf
erklärt Kritias, gerade dadurch unterscheide sich dieses Wissen
von allem anderen Wissen, dass es nicht einen von ıhm selbst
verschiedenen Gegenstand habe, sondern ein Wissen des Wissens
sei, 7 δὲ uovn τῶν τε ἄλλων ἐπιστημῶν ἐπιστήμη ἐστὶ χαὶ αὐτὴ
ἑαυτῆς (p. 166 C). Von da an wird nun ausführlich dieser Ge-
danke eines Wissens des Wissens untersucht, und von Sokrates
wird gezeigt, dass ein solches Wissen des Wissens sich nicht
als möglich erweisen lasse, und dass, wenn man die Möglichkeit
desselben auch zugeben wolle, kein Werth eines solchen Wissens
nachzuweisen sei. Nach dem Wortlaute des Dialogs wird also
dieses Wissen des Wissens als ein unhaltbarer Gedanke von
Platon abgewiesen; dies hindert an sich nicht, dass, nach der
in einem Theile der Platonischen Dialoge herrschenden indirecten
Weise, durch die Art der Bestreitung selbst unter dem Scheine
der Verwerfung die Begründung bezeichnet sei, und wir ım
diesem Wissen des Wissens einen von Platon selbst gebilligten
Gedanken anzuerkennen haben Dies nun ist die Auffassung
230 ÜHARMIDES.
Schleiermachers, die er folgendermafsen ausspricht: „Des Sokrates
Übergang von der Erklärung, Besonnenheit sei Selbsterkenntnis,
zu der anderen, sie sei Erkenntnis der Erkenntnis und der Un-
kenntnis, könnte auf den ersten Anblick vielleicht als gewalt-
sam und sophistisch erscheinen. Allein, wenn die Selbsterkennt-
nis doch Kenntnis der Vollkommenheit und Unvollkommenheit,
der Tugend und Untugend, die Tugend selbst aber ein Wissen
ist, welches richtig verstanden allerdings muss vorausgesetzt
werden und Platon nur nicht bis zur Ermüdung wiederholen
konnte: so ist doch allerdings die Selbsterkenntnis ein Wissen
um ein Wissen oder Nicht-Wissen“* u. 5. w. Auf diese Be-
merkung Schleiermachers bezieht sich mit Beistimmung Brandis
a. a. Ὁ. und fügt zur Bestätigung eine der Stellen aus dem
Phädon bei, welche besagt, dass die Seele des Weisen bestrebt
sei, für sich allein zu sein, αὐτὴ χαϑ αὑτὴν γίγνεσθαι, eine wie
mir scheint durchaus nicht zutreffende Vergleichung; denn im
Phädon handelt es sich darum, dass das erkennende Subject be-
freit werde von jedem Einflusse des Körpers (denn das bedeutet
ἢ Ψυχὴ ζητεῖ αὐτὴ zu αὐτὴν γίγνεσθαι), aber nicht um die ım
Charmides untersuchte Identität des Erkennens mit semem Ob-
jecte. — Die Andeutung Schleiermachers wird auch von Stein-
hart gebilligt und erhält bei ihm (5. 279) einen ungleich schwung-
hafteren Ausdruck: „Auch die Dialektik ist im Charmides schär-
fer und eindringender geworden als in den früheren Dialogen
(d. h. in denen, für welche Steinhart eine frühere Abfassungs-
zeit vermuthet), denn zuerst taucht hier dem jugendlichen
Denker jener Begriff auf, der für alle Zeiten das unterscheidende
Prineip der Philosophie, durch welches sie über allem anderen
Wissen steht, geblieben ist, der Begriff der Kenntnis der Kennt-
nis oder des Wissens um das Wissen. Wir sind hier an der
Schwelle jener echt Platonischen, von der Eleatisch-Megarischen
so grundverschiedenen Dialektik angelangt, deren Anwendung
im 'Theätetos, im Parmenides, im Sophisten zu den bedeutend-
sten Entdeckungen führt, deren Wesen zuerst im Phädros mit
der grölfsten Klarheit entwickelt wird und auf welche jede Phi-
losophie späterer Zeiten immer von neuem hat zurückgehen
müssen.“ Sehen wir ganz ab von dem Preise der Platonischen
Dialektik und von ihrer Vergleichung mit späteren Entwick-
ÜUHARMIDES. 231
lungen der Philosophie und halten uns ausschliefslich an den
Gegenstand selbst, so sind meines Erachtens zwei Fragen zu
beantworten: erstens, ist es durch Inhalt und Composition des
Dialoges Charmides begründet, dass die dem Wortlaute nach
ausgesprochene Verwerfung der ἐπιστήμη ἐπιστήμης inhaltlich als
Billigung aufgefasst werde; zweitens, findet sich sonst im Platon
jener Gedanke einer ἐπιστήμη ἐπιστήμης etwa als der einer höheren
und reineren Art des Wissens ausgesprochen, oder lässt er sich
doch als eine nothwendige Consequenz aus seinen Grundgedanken
betrachten. Es mag gestattet sein, auf die an zweiter Stelle
bezeichnete Frage zuerst einzugehen.
Die Annahme eines Wissens des Wissens wird von Platon
noch an einer anderen Stelle erwähnt, im 'Theät. p. 200 B. Die
Entstehung irriger Vorstellungen wird zu erklären unternommen
durch die Unterscheidung des ruhenden Besitzes der Vorstel-
lungen von ihrer jeweiligen. Vergegenwärtigung im Bewusstsein,
wofür Platon scherzend den Vergleich anwendet der in einem
Taubenschlage aufbewahrten Schaar von Tauben und des augen-
blicklichen Herausgreifens einer einzelnen oder mehrerer‘ aus
dieser Schaar. Indem eine Erklärung der imigen Vorstellung
durch diese Unterscheidung nicht gelingt, wirft der Platonische
o
χαϑείρξας ἕωσπερ ἂν χέχτηται, ἐπίσταται, χαὶ ἐὰν μὴ προχείρους ἔχῃ
ἐν τῇ Ψυχῇ ; Der Gedanke wird kurz abgewiesen mit den Worten:
χαὶ οὕτω δὴ ἀναγασϑήσεσϑε εἰς ταὐτὸν περιτρέχειν μυριάχις οὐδὲν
πλέον ποιοῦντες; p. 200 C. Der Scherz Platons über das von ihm
gewählte Bild kann keinen Zweifel erwecken an dem Ernste der
darunter bezeichneten psychologischen Unterscheidung ; und die
Hinweisung auf den progressus in infinitum, zu welchem der
einmal statuirte Gedanke eines Wissens des Wissens nothwendig
führe, zeigt uns deutlich die Entschiedenheit seiner Abweisung.
Überdies beweist der gesammte Gedankengang des T’heätetos
zweifellos, dass dieser Versuch der Erklärung des Irrthums von
Platon entschieden abgelehnt wird.!) — Zu dieser directen Er-
I) Schleiermacher gibt zu der fraglichen Stelle des Theätetos, welche die
232 ÜHARMIDES.
klärung Platons kommt noch eine andere, zwar nur indirecte,
die aber durch ihren unmittelbaren Zusammenhang mit den
Platonischen Grundgedanken entscheidendes Gewicht erhalten
dürfte. Als das unterscheidende Moment der Platonischen Phi-
losophie von der Sokratischen bezeichnet Aristoteles überall, wo
er darauf zu reden kommt, das χωρίζειν der Begriffe, d. h. die
ihnen zugeschriebene selbständige Realität, und wenn wir aus
den verschiedenen von Aristoteles als Platonisch bezeichneten
Beweisen für die Realität der Ideen den eigentlichen Kern
herausheben, so liegt dieser im Begriffe des Wissens selbst;
Platon erachtet es als durch den Begriff des Wissens selbst er-
fordert, dass sein Object etwas Reales sei. Dass Aristoteles hier-
mit nicht dem Platon einen ihm fremdartigen Gedanken unter-
schiebt, zeigen am kürzesten Platons Worte in der Republik
(V 477 A), indem auf die Frage ὃ γιγνώσχων γιγνώσχει τὶ ἢ οὐδέν;
zunächst geantwortet wird ὅτι γιγνώσχει τί, und auf die weitere
πότερον ὃν ἢ οὐχ ὅν; die Antwort erfolgt ὄν, πῶς γὰρ ἂν μὴ ὅν
γέ τι γνωσϑείη; (ganz ım Einklange mit dem bekannten Satze
des Parmenides οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος χτλ) ; derselbe Gedanken-
gang ist mittelbar im Phädros, Symposion, Phädon zu erkennen,
indem die Allgemeinheit der Begriffe selbst der Beweis ihrer
Realität wird. Bei einer solchen Überzeugung über die noth-
wendigen Voraussetzungen des Wissens, aus welcher unter an-
derem ganz unbedenklich gefolgert wird, dass den Zahlen, den
geometrischen Gröfsen, weil sie ein Object des Wissens sind,
Realität zugeschrieben werden muss — bei einer solchen Über-
zeugung findet die Annahme eines Wissens des Wissens offenbar
keine Stelle.
Aufserhalb des Dialoges Charmides findet sich also in den
Platonischen Schriften nicht die Gewähr dafür, dass der Gedanke
eines Wissens des Wissens als ein von Platon selbst gebilligter
anzusehen sei. In dem fraglichen Abschnitte des Charmides
“
Vergleichung mit Charmides unabweislich aufdrängt, keine darauf bezüg-
liche Bemerkung. Steinhart unterlässt nicht in seiner umfassenden Einlei-
tung zum T'heätetos auch diesen Punct zu berühren; welch gewaltsame Mit-
tel derselbe anwendet, um die besprochene Auffassung des Charmides mit
der unzweideutigen Verwerfung desselben Gedankens im Theätetos auszu-
gleichen, wolle man bei ihm selbst III, 5. 80 f. nachlesen.
πὸ
ÜUHARMIDES. 333
selbst aber sind die vorgebrachten Gründe, welche Kritias nicht
vermag zu beseitigen, keineswegs derart, dass ıhre offenbare,
etwa noch besonders bemerklich gemachte Unhaltbarkeit als Hin-
weisung auf eine Billigung unter dem Scheine des Widerlegens
könnte angesehen werden. Einmal wird auf dem Wege der
Induction der Satz veranschaulicht, dass, wenn es ein Wissen
des Wissens geben sollte, das Wissen selbst das Wesen des Ge-
wussten haben müsste — es wird kaum nöthig sein, die voll-
ständige Übereinstimmung dieses Gedankens mit den aus der
Republik erwähnten Sätzen noch besonders nachzuweisen. —
Eine etwas andere Form erhält dieser Beweis, indem, wiederum
auf dem Wege der Induction, das Wissen den Verhältnisbegriffen
eingereiht, also in Sokratischer Weise veranschaulicht wird, was
Aristoteles kurz sagt 7) ἐπιστήμη πρός τι. Soll nun das eine
Glied eines Verhältnisses die durch das Verhältnis bezeichnete
Beziehung auf sich selbst haben, so müsste es zugleich das
Wesen des von ihm ausdrücklich unterschiedenen und ihm ent-
gegengesetzten Gliedes haben. Schleiermacher bricht diesem
Gedanken die Spitze ab, indem er, trotz Platons wiederholter
Bezeichnung der Identität von Subject und Object, αὐτὸ πρὸς
ἑαυτό, ἐπιστήμη ἑαυτῆς u. a., nicht von dem Wissen des Wissens,
sondern von dem Wissen eines Wissens spricht.
Die nachgewiesene Übereinstimmung also der Beweise,
welche im Charmides gegen die Möglichkeit eines Wissens des
Wissens ausgeführt werden, mit den von Platon anderweit aus-
gesprochenen Überzeugungen und mit den letzten Voraussetzungen
seiner Philosophie bringt zur Evidenz, dass die fraglichen Be-
weise von Platon selbst für gültig angesehen sind. Diese Auf-
fassung wird, wenn es dessen bedarf, noch gesichert durch eine
Erwägung der in der Composition des Dialoges Charmides lie-
genden Momente. Schleiermacher weist in der früher ausgeho-
benen Stelle darauf hin, dass „des Sokrates Übergang von der
Erklärung, Besonnenheit sei Selbsterkentnis, zu der anderen,
sie 561 Erkenntnis der Erkenntnis und der Unkenntnis, auf den
ersten Anblick vielleicht als gewaltsam und sophistisch erscheinen
könnte“; indessen ist dabei noch ein Umstand jenes Überganges
verschwiegen. Nicht durch Sokrates lässt Platon diesen Ueber-
gang vollziehen, sondern durch Kritias, und zwar in scharf be-
234 ÜHHARMIDES.
zeichneter Abweichung von der durch Sokrates’ Frage selbst vor-
geschriebenen Richtung für ihre Beantwortung. Man würde es
in keinem Dialoge, welcher Personen von bestimmtem Gepräge
zu Trägern der Verhandlungen macht, angemessen finden, wenn
ein Gedanke, auf dessen Tiefe und Bedeutung ein besonderer
Werth gelegt werden soll, durch einen als sophistisch und disputir-
süchtig charakterisirten Unterredner eingeführt würde; die künst-
lerische Vollendung, in welcher Platon in einer Reihe seiner
Werke die dialogische Form anwendet, gibt nicht nur das Recht,
sondern macht es dem Interpreten zur Pflicht, diesen Gesichtspunet
zur Geltung zu bringen. Und nicht etwa blofs zum Schein bezeichnet
Sokrates durch die Frage „welchen von ihm selbst verschie-
denen Gegenstand hat dasjenige Wissen, welches du σῳφροσύνη
nennst*, für die in der Beantwortung einzuhaltende Richtung das
Gegentheil von der Antwort des Kritias; sondern nach mannig-
faltigen Windungen, in denen die Möglichkeit und der Werth der
ἐπιστήυη ἐπιστήμης behandelt, und die Erörterung dann wieder in
“andere Bahnen zurückgeleitet wird, gibt endlich Kritias selbst die
Antwort, dass das Gute das Object desjenigen Wissens sei, welches
das Wesen der σωφροσύνη bilde. Indem Sokrates diese Antwort mit
dem Vorwurfe aufnimmt, „du böser Mensch, so lange ziehst du
mich schon im Kreise umher und verbirgst mir deine wirkliche
Überzeugung“ p. 174 B (eine Wendung, welche lebhaft an die
Stelle des Gorgias erinnert 499 B, wo Kallikles seine Behauptung
der Identität von gut und angenehm endlich aufgibt): so be-
zeichnet dadurch Platon so deutlich, als die dialogische Form
es irgend thunlich macht, dass hiermit die gesuchte Grundlage
der Definition gefunden ist. Von hier aus fällt denn auch helleres
Licht auf den Gang und das Ziel des ganzen Dialogs. Durch den
Satz, dass zur σωφροσύνη das Wissen des Guten erforderlich ist,
wird ihr sittlicher Gehalt festgestellt; für die besondere Modifi-
cation der Sittlichkeit, welche durch das Wort σωφροσύνη be-
zeichnet wird, finden sich die Andeutungen in denjenigen Defi-
nitionen der σωφροσύνη, welche nicht deshalb beseitigt waren,
weil sie etwa nicht die eigenthümliche Form der σωφροσύνη
charakterisirten, sondern nur deshalb, weil in ihnen nicht das
Wesen der σωφροσύνη als einer Tugend, das χαλόν derselben,
enthalten sei. Ich unterlasse es, dies des weiteren auszuführen
ἩΠΑΒΜΙΌΕΣ. 23
und dadurch die von Platon im Charmides beabsichtigte Definition
der σωφροσύνη herzustellen; denn ich müsste im wesentlichen
denselben Gang einschlagen, den ich in der Analyse des Dia-
loges Laches zu begründen versucht habe. Die Frage aber lässt
sich nicht wohl abweisen: wenn nach der gegebenen Begründung
jenes Wissen des Wissens von Platon nur behandelt wird, um
einen ihm als sophistisch erscheinenden Gedanken zu verwerfen,
ohne dass daraus ein positiver Beitrag für den eigentlichen Unter-
suchungsgegenstand des Dialoges sich ergibt, wie kommt Platon
dazu, dieser Erörterung einen so erheblichen Theil des Dialogs
zu widmen? Die Frage verdient schon insofern Beachtung, weil
‘ unverkennbar eben diese Ausführlichkeit in der Behandlung der
ἐπιστήμη ἐπιστήμης vornehmlich dazu beigetragen hat, ihr in Pla-
tons eigenem Sinne eine positive Bedeutung beizumessen; es
wird erlaubt sein, da die Frage selbst das Gebiet des sicher zu
entscheidenden überschreitet, eine Vermuthung zu versuchen.
Indem Sokrates die Forderung des Wissens in anderer
Strenge, als bis dahin geschehen, gestellt und gegenüber dem
schwankenden Meinen nur in fest begrenzten Begriffen ein
Wissen für erreichbar erklärt hatte, erhoben sich gleichzeitig
mit innerer Nothwendigkeit die mannigfaltigen Probleme der
Erkenntnistheorie. Das Wissen wird vom Meinen unterschieden ;
welches ist die bestimmte Abgrenzung des einen gegen das
andere?! Alles Lernen und Erkennen setzt anderes schon vor-
hergegangenes voraus, woran es anknüpfe und worauf es beruhe ;
wo ist ein Anfang zu gewinnen, der das Lernen überhaupt
möglich mache? ja ist überhaupt Lernen möglich ? Wir setzen
als Prädicat eines Satzes etwas von dem Subject verschiedenes ;
wie soll es zulässig sein, Subject und Prädicat durch die Form
des Satzes gleichzusetzen! müssen wir uns nicht vielmehr auf
die Urtheile und Sätze beschränken, in denen dasselbe Prädicat
und Subject ist? Diese und ähnliche Probleme nehmen zum
Theil die Form von Räthselfragen oder von paradoxen Behaup-
tungen an. Mit ihnen sehen wir Platon ernst und scherzend im
Menon, im Theätetos, im Euthydemos beschäftigt. Der Lösung
dieser Probleme dient die Platonische Hypothese einer vorwelt-
lichen intellectualen Anschauung, dienen die Anfänge der Logik,
die er Dialektik nennt, und die ersten Versuche psychologischer
236 ÜHARMIDES.
Erklärung, welche wir durch einige Dialoge hindurch verfolgen
können. In diese Reihe von Problemen gehört auch die Frage,
ob es ein Wissen des Wissens gebe, also der erste Anfang des
Problemes des Selbstbewusstseins. Die Sokratisch - Platonische
Forderung der sittlichen Selbsterkenntnis, in welcher nach dem
Sinne dieser Männer an eine Identität von Subject und Object
des Wissens nicht gedacht war, lag schon durch’ den Wortlaut
einer ἐπιστήμη ἐπιστήμης so nahe, dass die Erwähnung der Selbst-
erkenntnis den natürlichen Anlass bot, diese Frage der damaligen
Philosophie zur Erörterung zu bringen. Unter solcher Voraus-
setzung, zu welcher, denke ich, die Weise selbst, in welcher die
Frage im Charmides eingeführt ist, ausreichenden Anlass gibt,
wird es erklärlich, dass Platon ihrer Behandlung einen unver-
hältnismäfsigen Umfang in diesem Dialoge zuweist, obgleich
daraus unmittelbar kein positiver Ertrag für den Gegenstand der
Untersuchung sich ergibt.
Dass ich den Dialog Charmides durchweg als einen Platonischen
bezeichnet habe trotz der scharfen Angriffe, welche noch in
neuester Zeit gegen seinen Platonischen Ursprung gerichtet sind,
möge mir nicht zugemuthet werden ausdrücklich zu rechtfertigen.
Das Auflösen des Gewirres von Einwendungen, welche gegen
diesen Dialog als eine Schrift Platons vorgebracht sind, würde
mehr ermüdend als an sich oder durch irgend ein Nebenergebnis
lohnend sein.
ZUR ERKLÄRUNG DES DIALOGS
PROTAGORAN.
Der Platonische Dialog Protagoras hat bei denjenigen For-
schern, welche den literarischen Nachlass Platons auf einen er-
heblich geringeren Umfang zurückzuführen gesucht haben, sich
einer besonderen Gunst zu erfreuen gehabt. Obgleich Aristo-
teles uns nicht den Gefallen gethan hat, in einer der auf uns
gekommenen Schriften diesen Dialog als ein Werk Platons zu
citiren, und selbst eine Stelle der naturhistorischen Schriften,
die wenigstens zur Evidenz bringt, dass Aristoteles diesen Dia-
log kannte, unbemerkt geblieben war; obgleich es ferner leicht
wäre, nach der von Schaarschmidt beliebten Methode zu zeigen,
dass der wissenschaftliche Kern des Dialogs in keinem Verhält-
nisse stehe zu der ihn überwuchernden Schale: trotzdem ist
von keinem der bezeichneten Kritiker der Platonische Ursprung
des Protagoras je in Zweifel gezogen worden; ja Schaarschmidt
verdeckt seine eigene Inconsequenz in Schonung des Dialogs
dadurch, dass er, statt ihn gerade und unverhohlen einen von
Aristoteles nicht bezeugten zu nennen, ihn als einen weniger
bezeugten bezeichnet. Der Grund, weshalb der Protagoras von
den sophistischen Verdrehungen angeblicher Kritik verschont
geblieben ist, wird wohl darin liegen, dass die plastische An-
schaulichkeit der Scenerie und der Personen des Dialogs, das
frische Leben und die reiche Mannigfaltigkeit des Gespräches,
kurz seine gesammte künstlerische Gestaltung auf keinen Leser
des Eindrucks zu verfehlen vermag und vor diesem, bei erneu-
ter Beschäftigung nicht ermattenden, sondern sich steigernden
238 PROTAGORAS.
Eindrucke die Waffen des Angriffs zu Boden sinken. Aber
trotz dieses unwillkürlichen Eindrucks, den dieser: Dialog auf
die Leser übt, durfte Schleiermacher mit Recht sagen, dass dieses
ziemlich verwickelte Werk nicht eben so gründlich verstanden
sei, als es vielfach gepriesen werde. Seit Schleiermacher ist zur
Erklärung des Protagoras im ganzen und einzelnen unzweifel-
haft sehr viel schätzbares geleistet, so dass es fast schwer wird,
über den Schriften zur Erklärung nicht die erklärte Schrift selbst
aus den Augen zu verlieren. Dennoch unternahm es vor eini-
gen Jahren eine Abhandlung über die Frage: „Wie ist Platos
Protagoras aufzufassen!“ alle bisherigen Auffassungen von
Schleiermacher bis zur neuesten Zeit in ihrer Einseitigkeit und
unbefriedigenden Mangelhaftigkeit nachzuweisen und durch eine
der einheitlichen Composition des Ganzen gerecht werdende Er-
klärung zu ersetzen. Diese zufällig erst jetzt mir bekannt ge-
wordene Abhandlung von Meinardus (Oldenburg 1865), welche
durch die lebendige, von fester Überzeugung durchdrungene
Darstellung anzieht und durch wirkliches Hineinleben in das
Platonische Werk volles Anrecht auf Beachtung hat, ist der
nächste Anlass dazu, dass ich den vielbesprochenen Gegenstand
einer erneuten Erörterung zu unterziehen versuche; ich werde
bemüht sein, dieselbe auf das unbedingt nothwendige zu be-
schränken.
Der Verfasser der genannten Abhandlung bezeichnet als den
Gegenstand des Dialogs, in welchem allein alle Fäden desselben
zusammengehen, ohne dass ein einziger als überflüssig oder gar
störend erscheine: der Dialog stelle uns dar, „wie Protagoras,
der grolse Tugendlehrer, zu Falle kommt, oder noch besser, wie
er sich selbst zu Falle bringt.“ Man mag gegen die specielle
Formulirung, durch welche der Verfasser die einzelnen Stufen
in der Niederlage des Protagoras unterscheidet, einiges mit
Grund einzuwenden haben; jedenfalls ist durch den angeführ-
ten, den Dialog als Ganzes charakterisirenden Satz der Ein-
druck bezeichnet, welchen das Werk auf jeden unbefangenen
Leser unvermeidlich macht. Denn von den ersten Zeilen bis
zum letzten Worte ist die Person des Protagoras, sein Ruhm
als Erzieher der Jugend zur Tüchtigkeit im öffentlichen und
Privatleben, der Mittelpunet, um den alles sich bewegt. Schon
PROTAGORAS. 239
in der einleitenden kurzen Scene, durch welche für unsern Dia-
log die Form der Wiedererzählung motivirt wird, erscheint der
Besuch des Protagoras in Athen als ein alle gebildeten Kreise
lebhaft interessirendes Ereignis. Welchen Eindruck derselbe
unter den wissbegierigen Jünglingen der Stadt hervorrief, stellt
uns in dem ersten vorbereitenden Abschnitte des Gespräches
selbst Hippokrates dar, der nicht einmal den vollen Anbruch
des Tages abwarten möchte, um durch Sokrates’ Vermittlung
dem Protagoras vorgestellt und in den Kreis seiner Schüler ein-
geführt zu werden. Eintretend sodann in das reichste und gast-
lichste Haus des damaligen Athen, das Haus des Kallias, sehen
wir Protagoras in dem Glanze seines Ruhmes, umgeben von
einer ihn verehrenden Schaar von Jünglingen aus den ange-
sehensten Geschlechtern Athens und der Fremde, vor den gleich-
zeitig anwesenden und ebenfalls von Anhängern gefeierten Cele-
britäten, einem Hippias und Prodikos, schon durch das Beneh-
men des Wirthes Kallias als der erste ausgezeichnet. Die
Frage, welche Sokrates an die persönliche Vorstellung des Hip-
pokrates anknüpft, was denn Hippokrates erwarten dürfe aus
dem Unterrichte des Protagoras zu gewinnen, gibt dem Prota-
goras Gelegenheit, mit unverhohlenem Selbstbewusstsein sich als
den Mann zu bezeichnen, der zuerst zur Sophistik als seinem
Lebensberufe sich offen bekannt habe, und die Bildung der
Jünglinge zur Bürgertugend als die Aufgabe, deren Lösung er
sich mit anerkanntem Erfolge hingebe. Die von Sokrates be-
scheiden geäulserten und kurz begründeten Zweifel, ob denn
diese Tugend wirklich lehrbar sei, widerlegt Protagoras in aus-
führlichem Vortrage, in welchem er, bei leichtverständlicher An-
ordnung des Ganzen, sich der verschiedenen Formen der Dar-
stellung, des Mythus, der lehrhaften Erörterung, der Schilderung,
gleich mächtig erweist und am Schlusse, des vollen Beifalls
sicher, auf seine eigene Person und seine Wirksamkeit die
Blicke zurücklenkt. Unverkennbar steht hier Protagoras auf
dem Höhepuncte seines Ruhmes, der ihm von da an Stück für
Stück entrissen wird. Sokrates, im übrigen, wie er erklärt,
durch Protagoras’ Vortrag überzeugt, bedarf nur noch einer klei-
nen Ergänzung, nämlich der Erklärung darüber, ob durch die
in dem Vortrage gelegentlich angewendeten verschiedenen Namen
240 PROTAGORAS.
von Tugenden wesensverschiedene, von einander unabhängige
Theile der Tugend gemeint, oder ob es nur verschiedene Namen
für dieselbe einheitliche Tugend seien. Protagoras, der erste-
ren Auffassung unbedingt sicher, trägt kein Bedenken auf die
Fragen des Sokrates antwortend einzugehen. Aber schon ge-
genüber dem Beweise des Sokrates für die Identität von Fröm-
migkeit und Gerechtigkeit kann er nur durch unbestimmte Re-
densarten dem Eingestehen der Niederlage ausweichen; bei dem
Beweise sodann für die Identität von Besonnenheit und Weisheit
ist ihm selbst dieser Ausweg abgeschnitten, so dass er bei dem
dritten Beweisgange, dem für die Identität von Gerechtigkeit
und Weisheit, durch das bekannte sophistische Mittel des weit-
läufigen Geschwätzes über einen Nebenpunct die Fortführung
(65. geordneten Gespräches vereitelt und Sokrates zu dem Ent-
schlusse veranlasst, die Versammlung zu verlassen. Die Be-
mühungen aller Anwesenden, die Fortsetzung der ihnen höchst
interessanten Unterredung zu erwirken, anfangs an beide Unter-
redner gerichtet, wenden sich zuletzt allein an den eigentlichen
Urheber der Unterbrechung, an Protagoras. Unglücklich gewesen
in der Stellung des Antwortenden, will Protagoras zunächst die
offenbar ihm günstiger scheinende Stellung des Fragenden ein-
nehmen, und dann erst wieder darauf eingehen, antwortend den
Fragen des Sokrates Rede zu stehen. Er versetzt die Unter-
redung in das ihm geläufige Gebiet der Dichtererklärung, jedoch
so, dass durch den speciellen Inhalt des der ästhetischen Kritik
unterworfenen Gedichtes die Continuität des Themas erhalten
bleibt. Aber bald verliert Protagoras die Zügel des Gespräches aus
den Händen; Sokrates erklärt in zusammenhängender Rede, die
Kritik des Protagoras widerlegend, das fragliche Gedicht des
Simonides, nur um nach gelungener Ausführung diese ganze
Beschäftigung mit Dichtererklärung als ein begriffloses, zu keiner
sicheren Einsicht führendes Treiben zu verwerfen und damit den
Protagoras zur Wiederaufnahme des vorhin abgebrochenen Ge-
spräches über das Verhältnis der einzelnen Tugenden zu einan-
der zu bestimmen. Unberührt von des Sokrates Beweisen für
die Identität verschieden benannter Tugenden war die Tapfer-
keit geblieben; auf die Behauptung dieser einzigen letzten Po-
sition zieht sich Protagoras zurück, die Verschiedenheit der
ὙΨΘΌΝΝΝ
PROTAGORAS. 241
Tapferkeit von den übrigen Tugenden, insbesondere der Weis-
heit, und ihre Selbständigkeit behauptend. Aber auf der Grund-
lage seiner eigenen, nur mit vorsichtiger Zurückhaltung bekann-
ten Ansicht, dass der Genuss das höchste und letzte Ziel alles
menschlichen Strebens sei, sieht Protagoras sich genöthigt, auch
die Tapferkeit auf Einsicht oder Wissen zurückzuführen. Ja
noch mehr, diese Zurückführung der Tapferkeit und, wie wir
nach dem früheren hinzusetzen dürfen, jeder Tugend auf Wis-
sen, welche Protagoras eifrigst bekämpft, zeigt sich als die noth-
wendige Voraussetzung, wenn, wie es ja doch Protagoras be-
hauptet, die Tugend lehrbar sein soll. Das allmähliche Ver-
stummen des Protagoras auf die letzten entscheidenden Fragen
des Sokrates ist für seine vollständige Niederlage ein unzwei-
deutiges Zeichen, welches dadurch nicht entkräftet wird, sondern
nur die dem Charakter des Dialogs und seines Helden entspre-
chende Färbung erhält, dass Protagoras sofort wieder das Selbst-
vertrauen gewinnt, den Sokrates mit väterlicher Freundlichkeit
und stolzer Herablassung in seinem Wissensstreben zu ermu-
thigen.
Diese Andeutungen, die sich leicht zu grölserer Überzeu-
gungskraft erweitern liefsen, werden hinreichen, an den Gang
und Inhalt des Dialogs in so weit zu erinnern, dass dadurch
als Absicht des ganzen Werkes erscheint, darzustellen „wie Pro-
tagoras, der grofse Tugendlehrer, sich selbst zu Falle bringt“.
Aber naheliegende Erwägungen, die bis jetzt bei Seite gelassen
wurden, drängen sofort zu einer verallgemeinernden Modification
dieser Auffassung. Wie frühzeitig man auch die Abfassung des
Dialogs setzen möge, jedenfalls fällt dieselbe mehrere Jahre
nach dem Tode des Protagoras!). Eine solche Zeitdifferenz ist
vollkommen gleichgiltig, wenn es sich, wie im 'Theätetos, um die
ἢ Zeller (Griech. Phil. II, 1. S. 451, 3) setzt in umsichtiger Combina-
tion aller Momente, welche einen Schluss auf die Abfassungszeit der einzel-
nen Platonischen Dialoge ermöglichen, die Abfassung des Protagoras in die
Zeit zwischen Sokrates’ Tod und Platons ägyptischer Reise; und weiter zu-
rück in der Zeit dürfte er schwerlich zu setzen sein. Für das Todesjahr
des Protagoras ist ca. 411 v. Chr. eine wahrscheinliche Annahme (Zeller,
Gr. Phil. 3. Aufl. I. S. 802, 4). Beide Zeitpuncte liegen also um mehr als
ein Jahrzehnt auseinander.
Bonitz, Platonische Studien. 16
τῷ
24 PROTAGORAS.
Kritik des philosophischen Lehrgehaltes handelt; denn eine
solche Kritik, gegen einen in den Schriften fortbestehenden In-
halt gerichtet, wird überdies für Platon ein Mittel zur Begrün-
dung seiner eigenen Überzeugungen. Aber sie ist schwerlich in
gleicher Weise unerheblich in einer durch die Selbstdarstellung
des Protagoras gegebenen ironischen Kritik seiner persön-
lichen Wirksamkeit. Und nur um diese handelt es sich in
unserem Dialoge; Beziehungen auf die specifischen Lehren des
Protagoras, welche doch zu einer Bestreitung seines Berufes als
Tugendlehrer die bequemste Handhabe boten, lassen sich selbst
mit der von manchen Seiten (so schon von Schleiermacher) an-
gewendeten Gewalt nicht glaublich hineindeuten; wir werden,
da eine Unbekanntschaft Platons mit denselben undenkbar ist,
diese Enthaltsamkeit nicht für zufällig halten dürfen. Dazu
kommt aber: das Vorgespräch des Sokrates mit Hippokrates,
welches wir als eine authentische Weisung Platons selbst für
die richtige Auffassung des ganzen Werkes anzusehen haben,
erregt Bedenken gegen die Lehrthätigkeit nicht speciell des Pro-
tagoras, sondern überhaupt der Sophisten. Und damit stimmt
die nachfolgende Ausführung. In einem Werke, welches uns
die sicherste Herrschaft über alle Kunstmittel der Darstellung
beweist, dürfen wir gewiss den Umstand nicht als gleichgiltig
oder als blofsen Schmuck ansehen, dass dem Protagoras ein paar
andere Vertreter der Sophistik zur Seite gestellt sind, nicht blofs.
als stumme Zuhörer, sondern als geneigt und bereit, bei sich
darbietender Gelegenheit in die Verhandlungen thätig mit ein-
zutreten. Wenn man ihr blofses Schweigen bei den früheren
Niederlagen des Protagoras etwa noch nicht als ausreichendes
Zeichen dafür möchte gelten lassen, dass Platon in jene Nieder-
lagen sie mit einbegriffen wissen will, so schwindet solcher Ein-
wand bei dem letzten entscheidenden Beweisgange; denn der
Platonische Sokrates sorgt dafür, dass zu den entscheidenden
Zugeständnissen in demselben Prodikos und Hippias sich aus-
drücklich mitbekennen. In treffender Wahl macht Platon den
Mann, der sich zuerst einen Sophisten nannte und alle anderen
an geistiger Bedeutung unverkennbar überragte, zum Träger des
Gespräches; aber er bezeichnet zugleich in der unzweideutigsten
Weise, dass wir in ihm die Sophistik selbst als getroffen anzu-
PROTAGORAS. 243
sehen haben. Wir würden also jene Formel wenigstens dahin
zu modificiren haben: der Dialog stelle dar, wie die Sophistik
in ihrem vermeintlichen Berufe als Lehrerin der Tugend sich
selbst zu Falle bringe.
Hiermit wären wir aber gerade bei derjenigen Auffassung
des Dialoges angelangt, vor welcher Schleiermacher als einer
ungenügenden warnt. Es ist auffallend, dass bei der energischen
Erneuerung dieser Auffassung diese Warnung Schleiermachers,
trotz der sonstigen Polemik gegen ıhn, nicht scheint beachtet
zu sein. Und doch ist sie wohl begründet; denn durch die
Ausschliefslichkeit der bisher bezeichneten Auffassung wird die
Bedeutung eines Gedankens verdeckt, der den ganzen Dialog
vom Anfange bis zum Schlusse durchzieht und sich als bestim-
mend für seine Composition erweist, eines Gedankens, der als
positiv und philosophisch, als Ausdruck der eigensten Überzeu-
gung Platons vor jener blofs verneinenden Kritik Anrecht auf
volle Beachtung hat. Als diejenige Form, in welcher allein ge-
meinsame wissenschaftliche Forschung und eine nicht blofsen
Glauben, sondern wirkliche Einsicht hervorrufende Mittheilung
möglich sei, wird das Gespräch, das Geben und Annehmen von
Rechenschaft (διαλέγεσϑαι, λόγον δοῦναι χαὶ δέξασϑαι) dargethan
und durch die ganze Composition bewährt. Der Dialog gliedert
sich schon für den ersten Blick in vier deutlich von einander
abgehobene Abschnitte, die wir durch kurze Überschriften so
bezeichnen können: Rede und Gegenrede über die Lehrbarkeit
der Tugend (p. 319 A — 328 0), Gespräch zum Erweise der
Identität der einzelnen Tugenden (p. 329 Ο — 334 C), Vortrag
und Gegenvortrag zur Erklärung des Simonideischen Gedichtes
(p. 338 E — 347 A), Gespräch, durch welches die Tapferkeit
auf Einsicht zurückgeführt wird (p. 348 C — 360 E). Was
zwischen diese Hauptabschnitte fällt, dieselben zugleich schei-
dend und verbindend, ist alles dahin gerichtet, zu zeigen, dass
das bei dem Gegenstande streng festhaltende Gespräch die ein-
zige Form der Gedankenmittheilung sei, welche zur Klarheit
und Bestimmtheit führe und die Einsicht in die Sache fördere ;
und was in diesen Verbindungsgliedern theoretisch dargelegt
wird, das erweisen die Abschnitte selbst durch eine thatsächliche
Probe. Die Gesprächsabschnitte decken die wirkliche Verschie-
1077
244 ι PRoTAGoRAS.
denheit der Überzeugungen der Unterredner unverhohlen auf und
führen zur Nothwendigkeit der Anerkennung ihrer Schlüsse.
Von der Gedichtserklärung dagegen sagt nicht nur Sokrates aus-
drücklich, dass sie zu einer wissenschaftlichen Einsicht in die
Sache nicht führe, sondern er beweist ihre Willkür auch durch
die That; denn durch dieses Mittel lässt sich Protagoras unbe-
denklich Sätze aufreden, gegen welche er sich nach seiner Über-
zeugung widersetzen müsste und nachher in der dialogischen
Discussion zu sträuben versucht. Und die Reden und Gegen-
reden über die Lehrbarkeit der Tugend geben nicht nur Anlass,
die Gesprächsform gegenüber dem zusammenhängenden, in sei-
ner Wirkung nur einem geschriebenen Buche vergleichbaren
Vortrage zu empfehlen, sondern zeigen ihre Schwäche darin,
dass Protagoras sofort nach Beendigung des trefflichen und mit
Beifall aufgenommenen Vortrags in einem nur angeblich neben-
sächlichen Puncte seine Begriffslosigkeit beweist. Die Anwen-
dung der sämmtlichen bei den Sophisten gebräuchlichen Formen,
des längeren, kunstvoll geschmückten Vortrages, des Mythus,
der Gedichtserklärung dient nicht blofs der charakteristischen
Zeichnung der Sophistik, sondern wird zugleich der dunkle
Hintergrund, von welchem sich die Gesprächsform als die ein-
zige für wissenschaftliche Einsicht sachgemälse Methode abhebt.
Es ist interessant, diese der wissenschaftlichen Methode zuge-
wendete Tendenz zu verfolgen, wie sie das ganze Werk so
durchdringt, dass sie nicht als etwas zufälliges oder blofs bei-
läufiges betrachtet werden kann, und diese Beobachtung wird
noch interessanter durch die zahlreichen und tief eingreifenden
Vergleichungen, welche sich mit anderen Dialogen, besonders
Gorgias und Phädros, darbieten; aber ein längeres Verweilen
hierbei könnte doch nur das ausführen, was Schleiermacher be-
reits meisterhaft und so überzeugend bezeichnet hat, dass es
sich nicht füglich bestreiten lässt.
Mit dieser Würdigung der formalen, auf die wissenschaft-
liche Methode gerichteten Tendenz verbindet Schleiermacher eme
fast spottende Geringschätzung des im Protagoras zu findenden
ethischen Inhaltes. „Andere hingegen“, schreibt er zum Beispiel,
„allzusehr auf die reale Ausbeute begierig, und nicht eben glück-
liche Finder, weil sie ohne Kenntnis der Gegend suchen, haben .
PROTAGORAS. 245
sich nur an eine aufgeworfene Frage gehalten, sei es nun die
von der Lehrbarkeit der Tugend oder die von ihrer Einheit und
Vielheit, denn wer so nur einzelnes auffasst, muss noth-
wendig schwanken“ — und ähnliche Äufserungen finden sich
mehr. Diese Geringschätzung der „realen Ausbeute“ würde be-
rechtigt sein, wenn es sich eben nur um Auffassung von
Einzelnem handelte und nicht vielmehr die Erörterungen über
die Tugend, ihre Lehrbarkeit, ihre Einheit oder Vielheit, bei
der scheinbaren Zufälligkeit des Abbrechens einer Gedankenreihe
und des Anfangens einer davon verschiedenen neuen, durch den
gesammten Verlauf des Werkes einen in sich geschlossenen Zu-
sammenhang zeigten, auf den Zeller schon in seinen Platoni-
schen Studien (S. 161) aufmerksam gemacht hat. Auf Grund
der verbreiteten Ansichten und mancher Thatsachen der Erfah-
rung bestreitet zu Anfang Sokrates die Lehrbarkeit der Tugend,
und mit Waffen der gleichen Art entgegnet ihm Protagoras.
Dass der Entgegnung des Frotagoras keine Einsicht in das
Wesen der Tugend zu Grunde liegt, beweist in dem darauf
folgenden Gespräche Sokrates, indem er die von Protagoras un-
bedenklich ausgesprochene Behauptung über die disparate Natur
der verschiedenen Tugenden leicht zu Schanden macht. In der
darauf folgenden Erklärung des Simonideischen Gedichtes gibt
der Inhalt des Gedichtes selbst dem Sokrates Anlass, auf das
Werden der Tugend, auf die verschiedenen Stufen ihrer Ent-
wicklung hinzuweisen, und mit einer Willkür der Deutung?),
die sich durch ihre unverhüllte Gewaltsamkeit meines Erachtens
als bewusste Absicht kennzeichnet, wird aus ihm der Satz als
ein selbstverständlicher, allgemein anerkannter herausgedeutet,
dass jeder sittliche Fehler aus Mangel an Einsicht hervorgehe
und es kein anderes sittliches Gut gebe aufser Einsicht, Wissen.
Diesen Satz, welchen in der Dichtererklärung Protagoras als
einen von allen Verständigen einstimmig anerkannten sich ge-
fallen lässt, muss er hernach in der über Einerleiheit oder Ver-
schiedenheit der Tugenden wieder eröffneten Discussion trotz
des versuchten Sträubens gerade in Betreff der von der Einsicht
2) Ich verweise in dieser Hinsicht besonders auf die für die Verwer-
thung dieser Gedichtserklärung entscheidende Stelle p. 345 D, E.
240 PROTAGORAS.
scheinbar am entferntesten liegenden Tapferkeit zugestehen.
Wenn nun zum Schlusse Sokrates dieses Ergebnis als einen
Hohn auf ihre Verhandlungen bezeichnet (denn er, Sokrates,
der die Lehrbarkeit der Tugend in Abrede stelle, sei bemüht,
jede Tugend auf ein Wissen zurückzuführen, also ihre Lehrbar-
keit zu erweisen; Protagoras, der ihre Lehrbarkeit behaupte,
bestreite eifrigst ihre Zurückführung auf Wissen, bestreite also
ihre Lehrbarkeit; sie müssten vielmehr die ganze durch einander
geworfene Verhandlung nochmals und zwar von der Bestimmung
des Begriffes der Tugend beginnen): so soll diese Äufserung
doch gewiss nicht blos dem Protagoras die Rückkehr zu seinem
stolzen Selbstbewusstsein bahnen, sondern sie macht zugleich
den Leser auf den Zusammenhang der verschlungenen Verhand-
lung aufmerksam, und wir deuten nach bekannter Platonischer
Weise die Forderung des Erneuerns der Untersuchung und des
Sokrates unverhohlene Aufdeckung seines Widerspruches mit sich
selbst wohl nicht unrichtig, wenn wir das Gegentheil darin
lesen, nämlich, dass zur Auffindung des Begriffes der Tugend
wesentliches durch den Dialog geleistet, und dass in Platons
eigener Überzeugung jener aufgezeigte Widerspruch gelöst ist.
Durch die Zurückführung jeder Tugend auf Wissen ist die Frage
nach ihrer Lehrbarkeit und nach ihrer Einheit zugleich gelöst;
und wenn die Tugend als eine werdende verschiedener Stufen
der Entwicklung fähig ist, so ist nicht ausgeschlossen, dass es
ein sittliches Wohlverhalten gebe, welches, als noch nicht auf |
Einsicht beruhend, auch nicht im Sinne Platons lehrbar ist.
Zu diesem Satze mögen noch ein paar Erläuterungen ge-
stattet sein.
Selbst der Zurückführung der Tugend auf Wissen, welche
zweifellos ein Grundsatz Sokratisch-Platonischer Lehre ist, be-
streitet Schleiermacher ihre Bedeutung für die Aufgabe dieses
Dialoges, vornehmlich weil sie in Verbindung mit der ganz un-
sokratischen und unplatonischen Ansicht gebracht werde, dass
das Gute nichts anderes sei als das Angenehme. Hierin ist nun
das gewiss richtig, dass Schleiermacher die Identification von
ἀγαϑόν und ἡδύ als schlechthin unplatonisch bezeichnet; man
muss die wiederholten Aufforderungen des Sokrates an die So-
phisten, ob sie denn nicht ein anderes Ziel alles menschlichen
- PROTAGORAS. 247
Strebens anzugeben wüssten als das Angenehme und den Ge-
nuss®), mit Gewalt überhören, um aus diesem Dialog eine Zeit
herauszuklügeln, in welcher für Platon gut und angenehm noch
unterschiedslos gewesen sei. Aber die Verbindung mit diesem
von Platon verworfenen Satze besagt doch wohl nur, dass, was
„man auch immer für das an sich und unbedingt Erstrebenswerthe
halte, jedenfalls das Wissen desselben die Bedingung voll-
kommener Sicherheit des sittlichen Handelns, also der Tugend
ist. Nicht unerheblich scheint mir überdies für den im Zu-
sammenhange unseres Dialoges auf diesen Satz zu legenden
Werth der Umstand zu sein, dass derselbe Satz schon vor dieser
- Ableitung aus einer unplatonischen Voraussetzung als ein selbst-
verständlicher in jener gewaltsamen Ausdeutung des Simonidei-
schen Gedichtes vorgebracht ist.
Was zweitens die Einheit der Tugend betrifft, so werden
die darauf bezüglichen Erörterungen von mehreren Seiten so
aufgefasst, dass Platon in diesem Dialoge jeden Unterschied der
einzelnen Tugenden von einander in Abrede gestellt, sie voll-
kommen identificirt habe, und erst später in seiner Überzeugung
jene Modification eingetreten sei, wie sie aus den Büchern über
den Staat bekannt ist. Dieser Auffassung vermag ich nicht mich
anzuschlielsen. In unserem Dialoge selbst finde ich sie nicht
erwiesen. Was den Abschnitt betrifft, in welchem Gerechtig-
keit und Frömmigkeit, Besonnenheit und Weisheit als identisch
erwiesen werden, so muss man dafür Platon selbst die Ver-
antwortung überlassen, dass er den Protagoras so grobe Mittel
der Täuschung, wie dies das Umdeuten des contradictorischen
Gegensatzes in den conträren und die Benützung der Unbe-
stimmtheit im Gebrauche von ἀφροσύνη ist, nicht bemerken lässt ;
aber diese Beweise als von Platon ernstlich gemeint anzusehen
wird man sich doch wohl bedenken müssen, wenn man beob-
achtet, mit welch bewusstem Geschick ım zweiten Falle der
Platonische Sokrates durch die Anordnung seiner Schlingen die
Benützung der Amphibolie verdeckt). In dem letzten Abschnitte
3) p. 354 B— Ἐς, vgl. mit p. 351 C, E u. 358 A, B.
4) Zeller hält es allerdings für wahrscheinlich, dass die fraglichen Be-
weise von Platon ernstlich gemeint seien. „Nachdem hier der Behauptung,
248 PROTAGORAS.
aber wird nur erwiesen, dass die Tapferkeit auf Wissen zurück-
zuführen ist, und es wird bei der Recapitulation verallgemeinernd
nur gesagt°), dass alles, Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit,
Wissen ist. Es ist nicht gesagt und braucht nicht in den Wor-
ten zu liegen, dass diese sittlichen Eigenschaften unterschiedslos
und identisch seien, sondern nur, dass dasjenige Moment, wel-.
ches jede dieser Charaktereigenschaften, z. B. den Muth, zu
einer sittlich werthvollen (χαλύν), zu einer Tugend mache, die
Einsicht ist, — (ganz so wie es der Platonische Sokrates in dem
dass die διχαιοσύνη, σωφροσύνη, ὁσιότης, σοφία und ἀνδρεία eben so viele
Theile der Tugend seien, schon 329 € — 333 B einige mehr sophistische als
überzeugende, aber von Plato doch wohl ernstlich gemeinte Ein-
würfe entgegengesetzt waren“ u. s. w. (Phil. ἃ. Gr. 3. Aufl. II, 1. Κ΄. 501, 3.)
So gewichtig mir ein, selbst nicht weiter begründeter Einwand dieses For-
schers ist, und so weit ich entfernt bin, in der Unhaltbarkeit oder selbst in
starken logischen Fehlern eines Beweises an sich ein Zeichen dafür zu sehen,
dass derselbe von Platon nicht ernstlich gemeint sei, so bestimmen mich
doch im vorliegenden Falle besonders zwei Erwägungen zu der ausgespro-
chenen Auffassung. Erstens der im Texte selbst angedeutete Gesichtspunct:
die Geschicklichkeit, mit welcher die Anerkennung der zwei ἐναντία von ἀφρο-
σύνη an die weitest von einander entfernten Stellen des Beweisganges ge-
bracht ist, spricht viel mehr für das Bewusstsein und die Absicht einer
Täuschung, als für die unbefangene Entwicklung ernstlicher Überzeugung.
Zweitens, der Satz, dessen Beweis hier unternommen wird, σωφροσύνη χαὶ
σοφία ταὐτό, geht entschieden und erheblich weiter als die sonstigen Äulse-
rungen Platons über das Verhältnis der einzelnen Tugenden zu einander in
den Stellen, in welchen über die ernstlich gemeinte Darstellung der eignen
Überzeugung kein Zweifel ist, z. B. Gorg. 506 1) — 507 C. Men. 88 C. Lach.
199 D. Denn überall finden wir die beiden Sätze, erstens dass jede Tugend
nur durch das Wissen des Guten zu wirklicher Tugend wird, zweitens, dass
wenn dieses Wissen vorhanden ist, es das menschliche Handeln nicht blofs
in einer, sondern in allen Richtungen bestimmt, also wer ἀνδρεία oder wer
σωφροσύνη besitzt im strengen und vollen Sinne dieser Worte, nothwendig
auch die übrigen Tugenden besitzen muss. Durch diese beiden Sätze, die
als Platonisch unzweifelhaft anzuerkennen sind, und durch ihre Verbindung
ist keineswegs Unterschiedslosigkeit der einzelnen Tugenden als nothwen-
dige Folge gesetzt; dass dagegen die directe Behauptung der Identität (ταὐτὸ
ἀνδρεία χαὶ σωφροσύνη u. ἃ.) sich nur an der vorliegenden Stelle findet, die
schon aus anderem Gesichtspuncte den Anlass gibt nicht für den Ausdruck
von Platons ernstlicher Überzeugung zu gelten, scheint mir ein beachtens-
werthes Moment für die Entscheidung der Frage zu sein.
ὅν». 361 B: ὡς πάντα γρήματά ἐστιν ἐπιστήμη, καὶ ἡ διχαιοσύνη χαὶ ἢ
σωφροσύνη χαὶ ἡ ἀνδρεία.
PROTAGORAS. 249
ersten dafür geführten, von Protagoras nicht verstandenen und
mit überlegener Sicherheit beseitigten Beweise p. 349 E bis
350 © darlegt), ohne dass darum Artunterschiede der einzelnen
Tugenden brauchten geleugnet zu werden. Zu diesen dem Dialog
Protagoras selbst entlehnten Gründen kommt noch hinzu, dass
Dialoge wie Laches und Charmides, welche man ihrer Ab-
fassungszeit nach von Protagoras weit zu entfernen keinen An-
lass hat, schwerlich anders als unter der bezeichneten Auffassung
der Einheit der Tugenden zu einer befriedigenden Deutung zu
bringen sind.
Endlich Lehrbarkeit und Nicht-Lehrbarkeit der Tugend.
‚Der Platonische Sokrates bestreitet in dem ersten Abschnitte des
Protagoras die Lehrbarkeit der Tugend auf Grund der üblichen
Ansichten, zum Theil solcher, welche er sonst ausdrücklich und
entschieden verwirft, wie jene sittliche Hochschätzung der be-
rühmten Athenischen Staatsmänner. Auf Anlass der Dichter-
erklärung sodann zeigt Sokrates die Tugend als etwas werden-
des, in dessen Entwicklung mithin die Unterscheidung verschie-
dener Stufen zulässig sein wird. In der Recapitulation endlich
am Schlusse des Dialogs erklärt Sokrates nicht etwa, die frühere
Bestreitung der Lehrbarkeit auf Grund des nachher geführten
Beweises aufgeben zu müssen, was doch das einfachste zu sein
schiene, sondern bezeichnet mit heiterer Selbstverspottung den
Widerspruch, in welchem er sich mit sich selbst befinde. Sollte
nicht durch diese nachdrückliche Betonung des Widerspruches
die Combination berechtigt sein, dass dieser angebliche Wider-
spruch für Platon eben kein Widerspruch war, sondern gelöst
durch die im Menon des weiteren ausgeführte Unterscheidung
der aus glücklicher Naturanlage und Gewöhnung hervorgehen-
den von der auf sittlicher Einsicht beruhenden Tugend? In
dieser Weise unterscheidend bestreitet Sokrates gegenüber der
Sophistik, welche nur an die erstere Stufe denkt, und aus ihren
Gesichtspuncten, die Lehrbarkeit der Tugend eben so mit Recht,
als er sie für die auf Einsicht beruhende Tugend behauptet.
Möchte man aber vielleicht diese zuletzt bezeichnete Com-
bination als etwas unsicheres ablehnen, so enthält doch jeden-
falls der Dialog Protagoras über Grundfragen der Platonischen
Ethik, Zurückführung der Tugend auf Wissen, einheitlichen
250 PROTAGORAS.
Charakter der Tugenden in dieser ihrer Bedingtheit durch Wissen,
nicht blofs zerstreute einzelne Äufserungen, sondern einen in der
scheinbaren Willkür so planmälsig nach einem Ziele gerichteten
(Gredankengang, dass es als unzulässig erscheinen muss, in dieser
„realen Ausbeute“, wie Schleiermacher sich ausdrückt, etwas
blofs zufälliges sehen oder ihr im Sinne des Verfassers eine nur
nebensächliche Bedeutung zugestehen zu wollen. Dass dieser
ethische Gehalt des Dialogs und die vorher nachgewiesene
methodologische Tendenz desselben nicht disparate, fremdartig
neben einander bestehende Elemente sind, bedarf für den Kenner
Platons kaum der Erinnerung. Wem, wie dem Sokrates und
Platon, die Tugend auf Wissen beruht, für den hat die Methode,
welche zur Bestimmtheit des Wissens führt, einen sittlichen
Werth; προμνηϑούμενος ὑπὲρ τοῦ βίου τοῦ παντός (361 D) erstrebt
dieselbe der Platonische Sokrates, und die Sophistik ist, weil
wissenschaftlich hohl, darum sittlich gefährlich. 'Theoretisches
und Praktisches, Dialektik und Ethik in untrennbarer Verbin-
dung zu finden, wird uns hier so wenig in Verwunderung setzen,
als wenn wir im Symposion von der sittlichen Erhabenheit des
ἔρως zur Dialektik, im Phädros von der Anschauung des Guten
an sich, des Schönen an sich zur Begriffsbildung und Begriffs-
theilung den unmittelbaren Uebergang gemacht finden.
Wie aber stellt sich diese ethische und methodologische
Bedeutung des Dialogs zu der zuerst in Betracht gezogenen cul-
turhistorischen 'Tendenz desselben, der Kritik der Sophistik als
der vermeintlichen Lehrerin der Tugend? Meines Erachtens
wird dadurch die Überzeugung, zu welcher die Composition und
der Inhalt des Dialoges von seinem Anfange bis zum Schlusse
führt, dass in ihm die Sophistik in ihrem Anspruche, Lehrerin
der Tugend zu sein, durch sich selbst zu Falle gebracht wird,
weder entkräftet noch erschüttert, wohl aber in einer Hinsicht
ergänzt. Die Vernichtung der Sophistik in diesem ihrem An-
spruche lässt sich in Platons Sinne nur dadurch ausführen, dass
die Bestimmtheit ihres Wissens über das Object ihres Unter-
richtes und hiermit in untrennbarer Verbindung ihre Methode
der Kritik unterworfen wird. Eine solche Kritik liefse sich in
rein negativer Weise ausführen, so dass eben nur jener unbe-
rechtigte Anspruch in sich zerfiele, Platon aber gibt den nach
PROTAGORAS. 2351
einander in der vollen Natürlichkeit eines dramatisch bewegten
Gespräches behandelten Fragepuncten den planmälsigen Zu-
sammenhang, dass für den aufmerksamen Leser aus jener Ver-
nichtung der Sophistik zugleich Grundlehren der Platonischen
Ethik und wissenschaftlichen Methodik sich erheben. Es wird
dadurch berechtigt, für die Einsicht in Platons Ethik und Dia-
lektik den Dialog Protagoras zu verwerthen; aber es würde nicht
berechtigt sein, wo es sich um die Auffassung des Dialoges als
solchen handelt, diese Momente als die die Composition des
Ganzen bestimmenden und beherrschenden zu betrachten.
ZUR ERKLÄRUNG DES DIALOGS:
PHÄDROS,
Der Platonische Dialog Phädros ist seit mehreren Jahrzehnten 3°)
in noch höherem Mafse, als die meisten anderen Werke. dieses
Philosophen, zum Gegenstande gelehrter Forschung gemacht
worden. Schleiermacher hatte in seiner genialen Reproduction
der Platonischen Werke den Phädros als die früheste Schrift
Platons bezeichnet und in der Einleitung zu demselben die mit
seiner gesammten Auffassung der literarischen Thätigkeit Platons
eng zusammenhängenden Gründe entwickelt, welche ihn zu dieser
Ueberzeugung bestimmten. Der hierdurch angeregten Frage
nach der Zeitfolge der Platonischen Dialoge wendete sich die
Forschung der nächsten Zeit mit solcher Vorliebe zu, dass es
scheinen musste, die Lösung dieses von den mannigfachsten
Combinationen bedingten literarhistorischen Problems sei wich-
tiger, als das Verständnis jedes einzelnen Dialoges und das
Eindringen in seinen eigenthümlichen Gehalt und einheitlichen
Zweck. Der Phädros insbesondere wurde der Angelpunct dieser
Untersuchungen über die Zeitfolge der Dialoge: ob derselbe in
den Anfang von Platons literarischer Thätigkeit oder vielmehr
auf ihren Höhepunct zu setzen sei, wurde zu dem Ausdrucke
principieller Verschiedenheiten in der Auffassung Platons. Aber
unter diesen Bemühungen, dem Dialoge im Ganzen oder ın
seinen Einzelheiten Gründe für die eine oder die andere Zeit-
*) Festschrift zur dritten Säcularfeier des Berlinischen Gymnasiums zum grauen Kloster,
5. ὃ -})0.
«δ
PhHADRos. 253
bestimmung abzugewinnen, hat das Verständnis des Dialoges
selbst wenig gewonnen. Man braucht nur die theils künstlich
gewundenen, theils unbestimmt allgemeinen Auslassungen über
den Phädros in namhaften und verdienstlichen neueren Werken
über Platon !) mit den scharfen und klaren Bemerkungen Schleier-
machers zu vergleichen, der gerade bei diesem Dialoge ein-
gehender über dessen einheitliche Tendenz handelt, um zu sehen,
dass der ausgesprochene Vorwurf begründet ist. Es wird hierdurch
als gerechtfertigt erscheinen, wenn ich versuche, diese eigentliche
und unmittelbarste Aufgabe der Erklärung des Dialogs, die Frage
nämlich über seine Absicht und einheitliche Tendenz, von neuem
zu behandeln, ohne dabei jene Gegensätze in den Überzeugungen
der Forscher über die Zeit der Abfassung zu berücksichtigen ;
die Beantwortung dieser Frage wird dann von selbst den Anlass
geben, auf die gesammte literarische Thätigkeit Platons den Um-
blick zu erweitern. Wenn ich zu Vereinfachung der Darstellung
nur Schleiermachers Erklärung des Phädros namentlich erwähne,
so darf ich doch versichern, dass ich die andern, mir bekannt
gewordenen Erklärungen?) gewissenhaft in Erwägung gezogen
habe. — Die Grundlage für die Entwicklung der einheitlichen
Absicht des Dialogs kann nur in einer genauen, von willkürlichen
Zuthaten freien Analyse des Werkes gefunden werden; es wird
jedoch für den vorliegenden Zweck genügen, den Gedankengang
des Dialogs in seinen Umrissen zu bezeichnen. Dies soll zu-
nächst in gedrängtester Kürze geschehen.
Der athenische Jüngling Phädros hat den gröfsten 'Theil des
Vormittags in gespannter Aufmerksamkeit in der rhetorischen
Schule des Lysias zugebracht; aus ihr heraustretend um zur Er-
holung sich etwas zu ergehen, trifft er mit Sokrates zusammen.
ἡ Vgl. Hermann, Gesch. der Pl. Phil. 5. 514 f., Steinhart IV. 8. 21,
Susemihl I. 5. 275. Man findet die verschiedenen Erklärungen der Forscher
nach Schleiermacher übersichtlich zusammengestellt in der unter Anm. 2
erwähnten Schrift von Volquardsen ὃ. 303 ff.
2) Aulser den Schriften von K. F. Hermann, Steinhart, Susemihl er-
wähne ich insbesondere: Krische, Über Platons Phädros. 1847, Vol-
quardsen, Platons Phädros, erste Schrift Platons. 1862, v. Stein, Ge-
schichte des Platonismus. 'Thl. I. S. 92—120, Ribbing, Genetische Dar-
stellung der Platonischen Ideenlehre. ΤῊ]. II. $S. 191—220.
254 Pnhäpros.
Noch erfüllt von Bewunderung des Musterbeispiels einer Rede,
welches Lysias so eben seinen Schülern vorgetragen und mit-
getheilt hat, ist Phädros gern bereit dasselbe dem Sokrates vor-
zulesen. Man wählt zum Zusammensitzen einen schattigen
Rasenplatz unter einer Platane in der Nähe der Stadt (cap. 1—5.
p- 227 A— 230 E). Als sie dort angelangt sind, liest zunächst
Phädros die Rede des Lysias vor. Der Redekünstler hatte sich
dazu ein paradoxes Thema gewählt. Denn die Rede ist an einen
schönen Knaben gerichtet und soll ihn bestimmen, in seinen
Gunstbezeigungen den verständigen leidenschaftslosen Verehrer
dem leidenschaftlich liebenden vorzuziehen. In einzelnen, kurzen,
ohne erkennbare Ordnung aneinander gereihten Abschnitten
werden die Übel der leidenschaftlichen Liebe und der Vortheil
der nüchternen Verständigkeit mehr aufgezählt®) als zusammen-
3) Dass hiermit die Lysianische Rede richtig charakterisirt ist, ergibt sich
leicht aus einem Überblick der einzelnen zur Sprache gebrachten Puncte,
unter denen fast jeder folgende von dem vorhergehenden durch kenntliche
Marksteine bestimmter, wiederkehrender Partikeln getrennt ist. Es sind dies
folgende Abschnitte. 1. Die Liebenden empfinden nach dem Ende ihrer
Leidenschaft Reue über die aufgewendeten Geschenke. 2. (ἔτι δὲ) Die Lie-
benden rechnen ihre Kosten und Mühen an. 3. (ἔτι δὲ) Dass die Liebenden
besonders freundschaftlich gesinnt seien, ist nicht wahr; spätere Liebe zu
einem andern hebt diese Freundschaft auf. 4. (χαί zoı) Die Liebenden be-
finden sich in einem krankhaften Zustande. 5. (χαὶ μὲν δὴ) Unter den
Liebenden ist keine grolse Auswahl. 6. (τοίνυν) Die Unvorsichtigkeit der
Liebenden zieht den Geliebten Schmach zu. 7. (ἔτι) Bei Liebenden merkt
man die Absicht ihres Zusammenseins. 8. (χαὶ μὲν δὴ) Liebende schneiden
den Geliebten jeden sonstigen Umgang ab. 9. (χαὶ μὲν δὴ) Liebende ver-
folgen ihr sinnliches Begehren ohne .vorausgehende Kenntnis des Charakters
der Geliebten. 10. (zat μὲν δὴ) Der Umgang mit dem Nicht-Liebenden
bessert. 11. Recapitulation. 12. (ei δ᾽ ἄρα) Widerlegung der angeblich kurzen
Dauer des Verhältnisses zu Nicht-Liebenden durch das Beispiel der Ver-
wandtenliebe. 13. (ἔτι δὲ) Nicht den am dringendsten Bittenden ist zu will-
fahren, sondern dem Würdigsten — ausgeführt in rhetorischen Antithesen.
14. (τῶν ze εἰρημένων at) Dem Nicht-Liebenden macht niemand Vorwürfe.
15. Nicht allen Nicht-Liebenden soll der Knabe willfahren, sondern nur dem
Sprecher. — Wenn in dieser Übersicht auch jeder der einzelnen Abschnitte
nur nach seinem Hauptgesichtspuncte kurz bezeichnet ist, so zeigt sich doch
schon hierin die Berechtigung von Sokrates’ treffender Kritik. — Die Frage
über den Verfasser der Rede scheint mir durch L. Schmidts Abhandlung
(Verhandlungen der Philologen-Versammlung in Wien. 1858.) endgiltig er-
ledigt zu sein.
PHäADpRros. 255
5hängend entwickelt (cap. 6 — 9. p. 231 A — 234 C). Sokrates,
der ausdrücklich erklärt, nur auf die künstlerische Seite der
Rede geachtet zu haben, verhehlt nicht, dass er in die Bewun-
derung des Phädros nicht einstimmen könne, und fügt sogar
hinzu, dass er sich getraue, ohne im Inhalte wesentlich anderes
leisten zu können, doch dasselbe besser zu sagen als Lysias.
Den Bitten des Phädros nachgebend stellt er seinen extemporirten
Versuch der überlegten Schularbeit des Lysias gegenüber (cap. 10
— 13. p. 234 D— 237 A). Ein leidenschaftlich Liebender — so
modificirt Sokrates das paradoxe Thema — gibt sich den Schein
nüchterner Verständigkeit und sucht die Gunst des geliebten
Knaben dadurch zu gewinnen, dass er ihm den Vorzug der
verständigen Geneigtheit vor der Liebesleidenschaft erweist. Die
Liebesleidenschaft sei ein vernunftloses Begehren; aus diesem
ihrem Wesen ergebe sich für den Geliebten während des Be-
stehens der ihm gewidmeten’ Leidenschaft Nachtheil an Seele,
Leib und Vermögen und Widerwärtiges mancherlei Art, und
ähnliche Folgen träten nach dem Erlöschen der Leidenschaft ein.
Dies alles wird in vollkommen durchsichtiger Ordnung und in
schlichter Sprache dargelegt (cap. 13 — 18. p. 237 A— 241 D). —
Als nach Beendigung des Vortrages die beiden Unterredner zur
Stadt zurückkehren wollen, fühlt Sokrates durch die göttliche
; Stimme in seinem Innern sich zurückgehalten ; er habe in seiner
Rede die erhabene Gottheit des Eros geschmäht und Worte ge-
sprochen, die man nur ungebildeten Menschen zutrauen dürfe,
Er wage es daher nicht den Ort zu verlassen, ehe er durch einen
Widerruf den verdienten Zorn der Gottheit abzuwenden versucht
habe; diesen Widerruf trägt er unverhüllten Antlitzes vor, wäh-
rend er bei der vorhergehenden Rede es verhüllt hatte (cap. 19
—21. p. 241 Ὁ --- 243E). Die Vorwürfe, sagt Sokrates, welche
gegen die Liebe in der vorigen Rede gehäuft sind, würden be-
gründet sein, wenn jedes Heraustreten aus dem Zustande ruhiger
Besonnenheit (μανία) verwerflich wäre. Dass es aber Arten der
Verzückung gibt, welche, wie die prophetische, die sühnende,
die dichterische, der Menschheit den gröfsten Segen bringen, und
-dass zu diesen segensreichen auch die Liebesverzückung gehört,
wird ersichtlich, wenn man das Wesen der Seele, der göttlichen
und der menschlichen, in Betrachtung zieht. Nachdem das Wesen
250 Pnäpros.
der Seele als Princip der Selbstbewegung definirt ist, wird die
Entwicklung der menschlichen Seele, sowohl vor ihrer Verbin-
dung mit dem Leibe als nach ihrer Trennung von demselben in
einem schwungvollen, glänzend geschmückten Mythus dargelegt;
es genügt für unsern Zweck, die Hauptpuncte daraus hervorzu-
heben. Durch das für die menschliche Seele gewählte Bild —
nämlich eines Zweigespannes ungleichartiger Pferde und des
Wagenlenkers — wird schon in das ursprüngliche Wesen der
menschlichen Seele, vor ihrem Eintreten in den Körper, die
Verbindung eines höheren und eines niederen widerstrebenden
Elementes gelegt. Dieser Gegensatz macht sich geltend, indem
die menschlichen Seelen, sich anschliefsend je nach ihrem Cha-
rakter an einen der Götter, in den überhimmlischen Raum sich
zu erheben suchen, um das wahrhaft Seiende zu schauen; das
niedere Element ist ein Hindernis für diese Erhebung; aber es
kommt doch keine Seele in menschliche Gestalt, die nicht irgend-
wie zu dieser geistigen Anschauung gelangt wäre und das wahr-
haft Seiende, der sinnlichen Wahrnehmung Unzugängliche, das
Gute an sich, das Schöne an sich geschaut hätte. Die Liebe
nun ist die durch den Anblick der sinnlichen Schönheit geweckte
Erinnerung an die himmlische Schönheit; in dem geliebten
Wesen sieht der Liebende die Gottheit, welcher er einst gefolgt
war. Im der Liebesgemeinschaft sucht sich die Seele zu der
Seligkeit ihres vorweltlichen Zustandes zu erheben. In den Be-
mühungen um das Gewinnen des Geliebten bekämpfen einander
der göttliche und der sinnliche Theil der Seele; der verschiedene
Ausgang des Kampfes bestimmt die Abstufung im dem Werthe
und dem Adel der Liebe; ihr höchstes Ziel ist ein Leben in
geistiger Gemeinschaft des Forschens und Erkennens (cap. 22—
38. p. 244 A— 257 B).
Mit dem Beifalle für diese Rede des Sokrates verbindet
Phädros sogleich den Ausdruck des Zweifels, ob Lysias derselben
würde gleichkommen können, sofern er überhaupt in einen
Wettstreit einzutreten sich entschliefse und nicht das Reden-
schreiben aufgebe; denn es sei ihm vor kurzem diese Beschäf-
tigung zum Vorwurfe gemacht worden. Aber, entgegnet Sokra-
tes, Reden halten oder schreiben ist nicht an sich tadelnswerth,
sondern nur dann, wenn es nicht in der richtigen Weise ge-
on
PhäADpros. 257
schieht. Dadurch wird der Anlass gewonnen die Bedingungen
darzulegen, unter denen eine Rede (dieses Wort im weitesten
Umfange seiner Bedeutung genommen) schön und kunstgemäls
ist#) (cap. 33—41. p. 257 C— 259 D). Der Redner muss, auch
wenn er nur durch den Schein der Wahrheit Überredung schaffen
will, Einsicht in das wahre Wesen des Gegenstandes haben, von
dem er redet. Bei Gegenständen, die eine verschiedene Auf-
fassung zulassen, muss der Redner diejenige Begriffsbestimmung
derselben zu Grunde legen, welche dem vorliegenden Zwecke
entspricht. Die Folge der einzelnen Theile darf nicht eine will-
kürliche sein, sondern muss gleiche Nothwendigkeit haben, wie die
Anordnung der Glieder eines lebendigen Leibes; die Zusammen-
fassung unter allgemeine Gesichtspuncte und das Hinabsteigen zum
Einzelnen muss durch die Natur der Begriffe bestimmt sein, also
auf Dialektik beruhen. Endlich, da die Rede auf die Seele des
Hörers einwirken will, so ist aufser der Kenntnis der verschie-
denen Arten der Rede und ihrer Beherrschung Seelenkenntnis
erforderlich, um dem jedesmaligen Hörer die Rede anzupassen.
Was ohne diese wissenschaftliche Grundlage, die freilich nie-
mand als blofses Mittel der Redekunst, sondern um ihres eignen
Werthes willen anstreben wird und erreichen kann, sich für
Redekunst gibt, ist nur das Handwerkszeug der Rede, nicht ihre
Kunst. — Die gesammte ausführliche Darlegung dieser Erforder-
nisse ist so durchgeführt, dass darunter nicht blofs die geschrie-
bene Rede, sondern jede Gedankenmittheilung, mündlich oder
schriftlich, in ununterbrochenem Zusammenhange oder in Ge-
sprächsform, zum Zwecke des blofsen Überredens oder des Be-
lehrens, in ungebundener oder gebundener Form befasst erscheint
(cap. 42 — 58. p. 259 E— 274 B). In der daran angeschlossenen,
aber von dem vorhergehenden bestimmt unterschiedenen) Ver-
gleichung des mündlichen Gespräches mit der schriftlichen Dar-
stellung wird für den Zweck des Belehrens im vollen Sinne des
4) p. 259 E ὅπῃ καλῶς ἔχει λέγειν τε καὶ γράφειν καὶ ὅπῃ μή, σχεπτέον.
vgl. p. 258 D ὅστις πώποτέ τι γέγραφεν ἢ γράψει, εἴτε πολιτικὸν σύγγραμμα εἴτε
ἰδιωτύχόν, ἐν μέτρῳ ὡς ποιητής, ἢ ἄνευ μέτρου ὡς ἰδιώτης.
5) p. 274 Β οὐχοῦν τὸ μὲν τέχνης τε χαὶ ἀτεχνίας λόγων πέρι ἱκανῶς
ἐχέτω. --- Τὸ δ᾽ εὐπρεπείας δὴ γραφῆς πέρι καὶ ἀπρεπείας, πῇ γινόμενον χαλῶς
ἂν ἔχοι καὶ ὅπῃ ἀπρεπῶς, λοιπόν.
Bonitz, Platonische Studien. 17
258 Phänros.
Wortes, d. h. der Erweckung und Befestigung der gleichartigen
Gedanken in einem andern, dem mündlichen Gespräche der
unbedingte Vorzug gegeben (cap. 59—61. p. 274 B— 277 A).
An die Zusammenfassung der gewonnenen Ergebnisse schliefst
sich ein freundschaftlicher, dem Phädros aufgetragener Gruls
des Sokrates an Lysias, durch welchen er diesen zu philoso-
phischer Betreibung der Rhetorik auffordert, und als Gegenstück
dazu der Ausdruck hoher Erwartungen von dem noch jugend-
lichen, von philosophischem Streben erfüllten Redelehrer Iso-
krates. So schliefst der Dialog. Unter dankender Anrufung der
schützenden Gottheiten der sie umgebenden Natur verlassen die
Unterredner den lieblichen Ort, an dem sie ihre Gespräche ge-
führt haben (cap. 62—-64. p. 277 A— 279 C).
Der Dialog Phädros scheidet sich in zwei durch Inhalt und
Form scharf von einander abgehobene Theile®), die Liebesreden
der ersten Hälfte und das die zweite Hälfte einnehmende Ge-
spräch über Rhetorik. Nicht leicht wird sich ein Leser des
Dialoges dem unwillkürlichen Eindrucke entziehen, dass die
zweite Sokratische Rede durch die ahnungsvolle 'Tiefe der Ge-
danken und den Glanz der Sprache seine Aufmerksamkeit vor-
zugsweise fesselt und ihn darin den eigentlichen Kern des Gan-
zen erblicken lässt; diesen Eindruck machte der Dialog offenbar
schon auf diejenigen gelehrten Leser Platons im Alterthum,
welche zu der von Platon selbst dem Dialoge gegebenen Über-
schrift „Phädros“ die Überschriften „von der Liebe, vom Schö-
nen, von der Seele“ hinzufügten, welche Überschriften ja sichtlich
nur die zweite Sokratische Rede oder doch nur den ersten Theil
des Dialogs berücksichtigen. Schon der Hinweis auf die so eben
gegebene Skizze des Inhaltes reicht hin, eine solche Auffassung
als unzulässig zurückzuweisen und um zu vergegenwärtigen, dass
vielmehr die Rhetorik und in weiterem Sinne die: gesammte
Kunst der Gedankenmittheilung den einheitlichen Gesichtspunct
des Dialoges bildet. Mit einer durch die Ausführlichkeit
6, Den Versuch einer andern Hauptgliederung, als in diesen Worten
bezeichnet, durch die Form des Dialogs augenscheinlich gegeben und daher
allgemein angenommen ist, hat B. Förster gemacht, Quaestio. de Platonis
Phaedro. Berol. 1869, ohne jedoch überzeugende Gründe beibringen zu
können.
PhHäDperos. 259
neuerer Arbeiten weder übertroffenen noch erreichbaren Über-
zeugungskraft weist Schleiermacher in seiner Einleitung die Be-
ziehungen aller Glieder der Composition auf diesen Zweck nach,
und macht es dadurch überflüssig den Beweis von neuem zu
unternehmen; aber Schleiermacher gibt diese Nachweisung nur —
um sodann diese Auffassung als gleich unberechtigt wie die so
eben verworfene zu beseitigen. „Denn“, sagt er, „wäre nur
diese Berichtigung des Begriffes der Rhetorik die Hauptidee des
Ganzen, so wäre doch Liebe und Schönheit, der Inhalt jener
Reden, für diesen Zweck ein rein zufälliges.“ So wird ihm
die Rhetorik selbst für diesen Dialog zu etwas blols äulserem.
„Die Seele des Ganzen ist vielmehr“, sagt Schleiermacher, „die
Kunst des freien Denkens und des bildenden Mittheilens. Der
ursprüngliche Gegenstand der Dialektik aber sind die Ideen,
welche Platon daher auch hier mit aller Wärme der ersten Liebe
darstellt, und so ist die Philosophie selbst und ganz dasjenige,
was Platon hier als das Höchste und als Grundlage alles Wür-
digen und Schönen anpreist, für die er allgemeine Anerkennung
in diesem Besitze siegreich fordert.“
Man wird die Richtigkeit des zuletzt ausgesprochenen Satzes
Schleiermachers schwerlich anfechten können, aber bestreiten
muss man, dass dadurch gerade der Dialog Phädros charakterisirt
sei; denn auf denselben Grundgedanken, nämlich die ausschliels-
liche und unbedingte Würde der Philosophie zu erweisen und
anzupreisen, kommt, ohne die geringste Gewaltsamkeit der Deu-
tung, noch eine ganze Reihe der gelesensten und bewundertsten
Platonischen Dialoge zurück. Im Dialoge „das Gastmahl“ die-
nen alle Liebesreden der andern geistreichen Genossen des Mah-
les nur zur Folie der Sokratischen, in welcher unter dem Namen
des Eros das Wesen der Philosophie gepriesen wird, und zu
welcher dann Alcibiades in seiner Lobrede auf Sokrates in So-
krates’ Person das Ideal eines Philosophen als verwirklicht dar-
stellt”). Im Phädon werden die Beweise für die Ewigkeit der
Seele nur Anlass und Grund zu der Nachweisung, dass aus-
7) Vgl. die lichtvolle Entwicklung der Absicht des Dialogs Symposion,
welche Zeller zu seiner Übersetzung dieses Gespräches (Marburg 1857) in
der Erläuterung „zum Ganzen“, besonders ὃ. 82 f. gibt.
ΤΊΝ
200 Phänros.
schliefslich die Philosophie für das ewige Wesen der Seele sorgt.
Im Gorgias wird gezeigt, dass die Philosophie der einzig wür-
dige Lebensberuf eines Mannes, im Euthydemos, dass Philo-
sophie das unerlässliche und unersetzliche Bildungsmittel . der
Jugend ist®). Was also vom Phädros Schleiermacher, und zwar
mit unbestreitbarem Rechte ausspricht, dass in ihm Platon die
Philosophie selbst als das Höchste und als Grundlage alles Wür-
digen und Schönen anpreise, das gilt, ohne dass man auch nur
ein Wort zu ändern nöthig hätte, von all diesen Dialogen. Die
Schärfe und Bestimmtheit der Auffassung scheint mir beein-
trächtigt zu werden, wenn über diesem treffend bezeichneten
gemeinsamen Charakter das specifisch Unterscheidende jedes ein-
zelnen Dialogs, im vorliegenden Falle das des Phädros, in Schat-
ten gestellt wird. Wollen wir diesem specifischen Charakter
des Phädros sein Recht wahren, so werden wir unvermeidlich
zu der von Schleiermacher zu etwas blols Äufserlichem herab-
gesetzten Rhetorik zurückgeführt. Der ganze Dialog soll zu der
Überzeugung führen, dass die Rhetorik und jede Gedankenmit-
theilung nur dann eine Kunst sein kann, wenn sie auf der Phi-
losophie — wir würden vielleicht sagen, auf der wissenschaftlichen
Einsicht in den Gegenstand — beruht.
Ein Schriftsteller müsste fürwahr darauf ausgehen, seine
Leser über seine wahre Absicht zu täuschen, wenn er sein Werk
so componirte, wie der Phädros componirt ist, dass er nämlich
die Rhetorik vom Anfange bis zum Schlusse den Gegenstand
der Verhandlung bilden liefse und sie dann doch nur als etwas
dem eigentlichen Zwecke äulserliches betrachtet wissen wollte.
Das begeisterte Interesse des Phädros für Rhetorik bildet den
Anlass des Gespräches; als Beispiele rhetorischer Kunst,
wetteifernd mit einander und einander überbietend, werden die
drei Reden vorgetragen. Wenn der reiche Inhalt der letzten
Rede den Leser so beschäftigt, dass er unwillkürlich ein Nach-
klingen desselben in dem darauffolgenden Gespräche erwartet,
8). Dass in dieser Weise die Aufgaben zu bezeichnen sind, welche Pla-
ton in den Dialogen Gorgias und Euthydemos zu lösen unternimmt, habe
ich in den auf sie bezüglichen Abhandlungen zu zeigen gesucht, vgl. oben
8:30, 121.
pers
PHAÄDRos. 261
so sieht er sich darin vollkommen getäuscht; ohne die mindeste
Rücksicht auf diesen Inhalt ist es sofort wieder die Rede-
kunst, welche Sokrates und den Jüngling beschäftigt. Und
über Rhetorik handelt Sokrates in dem umfassenden zweiten
Theile des Werkes, nicht etwa in blofs allgemeiner Weise, son-
dern gegenüber der überwiegend äulserlichen Technik der da-
maligen Rhetoren weist er die Bedingungen nach, unter denen
allein die Rhetorik Anspruch darauf habe, für eine Kunst ge-
achtet zu werden. Es sind deren im wesentlichen drei, die der
Platonische Sokrates geltend macht. Erstens, die Rhetoren
haben zwar ganz Recht, wenn sie für die Rede, welche über-
reden, nicht belehren will, nicht die Wahrheit, sondern die
Wahrscheinlichkeit als Aufgabe setzen; aber sie irren, wenn sie
sich deshalb von der Forderung der wissenschaftlichen Einsicht
in den zu behandelnden Gegenstand enthoben glauben; denn
die Befähigung, den Schein der Wahrheit dem jedesmaligen
Zwecke entsprechend hervorzurufen, besitzt im vollen Mafse nur
derjenige, der das wahre Wesen des Gegenstandes erkannt hat.
Zweitens, soll die Rede ein Kunstwerk sein, so muss die Ver-
bindung ihrer Theile die gleiche innere Nothwendigkeit haben
wie die Theile eines lebenden Wesens, wir würden sagen eines
Organismus; also, da Gedanken die Glieder sind, aus denen die
Rede sich zu gestalten hat, so muss der Redner die Begriffe,
um die es sich handelt, in ihrem gegenseitigen Verhältnisse voll-
kommen durchdrungen haben, der Redner muss Dialektiker sein.
Drittens, die beabsichtigte Wirkung der Rede ist durch Stim-
mung und Charakter der Hörer, an welche sie sich richtet, be-
dingt; die Herrschaft über die verschiedenen Formen und Mit-
tel der Rede genügt daher nicht, wenn nicht Seelenkenntnis
hinzutritt und das richtige Urtheil darüber, welche der verschie-
denen Formen und Farben der Rede für die Charaktere der
jedesmaligen Hörer passe. Mögen diese drei für die Kunst-
mälsigkeit der Rede erforderten Momente uns jetzt als selbst-
verständlich, wenigstens eines Aufwandes der Beweisführung
nicht bedürftig erscheinen: wir haben ihren Werth nicht zu
messen an einer entwickelten, wahrhaft wissenschaftlichen Theo-
rie der Rede, welche eben Platon selbst begründet, Aristoteles
zuerst ausgeführt hat, sondern wir haben den fast ausschliefslich
262 PHAÄDROoSs.
technischen Inhalt der damaligen Rhetorik in Vergleichung zu
stellen. Diesem gegenüber lässt Platon deutlich hervortreten,
dass er sich bewusst ist etwas neues und eigenthümliches aus-
zusprechen, und dass er diese seine Gedanken zu klarer Auf-
fassung und zu voller Anerkennung zu bringen wünscht. Denn
in einer, für die Gesprächsform fast pedantischen Weise wird
vom Platonischen Sokrates das Aufsuchen dieser Forderungen
angekündigt, jede einzelne von der anderen auffällig unter-
schieden, der Abschluss der Nachweisung kenntlich be-
zeichnet; ja als wollte er sich der richtigen Auffassung mög-
lichst versichern, scheut der Platonische Sokrates sich nicht, die-
selben zwei-, ja dreimal aufzählend zu recapituliren®). Kommt
nun zu dieser, aus der dialogischen Form an das Lehrhafte
9) Angekündigt wird die Untersuchung über die Bedingungen der Kunst-
mäfsigkeit der Rede p. 259 E: οὐκοῦν, ὅπερ νῦν προὐϑέμεϑα σχέψασϑαι, τὸν
λόγον ὅπῃ χαλῶς ἔχει λέγειν τε χαὶ γράφειν χαὶ ὅπῃ pn, σχεπτέον. Abgeschlossen
wird dieselbe p. 214 B: οὐχοῦν τὸ μὲν τέχνης τε καὶ ἀτεχνίας λόγων πέρι ἱχανῶς
ἐχέτω. Das erste Erfordernis für die Kunstmälsigkeit, nämlich die Einsicht
in das Wesen der zu behandelnden Sachen, wird angekündigt p. 259 E: ap
οὖν οὐχ ὑπάρχειν δεῖ τοῖς εὖ γε χαὶ καλῶς δηδησομένοις τὴν τοῦ λέγοντος διάνοιαν
εἰδυταν τὸ ἀληϑὲς ὧν ἂν ἐρεῖν πέρι μέλλῃ; abgeschlossen wird dieser Abschnitt
p- 2026: λόγων ἄρα τέχνην ὁ τὴν ἀλήϑειαν μὴ εἰδώς, δύξας δὲ τεϑηρευκώς,
γελοίαν τινά, ὡς ἔοικε, καὶ ἅτεχνον παρέξεται. Die Erörterung des zweiten Er-
fordernisses, nämlich der logischen Ordnung, wird eingeleitet durch den
etwas harten Übergang p. 262 C, D: βούλει οὖν --- ὃ φής, und es werden so-
dann darin drei Momente deutlich von einander abgehoben, erstens λόγου
ἀρχήν p. 262 Ὁ, E, zweitens τί δὲ τἄλλα; οὐ χύδην δοχεῖ βεβλῆσϑαι τὰ τοῦ λόγου
p- 264 B, drittens τοῦτον μὲν τοίνυν ἐάσωμεν — εἰς δὲ τοὺς ἑτέρους ἴωμεν
p: 264 E. Nachdem hierauf p. 200 Ὁ — 269 D ausgeführt ist, dass bei dem
Mangel dieser wissenschaftlichen Erfordernisse (τούτων ὑπολειφϑέν p. 266 D)
nur das Handwerksmälsige (τὰ πρὸ τῆς τέχνης p. 267 B) übrig bleibt, wird,
wiederum durch einen deutlich erkennbaren Übergang p. 269 D — 270 B,
zu dem dritten, dem psychologischen Erfordernisse fortgeschritten p. 270 B
— 272 B. — Recapitulirend zusammengestellt werden die Erfordernisse für
die Kunstmäfsigkeit der Rede p. 273 Ὁ: — 6 τὴν ἀλήϑειαν εἰδὼς — ἐὰν μή
τις τῶν τε ἀχουσομένων τὰς φύσεις διαριϑμήσηται, καὶ κατ᾽ εἴδη τε
n τ ı 9 x - St > x T a 17 λ
u} DE eo Au 2 ᾽ξ ) τος - = ξ Τ -
διαιρεῖσθαι τὰ ὄντα χαὶ μιᾷ ἰδέᾳ δυνατὸς ἡ κα ἕν ἔχαστον περιλαμ.
o
άνειν; und wiederum p. 277 B: πρὶν ἄν τις τό τε ἀληϑὲς ἑχάστων εἰδῇ περὶ
ὧν λέγει ἢ γράφει, κατ᾽ αὐτό τε πᾶν ὁρίζεσϑαι δυνατὸς γένηται, ὁρισάμενός τε
'
διιδών χτλ., und das erste Erfordernis, die Einsicht in die Sache, wird noch-
mals vergegenwärtigt p. 278 C: εἰ μὲν εἰδὼς 7 τὸ ἀληϑὲς ἔχει ach.
πάλιν κατ᾽ εἴδη μέχρι τοῦ ἀτμήῆτου τέμνειν ἐπιστηϑῇ᾽ περί τε ψυχῆς φύσεως
PHADRos. 263
streifenden Entwicklung der Bedingungen der Rhetorik noch
hinzu, dass Platon die Kenntnis der gesammten Technik der da-
maligen Rhetoren, welcher er einen nur untergeordneten Werth
zugesteht, mit sichtlichem Behagen zur Schau trägt, so wird es
gewiss als unmöglich erscheinen, die Rhetorik für das Gauze
des Dialogs zu der untergeordneten Bedeutung eines blofs Äufser-
lichen mit Schleiermacher herabzudrücken. Die Reden des
ersten 'Theiles bezeichnet Platon selbst als glücklich sich dar-
bietende Beispiele 10), an denen die Richtigkeit der entwickelten
Lehren zu prüfen ihnen gestattet werde, und von den drei auf-
gestellten Forderungen der Rhetorik als einer Kunst — nennen
wir sie kurz die scientifische, die logische und die psycholo-
gische — erläutert Platon selbst die beiden ersten am Beispiele
der vorgetragenen Reden. Die zweite und dritte Rede, nach
Inhalt und Zweck einander entgegengesetzt, werden demselben
Sprecher zugewiesen, der nur in der ersteren seine wahre Über-
zeugung absichtlich verbirgt; die Eiusicht in die Sache, so ver-
wendet Platon selbst diesen Zug 11), gibt allein die Möglichkeit,
entgegengesetzte Meinungen als wahr erscheinen zu lassen. Die
erste und zweite Rede, ihrem Inhalte nach ausdrücklich als
übereinstimmend bezeichnet, werden wiederum von Platon selbst
als Beispiel verworrener Willkür !?2) gegenüber logischer Ordnung
verwendet. Dass endlich die Farbe der beiden Sokratischen
Reden, deren eine sich an den berechnenden Verstand, die an-
dere an die begeisterte Phantasie des Hörers wendet, als Muster
dafür gelten kann, wie die Rede sich dem Charakter und der
Stimmung der durch sie zu überredenden Hörer anpassen soll,
hat Schleiermacher mit dem ihn auszeichnenden feinen "Takte
für die Form angedeutet.
Bis hierher zeigen sich alle Fäden des Gespräches dem einen
Ziele zugewendet, theoretisch darzulegen und an Beispielen nach-
zuweisen, welche Bedingungen die Rhetorik erfüllen muss, wenn
10) p. 262 C, Ὁ: χαὶ μὴν κατὰ τύχην 1έ τινα, ὡς ἔοιχεν, ἐρρηϑήτην τὼ
λόγω ἔχοντέ τι παράδειγμα, ὡς ἂν ὁ εἰδὼς τὸ ἀληϑὲς προσπαίζων ἐν λόγοις
παράγοϊ τοὺς ἀκούοντας.
1) p. 237 Β: εἷς δέ τις αὐτῶν αἱμύλος ἦν, ὃς οὐδενὸς ἦττον ἐρῶν ἐπεπείχει
τὸν παῖδα ὡς οὐχ ἐρῴη — vgl. mit der Anm. 10 angeführten Stelle.
12) 9. 263 E — 264 E.
264 PnäADpros.
sie auf die Würde einer Kunst Anspruch machen will. Aber
aufser Betracht gelassen ist bisher der umfassende und mit un-
verkennbarer Vorliebe ausgeführte 'Theil der dritten Rede, in
welchem theils in lehrhafter Weise, theils in der Form des My-
thus von dem Wesen und den Wandlungen der Seele gehandelt
wird, eben jener Theil, welcher den Anlass gegeben hat, den
ganzen Dialog nach seinem Inhalte als Dialog von der Seele
oder vom Schönen zu überschreiben. Als rhetorisches Beispiel
ihn anzusehen in der so eben durchgeführten Weise ist nicht
zulässig; denn der durch die Lysianische Rede veranlasste an-
gebliche Zweck, die Gewinnung des Geliebten, rechtfertigt ge-
wiss nicht diese eingehende Abhandlung über das Wesen und
die Entwicklung der Seele, und an Abrundung würde die dritte
Rede nur gewonnen haben, ohne darum etwas von ihrem Far-
benglanze einbülsen zu müssen, wenn dieser Mythus in die
Grenzen des Nothwendigen beschränkt oder durch anderes er-
setzt wäre. Gesetzt nun, es lasse sich nicht eine andere Be-
deutung dieses Abschnittes für den bis jetzt erkannten Zweck
des Dialoges nachweisen, so würde sich selbst daraus meines
Erachtens noch kein Recht ergeben, das von allen übrigen Seiten
her zur Nothwendigkeit gewordene Resultat mit Schleiermacher
wieder zu beseitigen, sondern man würde anzuerkennen haben,
dass ein überwiegendes Interesse Platons hier die Grenzen der
Composition durchbreche. Aber dies ist nicht einmal der Fall;
in dem bis jetzt noch als fremdartig erscheinenden Abschnitte
der dritten Rede lässt sich eine bestimmte Beziehung auf die
über die Rhetorik ausgesprochenen Hauptsätze nicht nur als
vorhanden, sondern selbst als von Platon beabsichtigt nachwei-
sen 13).
Als erste Bedingung der Rhetorik als einer Kunst wird die
Erkenntnis des Gegenstandes, von dem ın der Rede zu handeln
ist, gefordert. Nun ersehen wir aus anderen Platonischen Dia-
logen, in welchem Mafse damals, gewiss nicht blols von Sophi-
13) Wesentliches Verdienst um die vollständige Nachweisung der zwischen
dem ersten und dem zweiten Theil des Phädros vorhandenen Beziehungen
hat die Abhandlung von Deuschle: „Über den inneren Gedankenzusammen-
hang im Platonischen Phädros“, Zeitschr. für AW. 1854. No. 4-6.
--
4
PHÄDRos. 265
sten um täuschende Räthselfragen zuzuspitzen, sondern auch von
ernsten Denkern die Möglichkeit des Wissens überhaupt in Zwei-
fel gezogen wurde). Solchen Zweifeln gegenüber spricht der
Mythus über die Seele die Überzeugung aus, dass jede mensch-
liche Seele vor ihrem irdischen Leben in den Besitz der Er-
kenntnis gelangt sei; diese vorweltliche Intuition des Seienden
hat für ihr irdisches Leben die Bedeutung der Befähigung
zum Wissen, also Beseitigung des Einwandes, welcher der ersten
an die Rhetorik gestellten Forderung entgegengestellt werden
konnte. Und hierin liegt zugleich die Beziehung des Mythus
auf das zweite Erfordernis der kunstmälsigen Rede, nämlich die
logische Ordnung; denn das Aufsteigen zu allgemeinen Begrif-
fen ist in Platons Sinne zugleich Erhebung von dem wechseln-
den Scheine zu dem unwandelbaren Seienden; Erkenntnis des
Seienden und Dialektik unterscheiden sich für ihn wie der Er-
folg und die darauf gerichtete geistige Thätigkeit. Endlich die
Kunst der Rede als einer Seelenleitung setzt Kenntnis der
menschlichen Seele und ihrer Charakterverschiedenheiten vor-
aus; durch den Mythus wird uns nicht nur das allgemeine Wesen
der menschlichen Seele in seinem Schwanken zwischen himm-
lischer und irdischer Natur zur Anschauung gebracht, sondern
es werden auch hervorragende Typen verschiedener Charaktere
gezeichnet durch die Vergleichung mit den als bekannt voraus-
zusetzenden Charakteren der einzelnen Götter, denen als ihren
erwählten Führern die Seelen sich anschlossen 1). Der Inhalt
des Mythus steht also zu den deutlich markirten Hauptsätzen
über Rhetorik in wesentlicher und für dieselben bedeutsamer
Beziehung; denn diejenigen Forderungen, welche für die Kunst
der Rede gestellt werden, zeigt der Mythus als erfüllbar und
!4) Indem Antisthenes die Zulässigkeit von Urtheilen leugnet, in denen
das Prädicat dem Subjecte nicht identisch ist, Soph. 251 B, Theät. 201 E fi.
(Zeller, Ph. der Gr. II, S. 210 ff., vgl. oben 8. 191 f. 130), hebt er da-
durch überhaupt die Möglichkeit des Erkennens auf. Der Leugnung der
Möglichkeit des Lernens, welche er als einen verbreiteten eristischen Satz
erwähnt, setzt Platon im Menon p. 80D ff. die Lehre von der Wiedererin-
nerung an die dem irdischen Leben der Seele vorausgegangene geistige An-
schauung entgegen.
15) p. 252 0 — 253 (,
200 PHADRos.
durch das Wesen der menschlichen Seele selbst vorbereitet. —
Der Einwand liegt nahe, dass die angedeuteten Beziehungen 1Ὁ
blofs Erfindungen subjectiver Klügelei seien, welche Platon selbst
als beabsichtigt beizumessen wir kein Recht haben. Aber die
eine derselben wird von Platon selbst in nicht zu bezweifelnder
Weise bezeichnet. In dem Abschnitte des Mythus nämlich, in
welchem er die vorweltliche Intuition der Ideen schildert, sagt
Platon: „Keine Seele, die nicht einst die Wahrheit geschaut,
kommt in diese menschliche Gestalt. Denn der Mensch muss
das begrifflich ausgesprochene verstehen, indem er die Mannig-
faltigkeit der ‘Wahrnehmungen in die Einheit des Gedankens
zusammenfasst. Das aber ist Erinnerung an die einstige An-
schauung der Idee.“ Und als er im zweiten von den Erforder-
nissen der Rhetorik handelnden Theile die Nothwendigkeit der
Dialektik bezeichnet, die Fähigkeit der Zusammenstellung des
zerstreuten Umfanges des Einzelnen im die Einheit des Begriffs,
sind es fast durchaus die nämlichen Worte, deren er sich zum
Ausdrucke dieser Forderung bedient!6). Ein eigentliches Citat,
eine directe Verweisung auf den sachlichen Inhalt der letzten
Rede hätte die Fiction des Dialoges durchbrochen; denn nach
dieser können für den lehrhaften Inhalt des zweiten 'Theiles die
Reden des ersten, die letzte nicht weniger als die vorhergehenden,
nur in Betreff ihrer künstlerischen Form verwendet werden, nicht
nach ihrem Inhalte, der für etwas rein gleichgiltiges zu gelten
hat. So weit also die Andeutung eines inhaltlichen Zusammen-
hanges möglich war, ist sie durch diesen Anklang der Worte,
den schwerlich jemand für zufällig und unbeabsichtigt ansehen
wird, erreicht; und ist für eine der drei genau unter einan-
der zusammenhängenden inhaltlichen Beziehungen des Mythus zu
16) Die bezüglichen Worte in dem Mythus lauten p. 249 B, C: οὐ γὰρ 7
ye μή more ἰδοῦσα τὴν ἀλήϑειαν εἰς τόδε ἥξει τὸ σχῆμα. δεῖ γὰρ ἄνθρωπον
ξυνιέναι nur’ εἶδος λεγόμενον, ἐχ πολλῶν ἰὸν αἰσϑήσεων εἰς ἕν λογισμιῷ ξυναιρού-
μενον. τοῦτο δέ ἐστιν ἀνάμνησις ἐχείνων, ἅ ποτ᾽ εἶδεν ἡμῶν ἣ ψυχὴ συμπορευϑεῖσα
ἡεῷ χαὶ ὑπεριδοῦσα ἃ νῦν εἶναί φαμεν χαὶ ἀναχύψασα εἰς τὸ ὃν ὄντως. Nicht
nur im allgemeinen an den Gedankeninhalt, sondern ausdrücklich an den
Wortlaut erinnern die Stellen im zweiten Theile des Phädros p. 265 D: ei;
μίαν τε ἰδέαν συνορῶντα ἄγειν τὰ πολλαχῇ διεσπαρμένα, ἵν᾽ ἕκαστον ὁριζόμενος
δῆλον ποιῇ, περὶ οὗ ἂν ἀεὶ διδάσχειν ἐθέλῃ. p. 273 E: ἐὰν μὴ war εἴδη τε
δισιρεῖσῦ αἱ τὰ ὄντα χαὶ μιᾷ ἰδέᾳ δυνατὸς ἡ au" ἕν ἕχαστον περιλαμβάνειν.
16
PHäÄDRos. 267
den Erörterungen über Rhetorik durch Platon selbst dem Leser
die Weisung gegeben, so wird damit zugleich für die beiden
andern der Verdacht einer blofs subjectiven Combination und
willkürlichen Deutelei beseitigt sein.
Hiermit schwindet auch die letzte Spur einer Berechtigung,
die Rhetorik, welche Platon selbst als Gegenstand der Verhand-
lung vom Beginne bis zum Schlusse des Werkes bezeichnet, mit
Schleiermacher zu einer blofs äulserlichen Schale des eigent-
lichen Kernes zu machen. Vielmehr hat Platon wirklich die
Absicht zu zeigen, dass die Rhetorik, auch wenn sie nur durch
das Mittel der Wahrscheinlichkeit Überredung, nicht Belehrung
schaffen will, doch zu einer wirklichen Kunst nur auf dem
Grunde der Philosophie sich entwickeln kann. Die Philosophie
aber hat nicht erst als Voraussetzung und Bedingung der Rhe-
torık, sondern an sich einen absoluten Werth, und die beleh-
rende Mittheilung, die Gemeinsamkeit wissenschaftlicher For-
schung steht an Bedeutung und Würde hoch über jeder nur der
Überredung dienenden Rede.
Wenn ich hiermit versuche, im Platonischen Phädros, ohne
dem von Schleiermacher zur ausschliefslichen Geltung gebrachten
allgemeinen philosophischen Charakter Eintrag zu thun, der
polemisch-kritischen Seite ihre volle Bedeutung zu wahren und
darin die specifische Tendenz dieses Dialogs erkennen zu dürfen
glaube, so ist darin eine Verschiedenheit von Schleiermachers
Auffassung der schriftstellerischen Thätigkeit Platons ausgeprägt,
welche sich in gleicher Weise auf einen weiteren Kreis von
Dialogen bezieht. Für Schleiermacher nämlich sind. die Dialoge
Platons die fortschreitende und sich erweiternde Selbstdarstellung
des Philosophen. Durch Einhaltung dieses Gesichtspunctes hat
Schleiermacher zur Einführung in das Verständnis des Philo-
sophen grölseres geleistet, als vor oder nach ihm jemandem ge-
lungen ist; aber die Ausschliefslichkeit dieses Gesichtspunctes
steht meines Erachtens weder mit den zweifellos vorliegenden
Überzeugungen Platons im Einklange, noch erschöpft sie den
Inhalt einer ganzen Reihe bedeutender Dialoge. Das philoso-
phische Wissen hat für Platon ebenso wie für Sokrates nicht
blofs theoretische Bedeutung; ‘die Unbedingtheit des Wissens
und die sittliche Reinheit des Willens sind für Platon etwas
208 PräÄpros.
untrennbar verbundenes. Die Philosophie ist nicht eine von
dem Leben getrennte Theorie, sondern sie ist die das ganze
Leben erhebende und gestaltende Kraft. Wenn Platon sein
Ideal des Philosophen, Sokrates, der mit bewusster Absicht der
Politik sich fern gehalten hatte, doch für den einzigen wahren
Politiker erklärt 17), wenn er für das Wohl der Staaten fordert,
lass die Regierenden sich wahrhaft und aufrichtig der Philoso-
phie hingeben 15), so sind diese und ähnliche Sätze nicht witzig
zugespitzte Paradoxien, sondern sie sprechen nur Platons innerste
Überzeugung in einer besondern Richtung aus. Mit dieser Über-
zeugung fand sich Platon im Gegensatze zu der herrschenden
geistigen Richtung seiner Zeit. Die begabtesten Jünglinge
strömten den Schulen der Sophisten und Rhetoren zu, in denen
‚sie — wie es jetzt mit einem viel verwendbaren Worte bezeich-
net zu werden pflegt — formale Bildung und Gewandtheit der
Rede zu erwerben hofften, um danach entweder durch ihr Talent
zu glänzen oder sich Einfluss im Staate zu verschaffen. Dem
gegenüber nun unternimmt Platon in einer Reihe von Dialogen,
welche durch den Reiz ihrer Form gebildete Leser zu gewinnen
und zu fesseln geeignet waren, zu der Überzeugung zu führen,
dass alle diese sophistisch-rhetorische Bildung eitel Tand sei,
wenn sie nicht auf dem festen Grunde der Philosophie ruhe.
Es genüge zur Erläuterung dieses Satzes an Dialoge wie Prota-
goras, Euthydemos, Gorgias zu erinnern. Die Sophisten wollen
über die wichtigsten Dinge Belehrung geben und dadurch Jüng-
linge zu bürgerlicher Tugend bilden; und doch zeigt sich, dass
sie über die principiellsten Fragen der Ethik in gleich schämens-
werther Unklarheit sich befinden, wie ihre Schüler. Diesen Ge-
danken bringt der Dialog Protagoras zur Anschauung. Die
sophistische Spitzfindigkeit, eben so überraschend für den ersten
Blick wie leicht abzulernend für das oberflächliche Talent, kann
die Jünglinge wohl zu übermüthiger Leichtfertigkeit bringen,
den bescheidenen Ernst des Forschungstriebes schafft nur die
17 Gorg. 521 D: olpaı μετ᾽ ὀλίγων ᾿Αϑηναίων, ἵνα μὴ εἴπω μόνος, ἐπιχειρεῖν
τῇ ὡς ἀληϑῶς πολιτικῇ τέχνῃ καὶ πράττειν τὰ πολιτιχὰ μόνος τῶν νῦν.
18) Vgl. die bekannte Stelle der Republik über die Nothwendigkeit der
Herrschaft der Philosophie im Staate, V. 473 C, Ὁ.
ει PhrADperos. 269
Philosophie. Dies die Absicht der heitern Witzesspiele des
Dialoges Euthydemos. Die politische Rhetorik, so wie sie that-
sächlich besteht, ist keine des edlen Mannes würdige Lebens-
aufgabe, die Philosophie ist sein wahrer Lebensberuf, der Phi-
losoph allein ist Politiker im vollen Sinne des Wortes. So lässt
sich die Absicht des Dialogs Gorgias zusammenfassen. In diese
Reihe von Dialogen, für deren Charakteristik die angeführten
Beispiele ausreichen, gehört auch der Phädros; der Preis der
Philosophie, als der Grundlage alles Schönen und Guten, ist
nicht der ausschliefsliche Zweck des Dialogs, sondern die Be-
kämpfung der unwissenschaftlichen, handwerksmäfsigen Rhetorik
hat für Platon nicht minder Wichtigkeit; wenn man mit Schleier-
macher diesen und die ihm gleichartigen Dialoge nur zu Momen-
ten in der Selbstdarstellung Platons macht, so scheint mir da-
durch ihr, wenn ich so sagen darf, praktischer Charakter, das
Streben nach Einwirkung auf einen weiteren Kreis gebildeter
Leser verfehlt zu werden. Von dieser Gruppe Platonischer
Dialoge scheidet sich kenntlich eine andere: Dialoge, in denen
Platon bestimmte Seiten seines philosophischen Systems zu er-
18 weisen und sich über die von ihm versuchte Lösung der Probleme
mit den andern gleichzeitig bestehenden Philosophien auseinan-
derzusetzen unternimmt. In ihrer Form des Schmuckes drama-
tischer Scenerie, des fesselnden Glanzes der Darstellung ent-
behrend sind sie, scheint mir, für einen engern Leserkreis, der
eignen Schule und von Philosophen der von Platon bekämpften
Richtungen, schon ursprünglich angelegt gewesen, so gut wie
jetzt ihre Lectüre sich auf einen ungleich engern Kreis be-
schränkt als die jener ersteren Gruppe, aus welcher das Ge-
sammtbild von Platons schriftstellerischem Charakter pflegt ge-
wonnen zu werden. Oder ist es wahrscheinlich, dass zu Platons
Zeit ein Sophistes, Kratylos, Politikos, Parmenides, Philebos
und selbst Theätetos andere Leser gefunden habe, als solche,
welche der Philosophie im specifischen Sinne dieses Wortes ihr
Interesse und ihre geistige Arbeit widmeten, und dass Platon
selbst für die in diesen Schriften geführten Untersuchungen
einen weitern Leserkreis als den bezeichneten erwartet habe?
Wenn die Annahme der Bestimmung für einen engen Leser-
kreis berechtigt ist, so würde sich daraus erklären, dass in ihnen
270 Präpros.
Platon den Dialog in einer Weise anwendet, welche der rein
abhandelnden Form nahe kommt. — Die hier versuchte Unter-
scheidung zweier Arten der Platonischen literarischen Thätigkeit
würde durch Erinnerung an den damaligen wissenschaftlichen
Zustand, da die Philosophie aus einem Inbegriff der gesammten
wissenschaftlichen Bildung die Selbständigkeit einer Wissenschaft
zu gewinnen begann, durch Vergleichung ferner der zweifachen
schriftstellerischen Thätigkeit des Aristoteles in seinen populären
dialogischen und seinen systematischen Schriften zu grölserer
Wahrscheinlichkeit erhoben werden können. Wird diese Unter-
scheidung als begründet anerkannt”), so verliert dadurch jene
sogenannte höhere Kritik über die Echtheit Platonischer Schrif-
ten einen grolsen T'heil ihrer Waffen, da sie eben die Form der
einen Art von Dialogen zum Mafsstabe Platonischer Weise
überhaupt glaubt machen zu dürfen, in derselben Weise, wie
bei Aristoteles die Form der uns aus seinem literarischen Nach-
lasse allein noch übrigen Lehrbücher, Abhandlungen, Skizzen
von Vorträgen der Anlass geworden zu sein scheint, dass von
manchen Seiten die Echtheit der einst unter Aristoteles’ Namen
vorhandenen, für einen weiteren Leserkreis bestimmten Dialoge
bezweifelt oder in Abrede gestellt wird.
Doch kehren wir noch für einen Augenblick zum Phädros
zurück. Die‘ Frage über die Abfassungszeit des Phädros, die
seit Schleiermacher in allen Schriften über Platon den gröfsten
Aufwand von wirklicher Gelehrsamkeit wie von vorurtheilsvoller
Spitzfindigkeit erfahren hat, ist in dem bisherigen ganz bei Seite
gelassen. Zum Verständnisse des Phädros ist die Beantwortung
dieser Frage nicht erforderlich; das allgemeine Interesse der Zeit
für Rhetorik und deren thatsächliche Beschaffenheit einerseits,
Platons Überzeugung von dem absoluten Werthe der Philosophie
anderseits, reichen hin das Werk verständlich zu machen, ohne
dass wir nöthig hätten, erst aus der Eigenthümlichkeit eines
bestimmten Zeitpunctes oder eines einzelnen Anlasses die Er-
1). Die Unterscheidung ist nicht in dem Sinne aufgestellt, als müsse sich
jeder Platonische Dialog rein und unbedingt der einen oder der anderen
Kategorie einreihen lassen; durch Anerkennung einer solchen Beschränkung
verliert die Unterscheidung selbst, falls sie begründet ist, nicht an Bedeutung.
-»
=
9
20
PHäpros. 271
klärung zu suchen. Und wenn nebensächliche Anspielungen in
dem Dialoge?) aus ganz andern als den für Schleiermacher
bestimmenden Gesichtspuncten zu der Ueberzeugung zurück-
führen, dass der Phädros, wenn auch nicht mit Schleiermacher
bestimmt als der Anfang, so doch in die früheste Periode von
Platons literarischer Thätigkeit zu setzen ist, so gewinnt da-
durch wohl das Bild von Platons Schriftstellerthum, aber nicht
eben das Verständnis des Phädros an Bestimmtheit. Zeichen der
Jugendlichkeit in Einzelheiten des Dialoges Phädros hat Schleier-
macher mit sicherem Urtheile angedeutet; nicht vereinbar damit
scheint mir die ungeschmälerte Bewunderung, welche Schleier-
macher der Composition des Ganzen zollt. Der Dialog Phädros
fesselt durch Reize der Darstellung, die ihren Eindruck auf
keinen Leser verfehlen werden: die lebensfrische Naturschilde-
yung der scenischen Einrahmung hat schon im Alterthume ver-
diente Bewunderung gefunden; die verschiedene Farbe der drei
Reden beweist eine seltene Herrschaft über die Mittel der
Sprache; der erhabene Mythus der dritten Rede lässt uns eben
so sehr den Dichter Platon wie den tiefsinnigen Philosophen
vernehmen. Aber nicht den gleichen Beifall würde ich wagen
über die Composition auszusprechen. Das Ganze ist unverkenn-
bar in grofsen Umrissen angelegt, so dass der erste rhetorische
Theil seine Verwerthung im zweiten dialogischen findet; doch
lässt sich nicht leugnen, dass die verbindenden Fäden zwischen
beiden für den Umfang des Ganzen zu dünn erscheinen. Im
zweiten selbst sind die Fugen der Gliederung auffallend ersicht-
lich?!), die Übergänge öfters nicht aus der Sache selbst, sondern
durch zufällige Mittel hergestellt22); die Mangelhaftigkeit der
20) Vgl. vornehmlich Spengels Abhandlung: Isokrates und Platon. 1556.
2!) Vgl. oben Anm. 9.
>?) Es genüge unter andern an den Übergang zu dem dritten Erfordernis
der Redekunst, der psychologischen Kenntnis, zu erinnern p. 269 E—270 B,
oder an den Übergang zur Forderung der logischen Ordnung der Rede
p- 262 Ο: βούλει οὖν — E, bei dessen Anfang man nicht wissen kann, dass
die vorgetragenen Reden zur Auffindung anderer Erfordernisse, und nicht
vielmehr zur Erläuterung des bereits ausgesprochenen sollen verwendet wer-
den. Am auffallendsten aber ist es, wenn der Platonische Sokrates p. 265 A
das von dem Unterredner gebrauchte ἀνδρικῶς corrigirend in pavızaz steigert
und dies von ihm hineingeworfene Wort dazu verwendet, um zu den in den
272 Puäpros.
Gesprächsform durch die Inhaltlosigkeit dessen, was Phädros
dazu gibt, tritt nicht blofs durch die Vergleichung so vollendeter
Werke wie Protagoras, Gorgias, Phädon, Symposion, sondern
auch mancher kleinen, an Inhalt nicht bedeutenden, wie Laches,
Lysis, Charmides, unverkennbar entgegen. Mit Vorzügen, die
nur dem genialen Künstler erreichbar sind, verbinden sich
Mängel, in denen wir den anfangenden Künstler werden er-
kennen dürfen. Diese ebenso unverhohlen zu bezeichnen , wie
wir jene bewundern, gebietet die Achtung vor Platons Namen,
dessen Meisterschaft in der Kunst des philosophischen Dialoges
eines Verdeckens der Mängel nicht bedarf.
Reden erwähnten entgegengesetzten Arten der pavia und dadurch sodann
zu den logischen Functionen der Begriffsbildung und Unterscheidung zu
gelangen.
DIE IM PHÄDON ENTHALTENEN BEWEISE
FÜR DIE UNSTERBLICHKEIT DER MENSCH-
LICHEN SEELE.
413 Unter den Platonischen Dialogen hat kein andrer in gleichem
Malse auch aulserhalb der Kreise philologischer oder philoso-
phisch -historischer Forschung Interesse gefunden, wie der
Phädon. Der Anlass hierzu liegt ungleich weniger in der
hohen Formvollendung dieses Dialogs — dieser Grund würde
das Symposion und den Protagoras, und ihnen zunächst den
Gorgias zu gleicher Bevorzugung berechtigen —, als in seinem
Inhalte; denn specifisch Platonische Lehren haben in ihm einen
Ausdruck gewonnen, der auch aufserhalb des philosophischen
Gebietes die lebhafteste Theilnahme zu wecken geeignet ist: die
Unsterblichkeit der menschlichen Seele ist nicht nur als uner-
schütterliche Überzeugung ausgesprochen, sondern auch in strenger
Form zu beweisen unternommen. Darin liegt der Grund, dass,
abgesehen von den allgemein auf Platon oder auf die griechische
Philosophie bezüglichen Werken, speciell der Phädon eine grofse
Anzahl von Monographien veranlasst hat; doch scheint es zwei-
felhaft, ob der Ertrag für die Einsicht in den Gedankeninhalt
und das Ergebnis des Dialogs in angemessenem Verhältnis zu
dem ermüdenden Reichthum dieser Literatur stehe. Denn über
Fragen, die in dieser Hinsicht von entscheidendem Gewichte
sind, finden wir selbst in den bedeutendsten Erklärungsschriften
Ἢ Hermes Bd. 5. 85. 413—429.
Bonitz, Platonische Studien, 18
274 ῬΗΆΡΟΝ.
theils widersprechende, theils, wie mir scheint, schlechthin un-
haltbare Ansichten entwickelt. Mag der Beweis für die Unsterb-
lichkeit der menschlichen Seele der einzige und der eigentliche
Inhalt des Dialogs sein oder nicht, jedenfalls wird im Phädon
dieser Beweis unternommen, und eine Auslegung, welche Platons
eigene Absicht erforscht, muss mindestens darüber Sicherheit
bringen, ob Platon beabsichtigt, einen einzigen Beweis zu geben
oder mehrere, und wenn das letztere der Fall ist, wie viele
Beweise Platon zu geben beabsichtigt. Aber hierüber finden
noch jetzt fast sämmtliche Möglichkeiten verschiedener Combi-
nation ihre namhaften Vertreter. Ferner, die Beweisführung für
die Unsterblichkeit der menschlichen Seele wird durch ethische
Betrachtungen eingeleitet, unterbrochen, abgeschlossen, Betrach-
tungen, welche schon äufserlich einen solchen Umfang ein-
nehmen, dass es unmöglich ist sie als blofse Beigabe zu be-
trachten. Bilden diese einen 'Theil, etwa eine Ergänzung der
Beweise? oder in welchem Verhältnisse stehen sie in Platons
Sinne zu ihnen? Diese beiden für das Verständnis des Dialogs
principiellen Fragen möchte ich einer Entscheidung näher zu
bringen versuchen. Bei allem Streben nach Kürze darf ich doch
nicht unterlassen, an den Gedankengang des Dialogs zu erinnern;
ich beschränke mich dabei, mit Übergehung von allem, was auf
die künstlerische Composition des Dialogs sich bezieht, aus-
schlielslich auf Vergegenwärtigung des lehrhaften Inhaltes.
Die freudige Zuversicht, welche Sokrates in der unmittel-
baren Nähe des Todes gegenüber den ihn besuchenden trauern-
den Freunden ausspricht, gibt diesen, unter denen die Pytha-
goreer Kebes und Simmias besonders hervorgehoben werden,
den Anlass, Sokrates zur Rechtfertigung dieser seiner Stimmung
aufzufordern. Bereitwillig leistet Sokrates Folge (ec. 3—8). Das
gesammte Streben des Weisen, sagt er, ist darauf gerichtet zu
sterben und todt zu sein. Denn der Tod ist nichts anderes als
Trennung der Seele von dem Leibe und Selbständigwerden eines
jeden dieser beiden Theile. Der wahre Jünger der Weisheit
nun ist bemüht, nicht nur den sinnlichen Lüsten, sondern auch
den durch den Körper bedingten Sinneswahrnehmungen sich zu
entziehen ; denn nur mit der Seele an sich, ohne jede körper-
liche Einmischung, ist es möglich das wahrhaft Seiende zu
414
415
PhäADvon. 275
schauen. Diese Befreiung der Seele von dem Einflusse des
Körpers, welche im Leben nur annähernd, vollständig erst durch
den Tod erreicht wird, ist ein Sich-sammeln und eine Reinigung
der Seele, nicht allein auf dem Gebiete des Erkennens, sondern
auch auf dem sittlichen. Denn nur aus Einsicht geht wahre
Tugend hervor; was man im gewöhnlichen Leben als Tugenden
bezeichnet, das ist nichts weiter als ein kluges Abmessen von
Begehrungen gegen einander. Wenn so das ganze Streben des
Weisen auf Lösung der Seele von dem Körper gerichtet ist, so
muss er die nicht willkürlich beschleunigte, sondern durch
göttliche Fügung vollendete Befreiung vom Körper freudig be-
grülsen (c. 9—13).
Diese Rechtfertigung des Sokrates erkennt Kebes nur unter
der Voraussetzung der Fortdauer der Seele nach dem Tode als
begründet an; Sokrates unterzieht sich daher, diesen Einwand
billigend, der Beweisführung dafür, dass nach dem Tode des
Menschen die Seele ist und eine gewisse Kraft und Einsicht be-
sitzt, ὡς ἔστι τε ἡ Ψυχὴ ἀποθανόντος τοῦ ἀνϑρώπου χαί τινα δύναμιν
ἔχει χαὶ φρόνησιν 70 B.
Die Sagen von der Wiederkehr der Verstorbenen zum Leben,
beginnt Sokrates die Beweisführung, sind nur der Ausdruck der
Ahnung eines allgemeinen Naturgesetzes. So weit Gegensatz
besteht, bewegt sich das Werden in den beiden Richtungen
zwischen den beiden Entgegengesetzten; denn fände nur in der
einen der beiden Richtungen ein Übergang zwischen den Gegen-
sätzen statt, so müsste alles zuletzt in einförmiges Einerlei
endigen. Dieser Grundsatz angewendet auf die Gegensätze von
Leben und Tod ergibt, dass nicht nur der erfahrungsmälsige
Übergang vom Leben zum Tode, sondern eben so der entgegen-
gesetzte vom Tode zum Leben stattfinden muss, der Tod also
nicht eine blofse Negation und Vernichtung ist, sondern den
Seelen der Gestorbenen ein Sein zukommt, ὡς εἰσὶν αἱ τῶν τε-
ϑνεώτων ψυχαί 72 D (c. 15— 17). — Dieselbe Folgerung, bemerkt
hierzu Kebes, ergebe sich auch aus dem von Sokrates häufig aus-
gesprochenen Satze, dass alles Lernen nichts anderes als Erin-
nerung sei; denn darin liege, dass die Seele das, woran sie jetzt
sich erinnere, in einem dem irdischen Leben vorausgegangenen
Zustande erkannt habe, und dies sei ohne Unsterblichkeit der
18*
270 ῬΗΆΑ͂ΡΟΝ.
Seele nicht möglich. Auf den Wunsch des Simmias gibt So-
krates die Begründung der als ihm eigenthümlich bezeichneten
Lehre. Die Wahrnehmung der Sinnendinge, erklärt Sokrates,
führt zur Erkenntnis der Ideen; aber aus der Sinneswahrnehmung
selbst und allein kann die Erkenntnis der Ideen nicht hervor-
gehen, weil sie verbunden ist mit der Einsicht, dass die sinn-
lichen Dinge den Ideen nicht gleichkommen, sondern hinter
ihnen zurückbleiben. Also setzt die durch die sinnliche Wahr-
nehmung veranlasste Erweckung der Ideen eine dem irdischen
Leben bereits vorausgegangene Erkenntnis der Ideen voraus,
beweist daher ein Leben, und zwar ein mit Intelligenz ver-
bundenes Leben der Seele vor diesem irdischen Leben (c. 18—22).
Die von Simmias angeregte, von Kebes, der doch diese ganze
Bemerkung selbst begonnen hatte, gebilligte Einwendung, dass
durch die so eben begründete Sokratische Lehre allerdings ein
dem irdischen Leben vorausgegangenes, aber nicht zugleich ein
den Tod überdauerndes Leben der Seele bewiesen sei, beseitigt
Sokrates durch den Hinweis, dass man nur diesen Satz über
das Lernen als Erinnerung mit dem vorher dargelegten Natur-
gesetze der doppelten Richtung des Werdens zu vereinigen
brauche, um den vollständigen Beweis zu haben (ce. 23).
Trotz der so hergestellten Geltung dieses Beweises sucht
doch unsre kindische Sorge, als werde mit dem Tode unsre
Seele zerstieben und verwehen, noch weitere Beruhigung. So-
krates gibt dieselbe durch Beweisführung aus einem andern Ge-
sichtspunete. Auflösung — und eine solche ist doch durch Ver-
wehen und Zerstieben bezeichnet — erfährt nur das Zusammen-
gesetzte, das Einfache dagegen ist derselben unzugänglich. Ein-
fach schlechthin ist das an sich Seiende, die Ideen; zusammen-
gesetzt und dem Wechsel unterworfen sind die sinnlichen Dinge.
Die Seele, welche allein für sich, frei von der Einwirkung des
Körpers, die Ideen erkennt, erweist sich hierdurch denselben
wesensgleich, συγγενής (p. 79 D), also ihnen an Einfachheit und
Unsinnlichkeit gleich, wie sich denn ihre göttliche Natur auch
in ihrer Bestimmung zur Herrschaft über den Körper zeigt. In
dieser Einfachheit ihres Wesens liegt die Unmöglichkeit ihrer
Auflösung und die Gewissheit ihres Fortbestehens nach dem
Tode; wenn schon der Leib, trotz seiner Vieltheiligkeit, noch
416
417
ῬΗΆΛΡΟΝ. 277
eine geraume Zeit nach dem Tode seine Gestalt bewahrt, wie
viel mehr ist dem einfachen Wesen der Seele unbegrenztes
Fortbestehen beizumessen (c. 25 — 29). Zur Selbständigkeit
himmlischen Lebens gelangt aber durch den Tod nur diejenige
Seele, die schon während des irdischen Lebens sich von körper-
lichem Einflusse möglichst befreit hat, die Seele des Weisen.
Die nicht zu dieser Reinheit gelangten, sondern von smnlichen
Begierden erfüllten Seelen schweifen nach dem Tode unruhig
und unsicher umher, bis sie in einen ihren Leidenschaften ent-
sprechenden thierischen Leib gebunden werden. Nur des Weisen
Seele gelangt durch den Tod zu göttlichem Leben; ihr Verkehr mit
dem Ewigen und an sich Seienden ist wahre Tugend, von jeder
sinnlichen Lust besteht die verderblichste Wirkung darin, dass
den die Lust erweckenden, sinnlich wahrnehmbaren Dingen die
Geltung voller Wahrheit beigemessen wird (c. 29 — 34).
Die andächtige Stille, welche nach den an den letzten Be-
weis angeschlossenen sittlich-religiösen Mahnungen in dem
ganzen Freundeskreise herrscht, wird durch ein leises Zwie-
gespräch zwischen Kebes und Simmias unterbrochen. Sokrates
vermuthet darin mit Recht den Ausdruck noch zurückgebliebener
Zweifel und fordert zu deren unverhohlenen Mittheilung auf.
Simmias erklärt hierauf, er billige die verbreitete Ansicht, dass
die Seele nichts anderes als die Harmonie des Leibes sei; was
von der Unsichtbarkeit, Unsinnlichkeit, Herrlichkeit der Seele
gerühmt werde, finde alles hierin seine Erklärung. So wenig
nun die Stimmung der Leier bleibt, nachdem die Leier selbst
zerschlagen ist, so wenig bleibe die Stimmung des Körpers, d.h.
also die Seele, nach Auflösung des Körpers. Kebes anderseits
erkennt zwar an, dass eine längere Dauer der Seele im Ver-
gleiche zum Körper erwiesen sei; aber damit sei noch nicht deren
Ewigkeit dargethan, vielmehr sei die Möglichkeit nicht ausge-
schlossen, dass die Seele in Folge ihrer langen Dauer viele
Leiber, mit denen sie verbunden war, überlebe, von dem letzten
aber überdauert werde, so dass die Zuversicht des Sterbenden
auf die Fortdauer der Seele nicht gerechtfertigt sei (c. 35 — 37).
Gegenüber dem peinlichen Eindruck, den diese störenden
Einwendungen bei den Anwesenden hervorgerufen , warnt Sokra-
tes, man solle sich durch solche Stimmung nicht von der Erwä-
278 PHADonN.
gung und Erörterung von Gründen abwenden lassen; diese
Misologie, wie die griechische Sprache eine derartige Gesinnung
kurz zu bezeichnen vermag, habe wie die Misanthropie in den
erfahrenen Enttäuschungen nach leichtsinnig gewährtem Vertrauen
ihren Anlass. In den noch gebliebenen Zweifeln liege vielmehr
der Antrieb zu gesteigertem Eifer der Forschung (c. 37 — 40).
Ehe nun Sokrates auf Widerlegung der vorgetragenen Einwen-
dungen eingeht, lässt er von den Gegnern anerkennen, welche
von den bisher vorgebrachten Sätzen in einer durch jene Zweifel
nicht beeinträchtigten Geltung bestehen. Als unerschüttert be-
stehend wird von beiden die Lehre anerkannt, dass das Lernen
Erinnerung sei, dass also die menschliche Seele ein Leben der
Erkenntnis vor dem irdischen Leben geführt habe; dieser Satz
habe gleiche Gültigkeit mit der ewigen Wesenheit des Seienden
selbst. Unvereinbar aber mit diesem Satze ist die von Simmias
vertretene Ansicht, dass die Seele Harmonie des Körpers sei;
denn Harmonie geht aus den Theilen hervor, deren Harmonie
sie ist, während die Seele der Existenz des Leibes, mit dem sie
verbunden ist, vorausgeht. Überdies hebt diese Ansicht über
das Wesen der Seele als der Harmonie des Leibes die ethischen
Grundgedanken auf; denn da Tugend anerkanntermalsen in einer
Harmonie der Seele besteht, so würde man durch die von Sim-
mias gebilligte Ansicht zu dem widersinnigen Gedanken einer
Harmonie der Härmonie gelangen; ferner eine Herrschaft der
Seele über den Leib wäre nicht möglich, da die Harmonie nicht
in Gegensatz zu den Gliedern treten kann, deren Harmonie sie
ist (ὁ. 41— 43). — Die Einwendung des Kebes, dass nicht die
lange Dauer des Lebens der Seele, sondern ihre Ewigkeit, ihre
absolute Freiheit von Entstehen und Vergehen zu erweisen sei,
führe, sagt Sokrates, in die schwierige Frage über die Ursache
des Entstehens und Vergehens überhaupt. Hiervon nimmt der
Platonische Sokrates Anlass, seinen eignen Entwicklungsgang
diesem Probleme gegenüber darzulegen. Unbefriedigt von den
Antworten, welche hierauf die ionische Naturphilosophie gegeben,
und eben so von der mangelhaften Weise, in welcher Anaxagoras
seinen erhabnen Grundgedanken einer intelligenten Ursächlichkeit
verwerthet, sei er gedrängt worden zu der Forschung in den
Begriffen. Wenn nun sein Gegner ihm noch darin beistimme,
418
1
>
PHäADpon. 279
in den Ideen das an sich und unveränderlich Seiende anzuer-
kennen, so hoffe Sokrates ihm daraus die Unsterblichkeit der
Seele in unbedingtem Sinne zu erweisen (c. 44—48). Dies ge-
schieht folgendermalsen.
Die Theilnahme an einer bestimmten Idee macht jedes ein-
zelne Ding zu dem, was es ist. Keine Idee kann die ihr ent-
gegengesetzte aufnehmen (der logische Grundsatz des Wider-
spruchs in dem durch die Ideenlehre bedingten ontologischen
Ausdruck). Dies gilt nicht nur von den Ideen selbst, sondern
auch von solchen Einzeldingen, in deren Wesen nothwendig
das eine Glied eines Gegensatzes liegt; diese sind hiernach
dem andern Gliede des Gegensatzes unzugänglich (der logische
Grundsatz des mittelbaren Widerspruchs, ebenfalls in dem on-
tologischen Sinn der Ideenlehre). Die Seele ist nothwendig
verbunden mit der Idee des Lebens; sie schlielst also die dieser
entgegengesetzte, den Tod, aus, d. h. sie ist unsterblich, und
da es eine andere Vernichtung des Lebens nicht gibt, als durch
den Tod, so ist die Seele der Möglichkeit des Unterganges ent-
hoben (c. 49 — 56).
Steht dies aber fest, dass die Seele unsterblich ist, so be-
darf sie der Pflege nicht nur für dieses irdische Leben, sondern
für die gesammte Ewigkeit; denn verschieden nach der Verschie-
denheit der erworbenen Bildung ist der zukünftige Zustand der
Seele nach dem Tode. Eine Vorstellung solcher Verschiedenheit,
der Seligkeit der reinen Seelen, der strafenden oder läuternden
Qual der Ruchlosen, gibt der Platonische Sokrates in einem
Mythos, dessen speciellen Inhalt wir um so ruhiger übergehen
dürfen, da Sokrates selbst demselben die sichre Giltigkeit ab-
spricht und nur versichert, dass so oder dem äbnlich der Zustand
der Seelen nach dem Tode sein werde, p. 114. D (ec. 57 —.63).
Der Schluss des Dialogs gibt die Erzählung über Sokrates’
letzte Lebensaugenblicke in jener erhabenen Einfachheit, welche
die gerechte Bewundrung aller Zeiten gefunden hat (c. 64— 66).
Für den jetzt verfolgten Zweck genügt die Vergegenwärtigung
des eigentlich lehrbaften Theiles des Dialogs, um darauf eine
Beantwortung der bezeichneten Fragen zu begründen.
280 ῬΗΆΑ͂ΡΟΝ.
Es ist Schleiermachers hoch anzuschlagendes Verdienst
um das Verständnis des Phädon, dass er zuerst, gegenüber der
ausschliefslichen Beachtung der Beweise für die Unsterblichkeit
der Seele, dem Abschnitte über das Sterbenwollen des Weisen
und den damit vergleichbaren weiteren ethischen Betrachtungen
das gleiche Gewicht für das Ganze des Dialogs vindicirt hat.
Aber diese in Schleiermacherscher Kürze angedeutete Bemerkung
erhält eine wesentlich verschiedene Wendung, wenn die ethi-
schen Betrachtungen zu einer Ergänzung der an sich vermeint-
lich unzureichenden theoretischen Beweise gemacht, oder speciell
das Sterbenwollen des Weisen als ein Beweis für die Unsterb-
lichkeit der Seele gerechnet wird. Das erstere spricht Stein-
hart häufig im Verlauf seiner umfassenden Einleitung aus, am
bestimmtesten wohl in folgenden Worten: In der Einfügung der
ethisch-religiösen Betrachtungen erkennt man die Absicht, zu
zeigen, „dass die Beweise, welche die Philosophie für diesen
Glauben (den an die Unsterblichkeit der Seele) aufstellen kann,
für sich allem nicht ausreichen, sondern zu ihrer Ergänzung
einer festern Begründung durch die Ethik bedürfen, da diese
allein jene feste und freudige Überzeugung begründen kann“ etec.')
Die andere Ansicht finden wir am präcisesten von Zeller be-
zeichnet: „Die Beweise für die Unsterblichkeit, welche der Phä-
don aufführt, sind ihrem eigentlichen Gehalte nach nicht eine
Mehrheit verschiedener Beweise, sondern nur ein Beweis, der
in verschiedenen Stadien, im Fortschritte vom unmittelbaren und
blofs analogischen zum begrifflichen und vermittelten Wissen 420
entwickelt wird. Dass die Seele ihrer Natur nach unsterblich
sei, dies wird zuerst 63 E— 69 E unmittelbar am Thun und
Bewusstsein des Subjectes nachgewiesen, indem gezeigt wird,
dass alles philosophische Leben und Denken von der Voraus-
setzung ausgehe, erst durch den Tod komme die Seele zu ihrer
Wahrheit; dasselbe wird sodann zweitens indirect aus der Art
dargethan, wie sich die Seele im Verhältniss zur Welt dar-
\
stellt* etc.) Man mag in diesen Worten Zellers auf die beab-
!) Steinhart, Einleitungen zu der Müllerschen Übersetzung des Platon IV.
S. 414. vgl. S. 389. 393. 418. 419. 420. 434. 436. 442. 456.
2, Zeller, Die Philosophie der Griechen 2. Aufl. II, 1. S. 531, 2 (im Aus-
drucke etwas modificirt, unter ausdrücklicher Festhaltung des Wesens der
.
4)
--
ῬΗΆΑ͂ΡΟΝ. 281
sichtigte Unterscheidung des unmittelbaren Nachweisens und des
indirecten Darthuns einen noch so grofsen Nachdruck legen:
jedenfalls wird dadurch, dass jener Abschnitt über das Sterben-
wollen des Weisen überhäupt den Beweisen für die Unsterblich-
keit der Seele in irgend einer Weise eingerechnet ist, der deut-
lichen Darstellung Platons Gewalt gethan. Das von Sokrates
ausgesprochene Streben des Weisen, sich über die beengenden
Schranken der Verbindung mit dem Leibe zu erheben, hat die
Überzeugung von der Ewigkeit und Selbständigkeit der Seele
zu seiner Voraussetzung; der Platonische Sokrates ist aber weit
davon entfernt, die Thatsache der Voraussetzung?) für einen
Beweis oder eine unmittelbare Nachweisung des Vorausgesetzten
anzusehen, sondern. erkennt ausdrücklich die Verpflichtung zu
ihrer Begründung durch einen Beweis an. Und eben so wenig
darf man, wie Steinhart thut, diesen den Beweisen voraus-
gehenden Abschnitt zusammen mit den den Beweisen eingefügten
und ihnen angeschlossenen ethischen Betrachtungen als Ergän-
zung der an sich für unzureichend befundenen Beweise betrach-
ten. Denn fassen wir den Inhalt jener ethischen Betrachtungen
in kürzeste Formeln , so besagt die erste: das Streben des Weisen
geht auf Erhebung der Seele über ihre Verbindung mit dem
Leibe; die zweite: da die Seele die Nachwirkung des irdischen
Lebens bewahrt, so wird nur die Seele dessen, der schon im
irdischen Leben ausschliefslich der Erkenntnis des Ewigen hin-
gegeben war, durch den Tod zu völliger Reinheit und Freiheit
erhoben; die dritte: da die Seele unsterblich ist, so bedarf sie
der sittlichen Pflege, denn verschieden je nach der verschiedenen
ihr gewordenen Bildung ist ihr Geschick nach dem Tode. Jede
dieser Betrachtungen setzt hiernach die Unsterblichkeit der Seele
als etwas feststehendes voraus, und es wird daher passend die
eine zum Anlasse der Beweisführungen gemacht, und die andern
Sache in der 3. Aufl. 5. 6914). Ähnlich Überweg, Geschichte der Philoso-
phie I. S. 112.
3) Hiermit scheint die Darstellung Schweglers übereinzustimmen, Ge-
schichte der griechischen Philosophie 8. 143: „dem Erweise der Unsterblich-
keit der Seele hat Plato seinen Phädon gewidmet. Die Unsterblichkeit wird
hier zuerst dargestellt als ethisches, praktisches Postulat.... Die eigent-
lichen, speculativen Beweise sind folgende vier.“
252 PHäADpon.
schlielsen sich als moralische Folgerungen an die theoretischen
Beweise in demselben Sinne an, in welchem es im Menon (81 B)
heifst: die tiefsinnigsten Dichter behaupteten, die Seele sei un-
sterblich; man müsse also deshalb sein Leben in möglichster
Reinheit und Heiligkeit führen. Diese Beziehungen der ethi-
schen zu den theoretischen Abschnitten sind von Platon selbst
so unzweideutig bezeichnet, dass es schlechthin unzulässig ist,
aus Veranlassungen der Beweise und an dieselben angeschlosse-
nen Folgerungen Ergänzungen derselben zu machen. Es mag
sehr wohl sein, dass ein Leser oder Erklärer Platons die mit
der Unsterblichkeitsüberzeugung in Verbindung gebrachten ethi-
schen Gedanken Platons sich vollständiger anzueignen vermag,
als dessen theoretische Beweise für die Unsterblichkeit der Seele,
und dass sie insofern für ihn Ergänzungen der ihm nicht genü-
genden Beweise werden; aber nicht darum handelt es sich, son-
dern wie Platon selbst die Giltigkeit seiner Beweise ansieht. Und
da fehlt nicht nur die leiseste Andeutung, dass Platon zu voller
Geltung der Beweise noch etwas vermisse, sondern entschiedener,
als wir bei Platon gewohnt sind, wird die Zuversicht in die
unbedingte Giltigkeit der Beweise ausgesprochen. Diese Sicher-
heit Platons begreift sich auch vollständig, sobald wir die
Grundlagen der Platonischen Philosophie als anerkannt voraus-
setzen; nur müssen wir die Beweise anders zählen und gegen
einander abgrenzen, als gewöhnlich geschieht. Aus diesem Ver-
suche, die von Platon selbst beabsichtigte gegenseitige Ab-
grenzung der Beweise aufzufinden, wird von selbst noch wei-
teres Licht auf das Verhältnis der ethischen Betrachtungen zu
ihnen fallen.
Man zählt, wenn wir die bedeutendsten Erklärer in Betracht
ziehen und sowohl von der Einreihung der ethischen Betrach-
tungen in die Beweise als von anderweiten Combinationen der
Beweise absehen, vier Beweise!) für die Unsterblichkeit der
4) So Steinhart IV, 414, Susemihl I, 427.ff., Schwegler, Geschichte der
griech. Philosophie 8. 143, u. a. m. Überweg betrachtet, was sich schwer-
lich rechtfertigen lässt, die Widerlegung des Simmias als einen selbständigen
Beweis und zählt so deren fünf. Zeller 11, 1. 5. 531, 2 zählt, abgesehen
von der „unmittelbaren Nachweisung“ der Unsterblichkeit der Seele, welche
in dem Sterbenwollen des Weisen enthalten sein soll, vier Beweise, stellt
Ῥηλθον. 289
ὩΣ Seele; wir können sie nach der vorher gegebenen Inhaltsüber-
sicht kurz bezeichnen als den Beweis aus dem Naturgesetze des
Werdens aus Entgegengesetztem, den Beweis aus der ἀνάμνησις
im Platonischen Sinne, den Beweis aus der Wesensgleichheit
der Seele mit den Objecten ihrer Erkenntnis, endlich den Be-
weis aus der Theilnahme der Seele an der Idee des Lebens.
Eine eigenthümliche Bewandtnis hat es bei dieser Zählung mit
der Beschaffenheit der beiden ersten Beweise und ihrem Ver-
hältnisse zu einander. Den zu beweisenden Satz hat der Pla-
tonische Sokrates bestimmt so formulirt (70 B): ὡς ἔστι τε ἢ
ψυχὴ ἀποθανόντος τοῦ ἀνϑρώπου χαί τινα δύναμιν ἔχει χαὶ φρόνησιν,
dass die Seele nach dem Tode des Menschen noch ist und eine
gewisse Kraft und Einsicht besitzt. Der Beweis nun, der als
erster gezählt wird, zeigt, jenes Naturgesetz über die zwiefache
Bewegung des Werdens zwischen Entgegengesetztem als allge-
mein giltig vorausgesetzt, doch nur, dass der Tod für die Seele
nicht eine absolute Negation, ein Nichts, sondern ein dem Leben
conträrer Zustand ist; aber über die Natur dieses Zustandes
gibt dieser Beweis nichts und kann nichts geben, da die Eigen-
thümlichkeit des Seelenwesens nicht in Betracht gezogen ist.
So beschränkt sich denn auch die Folgerung darauf: εἰσὶν ἄρα at
ψυχαὶ ἡμῶν ἐν ἅδου (71 E), oder ἀναγχαῖον τὰς τῶν τεϑνεώτων
ψυχὰς εἶναί που (72 A), ohne über die behauptete δύναμις χαὶ
φρόνησις etwas hinzuzusetzen. Die Zusammenfassung am Schlusse
des Beweises fügt allerdings noch etwas hinzu: es ist gewisslich
so, heifst es, und es liegt keine Täuschung in dem Satze ὡς
ἔστι τῷ ὄντι τὸ ἀναβιώσχεσϑαι χαὶ ἐχ τῶν τεϑνεώτων τοὺς ζῶντας
τίγνεσϑαι χαὶ τὰς τῶν τεῦνεώτων ψυχὰς εἶναι, χαὶ ταῖς μέν Υ̓
ἀγαϑαῖς ἄμεινον εἶναι, ταῖς δὲ χαχαῖς χάχιον, p. 72 Ὁ.
Aber was hier zu der einfachen Recapitulation der Folgerung,
dass es ein Wiederaufleben von dem Tode gebe und dass die
Seelen der Verstorbenen seien, noch hinzugesetzt wird, ist merk-
würdig genug; weder ergibt es sich nämlich aus dem Beweise,
noch enthält es unmittelbar dasjenige, was zur vollständigen Iden-
tification der so gewonnenen Folgerung mit der Thesis noch er-
aber mit Recht die drei ersteren derselben zusammengefasst dem vierten
gegenüber.
284 PHADon.
forderlich war. Die naheliegende Bemerkung, dass fast diesel- 123
ben Worte früher 63 C vorkommen, wo Sokrates seine Torles-
zuversicht ausspricht, erklärt nichts, da nicht der Inhalt der
Worte an sich, sondern ihr Zusammenhang die Schwierigkeit
macht. Ein irgend vergleichbares Beispiel von Mangel an Ge-
dankenzusammenhang vermag ich aus dem ganzen Dialoge nicht
beizubringen; die dafür gegebenen Erklärungen überdecken die
Schwierigkeit, statt sie lösen zu können); ich muss daher der
Ansicht derjenigen Herausgeber (vgl. Stallbaum zu d. St.) bei-
stimmen, welche diesen Satz, der mir auch sprachlich nicht un-
bedenklich scheint‘), einem mehr sittlich frommen als streng
aufmerksamen Platonischen Leser des Dialoges zuschreiben. —
Wie nun der sogenannte erste Beweis in seinem Ergebnis, ver-
glichen mit der bestimmt aufgestellten Thesis, sich als man-
gelhaft zeigt, so gilt das gleiche von dem zweiten in Betreff
der Beweisführung selbst. An den recapitulirenden Abschluss
des ersten Beweises knüpft der Mitunterredner Kebes aus eig-
nem Antrieb die Bemerkung an, dass auch aus dem von Sokra-
tes — dem Platonischen nämlich — oft wiederholten Satze, alles
Lernen sei nur ein Wiedererinnern an das einst Gewusste, die
Unsterblichkeit der Seele sich ergebe. Auf den Wunsch von
Kebes’ Freunde Simmias gibt Sokrates ausführlich die Begrün-
dung des Satzes über das Lernen als Wiedererinnerung; und
nachdem dies geschehen, entgegnet Simmias unter des Kebes
lebhafter Zustimmung, dass hierdurch zwar eine selbständige
Existenz der Seele vor ihrer Verbindung mit dem Körper sicher
5, Susemihl I. S. 429: „Ebenso ist auch die Schlussbemerkung, das Leben
der Besseren im Hades sei ein besseres (p. 72 C), schon weil dies gar nicht
aus dem Beweise folgt, vielmehr von neuem der Ansatz zu einer Eschato-
logie, wie sie sich in den späteren Mythen in ihren genaueren Einzelheiten
fortspinnt.“ Mehr in der Form als in der Sache unterscheiden sich hiervon
die Bemerkungen von Bischoff, Platons Phädon 5. 72.
6) Ist es unbedenklich, zu sagen: ταῖς μὲν ἀγαθαῖς ψυχαῖς ἄμεινόν ἐστι,
ταῖς δὲ χαχαῖς χάχιον, in dem Sinne: der Zustand der guten Seelen ist ein
besserer, der der schlechten ein schlechterer ? Beachtenswerth ist gewiss, dass
diejenige Stelle, an welche die vorliegende so anklingt, dass sie den Ver-
dacht der Reminiscenz erweckt: εὔελπίς εἰμι elvat τι τοῖς τετελευτηχόσι χαί,
ὥσπερ ya χαὶ πάλαι λέγεται, πολὺ ἄμεινον τοῖς ἀγαϑοῖς ἢ τοῖς χαχοῖς p: 63 (,
von dem entsprechenden sprachlichen Anstofse frei ist.
424
PnäADvon. 285
gestellt, dass aber für die Existenz der Seele nach ihrer Tren-
nung von dem Körper der Beweis noch nicht geführt sei. Aller-
dings, sagt Sokrates, ist der Beweis geführt, wenn ihr diesen
Satz mit dem vorhin erwiesenen verbinden wollt, dass alles
Lebende aus Gestorbenem wird. Denn wenn die Seele schon
vor dem leiblichen Leben existirt und sie aus nichts anderem
zum Leben übergehen kann als aus dem Tode, so ist nothwen-
dig, dass sie auch nach dem Tode existire, da sie ja wieder
ins Leben treten muss. Also dieser angebliche zweite Beweis
lässt eben das, um dessen Erweis es sich vor allem handelt, das
Sein der Seele nach dem Tode, unbewiesen, er beruft sich da-
für, wozu nichts ähnliches in den übrigen Beweisen sich findet,
auf das Ergebnis der vorhergehenden Beweisführung; und diese
vorhergehende Beweisführung hat eben nur zu einem Sein der
Seele nach dem Tode, nicht zu einem Sein mit δύναμις xal Ppo-
γησις geführt. Erst die Verbindung beider entspricht der zu
beweisenden Thesis. Ferner, nicht Sokrates, der seinen Todes-
muth durch den Beweis der Unsterblichkeit zu rechtfertigen auf-
gefordert ist und der dem entsprechend alle übrigen Beweise
selbst eröffnet, sondern der Mitunterredner Kebes gibt den An-
lass zu diesem angeblich zweiten Beweise, und dem Anlasse, so
weit Kebes ihn gibt, fehlt eben die Beweiskraft, sie tritt erst
ein durch die von Sokrates gegebene Berufung auf den früheren
Beweis. Unter diesen Umständen wird es nicht willkürliches
Hineindeuten, sondern nur Folgsamkeit gegen Platons eigne
Andeutungen sein, wenn wir die angeblichen zwei ersten Be-
weise vielmehr als die integrirenden beiden Hälften eines ein-
zigen Beweises anerkennen, dessen zweite Hälfte nur Platon
nicht durch Sokrates selbst, sondern zunächst durch eine Be-
merkung des Kebes einleitet. Dieser eine Beweis hat dann
einen vollkommen ‘durchsichtigen Gang: aus dem allgemeinen
Naturgesetze des Werdens ergibt sich, dass der Zustand der
Seele nach dem leiblichen Leben demjenigen gleichartig ist,
der dem leiblichen Leben vorausgegangen; in der Ideenlehre
ist enthalten, dass der Zustand der Seele vor ihrer Verbindung
mit dem Körper ein Leben ist in der Anschauung, dem unmit-
telbaren Wissen des an sich Seienden; also ergibt sich das
gleiche für den Zustand der Seele nach dem Tode.
286 Präpon.
Eine gewisse Schwierigkeit in dem Verhältnisse der angeb-
lichen beiden ersten Beweise ist mehreren von den Erklärern
des Phädon nicht entgangen; aber indem überhaupt über die
Frage, ob die einzelnen Beweise in Platons Sinne selbständige
Geltung haben, oder ob sie integrirende Theile eines grölsern,
erst in seiner Gesammtheit giltigen Beweisganges bilden, eine
unbestimmte Mitte der Ansicht eingehalten wird, so kommt es
über Ausdrücke, wie z. B. dass die beiden ersten Beweise „gleich-
sam“?) nur einen Beweis bilden, nicht hinaus, Ausdrücke, in 425
denen ich nur die Anerkennung einer ungelösten Schwierigkeit,
nicht deren Lösung zu sehen vermag.
Diese Zusammenfassung der beiden ersten Beweise ‚als inte-
grirender Theile eines einzigen Beweises ist nicht eine gleich-
giltige Änderung der Anzahl der Beweise, sondern hat bestimmte
Bedeutung für die Einsicht in den Gang des ganzen Dialoges.
Fürs erste ergibt sich daraus, dass kein Beweis für die Unsterb-
lichkeit der Seele von Platon anders unternommen wird, als auf
Grund der Ideenlehre; man darf sagen, dass die Lehre von der
Unsterblichkeit der Seele für Platon nur eine specielle Conse-
quenz der Ideenlehre ist. Der Satz in Schleiermachers Ein-
leitung zum Phädon „So ist denn die Ewigkeit der Seele die
Bedingung der Möglichkeit alles wahren Erkennens, und wie-
derum die Wirklichkeit des Erkennens ist der Grund, aus wel-
chem am sichersten und leichtesten die Ewigkeit der Seele ein-
gesehen wird“ drückt diesen Zusammenhang so bündig und
entschieden aus, dass durch ihn allein zur Einführung in das
Verständnis des Phädon mehr gethan ist, als durch manche
umfangreiche Abhandlung. Die Erklärung Zellers (vgl. oben
S. 250), die im Phädon dargelegten Beweise seien ihrem eigent-
lichen Gehalte nach nur ein Beweis, in verschiedenen Stadien
entwickelt®), kann ich nur in dieser wesentlichen Modification
7) Susemihl I, 5. 429. Ähnlich Bischoff, Platos Phädon 5. 73. 95;
Zimmermann, die Unsterblichkeit der Seele in Platos Phädo S. 39, u. a. m.
8) In der 3. Aufl. II, 1. S. 697 f. bezeichnet Zeller diese fortschreitende
Entwicklung bei wesentlicher Gleichheit in folgender Weise: „Die Ausfüh-
rungen des Phädon über die Unsterblichkeit bilden allerdings formell eine
Reihe verschiedener Beweise und Betrachtungen; untersucht man sie aber
genauer, so zeigt sich, dass sich durch sie alle Ein und derselbe Gedanke
420
ῬΗΆΑ͂ΡΟΝ. 287
als zutreffend anerkennen, dass alle Beweise auf der gemein-
samen Grundlage der Ideenlehre aufgeführt sind; aber nur diese
Grundlage haben sie gemeinsam, im übrigen sind sie nicht blofs
eine Entwicklung desselben Beweises ii verschiedenen Stadien,
sondern wirklich von einander unterschieden und von selbstän-
diger Geltung, und dies in der Art, dass die beiden dem nach-
drücklich hervorgehobenen Mittelpuncte und Ruhepuncte des Ge-
spräches vorausgehenden gemeinsam einen andern Charakter ha-
ben, als der eine ihm nachfolgende. In jenen nämlich werden zur
Grundlage der Ideenlehre Sätze hinzugenommen, welche von der
vorsokratischen Naturphilosophie her wie zu einem Gemeingute
des philosophischen Bewusstseins geworden waren. Dass alles
Werden sich zwischen Gegensätzen bewege und aus dem zwie-
fachen, zwischen den beiden Entgegengesetzten möglichen Wege
der Kreislauf des Werdens hervorgehe, war eine besonders seit
Herakleitos verbreitete Überzeugung ; verbunden mit den Grund-
sätzen der Ideenlehre ergibt dieselbe den vorhin bezeichneten
ersten Beweis für die Unsterblichkeit der Seele, nach welchem
die Vereinigung der Seele mit dem Körper und ihre getrennte
Existenz nur als zwei entgegengesetzte, die Ewigkeit des Wesens
der Seele nicht berührende Zustände derselben erscheinen. Nicht
minder ausgebreitete Geltung hatte in der vorsokratischen Phi-
losophie der Satz, den man als ersten Versuch einer Erkennt-
nistheorie betrachten darf, dass Ähnliches nur von Ähnlichem
erkannt werde, dass das erkennende Subject und das erkannte
Object von gleichartigem Wesen seien. Nimmt man dazu den
Satz der Platonischen Ideenlehre, dass die menschliche Seele
befähigt ist, das Ewige und Unveränderliche, das wahrhaft Seiende
zu erkennen, so folgt daraus für sie selbst die gleiche Ewigkeit
des Wesens. Wenn in diesen beiden, der ersten Hälfte des
Dialogs angehörigen Beweisen, die, bestimmt auseinander ge-
halten, nur durch die gemeinsame Voraussetzung der Ideenlehre
zusammenhängen, zu dieser selbst noch anderweit verbreitete
hindurcehzieht, dass das Bewusstsein von dem idealer und deshalb über Ent-
stehung und Untergang erhabenen Wesen der menschlichen Seele hier im
Fortgang zu einer immer deutlicheren wissenschaftlichen Überzeugung, in
seiner mit jedem neuen Schritt sich vertiefenden und befestigenden Begrün-
dung dargestellt werden soll.“
288 ῬΗΆΡΟΝ.
Überzeugungen als Prämissen hinzugenommen werden, so ruht
dagegen der in der zweiten Hälfte des Dialogs gegebene Beweis
ausschlielslich auf logischen Consequenzen der Ideenlehre selbst;
denn dass aulserdem nach allgemeinem griechischem Sprach-
bewusstsein Seele und Leben einander in Bedeutung gleichgesetzt
werden, das wird Platon schwerlich als eine besondre, erst noch
eines Beweises bedürftige Voraussetzung betrachtet haben. Dieser
dritte, wiederum nur in der gleichen Grundlage mit den beiden
ersten zusammenstimmende, übrigens von ihnen verschiedene
Beweis wird von den beiden ersten durch eine längere Erörterung
getrennt, in welcher der Platonische Sokrates erst die verbreitete
Ansicht widerlegt, dass die Seele eine Stimmung des Körpers
sei, dann seinen eignen philosophischen Bildungsgang erzählt.
Man wird die Angemessenheit dieser Einfügung nicht leicht ver-
kennen können. Ehe der Platonische Sokrates in seiner Beweis-
führung die Anlehnungen an Sätze der ihm vorausgegangenen
Naturphilosophie aufgibt und sich ausschliefslich auf den Bereich
seiner eignen philosophischen Überzeugungen beschränkt, legt er
den Weg dar, auf welchem er zu der Einsicht gelangt ist, dass
in diesen älteren Philosophemen eine Erkenntnis der Wahrheit
nicht enthalten sei®); und seine eigne Überzeugung von der
9) Indem ich den fraglichen Abschnitt des Phädon als Darstellung des
philosophischen Entwicklungsganges des „Platonischen Sokrates“ bezeichne,
so spreche ich nicht mehr aus, als in den Worten unzweifelhaft enthalten ist.
Doch lässt sich die Frage nicht ablehnen, ob darin ein Gedankengang des
historischen Sokrates oder unter dessen Person der Gedankengang des Platon
dargelegt sei. Gegen die letztere, übliche Auffassung spricht Zeller (2. Aufl.)
11,1. 8.293, 1 Bedenken aus, und Überweg sucht nachzuweisen, dass es unpas-
send sei, wenn Platon so den eignen Entwicklungsgang als Sokratischen er-
zählen lasse. Diese Beweisführung unterliegt insofern Zweifeln, als sie sich
leicht gegen die Stellung der Person des Sokrates in einem grolsen Theile
der Platonischen Dialoge kehren lässt. Zellers Bedenken scheinen mir mehr
gegen specielle Folgerungen, als gegen den Kern der Auffassung gerichtet
zu sein. Platon, so scheint mir, gibt nicht eine historische Erzählung, weder
von seinem eignen noch von des Sokrates philosophischem Entwicklungs-
gange, sondern er legt in den Hauptumrissen die Gründe dar, welche von
der Naturphilosophie zu der Begriffsphilosophie führen. Diese Gründe sind
im wesentlichen dem Platon mit Sokrates gemeinsam, und es ist dadurch
nach der Weise der Platonischen Darstellung vollkommen gerechtfertigt, dass
Sokrates sie als die seinigen darlegt. Indem aber als Ziel gerade derjenige
ἊΨ ΡΟ
ῬπΑΡοΟΝ. 289
27 unbedingten Selbständigkeit des Seelenwesens tritt noch dadurch
ι
[0 +)
in helleres Licht, dass vorher die verbreitete, in theilweiser
Modification bei Aristoteles wiederkehrende Ansicht von der Seele
als der Stimmung, dem einheitlichen Lebensprincipe des Körpers,
beseitigt wird.
Der Auffassung, die im bisherigen zu begründen versucht
wurde, dass die sämmtlichen im Phädon enthaltenen Beweise
für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele die Ideenlehre
zur Grundlage haben, entspricht es vollkommen und kann ihr
insofern zur Bestätigung dienen, dass zu wiederholten malen
und an entscheidenden Stellen die Ideenlehre dargelegt oder
erwähnt ist. In den Mittelpunet des ersten Beweises tritt die
Begründung der Ideenlehre als einer zur Erklärung der That-
sachen der Erkenntnis nothwendigen Voraussetzung. Als Sokra-
tes auf die Widerlegung der verbreiteten Ansicht über die Seele
als Harmonie des Körpers einzugehen unternimmt, lässt er zu-
erst sich die Erklärung abgeben, dass über die Grundlage, die
Ideenlehre selbst, seine Gegner mit ihm einverstanden sind.
Und endlich die Erzählung über den philosophischen Bildungs-
gang des Platonischen Sokrates, welche dem letzten Unsterblich-
keitsbeweise vorausgeht, führt zur Ideenlehre als ihrem Zielpuncte
und ist selbst nur als eine subjective Erklärung der Ideenlehre
zu betrachten. Wiederholungen solcher Art wird man bei Platon
überhaupt und wird man insbesondere in einem so kunstvollen-
deten Dialoge, wie der Phädon ist, als nicht zufällig zu betrach-
ten berechtigt sein.
Wenn hiernach der Phädon in allen seinen Beweisen für
die Unsterblichkeit der Seele auf der Ideenlehre beruht und als
Punct erscheint, der die Platonische Lehre specifisch von der des Sokrates
unterscheidet, nämlich die Realität der Ideen, wird dadurch die Auffassung
gerechtfertigt sein, dass in dem fraglichen Abschnitte eine subjective Be-
gründung der Platonischen Ideenlehre enthalten sei. — Übrigens verdient
es wohl Beachtung, dass Aristoteles auf die an den fraglichen Abschnitt sich
unmittelbar anschliefsenden und sein Ergebnis zusammenfass enden Worte
ein paar mal Bezug nimmt, und während er das eine mal sie durch ὥσπερ
ὁ ἐν τῷ Φαίδωνι Σωχράτης eitirt de gen. II 9. 335b 10, sie die anderen male
einfach der Platonischen Philosophie zurechnet Metaph. A 9. 9915 3. M 5.
10808 2.
Bonitz, Platonische Studien. 19
290 Präivox.
eine Darstellung der Ideenlehre selbst in der Richtung auf eine
besondere Frage, die über den Zustand der Seele nach dem Tode,
betrachtet werden darf, so wird man sich nicht wundern können,
mit den theoretischen Beweisführungen ethische Betrachtungen
und Mahnungen verbunden zu finden; man würde, mit Pla-
tonischer Weise einigermalsen vertraut, dieselben vermissen,
wenn man sie nicht fände. Für den Philosophen, der die Idee
des Guten als die Spitze und den Einheitspunct der gesammten
Ideenwelt betrachtet, und der durch das Wissen des Guten das
Wollen und Thun desselben als in unbedingter Nothwendigkeit
bestimmt erachtet, für Platon ist die Befähigung der mensch-
lichen Seele zu absoluter Erkenntnis zugleich ihre Bestimmung
zu absoluter sittlicher Reinheit. Hierin liegt, durch die ge-
sammte Platonische Philosophie bezeichnet, der Einheitspunet der
ethischen Betrachtungen mit den theoretischen Beweisen, nicht in
der behaupteten Ergänzung der angeblich an sich unzureichenden
theoretischen Beweise durch ethische Glaubenssätze, — eine An-
sicht, die überdies Wissen und Sittlichkeit in ein der Platoni-
schen Lehre direct widersprechendes Verhältnis stellt. Man
braucht nur an den Phädros und das Symposion zu denken, um
diese Untrennbarkeit von Wissen und Sittlichkeit als echt Pla-
tonische Überzeugung sich zu vergegenwärtigen. Im Phädros
wird die in einem vorweltlichen Sein der Seele zu theil gewordene
Anschauung der Ideen als die Voraussetzung wahrer Erkenntnis
ausgesprochen; aber in der mythischen Darstellung dieser Voraus-
setzung ist die Befähigung der Seele zu unbedingtem Wissen
und ihre Bestimmung zu sittlicher Reinheit unmittelbar verbunden.
Und wenn im Symposion die Einbildung der Ideen in den Wechsel
der. Sinnenwelt als die Aufgabe des Lebens des Weisen dargestellt
wird, so ist dies eben so sehr eine Aufgabe des Erkennens wie des
sittlichen Handelns, und es lässt sich kaum bezeichnen, wo denn
die Grenze und Scheidung des theoretischen und ethischen Ele-
mentes sei. Ich muss es mir versagen, auf das seit Schleiermacher
von keinem Erklärer übersehene, aber schwerlich in seiner Be-
deutung vollständig erschöpfte Verhältnis dieser drei Dialoge des
weiteren einzugehen; nur eine Bemerkung, zu welcher diese
Vergleichung Anlass gibt, möge schliefslich Platz finden. Es
wird nicht leicht jemand die erkenntnis-theoretischen Sätze
429
© ῬΗΆΑ͂ΘΟΝ. 291
Platons, welche der Phädros und das Symposion enthält — Sätze,
in welchen die ersten Anfänge logischer und psychologischer
Forschung in eine übereilte Verbindung gebracht sind — unver-
ändert und in ihrem wirklich Platonischen Sinne sich als Über-
zeugung anzueignen vermögen. Der’ Phädon steht mit diesen
beiden Dialogen anf vollkommen gleicher Linie. Die Frage über
allgemeine Giltigkeit der Platonischen Beweise für die Unsterb-
lichkeit der Seele, das heilst, die Frage, ob die auf der eigent-
lichsten Grundlage der Platonischen Philosophie aufgeführten
Beweise auch abgesehen von derselben, Geltung haben, diese
Frage sollte billigerweise nicht gestellt und es sollte ihr nicht
stillschweigend ein Einfluss auf die Erklärung des Phädon ge-
stattet werden. Es kann sein, dass durch Beseitigung dieses
Gesichtspunctes manches persönlich subjective Interesse am
Platonischen Phädon geschwächt würde; aber gewiss würde
durch Beschränkung auf die Untersuchung, ob aus den Plato-
nischen Principien die gezogenen Folgerungen sich wirklich
ergeben, die Auffassung des Phädon an objectiver Sicherheit
gewinnen.
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B Bonitz, Hermann
395 Platonische Studien
B62 2. Aufl,
1875
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