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Full text of "Politisches Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft"

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Heraasgegeben 


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Politisches  Jahrbncb  1: 

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Schweizerischen  Eidgenossenschaft.  | 

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Bern.  S^- 

Druck  und  Verlag  von  K.  J.  Wyss.  ^** 

1899. 


Dr.  Carl  Hilty, 

Professor  des  Bundesstaatsrechts  an  der  Universität  Bern. 


Dreizehnter  Jahrgang.  1899. 


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Verlag  von  K.  J.  WYSS  in  Bern. 
Die  Berner  Chronik 

des 

X>iel>ol<l  Schilling 

1468-1484 

Im  Auftrage  des  historischen  Vereins  des  Kantons  Bern 

herausgegeben  von 

Prof.  Dr.  Gustav  Tobler. 

I.  Band.    408  Seiten  8°,  Preis  Fr.  7.50.   In  2- Banden  complet. 

Schweizerisches  Bundesrecht 

Staatsrechtliche  und  terwaltongsrecbtlicbe  Praxis 

des 

Bundesrates  und  der  Bundesversammlung 

seit  dem  29.  Mai  1874. 

Im  Auftrage  des  schweizer.  Bundesrates 

dargestellt  von 

Prof.  Dr.  L.  B.  von  Salis. 

4  Bände  brosch.  Fr.  27.  80,  geb.  Fr.  39.  — 

Das  gleiche  Werk  ist  auch  in  französischer  Sprache  er- 
schienen. 


Amtsrichter  Barkhalter 

und  seine  Briefe  an  Jeremias  Gotthelf 

(A.  Bitzius). 

Herausgegeben  von  Pf*r.  €3.  Jovs. 

95  Seiten  8°.    Preis  brosch.  Fr.  2.  — ,  eleg.  geb.  Fr.  3.  - 


Geschichte  von  Graubünden. 

In  ihren  Hauptzugen  gemeinfasslich  dargestellt 

von 

l)r.  P.  C.  v.  Planta. 

Zweite   Auflage. 

449  Seiten  mit  einer  Karte.    Brosch.  Fr.  7.  — ,  eleg.  geb.  Fr.  9.  — 


Durch  jede  Buchhandlung  zn  beziehen. 


Politisches  Jahrbuch 


der 


Schweizerischen  Eidgenossenschaft. 


Herausgegeben 


von 


Dr.  Carl  Hilty, 

Professor  des  BundeastaaUrechts  an  der  Untrer  ei  tat  Bern. 


Dreizehnter  Jahrgang.  1899. 


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Druck  und  Verlag  von  K.  J.   Wyss. 

1899. 


1 


THE  NEW  YORK 
PUBLIC  LIBRARY 

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Alle  Hechte  vorbehalten. 


Dreizehnter  Jahrgang  1899. 


Seite 

Flu  de  Sleele,  vom  Herausgeber 1 

Völkerroohtliche  Fragen  der  Gegenwart,  vom  Herausgeber  .  63 
Der  Lauaanner  Vertrag  von  1564,  von  Prof.  Dr.  W.  Oechsli  in 
Zürich : 

I.  Der  Friede  von  St.  Julien  und  der  8prneh  von  Peterllngen  141 

IL  Die  Eroberung  der  Waadt 158 

HL  Der  Friede  von  Catean-Cambresls 177 

IV.  Der  Sonderband  der  katholischen  Orte  mit  Savoyen  .  188 
V.  Die  Entstehung  des  Lansanner  Vertrages   .                          .197 

TL  Die  Vollziehung  des  Lausanner  Vertrages  ....  299 
VII    Die  angebliche  Garantie  der  Freiheiten  der  Waadt  durch 

Frankreich 251 

Beilage:  Der  Spruch  gefUlt  sn  Basel  am  11.  Mal  1668  264 
Voiktwirthschaftliohe Grundfragen,  von  Dr.  Gustav  H.  Schmidt, 

eidg.  Abtheilungs-Sekretär  in  Bern 279 

JaJireeberioht  fOr  da«  Jahr  1899 307 

Bellagen: 

I.  Bluntschli's   Vermittlungsprojekt  vor  dem  Sonder- 
bund a  krieg  (lh47)   .  .  .653 
II.  Apostolischer  Brief  des  Papstes  Leo  XIII.  an  den 

französischen  Clerus                    677 


Register  zum  Jahresbericht  1899. 


Seite 

Situation 309 

I.  Aeuueres,  allgemeine  Verhältnisse 314 

Verhältnis*  der  Schweiz  zu  andern  Staaten                     .  831 

Diplomatische  Veränderungen 347 

Staatsvertrage,  Konkordate,  Kongresse  .349 

Die  Haager- Konferenz  und  ihre  Resultate                        .  364 

Das  Militftrwesen  der  Eidgenossenschaft    ....  891 

II.  Innere« 405 

Bundesverfassung.    In  Aussicht  stehende  Revisionen       .  405 

Interpretationen  der  Bundesverfassung       ....  4ü(> 

Kantons  Verfassungen 414 

Statistisches 415 

Parteiwesen 428 

Frauenfrage 438 

Kirchen 453 

III.  Gesetzgebung  und  Verwaltung 485 

Gesetzgebung 486 

Verwaltung 501 

Finanzen 516 

Regalien 530 

Eisenbahnen 550 

Subventionen 561 

Schulwesen 566 

IV.  Gaeelltohaftliohes 580 

Soziales 5S0 

Landwirthschaft,  Forstwesen,  Jagd  und  Fischerei    .        .  602 

Sport  und  Spiel 610 

Feste.    Kunst 620 

Litteratur 633 

Nekrologie 636 

Nachtrage      ...              643 

Beilagen 651 

Register 700 


Aktenstacke,  welche  in  diesem  Bande  des 
Jahrbuchs  enthalten  sind. 


Bette 
Das  kaiserliche  Manifest  gegen  die  Eidgenossen  vom  22.  April 

1499 22 

Beschreibungen  Anshelm's  aus  dem  Schwabenkriege  29 

Auszüge  ans  den  Eidg.  Abschieden  von  1498/99       ...  37 

Das  Lied  «  Der  alte  Greis»  von  Peter  Müller  von  Rapperswyl  52 
Die  Artikel  X—  XII  des  Congo  -Vertrages  von  1885                .116 

Die  schweizerische  Neutralitfttsakte  vom  20.  November  1815  117 

Der  Basier  Bundesbrief  vom  9.  Juni  1501 121 

Schiedsgerichtvertrag  (Projekt)  zwischen  England  und  Amerika  12 1 
Diplomatische  Korrespondenz  zwischen  der  Schweiz  und  Italien 

betr.  Schiedsgerichte 122 

Neueste  französische  Aeusserungen  über  die  savoyische  Neu- 
tralität     125 

Die  Brüsseler-Artikel  über  das  Kriegsrecht  von  1874             .  127 
Der  VermittlungBspruch  vom  11.  Mai    1568,  Grundlage  des 

Lausanner -Vertrages  (bisher  ungedruckt)  ....  264 

Briefe  des  zweiten  deutschen  Reichskanzlers  von  Caprivi      .  340 
Blnntschli's   Vermittlungsprojekt  vor  dem  Sonderbundskrieg 

(1847)  (bisher  unbekannt) .653 

Apostolischer  Brief  des  Papstes  Leo  XI LI.  an  den  französischen 

Clerus 677 


Fin  de  Siede. 


I. 

Welches  ist  wohl  die  vorherrschende  Stimmung,  in  welcher 
das  complizirte  Wesen  «civilisirte  Menschheit»  aus  dem  19. 
in  das  20.  Jahrhundert  hinübergleitet? 

Noch  vor  einem  Menschenalter  hätte  eine  vorausschauende 
Antwort  wahrscheinlich  gelautet :  Mit  Bewunderung  vor  den 
Fortschritten  naturwissenschaftlicher  und  technischer  Art,  der 
Ueberwindung  von  Zeit  und  Raum,  der  Annäherung  der 
Nationen,  der  Aufklärung  der  unteren  Volksschichten,  der 
Verbesserung  des  Looses  Aller,  die  in  diesem  Jahrhundert 
gemacht  worden  sind  und  mit  der  Aussicht  auf  ein  weiteres 
Jahrhundert  friedlichen  Fortschrittes ,  in  welchem  jede 
drückende  Armuth  und  Ungleichheit  beseitigt,  alle  Schwerter 
in  Pflugscharen  verwandelt  sein  werden  und  eine  wirkliche 
Verbrüderung  aller  civilisirten  Völker  beginnen  kann. 

Ob  das  dermalen,  da  wir  wirklich  an  dieser  Schwelle 
ans  befinden,  noch  die  Antwort  sein  wird,  möchten  wir  sehr 
bezweifeln.  Was  jetzt  die  Völker  in  Wirklichkeit  innerlich 
bewegt,  ist  auch  nicht  die  Sehnsucht  nach  Humanität,  das 
war  das  Ideal  der  vergangenen  Jahrhundertwende,  das  seit- 
her bis  auf  einen  gewissen  Grad  erreicht  worden  ist,  sondern 
die  Sehnsucht  nach  Kraft,  welche  weder  aus  der  domini- 
renden  Stellung   der  Naturwissenschaften,   wie    sie    in   dem 


4  Fin  de  Siecle. 

zweiten  Theile  des  19.  Jahrhunderts  bestand,  noch  aus  der- 
jenigen der  abstrakten  Philosophie,  in  welcher  dessen  erste 
Hälfte,  nach  Vorübergang  der  napoleonischen  Kriegsstürme, 
den  Schlüssel  zu  allen  Geheimnissen  des  Lebens  gefanden  zu 
haben  glaubte,  hervorgegangen  ist.  Ein  sich  zu  schwach 
fühlendes  Geschlecht  sucht  jetzt  Kraft  um 
jeden  Preis,  in  der  Politik,  wie  in  der  Kunst,  oder  der 
Erziehung,  —  und  sie  will  sich  auf  den  bisherigen  Wegen 
nicht  finden  lassen. 

Die  Welt  ist,  wie  es  scheint,  doch  etwas  anders,  als 
die  bisherige,  etwas  oberflächliche  Anschauung  sie  sich  vor- 
stellte; es  liegen  noch  hinter  ihrer  blossen  Aussenseite, 
die  beobachtet,  gemessen  und  gewogen  werden  kann,  Reali- 
täten, die  mit  einein  anderen  Sinne  erfasst  werden  müssen, 
und  denen  der  blosse  Naturforscher  mit  einem  «ignoramus» 
gegenübersteht. 

Der  Materialismus,  und  die  daraus  resultirende  Ueber- 
schätzung  der  naturwissenschaftlichen  Kenntnisse,  war  ein 
ganz  natürlicher  Rückstoss  gegen  den  blossen  Formalismus 
der  abstrakten  Philosophie,  gegen  welchen  die  für  die  zweite 
Hälfte  des  Jahrhunderts  typische  Abwendung  von  aller 
Metaphysik  eintrat,  welche  von  Schopenhauer  «metaphysische 
Bedürfnisslosigkeit*  genannt  wird.  Nun  tritt  mit  der  TJn- 
widerstehlichkeit  eines  Natur  Vorganges  dieses  Bedürfniss 
wieder  ein,  bei  Tausenden  von  Gebildeten  auf  Einmal,  und 
was  bisher  ein  vollständiges  wissenschaftliches  System  zu 
sein  schien,  erscheint  ihnen  nur  noch  als  eine  theil weise  und 
ungenügende  Erkenntnis  bloss  einzelner  Vorgänge  des  kom- 
plizirten  Vorganges,  welcher  «menschliches  Leben>  heisst. 

Jacob  Burkhardt  in  seinem  mit  Recht  berühmten  Buche : 
«Die  Zeit  Konstantins  des  Grossen»  schildert  auf  pag.  185  eine 


Fin  de  Siecle.  5 

ganz  Ähnliche  Epoche.  Auch  damals,  am  Ende  der  alten 
Zeit  und  ihrer  Kultur  entdeckte  die  Welt  plötzlich  wieder,  dass 
(wie  Geizer  sagt)  «der  Glauhe,  der  Sinn  für  die  unsichtbare  Welt, 
eine  natürliche  Anlage  des  Menschen  ist,  deren  Unterdrück- 
ung and  Vernachlässigung  eine  anormale  Bildung,  eine  Ver- 
krüppelnng  der  Seele  zur  Folge  hat.>  Wir  vermuthen,  dass 
sie  dermalen  zum  zweiten  Male  in  dieser  Entdeckuug  begriffen 
ist.  und  dass  der  interimistische  und  provisorische 
Zwischenzustand,  den  man  jetzt  «Agnostizismus»  nennt, 
welcher  dermalen  der  Inhalt  des  Denkens  der  weitaus  meisten 
Gebildeten  unserer  Zeit  ist,  die  überhaupt  weiter  als  an  Essen 
und  Trinken  und  die  täglichen  Bedürfnisse  und  Interessen  des 
Lebens  denken,  nur  der  Vorläufer  einer  grossen  Bewegung 
sein  wird,  den  ein  anderer  heutiger  Philosoph1)  einen  «Kampf 
um  die  Seele»  nennt.  Wir  setzen  die  charakteristische  Stelle 
wörtlich  hieher;  sie  betrifft  viele  heute  im  Vordergrund  des 
Interesses  und  der  Diskussion  liegende  Erscheinungen: 

«Nicht  geringer  ist  die  Wandlung,  die  in  der  reinen 
Gedankenarbeit  vorgeht.  Hinter  uns  liegt  die  Zeit,  wo  die 
Natur  das  Ganze  unserer  Wirklichkeit  zu  bilden  schien,  wo 
alle  Gebiete  sich  gemäss  der  Naturwissenschaften  gestalten 
sollten,  wo  auf  den  Trümmern  des  alten  Glaubens  sich 
ein  neuer  Glaube  aus  popularisirter  Naturwissenschaft  ein- 
richten wollte.  Die  klägliche  Leere  dieses  neuen  Glaubens 
musste  gar  bald  zur  allgemeinen  Empfindung  kommen;  die 
Wissenschaft  aber  sehen  wir  jetzt  weit  mehr  darauf  bedacht, 
das  Eigentümliche  der  geistigen  Vorgänge  und  Gebiete 
deutlich  herauszuarbeiten,  ihren  Unterschied  von  den  Natur- 
prozessen hervorzukehren.  Das  geschieht  zunächst  ohne  alle 
Tendenz,  in  reiner  Ermittelung  des  Thatbestandes,  es  erfolgt 


M  Eucken,    «die  Lebensanschauungen    der  grossen     Denker» 
im  Schlusskapitel. 


C  Fin  de  Siede. 

mehr  an  besonderen  Vorwürfen,  als  in  prinzipieller  Erörte- 
rung1. Aber  es  drängt  schltesslicti  mit  Notb wendigkeit  zu 
der  grossen  Frage,  was  denn  das  Ganze  bedeute,  das  sich 
in  so  ei  grnthiim  liehen  Kräften  uud  Gesetzen  zu  erkennen  giebt, 
und  wie  dieses  Ganze  znm  sinnlichen  Dasein  sich  verhält. 
Damit,  wird  der  Gedanke  über  dieses  Dasein  hinansge  tri  eben  ; 
Probleme,  die  schon  erledigt,  schienen,  erwachen  von  Neuem; 
ein  grösseres  Weltbild  wird  gesucht,  um  den  ganzen  Urnbreis 
unseres    Lebens    aufzunehmen. 

Die  traibende  Kraft  aller  solcher  Bewegungen  ist  eine 
stärkere  Entfaltung  des  Subjekts.  Es  kann  sich  aber  nicht  so 
entfalten,  ohne  zugleich  die  Unsicherheit  seines  eigenen  Bestan- 
des, die  Unklarheit  über  den  eigenen  Inhalt  zn  empfinden  ;  so  ver- 
wandelt sieh  alsbald  jenes  Streben  in  ein  Suchen  des  eigenen 
Wesens,  in  einen  Kampf  um  die  eigene  Erhaltung.  Ein  solches 
Siehselbstsuchen  des  Subjekts  ist  es,  was  die  moderne  Kunst 
durchdringt  und  ihre  Bestrebungen,  bei  allem  Unreifen  und 
Unerquicklichen,  so  bedeutsam  und  so  zwingend  macht.  Wo 
aber  ein  Suchen,  da  ist  auch  Irren  und  Verirren;  so  ist  nicht 
verwunderlich,  dass  In  dem  neuen  Streben  auch  viel  Sonder- 
bares und  Verkehrtes  zur  Oberfläche  drängt,  dass  es  In 
ihm  zunächst  wirr,  ja  wild  durch  ei  n  Amiergeh  t.  Namentlich 
liegt  hier  die  unglückliche  Wendung  nahe,  dass  das  Subjekt 
niuht,  in  seiner  Innerlichkeit  eine  neue  Welt  entdeckt  und  in 
ihr  eine  Substanz  wie  eine  Norm  findet,  sondern  dass  es 
sich  in  seiner  blossen  und  leeren  Empfindung  als  freischwe- 
bendo  (iriisse  behandelt  und  zum  Mittelpunkte  der  Wirk- 
lichkeit macht,  zugleich  aber  das  Lehen  in  eine  unablässige 
Selbstbespiegelung  und  eitle  Reflexion  verwandelt,  sich  in 
Wunderlicher  Mischung  von  Sophistik  und  Romantik  in  der 
blossen     Stimmung"    zu    einem    weltüberiegenen    Kraftgefühl 


FIn  de  Siede.  7 

aufbauscht,  dem  kein  grosser  und  kraftiger  Lebensprozess 
entspricht,  das  daher  seine  innere  Hohlheit  nur  durch  Phrasen 
verbergen  kann.  Das  ist  die  Philosophie  Tom  «Ueber- 
menschen>  u.  s.  w.  Sie  ist  aus  der  Zeitlage  vollauf  begreif- 
lich und  findet  darin  eine  Entschuldigung.  Aber  sie  spiegelt 
nnr  eine  flüchtige  Stimmung,  nicht  die  Substanz  der  Zeit. 
Gewiss  bedarf  unsere  Zeit  der  Kraft,  wie  überhaupt  die  Be- 
deutung der  Kraft  wohl  ausser  Frage  steht. 

Aber  man  mnss  die  Kraft  auch  haben,  nicht  sie  sich 
künstlich  einreden. 

Der  wirklich  Kräftige  pflegt  ebenso  wenig  von  der 
Kraft  viel  Worte  zu  machen,  wie  der  Gesunde  von  der  Ge- 
sundheit, der  Ehrliche  von  der  Ehrlichkeit. 

Aber  solche  durchaus  begreifliche  Auswüchse  sollten  den 
Glauben  an  eine  grosse  Aufgabe  der  Zeit  und  an  das  Recht 
der  Wendung  zum  Subjekt  nicht  erschüttern.  Der  ganze 
Verlauf  der  geschichtlichen  Bewegung  lässt  sich  in  seinen 
grossen  Zügen  betrachten  als  eine  unablässige  Verschiebung 
des  Lebens  aus  dem  Verhältniss  zur  Umgebung  in  die  Innerlich- 
keit ;  mehr  und  mehr  wird  sie  zn  einer  Innenwelt  ausgebaut, 
mehr  und  mehr  von  hier  aus  unsere  Wirklickheit  umge- 
wandelt Uns  aber  drängen  auf  diese  Bahn,  drängen  zur 
Selbstbesinnung  und  Selbsterneuerung  mit  besonderer  Stärke 
die  Unfertigkeit  unserer  geistigen  Lage,  die  grossen  Wider- 
sprüche unseres  geschichtlichen  Standes.  Wir  fühlen  uns  als 
Glieder  der  Neuzeit,  ihr  Streben  nach  einer  unmittelbaren 
und  universalen  Lebensführung,  nach  einer  Auseinander- 
setzung mit  dem  Ganzen  der  Welt,  ist  auch  unser  Streben; 
alles,  was  nicht  eigenes  Erlebniss  ist  und  nicht  dem  ganzen 
Menschen  dient,  kann  auch  uns  nicht  befriedigen.  Aber  die 
Art,  wie  die  letzten  Jahrhunderte  diese  unanfechtbare  Auf- 
gabe behandelt  haben,  kann  uns  nach  den  Erfahrungen  und 


8  Fin  de  Siede. 

Erschütterungen  der  Zeiten  nicht  mehr  genügen.  Die  einzige 
völlig  präzise  Art  der  Durchführung  bot  die  Aufklärung; 
aber  dass  sie  das  Leben  in  zu  enge  Bahnen  lenkte,  darüber 
besteht  heute  kein  Zweifel  mehr.  So  wenden  wir  uns  mit 
besonderer  Vorliebe  zur  Renaissance,  um  hier  das  Grund- 
streben der  Neuzeit  in  ursprünglicher  Frische  zu  erfassen. 
Aber  in  der  Renaissance  war  in  solcher  Ursprünglichkeit 
auch  viel  Ungeklärtheit,  die  sich  unmöglich  mit  aufnehmen 
lässt;  vor  allem  aber  können  wir  uns  ihr  überschäumendes 
natürliches  Kraft-  und  Lebensgefübl  nicht  so  einfach  aneignen. 
Wir  haben  nicht  mehr  die  optimistische  Grundstimmung,  die 
der  Bund  von  Schönheit  und  Lebenskraft  dort  erzeugte ;  die 
Dunkelheiten  des  Lebens,  die  Schranken  unseres  geistigen 
Vermögens,  die  Konflikte  in  der  eigenen  Seele  des  Menschen 
wie  im  Zusammenleben  der  Menschheit,  sie  sind  uns  viel  zu 
deutlich  vor  die  Augen  gerückt,  als  dass  sie  sich  glatt  und 
rasch  erledigen  Hessen;  die  Stimmung  ist  stark  verdüstert, 
die  Lebensarbeit  lastet  auf  uns  mit  weit  grösserer  Schwere, 
die  ungeheuren  Widerstände  drängen  zu  neuen  Vertiefungen  ; 
so  kann  das  Lebensbild  der  Renaissance  unmöglich  das 
unsrige  sein,  so  gilt  es,  die  Grundidee  der  Neuzeit  in  eigener 
Weise  anzugreifen  und  mit  der  Gesammterfahrung  der  Mensch- 
heit in  Einklang  zu  bringen.  Welcher  andere  Angriffspunkt 
aber  bietet  sich  bei  solcher  Aufgabe  als  das  Subjekt  mit 
seiner  Innerlichkeit;  hier  gilt  es,  die  grossen  Weltprobleine 
aufzudecken,  hier  einen  glücklichen  Fortgang  zu  suchen. 

Finden  lassen  aber  wird  sich  ein  solcher  Fortgang  nur, 
wenn  sich  die  Lebensbewegung  vertieft  zu  einem  Kampf  um 
die  Seele,  um  eine  geistige  Selbsterhaltung,  wenn  sie  damit 
einen  ethischen  Charakter  gewinnt.  Erreichen  wir  nicht 
einen  Punkt,  wo  aus  der  Freiheit  eine  Noth wendigkeit  her- 
vor   bricht,    wo    durch    Verneinung    und    Vernichtung    dem 


Fin  de  Siecle.  9 

Menschen  ein  neues  Wesen  und  eine  neue  Welt  aufsteigt, 
so  ist  alle  Mühe  verloren;  auch  das  Streben  unserer  Zeit 
wird  bei  aller  Aufregung  nutzlos  verflattern  und  verwehen, 
wenn  es  nicht  zu  diesem  Punkt  vordringt,  eine  grosse  Wen- 
dung des  Innern  vollzieht  und  sie  zur  historischen  Situation, 
zu  den  Notwendigkeiten  der  geschichtlichen  Lage  in  engste 
Beziehung  setzt.  Es  ist  und  bleibt  der  moralische  Cha- 
rakter, der  über  die  Tiefe  und  Wahrheit  des  ganzen  Lebens 
entscheidet.  Im  Lauf  der  Jahrhunderte  Bind  der  Moral 
Gegner  über  Gegner  erwachsen:  Sophistik  wie  Bomantik, 
blosse  Naturkraft  wie  ästhetisches  Selbstgefühl,  glaubten  sich 
über  sie  wie  etwas  Minderwerthiges,  Philisterhaftes  hoch  er- 
heben zu  können.  Aber  was  sie  als  Moral  bekämpften,  war 
ein  blosses  Zerrbild  ihrer  eigenen  Vorstellung;  ein  solches 
Karrikiren  lässt  sich  ja  Niemanden  verwehren.  Aber  es 
ändert  nichts  an  der  Sache,  die  Sonne  bleibt  Sonne,  mag  sie 
der  Beobachter  noch  so  getrübten  Auges  anschauen.  Darum 
also  handelt  es  sich  auch  für  unsere  Zeit,  ob  sie  die  Zerr- 
bilder abstreifen  und  den  Weg  zu  jener  Erneuerung  finden 
wird.  Bei  der  Eigenthümlichkeit  ihrer  Lage  kann  sie  ihn 
jeden  Falls  nur  ans  eigener  Arbeit  finden,  nicht  von  einer 
anderen  Zeit  gewiesen  erhalten.» 

Das  ist  auch  unsere  Ansicht,  und  desshalb  gehen  wir 
hoffnungsvoll  in  das  neue  Jahrhundert,  während  wir 
mit  der  Lebensanschautrag  Gcethe's,  oder  Darwins,  oder  gar 
Nietzsche's  an  einer  gesunden  Weiterentwicklung  Europas, 
namentlich  einer  solchen  im  Sinne  der  Ausbildung  politischer 
Freiheit,  Zweifel  hegen  müssten. 

Darüber  kann  vernünftigerweise  kein  Zweifel  sein,  dass 
wir  aus  dem  Agnostizismus  heraus  müssen,  und  dass  es 
sich  jetzt  darum  handelt,  eine  befriedigende  Gesammtanschauung 


10  Fin  de  Siecle. 

für  das  ganze  Leben  des  Menschen  zu  finden,  die  einem  grossen 
Theile,  namentlich  der  gebildeten  Menschen  fehlt.  Das  ist 
wichtiger  als  Alles  Andere  nnd  wird  sich  aufdrängen,  man 
möge  es  wünschen  oder  nicht,  im  Staat,  in  der  Gesetzgebung1 
und  Verwaltung,  in  der  Kirche,  in  der  Familie  und  Erziehung, 
im  Leben  des  Einzelnen  und  nicht  am  wenigsten  in  der  Rege- 
lung der  ökonomischen  und  sozialen  Verhältnisse.  Auch  diese 
sind  ohne  eine  gesunde  Grundanschauung  in  dem  Sinne,  den 
man  mit  den  Worten  Philosophie  oder  Religion  ausdrückt, 
nicht  neu  zu  begründen,  nnd  der  Hauptfehler  der  bisherigen 
Versuche  liegt  gerade  in  der  rein  materialistisch-atheistischen 
Denknngsart  der  leitenden  Geister,  welche  sich  auf  die  hinter 
ihnen  stehenden  Massen  übertragen  hat,  als  das  einzige 
vorläufig  gewisse  Resultat  ihrer  Bestrebungen. 

Das  kommende  Jahrhundert  wird  nicht  ein  Jahrhundert 
der  «sozialen  Frage»  sein,  so  wie  sie  heute  aufgefasst  wird, 
sondern  vielmehr  ein  Jahrhundert  der  religiösen  Frage,  in 
welchem  sich  wieder  deutlicher,  als  seit  langem,  zeigen 
muss,  was  überhaupt  das  welttbewegende  Prinzip  ist,  ob  der 
kleinliche,  vorübergehende  und  engbegrenzte  Wille  kurz- 
lebiger Menschen,  die  bloss  auf  sich  selber  und  ihre  eigene 
Einsicht  und  Kraft  gestellt  sind,  oder  der  unveränderliche, 
feststehende  WilJe  eines  Geistes,  für  den  eine  Jahrhundert- 
wende keine  grosse  Bedeutung  hat. 

Der  Agnostizismus,  das  blosse  Bekenntniss,  dass  man 
eigentlich  über  die  höchsten  Lebensräthsel  nichts  wisse,  ist 
schon  ein  Fortschritt  gegenüber  dem  blinden  und  dreisten 
Materialismus,  der  Alles  zu  wissen  behauptete,  was  wirk- 
lich sei;  es  ist  bloss  noch  passiver  Unglaube  an  Stelle  des 
activen.  Aber  er  ist  doch  eine  armselige  Lehre.  Er  ver- 
zichtet  einfach    darauf,    zu    wissen,    was  das  Menschenleben 


Fin  de  Siecle.  11 

eigentlich  bedeutet.  Es  wird  alles  zur  Mittelmässigkeit 
verdammt  in  ihm  und  dem  Zufall,  oder  der  Gewalt  und  List 
der  jeweilen  stärksten  unter  den  lebenden  Menschen  preis- 
gegeben. Im  politischen  Leben  führt  er  zum  ober- 
flächlichen Liberalismus,  welchem  der  Staat  und  seine  Form 
der  höchstmögliche  Gedanke  der  Menschheit  ist,  oder  zu  einem 
ebenso  oberflächlichen  Konservativismus,  der  nichts  Anderes 
weiss,  als  einmal  hergebrachte  und  gewohnte  Formen  politischen 
und  kirchlichen  Lebens  zu  erhalten,  gleichviel  ob  sie  gut  oder 
schlecht  seien,  —  weil  man  eben  selbst  nichts  wesentlich 
Besseres  kennt. 

Da  können  wir  ruhig  sagen,  das  ist  auch,  wenn  nicht 
vorübergegangen,  so  doch  im  Vorübergehen  begriffen. 

Auch  ist  «Rom»  nicht  mehr  allein  in  Frage,  wie  noch  vor 
drei  Jahrzehnten ;  dieselbe  hat  sich  unterdessen  ve  r  t  i  e  f  t. 
Was  Spinoza,  Voltaire,  Goethe,  oder  selbst  Schopenhauer 
noch  nicht  auszusprechen  wagten,  wofür  sie  immer  uoch 
irgend  eine  pantheistische  Formel  suchten,  das  wird  jetzt  von 
Tausenden,  bald  von  Millionen  offen  bezeichnet  und  der  Ge- 
gensatz dazu  als  die  Grundursache  aller  bestehenden  Uebel 
der  menschlichen  Gesellschaft  angeklagt  werden.  In  diesem 
Verstände  hat  auch  der  Wahnsinn  Nietzsche's  Methode  und 
Zusammenhang  mit  der  Wirklichkeit.  Und  das  ist  der  wahre 
Grund  des  Lobes,  der  ihm  zu  theil  wird. 

Die  Frage  des  nächsten  Jahrhunderts  ist  die,  ob  der 
philosophische  (oder  unphilosophische)  Atheismus  Recht  hat, 
oder  das  Christenthum,  als  die  historisch  letzte  und  beste 
Form  des  Gottesglaubens.  Die  gebildeten  Klassen  wenden 
sich  demselben  sichtbar  wieder  zu,  während  in  den  unteren 
Schichten  der  Atheismus  im  Zunehmen  begriffen  ist. 

Es  mag  manchen  Menschen,  welche  die  Vorgänge  der 
Geschichte  kennen  und  wissen,  mit  welchen  Erschütterungen 


12  Fin  de  Siecle. 

der  Austrag  dieser  Frage  schon  wiederholt,  begleitet  gewesen 
ist,  hange  werden  bei  dem  Gedanken,  dass  die  jetzige  äusser- 
licli  glanzende  Kultur  wieder  einer  Verwüstung  unterliegen 
könnt?,  wie  es  die  Völkerwanderung,  oder  die  Ausbreitung 
des  Islams,  oder  in  nah  erliegen  den  Epochen  der  drei  ssigj  ährige 
Krieg  und  die  französische  Revolution  gewesen  sind.  Andere 
werden  sich  sagen,  dass  jeder  grössere  Fortschritt  im 
Gesam  tntleben  der  Menschheit  mit  Leiden  erkauft  werden 
innss,  wie  es  auch  im  Leben  des  Einzelnen  der  Fall  ist. 
Und  vielleicht  auch,  dass  es  doch  noch  schöner  sein  wird, 
in  einer  Zeit  zu  leben,  wo  man  um  die  allerhöchsten 
■  ■:!  der  Menschheit  kämpft,  als  in  einer  solchen,  wo 
es  Mth  höchstens  um  Eisenbahnen,  oder  nm  Kolonien  handelt, 
-  vorausgesetzt  immer,  dass  man  Muth  genug  besitzt  und 
daher  ist,  auf  der  rechten  Seite  zu  stehen,  die  am  Ende  den 
Htg  davontragen  wird. 


n. 

Das  letzte  Jahr  eines  Jahrhunderts  ist  zu  zweien  Malen 
l'iir  die  Schweiz  ein  Schicksals-  und  Entscheidungsjahr  ge- 
■FBMB.  Im  Jahre  1499  ging  sie  aus  dem  strategisch  nnd  politi- 
tisch  bedeutendsten  Kriege  ihrer  Geschichte  an  Kraft  und 
lehren  reich  hervor  und  nahm  in  Folge  dieser  tapfern  Hal- 
tung vom  Beginn  des  16.  Jahrhunderts  an  ihren  Platz  ata 
laRntSadlges  Staatswesen  in  Europa  ein.  Zn  Ende  1799 
hingegen  hatte  sie  ihren  blühenden  Wohlstand  durch  den 
Krlftg  fremder  Nationen  auf  Ihrem  Boden  nnd  die  eigene 
BWUTgrihaftc  Wehrverfassung  eingebüsst,  und  begann  das 
in.  Jahrhundert   mit  der   bestimmten  Aussicht   auf  weitere 


Fin  de  Siecle.  13 

Erschütterungen  des  kaum  geschaffenen  modernen  Staats, 
vielleicht  bei  den  Besten  ihres  damaligen  Volkes  sogar  ohne 
fiel  Hoffnung  auf  einen  selbständigen  Fortbestand  desselben 
überhaupt.  Diese  beiden  Kriegsjahre  sind  also  der  Höhe-  und 
der  Tiefpunkt  der  schweizerischen  Geschichte. 

Das  Jahr  1499  war  der  thatsächliche  Abschluss  eines 
allmähligen ,  in  verschiedenen  Entwicklungsstadien  durch- 
laufenen Wachsens  des  eidgenössischen  Staatsgedankens.1) 
Derselbe  bestand  ursprünglich  nicht  darin,  einen  eigenen 
«souveränen  Staat»  in  Europa  zu  bilden,  sondern  einen  ewigen 
Bund  Ton  Städten  und  Ländern,  die  sich  im  deutschen  Reiche 
und  unter  dessen  Oberhoheit  selbständig  regierten  und  keinem 
speziellen  Landesherrn  erblich  angehörten,  wie  es  solche 
Verbindungen  weniger  dauerhafter  Art  auch  noch  andere 
gab.  Daher  wurden  in  den  Bundesbriefen  gewöhnlich  Kaiser 
und  Reich  vorbehalten,  bis  in  das  15.  Jahrhundert  hinein 
auch  noch  um  die  Bestätigung  der  Freiheitsbriefe,  die  die 
Grundlage  dieser  Konstitution  enthielten,  bei  den  deutschen 
Kaisern  nachgesucht,  dieselben,  wenn  sie  in  die  eidgenössischen 
Länder  kamen,  mit  allen  Ehren  als  Oberherrn  empfangen,  und 
der  Kaiser  überhaupt  stets  «unser  Herr»,  unser  «gnädiger 
Herr»,  hie  und  da  etwas  spöttisch  auch  «unser  ungnädiger  Herr» 
genannt.  Dieses  Verhältniss  änderte  sich  allmählig  durch  ganz 
verschiedene  Umstände  und  in  langsam  fortschreitender  Weise. 
Zunächst  kamen  seit  dem  15.  Jahrhundert  die  deutschen 
Kaiser  seltener  mehr  als  früher  in  die  Schweiz,  ferner  wurde 
nach  und  nach  diese  Würde  gewissermassen  erblich  in  dem 
Hause  Oeaterreich,  gegenüber  welchem    bis  zu   der  «ewigen 


*)  Am  besten  und  übersichtlichsten  findet  sich  dieser  ganze  Ver- 
lauf dargestellt  in  dem  Aufsatz  von  Professor  Oechsli  «Die  Be- 
ziehungen der  schweizerischen  Eidgenossenschaft  zum  Reich  bis 
zum  Schwabenkrieg»,  im  V.  Bande  unseres  Jahrbuchs. 


14  Fin  de  Siecle. 

Iitung»  von  1474  bloss  ein  stets  sich  verlängernder 
ffcnstillBtand  ohne  rechte  Versöhnung  und  ein  beständiges 
-Trauen  bestand;  sodann  wurden  im  deutschen  Reiche 
allmählich  immer  mehr  die  Landesfurten,  ganz  besondere 
<\b  Kurfürsten,  die  eigentlichen  Landesherren,  zu  welchen 
dir  Eidgenossen scbaft  kein  Verhältnis»  hatte.  Von  den  Reichs- 
gerlekten  hatte  sie  sich  durch  die  feste  Begründung  eines 
eigenen  gehörigen  Rechtsschutzes  und  Bechtsganges  mittelst 
lt-s  j 'f äffen!)  rief  es  und  des  S  tanser  Vorkommnisses  emanzipirt, 
lanjre  bevor  das  Beich  am  Wormser-  Reichstag  von  1495 
■jaen  ahnlichen  ewigen  Landfrieden  zu  begründen  versuchte, 
dd  endlich  war  seit  den  Burgunderkriegen  und  den  ersten 
iliiiidafssen  initFr ankreich  unter  Karl  VII.  und  Ludwig  XI. 
•Joe  nahe  Beziehung  zn  diesem  Lande  eingetreten,  welche 
mit'  Jahrhunderte  hinaus  die  vorwiegende  blieb. 

Unter  diesen  Umständen  war  es  selbstverständlich,  dass 
dl«  Eidgenossenschaft  den  von  Kaiser  Friedrich  III.  gestifteten 
Krhwäbischen  Bund  an  ihren  G ranzen  nicht  gerne  sah,  ihm  auch 
ni.lit  beitreten  und  noch  viel  weniger  die  Beschlüsse  des  Reich  s- 
tagos  von  Worms  anerkennen  konnte,  durch  die  ein  r  Reich  s- 
mergericlit.  als  oberste  Instanz  auch  für  sie,  und  eine 
■  II  eiiieine  Reichssteuer  eingeführt  werden  sollte.  Von  1406  ab 
winde  diese  vom  Reiche  ganz  bestimmt  verlangt'),  und  als  dann 
null  positive  Massregeln  dieses  neuen  Gerichtshofes  gegen 
In;  zugewandten  Orte  St.  Gallen,   Schaffhansen  und  Rottweil 

])  Die  Eidgenossen  erkannten  sehr  wohl,  wohin  das  AJW 
KkHenllch  führen  würde,  und  der  Kurfürst  von  Mainz  soll  auch 
In  Liinntlich  einer  eid gen flssis eben  Abordnung  geradezu  erklär! 
Iiiiln'ji.  der  Weg  sei  gefunden,  den  Schweizern  einen  Herrn  zu  geben, 
hiiJ  ,t  seihst  werde  diess  mit  der  Feder  hl  seiner  Hand  zuwege- 
hringen,  worauf  er  die  treffende  Antwort  empfing,  es  hätten  diess 
ii in' [i  tehon  andere  Leute  mit  Hellebarden  «ersucht,  die  noch  ge- 
fuhrlither  seien,  als  ein  Gänsekiel.  Ansliclm's  Chronik  If,  112. 


Fin  de  Siecle.  15 

hinzutraten  und  überdiess  durch  grobe  Schmähungen  die 
Stimmung  in  den  Gräuzgebieten  sich  mehr  und  mehr  ver- 
bitterte1), wurde  ein  friedlicher  Ausgang  in  den  folgenden 
Jahren  immer  unwahrscheinlicher. 

Den  direkten  Anlass  zum  Kriege  gab  das  Umsichgreifen 
Oesterreichs  in  den  südöstlichen  Gebieten  des  heutigen  Grau- 
bnndens,  wogegen  sich  der  dortige  Graue  Bund  und  Gottes- 
hausbund durch  ein  Bündniss  mit  den  sieben  östlichen  Eid- 
genössischen Orten  (ohne  Bern)  zu  stärken  versuchten.  Das 
Frauenkloster  Münster,  unmittelbar  an  der  Gränze  von  Tyrol, 
das  noch  in  unserer  Zeit  einen  gewissen  Anhalt  an  Oesterreich 
findet2),  war  der  Punkt,  an  welchem  der  Krieg  ausbrach, 
indem  es  im  Januar  1499  plötzlich  von  Tyrolern  besetzt 
wurde.  Eine  Friedenskonferenz  in  Feldkirch  vom  10.  Januar 
blieb  erfolglos,  und  die  Regierung  von  Tyrol  rief  nun  den 
schwäbischen  Bund,  die  Graubündner  hingegen  die  Eidgenossen 
zu  Hülfe,  welche  letzteren  auch  sofort,  zu  allererst  die  Urner, 


*)  Der  Neid  und  die  Bosheit  der  Gränznachbarn,  die  sich 
allmählig  bei  dem  allerdings  auffallenden  Glöck  uud  Kuhm  der 
Eidgenossen  ansammelte,  ist  besonders  gut  aus  dem  Lied  des  Isen hofer 
Ton  Waldshut.  «Woluf,  ich  hör'  ein  nüw  Getön»  aus  der  Zeit  des 
alten  Zürichkriegs,  schon  ein  Menschenalter  zuvor,  ersichtlich. 
Tschudi  II 412.  Seither  war  noch  viel  mehr  Ruhm,  in  den  Burgunder- 
kriegen besonders,  erworben  worden.  Namentlich  war  der  zahlreiche 
verarmende  Gränzadel  ein  erbitterter  Feind  der  eidgenössischen 
«Bauern»,  die  sich  selbst  seiner  «natürlichen»  Herrschaft  entzogen 
hatten  und  Andern  ein  beständiges  «schlechtes  Beispiel»  gaben.  Es 
würde  sich  lohnen,  alle  diese  kleinen  Feinde  der  Eidgenossen,  Marx 
Sittich  von  Hohenems,  die  Grafen  von  Werden berg  und  Fürstenberg, 
Graf  Alwig  von  Sulz,  die  Tiroler  Herren,  Jacob  von  Medici  von 
Musso  n.  A.  m.  in  einem  zusammenhängenden  Zeitbilde  zu  beschreiben 

*)  Vgl.  darüber  die  noch  hängende  Inkamerationssachc,  Jahr- 
buch XI,  p.  432. 


16  Fin  de  Siede. 

unter  der  Anführung  Heinrich  Wohllebs,  der  bei  Frastenz 
fiel,  der  Mahnung  entsprachen.  Vom  Februar  an  begann  der 
Krieg  auf  der  ganzen  langen  Linie1)  vom  Münsterthal  bis 
zum  Elsass,  in  welchem  die  Eidgenossenschaft  udd  das  deutsche 
Reich  anfänglich  bloss  Helfer,  nicht  «Ursachen»  waren,  nach 
und  nach  aber  thatsächlich  und  naturgemäss  die  Hauptparteien 
wurden.  Er  endete  mit  der  bedeutenden  Schlacht,  von  Dornach 
am  22.  Juli,  und  es  kam  sodann,  nach  allerlei  Schwierigkeiten, 
durch  die  Vermittlung  des  Herzogs  von  Mailand  der  Friede 
von  Basel  vom  22.  September  zu  Stande,  der  in  den  Beilagen 
zum  letzten  Jahrbuch  bereits  abgedruckt  ist  und  die  faktische 
Unabhängigkeitserklärung  der  Eidgenossenschaft  bildet.  Die 
nächste  Folge  davon  war  der  Eintritt  von  Basel  und  Schaff- 
hausen in  den  Bund,  der  zwei  Jahre  später  ziemlich  gleichzeitig 
erfolgte;  dagegen  ging  Konstanz,  das  sich  schon  vor  dem 
Kriege  dem  schwäbischen  Bund  angeschlossen  hatte,  während 
es  früher  (und  zum  Theil  auch  noch  später)  in  vielen  freund- 
schaftlichen Beziehungen  zur  Eidgenossenschaft  stand,  der- 
selben definitiv  verloren  und  ist  bis  zum  heutigen  Tage  das 
einzige  kleine  Stück  nicht  schweizerischen  Gebietes  auf  der 
linken  Rheinseite  geblieben. 

Der  Krieg  selbst  war  ein  sehr  erbitterter  und  theilweise 
auch  blutiger  gewesen.  Die  Eidgenossenschaft  und  Grau- 
bünden siegten  in  allen  Gefechten2)  ohne  Ausnahme  auf  der 


*)  Die  eigentliche  Kriegserklärung  ist  vom  16.  Februar. 

2)  Die  beiden  entscheidenden  Schlachten  des  Krieges  waren  die 
an  der  Maiser  beide,  oder  wie  sie  in  neuerer  Zeit  genannt  wird,  an 
der  Galven,  vom  22.  Mai  auf  dem  südöstlichen  und  die  von  Dorn  ach 
am  22.  Juli  auf  dem  nordwestlichen  Kriegsschauplatz,  deren  Be- 
schreibungen nach  Anshelm  in  den  Beilagen  folgen.  Ueber  die 
erstere  besteht  eine  vom  Eidg.  Generalstabsbureau  1895  heraus- 
gegebene  genaue  Darstellung  mit  Angabe  aller  Quellen. 


Fin  de  Stecle.  17 

ganzen  langgestreckten  Gefechtslinie  und  konnten  sich  am 
Schlüsse  desselben  mit  Recht  rühmen,  nicht  einen  Zollbreit 
Boden  bei  Beginn  der  Friedensunterhandlungen  in  gegneri- 
schen Händen  und  keinen  Feind  anders  als  todt  eine  Nacht 
lang  auf  ihrem  Gebiete  gelassen  zu  haben. 

Der  Kaiser,  welcher  selbst  kurz  vorher,  1487,  die  c ewige 
Richtung»  seiner  Vorgänger  in  der  Herrschaft  von  Vorder- 
osterreich  und  Tyrol  erneuert  und  darin  den  ganzen  eidge- 
nössischen Besitzstand  unbedingt  anerkannt  hatte,  erliess 
am  22.  April  ein .  Manifest  an  das  Reich,  welches  neben  dem 
«Zornbreve»  Papst  Julius  IL  und  dem  sogenannten  «Gebet» 
WimphelingV)  um  unsere  Bekehrung  das  Gröbste  enthält, 
was  jemals  über  unsern  Staat  geäussert  worden  ist2).  Er 
vermochte  es  indessen  trotzdem  über  sich,  bereits  im  Jahre  1500 
die  «ewige  Erbeinung»  Oesterreichs  mit  den  «groben,  schnöden 
Bauersleuten»  wieder  zu  erneuern,  und  Hess  es  sich  sogar 
sehr  angelegen  sein  denselben  in  einem  noch  engern  Frcund- 
schaftsbund,  der  «erneuten  Erbeinung»  von  151 18),  (welche 
im  letztjährigen  Jahrbuche  (p.  234)  abgedruckt  ist),  das  Pro- 
tektorat über  die  Grafschaft  Burgund  (die  heutige  Franche- 
comtä)  Namens  seines  Enkels,  Erzherzog  Karl,  des  nach- 
maligen Kaisers  Karl  V,  anzuvertrauen.  So  hatten  sich  durch 
die  Entschlossenheit  und  die  Kriegskunst  der  Eidgenossen 
die  Ansichten  über  sie  in  kurzer  Zeit  völlig  geändert.4) 

Von  dem  Basler-Frieden  ab  hörte  der  Zusammenhang 
der  damaligen  Eidgenossenschaft  mit  dem  Reiche  thatsächlich 
auf;   sie  galt  fortan  nicht  mehr  als  «Glied»,    sondern  bloss 

*)  Eidg.  Abschiede  III,  Abtheüung  II.  519  und  Oechsli  Quellen- 
buch 282. 

*)  Vgl.  die  Beüage  I. 

*)  Eidg.  Abschiede  III.    Beilage  19. 

*)  Ganz  ähnlich,  wie  es  im  letzten  Jahre  bezüglich  der  Ameri- 
kaner der  Fall  war. 

2 


18  Fin  de  Siede. 

noch  als  Verwandte»  des  Reiches;  einzijr  die  Städte  Basel, 
. -uii  und  St.  Gallen,  die  Bistliümer  von  Basel, 
(imf,  Lausanne  und  Sitten,  die  Abtei  St.  Gallen  und  eine 
Anzahl  anderer  geistlicher  Stifte  wurden  noch  theoretisch 
als  in  die  Reicbskrciseintheilnng  gehörend  beansprucht.  Der 
dreissigjährige  Krieg,  in  welchem  es  der  Eidgenossenschaft 
gelang,  ihren  Boden  (mit  Ausnahme  von  Rottweil)  von  dieser 
verwüstenden  Furie  gänzlich  intakt  zu  erhalten,  und  der 
tiefe  Vorfall  Deutschlands  nach  demselben  mussten  ihr  die 
Folgen  ihrer  Politik  und  des  Krieges  von  1499  im  besten 
Lichte  zeigen,  und  bei  dem  Wostphälisehen  Fried  cnskongreas, 
Welcher  dem  Unglück  ein  Ende  machte,  wurde  auf  ihr  Ver- 
langen ihre  «Souveränität»  nun  förmlich  durch  einen  Artikel 
des  !■  Q8instrumcntes  anerkannt.1)    Im  Rys wicker- Frieden 

von  11497  wurde  dann  nochmals  das  Gebiet  des  »Corpus  Hel- 
veticwii*  als  ein  besonderer  europäischer  Staat  erklart. 
Einzig  das  Gebiet  des  Bistbums  Basel  ist  dort  nicht  zur 
Schweiz  gerechnet  und  blieb  bis  zum  Anfang  dieses  Jahr- 
hunderts, eigentlich  bis  1815,  in  etwas  zweifelhaften  Ver- 
haltnissen. 

Win  1648  ab  verschwindet  dann  auch  der  Reichsadler 
überall  aus  den  Wappenschildern  und  an  den  Gebäuden  der 
Schweiz-),  und  die  Eidgenossen  werden  fortan  nur  noch  als 
«Freunde»  des  Reiches  bezeichnet. 

Im  Jahre  1650  sandten  sie  eine  Botschaft  nach  Wien 
mit  dem  Ansuchen,  man  möchte  Inskünftig  die  bisher  ge- 
bräuchliche Kanzleianrede  «liehe  und  getreue»  in  «liebe  und 
besondere»  abändern,  da  ihnen  die  Franzosen  und  Venezianer 

')  Kid«.  Abschiede  V,  II,  2218.  Unterhändler  war  der  Börger- 
nwjstar  Wettstein   von  Basel. 


Fin  de  Siede.  ,  19 

vorhalten,  es  liege  in  der  bisherigen  Ansprache  doch  noch  eine 
< Subjektion  und  Unterwürfigkeit».  Die  kaiserliche  Kanzlei 
antwortete  zwar  damals  noch  ablehnend,  man  ziehe  vor, 
«bei  dem  alten  Stylo  zu  verbleiben»,  entsprach  dann  aber 
dennoch  von  1688  ab  und  titulirte  die  Eidgenossen  fortan 
«besonders  liebe»,  wobei  wir  auch  dermalen  noch  sehr  gerne 
verbleiben  wollen  und  können. 

Im  Ganzen  kann  man  wohl  behaupten,  in  diesem  Kriege 
sei,  wie  schon  oft  in  der  Weltgeschichte,  dem  Uebermuth  sein 
Recht  widerfahren,  denn  an  unfläthigen  Lästerungen  und 
frechen  Drohungen  ist  nie  so  Arges  gegen  die  Eidgenossen- 
schaft geschehen,  als  es  bei  Beginn  nnd  während  desselben 
der  Fall  war.  Von  Seite  der  Eidgenossenschaft  ist  nur  ein 
sehr  derbes  Spottlied  bekannt,  das  aber  nicht  vor,  sondern 
nach  dem  Krieg  und  Sieg  gesungen  wurde;  es  ist  das  erste 
Dornacherlied,  in  dem  die  Verse  vorkommen: 

«Dorneck  bist  ein  hohes  Hus, 
Da  schluogend  d'Schwaben  d'Kuchi  uf, 
Die  Häfen  thatend's  schumen, 
Doch  als  es  ward  um  d'Vesperzyt, 
That  man  die  Knchi  rumen. 

Solothurn  bist  ein  vester  Kern, 
Das  hant  die  Schwaben  gar  nit  gern, 
Es  will  mich  selber  dünken, 
Z'Dorneck  band's  ein  Häring  g'essen 
Und  erst  zu  Strassburg  trunken. 

Der  uns  das  Liedli  macht  bekannt, 
Ein  Schwyzerknab  ist  er  genannt, 
Er  hat  dick  wol  gesungen, 
Zu  Dorneck  vor  dem  grünen  Wald 
Hat  man  die  Schwaben  gschwungen.» 

Mit  dem  Schwabenkrieg  begann  die  äusserlich  grösste 
Zeit  der  Eidgenossenschaft,  in  der  sie  ein  Vierteljahrhundert 


•>0  F in  de  Siede. 

lang    die    erste    Kriegsmacht    Europas    war,    und   zugleich 

die  lange  Rivalität  mit  den  deutschen  Landsknechten  und 
den  Spaniern  um  den  Ruhm  der  besten  Infanterie  der  Welt, 
deren  poetischer  Epilog  das  schöne  Kriegslied  Caspar  Snter'B 
ans  der  -  'Macht  von  Cerisollcs1)  ist,  mit  der  eine  andere 
Periode  eintritt. 

Ein  gänzlich  anderes  Bild  bietet,  in  Ereignissen  und 
Folgen,  das  Jahr  1799,  das  wir  hier  nicht  näher  beleuchten 
wollen.  Eine  kurze  Darstellung  findet  sich  in  nnsern  «Öffent- 
lichen Vorlesungen  aber  die  Helvetik»  von  1878,  ein  Be- 
richt des  französischen  Gesandten  Pichon  (nach  Oechsli 
Qiiellenbueh,  pag.  468)  In  den  Beilagen;  eine  anschauliche 
Schilde  runs;  der  Schlacht  von  Zürich  ist  in  dem  diessjährigen 
Nenjahrsblatt  der  Feuerwerker  -  Gesellschaft  von  Zürich 
enthalten.  Es  wird  nicht  leicht  in  irgend  einer  Staats- 
geschichte ein  grösserer  Gegensatz  gefunden  werden  können, 
als  diese  beiden  Kriegsjahre  ihn  enthalten,  und  ebenso  ist 
schwerlich  jemals  ein  Land  so  rasch  und  vollständig  in  Wohl- 
stand und  Thatkraft  her  abgekommen,  wie  die  zuerst  durch 
langen  Frieden  verwöhnte  und  nachher  durch  leidenschaftliche 
Parteiung  ziellos  gewordene  Eidgenossenschaft  von  1798  und 
1798, 

Densen  angeachtet  gibt  es  bei  der  neuen  Jahrhnndert- 
wemle  abermals  Leute,  die  vor  allem  andern  an  den 
Wehri'inrichtnngen  sparen  wollen,  oder  es  für  erspriesslich 
halten,  fortwahrend  die  Verfassung  des  Landes  in  Frage  zu 
stellen,  um  Parteizwecke  besser  erreichen  zu  können.  Wir 
glauben  unsererseits  nicht  an  den  ewigen  Frieden,  anch  nicht 
nach  neuestem  russischem  Rezept,  und  halten  es  ferner  für 
unmöglich,  dass  das  kommende  Jahrhundert  für  die  Eidgenos- 
senschaft ao  friedlich  nach  Aussen  vorübergehen  könne,   wie 

')  ..ich  IX  p.  157. 


Fin  de  Siecle.  21 

es  in  dem  nun  vergangenen,  allerdings  nur  nach  voran- 
gegangenen Stürmen,  im  Ganzen  der  Fall  gewesen  ist. 

Es  ist  auch  bei  Völkern,  ähnlich  wie  bei  Individuen, 
nicht  immer  ein  Glück,  wenn  sie  lange  Zeit  hindurch  keinen 
grossen  Prüfungen  ihrer  Kraft  ausgesetzt  sind,  so  dass  ganze 
Generationen  in  fast  selbstverständlichem  Wohlstand  ver- 
gessen können,  dass  es  noch  andere  Güter  und  Zwecke  des 
Lebens  gibt,  als  die  Beförderung  desselben.  Wo  sich  vollends 
in  einer  solchen  Generation  eine  bereits  ererbte  starke  Neigung 
zu  materiellem  Lebensgenuss  vorfindet,  da  ist  dieselbe  — 
darüber  machen  wir  uns  keine  Illusion  —  selten  mit  blossen 
Vorstellungen,  oder  geschichtlichen  Erinnerungen  zu  der  rich- 
tigen Lebensansicht  zurückzuführen,  sondern  dann  ist  Un- 
glück die  einzige  Methode,  um  sie  auf  ernstere 
Gedanken  zu   bringen. 

Das   war   so  in   den   Jahren    1798—1815  der  Fall,  und 

diesem  Ernsterwerden  verdankte  die  Generation,  welche  von 

1815—1848  heranwuchs,  die  Thatkraft  und   den  Idealismus, 

die   unser  jetziges  blühendes  Staatswesen  geschaffen  baben. 

Ein  solcher  Ernst  wird  sich  daher  muthmasslich  früher  oder 

später   im  kommenden  Jahrhundert  der  eidgen.  Bevölkerung 

neuerdings  mit   einer  Macht  aufdrängen,  vor  welcher    alle 

andern  «Fragen»  und  Parteibestrebungen  völlig  verschwinden 

müssen. 

«Wie  wenn  auf  einmal  in  die  Kreise 
Der  Freude  mit  Gigantenschritt, 
Geheimnissvoll  nach  Geister  Weise 
Ein  ungeheures  Schicksal  tritt, 
Da  beugt  sich  jede  Erden  grosse 
Dem  Fremdling  aus  der  andern  Welt, 
Des  Jubels  nichtiges  Getöse 
Verstummt,  und  jede  Maske  fallt, 
Und  vor  der  Wahrheit  mächt'gem  Siege 
Verschwindet  jedes  Werk  der  Luge.» 


Beilagen. 


I.  Das  kaiserliche  Manifest  an  die  Beichsstände. 

Lut  der  kaiserlichen  mannng,  inhaltend  der  Eidgnosson  eids- 

aniang,    ir  abzog  vom  rieh,    fürsten  und  vom  adel,    ouch 
urhab  diss  kriegs. 

ximilian  von  Gots  gnaden  Konischer  küng,  zu  allen 
ziten  tuerer  des  richs  etc. 

Ir  lieben,  getrttwen  1    Wir  haben  unseren   und   des  hei- 
ligen    ■'■Mischen   richs  kurfürsten,  forsten   und  ständen,   das 

>tig  und  verächtlich  fü  meinen  der  Eidgnossen  und 
daran  vom  Grawenpttnd  nach  der  lange  in  etlichen  OBSchriben 
angezeigt,  und  dabi  nf  das  höchst  vermant,  uns  uf  das  aller- 
stilrfcst  ze  rosa  und  ze  fuss  undur  des  heiligen  Römscuen 
richs  jiauer  z  uz  ez  Jenen.  Uf  BÖlich  uBsgepot,  wie  wol  wir  mit 
unserm  herzogtuin  Geldren  und  Friessland  zehandlen  gehabt, 
so  haben  wir  doch  dieselben  handlungen  unser  person  halb 
zu  riijrk  gesteh,  und  vier  unser  und  des  heiligen  richs  fürBten, 
der  nach  nottorft  uszewarten,  an  unser  etat  bevolhen,  der 
Zuversicht,  etlich  uss  den  selbigen  vier  fürsten  werden  uns 
mit-  hoftem  sig  vom  almäclitigen  Got,  dein  vertrüwen  nach, 
so  wir  zu  iren  fürstlichen  tugenden,  sipschaft  und  personen 
tragen,  kürzlich  nachvolgen. 

mnach  so  haben  wir  uns,  in  ansehen  der  ehaften  not, 
in  eigner  person  erhäpt  und  uns  zu  des  heiligen  richs  ver- 
WUnlnffg  des  angefangen  richstag  zu  Köln  gefügt;  doch 
zuvor  so  vil  gehandlet  nnd  bestelt,  dass  uns  der  hochgeboren 
Philip,  erzherzog  zu  Oesterrich,  herzog  zu  Burgun  und  Bra- 
bant.,  unser  liber  sun  und  fürst,  mit  unserm  kriegsvolk  von 
den  niiiren  Burgunschen  landen  gar  kurzlich  in  eigner  person 


Fin  de  Siede.    Beilagen.  23 

voJgen  wirt.  Des  glich  haben  wir  ouch  etwe  vil  kriegsvolk, 
das  wir  selbs  versolden  und  bezalen  wollen,  uss  unserem  Her- 
zogtum Gelderen  mit  nns  herufgefüert,  und  nüt  dester  minder 
das  kriegsvolk  wider  die  Niderländischen  des  heiligen  richs 
Verächter  mit  andrem  volk  ersezt  und  erstattet. 

Uf  berüertem  richstag  zu  Köln  haben  wir  die  bemelt 
veraamlung  des  heiligen  richs  erhäpt,  und  die  selb  bis  gon 
Mäntz  gebracht,  da  si  uf  ein  nüws  mit  samt  etlichen  und 
merern  kurfürsten,  forsten  und  botschaften  etc.,  so  wir  uf 
den  weg  zu  uns  vertagt  und  zu  uns  gebracht,  von  nüwein 
widerum  versamlet  und  alda  gehandlet  in  maussen,  dass  unser 
kurfürsten,  fürsten,  ouch  irund  ander  stand  von  iren  gesanten 
den  morteil  verston  werden. 

Doch  ist  zuvor  durch  uns  und  den  hochwirdigen  Bert- 
holden, erzbischofen  zu  Mäntz,  des  heiligen  Ronischen  richs 
durch  Germaniam  erzkanzler,  unserm  lieben  nefen  und  kur- 
fursten, und  durch  die  ganz  versamlung  underenandren  ein- 
heiliklich  mit  gutem  vorrat  beschlossen  worden,  dass,  in  kraft 
der  vereinung  und  Ordnung,  so  wir  mit  allen  des  richs  ver- 
wanten,  |  unseren  lieben  brüederen  und  öhen,  klingen,  kur- 
forsten, fürsten  und  ständen,  die  von  der  Tütschen,  Wälschen 
und  Windischen  nation  sind,  der  zit  anfangs  unser  regierung 
in  merklicher  anzal  zu  mermalen  bi  enandren  gwesen,  fürge- 
non,  nfgericht  und  beschlossen  haben,  ouch  ir  und  wir  endlich 
uns  mitenandren  vereint  und  betragen,  das  den  durchächtern 
des  heiligen  richs  tapferlicher  und  ussträglicher  widerstand 
geton  sölte  werden.  Wer  dan  die  sind,  iedermann  vast  wol 
kündig  ist. 

Damit  aber  menglich  der  Eidgnossen  unbilliche  Handlung 
und  uss  was  unredlichem  grund  ir  eid  kommen  und  ent- 
sprungen sie,  merken  und  klarlich  verston  möge,  wie  wol 
der,  leider  und  das  zu  erbarmen  ist,  von  der  Welt  unwislich 
geeret  wird  —  so  ist  dem  also :  Anfanglich  haben  sich  etliche 
örter  in  der  Eidgnosschaft,  nämlich  die  von  Ure,  Switz  und 
Underwalden,  wider  ir  erst  eid  und  alt  harkommen,  wider 
ir  recht  natürlich  herren  und  lantfürsten,  die  herzogen  zu 
Oesterrich,  als  grafen  der  alten  und  edlen  fürstentumen  Haps- 
burg  und  Kyburg,  wider  Got,  er  und  recht  und  alle  billikeit, 


24  Fin  de  Siecle.    Beilagen. 

uss  eignem  bösen,  mutwilligen  fürnemen,  in  |  vergessung 
Gots,  ires  glimpfs,  er  und  eidspflicht,  sich  ufgeworfen,  zu- 
samengeton,  und  mit  geschwornen,  unredlichen,  unkristlichen 
eiden  sich  mitenander  verpunden,  ouch  also  nachmals  ander 
ir  umsässen  und  anstösser,  darunter  dan  ein  merkliche  anzal 
von  stäten,  grafen,  frien,  ritern,  edlen  und  knechten,  die 
zum  vordristen  des  heiligen  richs,  und  zum  teil  der  fürsten- 
tum  von  Hapsburg  uudertanen  gwesen  sind,  zu  inen  in  sölich 
unghorsame  und  Verpflichtung  gwalteklich  genötiget,  und  inen 
dieselben  ir  natürlich  undersässen  vor  etwa  vil  hundert  jaren 
abgetrungen,  und  mit  nammen  die,  so  hernach  volgen:  näm- 
lich am  ersten  dem  heiligen  rieh  und  nachmals  dem  hus 
Oesterricb,  so  nun  dieser  zit  ouch  dem  heiligen  rieh,  als  das 
inerest  glid  desselben,  underworfen  ist,  die  fürstentum,  graf- 
schaften  und  länder  Hapsburg,  Lentzburg,  Kyburg  und  Oeucht- 
land;  dazu  ouch  die  grafen  von  Nüwenburg,  Fronburg,  Ar- 
berg, Raperschwyl,  Balm,  Rotenburg,  Sanagaza.  Item,  die 
friherren  von  Grassberg,  Wolhusen,  zum  Turn,  Ringenberg, 
Falckenstein,  Bechburg,  Spietz,  Granson,  Illingen,  Rarr, 
Sennen,  Müsin,  Wassersteltz,  Togern,  Tägerfeld,  Bussnang, 
Btirglen,  Swanden,  Friedberg,  Wadeschwyl,  Eschenbach, 
Schwartzenburg,  Fryenstein,  Hasenburg,  Strätlingen,  Signow, 
Egerten,  Gösiken,  Clingen,  Hanberg,  Wartta,  Regensberg, 
Seldenbürreu,  Krechingen,  Buhelsee,  Kempten,  Samen,  Arburg, 
Sedorf.  Item  von  edellüten :  Rüseck.  Erisswil,  Rhüte,  Lung- 
hofen,  Hattingen,  Rordorf,  Mülinen,  Sengen,  Kloten,  Kilch- 
berg,  Optiken,  Attichshusern,  Wolfshofen,  Hofstetten,  Wagen- 
berg, Rein,  Afholter,  Beckle,  Gessler,  Brunegk,  Wellenberg, 
Bettwissen,  Hege,  Spiegelberg,  Schönenwerd,  Rostbach, 
Rosenberg,  Baden,  Klingnow,  Schlatt,  Uelingen,  Stettfurt, 
Busingen,  Beinwyl,  Keiserstuhl,  Ölten,  Arwangen,  Schinss- 
burg,  Votzingen,  Glaris,  Howenstein,  Heideck,  Wildegk, 
Diessenhofen,  Buchse,  Wartensee,  Bamoss,  Lüttishofen,  Tann- 
egk,  Trostburg,  Biberstorf,  Tüffenberg,  Hundwil,  Pfingen, 
Schönstein,  Hültiken,  Dubstein,  Nünwise,  Winterberg,  Friesen- 
berg, Hospital,  Mos8,  Schwanow,  Krochtal,  Thorberg,  Wangen, 
Madoltswyl,  Sumisswald,  Tracbselwald,  Balm,  Sternenberg, 
Pfister,  Rormoss,  Schowense,  Küngstein,  Wartenfels,  Langen- 


Fin  de  Siecle.    Beilagen.  '  25 

stein,  Vernigken,  Rubenswil,  Suppensee,  Rüed,  Rüederswyl, 
Rogwyl,  Wyl.  Ifental,  Wilspach,  Hagberg,  Rhietnow,  Wat- 
ttnwyl,  Tettingen,  Guttenberg,  Urburg,  Schowenburg,  Grim- 
menstein,  Bonstetten,  Sumiken,  Stienken,  Wurtzwyl,  Kotzwyl, 
Ryniow,  Herten  stein,  Sempach,  Artingen,  Ufhusenwagen, 
Schleyerbach,  Sursee,  Bobendorf,  Pfafnach,  Stettenberg,  Rhust, 
Buttenstein,  Toschley,  Ertzingen,  Vorkilcben,  Mattstetten, 
Frenisperg,  Nidow,  Bärren,  Schär,  Manegk,  Wildberg,  Dessen* 
ber,  Remingen,  Wessenberg,  Münchingen,  Kienberg,  Behem 
Ton  Bernang,  Heistab,  Wolen,  Bitselen,  Ostingen,  Abdorf, 
Nu  wolffingen,  Mechingen,  Escbikon,  Erendingen,  Grissberg, 
Kronburg,  Lütisperg,  Langenhart,  Wissenburg,  Rüederen, 
Fröudenfels,  Winckel,  Kappenberg,  Schäfte,  Liebenfels,  Hof- 
meister, Valkenbcrg,  Binnishofen,  Möcke,  Oberdorf,  Littow, 
Iberg,  Gegingen,  Kien,  Rhingk,  und  vil  ander  burger  und 
gmeinden  von  ländren,  landschaften  und  statten;  darunter 
der  raerteil,  um  des  heiligen  richs  und  Tätscher  nation,  und 
um  ir  selbs  3r,  cid,  adel  und  fromkeit  zu  verwaren,  ir  Blut 
vergossen,  und  mit  dem  schwert  erschlagen,  uf  dem  iren  und 
von  den  iren  und  uss  dem  iren  vertriben  und  gänzlich  uss- 
ge tilget;  darzu  ouch  der  geistlichen  weltliche  besitzungen  und 
oberkeiten  an  sich  gezogen.  Darzu  wir  und  wiland  unsere 
vorfaren  loblicher  gedächtnäss  bisshar  zugesehen  und  das 
gellten,  und  wider  si  nichts  gehandlet,  sunder  verhoft  haben, 
mit  der  zit  mit  güetikeit  ichts  ze  erlangen.  Aber  si,  als 
verhärt  und  verstopft,  also  für  und  für  durch  uneinikoit  und 
zwitracht  der  kurfürsten,  fürsten  und  stände  des  heiligen 
richs,  zu  abbrach,  vertruckung  und  straf  derselben,  uss  güt- 
licher verhängntiss,  um  unser  aller  sünd  willen,  der  maussen 
ingewurzelt,  dass  kein  kling  noch  fürst  neben  inen,  als  dan 
die  alzit  der  unrechten  parti  lieber  wan  der  gerechten  ge- 
holfen, dan  mit  merklichen  beschwerungen  iren  eignen  regie- 
rungen  usswarten  mögen.  Durch  sölich,  mit  samt  andren 
zufallenden  beschwerungen,  so  sich  noch  täglich  erzeigen, 
die  grnsamen  Türken  und  verspoter  unseres  kristlichen  glou- 
bens  4ind  unseres  herren  Jhesu  Cristi,  das  ganz  kriechisch 
land  und  etliche  ungerische  fürstentum  in  mitler  zit  der  kristen- 
heit  abgetrungen,  und  sich  ferrer  geschikt,   die  nächsten  an- 


26  Fin  de  Siede.    Beilagen. 

Btossende  kristliche  küngrich,  als  ieztan  Poland,  ouch  ze  er- 
obren und  zu  irem  Machinetischen  gl o üben  zebringen.  Und 
wiewol  die  Sachen  gross  und  merklich,  so  haben  doch  die 
gemelten  vom  unehlichen  und  unnatürlichen,  nüw  erdachten 
eid,  an  sölichen  iren  ungegründeten,  unkristlichen  und  uneh- 
lichen handlungen  und  harkommen  nit  gnug  gehebt,  sunder 
iezt  uf  ein  nüws  fürgenommen  und  bedacht,  iren  fuss  witer 
in  das  heilig  rieh  und  Tütsche  nation  zesetzen,  und  uss  eignem 
mutwillen,  ungewarneter  6ach  und  unbewarter  eren,  wider 
alle  billikeit,  glimpf  und  recht,  un entsagt,  wider  alle  kriegs 
brach,  dess  man  doch  weder  vom  Türken  noch  Heiden  ge- 
warten ist,  das  ganz  heilig  rieh  anzegrifen,  das  zu  bekriegen, 
und  ein  merklichen  teil,  nämlich  die  vom  Grawenpund,  so  on 
mittel  dem  heiligen  rieh  zugehören,  und  die  zu  dieser  zit 
inen  ganz  volgen  und  darzu  diss  gegenwärtigen  kriegs  reizer 
und  anfanger  sind,  in  ir  ghorsame  und  in  den  obberüerten 
iren  ungegrünten,  unnatürlichen  eid  zetringen  und  zebringen, 
listenklieh  understanden.  Zu  was  Verachtung,  vertruckung 
und  verderblichem  schaden  das  Tütscher  nation,  dem  heiligen 
rieh  und  der  ganzen  kristenheit  diene,  mag  menglich  er- 
messen, wiewol  si  bisshar  mit  iren  listigen  Worten  und  hand- 
lungen etwa  vil  des  heiligen  richs  stät  und  undertanen  an 
sich  gezogen  und  gebracht,  die  iezt  uf  hütigen  tag  gegen 
iren  nachpuren  als  grob  und  dem  heiligen  rieh  ganz  wider- 
wärtig sind,  wie  die  ersten  gepurslüt,  denen  sie  stäts  hilf 
bewisen. 

Deshalb  ganz  erschrockenlich  zehören  war,  sölte  den 
bösen,  groben  und  schnöden  gepurslüten,  in  denen 
doch  kein  tugend,  adelich  geblüet,  noch  mässigung,  sunder  allein 
uppikeit,  untrüw,  verhassung  der  Tütschen  nation,  irer  rechten, 
natürlichen  herschaft,  darvon  si  sich,  wie  obgemelt,  gescheiden 
haben,  und  eine  grosse  schand  ist,  länger  zuzesehen  und  si 
nit  gebürlich  darum  strafen,  so  die  kristenheit  also  spotlich 
und  jämerlich  verlassen,  ouch  dass  unser  heiliger  kristiieher 
gloub,  des  heiligen  Römschen  richs  und  Tütscher  nation  er 
dermaussen  dadurch  zerstört  sölte  werden.  Der  hofnung  zu 
dem  almächtigen  Got,  ir  etwa  vil,  deren  frommen  vorfaren 
mit  irem  blutvergiessen  und  libs  und  guts  verlieren  gern  die 


Fin  de  Siede.    Beilagen.  27 

er  und  wolfart  des  heiligen  richs  und  ir  natürlichen  herschaft 
gerett  hatten,  und  doch  mit  der  höchsten  betrügnüss  in  iren 
unredlichen  eid  gebracht  sind  worden,  werden  si,  so  fer  wir 
irem  bösen  mutwillen  tapferlich  widerstand  tund,  darum 
strafen,  als  kristenlüt,  in  denen  noch  einiger  grund  der  from- 
keit  und  eren  ist,  die  sölich  unbillikeit  bedenken  und  be- 
trachten, und  sich  der  unredlichen  eidspflicht  müessigen,  ouch 
sich  in  rechte  ghorsame  begeben ;  zu  sampt  dem,  als  wir 
achten,  dass  noch  menger  redlicher  Eidgnoss,  dem  sölich  uf- 
rur  und  ungeschikt  fürneinen  von  herzen  leid  ist. 

Damit  ir  aber  anfang  diss  kriegs  gänzlich  underrichtung 
entpfahid,  so  haben  sölichen  obberüerten  anschlag  mit  denen 
vom  Grawenpund  etlich  von  dem  unredlichen,  unnatürlichen, 
nuw  erdachten  eid,  so  die  Eidgnossen  genant  werden,  und 
ouch  etlich  uss  den  Grawenpünten,  sonüw  Eid- 
gnossen und  böser  denn  die  alten  sind,  nämlich 
irer  bi  1800  gemacht.  Die  selben  sind  für  den  berren  von 
Brandis  gezogen,  und  witer  etlich  vom  adel  und  etlich 
von  der  geistlikeit,  so  in  etlichen  dörfern  hier  innenhalb 
Ryns  gesessen,  die  in  iren  eid  nit  hond  kommen,  sunder  e 
sich  irer  eignen  güeter,  von  ir  er,  sei  und  des  heiligen  richs 
und  Tütscher  nation  gelübt  wegen,  verzühen  wellen,  berowt 
und  verbrent.  Dagegen  die  Swäbsch  j  pündischen  hoptlüt 
und  dienstlüt  das  zeräcben  fürgenommen  und  sich  darzu  mit 
allen  dingen  geschikt  haben. 

üf  ßölichs  der  anzug  an  allen  Enden  von  unsern  und  dos 
heiigen  Römschen  richs  pund,  so  wider  die  vorgemelten  Eid- 
gnossen gemacht  ist  worden,  und  ouch  von  allen  orten  des 
selben  unerlichen  eids  beschähen,  si  vil  mit  enandren  ge- 
schlagen, doch  darunder  kein  hoptstrit  geton,  und  zu  beden 
siten  me  dan  tusend  man  umkommen  und  etwa  vil  gefangen ; 
da  doch  die  von  dem  unerlichen  eid  gar  vil  me  Schadens, 
dann  die  vom  heiligen  rieh  gellten  haben. 

Es  ligend  ouch  von  den  selben  Eidgnossen  uf  dise  stund 
zwei  her  uf  des  heiligen  Römschen  richs  ertrieb;  das  ein 
am  Rjn  oberhalb  des  Costenzerses,  und  das  ander  und  er  dem 
se,  an  dem  end  des  Ryns,  da  si  die  bruggen  inhaben,  und 
behalten    täglich   den  unsern  das  veld  vor,    mit    merklichem 


28  Fin  de  Siecle.    Beilagen. 

schaden  an  vil  orten,  zu  verlierung  stät,  Schlösser,  lant- 
Schäften  und  anders;  ouch  angesehen,  dass,  so  wir  uns  in 
die  nähe  gefüegt,  unser  volk  ganz  erschrocken  und  werlos 
gefunden,  haben  wir  uf  das  uns  persönlich  zu  inen  uf  der 
siten  geton  und  des  heiligen  richs  vienden  nach  al  unserm 
vermögen,  mit  den  unsern  und  mit  denen,  so  uns  vom  heili- 
gen rieh  täglich  zuziehen,  kräftigen  widerstan  zetund,  der 
ungezwifleten  hofnung,  dass  die,  so  am  witischten  gesässen 
sind,  werdid  sich  ouch  nit  sumen,  sunder  ufs  aller  förderlichst 
zuziehen ;  dann  die  selben  sollen  |  warlich  glouben,  wie  ouch 
die  nächsten  das  warlich  wissen,  dass  diser  krieg  des  heiligen 
Konischen  richs  und  Tütscher  nation  entlicher  ernst  ist,  und 
deshalb  ganz  not,  dass  von  iederman  ilends  zugezogen  werd, 
damit  der  unlustig  verlust,  welchen  die  unsern  für  und  für 
me  gewarten  sind,  und  uf  dise  stund  stäts  in  verlust  sind, 
abgestelt  möge  werden.  Und  begerend  dem  nach  abermal  an 
üch,  mit  allem  ernstlichen  und  hohen  fliss,  ermanend  ouch 
üch  alles  des,  damit  ir  uns  und  dem  heiligen  rieh  verwant 
sind,  ir  wollend  uf  das  stärkist  ze  ross  und  ze  fuss,  in  an- 
gesicht  diss  briefs,  tag  und  nacht  ganz  ilends  uns  zuziehen, 
und  üch  darin  in  keinen  weg  sumig  erzögen.  Und  ob  üch 
durch  die  widerparti,  ir  anhänger,  oder  iemands  andren  ichts, 
das  unserm  schriben  widerwertig  möchte  sin,  angezögt  wurde, 
dass  ir  dem  selben,  noch  andren  fliegenden  mären  keinen 
glouben  wöllid  geben,  sunder  allein  uf  unser  schriben  ufseheu 
haben ;  dan  wir  üch,  wie  sich  die  Sachen  allenthalben  witer 
anschicken  —  nämlich,  so  oft  ichts  merklichs  guts  oder  bösses 
begegnet  oder  vorhanden  ist  —  ungesumt  verkinden  wollen, 
und  üch  hierin  zusamt  der  billikeit  gutwillig  erzeigen,  und 
der  maussen  halten,  als  wir  uns  dan  ungezwifelt  uf  üch  ver- 
lassen. Daran  tund  ir  unsern  willen  und  sunder  wolgefallen, 
mit  allen  gnaden  gegen  üch  und  gmeinem  stat  zu  erkennen 
und  zu  gut  nimmer  vergessen.  Das  alles  haben  wir  üch, 
ouch  andren  unsern  und  des  richständen  unverkint  nid  wollen 
lassen,  damit  ir  und  si  gelegenheit  aller  diser  Handlung 
warlich  bericht,  den  fliegenden  mären  zeglauben  kein  ursach 
sie.  Geben  zu  Fryburg  im  Brissgöw,  uf  Mentag  nach  dem 
Sontag  Jubilate. 


Fin  de  Sieclc.    Beilagen.  29 

Der  Chronist  Anshelm,  bei  dem  allein  noch  dieses  merk- 
würdige Aktenstück  erhalten  ist,  setzt  an  den  Schluss  des- 
selben die  trockenen  Worte:  «Was  der  22.  tag  Aprel  anno 
99;    was  vil  gschrei  und  wenig  woll.» 


II.  Der  Aufbruch. 

Ussug  der  stäten  Zürich,  Bern,  Lucern,  Zog,  Fryburg,  Schaf- 

linsen  und  Baden  für  Tüengen. 

Wie  dan  mit  gmeiner  Eidgnossen  rat  zu  Zürich  in  der 
Osterwochen  was  beschlossen,  dass,  so  der  orten  Ure,  Swytz, 
Underwalden,  Glaris,  Appenzel  und  S.  Gallen  paner  ins  Ober- 
land gezogen  wflrid,  Soloturn  ires  lands  sölte  hüeten,  aber 
Zürich,  Bern,  Lucern,  Zug,  Schafhusen  und  Baden  mit  iren 
wolgerüsten  paneren  söltid  sich  uf  den  13.  tag  Aprellen  zu 
Keiserstul,  Eglisow  und  zu  Schafhusen  befinden,  da  dannen 
mittenander  über  Ryn,  ir  viend  ze  suchen,  in  Schwarzwald, 
Baar  und  Högöw  zeziehen. 

Und  also,  uf  den  11.  tag  ägenements  monats,  zoch  die 
mezgerpaner  von  Bern  uss.  trug  Barthlome  Bütschelbach, 
der  schützen  vänle  Gunrat  Vogt,  der  panner  venner  Peter 
Strub,  mit  5000  man,  deren  hoptman  her  Rudolf  von  Erlach, 
alt  schulthes,  und  her  flans  Rudolf  von  Scharnenthal,  riter. 
Deren  zoch  die  paner  von  Fryburg  nach. 

Des  glich  die  paner  von  Zürich  mit  4000;  deren  hopt- 
man her  Rudolf  Aescher,  Burgermeister;  venner  Heinrich 
Werdmüller;  der  schützen  hoptman  Felix  Schmid;  vänrich 
Jörg  Gröbel.    Item  Lucern  mit  2000,  und  Zug  mit  300  man. 


III.  Die  Calvenschlacht. 

Wie   die  Etschlüt  nss  irer  lätzte  zu  Mals   die   Engendiner 
gesch&diget  und  gebrantschatzet  hond,  und  hiemit  die  Pünter 

zur  räch  bewegt. 

Als  dan,    wie   vorgemelt,   die  Römisch  küngschen   und 
Etschlüt  zu  Mals   und  Latsch  im  Vinstgöw,  |  vom  Etschfluss 


gl)  Fin  de  Siecle.    Beilagen. 

an  ^c.hlingenberg,  zum  stärksten  verläzinet.  Linder  dem  Tirol- 
W&BB  paner  8O00  Etschlaotlüt,  und  under  Zilien  vänlin  2000 
biiHisen  schützen,   und    1500   versöldeter  lanzknecht  nnd  erz- 

"■■l,  besunder  an  die  Eidgnossen  schnitzig,  hatten  mit 
klier  gwer  und  gschiiz  wol  versorgt;  die  Karwalen  im  En- 
^ciuliii  geng  und  übel  schädigeten,  also  dass  sie,  die  Engen- 
dinir,  (in  schwere  brant  Schätzung  uf  sich  naraen  und  von 
deren  wegen  33  der  fürnewsten  landsftssen  zu  bnrgschaft 
flbergabend,  die  zn  Meron  wurdend  uf  glowen  gvengklioh 
■/ai       .-tliclieiii  tod  behalten. 

Anschlag  der  Kurvalen  wider  die  Etschlütt  und  ire  lätze. 
Hierum  uf  nächst  obgemelte  beder  heren  der  Eidgnossen 
lllbffitng  und  Bern  reis  in's  Snntgöw,  nämlich  uf  den  zechen- 
tli'ii  tat-'  Heien,  erwägten  sich  die  Pünter,  dia  lätze  ze  ge- 
winnen und  iren  schaden  zerächen,  zugend  um  mittemacht 
9000  man  stark  von  Münster  gon  Dürers  in  ein  dorf,  vor 
ilir  lätze  gelegen,  teiltend  sich  da,  also  dass  4000  siiltid  vor- 
zühen  uf  den  Schiingenberg,  die  wacht  ze  überfallen  nnd 
ili'umacli  hinter  die  lätze  zeziehen,  und  wenn  das  beschuhe, 
zu  wortzefchen  ein  hus  anzünden,  nnd  daruf  gSch  nnd  fräch 
fr       md  einsmals  hinden  vor  anzegrifen. 

Wit  die  Kurwalen  die  küngschen  zu  Mals  uss  der  lätze 
tehtngmd  und  die  gewutmend.  Uf  diesen  anschlag  zoch  der 
minder  linf  bi  nacht  st.il  den  ruhen  berg  uf,  erstach  die 
wacht,  nnd  am  tag,  als  die  viend,  iren  gewar,  den  weg  ver- 
üteltan,  namends  einen  vast  rohen,  unwegsamen  abweg  gon 
Lätscli. 

Indes  hatten  die  viend  ir  gute  Ordnung  in  dri  hnfen  ver- 
ordnet, und  einen  uszng  geschikt,  den  Pnnteren  den  Weg 
über  die  Etsch  und  hlnder  die  lätze  ze  furkoramen,  welchen 
die  Pünter  ubertrungend  nnd  binder  sich  zu  irem  züg  jagten. 

Ksraend  also  in  die  lätze  gon  Latsch,  zündend  ir  wort- 
zeidien  an,  und  nachdem  sie  nach  gwonheit  der  Eidgnossen 
gebetet,  ruktends  in  guter  spitzordnnng  gegen  den  viend, 
liefend  den  ersten  hufen  so  truzlich  und  hantlluh  an,  dass  si 
durch  in  an  den  andren  karoend,  welcher  inen  mit  schiessen 
grettttB  schaden  tat,  also  dass  sie  die  barr  hinderst ch 
und  fürsich  mit  hartem    strit    of  fier   stund  enthielten,   und 


Fin  de  Siecle.    Beilagen.  31 

garaach  die  zwen  hufen  erlegten,  e  dan  inen  ir  inerer  hnf 
zu  Dafers  gelassen,  ze  hilf  ouch  nit  on  |  merklichen  schaden 
des  gwaltigen  schiessens.  vor  in  die  lätze  gebrach,  schlissen ds, 
ßtachends  und  schlugends  so  verv anglich  drin,  dass  die  küng- 
schen  Etscher  und  Swaben  überwunden  die  Flucht  namend 
durch  das  stätle  Gluren  über  d'Etsch,  da  die  brugk  zerbrach, 
und  der  vienden  so  vil  ertrunkend,  dass  die  Pünter  über 
si  uss,  als  über  ein  brugk,  eins  schlachtens  ein  grosse  mil 
jagten,  biss  gon  Schlunders,  kartend  sich  da  vor  müede  um, 
berowten  und  verbranten  underwegen  alle  höf  und  ouch  das 
egenemt  stätle,  erwurgtend  darin  noch  vil  mannen,  gwunnen 
vil  guts  und  acht  vass  büchsenbulvers ;  verbranten  die  sechse, 
lfigertend  sich  in  die  erobreten  lätze.  Und  als  am  driten 
niemands  kam,  den  schaden  ze  rächen,  zugends  mit  herlichem 
8ig  und  grossen  eren  ab  und  heim,  verkünten  Iren  Eidgnossen 
gluk  und  fröwd. 

Der  Kurtcalden  zu  Mals  gwin  und  verlust.  Hatten  am 
strit  in  der  lätze  und  flucht  ob  4000  man  erschlagen  und 
ob  400  man  in  der  Etsch  ertränkt,  die  paner  von  Tirol  hangt 
zu  Kur  in  unserer  frowen  kilchen,  —  sechs  vänle,  acht 
schwerer  hoptstük  und  ob  400  klein  büchsen  gwunnen,  das 
stätle  Glurens  und  die  dörfer  Mals,  Latsch,  Dufers,  Dertsch, 
Berguss,  Schluss,  Liechtenberg,  Prutz,  Pratz,  Schengels, 
Schinders  und  das  Bad  Spondina  geblündert  und  verbrent; 
aber  im  strit  225  man  verloren ;  so  warend  bi  700  man  wund 
worden,  deren  vil,  und  ouch  vil  loufens  und  trinkens,  hernach 
sturbend.  Deshalb  Dietrich  Fröweler  von  Switz,  des  meren 
hufens  hoptman,  so  durch  sumniss  des  zuzugs  übel  geschadt 
hätte,  mnsst  uss  iren  händen  und  landen  entfliehen. 

Wie  der  Engendiner  bürgen  zu  Meron  zerhowen.  Und 
nach  ergangner  flucht  liefend  die  zornigen  lanzknecht  für 
das  stätle  Meron,  ertrowten  wider  der  Meronef  willen,  her  uss 
die  33  Engendiner  zegeben,  welche  frommen,  redlichen  mannen 
um  gnad  der  bicht  und  schwerts  bittende,  si  vorm  tor  uf 
einem  plaz  grim  on  alle  gnad  erstachend  und  uf  türkische 
wia  zu  stucken  zerhüwend.  Was  eine  unmanliche  manheit, 
aber  der  flüchtigen  beiden  zornige  räch. 


Fin  de  Sitkle.    Beilagen. 


IV.  Sie  Schlacht  von  Dornach. 

Macht  und   wesen   der   Römisch   küugschen    vor   Dornach. 

Wie  nun  die  Kölnisch  kfingschen,  vom  Brisgöw,  Elsess, 
Smitfröw,  Strassburg,  Sletstat  and  (Mmar,  von  frien  Gelleri- 
M'lu-n  lanzknecht.cn  und  von  reisigen  Tatschen,  ouch  vom 
ni'lrrn  Bin,  von  geistlichen  nnd  weltlichen  forsten  Jiaruf  ge- 
s-fit,  nnd  Bnrgunschen,  die  fri  Welsche  gard  gnenit,  400  riiter, 
vi ni  prinzen  j  von  Oestjrricb  und  Burgun  sinem  vater,  dem 
i Ischen  küng,  nnder  dem  türen  lioptman  Loy  de  Wadere, 
■  lassen,  zusamen  ob  15,000  man,  verspinnet,  in  ir  gwalti- 
gss  macht,  mit  gschliz  nnd  gwer  nach  aller  krlegsnotturft 
V. 'j-sorgt,  nnder  irem  feldherren,  graf  Heinrichen  von  Fiirsten- 
ijerg,  graf  Wolfen  bruder,  zu  Costentz  der  reisigen  hoptman, 
hIkt  die  Birs  für  Dornach  waren  gerukt,  da  anhubend  ze- 
Imsen,  doch  gmach,  ou  sorg,  on  wacht,  mit  kurzwil,  spil, 
prssS,  singen,  springen,  tanzen,  nnd  ouch  der  herren  etlich 
in  adhemdren  nnd  langen  schuhen,  inen  von  iren  gef  Hinten, 
nun-  und  jnngkherren  von  Basel  barusa  gesendt,  als  die, 
so  uf  ires  Pfeilerhansen  sichere  Warnung  noch  lang  oder 
keiner  Eidgnossen  macht  warteten,  schachten,  ja  die  ver- 
ai'liti-B,  und  fröliche  kilcliwihe  und  hadfart  wöltid  halten, 
Sab  doch  etlich  ir  hoptlüten,  so  der  Eidgnossen  kriegsart  be- 
k n tit,  ouch  die  uf  Tschartenfluh  gesehen,  vast  missvicl ;  rietend, 
sorg  und  wacht  zehaben  und  die  belagerung  zefurdren  und 
zeveotnen;  welcheu  ir  feldher  im  langen  mantel  sagt,  wan 
■3  ich  vörchtid,  so  söltends  heim  gon.  Dem  widersprach 
.Storch  von  Friburg,  ein  frier  hoptman:  er  wüste  und  wölte 
tinea  stand  als  redlich  verston,  onch  darvon  komen  also  wol, 
als  sin  gnad,  man  sölte  nun  talame  der  Swytzer  tust,  nun 
oft  empfanden,  wol  giert  hon  kennen;  und  bald  demnach 
lends;  do  entflog  nach  sinem  stand  Storch,  und  bleib  sin 
aar  dahinden,  der  ouch  erst  an  von  sinem  Pfefferhansen  und 
tWeuonrg,  so  kum  in  ir  statt  entrunnen,  abermals  der  Eid- 
gnossen znlouf  gwarnt  was.  Jungermann  versumt  sich. 


Fin  de  Siecle.    Beilagen.  33 

Angrif  des  Vorzugs  der  Eidgnossen  vor  Dornach. 
Nachdem  nun  die  obgenemten  dri  ort  der  Eidgnossen  ire 
viend  anzegrifen  hattend  beschlossen,  zwischen  zweien  und 
drien  des  tags  abendstunden,  tatends  zuvor  ir  ernstlich 
gebet,  und  trostlich  ermanung,  ruktend  demnach  ganz  stil 
durchs  gebürg  und  holz  nider.  Do  was  der  trostlich  hopt- 
man  Cnnrat  von  Solatern  nit  mit  grossem,  aber  wolmntigem 
hufen  furgeschossen,  dass  si  d'viend  sehen  und  ir  marter-  und 
laUterflüech  mochtend  hören.  Do  ermant  er  si  der  türen 
rcdlikeit  irer  altvordren,  so  da  nie  keinen  grossen  hufen, 
ouch  keinen  tod,  um  irer  er,  friheit  und  land  zeretten  und 
zeschirmen,  geschücht  hättid,  desglichen  si  ouch  zu  dieser 
stund,  als  redlich  irer  frommen  altvordren  nachkomen,  wider 
dis  ir  erzviend,  so  da  Got,  und  si  in  anhören  schmächtid 
und  lästertid,  uf  irem  ertrich  lägid,  und  ir  land  nnd  lüt,  wib 
und  kind  ze  verderben  und  gar  uszertiten,  suchtid,  tun  söltid 
zu  ewigem  lob,  trüwlich  ufenander  sehen,  und  handlich  furt- 
rucken, ungezwifelten  sig  wider  die  zerteilte,  ungwarsame 
macht  zegwinnen.  Und  als  da  si  kum  ein  pater  noster 
hatten  gebetet,  wuschtends  frech  uf  durch  die  stud  und  stök, 
nnd  griffen  mit  stichen  nnd  streichen  so  vervänglich  an,  dass 
die  zerteilten  lanzknecht  nidsich  zu  ihrem  grossen  hufen  an 
d*Birs  zu  begunten  zeloufen,  und  e  der  küngsch  z\Lg,  der 
an  drien  orten  um  Dornach  lag,  zur  wer  käme,  da  waren 
irer  vil,  und  nämlich  d'hcrren  im  gschüzläger  und  in  hütten, 
ungewapnet,  ja  etlich  in  badkütlen,  bim  spil,  bim  win,  bin 
motzen,  der  z'vil  da  was,  erstochen  und  erschlagen;  wonten 
von  erst  an,  ire  rüter  und  lanzknecht,  nach  trunkner  gwon- 
beit  ir  vollen  abend -zecb,  schlugid  selbs  enander. 

Anzug  der  paner  und  zeichen  zum  hoptstrit. 

und  als  aber  nun  der  ernst  da  was,  also  dass  d'viend 
mit  dem  getümmel  nnd  lärm  zur  wer  und  zum  gschüz>  so 
vast  sie  mochtend,  kommen  warend,  und  der  Eidgnossen  vor- 
zog, von  wegen  der  holen  strass  hinder  Dornach,  sich  zer- 
teilt, ein  teil  zur  lingen  und  der  ander  zur  rechten  band 
gegen  dem  grossen  hufen  an  d'Birs  zutrang,  liten  uf  beiden 
siten  von  den  reisigen  schaden,  dass  die  paner  und  zeichen 
ze  graach,  von  unwegsame   wegen,    derhalb   ouch    ir  schwer 

3 


34  Fin  de  Siecle.    Beilagen. 

gschüz  dahinden  bleibe  nachtruktend,  ouch  von  denen  hinderm 
schleus  angefochten,  also  dass  sich  die  zur  rechten  hand  raus- 
tend  umwenden,  hindersich  gegen  iren  paneren,  die  iren  uf 
der  lingen  hand,  hindersich  ins  holz  gewichen,  zu  entschitten. 
In  dem  umker  llt  die  Welsche  gard  durch  Birs  hinach  und 
tat  inen  den  grösten  schaden,  der  an  diesem  strit  beschach; 
doch  so  ward  es  mit  büchsen  und  spiessen  abgetriben,  dass 
sie  diesen  hufen  liess  und  uf  den  obren,  so  die  gröst  not  lit, 
rant.  So  iltend  d'Eidgnossen  den  iren  zu,  und  entschittends, 
zugend  doch  wider  nidsich  gegen  Arlessen,  da  sich  indes  die 
gröst  macht  der  viendeu  ze  ross  und  ze  fuss,  und  fürnämlich 
die  Gellerischen  lanzknecht,  zu  irem  gschüz  in  ein  Ordnung" 
vervasst  und  die  Welsche  gard  alweg  bisits  oder  hinden  in 
zeträngen  gerüst  hatt;  dennocht  im  umker  ward  der  von 
Strassburg  gschüz  verschlagen  und  umgeworfen. 

Da  erhub  sich  nun  erst  der  recht  ernst  und  strit,  so 
sich  d'Eidgnossen  z'ringum  erweren  raustend;  und  als  d'viend 
ze  hoch  uf  si  abgeschossen,  trungens  on  schaden  mit  schiessen 
und  spiessen  hantlich  in  si,  welche  sich  hargegen  ouch  so 
standlich  warten,  dass  der  sig  lang  im  zwifel  stund,  je  ein 
teil  dem  andren  hin  und  wider  wichen,  und  ein  huf  den 
andren  schirmen  must.     Das  wäret  lang. 

Lucem  und  Zug  zuzug  und  angrif,  und  eroberung  des  strtts. 
In  dem  strengen  gefecht,  zu  guter  zit  und  gltik,  so  drukt 
ob  Arlessen  hinden  den  berg  und  wald  herab  ein  nüwer  züg, 
ab  welchem  bed  teil  ein  entsetzen  namend,  unss  dass  d'Eid- 
gnossen deren  von  Lucern  vänle  und  deren  von  Zug  paner 
bekanten ;  und  als  die  mit  ungestüemem  gschrei  und  hörnen 
harzu  trungend,  —  zuvor  in  unbekant  Welsch  fründ,  so 
ussert  dem  strit  mit  der  todneten  seklen  rungend  —  und 
fürer  in  d'viend  ernstlich  schussend,  stachend  und  schlugend, 
da  begunten  die  Eüngschen  der  Birsbrugk  zu  hindersich 
wichen  und  d'Eidgnossen  tapferlich  hinach  schlahen,  unss  dass 
si  die  nacht  gar  vonenand  schied,  und  also  den  glükhaftigen 
Eidgnossen  der  loblich,  hart  gwonen  sig  beleih;  wan  es  so 
finster  was,  dass  ouch  d'fründ  anenander  kamend,  der  etlich 
wund  und  etlich  erschlagen  wurden.  So  hatten  ouch  die 
abtretnen  viend  die  Birsbrugk  hinder  inen,  doch  vilen  ze  früe 
und  ze  spat,  abgeworfen  und  zerrissen. 


Fin  de  Siede.    Beilagen.  35 

Wie  cTEidgnossen  nach  erobretem  sig  sich  in  der  viend  läger 
lagerten,  und  da  noch  vier  orten  zeichen  zu  in  kantend. 

Deshalb  d'Eidgnossen  von  der  nachil  abston,  den  flüchti- 
gen vienden  ein  gross  volk,  item  schloss  und  dörfer,  so  dieser 
schrek  verlassen  hätte,  ersparen  ronssten.  Ouch  so  warends 
dri  tag  ilich  zogen,  disen  heissen  tag  vil  nah  on  spis 
gwesen,  und  den  harten  strit  ob  fünf  stund  an  den  gertiwten, 
reisigen  vienden  nssgeharret,  und  darum  vast  hellig  und 
müed,  der  ruw  notturftig,  sich  von  der  Birs  um  in  der  viend 
läger  karten,  knüwten  da  vor  allen  dingen  nider,  sagten  Got, 
irem  gnädigen  schirm  er,  gross  lob  und  dank  um  verlühnen 
sig,  assend  darnach  und  trunkend  nach  not  und  lust  gnug, 
dan  si  allerhand  spis  und  trank  gnug  da  funden.  Mornedigs 
trugen  ds  und  furends  ir  gwunnen  gschüz  und  gut  zusammen, 
begrabend  |  ire  und  etlich  der  vienden  umkomne  toten;  lies- 
send keinen  hinweg  füeren ;  und  do  kamend,  wegsferre  halb 
gesamt,  erst  zu  inen  uf  die  walstat  die  paner  von  Ure,  Un- 
derwalden  und  Friburg,  item  morn  der  von  Swytz  vänle, 
uss  dem  Swaderloch  abgezogen;  hieltend  da  fröd  mitenander 
und  lobten  Got,  um  allenthalben  gehabens  grosses  glük. 

JJass  Bern  ire  büt,  zu  Dornach  gewannen,  ihren  tvunden  hat 

uss  geteilt. 

Wan  nachdem  ein  loblich  stat  Bern  die  varende  büt  in 
ir  stat  und  lant  bi  gswornen  eiden  hat  lassen  ersuchen,  ist 
nit  me  denn  800  pfund  wert  erfunden,  welche  uss  rat  und 
ansuchen  der  oberkeit  sind  den  armen  an  diser  Schlacht  ver- 
wandten and  gelämpten  hienach  uf  den  8.  tag  Jenner  durch 
bätmeister  assgeteilt  worden. 

Lob  dis  Dornachstrits. 

Dis  ist  der  strit,  ouch  diss  kriegs,  so  nüt  denn  ein  strit 
ist  gsin,  der  letst,  der  allem  schimpf  und  den  Swäbisch-pün- 
dischen  anschlagen  den  boden  ussgestossen  und  zum  friden 
die  hochwerinen  gewunnen  hat. 

Hätte  vast  wol  darzu  land  und  lüt  mögen  gwinnen,  wenn 
die  sighaften  Eidgnossen  so  gneigt  wärid  gsin,  fremde  land 
und  lüt  zegwinnen,  als  die  iren  zeschirmen  und  ze  behalten, 
and.  ouch,  wie  si  konten  sigen,   also   des   sigs   hättid   gwüst 


36  Fin  de  Siecle.    Beilagen. 

zebrachen.  Doch  so  wolts  Got,  Ton  dem  aller  6ig,  nit.  Zu- 
glich wie  Yom  türen  Hanibal  gesagt:  er  könte  sigen,  aber 
des  sigs  nit  gebruchen,  —  hätte  wol  Rom  nach  einer  Can- 
nischen  schlacht  gewunnen,  so  honds  die  göter  nit  gewöllen. 

V. 
End  dis  kriegs  mit  lob  der  Eidgnoschaft. 

Und  also  so  hat  dis  grimmer  krieg  ein  end,  mit  so 
herrlichem  nammen  der  ganzen  Eidgnoschaft,  als  vor  und 
nach  iren  ie  begegnet,  dan  si  an  iren  landen  so  gmeinlich, 
so  stark  und  so  streng  nie  angefochten  ist;  harzu  iren  hilf- 
lich gwesen  vorab  Got,  von  dem  aller  sig,  demnach  ir  un- 
gesunden, dorstigen  angrif  und  Verachtung,  so  ire  viend,  uf 
eigne  macht  vertröst,  gegen  iren  hielten.  Und  wo  si  zu  irer 
dorstikeit  gegen  iren  selbs  bständige  einmietigkeit,  und  gegen 
den  ergebnen  ufrechte  trüw,  ouck  me,  wie  ire  vordren,  uf 
&r  und  lob,  wenn  uf  git  und  row  hätte  gehalten,  wäre  so  gross 
wunder  durch  si  geschaft,  als  in  kriegsüebung  alle  Tütsche 
nation  in  vil  hundert  jaren  nie  hat  enpfunden,  wie  dan  ouch 
sust  in  langen  ziten  nie  kein  härterer  kämpf  in  so  kurzer 
zit  in  Tütschen  landen  ist  ergangen,  fürnämlich  uss  Ver- 
achtung und  schmachworten  entsprungen.  Darum  ein  iede 
nachpurschaft,  durch  diesen  krieg  gewarnt, 
sich  früntlich,  ja  nit  verächtlich  und  ver- 
schmächlich  gegen  der  andren  zetragen  ganz 
geflissen  sin  sol,  harzu  ein  fürsichtige, 
fromme  oberkeit  allein  hilflich  ist  und 
fürnemlich  a  1  wegen  sin  sol.  Das  könnten  sich 
noch  heute  manche  Leute  bemerken. 

Es  mocht  nit  on  sunder  glük  besehenen,  dass  d'Eid- 
gnossen,  alwegen  vil  der  minder  und  nackenderer  huf,  diss 
kriegs  6  veldstrit  on  nämlichen  Verlust,  item  schloss,  stät, 
land  und  lüt  erobret  und  gwunnen,  irer  vienden  ob  20,000 
erschlagen,  und  si  nie  über  eine  nacht  uf  irem 
er  trieb  geduldet  hon.  Gotes  gnad  und  gericht  sind 
wol  hierin  zu  erkennen,  und  im,  als  aller  hern  herren,  alle 
macht,  sig,  lob  und  er  alweg  und  ewig  zuzeschriben.   Amen. 


Fin  de  Siecle.    Beilagen.  37 

Ans  den  Tagsatzungen  1498/99.  Eidg.  Xbsch.  in,  I,  585  u.  folg. 

Ein  sied  ein,  22.  Oktober  1498. 

Da  allerlei  Gerüchte  ausgehen,  als  haben  einige  beson- 
dere Personen  vor,  Knechte  in  unserer  Eidgenossenschaft  zu 
einem  Kriegszug  gegen  das  Land  Schwaben  zn  sammeln,  der 
groben  Schmachreden  halben,  welche  dort  gegen  die  Eidge- 
nossen ausgegangen,  ebenso  des  Grafen  Georg  und  derer  von 
Rothweil,  St.  Gallen  und  Appenzell  wegen,  da  es  ferner  heisst, 
es  sei  bereits  eine  solche  Sammlung  von  Zügern  zu  Zug  bei 
einander,  so  sind  von  diesem  Tage  aus  Vogt  Hasler  und  ein 
Bote  von  Schwyz  nach  Zug  gesendet  worden  mit  dem  Auftrag, 
diese  Knechte  bei  den  Pflichten,  die  sie  ihren  Herren  schuldig 
sind,  aufzufordern,  dass  jeder  in  seine  Heimath  gehe  und  in 
keinen  Krieg  laufe,  noch  uns  Eidgenossen  in  Krieg  verwickle, 
da  man  jener  Angelegenheit  wegen  schon  einen  Tag  zur  Ver- 
handlang angesetzt  habe  nach  Zug,  auf  nächsten  Sonntag  zu 
Nacht  (27.  October)  da  einzutreffen.  Die  Stadt  Schaffhausen 
meldet,  es  seien  ihr  und  dem  Abt  daselbst  vom  römischen  Könige 
Mandate  zugekommen,  dass  sie  den  gemeinen  Pfenning  bezahlen 
sollen;  sie  begehrt  diesfalls  der  Eidgenossen  Eath.  Auf  dem 
Tag  zu  Zng  will  man  über  diesen  Gegenstand  sich  berathen. 

Zug,  30.  Oktober  1498. 

Denen  von  Schaffhausen  wird  bezüglich  ihrer  Anfrage 
in  betreff  des  gemeinen  Pfennings  geantwortet:  Wir  Eid- 
genossen haben  auch  königliche  Mandate  denselben  zu  geben, 
wir  wollen  ihn  aber  nicht  geben  und  rathen  auch  ihnen  nicht, 
selben  zu  geben,  da  sie  dem  Eeich  nicht  zu  mehr  verpflichtet 
seien  als  wir.  Dabei  wolle  man  sie  schützen  und  Leib  und 
Gut  zn  ihnen  setzen. 

Zürich,  19.  November  1498. 

Dem  obern  Bund  in  Churwalden,  der  mit  uns  in  Ver- 
einigung steht,  wird  auf  sein  Anbringen  geantwortet,  es  sei 
unser  Brauch  und  Herkommen,  dass  um  Schmachworte  einer 
da  beklagt  werde,  wo  er  die  Worte  geredet  hat.  Das  An- 
bringen der  Boten  des  obern  Bundes  in  Churwalden,  es  möch- 
ten wohl  die  Gotteshausleute  zu  Chur  auch  zum  Anschluss 
an  den  Bond  mit  den  Eidgenossen  zu  bereden  sein,  was  sie, 
wenn  es  uns  recht  sei,  thun  wollen,   will   man   heimbringen. 


38  Fin  de  Siecle.    Beilagen. 

Zürich,  10.  December  1498. 
«Der  Irrung  halb,  Herr  Graf  Jörgen  von  Sargans 
berürend,  mit  andern  anhängen  von  des  Kammergerichts  und 
aller  Sachen  wegen,  die  dann  krieg  vnd  vffrur  anzöigent 
zwüschen  der  römischküniglichen  Majestät  vnd  vns  Eidge- 
nossen», ist  allerlei  geredet  und  am  Ende  beschlossen,  der 
Bischof  von  Constanz,  der  ohnehin  eine  Botschaft  zum  König 
thun  wird,  soll  durch  die  Boten  von  Zürich  gebeten  werden, 
sich  dieser  Sachen  anzunehmen.  Auch  sollen  die  von  Bern,  die 
beim  König  wohl  angesehen  zu  sein  behaupten,  eine  Botschaft 
mit  zum  König  schicken  und  beide  mit  einander  sollen  dahin 
arbeiten,  dass  Graf  Georg  zufrieden  gestellt,  auch  gemeine 
Eidgenossen  und  die  Ihrigen  mit  dem  Kammergericht  ruhig 
gelassen  und  grosse  Unruhe,  die  daraus  erwachsen  möchte, 
vermieden  werde. 

Lucern,  29.  Januar  1499. 
Da  den  Eidgenossen  zu  dieser  Zeit  «swär  mergklich, 
kriegsvbung  begegnet»,  so  ist  auf  diesem  Tag  beschlossen, 
allen  Städten,  Schlössern  und  Vögten,  so  an  das  Land  unserer 
Widerpart  anstossen,  zu  schreiben,  dass  sie  sich  auf  alle  Fälle 
gerüstet  halten.  Der  Vogt  von  Baden  soll  Klingnau  and 
Kaiserstuhl  nach  aller  Nothdurft  versehen,  die  Vögte  im 
Rheinthal  und  im  Oberland  sollen  jede  Nacht  aus  der  Um- 
gegend 100  Mann  in  die  Städte  daselbst  nehmen,  damit  sie 
einem  Überfall  widerstehen  können,  bis  Hülfe  kommt.  Dabei 
aber  soll  nirgends  etwas  Feindseliges  gegen  unsere  Widerpart 
vorgenommen  werden,  damit  wir  nicht  als  die  Anfänger 
gelten.  Jedes  Ort  soll  sich  bestens  rüsten,  damit  «was  vns 
ioch  begegnet,  das  wir  ein  andern  trostlich  sin  möchten». 

Zürich,  13.  Februar  1499. 
Den  Anschlag  des  Zugs,  welchen  Zürich,  Bern,  Freiburg  und 
Solothurn  thun  wollen  und  wie  sie  alle  auf  nächsten  Montag» 
(18.  Februar)  zu  Schaffhausen  und  Diessenhofen  eintreffen 
und  darnach  im  Namen  Gottes  hinziehen  sollen,  weiss  jeder 
Bote.  Das  ist  auch  verkündet  in  den  Feldlagern  am  Rhein 
hinauf  und  nach  Rothweil,  Schaffhausen  u.  s.  w.  Heimbringen, 
wie  man  die  fremden  Kaufleute  halten,  ob  man  ihnen  Sicher- 
heit geben  wolle,   da   einige   bereits  Brief  und  Siegel  darum 


Fin  de  Siede.    Beilagen.  39 

haben.  Der  Bischof  von  Constanz  sacht  durch  eine  Botschaft 
nach,  man  möchte  ihm  nochmals  vergönnen,  freundliche  Mittel 
zur  Abstellung  dieses  Kriegs  zu  suchen.  Es  wird  geantwortet, 
solches  stehe  nicht  in  der  Gewalt  der  Boten  dieses  Tags,  da 
die  Eidgenossen  bereits  mit  offenen  Zeichen  ins  Feld  gezogen 
und  zu  kriegerischen  Unternehmungen  «geursacht»  seien. 

Den  Bischöfen  und  Städten  des  niedern  Bunds  wird 
Kenntnis  Ton  dem  Ausbruch  des  Krieges  gegeben  mit  Anfrage, 
wessen  man  sich  von  ihnen  zu  versehen  habe. 

Lucern,  25.  Februar  1499. 

Unsere  Eidgenossen  von  den  Ländern  sollen  von  ihren 
Büchsen  diejenigen,  welche  ihnen  wenig  oder  nichts  nützen, 
nach  Zürich  fertigen,  damit  die  daselbst  zugerüstet  und  an 
die  Ende  geschafft  werden,  wo  man  sie  gegen  den  Feind 
braucht. 

Jeder  Bote  weiss  zu  sagen,  wie  unsere  Eidgenossen  von 
Zürich,  Bern,  Freiburg,  Solothurn  und  Schaffhausen  sich  im 
Hegau  ritterlich  halten  und  die  Schlösser  und  Dörfer  Ramsen, 
Lindegg,  Habsperg,  Rosenegg,  Balisingen,  Singen  unter  Twiel, 
Friedingen,  Steisslingen,  Staufen,  das  Schloss  bei  Twiel,  Hi- 
fingen,  Neuhausen  und  Witerdingen  unter  Staufen,  wo  unser 
Heer  jetzt  liegt,  eingenommen  und  verbrannt  haben. 

In  beide  Heere  wird  geschrieben,  dass  bei  Strafe  an 
Leib  und  Gut  Niemand  ohne  Erlaubnis  der  Obern  aus  dem 
Feld  heimziehe.  Der  Herzog  von  Savoyen  lässt  unter  Ver- 
sicherung seiner  besondern  Zuneigung  zu  den  Eidgenossen 
seine  Vermittlung  zur  Beilegung  dieses  Kriegs  beim  römischen 
König  nnd  beim  schwäbischen  Bund  anbieten.  Unter  Bezeu- 
gung herzlichen  Dankes,  überlftsst  man  ihm  zu  thun,  was  er 
in  Sachen  gut  finde. 

Auf  das  Begehren  der  Kaufleute  um  sichern  Pass  durch 
die  Eidgenossenschaft  wird  erkennt,  solche,  die  uns,  nicht 
aber  unsern  Feinden  Essen  und  Trinken  zuführen,  sollen 
Sicherheit  haben,  sie  seien  Freund  oder  Feind,  diejenigen, 
die  nicht  unsre  Feinde  sind,  sollen  auch  ohne  das  sicher 
durch  unser  Land  fahren,  die  aber,  welche  unsere  Feinde 
sind,  sollen  für  ihren  sonstigen  Verkehr  kein  Geleit  haben. 
Der  StAdte  nnd  Länder  gemeiner  Eidgenossen  Rftthe  zu  Luzern 


lil  Fin  de  Sieclc.    Beilagen. 

versammelt,  schreiben  an  die  Eidgenossen  von  Lucern,  Uri, 
Siliwyz,  Unterwaiden,  Zug  und  Glarus,  die  im  Oberland  im 
Kid  liegen,  man  vernehme,  dass  Etliche  ohne  Wissen  und 
Willen  der  Hanptleutc  die  Feldzeichen  verlassen  und  nach 
Hause   frühen,   was   sie   bei   Leib   und   Gnt  verbieten  sollen. 

erhaupt  sollen  sie  Gott  vor  Augen  haben  und  nach  dein 
Bejsjfel  ihrer  Vorfahren  Kriegszucht  halten. 

Zürich,  1.  Harz  1499. 

Da  aus  dem  Hegan  und  der  Umgegend  viel  Korn  und 
anderes  nach  Schaffhausen  nnd  Dicssenhofen  geflüchtet  ist, 
BD  wird  beschlossen,  es  soll  nach  altem  Herkommen  solches 
jrc  flüchtete«  Gut.,  es  gehöre  Freund  oder  Feind,  geschirmt, 
nnd  nur  im  Fall  man  zu  Speise  und  Nahrung  dessen  bedürfte, 
um    einen   bescheidenen  Pfenning   davon   gebraucht   werden. 

Jeder  Bote  weiss  auch  zu  erzählen,  wie  die  Bot- 
Hhaft  des  Königs  von  Frankreich,  der  Bischof  von  Sens 
iini  Herr  Klgot  D'Orielli,  Bitter  und  Hofmeister,  erschienen 
sind  und  im  Namen  ihres  Herrn  auf  eine  Vereinigung 
iini  (kr  königlichen  Majestät  von  Frankreich  angetragen 
batan,  nicht  als  ob  der  König  derselben  dedürfe;  er  sei  mit 
dem  Papst,  den  Königen  von  Spanien,  Portugal,  England, 
Dngarn,  Schottland,  anch  mit  dem  Herzog  Philipp,  den 
Yi'iie-digern,  Florentinern  nnd  andern  seiner  Feinde  völlig  zu 
Frieden  gekommen,  betrachte  aber  der  Eidgenossen  streitbares 
WsHO  und  die  guten  Dienste,  welche  man  gegenseitig  aus 
den  Vereinigungen  zu  Zeiten  seiner  Vorfahren,  der  Könige 
Ludwig  und  Carl,  gezogen,  und  anerbiete  nun  in  unsern 
X-tlien  Hülfe  an  Mannschaft  oder  Geld,  80,000  Guld  e,n,  dazu 
ji'dem  Ort  jahlich  2000  Franken,  während  wir  wohl  sehen, 
jage  das  Haus  Oestereich  uns  jederzeit  feindlich  gewesen, 
suu:li   des   Herzogs   von   Mailand   höfliche  Worte   nicht  hoch 

lilagen  sollen.  Wenn  aber  zwischen  Frankreich  nnd  den 
Eidgenossen  eine  solche  Vereinigung  zu  gegenseitiger  Hülfe 
angeschlossen  sei,  so  werden  sie  die  grösste  Macht  in  der 
Christenheit  bilden  und  allen  ihren  Feinden  Schrecken  einjagen. 

■  ■II  die  Boten  nicht  Vollmacht  haben,  so  möchten  sie  doch 
Sie  Sache  eilends  an  ihre  Herren  bringen.  In  Betrachtung 
ilis  fr uteu Willens  des  Königs  und  der  schweren  Kriegslaufe, 


Fin  de  Siecle.    Beilagen.  41 

in  welche  wir  verwickelt  sind,  haben  hierauf  die  Boten  der 
Eidgenossen  übernommen,  diesen  Antrag  an  ihre  Obern  zu 
bringen,  auch  wofern  die  zu  Hause  nicht  Gewalt  hätten,  in 
das  Feld  zu  berichten,  damit  man  auf  den  Sonntag  Mittefasten 
zu  Lucern  darüber  verhandeln  könne. 

Zürich,  11.  März  1499. 

Zürich  soll  überall  an  den  Rhein  Wachen  stellen,  wo  es 
nothwendig  erscheint. 

<Als  dann  vff  disem  Tag  treffenlich  reden  gehalten  sind 
von  der  vngehorsamkeit  wegen  der  fryheitsknecht,  so  ietz 
in  beiden  Heeren  durch  sy  beschechen,  sy  ein  vnzimlich 
wesen,  so  vnser  vordem  nie  beschechen  ist,  im  Feld  gebrucht 
haben,  dadurch  wir  gross  vnlob  gegen  Gott  dem  allmächtigen 
erholen,  vns  dadurch  auch  gross  smach  vnd  schand  zugefügt 
möcht  werden  vnd  damit  wir  in  die  Fusstapfen  vnsrer  frommen 
Altvordern  mögen  tretten,  ist  vff  disem  Tag  einbelliglich  an- 
gesehen, wann  wir  hinfür  mit  vnsern  offnen  Zeichen  zu  feld 
ziechen,  dz  man  die  fryheit  ganz  abtun  vnd  Inen  dz  nit  mer 
gestatten,  noch  gedulden  welle  noch  solle.  Vnd  welche  darüber 
vngehorsam  erschinen,  dz  man  die  an  lib  vnd  gut  straff. 
Doch  welche  also  Iren  Herren  nachziehen  vnd  vnd  er  Ir  panner 
swerent,  dz  man  die  verziechen  lassen  solle.»  In  beiden 
Heeren  hat  sich  unter  den  Knechten  grosser  Ungehorsam 
und  Verachtung  der  Gebote  der  Hauptleute  gezeigt,  einige 
Kirchen  sind  erbrochen,  Kelche  und  Messgewänder  daraus 
entfremdet  worden,  was  Gott  den  Allmächtigen  beleidigt  und 
ans  seine  Strafe  zuziehen  könnte.  Daher  ist  auf  diesem  Tag 
beschlossen,  wer  fürderhin  Kirchen  oder  Priester  antasten 
oder  den  Hauptleuten  ungehorsam  sein  sollte,  der  soll  ohne 
Gnade  an  Leib  und  Gut  gestraft  werden.  Jedes  Ort  soll  den 
Seinen  verkünden,  dass,  wenn  die  Eidgenossen  mit  ihren 
offenen  Zeichen  im  Feld  liegen,  jeder  Kriegsmann,  er  sei  aus 
welchem  Ort  er  wolle,  allen  Hauptleuten  gehorsam  sein  soll. 
An  die  von  R  o  t  h  w  e  i  1  wird  geschrieben,  dass  sie  als  treue 
Bundesgenossen  ehrlich  zu  uns  halten  sollen,  was  wir  auch 
unsererseits  gegen  sie  thun  werden.  Da  auf  die  an  unsere 
Bundesgenossen,  die  Fürsten  und  Städte  der  niedern  Ver- 
einigung gerichtete  Anfrage,  wessen  wir  uns  bei  diesem  Krieg 


42  Fin  de  Siecle.    Beilagen. 

von  ihnen  zu  versehen  haben,  noch  keine  Antwort  erfolgt  ist, 
so  ist  vom  jetzigen  Tag  diese  Anfrage  wiederholt  worden. 
Jedes  Ort  soll  verordnen,  dass  man  die  Kreuzdegen  ganz 
abthne  and  zu  den  Spiessen,  wie  zu  den  Hellebarten,  ein 
Schwert  oder  Mordächsli  trage,  wie  das  von  Bern,  Lucern 
und  Uri  bereits  angeordnet  ist 

Einige  Orte  meinen,  der  von  Castelwart  habe  die  Graf- 
schaft Werde  nberg  und  die  Herrschaft  War  tau  auf  Schirm 
verkauft  und  sei  nun  unser  Feind ;  man  sollte  selbe  einnehmen, 
jedoch  denen  von  Lucern  ihr  Geld  unabzüglich  darauf  stehen 
lassen.  Lucern  dagegen  antwortet,  die  jungen  von  Höhwen 
(die  Käufer)  seien  mit  den  Leuten  der  Grafschaft  im  Feld 
bei  unsern  Pannern  gewesen,  und  haben  Leib  und  Gut  zu 
uns  gesetzt.    Das  soll  jeder  Bote  heimbringen. 

Wenn  wir  fürderhin  mit  offenen  Zeichen  zu  Felde  ziehen, 
soll  Niemand  essige  Speise  hinwegführen ;  auch  «in  Legern 
brönnen»  soll  ohne  Erlaubniss  der  Hauptleute  Niemand,  bis 
man  ein  Lager  bricht  und  wegzieht.  Jedes  Ort  soll 
die  Seinen  schwören  lassen,  wenn  wir  hiefür 
ein  Gefecht  und  Streit  thun,  keine  Gefan- 
genen zu  machen,  sondern  Alles  todt  zu 
schlagen,  «als  vnser  frommen  Altvordern 
all  weg    brucht    haben». 

Auf  das  Ansuchen,  dass  der  König  von  Frankreich  uns 
in  diesen  schweren  Kriegsläufen  mit  seinem  Geschütz,  Pulver, 
Stein  und  Büchsen  meistern  versehen  und  dennoch  das  Geld 
geben  wolle,  haben  die  französischen  Boten  in  allen  Theilen 
freundliche  zusagende  Antwort  gegeben  und  versichert,  der 
König  werde  mit  Leib  und  Gut  uns  zu  Hilfe  kommen  und 
auch  nächstens  alle  Kaufleute  aus  Schwaben  oder  andern 
Ländern,  die  mit  uns  in  Feindschaft  stehen,  aus  seinem 
Königreich  vertreiben. 

Zürich,  2.  Mai  1499. 

Roth  weil  meldet,  es  sei  vom  römischen  König  zur  Hülfe 
gegen  uns  Eidgenossen  aufgefordert,  was  es  nicht  gern  thue 
und  deshalb  wissen  möchte,  wessen  es  sich  zu  uns  zu  ver- 
sehen hätte.  Hierauf  wird  Tag  nach  Zürich  gesetzt  auf 
Samstag  St.  Pancratien  Abend,  um  denen  von  Rothweil  Ant- 


Fin  de  Siecle.    Beilagen.  43 

wort  zu  geben.  Unsere  Bandesgenossen  von  Basel  haben 
durch  ihre  Botschaft  uns  mit  vielen  Worten  antworten  lassen, 
sie  seien  zwar  von  königlicher  Majestät  als  eine  Reichsstadt 
aufgefordert,  ihm  und  dem  Reiche  gegen  uns  Hülfe  und  Zu- 
zug zu  leisten;  allein  sie  werden  dessenungeachtet  still  sitzen, 
weder  wider  das  Reich  noch  wider  uns  sein  und  die  Ver- 
einigung mit  uns  halten,  wogegen  sie  auch  von  unsrer  Seite 
sich  aller  Freundschaft  versehen. 

Zürich,  12.  Mai  1499. 

Auf  das  auf  letztem  Tag  geschehene  Anbringen  unserer 
Bandesgenossen  von  Rothweil  ist  heute  einhellig  geantwortet, 
da  wir  Eidgenossen  den  Krieg  wider  das  Reich  nicht  vor- 
genommen, sondern  vom  schwäbischen  Bund  angegriffen  und 
zur  Gegenwehr  gedrängt  worden  seien,  dermassen  mit  dem 
Reich  nichts  in  Unfreundschaft  zu  thun  haben,  so  möchten 
sie  in  Ansehung  der  alten  Treue  und  Freundschaft,  die 
zwischen  uns  und  ihnen  bestanden,  sich  wider  uns  nicht  be- 
wegen lassen,  sondern  ruhig  bleiben.  Wir  wollen  sie  nicht 
am  Hülfe  ansuchen,  in  der  Hoffnung,  dass  auch  der  römische 
König  sie  dann  unangefochten  lasse.  Wollen  aber  unsere 
Feinde  sie  angreifen,  so  werde  man  sie  nicht  verlassen,  son- 
dern die  Vereinigung  an  ihnen  halten. 

Lucern,  27.  Mai  1499. 

Bern  und  Frei  bürg  beklagen  sich  sehr,  es  sei  den  Ihrigen, 
als  sie  bei  den  Eidgenossen  im  Hegau  im  Feld  gewesen,  viel 
Schmach  und  Verachtung  begegnet;  man  habe  sie  Kistenfeger 
genannt  und  Anderes  mehr.  Sie  bitten,  die  Eidgenossen 
wollen  bei  den  Ihrigen  bewirken,  dass  solches  nicht  mehr 
vorkomme,  sonst  würden  sie  für  sich  selbst  sorgen  und  zu 
Hause  bleiben.  Das  soll  jeder  Bote  heimbringen,  *das  wir 
Eidgenossen  nu  hinfür  in  disen  sweren  löuffen  ein  andern  lieb 
haben  vnd  solicher  smachlicher  Worten  vertragen  vnd  man 
von  ein  andern  vor  gut  haben  solle». 

Zug,  12.  Juni  1499. 

Auf  diesen  Tag  haben  unsere  Bundesgenossen  von  C  h  u  r  - 
walden  ihre  Rathsboten  zu  uns  geschickt  mit  Meldung,  wie 
des  römischen  Königs  Zug  merklich  auf  das  Engadin  gehe, 
und  wie  er  sie  durch  Mandate  ermahnt  habe,    ihm  gehorsam 


44  Fin  de  Siecle.    Beilagen. 

zu  sein  und  dem  Reiche  zu  schwören,  ansonst  er  sie  mit 
Gewalt  dazu  zwingen  werde.  Hierauf  haben  sie  ans  Eid- 
genossen dringend  gebeten  und  ermahnt,  getreues  Aufsehen 
zu  halten  und  ihnen  mit  Leib  und  Gut  zu  helfen.  Auf  Be- 
gehren der  Boten  von  Churwalden  wird  beschlossen,  ihnen 
4000  Mann  zu  Hülfe  zu  schicken  und  selbe  folgendermassen 
auf  die  Orte  zu  verlegen:  Zürich  soll  1000  Man  geben,  Lucern 
600,  Uri  200,  Schwyz  400,  Unterwaiden  200,  Glarus  300, 
Zug  200,  Sarganserland  200  Mann,  St.  Gallen  50  Büchsen- 
schützen, Appenzell  400  Mann,  Wallis  400  Mann.  Alle  diese 
sollen  auf  künftigen  Samstag  (15.  Juni)  mit  ihren  <Venlin> 
im  Namen  Gottes  ausziehen. 

Da  im  Feld  Niemand  mehr  den  Hauptleuten 
gehorchen  will,  so  ist  auf  diesem  Tag  beschlossen 
worden,  dass  Alle,  die  sich  ungehorsam  oder  unehrlich 
hielten,  im  Feld  nach  Verdienen  von  den  Hauptleuten 
gestraft  werden  sollen. 

Lucern,  23.  Juni  1499. 

Auf  diesem  Tag  ist  angezogen  worden,  wie  unsere  Eid- 
genossen von  Bern  sich  eben  schlechtlich  in  diese  schweren 
Kriegslänfe  schicken,  und  wir  wenig  Trost  von  ihnen  haben. 
Das  soll  man  heimbringen,  und  falls  etwa  der  Tag  mit  dein 
Herzog  von  Mailand  zu  Bern  gehalten  würde,  soll  man  ihnen 
ernstlich  zureden,  sich  besser  in  den  Handel  zu  schicken  als 
bisher,  und  uns  nicht  so  zu  verlassen,  da  wir  im  burgun- 
dischen  Krieg  ihnen  auch  trostlich  zugezogen  sind  und  sie 
nicht  verlassen  haben. 

Baden,  27.  Juni  1499. 

Auf  diesem  Tag  ist  den  Eidgenossen  berichtet  worden,  wie 
Strassburg,  Colmar  und  andere  Städte  mündlich  und  schriftlich 
Basel  aufgefordert  haben,  zu  erklären,  ob  es  mit  ihnen 
halten  wolle  oder  nicht  und  zwar  unter  Androhung  einer 
Belagerung.  Hierauf  hat  man  Basel  geschrieben  und  es  ge- 
beten, sich  in  diesen  Kriegsläufen  nicht  von  den  Eidgenossen 
zu  trennen ;  falls  ihm  deswegen  etwas  Feindseliges  geschehe, 
werde  man  es  mit  Leib  und  Gut  schützen. 

Lucern,  2.  Juli  1499. 

Boten  von  unsern  Venlinen  im  Oberland,  die  bei  Mayen- 
feld   liegen,   haben   sichere   Kundschaft   gebracht,    dass   der 


Fin  de  Siecle.    Beilagen.  45 

römische  König,  Herzog  Georg  von  Sachsen,  der  Markgraf 
Ton  Brandenburg,  Württemberg  nnd  andere  grosse  Herren 
letzten  Samstag  mit  grosser  Macht  von  Feldkirch  ausgezogen 
und  bis  Triesen  vorgerückt  seien,  in  der  Absicht,  die  Unsrigen 
anzugreifen.  Sie  begehren,  dass  wir  ihnen  mit  unserer  Macht 
zuziehen.  Das  soll  jeder  Bote  heimbringen  und  auf  nächsten 
Tag  zu  Lucern  antworten ;  doch  soll  für  den  Fall,  dass  eilende 
Hülfe  nothwendig  würde,  sich  jedes  Ort  gerüstet  halten. 

Lucern,  9.  Juli  1499. 

Auf  diesem  Tag  ist  des  Herzogs  von  Mailand  Botschaft 
erschienen  und  hat  zuerst  weitlfl ufig  erörtert,  wie  ihrem  Herrn 
der  Krieg  zwischen  unB  Eidgenossen,  den  Bündnern  und  dem 
römischen  König,  zwischen  Völkern  gleicher  deutscher  Zunge 
leid  thue ;  er  habe  deshalb  bei  beiden  Parteien  geworben,  dass 
man  ihm  Vollmacht  gebe,  den  Krieg  durch  Vermittlung  ab- 
zustellen. Mittlerweile  habe  der  Allmächtige  den  Eidgenossen 
Sieg  und  Ruhm  gegen  ihre  Feinde  verliehen,  was  ihm  sehr 
erfreulich  sei.  Beide  Parteien  haben  ihm  erlaubt,  in  die 
Sache  zu  reden  und,  wenn  er  Mittel  finde,  die  Sache  gütlich 
beizulegen.  Nun  habe  der  Herzog  seine  Botschaft  zu  den 
Eidgenossen  gesendet,  um  zu  vernehmen,  was  ihre  Amnuthung 
und  ihr  Begehren  gegenüber  dem  römischen  König  sei,  oder 
wie  sie  wollen,  dass  man  die  Sache  zu  Händen  nehme.  Sobald 
er,  der  niailftndische  Bote,  ihre  Ansichten  und  Begehren  kenne, 
werde  er  sich  zum  römischen  König  verfügen  und  bitte  dann, 
ihm  einen  Geleitsmann  bis  auf  unsere  Gränze  mitzugeben; 
er  werde  weder  Mühe  noch  Kosten  sparen,  um  diesen  Krieg 
zu  einem  für  die  Eidgenossen  befriedigenden  Vergleich  zu 
bringen.  Jeder  Bote  soll  diese  Eröffnungen  heimbringen  und 
Rath  pflegen,  was  für  Forderungen  wir  an  den  römischen 
König  stellen  wollen.  Es  weiss  auch  jeder  Bote,  wie  der 
Gesandte  den  Herzog  verantwortet  hat  wegen  der  Sperrung 
der  Lebensmittel  gegen  den  grauen  Bund. 

Im  Etschland  ißt  laut  den  Briefen  unserer  Eidgenossen 
Ton  Zürich,  Uri  und  Glarus  ein  in  lateinischer  und  italienischer 
Sprache  geführter  Briefwechsel  zwischen  einem  Kanzler  des 
Herzogs  von  Mailand,  Namens  Petrus  Bononius  de  Tergesta, 
und  einem  Kanzler  des  römischen  Königs,   Namens  Matthäus 


46  Fin  de  Siecle.    Beilagen. 

Lang,  aufgefangen  worden,  worin  unter  Anderm  der  mail&n- 
(üsche  Kanzler  unter  seines  Herrn  Siegel  mit  Berufung  auf 
die  dem  König  gelieferten  Gelder,  Harnische  und  Leute  gegen 
die  Eidgenossen  4 — 10,000  Mann  Hülfsvölker  gegen  den  König 
von  Frankreich  verlangt  und  verspricht,  uns  und  unsern 
Bundesgenossen  von  Churwalden  keine  Speise  zukommen  zu 
lassen,  ausser  etwa  zwei  Saum  wöchentlich,  damit  er  auf 
diesem  Wege  über  unser  Thun  Kundschaft  erhalten  möge, 
und  wenn  er  etwas  gegen  die  tSwizer»  thun  könne,  so  werde 
er  es  an  Geld  nicht  mangeln  lassen  u.  s.  w.,  wie  die  Boten 
zu  sagen  wissen. 

Basel,  18.  bis  25.  August  1499. 
Auf  das  Begehren  der  m  a  i  län  di  sehen 
Botschaft,  den  gegenwärtigen  Krieg  zu 
vermitteln,  haben  die  Eidgenossen  folgende 
Begehren  gestellt:  1.  Gemeine  Eidgenossen  und  alle 
ihre  Unterthanen,  Zugehörigen  und  Verwandten,  geistliche 
und  weltliche,  sollen  bei  allen  ihren  Privilegien  und  Her- 
kommen gelassen  und  weder  mit  dem  Kammergericht,  noch 
andern  ausländischen  Gerichten  fürgenommen  werden.  Schon 
anhängige  Processe  sollen  unter  Kostens-  und  Schadensersatz 
abgethan,  auch  sie  aller  Steuern,  Anschläge,  Tribute  und 
Auflagen  erlassen  werden.  2.  Die  Stadt  Constanz,  wohin  sie 
ohnehin  als  nach  dem  Sitz  des  Bisthums  und  nach  einer 
innerhalb  dem  Kreis  und  Zirkel  der  Eidgenossenschaft  ge- 
legenen Stadt  vielen  Verkehr  haben  müssen,  soll  aus  dem 
schwäbischen  Bund  entlassen  und  fürderhin  in  keinen  aus- 
ländischen Bund  mehr  aufgenommen,  sondern  als  freie  Mittel- 
stadt wie  von  Altersher  belassen  werden.  3.  Die  Eidgenossen- 
schaft soll  bei  allen  ihren  Eroberungen  in  diesem  Kriege 
bleiben,  auch  sollen  alle  Güter  und  Rechte  in  feindlichem 
Land,  welche  den  Eidgenossen  oder  ihren  Zugehörigen  ge- 
hörten, ihnen  wieder  werden,  ohne  allen  Abtrag,  als  ob  der 
Krieg  nicht  gewesen  wäre.  4.  Den  Eidgenossen  soll  für 
allen  Schaden,  den  sie  in  diesem  unbilliger  Weise  gegen  sie 
begonnenen  Krieg  erlitten,  Entschädigung  und  für  die  un- 
menschliche und  unchristliche  Ehrverletzung  Genugthuung 
geleistet   werden.     5.   Wenn   der   römische   König   und   die, 


Fin  de  Siecle.    Beilagen.  47 

welche  es  berührt,  auf  diese  Punkte  eintreten  wollen,  so  sind 
die  Eidgenossen  bereit,  über  viele  weitere  Irrungen  und 
Streitigkeiten,  welche  noch  zu  beseitigen  sein  werden,  an 
gelegenem  Orte  ferner  zu  unterhandeln.  Actum  auf  dem 
gehaltenen  Tag  zu  Schaff  hausen  Dienstag  vor  Laurentii 
(6.  August)  Anno  1499.  «Die  Artikel  durch  den  römischen 
künig  der  französischen  Botschaft  zugeschickt,  die  sin  Maiestät 
zu  Hinlegung  dieses  kriegs  begehrt. »  1.  Alle  Neuerungen, 
welche  die  Eidgenossen  mit  dem  grauen  Bund  und  andern 
vorgenommen,  sollen  abgethan  und  jeder  Theil  in  seinen 
Besitzstand  vor  dem  Krieg  hergestellt  werden,  denn  sonst 
mochten  sich  die  Eidgenossen  zu  aller  deutschen  Lande  Be- 
gierern machen,  so  dass  weder  König  noch  Kaiser  mehr  nöthig 
wftre.  2.  Die  Eidgenossen,  so  vom  Reich  herkommen,  sollen 
dem  Eeich  schwören  und  dem  Reich  ihre  Pflichten  leisten, 
nichtsdestoweniger  aber  ihre  Bünde  mit  den  Eidgenossen, 
so  von  Oesterreich  herkommen,  behalten,  in  der  Weise,  wie 
die  Bundesgenossen  des  schwäbischen  Bundes  ihren  Bund  in 
Kühe  und  Gehorsam  gegen  das  heilige  Reich  halten.  Die 
Eidgenossen,  welche  von  Oesterreich  herkommen,  haben  den 
Eid  der  Unterthänigkeit  nicht  zu  schwören,  sondern  nur  sich 
nach  Gerechtigkeit  und  in  Ruhe  zu  halten,  dann  werden  der 
König  und  das  heilige  Reich  sie  in  Schirm  nehmen  und  den 
Frieden,  den  jene  vordem  mit  dem  Haus  Oesterreich  gemacht, 
handhaben  und  befestigen.  3.  Die  Eidgenossen,  welche  den 
ersten  Anlass  zum  Krieg  gegen  das  heilige  Reich  gegeben, 
sollen  gestraft  werden  nach  Erkenntniss  der  Reichsstände. 
«Zu  Bericht  der  gegenwärtigen  vifrar  sind  die  nachgeschriben 
artikel  vff  beider  teil  wideranbringen  abgerettet»:  1.  Die 
sechs  Gerichte  im  Prättigau,  welche  dem  König  als  Erzherzog 
von  Oesterreich,  der  sie  von  dem  von  Metsch  gekauft,  ge- 
schworen haben,  sollen  ihm  wieder  huldigen ;  die  zwei  Gerichte, 
die  noch  nicht  geschworen,  sollen  ihm  schwören,  doch  dass 
er  sie  wegen  dieses  Krieges  nicht  strafe,  sondern  sie  gänzlich 
halte,  wie  der  von  Metsch  gethan.  2.  Die  Streitigkeiten 
zwischen  dem  König  als  Grafen  von  Tyrol  und  dem  Bischof 
von  Chur,  seinem  Stift  und  seinen  Gotteshauslcuten  sollen 
wieder  auf  den  Weg  Rechtens  zurückgesetzt  werden.   3.  Todt- 


48  Fin  de  Siecle.    Beilagen. 

schlage,  Brand  n.  s.  w.,  in  diesem  Krieg  vorgegangen,  sollen 
ohne    Abtrag   gegenseitig   aufgehoben  sein.     4.  Gegenseitige 
Herausgabe   aller   Eroberungen   im    gegenwartigen   Zustand, 
doch  unvorgreiflich   allen   vor   dem  Krieg  schon  erworbenen 
Rechten.    5.  Bei  hoher  Strafe  sollen  fortan  alle  Schmähungen 
untersagt  sein.     6.  Kein   Theii   soll   fortan    Angehörige   des 
andern  Theils  in  Burgrecht,  Landrecht,  Schutz,  Schirm  u.  s.  w. 
aufnehmen,  auch  keine  Partei  Schlösser,  Städte,  Herrschaften 
n.  s.  w.  der  andern   ohne  der  Obrigkeit  Willen  durch  Kauf, 
Tausch  u.  s.  w.  an  sich  bringen:  auf  Zehnten,  Gülten,  Zinse, 
u.  s.  w.     soll  jedoch  das  keinen  Bezug  haben.     7.  Alle  noch 
nicht   bezahlten   Brandschätze   und  Schatzgelder  von  Gefan- 
genen sollen  abgethan  sein  und  alle  Gefangenen  gegen  Urfehde 
und   bescheidenes   Atzungsgeld    ledig    werden.     8.    Zwischen 
dem  Haus  Oesterreich  und  seinen  Angehörigen  und  den  Eid- 
genossen und  ihren   Angehörigen  soll  für  alle  Streitigkeiten 
ein  Austrag   gestellt   werden   auf  den  Bischof  von  Constanz 
und   die   Stadt  Basel,    wie  er  vordem  im  Erbfrieden  gestellt 
war,    Das  Gleiche  soll  für  den  schwäbischen  Bund  die  zwölf 
Jahrs   aus   gelten,    auf   die  derselbe  jüngst  von  königlicher 
Majestät  erstreckt  ist.    9.  Der  römische  König  soll  ans  Gnaden 
alle  Recht   und    Processe  abthun,    welche  in  dem  Krieg  und 
vor  dem  Krieg  wider  die  Eidgenossen  und  ihre  Angehörigen 
ergangen   sind    und   sie   als  Glieder   des   heiligen  Reichs   zu 
Gnaden   nnd   Hulden   kommen   lassen.    Alle  andern   Sachen, 
die  hierin  nicht  begriffen  sind,   sollen  beidseitig  bleiben,    wie 
sie   vor   dem  Krieg  gewesen   sind.     Insbesondere  bitten  die 
Eidgenossen  demüthig,   dass  Graf  Georg  der  Acht  entlassen 
werde.     10.   In   diesen   Frieden   schliesst  der  König  ein  das 
Haus  Oesterreich,   den  Herzog   zu   Mailand  und  alle  andern 
Churfürsten,  Fürsten  nnd  Stände  des  Reichs;  die  Eidgenossen 
dagegen    schliessen    ein    den  König  von  Frankreich  nnd  alle 
die,    welche   mit   ihnen   in    Bündnis   oder  Vereinigung  sind. 
Alle  diese  Artikel  nehmen  beide  Theile  in  Abschiedsweise  an 
ihre  Obern  zu  bringen  und  auf  einem  weitern  Tag  zu  Schaff- 
hausen auf  Mittwoch   nach   St.  Verenentag   (4.    September) 
ferner  darüber  zu  verhandeln  an.    Der  Friedensentwurf  wird 
mit   des   mailändischen  Boten  und  Untertädingers   Galeazzo 


Fin  de  Siede.    Beilagen.  49 

Visconti  Siegel  bewahrt,  doppelt  ausgefertigt  und  jedem  Theil 
einer  zugestellt  zu  Basel  am  Sonntag  nach  Bartholomäi 
(25.  August)  1499. 

Basel,  6.  September  1499. 
Da  nun  durch  Gottes  Gnade  dieser  schwere  Krieg  ge- 
stillt ist,  die  königlichen  Räthe  aber  angebracht  haben,  wie 
der  Herzog  von  Mailand,  ein  Fürst  des  Reiches,  vom  König 
von  Frankreich  zu  schwerem  Nachtheil  deutscher  Nation 
gegenwärtig  bedrängt  werde,  weshalb  sie  um  Verwendung 
der  Eidgenossen  zur  Beilegung  dieses  Krieges  und  um  Hülfe 
für  <fen  Herzog  nachsuchen,  so  will  man  diese  Begehren 
heimbringen  und  auf  nächsten  Tag  Antwort  geben.  In  Be- 
trachtung des  grossen  Ernstes,  den  der  mailändische  Orator 
Galeazzo  Visconti  zur  Beilegung  dieses  Krieges  angewendet 
hat,  wird  sein  Gesuch  um  den  Schirm  und  Beistand  der  Eid- 
genossen bei  dem  schweren  Stand  seines  Fürsten  den  eid- 
genössischen Orten  zur  Berücksichtigung  empfohlen. 

Dem  Scherer  des  Herrn  Galeazzo,  dem  in  einem  Geleit 
der  Eidgenossen  19  Gulden  an  Gold,  3  Ducaten  an  Gold  uud 
6  Gulden  an  Münze,  zusammen  29  Gulden,  Kleider,  Pferd 
und  Anderes  weggenommen  worden,  soll  solches  zu  Lucern 
aus  des  von  Baldegg  Geld  ersetzt  und  denen  von  Solothurn 
an  ihrem  Theil  abgezogen  werden.  Diese  mögen  dann  suchen, 
denjenigen  zu  ermitteln,  der  den  Raub  gethan,  und  sich  an 
ihm  schadlos  halten.  Denen  von  Zug  und  Andern,  welche 
der  Büchsen  wegen  reclamiren,  soll  aus  vorgemeldetem  Geld 
30  Gulden  gegeben  werden. 

Schwyz,  16.  September  1499. 
Den  Hauptleuten  zu  Rheineck  ist  geschrieben,  sie  sollen 
die  Knechte  abhalten,  den  Wein  oder  die  Trauben,  die  den 
Eidgenossen  gehören,  gewaltsam  zu  nehmen.  Und  da  die 
Knechte  in  solchen  Dingen  den  Geboten  der  Hauptleute  nichts 
nachfragen  und  keine  Zucht  noch  Ordnung  unter  ihnen  herrscht, 
so  wird  deshalb  auch  ihnen  geschrieben,  bei  Strafe  sich  fortan 
der  Ordnung  zu  unterziehen.  Jedes  Ort  soll  auch  die  Seinen 
von  solchem  Ungehorsam  abmahnen. 

4 


50  Fin  de  Siecle.    Beilagen. 

Basel,  22.  September  1499. 
Hans  Sunneberg  und  Ludwig  Seiler  «jez  Sendpotien  zu 
Basel»  berichten  dem  Eath  zn  Lucern:  Nachdem  die  Antwort 
des  Königs  in  Betreff  des  Landgerichts  im  Thurgau  dahin 
ausgefallen,  dass  selbes  dem  Herzog  von  Mailand  als  dem 
Untertädingcr  zur  freien  Verfügung  gestellt  sei  und  die  mai- 
ländische  Botschaft  den  Eidgenossen  diesfalls  genügliche  Ver- 
schreibimg gethan  habe,  so  habe  man  mit  vieler  Mühe  gesucht, 
durch  die  andern  Artikel  Jedermann  zufrieden  zu  stellen, 
was  auch  gelungen  sei  mit  Ausnahme  des  Artikels  wegen 
Aufnahme  von  Bürgern,  mit  dem  Zürich  sich  nicht  einver- 
stehen wolle.  Doch  habe  man  denselben  etwas  gemildert 
nach  Inhalt  der  ewigen  Eichtung.  Nichtsdestominder  beharre 
Zürich  auf  seiner  Meinung.  Auch  Solothurn  wolle  durchaus 
die  Grafschaften  Thierstein  und  Büren  als  eigen  behalten  und 
den  [Grafen  kein  Losung  gestatten.  Daran  wäre  bald  die 
Friedensunterhandlung  gescheitert,  denn  die  königlichen  Ab- 
geordneten erklärten,  dass  es  mit  des  KönigB  und  des  Reichs 
Ehre  unverträglich  sei,  Jedermann  zu  dem  Seinen  kommen 
zu  lassen  und  diese  dagegen  auszuschliessen.  Darauf  sei  man 
überein  gekommen,  dass  die  Grafen  innert  Jahresfrist  die 
Stadt  Solothurn  um  die  Pfandsumme  nebst  allen  Zinsen  und 
Rückständen  ausrichten  sollen,  ansonst  Solothurn  das  Recht 
haben  soll,  die  Grafschaften  ohne  weitere  Losung  zu  Händen 
zu  ziehen!  Auch  sollen  die  Grafen  selbe  niemanden  anders 
als  denen  von  Solothurn  versetzen  oder  verkaufen.  Hierauf 
habe  man  ans  jedem  Ort  einen  Boten  nach  Solothurn  geschickt, 
um  es  zu  bitten,  dieses  einzugehen.  Und  demnach  habe  man 
sich  Solothurns  und  auch  Zürichs  gemächtigt  und  in  Gottes 
Namen  einen  Frieden  beschlossen  und  zugesagt.  Denn  sobald 
man  des  Landgerichts  wegen  die  Versicherung  gehabt,  so  sei 
man  entschlossen  gewesen,  Friede  zu  machen,  man  habe  auch 
den  Zusätzen  verkündet,  heimzuziehen,  und  angesehen,  dass 
alle  Feindseligkeiten  aufhören  sollen,  was  eilends  verkündet 
werden  möchte,  bis  der  Abschied  des  Tages  in  den  Orten 
verhört  werde.  Datum  zu  Basel,  vf  der  xj  Stund  Vormittag 
vf  Sunntag  Mauricii.  In  einem  beigeschlossenen  Zeddel  ist 
dann    nähere  Auskunft   über    das    Landgericht   im   Thurgau 


Fin  de  Siede.    Beilagen.  51 

enthalten:  «Dieweil  das  selb  lantgericht  dem  Herzogen  von 
Mailand  übergeben,  wie  Ir  dz  In  diser  Missiue  verstand,  hat 
sich  der  meilftndisch  pott  zu  fdrderung  der  Sach  vnd  des 
fridens  vorhin  versehen  In  der  gstalt  mit  einem  wyssen 
vngeschribenen  permentin  brieff  mit  des  Herzogen  von  Mailands 
anhangendem  grossen  Sigel  besigelt  vnd  handgschrift  be- 
zeichnet, daruf  der  pot  angends  vns  eidgnossen  des  landgrichts 
vbergäbung  zu  vnsern  handen  vffgericht  vnd  vbergeben  hat 
vnd  mag  dz  niemermer  von  unsern  handen  gelöst  werden, 
dann  von  dem  kung  oder  dem  rych  zu  derselben  handen 
allein,  vnd  dz  soll  beschechen  mit  xxm  rinschen  Gulden.  Das 
wollten  wir  ftch  nit  verhalten,  doch  vnser  beger,  dz  Ingeheim 
behalten  vnd  zu  helen  gebieten,  damit  dz  dem  guten  Herrn 
nit  vertryssenlich  stände.»  Friedensvertrag  zwischen  dem 
Kaiser  und  dem  schwäbischen  Bunde  und  den  Eidgenossen 
vom  22.  September  1499. 


Fin  de  Siede.     Beilagen. 

Das  Lied  über  den  Schwabonkrieg,  genannt 
„der  alte  Greis", 
von  Peter  Hüller  von  Rapperswyl. 
Wiewol  ich  bin  ein  alter  gris, 
So  dicht,  icb  doch  ein  nftwe  wis, 

Ein  nüwes  Üed  zesingen, 
Zesingen  von  dem  Römschcn  küng, 
Wie  er  ist  kommen  hinder  d'spriing, 
Ein  Eidgnoschaft  ze  zwingen: 

Er  hats  von  einen  eltren  ghört. 
Sin  vater  hats  in  euch  gelert, 

Er  sölt  bi  einem  leben 
Ja  brücken  alle  eine  macht 
Ze  zwingen  die  ganz  Eidgnoschaft, 

Und  ir  ein  herren  geben. 

Des  hat  er  geucht  so  mängen  fund, 
Zn  gmeinem  rieh  gm  acht  ein  pnnd 

Und  zn  den  Swdbschen  stäten ; 
Die  hond  vil  silber  und  oucli  gold, 
Si  mögen  geben  riehen  sold, 

Und  ligend  si  an  betten. 

Der  sold  war  der  Eidgnossen  fog: 
Kiiniid  Schwaben  und  schmneker  gnng, 

Fürsten  und  ander  herren. 
So  liessend  wirs  frölich  hargon, 
Als  unser  vordren  hond  geton: 
Wir  trttwen  uns  z'erweren. 


Der  bock  nnd  stier1)  hond  z'sa 
Das  tat  dem  Römschen  kunig  zorn, 

Er  wollt  steh  daran  rächen. 
Es  ist  des  kric^s  ein  anefang, 
Er  meint,  es  sölt  nit  wllren  lang, 

Die  plint  weit  er  zerbrechen. 

')   (J  raub  finden    und    l.'i'l. 


Fin  de  Siecle.    Beilagen.  53 

Die  Schwaben  sprechen:  wir  habid  ein  alten  Got, 
Den  lond  si  uns  enpfor  und  tribend  Spot, 

Und  lästrend  Got  mit  Worten. 
Si  sprechend,  wir  tüegid  wider  d'Cristenheit ; 
Das   ist  in  z'Meyenfeld   worden  leid, 

Und  oucli  an  andren   orten. 

Darum  wir  Got  vor  ougen  hand, 
Wir  hond  noch  6r  und  gute  pfand, 

Die  trüwen  wir  ze  bhalten. 
Wärend  der  herren  noch  so  vil, 
So  uns  der  alt  Got  helfen  wil, 

Den  wellen  wirs  Ion  walten. 

D'lanzknecht  hattend  Meyenfeld  ingenommen, 
Des  ist  das  Walgöw  zu  schänden  kommen, 

Die  stat  mustends  wider  ufgeben, 
Fünfhundert  den  pünten  gfangen  schweren, 
Und's  WalgÖw  verlognen  sinen  herreu, 

Damit  fristen  ir  leben. 

Die  Schwaben  waren  zogen  uf  Lutzisteig, 
Am  fünften  tag  wards  inen  leid, 

Der  luft  wolt  in  nit  schmecken, 
Do  si  die  pünt  gsahend  inher  ziehen, 
Ire  beste  kunst  was  schnei  ze  fliehen, 

Dan  unglük  wolt  sich  wecken. 

Do  greif  man  d'Schwaben  frölich  an 
Mit  mengem  unverzagten  man, 

Dass  in  bergen  tat  erhallen ; 
Man  jagts  zu  Baltzers  durch  den  bach, 
Ein  grosse  zal  man  inen  erstach, 

Schuch,  waffen  liessends  fallen. 

Da  musten  d'Schwaben  Ulmer  vänle  lan, 
Und  darzu  mängen  stolzen  man; 
Es  was  in  übel  glungen. 


Fin  de  Si&rle.    Beilagen. 

Der  ruch  stier  lüegt  ennet  dem  Rin, 

Vod  herzen  gern  war  er  dabi  gesin, 

Hätt  auch  gern  mit  In  grungen. 

Veldkllch,    wie   hattest   dich  fliehens  vermessen, 
Do    du  din    vänle    zd  Faduz    hattest    vergessen ; 

Ich  mein,  da  forchtist  der  Swytzer  klingen. 
Einem  boten  gabst  du  zwen  gülden  bald, 
Den  sclüktest  durch  den  Schanwald, 

Im  sak  sol  er  dir's  vänle  bringen. 

D'Eidgnossen  Seiend  zu  Trisen  durch  den  Rin, 
Ir  Swaben,  lond  uwer  mugen  nnd  lüejen  sin, 

Ucb  wird  sin  bald  gelonet. 
Man  jagts  zu  Trisen  uf  nni  ab, 
Do  nach  man  mengen  Switzerknab, 

Der  der  Swaben  lntzel  schonet. 

Desglich  zn  Fussach  nnd  zu  Hard, 
Da  inen  irs  blärens  gelonet  ward; 

Si  hond  so  lang  geblaret, 
Biss  si  mit  fliehen  sind  geschändt; 
Etlich  Märten  nnz  in  ir  end, 

Und  hand  sich  nie  geweret. 

Ein  tiefer  graben  ligt  bi  Hard, 

Da  vil  der  Schwaben  in  getöfet  ward, 

Des  kam  end  sie  in  truren; 
Der  bar,  der  touft  nach  siner  Art, 
Muliger  Swytzer  da  ir  götte  ward, 

Von  Ölaris  und  von  Ure. 

Die  scliand  inuss  man  von  inen  sagen, 

Wie  viel  inen  d'Eidgnossen   hond  lüt  erschlagen 

An  denen  drien  enden; 
Mo  denn  fnnftusend  man  ze  tod, 
Dri  schif  ertrankt  in  Wassersnot, 

Hot  wel  uns  kutnmer  wenden  I 


Fin  de  Siede.    Beilagen.  55 

Högöw,  du  hast  dich  nit  recht  erkent, 
Die  hosen  wort  hond  dich  verbrent! 

An  d'Swytzer  wolst  den  Vorzug  haben. 
Du  wondst,  es  wäre  mit  tröwen  schlecht, 
Denn  du  kantst  nit  der  Eidgnossen  knecht, 

Und  ire  frien  knaben. 

D'Eidgnosssen  sind  durch's  Högöw  trukt, 
Hond  do  mengs  guts  schloss  umgerukt, 

Stät,  dörfer  t&tend's  verbrennen, 
Und  zugend  danach  wider  heim; 
Sie  funden  kein  viend  gross  noch  klein, 

Der  si  dörft  anrennen. 

Ob  Basel  in  dem  Leimental 
Da  hattend  d'herren  bösen  fal; 

Von  Swytzern  wurdens  vertriben, 
Dem  adel  und  dem  jtippenpund, 
Der  Swytzer  luft  was  in  nit  gsund, 

Achthundert  sind  da  bliben. 

Costentz,  bedenk  und  bsinn  dich  bas, 

Du  meinst  sin  als  wis,  du  hörst  das  gras 

Wachsen  in  dem  Meyen. 
Du  hattest  zu   Ermatingen   ein  grosse  weit, 
Bin  Eidgnossen  dorst  nit  bliben  im  veld, 

Du  forchtest  iren  reihen. 

Doch  mochtest  nit  entrinnen  gar. 
Irs  reiens  mustest  nemen  war, 

Und  mit  inen  daran  tanzen; 
Du  verlurst  vil  büchsen,  das  tat  dir  we, 
Ob  tusend  man  und  noch  vil  ine; 

Den  reien  mustest  pflanzen. 

Tüengen,  du  kamt  ouch  an  disen  tanz, 
Etlichen  gefiel  die  sach  nit  ganz, 
Der  daruss  mocht  entrinnen. 


56  Pia  de  Siecle.    Beilagen. 

Mancher  zu  dem  reien  ward  genöt, 
Einen  usszogen,  den  andren  tot; 
Die  etat  die  inust  verbrinnen. 

Walgöw,  du  hast  dich  gehalten  schlecht, 
Din  eid  hast  du  gehalten  nit  recht, 

Den  da  den  Eidgnossen  hattest  geschworen, 
Des  hat  man  dir  vil  volks  erschlagen, 
Ob  funftusend  man  hört  man  sagen: 

Du  hättest  sin  wol  entboren. 

Vor  Frastenz  an  dem  Lanzengast 
Stunden  die  Schmucker1)  nit  gar  vast, 

Vor  forcht  hond  si  z'hoch  gschossen: 
Sie  hattend  vil  büchsen,  ein  letze  gut, 
D'Eidgnossen  schlugend  drin  mit  mut, 

Das  hat  die  Swaben  verdrossen. 

Die  Swaben  meintend,  si  wärid  daheim  bim  win, 
Und   sprach   einer  zum  andern:    nu   schenk   mir 

Des  trunkes  will  ich  erwarten,      [tapfer  in, 
Ich  beston  der  Swytzer  me  dan  drig. 
Die  Eidgnossen  waren  mutes  frig, 

Sie  schwungen  ire  hallenbarteu. 

Dar  mit  hond  si  inen  ingeschenkt, 
In  die  111  gejagt,  darin  ertrankt, 

Ab  irem  schenken  tut  in  schuhen. 
Am  ersten  schruwends:  heia,  hei! 
Und  als  si  hörten  der  Swytzer  gschrei, 

Do  tätends  al  dahin  fliehen. 

An  einem  Samstag  es  beschach, 
Das  Feldkirch  in  das  Wasser  sach, 

Si  hattend  grosses  wunder: 
Sind  das  d'Eidgnossen  und  die  ptint, 
Die  man  an  disem  rechen  findt? 

So  sind  wir  zu  fröuden  kommen. 


*)  Name  für  die  tyrolischen  Bergknappen. 


Fin  de  Siecle.    Beilagen.  57 

Sie  zugends  uss;  ir  fröud  war  unnüz, 
Sie  hatteud  al  nur  rote  krtiz, 

0  we,  das  ist  Übel  gefochten! 
Nun  hond  wir  zelten  and  büchsen  verlorn, 
Der  ruche  stier  mit  sinem  hörn 

Hat  uns  die  knecht  erstochen. 

Die  dri  pünt  ganz  offenbar, 
In  dem  nun  und  nünzigsten  jar, 

Im  Meyen  ist  es  beschehen, 
Do  zugend  si  durch's  Engadin. 
Zu  Mals  und  Schluderns  sind  si  gsin. 

Das  hat  man  brinnen  sehen. 

Die  pünt,  die  griffend  ir  viend  an, 
Der  schmucker  fünfzehentusend  man, 

Die  hond  sie  halb  erstochen  ; 
Das  ander  halbteil  in  entran. 
Siben  grosser  büchsen   honds   den    püulen    glan; 

Si  hond  sich  erlich  grochen. 

Darzu  vil  vänle  mit  ganzem  fliss, 
Ein  roten  adler  in  eim  paner  wiss, 

Zu  Cur  siht  man  si  hangen, 
Bi  unser  Frowen  im  münster  schon, 
Den  schmuckern  gab  man  den  alten  Ion 

Mit  spiessen  und  mit  Stangen. 

Jüppenbund,  was  hast  dich  bedacht? 
Du  hast  vil  nüwer  gasten  bracht 

Dem  bär  zum  abendessen; 
Büchsenpulver,  mengerlei  spis, 
Vänle,  und  ein  paner  rot  und  wiss. 

Hast  zu  Dorn  ach  vergessen. 

Und  darzn  mengen  stolzen  man, 
Den  man  vor'n  studen  nit  zählen  kan, 
In  toblen  nnd  in  hägen, 


1 


58  Fin  de  Siecle.    Beilagen. 

On  die,  so  in  der  Birs  ertrunken  sind. 
Wer  die  Eidgenossen  schlafen  findt, 
Der  züch  inen  me  entgegen! 

Darzu  vil  adels  ist  da  beliben, 

Ein  heimlicher  brief  kam  in  geschriben, 

Der  war  zum  teil  erlogen, 
Wie  d'Eidgnossen  alle  doch 
Wärid  zogen  ins  Swaderloch; 

Der  brief  hat  si  betrogen. 

0  Strassburg,  wie  ist  es  dir  ergangen? 
Man  siht  din  vänle  zn  Zürich  hangen, 

Es  möcht  dich  wol  verdriessen ! 
Wiltn  me  die  Swytzer  kriegen, 
So  lass  dich  (din)  mut  nit  betriegen : 

Solt  ander  büchsen  giessen! 

Bischof  von  Mentz,  mit  dim  gedieht, 
Was  schafst  mit  dinem  gadengricht  ?*) 

D'Eidgnossen  drin  woltst  zwingen. 
Kämends  zu  dir  in  din  getr&ng, 
Dir  wurd  warlich  bi  in  ze  eng, 

Mit  dem  bär  inüestist  ringen. 

Bischof  von  Mentz,  din  ding  betracht ! 
Behalt  dir  selbst  din  ban  und  acht, 

Bruchs  in  andren  landen! 
Du  schaffest  an  Eidgnossen  nüt, 
Es  möcht  dich  bringen  um  din  hüt, 

Du  kämist  sin  ze  schänden. 

Bischof  von   Mentz,   du  dunkst    mich   ein  kind, 
Dass  du  vergibst  einem  alle  sind, 

Der  an  die  Swytzer  kriege. 
Hastu  hie  ein  solchen  gewalt, 
So  gibs  dir  selb  wol  warm  und  kalt ; 

Lug,  dass  din  bul  nit  liege! 


l)  Spöttisch  für  «Kammergericht». 


Fin  de  Siecle.    Beilagen.  59 

Und  sider  nun  verrichtet  ist 

Der  forsten  krum  und's  keisers  list, 

Und  der  Swaben  vermessen, 
Und  die  stät  in  ruwen  sind ;  — 
D'Eidgnossen  swigend  wie  die  kind, 

Des    argen   wirt   vergessen. 

Nun  singend  lob  dem  alten  Got, 
Der  uns  geholfen  hat  uss  not, 

Vil  gliik  und  sig  gegeben; 
Im  sie  dank  in  ewikeit 
In  sir  hohen  drivaltikoit, 

Verlüch  uns  ewigs  leben ! 


60  Fin  de  Siecle.    Beilagen. 


Aus   einem  Bericht    des   französischen   Gesandten   in   der 

Schweiz,  vom  20.  November  1799. 

(Oecbslis  Quellenbuch  468.) 

«Sie  haben  wohl  sagen  hören,  dass  die  Schweiz  viel  zu 
leiden  habe,  und  Sie  zweifeln  auch  nicht  daran ;  ich  dachte 
mir  das  schon  in  Paris;  aber  man  macht  sich  kaum  einen 
Begriff  davon,  welchen  Grad  das  Elend  erreicht  hat. 

» 

Die  kleinen  Kantone  sind  eine  Wüstenei;  nach  zwei 
Aufständen,  welche  von  15,000  Franzosen  mit  Feuer  und 
Schwert  unterdrückt  wurden,  sind  die  Wechselfälle  des  Krieges 
dort  häufiger  und  verderblicher  gewesen,  als  sonst  irgendwo. 
Das  französische  Heer  ist  nur  binnen  sechs  Monaten  drei- 
bis  viermal  im  Hin-  oder  Hermarsche  zwischen  Glarus  und 
dem  Gotthard  gestanden  und  hat  da  Dinge  gethan  oder  ge- 
litten, die  fabelhaft  scheinen.  Zwei  oder  drei  Divisionen 
haben  die  Wege,  welche  aus  jenen  Kantonen  nach  Bünden, 
an  den  Gotthard  und  zu  den  andern  Pässen  nach  Italien 
führen,  in  allen  Richtungen  und  mehrere  Male  gemacht.  Der 
Soldat  hat  von  den  Vorräthen  der  Einwohner  gelebt.  Da 
es  beinahe  unmöglich  war,  Lebensmittel  an  diese  Punkte  mit 
einer  den  Bewegungen  entsprechenden  Raschheit  hinzuschaffen, 
so  musste  man  auf  Kosten  des  Landes  leben.  Was  man  nicht 
aus  Mitleid  gab,  ward  mit  Gewalt  genommen.  Da  unsere 
Truppen  keine  einzige  Ration  aus  Frankreich  erhielten,  so 
war  seit  einem  halben  Jahre  alles  aufgezehrt  worden,  ehe 
noch  die  Russen  25,000  Mann  in  diese  verödeten  Gegenden 
warfen.  Nur  Urseren  hat  seit  einem  Jahre  etwa  700,000 
Menschen  ernährt  und  beherbergt,  was  auf  den  Tag  fast 
2000  Menschen  beträgt.  Die  vom  Schwert  verschonten  Ein- 
wohner mussten  ihre  Weiler  im  Stiche  lassen. 


Fin  de  Siede.    Beilagen.  61 

«Die  wohlhabendsten  Kantone  sind  durchweg  von  Re- 
quisitionen erdrückt  und  erliegen  unter  der  Last  der  Ein- 
quartierungen, der  Unterhaltung  der  Soldaten  und  Pferde, 
üeberall  mangelt  es  an  Futter;  überall  schlachtet  man  das 
Vieh ;  die  Zugpferde  sind  zu  Grunde  gerichtet  und  dem  Acker- 
bau entzogen.  Im  Kanton  Freiburg  hat  ein  kleines  Dorf 
seit  einem  halben  Jahre  25,000  Mann  ernährt,  welche  wäh- 
rend dieser  ganzen  Zeit  keine  einzige  Ration  von  der  Re- 
publik erhalten  haben. 

<  Bei  einer  so  vollständigen  Einstellung  aller  Leistungen 
unsererseits  ist  ein  Heer  von  95,000  Mann  eine  Geissei  für 
Helvetien  und  Helvetien  eine  Geissei  für  dieses  Heer.» 


Volkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 


In  den  kleineren  Staaten  Earopa's  macht  sich  seit  einiger 
Zeit  eine  gewisse  Beunruhigung  über  ihr  künftiges  Schicksal 
bemerklicb,  welcher  eine  Behauptung  Treitschke's  indem 
zweiten  Bande  seiner  «Politik»  zum  Ausgangspunkte  dienen 
kann:  Die  ganze  Entwicklung  unserer  Staatengesellschaft  gehe 
darauf  aus,  die  Staaten  zweiten  Ranges  «zurückzudrängen». 
Ein  vieldeutiges  Wort,  namentlich  bei  einem  Schriftsteller, 
dessen  letzte  Gedanken  dahin  gehen,  die  Machtsphäre  seines 
eigenen  Staates  so  weit  als  nur  immer  möglich  auszu- 
dehnen.1) 

Diese  Beängstigung  nahm  eine  Zeit  lang  die  Form  einer 
Begeisterung  grösserer  Volkskreise  für  einen  «ewigen  Frieden» 
an,  mit  der  gewöhnlichen  Weiterentwicklung  dieser  Idee,  dass 
alle  völkerrechtlichen  Streitigkeiten  künftighin  durch  inter- 
nationale Schiedsgerichte  erledigt  werden  sollten.  Während 
jedoch  diese  Gedanken  vorzugsweise  nur  in  solchen  Kreisen 
ihre  Vertretung  fanden,  welche  zu  der  Leitung  der  grossen 
Politik  sehr  wenig  zu  sagen  haben,  gingen  dagegen  die  Be- 
mühungen der  eigentlich  massgebenden  Stellen  weit  mehr  und 
weit  praktischer  dahin,  alle  bereits  schwebenden  oder  voraus- 
sichtlichen Differenzen    durch  direkte  Verständigung   auszu- 


l)  Er  fährt  denn  auch  in  der  That  fort:  «Es  handelt  sich  um 
unser  Dasein  als  Grossstaat  bei  der  Frage,  ob  wir  auch  jenseits  der 
Meere  eine  Macht  werden  können.  Sonst  eröffnet  sich  die  grässliche 
Aussicht,  dass  England  und  Russland  sich  in  die  Welt  theileu,  und 
man  weiss  wirklich  nicht,  was  unsittlicher  und  entsetzlicher  wäre, 
die  russische  Knute,  oder  der  englische  Geldbeutel.» 

5 


66  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

gleichen  und  zu  diesem  Ende  die  noch  alifällig  tkeilbare  Welt 
in  «Interessensphären»  ersten  und  zweiten  Ranges  zu  t heilen, 
von  denen  die  ersteren  der  wirklichen  Besitznahme  unter 
irgend  einer  schonenden  Form  anheini  fallen,  wogegen  in  den 
letzteren  wenigstens  eine  andere  Besitzergreifung,  als  die 
des  SphärenBtaates,  vertragsmäßig  ausgeschlossen  ist.1) 

Gegenwärtig  sind  die  wirlichen  Machtverhältnisse 
in  Europa  die  folgenden:  Bussland,  England  und  Deutsch- 
land sind  die  ganz  grossen,  starkgerüsteten  Mächte,  von 
denen  jede  demzufolge  den  Anspruch  erbebt,  ihren  unbeengten 
«Platz  an  der  Sonne»  zu  haben,  oder  «diesmal  bei  der  Ver- 
theilung  jedenfalls  nicht  zu  kurz  zu  kommen.*  Dieser 
Gedanke  ist  der  Grundgedanke  ihrer  ganzen  Politik,  'dem 
jede  andere  Bücksicht  nachstehen  muss;  wer  das  nicht 
voraussetzt,  der  täuscht  sich  in  ihnen.  Eine  Zeitlang  freilich 
schien  der  Abrüstungsvorschlag  Busslands,  welcher  in  dem 
letztjährigen  Jahrbuche  abgedruckt  ist,  einer  etwas  ander- 
weitigen Auffassung  der  dortigen  Politik  Baum  zu  lassen. 
Man  konnte  aber  ziemlich  bald  bemerken,  wenn  man  über- 
haupt darüber  je  im  Zweifel  gewesen  war,  dass  damit  wenig 
anderes  gemeint  war,  als  eine  Erneuerung  der  heiligen 
Allianz  zur  Beherrschung  Europas  durch  einige  Grossmächte, 
unter  der  allerdings  nothwendigen  Voraussetzung  eines  ge- 
wissen Gleichgewichts  der  Macht  unter  denselben,  und  es 
wird    schon  dermalen  Niemand,    der   denkt,    glauben,   dass 

*)  Der  erstere  Fall  tritt  nun  in  grossem  Massstabe  bei  China 
ein,  dessen  «Pachtverträge»  zum  Theil  bereits  in  «Schutzgebiete* 
umgewandelt  worden  sind,  ohne  dass  die  chinesische  Regierung 
etwas  dazu  zu  sagen  hatte;  ein  Fall  der  zweiten  Kategorie  ist  am 
persischen  Meerbusen  deutlich  sichtbar  geworden,  ebenso  bei  der 
afrikanischen  Verständigung  zwischen  England  und  Frankreich. 
Vergl.  hierüber  unsern  Aufsatz  des  letzten  Jahrganges  «die  Theil ung 
der  Wetl»,  die  seither  noch  starke  Fortschritte,  gemacht  hat 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  67 

daraus  mehr  als  ein  sehr  bedingter  «Friede  auf  Kündigung» 
entstehen  kann,  wie  er  eigentlich  jetzt  schon  vorhanden  ist. 
Neben  diesen  drei  Machten  stehen  noch  vorläufig  Frank- 
reich, Oesterreich  und  Italien  in  gleichem  Range,  welche 
aber  jede  für  sich,  ohne  Allianzen,  keiner  der  drei  erst- 
genannten gewachsen  sind;  eine  Thatsache,  welche  äugen« 
blicklich  eine  gewisse  Beruhigung  über  einen  Krieg  herbei- 
führt, den  man  lange  Zeit  als  bevorstehend  angesehen  hatte, 
and  der  sich  nun  vielleicht  ganz  verzögert;  oder  wenigstens 
in  entferntere  Gebiete  verzieht. 

Alle  anderen  consolidirten  Staaten  Europa's  sind  «natürlich 
neutral»,  auch  wenn  sie  das  völkerrechtliche  Privilegium  der 
sogenannten  «ewigen  Neutralität»  nicht  besitzen;  d.  h.  sie 
beabsichtigen  keine  Vergrösserungen,  oder  Kolonisationen,  und 
erhalten  sich  auf  dem  Fasse  einer  massigen  Kriegsrüstung, 
bloss  zum  Zwecke  der  Vertheidigung  ihres  gegenwärtigen 
Besitzstandes.  Belgien,  Luxemburg  und  die  Schweiz  sind 
darunter  die  bereits  förmlich  neutralisirten  Staaten,  deren 
völkerrechtliche  Verhältnisse  Andern  allfällig  als  eine  Art 
von  Zielpunkt  vorschweben  können. 

Eine  dritte,  resp.  vierte  Kategorie  bilden  in  Europa  die 
Staaten,  welche  in  einer  Restauration  oder  Liquidation  be- 
findlich 6ind,  und  deren  Verhältnisse  daher  augenblicklich 
nicht  mit  Sicherheit  beurtheilt  werden  können,  jedenfalls 
aber  nicht  ganz  so  bleiben  werden,  wie  sie  sind.  Es  sind 
dermalen  Griechenland,  die  Türkei,  vielleicht  auch  Spanien 
und  Portugal,  und  in  gewissem  Verstände  die  Balkanstaaten : 
Rumänien,  Serbien,  Bulgarien  und  Montenegro. 

Die  außereuropäischen  Staaten  befinden  sich  sozusagen 
alle  in  diesem  Zustande,  mit  Ausnahme  jedoch  von  Amerika 
und  Japan,  von  denen  ersteres  seit  dem  letzten  Jahre,  letzteres 
seit  dem  Kriege  mit  China,  der  das  Signal  zu  der  Auflösung 


L 


68  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

dieses  grossen  Reiches  gegeben,  aber  ganz  unerwartete 
Erben  herbeigerufen  hat,  zu  den  Grossstaaten  mit  «Imperial- 
Politik»  gehören.  Diese  beiden  Staaten  mit  Aspirationen 
werden  desshalb  nothwendig  auch  in  die  europäische  Politik 
einbezogen  werden  müssen,  deren  Schachbrett  jetzt  nicht 
mehr  am  Rhein,  oder  an  der  Weichsel,  sondern  am  Nil 
und  Kongo,  an  den  Küsten  China's  und  den  Nordgrenzen 
Indiens  aufgestellt  ist.  Sie  sind  die  neuen  Konkurrenten 
um  die  eigentliche  Grossmachtstellung  in  der  Welt,  die  mit 
Eclat  die  Bühne  betreten  haben,  und  deren  Allianz  den 
anderen  Grossmächten  wünschenswerth,  oder  sogar  noth- 
wendig sein  wird.  Es  kommt  dadurch  ein  Element  von  fast 
unberechenbarer  Art  in  die  europäische  Politik  hinein,  da& 
bisher  in  derselben  noch  niemals  eine  Rolle  gespielt  hat; 
das  ist  das  Neue  in  der  Situation,  —  für  uns  vielleicht  das  Be- 
ruhigendste dabei.  — 

Weitab,  fast  aus  der  Miterwägung  der  jetzt  Lebenden,, 
wenigstens  soweit  diess  aktive  Politiker  sind,  verdrängt,, 
sind  die  Gedanken  an  Völkerfreiheit,  Idealität  und  Humanität 
in  der  Politik.  Die  dominirende  Frage  ist  jetzt  die,  mit 
welchen  Kräften  und  Mitteln  die  grösste  Zahl  von  Menschen 
am  sichersten  beherrscht  werden  könne,  und  die  Beherrschten 
selber  haben  am  meisten  Achtung  vor  der  Kraft  und  der 
Macht,  wobei  Manche  von  ihnen  auch  einen  erheblichen 
materiellen  Vortheil  daraus  ziehen,  die  Mehrheit  aber  sich 
mit  dem  befriedigenden  Bewusstsein,  einem  mächtigen  Staate 
anzugehören,  begnügt. 

Das  ist  die  Situation  bei  Beginn  des  neuen  Jahrhunderts, 
in  einiger  Hinsicht  nicht  ganz  unähnlich  derjenigen  vor 
hundert  Jahren,  und  daraus  ergiebt  sich  für  die  kleineren 
Staaten  die  Frage,  auf  welche  Weise  sie  sich  am  besten 
gegen  Alles,  was  sie  in  ihrer  friedlicheren  Existenz  bedrohen 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  69 

könnte,  sicherstellen  werden,  ob  durch  ewigen  Frieden,  oder 
durch  einen  bundesmässigen  Zusammenschluss,  oder  durch 
vine  garantirte  Neutralität.  Ein  weiteres  Mittel,  abgesehen 
von  der  kriegsmassigen  Verteidigung,  wird  kaum  anzu- 
geben sein. 

I. 
Der  ewige  Friede  ist  insofern  jedenfalls  eine  Utopie, 
als  er  eine  andere  Gesittung,  als  die  gegenwärtige,  in 
allen  Staaten  und  eine  völlige  Beherrschung  der  Welt 
durch  lauter  hochcivilisirte  Staaten  voraussetzt.  So  lange 
es  noch  Staaten,  oder  Theile  der  Welt  giebt,  in  welchen 
ungeordnete,  oder  sogar  unmoralische  Zustände  bestehen, 
oder  die  Besitzesverhältnisse  nicht  liquid  sind,  ist  zeit- 
weiliger Krieg  unvermeidlich;  selbst  Monis  konnte  sich  in 
seiner  berühmten  Schrift  dieser  Einsicht  nicht  ganz  ver- 
sehHessen.  Oder  sollte  man  etwa  die  Derwische  in  Charturn 
rahig  ganze  Länder  und  Völker  fortvernichten  lassen,  die 
schon  halbwegs  der  Kultur  angehörten,  oder  den  armenischen 
Grenelthaten  herzlos  oder  gedankenlos  auf  so  lange  zu- 
sehen, bis  ein  christliches  Volk  ausgerottet  sein  wird,  nur  um 
des  ewigen  Friedens  willen  ?  In  diesem  Falle  wäre  derselbe 
«in  Privilegium  für  die,  welche  ein  solches  am  wenigsten 
verdienen. 

Es  mnss  also  Ausnahmen  von  demselben  doch  noch  geben 
können,  oder  er  niuss  lokal  abgegränzt  sein ;  in  diesem  Falle 
aber  wird  es  schwer  sein,  auch  nur  Europa  gänzlich  vom 
Kriegstheater  auszunehmen.  Wir  glauben  kaum,  dass  irgend 
Jemand  an  massgebender  Stelle  Europa  für  völlig  friedens 
fähig  ansieht,  und  noch  weniger  wäre  diess  möglich,  wenn 
nicht  alle  Grossstaaten  aufrichtig  entschlossen  sind,  inner- 
halb Europa' s  überhaupt  keinen  Krieg  mehr  zu  führen,  noch 
führen  zu  lassen.    Eine  eigentliche  Abrüstung  aber  würde 


70  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

sich  auch  selbst  in  diesem  Falle  noch  als  unmöglich  heraus- 
stellen, weil  seitens  aller  grossen  Staaten  das  Gerüstetsein  für 
die  aussereuropäischen  Verhältnisse  nothwendig  Ist,  die  jetzt 
geradezu  die  Hauptrolle  in  der  Politik  spielen.1) 

«Friede  auf  Erden»  wird  überhaupt  nie  sein,  solange 
es  noch  Böses  und  Schlechtes  auf  Erden  giebt.  Das  verursacht 
den  Krieg  und  muss  auch  bekriegt  werden;  Friede  mit 
ihm  wäre  noch  schlimmer,  als  jedes  Uebel  des  Kriegs. 

Dann,  wenn  einmal  das  Gute  allein  mächtig  in  der  Welt 
ist,  sinken  die  Waffen  von  selbst  nieder,  vorher  sollen  sie 
erhoben  bleiben. 

Am  allermeisten  spricht  gegen  die  Idee  eines  «ewigen>  Frie- 
dens ein  psychologischer  und  ein  ganz  praktischer 
Grund,  die  beide  schwerlich  jemals  zu  beseitigen  sein  werden, 
anders  als  durch  eine  so  grosse  Verbesserung  der  Mensch- 
heit, wie  sie  vorläufig  noch  ausserhalb  jeder  Möglichkeit 
zu  sein  scheint. 

Der  Krieg  allein  zeigt  unwiderleglich,  was  an  einem 
Volk  und  an  einer  Generation  desselben  ist.  Griechenland  y 
die  Türkei,  Spanien  und  Nordamerika,  vorher  Italien  und 
Abessynien  werden  jetzt  unzweifelhaft  richtiger  gewerthet 
von  ihrem  eigenen  Volke  und  von  Andern,  als  vor  den 
neuesten  Kriegen,  und  diese  Selbsterkenntniss  vor- 
nehmlich ist  es,  welche  die  Verbesserung  der  noch 
bildungsfähigen  Völker  sowohl,  wie  ihre  Ermuthigung  zu 
grösseren  Aufgaben,  als  den  blossen  Gelderwerb  und  Lebens- 
genuss  herbeiführt,  auf  den  es  doch  eigentlich  bei  dem  be- 
ständigen Frieden  herauskommt. 


*)  Die  «Abrüstungskonferenz»  in  Haag  wird  daher  kaum 
einen  andern  Erfolg  haben,  als  vielleicht  in  Bezug  auf  einzelne 
Fragen,  wovon  wir  später  sprechen. 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  71 

Der  Krieg  allein  beseitigt  auch  unter  den  heutigen  Ver- 
hältnissen verrostete  Zustande.  Man  kann  es  sich  gar  nicht 
genügend  mehr  vorstellen,  wie  traurig  es  in  Europa  ohne  die 
Kriege  dieses  Jahrhunderts  aussehen  würde,  die  im  Ganzen 
betrachtet  doch  fast  alle  ein  Glück,  auch  für  die  im  Augen- 
blicke darunter  leidenden  Völker  gewesen  sind.  Unsere 
Eidgenossenschaft  selbst  würde  ein  veralteter,  ziemlich 
lebensunfähiger  Staatenbund,  wenn  nicht  ein  blosses  fran- 
zösisches Protektorat,  Amerika  ein  gründlich  verdorbener 
Sklavenstaat  sein.1)  Oesterreich  wäre,  selbst  wenn  man  bloss 
die  Verhaltnisse  von  1815  ab  berücksichtigt,  in  Italien,  Däne- 
mark in  Holstein  unmittelbar  vor  den  Thoren  von  Hamburg,  die 
Türkei  an  der  Donau  und  vielleicht  noch  jenseits  derselben,  je- 
denfalls aber  in  Griechenland  herrschend  geblieben,  Frankreich 
wäre  ein  verrottetes  Kaiserreich,  Rom  ein  ebensolcher  Kirchen- 
staat, inNeapel  und  Modena  würden  dieBourbonen  in  ihrer  Weise 
regleren,  in  Cuba  die  Spanier  und  in  Algier,  Tunis  und 
Tripolis  die  Piraten  des  Mittelmeers.  Der  Krieg  allein  hat 
überall  Fragen  gelöst,  die  sonst  unlösbar  gewesen  wären, 
und  Raum  zu  neuen,  viel  gesunderen  Entwicklungen  geschaffen. 

Der  praktische  Grund  ist.  der,  dass  zum  Aufhören  der 
Kriege  und  Kriegsrüstungen,  die  schädlicher  für  den  Volks- 
wohlstand sind,  als  die  Kriege  selber,  eine  allgemeine  Zu- 
stimmung: aller,  wenigstens   aller   grösseren  Staaten    gehört. 

l)  Wir  hatten  den  ewigen  Frieden  und  die  Abrüstung  ein 
Jahrhundert  lang  von  1712  bis  1798  und  würden  diesen  Zustand 
kaum  mehr  ernstlich  herbeiwünschen,  oder  dem  heutigen  vorziehen. 
Ebenso  ist  die  amerikanische  Republik  erst  seitdem  sie  in  dem  Sezes- 
sionskrieg durch  das  rothe  Meer  (nach  Parkers  Ausdruck)  ging  und 
noch  mehr  seit  dem  letztjährigen  Kriege  ein  überall  völlig  geachteter, 
jedenfalls  ein  der  Achtung  würdigerer  Staat  geworden,  in  welchem 
«dura  jetzt  wenige  ganz  verständige  Leute  diese  Entwicklungen 
bedauern     werden,    in    hundert   Jahren    vielleicht  Niemand    mehr. 


72  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

Bis  zu  einem  gewissen  Grade  wird  dieselbe  vielleicht  zu  er- 
reichen sein,  und  ist  sie  bereits  erreicht  worden.  Wegen 
blossen  Etiquettefragen,  oder  aus  sonstigen  ganz  kleinlichen 
Ursachen  werden  keine  Kriege  mehr  geführt,  und  es  wird 
möglich  sein,  dieselben  noch  mehr  zu  vermindern;  zur 
Aufhebung  des  Kriegs  aber  gehört  ein  Zustand  einer  allge- 
meinen Befriedigung,  der  von  Niemand  der  jetzt  Lebenden 
gesehen  werden  wird. 

Die  Erledigung  der  Kriegsveranlassungen 
durch  Schiedsgerichte,  die  völkerrechtlichen  Laien 
sehr  leicht  erscheint,  ist  ebenfalls  in  vielen  Fällen  möglich, 
und  es  haben  diess  bereits  zahlreiche  Beispiele  bis  in  die 
jüngste  Zeit  hinein  gezeigt.  Es  ist  auch  wahr,  dass  in 
keinem  bisherigen  Falle  ein  Schiedsurtheil  von  einem  der  be- 
theiligten Staaten  nicht  anerkannt  worden  ist.  Ebenso  richtig 
aber  ist,  dass  noch  keine  sehr  bedeutenden  Fragen,  wie 
etwa  beispielsweise  der  Besitz,  oder  die  Befreiung  von  Kuba 
oder  Kreta,  oder  vollends  etwa  gar  die  elsass-lothringische 
Frage,  schiedsgerichtlich  behandelt  und  entschieden  worden 
sind,  sondern  die  Entscheidungen  betrafen  vielmehr  lauter 
Streitsachen,  um  derentwillen  ein  Krieg  kaum  ernstlich  in 
Aussicht  gestanden  hätte.  In  einem  neueren  Falle,  welcher  die 
Schweiz  selbst,  gegenüber  Italien  betraf,  hat  es  sich  sogar 
gezeigt,  dass  die  Schiedsgerichts  vertrage  unwirksam  sind, 
sobald  der  eine  Theil  sich  weigert,  sie  auf  die  gegebene 
Streitsache  anzuwenden.1)  Es  giebt  dann  kein  Mittel,  um 
ihn  dazu  zu  veranlassen,  sondern  es  gehört  immer  der  freie 
Entschluss,  auch  im  einzelnen  konkreten  Streitfalle,  dazu, 
eine  Sache  schiedsgerichtlich  entscheiden  zu  lassen,  selbst 
wenn  ein  solcher  Vertrag  besteht.     Mit    andern  Worten,   es 


')  Vgl.  die  Aktenstücke  darüber  in  den  Beilagen. 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  73 

ist  eigentlich  ziemlich  gleichgültig,  ob  ein  Schiedsgerichts- 
Vertrag  Ein  für  alle  Male  vorhanden  sei,  oder  ob  er  für 
jeden  einzelnen  Fall  geschlossen  wird,  etwas  was  natürlich 
schon  dermalen  geschehen  kann  und  oft  geschieht.  Auch 
wenn  ein  feststehendes  internationales  Schiedsgericht  für 
alle  völkerrechtlichen  Streitfälle  bestünde,  dessen  Einführ- 
ung und  Bestellung  übrigens  sehr  grosse  praktische  Schwierig- 
keiten haben  dürfte,  so  würde  sich  dasselbe  schwerlich  für  be- 
fugt und  für  mächtig  genug  erachten,  einen  grossen  Staat,  der 
es  im  gegebenen  Fall  nicht  anerkennen  würde,  in  contumaciam 
zu  verartheilen,  und  ein  solcher  Spruch  würde  auch  gar  keine 
Execution  finden  können  —  anders  als  durch  Krieg,  der  also 
stets  die  «ultima  ratio»  bleibt. 

Wir  haben  selbst,  in  unserer  Geschichte,  eine  ganze 
Reihe  von  solchen  schiedsgerichtlichen  Verhandlungen  mit 
Oesterreich,  seit  dem  Eintritte  von  Luzern,  Zürich,  Glarus 
and  Zug  in  den  Bund,  die  alle  für  die  Eidgenossenschaft 
mehr  oder  weniger  ungünstig  ausfielen,  beziehungsweise  ihren 
Fortbestand  mehr  oder  weniger  in  Frage  stellten.1) 

Diese  Urtheile  wurden  nie  von  der  Eidgenossenschaft 
anerkannt,  und  den  Streit  um  die  Unabhängigkeit  derselben 
von  Oesterreich  entschied,  trotz  derselben,  nur  die  Schlacht  von 
Sempach  von  1386  und  in  letzter  Linie  der  Schwabenkrieg 
von   1499. 

Auch  die  Bestellung  der  Schiedsgerichte,  für  den  einzelnen 
Fall,  ganz  besonders  die  des  Obmanns,  ist  eine  schwierige 
Sache  und  die  eidgenössischen  Bünde  enthalten  ebenfalls  eine 
ganze  Reihe  von  lehrreichen  Versuchen  verschiedenster  Art 
einen  unparteiischen  Obmann  zu  erhalten,  auf  den  es,  bei  der 


*)  Vgl.  darüber  «Die  Bundesverfassungen  der  Schweiz.  Eidge- 
nossenschaft 1891»  p.  54— 70. 


74  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

Wahl  der  Schiedsrichter  durch  die  Parteien,  am  meisten  an- 
kommt. Eine  Vereinbarung  über  denselben  hat  gewöhnlich 
den  Effekt,  dass  derselbe  sehr  geneigt  ist,  keinem  der  strei- 
tenden Theile  vollkommen  Recht  zu  geben,  sondern  irgend 
einen  Mittelweg  einzuschlagen :  überlässt  man  dagegen  die 
Wahl  dem  Zufall  des  Looses  unter  verschiedenen  Vorge- 
schlagenen, so  thäte  man  in  vielen  Fällen  besser,  gerade  den 
ganzen  Streit  durch  das  Loos  entscheiden  zu  lassen.1)  Das 
Resultat  würde  vielleicht  das  Nämliche  sein. 

Mitunter  sind  in  neuerer  Zeit  Staatsregierungen  als 
Schiedsrichter  bezeichnet  worden;  das  hat  aber  den  Nachtheil, 
dass  selten  das  Staatsoberhaupt  selbst  den  Entscheid  fällt, 
oder  auch  nur  zu  fällen  im  Stande  ist,  sondern  dazu  einen 
Vertreter,  oder  wenigstens  einen  massgebenden  Referenten 
ganz  willkürlich  von  sich  aus  bezeichnet.  Man  legt  damit  also 
das  Schicksal  des  Streites  in  die  Hände  einer  durchaus  un- 
verantwortlichen, keinem  der  beiden  Streittheile  zum  Voraus 
bekannten,  und  vielleicht  auch  keinem  genehmen  Person. 

In  den  meisten  Fällen,  wo  es  sich  nicht  etwa  um  technische 
Untersuchungen  handelt,  wird  es  daher  ebenso  zweckmässig 
sein,  sich  direkt,  ohne  Schiedsgericht,  zu  verständigen;  in 
einigen  allerdings  ist  die  Bezeichnung  eines  Schiedsgerichts 
ein  Mittel,  um  einstweilen  die  erregten  Volksgeister  zu  beruhi- 
gen, und  es  einer  Regierung  möglich  zu  machen,  mit  Ehren 
nachzugeben.  Ein  solcher  Fall  war  die  bedeutendste  bisherige 
Entscheidung   dieser  Art,   die   «Alabama -Frage».    Nachdem 


')  Jedenfalls  muss  man  nicht  einen  bei  dem  gegnerischen 
Staat  accreditirten  Diplomaten  als  Obmann  annehmen,  wie  es  die 
Eidgenossenschaft  zu  ihrem  Schaden  in  dem  Cravairola-Gränzstreit 
gegen  Italien  gethan  hat.  Ein  solcher  Fehlgriff  würde  in  einem 
andern  Staate,  und  bedeutenderen  Falle  leicht  zum  Sturze  des  Mini- 
steriunis, das  ihn  beging,  geführt  haben. 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  75 

der  Schiedsvertrag  von  Washington  geschlossen  war,  war 
das  Endnrtheil  ziemlich  leicht  Torausznsehen  nnd  kam  jeden- 
falls dem  im  Wesentlichen  unterliegenden  Theile  nicht  uner- 
wartet. Wo  also  solche  Gründe  vorhanden  sind  und  daneben 
allseitig  guter  Wille  besteht,  eine  Sache  zu  erledigen  und  sich 
auch  den  denkbar  schlimmsten  Schiedsspruch  lieber  gefallen 
zu  lassen,  als  Krieg  um  das  Streitobjekt  zu  führen,  da 
werden  die  Schiedsgerichte  immer  ihren  Platz  finden;  in 
anderen  Fällen  aber  ist  es  schwer  anzunehmen,  dass  sie 
jemals  den  Krieg  gänzlich  ersetzen  werden. 

Eine  andere  Art  von  Gerichtsbarkeit  aber,  als  die  auf 
freiwilligem  Einverständniss  beruhende  schiedsgerichtliche,  ist 
unter  souveränen  Staaten  nicht  denkbar;  dazu  würde  eine 
Art  von  dauernder  Staatenverbindung,  mindestens  in  der 
Form  eines  Staatenbundes  gehören. 

Es  ist  daher  ganz  naturgemäss  unter  den  sehr  zahl- 
reichen Vorschlägen,  welche  dieser  Gegenstand  bereits  her- 
vorgerufen hat,  kein  einziger,  der  die  vollständig  ge- 
nügende Garantie  für  ein  durchaus  zweckmässiges  und  un- 
parteiliches Schiedsverfahren  in  allen  Fällen  darbietet,1) 
sondern  es  erscheint  im  Gegentheil  immer  noch  sicherer,  die 
Vereinbarung  auf  einen  schiedsgerichtlichen  Entscheid  sowohl, 
als  die  Bestellung  des  Gerichts  und  die  Regulirung  des  Ver- 
fahrens in  jedem  einzelnen  Falle  vorzunehmen. 

Ein  feststehendes  europäisches  Schiedsgericht  wäre  über- 
haupt eine  Mediatisirung  wenigstens  der  kleineren  Staaten. 
Ein  Staat,  welcher  sich  in  jedem  Falle  eines  Streites  mit 
andern  Staaten,  selbst  wenn  es  sich  um  seine  Existenz 
handeln  sollte,  einem  über  ihm  stehenden  Gerichte  unterwerfen 
muss,  ist  kein  völlig  unabhängiger  Staat  mehr;  jede  zwangs- 

l)  Vgl.  hierüber    unsern  Aufsatz    im  Jahrbuch   VIII,  197,    wo 
auf  p.  27  auch  einige  Vorschläge  gemacht  sind. 


76  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

weise  Execution  eines  solchen  Spruches  würde  das  sofort  bis 
znr  Evidenz  für  Jedermann  beweisen. 

Der  Grundsatz,  dass  alle  Streitigkeiten  zwischen 
Staaten  schiedsgerichtlich  erledigt  werden  müssen,  hat,  auch 
abgesehen  von  speziellen  praktischen  Schwierigkeiten,  offenbar 
einen  solchen  ewigen  Frieden,  wie  er  in  einer  bundesstaat- 
lichen Staatenverbindung  besteht,  zur  Voraussetzung  und 
wird  nicht  eher,  als  dieser,  zur  allgemeinen  und  ausnahms- 
losen Geltung  gelangen. 

Eine  Sicherheit  gegen  Kriege  bieten  also  vorläufig  diese 
Veranstaltungen  nicht.  Dieselbe  ergibt  sich  viel  eher  noch 
rein  thatsächlich  ans  der  fortwährenden  Vervollkommnung 
und  zunehmenden  Kostspieligkeit  der  modernen  Kriegsmittel, 
sowie  durch  das  ausserordentlich  vermehrte,  auch  fast  un- 
berechenbare Risiko,  weiches  jetzt  mit  den  Kriegen  unter 
civilisirtcn  Staaten  verbunden  ist.  Dieselben  werden  wahr- 
scheinlich künftighin  durch  den  ersten,  oder  zweiten  Zu- 
sammenstoss  zu  Land,  oder  zur  See  entschieden,  bis  zur  Un- 
möglichkeit einer  Fortsetzung  für  den  dabei  unterliegenden 
Theil,  und  derselbe  erleidet  dann  eine  solche  Erschütterung 
seiner  Wehrfähigkeit,  seiner  Finanzkraft  und  seines  Ansehens, 
tlass  es  der  gleichen  Generation,  welche  den  unglücklichen 
Krieg  geführt  hat,  in  der  Regel  gar  nicht  mehr  möglich  ist, 
sich  davon  wieder  zu  erholen.  So  haben  sich  schon  dermalen 
Dänemark,  Oesterreich,  Frankreich  von  ihren  Niederlagen 
nicht  gänzlich  erholt  und  ihre  frühere  Weltstellung  nicht 
wieder  gefunden ;  Griechenland  ist  nur  durch  europäische 
Intervention  vor  der  Vernichtung  gerettet  worden,  und  für 
China  und  Spanien  bedeuteten  die  unglücklichen  Kriege  eine 
dauernde  Versetzung  dieser  Staaten  in  eine  ganz  andere 
Rangklasse,  ohne  jede  Hoffnung  auf  eine  Restauration.    Das 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  7? 

macht  jeden  modernen  Staat  bedenklich  gegen  ein  solches 
Wagniss,  und  in  der  That  würde  kein  einziger  einen  gründlich 
verlorenen  Feldzug  ohne  die  dauerndsten  und  schwersten  Folgen 
aberleben,  nicht  einmal  Russland  und  die  Türkei,  die  in 
•lieser  Richtung  vielleicht  die  grösste  Lebenskraft  besitzen. 
Deutschland  als  ein  Bundesstaat  würde  gar  nicht  existiren,  wenn 
<iie  Schlacht  von  Königsgrätz  anders  ausgefallen  wäre,  England 
sein  ganzes  Prestige  in  allen  Welttheilen  mit  einer  völligen 
Niederlage  zur  See  verlieren,  Italien  vielleicht  wieder  in 
seine  früheren  Bestandteile  zerfallen.  Ein  dreissigjähriger, 
oder  auch  nur  ein  siebenjähriger  Krieg  in  Europa,  in  welchem 
die  Chancen  wechseln,  wie  es  damals  der  Fall  war,  ist  heute 
schon  nicht  mehr  denkbar,  die  ersten  Monate  bereits  ent- 
scheiden —  für  den  besser  gerüsteten  Staat.  Aus  dem  gleichen 
Grande  aber  ist  eben  auch  eine  ernstliche  Abrüstung  für 
Staaten  nicht  thunlich,  die  noch  möglicherweise  grosse  Kriege 
zu  bestehen  haben,  und  deren  ganze  Existenz,  in  Gegenwart. 
and  Zukunft,  von  der  Möglichkeit,  oder  gar  Wahrscheinlich- 
keit   abhangt,  einmal  einem  überlegenen  Feinde  zu  begegnen. 

Man  kann  also  vielleicht  im  Resume  sagen,  die  Kriege 
werden  sich  in  civilisirten  Gebieten  vermindern,  die  soge- 
nannten Cabinetskriege  vielleicht  ganz  aufhören,  die  K  ri  e  g  s  - 
Vorbereitungen  aber  schwerlich,  solange  nichteine  ganz, 
andere  Politik  und  Staatenmoral  an  die  Stelle  der  bisherigen. 
tritt. 

IL 

Dagegen  wird  es  möglich  sein,  in  einigen  weniger 
prinzipiellen  Punkten  den  Forderungen  der  Friedensfreunde 
entgegenzukommen,  und  dieselben  würden  unseres  Erachtens 
gut  thun,  sich,  zunächst  wenigstens,  darauf  zu  beschränken ; 
denn  eine  so  lange  Gewohnheit  der  Völker,  ihre  Streitig- 
keiten mit  den  Waffen  zu  erledigen,    wird  nicht  in  wenigen 


78  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart 

Jahrzehnten  beseitigt,   selbst   wenn    darüber  keinerlei  prin- 
zipielle Differenz  bestünde.1) 

1.  Zunächst  könnte  es  sich  darum  handeln,  einen  Grund- 
satz in  das  allgemeine  Völkerrecht  der  civilisirten  Staaten 
aufzunehmen,  der  für  westafrikanische  Verhaltnisse  schon 
seit  14  Jahren  besteht,  obwohl  ein  Fall  der  Anwendung  noch 
nicht  vorgekommen  ist.  Es  ist  dies  der  Artikel  XII  der 
Kongo-Akte  vom  26.  Febr.  1885,  welcher  lautet: 

«Falls  sich  zwischen  den  Mächten,  welche  die  gegen- 
wärtige Akte  unterzeichnen  oder  denjenigen,  welche  etwa 
in  der  Folge  derselben  beitreten,  ernste  Meinungsverschieden- 
heiten mit.  Bezug  auf  die  Grenzen  oder  innerhalb  der 
Grenzen  der  im  Artikel  I  erwähnten  und  dem  Freihandels- 
system unterstellten  Gebiete  ergeben,  so  verpflichten  sich 
jene  Mächte,  bevor  sie  zur  Waffengewalt 
schreiten,  die  Vermittelung  einer  odermehrerer 
der  befreundeten  Mächte  in  Anspruch  zu 
nehmen.  Für  den  gleichen  Fall  behalten  sich  die  gleichen 
Mächte  vor,  nach  ihrem  Ermessen  auf  ein  schiedsrichter- 
liches Verfahren  zurückzugreifen.» 

Es  ist  unzweifelhaft  leichter,  einen  weiteren  Fortschritt 
des  civilisirten  Völkerrechts    an    einen    bereits    bestehenden 


J)  Eine  solche  Verbesserung  des  geltendenKriegsrech  t  s 
und  damit  eine  indirekte  Beförderung  des  Friedens  unter  den  civilisirten 
Völkern  (damals  den  Hellenen  im  Gegensatz  zu  den  Barbaren)  strebten 
schon  im  Alterthum  die  griechischen  Amphiktyoneobflnde  an,  die  sich 
nach  dieser  Richtung  hin  ein  wenig  mit  den  heutigen  Friedensligeu 
vergleichen  lassen.  Die  allgemeinen  Friedensbestrebungen  aber 
verspottete  auch  schon  damals  Aristophanes  mit  den  Worten: 
«Wohl  nicht  dünkt  es  genehm  den  unsterblichen  seligen  Göttern 
Eher  zu  enden  den  Krieg,  vor  der  Wolf  mit  dem  Schafsich  vermählet.» 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  79 

anzuknüpfen,  als  einen  ganz  neuen  Gedanken  in  Vorschlag 
zu  bringen,  nnd  es  wäre  durch  eine  solche  allgemeine,  nicht 
bloss  für  den  Westen  von  Afrika  geltende,  Bestimmung  wahr- 
scheinlich sowohl  der  griechisch-türkische,  als  der  spanisch- 
amerikanische  Krieg  vermieden  worden.  Es  ist  ohnehin  etwas 
rigenüiüinlich,  dass  in  einem  so  wichtigen  Punkte  das  afri- 
kanische Völkerrecht  civilisirter  sein  und  bleiben  sollte,  als 
das  in  Europa  und  Amerika  geltende.1) 

2.  Eine  weitere  sehr  mögliche  Verbesserung  des  gegen- 
wärtigen Kriegsrechts  wäre  die  förmliche  Annahme  nnd 
Ratifikation  der  sogenannten  zweiten  Genfer-Kon- 
vention  von  1868,  welche  in  ihren  ersten  fünf  Artikeln 
Verbesserungen  der  ersten,  allein  förmlich  geltenden  von 
1864,  in  den  folgenden  eine  Anwendung  dieser  Grundsätze 
auf  das  Seekriegsrecht  enthält.  Dieser  Konventionsentwurf 
pflegt  in  den  seitherigen  Kriegen  durch  jeweiliges  Einver- 
ständniss  der  kriegführenden  Theile  beobachtet  zu  werden, 
das  aber  immer  nur  temporär  gilt.  Einzelne  Staaten,  wie 
z.  B.  die  schweizerische  Eidgenossenschaft,  haben  ihn  auch 
ratitizirt,  im  Ganzen  aber  ist  es  nicht  der  Fall,  und  es  wäre 
eine  definitive  Verständigung  darüber  um  so  notwendiger, 
als  er,  wie  gesagt,  auch  einige  dringend  nothwendige  Ver- 
besserungen der  Konvention  von  1864  enthält,  die  ohne 
die  definitive  Ratifikation  noch  immer  in  der  Luft  stehen. 

Es  Hessen  sich  hieran  natürlich  alle  weitern  Fragen 
über  eine  Revision  der  Genfer-Kon vention  an- 
knüpfen,   die    in    verschiedener  Richtung    der  Verbesserung 


*)  Dieser  Vorschlag  wurde  von  dem  Verfasser  bereits  an  dem 
interparlamentarischen  Kongress  von  Bern  gemacht  und  findet  sich, 
nebst  den  übrigen  daran  geknöpften,  auch  im  politischen  Jahrbuch 
der  schweizerischen  Eidgenossenschaft  Bd.  VII  p.  228. 


80  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

bedürftig  ist,  worüber  auch  Gutachten  und  Vorschläge  schon 
seit  langer  Zeit  vorliegen.1) 

3.  Ohne  Zweifei  wird  man  hiedurch  auf  den  weiter- 
gehenden Gedanken  geleitet  werden,  das  Schlussprojekt  der 
B  r  ü  8  s  e  1  e r-  Ko  n  f e r  e  n  z  vom  Jahre  1 874*)  noch  einmal 
durchzuberathen  and  zu  einem  definitiven  Vertrage  über  das 
gesammte  geltende  Kriegsrecht  zu  gestalten,  mit  Benutzung 
des  «Manuel»  des  Institut  de  droit  international,  welcher 
seither  erschienen  ist  und  in  einzelnen  Staaten  bereits  eine  Art 
von  supplementärer  Geltung  besitzt.8)  Es  wäre  der  Absckluss 
eines  solchen  völkerrechtlichen  Vertrags  der  grösste  Fort- 
schritt, welcher  vorläufig  im  Sinne  der  Regularisirun^r 
und    Beschränkung    der    Kriege    gemacht    werden   konnte. 

Ueber  die  einzelnen  Fragen,  welche  dabei  vorzugsweise 
nochmals  zur  Berathnng  gelangen  könnten,  wäre  es  vielleicht 
verfrüht,  sich  hier  bis  in's  Einzelne  zu  äussern;  wir  wollen 
im  Allgemeinen  bloss  die  Möglichkeit  erwähnen,  das  See- 
beuterecht dem  Landbeuterecht  gleich  zu  stellen,  d.  h.  die 
Wegnahme  von  Privateigen thum  zur  See  nur  unter  den 
gleichen  Voraussetzungen  zu  gestatten,  unter  denen  Eigen- 
thum  von  Privaten  auch  zu  Lande,  vorübergehend,  oder  ohne 
Rückgabe,  für  Kriegszwecke  in  Anspruch  genommen  werden 
darf.  Hiebei  würde  die  Kaperei  gänzlich  verboten  werden  müssen 
für  alle  Staaten,  ob  sie  dem  Vertrage  beitreten  oder  nicht  (unter 
Vorbehalt  dessen,  was  wir  später  darüber  noch  sagen).4)  Auch 


l)  Eine  neueste  Zusammenstellung  derselben  findet  sich  in  der 
Militärzeitschrift  von  Hungert) ühler  1899  No.  3. 

*)  Vgl.  die  Beilagen. 

a)  Allfällig   auch     der  amerikanischen   Kriegsartikel  aus    dem 
Sezessionskrieg,  General-Ordre  No.  100. 

4)  Auch  die  Prisengerichtsbarkeit,  das  Seeblokaderecht  und  die 
Kriegscontrebande    verdienten   eine  Revision    und    genauere   Fest- 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  81 

für  das  Landkriegsrecht  wäre  es  möglich,  über  die  stets  noch 
bis  auf  einen  gewissen  Grad  zweifelhaften  Fragen  betreffend  die 
Beanspruchung  der  Gelder  von  Staats-  oder  sogenannten  ge- 
mischten Banken  und  die  Wegnahme  von  Eisen  bah n- 
und  sonstigem  Transportmaterial  geeignetere  und  grundsätz- 
lichere Bestimmungen  aufzunehmen.1) 

Für  die  kleineren  Staaten,  ganz  besonders  auch  für  die 
Schweiz,  wäre  eine  Revision  der  Artikel  9  und  10  des  Brüsseler 
Schiassprojektes  über  die  Verwendung  von  Frei- 
schaaren,  Landsturm  und  Volksbewaffnung 
angezeigt,  worüber  der  jetzige  Wortlaut  dieser  Artikel 
mannigfache  Zweifel  lässt.  Der  spanisch  -  amerikanische 
Krieg  hat  es  wieder  gezeigt,  dass  heutzutage  mehr  noch, 
als  früher,  Freiwillige  neben  den  sogenannten  stehenden 
Armeen,  oder  der  gewöhnlichen  Miliz  Verwendung  finden; 
der  Begriff  «stehende  Armee»  ist  überhaupt  durch  die 
allgemeine  Dienstpflicht  ein  obsoleter  geworden.  Es  hat  auch 
keinen  Grund,  alle  Beschränkungen  festzuhalten,  welche  in 
Artikel  10  des  Projekts  genannt  sind  und  im  Anwendungsfalle 
unmöglich  zur  Ausführung  gelangen  könnten,2)  sondern  es  sollte 

Stellung,  um  nur  einige  Hauptpunkte  noch  zu  erwähnen,  die  mit 
dem  Seekriegsrecht  in  Verbindung  stehen. 

()  Es  hat  keinen  rechten  Sinn,  dass  Tb  eile  grosser  und  sehr 
humanitärer  Verkebrsanstalten,  wie  das  rollende  Material  der  Eisen- 
bahnen dauernd  erbeutet  werden  dürfen,  sofern  es  Staatsbahnen 
sind,  andere  Thcile  dagegen  nicht  ohne  Gebietsübergang,  und  es  dürfte 
das  Recht  des  Erbeuters  füglich  auf  diezeitweiligeBenutzung 
der  Bahnen  und  sonstigen  Transportanstalten  jeder  Art,  inclusive 
Telegraph  und  Telephon,  unter  Verpflichtung  zu  gehöriger  Unterhaltung 
und  Rückgabe  hei  dem  Friedensschlüsse,  eingeschränkt  werden. 

*)  Wie  wäre  es  z.  B.  möglich,  im  einzelnen  Falle  zu  entscheiden, 
ob  Jemand  «freiwillig»,  bei  «Annäherung»  des  Feindes  zu  den 
Waffen  gegriffen  hat,  oder  erst  später,  als  das  Gehiet  schon,  theil- 
wetse  wenigstens,  besetzt  war.  Die  Freiwilligkeit  würde  durch  jeden 

6 


82  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

einfach  gesagt  werden,  dass  alle  Streitkräfte  eines  Staates 
als  Kriegführende  (belligerants)  im  Sinne  des  Kriegsrechtes 
angesehen  werden,  die  unter  dem  regelmässigen  Oberbefehl 
des  Staates  stehen,  nach  den  Bestimmungen  des  Art.  9  als 
Kriegführende  auf  Distanz  erkennbar  sind,  und  sich  selbst 
kriegsmässig  verhalten.  Wobei  natürlich  die  Kriegsrebellion 
in  bereits  vom  Feinde  formlich  besetzten  Gebieten  ausge- 
schlossen bleiben,1)  in  Bezug  dagegen  auf  distinktive  Abzei- 
chen, verantwortliche  Führung  und  offenes  Waffentragen  die 
Bestimmungen  des  Artikels  9  bestehen  bleiben,  oder  revidirt 
werden  könnten,  wenn  ein  Bedürfniss  dazu  sich  zeigen  sollte. 

Durch  eine  solche  Revision  könnte  indirekt  auch  die 
Kaperfrage  gelöst  werden,  insofern  nämlich  die  Seebeute 
von  feindlichem  Privateigen thum  ausgeschlossen  wird.  Denn 
dann  sind  Kaperschiffe,  als  Freiwilligen-Corps  zur  See,  und 
unter  den  ganz  gleichen  Voraussetzungen  des  Landkriegs- 
rechts,  zur  Unterstützung  der  regulären  Seemacht  sehr  wohl 
denkbar  und  für  kleinere  Seestaaten  in  einem  längeren  Kriege 
sogar  unentbehrlich ;  der  jetzige  Ausschluss  geht,  unter  dieser 
Voraussetzung,  zu  weit. 

Eine  besonders  wichtige  Frage  würde  die  Ausdehnung 
der  Petersburger-Konvention  auf  neue  Kriegs- 
mittel, Torpedo's,  Dum-Dumkugeln,  Explosivkugeln  von  gros* 
serer  Wirksamkeit  als  die  bisherigen,  unterseeische  Torpedo's, 
Rammvorrichtungen  der  Schiffe  etc.  bilden,  wobei  wir  freilich 
keinen  erheblichen  Glauben  an  solche  Verbote  besitzen,  denn 

Aufruf  der  Staatsbehörde  zum  Ergreifen  der  Waffen,  unter  An- 
drohung vielleicht  von  Strafen,  aufhören,  und  ebenso  ist  die 
Klause]  «ohne  Zeit  zur  Organisation  in  Freiwilligenkorps  gehabt 
zu  haben»  z.  B.  mit  unserem  seither  erlassenen  Landsturmgesetz  un- 
vereinbar, das  Jedermann  den  Eintritt  in  den  Landsturm  offenstellt. 
*)  Vgl.  hierüber  einen  Aufsatz  des  Verfassers  in  den  «Blättern 
für  Kriegsverwaltung»  1887. 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  83 

diese  Kriegsmittel  lassen  sich  nicht  ganz  beseitigen  und 
worden  für  schwächere  Staaten  stets  daß  Mittel  einer 
gewissen  Ausgleichung  der  Kräfte  bilden.  Immerhin  wäre 
dies  doch  möglicher,  als  eine  allgemeine  Abrüstung,  oder  eine 
Kontingentirung  der  gegenseitig  erlaubten  Streitkräfte,  die 
eine  reine  Utopie  sind. 

Aach  die  Beschränkung  der  Spionage  imFrieden, 
welche  bereits  so  seltsame  Blüthen  gezeitigt  hat,  die  keinem 
Staate  zum  Yortheil  gereichen,  wäre,  wenigstens  als  Gegen- 
stand der  Bcrathung  denkbar,  ebenso  der  Ausschluss  von 
Bestimmungen  über  die  Anwendung  des  Kriegsrechtes  auf 
Frauen  und  Minderjährige,  und  eine  nähere  Fest- 
stellung des  geltenden  Rechtes  mit  Bezug  auf  Luft- 
schiffer, Kriegskorrespondenten  und  andere  der  Armee 
Attachirte. 

Wir  sind  der  Meinung,  dass  eine  solche  Codifizimng 
des  gesammten  Kriegsrechts  zu  den  grössten  möglichen 
Fortschritten  im  Sinne  der  Friedensidee  gehören  würde. 
Vorläufig  handelt  es  sich,  wie  schon  gesagt,  darum,  das 
Mögliche  und  Thunliche  zu  erreichen  und  das  liegt 
darin,  den  Krieg  zu  beschränken,  und  so  weit  es  sich  mit 
seinem  Zwecke  überhaupt  verträgt,  zu  humanisiren. 

Geht  man  über  das  hinaus,  so  wird  man  zwar  zu  «hoch- 
achtbaren» Ideen  und  Proklamationen  gelangen,  die  in  der 
Geschichte  der  Menschheit  einen  trügerischen  Schimmer  von 
Humanität  eines  gewissen  Zeitalters  hinterlassen  können, 
praktisch  aber  das  Resultat  des  Berliner-Arbeiterschutz- 
kongresses haben,  welcher  eine  Anzahl  von  Verbesserungen 
als  «wünschen s wer th>  bezeichnete,  wobei  es  bis  zum  heutigen 
Tag  sein  Verbleiben  gehabt  hat.1) 

*)  Vgl.  darüber  politisches  Jahrbuch   Band   V,  pag.  653.     Die 
Verhandlungen  über  diesen  Kongress  sind  vollständig  in  diesem 


84  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

HL 

Die  wichtigste  Frage  für  die  kleineren  Staaten  ist  im 
gegenwärtigen  Momente  die  Verstärkung  ihrer  militärischen 
Kraft  und  die  Sicherung  ihrer  Unabhängigkeit  gegenüber 
direkter  oder  indirekter  Vergewaltigung,  oder  auch  nur  Ein- 
beziehung in  gewisse  Macht-  oder  Einflusssphären.  Es  ist 
offenbar,  dass  diess  letztere  einigermassen  in  der  Zeit  liegt  und 
bereits  seine  Präzedentien  nicht  bloss  in  Afrika  und  China, 
Bondern  auch  in  Europa,  namentlich  auf  der  Balkan- 
halbinsel hat.  Ebenso  hat  die  Idee  des  Wiener-  und  Aachener- 
Kongresses,  dass  es  einer  bestimmten  Anzahl  von  Staaten 
zuBtehe,  eine  Art  Ueberwachungscomite*  für  den  europäischen 
Frieden  zu  bilden,  neuerdings  Gestalt  gewonnen,  indem  die 
alten  fünf  Grossmächte,  in  etwas  erneuter  Gestalt  und  um 
Eine  vermehrt,  wieder  handelnd  aufgetreten  sind.  Demgegen- 
über ist  es  für  die  kleineren  Staaten  crspriesslich,  Stellung 
zu  nehmen  und  einerseits  neuerdings  zu  betonen,  dass  nach 
dem  modernen  Völkerrecht  alle  souveränen  Staaten  gleichen 
Ranges  Bind  und  keiner  Bevormundung  unterliegen,  andrer- 
seits diese  ihre  Stellung  zu  sichern.  Die  Mittel  hiezu  sind 
—  ausser  der  Kriegsrüstung  —  die  bundesstaatliche  Organi- 
sation und  die  ewige  Neutralität. 

Der  Zusammenschlii8s  mehrerer  kleinerer  Staaten  zu 
einem  Bundesstaat  ißt  natürlich  nicht  in  allen  Fällen 
möglich,  beispielsweise  könnte  die  Schweiz  sich  nirgends 
mehr  anschliessen,  sondern  hat  das  höchst  Erreichbare  in  dieser 
Richtung  bereits  geschaffen.  Ebenso  ist  diess  von  andern  bereits 


Bande,  von  pag.  633  ab  zu  finden.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass 
der  Haager-Congress  sich  auch  in  ähnlicher  Weise  auflösen  wird, 
wenn  man  nicht  von  vornherein  sein  Programm  richtig  limitirt. 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  85 

bestehenden  Bundesstaaten,  wenn  man  diese  Beispiele  über- 
haupt herbeiziehen  will,  bei  Deutschland  der  Fall,  dagegen 
nicht  bei  Amerika,  das  noch  einer  grossen  Angliederung  von 
neuen  Gebieten  fähig  ist,  ebenso  nicht  bei  England  und 
Oesterreich,  welche  der  bundesstaatlichen  Organisation  sichtbar 
entgegenwachsen,  während  Russland  soeben  im  Begriffe  steht, 
die  letzten  Spuren  einer  solchen  gegenüber  Finnland  zu  be- 
seitigen. 

Im  Ganzen  ist  der  Bundesstaat  die  Staatsform  der  Zu- 
kunft. Denn  sie  allein  gestattet  es  den  Menschen,  in 
kleineren  Staatsformen  sich  ihren  Bedürfnissen  gemäss  wohl 
zu  fahlen,  was  in  einem  grossen  Staate  ohne  Verletzung 
einzelner  Volkstheile,  die  dann  in  ihrer  speziellen  Entwick- 
lung zurückbleiben,  niemals  möglich  ist  —  ohne  dass  damit 
die  Kraft  des  Staates  nach  Aussen  geschwächt  wird,  und 
die  mannigfachen  Nachtheile  der  «Kleinstaaterei»  eintreten. 
Diese  Möglichkeit,  sich  der  Vortheile  des  Grossstaates  und 
des  Kleinstaates  bis  auf  einen  gewissen  Grad  gleichzeitig 
zu  erfreuen,  hat  dieser  Staatsform,  welche  vor  1848  nur 
einen  einzigen  Repräsentanten  in  der  Welt  besass  und  dem 
ganzen  Alterthum  so  zu  sagen  unbekannt  war1),  eine  immer 
noch  steigende  wissenschaftliche  Anerkennung  und  eine  noch 
bedeutendere  thatsächliche  Zukunft  verschafft. 

Es  gehören  dazu  aber  nothwendig  bereits  einigermassen 
civilisirte  Staaten  mit  einer  sehr  ruhigen  und  politisch  ge- 
bildeten Bevölkerung,  die  das  notwendige  Gleichgewicht 
zwischen  der  Zusammenfassung  nach  Aussen  und  der  Frei- 
heit nach  Innen  stets  mit  fester  und  sicherer  Hand  aufrecht 
zu  halten    versteht.     Denn    etwas   Schwankendes,    einerseits 


*)  Vgl.  hierüber  den  Aufsatz   «der  Achäische  Bund»    im   Jahr- 
buch VII,  334. 


86  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

nach  der  natürlichen  Staatseinheit,  andrerseits  nach  dem 
lockerern  «Staatenhund»  Tendirendes  behalt  der  Bundesstaat 
immer;  auch  eine  ganz  feste  Regel  für  die  Vertheilung  der 
Staatsgewalt  auf  den  Gesammtstaat  und  die  Einzelstaaten 
«riebt  es  jetzt  nicht  und  nirgends,  und  wird  es  nie  geben. 
Nur  das  wird  man  sagen  können,  ans  bisheriger  Erfah- 
rung, dass  die  diplomatischen  Verhältnisse  und  das  Militär- 
wesen stark  zentralisirt  sein  müssen ,  auch  für  eine 
bundeBgerichtliche  Entscheidung  in  staatsrechtlichen  Streitig- 
keiten und  wichtigeren  Civil-  und  Strafsachen  gesorgt  sein 
muBS,  während  die  kirchlichen  Angelegenheiten,  die  Schule, 
die  innere  Verwaltung,  die  direkten  Steuern  und  ein  wesent- 
licher Theil  der  Justiz  ohne  Schaden  der  Bestimmung 
der  Einzelstaaten  überlassen  bleiben  können.  In  wieweit  dann 
die  sogenannten  Volksrechte,  Referendum  und  Initiative,  als 
Regulatoren  dieses  gegenseitigen  Besitzstandes  herbeigezogen 
werden  sollen,  oder  ob  der  Parlamentarismus  in  einem 
solchen  zusammengesetzten  Staate  das  allein  Richtige  ist, 
ob  die  Regierungen  vom  Volke  gewählt  werden  müssen, 
und  welchen  Einfluss  überhaupt  die  neuen  sozialen  Fragen 
auf  diese  Staatsgestaltungen  haben  werden,  das  gedenken 
wir  später  einmal  auseinanderzusetzen;  es  wird  das  auch 
nicht  in  jedem  Bundesstaate  ganz  gleich  zu  halten  sein. 
Die  richtige  Verbindung  des  Parlamentarismus  mit  dem  Re- 
ferendum und  der  Initiative  zu  finden,  das  ist  gerade  jetzt 
die  brennendste  Frage  im  schweizerischen  Bundesstaatsrecht, 
worüber  die  Meinungen  noch  sehr  getheilt  sind.  Dagegen 
scheint  uns,  entgegen  der  jetzt  geltenden  deutschen  Theorie, 
die  Frage  liquid,  dass  der  Bundesstaat  eine  «Theilung  der 
Souveränität!  nothwendig  voraussetzt,  wenn  er  nicht  bloss 
Schein  sein  soll,  oder  die  Praxis  der  Theorie  absolut 
widersprechend,    wie   es   in  Deutschland    der  Fall   ist.     Der 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  87 

Einzelstaat  in  einem  Bundesstaat  kann  nicht  bloss  Au- 
tonomie besitzen,  oder  bloss  ein  «staatenähnliches  Gebilde», 
oder  gar  ein  «Staat  ohne  Souveränität»  sein;  das  sind 
alles  Begriffe,  die  man  aufstellen  kann,  wie  «chinesische 
Pachtverträge»,  die  aber  in  Wirklichkeit  anders  aussehen. 
Ebensowenig  natürlich  können  die  Calhoun'schen  Ideen  über 
freie  Sezession,  oder  « Nullification »  der  Bandesbeschlüsse 
durch  die  Einzelstaaten  jemals  wieder  Bandesstaatsrecht 
werden,  sondern  sie  sind,  wie  Präsident  Gariield  es  sagte, 
durch  den  höchsten  Gerichtshof  des  KriegB  für  immer  ab- 
gethan  und  erledigt;  die  Einzelstaaten  müssen  sich  jedenfalls 
der  bundesmftssigen  Entscheidung  fügen.  Es  ist  übrigens  auch 
hierin  stets  nach  beiden  Seiten  hin  gesorgt,  dass  die  Bäume 
nicht  in  den  Himmel  wachsen.  Ohne  eine  gewisse  Rechnung 
auf  den  gesunden  Menschenverstand  der  Mehrheit  in  einem 
gebildeten  Staate  ist  überhaupt  kein  Staatsrecht,  am  wenig- 
sten ein  Bundesstaatsrecht  möglich.  Ob  dann  die  Einzel- 
staaten sich  ihre  Rechte  in  der  Verfassung  förmlich  reser- 
viren  sollen  (dass  diess  nicht  durch  einen  eigentlichen 
Vertrag  geschehen  kann,  ist  selbstverständlich),  so  dass  diese 
Rechte  bestimmt  aufgezählt  sind,  wie  wir  es  in  der  zweiten 
helvetischen  Verfassung  hatten,  und  wie  es  im  Ganzen  das 
deutsche  System  ist,  oder  ob  sie  eine  Art  von  historischer 
Präsumtion  als  Erstgeborene  und  zuerst  dagewesene  Staaten 
geltend  machen  sollen,  die  natürlich  im  einzelnen  Falle 
bundesmässiger  Entscheidung  unterliegt  (wie  es  bei  uns  und 
in  Amerika  der  Fall  ist),  das  ist  eine  rein  praktische  Frage. 
Immerhin  hat  die  Erfahrung  gezeigt,  dass  diese  Präsumtion 
mehr  dekorativ  ist  und  in  wichtigen  Angelegenheiten  nicht 
die  genügende  Widerstandskraft  besitzt. 

Das    geltende    Bundesstaatsrecht    ist    also    nach    ver- 
schiedenen  Richtungen   hin  der   Entwicklung    fähig;    es  ist 


88  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

überhaupt  eine  verhältnissmässig  sehr  neue  Wissenschaft, 
für  die  man  sich  nicht  auf  griechische,  römische,  oder  mittel- 
alterliche Vorbilder  berufen  kann,  und  die  selbst  in  den  be- 
stehenden Bundesstaaten  die  nöthige  Festigkeit  noch  nicht 
erlangt  hat.  Dagegen  kann  man  bereits,  auf  Erfahrung  gestützt, 
behaupten,  dass  der  Bundesstaat  eine  Staatsform  ist,  die  für 
alle  denkbaren  vernünftigen  Staatszwecke  mehr  Spielraum 
und  Entwicklungsfähigkeit  besitzt,  als  jede  andere. 

Welche  Staaten  sich  noch  für  den  Bundesstaat,  be- 
ziehungsweise den  bundesstaatlichen  Zusammenschluss  mit 
andern  eignen  würden,  ist  schwer  zu  bestimmen.  Im  gewöhn- 
lichen Falle,  der  die  Auflösung  eines  Einheitstaates  bedeutet, 
könnten  in  Europa  höchstens  Spanien,  Oesterreich  (im  engern 
Sinn)  und  Italien  sein,  nachdem  in  England  die  Gladstone'sche 
Homerule-Idee ,  die  im  Grunde  nichts  anderes  bedeutete, 
dahingefallen  ist.  Italien  würde  sich  zu  einem  Bundesstaat 
mit  starker  piemontesischer  Spitze  sogar  viel  besser  geeignet 
haben  als  zu  dem  jetzigen  Einheitsstaat,  wenn  nicht  Rom 
gewesen  wäre.  Ein  Bundesstaat  mit  einem  theokratisch 
organisirten  Einheitsstaat  in  der  Mitte,  dessen  Regent  zu- 
gleich das  geistliche  Oberhaupt  des  Gesammtstaates  und  noch 
weiterer  Staaten  ist,  das  würde  eine  Aufgabe  für  das  Bundes- 
staatsrecht gewesen  sein,  welche  dessen  Verdauungskraft,  die 
zwar  eine  sehr  starke  ißt,   wahrscheinlich  überstiegen  hätte. 

Ein  Zusammenschluss  mehrerer  bestehender  Einheits- 
staaten zu  einem  Bundesstaat  wäre  hingegen  denkbar  bei 
den  drei  skandinavischen  Staaten  (obwohl  dort  gegenwärtig 
eine,  zwar  schwer  begreifliche,  entgegengesetzte  Tendenz  be- 
steht), ferner  bei  Holland  und  Belgien,  die  sich  nie  hätten 
trennen  sollen,  vielleicht  bei  Spanien  und  Portugal,  und 
jedenfalls  unter  den   Balkanstaaten   nach  Auflösung   der  eu- 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  89 

ropäischen  Türkei, ')  die  dann  entweder  in  österreichische  und 
russische  «Interessensphären»  auseinanderfallen,  oder  den 
Bundesstaat  als  Rettungsanker  für  ihre  Selbständigkeit  er- 
greifen müssen.  Je  bälder  sie  es  thun  können,  desto  besser 
wird  es  für  sie  sein.  Das  Haupthinderniss  ist  dermalen  die 
europäische  Türkei  und  die  Art  und  Weise  ihrer  Liquidation, 
die  sich  nicht  durch  diese  Staaten  allein  vollziehen  wird. 

Die  Zukunftsstaatsform  der  gebildeten  Menschheit  sind 
kleine  Staaten,  nicht  grosse  Agglomerationen,  wie  sie  jetzt 
gerade  vorläufig  an  der  Tagesordnung  zu  sein  scheinen,  das 
ist  nur  ein  Uebergang.  Denn  am  Ende  ist  der  Staat  doch 
dazu  da,  damit  sich  die  Menschen  in  ihm  wohl  befinden  und  ihre 
individuellen  höchsten  Lebenszwecke  um  so  besser  erreichen 
können;  er  ist  um  ihretwillen,  nicht  sie  um  seinetwillen  ge- 
schaffen, und  Macht  ist  —  wie  sogar  Lassalle  es  uns  sagt  — 
nur  dann  das  höchste  Gut  des  Himmels,  «wenn  man  sie 
braucht  zu  einem  edeln  Zweck.»  Sonst  aber  ist  sie  eine 
blosse  Täuschung  der  Phantasie,  in  die  auch  edle  Völker 
zeitweise  verfallen,  namentlich  wenn  sie  die  ihnen  zukommende 
Machtstellung  lange  Zeit  vorher  schmerzlich  entbehrt  haben 
und  dieser  Gedanke  nun  mit  elementarer  Gewalt,  alles  Andere 
verdrängend,  an  die  Stelle  der  früheren  Bestrebungen  tritt. 
Sie  werden  zu  ihrer  «Jugend  Hütten»,  den  bessern  Idealen, 
wieder  zurückkehren,  wenn  die  richtige  Staatsgestaltung  ein- 
mal hinreichend  gewonnen  ist. 

*)  Die  Türkei  würde,  wenn  sie  überhaupt  ein  reformirbares 
Staatswesen  wäre,  auch  bundesstaatlich  reorganisirt  werden  müssen 
und  sollte  diess  in  diesem  Falle  selbst  den  Balkanstaaten  vorschlagen. 
England  müsste  ebenfalls  ein  Bundesstaat  werden,  wenn  es  nicht 
seine  sehr  freie  Colonial-Regierung  der  civilisirten  Colonien  hätte, 
die  das  einstweilen  noch  ersetzt.  Im  Grunde  aber  sind  die  nor- 
mannischen Inseln,  Man,  Ganada,  Australien  und  das  Gapland  nicht 
viel  Anderes,  als  Glieder  eines  Bundesstaats. 


90  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

Von  den  übrigen  Welttheilen  wird  ohne  Zweifei  ganz 
Amerika  und  ganz  Australien  vollständig  znr  republikanischen 
Bundesstaatsform  übergehen,  und  auch  in  Süd-  und  Mittel- 
afrika wird  dies  muthmasslich  geschehen/)  selbst  in  Asien 
hat  nun  die  Bundesstaatsform  durch  Amerika  starken 
Fus8  gefasst.  Es  ist  übrigens  einer  der  grössten  praktischen 
Vortheile  dieser  Staatsform,  den  sie  vor  jeder  anderen  vor- 
aus hat,  dass  sie  sowohl  die  republikanische,  wie  die 
monarchische  Staatsregierung,  ja  sogar,  wie  es  Deutschland 
und  die  Schweiz  bereits  zeigt,  eine  Mischung  von  ver- 
schiedensten Einrichtungen  der  obersten  Staatsgewalt  ohne 
ersichtlichen  Nachtheil  vertragt. 

IV. 

Die  aktuellste  völkerrechtliche  Frage  ist  vielleicht  der- 
malen die  der  «ewigen  Neutralität».  Denn  durch  eine 
solche  werden  sich  wahrscheinlich  in  nächster  Zukunft  auch 
noch  andere  mittelgrosse  Staaten,  ausser  den  drei  europäischen, 
welche  sie  besitzen  (Schweiz,  Belgien  und  Luxemburg),  gegen 
die  Gefahren  zu  decken  suchen,  die  ein  Krieg  in  Europa 
für  sie  herbeiführen  könnte,  oder  gegen  Zumuthungen,  denen 
sie  mit  Rücksicht  auf  einen  solchen  ausgesetzt  sein  könnten. 

Für  die  ganz  kleinen  Staaten  Europas  bestehen  keine 
vertragsmässigen,  oder  sonst  ausgesprochenen  Neutralitäts- 
verhältnisse; dieselben  sind  aber  in  Wirklichkeit  Protek- 
torate2), und  es  ist  geschichtlich  leicht  erkennbar,  dass  auch 


*)  Dort  ist  bloss  die  Frage  noch  offen,  ob  Ohm  Paul,  oder  Cecil 
Rhodes  an  die  Spitze  kommt. 

")  Die  allerkleinsten  Staaten  Europa's,  wie  Liechtenstein,  Monaco, 
Andorra,  San  Marino,  oder  das  neutrale  Gebiet  von  Moresnet  in 
der  Nähe  von  Aachen  kommen  daher  dabei  nicht  in  Betracht 
Augenblicklich  ist  auch  Kreta  nun    ein  solches  europäisches  Pro- 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  91 

diu  ewige  Neutralität,  wo  sie  besteht,  aus  ähnlichen  Gesichts- 
punkten hervorgewachsen  ist  und  sich  nur  im  Laufe  der  Zeit 
zu  einem  selbständigen  völkerrechtlichen  Begriff  entwickelt  hat. 

Was  die  schweizerische  Eidgenossenschaft 
anbelangt,  deren  Neutralitätsakte  die  historisch  erste  und  das 
Vorbild  der  anderen  beiden  gewesen  ist,  so  handelte  es  sich  in 
den  Jahren  1814  und  1815  zunächst  darum,  das  französische 
Protektorat,  unter  welches  sie  nach  der  helvetischen  Revolutions- 
zeit durch  die  Mediation  von  1803  gerathen  war,1)  durch  ein 
europäisches  zu  ersetzen,  ähnlich  wie  diess  jetzt  etwa  gegen- 
über Griechenland  der  Fall  ist,  und  ein  geheimer  Artikel 
dos  ersten  Pariser  -  Friedens  von  1814  enthielt  darüber 
Näheres,  neben  der  allgemeinen  Erklärung  in  Artikel  6  dieses 
Friodensinstruments. 

Ueber  die  Ausführung  sind  erst  in  neuerer  Zeit  Projekte 
bekannt  geworden,  welche  sowohl  die  Schweiz,  als  Holland 
dem  damals  zu  erstellenden  deutschen  Bunde  in  irgend  einer 
Form  angliedern  wollten.2)    Eine   Denkschrift   des  englisch- 


tektorat.  Die  Verhältnisse  des  konventionellen  Kongobeckens  und 
des  Kongostaats  nach  dem  Vertrag  von  1885,  sowie  der  Samoa-, 
Tonga-  und  Savagc-lnseln  nach  den  Verträgen  von  1886  und  1889 
sind  auch  nicht  das  Nämliche,  wie  die  ewige  Neutralität  der  drei 
europäischen  Staaten.  Andere,  eigentlich  vertragsmässig  festgestellte 
ewige  Neutralitäten,  die  früher  vorhanden  waren,  bestehen  nicht 
mehr.  Einzig  die  jonischen  Inseln,  wenigstens  Gorfu  und  Paxo, 
haben  noch  eine  Zusicherung  durch  die  alten  5  Grossmächte  vom 
14.  Nov.  1863  und  29.  März  1864,  welche  auch  bei  der  Blocade 
von  1887  und  dem  Kriege  von  1897  respektirt  worden  ist. 

1)  Vgl.  hierüber  politisches  Jahrbuch,  Band  1,  «Unter  dem  Pro- 
tektorat-, 1886. 

2)  Vgl.  Wilhelm  Adolph  Schmidt,  «Geschichte  der  deutschen  Ver- 
tasungsfrage  während  der  Befreiungskriege  und  des  Wiener  Kon- 
gresses 1812—1815,»  herausgegeben  von  Prof.  Stern  1890. 


92  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

hannoveranischen  Grafen  Münster  vom  5.  Januar  1813  (pag. 
48,  99)  sagt :  c  Rien  ne  donnerait  plus  de  stabilitä  &  ce 
Systeme  de  defense,  qne  de  savoir  reunir  la  Suisse  et  la 
Hollande.  Ces  deux  pays  flanqueraient  comme  deux  grandes 
bastions  la  frontiere  de  rAllemagne  vers  la  France.»  Dem- 
zufolge sollten  dieselben  dann  auch  in  dein  zu  errichtenden 
Bundes-Direktorium  vertreten  sein  (pag.  140).  Der  preus- 
sische  Vertreter  Wilhelm  von  Humboldt  wollte  sich  dagegen 
in  einem,  schon  früher  von  Oncken  veröffentlichten,  Memoire 
an  Stein  mit  der  Unabhängigkeit  dieser  beiden  Bastionen 
begnügen,  dagegen  wird  diese  «Unabhängigkeit»  in  einem 
früher  ebenfalls  unbekannten  «Memoire  preparatoire»  vom 
April  1814   wie  folgt  näher  präzisirt: 

«Die  von  der  der  deutschen  Staaten  völlig  verschiedene 
Verfassung  dieser  beiden  Länder  gestattet  ihnen  augen- 
scheinlich nicht;  am  Bunde  eigentlich  theilzunehmen.  Aber 
es  wäre  möglich  und  äusserst  nützlich,  sie  durch  ewige 
Allianzverträge  mit  Deutschland  in  innigerer  und  speziellerer 
Weise  zu  verbinden,  als  es  die  andern  europäischen  Mächte 
sein  werden.»  In  Bezug  auf  Holland  wäre  ein  kombinirtes 
Festungsystem  die  Hauptsache.  «Die  Schweiz  wird 
nicht  leicht  ihr  Neu  tralität  ssystem  aufgeben, 
undmankönnte  es  sogar  durch  denzn  schliessen- 
denVertragauf  ewig  sanktioniren,  vorausgesetzt, 
dass  sie  sich  verpflichtet: 

a)  in  jedem  Kriegsfall  zwischen  dem  deutschen  Bund 
und  Frankreich  ihre  Gränzen  mit  einer  bestimmten  Truppen- 
zahl zu  besetzen,  um  jede  Verletzung  ihres  Gebietes  wirk- 
sam zu  vermeiden; 

b)  dass  sie  ein  für  allemal  eine  gewisse  Truppenzahl  in 
deutschen  Sold  gebe  und  verspreche,  sie  im  Kriegsfall  zn 
vermehren.  Da  es  Hollands  beständige  Sitte  war,  fremde 
Truppen  in  Sold  zu  nehmen,  und  die  der  Schweiz,  solche  zu 
geben,  so  könnte  das  erstere  Deutschland  eine  bestimmte 
Geldsumme  für  die  deutschen  Truppen  bezahlen,  welche  einen 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  93 

Thell  der  Garnisonen  der  holländischen  Festungen  bilden 
würden,  und  diese  selbe  Summe  könnte  Deutschland  zur  Be- 
zahlung der  Schweizertruppen  dienen; 

c)  dass  sie  auf.  das  Recht  verzichten  würde,  irgend  einer 
andern  Regierung  Truppen  in  Sold  zu  geben.» 

In  dem  Verfassungsplan  des  Hildburghausen'schen  Ge- 
heimraths  Schmidt,  aus  dessen  Nachlass  diese  Aufzeichnungen 
zum  Theil  herrühren,  war  ebenfalls  ein  solcher  Anschluss 
der  Schweiz  an  den  deutschen  Bund  vorgesehen;  ebenso 
in  einer  damaligen  Flugschrift  «Deutschlands  Wiedergeburt» 
und  in  einem  Hardenberg'schen  Entwurf. 

Doch  ist  davon  der  Schweiz  niemals  irgend  eine  offi- 
zielle, oder  halboffizielle  Mittheilung  gemacht  worden,  und 
beruhten  diese  Projekte  sämmtlich  auf  der  Voraussetzung  ihres 
freiwilligen  Beitritts,  an  den,  selbst  unter  den  damali- 
gen Umständen,  im  Ernste  kaum  zu  denken  gewesen  wäre. 

Uebrig  blieb  davon  der  Anschluss  des  Königs  von  Holland 
für  sein  Nebenland  Luxemburg  an  den  deutschen  Bund, 
welcher  erst  in  unseren  Tagen  durch  das  Londoner-Protokoll 
von  1867  aufgehört  hat. 

Die  ewige  Neutralität  der  Schweiz  und  die  Unverletz- 
lichkeit ihres  Gebiets  wurde  dann  bei  Anlass  des  zweiten 
Pariser-Friedens  durch  eine  von  den  acht  eigentlichen  Kon- 
gressmächten unterzeichnete  identische  Garantieerklärung 
festgestellt,  deren  wirklicher  Autor  der  schweizerische  Ab- 
geordnete Pictet  de  Rochemont  von  Genf  war.*) 

Eine  weitere  Diskussion  über  dieselbe    hat    niemals    an 


l)  Vgl.  hierüber  und  über  alles  Weitere  die  1889  bei  Anlass 
des  sogenannten  «Wohlgemuthhandels»  deutsch  und  französisch  er- 
schienene Broschüre  des  Verfassers  dieses  Aufsatzes:  «Die  Neu- 
tralität der  Schweiz  in  ihrer  heutigen  Auffassung»,  die  alles 
Wesentliche,  ausser  den  oben  zitirten  Schmidt'schen  Akten,  enthält. 


94  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

einem  spateren  Kongresse  stattgefunden,  und  man  darf  auch 
nach  neueren  und  neuesten  Erklärungen  benachbarter  Mächte 
annehmen,  dass  darüber  in  diplomatischen  und  militärischen 
Kreisen  massgebender  Art  kein  Zweifel  bestehe.1) 

Dagegen  lassen  allerdings  die  völkerrechtlichen 
Darstellungen  der  ewigen  Neutralität  noch  sehr 
zu  wünschen  übrig,  und  es  sind  sogar  über  die  historische 
Entstehung  derselben,  selbst  bei  sehr  namhaften  Schriftstellern 
erhebliche  Irrthümer,  nicht  bloss  Lücken,  vorhanden.2) 

Es  rührt  das  zum  Theil  daher,  dass  das  Neutralitäts- 
recht überhaupt  ein  ziemlich  neues  Kapitel  des  Völkerrechtes 
ist,  und  die  «ewige  Neutralität»  vollends    vor   diesem  Jahr- 


J)  Vgl.  hierüber  und  über  den  augenblicklichen  Versuch  einer 
Bezweifelung  in  den  Jahren  1848  und  1889  obige  Broschüre  pag. 
48 — 54;  auf  pag.  52  ist  ein  förmliches  Anerkennungsschreiben  des 
Grafen  Bismarck  von  1870 abgedruckt;  die  bisher  nicht  publizirten 
Depeschen  der  Wohlgemuthsache  sind  in  dem  politischen  Jahr- 
buch von  1889  pag.  486  alle  genannt.  Vgl.  darüber  auch  Band  IU, 
757  und  IV.  477—510  und  folg. 

Spätere  Anerkennungen  sind  enthalten  in  einer  Rede  des 
Reichskanzlers  von  Gaprivi  im  deutschen  Reichstag  vom  23.  Nov. 
1892.  Ebenso  hat  sich  der  französische  Kriegsminister  Frey  einet 
im  März  dieses  Jahres  geäussert.  Auch  in  Moltke's  militärischer 
Korrespondenz  ist  die  Ueberzeugung  ausgesprochen,  dass  die 
Schweiz  im  Kriegsfall  ihre  Neutralitat  mit  den  Waffen  aufrecht  er- 
halten werde,  worüber  überhaupt  kein  Zweifel  möglich  ist. 

2)  Galvo  in  seinem  bekannten  Werke  Bd.  111  enthält  über  die 
schweizerische  Neutralität  derartige  Irrthümer,  z.  B.  den  (p.  445), 
dass  Napoleon  I.  von  1803—1813  die  schweizerische  Neutralität  ge- 
treulich respektirt  habe.  Ebenso  behandelt  er  es  als  eine  Anmas- 
suug  der  Schweiz,  die  Abtretung  Savoyens  von  1860  nicht  sogleich 
anerkannt  zu  haben.  «La  Gonfederation  eut  la  Prätention  de  ne 
pas  aeeepter  les  consequences  du  vote  populaire,  gui  avait  ratifie 
l'annexion.»  (IU,  447.) 


V 

\ 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  95 

hundert  kein  praktisches  Beispiel  aufzuweisen  hatte.  Es 
findet  sich  daher  nirgends  in  einem  bekannten  Lehrbuch  des 
Völkerrechts  eine  recht  eingehende  Beleuchtung  dieses  Ver- 
hältnisses, sondern  es  ist  dieselbe  in  der  oben  zitirten  Bro- 
schüre von  1889  zum  ersten  Male  versucht  worden.1) 

1.  Die  ewige  Neutralitat  theilt  ohne  Zweifel  die  Natur 
einer  gewöhnlichen  Neutralität  für  den  einzelnen  Fall  inso- 
weit, dass  sie  auch  Pflichten  in  sich  schliesst,  und  dass  auch 
ihr  Recht  von  der  Beobachtung  dieser  Pflichten  abhängig 
ist.  Man  darf  daher  namentlich  gewiss  nicht  annehmen,  dass 
sie  ein  einfaches  Ruhekissen,  oder  ein  Stück  «ewigen  Friedens» 
in  dem  Sinne  sei,  dass  der  ewig  Neutrale  nichts  zu  ihrer 
Verteidigung  zu  thun  habe,  sondern  sein  Militärwesen  vernach- 
lässigen, oder  gänzlich  aufgeben  dürfe.  In  diesem  Falle  würde 
er  thatsächlich  seine  Souveränität  aufgeben  und  ein  Protek- 
toratsgebiet eines,  oder  mehrerer  Staaten  werden.  Er  muss 
also,  wenn  die  garantirte  ewige  Neutralität  sich  von  einem 
Protektoratsverhältniss  unterscheiden  soll,  sein  Aensserstes 
zur  Behauptung  der  Neutralität  und  zur  Erfüllung  der  ge- 
wöhnlichen Pflichten  derselben,  wie  sie  jedes  Lehrbuch  des 
Völkerrechtes  enthält,  leisten;  diese  Pflichten  können  auch 
bei  ihm  keine  anderen,  und  namentlich  nicht  geringere 
sein,  als  bei  einem  bloss  für  einen  einzelnen  Fall  neu- 
tralen Staat.  Die  ewige  Neutralität  unterscheidet  sich 
überhaupt  von  der  gewöhnlichen  nur  dadurch,   dass   sie   eine 

*)  Selbst  Rivier,  dem  die  Sache  am  nächsten  liegt,  enthält  nur 
einen  ganz  kurzen  Passus  in  zwei  Anmerkungen,  auf  p.  419  und 
337  seines  Lehrbuches  von  1889.  Grotius  sagt  bekanntlich  noch 
nichts  Ober  die  Neutralität,  sie  kommt  erst  bei  Bynkersboek  zur 
Sprache.  Ueber  die  ältere  Litleratur  dieses  Jahrhunderts  in  Bezug 
auf  die  schweizerische  Neutralität  vgl.  die  Sammlung  Helvetia  I 
547.  Eine  neueste  bezügliche  Schrift  ist :  «  Die  strategische  Bedeu- 
tung der  Schweiz»  von  Oberst  Weber  1898. 


96  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

präsumtive,  Ein  für  alle  Male  erklärte  ist,  während 
jeder  andere  Staat  sich  in  jedem  Kriegsfalle  anderer,  besonders 
benachbarter  Mächte  erst  zu  entschliessen  hat  und  entschliessen 
kann,  ob  er  neutral  bleiben  wolle  oder  nicht.  Sie  enthält 
somit  allerdings  einen  Verzicht  auf  ein  Souveränitätsrecht, 
der  Ein  für  alle  Male  ausgesprochen  ist;  die  benachbarten 
Staaten,  denen  daran  etwas  liegt,  können  sich  darauf 
verlassen,  dass  der  ewig  neutrale  Staat  in  jedem  ihrer 
Kriege  neutral  bleiben  und  seine  Neutralität  mit  den 
Waffen  nach  Kräften  aufrecht  erhalten  werde.  Insofern, 
aber  auch  nur  insofern,  ist  es  richtig,  was  dem  Vernehmen 
nach  ein  dänischer  Kriegsminister  in  einer  Rede  in  einem 
Arbeiterverein  vor  Kurzem  behauptete,  die  «nationale  Selb- 
ständigkeit der  ewig  neutralen  Staaten  sei  beeinträchtigt, 
während  seine  weitere  Behauptung,  dieses  Verhältniss  sei  der 
Schweiz  und  Belgien  aufgezwungen  worden  und  liege  bloss  im 
Interesse  der  benachbarten  Mächte,  einer  der  vielen  historischen 
Irrthümer  ist,  denen  man  in  dieser  Sache  begegnet.  Die 
ewig  neutralen  Staaten  verzichten  auf  ihr  Kriegsrecht,  na- 
mentlich auf  das  Recht  des  Angriffskrieges  (worüber  noch 
weiter  zu  sprechen  sein  wird)  und  sie  haben  daher  das  Recht, 
weil  sie  etwas  von  ihren  SouveränitätBrechten  der  Idee  des 
ewigen  Friedens  und  der  Sicherheit  ihrer  Nachbarstaaten 
opfern,  umsomehr  von  denselben  pünktliche  Respektirung 
dieser  durch  eine  wesentliche  Gegenleistung  erkauften  Neu- 
tralität zu  erwarten.  Denn  es  muss  für  jeden  Staat  wichtig 
sein  zu  wissen,  dass  er  auf  alle  Fälle  hin  von  dieser  Seite 
her  vor  Angriff,  oder  sonstiger  Benachtheiligung  sicher  ist, 
und  diese  Gränzlinie  fremder  Hut  anvertrauen  kann. 

2.  Die  Garantie  fremder  Staaten  für  die  ewige  Neu- 
tralität, oder  eine  formliche  vertragsmftssige  Anerkennung 
derselben   durch    einen    europäischen    Kongress,    oder   durch 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  97 

einzelne  Erklärungen  Anderer  gehört  an  nnd  für  sich  nicht 
nothwendig  zur  ewigen  Neutralität,  obwohl  thatsachlich  eine 
solche  ohne  solche  Formen  dermalen,  wenigstens  in  Europa, 
nicht  besteht1).    Aber  es  könnte  keinem  selbständigen  Staate 

• 

Terwehrt  werden,  so  gut  wie  er  in  jedem  einzelnen  Falle 
eines  Krieges  Dritter  seine  Neutralität  erklären  kann,  oder 
auch  ohne  Erklärung  als  neutral  angesehen  wird,  solange  er 
sich  wirklich  neutral  verhält,  in  einem  Zirkular  an  aäm rat- 
liche Mächte  diesen  Entschluss  Ein  fiir  alle  Male  kund  zu 
thun.  Man  müsste  auch  das  als  ein  Recht  dieses  Staates 
respektiren,  so  gut  wie  man  seine  Neutralitätserklärung  für 
jeden  besonderen  Fall  zu  beachten  hat. 

Es  ist  kein  Grund  denkbar,  der  es  einem  Staate  gestatten 
könnte,  die  Erklärung  ewiger  Neutralität  von  Seite  eines 
andern  zu  beanstanden.  Insofern  können  also  alle  Staaten 
ohne  weitere  Umstände  sich  ewig  neutral  erklären,  und  sie 
werden  sogar,  wenn  sie  diesen  Entschluss  den  übrigen  Mächten 
notHiziren,  eine  nach  gewöhnlichen  diplomatischen  Höflichkeits- 
regeln abgefasste  Empfangsanzeige  zu  erwarten  berechtigt 
sein,  die  eine  Art  von  Anerkennung  enthalten  wird.  Immer- 
hin ist  ein  solcher  Fall  noch  nicht  vorgekommen  und  die 
allgemeinere  Meinung  bisher  die  gewesen,  dass  eine  ewige  Neu- 
tralität eine  Art  von  zweiseitigem  Vertrag  zwischen  dem 
aeutralisirten Staate  und  den  Garanten  der  Neutralität  sei. 
Diese  Anschauung  kommt  aber  offenbar  nur  daher,  weil  man 
bisher  thatsachlich  eine  nicht  garantirte  ewige  Neutralität 
nicht  gekannt  hat.    Eine  solche  ist  aber  völlig  denkbar. 

Eine  formliche  Garantieerklärung  seitens  Dritter  ist  zwar 
ein  nützliches  und  auch  bisher   gewöhnliches  Accedens,  aber 


1 )  Nor  bei  den  jonischen  Inseln  ist  die  Garantie  nicht  aus- 
drücklich ausgesprochen,  sondern  Mos  die  Anerkennung. 

7 


98  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

dennoch    nicht    ein    integrirender    Bestandtheil    der    ewigen 
Neutralität. 

3.  Wo  sie  vorhanden  ist,  da  wird  sie  die  Verpflichtung 
der  Garantiemächte  enthalten,  die  garantirte  Neutralität,  so- 
lange sie  besteht,  in  jedem  Falle  eines  Angriffs  auf  dieselbe 
sowohl  diplomatisch,  als  thatsächlich  aufrecht  erhalten  zu 
helfen,  jedem  Versuch  einer  theoretischen  Bezweiflung  der- 
selben seitens  Dritter  entgegenzutreten  und  natürlich  am  aller- 
wenigsten selbst  gegen  dieselbe  zu  sprechen,  oder  zu  handeln. 

4.  Im  Falle  der  Schweiz  namentlich,  übrigens  auch  in 
dem  Belgiens,  könnte  noch  die  Frage  entstehen,  ob  Machte, 
welche  erst  seit  1815  in  ihrem  jetzigen  Bestände  entstanden 
sind,  zur  Garantie,  als  Rechtsnachfolger  früherer  Garanten, 
verpflichtet  seien.  Speziell  würde  sich  diess  auf  Deutsch- 
land und  Italien  beziehen.  Wir  glauben  diese  Frage 
bejahen  zu  sollen,  da  mit  den  völkerrechtlichen  Berechtig- 
ungen auch  die  Pflichten  in  Zweifel  übergehen.  Jedenfalls 
müsste  in  Deutschland  Preussen,  und  Italien  als  Besitzer 
der  anstossenden  Lombardei  diese  Verpflichtung  anerkennen. 
Es  war  übrigens,  wie  sich  aus  der  schweizerischen  Neu- 
tralitätsakte ergiebt,  die  Meinung  derselben,  dass  alle  euro- 
päischen Staaten  dieser  Garantie  beitreten  sollten,  und 
eB  ist  dieselbe  nur  zufällig  nicht  weiter  eingeholt  worden, 
nachdem  die  eigentlichen  Kongressmächte  ihre  Zustimmnn 
ertheilt  hatten. 


g 


5.  Ob  eine  solche  Garantie  seitens  der  Garanten  auf- 
kündbar sei,  kann  fraglich  erscheinen,  besonders  wenn  sie 
als  ein  gemeinsamer  Akt  eines  Kongresses  sich  darstellt,  von 
dem  sich  eigentlich  nicht  Einzelne  lossagen  können  sollten. 
Trotzdem  sind  wir  der  Meinung,  dass  es  kaum  solche  unauf- 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  99 

kündbare  Staaten  Verpflichtungen  gebe,  wie  denn  ja  auch  andere 
Staatsverträge  im  Zweifel  niemals  unaufkündbar  sind.1) 

Immerhin  wurde  eine  förmliche,  unzweideutige  Aufkün- 
dtmg  einer  solchen  einmal  aktenmässig  vorhandenen  Garantie, 
unter  Anzeige  an  alle  Mitgaranten,  erfolgen  müssen  und  der 
Fortbestand  zu  präsumiren  sein,  so  lange  sie  nicht  erfolgt. 
Auch  würde  man  ohne  Zweifel  berechtigt  sein,  eine  solche 
als  ein  Anzeichen  von  unfreundlicher  gewordener  Gesinnung 
anzusehen  und  mit  Repressalien,  oder  selbst  Vorkehrungen 
vor  drohender  Kriegsgefahr,  als  deren  Vorspiel  sie  in  der 
Regel  zu  betrachten  wäre,  zu  beantworten. 

6.  Dagegen  ist  die  Neutralitat  selbst,  auch  die  ewige 
Neutralität,  kein  Gegenstand  einer  Aufkündung  seitens 
Dritter ;  m.  a.  W.  dieselben  könnten  höchstens  die  Garantie, 
nicht  zugleich  aber  die  Neutralität  aufkünden.  Denn  dieselbe 
ist  ein  unzweifelhaftes  Souveränitätsrecht  jedes  Staates  und 
ihm  den  Entschluss  zur  Neutralität  versagen,  wäre  nichts 
anderes,  als  ein  Zwang  zur  Allianz,  mit  Kriegsdrohung  im 
Falle  der  Ablehnung  derselben  verbunden.  Es  ist  das  zwar 
seitens  Preussens  gegenüber  den  norddeutschen  Staaten  im 
Jahre  1866  wirklich  geschehen,  immerhin  waren  die  Ver- 
hältnisse nicht  ganz  gleichartig,  wie  in  jedem  andern  denk- 
baren Falle,  da  diess  nicht  gegenüber  ganz  selbständigen, 
sondern  gegenüber  in  einem  Bundesverhältnisse  stehenden 
Staaten  geschah.  Im  Allgemeinen  dürfte  darüber  jedoch 
kein  Zweifel  bestehen,   das«  man  die  Neutralität  selbst  nicht 


*)  Vgl.  Ririer  pag.  837.  In  unserem  schweizerischen  früheren 
Staatenbundesrecht  wurde  diese  Frage  ausführlich  behandelt  mit 
Besag  auf  die  sogenannten  «eidgenössischen«  Konkordate,  von  denen 
ein  einseitiger  Rücktritt  einzelner  Konkord  au  ten  nicht  erlaubt  sein 
sollte.  Vgl.  TagsatzungsbeschlDSs  vom  25.  Juli  1836,  Off.  Samm- 
lung II  381.    Doch  gilt  dieses  Recht  längst  nicht  mehr. 


100  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

aufkünden  kann,  wenn  der  neutrale  Staat  sie  im  ge- 
gebenen Falle  behalten  will  und  im  Stande  ist,  die  daraus 
hervorgehenden  Pflichten  zu  erfüllen.  Dieser  Wille  und  diese 
Kraft  ist  die  einzige  Frage,  die  hier  bestehen  kann. 

7.  Dagegen  könnte  es  auch  einem  ewig  neutralen  Staate 
nicht  verwehrt  sein,  seinerseits  diese  permanente  und 
präsumtive  Rechtstellung  aufzukünden.  Wollte  man  seiner- 
seits Unkündbarkeit  annehmen,  so  wäre  die  ewige  Neutralität 
nicht  bloss  ein  Verzicht  auf  die  Betheiligung  an  Kriegen 
Dritter,  sondern  ein  Verzicht  auf  die  Souveränität  selbst, 
und  ein  solcher  Staat  nichts  anderes,  als  ein  Protektoratsland 
ohne  selbständige  politische  Entschliessungsfähigkeit.  Da- 
gegen müsste  allerdings  eine  solche  Aufkündigung  der  ewigen 
Neutralität  rechtzeitig,  nicht  erst  im  Momente  eines 
ausbrechenden  Krieges  erfolgen,  so  dass  den  nächstintereasir- 
ten  Mächten  noch  Zeit  zu  ihren  durch  die  veränderte  Sach- 
lage nothwendig  gewordenen  Vorkehrungen  bliebe,  und  es 
könnte  ihnen  auch  kaum  verwelirt  werden,  über  die  Grunde 
einer  solchen  Entschliessung  allfällig  Aufschluss  zu  verlangen. 

Es  wäre  also  eine  solche  Aufküudung  seitens  des  bisher 
ewig  neutralen  Staates  immerhin  eine  etwas  bedenkliche  Ent- 
schliessung, die  zu  Schwierigkeiten  führen  könnte. 

Es  ergiebt  sich  daraus,  dass  es  zwar  rechtlich  sehr 
leicht  ist,  in  eine  ewige  Neutralität  einzutreten,  weniger 
leicht  aber,  sie  wieder  aufzugeben. 

Die  schweizerische  Eidgenossenschaft  speziell  könnte  das 
letztere  nicht,  solange  ihre  gegenwärtige  Verfassung  besteht, 
welche  die  Aufrechterhaltung  der  Neutralität  als  eine  bestän- 
dige Pflicht  ihrer  oberstenBehörden  erklärt  (Art.  102).  Es  ist 
auch  davon  niemals  die  Bede  gewesen.1) 

*)  Ein  Angebot  einer  Allianz  gegen  Oesterreich  ia  Italien  wurde 
der  Schweiz  im  Jahre  1848  von  König  Karl   Albert  von  Sardinien 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart  101 

V. 

Die  zwei  praktisch-wichtigsten  Fragen  in  dieser  Sache 
sind  die :  ob  die  ewig  neutralen  Staaten  noch  ausser  den 
gewöhnlichen  Pflichten  der  Neutralität  besondere  Obliegen- 
heiten, namentlich  politischer  Natur  besitzen  und  ob,  bezie- 
hungsweise in  welchem  Grad  und  unter  welchen  Umständen 
sie  allianzfähig  seien.  Während  alles  andere  ziemlich  selbst- 
yerständlich  erscheinen  kann  und  sozusagen  aus  einer  logi- 
schen Auslegung  des  bestehenden  Völkerrechts  sich  ergibt, 
sind  diese  beiden  Fragen  einer  verschiedenen  Auffassung  zu- 
gänglich. 

L  Die  Pflichten  der  ewig  Neutralen  sind  zunächst  die 
Pflichten  der  Neutralen  nach  gewöhnlichem  Völkerrecht, 
nicht  mehr  noch  weniger.  Sie  unterscheiden  sich  von  den- 
selben ja  nur  dadurch,  dass  sie  präsumtiv  neutral  sind, 
also  für  jeden  Fall  bis  zu  einer  etwaigen  förmlichen  Auf- 
kündung,  aber  sie  sind  nicht  anders,  als  gewöhnlich, 
neutraL 

Neben  den  gewöhnlichen  Pflichten  der  Neutralität,  die 
jedes  völkerrechtliche  Lehrbuch  enthält,  und  die  wir  hier 
nicht  anführen  wollen,  könnten  diese  Staaten  allerdings  noch 
besondere  Pflichten  (und  Rechte)  besitzen,  insofern  nämlich 
dieselben  in  ihrer  Neutralitätsurkunde  ausdrücklich  angegeben 
wären.     Es  wäre  denkbar,    immerhin  aber  nicht  wahrschein- 


gexnaeht,  von  ihr  aber  abgelehnt  Vgl.  Repertorium  der  Restauralions- 
zeit  II,  77.  Ein  weiteres  machte  ihr  Kossuth  noch  später  (1853)  in 
finem  sehr  interessanten  Briefe,  der  zum  ersten  Mal  im  politischen 
Jahrbuch  IX  p.  695  abgedruckt  ist.  Dieser  Brief  gelangte  jedoch  nie- 
mals auch  nur  zur  Verlesung  im  Schosse  des  Bundesrates,  sondern 
fiurde  von  dem  damaligen  Bundespräsidenten,  an  den  er  gerichtet 
rar,  als  Privatsache  und  als  indiskutabel  betrachtet. 


102  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart 

lieh,  dass  in  der  Urkunde  wesentliche  Aasnahmen  von 
dem  allgemeinen  Rechte  der  Neutralität  stipulirt  wären. 
Faktisch  ist  dies  bei  keinem  der  bisherigen  ewig  neutralen 
Staaten  der  Fall.  Die  schweizerische  Neutralitätsurkunde 
speziell  enthält  gar  keine  besondern  Auflagen,  als  die  selbst- 
verständliche, sich  aller  fremden  Beeinflussung  zu  enthalten ; 
eine  Besonderheit,  die  sich  nicht  von  selbst  verstünde,  ist 
bloss  die  nach  dermaliger  Anschauung  für  die  Eidgenossen- 
schaft fakultative  Ausdehnung  ihrer  Neutralität  auf  einen 
Theil  von  Savoyen. 

Man  kann  höchstens  noch  aus  allgemeinen  Gesichtspunkten 
der  Billigkeit  und  völkerrechtlichen  Loyalität  beifugen: 
ewig  neutrale  Staaten,  denen  die  Wohlthat  eines  ewigen 
Friedens  und  einer  Unverletzlichkeit  ihres  Gebietes  europäisch 
garantirt  ist,  werden  die  Verpflichtung  eines  inoffensiven 
Verhaltens  gegen  andere  Mächte,  auch  im  Frieden  und  ab- 
gesehen von  Krieg,  anerkennen,  sich  also  nicht  den  berechtigten 
Vorwurf  zuziehen,  dass  sie  Heerde  der  beständigen  Beunruhi- 
gung Anderer,  oder  gar  etwa  Sammel-  und  Waffenplätze  des 
Aufruhrs  und  der  Revolution  gegen  benachbarte  Mächte  seien. 

Das  sogenannte  «Asylrecht»  der  Schweiz  ist  je- 
doch damit  gar  nicht  in  Verbindung  zu  bringen;  es  giebt 
überhaupt  gar  kein  besonderes,  etwa  durch  Verträge,  oder 
Kongressbeschlüsse  näher  bestimmtes  «schweizerisches»  Asyl- 
recht, sondern  die  Schweiz  hat  ganz  das  gleiche  Recht,  Fremden 
Schutz  und  Aufenthalt  auf  ihrem  Boden  zu  gewähren  oder 
nicht,  wie  jeder  andere  Staat  es  besitzt,  nicht  mehr  noch 
weniger.  Es  kommt  nur,  vermöge  ihrer  Lage  und  Verfas- 
sung häufiger,  als  bei  andern  Staaten  (ausser  etwa  Eng- 
land und  Amerika)  vor,  dass  politische  Flüchtlinge  zeitweisen 
Aufenthalt  bei  ihr  suchen,  der  ihnen  auch  herkömmlich,  unter 
der  Voraussetzung   eines    ruhigen  Verhaltens  gestattet  wird. 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  103 

Wenn  dagegen  die  Schweiz  wirklich  ein  cwildes  Land»  wäre, 
wie  es  zur  Zeit  des  Wohlgemuthhandels  zuweilen,  mit  ten- 
denziöser Absicht,  in  den  Spalten  der  damaligen  Norddeutschen 
Allgemeinen  Zeitung  zu  lesen  war,  oder  wie  es  noch  seither 
etwa  in  ihren  gewagten  Spekulationen  auf  schweizerische 
Eisenbahnpapiere  getäuschte  Börsianer  erklärten,  oder  wenn 
bei  ihr  die  Anarchisten  massenhaft  und  unter  besonderem 
Wohlgefallen  der  Behörden  herumliefen,  wie  es  die  Ansicht 
eines  angesehenen  deutschen  Parteiführers  zu  sein  scheint, 
so  würden  wir  selbst  als  die  Meistinteressirten  diess  als 
ihrer  ewig  neutralen  und  gegen  jede  Gebieteverletzung 
gesicherten  Stellung  nicht  entsprechend  betrachten.  Aus 
diesem  Grunde  gerade  machen  die  schweizerischen  Behörden 
öfter  Ton  dem  nach  Art.  70  der  Bundesverfassung  ihnen  zu- 
stehenden Rechte  der  Fremdenausweisung,  wenn  nöthig  selbst 
gegen  den  Willen  der  nächstbetheiligten  souveränen  Kantone, 
Gebrauch,  und  wenn  irgend  eine  Partei  der  Schweiz  dieses 
Recht  aufzuheben,  oder  nur  wesentlich  zu  beschränken  beab- 
sichtigen sollte,  so  würde  sie  die  Erfahrung  zu  machen  haben, 
dass  dies  nicht  dem  Willen  der  Mehrheit  entspricht,  die  einen 
liberal  denkenden,  aber  weder  sozialistischen,  noch  gar  anar- 
chistischen, oder  beständig  revolutionären  Staat  will.  Tat- 
sächlich befinden  sich  auch  in  der  Schweiz  —  abgesehen  viel- 
leicht von  dem  vorübergehenden  Fremdenzufluss  im  Sommer, 
den  wir  nicht  kontrolliren  können  —  nicht  mehr  Anarchisten, 
oder  Revolutionäre  als  in  jedem  andern  Staate  Europa's,  Russ- 
land und  Deutschland  nicht  ausgenommen,  und  die  Ueber- 
wachung  der  gefährlichen  Elemente  der  bürgerlichen  Gesell- 
schaft, die  heutzutage  sehr  kosmopolitisch  sind,  ist  liier  eine 
mindestens  ebenso  gute,  als  anderswo.  Die  schweizerische 
Bevölkerung  ist  im  Grossen  und  Ganzen  überhaupt  nicht 
extrem    in    ihren   Meinungen;    die    Leute    dieser    Art    sind 


104  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart 

groBsentheils  Fremde  oder  Neubürger,  welche  Ihre  Ansichten 
aus  dem  Aaslande  Importiren,  und  dort,  unter  dem  Schutz- 
dache der  dortigen  Gesetze,  so  geworden  sind,  wie  sie  sind. 

Diese  Frage  des  allgemeinen  Verhaltens  der  ewig  Neu- 
tralen in  Friedenszeiten  kann  daher  mitunter  einer  Diskus- 
sion in  der  Presse  unterliegen,  sogar  eine  gewisse  Differenz  in 
der  Auffassung  der  Behörden  des  Bundes  und  der  Kantone  zwi- 
schen grösserer  oder  geringerer  Schärfe  in  der  Ueberwachung 
im  Innern  der  Schweiz  gestatten ;  im  allgemeinen  aber  gehört 
die  Schweiz  zu  den  ruhigsten  und  geordnetsten 
Staaten Europa's  und  wird  sich  auch  dieser  völkerrechtlichen 
Pflichten  jederzeit  so  gut,  wie  aller  anderen,  bewusst  bleiben. 
Es  hat  sich  dies  auch  im  letzten  Jahre  noch  in  der  parla- 
mentarischen Diskussion  über  den  sogenannten  «Italiener-Zug» 
deutlich  genug  gezeigt.1) 

2.  Wichtiger  ist  die  Frage  der  Allianzfähigkeit. 
Schon  desshalb,  weil  hier  wirklich  die  fremden  Staaten,  ins- 
besondere die  Garantiestaaten,  welche  für  die  Unverletzbar- 
keit des  schweizerischen  Gebiets  einzutreten  schuldig  sind, 
offenbar  ein  Wort  mitzureden  haben,  eben  weil  sie  Garanten 
sind  und  ein  Interesse  an  einer  reellen  Neutralität  haben. 

Es  ist  ganz  natürlich,  dass  diese  Garantie  ganz 
wesentlich  eben  die  «Unverletzlichkeit  des  Gebiets»  im  Auge 
hat,  mehr  als  die  Neutralität  selbst  sogar,  welche  auch  ohne 
diese  Unverletzlichkeit  einen  geringen  Werth    haben  würde. 

Hier  fragt  es  sich  also:  Darf,  muss  sogar  die 
Schweiz  ihre  Neutralität  und  ihre  Gränzen  gegen  jeden  An- 
griff mit  allen  ihren  Kriegsmitteln  vertheidigen,  und  sodann 
in   zweiter   Linie,   sind   unter   diesen    «Kriegsmitteln»    auch 


')  Vgl.  hierüber  das   politische  Jahrbuch   von  1898  pag.  347. 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart  105 

Allianzen  verstanden,  eventuell  unter  welchen  Umständen 
ist  dies  der  Fall? 

Die  erste  Frage  betrachten  wir  als  eine  ganz  liquide. 
Jeder  Neutrale,  auch  ein  ewig  Neutraler,  hat  nicht  bloss 
das  Recht,  sondern  ebenso  die  Pflicht,  die  Neutralität  seines 
Gebiets  mit  allen  seinen  Kräften  aufrecht  zu  erhalten.  Es 
wird  das  von  ihm  verlangt,  selbst  wenn  er  sich  davon 
aus  Er8parnis8gründen  lieber  dispensiren  möchte,  und  man 
verlangt  auch,  der  Natur  der  Sache  gemäss,  dass  er  sich 
bereits  in  Friedenszeiten  auf  einen  solchen  möglichen  Fall 
der  Verteidigung  vorsehe  und  seine  sämmtlichen  Kriegs- 
mittel  in  gutem  Stande  erhalte.  Dazu,  um  das  zu  be- 
obachten und  darüber  zu  berichten,  sind  die  Militärattaches 
der  fremden  Gesandtschaften  da.  Wollte  sich  ein  ewig  neu- 
traler Staat  gänzlich  nur  auf  seine  Garanten  verlassen  und 
sein  Militärwesen  abschaffen,  oder  wesentlich  einschränken, 
so  würde  er  sofort  zum  Protektoratsstaat  herabsinken,  der 
sich  unter  den  Schutz  eines  andern  begeben  muss;  es  wäre 
das  also  ganz  abgesehen  von  der  Unehre,  in  den  aller- 
meisten Fällen  sogar  das  richtige  Mittel,  um  der  Wohl- 
tbaten  der  ewigen  Neutralität  verlustig  zu  gehen.  Denn  er 
wurde  fortan  an  die  Politik  seines  speziellen  Schätzers 
gebunden  sein,  oder,  im  Falle  mehrerer  Schützer  mit 
divergirenden  Interessen,  mit  aller  Sicherheit  zum  Kriegs- 
schauplatz werden,  sobald  sie  selber  in  offene  Feindschaft 
«rerathen  würden.    Das  letztere  wäre  unser  Fall. 

Es  gehört  daher  offenbar  zu  den  Essentialien  jeder 
ewigen  Neutralität  einerseits  eine  beständige  Wachsamkeit 
und  Bereithaltung  aller  Kriegsmittel  trotz  und  neben  der 
Garantie,  die  noch  hiezu  angerufen  werden  kann,  sobald 
eine  Verletzung  in  nächster  Aussicht  steht ;  andererseits  ein 
Sichenthalten  von  allem  fremden  Einfluss   und  jeder  näheren 


106  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart 

politischen  Verbindung  mit  irgend  einem  —  wenigstens  einem 
eventuell  kriegerischen,  nicht  selbst  ewig  neutralen  —  Staat, 
wie  dieß  auch  (wie  schon  gesagt)  in  der  schweizerischen 
Neutralitätsakte  sogar  ausdrücklich  vorgeschrieben  ist 

Darin  liegt  nun  allerdings  ein  gewisser,  wenigstens 
scheinbarer  Widerspruch.  Denn  «Kriegsmittel»,  für  einen 
kleineren  Staat  sogar  wesentliche  und  notwendigste  Kriegs- 
mittel in  jedem  Konflikt  mit  einem  grösseren  —  wie  es  bei 
der  Schweiz  immer  der  Fall  wäre  —  sind  auch  Allianzen. 

Es  könnte  daher  Niemand  einem  ewig  neutralen  Staate 
es  verwehren,  zur  Abwehr  gegen  Angriffe  und  zum 
Schutze  seiner  Neutralität  auch  eine  Allianz  mit 
einem  andern  Staate,  vorzugsweise  dem  allfälligen  Kriegs- 
gegner des  Angreifers,  ab  zu  seh  Hessen,  unbeschadet  der  An- 
rufung der  Garantiemächte.  Das  gehört  zu  seinem  Rechte 
der  Verteidigung  und  insoweit  ist  er  allianzfähig.  Da- 
gegen sind  wir  der  Ansicht,  dass  eine  Allianz  ohne  ein  drin- 
gendes augenblickliches  Bedürfniss  der  Vertheidigung  gegen 
einen  Angriff,  ganz  besonders  etwa  eine  Allianz  zum  An- 
griffskriege, wie  sie  im  Jahre  1848  und  1853  Karl  Albert 
von  Sardinien  und  Kossuth  uns  vorschlugen,  mit  der  ewigen 
Neutralität  unvereinbar  sei. 

Sogar  eine  Allianz  für  einen  gewissen  Fall,  der  nicht 
augenblicklich  vorliegt,  ist  unzulässig;  denn  dadurch  wird 
ein  ewig  neutraler  Staat  entweder  —  das  würde  regelmässig 
der  Fall  sein  —  zum  Schutzstaat  eines  andern,  oder  er  wird 
zum  mindesten  die  bei  ihm,  wie  bei  jedem  gewöhnlichen  Neu- 
tralen, vorausgesetzte  unparteiliche  Stellung  für  den  Kriegs- 
fall zum  Voraus  aufgeben.  So  wenig  man,  wie  jetzt  im 
Völkerrecht  allgemein  anerkannt  ist,  von  einer  «neutralitä 
bienveillante>  reden  darf,  die  schon  nicht  mehr  unparteilich 
genug  ist,    so   wenig  dürfte  ein    Staatsoberhaupt  eines  ewig 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  107 

neutralen  Staats  sich  dahin  äussern,  dass  er  «jedenfalls 
niemals  gegen  Deutschland,  oder  gegen  Frankreich  feindlich 
auftreten  werde>,  noch  weniger  aber  einer  solchen  Gesinnung 
etwa  durch  offene  oder  geheime  Verträge  Ausdruck  ver- 
leihen.1) Es  würde  das  jedenfalls  ein  äusserst  gefährliches 
Verhalten  sein,  welches  den  Staat,  gegen  welchen  eine 
solche  Allianz  abgeschlossen  wird,  berechtigen  müsste,  bei 
Ausbruch  des  Kriegs  den  bloss  angeblich  ewig  neutralen 
Staat  sofort  als  Kriegsschauplatz  zu  benutzen,  oder 
ihm  zum  mindesten  eine  förmliche  Erklärung  über  seinen 
Rücktritt  von  der  Allianz  abzuverlangen.  Wir  sind  über- 
zeugt, dass  dies  faktisch  geschehen  würde,  und  zweifeln 
auch  daran  nicht,  dass  ein  Garant  der  ewigen  Neutralität, 
gegen  welchen  eine  solche  Allianz  mit  einem  andern  ge- 
schlossen wird,  das  Recht  besitzt,  die  Garantie  aufzukünden, 
ja  sogar,  wenn  er  es  auf  Krieg  ankommen  lassen  will,  den 
sofortigen  Rücktritt  von  der  Allianz  zu  verlangen.2) 

Es  wird  das  freilich,  auch  abgesehen  von  den  theoretischen 
Schwierigkeiten  einer  Konstruktion  eines  Allianzrechtes  «in 
extremis»,  eine  ziemlich  heikle  Frage  für  die  praktische 
Politik  der  ewig  neutralen  Staaten  bleiben,  die  zeitig 
keine  Allianzverträge  machen  können,  auch  nicht  einmal 
wissen    und    noch    weniger    zum    Voraus    entschlossen    sein 

*)  Wir  befinden  uns  damit  in  einem  gewissen  Widerspruche  mit 
Aeusserungcn  belgischer  Gelehrter,  dagegen  nicht  mit  Rivier 
/Lehrbuch  pag.  419).  Vgl.  darüber  die  Broschüre  über  die 
schweizerische  Neutralität  pag.  79. 

*)  Darin  befinden  wir  uns  also  in  Ucbcreinstimmung  mit  dem 
dänischen  Kriegsminister  Bahnson,  welcher  erklärte,  Dänemark 
dürfe  desshalb  nicht  ewig  neutral  werden,  weil  es  dann  «infolge 
einer  Neutralitätserklärung  für  alle  Fälle  von  dem  Abschluss  jeder 
Allianz  mit  andern  Staaten  ausgeschlossen  wäre.»  Das  ist,  den 
3othfall  des  Angriffs  vorbehalten,  vollkommen  richtig. 


108  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart 

dürfen,  mit  wem  sie  zu  schliessen  sind,  sondern  den 
Angriff,  oder  wenigstens  die  allernächsten  unzweifelhaften 
Zeichen  eines  Angriffs  abwarten  müssen.  Heutzutage  ist  diess 
bei  den  grossen  Eisenbahnlinien,  die  von  allen  Seiten  in  das 
Gebiet  eines  kleinen  Staates  eindringen,  und  bei  den  Kavallerie- 
Massen,  die  meistens  schon  im  Frieden  nahe  an  allen 
Gränzen  liegen,  doppelt  und  dreifach  schwierig,  dennoch  aber 
nicht  zu  ändern. 

Der  ewig  neutrale  Staat  dürfte  ferner,  selbst  in  dem 
Falle  einer  erlaubten  Allianz,  dieselbe  ausdrücklich  nur  zur 
Vertheidigung  seiner  Neutralität,  und  nicht  für  fremde 
Zwecke  abschliessen,  was  auch  nicht  immer  leicht  aus- 
einander zu  halten  sein  wird,  und  er  müsste  jedenfalls  allen 
Garantiemächten  davon  Eenntniss  geben  und  sie  auffordern, 
ihm  dabei  behilflich  zu  sein.  Ebenso  würde  er  sich  natürlich 
bereit  erklären  müssen  sofort,  nach  Abwehr  des  drohenden 
Angriffs,  die  ewige  Neutralität  wiederherzustellen  und  die 
Allianz  aufzuheben. 

Dagegen  giebt  die  Natur  des  Krieges  und  der  Strategie 
es  mit  sich,  dass,  wenn  einmal  der  Krieg  vorhanden  ist,  der 
ewig  neutrale  Staat  seine  Truppen  auf  jede  m  Gebiete  ge- 
brauchen darf,  nicht  bloss  etwa  innerhalb  seiner  eigenen  Gränzen, 
die  er  allerdings,  dem  Zwecke  nach,  allein  zu  schützen  be- 
absichtigt. Ebenso  dass  er  nun  fremden  Truppen  (seinen 
Alliirten)  den  Zutritt  auf  sein  Gebiet  gestatten  darf,  und  dass 
er  auch  im  darauf  folgenden  Frieden  berechtigt  ist,  nicht 
bloss  eine  neue  allseitige  Anerkennung  seiner  ewigen  Neu- 
tralität zu  fordern,  sondern  allfällig  auch  bessere  Garantien 
für  dieselbe,  z.  B.  bessere  militärische  Gränzen,  wenn  sich 
die  bisherigen  als  zu  schwach  erwiesen  haben.  Das  würde 
z.  B.  ohne  allen  Zweifel   in  einem    jeden   derartigen  Kriege 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  109 

der  Schweiz  der  Fall  sein   müssen,   und  zwar  auf  jeder  der 
vier  Gränzfronten. 

Diese  Allianzfrage  gehört  also  zu  den  grössten  Schwierig- 
keiten der  Diplomatie  und  Generalstabswissenschaft  der  ewig 
neutralen  Staaten,  und  sie  ist  eine  auch  im  theoretischen 
Völkerrecht  dermalen  noch  ungelöste,  bis  zn  einem  gewissen 
Grade  vielleicht  sogar  unlösbare  Frage,  indem  der  «casus 
foederis»,  der  Moment,  wo  die  Allianzberechtigung  unbeschadet 
des  Grundsatzes  der  Aufrechterhaltung  ewiger  Neutralität 
eintritt,  ein  für  alle  und  jede  möglichen  Falle  mit  der  nöthigen 
Bestimmtheit  kaum  zu  bezeichnender  ist.  Dafür  sind  aber 
eben  die  Diplomaten  da  und  gut  bezahlt,  um  schwierige 
Fragen   glücklich  zu  lösen. 

VI. 

Wenn  die  ewige  Neutralität  demnach,  auch  dermalen 
schon,  ihre  bedenklichen  Seiten  hat  und  nicht  eine  Rose  ohne 
Dornen  ist,  sondern  eine  Sache,  die  man  sich  vorher  tiberlegen 
muss,  und  die  namentlich  nicht  für  einen  Staat  mit  Aspirationen 
auf  Wachsthum,  oder  einen  Sozialstaat  passt,  so  lässt  sich 
ferner  noch  die  bisher  rein  theoretische  Frage  aufwerfen, 
ob  ewig  neutrale  Staaten  sich  unter  sich  verbünden 
dürfen. 

Das  würde  unseres  Erachtens  keinem  ernstlichen  Wider- 
spruche begegnen  können,  da  eben  dieses  BündniBB  bei  ihnen 
von  vornherein  keinen  andern  Zweck  haben  könnte,  als 
gemeinsame  Abwehr  im  Falle  eines  Angriffs,  höchstens  allfällig 
noch  gemeinsame  Vorbereitung  und  gleichmässige  Organisation 
ihrer  Streitkräfte  auf  einen  solchen  Fall  hin.  Es  würde  anch 
thatsächlich  vielleicht  Niemand  etwas  gegen  einen  solchen 
Bündnissvertrag  zwischen  der  Schweiz  und  Belgien  einzuwenden 
haben ;  ob  gegen  einen  solchen  zwischen  Belgien  und  Luxem- 


110  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

bürg  wäre  schon  zweifelhafter  und  vollends  gehört  die  «neu- 
trale Zone»  einiger  Zeitungspolitiker,  die  von  der  Nordsee 
bis  nach  Basel  sich  erstrecken  sollte,  in  die  Aera  des  «ewigen 
Friedens»  überhaupt,  der  ebenso  möglich  und  wahrscheinlich 
wäre,  als  eine  solche  Erledigung  der  sog.  «elsassisch-lothrin- 
gischen» Frage,  die,  völkerrechtlich  betrachtet,  überhaupt 
keine  «Frage»  ist. 

Ein  Bund  der  ewig  Neutralen  könnte  in  der  Zukunft, 
wenn  deren  einmal  zahlreichere  beständen,  den  günstigen  Ein- 
fluss  auf  den  allgemeinen  Friedensstand  in  Europa  haben,  dass 
diese  Neutralen  eine  Art  von  Friedensgebiet,  eine  theil- 
w  e  i  8  e  Realisation  wenigstens  des  «ewigen  Friedens»  in  Europa 
bilden  würden.  Aehnlich  wie  diess  in  dem  alten  schweizeri- 
schen Staatsrechte  der  Fall  war,  nach  welchem  die  drei 
Stände  Basel,  Schaffhausen  und  Appenzell  «stille  sitzen»  und, 
bei  Krieg  der  übrigen  Eidgenossen  unter  sich  selbst,  keinem 
Theile  zustehen,  sondern  «Vermittlung  suchen»  sollten,  eine 
sehr  zweckmässige  Einrichtung  in  einer  complizirten  Staaten- 
gesellschaft,  bei  welcher  thatsächliche  Kontestationen  nicht 
unter  allen  Umständen  ausschliessbar  sind.  Wenn  dann  we- 
nigstens ein  Theil  dieser  Staaten  unbetheiligt  und  mit  beiden 
Kriegsgegnern  in  gutem  Vernehmen  bleibt,  so  ist  das  nicht 
nur  ein  friedlicher  Kern,  um  den  sich  die  streitenden  Glieder 
der  Gesellschaft  wieder  sammeln  können,  und  eine  natürlich 
gegebene  und  autorisirte  Vermittlung,  die  sich  nicht  aufzu- 
drängen oder  anzubieten  braucht  auf  die  Gefahr  hin,  brüsk 
abgewiesen  zu  werden,  sondern  es  liegt  darin  auch  sehr  deut- 
lich der  Gedanke  ausgesprochen,  der  überhaupt  das  mo- 
derne Kriegsrecht  beherrscht  und  beherrschen  soll,  dass  es 
keine  dauernden  Feindschaften  zwischen  civilisirten  Staaten 
geben  darf,  sondern  jeder  Krieg  nur  den  begränzten  Zweck 
der  Erledigung  eines  bestimmten  Streitpunktes  hat. 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  111 

Eine  solche,  verbündete,  Gesellschaft  von  europäischen 
Friedensstaaten  würde  für  den  Zweck  des  ewigen  Friedens 
mehr  ausrichten,  als  jedes  der  bisher  vorgeschlagenen  Mittel 
and  eine  beständige  Propaganda  dafür  bilden.  Es  blieben 
dann  schliesslich  nur  einzelne  «kriegführende»  Staaten  übrig 
(ähnlich  wie  die  «schlagenden»  Verbindungen  unter  einer  ge- 
sammten  Studentenschaft),  die  sich  diesen  Luxus  des  Krieg- 
f&hrens  noch  gestatten;  auch  diese  Kriege  aber  würden 
wahrscheinlich  von  kurzer  Dauer  sein,  und,  wie  es  bereits 
in  Thessalien  und  Cuba  der  Fall  war,  als  geordnete  Duelle 
vor  einer  Corona  aufmerksamer  Zuschauer  stattfinden,  die 
stets  bereit  sind  zu  vermitteln  und  die  öffentliche  Meinung 
wirksam  gegen  die  anzurufen,  welche  gegen  die  allgemein 
anerkannten  Kriegsregeln  handeln,  oder  den  Krieg  grausam, 
oder  unnöthig  verlängern  wollen. 

Eine  solche  Friedensrolle  kann  aber  nur  eine  viel  zahl- 
reichere Gruppe  von  unter  sich  eng  verbundenen  und  über- 
einstimmenden ewig  Neutralen  inmitten  des  dermalen  noch 
kriegerisch  gearteten  Europas  spielen;  die  jetzigen  einzelnen 
und  vereinzelten  Staaten  dieser  Art  sind  dazu  nicht  im 
Falle. 

Eine  andere,  mehr  politische  Frage  allerdings,  wäre  die, 
inwiefern  ihnen  eine  nähere  Verbindung  unter  sich  kon- 
v  e  n  i  r  t  e.  Namentlich  die  Schweiz  und  Belgien  sind  einstweilen 
in  der  Lage,  sich  gegenseitig  ata  Blitzableiter  zu  dienen,  wie  dies 
auch  im  Jahr  1815  thatsächüch  der  Fall  gewesen  ist,1)  und 
eine  Allianz  eigentlicher  Art   würde   diese  Kriegsgefahr   für 

x)  Vgl.  darüber  die  Erzählungen  aus  dem  Jahre  1815  im  politi- 
schen Jahrbuch  Bd.  III  p.  310  u.  folg.,  und  die  «Steigenteschpapiere», 
polit.  Jahrbuch  Bd.  III  p.  596,  die  dort  zum  ersten  Male  veröffentlicht 
sind.  Man  glaubte  1815  zuerst,  Napoleon  würde  die  Schweiz  zum 
Kriegsschauplätze  machen,  erst  nachträglich  wählte  er  Belgien  dazu. 


112  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

den  einen,  oder  den  andern  Theil  vermehren,  und  jedenfalls 
neue,  fernabliegende  Gedanken  und  Gesichtspunkte  in  die 
auswärtige  Politik  beider  Staaten  einfuhren,  was  immer 
etwas  Bedenkliches  hat. 

VII. 

Von  nicht  sehr  allgemeinem,  sondern  speziell  schweize- 
rischem Interesse  ist  sodann  noch  die  Frage,  unter  was  für 
Umständen  einzelne  Gebiete,  die  zu  nicht  ewig  neutralen 
Staaten  gehören,  dieser  ewigen  Neutralität  in  ihrem  Interesse, 
oder  im  Interesse  ihrer  Gränznachbareu  theilhaftig  gemacht 
werden  können.  Ob  ferner  solche  Gebiete  an  andere  Be- 
sitzer abgetreten  werden  dürfen,  ob  sie  der  Befestigung  oder 
Besetzung  mit  Truppen  zugänglich  seien,  und  ob  ihre  Be- 
völkerung persönlich  neutralisirt  sei,  oder  nicht. 

Es  giebt  zur  Zeit  zwar  bloss  ein  einziges  neutralisirtes 
Gebiet  dieser  Art,  nämlich  den  Theil  von  Hochsavoyen,  in 
welchem  der  Schweiz  im  Falle  eines  Kriegs  benachbarter 
Mächte  das  Besetzungsrecht  gleich  wie  im  eigenen  Gebiete 
zusteht.  Immerhin  wäre  es  nicht  undenkbar,  dass  auch  an- 
dere solche  Fälle  entstehen  könnten,  und  es  ist  die  heutige 
diplomatische  Praxis  mindestens  ebenso  geneigt,  als  diejenige 
des  Wiener-  und  Pariser-Congresses,  mit  Auskunftsmitteln 
solcher  Art  über  die  allfälligen  Schwierigkeiten  einer  unum- 
wundenen Gebietsabtretung  hinweg  zu  gleiten.1) 

Ueber  die  etwas  komplizirte  Geschichte  dieser  savoyischen 
Neutralität,  welche  dermalen   seitens    der  Schweiz    als    eine 


')  Die  Verhältnisse  in  Samoa  sind  ein  aktuelles  Beispiel  davon, 
wie  ein  sehr  bedeutender  Diplomat  unserer  Zeit  Schwierigkeiten 
damit  löste,  dass  er  sie  seinen  Nachfolgern  vermachte.  Der  Ber- 
liner-Congress  von  1878  ist  nicht  sehr  viel  mehr  gewesen  und  so 
wird  es  vielleicht  auch  der  Haager  sein. 


Völkerrechtliche  Praxen  der  Gegenwart.  113 

fakultative,  in  dem  Sinne  eines  ihr  zustehenden  Rechtes, 
nicht  einer  obligatorischen  Verpflichtung  zur  Besetzung,  an- 
gesehen wird,  wie  dies  bei  einer  gewöhnlichen  Nentralität 
d*r  Fall  sein  würde,  treten  wir  hier  nicht  ein,  sondern  ver- 
waisen auf  die  Erzählung  im  politischen  Jahrbuch  der 
^hweizerischen  Eidgenossenschaft  Band  IV,  die  bundesräth- 
liche  Denkschrift  von  1859  und  eine  diplomatische  Verhand- 
hing mit  dem  jetzigen  Besitzer  dieses  Gebiets,  Frankreich, 
welche  im  Bundesblatt  1884  No.  20  abgedruckt  ist.  Ueber 
•len  sogenannten  «Lausanner-Vertrag»  vom  30.  Oktober 
1564,  welcher  als  der  erste  historische  Ausgangspunkt  dieser 
Verhältnisse  zu  betrachten  ist,  wird  das  diesjährige  Jahr- 
buch, Band  XIII,  einen  ausführlichen  Aufsatz  enthalten. 
IVber  die  sogenannten  « Genfer  -  Zonen »  ,  welche  eine 
\n<iere  ausnahmsweise  Rechtstellung  eines  Theils  dieses  neu- 
tral isirten  Savoyens  normiren,  findet  sich  eine  Darstellung 
'ni  Jahrbuch    IX    pag.  203    und  folg. 

Wir  betrachten  es  demzufolge  als  selbstverständlich  und 
durch  diese  historischen  Vorgänge  auch  dargethan,  dass 
-"kho  mit  einem  völkerrechtlichen  Servitut  zu  Gunsten 
-in<>s  andern  Staates  belastete  Gebiete  nicht  an  einen  dritten 
I^sitzer  übergehen  dürfen,  ohne  dass  darüber  mit  dem 
.Servitutsberechtigten  eine  Verständigung  stattfindet,  und 
•  l-'nso,  dass  die  Neutralisirung  eines  Gebiets  und  das  aus- 
schliessliche Besetzungsrecht  eines  dritten  Nichteigenthümers 
;*'i  Kriegsfall,  eine  Befestigung  ohne  seine  ausdrückliche  Zu- 
stimmung und  Mitwirkung  ausschlicsst.*)  Es  besteht  übrigens 


l)  Vgl.  Rivier  111,  112  und  144.  Ein  neues,  sonst  sehr  gutes 
frinzögisches  Lehrbuch  des  Völkerrechts,  von  Bonills,  Professor  in 
Toulouse,  1894,  enthält  darüber,  auf  Seite  188,  eine  unrichtige  An- 
wirbt. 

8 


114  Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart. 

in  concreto  darüber  Uebereinstinimung  zwischen  den  Staaten 
und  ist  diese  Verständigung,  mit  der  Schweiz  sowohl  als  den 
Mächten  des  Wiener  Kongresses,  auch  in  dem  Abtretungs- 
vertrag zwischen  Sardinien  und  Frankreich  s.  Z.  ausdrücklich 
vorbehalten  worden.1) 

Die  Landesbewohner  eines  solchen  neutralisirten 
Gebietes  sind  ihrerseits  keineswegs  als  neutral  anzusehen, 
eine  solche  Neutralität  von  physischen  Personen  giebt  es 
überhaupt  im  Völkerrechte  nicht;  sondern  sie  sind  in  dem 
Staate,  welchem  sie  angehören,  militärpflichtig  und  über- 
haupt in  jeder  Hinsicht  allen  andern  Bürgern  und  Ein- 
wohnern gleichgestellt.  Sie  haben  aber  allerdings  die  Aus- 
nahmsstellung, dass  sie  im  Kriege  nicht  in  ihrer  eigenen 
engern  Heimath  zur  Vertheidigung  ihres  Wohnorts  ver- 
wendet werden  können,  und  in  dieser  Richtung  lässt  dieses 
Verhältniss,  wie  übrigens  jede  solche  Ausnahme  von  dem 
gewöhnlichen  Recht,  leicht  einer  gewissen  Unbefriedigung 
Raum,  welcher  kaum  abgeholfen  werden  kann.*) 


Diese  sämmtlichen  Fragen  haben  ohne  Zweifel  dermalen 
eine  gewisse  Aktualität  und  verdienen  näher  überlegt  zu 
werden.  Sie  sind  auch  die  einzigen  reellen  Grundlagen 
einer  «Friedensliga»,  Gedanken,  die  ausführbar  sind, 
keinerlei  berechtigte  Interessen  verletzen  und  eine  all- 
mählige    Verminderung   und  schliesslich  vielleicht  die  Bt- 


*)  Vgl.,  ausser  obiger  Litteratur,  noch  Jahrbuch  IE,  697. 

2)  Dieselbe  hat  sich  noch  in  neuester  Zeit  in  einer  Rede  eines 
Deputirlen  von  Hoch-Savoyen  iu  der  französischen  Kammer  aus- 
gesprochen, deren  Auszug  in  den  Beilagen  abgedruckt  ist 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.  115 

seitigung  der  Kriege  in  civilisirten  Welttheilen 
herbeiführen  können,  —  während  die  gewöhnlichen  Postulate 
der  Friedensvereine,  welche  sich  auf  eine  sofortige  allgemeine 
Abrüstung  oder  Eontingentirung  aller  Staaten,  oder  auf  einen 
allgemeinen,  für  alle  Falle  eines  Streites  zwischen  Staaten 
verbindlichen  SchiedsgerichtSYertrag  beziehen,  der  Schatten 
eines  Traums  und  der  Mühe  nicht  werth  sind,  welche  sich 
viele  wohlmeinende  Leute  damit  geben. 


116         Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.    Beilagen. 


Beilagen. 


I. 

Die  Artikel    der  Oongo-Akte   vom   26.  Februar  1885    über 
Neutralität  und  Vermeidung  von  Krieg  in  dem  Oonventions- 

gebiet. 

Art.  X.  Um  dem  Handel  und  der  Industrie  eine  neue 
Bürgschaft  der  Sicherheit  zu  geben,  und  durcli  die  Aufrecht- 
erhaltung des  Friedens  die  Entwicklung  der  Civilisation  der- 
jenigen Länder  zu  sichern,  welche  im  Artikel  I  erwähnt  und 
dem  System  der  Handelsfreiheit  unterstellt  sind,  verpflichten 
sich  die  Hohen  Vertragschliessenden,  welche  die  gegenwär- 
tige Akte  unterzeichnen,  und  diejenigen,  welche  ihr  in  der 
Folge  beitreten,  die  Neutralität  der  Gebiete  oder  Theile  von 
Gebieten,  welche  den  erwähnten  Ländern  angehören,  ein- 
schliesslich der  territorialen  Gewässer,  zu  achten,  solange  die 
Mächte,  welche  Souveränitäts-  oder  Protektoratsrechte  über 
diese  Gebiete  ausüben  oder  ausüben  werden,  von  dem  Rechte, 
sich  für  neutral  zu  erklären,  Gebrauch  machen  und  den  durch 
die  Neutralität  bedingten  Pflichten  nachzukommen. 

Art.  XL  Falls  eine  Macht,  welche  Souveränitäts-  oder 
Protektoratsrechte  in  den  im  Art.  I  erwähnten  und  dem 
Freihandelssystem  unterstellten  Ländern  ausübt,  in  einen 
Krieg  verwickelt  werden  sollte,  verpflichten  sich  die  Hohen 
Vertragschliessenden,  welche  die  gegenwärtige  Akte  unter- 
zeichnen, sowie  diejenigen,  welche  ihr  in  der  Folge  beitreten, 
ihre  guten  Dienste  zu  leihen,  damit  die  dieser  Macht  ge- 
hörigen und  in  der  konventionellen  Freihandelszone  einbe- 
griffenen Gebiete  im  gemeinsamen  Einverständniss  dieser 
Macht  und  des  anderen,  oder  der  anderen  kriegführenden 
Theile,  für  die  Dauer  des  Krieges  den  Gesetzen  der  Neutra- 
lität unterstellt  und  so  betrachtet  werden,  als  ob  sie  einem 
nicht  kriegführenden  Staate  angehörten.  Die  kriegführenden 
Theile  würden   von  dem  Zeitpunkte   an   darauf  Verzicht   zu 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.    Beilagen.        117 

leisten  haben,  ihre  Feindseligkeiten  auf  die  also  neutralisirten 
Gebiete  zu  erstrecken  oder  dieselben  als  Basis  für  kriegerische 
Operationen  zu  benutzen. 

Art.  XII.  Falls  sich  zwischen  den  Mächten,  welche  die 
gegenwärtige  Akte  unterzeichnen  oder  denjenigen,  welche  et- 
wa in  der  Folge  derselben  beitreten,  ernste  Meinungsver- 
schiedenheiten mit  Bezug  auf  die  Grenzen  oder  innerhalb  der 
Grenzen  der  im  Art.  I  erwähnten  und  dem  Freihandelssystem 
unterstellten  Gebiete  ergeben,  soverpflichten  sich 
jene  Mächte,  bevor  sie  zur  Waffenge- 
walt seh  reiten,  die  Vermittelung  einer 
oder  mehrerer  der  befreundeten  Mächte 
in  Anspruch  zu  nehmen.  Für  den  gleichen  Fall 
behalten  sich  die  gleichen  Mächte  vor,  nach  ihrem  Ermessen 
auf  ein  schiedsrichterliches  Verfahren  zurückzugreifen. 


IL 
Die  schweizerische  Neutralitätsakte. 

ACTE 

portant  reconnaissance  et  garantie 

de  la 

neutraliU  perpStuelle  de  la  Suisse  et  de  Vinviolabilite' 

de  son  territoire. 

(Du  20  novembre  1815.) 

L'accession  de  la  Suisse  ä  la  däclaration  donnäe  ä 
Vienne  le  vingt  mars  mil  huit  cent  quinze,  par  les  Puissances 
signataires  du  traitö  de  Paris,  ayant  e"te*  düment  notifi6e 
aux  ministres  des  Cours  imperiales  et  royales,  par  l'acte  de 
la  Dtete  helv&ique  du  vingt-sept  mai  suivant,  rien  ne 
8'opposait  ä  ce  que  l'acte  de  la  reconnaissance  et  de  la 
garantie  de  la  neatralite"  perpätuelle  de  la  Suisse  dans  ses 
nouvelle«  frontieres,  füt  fait  conformäment  ä  la  däclaration 
susdite.     Mais  les  Puisßances  ont  jug£  convenable  de  suspendre, 


118         Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.    Beilagen. 

jusqu'a  ce  jour,  la  Signatare  de  cet  acte,  ä  cause  des 
changements  que  les  6v6nements  de  la  guerre,  et  les  arrange- 
raents  qui  devaient  enetrelasuite,  pouvaientapporterauxlimites 
de  la  Suisse,  et  des  raodifications  qui  pouvaient  aussi  en  r£- 
sulter  dans  les  dispositions  relatives  au  territoire  associe  au 
bienfait  de  la  neutralite*  du  Corps  helve"tique. 

Ces  changements  se  trouvent  deterrainäs  par  les  stipu- 
lation du  traite*  de  Paris  de  ce  jour,  les  Puissances  Signa- 
taires  de  la  däclaration  de  Vienne  du  vingt  mars  fönt,  par 
le  present  acte,  une  r  econnaissan  ce  formelle  et 
au t hentique  de  1  a  ne utralit 6  perpetuelle  de  la 
Suisse,  et  Elles  lui  garantissent  l'int£grit6  et 
l'in  violabilite"  de  son  territoire  dans  ses  nou- 
v eil  es  limites,  t elles  qu'elles  sont  fixGes,  tant  par  l'acte 
du  Congres  de  Vienne  que  par  le  traite*  de  Paris  de  ce  jour ; 
et  telles  qu'elles  le  seront  ulterieurement,  conformäment  ä  la 
disposition  du  protocole  du  3  novembre  ci -Joint  en  extrait, 
qui  stipule  en  favenr  du  Corps  helv6tique  im  nouvel  ac- 
croissement  de  territoire  a  prendre  sur  la  Savoie,  pour  ar- 
rondir  et  däsenclaver  le  canton  de  Geneve. 

Les  Puissances  reconnaissent  et  garantissent  egalem ent 
la  neutralite  des  parties  de  la  Savoie,  d6sign£es  par  l'acte 
du  Congres  de  Vienne  du  20  mars  mil  huit  cent  quinze,  et 
par  le  traite*  de  Paris  de  ce  jour,  comme  devant  jouir  de  la 
neutralite"  de  la  Suisse  de  la  meme  maniere  quo  si  elles  ap- 
partenaient  ä  celle-ci. 

Les  Puissances  signataires  de  la  dßclaration  du  vingt 
mars  reconnaissent  au  th  en  tiquem  en  t ,  par  le 
präsent  acte,  que  la  neutralite  et  l'in viola bili te  de 
la  Suisse  et  son  independance  de  tonte  influence 
etrangere,  sont  dans  les  vrais  int-6rets  de  la 
politique  de  l'Europe  entiere. 

Elles  declarent  qu'aucune  induetion  defavorable  aux 
droits  de  la  Suisse,  relativement  a  sa  neutralite,  et  a  l'in- 
violabilite  de  son  territoire,  ne  peut  ni  ne  doit  etre  tiree 
des  ävenements  qui  ont  amen6  le  passage  des  troupes  alltees 
sur  une  partie  du  sol  helvetique.  Ce  passage,  librement  con- 
senti  par  les  cantons   dans  la  Convention   du    vingt    mai,    a 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.    Beilagen.         119 

ete  le  resultat  näcessaire  de  1'adhäsion  franche  de  la  Snisse 
aui  prineipes  manifestes  par  les  Puissances  signataires  du 
traite"  d'Alliance  du  25  inars. 

Les  Puissances  se  plaisent  ä  reconnaitre  que  la  conduite 
de  la  Suisse,  dans  cette  circonstance  d'öpreuve,  a  monträ, 
qu'elle  savait  faire  de  grands  sacriüces  au  bien  g6neral,  et 
au  soutien  d'une  cause  que  toutes  les  Puissances  de  l'Europe 
ont  deTendue ;  et  qu'enfin  la  Suisse  6tait  digne  d'obtenir  les 
avantasres  qui  lui  sont  assuräs,  soit  par  les  dispositions  du 
Congres  de  Vienne,  soit  par  le  traite  de  Paris  de  ce  jour, 
soit  par  le  present  acte,  auquel  toutes  les  Puissances 
de  l'Europe  sont  invitäcs  ä  aceßder. 

En  foi  de  quoi  la  presente  declaration  a  6te"  faite  et  signee 
ä  Paris  le  20  novembre  de  l'an  de  gräce  mil  huit  cent  quinze. 
Snivant  les  signatures  dans  l'ordre  alphabetique  desCours: 
Autriche:  Le  prince  de  Metternich. 

Le  baron  de  Wessenberg. 
F  r  an  c  e :  Richelieu. 

Grande-Bretagne:  Castlereagh. 

Wellington. 
Portugal:  Le  comte  de  Palmella. 

Don  Joachim  Lobo  da  Silreira. 
Prusse:  Le  prince  de  Hardenberg. 

La  baron  de  Humboldt. 
R  u  s  s  i  e :  Le  prince  de  Rasoumoffsky. 

Le  comte  Capo  ä"  Istria.*) 

Die  belgische  Neutralität  ergiebt  sich  aus  einem 
Vertrag  vom  15.  November  1831  und  einem  vorangehenden 
Protokoll  der  5  Grossmächte,  welches  sagt: 

«La  Belgique  formera  un  Etat  perpätuellement  neutre. 
Les  cinq  puissances  lui  garantissent  cette  neu  traute"  perp6- 
tnelle,  ainsi  que  l'inviolabilite"  de  son  territoire.»  Holland 
anerkannte  den  belgischen  Staat  erst  1839  und  damals  wurde 
diese  Neutralität  neuerdings  bestätigt  durch  den  Londoner- 
Vertrag  vom  19.  April  1839. 


*)  Spanien  und  Schweden  kamen  noch  dazu. 


1 


120         Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.     Beilagen. 

Die  luxemburgische  Neutralität,  die  bisher  letzte  in 
Europa,  lautet  nur  kurz: 

La  grand-duche*  de  Luxembourg  . . .  formera  d6sormais 
un  Etat  perpetuellement  neutre*  U  sera  tenu  d'observer 
cette  meine  neutralite  envers  tous  les  autres  Etats.  Les 
Hautes  Parties  contractantes  s'engagent  ä  respecter  le 
principe  de  neutralite"  stipule  par  le  präsent  acte.  Ce 
principe  est  et  demeure  place  sous  la  sanetion  de  la  garantie 
collective  des  puissances  signataires  du  present  traite,  ä 
l'exception  de  la  Belgique,  qui  est  elle-memo  un  Etat 
neutre. 

Die  jonischen  Inseln  haben  eine  «nicht  garantirte> 
Neutralität  durch  Vertrag  der  ehemaligen  fünf  Grossmächte 
vom  14.  November  1863  mit  folgendem  Wortlaut: 

«Les  iles  Joniennes  apres  leur  reunion  au  royautne  de 
Grece  jouiront  des  avantages  d'une  neutralitä  perpetuelle  .  .  . 
Les  Hautes  Puissances  contractantes  s'engagent  ä  respecter 
le  principe  de  neutralite  stipule  par  le  present  articlo 

Neutralisirt  sind  ferner  noch  die  Schiffahrts- 
anstalten der  untern  Donau  zufolge  des  Vertrages 
von  1871,  13.  März,  und  durch  Art.  53  des  Berliner-Ver- 
trages von  1878, 13.  Juli,  ebenso  der  Suez-Kanal  und  seine 
Zufahrtshäfen  durch  den  Suez-Kanalvertrag  vom  29.  Oktober 
1888.  Dagegen  ist  die  Neutralisirung  des  schwarzen  Meeres 
durch  den  Pariservertrag  vom  30.  März  1856  Art.  11,  durch 
den  Londonervertrag  vom  13.  März  1871  wieder  aufgehoben 
worden. 

Ausserdem  besteht  noch  die  vertragsmässige  Neutralität 
des  Congo-Beckens  nach  den  vorstehend  abgedruckten  Artikeln 
der  Congo-Akte,  diejenige  der  Samoa-,  Tonga-  und  Savage- 
Inseln  nach  dem  Samoa-Vertrag,  der  sich  gerade  jetzt  als 
ein  sehr  zweifelhaftes  Werk  eines  grossen  Staatskünstlers 
erweist,  sowie  die  thatsächliche  von  Moresnet  und  einiger  ganz 
kleiner  Staaten  in  Europa. 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.    Beilagen.         121 

III. 
Der  Basler-Bundesbrief 

vom  9.  Juni  1501. 

19.  Wa  es  ouch  durch  Eynich  vngefell  darzuo  kerne,  das 
vnder  vnd  zwischen  vns  der  Eydgnossschafft  Es  were  eyns 
oder  meer  ortten  gegen  vnnd  wider  eynander  vffruor  wurden 
erwachssen  Das  Gott  eewiglich  welle  verhütten  So  tnag  eyn 
Statt  Basel  durch  Ir  bottschafft  sich  dar  Inn  arbeyten  söllich 
vffruur  Zweygung  und  Spenn  hynzulegen.  20.  Vnnd  ob 
das  ye  nit  sin  möcht  So  soll  doch  dieselb  Statt  sust  dheynen 
teyl  hilfflich  wider  den  andern  tcyl  anhangen,  Sonder  still 
sitzen,  Doch  Ir  früntlichen  mittlung  wie  vorstat  ob  die  er- 
schiessen  möcht  vnuerzigen. 


IV. 

Der  projektrfrte  Schiedsgerichtsvertrag  zwischen  England 
und  Amerika  enthielt  folgende  Bestimmungen :  Geldforde- 
rungen, soweit  sie  nicht  den  Betrag  von  100,000  Pfund  über- 
schreiten, werden  je  einer  von  England  und  von  den  Ver- 
einigten Staaten  von  Amerika  zu  ernennenden  Jury,  sowie 
einem  von  diesen  beiden  zu  wahlenden  Schiedsrichter  unter- 
breitet. Höhere  Geldforderungen  werden  einem  ahnlich  zu- 
sammengesetzten Gerichtshofe  vorgelegt,  dessen  Entscheidung, 
wenn  sie  einstimmig  erfolgt,  endgültig  ist ;  andernfalls  kann 
jede  der  beiden  Parteien  an  einen  neuen  Gerichtshof  appel- 
liren,  der  aus  je  zwei  von  jedem  Lande  zu  ernennenden  Ju- 
risten und  einem  von  den  letzteren  zu  wählenden  Schieds- 
richter besteht.  Die  mit  Stimmenmehrheit  erfolgte  Entschei- 
dung dieses  Gerichtshofes  soll  endgültig  sein.  Jede  Streit- 
frage, die  Gebietsansprüche  einschliesst,  wird  einem  aus 
je  drei  amerikanischen  und  englischen  Richtern  höchsten 
Ranges  zusammengesetzten  Gerichtshofe  vorgelegt.  Die  Ent- 
scheidung dieses  Tribunals  ist,  wenn  sie  mit  fünf  gegen  eine 
Stimme  getroffen  wurde,  endgültig.  Wenn  die  Mehrheit  ge- 
ringer ist,  kann  jede  der  beiden  Mächte  gegen  das  Erkennt- 


122        Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.    Beilagen. 

niss  Einspruch  erheben.  Eventuell  boII  um  die  Vermittlung 
einer  befreundeten  Macht  ersucht  werden.  Falls  die  Juristen 
der  beiden  erstgenannten  Gerichtshöfe  sich  über  einen  Schieds- 
richter nicht  einigen  können,  soll  derselbe  von  dem  obersten 
Gerichtshofe  der  Vereinigten  Staaten  und  vom  Rechtsaus- 
schusse der  Londoner  Privy  Councils  ernannt  werden ;  wenn 
auch  diese  beiden  nicht  zu  einer  Einigung  gelangen,  durch 
den  König  von  Schweden  und  Norwegen. 

Der  Schiedsgerichtsvertrag   bleibt  fünf  Jahre   in  Kraft; 
dann  gilt  eine  Kündigungsfrist  von  zwölf  Monaten. 


V. 

Diplomatische   Correspondenz  zwischen    der   Schweiz    und 

Italien  über  die  Anwendung  der  Schiedsgerichtsklausel  im 

italienisch -schweizerischen  Handelsvertrag. 

Es  handelte  sich  darum,  ob  ein  italienisches  Dekret  vom 
8.  November  1893,  welches  die  Entrichtung  der  Zölle  in 
Metallgeld  vorschrieb,  dem  italienisch-schweizerischen  Handels- 
vertrag widerspreche,  der  eine  solche  Verfügung  nicht  vor- 
behielt, obwohl  schon  damals  ein  Agio  von  3  Prozent  gegen- 
über dem  Staatspapiergeld  bestand,  welches  dann  zeitweise 
bis  auf  13  bis  16  Prozent  anstieg.  Wichtiger,  als  diese 
Frage  selbst,  war  schliesslich  der  Umstand,  dass  die  italienische 
Regierung  die  ihr  von  der  schweizerischen  vorgeschlagene 
schiedsgerichtliche  Entscheidung  ablehnte.  Die  beiden  hiefür 
entscheidenden  Aktenstücke,  die  auch  für  die  Zukunft  und  fdr 
alle  Schiedsgerichtsklauseln  in  auswärtigen  Verträgen  von 
Bedeutung  sind,  lauten  wie  folgt: 

«Note  remise  par  la  Legation  suisse  au  tninistere  d*x 
affaires  Üranglres  a  Rome,  19  mai  1894. 

Le  Conseil  föderal  a  pris  connaissance  de  la  Note  et  du 
Memoire  que  le  Gouvernement  royal  a  bien  voulu  lui  adresser 
et  qui  lui  sont  parvenus  le  11  mai. 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.    Beilagen.         123 

£n  resumant  dans  sa  Note  da  6  mars  1894  les  raisons 
exposees  de  part  et  d'antre,  et  sous  reserve  des  observations 
responsives  qu'elle  pouvait  appeler,  le  Conseil  föderal  avait  le 
sentiment  qu'il  ne  fallait  pas  prolonger  davantage  tine  dis- 
cussion  evidemment  epuisee;  il  devait  etre  difficile,  en  effet, 
d'aniver  par  ce  moyen  ä  Tentente  de  deux  Gouvernements 
ayant  ä  cceur  de  döfendre  des  interets  manifestement  contra- 
dictoires.  Le  Conseil  föderal  6tait  en  meine  temps  convaincu, 
et  l'e>enement  le  montre,  que  la  Solution  desiree  ne  pourrait 
etre  obtenue  que  par  l'exercicc  de  l'arbitrage  tel  qu'il  est 
prescrit  k  l'article  14  pour  Lrancher  les  questious  concernant 
Interpretation  et  Tapplication  du  traite  qui  ne  pourraient 
pas  etre  regl6es  ä  la  satisfaction  commune  par  la  voie  directe 
d'une  negociation  diplomatique. 

Dans  cette  pensee,  le  Conseil  föderal  avait  cru  devoir 
mettre  l'accent  sur  ce  moyen  de  Solution  et  il  se  plaisait  ä 
esperer  fermement  que  le  Gouvernement  Italien  ne  manquerait 
pas  de  s'expliqner  avec  präcision  ä  cet  egard.  II  est  oblige 
de  Qonstater  que  le  Cabinet  de  Borne  se  borne  ä  reprendre 
le  fond  meme  de  la  question,  sans  traiter,  en  aucun  point 
de  la  proposition  d'arbi trage.  II  ne  saurait,  des  lors,  changer 
sa  maniere  de  voir  et,  sans  suivre  le  Gouvernement  royal 
sur  ce  terrain  ni  dans  certaines  des  observations  du  Memoire, 
il  continue  ä  relever  dans  le  decret  du  8  novembre  une  at- 
teinte  au  traite  de  commerce  du  19  avril  1892. 

Dans  ces  circonstances,  fort  d'un  texte  aussi  clair  dans 
son  esprit  et  dans  sa  lettre  et  auquel  il  ne  veut  pas  cesser 
d'avoir  confiance,  le  Conseil  föderal,  invoquant  derechef  l'ar- 
ücle  14,  persiste  ä  proposer  l'arbitrage.  Et,  comme  les  Notes 
du  4  fevrier  et  du  8  mai,  non  plus  que  leurs  annexes,  ne 
paraissent,  sur  ce  point,  contenir  l'expression  d'une  detcrmi- 
nation  precise,  le  Conseil  federal  prie  le  Gouvernement  royal 
de  vouloir  bien,  en  vue  de  la  nettete  de  la  Situation  pour 
l'avenir  et  quittant  momentanement  le  debat  sur  le  fond, 
lui  faire  connaitre  definitivem  ent  dans  sa  prochaine  Note  s'il 
accepte  ou  s'il  croit  devoir  refuser  de  remettre  &  des  arbitres 
la  Solution  du  differend. 


124         Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.    Beilagen. 

Note  du  minister e  des   affaires  itranghres  ä  Borne  ä    la  L4- 

gation  de  Suisse. 

Borne,  le  30  Mai  1894. 

Dans  la  Note  du  Conseil  fedäral  que  vous  avez  bien 
voulu  me  transinettre,  en  copie,  le  17  de  ce  mois,  an  sojet 
de  la  question  da  paiement  des  droits  de  douane  en  monnaie 
metallique,  est  expriine"  le  desir  de  recevoir  du  Gouvernement 
du  Roi  une  reponse  definitive,  exclusivement  pour  ce  qtii 
concerne  l'acceptation  de  Farbi trage  pour  la  Solution  de  ce 
diffSrend. 

A  notre  point  de  vue,  le  principe  de  l'arbitrage,  que 
Tltalie  a  tant  contribue'  k  introduire  dans  les  relations  inter- 
nationales, est  une  garantie  si  precieuse  pour  la  paix  et  les 
bons  rapports  des  Etats,  qu'il  doit  etre  maintenu  dans  toute 
sa  puretä,  et  ne  point  etre  compromis  par  Pobjection  que  lui 
fönt  ses  adversaires,  celle  d'6tre  en  certains  cas  danger eux 
pour  la  liberte  et  l'indäpendance  de  chaque  peuple  dans  ses 
affaires  interieures. 

Le  traUe"  du  29  avril  1892  stipule  que  les  deux  Gouver- 
nements: «conviennent  de  resoudre,  le  cas  echeant,  par  voie 
«d'arbitrage  les  questions  concernant  Vinterpritation  et  Vap- 
«plication  du  traue*,  qui  ne  pourraient  etre  regläes  k  la  sa- 
«tisfaction  commune  par  la  voie  directe  d'une  negociation 
«diplomatique. » 

II  eüt  ete  contraire  k  toute  mäthode  correcte  d'exclure 
explicitement  de  Tarbi trage  6ventuel  des  matteres  d  ordre 
interieur,  qui,  par  leur  essence,  ne  sont  pas  de  corapetence 
arbitrale,  et  ne  peuvent  affecter  le  regime  du  traite  que  d'une 
facon  tont  k  fait  indirecte.  Parmi  ces  matieres  sont  au  plus 
haut  degre"  celles  relatives  au  regime  de  la  circulation  et  des 
banques,  comme  il  a  ete"  abondamtnent  demontre*  par  les  Com- 
munications precedentes  de  mon  collegue  des  Finances,  trans- 
mises  avec  confiance,  comme  documents,  k  la  Lägation  Helv6- 
tique. 

II  ne  saurait  echapper  k  la  clairvoyance  da  Gouverne- 
ment de  la  Confederation  que  les  questions  de  la  circulatiou 
entre  pays,  dej&  lies  uniquement  k  l'egard  de  la  frappe  et  de 
la  circulation  de  Tor  et  de  l'argent  par  les  Conventions  con- 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.    Beilagen.         125 

stituant  l'ünion  latine,  ne  sauraient  sans  irregularite,  et  sans 
peril,  etre  encore  soumises,  sous  forme  d'arbitrage,  ä  des 
restrictioos ;  31  y  va  de  la  liberte*  et  de  Findependance  intö- 
rienre  da  regime  de  circulation,  que  la  Suisse  a  autant  d'in- 
teret  que  nous  ä  conserver,  en  tant  que  le  comportent  les 
Engagements  de  1' Union  latine,  lesqnels  d'ailleurs  ne  sont  pas 
en  question  dans  le  cas. 

L'interet  commun  des  deux  pays,  egale ment  desireux  de 
preserver  leurs  bons  rapports,  exige  donc,  6elon  nous,  qu'ils 
se  gardent  d'engager  le  grand  et  salutaire  principe  de  Par- 
bitrage  dans  une  voie  oü  il  n'a  pas  d'application  legitime  et 
de  creer  ainsi  un  precädent  qui  nuiraitäl'introduction  dansles 
traites  entre  les  Etats  du  pacte  d'arbitrage,  dont  nous  devons 
conserver  les  justes  limites  desquelles  dopend  sa  valeur  ä  venir.» 

Es  hat  sich  hiedurch  herausgestellt,  dass  die  Schieds- 
gerichtsklausel, auf  welche  seitens  der  Friedensfreunde 
*i\n  sehr  grosses  Gewicht  gelegt  zu  werden  pflegt,  ohne  Wir- 
kung bleiben  muss,  insofern  nicht  beidseitige  Uebereinstim- 
mnng  besteht,  sie  im  konkreten  Falle  auch  zur  Ausführung 
gelangen  zu  lassen.  Die  Angelegenheit  blieb  mit  den  beiden 
abgedruckten  Noten  liegen,  da  ein  schiedsgerichtlicher  Ent- 
scheid, auch  über  die  Vorfrage  der  schiedsgerichtlichen  Kom- 
petenz selber  nicht  erzielt  werden  konnte. 


VI. 

Les  garnisons  de  Savoie. 

Artikel  aus  der  Gasette  de  Lausanne. 

On  va  prochainement  installer  un  bataillon  d'infanterie 
entier  a  Thonon  qui  n'avait  jusquMci  que  deux  compagnies. 
Cela  ne  suffit  pas  encore  ä  la  tranqnillite  d'esprit  de  nos 
exeellents  voisins  et  amis  de  Savoie. 

Dans  la  seance  du  13  mars  de  la  Chambre  francaise, 
eomme  on  discutait  le  budget  de  la  guerre  au  chapitre  «Ca- 
sernements»,  M.  Fernand  David,  depute  de  la  Haute-Savoie, 
a  demande*  au  nom  de  ses  collegues  et  de  lui  m£me  et  avec 
le  conconrs  de  MM.  Chautemps  et  Jules  Mercier  qn'on  portät 


126         Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.    Beilagen. 

le  credit  de  1,8  million  ä  1,4  million  afin  que  la  Republique 
placat  des  garnisons  dans  les  quatre  villes  de  Thonon,  Bonne- 
ville,  Saint-Julien  et  Annemasse. 

Dans  un  discours  etudie,  M.  Fernand  David  a  montre 
que  PItalie  pourrait,  des  les  premieres  heures  de  la  inobili- 
sation,  masser  15,000  hommes  et  12  pieces  de  canon  dans 
la  vallee  d'Aoste  et  passer  de  la  dans  la  vaU6e  de  FArve 
d'oü  il  n'y  a  qu'un  saut  jusqu'au  Saleve.  Or,  du  Saleve  on 
commande  les  trois  routes:  Geneve-Saint  Julien-Annecy,  Ge- 
ne ve- Annemasse- Annecy  et  Geneve-Culoz-Lyon.  Les  Italiens 
disposent  ponr  cette  invasion  des  cols  de  la  Seigne  et  du 
Bonhoinme  qui  les  conduisent  ä  Bonneville  et  de  la  route 
Grand  St- Bernard -Martigny- Tete  Noire,  qui  les  amene  ä 
Chamonix. 

«Ils  trouveraient  dans  le  inonastere  dn  Grand  St-Bernard 
des  locaux  comfortables,  spacieux  et  qni  ont  encore  6te  agran- 
dis.  Ils  violent,  il  est  vrai,  la  neutralitä  suisse,  mais  d'une 
facon  pnrement  platoniqne,  car  les  Suisses,  qni  ont  cree  des 
retranchements  sörieux  ä  St-Maurice,  n'ont  pas  barrö  la  route 
qui  conduit  par  la  Tete  Noire  ä  Chamonix  par  Vallorcines. 
Une  fois  ä  Chamonix,  la  troupe  qui  y  a  penäträ  et  qui  n'a 
pas  trouvö  jusqne-lä  d'obstacle  devant  eile,  voit  s'ouvrir  la 
vallöe  de  TArve  qui  conduit  d'une  part  vers  Geneve,  de 
l'autre  vers  le  massif  du  Saleve  . .  .> 

Quelles  forces  la  France  aurait-elle  ä  opposer  a  cette 
invasion  subite  ?  Elle  possöde  ä  Annecy  un  regiment  d'infan- 
terie  et  un  bataillon  de  chasseurs  alpins,  mais  Annecy  est  ä 
100  kilometres  du  col  du  Bonhoinme  et  de  Vallorcines !  C'est 
donc  tout  a  fait  insufftsant. 

On  voit  que  dans  la  Strategie  de  M.  Fernand  David  la 
neu  traute*  de  la  Suisse  et  les  forces  dont  ce  pays  dispose  pour 
la  faire  respecter  ne  pesent  pas  lourd.  Nons  n'entrerons  pas 
en  discussion  avec  l'honorable  deput6  de  Savoie.1) 


*)  Wir  unserseits  glauben  allerdings,  dass  ein  gewisses  Hinder- 
niss  dem  Wege  vom  St.  Bernhard  nach  Ghamounix  zu  erstellen  im 
Interesse  und  der  Aufgabe  der  Schweiz  liegen  würde,  und  das* 
diess  auch  geschehen  wird  müssen,  sobald  die  Verhältnisse  dazu 
günstiger  liegen. 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.    Beilaffen.         127 

Disons  seulement  que  son  amendement  n'a  pas  ete"  uiis 
aux  voix.  M.  de  Freycinet,  ministre  de  la  guerre,  a  döclare 
que  la  frontiere  de  Savoie  lui  tenait  fort  ä  cceur,  qu'apres 
le  bataillon  de  Thonon,  on  en  installerait  un  autre  ailleurs, 
mais  que  pour  le  surplus,  il  räservait  l'avis  de  la  commission 
de  i'arm6e.  La  question  pourrait  &tre  reprise  plus  utilement 
devant  la  Chambre,  cette  commission  entendue. 

Les  deputes  de  la  Savoie,  devant  ces  declarations  mini- 
sterielles, ont  retire  leur  proposition. 


VII. 
Die  Brüsseler  Artikel  über  das  Kriegsrecht. 
<Prqjet  cTune  diclaration  internationale  concernant  les  lois  et 

coutumes  de  la  guerre* 

iTextc  modifil  par  la  Commission.     Yoir  protocole  des  sdances  plenieres  n9  IV.) 

De  l'autoriti  militaire  sur  le  territoire  de  VEtat  ennetnu 

Article  premier.  Un  territoire  est  considere*  comme 
occnp6  lorsqn'il  se  trouve  place*  de  fait  sous  l'autorilä  de 
Farmee  ennemie. 

L'occupation  ne  s'eiend  qu'aux  territoires  oü  cette 
autorite  est  etablie  et  en  mesure  de  s'exercer. 

Art.  2.  L'autoriti  du  pouvoir  legal  6tant  suspendue  et 
ayant  passe*  de  fait  entre  les  mains  de  l'occupant,  celui-ci 
prendra  toutes  les  mesures  qui  dependent  de  lui  en  vue  de 
r€tablir  et  d'assurer,  autant  qu'il  est  possible.  l'ordre  et  la 
vie  publica. 

Art.  3.  A  cet  effet,  il  main tiendra  les  lois  qui  etaient 
en  vigueur  dans  le  pays  en  temps  de  paix,  et  ne  les  modi- 
fiera,  ne  les  sospendra  ou  ne  les  remplacera  que  s'il  y  a 
necessite\ 

Art.  4.  Les  fonctionnaires  et  les  employäs  de  tout  ordre 
qui  consentiraient,  sur  son  invitation,  ä  continuer  leurs 
fonctions,  jouiront  de  sa  protection.  Ils  ne  seront  rövoques 
ou  punis  disciplinairement  que  s'ils  manquent  aux  obligations 
acceptees  par  eux  et  livres  ä  la  justice  que  s'ils  les  tra- 
hissent. 


128         Yrölkerrechl liehe  Fragen  der  Gegenwart.    Beilagen. 

Art.  5.  L'armäe  d'oecupation  ne  prelevera  que  les 
impöts,  redevances,  droits  et  peages  deja  Etablis  au  profit 
de  l'Etat,  ou  leur  äquivalent,  s'ils  est  impossible  de  les 
encaisser,  et,  autant  que  possible,  dans  la  forme  et  suivant 
les  usages  existants.  Elle  les  emploiera  a  pourvoir  aux  frais 
de  l'administration  dans  la  mesure  oü  le  Gouvernement  legal 
du  pays  y  Etait  oblige. 

Art.  6.  L'armEe  qui  oecupe  un  territoire  ne  pourra 
saisir  que  le  numeraire,  les  fonds  et  les  valeurs  exigibles 
appartenant  en  propre  ä  l'Etat,  les  de"pöts  d'armes,  moyens 
de  transport,  magasins  et  approvisionnements  et,  en  generah 
toute  propriete*  mobiliere  de  l'Etat  de  nature  ä  servir  au  but 
de  la  guerrc. 

Le  material  des  cherains  de  fer,  les  telegraphes  de  terre, 
les  bateaux  ä  vapeur  et  autres  navires  en  dehors  des  cas 
regis  par  la  loi  maritime,  de  meme  que  les  depöts  d'armes 
et  en  gEneral  toute  espece  de  munitions  de  guerre,  quoique 
appartenant  ä  des  Soctätes  ou  a  des  personnes  priväes,  sont 
egalement  des  moyens  de  nature  ä  servir  au  but  de  la 
guerre  et  qui  ne  peuvent  pas  £tre  laissEs  par  l'armee 
d'oecupation  ä  la  disposition  de  l'ennemi.  Le  materiel  des 
chemins  de  fer,  les  telegraphes  de  terre,  de  mfrne  que  les 
bateaux  ä  vapeur  et  autres  navires  susmentionnEs,  seront 
restitues  et  les  indemnitßs  reglEes  ä  la  paix. 

Art.  7.  L'Etat  oecupant  ne  se  considerera  que  comme 
administrateur  et  usufruitier  des  edifices  publics,  immeubles, 
forets  et  exploitations  agricoles  appartenant  ä  l'Etat  ennerai 
et  se  trouvant  dans  le  pays  oecupe.  II  devra  sauvegarder 
le  fonds  de  ces  proprietes  et  les  administrer  conformement 
aux  regles  de  l'usufruit. 

Art.  8.  Les  biens  des  communes,  ceux  des  Etablissements 
consacres  aux  eultes,  ä  la  charitä  et  ä  Instruction,  aux  arts 
et  aux  sciences,  meine  appartenant  ä  l'Etat,  seront  traites 
comme  la  propri6t6  privEe. 

Toute  saisie,  destruetion  ou  degradation  intentionnelle 
de  semblables  Etablissements,  de  monuments  historiques, 
d'oeuvres  d'art  ou  de  science,  doit  Gtre  poursuivie  par  les 
autoritEs  compätentes. 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.    Beilagen.         129 

Qui  doit  etre  reeonnu  comme  partie  heiliger  ante:  des 
combattants  et  d*.s  non-combattants. 

Art.  9.  Les  lois,  les  droits  et  les  devoirs  de  la  guerre 
n*  s'appliquent  pas  seulement  a  l'armee,  mais  encore  aux 
miljees  et  aux  corps  de  volontaires  reunissant  les  conditions 
«uirantes : 

1°  D'avoir  ä  leur  tete  une  personne  responsable  ponr  ses 

subordonnes ; 
2*  D'avoir  un  signe  dlstinctif  fixe  et  reconnaissable  ä  dis- 

tance; 
3»  De  porter  les  armes  ouvertement,  et 
4°  De  se  conformer  dans  leurs  Operations  anx  lois  et  cou- 
tumes  de  la  gnerre. 
Dans  les  pays  oü  les  milices  constituent  1'armee    ou    en 
fönt   partie,     elles     sont    comprises     sous     la    denomination 
dJarmre. 

Art.  10.  La  population  d'un  territoire  non  oeenpe  qui} 
'V  Papproehe  de  Vennemi,  prend  spontane'ment  les  armes  pour 
'ftmbattre  les  troupes  d? Invasion  sans  avoir  eu  le  temps  de 
Jorgani&t.r  conformhnent  ä  Varticle  9,  sera  consideree  comme 
(»elh'grrante  si  eile  respecte  les  lois  et  coutumes  de  la  guerre. 
Art.  11.  Les  forers  armees  des  parties  bellige>antes 
f»eiivent  se  composer  de  combattants  et  de  non-combattants. 
En  cas  de  capture  par  l'ennemi,  les  uns  et  les  autres 
joniront  des  droits  de  prisonniers  de  guerre. 

Des  moyens  de  nuire  ä  Vennemi. 

Art.  12.  Les  lois  de  la  guerre  ne  reconnaissent  pas 
aax  belligerante  un  poivoir  illimite'  quant  aux  choix  des 
•novens  de  nuire  ä  l'ennemi. 

Art.  13.     D'aprös  ce  principe  sont  notamment  interdits; 

a.  L'emploi  du  poison  ou  d'armes  empoisonnees ; 

b.  Le  raeurtre  par  trahison  d'individus  appartenant  a 
l'arsiee  ennemie; 

r.  Le  meurtre  d'un  ennemi  qui,  ayant  mis  bas  les  armes 
ou  n'ayant  plus  les  moyens  de  se  deTendre,  s'est  rendu 
a  merci ; 

#/.  La  declaration  qu'il  ne  sera  pas  fait  de  quartier; 

9 


130         Völkerrechtliche  Fragea  der  Gegenwart.    Beilagen. 

e.  L'emploi  d'arines,  de  projectiles  ou  de  matieres  propres 
&  causer  des  maux  superflus,  ainsi  que  l'nsage  des  pro- 
jectiles prohibes  par  la  dßclaration  de  St.-Petersbourg 
de  1868; 

f.  L'abus  du  pavillon  parlementaire,  du  pavillon  national 
ou  des  insignes  militaires  et  de  l'uniforme  de  Pennemi, 
ainsi  que  des  signes  distinetifs  de  la  Convention  de 
Geneve ; 

<j.  Toute  destruetion  ou  saisi  de  propriet6s  ennemies  qui 
ne  serait  pas  inipe>ieuscinent  commandee  par  la 
necessite"  de  guerre. 

Art.  14.  Les  rnses  de  guerre  et  l'emploi  des  moyeus 
necessaires  pour  se  procurer  des  renseignements  sur  l'ennetni 
et  snr  le  terrain  (sauf  les  dispositions  de  l'article  36)  sont 
considäres  comme  de  moyens  Ucites. 

Des  sifyes  et  botnbardement. 

Art.  15.  Les  places  fortes  peuvent  seules  etre  assieget-s. 
Des  villes,  agglomerations  d'habitations  ou  villages  ouverts 
qui  ne  sont.  pas  defendus  ne  peuvent  etre  ni  attaqu6s  ni 
boinbardäs. 

Art.  16.  Mais  si  une  ville  ou  place  de  guerre,  agglo- 
meration  d'habitations  ou  village,  est  defendu,  le  commandant 
des  troupes  assaillantes,  avant  d'entreprendre  le  bombarde- 
ment,  et  sauf  Pattaque  de  vive  force,  devra  faire  tout  ce 
qui  depend  de  lui  pour  en  avertir  les  autorites. 

Art.  17.  En  pareil  cas,  toutes  les  mesures  necessaires 
doivent  etre  prises  pour  epargner,  autant  qu'il  est  possible. 
les  ädifices  consacreß  aux  eultes,  aux  arte,  aux  scienecs  et 
ä  la  bienfaisance,  les  höpitaux  et  les  lieux  de  rassemblement 
de  malades  et  de  blessäs,  a  condition  qu'ils  ne  soient  pas 
employes  en  nieme  temps  ä  un  but  militaire. 

Le  devoir  des  assi6ges  est  de  de"signcr  ces  edifices  par 
des  signes  visibles  späciaux  a  indiquer  d'avance  par 
l'assiege\ 

Art.  1 7.  Une  ville  prise  d'assaut  ne  doit  pas  etre  li vree 
au  pillage  des  troupes  victorieuses. 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.    Beilagen.         131 

Des  espions. 

Art.  19.  Ne  peut  etre  considere*  comine  espion  que 
l'individu  qni,  agissant  Claudes tiu einen t  ou  sons  de  faux 
preteztes,  rrcueille  ou  cherche  ä  recueillir  des  informations 
dans  les  localites  occupe*es  par  l'ennemi,  avec  Finten tion  de 
lvs  communiquer  a  la  partie  adverse. 

Art.  20.  L'espion  pris  sur  le  fait  sera  juge  et  traite* 
d'apres  les  lois  en  vigueur  dans  l'armäe  qui  l'a  saisi. 

Art.  21.  L'espion  qni  rejoint  l'armee  ä  laqnelle  il 
appartient  et  qni  est  captnre  plus  tard  par  l'ennemi  est 
traite'  comme  prisonnier  de  guere  et  n'encourt  ancune 
responsabilite  ponr  ses  actes  antärieurs. 

Art.  22.  Les  militaires  qui  ont  pänetre  dans  la  zone 
d'operations  de  Farm6e  ennemie,  a  Peifet  de  recueillir  des 
informations,  ne  sont  pas  considäres  comme  espions.  s'il  a 
ete  possible  de  reconnaitre  leur  qualile  de  militaires. 

De  meme,  ne  doivent  pas  etre  conside>6s  comme  espions, 
s'ils  sont  captures  par  l'ennemi :  les  militaires  (et  aussi  les 
non-militaires  accomplissant  ouvertement  leur  mission)  chargös 
de  transmettre  des  depeches  destinees  soit  ä  leur  propre 
armee,  soit  ä  l'armäe  ennemie. 

A  cette  categorie  appartiennent  egaleinent,  s'ils  sont 
captures,  les  individus  envoyes  en  ballon  pour  transmettre 
les  depeches,  et,  en  general,  pour  entretenir  les  Communi- 
cations entre  les  diverses  parties  d'une  armee  ou  d'un 
tenitoire. 

Des  prisonniers  de  guerre. 

Art.  23.  Les  prisonniers  de  guerre  sont  des  ennemis 
legaux  et  desarmes. 

Ils  sont  au  pouvoir  du  Gouvernement  ennemi,  mais  nou 
des  individus  ou  des  corps  qui  les  ont  captures. 

Ils  doivent  etre  traites  avec  Kumanite. 

Tout  acte  d'insubordination  autorise  ä  leur  egard  les 
mesures  de  rigueur  necessaires. 

Tout  ce  qui  leur  appartient  personnellement,  les  armes 
exceptees,  reste  leur  proprietö. 


132         Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.    Beilagen. 

Art.  24.  Les  prisonniers  de  guerre  peuvent  etre 
assujettis  ä  l'internement  dans  une  Tille,  forteresse,  camp  oa 
localite  quelconque,  avec  Obligation  de  ne  pas  s'en  eloigner 
au  delä  de  certaines  limites  determinees ;  mais  ils  ne  peuvent 
etre  enfermes  que  par  mesure  de  süretö  indispensable. 

Art.  25.  Les  prisonniers  de  guerre  peuvent  etre 
einployes  ä  certains  travaux  publics  qui  n'aient  pas  un 
rapport  direct  avec  les  Operations  sur  le  theätre  de  la  guerre 
et  qui  ne  soient  pas  extenuants  ou  humiliants  pour  leur 
grade  militaire,  s'ils  appartiennent  ä  l'armee,  ou  pour  leur 
Position  officielle  ou  sociale,  s'ils  n'en  fönt  point  partie. 

Ils  pourront  egalement,  en  se  conformant  aux  dispositions 
reglementaires,  ä  fixer  par  l'antorite  militaire,  prendre  part 
aux  traVaux  de  l'industrie  privee. 

Leur  salaire  servira  ä  ameliorer  leur  position  ou  leur 
sera  compte"  au  moment  de  leur  liberation.  Dans  ce  casr 
les  frais  d'entretien  pourront  etre  defalques  de  ce  salaire. 

Art.  26.  Les  prisonniers  de  guerre  ne  peuvent  etre 
astrein ts  d'aucune  maniere  ä  prendre  unc  part  quelconque  ä 
la  poursuite  des  Operations  de  la  guerre. 

Art.  27.  Le  Gouvernement  au  pouvoir  duquel  se 
trouvent  les  prisonniers  de  guerre  se  Charge  de  leur  en- 
tretien. 

Les  conditions  de  l'entretien  des  prisonniers  de  guerre 
peuvent  etre  etablies  par  une  entente  mutuelle  entre  les 
parties  belligerantes. 

A  defaut  de  cette  entente,  et  comme  principe  general, 
les  prisonniers  de  guerre  seront  traites  pour  la  nourriture  et 
1'habillement  sur  le  meme  pied  que  les  troupes  du  Grouver- 
inent  qui  les  aura  captures. 

Art.  28.  Les  prisonniers  de  guerre  sont  soumis  aux  lois 
et  reglements  en  vigueur  Jans  l'armee  au  pouvoir  de  laquelle 
ils  se  trouvent. 

Contre  un  prisonnier  de  guerre  en  fuite  il  est  permis, 
apres  soinmation,  de  faire  usage  des  armes.  Repris,  il  est 
passible  de  peines  diseiplinaires  ou  soumis  ä  une  surveillance 
plus  severe. 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.    Beilagen.         133 

Si,  aprös  avoir  räussi  &  s'6chapper,  11  est  de  nouveau 
fait  prisonnier,  il  n'est  passible  d'aucune  peine  pour  sa  fuite 
ant£rieure. 

Art.  29.  Chaque  prisonnier  de  gnerre  est  tenu  de  de- 
clarer,  s'il  est  interrogä  ä  ce  sujet,  ses  veritables  noms  et 
grade«  et,  dans  le  cas  oü  il  enfreindrait  cette  regle,  il  en- 
coorrait  nne  restriction  des  avantages  accord^s  aux  prison- 
niers de  guerre  de  sa  catägorie. 

Art.  30.  L'ächange  de  prisonniers  de  guerre  est  r6gl£ 
par  une  entente  mutuelle  entre  les  parties  belligerantes. 

Art.  31.  Les  prisonniers  de  guerre  penvent  Gtre  mis  en 
liberte  snr  parole,  si  les  lois  de  leur  pays  les  y  autorisent, 
eU  en  pareil  cas,  ils  sont  Obligos,  jsous  la  garantie  de  leur 
honnenr  personnel,  de  remplir  scrupuleusenient,  tant  vis-a-vis 
de  leur  propre  Gouvernement  que  Tis  ä-vis  de  celui  qui  les 
a  faits  prisonniers,  les  engagements  qu'ils  auraient  contractu. 

Dans  le  m6me  cas,  leur  propre  gouvernement  ne  doit  ni 
exiger  ni  accepter  d'eux  ancun  service  contraire  a  la  parole 
donnäe. 

Art.  32.  Un  prisonnier  de  guerre  ne  peut  pas  &tre  con- 
traint d'accepter  sa  liberte'  sur  parole;  de  mfrne  le  Gouverne- 
ment ennemi  n'est  pas  Obligo  d'accäder  ä,  la  demande  du  pri- 
sonnier rtclamant  sa  mise  en  liberte  sur  parole. 

Art.  33.  Tout  prisonnier  de  guerre,  Iib6r6  snr  parole 
et  repris  portant  les  armes  contre  le  Gouvernement  envers 
lequel  il  s'etait  engagä  d'honneur,  peut  etre  privä  des  droits 
de  prisonnier  de  guerre  et  traduit  devant  les  tribunaux. 

Art.  34.  Peuvent  ägalement  fctre  faits  prisonniers  les 
individus  qui,  se  trouvant  auprös  des  ärmeres,  n'en  fönt  pas 
directement  partie,  tels  que  :  les  correspondants,  les  reporters 
de  jonrnanx,  les  vivandiers,  les  fournisseurs,  etc.,  etc.  Toute- 
fois  ils  doivent  6tre  munis  d'une  autorisation  imanant  du 
pouvoir  cornpätent  et  d'un  certiöcat  d'identitä. 

Des  malades  et  des  blesses. 

Art.  35.  Les  obligations  des  belligärants  concernant  le 
service  des  malades  et  des  blessäs  sont  regies  par  la  Conven- 
tion de  Genöve  du  22  adut  1864,  sauf  les  modifications  dont 
celle-ci  pourra  etre  l'objet. 


134         Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart    Beilagen. 

Du  pouvoir  militaire  ä  Vigard  des  personnes  privees. 

Art.  36.  La  population  (Tun  territoire  occupe*  ne  peut 
etre  forcee  de  prendre  part  anx  Operations  militaires  contre 
ßon  propre  pays. 

Art.  37.  La  population  d'un  territoire  occupe  ne  pent 
etre  contrainte  de  preter  serment  ä  la  puissance  ennemie. 

Art.  38.  L'honneur  et  les  droits  de  la  famille.  la  vie 
et  la  proprietä  des  individus,  ainsi  qne  leurs  convictions  re- 
ligieuses  et  Texercice  de  leur  culte  doivent  etre  respect^s. 

La  proprie'te'  privee  ne  peut  pas  etre  confisquee. 

Art.  39.    Le  pillage  est  formellement  interdit. 

Des  contributions  et  des  rtquisüions. 

Art.  40.  La  proprtete*  privee  devant  etre  reBpectee,  Ten- 
nemi  ne  demandera  aux  communes  ou  aux  habitants  que  des 
prestations  et  des  Services  en  rapport  avec  les  necessites  de 
guerre  generalement  reconnues,  en  proportion  avec  les  res- 
sources  du  pays  et  qui  n'impliquent  pas  pour  les  populations 
l'obligation  de  prendre  part  aux  Operations  de  guerre  contre 
leur  patrie. 

Art.  41.  L'ennemi  prelevant  des  contributions  soit  comme 
äquivalent  pour  des  inipöts  (v.  Art.  b)  ou  pour  des  presta- 
tions qui  devraient  etre  faites  en  nature,  soit  ä  titre  d'amende, 
n'y  procedera,  autant  que  possible,  que  d'apres  les  regles  de 
la  repartition  et  de  l'assiette  des  impöts  en  vigueur  dans  le 
territoire  occup£. 

Les  autorites  civiles  du  Gouvernement  legal  y  prSteront 
leur  assistance  si  ejles  sont  rest^es  en  fonctions. 

Les  contributions  ne  pourront  etre  imposäes  que  sur 
l'ordre  et  sous  la  responsabilitö  du  general  en  chef  ou  de 
l'autorite'  civile  superieure  etablie  par  Tennemi  dans  le  terri- 
toire occupö. 

Pour  tonte  contribution.  un  recu  sera  donne*  au  contri- 
buable. 

Art.  42.  Les  requisitions  ne  seront  faites  qu'avec  Tau- 
torisation  du  commandant  dans  la  localite  occupee. 

Pour  toute  requisition,  iL  sera  accorde"  une  inderanite  ou 
delivre  un  regu. 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.    Beilagen.         135 

Des  parlementaires. 

Art.  43.  Est  considere*  comme  parlementaire  l'individu 
antonse"  par  Tun  des  belligerants  ä  entrer  en  pourparlers 
aTec  l'autre  et  se  Präsentant  avec  le  drapeau  blanc,  accom- 
pagne  d'un  trompette  (clairon  ou  tambour)  ou  aussi  d'un 
porte-drapeau.  II  aura  droit  ä  Pinviolabilite*  ainsi  que  le 
trompette  (clairon  ou  tambour)  et  le  porte-drapeau  qui  l'ac- 
compagnent. 

Art.  44.  Le  chef  auquel  un  parlementaire  est  expödie* 
n'est  pas  Obligo  de  le  recevoir  en  toutes  circonstances  et  dans 
toutes  conditions. 

II  lui  est  loisible  de  prendre  toutes  les  mesures  neees- 
saires  pour  empecher  le  parlementaire  de  profiter  de  son  s6- 
jour  dans  le  rayon  des  positions  de  l'ennemi  au  prejudice 
de  co  dernier,  et  si  le  parlementaire  s'est  rendu  coupable  de 
cet  abus  de  confiance,  il  a  le  droit  de  le  retenir  temporaire- 
ment. 

II  peut  egalement  declarer  d'avance  qu'il  ne  recevra  pas 
de  parlementaires  pendant  un  temps  determine\  Les  parlemen- 
taires qui  viendraient  ä  se  präsenter  aprös  une  pareille  noti- 
fication,  du  cöt6  de  la  partie  qui  l'aurait  recue,  perdraient 
le  droit  a  l'inviolabilitä. 

Art.  45.  Le  parlementaire  perd  ses  droits  d'inviolabilite\ 
s'il  est  prouve  d'nne  maniere  positive  et  irrecusable  qu'il  a 
profite  de  sa  posttion  privilögi6e  pour  provoquer  ou  commettre 
un  acte  de  trahison. 

Des  capitulations. 

Art.  46.  Les  conditions  des  capitulations  sont  däbattues 
entre  les  parties  contractantes. 

Elles  ne  doivent  pas  etre  contraires  ä  l'honneur  militaire. 

Une  fois  fix£es  par  une  Convention,  elles  doivent  etre 
scrapuleusement  observöes  par  les  deux  parties. 

De  V armist ice. 

Art.  47.  L'armistice  suspend  les  Operations  de  guerre 
par  un  accord  mutuel  des  parties  bellige>antes.    Si  la  duräe 


136         Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart.    Beilagen. 

n'en  est  pas  determinee,  les  parties  belligerantes  peuvent  re- 
prendre  en  tout  temps  les  Operations,  pourvu,  toutefois,  que 
l'ennemi  soit  averti  en  temps  convenu,  conformement  aux  con- 
ditions  de  l'armistice. 

Art.  48.  L'armistice  peut  etre  g6ne>al  ou  local.  Le  pre- 
mier  suspend  partout  les  Operations  de  guerre  des  Etats  bei- 
ligerants;  le  second  seulement  entre  certaines  fractions  des 
arm^es  belligerantes  et  dans  un  rayon  determine. 

Art.  49.  L'armistice  doit  etre  officiellement  et  sans  re- 
tard notiiie*  aux  autorites  competentes  et  aux  troupes.  Les 
hostilitäs  sont  suspendues  immediatement  apres  la  notification. 

Art.  50.  II  depend  des  parties  contraetantes  de  fixer 
dans  les  clauses  de  l'arinistice  les  rapports  qui  pourront  avoir 
lieu  entre  les  populations. 

Art.  51.  La  violation  de  l'armistice,  par  l'une  des  par- 
ties, donne  ä  l'autre  le  droit  de  le  dänoncer. 

Art  52.  La  violation  des  clauses  de  l'armistice  par  des 
particuliers,  agissant  de  leur  propre  initiative,  donne  droit 
seulement  ä  reclamer  la  punition  des  coupables  et,  s'il  y  a 
lieu,  une  indemnite*  pour  les  pertes  eprouvees. 

Des  belligtrants  internes  et  des   blesses  soignes  chez  les 

neutres. 

Art.  53.  L'Etat  neutre  qui  reeoit  sur  son  territoire  des 
troupes  appartenant  aux  armees  belligerantes,  le»  internera, 
autant  que  possible,  loin  du  theätre  de  la  guerre. 

II  pourra  les  garder  dans  des  camps  et  meme  les  en- 
fermer  dann  des  forteresses  ou  dans  des  lieux  appropries  ä  cet 
effet. 

II  deeidera  si  les  officiers  peuvent  etre  laissäs  libres  en 
prenant  l'engagenient  sur  parole  de  ne  pas  quitter  le  terri- 
toire neutre  sans  autorisation. 

Art.  54.  A  defaut  de  Convention  speciale,  FE  tat  neutre 
qui  reeoit  des  troupes  belligerantes  fournira  aux  internus  les 
vivres,  les  habillements  et  les  secours  cominandes  par  l'hunia- 
nit6. 

Bonification  sera  faite  ä  la  paix  des  frais  occasionnes  par 
1'internement. 


Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegeuwart.    Beilagen.        137 

Art.  55.  L'Etat  neutra  pourra  autoriser  le  passage  par 
son  territoire  des  blosses  ou  malades,  appartenant  aux  ar- 
roees  belligärantes.  sous  la  röserve  que  les  trains  qui  les 
ameneront  ne  transporteront  ni  personnel  ni  materiel  de  guerre. 

En  pareil  cas,  l'Etat  neutre  est  tenu  de  prendre  les  me- 
sores  de  BÜrete*  et  de  contröle  necessaires  &  cet  effet. 

Art.  56.  La  Convention  de  Geneve  s'applique  aux  ma- 
lades et  aux  blessäs  internus  sur  territoire  neutre. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 


I. 

Der  Friede  von  8t.  Julien  und  der  Spruch  von  Peterlingen. 

Bis  gegen  Ausgang  des  Mittelalters  waren  die  städte- 
nud  schlössererfüllten  Landschaften,  die  wir  hente  mit  Stolz 
unser  Welschland  nennen,  von  Neuenburg  abgesehen,  der 
Eidgenossenschaft  fremd  und  bildeten  ihrer  Masse  nach  einen 
Bestandteil  des  grossen  Savoyerstaates,  der  von  Nizza 
bis  zum  Bielersee  reichte.  Von  ihrem  Stammland  aus  hatten 
sich  die  Grafen  von  Savoyen  schon  im  11.  Jahrhundert  im 
Unterwallis  und  in  der  Landschaft  am  obern  Ende  des 
Genfersees,  im  Chablais,  festgesetzt  und  nöthigten 
schliesslich  den  eigentlichen  Landesherrn  des  Rhonethaies, 
«len  Bischof  von  Sitten,  ihnen  alles  Gebiet  unterhalb  Sitten 
zu  überlassen.  Im  13.  Jahrhundert  gelang  es  ihnen,  mit 
Geld,  List  und  Gewalt  ihre  Oberhoheit  in  der  Waadt  zu 
begründen.  Selbst  die  Grafen  von  G  r  e  y  e  r  z  und  Nidau, 
letztere  als  Herren  von  Er  lach,  anerkannten  die  Lehns- 
herrlichkeit  des  savoyischen  Hauses.  Im  14.  Jahrhundert 
erwarb  dieses  Faucigny  und  Gex,  im  15.  die  alte  Graf- 
schaft Genf,  das  sogen.  Genevois,  und  noch  um  die  Mitte 
des  Jahrhunderts  gelang  ihm  eine  ansehnliche  Erweiterung 
nach  der  helvetischen  Seite  hin,  indem  die  Stadt  Fr  eiburg 
mit  ihrem  Gebiete  sich  von  Oesterreich  löste  und  an 
Savoyen  anschloss.1) 

Mitten  in  diesem  savoyischen  Länderkomplex  zu  beiden 
Seiten  des  Genfersees   hatten    sich    die    geistlichen  Ftirsten- 


1)  Vgl.  darüber  Büchi,  Freiburgs  Bruch  mit  Oesterreich,  sein 
Obcrgang  an  Savoyen  und  Anschluss  an  die  Eidgenossenschaft. 
Freiburg  1897. 


142  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

thümer  der  Bischöfe  von  Lausanne  und  Genf  als  be- 
sondre Staaten  erhalten.  Die  weltliche  Herrschaft  des 
Fürstbischofs  von  Lausanne  umfasste  die  Stadt  Lausanne 
mit  den  umgebenden  Dörfern,  dem  Mont  Jorat  und  den  vier 
Kirchspielen  von  Lavaux  (Lutry,  Villette,  St.  Saphorin, 
Corsier),  was  ein  zusammenhängendes  Gebiet  von  der  Venoge, 
bis  zur  Veveyse  ausmachte,  ferner  verschiedene  zerstreute 
Enklaven,  wie  Avenches,  Lucens,  Curtilles  und  Villarzel  in 
der  Waadt,  Bulle  und  La  Roche  im  heutigen  Et.  Freiburg. 
In  ähnlicher  Weise  bestand  der  Genfer  Kirchenstaat  aus  der 
Stadt  sanimt  ihrer  nächsten  Umgebung  und  den  im  Savoyischen 
enklavirten  Aemtern  Peney,  Jussy  und  Thiez. 

Es  lag  in  der  Natur  der  Dinge,  dass  das  mächtige 
Savoyeu  auch  diese  geistlichen  Inseln  zu  verschlingen  trachtete. 
Schon  1260  zwang  Graf  Peter  den  Bischof  von  Lausanne 
ihm  auf  Lebzeiten  einen  Theil  seiner  Gerichtsbarkeit  abzu- 
treten, und  so  sehr  die  Bischöfe  sich  gegen  die  Verewigung 
dieses  Verhältnisses  sträubten,  behaupteten  die  Herzöge 
schliesslich  doch  in  Lausanne  das  wichtige  Recht  der 
Appellation  und  übten  es  seit  1480  in  der  Regel  durch  ihren 
Landvogt  in  der  Waadt  als  sogenannten  juge  deBillens 
aus.1)  In  gleicher  Weise  gelang  es  ihnen,  einen  Fuss  nach 
Genf  hineinzusetzen.  1287  bemächtigte  sich  Graf  Amadeas  V. 
des  Inselschlosses  in  der  Rhone  und  nöthigte  den  Bischof, 
ihm  die  Ernennung  des  Vidomne,  d.  h.  des  bischöflichen 
Beamten,  der  die  Zivil-  und  Polizeigerichtsbarkeit  in  der 
Stadt  handhabte,  zu  überlassen.  Ein  noch  wirksameres 
Mittel,  Genf  von  sich  abhängig  zu  machen,  fanden  die  Herzoge 


*)  Gingin s- la-Sarra  et  Forel,  Recueil  des  chartes,  Statuts 
et  documents  concernant  1'ancien  4v6che  de  Lausanne  (Memoires  et 
documents  de  la  Suisse  Romaude  VII)  XVI  ff.,  728  ff.  Vgl.  Eid- 
gen.  Abschiede  IV  la  S.  804  ff. 


Der  Lau  saliner  Vertrag  von  1564.  143 

in  der  Beeinflussung  der  Bischofswahlen,  vermöge  deren  im 
15.  Jahrhundert  in  der  Kegel  Angehörige  oder  Günstlinge 
ihres  Hauses  den  bischöflichen  Stuhl  zu  Genf  bestiegen. 

So  schien  die  ganze  Suisse  Romande  Savoyen  verfallen 
zu  sein,  als  der  erste  grosse  Rückschlag  gegen  die  Macht 
dieses  Hauses  von  der  Schweiz  her  erfolgte.  Im  Jahre 
1475  erlitt  die  traditionelle  Freundschaft  zwischen  Bern  and 
Savoyen  einen  jähen  Bruch,  indem  das  letztere,  der  alten 
Beziehungen  uneingedenk,  sich  mit  dem  Feind  der  Eid- 
genossen, mit  Karl  dem  Kulmen,  alliirte.  Die  Folge  war, 
dass  Bern  den  kecken  Entschluss  fasste,  «der  uralten  Eid- 
genossenschaft uralte  Landmark  gegen  Sonnenuntergang»  her- 
zustellen und  «das  Land  zwischen  dem  Läbergebirg  und 
dem  Rotten,  von  Erlach  und  Murten  an  bis  gen  Genf  an  die 
Brack»  einzunehmen.1)  Es  bewog  Freiburg,  sich  von  Savoyen 
loszoreissen,  und  eroberte  mit  diesem  gemeinsam  in  heisser 
Blutarbeit  die  Städte  and  Burgen  derWaadt,  während  die 
Wallis  er  sich  des  unteren  Rhonethaies  bis  zur  Enge  von 
St.  Maurice  bemächtigten. 

Leider  verdarb  die  Zerfahrenheit  der  eidgenössischen 
Diplomatie,  was  das  gute  Schwert  gewonnen  hatte.  Von  der 
übrigen  Eidgenossenschaft  nicht  unterstützt,  musste  Bern 
trotz  des  Sieges  von  Murten  in  die  Rückgabe  des  eroberten 
WaadtlandeB  willigen;  doch  behielt  es  die  Herrschaften 
Erlach,  Aigle,  Ormont  und  Bex  für  sich  and  mit 
Freibarg  gemeinsam  Murten,  Grandson,  Orbe  und 
Echallcns,    wie    auch  die  Walliser   sich   im  Besitz    des 


M  Ans  heim  I  99.  Der  treffliche  Berner  Geschichtschreiber 
identifizirt,  wie  alle  seine  Zeitgenossen,  ohne  weiteres  die  alten 
Helvetier  mit  den  Eidgenossen.  Daher  sind  ihm  die  von  Cäsar  an- 
§<fgebenen  Grenzen  der  Helvetier,  der  Jura  und  die  Rhone  bei 
Genf,  die  «uralte  Landmark  der  Eidgenossenschaft.» 


144  Der  Laiisa mier  Vertrag  von  1564. 

Unterwallis  bis  St.  Maurice  behaupteten.  So  hatte  die 
Savoyerherrschaft  am  Genfersee  durch  die  Burgunderkriege 
eine  gründliche  Erschütterung  erfahren;  die  Waadt  war 
wenn  nicht  schweizerisch  geworden,  doch  in  die  Macht- 
sphäre der  Eidgenossen  gerückt,  und  schon  zogen  diese  auch 
Genf,  den  «Riegel  der  Lande»,  in  ihren  Bereich.  Am 
14.  Nov.  1477  schlössen  Bern  und  Freiburg  mit  Johann 
Ludwig,  dem  Administrator  des  Bisthums  Genf,  für  ihn  und 
seine  Stadt  ein  Burgrecht  auf  Lebenszeit. 

Mit  dem  Schicksal  von  Genf  hing  fortan  das  der  ganzen 
Westschweiz  aufs  engste  zusammen.  Das  Burgrecht  von 
1477  erlosch  mit  dem  Tode  Johann  Ludwigs  wieder,  aber 
die  einmal  angeknüpften  Beziehungen  der  Rhonestadt  zu  den 
beiden  Schweizerrepubliken  blieben  bestehen.  Als  der 
skrupellose  Herzog  Karl  III.  von  Savoyen  (1504—1553) 
durch  schnöde  Gewaltthat  sein  Vidomnat  in  Genf  zur  förm- 
lichen Landeshoheit  zu  erweitern  und  auch  die  Herrschaft 
über  Lausanne  durch  alle  möglichen  Mittel  zu  erschleichen 
suchte,  die  beiden  Bischöfe  aber  nur  noch  die  Rolle  von  ge- 
fügigen Werkzeugen  der  savoyischen  Pläne  spielten,  da 
fand  die  Unabhängigkeitspartei  in  beiden  Städten  einen  Rück- 
halt an  den  Eidgenossen.  Zunächst  war  es  Freiburg> 
das  den  Genfer  Patrioten  entgegenkam,  indem  es  mit  ihrer 
Stadt  im  Febr.  1519  ein  Burgrecht  eingieng.  Der  Herzog 
berief  sich  jedoch  auf  sein  1512  mit  den  Eidgenossen  ge- 
schlossenes Bündniss,  wonach  kein  Theil  die  «Hintersassen 
und  Unterthanen>  des  andern  in  Schirm,  Burg-  und  Land- 
recht  aufnehmen  durfte,  und  erreichte  die  Auflösung  des. 
Bnrgrechts  durch  einen  Spruch  der  XII  Orte.  Aber  während 
nun  Karl  in.  die  Genfer  durch  Henker  und  Hellebarden  zum 
Verzicht  auf  ihre  Freiheiten  zu  zwingen  suchte,  und  Papst 
und  Kaiser   sein  Vorhaben  begünstigten,  gieng  in   der  Eid- 


Der  Lausann  er  Vertrag  von  1564.  145 

?<*nossenschaft  ein  bedeutsamer  Wandel  vor.  Der  Versuch 
Freiburgs,  1519  Genf  an  die  Eidgenossenschaft  zu  fesseln, 
war  hauptsachlich  an  den  Rücksichten  gescheitert,  welche 
Bern  seinem  wiederhergestellten  Freundschaftsverhältniss 
zu  Savoyen  tragen  zu  müssen  glaubte.  Diese  Rücksichten 
erlitten  nun  einen  starken  Stoss,  indem  der  Herzog,  ur- 
sprünglich wie  die  Eidgenossen  ein  Alliirter  Frankreichs  in 
den  Weltkrieg  zwischen  Franz  I.  und  Kaiser  Karl  V.,  im 
Sommer  1524  zu  letzterem  abfiel.  Jetzt  stimmte  Bern  mit 
Freiburg  überein,  dass  man  die  Gesinnung  der  beiden  von 
Savoyen  abhängigen  Bischofsstädte  am  Leman  benutzen 
müsse,  um  sich  gegen  den  feindlich  gewordenen  Savoyer- 
fürsten  dieser  wichtigen  Festungen  zu  versichern.  Am 
T.  Dezember  1525  nahmen  Bern  und  Freiburg  Lausanne 
in  ihr  Burgrecht  auf  und  am  8.  Februar  1526  thaten  sie 
f-in  Gleiches  mit  Genf. 

Durch  diese  Bnrgrechte  stiess  die  Eidgenossenschaft 
ihre  Grenze  bis  zum  Genfersee  vor;  Genf  und  Lausanne, 
schweizerisch  geworden,  mussten  früher  oder  später  die  da- 
zwischen liegende  Waadt  nach  sich  ziehen.  In  der  Ahnung 
der  Dinge,  die  da  kommen  würden,  machte  der  Herzog  ver- 
zweifelte Anstrengungen,  um  die  Annullirung  jener  Burg- 
rechte zu  erwirken,  und  die  innern  Orte,  bei  denen  die  alte 
Abneigung  gegen  jede  Erweiterung  der  Eidgenossenschaft 
nach  Westen  durch  die  Sympathie  mit  den  in  ihren  Herr- 
*chaftsrechten  bedrohten  Bischöfen  verstärkt  wurde,  arbeiteten 
ihm  in  die  Hände,  indem  sie  durch  mündliche  und  schrift- 
liche Abmahnungen  die  neuen  Bündnisse  rückgängig  zu 
machen  suchten.  Aber  Bern  und  Freiburg  erklärten  ihren 
ft-sten  Willen,  dabei  zu  bleiben;  sie  wiesen  den  Vorwurf, 
•las«  dieselben  eine  Rechtsverletzung  gegenüber  Savoyen  ent- 
hielten,   energisch    zurück,     da    Genf    und    Lausanne    freie 

10 


146  Der  Lausanncr  Vertrag  von  1564. 

Reichsstädte  und  dem  Herzog  nicht  unterthan  seien,  und 
brachten  es  durch  ihre  Festigkeit  dahin,  dass  die  übrigen 
Orte  von  ihren  Abmahnungen  abstanden  und,  worauf  für 
den  Rechtsstandpunkt  alles  ankam,  die  Bischöfe  von 
Genf  und  Lausanne  die  Burgrechte  aner- 
kannte n.1) 

Hand  in  Hand  mit  dem  diplomatischen  Ränkespiel  in 
der  Schweiz  gieng  ein  mehr  oder  weniger  verdeckter  Krieg 
Savoyens  gegen  Genf.  Lausanne  Hess  der  Herzog  einst- 
weilen in  Ruh,  wiewohl  die  Stadt  sich  weigerte,  seinen 
Landvogt  in  der  Waadt  fernerhin  als  juge  de  Billens  anzu- 
erkennen; dafür  suchte  er  Genf  mittelst  Verkehrssperren 
und  unablässiger  Befehdung  durch  die  zum  «Löffelbund»  ver- 
einten savoyisch-waadtländischen  Edelleute  mürbe  zu  machen. 
Jahre  hindurch  bemühte  sich  Bern,  auf  der  Basis  des 
strengen  Rechts  den  Frieden  zu  erhalten;  allein  zwischen 
dem  Herzog,  der  die  Genfer  schon  als  seine  Unterthanen 
betrachtete,  und  der  Stadt,  die  nach  voller  republikanischer 
Freiheit  strebte,  war  kein  Ausgleich  möglich.  Endlich,  als 
Ende  September  1530  die  Herren  vom  Löifelbund  alles,  was 
diesseits  und  jenseits  des  Sees  Spiess  und  Stange  zu  tragen 
vermochte,  aufboten  und  ihnen  sogar  Helfer  aus  der  Frei- 
grafschaft Burgund  zuströmten,  um  Genf  durch  plötzlichen 
Ueberfall  zu  nehmen,  da  beschloss  Bern,  mit  Freiburg  und 
seinen  nähern  Verbündeten  ins  Feld  zu  ziehen,  während  es 
die  übrigen  Eidgenossen  mahnte,  sich  zur  Hilfeleistung  bereit 
zu  halten.  Zürich  sagte  seinen  Beistand  zu ;  die  fünf  innern 
Orte  dagegen,  die  mit  Savoycn  als  einem  wichtigen  Gliede 
des  katholischen   Machtsystems    sympathisirten,    beschlossen , 


1)  Occhsli,  Orte  und  Zugewandte,  Jahrbuch  für  Schweiz. 
Gesch.  XIII,  446  ff,  Böget,  Les  Suisses  et  Genfcve  I  268.  Mämoires 
et  Docum.  de  la  Suisse  Rom.  VII  740.    Abschiede  IV  lb  1544. 


Der  Lausanuer  Vertrag  von  1564.  147 

wenn  es  nicht  gelinge,  die  Anstände  mit  dem  Herzog  auf 
gütlichem  Wege  zu  vermitteln  oder  ans  Recht  zu  weisen, 
den  Bernern  «handlich*  herauszusagen,  man  Bei  durch  die 
Bunde  zu  keiner  Hilfe  verpflichtet  und  wolle  sich  der  Sache 
nicht  beladen.1) 

Zum  Glück  genügte  der  blosse  Aufbruch  des  durch 
Mannschaften  von  Solothurn,  Biel,  Neuenburg  und  Payerne 
verstärkten  bernisch-freiburgischen  Heeres,  um  die  Schaaren 
des  Löffelbundes  von  den  Mauern  Genfs  hinwegzuscheuchen. 
Herzog  Karl  III.  suchte  die  Berner  zur  Umkehr  zu  bewegen, 
indem  er  versicherte,  der  Ueberfall  sei  ohne  sein  Vorwissen 
geschehen.  Allein  die  Regenten  der  Aarestadt  fanden  mit 
Recht,  dass,  nachdem  man  einmal  zu  den  Waffen  gegriffen, 
das  Werk  ganz  und  voll  gethan  werden  müsse,  damit  nicht 
«über  Nacht  der  Herzog  oder  die  Sinen  widerum  den  Krieg 
anfachen  und  die  statt  Genf  und  inwoner  derselbigen  wie 
vor  beleidigen  und  begwaltigen  söltind.»2)  Sie  gaben  dem 
Heere  Befehl  vorwärts  zu  ziehen,  und  wenn  sie  auch 
Schonung  der  Waadt  geboten,  zeigten  doch  die  verbrannten 
Adelsschlösser  von  Rolle,  Vufflens,  Allaman,  Gaillard,  die 
geplünderten  Dörfer  und  Klöster  in  der  Umgegend  von 
Genf  den  erschreckten  Unterthanen  des  Herzogs ,  dass 
man  nicht  umsonst  den  Bären  ans  seiner  Höhle  rief.  Wohl 
oder  übel  musste  sich  Karl  III.,  der  dem  Schweizerheere 
keine  irgendwie  ebenbürtige  Macht  entgegen  zu  setzen 
hatte,  den  Bedingungen  unterwerfen,  die  ihm  die  Sieger 
diktirten.  Unter  Vermittlung  von  Gesandten  der  neun 
Orte  Zürich,  Luzern,  Uri,  Schwyz,  Unterwaiden, 

i)  Abschiede  IV  lb  791  ff.  Vgl.  Roget,  Les  Suisses  et  Ge- 
nere.  Lefort,  L'6mancipation  politique  de  Geneve.  V  auch  er, 
Lüttes  de  Geneve  contre  la  Savoie  1517—1530. 

*)  Abschiede  IV  lb  499  ff 


148  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

Zng,  Basel,  Solothurn,  Seh  af  f  hausen,  sowie 
St.  Gallens  und  des  Wallis  wurde  am  19.  Oktober  1530 
zu  S  t.  J  u  1  i  e  n  (südwestl.  von  Genf)  ein  F  r i  e  d  e  geschlossen^ 
durch  den  sich  der  Herzog  verpflichtete,  gegen  die  Genfer 
keinerlei  Gewalt  zu  brauchen,  ihnen  freien  Handel  und 
Wandel  zu  gestatten  und  seine  Unterthanen,  die  sie  schädigen 
würden,  gebührend  zu  bestrafen.  «Sölichs  also  stif, 
stät  und  unwandelbar  zuo  halten,  sol  gesagter 
unser  gnädiger  her  von  Savoy  für  sich  und  sin 
nachkomen  beiden  stetten  Bern  und  Fryburg 
in  underpfands  und  inpunds  wyss  insetzen  und 
verpfenden  das  land  genampt  die  Wat,  mit 
allem  dem  rechten,  so  erjetz  daran  hat  oder  er 
und  die  sinen  in  künftig  zyt  überkomen  und 
gehaben  möchten,  nützit  usgenoroen  noch  vor- 
behalten.» So  wurde  nichts  Geringeres  als  die  ganze 
Waadt  zum  Pfand  für  die  künftige  Sicherheit  Genfs  einge- 
setzt, und  die  beiden  Schweizerstädte  erhielten  das  vertrag- 
liche Recht,  bei  der  ersten  Unbill,  die  der  Herzog  ihrer 
Bundesgenossin  zufügte,  auf  das  wohlgelegene  Land  zu 
greifen.  Umgekehrt  wurden  auch  den  Genfern  bei  Strafe 
der  Entziehung  des  Schirms  der  beiden  Städte  alle  Thätlich- 
keiten  gegen  den  Herzog  und  seine  Angehörigen  untersagt 
und  alle  streitigen  Punkte,  wie  die  savoyischen  Hoheits- 
ansprüche auf  Genf,  die  damit  zusammenhängende  Frage  der 
Giltigkeit  oder  Ungültigkeit  des  Burgrechts  u.  s.  w.,  einem 
von  den  neun  Orten  und  zwei  Zugewandten,  die  den  Frieden 
zu  St.  Julien  vermittelt  hatten,  zu  bestellenden  Schieds- 
gerichte zugewiesen.1)  Schon  Ende  November  1530  trat 
dieses  in  Payerne  zusammen  und  fällte  nach  langwierigen 


»)  Abschiede  IV  lb  1501  ff. 


Der  Lau  sanner  Vertrag  von  1564.  149 

Rechts  Verhandlungen  bis  zum  31.  Dezember  eine  Reihe  von 
l'rtheilen,  durch  welche  dem  Herzog  das  einzige  unbestreit- 
bare Recht,  das  er  in  Genf  nachweisen  konnte,  das  Vidomnat, 
zuerkannt,  aber  die  Ausübung  desselben  an  Vorbehalte  ge- 
knüpft wurde,  die  seinen  Prätensionen  auf  Landeshoheit  den 
Riegel  schoben.  Das  Burgrecht  Genfs  mit  Bern  und 
Freiburg  wurde  dagegen  bestätigt,  weil  der  wirk- 
liche Landesherr  der  Stadt,  der  Bischof,  darein  gewilligt 
habe,  und  der  Herzog  als  Urheber  des  Krieges  zu  einer  Ent- 
schädigung von  21000  Kronen  an  die  drei  Städte  verfällt.1) 
Dieser  für  Savoyens  Anspräche  so  vernichtende  Pet  er- 
lin»: er  Spruch  ist  um  so  bemerkenswerther,  als  sich  von 
der  Mehrheit  der  elf  Stände,  die  ihn  fällten,  von  Luzern,  Uri, 
Schwyz,  Unterwaiden,  Zug,  Solothnrn,  Wallis,  damals  eher 
alles  andere  hätte  erwarten  lassen,  als  eine  Förderung  der 
Genfer  Interessen  auf  Kosten  Savoyens. 

Karl  III.  würde  sich  wohl  um  den  Spruch  der  Eid- 
genossen herzlich  wenig  gekümmert  haben,  wenn  ihm  Bern 
und  Freiburg  nicht  vorschauend  durch  die  Verpfändung  der 
Waadt  die  Schlinge  um  den  Hals  gelegt  hätten.  Durch  alle 
möglichen  Schliche  und  Ränke  suchte  er  daher  zunächst  diese 
unbequeme  Fessel  los  zu  werden.  Er  stellte  die  Behauptung 
auf.  da  der  Handel  nun  rechtlich  ausgetragen  sei,  falle  auch 
die  Pfandschaft  dahin ;  dann  Hess  er  durch  eine  Gesandt- 
schaft des  Kaisers,  den  er  auf  dem  Reichstag  von  Augsburg 
um  Hülfe  und  ßündniss  gegen  die  Schweizer  angegangen 
hatte,  die  Aufhebung  derselben  oder  wenigstens  ihre  Um- 
wandlung in  eine  Geldbusse  verlangen.2)  Die  Zerklüftung 
der    Eidgenossen    und    die  Niederlage   der    Reformirten    bei 


i)  Abschiede  IV  lb  863  ff.  1516—1562. 
*)  Abschiede  IV  lb  1562;  1056,  1088. 


150  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

Kappel  gaben  ihm  sogar  den  Math,  die  festgesetzten  Termine 
für  die  Raten  der  Kriegsentschädigung  ohne  Zahlung  ab- 
laufen zu  lassen  und  im  Anfang  des  Jahres  1532  die  Genfer 
wieder  mit  Verkehrssperre  und  Ueberfällen  zu  bedrohen.1) 
Freiburg  war  der  Ansicht,  dass  damit  die  Waadt  verfallen 
sei,  und  rüstete,  hitziger  als  Bern,  zum  Kriege.2)  Nachdem 
Karl  III.  einen  vergeblichen  Versuch  gemacht,  durch  Ver- 
mittlung des  Wallis  mit  den  V  katholischen  Orten  ein 
Sonderbündniss  zu  knüpfen  und  durch  sie  die  Umstossung 
des  Peterlingerurtheils  und  die  Aufhebung  des  Genfer  Burg- 
rechts zu  erwirken,")  kroch  er  zu  Kreuze,  hob  die  Proviant- 
sperre auf  und  bezahlte  im  April  1532  die  erste  Rate  der 
Kriegsentschädigung,  womit  er  endlich  den  Pcterlinger 
Spruch  anerkannte.4)  Immer  wieder  kam  er  aber  auf  die 
<Verpenigung»  der  Waadt  zurück,  und  die  beiden  Städte 
stellten  ihm  wenigstens  eine  «Milderung»  derselben  nach  der 
letzten  Zahlung  in  Aussicht.  Als  diese  im  Mai  1533  wirklich 
geleistet  wurde,  erklärten  sich  Bern  und  Freiburg  bereit, 
statt  der  ganzen  Waadt  nur  die  vier  Städte  Romont,  Yverdon, 
Cudrelin  und  Stäffis  einsetzen  zu  lassen  und  dem  Herzog, 
wenn  die  vier  Plätze  ihnen  verfielen,  die  Lösung  derselben 
binnen  drei  Jahren  mittelst  einer  Summe  von  20  000  Kronen 
zu  gestatten,  freilich  alles  dies  nur  gegen  die  wohlverbriefte 
Zusicherung,  dass  diese  Erleichterung  den  übrigen  Bestimm- 
ungen des  Vertrages  von  St.  Julien  und  des  Urtheils  von 
Peterlingen  keinerlei  Abbruch  thun  solle.5) 


i)AbschiedcIVlb  1247,  1267,  1284,  1298. 

2)  Abschiede  IV  lb  1281,  1298,  1305. 

3)  Abschiede  IV  lb  1323,  1347,  1351. 

4)  Abschiede  IV  lb  1308  f.,  1337,  1405,  1413,  1440. 

5)  Abschiede  IV    lb  1309.    1337,   1434,  1440,  IV  lc  59  f., 
67,  72  ff.,  75. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  151 

Karl  III.  verschmähte  es  jedoch,  auf  diese  «Milderung  >, 
die  ihn  allerdings  noch  immer  mit  dem  Verlust  der  halben 
Waadt  bedrohte,  einzugehen,  da  sich  ihm  plötzlich  ge- 
gründete Hoffnung  aufthat,  Burgrecht,  Verpfändung  und 
Peterlinger  Spruch,  alles  miteinander  zerreissen  zu  können. 
Der  religiöse  Zwiespalt,  der  die  Eidgenossenschaft  spaltete, 
übertrug  sich  auf  das  Verhältniss  der  beiden  Zähringer- 
städte zu  Genf.  Bei  den  ersten  Manifestationen  der  neuen 
Lehre  in  der  Rhonestadt  bedrohten  beide  sie  mit  Auflösung 
des  Burgrechts,  Frei  bürg,  wenn  sie  die  lutherische  Ketzerei 
in  ihren  Mauern  dulde,  Bern,  wenn  sie  die  Anhänger  seines 
Glaubens  verfolge.1)  Als  die  Genfer,  vor  die  bittere  Wahl 
zwischen  Bern  und  Freibnrg  gestellt,  unentschieden  hin  und 
her  schwankten  und  das  letztere  daran  verzweifelte,  den 
Einfluss  der  mächtigen  Schwesterstadt  aus  dem  Felde  zu 
schlagen,  wandte  es,  das  bisher  in  der  Beschirmung  der 
Unabhängigkeit  Genfs  wenn  nicht  die  grösste  Kraft,  so  doch 
den  grössten  Eifer  gezeigt,  sich  plötzlich  den  Gegnern  zu, 
dem  Bischof  und  dem  Herzog,  weil  ihm  die  Erhaltung  des 
Katholizismus  in  der  Rhonefeste  nun  als  das  wichtigere 
Interesse  erschien.  Im  Sommer  1533,  bei  Anlass  des  an 
dem  altgläubigen  Chorherrn  Wehrli  begangenen  Todtschlags, 
verständigte  es  sich  mit  dem  Bischof  und  mit  Savoyen,  in- 
dem es  die  alten  Bünde  mit  letzterem  beschwor,2)  und  als 
der  Rath  von  Genf  am  I.März  1534  es  geschehen  liess,  dass 
sich  die  Reformirten  einer  Kirche  bemächtigten,  sandte  es 
am  27.  März  den  Burgrechtsbrief  mit  abgetrenntem  Siegel 
an  Genf  zurück.  Gleichzeitig  traf  Freiburg  mit  dorn 
savoyischen  Landvogt  und  den  Ständen  der  Waadt  eine 
Vereinbarung    zur  Aufrechterhaltung    des  wahren  Glaubens, 

l)  Oeehsli  ,  Orte  und  Zugewandte  450. 
*)  Abschiede  IV  lc  114  ff.  126. 


152  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

und  knüpfte  der  Herzog  durch  Vermittlung  des  Bischofs  von 
Sitten  mit  den  VII  katholischen  Orten,  die  sich  am  17.  Dez. 
1533  mit  dem  Wallis  zn  einem  festen  konfessionellen  Sonder- 
bnndc  vereinigt  hatten,  Verhandlangen  an,  um  seine  Auf- 
nahme In  dieses  Glaubensbündniss  zu  erwirken,  zn  dem  aus- 
gesprochenen Zwecke,  Genf  und  Lausanne  mit  Gewalt  zu 
unterwerfen  und  in  dem  daraus  erfolgenden  Kriege  mit 
Bern  die  katholische  Eidgenossenschaft  auf  seiner  Seite  zu 
haben.1)  Die  Werbungen  Karls  III.  fanden,  wenn  sie  auch 
schliesslich  nicht  zum  Ziele  führten,  bei  den  katholischen 
Orten  doch  ein  solches  Entgegenkommen,  dass  er  beim  Vor- 
gehen gegen  das  ketzerisch  gewordene  Genf  zum  mindesten 
ihrer  moralischen  Unterstützung  sicher  sein  durfte.  Ausser- 
dem fühlte  er  sich  gedeckt  durch  den  Kaiser,  mit  dem  er, 
wie  die  übrigen  italienischen  Fürsten,  im  Februar  1533  ein 
Vertheidigungsbündnisa  geschlossen  hatte,2)  so  dass  er  sich 
nun  stark  genug  glaubte,  alle  Rücksichten  gegen  Bern  über 
Bord  werfen  zu  können.  Im  Juni  1534  eröffnete  er  in  Ver- 
bindung mit  dem  Bischof,  der  im  Sommer  1533  die  Stadt 
auf  Nimmerwiedersehen  verlassen  hatte,  die  Feindseligkeiten 
gegen  Genf  wieder  in  alter  Weise,  durch  eine  Lebensmittel- 
sperre und  unablässige  Ueberfälle  seitens  der  Edelleute  und 
verbannten  «Mameluken»,  denen  das  Schloss  Peney  als 
Stützpunkt  diente.  Umsonst  erinnerte  Bern  den  Herzog  an 
den  Vertrag  von  St.  Julien,  umsonst  drohte  es  dem  Land- 
vogt und  den  Ständen  der  Waadt,  es  werde  in  zutreffendem 
Fall  von  seinem  Pfandrecht  umfassenden  Gebrauch  machen/) 


')  Abschiede  IV  lc  297  ff.;  292;  286,  289,  294,  335,  396, 
414  f.,  417,  452. 

2)  Papiers  d'Etat  du  Cardinal  de  Gran  volle,  publ.par  Weiss 
II  18,  155,  430. 

3)  Abschiede  IV  lc  346  ff.  354,  378  f.,  386  f.,  400  f. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  153 

Auf  einer  Konferenz  zu  Thonon  im  Dezember  1534,  wo 
die  Boten  der  Eidgenossen  zwischen  Bern  und  dem  Herzog 
vermitteln  sollten,  trat  der  letztere  äusserst,  trotzig  auf. 
Dos  Beifalls  der  katholischen  Orte,  d.  h.  der  eidgenössischen 
Mehrheit  sicher  und  von  einem  kaiserlichen  Gesandten  unter- 
stützt, verlangte  er  gebieterisch  Rückkehr  Genfs  zum  alten 
Glauben,  Auflösung  des  Burgrechts  mit  Bern  und  Wieder- 
einsetzung seiner  selbst  wie  des  Bischofs  in  alle  Rechte,  die 
sie  vor  dem  Burgrecht  in  der  Stadt  genossen  hätten.  Als 
die  Berner  sich  auf  den  Vertrag  von  St.  Julien  und  den 
Peterlinger  Spruch  beriefen,  erklärte  er,  dass  er  sich  weder 
durch  den  einen  noch  durch  den  andern  gebunden  erachte ; 
er  halte  sich  überhaupt  zu  nichts  verpflichtet  und  kenne 
<weder  Vortrag  noch  Hypothek»,  und  als  sie  ihm  Recht  auf 
die  Schiedsrichter  von  Peterlingen  boten,  weigerte  er  sich, 
darauf  einzugehen.  Nicht  als  Schiedsrichter,  nur  als  Ver- 
mittler wollte  er  sich  die  Eidgenossen  gefallen  lassen;  denn 
als  Richter  hätten  auch  die  katholischen  Orte  schwerlich 
umhin  gekonnt,  den  von  ihnen  vor  vier  Jahren  gefällten 
Spruch  zu  bestätigen ;  als  Vermittler  dagegen  hatten  sie 
freie  Hand,  die  eidgenössische  Intervention  zu  Gunsten 
Savoyens  zu  wenden.1) 

In  der  That  schlugen  die  XII  Orte  unter  dem  dotni- 
nirenden  Einfluss  der  katholischen  Mehrheit  auf  einem  Tag 
zu  Luzern  im  Januar  1535  entgegen  der  Bitte  Berns, 
es  beim  Frieden  von  St.  Julien  und  beim  Urtheil  von  Peter- 
lingen zu  «handhaben»,  Vergleichsartikel  vor,  die  auf  eine 
Auslieferung  Genfs  an  den  Herzog  und  Bischof  gegen  eine 
illusorische  Bestätigung  seiner  alten  Freiheiten  hinausliefen.2) 
Berns  Lage  war  damit  äusserst  schwierig  geworden.     Nahm 


*)  Abschiede  IV  lc  431—442. 
*)  Abschiede  IV  lc.  449,  452. 


154  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564, 

es  die  Vorschlage  der  Tagsatzung  an,  so  verzichtete  es  da- 
mit auf  alle  im  Feldzug  von  1530  errungenen  Vortheile  und 
gab  Genf,  das  im  Vertrauen  auf  seine  Unterstützung  und 
unter  seiner  Leitung  mit  dem  Katholizismus  gebrochen,  da- 
durch das  Burgrecht  mit  Freiburg  verscherzt  und  sich  in 
die  schwersten  Gefahren  gestürzt  hatte,  schimpflich  preis. 
Nahm  es  sie  nicht  an,  so  lud  es  in  den  Augen  der  Miteid- 
genossen die  Schuld  am  Kriege  auf  sich.  Die  katholischen 
Orte  erklärten  offen,  dass  sie,  wenn  es  wegen  Genfs  zum 
Kriege  käme,  sich  der  Sache  entschlügen,  d.  h.  Bern 
keine  Hülfe  leisten  würden,  und  auch  die  evangelischen, 
Zürich  voran,  drangen  darauf,  dass  es  um  des  Friedens 
willen  die  Luzerner  Vorschläge  annehme.  Bern  half  sich 
aus  dem  Dilemma,  indem  es  Genf  vorschob  und  damit  die 
Verantwortlichkeit  für  die  Ablehnung  der  eidgenössischen 
Vermittlung  auf  dieses  abwälzte.1)  Anderseits  liess  es  sich 
auch  durch  die  dringendsten  Hülferufe  der  Genfer  nicht  dazu 
bewegen,  das  Schwert  aus  der  Scheide  zu  ziehen,  und  be- 
schränkte sich  auf  blosse  Unterhandlungen  und  Drohungen, 
so  unwirksam  sich  diese  Mittel  auch  erwiesen. 

Die  dilatorische  Politik  Berns  in  der  Genf  erangelegen- 
heit  ist  wiederholt  abfällig  beurtheilt  worden ;  glaubte  doch 
ein  Forscher  wie  Kampschulte  darin  die  macchiavellistische 
Absicht  zu  erblicken ,  Genf  durch  das  Hinausschieben 
der  Bundeshülfe,  durch  Steigerung  seiner  Noth  zur  Unter- 
werfung unter  bernische  Hoheit  mürbe  zu  machen.  Wer 
indess  die  Grösse  der  Schwierigkeiten,  die  Bern  vor  sich  sah, 
ohne  Voreingenommenheit  ermisst,  wird  im  Gegentheil  der 
Klugheit  und  Festigkeit,  mit  der  es  den  Konflikt  zu  einem 
glücklichen     Ende    führte,    seinen    Beifall    nicht    versagen 


')  Abschiede  IV  lc.  456,  460,  463,  465,  467,  474,  479.488. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  155 

und  den  Tadel  für  diejenigen  sparen,  die  ihm  die  Er- 
füllung seiner  politischen  Aufgabe  erschwerten.  Der  Gegner, 
mit  dem  die  Aarestadt  es  zu  thun  hatte,  war  allerdings  an 
sich  wenig  zu  furchten;  auch  wenn  Bern  ganz  allein  blieb, 
war  es  Savoyen  militärisch  mehr  als  gewachsen.  Aber 
hinter  dem  Herzog  stand  die  gewaltige  Macht  seines 
Schwagers  und  Verbündeten,  Kaiser  Karls  V. 

Von  Deutschland  aus  wurden  Zürich  und  Bern  gewarnt, 
dass  die  Kaiserlichen  im  Bund  mit  Piemont  Genf  einnehmen 
worden,  und  dass  es  dann  gegen  die  evangelischen  Schweizer- 
stftdte  selbst  gehen  werde.1)  Wie  ernstlich  in  der  That  der 
Kaiser  an  eine  solche  Einmischung  dachte,  zeigen  die  Ver- 
handlungen, die  er  1535  nach  dem  Tod  des  letzten  Sforza  in 
Mailand  mit  Frankreich  anknüpfte.  Er  war  bereit,  das 
vielbegehrte  Mailand  einem  Sohne  Franz  I.  zu  übertragen, 
aber  unter  der  Bedingung,  dass  der  König  sich  in  den 
grossen  Angelegenheiten  an  den  Kaiser  anschliesse,  unter 
anderem  auch  bei  der  Herstellung  des  Katholizismus  und  der 
Savoyerherrschaft  in  Genf  kräftig  mitwirke.2)  Bern  war  also 
nicht  einmal  sicher,  ob  es  nicht  auch  Frankreich  auf  gegneri- 
scher Seite  finden  werde.  Auf  der  andern  Seite  stand  die 
Eidgenossenschaft  wegen  der  stets  neu  auftauchenden  kon- 
fessionellen Händel  fortwährend  am  Rande  des  Bürgerkrieges,8) 
und  Bern  musste  fürchten,  dass  ihm,  wenn  es  den  Kampf 
gegen  Savoyen  aufnahm,  seine  ältesten  und  nächsten  Ver- 
bündeten, Freiburg,  Solothurn,  Wallis  und  mit  ihnen  der  ganze 


i)  Abschiede  IV  lc.  479,  560.  Roget,  Les  Suisses  et  Gene ve 
U  200. 

s)  Ranke,  Deutsche  Geschichte  im  Zeitalter  der  Reformation, 
IV  16.  Papiers  d*Etat  de  Granvel  le  II  406. 

«)  Abschiede  IV  lc  314  (e),  323  (bb),  382,  392  (e)?  395  f., 
411  (gg).  445,  474,  481,  483,  484  f.,  487,  573,  607  (r). 


156  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

katholische  Sonderbund  in  den  Rücken  fallen  würden.1)  Unter 
solchen  Umständen  begreift  man  es,  dass  das  durch  die  unglück- 
lichen Erfahrungen  des  Kappelerkrieges  darniedergebeugte 
Zürich  an  Bern  die  Zumuthung  stellte,  lieber  Genf  fahren 
zu  lassen,  als  die  Gefahren  des  innern  und  äussern  Krieges 
heraufzubeschwören,2)  wenn  Bern  selbst  den  Krieg  so  lang 
als  möglich  zu  vermeiden  trachtete  und  alle  diplomatischen 
Mittel  erschöpfte,  ehe  es  zu  den  Waffen  griff.  Wenn  Bern 
die  Genfer  immer  wieder  zur  Geduld  wies  und  dabei  die 
Drohung,  sie  im  Stich  zu  lassen  oder  das  Burgrecht  auf- 
zulösen, nicht  sparte,3)  so  zeigen  die  gleichzeitigen  Verhand- 
lungen mit  Savoyen,  dass  es  damit  nur  den  Zweck  verfolgte, 
«ie  vor  unzeitigen  Repressalien  abzuhalten.  Unbeirrt  durch 
die  Feindseligkeit  der  katholischen  und  den  Kleinmuth  der 
evangelischen  Miteidgenossen  vertheidigte  es  in  dem  langen 
diplomatischen  Ränkespiel  Genfs  Unabhängigkeit  aufs  zähste 
und  Hess  sich  nicht  dazu  herbei,  ihr  das  Geringste  zu  ver- 
geben. Unerschütterlich  hielt  es  daran  fest,  dass  der  Friede 
von  St.  Julien  und  der  Peterlinger  Spruch  die  Basis  der 
Verhandlungen  bilden  müssten,  und  verlangte  als  erste  Be- 
dingung, dass  der  Herzog  die  Genfer  ungekränkt  beim 
Gotteswort  bleiben  lasse  und  das  Burgrecht  anerkenn«-. 
"Wie  wenig  es  sich  durch  eigennützige  Absichten  leiten  Hess. 
zeigten  die  letzten  Verhandlungen  mit  Savoyen  anfangs 
Dezember  1535  zu  Aosta,  wo  die  bernischen  Gesandten 
Vollmacht  hatten,  die  Verpfändung  des  Waadtlandes  preis- 
zugeben, wenn  die  Genfer  durch  andere  Mittel  beim  gött- 
liehen  Worte  und  bei  ihrer  Freiheit  gesichert  werden  könnten. 
Das  angeblich  so  ländergierige  Bern  war    also    bereit,    auf 


i)  Abschiede  IV  lc  394,  563,  584,  603,  637,  645. 

*)  Abschiede  IV  lc  394,  479. 

3)  Abschiede  IV  lc  480,  497,  536,  565,  576,  582. 


Der  Lausanner  Vertrag  yon  1564.  157 

sein  bereits  erstrittenes  Anrecht   zu  verzichten,    wenn  Genf 
frei  und  protestantisch  bleiben  konnte.1) 

Dann  darf  nicht  übersehen  werden,  dass  die  Blockade, 
die  der  Herzog  mittelst  der  Proviantsperre  nnd  der  Fehde 
der  Insassen  des  Raubschlosses  Peney  gegen  Genf  ins  Werk 
setzte,  zwar  die  Bürger  in  grosse  Noth  brachte,  aber  noch 
keine  unmittelbare  Gefahr  für  die  wohlbefestigte  Stadt  be- 
deutete. Zu  stärkeren  Rüstungen  Savoyens  gab  erst  der 
im  Oktober  1535  vom  Val  de  Travers  aus  organisirte  Frei- 
scbaarenzng  der  Neuenburger  Anlass,  den  die  Berner  nach 
dem  Gefecht  bei  Gingins  zur  Umkehr  bewogen,  um  einen 
vorzeitigen  Kriegsausbruch  zu  verhüten.  Den  eigentlichen 
Angriff  auf  die  Stadt  aber  schob  der  Herzog  zum  grossen 
Aerger  der  katholischen  Orte2)  immer  wieder  hinaus.  So- 
bald wirkliche  Gefahr  drohte,  dass  eine  fremde  Macht  sich 
in  Genf  festsetze,  handelte  Bern  mit  einer  Raschheit  und 
Energie,  die  nichts  zu  wünschen  übrig  liess. 

Diese  Macht  war  Frankreich,  das  den  Genfern  Mitte 
Dez.  1535  unter  der  Hand  seine  Hilfe  anbot,  aber  unter  Be- 
dingungen, die  es  zum  Herrn  der  wichtigen  Rhonefeste  ge- 
macht haben  würden.  Da  Bern  «des  französischen  Königs 
List  und  Geschwindigkeit»  kannte  und  keine  Lust  hatte, 
v einen  solch  schweren  Nachbarn  als  der  König  zu  Genf 
sein  würde»,  sich  diesseits  des  Jura  einnisten  zu  lassen,  kam 
*s  ihm  mit  raschem  Entschlüsse  zuvor,  um  so  mehr  als  es 
jetzt  die  Gewissheit  hatte,  dass  Franz  I.  entschlossen  war, 
mit  Savoyen  zu  brechen,    dass   also   Frankreich    gegen    den 


>)  Abschiede  IV  lc  590. 

2)  Vgl.  den  Rathschlag  Luzerns  Ende  Okt.  1535:  «wollen  sich 
nit  mer  beladen  des  Herzogen  handeis  noch  der  Genfferen,  diewyl 
<-r  so  schlecht  lieh  handlet  und  die  Berner  so  übel  fürchtet.«  Absch. 
IV  lc  575. 


158  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

Kaiser  ein  Gegengewicht  bilden  werde1).  Am  27.  Dezember 
beschloss  der  grosse  Rath  den  Krieg  und  setzte,  nm  des 
Volkes  sicher  zu  sein,  im  Geheimen  die  Aemter  der  Land- 
schaft von  der  Absicht,  Genf  zu  entschütten,  in  Kenntniss. 
Als  diese  am  13.  Januar  1536  ihre  Zustimmung  gaben,  er- 
folgte am  16.  Januar  die  Kriegserklärung.  Zugleich  theilte 
Bern  den  eidgenössischen  Ständen  die  Sachlage  mit,  indem 
es  die  Vertrauteren  zu  getreuem  Aufsehen  mahnte  und  den 
übrigen  die  Erwartung  aussprach,  dass  sie  ihm  keine  Hinder- 
nisse bereiten  werden.2) 

IL 
Die  Eroberung  der  Waadt. 

Das  nächste  Ziel  des  Krieges  war  die  Besitzergreifung 
des  im  Frieden  von  St.  Julien  für  Genfs  Sicherheit  einge- 
setzten und  von  Savoyen  durch  seinen  Vertragsbruch  ver- 
wirkten Pfandes.  Das  savoyische  Waadtland,  das  die 
Berner  nun  zum  zweiten  Mal  eroberten,  um  es  nicht  wieder 
fahren  zu  lassen,  war  mit  dem  heutigen  Kanton  nicht  völlig 
identisch.  Ausser  dem  Gebiete  des  Bischofs  von  Lausanne, 
dein  bernischen  Amt  Aigle  und  den  bernisch-freiburgischen 
Vogteien  Grandson,  Orbe  und  Echallens  gehörte  auch  das 
Seeufer  von  Vevey  aufwärts  nicht  dazu;  vielmehr  wurde 
dieses  sammt  dem  Seeschloss  Chili on  zum  Chablais  ge- 
rechnet. Dafür  umfa8ste  die  Waadt  die  ganze  Westhälfte 
des  jetzigen  Kantons  Freiburg  von  Stäffis  bis  Chätel 
St.  Denis. 

Die  Verfassung  des  Landes  war  noch  ganz  feudal. 
«Nulle  terre  sans  seigneur»  galt  auch  für  die  Waadt.     Mit 


i)  Abschiede  IV  lc  601—603. 
2)  Abschiede  IV  lc  607—611. 


Der  Lausarmer  Vertrag  von  1564.  159 

Ausnahme  der  wichtigeren  Städte,  der  «Bonncs  Villes»,  die 
direkt  unter  der  Hoheit  des  Landesfürsten  standen,  und  der 
herzoglichen  Domänen,  war  das  Land  in  eine  Menge  geist- 
licher und  weltlicher  Herrschaften  zersplittert,  von  denen 
jede  sozusagen  einen  kleinen  Staat  für  sich  bildete.  Weite 
Gebietskomplexe  lagen  in  der  Hand  der  Klöster,  unter 
denen  Romain mott er,  Hautcret,  Payerne,  Bonmont,  Lac  de 
Joux  hervorragten ;  der  Abt  von  Roinainmotier  regierte  über 
ein  geschlossenes  Territorium  von  13  Ortschaften,  in  welchem 
er  die  gesammte  Gerichts-  und  Grundherrschaft  besass.1) 
Sonst  war  im  grössten  Theil  des  Landes  die  Gerichtsbarkeit 
alier  Stufen  mit  Einschluss  des  Blutbanns  Eigenthum  des 
hohen  und  niedern  AdelB,  der  sich  in  Grafen,  Barone, 
Bannerherrn  und  gewöhnliche  Edle  schied.  Der  gräfliche 
Titel  war  den  Dynasten  von  Neuenburg  und  Greyerz,  sowie 
dem  Bischof  von  Lausanne  als  dem  alten  Grafen  der  Waadt 
vorbehalten.  Um  sich  Baron  nennen  zu  dürfen,  musste  man 
ausser  3000  Gl.  Einkünften  aus  der  Gerichtsbarkeit  mindestens 
25  Vasallen  haben,  von  denen  wenigstens  einer  die  hohe 
Gerichtsbarkeit  mit  Einschluss  des  Blutbanns  besass.  Für 
einen  Bannerherrn  war  ein  festes  Schloss  und  das  hohe  Ge- 
richt über  mindestens  80  Feuerstellen  erforderlich.2)  Mit 
der  hohen  Gerichtsbarkeit  waren  die  Jagd-  und  Fischerei- 
hoheit, mit  der  mittlem  Vormundschaftspolizei,  Aufsicht  über 
Maass  und  Gewicht,  mit  der  niedern  der  Backofen-  und 
Mühlenzwang,  das  Recht  auf  herrenlose  Gegenstände,  die 
Aufsicht  über  Wirthe,  Metzger,  Bäcker,  Lebensmittelhändler 
u.  s.  w.  verbunden.8) 

*)  Darmstftdter,  die  Befreiung  der  Leibeigenen  in  Savoyen, 
der  Schweiz  und  Lothringen,  85. 

*)  Quisard,  Coutumier  de  Vaud,  her.  von  Schnell  und 
Heusler,  Zeitschrift  für  Schweiz.  Recht  XIII  S.  62  t 

»)  Quisard,  XIII  61,  68.  XIV  3  f.,  143  f.,  146,  161  ff. 


1(50  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

Die  ganze  ländliche  Bevölkerung  befand  sich  in 
mehr  oder  weniger  starker  Abhängigkeit  von  diesen  geist- 
lichen und  adeligen  Grund-  und  Gerichtsherren.  Allgemein 
verbreitet  war  noch  die  sogenannte  «Mainmorte»,  die  den  Ge- 
bieten französischer  Zunge  eigentümliche  Form  der  Leib- 
eigenschaft, deren  Hauptkennzeichen  darin  bestand,  dass  die 
Güter  des  Leibeigenen,  der  ohne  eheliche  und  mit  ihm  in  Ge- 
meinschaft lebende  Kinder  verstarb,  ganz  dem  Herrn  anheim- 
fielen. Die  Mainmorte  haftete  am  Gut  wie  an  der  Person. 
Ein  Freier,  der  ein  mainmortables  Gut  erwarb,  wurde  mit 
all  seinen  Nachkommen  unfrei.  Umgekehrt  folgte  die 
Mainmorte  dem  Unfreien  nach,  wo  er  sich  auch  niederliess, 
ausser  wenn  es  ihm  gelang,  in  einer  der  bonnes  villes  Bürger 
zu  werden,  ohne  binnen  Jahr  und  Tag  von  seinem  Herrn 
reklamirt  zu  werden.1)  Die  unterste  Stufe  der  Leibeigen- 
schaft nahmen  die  «Taillables»,  die  «Teilpflichtigen»,  ein,  die 
nicht  bloss  der  Mainmorte,  Bondern  auch  der  Taille  unter- 
lagen, d.  h.  dem  Recht  des  Herrn,  in  sechs  bestimmten  Fallen 
das  Gut  des  Leibeigenen  bei  seinen  Lebzeiten  einzuziehen > 
bez.  ihn  nach  Willkür  (ä  misericorde)  zu  besteuern :  nämlich, 
wenn  der  Herr  ins  gelobte  Land  reiste,  wenn  sein  Sohn 
Ritter  wurde,  wenn  er  seine  Töchter  oder  Schwestern  ver- 
heirathete,  wenn  er  aus  der  Gefangenschaft  losgekauft 
werden  sollte,  wenn  er  Herrschaften  erwarb,  und  wenn  er 
durch  Feuersbrunst  oder  Krieg  Verluste  erlitt.s)  Etwa» 
höher  standen  die  «Censitifs»,  die  zinspflichtigen  Leibeigenen, 
die  der  Mainmorte,  aber  nicht  der  Taille  unterworfen  waren 
und,  vom  Heimfall  des  Gutes  abgesehen,  dem  Herrn  nur  die 


OQuisard,    XIV,  189,    (176a),     191,    (178),    198    (183a), 
Darms  lädt  er  a.  a.  0. 

2)  Quisard,  XIV,  191,  (178),  198  (183). 


Der  Lausanncr  Vertrag;  von  1564.  161 

tixirten  Grundzinsen  schuldeten.  Von  den  Censitifs  unter- 
schieden sich  wieder  die  «Censiers»,  die  zinspflichtigen 
Hörigen,  die  weder  der  Taille  noch  der  Mainmorte  unterlagen, 
•leren  Gut  nur  dem  Herrn  anheimfiel,  wenn  sie  drei  Jahre 
mir.  ihren  Zinsen  in  Rückstand  waren.1)  Die  mildeste  Form 
«ler  Unfreiheit  war  die  des  einfachen  «homme  lige»,  des 
Eigenmanns,  der  zwar  einem  Herrn  angehörte,  aber  von  den 
Lasten  der  Leibeigenschaft  befreit  war  und  über  seine  Güter 
M  verfügen  durfte.  Vom  Lige  unterschied  sich  der  «Franc», 
•ler  freie  Hintersasse,  nur  noch  dadurch,  dass  er  als  per- 
vlalich  frei  mit  dem  Gute  auch  den  Herrn  aufgeben  und  sich 
«'inem  andern  unterwerfen  konnte.2)  Ausser  dem  Zehnten, 
•Jen  Grundzinsen  und  den  spezifischen  Leibeigenschaftslasten 
•mtte  der  waadtländische  Bauer  noch  eine  Menge  anderer 
Feadailasten  zu  tragen.  Beim  Verkauf  von  Gütern  hatte  er 
in  der  Regel  dem  Grundherrn  den  Lods  (Ehrschatz),  der  1I& 
Ms  x?i3  des  Kaufpreises  betrug,  zu  entrichten.3)  Jede  Feuer- 
welle schuldete  dem  Gerichtsherrn  die  Censes  usagAres,  Ab- 
gaben in  Geld,  Getreide,  Hafer,  Brot,  Hühnern,  Eiern,  bei 
'l*ren  Nichtbezahlung  der  Herr  dem  Schuldner  die  Hausthüre 
aasheben  und  sie  auf  die  Strasse  legen  durfte,  bis  er  befriedigt 
*var.4)  Dazu  kamen  in  den  bei  der  Taille  erwähnten  und  ähn- 
lichen Fallen  auch  für  die  übrigen  Hintersassen  der  Gerichts- 
herrschaft  ausserordentliche  Steuern  (aides  oder  subsides),  deren 
Betrag  durch  drei  neutrale  Seigneurs  als  Schiedsrichter  fest- 
gesetzt wurde,5)  ferner  Wach-,  Kriegs-  und  Botendienste, 
Fuhr-    nnd     Spanndienste,     Fronarbeiten     bei    Bauten     im 


0  Quisard,  XIV,  200  (185),  204  (189). 

*)  Quisard,  XIV,  201  (186).  205  (189  a),  206  (190  a). 

*)  Quisard,  XV,  3  f.  (204  a,  205  u.  a.) 

«)  Quisard,  XV,  19  (216  a). 

*)  Quisard,  XV,  33  f.  (228  a,  229). 

11 


162  Der  Lausauner  Vertrag  von  1564. 

Schlosse,  auf  dem  herrschaftlichen  Gute  etc.;  doch  waren 
die  Fronden,  weil  nicht  allgemein,  von  geringerer  Be- 
deutung.1) 

Inmitten  der  bäuerlichen  Hörigkeit  waren  die  Städte. 
Inseln  der  Freiheit,  Der  Bürger  kannte  keine  Mainmorte, 
keine  Feudallasten,  er  war  in  seiner  persönlichen  Freiheit 
durch  die  Privilegien  der  städtischen  Gemeinwesen  wohl  ge- 
schützt, und  diese  erfreuten  sich  einer  ausgedehnten  Selbst- 
verwaltung durcli  Käthe  und  Stadtvorsteher  (syndics  oder 
gouverneurs.2)  Früher  hatten  sie  sich  sogar,  was  freilich 
im  16.  Jahrhundert  verpönt  war,  etwa  das  Recht  heraus- 
genommen, unter  Vorbehalt  des  Landesherrn  auswärtige 
Bündnisse  zu  schliessen ;  so  stand  Payerne  seit  1343  in 
einein  ewigen  Burgrecht  mit  Bern,  vermöge  dessen  es  so- 
gar 1530  am  Feldzug  gegen  den  eigenen  Herrn  theilge- 
nommen  hatte.3) 

Gegenüber  den  Rechten  der  Seigneurs  und  der  städtischen 
Selbstverwaltung  erscheinen  die  Befugnisse  des  Land  es - 
f  ürsten  als  sehr  beschränkte.  Er  war  verpflichtet,  die 
alten  Freiheiten  und  Privilegien,  das  geschriebene  und  un- 
geschriebene Gewohnheitsrecht  des  Landes  beim  Regierungs- 
antritt zu  bestätigen  und  zu  beobachten.  Ihm  stand  das 
Recht  zu,  Notare  zu  krdren,  Geleite  zu  geben,  das  Münz- 
und  Begnadigungsrecht,  die  oberste  Appellationsgerichtsbar- 
keit, sowie  die  Gesetzgebung  «für  Erhaltung  heiligen  und 
guten  Lebens,  guter  Sitti*  und  des  öffentlichen  Wohles», 
letztere   jedoch    nicht  ohne  Mitwirkung    der    Stände    der 


i)  Quisard,  XIV,  206(191),  207  (191  a,  192),  209(193), 
XV,  32  (228),  35  (230),  37  (231  a). 

*)  Quisard,  XIV,  211  ff.,  217.  Grenus,  Documenta  rdatife 
ä  l'hist.  du  Pays  de  Vaud,  X— XVII. 

3)  Eidgeu.  Abs  eh.  I.,  415,  IV  Ib.,  808  (3). 


Der  Lausauner  Vertrag  von  1564.  163 

Waadt  Gesetze  and  Verordnungen  des  Fürsten  mussten 
vor  ihrer  Publikation  den  Ständen  vorgelegt  werden,  die 
Einwendungen,  Remonstranzen  dagegen  erheben  konnten, 
worauf  der  Rath  des  Fürsten  endgiltig  entschied.  Falls 
jrdoch  die  Neuerung  die  Freiheiten  und  Gewohnheiten  des 
Landes  verletzte,  stand  den  Ständen  der  Waadt  die  Be- 
rufung an  die  savoyischen  Etats-G6n6raux,  zu  denen  sie 
Vertreter  ernannten,  im  äussersten  Fall  selbst  an  den  Kaiser 
zu.  Umgekehrt  erhielten  Beschlüsse,  die  von  den  Ständen 
ausgieugen,  erst  Gesetzeskraft,  wenn  sie  vom  Fürsten  oder 
»einem  Vertreter  bestätigt  wurden.  Die  Erhebung  von 
Steuern,  der  sogen,  dons  gratuits,  bedurfte  ebenfalls  der 
Zustimmung  der  Stände,  ebenso  die  Leistung  von  Kriegs- 
dienst, der  über  acht  Tage  andauerte  oder  den  Waadt» 
länder  über  die  Grenzen  der  drei  Bisthümer  Lausanne,  Genf 
und  Sitten  hinausführte.  Die  Landstände  der  Waadt  traten 
in  der  Regel  zu  Moudon,  der  Hauptstadt  der  savoyischen 
Waadt.  zusammen.  Die  Klöster  bildeten  die  Bank  der 
Geistlichen;  auf  der  Adelsbank  hatten  die  Grafen  von  Neuen- 
burg, Greyerz  und  —  als  Graf  der  Waadt  —  der  Bischof 
von  Lausanne  für  die  Lehen,  die  sie  in  der  savoyischen 
Waadt  inne  hatten,  dann  die  verschiedenen  Barone  und 
Bannerherrn  Sitz  und  Stimme.  Den  dritten  Stand  bildeten 
die  Vertreter  der  direkt  unter  dem  Landesfürsten  stehenden 
Bonnes  Villes  Moudon,  Nyon,  Yverdon,  Morges,  Romont, 
Cossoney,  Payerne,  Rue,  Estavayer,  Cndrefin,  St.  Croix, 
les  C16es,  Chätel  St.  Denis,  Grandcourt.  Einberufen  wurden 
die  Stände  bald  vom  Landvogt,  bald  vom  Rath  von  Moudon. 
Neben  den  Versammlungen  aller  drei  Stände  fanden  auch 
solche  bloss  des  Adels  und  der  Städte  oder  der  Städte  allein 
statt.  Nach  den  erhaltenen  Aktenstücken  scheinen  die 
Stände    der  Waadt   ihre   Hauptaufgabe    darin    gesucht   zu 


164  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

haben,  sorgfaltig  über  die  alten  Freiheiten  und  Gewohnheiten 
des  Landes  zu  wachen,  über  Verletzung  derselben  durch  die 
weltlichen  und  geistlichen  Behörden  beim  Landesherrn  Be- 
schwerde zu  erheben  und  die  Abstellung  von  Neueningen 
und  Missbräuchen  zu  verlangen.1 ) 

Die  allgemeine  Regiernng  des  Landes  führte  als  Stell- 
vertreter des  Herzogs  der  Landvogt  oder  Gouverneur, 
der  im  Schloss  zu  Moudon  residirte.  Er  führte  den  Vorsitz 
in  dem  Obergericht  zu  Moudon,  an  welches  ans  dem 
ganzen  Lande  appellirt  werden  konnte  nnd  vor  das  in  erster 
Instanz  Prozesse  unter  und  gegen  die  Adligen  selbst  ge- 
bracht wurden ;  von  Moudon  ging  die  Appellation  in  letzter 
Linie  an  die  Räthe  des  Herzogs  in  ÜhambeYy.  Der  Land- 
vogt bot  die  Mannschaften  auf  und  hatte  für  die  Instand- 
haltung der  festen  Plätze  zu  sorgen.  Unter  ihm  standen 
die  Kastellane,  denen  die  Hut  der  herzoglichen  Schlösser, 
sowie  die  Verwaltung  der  dazu  gehörigen  Aemter  und  Do- 
mänen anvertraut  war.2) 

Das  ist  das  Bild  der  Waadt  am  Vorabend  ihres  Ueber- 
gangs  in  schweizerischen  Besitz.  Unsere  welschen  Miteid- 
genossen pflegen  nach  Laharpes  Vorgang  heute  mit  einem 
gewissen  Wohlgefallen  die  milde  Savoyerherrschaft  der 
harten  Herrschaft  des  Mutz  entgegenzusetzen  nnd  nicht  ohne 
Grund,  wenn  man  nur  die  Stellung  des  Adels  nnd  der  Städte 
ins  Auge  fasst.  Die  Waadt  wurde  unter  Savoyen  durch 
Einheimische,    nicht   durch  Sprach-    und    Stammfremde   ge- 


i)  Quisard,  XIII,  27—29,  42—44;  XV  34,  35.  Grenus, 
Documenta  XVII— XXXII  (mit  den  Beweisstellen).  Vgl.  den  Artikel 
«Etats»  in  Martig  nier  et  Crousaz,  Dict.  histor.  du  Gt  de  Vaud. 

2)  Quisard,  XIII,  48  f.  Grenus,  XX  f.  Gingins-La 
Sarra,  Episode  des  Guerres  de  Bourgogne,  Mem.  et  Doc.  SuisseRom. 
VIII,  130  ff. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  165 

richtet  und  regiert;  die  Städte  und  der  Adel  hatten  in  den 
Ständen  ein  wirksames  Organ,  um  ihre  Wünsche  und  Be- 
schwerden zur  Sprache  zu  bringen,  und  die  waadtländischcn 
Seignenrs  konnten  im  Dienst  des  Herzogs  bis  zu  den  höchsten 
Staatswürden  emporsteigen.  Und  doch,  wenn  je  mit  Recht 
von  «Heloten  des  Waadtlandes»  gesprochen  werden  kann, 
so  gilt  das  für  die  Savoyerzeit,  wo  die  Masse  der  Bevölker- 
ung aus  Leibeigenen  und  Hörigen  des  Adels  und  der  Klöster 
bestand.  Gab  es  doch  in  der  ganzen  Terre  de  Romain- 
moiier  mit  Ausnahme  der  freien  Leute  des  Dorfes  La  Praz 
keine  Bauern  und  kein  bäuerliches  Gut,  die  nicht  der  Main- 
morte  unterworfen  waren.1)  Hier  konnte  ein  Staat,  der  wie 
Bern  prinzipiell  keine  persönliche  Unfreiheit  auf  seinem  Ge- 
biete duldete,  ein  segensreiches  Werk  vollbringen. 

*  * 

* 

Am  22.  Februar  1536  brach  das  bernische  Panner,  6000 
liann  stark,  nach  Murten  auf,  unter  dem  Befehl  des  Hans 
Franz  Nägeli,  des  letzten  Kriegsmannes  der  alten  Eid- 
genossenschaft, dem  es  beschieden  war.  seinen  Namen  in 
rühmlicher  Weise  in  die  Annalen  unserer  Landesgeschichte 
einzuzeichnen.  In  Murten  stiessen  die  Zuzüger  von  Neuen- 
bürg und  Biel,  in  Payerne  die  von  dieser  Stadt,  von 
Greyerz  und  Aelen  zum  Heere.  Trotz  der  vorausgegangenen 
Provokationen  wurde  Savoyen  von  dem  möglichst  in  der 
Stille  betriebenen  Aufbruch  der  Berner  völlig  überrascht ; 
weder  der  Herzog  noch  sein  Landvogt  oder  die  Stände  in 
der  Waadt  hatten  ernstliche  Anstalten  zur  Gegenwehr  ge- 
troffen, und  weder  der  Kaiser  noch  die  katholischen  Orte 
waren  in  der  Lage,  etwas  für  ihn  zu  thun.2)    In  den  Städten 


!)  Darmstäd  ter,  a.  a.  0.,  87. 

«)  Papiers  de  Granvellc  II,  446.    Abschiede  IV  lc.  606,  627,  637, 
645. 


166  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

und  Schlössern  der  Waadt  zitterte  aber  noch  die  Erinner- 
ung an  die  furchtbaren  Blutszenen  des  Jahres  1475  nach, 
so  dass  es,  recht  im  Gegensatz  zur  ersten  Eroberung,  nur 
des  raschen  Vorgehens  und  energischen  Auftretens  des 
bernischen  Befehlshabers  bedurfte,  um  das  ganze  Land  zu 
unterwerfen.  Cudrefin,  Grandcourt,  selbst  M  o  u  d  on 
und  R  u  e  ergaben  sich  vom  22.  bis  25.  Januar  auf  die  erste 
Aufforderung.  Nur  Yverdon,  wo  der  Freiherr  von  La  Sarra 
eine  ansehnliche  Besatzung  zusammengezogen,  gab  aus- 
weichende Antwort.  Nägeli  liess  diese  Stadt  einstweilen 
liegen  und  drang  gen  Morges  vor,  wo  der  berüchtigte 
Castellan  von  Musso,  der  als  alter  Schweizerfeind  den 
Oberbefehl  über  die  savoyischen  Streitkräfte  übernommen 
hatte,  mit  3000  italienischen  Söldnern  gelandet  war,  denen 
sich  Milizen  aus  der  Waadt  und  dem  Chablais  anschlössen. 
Aber  sobald  der  Müsser  am  28.  Januar  der  gefürchteten 
schweizerischen  Schlachtordnung  ansichtig  wurde,  flüchtete 
er  sich  nach  kurzem  Beiterscharmützel  auf  seiner  Flotille 
wieder  über  den  See,  und  sein  Heer  stob  nach  allen  Seiten 
auseinander,  worauf  Morges,  Bolle,  Divonne,  Nyon, 
Coppet,Gex  dem  Sieger  die  Thore  öffneten.  Am  2.  Februar 
hielt  Nägeli  mit  seinem  durch  das  Contingent  von  Lausanne 
verstärkten  Heere  unter  dem  Jubel  der  Bürgerschaft  seinen 
Einzug  in  dem  entschütteten  Genf  und  empfing  hier  während 
dreitägiger  Bast  die  Huldigung  der  Edellcute  am  Südnfer 
des  Sees  von  der  Arve  bis  zur  Dranse.  Am  5.  Februar 
brachen  die  Berner  nach  St.  Julien  auf,  des  Willens,  den 
Feldzug  bis  ins  Herz  des  feindlichen  Landes,  bis  nach 
Rumilly  und  Chambery  fortzusetzen.1) 


l)  Ueber  den  Feldzug  in  die  Waadt  siehe  v.  M  ü  line  n  ,  Waadt- 
laudische  Kriegsberichte  des  Hans  Franz  Nägeli,  Archiv  des  histVer. 
Bern  XF1  253  ff.  V  u  1 1  i  e  m  i  n ,  Le  Chroniqueur.  F  r  o  m  e  n  t ,  Les  artes 


Der  Lausanncr  Vertrag  von  1564.  167 

Aber  als  man  den  Bären    so  wacker  zugreifen  sah,    da 
erwachte  ancli  in  Andern  die  Begierde  nach  den  schutzlosen 
savoyischen  Landen.     Von    allen  Gliedern    der    katholischen 
Eidgenossenschaft    hatte    das   Wallis    die     intimsten    Be- 
ziehungen zu  Savoyen  unterhalten;    es  hatte    mit    ihm  1528 
ein  Bündniss  auf    101  Jahre    eingegangen,     seinen    Geheim- 
verkehr   mit    den    katholischen    Orten    vermittelt    und    sich 
noch   im   November    von    den    V  Orten    Hülfszusicherungen 
g«*ben  lassen,  für  den  Fall,  dass    es  wegen  Erfüllung    seiner 
Verbindlichkeiten  gegen  Savo3ren  mit  Bern  in  Krieg  käme.1) 
Jetzt  entfaltete  es  in  der  That  am  6.  Februar  seine  Kriegs- 
fahne, aber  nicht,    um  dem  bedrängten  Herzog    beizustehen, 
wie  die   V  Orte    gewünscht   hätten,    sondern     um-  mit    den 
Bernern  Halbpart  zu  machen.      Die  Walliser    suchten  ihren 
entrüsteten   Sonderbundsgenossen  begreiflich    zu  machen,    sie 
hätten  diess  thun  müssen,  um  nicht  von  den  Bernern  srünzlich 
eingeschlossen   zu    werden    und    um    das    Land    beim    alten 
Glauben  zu  erhalten ;  dem  Herzog  meldeten  sie  ein  Gleiches : 
sift  konnten  sich,  wenn    er  seine  Lande    nicht    zu    schirmen 
vermöge,  mit  dem    neuen  Glauben    und    den  Bernern    nicht 
dergestalt  «einthun»  lassen  ;    übrigens  seien  sie  bereit,    ihm 
später  das  Land    gegen  Erstattung    der    Kosten    zurückzu- 
sehen.     Den  Bernern  gegenüber    führten    sie    freilich    eine 
andere  Sprache.      Eine  Abordnung,  die    sich  am  8.  Februar 
im  Lager    zu    St.  Julien    einfand,    erklärte:     da    sie     ver- 
nommen,    wie    viel   Land     und    Leute  Bern     eingenommen, 
hätten  sie  sich   ebenfalls  aufgemacht,    um    das    Gebiet    von 
St.  Moriz  bis  Thonon  zu  besetzen,  und  bitten,  ihnen  diess  zu 

et  gestes  de  la  cito  de  Genövc.  M&noires  de  Pierre fleur.   Hidber, 
Waadt  wird  schweizerisch  durch  die  Berner.  Sinner,  Hans  Franz 
*%eli,  Berner  Taschenbuch  1873.     Böget  a.  a.  0. 
2)  Abschiede  IV  lc.  584. 


168  Der  Lausanuer  Vertrag  von  1564. 

lassen,  damit  Bern  auch  bei  seinem  Eroberten  bleiben 
möchte;  denn  es  sei  wohl  zn  erachten,  dass  der  Herzog  sich 
nicht  darein  schicken,  sondern  es  mit  Gewalt  wieder  zu  ge- 
winnen versuchen  werde  ;  in  einem  solchen  Krieg  könnten 
dann  die  Walliser  den  Bernern  gute  Dienste  leisten.  So  sah 
man  auch  in  Bern  die  Dinge  an ;  die  Regierung  schrieb  an 
die  Uauptleute  im  Feld:  «sie  sollten  die  Walliser  in  Irem 
Fürnämen  auch  ein  Fädern  von  der  Ganss  zu  rupfen  nicht 
stören,  dadurch  der  Krieg  sich  hiemitt  nf  sy  ouch  lade  und 
wir  nit  allein  die  Last  tragend.»  In  diesem  Sinne  dankten 
die  bernischen  Hauptleute  zu  St.  Julien  den  Wallisern  für 
ihren  «tröstlichen  Zuzug»  und  erklärten  sich  gern  bereit, 
ihnen  das  Gebiet  jenseits  der  Dranse  zu  überlassen.  Ohne 
Widerstand  zu  linden,  rückten  die  Walliser  bis  nach  Evian 
vor  und  nahmen  vom  6.-22.  Februar  Monthey,  Colom- 
bey,  St.  Gingolph,  Meillerie,  Evian  nebst  allen 
Gemeinden  bis  zur  Dranse,  sowie  die  Alpenthäler  von  Abon- 
d a n c e  und  St.  Jean  d'Aulph  in  Besitz.  Einzig  die  Berg- 
leute von  Troistorrens  und  Val  d'Illiers,  griffen  für 
ihren  Herrn  zu  den  Waffen  und  huldigten  erst  am  24.  Fe- 
bruar, als  die  Walliser  sie  ernstlich  mit  einem  Angriff  be- 
drohten.1) 

Aber  ein  noch  viel  gefährlicherer  Gegner  erhob  sich  gegen 
Savoyen.  Das  kecke  Vorgehen  der  Berner  riss  Franzi,  von 
Frankreich  dazu  hin,  einen  schon  seit  einiger  Zeit  ge- 
hegten Plan  in  Ausführung  zu  bringen,  durch  Eroberung 
Savoyens  und  Piemonts,  wozu  ihm  ein  zweifelhafter  Erb- 
anspruch als  Vorwand  diente,  sich  gewaltsam  den  Weg  in 
der  Lombardei  zu  bahnen.     Am  9.  Februar    theilte   der  an- 


2)  Im  es  eh,  die  Erwerbung  von  Evian  und  Monthey  1536, 
(Blätter  aus  der  Walliser  Geschichte  II).  Abschiede  IV  lc.  624, 
625  ff.,  635,  664,  679. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  169 

scheinend  als  Vermittler  nach  Bern  gesandte  Herr  von 
Boisrigaut  die  Absicht  des  Königs  den  bernischen  Haupt- 
leuten zu  St.  Julien  im  tiefsten  Geheimniss  mit.  Am  12. 
eröffnete  ihnen  ein  zweiter  Gesandter,  dass  bereits  eine 
Armee  von  der  Dauphine  her  in  Anmarsch  sei,  um  Älaurienne, 
Chambery  und  Rumilly  einzunehmen,  und  schlug  ein  gegen- 
seitiges Zusammenwirken  vor.  Zu  letzterem  hatte  Nägeli 
weder  Vollmacht,  noch  Geneigtheit;  dagegen  gab  er  nun- 
mehr seinen  Vormarsch  auf  der  Strasse  nach  Chambery  auf, 
um  den  König  an  der  Besitznahme  jener  Städte  und  Lande 
*  nicht  zu  irren»  und  schwenkte  rechts  ab,  um  mit  der  Ein- 
nahme des  Felsenschlosses  laCluse  an  der Rhone  die  Unter- 
werfung des  vom  Jura,  Mont  Vuache  und  Salevo  um- 
schlossenen Genferbeckens  zu  vollenden.  Schon  am  andern 
Tag  erlag  die  für  uneinnehmbar  gehaltene  Festung  dem 
Angriff  der  Berner.1) 

Damit  war  der  Feldzug  nach  dieser  Seite  hin  abge- 
schlossen, und  Nägeli  kehrte  nach  Genf  zurück.  Schon  bei 
seinem  ersten  Aufenthalt  hatte  er  kraft  des  Eroberungs- 
recktes  das  Vidomnat  und  die  Hoheitsrechte  des  Bischofs 
über  die  Stadt  für  Bern  in  Anspruch  genommen  und  wieder- 
holte nun  dieses  Verlangen.  Ohne  Genf  Hess  sich  an  eine 
Behauptung  der  neuen  grossen  Eroberungen  im  Norden  und 
Soden  des  Genfersces  nicht  denken;  man  darf  sich  daher 
nicht  verwundern,  wenn  die  nüchternen  bernischen  Real- 
politiker auf  den  Gedanken  verfielen,  sich  seiuer  für  immer 
zu  versichern,  indem  sie  es  aus  einer  Bundesgenossin  zur 
Unterthanenstadt  herabzudrücken  suchten.  Allein  die  Genfer 
erwiderten    mit    Würde,    wenn    sie  je    die    Absicht    gehabt 


J)  Briefe  Nägelis  vom  5.,  10.,  13.  und  14.  Februar,  Archiv 
hwt.  Bern  XII  260  ff.;  Ranke,  Deutsche  Geschichte  IV  18  ff.; 
Baumgarten,  Karl  V.,  III  185  ff. 


170  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

hätten,  ihre  Stadt  jemandem  zu  unterwerfen,  so  hätten  sie 
nicht  so  vieles  erduldet.  Leib  und  Gut  stehe  den  Bernern 
zu  Diensten ;  aber  man  könne  nicht  glauben,  dass  sie  ge- 
kommen seien,  die  Stadt  zu  unterwerfen,  sondern  ihr  die 
Freiheit  zu  bringen.  Dank  diesem  kräftigen  Widerstands 
drangen  die  Befehlshaber  nicht  weiter  in  sie.1) 

Am  18.  Februar  trat  das  bernische  Heer  den  Heini- 
marsch an,  um  auf  demselben  die  Unterwerfung  der 
Waadt  zu  vollenden.  In  Morges  nahm  Nägeli  die  Huldig- 
ung Veveys  entgegen.  Das  Stammschloss  des  Herrn 
von  La  Sarra  gieng  in  Rauch  auf  und  Yverdon  kapi- 
tulirte  am  25.  Februar  unter  Auslieferung  aller  Waffen.2) 
Am  l.März  hielt  der  Feldherr,  ohne  einen  Mann  verloren  zu 
haben  und  doch  mit  glänzendem  Erfolge  gekrönt,  seinen 
Einzug  in  der  Vaterstadt.  Noch  war  indess  nicht  alle  Ar- 
beit gethan.  Dem  Feind  war  ein  starker  Stützpunkt  in  dein 
gewaltigen  Seeschloss  C  h  i  1 1  o  n  geblieben,  und  am  See- 
ufer herrschte  der  B  is  cho  f  von  Lau  s  anne,  Sebastian 
von  Montfaucon,  ein  eifriger  Parteigänger  Savoyens,  der 
seine  Unterthanen  für  das  letztere  unter  die  Waffen  gerufen 
hatte,  in  der  Hoffnung,  mit  Hülfe  des  Herzogs  und  dos 
Kaisers  seine  unbotmässig  gewordene  Hauptstadt  wieder 
völlig  zu  unterwerfen.8)  Da  die  Besatzung  von  Chillon 
wiederholte  Aufforderungen  zur  Uebergabe  unerwidert 
Hess,  erhielt  Nägeli  Befehl  zu    einem  zweiten  Auszug.      Am 


1)  Abs  eh.  IV  lc,  623,  635.  Rogct,  Les  Suisses  et  Geneve 
11.  214  ff. 

2)  Berichte  NUgelis  vom  25.  und  26.  Febr.  Der  vom  24.  Febr. 
datirte  (S.  272  f.)  stammt  in  Wirklichkeit  vom  24.  Januar;  Februar 
ist  offenbar  verschrieben. 

3)  Siehe  den  Brief  des  Bischofs  datirt  von  Gierolles  25.  Juni 
im  Ghroniqueur  230.    Ferner  Absch.  IV  lc,  674. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  171 

20.  März  brach  er  mit  1500  Mann  gegen  Chillon  auf,  am 
27.  eröffnete  er  die  Belagerung,  und  die  mit  Hülfe  einer 
(renfer  Flotille  von  der  See-  und  Landseite  her  einge- 
schlossene Festung  ergab  sich  schon  nach  zwei  Tagen. 
Hierauf  erfolgte  die  Abrechnung  mit  dem  Bischof,  der  auf  die 
Kunde  von  dem  zweiten  Auszug  der  Berner  in  der  Nacht 
vom  21./22.  ans  seinem  Schloss  zu  Lausanne  heimlich  ent- 
wichen war,  um  nicht  wieder  zu  kehren.1)  Am  31.  März 
durchzogen  die  Berner  die  Dörfer  des  weingesegneten  Ryf- 
thales,  deren  Unterwerfung  entgegen  nehmend,  und  rückten 
hierauf  in  Lausanne  ein.  Am  andern  Tag  pflanzte  Nägeli 
die  Berner  Fahne  auf  dem  verlassenen  bischöflichen  Schlosse 
auf  und  nahm  von  aller  weltlichen  Herrschaft  des  Kirehen- 
tarstcn  feierlich  Besitz.  Auf  dem  Heimweg  bemächtigte  er 
sich  noch  der  bischöflichen  Enklaven,  der  Burg  L  u  c  e  n  s 
und  der  zum  Landstädtchen  herabgesunkenen  ehemaligen 
Kapitale  Helvetiens,  Avenches.  So  hatte  Franz  Nägeli 
binnen  drei  Monaten  fast  ohne  Schwertstreich  nicht  bloss 
die  ganze  Waadt,  sondern  in  der  Erkenntniss,  dass  für  ihre 
und  Genfs  Behauptung  der  Besitz  des  ganzen  Genfersee- 
beckens  noth wendig  sei,  auch  das  Fays  de  G  ex  bis  zum  Fort 
d'Ecluse,  die  Herrschaften  Ga i  11  a  r  d  und  T  er  n i  e  r  im 
Genevois  und  das  Chablais  auf  beiden  Seiten  des  Sees 
erobert  oder  durch  die  Walliser  in  Besitz  nehmen  lassen, 
während  die  übrigen  Eidgenossen  sich  darauf  beschränkten, 
theils  die  Bolle  von  wohlmeinenden,  aber  unberufenen  War- 
nern und  Vermittlern,  theils  die  von  missgünstigen,  im  Grund 
ihres  Herzens  dem  Feinde  gewogenen  Zuschauern  zu  spielen.2) 

i)  Schmitt,  Histoire  du  Dioceso  de  Lausanne  (Memorial  de 
Fribourg  VI  354),  lässt  es  unentschieden,  ob  der  Bischof  nach  Sa- 
Toyert.  wie  die  einen,  oder  nach  Freiburg,  wie  die  andern  wollen, 
geflohen  ist. 

*)  Abschiede  IV  1c,  606,  610,  613  ff,  627,  628  ff,  636.  642. 


172  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

Schwieriger  als  die  Eroberung  niusste  aber  die  Be- 
hauptung der  neuen  Erwerbungen  werden.  Der  Herzog,  dem 
die  Franzosen  in  plötzlichem  Anfall  nicht  nur  sein  Stamm- 
land, sondern  auch  Piemont  entrissen,  war  allerdings  völlig 
lahmgelegt.  Aber  unmöglich  konnte  der  Kaiser  diesen  An- 
griff auf  seinen  Schützling  ruhig  hinnehmen;  der  Wieder- 
ausbruch des  alten  Weltkrieges  zwischen  Frankreich  und 
Habsburg  stand  unmittelbar  bevor.  Wäre  die  Eidgenossen- 
schaft in  sich  einig  gewesen,  so  hatte  Bern  diesen  Krieg 
ruhig  an  sich  herankommmen  lassen  können ;  aber  so  wie  die 
Dinge  standen,  musste  es  befürchten,  dass  die  katholische 
Eidgenossenschaft  geradezu  mit  dem  Herzog  und  dem 
Kaiser  gemeine  Sache  machen  werde.  Daher  gieng  das  vor- 
schauende Streben  der  bernischen  Staatsmännner  dahin,  dem 
Sonderbund  der  katholischen  Orte  in  bezug  auf  Savoyen 
die  Spitze  abzubrechen,  indem  sie  so  viel  Glieder  desselben 
als  möglich  am  neuen  Stand  der  Dinge  interessirten  und  sie 
zu  Theilhabern  an  der  Beute  machten.  Nachdem  dies  mit 
dem  Wallis  bereits  geglückt  war,  wiederholte  sich  das 
Gleiche  mit  Frei  bürg,  das  sich  nach  Abbruch  seiner  Be- 
ziehungen zu  Genf  ganz  auf  die  Seite  Savoyens  gestellt  und 
diesem  sogar  gegen  seine  einstigen  Bundesgenossen  Söldner 
hatte  zulaufen  lassen.1)  Als  jedoch  die  Berner  bei  ihrem 
Aufbruch  nach  der  Waadt  freien  Durcbpass  verlangten, 
wagte  es  nicht,  ihnen  einen  Abschlag  zu  ertheilcn,  und  als 
es  den  gefahrlosen  und  doch  so  gewinnreichen  Verlauf  ihres 
Feldzuges  sah,  regte  sich  in  ihm  die  Begierde,  auch  etwas 
von  den  Früchten  zu  erhaschen.  Bern  zog  diese  Stimmung 
klug  zu  nutze,  indem  es  Mitte  Februar  den  Freiburgern  das 
Anerbieten  machte,  ihnen  Romont  undRue  zu  überlassen. 


l)  Abschiede  IV  lc.  609,  765. 


Der  Lau  sanner  Vertrag  von  1564.  173 

}>*amg  giengen  diese  darauf  ein,  ihre  Schwenkung  vor  den 
V  Orten  und  dem  Herzog  mit  den  gleichen  Argumenten  wie 
•li**  Walliser  rechtfertigend,   und  verlangten,   als  sie  die  Be- 
reitwilligkeit   der    Berner    wahrnahmen,     noch     gleich    St. 
Aub!n.Stäffis,LaMoliere,Surpierre,Vuissens, 
Vaulruz,      Chätel       St.       Denis,       Bossonens, 
A 1 1  a  1  e  n  s ,    Vevey    und    Montreux    dazu,    was    ihnen    die 
Ferner,  mit  Ausnahme  der  beiden  letztern,  alles  zugestanden.») 
IVr  mühelose  Landerwerb   reizte    die  Freib arger    sogar    zu 
:mrn<*r    grössern  Ansprüchen.      Die    von    Bern    als  Entgelt 
verlangte  Versicherung,   dass  sie    die    eroberten  Lande    be- 
nutzen helfen   sollten,   wollten  sie  nur  geben,    wenn  ihnen 
•IiV  Hälfte  davon  abgetreten  würde;    umgekehrt    wollten  sie 
nicht  gestatten,  dass  Bern  den  Grafen  von  Greyerz,  der  ihr 
Mitbürger    sei,    als    Lehnsmann    Savoyens    zur    Huldigung 
aothige.     Die  Verhandlungen    zwischen    Bern    und  Freiburg 
nahmen  darüber  einen  so  gereizten  Charakter  an,    dass    das 
.-tztere  die  katholischen  Orte  bereits   zur  Kriegsbereitschaft 
jiahnte.     Doch  erfolgte  schliesslich  ein  Vergleich,  indem    die 
Körner  auf  die  Huldigung  des  Grafen  verzichteten    und  den 
Fmburgern  zu  den  früheren  Erwerbungen  noch  Corbieres, 
s)wie  die  bischöflichen  Herrschaften  Bulle  und  Laßoche 
iberliessen.     Anstände  mehr    untergeordneter  Natur  wurden 
im  Lauf  des  Jahres  1537  durch  Schiedssprüche  der  vier  Orte 
Zürich,  Luzern,  Schwyz  und  Basel  beseitigt.2) 

Im  übrigen  richtete  nun  Bern  in  dem  neuen  Gebiete  mit 
tt-iter  Hand  seine  Herrschaft  auf  und  duldete  keine  unklaren 


M  Abschiede  IV  lc.  612,  627,  637,  639 f.,  643,  645,  647, 
♦4*  f.,    653  ff. 

«j  Abschiede  IV  lc.  649,  652,  657  ff.,  660,  661  ff.,  675,  685, 
•2*1  ff..  755,  765,  769,  775,  779  ff.,  795,  804  ff.,  806  ff.,  815,  824  ff.. 
-2*  836  ff.,  877. 


174  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

Verhältnisse.  Payerne  und  Avencbes  mussten  ihre 
alten  Burgrechte  mit  Freiburg  aufgeben,  um  fortan  ganz 
allein  ihrem  neuen  Oberherrn  Bern  zu  gehören.1)  Ihre  «lieben 
Mitbürger»  von  Lausanne  behandelten  die  Berner  möglichst 
schonend.  Sie  überliessen  ihnen  in  einem  am  1.  Nov.  1536 
ausgestellten  Privileg,  der  sogen,  petite  largition,  die  hohe, 
mittlere  und  niedere  Gerichtsbarkeit  in  dem  ehemals  bischöf- 
lichen Gebiete  von  der  Venoge  bis  zur  Veveyse,  mit  Aus- 
nahme der  vier  Kirchspiele  von  Lavaux  und  des  Schlosses 
üuehy,  sammt  einem  reichlich  bemessenen  Antheil  an  den 
Kirchen-  und  Klostergütern  in  diesem  Umkreis ;  aber  sie  be- 
hielten sich  ausdrücklich  die  Souveränitätsrechte,  d.  h.  die 
Münze,  das  Begnadigungs-  und  Mannschaftsrecht  und  die 
letzte  Appellation  vor.  Damit  war  Lausanne  aus  einer 
Bundesgenossin  eine  wenn  noch  so  freigestellte  Unterthanen- 
stadt  Berns  geworden  und,  wie  die  kleinen  Städte,  wurde  es 
ebenfalls  angehalten,  sein  Burgrecht  mit  Freiburg  zu  lösen.*) 
Selbst  Genf  gegenüber  erneuerte  der  Rath  von  Bern  die 
Forderung  in  betreff  des  Vidomnats  und  der  bischöflichen 
Rechte,  begnügte  sich  aber  schliesslich  damit,  dass  dem 
Burgrecht  ein  «ewiger  Vertrag»  vom  7.  August  1536  hin- 
zugefügt wurde,  durch  den  Genfsich  verpflichtete,  zu  allen 
Zeiten  im  Krieg  und  im  Frieden  «den  Herren  von  Bern.' 
offen  zu  stehen  und  ohne  ihr  Wissen  und  Wollen  keinerlei 
anderweitige  Verbindungen  eingehen  oder  einen  andern 
Schirm  anrufen  zu  wollen.3) 

Das  ganze  eroberte  Gebiet   wurde  einheitlich  organisirt 
und  zunächst  in  sechs  Landvogteien  mit  den  Sitzen  Yver- 


0  Abschiede*  IV  lc.  726,  835,  869,  901,  907,  924. 

2)  Abs  chiede  IV  lc.  745,  766,  770,  869,   916,  941.      Mem. 
et  Doc.  Suisse  Rom.  VII  768. 

3)  0  e  c  hs  1  i ,  Orte  u.  Zugewandte  452. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  15G4.  175 

don,  Moudon,  Chillon,  Lausanne,  Gex  und 
Thonon  getheilt.1)  In  jeder  Landvogtci  wurde  ein  Ober- 
Bericht  anter  dem  Vorsitz  des  Landvogts  bestellt  mit  den 
Attributen  des  ehemaligen  Obergerichts  zn  Moadon  und  als 
oberste  Appellationsinstanz  die  «wälsche  Appellati onskainin er» 
in  Bern  geschaffen,  während  anderseits  den  Gerichtsherrn 
befohlen  wurde,  regelmässige  Untergerichte  von  12  Ge- 
schworenen einzusetzen.2)  Die  alten  Landstände  der  Waadt 
worden  nicht  förmlich  abgeschafft,  aber  die  Trennung  des 
freiburgischen  Theils  und  der  Anschluss  bisher  fremder  Ge- 
biete, sowie  die  religiöse  Umwälzung  machten  ihre  Beibe- 
haltung in  der  bisherigen  Form  faktisch  unmöglich.  Erst 
nach  der  definitiven  Auseinandersetzung  mit  Savoyen  lebte 
tine  Ständeversammlung  der  bernischen  Waadt  wieder  auf. 
Von  1535  bis  1570  hat  die  Waadt    keine  Stände   gesehen.8) 

Im  übrigen  blieb  die  Lokalverwaltung  der  Städte  und 
Seigneurien  fast  unberührt.  So  wie  die  Regierung  beim  Er- 
oberungszug den  Mannschaften  aufs  strengste  verboten  hatte, 
in  der  Waadt  zu  verheeren  und  zu  plündern,  um  die  Be- 
völkerung nicht  von  vornherein  gegen  sich  zu  erbittern, 
60  Hess  sie  ihr,  wo  immer  möglich,  die  bisherigen  Hechte 
und  Gewohnheiten,  immerhin  unter  dem  Vorbehalt,  offenbart- 
Missbräuche  zu  beseitigen.4) 

Nur  auf  einem  Gebiete  giengBern  revolutionär  und  ge- 
waltsam vor,  auf  dem  der  Kirche ;  aber  es  war  dies  eine 
absolute  Notwendigkeit,    um  die    neue  Landschaft  unwider- 


*j  Grenus,  200.  Till ier  III,  365.  Später  wurden  noch 
Landvogteien  in  Avenches,  Payerne,  Morgcs,  Nyon,  Romainmotier, 
ßoamoot  und  Ternier  errichtet. 

*)  Grenus  XXI;  201. 

»j  Grenus  XXIX. 

4j6renu8  196,  201,  210,  220. 


176  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

ruflich  an  den  bernischen  Staat  zu  ketten.  Dass  Bern  alle 
seine  Eroberungen  «lutherisch»  machen  werde,  galt  als  so 
selbstverständlich,  dass  Freiburg  und  Wallis  gerade  damit 
ihren  Raub  vor  dem  Herzog  und  den  katholischen  Miteid- 
genossen rechtfertigten.  Einstweilen  sorgte  es  für  unge- 
hemmte Wirksamkeit  der  evangelischen  Prediger,  so  Yiret's 
in  Lausanne,  Fabri's  in  Thonon;  dann  griff  es,  ohne  sich 
durch  eine  kaiserliche  Abmachung  abwendig  machen  zu 
lassen,  zu  dem  beliebten  Mittel  der  Disputation.  In  der 
ersten  Woche  des  Oktober  1536  hallte  die  ehrwürdige 
Lausanner  Kathedrale  von  den  Keulenschlägen  wieder,  die 
Farel  und  Viret  gegen  den  papistischen  Götzendienst  führten ; 
im  Hintergrund  Btand  die  mächtige  Gestalt  Calvins.  Der 
Ausgang  konnte  nicht  zweifelhaft  sein ;  noch  vor  Beendigung 
der  Disputation  begann  der  Bildersturm  in  der  Kathedrale. 
Am  19.  Oktober  befahl  die  bernische  Regierung  ihren  Land- 
vögten, die  Bilder  und  Altäre  aus  den  Kirchen  zu  entfernen, 
und  am  24.  Dezember  ergieng  ein  grosses  Reformationsedikt 
für  die  welschen  Lande.1)  Mit  der  Reformation  war  die 
Einziehung  des  reichen  Kirchen-  und  Klostergutes  verbunden, 
in  das  sich  die  Herrscherstadt  redlich  mit  den  Unterthanen 
theilte.  Wenn  der  berühmte  Kirchenschatz  der  bischöflichen 
Kathedrale  nach  Bern  abgeführt  wurde  und  dieses  sich  über- 
haupt alle  Güter  des  Bisthums  und  Domkapitels  vorbehielt, 
so  bekam  Lausanne  ausser  seinen  fünf  Pfarrkirchen  die  zwei 
Klöster  in  der  Stadt  und  vier  (St.  Sulpice,  Montheron,  Belle- 
vaux  und  St.  Catherine)  ausserhalb  derselben  mit  allen  Gü- 
tern unter  der  Bedingung  als  Eigenthum ,  dass  es  den 
Mönchen  und  Nonnen ,  die  sich  der  Reformation  an- 
schlössen, lebenslänglichen  Unterhalt  gewähre.     Später  kamen 

J)  V  u  11  i  e  m  i  n ,   Le  Chroniqueur  303  ff.,  315  ff.,  340,  348  ff. ; 
G  r  e  n  u  s   203  ff. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  177 

noch  Wälder  ans  dem  Besitz  des  Domkapitels  hinzu.  Payerne 
«rhielt  die  Abteigeb&ude  nebst  den  Garten  im  Stadtbann  and 
Weinbergen  in  Lavaux.  Der  Ursprung  der  meisten  Bourses- 
des-Pauvres  und  mancher  reichen  Gemeindegüter  im  Kanton 
Waadt  geht  auf  die  Schenkungen  zurück,  die  Bern  den  Ge- 
meinden ans  dem  Kirchengut  machte.  Moudon  erhielt  die 
Mittel,  um  eine  Schule  zu  unterhalten.  1537  wurde  in 
Lausanne  die  Akademie  ins  Leben  gerufen  und  wenig  später 
das  Seminar  der  «zwölf  Schüler  der  Herren  von  Bern»  da- 
mit verbunden.1) 

Wenn  wohl  die  Mehrheit  der  Bevölkerung  die  Refor- 
mation zunächst  nur  gezwungen  annahm,  so  gieng  diese  doch 
dem  Waadtland  rasch  in  Fleisch  und  Blut  über,  und  damit 
vollzog  sich  die  innerliche  Trennung  von  dem  katholischen 
Savoyen.  Als  der  Augenblick  kam,  wo  der  Sohn  Karls  III. 
das  ihm  entrissene  Erbe  zurückverlangte,  da  wollte  die  neue 
Generation,  die  inzwischen  in  der  Zucht  der  reformirten 
Kirche  aufgewachsen  war,  von  der  Herstellung  der  Herr- 
schaft des  katholischen  Fürstenhauses  nichts  mehr  wissen 
und  stand  entschlossen  und  treu  zu  Bern. 

m.  Der  Friede  von  Cateau-Cambresis. 

Es  war  für  die  Befestigung  der  bernischen  Herrschaft 
in  der  Waadt  ein  unberechenbarer  Vortheil,  dass  ihr  die 
französische  Okkupation  in  Savoyen  fast  ein  Vierteljahr- 
hundert hindurch  als  Vormauer  diente.  So  lange  die  Fran- 
zosen   in  Piemont  und  Savoyen   standen,    hatte    der  Herzog 


*)  Memoires  et  Docum.  Suisse  Rom.  VII,  771 ;  2e  serie  I 
(Extrattsdes Manuaux duConseil de  Lausanne, publ.parC havannes) 
27  ff.,  130,  134.  Grenus  209.  V  erdeil,  Hist.  du  Ct  de  Vaud  II 
47.    Tillier  371.    Marti gnier  et  Crousaz,  Lausanne. 

12 


178  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

keine  Aussicht,  sich  wieder  am  Genfersee  festzusetzen,  and 
jene  schienen  das  wichtige  Passageland  zu  beiden  Seiten 
der  Westalpen  dauernd  ihrem  Reiche  einverleiben  zu  wollen. 
Wohl  eröffnete  Karl  V.  wegen  der  Wegnahme  Piemonts  un- 
verzüglich den  Krieg;  aber  dieser  nahm  einen  solchen  Ver- 
lauf, dass  sich  der  Kaiser  schliesslich  genöthigt  sah,  in  dem 
zehnjährigen  Waffenstillstand,  den  er  am  18.  Juni 
1538  mit  Franz  I.  za  Nizza  abschloss,  Savoyen  preiszu- 
geben. Karl  III.  mii8ste,  um  nicht  aus  Nizza,  seinem 
letzten  Zufluchtsort,  vertrieben  zu  werden,  zu  diesem  Ver- 
trag, der  ihn  auf  zehn  Jahre  des  grössten  Theiles  seines 
Fürstenthnms  beraubte,  seine  ausdrückliche  Zustimmung 
geben.1)  Da  konnte  Bern  eine  im  April  1542  von  Speyer 
aus  ergangene  Aufforderung  des  römischen  Königs  und  der 
Reichsstande,  dem  Herzog  das  Seine  zurückzuerstatten,  getrost 
anf  sich  beruhen  lassen,  wiewohl  ihm  die  katholischen  Orte 
bei  diesem  Anlass  nngescheut  erklärten,  sie  würden,  falls 
ans  seinen  Eroberungen  Gefahr  entstünde,  sich  «solcher 
fremden  Sachen»  nicht  annehmen.2) 

Schon  bedenklicher  gestaltete  sich  die  Lage  beim 
Friedensschluss  von  Crepy  (18.  Sept.  1544),  in 
welchem  Karl  V.  und  Franz  I.  das  Abkommen  trafen,  dass 
der  zweite  Sohn  des  Königs,  der  Herzog  von  Orleans,  ent- 
weder die  Tochter  des  Kaisers  mit  den  Niederlanden  oder 
dessen  Nichte  mit  Mailand  als  Aussteuer  erhalten,  und  dass 
dafür  der  Herzog  von  Savoyen  wieder  in  seine  Lande  ein- 
gesetzt werden  solle.  An  diese  Verschwägerung  sollte  sich 
ein  enges  Bündniss  der    beiden  Monarchen    zur  Unterdrück- 


*)  Üumont,  Corps  universel  diplomatique  IV 2,  170,  172. 
Ranke,  Deutsche  Gesch.  IV  85.  Baumgarten,  Karl  V..  III 
241  ff. 

2)  Abschiede  IV  1  d,  142,  145,  171. 


Der  Lausannes  Vertrag  von  1564.  179 

ung  der  Ketzerei  knüpfen,  und  die  gräuelvoiie  Niedermetzel- 
ang der  Waldenser  in  der  Provence  im  April  1545  schien 
dafür  zu  bargen,  dass  es  Franz  I.  damit  ernst  sei1).  Jetzt 
wurde  Bern  doch  um  seine  Eroberungen  bange,  und  es  stellte 
im  Juni  1545  die  bestimmte  Anfrage  an  die  eidgenössischen 
Kitstände,  wessen  es  sich  von  ihnen  zn  versehen  habe,  wenn 
es  wegen- der  neuen  Lande  angefochten  würde. 

Im  Zeitalter  der  Burgunder-  und  Mail&nderkriege  wäre 
eine  solche  Anfrage  wohl  überflüssig  gewesen ;  damals  hätte 
es  als  selbstverständlich  gegolten,  dass  für  einen  Ort,  der  in 
seinem  Besitzstand  bedroht  wurde,  die  ganze  Eidgenossen- 
schaft eintrete.  Aber  seit  der  Glaubensspaltung  war  diess 
£olidaritfiteprinzip,  dem  die  Eidgenossenschaft  ihre  Stärke  und 
ihre  Erfolge  verdankte,  ins  Wanken  gerathen;  die  Idee  des 
schweizerischen  Vaterlandes,  die  sich  in  der  Heldenzeit  so 
mächtig:  entwickelt  hatte,  erlag  der  zersetzenden  Wirkung 
des  konfessionellen  Haders*).  Bern  erhielt  auf  sein  wieder- 
holt angebrachtes  Begehren  keine  Antwort.  Wie  die 
katholischen  Orte  in  der  Sache  dachten,  war  bekannt ;  darob 
wurden  auch  die  evangelischen  unsicher,  und  Zürich  mahnte 
schliesslich  Bern,  ron  seinem  Drängen  auf  Antwort  in  An- 
betracht der  politischen  Umstände  abzustehen,  worauf  dieses 
in  der  That  die  Sache  einstweilen  ruhen  liess,  zumal  die  un- 
mittelbare Gefahr  sich  wieder  verzog.8)      Am    8.  September 

»jDumont  IV  2,  289.  Ranke  IV  227  ff.  Martin, 
HUtoire  de  France  VII  305  f.,  333  ff. 

*J  Zuerst  hatte  sich  das  im  Müsserkrieg  gezeigt.  0  echsli,  Orte 
and  Zugewandte  118  ff. 

*)  Abschiede  IV  ld  490,  545,  599,  609.  Vgl.  auch  Geiser, 
Heber  die  Haltung  der  Schweiz  während  des  Schmalkaldischeu 
Krieges  (Jahrbuch  für  Schweiz»  Gesch.  XXII,  p.  218  ff.),  wo  der  in- 
teressante Nachweis  geführt  wird,  dass  Bern  aus  Besorgniss  für 
**ine  aavoyischen  Lande  ein  aktives  Eingreifen  in  den  deutschen 
Glaubenskrieg  anstrebte. 


180  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

1545  starb  nämlich  der  Herzog  von  Orleans,  ehe  die  geplante 
Heirath  zustande  gekommen,  und  damit  fielen  die  Abmach- 
ungen des  Friedens  von  Crepy  dahin.  Der  Kaiser  behielt 
Mailand,  der  König  Piemont,  und  die  Restitution  des  Her- 
zogs war  wieder  in  weite  Ferne  gerückt. 

Karl  III.,  der  1553  starb,  sollte  sie  nicht  mehr  erleben. 
Sein  Nachfolger  EmannelPhilibert,  einer  der  fähigsten 
Fürsten  der  an  hervorragenden  Persönlichkeiten  nicht  armen 
savoyi8chen  Dynastie,  knüpfte  sein  Schicksal  noch  enger  als 
sein  Vater  an  die  Politik  des  Hauses  Habsburg.  Als  Erb- 
prinz verdiente  er  sich  iin  Gefolge  Karls  V.  seine  Sporen  im 
schmalkaldischen  Kriege.  Im  Vollgefühl  des  Sieges  der 
kaiserlichen  Sache,  die  zugleich  die  seinige  war,  richtete  der 
Zwanzigjährige  am  19.  August  1548,  in  den  Tagen,  da  die 
Spanier  Konstanz  stürmten,  von  Ulm  aus  ein  selbstbewusstes 
Schreiben  an  die  Eidgenossenschaft,  mit  welchem  er  einer 
Gesandtschaft  seines  Vaters  den  Weg  zu  bahnen  suchte,  die 
in  Bern  und  Freiburg,  sowie  auf  der  Tapsatzung  die  Rück- 
erstattung der  Eroberungen  forderte.  Von  irgend  einem  Er- 
folg dieses  Schrittes  konnte  freilich  keine  Rede  sein.  In 
Bern  gieng  die  Stimmung  dahin,  «eher  keinen  Stein  auf  dem 
andern  bleiben  zu  lassen,  als  die  neu  gewonnenen  Lande 
herauszugeben»,  und  auch  der  Nachfolger  Franz  I.y 
Heinrich  II.,  Hess  den  Bernern  erklären,  er  denke  nicht 
daran,  Piemont  herauszugeben,  und  begehre,  dass  sie  ihr 
Land  auch  behalten.  Nur  eines  erreichte  Einanuel  Philibert, 
einen  abermaligen  Beschluss  der  katholischen  Orte,  den 
Bernern  des  neu  gewonnenen  Landes  halber  keinen  Beistand 
zu    leisten.1)      Der    uneidgenössische    Charakter    dieser    Er- 

i)  Abschiede  IV  ld  1020,  1021,  1065.  1072,  1079;  IV  le  3, 
9,  20,  41,  55.  Das  bei  Guichenon  Buch  VI  p.  501  abgedruckte 
Schriftstück    aus    dem  Turiner  Archiv,    wonach    ein    kaiserlicher 


Der  Lausanner  Vertrag  Ton  1564.  181 

klarung  erhellt  so  recht  deutlich  daraus,  dass  dieselben  Orte 
bei  der  gleichzeitigen  Erneuerung  der  französischen  Allianz 
(I.  Juni  1549)  sich  zur  Vertheidigung  der  von  Frank- 
reich okkupirten  savoyischen  Lande  verpflichteten,  wie  wohl 
sie  einige  Skrupeln  darüber  empfanden,  dass  es  nicht  gerade 
anständig  sei,  Frankreich  die  Hülfe,  die  man  den  Bernern  ver- 
weigerte, zu  gewähren,  da  diese  doch  ewige  und  ältere 
Bundesgenossen  seien.  «Aber»,  bemerkt  ein  päpstlicher 
Agent  dazu,  «vom  König  haben  sie  eben  mancherlei  Vor- 
teile, von  den  Bernern  nichts  anderes  als  Frieden.»1) 

Im  September  1551  entbrannte  der  Kampf  zwischen 
den  Habsburgern  und  den  Valois  von  neuem.  Der  junge 
S&voyerfürst  bewährte  sich  in  demselben  als  kaiserlicher 
Truppenführer  mit  steigendem  Ansehen,    bis    er,   schliesslich 


Herold,  gestützt  auf  ein  kammergerichtliches  Urtheil,  am  14.  April 
1548  die  Berner  zur  Rückerstattung  der  savoyischen  Laude  samt 
200O0O  Thalern  Schadenersatz  aufgefordert  und  durch  Androhung 
der  Kriegserklärung  von  Seite  des  Kaisers  zur  besiegelten  Zusage 
bewogen  haben  soll,  erweist  sich  auf  den  ersten  Blick  als  eine 
plompe  Fälschung.  Wie  wenig  der  Kaiser  damals  daran  dachte, 
durch  Kriegsdrohungen  die  Eidgenossen  vor  den  Kopf  zu  stossen, 
geht  aus  den  Abschieden  (IV  ld  927  und  942)  zur  Evidenz  her- 
vor. Sollte  diese  Fälschung  etwa  mit  dem  mysteriösen  «Brief  und 
Siegel»  identisch  sein,  worin  nach  der  Behauptung  der  savoyischen 
Gesandten  Bern  dem  Herzog  die  Rückgabe  der  Laude  versprochen 
haben  sollte?  Von  den  Bernern  in  der  Tagsatzung  zu  Baden, 
Februar  1549  aufgefordert,  den  betreffenden  Brief  vorzuweisen,  ent- 
schuldigten sie  sich  damit,  es  habe  das  in  ihrer  Instruktion  ge- 
standen, aber  der  Fürst  könne  den  Brief  nicht  finden,  was  ihnen 
von  den  Bernern  die  derbe  Zurechtweisung  zuzog,  es  sei  nicht 
fürstlich,  einem  Gesandten  etwas  in  Brief  und  Siegel  zu  geben  und 
bernach  nichts  davon  wissen  zu  wollen.    Abschiede  IV  le  41. 

*)  Wirz,    Akten     über   die   diplomatischen  Beziehungen  der 
römischen  Curie  zu  der  Schweiz  1512—1552,  S.  462,  465. 


182  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

von  Philipp  II.  zum  Statthalter  der  Niederlande  und  Ober- 
befehlshaber der  dort  gesammelten  Armee  ernannt,  durch 
den  glänzenden  Sieg  bei  St.  Quentin  (10.  August  1557) 
dem  Krieg  die  entscheidende  Wendung  gab.  Bei  den 
Friedensverhandlungen,  zu  denen  das  ermüdete  Frankreich 
im  Herbst  1558  die  Hand  bot,  stellte  Philipp  II.  die  Forder- 
ung, dass  sein  ruhmbedeckter  Feldherr  seine  angestammten 
Lande  wieder  erhalten  müsse,  in  erste  Linie.  Die  Versuche 
der  Franzosen,  Piemont  und  Savoyen  dadurch  zu  retten,  dass 
sie  Emanuel  Philibert  eine  entsprechende  Gebietsentschädig- 
ung- im  Innern  Frankreichs  in  Aussicht  stellten,  wurden  von 
diesem  mit  Entrüstung  zurückgewiesen,  und  so  mussten  denn 
die  französischen  Unterhändler  am  18.  Oktober  1558  im 
Prinzip  in  die  Restitution  der  savoyischen  Lande  ein- 
willigen.1) Nachdem  die  Franzosen  in  diesem  Punkte  nach- 
gegeben, räumte  der  Tod  der  Gemahlin  Philipps,  Maria  der 
Blutigen  von  England,  ein  anderes  Haupthinderniss  de» 
Friedens,  die  Frage  der  Rückerstattung  des  von  Guise  er- 
oberten Calais  an  die  Engländer,  aus  dem  Wege,  indem  die 
Spanier  nun  kein  Interesse  mehr  daran  hatten,  den  Fran- 
zosen diesen  magern  Ersatz  für  Pieinont  zu  verweigern.  So 
wurde  am  3.  April  1559  zu  Ca te  au- Cam  br 6 s  i  s  der 
Friede  zwischen  Frankreich  und  Spanien  unterzeichnet,  der 
dem  Ringkampfe  zwischen  den  beiden  Hauptmächten  des 
Kontinents  für  längere  Zeit  ein  Ende  bereitete. 

Wie  im  Frieden  von  Cr6py,  sollten  Familien  Verbind- 
ungen zwischen  den  rivalisirenden  Dynastien  die  Grundlage 
für  die  künftige  Freundschaftsära  bilden,  und  dabei  war  auch 
dem  Herzog  von  Savoyen  eine  Rolle  zugedacht.  Der  Ver- 
trag   von    Cateau-Cambresis    stipulirte    eine   Doppeiheiratu 

!)  Weiss,  Papiers  d'Etat  du  Cardinal  de  Granvelle  V  173,  176, 
181,  187, 196,  244—248,  257,  268,  272. 


Der  Lausanne*  Vertrag  von  1564.  183 

zwischen  Philipp  II.  und  Elisabeth,  der  Tochter,  und 
zwischen  Einanuel  Philibert  und  Margaretha,  der 
Schwester  des  Königs  von  Frankreich.  Heinrich  II.  gab 
seinem  künftigen  Schwager  alle  Eroberungen  heraus,  ausge- 
nommen Turin  und  vier  weitere  feste  Plätze  in  Piemont, 
die  noch  drei  Jahre  in  französischem  Besitz  verbleiben 
sollten;  ausserdem  brachte  die  französische  Prinzessin  dem 
Herzog  die  Einkünfte  des  Herzogthums  Berry  und  eine  Mit- 
gift von  300  000  Kronen  zu.  Dafür  sollte  Emanuel  Philibert 
mit  all  seinen  Landen  künftig  nentral  und  «der  gemeinsame 
Freund  des  allerchristlichsten  und  des  katholischen  Königs» 
bleiben.1) 

So  war  der  noch  eben  landerlose  Fürst,  der  nicht  viel 
mehr  sein  eigen  nannte  als  sein  Schwert,  mit  einem  Schlage 
wieder  Herr  eines  Staates  geworden,  der  von  der  Saone  bis 
zur  Sesia  und  bis  zum  Meere  reichte,  umgeben  vom  Ruhmes- 
schi in  mer  einer  der  ersten  Waffenthaten  des  Jahrhunderts 
und  in  enger  Verwandtschaft  verbunden  mit  den  mächtigsten 
Monarchen  des  Abendlandes.  Bern  und  Genf  hatten  an 
Emanuel  Philibert  einen  gefährlichen  Feind  erhalten,  einen 
Feind,  der,  in  der  Vollkraft  seiner  Jahre,  im  Bewusstsein 
seiner  Fähigkeiten  und  seiner  ausnehmend  günstigen  Lage, 
entschlossen  war,  alsbald  an  die  Herstellung  des  vollen  Um- 
fangs,  den  der  Staat  seiner  Väter  besessen  hatte,   zu  gehen. 

IV.  Der  Sonderbund  der  katholischen  Orte  mit  Savoyen. 

Mit  gespanntester  Aufmerksamkeit  hatte  Bern  den  (rang 
der  Weltbegebenheiten  verfolgt  und  nichts  versäumt,  um 
seine  gefährdeten  Interessen  dabei  zu  wahren.  Als  unmittel- 
bar nach    der  Schlacht    bei  St.  Quentin    der    in    spanischen 


1  j  Dumont,  Corps  diplom.  V  1,  38—40. 


184  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

Diensten  stellende  Elsässer  Bollwiler  ein  Heer  von  12  OOO 
Mann  durch  die  Freigrafschaft  nach  Süden  führte,  um  die 
Wiedereroberung  des  von  Frankreich  besetzten  savoyischen 
Gebietes  zu  beginnen,  veranstaltete  es  im  Verein  mit  Freiburg 
und  Wallis  ein  starkes  Aufgebot  zum  Schutz  seines  Gebiets.1) 
Auf  die  erste  Kunde  von  den  bevorstehenden  Friedensver- 
handlungen stellte  es  schon  im  August  1558  an  den  fran- 
zösischen Gesandten  das  Begehren,  dass  seine  von 
Savoyen  eroberten  Lande  in  den  Frieden  eingeschlossen 
werden  möchten,  und  wiederholte  dasselbe  in  einem  Schreiben 
an  Heinrich  IL  selber.  Allein  man  begreift,  dass  der  König, 
nachdem  er  sich  entschlossen  hatte,  seinen  Antheil  an  der 
Savoyerbeute  zu  opfern,  keinen  grossen  Eifer  zeigte,  den 
Bernern  den  ihrigen  zu  sichern.  <Was  den  Brief  der  Herren 
von  Bern  an  uns  betrifft»,  schrieb  er  am  24.  November  an 
seinen  Gesandten  in  der  Schweiz,  den  Herrn  von  Coignet, 
«können  Sie  nichts  besseres  thun,  als  den  Einschluss  der  er- 
oberten Lande  in  den  Frieden  möglichst  auf  die  lange  Bank 
zu  schieben,  da  es  klarer  ist  als  der  Tag,  dass  sie  weder 
eingeschlossen  werden  können  noch  sollen» ;  doch  wolle  er, 
ehe  er  den  Bernern  einen  Korb  gebe  und  ihnen  alle  Hoffnung 
benehme,  den  Verlauf  der  Friedensverhandlungen  abwarten.3) 
So  wurde  zwar  wohl  die  Eidgenossenschaft  im  All- 
gemeinen in  den  Vertrag  von  Cateau-Cambresis  mit  einge- 
schlossen, aber  der  bernischen  Eroberungen  absichtlich  darin 
nicht  gedacht  und  Emanuel  Philibert  in  Bezug  auf  sie 
freie  Hand  gelassen.    Noch  war  der  Friede  nicht  einmal  unter- 


i)  A b seh ie  de,  IV  2,  53,  54,  58. 

*)  «Quant  a  la  lectre  que  les  seigneurs  de  Bernenous  ontescript. 
vousne  scauriez  mieulx  faireque  deremectreen  laplus  grande  longueur 
quil  vous  sera  possible  le  premier  poinet  qui  est  celuy  de  la  compre- 
hension  des  pays  conquis  au  traicte  de  paix  ou  il  est  plus  clair  que  le 


Der  Lausann  er  Vertrag  von  1564.  185 

zeichnet,   als    der  Herzog    schon    an   Bern    Briefe   abgehen 

Hess,    worin  er    die  Zurückstellung    seiner   Lande    und    die 

Wiederherstellung    des  alten   Bundesverhältnisses    begehrte, 

und  Heinrich  II.  wies  am  16.  März  1559  seinen  Botschafter 

in    der   Schweiz    an,    der    Absicht  des   Herzogs    in    keiner 

Weise    entgegenzuwirken.    Die    Forderung   Emanuel   Phili- 

berts    gelangte    schon    am    21.    April   gleichzeitig  mit    dem 

Frieden    von  Cateau-Cambräsis  im  bernischen  Grossen  Käthe 

zur   Verlesung.1)     Damit    war    gewissermassen    der    Krieg 

Savoyens  gegen  Bern  angekündigt,  und  eine  Weile  hatte   es 

den  Anschein,  als  ob  in  demselben  auch  sogleich  das  Schwert 

würde  gezogen  werden. 

Es  ist  bekannt,  welche  welthistorische  Folgeu  Bern's 
muthigo  That  von  1536  gezeitigt  hat.  Der  von  ihm 
Savoyen  abgenommene  und  protestantisch  gemachte  ro- 
manische Erdenwinkel  war  das  Centrum  der  Häresie,  das 
von  ihm  beschirmte  Genf  das  Asyl  der  Religionsflüchtlinge 
aller  Länder,  die  Metropole  des  Protestantismus  geworden, 
von  wo  aus  der  geistesmächtige  französische  Reformator 
durch  seine  Schriften  und  seine  Sendlinge  in  staunenerregen- 


jour  quilz  ne  peuvent  ny  doibvent  estre  compris.  Toutes  foys  avant 
que  de  les  cn  eseonduire  et  desesperer  du  tout  Je  serey  bien  aise  de 
reoir  ce  qui  debvera  reussir  du  faict  de  la  paix.»  Heinrich  11.  an 
lioignet,  St.  Germain  24.  Nov.  1558;  vgl.  auch  die  Briefe  vom  12.  Sept. 
1558  und  5.  Jan.  1559.  Ich  verdanke  der  Güte  des  Herrn  Bundes- 
archivar Dr.  K  a  i  s  e  r  die  Mittheilung  der  dem  Bundesarchiv  einver- 
leibten Kopien  der  einschlägigen  Akten  aus  den  Archiven  in  Paris  und 
Turin. 

i)  Heinrich  IL  an  Goignet,  16.  März  1559.  Zehender's  Tage- 
buch, Archiv  des  bist.  Vereins  Bern  V,  24.  Antwort  Berns  auf  das 
Schreiben  Em.  Philiberls  vom  22.  April  1559,  Staatsarch.  Bern, 
Savoyen  1545—65. 


186  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

der  Thätigkeit  Frankreich,  die  Niederlande,  Schottland,  Un- 
garn und  Polen  Rom  zu  entreissen  drohte.  Kein  Name  war 
daher  den  glaubenseifrigen  Katholiken  verhasster,  als  der- 
jenige Genfs,  dieses  Ansteckungsheerdes,  der  die  Welt  mit 
seinem  Gift  verpestete.  Jetzt  schien  endlich  der  Augenblick 
gekommen,  denselben  auszuräumen.  Emanuel  Philibert 
brannte  vor  Begierde,  die  Stadt,  auf  die  er  ein  erbliches 
Anrecht  zu  haben  glaubte,  in  seine  Gewalt  zu  bringen  und 
dem  ketzerischen  Unwesen  ein  Ende  zu  machen.  Papst 
Paul  IV.  erklärte  sich  bereit,  das  heilige  Unternehmen 
finanziell  zu  unterstützen  und  forderte  die  katholischen  Höfe 
zum  Beistand  auf;  in  ihrem  Nest,  sagte  er,  muss  man  die 
Natter  ersticken.1)  Und  Heinrich  IL  von  Frankreich,  der 
sich  für  den  Verlust  von  198  festen  Platzen,  welche  ihn  der 
Friede  von  Cateau-Cambresis  kostete,  mit  dem  Gedanken 
tröstete,  dass  er  nun  im  Verein  mit  seinem  Schwiegersohn r 
dem  König  von  Spanien,  an  die  allgemeine  Ausrottung  der 
Ketzer  in  seinem  Reiche,  in  den  Niederlanden,  in  der  ganzen 
Christenheit  gehen  könne,  schlug  in  der  That  dem  Herzog 
von  Alba,  der  den  König  von  Spanien  bei  der  Hochzeit  mit 
Elisabeth  vertrat,  ein  gemeinsames  Vorgehen  gegen  die  Stadt 
Calvins  vor.  «Genf»,  Hess  er  dem  Spanier  am  24.  Juni  1559 
durch  den  Connätable  von  Montmorency  sagen,  «ist  die  Brut- 
stätte dieses  ganzen  Verderbens ;  dahin  flüchten  die  verur- 
theilten  Unterthanen  beider  Könige;  von  da  aus  trägt  man 
die  Unordnung  in  beide  Reiche.»  Er  und  der  König  von 
Spanien  müssten  sich  daher  verständigen,  dieses  Genf  zu 
zerstören ;  dann  könnten  ihre  Unterthanen  nirgends  mehr  hin 
flüchten,    ohne  alsbald  ausgeliefert  zu  werden.     Er  stelle  zu 


*)  Brief  von  Karl  Borromäus   im  Turiner  Archiv,    citirt   von 
VuHicmin's  Gesch.  der  Eidgenossen  11,  24. 


Der  Lausauner  Vertrag  von  1564.  187 

diesem  Zweck  alles,  was  er  an  Streitkräften  besitze,  dem 
König  Ton  Spanien  znr  Verfügung. 

Man  sieht,  Genf  hatte  seine  guten  Gründe,  auf  die  War- 
nungen, die  ihm  von  allen  Seiten  zukamen,  sich  nach  Kräften  zur 
Verteidigung  zu  rüsten  und  die  ganze  Bürgerschaft  zur  Fron« 
arbeit  an  den  Befestigungswerken  heranzuziehen.  Sein  bester 
Schirm  war  freilich,  dass  es  durch  das  Burgrecht  mit  Bern 
ein  Bestandtheil  der  Eidgenossenschaft  geworden  war  und 
dasa  die  ersten  Mächte  des  Erdtheils  vor  dem  Risiko  eines 
Zosammenstosses  mit  den  noch  immer  als  unbesieglich  gel- 
tenden Schweizern  zurückscheuten.  «Was  Genf  betrifft,» 
schrieb  Alba  an  seinen  König,  «so  bin  ich  dem  Counetable 
auf  dein  Weg,  den  er  mir  wies,  nicht  gefolgt,  weil  es  mir 
der  Sache  Eurer  Majestät  nicht  zu  frommen  schien,  den 
Franzosen  die  Mittel  an  die  Hand  zu  geben,  jemals  sagen 
zu  können,  dass  Eure  Majestät  etwas  gegen  die  Schweizer 
habe  unternehmen  wollen.»1) 

Wie  seltsam  verknüpft  erscheinen  doch  manchmal  die 
Faden  der  Weltbegebenheiten!  In  dem  Moment,  wo  Frank- 
reich bereit  war,  den  Savoyerherzog  auf  Genf  loszulassen. 
legte  ihm  Alba,  der  hernach  die  Calvinisten  der  Niederlande 
zu  Tausenden  dem  Tode  überlieferte,  den  Zügel  an  und  han- 
delte damit  durchaus  nach  dem  Sinne  seines  Herrn,  der  zwar 
den  Ketzerverbrennungen  mit  derselben  Wonne  wie  den 
Stiergefechten  beiwohnte,  der  aber  seine  Mitwirkung  zum 
Angriff  auf  die  Brutstätte  der  Häresie  versagte,  weil  er  es 
um  keinen  Preis  mit  den  gefürchteten  Schweizern  verderben 
wollte. 


l)  Depesche  des  Herzogs  von  Alba  an  Philipp  IL  vom 
26.  Juni  1559  bei  M  i  g  n  e  t ,  Journal  des  Savants  1857,  S.  170  ff. 
Ueber  Genfs  Rüstungen  s.  R  o  ge  t ,  Histoire  du  peuple  de  Geneve  V, 
250  ff. 


188  Der  Lau  sanner  Vertrag  von  1564. 

Die  Turnierlanze,  die  Heinrich  II.  fünf  Tage  nach  jener 
Unterredung     tödtlich     verwundet    niederstreckte,     beraubte 
Einanuel  Philibert  der  kräftigen  Unterstützung,  welche  jener 
«einem  künftigen  Schwager   gegen  Genf  in  Aussicht  gestellt 
hatte.    Von  den  im  Namen   Franz  II.  regierenden  Guisen, 
deren  Politik  sich   anfänglich  in  antispanischen   Bahnen  be- 
wegte,   erhielt   er    als   Schützling  Philipps   II.   nur    schöne 
Worte,1)   aber  auch  von  Philipp  II.  selber  schliesslich  eine 
derbe  Abfertigung.    Am  21.  Juni  1560  schrieb  der  Kardinal 
Granvella,  der  im  übrigen  die  Gefühle  der  Katholiken  gegen 
Genf  vollkommen   theilte,2)   an   den  König   von  den  Nieder- 
landen aus,  man  schreibe   ihm  aus  Italien   und  Deutschland, 
dass  der  Herzog  von  Savoyen   einen  Handstreich   auf  Genf 
plane  und  seine  Majestät  um  Unterstützung  angehe.  Er  wisse 
zwar  wohl,  dass  die  Umgebung  Emanuel  Philibcrt's   ihn    un- 
ablässig zu  einem  solchen  Schritte  dränge;  aber  ein  Versuch 
der  Art   habe   die  Vertreibung   seines  Vaters   herbeigeführt; 
der  Herzog  sollte  sich  erst  im  eigenen  Lande  recht  befestigen, 
ehe  er  an  Unternehmungen  nach  aussen  denke.  Er  habe  es  für 
seine  Pflicht  gehalten,  ihm  diesen  Bat  zu  geben.  Für  den  König 
könnte  eine  Unterstützung    Savoyens  grosse   Verlegenheiten 
zur  Folge  haben,  vor  allein    die  Sicherheit  der  Freigraf- 
schaft  kompromittiren.  «Die  Schweizer  könnten  daraus  den 
Vorwand  nehmen,  in  die  Freigrafschaft  Burgund  einzufallen, 
und,   wenn  sie   zu   diesem   äussersten   schritten,   glaube   ich 
nicht,    dass  wir  jemals  wieder  zum   freien  Besitz  derselben 
gelangen    würden.»      Philipp  II.  pflichtete    seinem    Minister 
völlig  bei :  «Sie  haben  gut  daran  gethan,  mich  vor  den  Pro- 
jekten  meines   Vetters,    des   Herzogs   von   Savoyen,    gegen 

r)  Guichenon,  Histoire  Genäalogique  680. 
2)  «Le  Heu  le  plus  infame  et  le  plus  infect,  la  sentine  et  abyine 
des  heresies»  nennt  er  es  einmal.    Papiers  d'Etat  VII,  613. 


Der  Lau  sann  er  Vertrag  von  1564.  189- 

Genf  zu  warnen ;  denn  sie  bieten  in  der  That  die  Nachtheile, 
auf  die  Sie  aufmerksam  machen.  Auch  habe  ich,  als  mir  in 
seinem  Namen  davon  gesprochen  wurde,  wie  es  früher  von 
Seite  des  Papstes  geschehen  war,  in  einer  Weise  geantwor- 
tet, dass  ihm  die  Lust  vergangen  ist,  darauf  zurück  zu 
kommen.*1) 

Bei  den  spanischen  Politikern  wurde  also  der  Hass  gegen 
die  Stadt  Calvins  durch  die  Rücksicht  auf  die  schwierig  zu 
vertheidigende  Freigrafschaft  aufgewogen.  Sie  betrachteten 
die  Schweizer  als  die  unentbehrlichen  Hüter  dieser  isolirten 
Provinz  gegen  Frankreich.  Um  der  Freigrafschaft  willen 
hatte  das  Haus  Habsburg  1511  die  Erbeinung  mit  den  Kan- 
tonen geschlossen  und  Philipp  sie  1557  erneuert,  und  wirk- 
lich war  es  einzig  dem  «getreuen  Aufsehen»  der  Eidgenossen 
auf  dies  Land  zu  verdanken,  wenn  Frankreich  in  den  ver- 
schiedenen Kriegen  in  die  Neutralisirung  desselben  gewilligt 
hatte.  Jeder  Schritt,  der  direkt  oder  indirekt  den  Bruch 
der  Erbeinung  herbeiführen  würde,  schrieb  Granvella  noch 
1564,  wäre  das  offenbare  Verderben  für  die  Freigrafschaft, 
«weil  der  Name  der  Schweizer  allein  uns  bis  auf  diesen  Tag 
dazu  gedient  hat,  das  Land  gegen  Frankreich  zu  schützen.» 
Unfehlbar,  meint  er,  würde  bei  einem  solchen  Anlass  das 
alte  Projekt  einer  Theilung  dieser  Provinz  zwischen  den 
Schweizern  und  Frankreich  heraufbeschworen.2) 

Diese  Haltung  Spaniens  wirkte  ernüchternd  auf  die  Curie 
zurück.  Der  Nachfolger  Pauls  IV.,  Pius  IV.,  wies  den  sa- 
voyischen  Gesandten,  der  ihn  um  Unterstützung  zum  Angriff 


>)  Weiss,  Papiers  d'Etat  du  Cardinal  de  Granvelle  Vi, 
103,  die  Antwort  Philipp's  IL   vom  7.  September  1560,    p.   153. 

«)  Weiss,  Papiers  d'Etat  du  Cardinal  de  Granvelle  VIII,  397. 
V>1.  Maag,  die  Freigrafschaft  Burgund  und  ihre  Beziehungen  zur 
Eidgenossenschaft,  45  ff. 


190  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

auf  Genf  ersuchte,  fast  unwirsch  zurück,  und  zu  dem  vene- 
tianiscben  Botschafter  sagte  er,  er  wolle  von  diesen  Ideen 
des  Herzogs  von  Savoyen  nichts  wissen  und  wundere  sich, 
dass  er  solche  Dinge  betreibe;  zu  der  Unternehmung  auf 
Genf  sei  jetzt  die  Zeit  nicht  angethan.1) 

Wenn  die  katholischen  Mächte  aus  Furcht  vor  den 
Schweizern  und  aus  gegenseitigem  Misstrauen  nicht  wagten, 
Emanuel  Philibert  ihre  Unterstützung  gegen  das  verhasste 
Genf  zu  leihen,  um  wie  viel  weniger  zu  einem  direkten  An- 
griff auf  Bern,  zu  dem  er  allein  zu  schwach  war.  Wohl 
erklärten  sich  Frankreich  und  Spanien  bereit,  dem  Herzog 
nach  Kräften  zur  Wiedererlangung  Beiner  Lande  behilflich 
zu  sein9);  aber  diese  Unterstützung  konnte  sich  bei  den  Be- 
ziehungen beider  Mächte  zu  den  Schweizern  nur  auf  diplo- 
matischem Felde  bewegen3),  und  zudem  trachteten  beide  dar- 
nach, sie  so  einzurichten,  dass  die  Empfindlichkeit  der  «Herren 
von  Bern»  als  des  mächtigsten  Kantons  möglichst  geschont 
wurde.4)     Philipp  IL  wagte  nicht  einmal,  ein  ihm  1560  ange- 


J)  Ranke,  Die  römischen  Päpste  1,  211. 

2)  Franz  IL  wollte  immerhin  zuerst  vom  Herzog  darum  ge- 
beten sein  (Brief  an  Coignet,  4.  Nov.  1559),  gab  aber  dann  am 
26.  Januar  und  am  7.  Juni  1560  seinem  Gesandten  Befehl,  die  Be- 
vollmächtigten des  Herzogs  in  allem,  was  sie  von  ihm  verlangen 
würden,  zu  fördern  und  zu  unterstützen,  als  ob  es  seine  eigenen 
Angelegenheiten  wären.    Aehnlich  Carl  IX.  am  10.  April  1561. 

8)  Vgl.  die  Bemerkung  Granvellas  (Papiers  d'Etat  VIII,  402): 
« De  plus  je  ne  vois  pas  trop  comment  les  Suisses  pourraient  y  con- 
sentir,  aujourd'hui  surtout  qu'il  n'y  a  pour  eux  aueune  apparence  de 
guerre  si  ce  n'est  entre  eux  ou  aveo  le  duc  de  Savoie  qu'ils  craignent 
peu  lui  seul,  ceprince  nepouvant  reeevoir  de  secours  ni  de  votre 
MajestS  ni  de  la  France,  ä  raison  des  aUiances  de  Vune  et  Vauire 
avec  les  Suisses.* 

4)  Vgl.  z.  B.  Charles  IX.  an  Coignet,  10.  April  1561  und  9.  Mai 
1562.  D'Orbais  an  de  l'Höpital,  10.  Mai  1563.  (Copien  im  Bundes- 
archiv.) 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  191 

tragenes  Sonderbündniss  mit  den  katholischen  Orten  «zur  Be- 
schirmung Mailands  und  gegen  die  Ketzer»  anzunehmen,  weil, 
wie  ihm  Granvella  auseinandersetzte,  zu  befürchten  stand, 
d&ss  die  Berner  im  Fall  einer  Unterstützung  der  katholischen 
Orte  durch  Spanien  sich  alsbald  zur  Vergeltung  auf  die  Frei- 
Grafschaft  werfen  würden.1) 

Noch  war  eben  der  Waffenruhm  der  Schweizer  so  gross, 
d&ss  niemand  es  gewagt  hätte,  ihnen  ein  Gebiet,  das  sie  seit 
einem  Vierteljahrhundert  inne  hatten,  mit  Gewalt  zu  ent- 
reissen.  Es  hatte  nur  ihres  festen  Willens  bedurft,  um  das 
Südufer,  wie  das  Nordufer  des  Genfersees,  um  den  natür- 
lichen Wall  des  Jura,  Mont  Vuache,  Salere  und  der  Savoyer- 
alpen,  wie  ihn  Bern  mit  dem  Schwerte  gewonnen  hatte,  für 
immer  fest  zu  halten.  Berns  Schuld  war  es  nicht,  wenn 
das  bereits  Errungene  grossentheils  wieder  verloren  ging ;  es 
war  diejenige  der  Eidgenossenschaft,  die  ihm  ihre  Unter- 
stützung versagte,  in  erster  Linie  diejenige  der  katholischen 
Orte,   die  mit  dem  Feind  geradezu   gemeine  Sache  machten. 

*  * 

Im  Sommer  1559  erschienen  drei  verschiedene  savoyi- 
sche  Botschafter  in  der  Schweiz,  die  eine  ungemeine  Rührig- 
keit entfalteten,  von  Ort  zu  Ort  reisten  und  sich  auf  allen 
Tagsatzungen  einfanden.2)  Ihr  Bestreben  ging  dahin,  unter 
dem  Vorwand  einer  Erneuerung  des  alten  Bündnisses  zwischen 
den  Eidgenossen  und  Savoyen  Bern  möglichst  zu  isoliren 
und  durch  die  übrigen  Orte   einen  Druck   auf   dasselbe  aus- 

l)  Philipp  II  an  Granvella  7.  Sept.  1560 ;  Granvella  an  Philipp 
6.  Okt.  (Papiers  d'Etat  VI  153,  193). 

*)  Greditiv  för  Claudius  von  Bellegarde,  Herrn  von  Montagny, 
an  Zürich,  8.  Juli  1559  (Staatsar eh.  Zürich,  Savoyen),  für  den  Herrn 
ton  Chevron  (Staatsarch.  Bern,  Savoyen  1545-65  Nr.  45/46.  Eidgen. 
Abschiede   IV  2,  106,   113,   119,  121,  126,  127,  130,  135,  137,  138, 


192  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

zuüben.  Dabei  griffen  sie  mit  besonderm  Raffinement  nicht 
auf  das  funfundzwanzigjährige  Biindniss  mit  Karl  III.  von 
1512  zurück,  sondern  auf  ein  angeblich  ewiges,  das  die  Eid- 
genossen am  23.  April  1477  mit  der  Herzogin  Jolanthe  ge- 
schlossen haben  sollten.  In  Wahrheit  war  dies  Biindniss  mit 
Jolanthe  ein  blosser  Entwurf  geblieben,  den  die  Kantone  gar 
nie  angenommen  hatten;  aber  weil  darin  gesagt  war,  dass  die 
von  den  Eidgenossen  gegen  Zahlung  von  50,000  61.  an  Sa- 
voyen  zurückgestellte  Waadt  ewig  bei  diesem  ver- 
bleiben solle,  schmiedeten  die  Savoyarden  daraus  ohne 
weiteres  eine  Waffe  gegen  Bern,  indem  sie  eine  «beglaubigte* 
Abschrift  des  angeblich  in  Händen  des  Herzogs  liegenden 
Originalbundesbriefes  vorwiesen. l) 

Bern  trat  diesen  Umtrieben  entgegen,  indem  es  die  eid- 
genössischen Mitstände  dringend  ersuchte,  sich  in  keine  Bundes- 
verhandlungen mit  Savoyen  einzulassen,  so  lange  es  mit  diesem 
wegen  der  eroberten  Lande  in  offener  Fehde  stehe ;  es  mahnte 
sie  zu  getreuem  Aufsehen  und  verlangte  die  Ausweisung  des 
Hauptgesandten,  Lambert  de  la  Croix,  der  sich  als  «Läger- 
herr» d.  h.  als  ständiger  Botschafter  in  der  Schweiz  aufthat. 


143,  148,  Zehender,  Tagebuch  24.  Der  Herr  von  Montagny  bereiste 
Solothurn,  Basel,  Zürich,  Schaffhausen,  Appenzell;  Lambert.  Herr 
vou  St.  Croix,  Luzern,  Uri,  Schwyz,  Unterwaiden,  Zug  und  Glarus; 
der  Freiherr  v.  Chevron  Bern,  Freiburg  und  Wallis  (Sl.  Bern,  Sa- 
voyen 1545-65  N.  48), 

*)  Abschiede  IV  2,  121,  130.  Das  angebliche  BOndniss  war  ein 
am  23.  April  1477  zu  Annecy  aufgesetzter  «Abschied»,  d.  h.  blosser 
Entwurf  (Absch.  II,  670).  Dass  derselbe  nie  in  Kraft  erwuchs,  geht 
aus  Abschied  II  678  (u),  683  (y),  694  (N.  908),  700  (e),  sowie  aas 
dem  Fehlen  eines  entsprechenden  Instrumentes  in  den  eidgenössi- 
schen Archiven  zur  Genüge  hervor.  Statt  des  geplanten  Bündnisses 
mit  der  ganzen  Eidgenossenschaft  kam  nur  ein  solches  mit  Bern  und 
Freiburg  am  20.  August  1477  zu  stände.  Vgl.  Dierauer,  Geschichte 
der  Eidgenossenschaft  II,  248. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  193 

Alle  diese  Forderungen  entsprachen  dem  Geist  der  Bünde, 
und  ihre  Erfüllung  wäre  in  früherer  Zeit  selbstverständlich 
gewesen.1)  Auch  gaben  die  evangelischen  und  paritätischen 
Orte,  Zürich  voran,  wirklich  die  Erklärung  ab,  sie  könnten 
sich  mit  Savoyen  so  lange  in  kein  Bündniss  einlassen,  bis  es 
sich  mit  Bern  vertragen  habe.8) 

Anders  die  katholischen  Orte.  Auch  sie  hatten  im 
Jahre  1557,  als  Emanuel  Philibert  den  schweizerischen  Kriegs- 
haufen  in  Frankreich  noch  als  Feind  gegenüberstand,  Bern 
zur  Erneuerung  des  Bargrechts  mit  Genf  ermahnt,  in  Anbe- 
tracht, welchen  Nachtheil  es  ihm  und  der  ganzen  Eidgenossen- 
schaft bringen  würde,  wenn  es  in  eines  fremden  Fürsten  Ge- 
walt fiele.3)  Jetzt,  drei  Jahre  später,  waren  sie  bereit, 
nicht  bloss  Genf,  sondern  selbst  die  Waadt  dem  fremden 
Fürsten  preiszugeben,  vorausgesetzt,  dass  er  ihnen  in  dem 
Glaubenskrieg,  den  sie  gegen  ihre  Miteidgenossen  vom  Zaun 
zu  brechen  im  Begriffe  standen,  bewaffneten  Beistand  leiste. 
Die  V  innern  Orte  hatten  nämlich  gerade  damals  den  Plan 
jtefasst,  Glarus  mit  Gewalt  in  den  Schoss  des  Katholizismus 
zurückzuführen,  und  da  voraussichtlich  Zürich  und  Bern  eine 
solche  Unterdrückung  ihrer  Glaubensgenossen  nicht  gutwillig 
zugaben,  sahen  sie  sich  auf  allen  Seiten  nach  auswärtigen 
Bundesgenossen   um.4)    Sie   gingen   den  Papst  um  Geld  und 


l)  So  wiesen  die  Eidgenossen  z.  B.  im  Juni  1495  ein  Gesuch 
der  Herzogin  von  Savoyen  um  eine  Vereinigung  mit  Rücksicht  auf 
obwaltende  Anstände  zwischen  Wallis  und  Savoyen  zurück;  erst 
wenn  diese  beseitigt  seien,  könne  man  darauf  eintreten.  Absch.  Hl1, 
48Dp. 

*)  Mit  besonderer  Energie  auch  Appenzell;  Zehender  Tagebuch 
S.  26.    Vgl.  Absch.  IV  2  13H,  175. 

3)  Abschiede  IV  2  29.    Vgl.  Oechsli,  Orte  u.  Zugewandte,  455  (f. 

4)  Vgl.  den  Artikel  Aegidius  Tschudi  in  der  Allg.  deutschen 
Biographie. 

13 


194  Der  Lausaimer  Vertrag  von  1564. 

Truppenhilfe  an,  sie  tragen  dem  spanischen  Statthalter  in 
Mailand  das  oben  erwähnte  Bündniss  gegen  die  Ketzer  an, 
sie  baten  Franz  II.  von  Frankreich  dringend  um  Beistand 
bei  ihrem  Vorhaben  gegen  die  protestantischen  Kantone.1,) 
Freilich  ernteten  sie  damit  fast  allerorten  Abweisungen;  nur 
einen  Bundesgenossen  fanden  sie,  Emanuel  Philibert  von  Sa- 
voyen, dem  diese  Stimmung  der  V  Orte  begreiflicher  Weise 
äusserst  gelegen  kam.  Seine  Gesandten  erklärten  auf  den 
fünfö r tischen  Konferenzen,  dass  ihr  Herr  das  Bündniss  insbe- 
sondere mit  den  katholischen  Orten  aufzurichten  wünsche.2) 
Nur  ein  Umstand  liess  diese  einen  Moment  zaudern,  die  dar- 
gebotene Freundeshand  anzunehmen,  die  Rücksicht  auf  Frei- 
burg und  Wallis,  die  wie  Bern  gegen  eine  Verbindung  mit 
Savoyen  protestirten,  so  lange  dieses  sich  mit  ihnen  nicht 
verglichen  habe.3) 

Schliesslich  Hessen  sie  auch  diese  Rücksicht  fallen.  Trotz- 
dem Bern  Gesandtschaften  von  Ort  zu  Ort  schickte  mit  der 
Mahnung,  es  nicht  zu  «übergeben»,4)  schlössen  die  V  Orte 
nebst  Solothurn  am  11.  Mai  1560  mit  Savoyen  das  ge- 
wünschte ewige  Bündniss  ab.  Scheinbar  ein  unverfäng- 
licher Freundschaftsvertrag  ohne  Verpflichtung  zu  gegensei- 
tiger Bundeshülfe  war  es  in  Wirklichkeit  nichts  anderes,  als 
ein  gegen  Bern  gerichteter  konfessioneller  Sonderbund.  Dies 
Gepräge  erhielt  es  einmal  durch  den  Zeitpunkt,  in  dem  es 
geschlossen  wurde,  dann  dadurch,  dass  in  der  Einleitung  unter 


*)  «Et  ä  ce  propos  il  faut  que  je  vous  dye  que  ceulx  des  cinq 
quanthons  m'onl  fort  iüstamnieut  recherche  de  les  vouloir  secourir 
et  favoriser  l'cntreprise  qu'ilz  mostroient  avoir  voluntö  de  faire  contre 
les  quanthons  protestants.»    Francois  II  an  Coignet,  7.  August  1560. 

2)  Absch.  IVi  125,  127. 

»J  Absch.  IV*  119,  134. 

•*)  Zehender,  Tagebuch  27. 


Der  Lausanne?  Vertrag  von  1564.  195 

Verweisung  auf  das  angebliche  Bündniss  Jolanthes  die  «ganze 
Landschaft  Waadt»  als  rechtmässiges  Eigen thum  Savoyens 
hingestellt  wurde,  und  endlich  durch  die  geheimen  Verab- 
redungen, die  dem  offenen  Bunde  zur  Seite  gingen.  In  einem 
geheimen  Beibrief  vom  9.  Nov.  versprach  der  Herzog  den 
fünf  Orten,  seinen  «ewigen  puntsgenossen»,  so  oft  sie  mit 
Jemand,  «von  wegen  des  alten,  wahren,  unzweifelhaften  christ- 
lichen Glaubens»  zum  Krieg  kämen,  auf  ihre  erste  Mahnung 
500  erprobte  Büchsenschützen  auf  seine  Kosten  zuzusenden 
oder  nach  ihrer  Wahl  monatlich  2000  Kronen  Subsidien  zu 
bezahlen.1)    Ueber  die  Gegenleistung,  welche  die  V  Orte  da- 


ij  Abschiede  IV 2.  1461,  1466.  Segesser,  Ludwig 
PfvfTer  I,  86,  89,  359,  iässt  in  einem  für  einen  so  gewiegten 
Historiker  unbegreiflichen  lrrthum  auch  Zürich  an  dem  savoy- 
ischen  Bündniss  von  1560  theünehmen  und  stellt  dadurch  die 
Handlungsweise  des  Vorortes  gegen  Bern  in  ein  äusserst  schiefes 
Licht.  Allerdings  steht  der  Name  Zürichs  in  dem  Freundschafts- 
vertrag mit  fimanuel  Philibert  und  sein  Siegel  hängt  an  dem- 
selben; aber  schon  die  verschiedenen  Stellen  der  gedruckten  Ab- 
schiede, die  Segesser  citirt,  hätten  ihn  darüber  belehren  sollen, 
dass  der  Beitritt  Zürichs  in  viel  spätere  Zeit  fällt  Zürich  stellte 
sieh  vielmehr  mit  Basel,  Schaffhausen,  Glarus  und  Appenzell 
durchaus  auf  den  korrekten  Standpunkt,  dass  der  Herzog  sich 
zuerst  mit  Bern  und  Freiburg  über  die  Eroberungen  von  1536 
zu  vertragen  habe,  ehe  es  sich  mit  ihm  in  Unterhandlungen 
einlasse  (Abscb.  IV  2,  175  v.).  Erst  im  September  1570,  nach- 
dem durch  die  Ausführug  des  Lausanner  Ver- 
trages die  Anstände  mit  Bern  geregelt  waren 
und  dieses  selber  am  5.  Mai  1570  sein  altes  Bünd- 
niss mit  Savoyen  erneuert  hatte,,  zeigten  sich 
Zürich,  Glarus,  Basel,  Schaffhausen  und  Appenzell  bereit,  dem 
erneuerten  ansuchen  Savoyens,  sie  möchten  wie  die  anderu 
Orte  in  das  Bündniss  treten  und  dasselbe  mit  ihren  Siegeln 
bekräftigen,  da  nun  durch  die  Gnade  Gottes  alle  Anstände  mit 
Bern     glücklich    beigelegt    seien,    zu    entsprechen,     zumal    Bern 


196  Der  Lau  sann  er  Vertrag  von  1564. 

für  dem  Herzog  verhiessen,  fehlt  ans  ein  ähnliches  Dokument. 
Nach  der  ganzen  Lage  der  Dinge  kann  sie  nur  in  dem  Versprechen 
bestanden  haben,  seine  Ansprüche  auf  Genf  und  die  von  Bern 


selber  erklärte,   es   würde  besonderes   Wohlgefallen  darau   haben,, 
wenn   die   fünf  Orte  sammt  St.  Gallen   mit   dem    Herzog  in   dies 
Bündniss    träten   (Absch.  IV  2,  458  cc).    Jetzt  nahmen   aber   die 
evangelischen   Orte  neuen  Anstoss   an   gewissen  Bestimmungen  des 
Vertrages    betr.  Ehestreitigkeiten   und   geistliche   Händel,    so   wie 
am    Vorbehalt  des   Papstes   und   verlangten,   dass   ihren  Bedenken 
entweder  durch   eineu    «Beibrief»    oder    einen    neuen   Buudesbrief 
Rechnung  getragen   werde  (Abscb.  IV  2,  459  ff.).   In   Zürich  wurde 
am  14.  Oktober   1570  eine  Commission,   bestehend  aus  den  beiden 
Bürgermeistern,   den  Obristzunflmeistern,   den  beiden  Seckel meistern 
und    dem   Bannerberrn    Lochmann,     mit  der  Prüfung   der  Frage 
hetraut,  und  dem   Gutachten  derselben  entsprechend  beschloss  der 
Ralh,  den  Beitritt   zum  Bündniss  von  der  Hodificirung   jener   an- 
stössigen  Artikel  durch  einen  Beibrief  abhängig  zu  machen.    Auch 
Basel   erklärte  sich  durch   ein  Schreiben  an  Zürich   vom  12.  Feb- 
ruar 1571  damit  einverstanden,  und  am  31.  März  1571  vereinbarten 
die  Boten  von  Züri  ch  ,  G  lar  us,    Basel,   Seh  äff  ha  u  sen  t 
Appenzell  und  St.  Gallen  auf  der  Tagsatzung  zu  Baden  sich 
mit  dem  Herrn  von  Roll,  dem  Gesandten  des  Herzogs,   dahin,   dass 
sie  das  Bündniss,  das  dieser  mit  Luzern,  Uri,  Schwyz,  Unterwaiden, 
Zug  und  Solothurn  aufgerichtet   habe,  «besiglen  wellint»  und   dass 
der  Gesandte  dafür  den  verlangten  Beibrief,  in  welchem  der  Artikel 
betr.  Ehesachen  und  geistliche  Händel,  sowie  derVorbehalt  des  Papstes 
für  die  vier  evangelischen  Städte  als  unverbindlich  erklärt  wurde,  im 
Namen  des  Herzogs  genehmigte  (Savoyer  Akten,  Staatsarchiv  Zürich). 
Gemäss  dieser   Abmachung   verlangte   nun  der  Herr  von  Roll  am 
5.  Mai  1572  auf  einer  fünförtigen  Konferenz  zu  Luzern  die  Heraus- 
gabe des  Bundesbriefes,    damit  ihn   die   andern  Orte  ebenfalls  be- 
siegeln könnten,    stiess   aber   damit  auf  Schwierigkeiten,   da  die  V 
Orte  fanden,   diese  Verbindung  des  Herzogs  mit  den  Neugläubigen 
stehe  dem  1560  zwischen  ihm   uud  den  V  Orten   «heimlich»  abge- 
schlossenen Bündniss  entgegen  (Absch.  IV  2,  460,   498).    Im   Juni 
1572  bemerkte  Luzern,  es  könne  sich  nicht  dazu  verstehen,  diesen 
Brief  herauszugeben,  bevor  ihm  der  Graf  von  Gampofort  die  ihm 


Der  Lausanner  Vertrag  toq  1564.  197 

in  Besitz  genommenen  Lande  nach  Kräften  zu  unterstützen, 
ihm,  wie  ein  Nidwaldner  Beschluss  Ton  1563  sagt,  «zu  seinen 
Landen  beholfen  und  berathen»  zu  sein.1)  Was  das  Vater- 
land dabei  verlor,  das  gewann  ja  der  Glaube. 

V.  Die  Entstehung  des  Lausanner  Vertrages. 

Bern  befand  sich  gegenüber  dem  Herzog  von  Savoyen 
in  einer  peinlichen  Lage,  die  weder  Krieg  noch  Frieden  war. 
Zu  statten  kam  ihm,  dass  die  Bevölkerung  der  streitigen  Ge- 


geliehene Geldsumme  sammt  Zinsen  zurückerstattet  habe.  In 
welchem  Zusammenhang  dieser  sonst  nicht  genannte  Graf  von 
Campofort  mit  dem  Bundesbrief  steht,  ob  er  ein  Sekretär  der 
savoyiseben  Gesandtschaft  war  etc.,  gebt  aus  den  Abschieden  nicht 
hervor.  Cysat  bemerkt  dazu,  die  Heransgabe  des  Bundesbriefes 
sei  hernach  verwilligt  worden ;  aber  der  von  Roll  habe  zu  Luzern 
in  der  Herberge  beide  Originalia  «mit  flyss  vergessen  und  liegen 
lassen,  bis  uffs  1577.  Jahr,  da  sy  der  Herr  von  Jacob  —  der 
neue  savoyische  Botschafter  —  funden.  ussbracht  und  in  die  Ort 
geschickt  and  siglea  lassen»  (Absch.  IV  2,  496).  Also  wäre  das 
Siegel  Zürichs  erst  1577  an  die  Urkunde  gekommen,  d.  b.  in  dem 
Jahre,  da  die  V  katholischen  Orte  den  blossen  Frcundschaftsver- 
trag  mit  Savoyen  in  aller  Form  in  ein  «hülfliches»  ßündniss 
<8-  Hai  1577)  verwandelten  und  die  Urkunde  von  1560  für  sie 
wertlos  geworden  war,  so  dass  die  Vermuthung  nahe  liegt,  die 
Schuld  an  der  Verzögerung  sei  eher  bei  den  luzern ischon  Staats- 
männern, als  beim  savoyischen  Gesandten  zu  suchen.  Das  Be- 
kanntwerden des  neuen  Sonderbundes  der  katholischen  Orte  mit 
Savoyen  wird  die  übrigen  evangelischen  Orte  von  der  Bestellung 
des  Instrumentes  abgehalten  haben.  Damit  sollte  nun  doch  das 
Märchen  von  der  Thcilnabme  Zürichs  an  dem  katholischen  Son- 
derbund  mit  Savoyen,  das  ich  schon  in  meiner  Arbeit  Über  Orte 
and  Zugewandte,  S.  458  f.,  als  solches  erwiesen  habe,  das  aber 
noch  in  der  tüchtigen  Schrift  von  D  u  n  a  n  t ,  Les  relations  poli- 
fiqaes  de  Gen&ve  avec  Bern«  et  les  Suisses  S.  184,  spukt,  end- 
gültig beseitigt   sein. 

*)  Archiv  für  die  Schweiz.  Reformationsgeschichte  FFI,    370. 


198  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

biete  mit  wenigen  Ausnahmen  treu  zu  ihm  hielt.  Einzig 
einige  Edelleute  fielen  zum  Herzog  ab,  wie  der  Herr  von 
Lullin  im  Chablais,  den  Bern  dafür  mit  der  Einziehung  seiner 
Güter  züchtigte.  Im  Februar  1560  sandte  es  eine  Kommis- 
sion, an  deren  Spitze  der  Altschultheiss  Hans  Franz 
N  ä  g  e  1  i  stand,  in  die  von  ihm  vor  24  Jahren  eroberten 
Lande,  um  sie  gegen  die  savoyischen  «Praktiken»  zu  stählen, 
sie  zu  mahnen,  «by  iren  geschwornen  eyden  sich  nit  uffwiglen 
ze  lassen,  sonders  an  m.  Hrn.  stiff  ze  halten»,  mit  der  Ver- 
sicherung, man  werde  «sy  ouch  nitt  übergeben,  sonders  sy 
nach  bestem  vermögen  schützen  und  erhalten.»  Der  Mit- 
wirkung der  Bevölkerung  sicher,  traf  Bern  energische  Vor- 
kehrungen. Die  wichtigsten  Punkte,  wie  Cluse,  Morges, 
Yverdon,  wurden  in  Vertheidigungszustand  gesetzt  und  zn 
Hause  selbst  alles  «zur  reyss  gerüstet.»  Ein  Auszug  von 
10,000  Mann  war  bereit,  jeden  Augenblick  ins  Feld  zu 
ziehen.1) 

Auf  der  andern  Seite  musste  es  der  Stadt  doch  daran 
gelegen  sein,  mit  dem  wiederum  zum  Nachbar  gewordenen 
Savoyerherzog  auf  einen  erträglichen  Fuss  zu  kommen ,  mit 
ihm  wo  möglich  den  Friedenszustand  herzustellen.  Angesichts 
der  Haltung  Frankreichs  und  Spaniens,  die  ihn  um  die  Wette 
protegirten,  und  derjenigen  der  V  Orte,  die  auf  dem  Punkte 
standen,  mit  ihm  vereint  den  Kreuzzug  für  den  (Hauben  zu 
beginnen,  hielt  die  bernische  Regierung  eine  schroffe  Zurück- 
weisung der  savoyischen  Ansprüche  für  unthunlich;  daher  er- 
klärte sie  sich  bereit,  zu  4  freundlicher  Hinlegung  der  Späne» 
Konferenzen  zu  besuchen,  für  die  Neuenburg  als  «Mal- 
stätte» bestimmt  wurde.  Die  Verhandlungen  sollten  schon  5m 
Oktober  1559  beginnen,  aber,  Herzog  Emanuel  Philibert  zog 


*)  Zehender,   Tagebuch   25  ff.,  44. 


Der  Lau sanner  Vertrag  von  1564.  199 

es  vor,  dieselben  um  ein  ganzes  Jahr  zu  verschieben,  angeb- 
lich wegen  Erkrankung  seiner  Gemahlin  und  anderer  Ge- 
schäfte. Vermutlich  waren  seine  Genfer  Plane  die  Haupt- 
ursache dieser  Verzögerung. 

Als  die  Delegirten  der  Parteien  am  18.  November  1560 
endlich  in  Neuenbürg  zusammen  kamen,  führten  die  vornehmen 
Herren,  die  der  Herzog  als  seine  Vertreter  geschickt  hatte, 
Dnbochct,  Gouverneur  zu  Chambe>y,  von  Montfort,  Vice- 
präsident  des  savoyischen  Staatsrates,  und  der  Freiherr  von 
Chevron,  eine  sehr  selbstbewusste  Sprache,  konnten  sie  sich 
doch  auf  das  inzwischen  perfekt  gewordene  Sonderbundniss 
mit  den  katholischen  Orten,  sowie  auf  das  Versprechen  des 
französischen  und  spanischen  Botschafters  stützen,  die  Sache 
des  Herzogs  zu  fördern,  wie  diejenige  ihrer  eigenen  Herren. 
Sie  forderten  alles  zurück,  was  Bern  eingenommen :  Waadt, 
Gex,  Genevois  und  Chablais,  sammt  allen  Nutzungen  und  Ab- 
gaben, die  es  vom  Tag  der  Besitzergreifung  an  daraus  be- 
zogen habe,  ferner  alle  Kirchenzierden  und  Kirchengiiter 
nebst  den  daraus  bezogenen  Einkünften,  und  behielten  sich 
noch  vor,  diese  Forderung  «zu  stärken.»  Die  Berner  blieben 
ihnen  indess  die  Antwort  nicht  schuldig;  sie  hielten  den 
Savoyarden  ihr  ganzes  Sündenregister  gegen  Genf  vor  und 
führten  den  Frieden  von  St.  Julien,  den  Spruch  von  Peter- 
lingen  ins  Feld.  Die  Waadt  besitze  Bern  kraft  der  Ver- 
pfändung von  St.  Julien,  das  übrige  nach  Kriegsrecht,  und 
es  erwarte  daher,  dass  der  Herzog  von  seinen  Forderungen 
abstehe,  dann  könne  ein  für  beide  Theile  erspriessliches  nach- 
barliches Verhältniss  begründet  werden.  In  ihrer  Replik 
kamen  die  Herzoglichen  auf  ihre  alte  These  von  der  Ungül- 
tigkeit des  Genfer  Burgrechts  zurück,  denn  «wenn  die  von 
Genf  nicht  des  Hauses  Savoyen  Unterthanen  gewesen,  seien 
sie  wenigstens   von   savoyischem  Gebiet  gänzlich  umgeben»; 


200  Der  Lausanner  Vertrag  tob  1564. 

Bern  habe  daher  keinen  genügenden  Grund  gehabt,  um  der 
Genfer  willen  ältere  Bünde  zu  brechen.  Schliesslich  rückten 
sie  doch  mit  ihrem  wirklichen  Auftrag  heraus,  Bern  für  die 
Wiederabtretung  der  Lande  eine  Geldentschädigung 
anzubieten,  theils  als  Bezahlung  für  alte  Kapitalschulden 
Savoyens,  die  auf  das  streitige  Gebiet  versichert  waren, 
theils  als  Vergütung  für  die  Kosten,  die  es  durch  die  «ver- 
meinte Uebertretung»  des  Herzogs  erlitten  habe.  Die  Berner 
verlangten  für  ihre  Antwort  einen  Aufschub  bis  zum  10.  Fe- 
bruar 1561,  um  sich  inzwischen  mit  den  andern  Theilhabern 
an  den  eroberten  Landen,  mit  Freiburg  und  Wallis  zu 
besprechen.1) 

Wirklich  fand  im  Januar  1561  eine  Konferenz  der  drei 
Stände  in  Freiburg  statt,  in  welcher  Bern  den  Versuch 
machte,  sich  mit  Freiburg  und  Wallis  zu  gemeinsamer  Ab- 
wehr der  savoyischen  Ansprüche  zu  verständigen.  Es  war 
jedoch  ein  vergebliches  Bemühen;  die  beiden  katholischen 
Stände  wollten  zwar  ihre  Eroberungen  so  wenig  herausgeben 
als  Bern,  aber  sie  hielten  es  für  klüger,  ihre  Sache  nicht  mit 
der  seinigen  zu  vermengen,  weil  ihnen  die  V  Orte  Hoffnungen 
gemacht  hatten,  ihnen  zu  einem  günstigen  Austrag  mit  dem 
Herzog  zu  verhelfen,  wenn  sie  sich  von  Bern  abseits  hielten. 
So  inusste  dieses  den  Strauss  allein  ausfechten.*) 

Auf  der  zweiten  Konferenz  zu  Neuchätel  (10.  Februar 
1561)  lehnten  die  Berner  jedes  Eintreten  auf  das  herzogliche 
Anerbieten   ab;   dasselbe  sei   so  beschaffen,    dass  sie   darauf 


*)  Abschiede  IV  2  152—157,  Instruktionenbuch  der  Stadt 
Bern  1561—77  S.  188  ff.  (Staatsarch.  Bern.) 

*)  Zehender  30.  Absch.  IV  2.  119  h,  134  b,  176  hh.  Vgl.  die 
Instruktionen  der  bernischen  Gesandten  nach  Freiburg  6./8.  Mai 
1560  und  5.  Januar  1561.  (St.  Bern,  Instruktionen  buch  1561—67 
föl.  179  ff.,  217  ff.) 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  201 

* 

«weder  viel  noch  wenig  antworten  könnten.»  Dagegen  einigte 
man  sich  darauf,  unparteiischeDrittpersonen  darin 
handeln  zu  lassen,  immerhin  in  der  Meinung,  dass  es  den 
Parteien  freistehe,  ihre  Vorschläge  ganz  oder  theilweise  an- 
zunehmen oder  abzulehnen.  Es  handelte  sich  also  nicht  so- 
wohl um  ein  Schiedsgericht,  dessen  Spruch  verbindlich  ge- 
wesen wäre,  als  um  Vermittler,  die  sich  bemühen  sollten,  den 
Parteien  mundgerechte  Vorschläge  zu  einem  gütlichen  Ver- 
gleich zu  machen.  Als  solche  Vermittler  schlugen  die  Sa- 
voyarden  den  spanischen  und  den  französischen 
Botschafter  vor,  ferner  die  VI  katholischen  Orte.  Die  Berner 
lehnten  jedoch  die  fremden  Gesandten  wegen  der  Blutsver- 
wandtschaft ihrer  Könige  mit  dem  Herzog  ab;. statt  der  VI 
katholischen  Orte  schlugen  sie  alle  elf  unbetheiligten 
Orte  vor,  und  zwar  nannten  sie  gleich  bestimmte  Persönlich- 
keiten, fast  lauter  Schultheissen,  Bürgermeister  und  Land- 
ammänner  der  betr.  Orte,  so  dass  die  Savoyarden,  ohne  gegen 
die  Eidgenossen  unhöflich  zu  sein,  nicht  umhin  konnten,  sie 
anzunehmen ;  nur  wiederholten  sie  ihre  Forderung,  dass  auch 
die  beiden  Botschafter  zugezogen  werden  müssten.  Allein 
die  Berner  blieben  fest  und  schliesslich  verstanden  sich  die 
Herzoglichen  zu  der  Vermittlung  durch  die  elf  Orte  allein, 
immerhin  mit  dem  Vorbehalt,  dass  die  beiden  Gesandten  in 
den  Sessionen  den  Vorträgen  beiwohnen  dürften.  Als  Mal- 
statt wurde  nach  dem  Vorschlag  der  Berner  Basel  be- 
zeichnet, da  Neuenburg  für  eine  so  grosse  Versammlung 
< nicht  wohl  beherberget»  sei.1) 

So  hatten  die  Berner  Gesandten,  Nikiaus  von  Diesbach, 
Anton  Tillier,  Wolfgang  von  Weingarten,  Hans  Steiger,  Am- 
brosius  Imhof,  alle  Mitglieder  des  kleinen  Ratbes,  und  Nikiaus 

i)  Abschiede  IV  2.  165  ff.  Inslruktiouenbuch  223  ff.  Ze- 
igender 33. 


202  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564« 

Zurkinden,  der  Stadtschreiber,  durch  ihre  Festigkeit  die  of- 
fizielle Vermittlung  der  fremden  Mächte  glücklich  vermieden. 
Die  gewählten  eidgenössischen  Schiedsrichter  oder  besser  Ver- 
mittler nahmen  ihren  Auftrag  mit  Genehmigung  ihrer  Orte 
sämtlich  an1)  und  traten  am  18.  Mai  1561  zu  Basel  in  Funktion. 
Es  waren  von  Zürich  Bathsherr  Itelhans  Thumysen, 
regelmässiger  Vertreter  seines  Standes  auf  der  Tagsatzung, 
eine  beredte  und  federgewandte  Persönlichkeit,  von  Luzern 
Schultheiss  Jost  Pfyffer,  der  «Begründer  der  Stellung 
der  Pfyflfer  in  Luzern»,  von  Uri  Jakob  Arnold,  von 
Schwyz  Georg  Reding,  von  Unterwaiden  Nikiaus  von 
Fltie,  von  Zug  Hans  Letter,  von  Glarus  Paul  Schu- 
ler, die  alle  in  ihren  Ländern  schon  das  höchste  Amt  be- 
kleidet hatten,  von  Basel  Bürgermeister  Kaspar  Krug, 
von  Solothurn  der  bekannte  Söldnerhauptmann  Bitter  Wil- 
helm Fröhlich,  von  Schaff  hausen  Bürgermeister  Ale- 
xander Peyer  und  von  Appenzell  Landammann  Joachim 
M  egg eli.  Neben  ihnen  und  den  Vertretern  der  Parteien 
fanden  sich  der  spanische  Gesandte  Marc  Anton  Bosso 
nebst  einem  spanischen  Hofrath,  sowie  der  französische  Bot- 
schafter Mathieii  Coignet  ein,  aber  nicht  als  offizielle  Ver- 
mittler, sondern  nur  als  Zuhörer  oder  Fürsprecher  Savoyens 
bei  den  Eidgenossen.  Coignet  war  von  Karl  IX.  und  Ka- 
tharina von  Medici  wiederholt  eingeschärft  worden,  den  Tag 
von  Basel  ja  nicht  zu  versäumen  und  dort  den  Deputirten 
ihres  «Oheims»  und  «Bruders»  allen  möglichen  Beistand  zu 
leisten2),  und  auch  die  beiden  Spaniolen  ersuchten  die  Eidge- 

')  Vgl.  die  Schreiben  der  Orte  und  Schiedsrichter  März  und 
April  1561  (St.  Bern,  Savoybuch  B  445—497). 

s)  Karl  IX  an  Coignet,  10.  April  1561.  Gatharina  an  Coignet, 
14.  Mai  1561  (Gopien  im  Bundesarchiv).  Das  hinderte  Coignet  nicht, 
im  August  den  Bernern  im  Geheimen  mitzutheilen,  es  sei  nicht  des 
Königs  Absicht,  den  Herzog  auf  ihre  Kosten  grösser  zu  machen 
(Savoybuch  B  653). 


Der  Lau  sann  er  Vertrag  von  1564.  20$ 

nossen  im  Namen  ihres  Königs,  Fürstl.  Durchlaucht,  zu  Sa- 
voyen  «befuegt,  gut  recht  und  vorderung»  nach  Gebär  za 
bedenken. 

Nach  Anhörung  der  schriftlichen  und  mündlichen  Vorträge 
beider  Parteien  legten  die  Vermittler  den  Savoyern  successive 
drei  verschiedene  Vergleichs  vorschlage  vor :  1.  dass  der  Her- 
zog sich  von  Bern  durch  eine  angemessene  Geldentschädi- 
gung abfinden  lasse,  2.  dass  ihm  alles,  was  Bern  in  den  Land- 
schaften Chablais  und  Genevois  «enent  Sews»  ein- 
genommen, schuldenfrei  zugestellt  werden  und  das  übrige 
«mit  aller  Beladnis»  Bern  bleiben  solle,  3.  dass  Bern  dem 
Herzog  alles,  was  es  in  Genevois  und  Chablais  ein- 
genommen (also  mit  Einschluss  von  Vevey,  Chillon  etc.),  zu- 
stelle und  ihm  ausserdem  für  die  Herrschaft  Gex  eine 
Geldentschädigung  bezahle.  Die  Herzoglichen  lehnten 
indess  einen  dieser  Vorschläge  nach  dem  andern  ab,  da  «Irem 
gnädigen  Fürsten  und  Herrn  nützit  veyl  und  sin  Fürstliche 
Durchläuchtigkeit  mer  und  lieber  ze  kauffen  denn  zc  ver- 
kauften gesinnet»;  sie  erklärten  überhaupt  keine  Vollmacht 
zu  haben,  irgend  eines  der  geforderten  Lande  fallen  zu  lassen ; 
nur  auf  eine  Geldentschädigung  an  Bern  könnten  sie  ein- 
treten.1) Als  die  Eidgenossen  den  Abschlag  der  Savoyer  den 
Berner  Deputirten  mittheilten,  erklärten  diese  aber  ebenso 
bestimmt,  dass  das,  was  die  Savoyer  wollten,  bei  ihren  Herrn 
und  Obern  gänzlich  unerhältlich  sein  werde.  Darauf  hin 
machten  die  Vermittler  von  sich  aus  einen  endgültigen  Vor- 
schlag: Bern  solle  dem  Herzog  ausser  dem  ganzen  Chablais 
(mit  Vevey,  Chillon  etc.)  und  Genevois,  soweit  sie  es  ein- 
genommen, auch  die  Herrschaft  Gex  schuldenfrei  zurück- 
stellen, unter  der  Bedingung,  dass  es  allezeit   durch    dieselbe 

1  j  Auch  der  französische  Hof  war  der  Ansicht,  Bern  werde  sich 
mit  Geld  abfinden  lassen.    Karl  IX.  an  Coignet,  10.  April  1561. 


204  Der  Lau  sann  er  Vertrag  von  1564. 

freien  Durchpass  habe;  dagegen  solle  ihm  die  Waadt  als 
Eigen thum  verbleiben,  so  dass  es  damit  schalten  und  walten 
könne,  wie  mit  andern  seinen  eigenen  Landen  und  Herr- 
schaften. *) 

Da  die  VI  katholischen  Orte  in  ihrem  Sonderbnnd  mit 
Savoyen  die  Waadt  bereits  als  dessen  rechtmässiges  Eigen- 
thum  anerkannt  hatten,  wird  man  den  Basler  Spruch,  der 
Bern  wenigstens  diese  vorbehielt,  als  eine  Art  Konipromiss 
zwischen  den  Savoyens  Ansprüche  begünstigenden  Katholiken 
und  den  für  Bern  geneigten  Beformirten  aufzufassen  haben. 
Leider  sahen  sich  Zürich  und  die  übrigen  evangelischen  Orte 
nicht  veranlasst,  sich  unbedingt  auf  Berns  Seite  zu  stellen 
und  es  in  der  Behauptung  des  alteidgenössischen  Grundsatzes, 
einmal  Gewonnenes  nicht  mehr  herauszugeben,  ohne  weiteres 
zu  unterstützen,  wie  es  im  Interesse  der  Eidgenossenschaft 
zu  wünschen  gewesen  wäre.  Der  Besitz  der  entfernten 
welschen  Lande  um  den  Genfersee  herum  war  in  ihren  Augen 
nicht  werthvoll  genug,  um  die  Gefahren  beständiger  Ver- 
wicklungen mit  Savoyen  und  seinen  Beschützern  aufzuwiegen. 
&ie  waren  der  Ansicht,  dass  Bern  vor  einem  Opfer  nicht 
zurückscheiien  dürfe,  um  der  Eidgenossenschaft  nach  dieser 
Seite  hin  zu  Ruhe  und  dauerndem  Frieden  zu  verhelfen,  and 
näherten  sich  dadurch  den  katholischen  Orten.8) 


x)  Berichte  der  Berner  Gesandten  vom  24.  u.  27.  Mai  1561 
(Savoybuch  B  603,  621).  Abschied  der  elf  Orte,  Basel  18.  Hai  1561, 
im  Staatsarchiv  Zürich  (Savoyen).  Dem  in  den  gedruckten  Ab« 
•schieden  (IV*  177)  benutzten  Schwyzcr  Exemplar  scheinen  die  drei 
ersten,  Bern  günstigeren  Vorschlage  der  Vermittler  zu  fehlen.  Sollten 
diese  etwa  nur  von  den  evangelischen  Vermittlern  gestellt  worden 
sein  ? 

2)  Zürich  machte  Bern  schon  auf  der  Tagsatzung  zu  Baden 
Ende  Oktober  1560  das  Anerbieten,  mit  Basel  und  Schaffhausen  bei 
den  Konferenzen  in  Neuchätel  eine  Vermittlung  zu  versuchen.    Am 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564  205 

Um  einen  festen  Punkt  zu  finden,  auf  dem  eine  Einigung 
der  Parteien  möglich  sei,  griffen  die  Vermittler  nach  dem 
urkundlich  zu  erweisenden  Rechte.  Auch  die  Katholiken 
konnten  nicht  umhin,  anzuerkennen,  dass  Bern  im  Vertrag 
von  St.  Julien  einen  wirklichen  Rechtstitel  auf  die  Waadt 
besage '),  wie  umgekehrt  die  Evangelischen  zugeben  mussten, 
dass  ihm,  wenn  man  das  Recht  der  Eroberung,  das  Gewicht 
politisch-militÄrischer  Erwägungen  nicht  gelten  liess  und  sich 
einzig  auf  den  Standpunkt  des  formellen  Rechtes  stellte,  ein 
aber  die  Waadt  hinaus  gehendes  Anrecht  auf  seine  Erober- 
ungen fehlte.  So  erklärt  es  sich,  dass  die  elf  Vermittler  nach 
einem  kaum  ernstlich  gemeinten  Versuche,  für  Bern  das  Ganze 
zu  retten,  vor  den  savoyischen  Ansprächen  Schritt  für  Schritt 
zurückwichen,  bis  sie  endlich  auf  der  Waadt  stehen  blieben, 
dass  sie  einen  Theilungsvorschlag  machten,  der  für  Bern  so 
nngunstig  wie  möglich  war,  indem  er  nicht  bloss  mit  der 
Rückerstattung  von  Gex  einen  Keil  zwischen  Genf  und  Waadt, 
sondern  mit  derjenigen  von  Vevey,  Chillon,  Villeneuve  etc. 
als  Theilen  des  Chablais  auch  einen  solchen  zwischen  die 
Waadt  und  Aelen  hineingetrieben  hätte. 

Nach  der  Fällung  ihres  Spruchs  vertagte  sich  die  Kon- 
ferenz bis  zum  24.  August,  um  den  Parteien  Zeit  zu  geben, 
üch  aber  Annahme  oder  Verwerfung  desselben  schlüssig  zu 
machen.  An  Bern  trat  jetzt  die  Frage  heran,  ob  es  über- 
haupt auf  einen  Theil  seiner  vor  25  Jahren  geraachten  Erobe- 
rungen verzichten  wolle.  Im  Volke  zu  Stadt  und  Land 
herrschte   durchaus  die  Meinung  vor,   dem  Herzog    von  Sa- 


1*.  November  1560  dankte  Bern  dafür,  lehnte  aber  einstweilen  ab, 
fbeoso  am  6.  Dezember.  Am  21.  Dezember  forderte  Basel  Zürich 
tat,  die  Vermittlung  an  die  Hand  zu  nehmen.    St.  Zürich,  Savoyen. 

M  Freilich  wollten  sie  denselben   als  blosse  Pfandschaft  aufge- 
fisst  wissen,  die  mit  Geld  gelöst  werden  könne.  Zehender,  Tageb.  55. 


1206  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 


voyen  nichts  herauszugeben  und  es  lieber  auf  einen  Krieg 
•ankommen  zu  lassen.  Es  widerstrebte  dem  mannhaften 
Berner  Geiste,  ein  Gebiet,  das  seit  einem  Menschenalter  zum 
Staate  gehörte,  ohne  Kampf  fahren  zu  lassen  und  mit  dem- 
selben zahlreiche  Glaubensgenossen  einer  katholischen  Regie- 
rung preiszugeben.  Noch  traute  sich  das  Berner  Volk  die 
Kraft  zu,  das,  was  es  mit  dem  Schwerte  gewonnen,  auch 
mit  dem  Schwerte  zu  behaupten.  Diese  Stimmung  kam  in 
<lor  höchsten  Landesbehörde,  im  Grossen  Rath  der 
Zweihundert  aufs  Kräftigste  zur  Geltung.  Wenn  die  gleiche 
Entschiedenheit  die  eigentlichen  Staatslenker  Berns,  die 
Schultheissen  und  Mitglieder  des  Kleinen  Rath  es,  be- 
seelt hätte,  so  würden  Gex  und  Chablais  ein  Bestandteil  der 
Schweiz  geblieben  sein,  wie  Genf  und  Waadt,  und  zwar  ver- 
muthlich  ohne  jede  Anwendung  von  Waffengewalt.  Wir 
kennen  die  Gründe,  die  Philipp  II.  abhielten,  sich  in  einen 
Krieg  mit  Bern  einzulassen ;  noch  viel  weniger  war  die  vor- 
sichtige Katharina  von  Medici  gesonnen,  sich  um  Savoyens 
willen  mit  dem  mächtigsten  Kanton  der  Eidgenossenschaft 
zu  überwerfen,  und  ohne  fremde  Unterstützung  konnte  Emanuel 
Philibert  nicht  daran  denken,  ein  Gemeinwesen  von  der  Wehr- 
kraft Berns  anzugreifen. 

Leider  trat  in  der  bernischen  Regierung  im  Gegensatz  zum 
Volke  das  thatkräftige  Wagen  allzusehr  vor  dem  ängstlichen 
Abwägen  der  Umstände  zurück ;  man  spürte,  dass  Hans  Franz 
Nägeli,  der  jetzt  als  Schultheiss  an  ihrer  Spitze  stand,  ein 
Greis  geworden  war.  Sie  hatte  kein  Vertrauen  auf  einen 
guten  Ausgang,  wenn  sie  es  zum  Aeussersten  kommen  Hess; 
sie  sah  nur,  wie  sich  die  Umstände  zu  Ungunsten  Berns  ver- 
ändert hatten,  wie  an  die  Stelle  des  schwachen  Karl  m.  ein 
berühmter  Kriegsfürst  als  Gegner  getreten  war,  und  wie  die 
beiden  Grossmächte,    auf  deren  Antagonismus  man  1536  ge-* 


Der  Lausunner  Vertrag  von  1564.  207 

baut  hatte,  nun  in  warmer  Unterstützung  Savoyens  wett- 
eiferten. Auf  welche  Bundesgenossen  aber  konnte  Bern 
gegenüber  dem  durch  Spanien  und  Frankreich  gedeckten 
Gegner  zählen  ?  Es  musste  froh  sein,  wenn  die  katholischen 
Orte  der  Eidgenossenschaft  mit  Savoyen  nicht  geradezu  ge- 
meine Sache  machten,  und  auch  von  den  evangelischen  er- 
hielt es  statt  bestimmter  Hilfszusagen  nur  Vermittlungsaner- 
bieten und  Mahnungen  zur  Nachgiebigkeit.  Selbst  von  den 
beiden  direkt  interessirten  Ständen,  Freiburg  und  Wallis, 
war  keine  Zusicherung  zu  erlangen,  dass  sie  die  Wechsel- 
fälle eines  Krieges  mit  Bern  zu  theilen  gesonnen  seien.  So 
ist  es  begreiflich,  dass  die  Regierung  die  Verantwortlichkeit 
für  einen  Krieg,  dessen  Last  Bern  voraussichtlich  ganz  allein 
zu  tragen  gehabt  hätte,  nicht  übernehmen  und  lieber  von 
den  Eroberungen  etwas  preisgeben  wollte,  als  das  Ganze  aufs 
Spiel  zu  setzen.  Aus  dieser  Verschiedenheit  der  Ansichten 
entspann  sich  zwischen  Kleinem  und  Grossem  Rath  ein  merk- 
würdiger Konflikt,  den  der  erstere  nur  durch  einen  für  unser 
parlamentarisches  Gefühl  ganz  ungehörigen  Druck  auf  den 
letzteren,  sogar  durch  Vorladung  und  Einschüchterung  ein- 
zelner Mitglieder  schliesslich  zu  seinen  Gunsten  lenkte1). 

Als  man  am  22.  August  1561  über  die  in  Basel  abzu- 
gebende Antwort  berieth,  beschloss  der  Grosse  Rath  anfäng- 
lich mit  allen  gegen  vier  Stimmen,  dass  «man  mit  gutein 
gwüsseu  und  one  nachtheil  des  heiligen  Wort  Gottes  vom 
gemeldten  land  dem  Hertzogen  nützid  wyder  geben  khönne», 
und  es  bedurfte  aller  erdenklichen  Missfallensbezeugungen,  Dro- 
hungen und  Vorstellungen  von  Seiten  des  Kleinen  Rathes, 
um  schliesslich   seinem  Antrag   die  Mehrheit   zu  verschaffen. 

l)  Studer,  Auszuge  aus  der  handschriftlichen  Chronik  Sa- 
muel Zeh  ende rs,  Archiv  des  bist.  Vereins  Bern,  V  20  ff.,  39  f., 
i2  ff.,  56  ff.,  61,  66  f. 


208  Der  Lausanner  Vertrag:  von  1564. 

dass  man  dem  Herzog,  der  den  Spruch,  soviel  man  höre, 
nicht  annehmen  werde,  das  Odium  der  Verwerfung  lassen 
wolle;  würde  er  wider  Erwarten  annehmen,  wolle  man  sich 
zum  Verzicht  auf  Chablais,  Ternier  und  Gaillard 
bereit  erklären,  doch  ohne  Vevey,  Chillon  und  Villeneuve 
«von  wegen  der  Strass  zu  ir  alten  landschafft  Aclen»;  eben- 
sowenig könne  man  Gex  als  den  Pass  nach  Genf  und  Frank- 
reich fahren  lassen;  auch  müsste  es  dem  ganzen  Lande  nur 
zu  grösserer  Unruhe  gereichen,  wenn  Genf  von  seinen 
Freunden  völlig  abgeschnitten  und  mit  «unversöhnter  Nach- 
barschaft» umgeben  wurde.  Ferner  sollte  für  die  zurück- 
zuerstattenden Lande  Religionsfreiheit,  freier  Zug  und  Aner- 
kennung der  unter  bernischer  Herrschaft  vorgenommenen 
Rechtsakte  ausbedungen  werden  ;  dafür  sei  Bern  bereit,  sämmt- 
liehe  auf  den  eroberten  Landen  haftenden  Schulden  zu  über- 
nehmen und  dem  Herzog  im  Nothfall  noch  eine  durch  die  Ver- 
mittler festzusetzende  Geldentschädigung  zu  gewähren.  So  war 
doch  auch  in  Bern  dank  der  Haltung  der  Regierung  die  Idee 
einer  Gebietsabtretung  zum  Durchbruch  gekommen;  man  war 
bereit,  den  Frieden  durch  den  Verzicht  auf  das  Südufer  des 
Genfersees  zu  erkaufen.1) 

Aber  noch  war  der  Sieger  von  St.  Quentin  weit  davon 
entfernt,  sich  mit  einem  solchen  Zugeständniss  zufrieden  zu 
geben ;  nicht  einmal  auf  die  Waadt  glaubte  er  verzichten  zu 
müssen,  wenigstens  nicht  auf  die  ganze.  Am  24.  August  er- 
klärten seine  Vertreter  in  Basel  die  Nichtannahme  des 
Spruches,  worauf  die  Berner  sofort  ihrerseits  die  Erklärung 
abgaben,  dass  sie  damit  die  Verhandlungen  als  abgebrochen 
betrachteten  und  die  Sache  dem  lieben  Gott  empfehlen  müssten. 
Trotz  dieses  wenig  tröstlichen  Verhaltens  der  Parteien  glaubten 

*)Zehender,38f.  Instruktion  für  die  Boten  nach  Basel 
22.  Aug.  1561  (St.  Bern,  Instruktionenbuch  246). 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  209 

die  Vermittler  ihre  Bemühungen  fortsetzen  zu  sollen,  zumal 
auch  der  spanische  Botschafter  nebst  einer  Gesandtschaft 
Kaiser  Ferdinands  sich  bei  ihnen  in  diesem  Sinne  verwendeten. 
Anf  einen  Vorschlag  der  Savoyer,  den  Bernern  Payerne,  Cudrefin 
nnd  Avenches  mit  einer  Entschädigung  von  50.000  Kronen 
für  das  übrige  zu  lassen,  gingen  sie  nicht  ein;  doch  suchten 
sie  ihren  Spruch  dem  Herzog  annehmbarer  zu  machen,  indem 
sie  zu  Chablais,  Genevois  und  Gex,  die  ihm  derselbe  zuerkannt 
hatte,  noch  ein  Stück  der  Waadt,  die  Vogtei  Nyon,  hinzu 
fügten,  unter  der  Bedingung,  dass  die  Grenzgebiete  mit  Ein- 
schluss  Ton  Vevey,  Chillon  etc.  neutralisirt,  keine  Festungen 
darauf  errichtet  würden  und  beide  Theile  zu  allen  Zeiten  freien 
Durchpass  durch  dieselben  haben  sollten.  Aber  während  der 
spanische  Botschafter  unter  Bezeugung  des  «sonder  grossen 
Wohlgefallens»  seines  Herrn  über  das  von  den  Vermittlern 
acceptirte  Theilungsprinzip  glaubte,  die  Annahme  des  so  modi- 
fizirten  Spruchs  durch  den  Herzog  in  Aussicht  stellen  zu 
können,  erklärten  ihn  die  bernischen  Vertreter  für  gänzlich 
unannehmbar  und  gestatteten  nicht  einmal,  dass  derselbe  ihrem 
Abschied  einverleibt  werde.1) 

Wirklich  war  man  in  Bern  sehr  erbittert,  dass  die  Ver- 
mittler sogar  die  Waadt  anzutasten  wagten,  und  entschlossen, 
auf  dieser  Grundlage  nicht  weiter  zu  verhandeln.  Als  die 
savoyischen  Deputirten  auf  ihrer  Bückreise  von  Basel  am 
2.  September  zu  Bern  im  Falken  übernachteten,  sandte  man 
ihnen  12  Kannen  Wein,  leistete  ihnen  aber  keine  Gesellschaft, 
und  am  andern  Tag  beschloss  der  Grosse  Hath,  den  Handel 
ruhen  zu  lassen;  «d'wyl  man  gspüre,   das  der  Hertzog  gern 

l)  Abscbeidt  der  Einliff  Orten  ,  Basel  Barthol ome  1561 ;  Vor- 
trag des  spanischen  Gesandten  (Staatsarch.  Zflricb,  Savoyen).  Vergl. 
Sammlung  eidgen,  Absch.  IV.  2,  187.  Bericht  des  heroischen  Ge- 
sandten, Dienstag  nach  Bartholome  (Savoybuch  B  669). 

14 


210  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

vil  haben,  wir  aber  ihm  ntith  geben  wellind,  möge  wol  jeder 
syn  hämisch  und  gweer  zum  krieg  rüsten.»  Ein  Schreiben 
der  Vermittler,  worin  sie  der  Stadt  ihren  neuen  Vorschlag 
empfahlen,  wurde  nicht  einmal  einer  Antwort  gewürdigt. 
Wohl  aber  mahnte  Bern  die  Zürcher  und  vermuthlich  aucli 
die  übrigen  Eidgenossen  zu  getreuem  Aufsehen.1) 

Für  einmal  stockte  das  Vermittlungswerk  vollständig,  und 
der  Konflikt  drohte  einer  gewaltsamen  Lösung  entgegen  zu 
treiben,  indem  dem  Herzog  aus  dem  Schoss  der  Eidgenossen- 
schaft selber  Helfer  gegen  Bern  zu  erwachsen  schienen.  Der 
Ausbruch  des  Religionskrieges  in  Frankreich  steigerte  die 
Leidenschaften  der  Glaubensparteien  in  der  Schweiz  zur 
Siedehitze.  Die  katholischen  Orte,  die  dem  von  den  Guisen 
ins  Schlepptau  genommenen  Könige  mit  Freuden  ein  Regi- 
ment zum  Vernichtnng8kampf  gegen  die  Ketzer  bewilligten, 
machten  den  Bernern  ein  Verbrechen  daraus,  dass  sie  die  An- 
werbung eines  Regiments  zum  Schutz  der  Lyoner  Hugenotten 
auf  ihrem  Boden  duldeten.  Am  meisten  aber  erbitterte  es 
sie,  dass  aus  dem  Wallis  ein  Fähnlein  zu  dem  protestantischen 
Regimente  stiess ;  sie  trugen  sich  alles  Ernstes  mit  dem  Ge- 
danken, gegen  die  im  Glauben  infizirten  Walliser  Obern  einen 
Aufstand  anzustiften  und,  wenn  Bern  denselben  beistehen 
würde,  ihrerseits  zu  den  Waffen  zu  greifen,  um  den  Glaubens- 
streit einmal  gründlich  auszutragen.  Am  24.  August  1562 
beschlo8s  eine  Geheimkonferenz  der  V  Orte  zu  Brunnen,  dem 
Papst  zu  schreiben,  in  welch  grosser  Gefahr  die  altgläu- 
bigen Orte  und  der  Herzog  von  Savoyen  sich  be- 
fänden, und  ihn  um  Geld  und  Büchsenschützen  anzugehen; 

')  Zehender,  40  f.  Die  elf  Orte  an  Bern,  29. August  1561 
(St.  Bern,  Savoybuch  B.  676).  Bern  an  Zürich  3.  Sept.  1561  (SL 
Zur,  Savoyen). 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  211 

wenn  es  ihnen  inisslänge,  könne  er  leicht  ermessen,  wie  es 
ihm  nnd  den  andern  altgläubigen  Potentaten  gehen  würde.1) 
Mit  dem  Herzog  von  Savoyen  fühlten  sich  die  V  Orte  als 
ein  Herz  und  eine  Seele.  Schon  im  April  hatte  der  savoyische 
Botschafter  Lambert  auf  einer  Bundreise  durch  die  Inner- 
schweiz Zusicherungen  erhalten,  «wie  man  sie  nur  wünschen 
konnte» •  In  Unterwaiden  zeigte  sich  das  ganze  Volk  für  das 
gute  Recht  Savoyens  begeistert,  und  die  ersten  Staatsmänner 
der  katholischen  Orte,  Schultheiss  Jost  Pfyffer  von  Luzern 
und  Landammann  Dietrich  in  der  Halden  von  Schwyz,  wett- 
eiferten in  Ergebenheitsbezeugungen  für  den  Herzog.  *)  Briefe 
and  Boten  gingen  im  Sommer  1562  zwischen  den  V  Orten 
und  Emanuel  Philibert  hin  und  her,  geheime  Verabredungen 
wurden  getroffen,  die  sogar  den  französischen  Hof  beun- 
ruhigten. Welches  Inhaltes  sie  ungefähr  waren,  zeigt  ein 
Schreiben,  das  die  V  Orte  am  18.  September  an  den  Herzog 
richteten,  er  solle  sein  Kriegsvolk  sammt  Hilfe  des  Königs 
von  Spanien  bereit  halten,  damit  er  beim  Ausbruch  des 
Krieges  *sin  volek  uff  die  Jenffer  und  Berner  schicke,  sy 
daselbst  und  in  denen  landen,  so  sy  vom  hertzogthumb 
Savoy  innhabent,  anzegryffen,  damitt  sy  genöttiget  werden, 
sich  an  zweyen  orten  ze  schirmen.»8)  Auf  der  andern  Seite 
schien  auch  Bern  gar  nicht  abgeneigt,  all  die  obschwebenden 
Händel  mit  Savoyen  und  den  V  Orten  mit  dem  Schwerte  zu 
entscheiden,    und  suchte  zu  diesem  Zweck  im  Sommer  1562 


i)  Abschiede  IV  2,  222,  227,  228.  Oechsli,  Orte  und  Zu- 
gewandte, 293  f. 

*)  Lambert  an  den  Herzog.  Altorf,  11.  April  1562.  (Gopie  im 
Bundesarchiv.) 

*)  Abschiede  IVs  217,  222  (h),  223,  228,  232  (1).  Gysats  Ge- 
heimbucb,  Archiv  für  schweizerische  Reform ationsgesch.  III  159. 
Cath&rina  von  Medici  an  Goignet,  11.  Juli  1562. 


212  Der  Lau  sanner  Vertrag  von  1564. 

ein   engeres  Verständniss   unter   den   evangelischen   Städten 
herzustellen. !) 

Was  Emanuel  Philibert  betraf,  so  zog  er  unter 
dem  Vorwand,  dem  König  von  Frankreich  Hilfe  gegen  die 
Hugenotten  zu  leisten,  ansehnliche  Streitkräfte  zusammen2), 
deren  erstes  Ziel  sicherlich  Genf  gewesen  wäre,  wenn  er 
nur  auf  die  Unterstützung  Spaniens  hätte  rechnen  können. 
Aber  eben  diese  blieb  aus,  und  diesem  Umstand  war  wohl  die 
Erhaltung  des  Friedens  zu  verdanken.  Philipp  II.  wünschte 
den  Krieg  mit  den  Bernern  jetzt  ebensowenig  als  früher. 
Das  einzige,  wozu  er  sich  durch  seinen  «Vetter»  bewegen 
Hess,  war,  dass  er  ihm  mittelst  eines  neuen,  kräftiger  als 
bisher  geführten  diplomatischen  FeldzugeB  in  der  Schweiz 
zu  Hilfe  kam.  Im  März  1562  ritt  der  eigens  zu  diesem 
Zwecke  bei  sämmtlichen  Orten  beglaubigte  spanische  Bot- 
schafter Bosso  von  Ort  zu  Ort,  um  sie  zu  ermahnen,  sie 
sollten  die  Vermittlung  wieder  an  die  Hand  nehmen  und  Bern 
zur  Annahme  eines  billigen  Ausgleichs  anhalten.  Auch  in 
Bern  erschien  er,  um  der  Stadt  begreiflich  zu  machen,  dass 
die  Dinge  nicht  auf  diesem  Punkte  stehen  bleiben  könnten, 
erhielt  aber  keine  Antwort.  Als  er  auf  ein  neues  Schreiben 
seines  Herrn  eine  solche  verlangte,  beschloss  der  Grosse  Rath 
am  24.  April  einhellig,  dem  König  von  Spanien  zu  schreiben, 
man  danke  ihm  für  seine  freundliche  Ermahnung;  da  aber 
der  Herzog  selber  den  Spruch  der  Vermittler  ausgeschlagen 
habe,  könne  man  sich  auf  keine  weitern  Verhandlungen  mit 
ihm  einlassen.  Inzwischen  hatte  der  Botschafter  von  Zürich 
die  Ansetzung  einer  besondern  Tagsatzung  begehrt;  diese« 
wollte  jedoch  nicht  ohne  Berns'  Zustimmung  handeln  und  der 


>)  Abschiede  IVs  225. 

2)  Carl  IX  an  Coignet,  9.  Mai  1562. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  213 

Grosse  Rath  der  Aarestadt  beschloss  —  in  scharfer  Oppo- 
sition zur  Regierung  — ,  es  bei  dem  beschlossenen  Brief  an 
den  König  von  Spanien  bewenden  zu  lassen. x)  Allein  die 
spanische  Diplomatie  Hess  Bern  keine  Ruhe  mehr.  Auf  der 
Jahrrechnung  zu  Baden  im  Juni  1562  verwahrte  sich  Bosso 
im  Namen  seines  Herrn  gegen  die  Folgen  eines  langern  Ab- 
schlags Ton  Seiten  der  Berner  und  erwirkte,  dass  der  Zürcher 
Borgermeister  Bernhard  von  Cham  und  Landammann 
Abjberg  von  Schwyz  im  Auftrag  der  Tagsatzung  nach 
Bern  ritten  und  dort  am  15.  Juli  1562  vor  dem  Grossen 
Käthe  dringende  Vorstellungen  machten.  Die  Berner  er- 
widerten, in  der  Werbung  Spaniens  sei  Genfs  nicht  gedacht 
und  doch  lasse  sich  kein  bestandiger  Frieden  denken,  wenn 
es  mit  Savoyen  unversöhnt  bleibe;  daher  müssten  sie,  ehe 
sie  sich  erklären  konnten,  wissen ,  ob  Genf  in  die  Friedens- 
verhandlung mit  eingeschlossen  werden  solle.  Als  der  Herzog 
in  dies  Verlangen  willigte  und  die  zwei  Deputirten  der  Tag- 
satzung am  1.  Okt.  1562  abermals  in  Bern  vorsprachen,  da 
konnte  dieses  nicht  umhin,  «der  hispanischen  Majestät  und 
den  elf  Orten  zu  Gefallen  im  Namen  Gottes>  der  Arbeit  der 
Vermittler  wieder  ihren  Lauf  zu  lassen,  immerhin  unter  dem 
Vorbehalt,  dass  ihr  Spruch  unverbindlich  sei.  Für  den  Zu- 
sammentritt der  Konferenz  wurde  anfänglich  der  11.  Januar, 
später  der  25.  April  1563  bestimmt  und  wiederum  Basel  als 
Malstatt,  ausersehen.2) 


l)  Cmditive  für  Bosso,  9.  Nov.  1561 ;  Vortrag  des  span.  Gesandten 
in  Zürich ;  Zürich  an  Bern,  7.  März  1562 ;  Bosso  an  Bern  und  Zürich, 
tri  13.  April;  Zürich  an  Bern,  23.  April;  Vortrag  der  spanischen 
Geundtochaft  im  Juni  1562  auf  der  Tagsatzung  zu  Baden  (SU  Bern 
SaToybucb  B  683—720).    Zehender  41—43. 

*}  Zehender,  44  f.  Abschiede  IV »  212,224.  Antworten  Berns 
auf  die  Botschaften  von  Chams  und  Abybergs,  15.  Juli  und  1.  Okt. 
1562  (St.  Bern,  Instruktionen  buch  1561—67,  S.  48  und  72),  Bosso  an 
B.  v.  Cham  und  Abyberg,  16.  Sept  1562  (Savoybuch  B  735). 


214  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

Inzwischen  hatte  Emanuel  Philibert  mit  Bern  auch  direkte 
Verhandlungen  angeknüpft.  Während  die  Rüstungen  des 
Herzogs  in  Genf  und  Bern  Argwohn  erweckten,  erfüllten 
ihn  umgekehrt  die  Werbungen,  die  in  Bern  und  dessen  Burg- 
rechtsstädten  für  die  Hugenotten  stattfanden,  mit  Besorgniss 
vor  einem  Angriff,  wesshalb  er  Ende  Juni  1562  den  Bernern 
durch  den  Herrn  von  Morrens  einen  förmlichen  Waffen- 
stillstand antrug.  Die  Aarestadt  ging  darauf  ein,  und  am 
1.(3.  Dezember  1562  wurde  zu  Nyon  auf  solange,  als  es 
der  einen  oder  andern  Partei  gefällig  sein  würde,  ein  vor- 
läufiger Friede  vereinbart,  wonach  den  Angehörigen  beider 
Theile  mit  Einschlags  der  Genfer  gegenseitig  freier  Handel 
und  Wandel  zugesichert  wurde;  dagegen  lehnten  die  Berncr 
jedes  Eintreten  auf  die  Restitutionsfrage  unter  dem  Hinweis 
auf  den  künftigen  Vermittlertag  zu  Basel  ab.1)  Im  Januar 
1563  machte  Emanuel  Philibert  noch  einmal  einen  Versuch, 
sich  durch  seinen  vornehmsten  Edelmann ,  den  Grafen  von 
C  ha  Hand,  auf  Kosten  Genfs  direkt  mit  den  Bernern  zu  ver- 
ständigen. Dieser  hielt  sich,  angeblich  in  Privatgeschäften, 
acht  Tage  lang  in  Bern  auf,  um  in  zwanglosem  Gedankenaus- 
tausch die  Regenten  der  Stadt  auszuholen.  Als  die  Berner 
meinten,  die  Hauptschwierigkeit  einer  Verständigung  mit  dem 
Herzog  liege  in  der  Religion  und  den  Kirchengütern,  er- 
klärte Challand  rund  heraus,  sie  liege  vielmehr  in  Genf,  das 
der  Fürst  ehrenhalb  nicht  fahren  lassen  könne  noch  wolle; 
wenn  die  Berner  darin  nachgäben ,  werde  er  ihnen  in  an- 
derem entgegenkommen.  Die  Berner  erwiderten,  dass  ihre 
Neigung  zu  Genf  nicht  allzugross  sei  —  was  in  Betracht 
der  vielen  Reibungen  zwischen  ihnen  und  dem  hartköpfigen 
kalvinischen  Regiment  wohl  keine  blosse  Phrase  war  —  aber 


!)  Zeh  ende  r  44  f.  Savoyhuch  725— 731.  Abschiede  IV  >  236  ff. 


Der  Lausanner  Vertrag  yon  1564.  215 

die  Ehre  verbiete  ihnen,  eine  Stadt,  mit  der  sie  ein  ewiges 
Bargrecht  beschworen  hätten,  im  Stiche  zn  lassen.  So  blieben 
die  direkten  Anknüpfungsversuche  de?  Herzogs  ohne  Ergeb- 
otts.1) Wie  sehr  Emanuel  Philibert  darüber  missstimmt  war, 
bewies  er,  indem  er  im  März  1563  an  die  V  Orte  die  direkte 
Anfrage  stellte,  wie  sie  sich  verhalten  würden,  wenn  er 
gegen  die  Berner  und  Genfer  die  Offensive  ergriffe.  Die  In- 
nerschweizer, deren  Stimmung  inzwischen  wieder  friedlicher 
geworden  war ,  wichen  der  verfänglichen  Frage  ans ;  aber 
sie  versicherten,  dass  sie  ihr  Möglichstes  für  ihn  thnn  wür- 
den, und  der  Landrath  von  Nidwaiden  wies  den  Am  mann  von 
Ftöe,  einen  der  Vermittler,  noch  besonders  an,  dem  Herzog 
«zu  sinen  landen  behulfen  und  beraten»  zu  sein.2) 

Iu  der  letzten  Aprilwoche  1563  sah  Basel  zum  dritten 
Mal  die  Eidgenossen  der  elf  Orte,  die  das  schwierige  Makler- 
amt zwischen  Bern  und  Savoyen  auf  sich  genommen,  in 
seinem  Rathhanse  versammelt.  Ausser  den  zahlreichen  An- 
wälten der  Parteien  und  den  elf  Vermittlern  waren  die  Bot- 
schafter von  Spanien  und  Frankreich  anwesend,  um  das 
Friedenswerk  dnrch  ihren  Zuspruch  zu  fördern.  Trotzdem 
drohte  auch  diese  Konferenz  wieder  resultatlos  zu  verlaufen. 
In  erster  Linie  drehte  sich  diesmal  der  Streit  um  Genf, 
da  die  Berner  die  Anerkennung  des  Burgrechts  und  den  Ein- 
schluss  der  Stadt  in  die  «schiedliche  Vertragshandlung»  ver- 
langten,  da   sonst  nach   ihrer   Ansicht   nichts   Fruchtbares 


')  Ghalland  an  Montfort,  Valangin  4.  Februar  1563  (Gopie  im 
Bundesarcbiv).  Zeheader  47  f.  Die  Besprechungen  mit  Ghalland 
sollten  zu  Valangin  fortgesetzt  werden ;  es  scheint  jedoch  der  Ver- 
abredung keine  Folge  gegeben  worden  zu  sein. 

*)  Archiv  für  schweizerische  Reformationsgeschichte  III  159, 
370.    Abschiede  IV«  245. 


216  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

geschaffen  werden  könne.  Die  Savoyarden  hatten  nichts  da- 
gegen, dass  man  sich  mit  Genf  befasse,  und  forderten  ihrer- 
seits die  Auflösung  des  Burgrechts,  sowie  die  Wiedereinsetzung 
des  Herzogs  und  des  Bischofs  in  alle  ihre  ehemaligen  Rechte, 
wobei  sie  sich  vornehmlich  auf  den  Luzerner  Abschied  vom 
Januar  1535  stützten.1) 

Die  Berner  hatten  indess  dafür  gesorgt,  dass  eine  Genfer 
Gesandtschaft  anwesend  war,  die  auf  die  Gewaltakte  hin- 
wies, durch  welche  Bischof  und  Herzog  ihre  einstigen  Ge- 
rechtsame nach  Fug  und  Recht  verwirkt  hatten;  für  die 
Gültigkeit  des  Burgrechts  berief  sie  sich  auf  den  Spruch  der 
Eidgenossen  zu  Peterlingen ;  eher  würden  sich  ihre  Mitbürger 
mit  Weib  und  Kind  unter  den  Trümmern  ihrer  Stadt  be- 
graben lassen,  als  auf  die  Vortheile  der  Verbindung  mit  Bern 
verzichten.  Angesichts  der  Thatsache,  dass  die  katholischen 
Orte  selber  1530  beim  Spruch  von  Peterlingen  mitgewirkt 
und  1557  die  Berner  zur  Erneuerung  des  Burgrecbts  ange- 
halten hatten,  konnten  die  Vermittler  nicht  wohl  anders,  als 
gemäss  dem  Begehren  der  Berner  dasselbe  in  Kraft  erklären ; 
doch  Hessen  sie  dem  Herzog  eine  Hinterthüre  offen,  indem 
sie  ihm  vorbehielten,  es  auf  dem  Rechtsweg  anzufechten, 
wenn  er  vermeine,  die  Genfer  seien  dazu  nicht  befugt  ge- 
wesen. Die  Rechte  des  Bischofs  dagegen  überglengen  sie 
klüglich  mit  Stillschweigen,  und  die  Entscheidung  über  das 
Vidomnat  und  die  übrigen  savoyischen  Ansprüche  stellten  sie 
einem  gütlichen  Ausgleich  zwischen  Genf  und  dem  Herzog 
oder,  wenn  dieser  nicht  zu  stände  komme,  einer  künftigen 
Rechtshandlung  anheim.  Dieser  Entscheid,  der  im  Grunde 
keiner  war  und  alles  auf  die  Zukunft  schob,  war  allerdings 
weit    davon  entfernt,    die    von  Bern    verlangte  Klarheit    in 


!)  Siehe  oben  S.  153. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  217 

Genfs  Lage  zu  schaffen ;  aber  er  verrieth  doch  das  Bestreben, 
den  seit  drei  Jahrzehnten  bestehenden  thatsächlichen  Verhalt* 
nissen  Rechnung  zu  tragen,  und  fügte  den  früheren  Bestäti- 
gungen des  Burgrechts  durch  die  Eidgenossen  eine  neue 
hinzu.1) 

Wenn  die  Vermittler  in  Bezug  auf  Genf  die  Klippe  mit 
Noth  umschifften,  so  wollte  ihnen  das  in  Betreff  der  Haupt- 
sache, der  Gebietsausscheidung ,  nicht  gelingen.  Als  Tag 
um  Tag  über  fruchtlosen  Versuchen ,  zwischen  den  Parteien 
eine  Einigung  zu  erzielen,  verfloss  und  die  Vermittler  schon 
davon  sprachen,  schriftlich  oder  durch  eine  Botschaft  wei- 
tergehende Vollmachten  für  die  bernischen  Gesandten  aus- 
zuwirken« erklärten  diese,  sie  würden  davon  doch  keinen  Ge- 
branch machen ,  riethen  aber ,  dass  man  sich  vorerst  über 
die  Bedingungen  vergleiche,  unter  denen  überhaupt  eine  Re- 
stitution stattzufinden  hätte,  da  sonst  der  Haupthandel  noch 
daran  scheitern  könnte.  Die  Vermittler  waren  froh,  die  lei- 
dige Gebietsfrage  für  einen  Augenblick  ruhen  lassen  zu  können, 
und  stimmten  dem  Antrag  der  Berner  zu.  Diese  stellten  in 
zwanzig  Artikeln,  die  sich  fast  alle  im  spätem  Lau- 
sanner Vertrag  wiederfinden,  die  Bedingungen  zusammen,  die 
sie  an  jede  Restitution,  gleichviel  welchen  Umfangs,  zu 
knüpfen  gesonnen  waren.  In  erster  Linie  verlangten  sie,  dass 
der  Herzog  die  abzutretenden  Unterthanen  bis  auf  ein  allge- 
meines christliches  Konzil  —  das  von  Trient  anerkannten  sie 
selbstverständlich  nicht  als  solches  —  bei  ihrer  jetzigen  evan- 
gelischen Religion  verbleiben  lasse.  Der  zweite  und 
dritte  Artikel   betrafen  Genf.    Der   vierte   stellte   den 


l)  Der  erwöllten  Schidherren  gestellte  Gonditiones  (s.  Beilage), 
Art.  2  und  3  (vgl.  Abschiede  IV  2  1500).  Bericht  der  Berner  Ge- 
sandten vom  2.  Mai  1561  (St  Bern  Savoybuch  B  825).  Rofret, 
Hut.  du  peuple  de  Geneve  VII  6  f. 


218  Der  Lau  sanner  Vertrag  von  1564. 

Grundsatz  auf,  dass  Savoyen  die  abzutretenden  Lande,  so 
wie  sie  Bern  jetzt  besass,  ohne  jeden  Ansprach 
auf  Herstellung  des  früheren  Zustandes  zu  übernehmen  habe, 
der  fünfte,  dass  alle  von  Bern  oder  unter  seiner  Autorität 
abgeschlossenen  Käufe  und  Verkäufe,  Tauschhand- 
lungen und  Kontrakte,  gleichviel  welcher  Art,  s&mmt 
den  von  ihm  ausgestellten  Rechtstiteln  in  Kraft  bestehen 
sollten,  «nützit  ussgenommen,  alles  one  wytter  ersuchen  noch 
hindersich  gryffen»,  und  der  sechste,  dass  gleicher  Weise 
alle  unter  Berns  Regierung  ergangenen  Endurtheile,  Ver- 
gleiche und  Rathserkenn  tni ss e  in  Prozessen  «one 
alles  wytter  ziechen*  als  gültig  anerkannt  werden  müssten. 
Der  siebente  Artikel  bestimmte,  dass  die  «Landmarch* 
das  Eigen thum  an  den  von  Bern  eingezogenen  Kirchen- 
gütern  scheiden  und  jeder  Theil  das,  was  an  geistlichen 
Gütern  und  Einkünften  in  seinem  Gebiete  liege,  zu  Händen 
nehmen  solle,  gleichviel  wo  das  Gotteshaus,  zu  dem  sie  ge- 
hört hatten,  liege;  der  achte,  dass  diese  Ausscheidung  der 
Stiftsgüter  nach  der  Landesgrenze  das  Eigenthum  und  die 
Gerechtsame  von  Privaten  und  Gemeinden  nicht  be- 
rühre, dass  vielmehr  jedermann  bei  seinem  Eigenthum  ver- 
bleiben solle.  Der  neunte  Artikel  setzte  fest,  dass  jeder 
Theil  die  Zölle  und  Geleitgelder  in  seinem  Gebiet,  so  wie  sie 
jetzt  in  Uebung  seien,  unverändert  beziehen  solle.  Der 
zehnte  Artikel  erklärte  alle  lehensherrlichen  Rechte 
Savoyens  im  bernischen  Gebiete,  namentlich  diejenigen 
über  die  Grafschaft  Greyerz,  für  erloschen.  Der  elfte 
bestätigte  die  Verträge,  die  Bern  und  Fr  ei  bürg  in  Betreff 
der  Grenzen,  Zehnten  und  Schulden  der  Waadt  unter  sich 
abgeschlossen.  Der  zwölfte  stipulirte  eine  gegenseitige  Am- 
nestie für  die  Parteigänger  des  einen  oder  andern  Theilcs, 
der    dreizehnte   für   die  Unterthanen   überhaupt  das  freie 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  219t 

Aus  wander  ungsr  echt  von  einem  Gebiet  ins  andere.  Der 
vierzehnte  untersagte  beiden  Parteien,  die  ihnen  zu- 
gesprochenen Stftdte,  Festen,  Lande  und  Leute  durch  Kauf, 
Tatisch  oder  sonst  in  irgend  einer  Weise  an  andere  Fürsten 
oder  Staaten  zu  veräussern,  «damit  ein  Theil  den  andern 
fremder,  ungelegener  und  beschwerlicher  Nachbarschaft  über- 
hebe.» Der  fünfzehnte  verbot  ihnen,  in  den  betreffenden 
Landen  neue  Befestigungen  gegen  einander  zu  errichten 
oder  innerhalb  einer  Meile  von  der  Grenze  Kriegsvolk 
zu  versammeln.  Der  sechszehnte  ordnete  den  Austausch 
der  auf  die  beiderseitigen  Gebiete  bezüglichen  Urkunden  an, 
der  siebzehnte,  dass  der  Vergleich,  in  den  beide 
Parteien  zu  besondern  Ehren  des  Königs  von  Spanien  und 
gemeiner  Eidgenossenschaft  gewilligt,  in  gebührender  ur- 
kundlicher Form  ausgefertigt  werden  solle.  Im  acht- 
zehnten Artikel  verlangte  Bern,  dass  die  Privatpersonen 
aus  den  savoyischen  Landen,  die  es  bisher  in  sein  Bürger- 
recht aufgenommen,  dabei  verbleiben  könnten.  Im  neun- 
zehnten bedang  es  sich  freien  Durchpass  durch  die 
abzutretenden  Lande  aus.  Im  zwanzigsten  endlich  em- 
pfahl es  dem  Herzog,  die  biderben  Leute,  die  es  ihm  über- 
geben werde,  gnädiglich  zu  halten,  dass  sie  Ursache  hätten, 
sich  dieser  Aenderung  zu  freuen. 

Die  Savoyischen  Abgeordneten  hatten  an  diesen  berni- 
schen Artikeln  mancherlei  auszusetzen.  In  Betreif  der  Re- 
ligion beriefen  sie  sich  auf  den  von  Bern  selbst  jederzeit 
gehandhabten  Grundsatz  «cujus  regio  ejus  religio»  und  wollten 
ihrem  Herrn  hierin  nichts  vergeben.  Auch  die  Artikel,  durch 
die  Bern  allen  Reaktionsgelüsten,  wie  sie  bei  Restaurationen 
aufzutauchen  pflegen,  so  energisch  den  Riegel  schob,  ferner 
die  reinliche  Ausscheidung  des  Eigenthums  an  den  Kirchen- 
vätern nach  der  Landesgrenze,  die  radikale  Vernichtung 
aller  oberlehn sherrli eben  Ansprüche  Savoyens   in   den    Bern 


220  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

bleibenden  Gebieten,  die  Zugsfreiheit  der  Unterthanen  u.  a. 
erregten  bei  ihnen  Anstoss,  und  sie  sachten  einerseits  die 
Tragweite  der  bernischen  Artikel  durch  allerlei  Modifikationen 
abzuschwächen,  anderseits  manches  Verfängliche  zu  ihren 
Gunsten  daran  anzuhängen,  insbesondere  einen  Vorbehalt 
künftiger  Ansprüche  des  Bisthums  Lausanne.  Allein  die 
Berner  Hessen  an  ihren  wohlerwogenen  Bedingungen  nicht 
rütteln;  sie  beharrten  in  der  Begel  sogar  auf  dem  Wortlaut 
ihrer  Artikel,  die  nur  den  Zweck  hätten,  künftige  Späne  and 
Zwietracht  zu  vermeiden,  und  Hessen  sich  auch  keine  Zu- 
sätze gefallen,  am  wenigsten  den  Vorbehalt  zu  Gunsten  des 
Bisthums  Lausanne,  da  es  ihren  Herren  nicht  gelegen  sei, 
die  schwere  Last  von  Zinsen  und  Hauptgütern  der  fürstlichen 
Durchlaucht  abzunehmen  und  aber  «des  Inkhomens  so  sy  et- 
licher raass  entheben  möcht,  in  gevar  ze  Btan.»1) 

Bei  der  Entschiedenheit  und  dem  Geschick,  womit  die 
Berner  ihre  Artikel  vertheidigten,  konnten  die  Vermittler 
nicht  umhin,  sie  fast  im  ganzen  Umfang  zu  adoptiren.  Sie 
stellten  am  9.  Mai  ihrerseits  einen  vorläufigen  Entwurf  von 
zwanzig  «Conditioncs  und  Gedingen>  auf,  der 
im  Grunde  nichts  als  eine  Wiederholung  der  Berner  Artikel 
in  der  gleichen  Reihenfolge  war.    Nur  in  einem  wesentlichen 


*)  Der  ursprüngliche  Entwurf  der  Berner  ist  nach  der  gütigen 
Mittheilung  von  Herrn  Staatsarchivar  T  ö  r  1  e  r  im  heroischen  Archiv 
nicht  mehr  zu  finden ;  dagegegen  ergibt  sich  der  Inhalt  der  20  Artikel 
fast  vollständig  aus  dem  «Kurtzen  bescheyd  über  F.  Dt.  zu  Savoy 
gesanthen  Inred  uf  der  Statt  Bern  gestellte  Artikel»  (St.  Archiv  Bern. 
Sav.  1545—65  N.  152).  Einverstanden  waren  die  Savoyer  eigentlich 
nur  mit  Artikel  14, 15  und  16.  Zum  Gang  der  Verhandlung  vergleiche 
den  Bericht  der  Berner  Gesandten  vom  8.  Mai  (Savoybuch  B  833), 
den  Brief  von  ltelhans  Thumysen  an  Zürich  vom  8.  Mai  und  den 
«Abschied  der  Einliff  Orten»,  Basel,  Woche  nach  St.  Georgi  (beides 
im  St.  Zürich,  Savoyen). 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  221 

Punkte  waren  sie  davon  abgewichen.  Wie  von  einem  in 
Mehrheit  katholischen  Collegium  nicht  anders  zu  erwarten 
war,  urtheilten  sie,  dass  es  in  der  Gewalt  des  Herzogs 
stehen  solle,  zu  bestimmen,  wie  es  mit  dem  Glauben  in  den 
abzutretenden  Landen  gehalten  werden  solle.1)  Allein  die 
Berner,  die  sich  sonst  mit  der  Fassung  der  zwanzig  Artikel 
durch  die  Vermittler  einverstanden  erklarten,  machten  ans 
der  Annahme  ihres  Religionsartikels  eine  Condito  sine  qua 
non:  wenn  er  nicht,  so  wie  sie  ihn  festgesetzt  hätten,  be- 
willigt werde,  sei  alle  bisher  angewandte  Mühe  und  Arbeit 
vergeblich;  die  Vermittler  sollten  die  savoyischen  Gesandten 
bewegen,  ihre  Opposition  aufzugeben,  oder,  wenn  sie  lieber 
wollten,  es  Bern  überlassen,  sich  hierin  mit  Savoyen  direkt 
zu  verständigen.  In  der  That  zogen  sie  es  gegenüber  dieser 
kategorischen  Erklärung  vor,  den  Religionsausgleich  den 
Parteien  zu  überlassen,   da  die  Katholiken   unter  ihnen  sich 


l)  iDer  Erwölten  Scbydlierren  gestellte  Gonditiones  und 
Gedingen,  in  welcher  der  F.  Dt.  zu  Savoy  die  Land  und  Flecken 
etc.  wider  zugestellt  und  wie  es  sonst  zu  beden  Siten  gehalten 
werden  soll»  (St.  Bern.  Savoyen  1545 — 65,  N.  153).  Eine  Ver- 
rfeiebung  der  «Gonditiones»  mit  den  Bemerkungen  des  «Kurtzen 
bescheyd»  zu  den  einzelnen  Artikeln  lassen  keinen  Zweifel  zu,  dass 
die  «Gonditiones  der  Schydherrem,  vom  Religionsartikel  abgesehen, 
mit  den  von  den  Bernern  aufgestellten  Artikeln  in  allem  Wesent- 
lichen identisch  sind.  Vgl.  auch  D'Orbais  an  Aubespine  14.  Juli  1563, 
wonach  die  Savoyer  Gesandten  beim  Botschafter  für  die  Auslassung 
Frankreichs  in  Art.  17  sich  damit  entschuldigten,  dass  die  Berner  den 
Artikel  entworfen  hätten.  Einzig  der  Artikel  19,  der  das  Durch- 
p*8g recht  durch  die  streitigen  Lande  gegenseitig,  jedoch  unter 
Ausschliessung  feindlicher  Absichten,  feststellt,  mag  auf  die  Redak- 
tion der  Vermittler  zurückgehen,  da  Bern  es  in  Betreff  dieses  Artikels 
den  Vermittlern  anheimstellte,  «wie  der  zu  beider  Theilen  Sicher- 
heit, Frieden,  Ruhe  und  unargwöniger  bywonung  erhaltung  bester 
Wys  zu  stellen  sei.» 


222  Der  Lausaun  er  Vertrag  von  1564. 

nicht  damit  befassen  wollten,  eine  Bestimmung  zu  Ungunsten 
ihrer  Eeligion  zu  sanktioniren. ') 

Die  Vermittler  brachten  nun  die  «Conditiones»  in  die 
endgültige  Form,  indem  sie  den  Religionsartikel  in  diesem 
Sinne  redigirten  und  am  Schluss  zwei  neue  Bestimmungen 
als  20.  und  21.  Artikel  hinzufügten:  1.  dass  die  Hoheit 
über  den  Genfersee  dem  Besitz  am  Ufer  entsprechen  solle, 
2.  dass  Bern  alle  auf  den  streitigen  Landen  haftenden 
Kapital-  und  Zinsschulden  für  seinen  Gebietstheil  zu 
übernehmen  und  dem  Herzog  den  seinigen  schuldenfrei  zu 
übergeben  habe.  Die  so  ins  Beine  gebrachten  Artikel  fassten 
sie  am  11.  Mai  mit  ihrem  endgültigen  Vorschlag  in  Be- 
treff der  Gebietstheilung  zu  einem  «freundlichen  Spruch»  zu- 
sammen. Dabei  hielten  sie  ihren  Vorschlag  vom  24.  August 
1561,  der  dem  Herzog  Chablais,  Genevois,  Gex  und 
N  y  o  n  zuerkannt  hatte,  als  Ausgangspunkt  fest.  Weil  jedoch 
die  Berner  des  Bestimmtesten  erklärt  hatten,  dass  sie  auf 
das  diesseits  des  Sees  gelegene  Chablais  (Vevey, 
Chillon,  Villeneuve  etc.)  als  ihre  einzige  Landstrasse  nach 
Aelen  und  ins  Wallis  unmöglich  verzichten  könnten,  schlugen 
die  Vermittler  dies  Gebiet  zum  bernischen  Antheil,  suchten 
aber  dafür  Savoyen  eine  Kompensation  am  andern  Ende  des 
Sees  zu  schaffen,  indem  sie  zu  dem  ihm  schon  bestimmten  Nyon 
noch  ein  Stück  der  Vogtei  Morges,  nämlich  das  Gebiet  von 
Bolle  bis  zur  Aubonne,  hinzufügten.8) 


l)  SU  Bern,  Savoyen  1545—65  N.  154.  Art.  1  der  «Conditiones 
und  Mittel».  Vgl.  Zehender  64:  «dan  sich  die  bäpstischen  Schidort 
•der  Religion  halben  nflth  annemmen  wellen.» 

8)  «Der  erwöllten  Schidherren  gestellte  Conditiones  und 
Mittel  etc.»  (Siehe  Beilage.)  Diese  «Conditiones  und  Mittel» 
(der  endgültige  Spruch)  sind  mit  den  S.  55  N.  2  erwähnten  «  Con- 
ditiones und  Gedingen»    grösstentheils,   doch  nicht  ganz   identisch. 


Der  Lau sanner  Vertrag:  von  1564.  223 

Da  die  Anwälte  der  Parteien  keine  Vollmacht  hatten, 
weder  za-  noch  abzusagen,  wurde  bestimmt,  dass  beide  Theile 
ihre  definitive  Antwort  auf  die  nächste  gemein-eidgenössische 
Tagsatzung  in  Baden  senden  sollten,  und  da  man  sich  nicht 
verhehlte,  dass  die  Aussichten  auf  Annahme  in  Bern  gering 
seien,  wurden  schon  jetzt  von  den  elf  Vermittlern  vier  ans 
ihrer  Mitte,  Thumysen  von  Zürich,  Pf  y  ff  er  von  Luzern, 
Beding  von  Schwyz  und  Krug  von  Basel,  ausgewählt, 
um  im  Nothfall  nach  Bern  zu  reiten  und  im  Namen  aller 
durch  ihr  Zureden  die  harten  Gemüther  zu  erweichen.1) 

Es  kam  so,  wie  die  Konferenz  besorgt  hatte.  Herzog 
Emanuel  Philibert  genehmigte  am  2.  Juli  1563  den  BaBler 
Spruch,  und  seine  Boten  wiederholten  diese  Erklärung  am 
30.  Juli  vor  den  in  Baden  versammelten  Vermittlern.*)  In 
Bern  war  der  dem  Druck  der  fremden  Botschafter  und  der 
Miteidgenossen  unmittelbar  ausgesetzte  Kleine  Rath  ebenfalls 
zur  Nachgiebigkeit  geneigt ;  aber  im  Grossen  Rath  bäumte 
sich  der  Berner  Stolz  noch  einmal  hoch  auf  gegen  jegliche 
Konzession.  In  der  ersten  Abstimmung  am  23.  Juli  1563 
erhob   sich   für   den   Spruch    der   Eidgenossen    keine    Hand 


Völlig  übereinstimmend  sind  Art.  2,  3,  6 — 12,  14—19.  Die  Haupt- 
abweichung Hegt  im  Religionsartikel  (1).  Ferner  enthalten  die 
•Mittel»  die  im  Text  erwähnten  neuen  Bestimmungen  als  20.  und 
letzten  (21.)  Artikel,  sowie  im  Anfang  den  Landlheüungsvorschlag, 
was  alles  den  t  Gedingen»  fehlt.  Der  20.  Artikel  der  c  Gedinge» 
and  des  Berner  Entwurfes  erscheint  in  den  «Mitteint,  umrahmt  von 
dem  Vorbehalt  der  sonstigen  Rechte  der  Parteien  und  der  Erklärung, 
dass  hiemit  alle  Fehde  und  Feindschaft  todt  und  ab  sein  solle,  als 
■Beschluss»  des  Ganzen.  (Siehe  Beilage.) 

')  Abscbeid  der  EinM  Orten,  Woche  nach  Georgt  1563  (St.-A. 
Zärieh,  Savoyen). 

2)  Baden,   2.  Heumonat  1563  (St.  Zürich,  Savoyen;   St.  Bern, 
SaToybuch  B  853).   Vgl.  Absch.  IV2  261,  264. 


224  Der  Lausauner  Vertrag  von  1564* 

und  kein  auf  irgend  eine  Landabtretung  zielender  Antrag 
der  Regierung  machte  mehr  als  20  Stimmen.  Durch  alle 
möglichen  Vorstellungen ,  unter  denen  namentlich  diejenige 
Eindruck  machte,  dass  der  Herzog  seine  Ansprüche  auf  den 
König  Ton  Spanien  oder  andere,  «die  uns  villicht  zu  stark 
gyn  würden  >,  übertragen  könnte,  erreichte  sie  schliesslich 
am  25.  Juli  eine  Mehrheit  von  108  gegen  43  Stimmen  für 
den  Antrag,  dass  man  den  Basler  Vergleich  ablehne,  da  man 
Gex  und  Nyon  nicht  aufgeben  könne,  aber  zur  Abtretung 
der  Landschaft  «ennet  dem  See  und  dem  Rotten»  unter  den 
zu  Basel  vereinbarten  Bedingungen  bereit  sei,  wofern  sich 
der  Herzog  vorher  mit  Bern  der  Religion  halb  vergleiche 
und  auch  mit  Genf  ein  gründlicher  Friede  zu  stände  gebracht 
werde.1)  Diesen  Bescheid  überbrachten  Schultheiss  Hans 
Steiger  und  Seckelmeister  Manuel  den  in  Baden  versammelten 
Vermittlern,  die  nun  die  in  Basel  bezeichnete  Viererbotschaft 
nach  Bern  zu  entsenden  beschlossen.  Für  den  Fall,  dass  ein 
erster  Vortrag  erfolglos  bliebe,  erhielt  die  Botschaft  Befehl, 
in  schärferer  Tonart  mit  den  Bernern  zu  reden,  was  für  ein 
Recht  sie  eigentlich  auf  die  eingenommenen  Lande  zu  haben 
vermeinten  etc.  Indess  sorgte  Zürich  dafür,  dass  der  zum 
Sprecher  ernannte  Itelhans  Thumysen  nicht  in  dieser 
Weise  Oel  ins  Feuer  goss,  indem  es  ihn  in  einer  besondern 
Instruktion  anwies,  ohne  sich  geradezu  von  seinen  «Mitherren» 
zu  trennen,  diesen  zweiten,  «mit  etlichen  Worten  zu  scharpfen» 
Befehl  «nit  wie  er  gestelt»  vorzutragen,  sondern  es  bei  guten,, 
freundlichen  Worten    bewenden    zu    lassen.*)    Die    Vorsicht 

*)  Zehender  53 — 60:  Berns  Antwort  im  Instruktionenbuch 
S.  265. 

2)  Abschiede  IV2  264.  Instruktion  für  die  vier  Boten,  Baden,. 
Freitag  nach  Jakobi  1563  (St.  Zürich,  Bern).  Instruktion  von 
Bürgermeister  und  Räthen  für  Itelhans  Thumysen,  Zürich,  7.  August 
1563  (St.  Zürich,  Sa*oyen). 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  225 

Zarichs  war  keineswegs  überflüssig;  denn  in  Bern  herrschte 
gegen  die  Eidgenossen  wegen  ihrer  Haltung  in  der  Savoyer- 
frage  eine  so  bittere  Stimmung,  dass  der  Rath  eine  besondere 
Ermahnung  an  die  Bürger  bei  Strafandrohung  für  nothwendig 
hielt,  «dheyn  unzucht  weder  mit  Worten  noch  werken  ge- 
meldteu  botten  ze  erzöugen.» *) 

Mit  den  vier  Boten  der  Eidgenossen  machte  sich  auch 
die  savoyis che  Abordnung,  der  Präsident,  von  Montfort 
and  der  Botschafter  Lambert,  welche  die  Zustimmung  des 
Herzogs  nach  Baden  überbracht  hatten,  auf  den  Weg  und  in 
Solothurn  schloss  sich  der  französische  Botschafter  D'Obais 
an,  um  sein  Scherflein  zum  Frieden  beizutragen.2)  Die  Sa- 
Toyer  getrauten  sich  aber  nicht,  in  Bern  zu  bleiben,  sondern 
warteten  im  nahen  Murten  den  Erfolg  des  Schrittes  der 
Vermittler  ab.  Der  französische  Botschafter  drückte  den 
beiden  bernischen  Schultheissen,  die  ihm  die  Aufwartung 
machten,  den  dringenden  Wunsch  des  Königs  aus,  den  Streit 
auf  gütlichem  Wege  beigelegt  zu  sehen,  und  die  vier 
Boten  der  Eidgenossen  erschienen  zweimal,  am  13.  und 
14.  August,  vor  Kleinem  und  Grossem  Rath,  erlangten  aber 
keinen  andern  Bescheid,  als  dass  man  bei  der  zu  Baden  ge- 
gebenen Antwort  verbleibe ;  weitere  Zumuthungen  müsse  man 
bei  der  Wichtigkeit  des  Handels  vor  die  Gemeinden  zu  Stadt 
and  Land  bringen.  Auf  einen  Appell  an  das  Berner  Volk 
wollten  es  aber  die  eidgenössischen  Boten  bei  der  wohlbe- 
kannten Stimmung  desselben  nicht  ankommen  lassen.  Sie 
zogen  es  vor,  nach  Murten  zu  reiten  und  den  Savoyern  zu- 
zumutben,  durch  den  Verzicht  auf  Nyon  und  Rolle  den 
Bernern  einen  Schritt  entgegen  zu  kommen.    Die  herzoglichen 


1)  Zehender  61. 

2)  D'Orbais  an  Aubespine  25.  August  1563  (Gopie  im  Bundes- 
arthhr). 

15 


226  Der  Lausanncr  Vertrag  von  1564. 

Gesandten  erklärten  zwar,  sie  hätten  keine  Vollmacht,  «einen 
einzigen  schlich  erdrichs»,    der    durch    den  Spruch    der  Ver- 
mittler ihrem  Herzog  zuerkannt   worden,   fahren    zu  lassen, 
und  anerboten  30,000  Kronen  für  Nyon,  100,000  für  Vevey, 
Chillon  u.  8.  w.;   aber  auf  die  Erwiderung   der  Eidgenossen, 
den  Bernern    sei   so    wenig  Erdreich  feil,    als   dem   Herzog, 
willigten  sie  schliesslich   doch  ein,    den  Vorschlag   an   ihren 
Herrn  gelangen   zu  lassen.    Dann  traten  die  vier  Boten  am 
17.  August   abermals   vor  den   Grossen  Rath    in    Bern    und 
richteten  einer  nach  dem  andern  die  dringende  Bitte  an  den- 
selben,  durch  den  Verzicht  auf  Gex  die  Hand  zum  Frieden 
zu  bieten.     Bern   habe  die  Wahl   zwischen   der  «Freundlich- 
keit», dem  «Recht»  oder  dem  Krieg;  es  solle  bedenken,  wie 
es  besser  fahre.    In  der  That  gab  die  Erwägung,   dass  man 
dem  Herzog,   wenn   er   der  Stadt   das  Recht  auf  die  Eidge- 
nossen biete,  dasselbe  kaum  abschlagen  dürfe,  dass  man  aber 
von  einem  Richterspruche  der  elf  Orte  höchstens  die  Waadt 
zu  erwarten   habe,   den  Ausschlag.    Der  Grosse  Rath  gieng 
von  seinem  frühern  Beschlüsse,   <|en   Handel   vor   die  Land- 
leute zu  bringen,    ab  und  ertheilte  den  Boten  der  vier  Orte 
im  Geheimen  die  Zusage,    dass  er  auf  Gex  verzichten  wolle, 
wofern  mit  dem  Herzog   in  Betreff  der  Religion   und   Genfs 
eine  Verständigung  möglich  sei.   Zugleich  stellte  er  an  die  vier 
Boten  das  Begehren,   es  möchten    nun   die  Eidgenossen    das 
Bern  noch  verbleibende  Land  «in  die  eidgenössischen  Bündi*> 
aufnehmen,  und  sie  versprachen,  ihr  Bestes  zu  thun.  *) 

Mit  der  Einigung  über  die  Gebietsfrage  war  der  Friede 
im  Wesentlichen  erreicht.  Die  Berner  hatten  durch  ihre  Zähig- 


*)  Zehender  61 — 64.  Abschied  uff  das  Anbringen  der  vier  Orte. 
Bern  18.  August  1563  (St.  Zürich,  Bern).  Antwort  Berns  am 
17.  August  (Savoybuch  B  272). 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  227 

keit  immerhin  so  viel  gewonnen,   dass  ihnen  nicht  bloss  die 
Waadt  intakt  blieb,  sondern  dass  sie  dazu  das  werthvolle 
Stück  Chablais  diesseits  des  Sees  mit  Vevey  nnd  der  Seefeste 
Ciiülon  behielten.    Aeusserst  schmerzlich  blieb  immerhin  die 
Amputation  von  Gex,  womit  die  Savoyarden  wieder  in  den 
Besitz    des  Eingangsthores    zur   schweizerischen    Hochebene 
sowie  der  «starken  Passe  nach  Burgund»  gelangten  und  Genf 
wieder    eine    von   feindlichem  Gebiet   umschlossene   Enklave 
wurde.    Das  war  für  Savoyen  ein  Erfolg,   zu   dessen  Siche- 
rung es  sich  schon  lohnte,   das    kleine  Opfer   von  Nyon  und 
Kolle  zn  bringen.    Die  herzogliche  Gesandtschaft  in   Murten 
erhielt  daher  Vollmacht,    Bern  zur  Formulirung   seiner  Be- 
kehren in  Betreff  der  letzten  noch  unausgetragenen  Punkte  ein- 
zuladen.   Am  1.  September  stellte  der  Grosse  Rath  dem  Herrn 
von  Morrens,  der  im  Namen  der  Gesandtschaft  in  Bern  erschien, 
seine  Forderungen  zu:  1.  Beibehaltung  der  bisherigen  Religion 
bis  auf  ein  allgemeines  Konzil,    2.  unbedingte  Anerkennung 
des  Genfer  Burgrechts,    3.  Heimfall  der  abgetretenen  Lande 
an  Bern,    falls   der   Herzog   den   Vertrag   in   irgend    einem 
Punkte   verletze.    Als  jedoch   die    Savoyer   sich   weigerten, 
diese  Artikel  ihrem  Herrn    zu  übermitteln,    weil   die   vorge- 
schlagene Verpfandung   einen   beleidigenden  Zweifel  in  seine 
Ehrenhaftigkeit   involvire    und    der   Ausschluss    des    Rechts 
in   betreff  des  Genfer  Burgrechts    im  Widerspruch    mit   den 
von  Bern  bereits   anerkannten  Basler    Abmachungen    stehe, 
Hess    der    Grosse  Rath   am    10.  September  mit  «schlechtem 
Mehr»  die   Verpfändung  fallen    und   begnügte    sich,    in    Be- 
treff des  Burgrechts  zu  erklären,  er  «werde  stiff  daran  halten > 
und  wolle  gewärtigen,  wer  ihn  mit  Gewalt  oder  Recht  davon 
zu  treiben  sich  unterstehen  werde. ')  Umsonst  setzten  die  Genfer 


*)  Zehender  67—69.   Rcsponce  de  nos  trta  redoubtes  S««  .  .  sur 
k  memoire  de  Noble  . .  seigneur  de  Morrens,  1.  Sept.  1563  (St.  Bern, 


228  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

alle  Hebel  gegen  diese  Nachgiebigkeit  der  Berner  in  Be- 
wegung; man  war  an  der  Aare  des  Handels  sichtlich  müde 
und  wollte  einmal  zum  Ende  kommen.  Am  24.  November 
wurde  einer  Genfer  Gesandtschaft  erwidert,  Bern  könne 
Genf  nicht  das  Privileg  verschaffen*  dass  es  niemandem,  der 
es  rechtlich  belange,  zu  antworten  habe ;  bei  den  Eidgenossen 
sei  es  Brauch,  das  Recht  niemandem  zu  verweigern ;  dagegen 
werde  man  der  Stadt  gegen  jede  Vergewaltigung  treue  Hilfe 
leisten.  Selbst  die  Verschwörung,  die  der  Gouverneur  Du- 
bochet  um  Weihnachten  1563  im  Verein  mit  vertriebenen 
Libertinern  gegen  Genf  anzettelte,  vermochte  den  Entechluss 
der  Bern  er  nicht  mehr  zu  ändern ;  diese  waren .  sogar  ge- 
neigt, der  Behauptung  der  Savoyer  Glauben  zu  schenken, 
die  Genfer  hätten  die  Verschwörung  nur  erfunden,  um  den 
Frieden  zu  hintertreiben.1) 

Nach  den  Verabredungen  im  September  1563  sollte  zur 
Schlichtung  der  letzten  Anstände  eine  Konferenz  der  beiden 
Staaten  in  Nyon  zusammentreten,  die  indess  von  Bern  mit 
Rücksicht  auf  die  Vorgänge  in  Genf  verzögert  wurde,  bis 
der  Herzog  die  Verschwörung  Dubochets  durch  seinen  Bot- 
schafter energisch  desavouiren  Hess.2)  Am  1.  Mai  1564 
kamen  endlich  die  Vertreter  Savoyens,   der  Gouverneur  Du- 


Savoyen  1545—65  N.  148;  auf  der  Rückseite  steht:  «Der  Herr  von 
Morrens  hat  dise  antwort  uiinen  g.  Hrn.  wider  hinus  geben  ne  au- 
steritate  ejus  oftenderetur  princeps  visis  conditionibus  insertis»). 
Instruction  ä  Mons.  de  Morrens,  Morat  4.  Sept.  1563,  unterzeichnet 
Montfort,  Lambert  (Savoyen  N.  149).  Responce,  10.  Sept.  (Instruk- 
tionenbuch S.  275). 

l)  Zehender  67—75.    Roget,  VII  27  ff. 

»)  Zehender  75—80,  Dubochet  an  Bern,  24.  Jan.  und  23.  Febr. 
1564,  Montfort  an  Bern,  28.  Febr.  (St.  Bern,  Savoybuch  C).  Mont- 
fort nennt  die  Genfer  Verschwörung  «une  imposture  controuree», 
welche  den  Nyoner  Tag  nicht  länger  aufschieben  sollte. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  229 

bochet,  die  Präsidenten  Ton  Montfört  und  Milliet,  der  Ritter 
von  Montagny,  der  Freiherr  von  Chivron  und  der  Botschafter 
Lambert  de  la  Croix  mit  denjenigen  Berns,  den  beiden  Schult- 
heissen  Hans  Franz  Nägeli  und  Hans  Steiger,  den  Seckel- 
meistern  Nikiaus  von  Graffenried  und  Hieronymus  Manuel, 
den  Vennern  Wolfgang  von  Wingarten  und  Ambrosius  Iin- 
hof  auf  dem  Bathhaus  zu  Nyon  zusammen.  In  Betreff  der 
Religion  wurde  man  rasch  einig,  da  Emanuel  Philibert,  so 
schwer  es  ihm  auch  fallen  mochte,  sich  den  Bedingungen  der 
Berner  vollständig  unterwarf.  Die  evangelische  Kirche,  so 
wie  sie  Bern  eingerichtet  hatte,  mit  ihren  Prädikanten  und 
Helfern,  sollte  in  ihrem  ökonomischen  Bestände  gesichert  und 
vor  jeder  Verfolgung  geschützt  in  den  abzutretenden  Landen 
fortbestehen,  bis  ein  durch  die  Fürsten  und  Stände  der 
Christenheit  veranstaltetes  allgemeines  Konzil  die  Religions- 
frage nach  der  heiligen  Schrift  entscheide.1) 


*)  Der  Religionsartikel  des  Nyoncr  Abschieds,  der  meines 
Wissens  nirgends  gedruckt  ist,  lautet:  «Nam  blich  das  alle  Under- 
thanen,  Hindersessen  unnd  Inwoner  so  ein  Statt  Bern  der  F.  Dt. 
übergeben  wurde,  beharren  sollend  inn  der  Religion,  die  sy  jez 
hall  teilt,  sampt  der  Reformation  unnd  dero  anhänger  nach  luth  der 
Mandaten,  so  hierab  biss  uff  disen  thag  ussgangen,  ane  einich  Ver- 
stössen noch  Verhinderung  solticher  Religions  Uebung.  Sy  sollen 
oueb  ronn  desswegen  nitt  gestrafft,  beschwert,  vervollgct  noch  be- 
eidiget werden,  eym'cherley  gstallt,  an  lyb  noch  an  gut,  weder  durch 
die  F.  Dt.,  Ire  amptlülh,  diener  noch'  andere,  sonnders  wann  inen 
tttwas  widerdriess  der  Religion  oder  sonnst  unzimlicher  gstallt  be- 
gegnet, die  F.  Dt.  aus  ein  warer  Forst  der  gerechtigkeit  die  straff 
hitrumb  gan  lassen,  wie  er  dess  gegen  anndere  sine  Underthanen 
euch  pflegt,  und  dbein  Unterscheid  hierinn  hallten. 

Damit  aber  berürte  Unnderthanen  inn  Uebung  irer  vorgemellten 
Religion  fürfaren  mögend,  ist  uff  disshalb  beschechnen  anzug  der 
Herren  Gesandten  vonn  Bern  abgerett,  das  die  Predicanten  und 
Hilffer  so  sölliche  Religions  Uebung  er v ordert,  inn  der  Land t schafft 


230  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

Diese  Vereinbarung  sollte  schriftlich  ausgefertigt,  aber 
bis  zu  völligem  Austrag  der  Sache  sorgfältig  geheim  gehalten 
werden,  da  Emanuel  Philibert  besorgte,  sich  durch  dieses  Zu- 
geständniss  Unannehmlichkeiten  von  Seiten  der  beiden  Könige 
und  anderer  Fürsten  zuzuziehen. 

In  Betreff  des  Genfer  Burgrechtes  kam  man  überein, 
dass  es  in  seinem  jetzigen  Bestand  verbleiben  solle,  bis  über 
seine  Gültigkeit  oder  Ungültigkeit  ein  Bechtserkenntuiss  er- 
gangen sei,  und  der  Herzog  verpflichtete  sich,  bis  zur  nächsten 
Vermittlerkonferenz,  auf  welcher  der  endgiltige  Friedens- 
schluss  zwischen  ihm  und  Bern  erfolgen  sollte,  alle  seine  An* 


ane  beleidigung  und  seh  mach  sollten  erhallten  werden  mit  glychcr 
besoldung,  wie  sy  die  vor  gehept  und  noch  diser  Zit  innemend. 
Doch  diss  alles  biss  das  durch  Usssprechen  eins  allgemeynen  fryen 
sichern  Concilii,  durch  die  Fürsten  unnd  st&nnd  der  Christenheit  zu 
ergründung  der  göttlichen  Wahrheit  durch  anleidtung  des  heiligen 
geists  bewilliget,  erlflthert  wird,  was  fhorm  der  Religion  man  hallten 
solle  nach  Usswysung  der  heiligen  geschrillt  dess  allten  und  nuwen 
testaraenls,  einem  solichen  beschluss  möge  man  dann  die  Unnder- 
thanen  wysen  ze  gehorsamen,  wie  gemeinlich  sonnst  Jedermann,  und 
ze  laben,  wie  es  alls  obstadt  angsechen  wirt. 

Disen  Articull  bewilligend  die  Hertzogischcn  Gesandten  mit 
Vorbhallt,  nämlich  so  die  übrigen  spenn  all  zwüschen  F.  Dt.  und 
den  Herren  von  Bernn  ouch  entscheiden  und  verträglich  ze  hallten 
angnommen  werden;  wo  nit,  das  dise  bewilligung  und  erlüthrung 
ouch  nichtig  sye,  alls  ob  dero  nie  gedacht  worden ;  denne  ouch  mitt 
gedingen,  dass  dise  abredung,  erlüthrung  unnd  bewilligung  der  Re- 
ligion weder  schrifftlich  noch  müntlich  solle  usskhommen  vor  end- 
lichem beschluss  gegenwärtiger  Unterhandlung  und  Vertrags  beyder 
Parlhyen,  sonnders  allso  in  gschrifft  durch  beid  Secretarien,  an  die 
mann  zu  Nüwenburg  gehalltner  lhagleistungen  khotnmen,  unnder- 
schriben,  inn  geheimbd  zwüschen  beiden  theilen  beruwen  biss  zu  Uss- 
trag  der  Houpthandlung.  Jm  Vaal  aber  derselbigeu  Zerschlacheuns 
(das  Gott  wennd)  solle  jeder  theil  dem  andern  dise  gschrifft  hinus- 
geben,  nach  yorgendem  bericht  siner  Herrn  und  Obern.* 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  231 

sprachen  an  die  Genfer  ruhen  zu  lassen,  sie  in  keiner  Weise 
weder  durch  seine  Amtsleute  noch  durch  seine  Unterthanen  zu 
belästigen,  ihnen  freien  Handel  und  Wandel  zu  gestatten 
o.  s.  w. ')  Endlich  vereinbarte  man  noch  «lütherungswis» 
einige  unwesentliche  Zusätze  zu  dem  6.,  7.,  12.,  13.  und 
20.  Artikel  des  Basler  Spruchs.*) 

Ueber  die  Friedensbedingungen  war  man  jetzt  im  Reinen. 
Ehe  aber  die  Berner  Regierung  sich  endgültig  entschloss, 
wollte  sie  nach  dem  guten  Brauche  der  Reformationszeit  an- 
hören, was  ihr  Volk  zu  dem  wichtigen  Schritte  sagte,  den 
zu  thun  sie  im  Begriffe  stand.  Am  24.  Mai  beschloss  der 
Grosse  Rath,  Botschaften  in  alle  Aemter  zu  schicken,  um 
ihnen  den  Stand  der  Dinge  vorzutragen  und  ihre  schriftlichen 
Antworten  entgegen  zu  nehmen.3)  Noch  sind  die  Akten 
dieser  denkwürdigen  Volksabstimmung,  die  in  den  einzelnen 
Aemtern  vom  13.  Juni  bis  11.  Juli  1564  von  statten  gieng, 
erhalten  und  gewahren  einen  lehrreichen  Einblick  sowohl  in 
die  Art  dieses  altschweizerischen  Referendums  überhaupt  als 
in  die  damalige  Stimmung  des  Berner  Volkes.  Wenn  dieses 
nach  dem  ursprünglichen  Beschlüsse  schon  im  Herbst  1563 
angefragt  worden  wäre,  würde  es  ohne  Zweifel  mit  über- 
wiegender Mehrheit  gegen  jedes  Zurückweichen  vor  Savoyen 


*)  Abscheid  gchalltener  Gonferenz  zu  Neuws  im  Majo  1564 
(St  Bern,  Savoybuch  C  41—51).  Vgl.  Zehender  80 f.  und  die 
Instruktionen   der   Berner    vom  18.  April  (Instruktionenbuch  278). 

*)  Der  fürstl.  Dt.  zu  Savoy  ersame  Anwalt  an  einem  und  der 
Statt  Bern  Gesanten  am  andern  teil  gesteltes  Bedencken  über  der 
Srhidlfiten  zu  Basel . .  .  ussgesprochne  mittel  im  Mayen  des  jüngst 
verrückte»  Jares  1563  etc.  (St  Bern,  Savoyen  1545—65  iN.  164). 
Dies  undatirte  Schriftstück  kann  nur  dem  Nyoner  Tag  angehören, 
dt  in  der  Instruktion  Nägelis  für  den  Lausannertag  bereits  Bezug 
darauf  genommen  wird  (N.  162.) 

sj  Zehender  81. 


232  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

protestirt  haben.  Jetzt  stellte  die  Regierung  es  vor  ein  fait 
accompli;  sie  präsentirte  ihm  einen  nach  den  mühevollsten 
Verhandlungen  zu  stände  gebrachten  Frieden,  der  Bern  den 
ruhigen  Besitz  von  zwei  Dritteln  des  eroberten  Landes,  des 
schönsten  und  wichtigsten  Stückes,  sicherte  und  die  abzu- 
tretenden Gebiete  in  ehrenhafter  Weise  bei  ihrem  bestehenden 
Rechtszustand  und  ihrem  evangelischen  Glauben  schützte, 
dessen  Verwerfung  die  Eidgenossen  ohne  Unterschied  des 
Glaubens  beleidigen  und  allem  Anschein  nach  die  bedenklichsten 
Verwicklungen  nicht  bloss  mit  Savoyen,  sondern  auch  mit 
Spanien  nach  sich  ziehen  musste.  Trotzdem  der  Bericht  der 
Regierung,  den  die  Rathsbotschaften  den  versammelten  Ge- 
meinden vorzutragen  hatten,  diese  Sachlage  eindringlich  vor 
Augen  legte  *),  wollte  es  einem  starken  Theil  des  Berner 
Volkes  noch  immer  nicht  in  den  Kopf,  dass  man  Lande,  die 
man  ohrlich  mit  dem  Schwert  gewonnen  und  achtundzwanzig 
Jahre  ruhig  besessen,  ohne  Kampf  preisgeben  solle.  Von 
37  Am  tsgemeinden  sprachen  sich  nur  achtzehn, 
also  kaum  die  Hälfte,  für  die  Annahme  des 
Friedens  aus.2) 

Fünf  stellten  den  Entscheid  der  Regierung  anheim3), 
darunter  eine,  Ranflüe,  mit  dem  Beifügen,  das  Beste  würde 
sie  immerhin  bedünken,    das  Land    mit  dem  Schwert  zu  be- 


*)  Instruktion  minen  Herrn  den  Gesandten  inn  Stadt  und  Land 
für  die  Räth  und  Gemeinden  von  wägen  der  Savoyischen  Vertrags- 
handiung  etc.  (St.  Bern,  Savoyen  1545—1566  N.  155.  Instruktionen- 
buch 298.) 

*)  Konolfingen,  Unterseen,  Inderlappen,  Hasle,  Frutigen,  Nieder- 
sibenthal,  Seftigen,  Obersibenthal,  Saanen.  Oesch,  Landshut,  Lanpen. 
Brugg,  Amt  Eigen,  Grafschaft  Lenzburg,  Schenkenberg,  Aarau  und 
Zofingen.    Die  Antworten  der  Acmter  im  Savoybuch  C  S.  65  ff. 

8)  Rougemont,  Hutlwil,  Ranflüe  (Trachselwald),  Wangen  mit 
Aarwangen  und  Bipp,  Biberstein. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  233 

haupten.  Vierzehn  aber,  Thun,  Spiez,  Aeschi,  Aelen, 
die  vier  Kirchspiele,  Zoliikofen,  Sternenberg,  Aarberg,  Erlach, 
Xidau,  Büren,  Burgdorf,  Aarburg  und  Stadt  Lenzburg  waren 
mit  Entschiedenheit  dafür,  dem  Herzog  «gar  nützid  weder 
viel  noch  wenig  von  den  eingenommenen  Landen»  wiederzu- 
geben, sondern  Leib,  Leben,  Ehre  und  Gut  an  die  Behauptung 
des  Ganzen  zu  setzen.  Das  Landgericht  Sternenberg  meinte, 
der  vorige  Herzog  habe  viel  verheissen  und  nichts  gehalten, 
der  jetzige  werde  seinem  Vater  nachschlagen ;  wenn  es  ihm 
gelinge,  sich  im  einen  oder  andern  Platz  einzunisten,  werde 
er  weiter  greifen  und  die  ganze  Sache  wieder  von  vorn  an- 
fangen. Auch  würde  es  allen  Bernern  zum  Spott  gereichen, 
wenn  man  draussen  hb'ren  müsste :  «Ir  hand  ein  Land  widej 
recht  inngehept  und  es  darumb  müssen  widergen.>  *)  Beson 
ders  kräftig  war  der  Protest  der  Amtsgemeinde  Nidau.  Da 
wurden  die  Alten,  die  1536  das  Land  hatten  gewinnen  helfen, 
voraus  angefragt,  und  diese  beschlossen  einstimmig  mit  auf- 
gehobenen Händen,  sie  wollten  «gemelltem  Hertzogen  ganz 
und  gar  von  sblichem  Land  nitt  ein  schu  breit  noch  wit 
widergäben >,  sondern,  da  es  mit  dem  Schwert  gewonnen, 
es  anch  mit  dem  Schwert  erhalten,  mit  Ehre,  Leib  und  Gut, 
<so  wit  der  allmächtig  gott  uns  gnad  verüben  wirt.»  Diesem 
Beschluss  der  Veteranen  fielen  die  Jungen  einmüthig  bei.  2) 
An  dem  Muth  des  Berner  Volkes  hat  es  wahrlich  nicht  ge- 
bangen, wenn  die  Schweiz  im  Südwesten  ihre  natürliche 
Grenze  nicht  behauptet  hat. 

Immerhin  konnte  die  Bern  er  Regierung  nun  sagen,  dass 
bk  von  der  Mehrheit  der  Aemter  zum  Abschluss  des  Friedens 
unter  den  zu  Basel  und  Nyon  vereinbarten  Bedingungen  er- 
mächtigt  sei.     Am  18.  Juli  beschloss   der   Grosse  Rath   mit 


M  St  Bern,  Savoybuch  G  S.  143  ff. 
?j  Ebenda  S.  160. 


234  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 


v 


146  gegen  49  Stimmen  die  Annahme  des  Vergleichs  von 
Nyon,  und  am  20.  Juli  erschien  eine  Gesandtschaft  des  Her- 
zogs, die  von  seiner  Seite  das  Gleiche  meldete.1)  Unmittel- 
bar nach  Empfang  der  bernischen  Zustimmung  Hess  Emannel 
Philibert  durch  seine  Botschaft  in  Bern  in  aller  Form  er- 
klären, dass  er  sich  mit  den  anerbotenen  drei  Vogteien  Thonon, 
Ternier  und  Gex  zufrieden  gebe  und  auf  die  im  Basler  Spruch 
ebenfalls  genannten  Vogteien  Nyon  und  Morges  verzichte.2) 
Am  7.  August  wurde  der  Nyon  er  Geheimvertrag  ur- 
kundlich ausgefertigt.3)  Dann  verabredete  man  die  Einbe- 
rufung einer  letzten  Vermittlerkonferenz  auf  den  22.  Oktober 
nach  Lausanne,  um  den  Frieden  in  endgültiger  Form  aufzu- 
richten. *) 

Die  stattliche  Versammlung,  die  am  22.  Oktober  1564 
in  Lausanne  zusammentrat,  bestand  aus  den  uns  bekannten 
elf  Vermittlern,  nur  dass  an  die  Stelle  des  inzwischen  ver- 
storbenen Wilhelm  Fröhlich  als  Vertreter  Solothurns  der  Alt- 
schultheiss  Urs  Sury  getreten  war,  ferner  aus  den  sechs  savoyi- 
schen  und  den  sechs  bernischen  Unterhandlern,  die  zu  Nyon 
verhandelt  hatten,  an  ihrer  Spitze  Schultheiss  Hans  Franz 
Nägeli,  dem  es  mithin  beschieden  war,  den  Kriegszustand 
mit  Savoyen,  den  er  vor  28  Jahren  durch  seinen  Eeldzug 
eröffnet,  wieder  zu  schliessen.  Anwesend  war  auch  der  fran- 
zösische Botschafter  D'Orbais,  während  spanischerseits  sich 
niemand  eingefunden  zu  haben  scheint.   So  zahlreich  die  Lan- 


1)  Haller  ur.d  Müslin  (Arch.  hist.  Ver.  Bern  V  82).  Tillier. 
Geschiebte  des  Freist.  Bern  III  416.  Larabert's  Vortrag  vom  27.  Juli 
1564  (St.  Bern,  Savoyen  1545—65  N.  157). 

2)  Larabert's    Vortrag  (St.   Bein,    Savoyen    1545—65   N.    163 

und  165). 

3)  St.  Bern,  Savoybuch  C  S.  57  ff. 

4)  Vgl.  die  Antworten  der  elf  Orte  auf  die  Einladung  vom 
1. — 12.  Sept.  im  Savoybuch  C. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  235 

sanner  Versammlung  war,  sie  hatte  im  Grunde  nur  noch 
Formalitäten  zu  erfüllen.  Die  Anwälte  beider  Parteien 
sprachen  den  Vermittlern  für  ihre  Mühe  und  Arbeit  ihren 
höchsten  Dank  aus,  meldeten  ihnen,  dass  man  sich  über  die* 
zu  Basel  und  Mnrten  unausgetragen  gebliebenen  Punkte  in- 
zwischen verständigt  und  über  andere  etwas  näher  erläutert 
habe,  und  richteten  an  sie  die  Bitte,  ihnen  nunmehr  über 
den  ganzen  Handel  den  verheissenen  «brieflichen  Schyn»  auf- 
zurichten. Der  Stadtschreiber  Heinrich  Falkner  von  Basel, 
der  bei  allen  Verhandlungen  der  Vermittler  als  «gemeiner 
Schreiber»  die  Feder  geführt  hatte,  verfasste  das  vom  30.  Okt. 
1564  datirte  Friedensinstrument.  Sehen  wir  von  der  langen 
geschichtlichen  Einleitung  mit  den  Plaidoyers,  Repliken  und 
Dapliken  der  Parteien  ab,  so  sind  die  eigentlichen  Vertrags- 
artikel völlig  identisch  mit  den  im  Mai  1563  nach 
den  bernischen  Vorschlägen  aufgestellten 
Basler  Artikeln,  nur  dass  unter  den  an  Savoyen  zu- 
rückzuerstattenden Gebieten  Nyon  und  das  Stück  der  Vogtei 
Horges  bis  zur  Aubonne  fehlte,  dass  ferner  einzelne  Artikel 
gemäss  den  Verabredungen  von  Nyon  durch  Zusätze  näher 
ausgeführt  wurden,  ohne  ihrem  Wesen  nach  eine  Veränderung 
zu   erleiden. !)     Insbesondere   wurde    in  Art.  20   als    Grenze 

lJ  Die  zu  Basel  aufgestellten  «Gonditiones  und  Mittel»  sind  wört- 
lich in  deu  Lausanner  Vertrag  übergegangen  und  bilden  den  eigent- 
lichen Körper  desselben.  Im  Lausanner  Vertrag  sind  neu  hinzuge- 
kommen: 1.  die  Einleitung  mit  der  Geschichte  des  Streites,  den 
Plaidoyers,  Repliken  und  Dupliken  (Abschiede  IV»,  1477 — 98) ;  2.  in 
Artikel  6  (S.  1501)  die  Worte  «Subastacionen  und  Vergantungeu», 
3.  in  Artikel  7  die  zweite  Hälfte  «und  solle  aber  —  gehallten 
werden»,  4.  in  Artikel  12  (1502)  die  zweite  Hälfte  «als  aber  in  sol- 
liebem  —  stattgethan  werde»,  5.  in  Art.  13  (S.  1503)  der  Schluss- 
satz «Darzu  das  ouch  —  underworffen  sin  sollen»,  6.  in  Art.  20  alle 
die  genauen  Grenzbestimmungen  «Und  solle  aber  die  Mitte  des 
SeesfS.  1503  unten)  —  zu  der  frigen  Herrschaft  Gex»  (S.  1506  oben), 
7.  der  Scbluss  (S.  1507—8.)    Siehe  Beilage. 


236  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

im  See  die  Mitte  desselben  festgesetzt  und»  zugleich  eine  bis 
ins  Detail  gebende  Grenzbereinigung  zwischen  Gex  und  der 
Waadt  eingefügt.  Der  Nyoner  Vertrag  selbst  fand  keine 
Aufnahme  in  den  Lausanner  Vertrag,  vermnthlich  weil  der 
Religionsartikel  nach  dem  Wunsch  des  Herzogs  geheim 
bleiben  sollte.  Nicht  im  Vertrag,  weil  die  bernischen  Ge- 
sandten keine  Vollmacht  dazu  hatten,  aber  im  Abschied 
setzten  die  Vermittler  als  Tag  der  Uebergabe  der  abzutreten- 
den Gebiete  den  1.  März  1565  fest1)  Statt  jedoch  diesen 
Termin  zn  acceptiren,  knüpfte  Bern  die  Uebergabe  an  die 
Erfüllung  einer  Bedingung,  die  weder  im  Vertrag  noch  im 
Abschied  mit  einer  Silbe  erwähnt  wurde,  über  die  es  sich 
aber  mit  dem  Herzog  schon  vorher  verständigt  hatte,  ohne 
eine  Ahnung  zu  haben,  dass  dieselbe  233  Jahre  später  der 
Nagel  zum  Sarge  seiner  Unabhängigkeit  werden  sollte. 

Schon  während  den  Nyoner  Verhandlungen  scheinen  die 
Berner  den  Wunsch,  dass  der  endgültige  Friedens- 
vertrag von  den  Königen  von  Frankreich  und 
Spanien  mit  Brief  und  Siegel  «approbirt»  werde, 
geäussert  und  mit  den  savoyischen  Gesandten  ein  Formular 
dafür  vereinbart  zu  haben.  In  dem  Schreiben,  worin  sie 
Emannel  Philibert  die  Annahme  der  Nyoner  Artikel  anzeigten, 
hatten  sie  diesen  Wunsch  wiederholt,  und  der  Herzog  hatte 
sich  damit  einverstanden  erklärt.  Bern  war  daran  so  viel 
gelegen,  dass  dem  Schultheissen  Nägeli  in  dem  «Denkzettel», 
den  er  nach  Lausanne  mit  bekam ,  noch  besonders  einge- 
schärft wurde,  «das  bed  parthien  jede  für  sich  selbs  die  beden 


J)  Abscheyd  des  Tags  etc.  zu  Losanne  geballten  vor  Simonis  und 
Judä,  anno  1564  (Staatsarchiv  Zürich,  Savoyen).  Abschiede  IV2  300. 
Die  eilf  Orte  an  Bern,  Lausanne  31.  Okt  1564  (Staatsarch.  Bern, 
Savoybuch  G  S.  357).  Instruktion  der  Berner  Gesandten  vom 
18.  Okt.  (Instruktionenbuch  286). 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  237 

künig  zu  Frankrich  und  Hispanien  um  besiglete  bestätigungs- 
brieff  der  schydherrn  Ussspruchs  ankeren  sollend  uff  wyss 
and  form,  wie  die  Savoyschen  den  Bernischen  Gesandten  dess 
ein  Copy  zugestellt.*1)  Offenbar  wollte  es  bei  der  engen 
Verwandtschaft  der  beiden  Könige  mit  dem  Herzog  and  bei 
dem  Eifer,  mit  dem  sie  sich  für  ihn  verwendet  hatten,  die 
(rewissheit  haben,  dass  gegen  den  Besitz  dessen ,  was  ihm 
noch  blieb,  oder  gegen  die  Bedingungen,  die  es  an  die  Kack- 
erstattung  geknüpft  hatte,  nicht  etwa  nachträglich  von 
ihrer  Seite  Einsprachen  erhoben  würden,  die  dem  Herzog  eine 
Möglichkeit  gewährt  hätten,  sich  nach  erfolgter  Restitution 
der  Erfüllung  des  Vertrags  zu  entziehen.  Die  Savoyer 
mochten  auch  ihrerseits  eine  Garantie  gegen  Bern  darin 
finden ,  kurz  sie  machten  sich  anheischig ,  die  von  ihm 
gewünschten  Ratifikationsurkunden  der  beiden  Könige  beizu- 
bringen, und  jenes  legte  solches  Gewicht  darauf,  dass  es  am 
16.  November  an  Savoyen  schrieb,  in  Betreff  der  Einsetzung 
müsse  es  bitten,  das  Ziel  zu  verlängern,    bis  der  Schidherrn 

l)  Staatsarch.  Bern,  Savoyen  1545—65,  Nr.  162,  163  und  165 
(Vortrag  Lamberts).  Ganz  falsch  wird  von  Tillier,  Gonzenbach  u.  a. 
der  Artikel  17  des  Lausanner  Vertrages  bez.  der  Basler  Mittel  auf 
diese  Ratifikation  durch  die  beiden  Könige  bezogen.  Der  Artikel 
sagt  wie  namentlich  die  offizielle  französische  Uebcrsctzung  deut- 
lich zeigt,  weiter  nichts,  als  dass  die  beiden  Parteien,  die  zu  Ehren 
des  Königs  von  Spanien  und  gemeiner  Eidgenossenschaft  —  Frank- 
reich wird  gar  nicht  erwähnt  —  in  den  Vertrag  gewilligt,  auch  die 
gehörige  urkundliche  Ausfertigung  des  Vertrags  durch  die  Vermittler, 
den  •schriftlichen  Schyn»,  von  dem  am  Schluss  noch  einmal  die 
Rede  ist.  verlangen.  Vgl.  die  französische  Form  des  Artikels  (St. 
Bern.  Savoybuch  G,  S.  320) :  « 4u  dix-septi&nie  considärant  que  ce 
traictö  et  aecord  se  faict  a  l'esgard  du  Roy  d'Espaigne  et  des  seig- 
neors  des  Ligues  et  que  les  partyes  ont  requis  a  nous  qui  avons 
moyennG  cest  aflaire  quil  sott  donni  aux  parties  asseurance  neces- 
tairc  par  lettre*  de  tout  ce  traicii  et  aecord  pour  icelluy  con firmer 
et  ratifier.» 


"238  Der  Lausanncr  Vertrag  von  1564. 

Traktat  und  beider  Könige  Befestigung  aufge- 
richtet, besiegelt  und  den  Parthien  zugestellt 
seien.1) 

Neben   dem  Hauptgeschäft   hatte   die   Friedenskonferenz 
zu  Lausanne  auch  die  Anstände  zwischen  Genf  und  Savoyen 
zu  schlichten  gesucht,  aber  ohne  Erfolg,  da  die  Savoyer  auf 
ihren  alten  Forderungen,  Auflösung  des  Burgrechts,  Einsetzung 
in  das  Vidomnat,  ja   sogar   auf  der  Anerkennung   des  Her- 
zogs als  Reichsvikar  über  Genf  beharrten.     Die  Berner  unter- 
stützten   eine  Genfer  Botschaft,    die    auf   ihr  Verlangen    in 
Lausanne    erschienen    war,     durch   die    positive   Erklärung, 
dass  sie  am  Burgrecht   festzuhalten  gesonnen  seien,   und  die 
Vermittler   zogen  es   vor,   die  Entscheidung  der  Zukunft  zu 
überlassen,    indem    sie  sich    damit  begnügten,    den  Weg   zu 
weisen,   auf  dem  dieselbe   zu   suchen  sei.    Sie   machten    den 
Vorschlag,    Genf  und  Savoyen  sollten  eine  Anzahl  Ehrenper- 
sonen    bezeichnen,    welche   zuerst   den  Streit   gütlich   beizu- 
legen trachten,    dann,    wenn   dies    keinen  Erfolg  hätte,    als 
Schiedsrichter  ein  Urtheil  fällen,  und,  wenn  sie  in  gleichge- 
theilte  Parteien   zerfallen   würden,  einen  unparteiischen    Ob- 
mann ernennen  sollten.    Bis   zum  gütlichen  oder  rechtlichen 
Austrag  des  Handels  aber   sollten  die  Genfer   vor  allen  Be- 
lästigungen und  Beleidigungen  von  Seite  Savoycns  und  seiner 
Angehörigen  gesichert  sein.    In   diesem  von  beiden  Parteien 
aeeeptirten   Waffenstillstand,    der  jedes    gewaltthäUge    Vor- 
gehen  des  Herzogs  gegen  Genf  ausschloss,  lag  für  letzteres 
der  einzige  Gewinn  des  Lausannertages.  *) 


x)  Schultheiss,  Klein  und  Grosse  Rütbe  an  die  savoyischeu 
•Gesandten,  16.  Nov.  (Staatsarch.  Bern,  Savoybuch  C  S.  359).  Vgl. 
Abschiede  IV  2,  342. 

f)  Roget,  Hist.  du  peuple  de  Genövo  VII  112  ff. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  239 

VI. 
Die  Vollziehung  des  Lausanner  Vertrages. 
Mit  dem  umfangreichen  Vertrag  von  Lausanne,  der,  in 
zwei  Exemplaren  vom  Stadtschreiber  von  Basel  ins  Reine 
geschrieben,  von  seinem  Sohne  und  einem  savoyischen 
Agenten  im  Februar  1565  von  Ort  zu  Ort  zur  Besiedlung 
darcb  die  Schiedsrichter  gebracht  wurde  *)i  schien  der  lange 
Streit  sein  Ende  gefunden  zu  haben,  und  doch  zog  sich  seine 
Erledigung  noch  beinahe  drei  Jahre  hin.  Der  Verabredung 
gemäss  richteten  Emanuel  Philibert  und  Bern  an  die  Könige 
von  Frankreich  und  Spanien  die  Bitte  um  Gutheissung  des 
Vortrages1).  Karl  IX.  willfahrte  ihr  am  26.  April,  Philipp  IL 
nach  auffälligem  Zögern9)  erst  am  22.  August  1565.  Als 
jedoch  eine  savoyische  Botschaft  die  beiden  Dokumente  nach 
Bern  brachte,  fand  dieses  darin  gewisse  Vorbehalte,  die  sie 
in  seinen  Augen  werthlos  oder  geradezu  gefährlich  machten. 
Die  französische  Ratifikationsurkunde  enthielt  die  Klausel: 
+Sauf  moii  droit  et  Vautruy  en  toutes  choses» 4),  die  den  Ber- 

V  Der  Stadtschreiber  von  Basel  an  Bern,  30.  Jan.  1565  (Staats- 
arehiv Bern,  Savoybuch  G  367). 

*j  Bern  an  die  Könige  von  Frankreich  und  Spanien,  16.  Nov. 
Es  übersandle  seinen  Brief  den  Savoyern,  die  ihn  mit  dem  des  Her- 
zogs zusammen  an  die  Majestäten  befördern  sollten  (Savoybuch  G 
359,  365.) 

3)  «L'accord  du  duc  de  Savoye  avoc  les  Bernois  est  tousiours 
airrouche  sur  quelque  difticulte  que  faict  le  roy  d'Espaigue  de  y  ap- 
[xKcr  son  scel.»  Bellievre  an  Villeparisis,  14.  Juli  1565  (Gopic  im 
Bundesarchiv). 

•;  -Mon  oncle  le  duc  de  Savoye  ina  fait  yci  deinonstrer  depuis 
tosUv  parteraent  que  les  Scigneurs  de  Bern»  fönt  difflculte  daeeep- 
1>t  lapprobation  que  jay  faiete  de  laccord  passe  a  Lauzanne  entre 
**aLxT  soulz  couileur  que  dedans  les  lectres  que  jen  feiz  lors  expedyer 
il  y  a  une  clause:  »Sauf  man  droit  et  Vautruy  en  toutes  choses », 
riisant  que  a  ceste  oegasion  lenect  du  dict  aecord  est  re tarda.» 
Charles  IX  an  Bellierrc,  27.  Febr.  1566  (Copie  im  Bundesarchiv). 


240  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

nern  um  so  bedenklicher  schien,  als  Karl  IX.  die  von  Franz  I. 
erhobenen  Erbansprüche  auf  Savoyen  rechtlich  noch  immer 
nicht  aufgegeben  hatte.1)  Noch  schlimmer  stand  es  mit  der 
spanischen  Ratifikation,  indem  Philipp  II.  zur  Beruhigung 
seines  katholischen  Gewissens  alle  Artikel  des  Lausanner  Ver- 
trages, die  sich  auf  die  Religion,  die  Kirchengüter  und  Zehnten 
bezogen,  ausdrücklich  von  seiner  Genehmigung  ausschloss.*) 
Die  Berner  fanden,  sie  hätten  die  Approbation  der  beiden 
Könige  verlaugt,  um  des  Besitzes,  der  ihnen  noch  blieb, 
sich  in  voller  Sicherheit  freuen  zu  können;  die  beiden  Bestäti- 
gungsbriefe aber  böten  ihnen  nicht  mehr  Sicherheit,  als  wenn 
sie  gar  keine  erhalten  hatten;  ja  dieselben  verrietheu  sogar 
gefährliche  Hintergedanken.8) 

Sie  erklärten  daher  am  25.  November  1565  dem  Herzog, 
dass  sie  die  Ratifikationen  wegen  jener  Vorbehalte  nicht  an- 
nehmen könnten  und  die  Vollziehung  des  Vertrags  bis  zu 
ihrer  Verbesserung  aufschieben  müssten.  Emanuel  Phili- 
bert  zeigt  sich  in  seiner  Antwort  über  diese  unver- 
mutheten  Schwierigkeiten  sehr  verwundert,  versprach  aber, 
sofort  die  nöthigen  Schritte  zu  thun,  um  die  Vorbehalte  wo 
immer  möglich  zu  beseitigen ;  er  hoffe  aber,  dass  Bern,  wenn 
dieselben  erfolglos  bleiben  würden,  sich  dadurch  nicht  werde 
abhalten  lassen,  den  Vertrag  doch  zu  vollziehen.  Am  10.  Jan. 
1566  holte  ein  savoyischer  Agent,  Gavain  von  Beaufort,  die 
beiden  Urkunden  in  Bern  wieder  ab,  und  Emanuel  Philibert 
bemühte  sich  nun  in  der  That,    von  beiden  Höfen  eine  Bern 


*)  «Aussi  Sire  il  semble  que  ayant  vostre  Majestä  droict  ä  la 
succession  de  Savoye  les  Bernois  desireroient  obtenir  la  dicte  ap- 
probatiou  pure  et  simple».  Bellte  vre  an  Charles  IX.,  17.  März  156& 
(Gopie  im  BundesarchiY.) 

2)  Abschiede  IV  2,  1509. 

*)  Bellievre  au  Charles  IX,  17.  März  und  21.  April  1566. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  241 

besser  zusagende  Redaktion  derselben  zu  erlangen.1)  Karl  IX. 
suchte  zunächst  den  Bernern  durch  seinen  Botschafter  be- 
greiflich zu  machen,  dass  jene  Klausel  eine  allgemein  ge- 
bräuchliche, harmlose  Formel  sei  und  ihnen  keinen  Grund  zu 
Hisstrauen  gebe;  er  hätte  vielmehr  Ursache,  ihnen  zu  miss- 
trauen, da  sie  ohne  rechten  Grund  etwas  so  Ausserordent- 
liches von  ihm  verlangten.  Die  Berner  erwiderten  jedoch 
dem  französischen  Botschafter  «als  kluge  Leute*,  sie  hätten 
in  dieser  Sache  von  seiner  Majestät  gar  nichts  verlangt,  und 
er  könne  sich  die  Mühe  sparen ;  sie  hätten  darin  einzig  mit  dem 
Herzog  ron  Savoyen  zu  thun,  der  sich  ihnen  gegenüber  ver- 
pflichtet habe,  die  Approbation  in  einer  ihren  Wünschen  ent- 
sprechenden Form  zu  erlangen;  so  wie  sie  vorliege,  genüge 
*ie  keineswegs  für  die  Sicherheit,  die  ihnen  der  Herzog  ver- 
sprochen habe,  und  sei  ihnen  eher  schädlich  als  nützlich. 
Nach  längerem  Zögern  entschloss  sich  der  französische  Hof 
im  Juli  1566,  jenen  Vorbehalt  zu  streichen,  weil  man  nach 
den  Berichten  des  Botschafters  die  Berner  im  Verdachte 
hatte,  sie  lauerten  nur  auf  einen  Vorwand,  um  sich  der 
Restitution  zu  entziehen.2)  Philipp  II.  dagegen  liess  sich 
zu  keiner  Abänderung  herbei.3) 

Vielleicht    hatten    die  Franzosen    mit    ihrem  Verdachte 
nicht  ganz  Unrecht.    Abgesehen  von  dem  Bedauern,  ein  schon 


\>  Emanuel  Philibert  an  Bern  12.  Dez.  1565  und  7.  Febr.  156G; 
Empfangschein  des  Gavain  de  Beaufort  für  die  Ratifikationsurkun- 
den vom  10.  Jan.  1566  (Staatsarch.   Bern,   Savoybuch  C   373—79.) 

*)  Charles  IX.  an  Bellievre  27.  Febr.  1566 ;  Bellievre  an  Char- 
les K.  17.  März,  21.  April,  15.  August  1566.  Charles  IX  an  Bei- 
rre 2.  April,  19.  April,  4.  Mai  1566.  Catharina  an  Bellievre, 
30.  Joli  1566.     (Copien  im  Bundesarchiv). 

3)  Bellievre  an  Charles  IX.  21.  Mai,  an  Catharina  1.  Juni  1567 
Copien  im  Bundesarchiv). 

16 


242  Der  Lausanuer  Vertrag  von  1564. 

so  lange  beherrschtes  Gebiet  ans  der  Hand  geben  zu  müssen, 
dürfte  wohl  die  Rücksicht  auf  Genf  Bern  veranlasst  Laben, 
den  Mängeln  der  Ratifikationsurkunden  eine  solche  Wichtig- 
keit beizumessen.  *)  Gemäss  den  Abmachungen  von  Lausanne 
hatten  Genf  und  Savoyen  mit  Beginn  des  Jahres  1565  auf 
verschiedenen  Konferenzen  über  das  zu  bestellende  Schiedsge- 
richt verhandelt.  Der  Herzog  schlug  die  elf  Orte  vor,  wo- 
rauf die  Genfer  wohlweislich  nicht  eingingen,  weil  sie  von 
einem  Gericht,  dessen  Mehrheit  aus  Katholiken  und  Verbün- 
deten Savoyens  bestand,  nicht  viel  Gutes  zu  erwarten  gehabt 
hätten.  Sie  beriefen  sich  darauf,  dass  die  zu  Lausanne  vor- 
gesehene Wahl  eines  Obmanns  eine  gerade  Zahl  von  Schieds- 
richtern voraussetze,  und  schliesslich  einigte  man  sich  auf 
die  Kantone  Zürich,  Luzern,  Uri,  Schwyz,  Basel  und  Schaff- 
hausen, drei  evangelische  und  drei  katholische,  deren  Ver- 
treter am  1.  April  1565  zu  Rolle  in  Funktion  treten  sollten. 
Allein  von  einem  derart  zusammengesetzten  Gerichte  hatte 
wieder  Emanuel  Philibert  nicht  viel  zu  hoffen,  weshalb  er 
den  Zusammentritt  desselben  immer  wieder  hinausschob,  in 
der  Meinung,  durch  direkte  Verhandlungen  mit  Genf  eher 
ans  Ziel  zu  gelangen.  Aber  die  Genfer  waren  nicht  dahin 
zu  bringen,  dem  Herzog  das  kleinste  Zuges tändniss  zu  machen, 
das  ihm  gestattet  hätte,  wieder  einen  Fuss  in  die  Stadt  hin- 
einzusetzen. So  blieb  der  Streit  zwischen  ihnen  und  Savoyen 
unausgetragen  in  der  Schwebe,  und  es  ist  begreiflich,  dass 
die  Berner,  so  lange  der  Herzog  zu  keinem  Verzicht  auf 
seine  Genferpläne    zu  bringen    war,    sich    doppelt   besannen. 


l)  Schon  in  der  Instruktion  für  den  Tag  zu  Lausanne  hatte 
Bern  seinen  Boten  Auftrag  gegeben,  mit  der  Einsetzung  Savoyens 
nicht  zu  eilen,  sondern  «so  vil  immer  möglich  anhalten,  das  zuvor 
die  Jenfisch  sach  uf  ein  gewüssen  Verstand  gepracht»  (Instruktionen- 
buch  286). 


Der  Lausanuer  Vertrag  von  1564.  243 

ihm  das  Land  und  die  festen  Plätze  rings   um  ihre  Bundes- 
5-tadt  auszuliefern.  !) 

Emanuel  Philibert  beklagte  sich  wiederholt,  über  die 
Nichterfüllung  des  Lausanner  Vertrages  auf  der  Tagsatzung 
und  forderte  die  Eidgenossen  auf,  Bern  zur  Vollziehung  des 
Vertrages  anzuhalten,  aber  ohne  Erfolg,  da  sich  dieses  auf  den 
unannehmbaren  Vorbehalt  des  Königs  von  Spanien  berufen 
könnt«, 2) 

Schon  brach  das  Jahr  1567  an,  und  noch  immer  resi- 
dirten  bernische  Landvögte  in  Thonon,  Ternier  und  Gex. 
Aber  mit  ihm  schien  auch  der  Augenblick  gekommen,  wo 
Bern  dem  längst  gefürchteten  vereinigten  Angriff  Savoyens 
und  Spaniens  ins  Auge  sehen  musste.  In  Oberitalien  sam- 
melte sich  ein  auserlesenes  spanisches  Heer;  es  war 
dasjenige,  das  Alba  nach  den  Niederlanden  führen  sollte. 
In  Bern  glaubte  man  aber  nichts  anderes,  und  das  Gerücht 
bestätigte  es,  als  dass  diese  Armee  dazu  bestimmt  sei,  Genf 
und  die  bernischen  Eroberungen  einzunehmen,  im  Bunde  mit 
Emanuel  Philibert,  der  ebenfalls  Truppen  zusammenzog.  Bern 
machte  daher  einen  Auszug  von  12,000  Mann  sainmt  seiner 
ganzen  Artillerie  marschbereit,  schickte  Gesandte  nach  Genf, 
am  für  die  Sicherung  der  Stadt  Vorsorge  zu  treffen8)  und 
veranstaltete  mit  Freiburg  und  Wallis  am  21.  Januar 
und  20.  Februar  1567  Zusammenkünfte,  um  sich  mit  ihnen 
als  den  nächst  Interessirten  zu  gemeinsamer  Verteidigung 
der  eroberten  Lande  ins  Einvernehmen  zu  setzen.  Aber  die 
beiden  Stände  schienen  es  nur  darauf  abgesehen  zu  haben, 
Berns  Beunruhigung  auszunutzen,   um   ihm  Land   und  Leute 


*)  Roget,  bist,  du  peuple  de  Geneve  VII 117  ff.,  145  ff. 
*)  Abschiede  IV2  333,  342,  362. 

s)  Bellicvre    an   Charles  IX.   und   Catharina   9.  Jan.,   6.  Febr. 
1567.    Roget  VII  211  ff. 


244  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

abzupressen.1)  Wohl  hatte  das  Wallis  sich  ebenfalls  in 
Kriegsbereitschaft  gesetzt,  aber  es  forderte,  «die weil  es  des 
Lands  gar  wenig  und  allso  zu  nampsen  anders  nützid  dann 
Geissberg  besitze»,  als  Preis  seiner  Mitwirkung  einen  Theil 
des  Gebiets,  das  Bern  dem  Herzog  habe  abtreten  wollen,  und 
zog  sich,  als  dieses  nicht  darauf  eingehen  wollte,  von  den  Be- 
rathungen  zurück.  Freiburg,  dem  um  seinen  An  theil  an 
der  Waadt  ebenfalls  bange  wurde,  gab  anfänglich  Bern  die 
Zusage,  an  die  Beschirmung  der  eingenommenen  Lande  gegen 
einen  Angriff  Spaniens  und  Savoyens  zu  ihm  Leib  und  Gut 
setzen  zu  wollen,  knüpfte  aber  auch  die  Bedingung  daran,  dass 
es  ihm,  falls  der  Vertrag  von  Lausanne  keinen  Bestand  ge- 
winne, einen  Theil  der  drei  für  Savoyen  bestimmten  Vogteien 
überlasse.  Auch  weigerte  es  sich,  in  Betreff  Genfs  irgend 
welche  Zusage  zu  geben,  verlangte  aber  doch,  dass  dieses 
ihm  «offene  Stadt»  sein  müsse.  Als  Bern  die  Freiburger 
bat,  von  ihren  Forderungen  abzustehen,  damit  es  nicht  scheine, 
als  ob  eine  Stadt  die  Bundeshülfe  der  andern  mit  Land  und 
Leuten  zu  kaufen  gezwungen  werde,  zumal  mit  solchen,  über 
die  in  einer  Verhandlung,  deren  Ausgang  noch  niemand  kenne, 
bereits  verfügt  sei,  sandten  jene  eine  Botschaft  nach  Bern, 
welche  am  19.  und  20.  März  vor  dem  Grossen  Käthe  brüder- 
liche Hilfe  verhiess,  wenn  man  das  eroberte  Land  zum  Er- 
satz der  Kosten  mit  ihnen  theile.  Die  Berner  waren  über 
diese  Unverfrorenheit  so  entrüstet,  das6  sie  die  Verhandlungen 
abbrachen  und  den  Freiburgern  antworteten,  sie  stellten  nun 
den  Ausgang  der  Sache  dem  lieben  Gott  anheini. -) 


*)  Nach  dem  französischen  Botschafter  sagte  man  in  Freiburg 
«que  les  Bernoys  estoient  reduietz  a  telz  termes  que  plus  tost  que 
de  se  passer  du  secours  du  Ct.  de  Friboürg  ilz  aecorderoient  de 
partir  egalement  les  pays  conquestes  ce  que  le  peuple  trouva  hon* 
Bellievre  an  Charles  IX.  27.  April  1567  (Gopie  im  Bundesarchiv). 

2)  Abschied,  Freiburg  20.  Febr.  1567.  Der  Stadt  Bern  Gegenant- 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  245 

Keinen  bessern  Erfolg"  hatte  Bern  mit  eiflem  Appell  an 
die  Bandestreue  der  Eidgenossen.  Längst  darüber  belehrt, 
dass  es  für  die  Beschirmung  seiner  savoyischen  Lande  auf 
eine  regelrechte  Bundeshilfe  nicht  zu  rechnen  habe,  verlangte 
es  von  den  übrigen  Orten,  wie  eine  fremde  Macht,  im  März 
1567  je  ein  Fähnlein  Knechte  auf  seine  Kosten,  gegen  ge- 
bührliche Besoldung.  Aber  was  die  Eidgenossen  ohne  An- 
stand Frankreich,  dem  Papst,  Venedig  bewilligten,  das  ver- 
weigerten sie  ihren  Miteidgenossen  von  Bern.  Die  katho- 
lischen Orte  beschlossen,  ihm  eine  ausweichende  Antwort  zu 
LvbeD,  da  sie  es  seiner  Zeit  gewarnt  hätten,  man  werde  sich 
seiner  nicht  annehmen,  wenn  ihm  wegen  der  savoyischen 
Lande  etwas  zustossen  sollte.  Aber  auch  Zürich  er t heilte 
seinen  Boten,  die  im  April  auf  der  Tagsatzung  zu  Baden 
Antwort  geben  sollten,  die  Weisung,  nur  zu  «losen»,  wie 
sich  andere  Eidgenossen  dazu  verhielten  und  «nit  fürzu- 
schiessen.»  Aehnlich  Glarus  und  Appenzell;  einzig  Basel 
und  Schaffhausen  äusserten  sich,  man  sei  Bern  im  Fall  der 
Xoth  zur  Hilfe  verpflichtet.1)  Zum  Glück  beruhte  Berns 
Unruhe  auf  einer  irrigen  Annahme.    Wohl  liess  Papst  Pius  V. 

uort  über  den  Jetztgethanen  Entschluss  der  Stadt  Freiburg,  6.  März. 
Fiviburg  an  Bern,  13.  und  24.  März  1567  (Staatsarch.  Bern, 
ftvorbnch  G  387—435).  Bellievre  an  Gatharina  und  Karl  IX.,  20. 
«od  28.  Februar,  13.  und  28.  März,  27.  April  1567.  Heydt  und 
Praroman  an  Bellievre  22.  März  1567  (Copien  im  Bundesarchiv). 
Karl  IX.  erwidert  am  12.  April :  « Jay  trouve  estrange  que  l'in- 
Mligenee  qui  avayt  este  traicte  entre  les  dietz  Bernoys  et  ceulx 
de  Fribourg  et  Valays  se  soyt  ainsy  dissoulte».  Das  Ausland 
Konnte  sich  zum  Glück  nicht  vorstellen,  wie  weit  die  Zersetzung  des 
Hfipenössischen  Sinnes  bereits  vorgeschritten  war. 

!)  Abschiede  IV  2  354,  357,  361.  Bern  an  Zürich  17.  März 
1567  und  Ratbschlag  der  Verordneten  darüber  (Staatsarchiv  Zürich, 
iVrnj.  Instruktion  für  die  Gesandten  nach  Solothurn,  22.  März 
1567  (Staatsarch.  Bern,  Savoyen  1566—1779,  Nr.  5). 


246  *  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

dein  König  von  Spanien  durch  den  Nuntius  den  Wunsch  aus- 
drücken, er  möchte  durch  Alba  Genf  zerstören  lassen.1) 
Wenn  Philipp  aber  je  solche  Pläne  bei  sich  erwogen  hatte, 
so  brachten  ihn  die  Rüstungen  der  Berner  und  das  huge- 
nottische Kriegsvolk,  das  massenweise  nach  Genf  strömte, 
rasch  davon  ab,  und  er  war  entschlossen,  alles  zu  unter- 
lassen, was  den  Marsch  seiner  Armee  nach  Norden  gefährden 
könnte.  Er  sandte  daher  den  Grafen  von  Anguisola  in  die 
Schweiz,  um  die  Berner  über  seine  Absichten  zu  beruhigen: 
der  Gesandte  anerbot  sich  sogar  in  Bern  als  Geisel  zu  bleiben, 
bis  die  Armee  vorüber  sei.2)  Auch  Emanuel  Philibert  Hess 
die  Berner  wiederholt  auf  Ehrenwort  versichern,  dass  er 
nichts  Feindliches  gegen  sie  im  Schilde  führe,  dass  sein 
Kriegsvolk  keinen  andern  Zweck  habe,  als  sein  Land  während 
des  Durchpasses  der  Spanier  zu  schützen.  In  der  That  hatte 
er  gar  kein  Interesse  daran,  die  Spanier  in  solcher  Macht 
in  Genf  zu  sehen,  da  es  sehr  fraglich  gewesen  wäre,  ob  sie 
ihm  die  der  Freigrafschaft  so  nahe  gelegene  Stadt  herausgegeben 
hätten.8; 

Wohl  aber  stand  der  kluge  Fürst  nicht  an,  die  Furcht, 
welche  die  Ansammlung  der  Spanier  in  der  Lombardei 
und  in  Piemont  in  Bern  erregte,  in  seinem  Interesse  zu 
verwerthen.  Am  3.  Mai  1567,  wenige  Wochen  vor  dem 
Aufbruch  Albas,  sandte  er  den  Grafen  von  Montmaycur 
und  den  Herrn  von  Beaufort  mit  den  beiden  Ratifikations- 


>)  Rogct,  hist.  de  Ueneve  VII  225. 

*)  Abschiede  VI  2  359,  361,  Roget  VII,  216. 

3)  Abschiede  IV  2  361,  Schreiben  von  Dubochet  und  Montfort 
an  Bern,  4.  und  5.  Mai  1567  (Staatsarch.  Bern,  Savoyen  1566— 1779 
N.  12  u.  13).  Bellte  vre  an  Charles  IX.,  5.  Mai  1567.  Vgl.  Ro*et  VII 
227.  Emanuel  Philibert  an  Bern,  26.  Mai  1567  (St.  Bern.  Savoy- 
buch  C,  S.  445). 


Der  Lausanncr  Vertrag  von  1564.  247 

Urkunden,  der  verbesserten  französischen  und  der  unverändert 
gebliebenen  spanischen,  nach  Bern  mit  einem  in  sehr  ent- 
schiedenem Tone  abgefassten  Begleitschreiben.  Wenn  er  die 
Ratifikationen  nicht  in  solcher  Form  beibringen  könne, 
wie  zw  wünschen  wäre,  so  habe  er  doch  alles  ange- 
wendet, um  dem  Begehren  der  Bern  er  entgegenzukommen, 
wie  wohl  er  durch  den  Lausanner  Vertrag  nicht  dazu  ver- 
pflichtet gewesen  wäre,  da  sich  in  demselben  kein  bezügliches 
Versprechen  von  seiner  Seite  finde.  «Wir  nehmen  an,  dass 
ihr  der  gänzlichen  Vollziehung  des  Vertrages  kein  Hinderniss 
mehr  entgegensetzen  werdet,  um  die  zwischen  uns  bestehende 
^nte  Freundschaft  zu  erhalten*.1)  Die  Besorgniss  vor  dem 
spanischen  Angriff  zusammen  mit  den  misslichen  Erfahrungen, 
welche  die  bernischen  Staatsmänner  mit  den  Eidgenossen, 
selbst  mit  den  zunächst  interessirten,  gemacht,  hatten  ihre 
Widerstandskraft  erschöpft..  Man  sah  jetzt  über  die  Mängel 
der  spanischen  Ratifikation  hinweg.  Mit  allen  gegen  30 
Stimmen  beschloss  der  Grosse  Rath  am  29.  Mai  1567,  die 
Vollziehung  des  Lausanner  Traktates  vor  sich  gehen  zu 
lassen,  schob  aber  immerhin  vorsichtig  den  Termin  der 
Ucbergabe  der  drei  Vogteien  bis  zum  Bartholomäus  tage 
i24.  August)  hinaus,  um  während  des  bevorstehenden  Durch- 
marsches der  Spanier  durch  Savoyen  und  die  Freigrafschaft 
iie  Landschaften  um  Genf  herum,  namentlich  den  Pas  de 
TEcluse,  noch  in  der  Hand  zu  behalten.  Emanuel  Philibert 
fand  zwar  den  Termin  sehr  lang,  gab  sich  indess  damit  zu- 
frieden und  versprach  aufs  Neue,  den  Vertrag  von  Xyon  ge- 
treulich beobachten,  sowie  auch  die  seit  dem  Lausanner  Ver- 
trag ergangenen,  auf  die  drei  Vogteien  bezüglichen  Urtheile 


!)  Kredenzbrief  Emanuel   Philiberts   für  die   Gesandten    3.  Mai 
1567  (St.  Bern,  Savoyen  1566—1779  N.  11). 


248  Der  Lausanncr  Vertrag  von  1564. 

und  Kontrakte  in  Kraft  bestehen  lassen  zu  wollen.1)  Am 
20.  Juni  wurden  die  auf  die  beidseitigen  Gebiete  bezüglichen 
Urkunden  ausgewechselt.  Sechs  Tage  später  überschritt 
Alba  den  Mont  Cenis,  und  im  Lauf  des  Juli  marscliirten  die 
Spanier  in  geringer  Entfernung  an  Genf  vorbei,  ohne  eine 
Demonstration  gegen  die  Stadt  oder  die  bernischen  Vogteien 
zu  unternehmen.  Unterdessen  einigten  sich  Bern  und  der 
Herzog  über  die  Formen  der  Uebergabe;  auf  Berns  Wunscb 
wurden  von  beiden  Parteien  vier  von  den  eidgenössischen 
Vermittlern,  Schultheiss  Jost  Pfyffer  vonLuzern,  Land- 
aminann  Reding  von  Schwyz,  Landammann  Schaler  von 
Glarus  und  Bürgermeister  Krug  von  Basel,  eingeladen,  der 
Vollziehung  des  Lausanner  Vertrages  beizuwohnen.  Am 
19.  August  trafen  die  eidgenössischen  Kommissäre  in  Bern 
ein,  wo  sie  mit  grossen  Ehren  empfangen  wurden.  Dann 
ritten  sie  mit  der  bernischen  Uebergabskommission,  die  aus 
dem  Schultheissen  Hans  Steiger,  dem  Statthalter  Beat  Lud- 
wig von  Mülinen,  den  Seckelmeistern  Nikiaus  von  Graffen- 
ried  und  Hieronymus  Manuel  nebst  zwei  Mitgliedern  des 
Grossen  Käthes,  Bendicht  von  Diesbach  und  Hans  Jakob 
Delsberger  bestand,  ins  Welschland.  Sonntags  am  24.  Aug. 
wurde  Gex,  am  25.  Ternier,  am  27.  Thonon  den  herzoglichen 
Behörden  übergeben,  nachdem  am  26.  Eidgenossen,  Berner, 
Genfer  und  Savoyarden  einträchtig  an  einem  grossen  Bankett 
von  neun  Tischen,  das  die  Stadt  Genf  den  Kommissären  zu 
Ehren  gab,  getafelt  hatten.2) 


1)  Tillicr  III  425.  Emanuel  Philibert  an  Bern,  5.  Juni  1567 
(St.  Bern,  Savoybuch  C  447).  Bellievre  an  Catharina  30.  Mai, 
an  Karl  IX  1.  Juni  1567  (Gopien  im  Bundesarchiv). 

2)  Duboehet  an  Bern,  26.  Juli  1567,  Basel,  Glarus,  Luzern  und 
Schwyz  au  Born  9./10.  August  1567  (St.  Bern,  Savoybuch  C  511 
bis  523).    Tillicr  III  426,  Roget  VII  231. 


Der  Lausauner  Vertrag  von  1564.  249 

Damit  hatte  die  schweizerische  Herrschaft  am  Südufer 
des  Leinan  dank  der  kläglichen  Zerrüttung,  welcher  der  eid- 
genössische Gedanke  durch  die  konfessionellen  Händel  an- 
heimgefallen war,  ein  Ende.  Es  war  klar,  dass  nun  auch 
das  Wallis  seinen  Theil  am  Chablais  nicht  oder  wenigstens 
nicht  ganz  behaupten  konnte,  nachdem  es  in  kurzsichtigem 
Egoismus  verschmäht  hatte,  sich  zur  gemeinsamen  Verteidi- 
gung des  Eroberten  an  Bern  anzulehnen.1)  Am  4.  März  1569 
schloss  es  mit  Emanuel  Philibert  zu  Thonon  Frieden  und 
Bündniss,  kraft  dessen  ihm  das  untere  Rhonethal,  die  Vogtei 
Monthey,  verblieb,  dagegen  Evian,  St.  Jean  d'Aulph  und 
Abondance  an  Savoyen  zurückkehrten.  Das  Flüsslein  Morge, 
das  St.  Gingolph  mitten  durchmesst,  bildete  nun  statt  der 
Dranse  die  Wallisergrenze.2)  Freiburg  musste  seine 
schnöde  Haltung  gegen  Bern  insofern  büssen,  als  es  noch  ein 
Jahrzehnt  hindurch  im  Besitz  der  «Grafschaft  Romont»,  wie 
man  seinen  An  theil  an  der  Waadt  kurzweg  betitelte,  beun- 
ruhigt wurde  und  sich  lange  vergeblich  um  eine  «Quittung»  von 
Seiten  des  Herzogs  bewarb.  Erst  im  September  1578  wurde 
ihm  diese  durch  Vermittlung  der  V  Orte  zu  theil  als  Lohn 
für  seinen  Beitritt  zu  dem  damals  noch  enger  geknüpften 
Sonderbund  der  katholischen  Orte  mit  Savoyen  und  der  da- 
mit verbundenen  ausdrücklichen  Preisgebung  Genfs.8) 

Dafür  wachte  Bern  unermüdlich  über  die  Sicherheit  der 


l)  Sofort  nach  erfolgter  Restitution  in  den  drei  hernischen  Vok- 
t'i^n  sandte  der  Herzog  Botschaften  nach  Freiburg  und  Wallis,  um 
ernstlich  die  Rückgabe  der  eroberten  Gebiete  zu  betreiben.  Bel- 
lievre  an  Catharina,  8.  Okt.  1567  (Bundesarchiv). 

2J  Vertrag  von  Thonon,  4.  März  1569  (Copie  aus  dem  Archiv 
Sitten,  mir  gütigst  mitgelheilt  von  Hrn.  Bundesarchivar  Dr.  Kaiser). 

3)  Abschiede  IV  2,  504,  570,  600,  605,  616,  620,  650,  652,  654, 
€58,  666. 


250  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

Stadt  Calvins.  Im  Mai  1570  brachte  es,  indem  es  die  Er- 
neuerung seines  alten  Bundes  mit  Savoyen  davon  abhängig 
machte,  einen  «modus  vivendi»  auf  23  Jahre  zu  stände,  worin 
der  Herzog,  ohne  seine  Ansprüche  endgültig  aufzugeben» 
Genf  für  die  Dauer  des  Vertrages  sichern  Frieden  und  freien 
nachbarlichen  Verkehr  zugestand.') 

Man  hätte  meinen  sollen,  dass  die  Eidgenossen,  wenn 
nicht  Genf,  so  doch  wenigstens  die  Waadt,  die  sie  selber 
Bern  als  rechtmässiges  Eigenthum  zugesprochen ,  auf  die 
Savoyen  ewigen  und  vollständigen  Verzicht  geleistet  hatte, 
nunmehr  in  den  eidgenössischen  Bund  und  Schirm  aufge- 
nommen hätten.  Nach  der  Stiftung  des  neuen  «hülflichen* 
Sonderbundes  der  VI  katholischen  Orte  mit  Savoyen  mit  seiner 
gegen  Genf  gerichteten  Spitze  hielt  es  Bern  für  nöthig,  im 
Juni  1578  eine  bestimmte  Erklärung  zu  verlangen,  ob  dio 
Eidgenossen  die  ihm  durch  ihren  Spruch  zuerkannte  Waadt 
wie  sein  altes  Gebiet  in  die  Bünde,  in  Schutz  und  Schirm 
aufzunehmen  gesinnt  seien.  Da  krönten  die  V  Orte  ihr  bis- 
heriges Verhalten,  indem  sie  beschlossen,  dem  «neugewonnenen 
Land»  den  eidgenössischen  Schirm  zu  versagen  und  damit,  so- 
weit es  auf  sie  ankam,  die  Waadt  an  Savoyen  preiszugeben. 
Zürich  dagegen  stellte  am  21.  Januar  1583  Bern  dfc 
gewünschte  Erklärung  aus,  wie  es  1584  auch  dem  Bunde  mit. 
Genf  beitrat.  Schaff  hausen,  Basel  und  G 1  a  r  u  s 
folgten  in  betreff  der  Waadt  im  gleichen  und  im  nächsten 
Jahre. 2) 

So  war  endlich  wenigstens  für  die  evangelischen  Orte 
die  Schweizergrenze  von  Murten  bis  an  den  Genfersee  vor- 
gerückt   Von    den  katholischen   Orten   gaben  nur  Fri'iburg 


l)  Oechsli,  Orte  und  Zugewandte  460. 

*)  Absch.  IV  2,  653,  658,  662,   681,  683,   769,  795.    Aren,  für 
Schweiz.  Reformalionsgesdiichtc  III  237. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  251 

and  Solothurn  Zusagen,  die  sie  aber  nachher  wieder  zurück- 
nahmen. Erst  ein  Jahrhundert  Bpäter,  im  Dezember  1690 
und  Januar  1691,  stellten  auch  Luzern,  Fr  ei  bürg  und 
Solothurn  nebst  dem  Abt  yon  St.  Gallen  trotz  der 
Proteste  des  Nuntius  und  Savoyens  die  Erklärung  ans,  dass 
sie  Berns  welsche  Lande  in  den  «allgemeinen  eidgenössischen 
Band  und  Schirm»  aufnähmen.*)  Für  die  katholischen  Länder 
aber  lag  die  Waadt  noch  1798  ausserhalb  der  Grenze  der 
Eidgenossenschaft. 

VII. 

Die  angebliche  Garantie   der  Freiheiten  der  Waadt  durch 

Frankreich. 

Der  Lausannervertrag  von  1564  hat  nach  langem  Ver- 
schollensein in  neuerer  Zeit  wieder  ein  aktuelles  Interesse  ge- 
wonnen, indem  er  wiederholt  für  politische  Zwecke  angerufen 
worden  ist.  So  vom  schweizerischen  BundesratJi  in  seiner 
Protestnote  an  die  Mächte  vom  19.  März  1860  gegen  die 
Abtretung  Savoyens  an  Frankreich8),  so  insbesondere  von 
den  Franzosen  zur  Rechtfertigung  ihrer  Invasion  in  die 
Schweiz  im  Jahre  1798,  indem  sie  sich  die  Argumentation 
Laharpe's  zu  eigen  machten,  wonach  der  Herzog  von  Savoyen 
im  Lausanner  Vertrag  die  Freiheiten  der  Waadt  vorbehalten 
habe  und  Frankreich  durch  die  Ratifikationsurkunde  vom 
26.  April  1565  zum  Garanten  des  Vertrages  und  damit  auch 
der  Freiheiten  des  Waadtlandes  geworden  sei. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  die  Behauptungen  Laharpe's 
und  das  Verfahren  des  französischen  Direktoriums  im  Jahre  i 

1798  einer  ausreichenden   historischen  Würdigung  zu  unter- 

lj  Oechsli,  Orte  und  Zugewandte  139,    464  ff.,   480  f.,    483,  wo  j 

die  Belegstellen  angegeben  sind.  , 

vi  Bundesblatt  1860  I  503.  ! 


252  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

ziehen1);  dagegen  gehört  es  zur  Vervollständigung  dieser 
Untersuchung,  zu  prüfen,  ob  wirklich  der  Vertrag  Ton  Lau- 
sanne eine  Gewährleistung  der  politischen  Freiheiten  der 
Waadt  enthält  und  ob  die  Ratifikationsurkunde  Karls  IX* 
den  Charakter  einer  Garantie   des  Vertrages   an   sich  trägt 

Der  von  Laharpe  und  seinen  Nachtretern  angerufene 
Artikel  des  Lausanner  Vertrages  ist   der  achte.    Er  lautet: 

«Zum  achten  haben  wir  die  Schidmener  bedacht,  das 
mit  der  nechsten  vorgenden  Lütrung  allen  sonder- 
baren Personen,  Edlen  und  Unedlen,  ouch  allen  Stetten, 
Dörffern  und  Comunen  an  iren  sonderbaren  gütern,  Eigen- 
thuinben,  Lechnen,  Weidtgengen,  Veldferten,  Hölltzern,  Vel- 
dern,  guten  gewonheitten ,  prüchen  und  gerechtigkheyten, 
wie  die  jetziger  Zytt  in  gang  und  Uebung  sindt,  nützit 
benomen  noch  verthediget  sin,  sondern  das  mengk- 
licher,  der  Oberkeyt  halb  unverhindert,  by  siner  hargeprachten 
gerechtigkheyt,  gewerd  und  besitzung,  ouch  by  sinein  Brief! 
und  Siglen  beliben  solle».2) 

Durch  die  Worte  «das  mit  der  nechsten  vorgenden  Lüt- 
rung .  .  .  nützit  benomen  noch  verthediget  sin  solle»  gibt  sich 
der  achte  Artikel  deutlich  als  eine  Restriktion,  als  Vorbe- 
halt zum  vorangehenden  siebenten  zu  erkennen,  der  be- 
stimmt, dass  die  Landesgrenze  zwischen  Bern  und  Savoyen 
den  Besitz  der  kirchlichen  Güter  und  Einkünfte  scheiden 
solle.  Der  achte  Artikel  sagt  also  nicht  mehr  und  nicht 
weniger,  als  dass  diese  Scheidung  nach  der  Landmarch  für 
die  von  ihm  aufgeführten  Dinge  nicht  gelte.  Vorbehalten, 
d.  h.  nicht  von  der  Ausscheidung   nach   der  Landmarch  be- 


J)  Vgl.  dazu  die  lehrreichen  Artikel  von  Vau  eher  im  Anzeiger 
für  Schvveizergeschichte  V  300 ff.,  VI  347  ff.  und  von  Dunant  eben- 
daselbst VII  257  und  in  der  Revue  Vaudoise  1897. 

2)  Abschiede  IV  2  1501.    Vgl.  Beilage. 


Der  Lau san ner  Vertrag  vou  1564.  253 

troffen  werden  Privat-  und  Communalgüter :  Eigenthnni, 
Lehen,  Weidgänge,  Feldfahrten  (d.  h.  Fahrwege  über  Geinein- 
weiden, bezw.  das  Recht  ihrer  Benutzung),  Hölzer,  Felder, 
?ute  Gewohnheiten,  Bräuche  und  Gerechtig- 
keiten Ton  Edeln  und  Unedeln,  Städten,  Dörfern  und  Ge- 
meinden. Dass  es  sich  bei  diesen  guten  Gewohnheiten,  Bräuchen 
und  Gerechtigkeiten  einfach  um  ökonomische  Gerechtsame, 
nicht  um  politische  Freiheiten  handelt,  ergibt  sich  sowohl  aus 
der  Zusammenstellung  mit  den  Hölzern  und  Feldern,  wie 
auch  aus  der  Beziehung  auf  den  siebenten  Artikel,  vermöga 
deren  es  sich  nur  um  Dinge  handeln  kann,  die  den  «Zinsen, 
Zechenten,  Renten  und  Gülten  der  Eilchen,  Clöstern  und 
Stuften <rütern>  gleichartig  sind.  Auch  der  Schlusssatz  des 
achten  Artikels,  die  eigentliche  Bestätigungsklausel,  sagt 
nichts  anderes  als :  jedermann  solle  bei  seiner  hergebrachten 
-Gerechtigkeit,  Gewerd  (d.  h.  Besitz  an  Immobilien)  und 
Besitzung»,  bezw.  bei  seinem  «Brief  und  Siegel*,  d.h.  seinem 
Rechtstitel  auf  die  Güter  und  Gerechtsame  bleiben,  «der 
Oberkeit  halb  unverhindert»,  d.  h.  gleichviel  ob  die  Besitz- 
objekte in  savoyischem  oder  bernischem  Staatsgebiet  liegen. 
Nirgends  ist  in  diesem  Artikel  die  Rede  von  Freiheiten, 
Privilegien  und  Immunitäten,  von  «.franchises,  Ubertts,  im- 
munitis,  priciUges-»^  wie  der  technische  Ausdruck  für  die 
politischen  Rechte  im  Waadtland  lautete,  oder  von  den  Frei- 
heitsbriefen, Statuten,  Ordonnanzen,  Largitionen,  geschrie- 
benen und  ungeschriebenen  Gewohnheiten  und  Freiheiten  des 
Landes,  der  Stände  und  der  Städte,  welche  die  savoyischen 
Forsten  so  oft  bestätigt  und  die  Waadtländer  so  oft  ange- 
rufen hatten.1) 


')  Vgl.  Grenus,  Documenta  relatifs  ä  l'bistoirc  du  pays  de 
Vaud:  «ies  lettres  des  Ubertes  et  franchises  de  la  vilie  de  Moudon 
«'$);  les  bonnes  coutumes,  franchises  et  libertis  dudit  pays  (S.  35); 


254  Der  Lausauner  Vertrag  von  1564« 

Wer  die  zahllosen  Urkunden  vom  13.  bis  16.  Jahrhundert 
durchgeht,  die  auf  die  politischen  Rechte  und  Freiheiten  der 
Waadt  Bezug  haben,  für  den  ist  kein  Zweifel  möglich,  dass 
der  Artikel  8  des  Lausauner  Vertrages  mit  den  letztem 
nichts  zu  thun  hat. 

Zu  dem  gleichen  Ergebniss  gelangen  wir,  wenn  wir  der 
Entstehung  des  Artikels  nachgehen.  Es  ist  eine  unrichtige 
-Behauptung  Laharpe's,  dass  der  Herzog  von  Savoyen  diesen 
Vorbehalt  den  Bernern  auferlegt  habe.  Die  Urheber 
•des  Artikels  sind  vielmehr  umgekehrt,  wie  über- 
haupt von  beinahe  sämmtlichen  Artikeln  des 
Lausanner  Vertrages,  die  Bern  er  selber;  er  gehört 
zu  denjenigen,  die  im  ursprünglichen  Entwürfe,  den  sie  in 
Basel  aufstellten,  gestanden  hatten,  die  unverändert  in  den 
Spruch  der  Vermittler  übergegangen  und  mit  ihm  in  den 
Lausanner  Vertrag  aufgenommen  worden  sind.    Also  müssten 


•contre  les  libertis  et  franchises  du  pays  et  dudit  Yverdon  (90);  contre 
les  franchises  et  libertes  de  la  meine  patrie  (103) ;  contre  les  UbtrUs 
et  franchises  de  la  dite  ville  de  Moudon  et  de  tout  le  pays  de  Yaud 
(108);  pour  maiiitenir  les  libertes  et  franchises  du  pays  (153);  d'ob- 
server  les  libertis  et  franchises  icrites  et  non  icrites  de  la  ville  de 
Moudon,  ainsi  que  les  us,  coutumes  et  Statuts  desdits  de  Moudons 
(196);  touchant  leurs  franchises,  libertis,  emoluuiens  etc.  (210): 
quelque  privüege,  liberie  et  franchise  au  dit  pays  de  Vaud  concldees 
nonobstant  (164);  nous  ne  pretendons  pas  de  deroger  en  aueun 
point  aux  Privileges,  libertis  et  franchises ;  nous  louons,  homologuons, 
ratifions  et  confirmons  .  . .  toules  et  chaeune  les  franchises,  liberies. 
Privileges,  immunitix  et  coutumes  concedees  aux  dits  nobles,  bour- 
geois  et  habitante  (p.  36);  nous  reconfirmons,  ratiiions  et  approu- 
vons  cn  faveur  desdits  syndics,  des  hommes  et  des  couiniunautea 
des  villes,  des  plaees,  des  bourgs  et  des  mandements  du  dit  pays  de 
Vaud  et  de  leur  postente"  les  franchises,  les  liberies,  les  immunites, 
Privileges,  les  octrois  particuliers,  les  Statuts  et  reglemenis,  les  us 
et  coutumes  tant  icrites  que  non  icrites»  (p.  109),  u.  s.  w. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  255 

die  Berner  sich  selber  diesen  Vorbehalt  zu  Gunsten  der  Frei- 
heiten der  Waadt  auferlegt  haben.  Dass  sie  aber  den  von 
ihnen  verfassten  Artikel  nicht  so  verstanden,  geht  aus  der 
Art,  wie  sie  ihn  im  Mai  1563  zu  Basel  gegen  eine  savoyische 
YiTschliminbesserung  vertheidigten,  in  authentischer  Weise 
hervor:  «Der  Anhang,  den  F.  Dt.  Gesanthen  zu 
dem  VIII.  artickel  mit  duncklen  wortten  als 
«nach  gebär  und  billichheit»  zugethan,  ist 
begrifflich2)  und  verfinstert  den  handel,  der 
sonst  heyter  gnug  und  nämlich  den  Verstand 
hat,  das  mencklich  by  sinen  gittern,  eygenthum- 
ben  und  der  hochen  Oberkeit  halb  unersucht 
belyben,  hieinit  aber  nyemand  Recht  und  an- 
sprach ze  üben  versagt  noch  abgeschlagen  sin 
solle,  sonders  war  rechtens  nit  enbären  (will), 
das  der  sollichs  gegen  siner  Widerpart  suchen 
möge.>s) 

Der  von  den  Bernern  aufgestellte  Artikel  VIII  enthält 
also  nacli  der  authentischen  Interpretation  der  Urheber  selbst 
weiter  nichts  als  eine  Gewährleistung  von  Eigentumsrechten 
privatrechtlicher  Natur.  Von  einer  Gewährleistung 
der  politischen  Rechte  der  Waadt  findet  sich 
im  ganzen  Lausanner  Vertrag  keine  Spur,  ver- 
iuathlich  desshalb,  weil  niemand  daran  dachte,  am  wenigsten 
die  Savoyarden,  die  nicht  das  mindeste  Interesse  daran 
hatten,  irgend  etwas  zu  Gunsten  der  zu  Ketzern  und  Feinden 
gewordenen  Waadtländer  zu  stipuliren.  Im  Gegentheil  be- 
stimmt der  Vertrag,  dass  die  Waadt  sammt  dem  Stück  Chab- 


')  d.  i.  angreifbar,  tadelhaft. 

*)  Kurtzer  bescheyd  über  F.  Dt.  zu  Savoy  gesanthen  Inrod  uff 
der  Statt  Bern  gestelte  Artickel  (Staatsarch.  Bern,  Savoyen  1545—66, 
X.  152). 


256  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

lais  diesseits  des  Sees  den  «herren  der  Stadt  Bern  als  ihr 
recht  Eigenthum  bleiben  solle,  also  dass  sie  und  ihre  ewigen 
Nachkommen  dieselbige  Landschaft  Waadt  sammt  den  andern 
hievorbenannten  und  ihnen  jetzt  verordneten  und  zugetheilten 
Herrschaften  und  Flecken  hiefür  innehaben,  besitzen,  be- 
setzen, entsetzen,  nutzen  und  niessen  und  damit  thun,  han- 
deln, schalten  und  walten  sollen  und  mögen,  als  mit  andern 
ihren  eigenen  Landen  und  Herrschaften,  alles  ohne  dass  oft- 
genannte Fürstliche  Durchlaucht  zu  Sayoyen  noch  ihre  Erben 
und  Nachkommen  noch  jemand  anders  von  ihretwegen  be- 
meldte Herren  von  Bern  hernach  zu  ewigen  Zeiten  und  Tagen 
ferner  darum  anfechten,  bekümmern,  molestiren  noch  be- 
mühen solle  noch  möge,  in  was  Weise,  Gestalt  und  Weg  das 
immer  sein  und  geschehen  könnte  oder  möchte.»1) 

Da  der  Lausanner  Vertrag  weder  im  achten  Artikel 
noch  sonst  irgendwo  eine  Gewährleistung  der  Freiheiten  der 
Waadt  enthält,  so  könnten  die  Franzosen  keine  Ga- 
rantie dafür  übernommen  haben,  selbst  dann,  wenn 
die  Ratifikationsurkunde  Karls  IX.  wirklich  eine 
Garantie  des  Vertrages  ausspräche.  Aber  auch 
dies  ist  nicht  der  Fall.  In  der  Regel  fliesst  die  Ga- 
rantie eines  Dritten  bei  internationalen  Verträgen  aus 
dem  Amte  des  Vermittlers,  wie  z.  B.  bei  der  Mediations- 
akte von  1803  oder  bei  dein  Genfer  Mediationsregieraent  von 
1738.  In  dem  Streit  zwischen  Bern  und  Savoyen  waren 
aber  die  einzigen  ofticiell  anerkannten  Vermittler  die  elf  Orte. 
Wir  haben  gesehen,  wie  sich  Bern  ausdrücklich  die  von  Sa- 
voyen vorgeschlagene  Vermittlung  Frankreichs  und  Spaniens 
verbat.2)    Selbst  Spanien,  dessen  Einwirkung  eine  viel  stär- 


i)  Absch.  IV  2,  1499. 

2)  Wie  sorgsam  die  Berner  darüber  wachten,  dass  die  Anwesen- 
heit der  fremden  Gesandten  an  den  Vcrmittlerkonferenzen  nicht  un- 


Der  Lausanner  Yertrag  von  1564.  257 

kere  war,  als  diejenige  Frankreichs,  nahm  nicht  sowohl  die 
Stelle  eines  Vermittlers  als  diejenige  eines  Advokaten  Sa- 
Yoyens  ein.  Frankreich  vollends  spielte  eine  durchaus  sekun- 
däre Rolle,  da  das  Wohlwollen,  welches  Catharina  von  Medici 
wirklich  für  ihren  Schwager  empfunden  zu  haben  scheint, 
durch  die  Rücksichten,  die  sie  auf  Bern  nehmen  musste,  und  durch 
die  Eifersucht  auf  Spanien  gehemmt  war.  Während  Spanien 
energisch  für  Savoyen  ins  Zeug  ging,  führte  der  französische 
Botschafter  einen  Eiertanz  auf,  indem  er  Savoyen  zu  gefallen 
sachte,  ohne  doch  bei  den  Bernern  Anstoss  zu  erregen1), 
so  dass  jenes  in  ihm  sogar  einen  verkappten  Gegner  witterte. 
Es  ist  bezeichnend  für  den  geringen  Einfluss,  den  Frank- 
reich infolgedessen  auf  das  ganze  Friedenswerk  ausübte,  dass 
der  Artikel  17  der  Basler  «Mittel»,  wie  er  unverändert  in 
den  Lausannervertrag  übergegangen  ist,  Spanien  und  die 
Eidgenossen  als  diejenigen  nannte,  denen  zu  Gefallen  die 
Parteien  den  Vergleich  geschlossen  hätten,  Frankreich 
dagegen  zum  grossen  Aerger  seines  Botschaf- 
ters mit  völligem  Stillschweigen   überging.2) 


merklich  in  eine  Mitwirkung  beim  Vermittlergeschäft  abergehe,  zeigt 
der  Bericht  der  Berner  Gesandten  vom  30.  August  1561.  Die  Ver- 
mittler theilten  ihnen  mit,  dass  zwei  kaiserliche  Gesandte  und  der 
spanische  Botschafter  sich  vor  ihnen  anerboten  hätten,  «nit  als  by- 
otzerond  sprueblicb,  sondern  als  früntlich  zusprecher  und  anhalter» 
ihren  Fleiss  anzuwenden.  Die  Berner  erwiderten  kurz,  die  Ver- 
mittler wdssten  wohl,  «dass  der  fremden  Fürsten  Botschaften  halb 
verabschiedet  sei,  dass  sie  in  der  Schydherrcn  zal  nit  begriffen  sin 
sollen»,  dabei  Hessen  sie  es   bleiben  (Savoybuch  B  672). 

')  «et  la  dessus  je  vous  diray  qu'en  faisant  plaisir  al'ung  je 
n'ay  en  rien  oflense  l'autre  et  j'ai  tousiours  tenu  ce  nies  nie  chemin.« 
D'Orbais  an  Aubespine  25.  August  1563   (Copie  im  Bundesarchiv). 

*)  Siebe  Beilage.  D'Orbais  an  Aubespine  14.  Juli  1563 : 
«Je  toqs  veux  bien  faire  entendre  usant  de  vostro  saige  et  prüden  t 

17 


258  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

im  ganzen  Lausanner  Vertrag  wird  Frankreich,  abgesehen 
!;  historischeu  Reminiszenzen  an  seinen  Angriff  auf  Savoyen 
in  den  Plaidoyers  der  Parteien,  nur  einmal  in  der  Einleitung 
neben  dem  Kaiser  und  Spanien  kurz  erwähnt;  alle  drei 
1  rächte  hatten  die  Parteien  mündlich  und  schriftlich  zur  güt- 
lichen Erledigung  des  Handels  aufgefordert.') 

Ist  es  bei  der  durchaus  seknndären  Bolle,  die  Frankreich 
bchn  Zustandekommen  des  Lausanner  Vertrages  gespielt  hat, 
schon  an  sich  wenig  wahrscheinlich,  dass  es  die  Stellung 
t'ines  Garanten  dafür  übernommen  habe,  so  rechtfertigt  auch 
de*  Wortlautder  Ratifikationsurkunde  selbst  diese  Voraussetz- 
ung In  keiner  Weise.  Heffter-Gctfken  sagt  in  seinem  Völker- 
recht: «Dergleichen  Garantien  können  nicht  aufgedrungen 
WBjvden,  sondern  nur  mit  freiwilliger  Annahme  der  Haupt- 
cressenten  vorkommen.  Die  Annahme  muss  eine  bestimmte 
s>  in  und  von  allen,  unter  denen  die  Gewahrschaft  gelten  soll, 
zugestanden  werden;  sie  fliesst  nicht  von  selbst 
ans  einem  blossen  Accessi  on  s  Ter  t  rage,  so  wenig 
wie  aus  dem  Amte  des  Vermittlers.»  *)  Nun  ist  aber  nirgends, 
u^der  im  Schriften  Wechsel  der  Interessenten  noch  in  der 
Ratifikation su rknnde  selbst  von  Uebernahine  einer  =  Garantie., 
sondern  stets  nur  von  « Approbation»  d.  i.  Gcnehmhaltung, 
IHlligung,  die  Rede.*)    Die  entscheidende  Stelle  in  der  Rati- 


ninseil  que  au  XVII.  article  de  l'abschcdt  donn6  a  la  Journee  de 
Ifiittle  ■ . .  il  est  dit  que  les  deux  parlies  oul  consenty  cn  ee  present 
IDtiable  aecord  a  la  requestc  et  instance  du  Hey  Philippe  et  de 
Mi'ssieurs  des  Lignca  tanl  sculement  tans  faire  mention  du  Roy.- 

i)  Absch.  IV  2  1496. 

*)  Heffter-Geffken,  das  Europäische  Völkerrecht  S.  806. 

')  Wie  schon  r.  Gonzenbach  (Archiv  hist.  Verein  Bern  XI 
480)  und  Paul  Schweizer,  Geschichte  der  Schweiz.  Neutralität 
SH.P,  richtig  gesehen  haben. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  259 

likationsurkunde  vom  26.  April  1565  lautet:  «Nous,  requerans 
Icelies  parties  approuver  et  auctoriser  le  clit  accord, 
Xous  apr£s  Tavoir  faict  veoir  en  nostre  conseil,  desirans  le 
repos  et  tranquilite  des  dites  deux  partyes,  Avons  par  Padvis 
«flcelluy  nostre  conseil  declaire  et  declairons  par  ces  pre- 
sentes  avoir  Icelluy  traictepour  agreable.  En  tesmoingde 
ce  avons  a  Icelies  faict  mectre,  et  apposer  noste  scel»,  oder 
nach  einer  gleichzeitigen  vermuthlich  der  Berner  Kanzlei  ent- 
stammenden Uebersetzung :  «Unnd  nun  wir  von  ermellten  par- 
thygen  nmb  approbation  und  bestädtigung  angeregts 
abgeredten  Vertrags  unnsers  Teils  angesucht  sinnd,  da  so 
haben  wir,  als  die  der  ruw  und  wolstanndt  genannter  beider 
p&rthygen  begirig,  nacbdem  wir  dise  vertragshandlnng  durch 
unnsern  Rath  besichtigen  lassen,  Uns  hierüber  mltt  rath  und 
wüssen  derselben  unnserer  Betben  erklert  und  erltithert,  er- 
klerend  and  erlntherend  unns  hiemit  inn  krafft  diss  briefs, 
Xamlich  das  uns  voran ged titer  bericht  und  ver- 
trag angenem  und  gfellig  syge.  Dess  zu  gezügk- 
nuss  haben  wir  nnnser  Insigel  an  disen  brief  hencken  lassen.»1) 
Wie  wenig  aber  ans  blosser  Approbation  und  Ratifikation  eines 
Vertrages  die  Uebernahrae  einer  Garantie  gefolgert  werden 
darf,  erhellt  z.  B.  aus  den  Worten,  mit  denen  der  länderlose 
Herzog  Karl  III.  von  Savoyen  dem  von  Kaiser  und  König 
zu  Nizza  abgeschlossenen  Waffenstillstand  von  1538  beitritt: 
:et  qne  nous  y  avons  dereebef  ete*  tres-instamment  requis  et 
interpelle',  avons  de  nouveau  la  dite  Treve  en  la  maniere  et 
forme  sous-dite  ratifite  et  approuvfa,  ratifions  et  approuvons 
quant  ä  nous  est,  a  savoir  sans  prejudice  ou  derogation  d'au- 
eun  nötre  droit»,  oder  daraus,  dass  die  einzelnen  französischen 


J)  Absch.  IV  2  1508,  die  Uebersetzung  im  Staatsarchiv  Zürich, 
Berner  Akten. 


260  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564. 

Baillages  den  von  Franz  I.  und  Karl  V.  geschlossenen  Frieden 
von  Cambray  auf  Befehl  ihres  Königs  ebenfalls  «ratifiziren> 
und  «approbiren».1)  Niemand  wird  in  diesen  Fällen  aacb 
nur  an  die  Möglichkeit  einer  Garantieübernahme  denken ;  das 
einzige,  was  der  Herzog  und  die  französischen  Baillages  mit 
ihrer  Ratifikation  und  Approbation  versprechen,  ist,  dass  sfr 
dem  Vertrag  ihrerseits  nicht  zuwiderhandeln  wollen. 

Es  handelte  sich  also,  wie  auch  die  Bern  so  anstössigen 
Vorbehalte  zeigen,  in  den  Ratifikationsurkunden  der  beiden 
Könige  nicht  um  Uebernahme  einer  Garantie,  d.  h.  der  Ver- 
bindlichkeit, «für  die  Aufrechterhaltung  des  Vertrags  sowohl 
unter  den  Kontrahenten  selbst,  wie  gegen  Eingriffe  anderer 
mit  den  ihnen  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  thätig  sein  zu 
wollen»2),  sondern  um  blosse  Zustimmung  ohne  eine  andere 
Verpflichtung,  als  diejenige,  keine  Einwendungen  gegen  den 
Vertrag  machen  zu  wollen.  Die  Urkunde  vorn  26.  April 
1565  ist  kein  Garantie  vertrag,  sondern  eine  blosse  Acces- 
sions- oder  noch  genauer  Adhäsionserklärung,  durch 
welche  ein  dritter,  ohne  Kontrahent  zu  werden,  seine  Zu- 
stimmung zu  einem  Vertrag  ausspricht,  entweder  zur  Genehm- 
haltung derjenigen  Bestimmungen,  welche  ihm  nacbtheilig 
sein  könnten,  wodurch  er  auf  die  etwaigen  Einwendungen 
dagegen  verzichtet,  oder  um  als  «höhere  dritte  Persona 
rein  zeremoniell  dem  Vertrag  eine  gewisse  Feierlichkeit,  ein 
Zeugniss  seines  Bestandes  zu  verleihen,  ohne  dass  irgend  eine 
Verbindlichkeit  dadurch  für  ihn  entstünde.3)  Beides  trifft 
für  unsern  Fall  zu:   Bern   wollte   die  Sicherheit  haben,  dass 


*)  Dumonl,  Corps  universel  diplomatique  IV  2  26  ff.,  172  f. 

*j  Die  spanische  Ratifikation  schliesst  ausdrücklich  jede  Ver- 
bindlichkeit derart  aus:  «citraque  nostri  ac  regnorum  bonorumque 
nostrorum  obügationem». 

3)  Heffter-Geffken  S.  195  f. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  261 

die  mächtigen  Verwandten  des  Herzogs  nicht  nachträglich 
Einwendungen  gegen  den  Vertrag  erhöben,  und  zugleich 
diesem  durch  die  Bestätigung  von  Seiten  der  beiden  Könige 
eine  erhöhte  Feierlichkeit  verleihen. 

Es  bedurfte  der  Leidenschaft  eines  Laharpe  und  der  Ig- 
noranz und  Böswilligkeit  der  damaligen  Machthaber  in 
Paris,  um  aus  solchen  Dokumenten  nach  233  Jahren  einen 
Rechtstitel  zur  Einmischung  in  die  innern  Verhältnisse  der 
Schweiz  abzuleiten.  Wohl  aber  ist  die  Geschichte  des  Lau- 
sanner Vertrages  ein  Beweis  dafür,  wie  gefährlich  selbst  die 
scheinbar  harmloseste  Beiziehung  fremder  Mächte  zu  den 
Angelegenheiten  eines  Volkes  werden  kann* 

* 
Von  Gonzenbach  hat  in  einem  interessanten,   aber  nicht 

irrthumsfreien  Aufsatz  über  die  Be  chtsbes  tändigkeit 
des  Lausanner  Vertrags1)  den  Nachweis  zu  leisten  versucht, 
dass  derselbe  überhaupt  nur  bis  1589  bestanden  und  seitdem 
keine  Rechtskraft  mehr  besessen  habe.  In  der  That  brach 
im  Jahre  1589  zwischen  Bern  und  Savoyen  wieder  Krieg  aus. 
Der  Nyoner  Friede  vom  1.  Oktober  1589  bestätigte  zwar 
den  Lausanner  Vertrag,  aber  er  trat  selber  nicht  in  Kraft,  weil 
die  Bernerräthe  infolge  einer  negativen  Volksabstimmung  ihn 
am  3.  März  1590  kassiren  mussten.  Von  da  an  dauerte 
längere  Zeit  zwischen  Bern  und  Savoyen  ein  vertragloser 
Zustand,  während  dessen  unter  anderem  Frankreich  sich  1601 
im  Widerspruch  zu  Art.  14  des  Lausanner  Vertrags  von 
Savoyen  Gex  abtreten  lassen  konnte,  ohne  dass  Bern  dagegen 
Einsprache  erhoben  hätte.  Auch  versuchte  Herzog  Carl  Ema- 
nuel  während  dieser  Zeit  nicht  bloss  in  der  Escalade  Genf 
zu  überrumpeln,  sondern  erhob  auch  wieder  lebhafte  An- 
sprüche  auf  die  Waadt,   weil   Bern    durch   den   Krieg  von 

*)  Archiv  des  histor.  Vereins  XI,  475  ff* 


262  Der  Lausanncr  Vertrag  von  1564. 

1589  den  Spruch  von  1564  gebrochen  und  den  Nyoner  Frieden 
nicht  ratifizirt  habe.  Erst  am  23.  Juni  1617  kam  durch  Ver- 
mittlung des  englischen  Gesandten  Isaak  Wake  ein  neuer 
Friede  zustande,  in  welchem  Carl  Eraanuel  sammt  dem  Erb- 
prinzen für  sich  und  ihre  Nachkommen  feierlich  auf  die  Waadt 
verzichtete.  Wenn  aber  nun  Gonzenbach  behauptet,  dass 
der  Spruch  von  1564  im  Jahre  1589  endgiltig  dahingefallen 
und  1617  durch  die  Verzichtleistung  Carl  E  manu  eis  ersetzt 
worden  sei,  übersieht  er,  dass  in  der  letztem  ausdrücklich 
wieder  auf  den  Lausanner  Vertrag  Bezug  genommen  wird, 
dass  der  Fürst  für  sich  und  seine  Nachfolger  verspricht, 
diesen  in  allen  Punkten  und  Artikeln  treu  und  fest  zu  halten1), 
dass  also  im  Gegentheil  durch  die  Urkunde  vom  23.  Juni 
1617  der  Vertrag  von  1564  wieder  nach  längerem  Unterbruch 
in  volle  Rechtskraft  eingesetzt  worden  ist.  Die  Verzicht- 
leistung von  1617  schliesst  also  die  Rechtsbeständigkeit  des 
Lausanner  Traktates  nicht  aus,  sondern  ein,  und  wenn  der 
Turiner  Vertrag  vom  16.  März  1816  in  Art.  23  bestimmt 
hat:  «Die  Verfügungen  der   alten   Traktate   und   insbe- 


l)  Abschiede  VIS.  1966:  «car  d'icelles  en  leur  nom  et  part 
nous  deportons  et  desistons  entierement  et  perpetuellement  au  plns 
ample  contenu  du  traicte,  faict  et  moYenne  a  Lausanne  parle«  seig- 
neurs  ambassadeurs  des  unze  cantons  des  ligues  entre  fcu  Emanael 
Philibert  duc  de  Savoye  de  tresheureuse  memoire,  pere  de  son 
altesse  serenissime  d'apresent,  et  les  dictz  seigneurs  de  Berne  en 
I'annee  mil  cinq  centz  soixante  quatre,  promettans  et  juraris  au  nom 
de  leurs  dictcs  altesses  serenissimes  pour  elles  et  leurs  dictz  sucees- 
seurs  en  bonne  foy  de  vouloir  avoir  et  tenir  pour  agreable,  ferme 
et  stable  le  dict  traicte  en  tous  et  chacuns  ses  poüictz  et  articles, 
et  en  vertu  d'icelluy  laisser  les  dictz  seigneurs  de  Berne  et  toute 
leur  postcrite  en  la  pleine  et  pacifique  jouissance  et  possessoire  des 
villcs,  places  et  pais  et  de  toutes  leurs  dependances,  ainsy  qu'ilz 
leur  ont  est6  adiugö  parle  dict  traicte  etc.» 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  263 

sondere  desjenigen  vom  3.  Juni  1754,  insoferne  sie  nicht  aus- 
drücklich    durch    den    gegenwartigen    Vertrag     aufgehoben 
werden,  sind   bestätigt»,    so  liegt  juristisch   genommen   kein 
Grand  vor,   diese  Klausel  nicht  auch  auf  den  1617  in  allen 
Punkten  und  Artikeln  bestätigten  Lausanner  Vertrag  zu  be- 
ziehen,   soweit  er  nicht  durch  neuere  Verträge  aufgehoben 
ist.    Insofern  wenigstens  war  der  Bundesrath  1860  nicht  im 
Unrecht,    wenn  er  sich  auf  den   alten  Spruch  der  elf  Stände 
berufen  zu  dürfen  glaubte.    Doch  wäre  es  bei  den  so  gänzlich 
veränderten  Verhältnissen   der  Neuzeit  ein  vergebliches  Be- 
mühen,  herausschälen   zu   wollen,   welche   von   den   Bestim- 
mungen desselben  heute   noch  gültig  sind  und  welche  nicht. 
Mit  Recht  sagt  Gisi,  «dass  es  alles  Gesetz  der  geschichtlichen 
Entwicklung  der  Völker  verkennen  hiesse,   wenn  man  heute, 
nach  mehr  als  dreihundert  Jahren,  auf  ein  solches  Dokument 
sich  stützen   und  daraus   einen  Rechtstitel   ableiten  wollte.» 
Der  Lausanner  Vertrag  gehört  trotz  den  Bestätigungen  von 
1617    und  1816    der  Geschichte   und  nicht  dem   Staatsrecht 
der  Gegenwart  an.  Wilhelm  Oechsli. 


l)  Ueber  die  Entstehung  der  Neutralität  von  Savoyen  (Archiv 
für  schweizerische  Geschichte  XVUl,  13). 

Zum  Schlüsse  habe  ich  noch  gegenüber  den  Herren  Bundesar- 
chivar Dr.  Kaiser  und  Staatsarchivar  Dr.  Tür ler  in  Bern,  Staats- 
archivar Lab  hart  und  Dr.  Hoppeler  in  Zürich  für  die  liebens- 
würdige Bereitwilligkeit,  mit  der  sie  mir  die  Benützung  des  in  den 
betreffenden  Archiven  liegenden  Materials  ermöglichten,  eine  an  ge- 
nehme Dankespflicht  zu  erfüllen. 


264  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  —  Beilage. 


Beilage. 


Der  Spruch    der  Vermittler  aus   den  elf  Orten,  gefällt  zu 

Basel  am  11.  Mai  1563. 

(Staatsarchiv  Zürich,  Akten,  Savoyen  1465—1590.) 

Bemerkung.  Aus  dem  Aktenstück  *Kurtzer  besehend  über 
F.  Dt.  zu  Savoy  gesanthen  Inred  uff  der  Statt  Bern  gestellte 
Artickel  der  Restitution*  (Staatsarchiv  Bern,  Savoyen  1545  bis 
1565  Kr.  152)  geht  hervor,  dass  die  Basis  des  spätem  Lausanner 
Vertrages  20  Artikel  bilden,  die  von  Bern  auf  der  Conferem  von 
Basel  Anfangs  Mai  1563  aufgestellt  worden  sind.  Auf  Grund  dieser 
Bcruer  Vorschläge  verfassten  die  Vermittler  ein  erstes  noch  im  Wort- 
laut erhaltenes  Projekt  (Staatsarchiv  Bern,  Savoyen  156—65 
N.  153),  betitelt  *Der  Erwölten  Schydherren  gestellte  Conditiones  und 
gedingen,  in  welchen  der  F.  Dt.  eu  Savoy  die  Landt  und  flecken,  so 
die  Herren  der  Statt  Berrn  bis  ariher  ingehept,  wider  zugestellt  und 
wie  es  sonst  zu  beden  Süen  gehallten  werden  soll».  Dieser  erste 
Entwurf  (s.  oben  S.  220),  den  wir  unten  mit  A  bezeichnen,  diente 
wieder  als  Vorlage  für  den  endgültigen  Spruch  der  Ver- 
mittler vorn  11.  Mai  1563,  der  hier  zum  Abdruck  gebracht  wird.  Der 
Spruch  vom  11.  Mai  1563  ging  endlich,  abgesehen  von  den  Modi- 
fikationen in  der  Gebietstheilung,  unverändert,  aberdurch 
Zusätze  erweitert,  in  den  Lausanner  Vertrag  über. 
Wir  geben  in  den  Noten  sowohl  die  Varianten  des  Entwurfes  A,  als 
die  Zusätze  des  Lausanner  Vertrages  (L),  beschränken  uns  aber  bei 
letzterem  auf  die  eigentlichen  Vertragsartike),  indem  wir  für  Ein- 
leitung (S.  1477—98)  und  Schluss  (S.  1507—8)  auf  den  Abdruck  in 
der  «Amtlichen  Sammlung  der  Eidgenössischen 
Abschiede»,   Bd.  JV,  Abth.  2  S.  1477—1509  verweisen. 


Der  erwöllten  Schidherren  gestellte  Con- 
ditiones unnd  mittel,  inn  wellichen  nach  irem 
gehepten  bedenkhen  der  F.  Dt.  zu  Savoye  die 
Herschafften,  Lannd  und  Flecken,  So  die 
Herren  der  Statt  Bern  bitzanher  ingehept, 
wider  zugestellt,  unnd  wie  es  sonst  von  der- 
selben wegen  zu  beiden  Sytten  gehalten  werden 
solle  unnd  möchte. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  —  Beilage.  265 

'  X  a  in  1  i  c  h  :  Das  die  Herren  der  statt  Bern  diso  hienach 
bestimpten  Herschafften,  Lanndt  und  Flekhen,  Mit  namen 
die  gantze  Herschaft.  Gex,  Darzu  den  tlieil  unnd  alles,  das 
sy  ennet  dem  Sew1)  inn  der  Landschaft  Chablaix  erobert, 
Dessglichen  alles  das,  So  Si  in  der  Herschafft  Genevoys 
ingenommen,  [Glicher  gstallten  die  gantze  Herschaft  und 
Vogty  N  i  e  w  s ,  ouch  den  theil  inn  der  Herrschaft  M  o  r  g  e  x , 
der  von  der  Herschaft  Nyews  bitz  zu  dem  wasser  genant 
A  n  1  b  o  n  a  reicht  unnd  langet,  So  Si]  *)  glich,  als  andere  Landt 
and  Flecken  zu  iren  Hannden  gepracht  unnd  bitzanher  in- 
gehept  unnd  beherschet  haben.  Aber  zevor  jetziger  F.  Dt.  zu 
Savoy  vorfarn  Loblicher  gedechtnus  gwessen  sindt,  mit  aller 
Gerechtigkeit  und  zugehördt,  So  Si  bitzanher  an  derselben 
jetz  ernenten  Herschafften  unnd  Lannden  gehept  unnd  wie 
gy  dieselben  jetziger  Zytte  noch  innen  haben,  wider  von 
Händen  geben,  sich  dero  und  aller  irer  vorderung,  Rechtsame 
und  ansprach,  Die  sy  oder  ire  nachkommen  von  vorbemellter 
irer  innemung  und  bitzanher  gehepten  besitzung  und  beher- 
schung  wegen  an  denselben  vorernempten  Herschaften  unnd 
Landen  yetzunder  unnd  in  hernach  volgender  Zytt  einichs 
wegs  haben  sollten  oder  mochten,  gentzlichen  unnd  aller  dingen 
rerzuchen,  ouch  dero  und  derselben  enden  unnd  orten  ge- 
hepten Regierung  abtretten  unnd  alle  derselben  Herschaften 
und  Landen  Inwonnere  und  underthonen  der  Hulldigungen 
und  Eydtspflichten,  Die  Si  inen  gethon  haben  möchten,  ledigen 
unnd  entschlachen  unnd  dieselben  Herschafften  jetz  gehörter 
gstallten  der  Hochgenannten  F.  Dt.  zu  Sayoy  in  rnwen3)  über- 
geben und  zustellen  sollen,  Alles  Erberlich  unnd  by  guten 
thrüwen. 

Hingegen  Solle  der  übrig  theil  der  gantzen  Landschafft 
Waat4),  dessglychen   die  flekhen  und  Herschaften   Vi  vis, 


M  «und  Rotten»  (Zusatz  von  L). 

2j  Das  Eingeklammerte  fehlt  in  L,  welcher  statt  dessen  bloss  das 
Wörtlein  «und»  hat. 

9)  «inrumen»  (L). 

*)  «sampt  der  gantzen  Herschaft  und  Vogtig  Kiews»  (Zusatz 
in  Lj. 


266  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  —  Beilage. 

Thurn1),  Chiliion  uund  nftwenstatt 2);  die  hie  disent 
Sews  gelegen  unnd  zuvor  zu  der  Herschafft  Chabloix  ge- 
hört haben,  sampt  aller  herligkeit,  gerechtigkeit  und  zuge- 
hördt  unnd  wie  der  selb  übrig  theil  der  Landschaft  Waat 
sampt  der  jetz  ernenten  flekhen3)  Vivis,  Thurr,  Chillion  und 
nüwenstatt  inn  irem  bezirk  und  begrif,  ouch  inn  iren  an- 
stössen,  Limiten  und  Märchen  gelegen  sindt  unnd  Hochge- 
nanter F.  Dt.  zu  Savoy  Herr  und  vatter  und  andere  dero 
vorelltern  Loblicher  gedechtnus  die  selbige  zevor  gehept  unnd 
vorgeuant  Herren  von  Bern  die  erobert  und  ingenommen 
und4)  bitzanher  ingehept,  beherschet  und  genutzt  haben,  Den- 
selben Herren  der  statt  Bern  als  ir  recht  eigenthumb  plyben. 
Also  das  sy  und  ire  ewige  nachkommen  dieselbige  Landschaft 
Waat  sampt  den  andern  hieuach*)  benerapten  und  inen  jetz 
verordtneten  und  zngetheilten  Herligkheiten  und  Fleken  hino- 
für  inhaben,  besitzen,  besetzen,  entsetzen,  nutzen  und  niessen 
unnd  damit  thun,  handien,  schallten  unnd  wallten  sollen  und 
mögen  als  mit  andern  iren  eignen  Landen  und  Herschafften, 
alles  one  das  offt  genante  F.  Dt.  zu  Savoy  noch  Ire  Erben 
und  nachkommen  nach  jemandts  anderer  von  irotwegen  be- 
mellt  Hern  von  Bern  hernach  zu  ewigen  Zytten  und  tagen 
verner  darntub  anfechten,  bekümern,  molestiern  noch  bemügea 
solle  noch  möge,  inn  was  wyss,  gstallten  und  weg  das  jemer 
sin  und  geschechen  könnde  oder  möchte,  Alles  Erberlichen. 
Doch  solle  dise  abtheilung  und  schidigung  inn  und  mit  allen 
unnd  yeden  hienach  volgenden  heittern,  usstrukenlichen  unnd 
lutern  gedingen  und  Conditionen  zugon  und  geschechen.  6) 

D  e  s  s  Ersten:  Als  die  Statt  Bern  der  F.  Dt.  zu  Sa- 
voye  ettliche  Herschafften,  Landt  und  Flecken  vermög  jetz 
abgeredter  gut ti gen  Schidigung  und  betragshandlung  wider- 


*)  La  Tour  de  Peilz. 

2)  Villeneuvc. 

3)  « und  Herschaften  Niews»  (Zusatz  in  L). 
*)  ouch  (L). 

5)  bievor  (L). 

6)  Diese   beiden  ersten  Abschnitte  fehlen  bei  A,   der  erst  mit 
dem  Folgeoden  beginnt. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  —  Beilage.  267 

amb  zu  stellen  unnd  abergeben  boII,  unnd  derselben  Inwon- 
nere  inn  Relligions  and  glaabens  sacken  der  selben  statt  Bern 
bitzhär  (als  billich)  gehorsamet,  Hierumb  ouch  vorgemelter 
statt  Bern  gsanndte  Rathsanwellt  innamen  irer  Herren  and 
Obern  ir  stattlich  bedenken  dahin  gesetzt  haben,  Diewyl  die 
Inwonner  and  Landtsessen  der  Herschafften  und  Flecken,  so 
Ire  Herren  und  Obern  ein  gute  Zal  Jaren  ingehept  and  ge- 
regiert, Aber  jetzander  der  F.  Dt.  zu  Savoye  widerumb  in« 
gerumpt  and  zu  gesteh  werden  sollen,  inn  der  Religion,  so 
von  irn  Hern  and  Obern  glych  by  inen  inn  ir  statt  als  inn 
iren  Landen  und  gepietten  zu  halten  verordnet,  erporn  and 
erzogen  worden  sigen,  unnd  als  baldt  one  höchsten  Jamer 
von  derselben  nit  zewysen  noch  zepringen  sin  möchten, 
Hierunder  ouch  irs  bedunkhens  schwer  zerichten  sin  möchte, 
wann  dise  annderthonen  glich  angents  so  unversechenlichen 
davon  stan  sollten  oder  müssten,  Das  man  dann  uss  söllichen 
unnd  andern  Ursachen  dieselben  underthonen  by  derselben 
Religion  bitz  uff  ein  allgemein  frig  Christenlich  Concilium 
verpliben  lassen  sollte.  Hingegen  aber  der  F.  Dt.  gsandten 
demselben  irem  gnedigen  Fürsten  nnd  Herren  nützit  haben 
hingeben  noch  verthedingen  wollen,  mit  anzougung,  wie  sy 
dessen  von  Hochernerapten  irem  gnedigen  Fürsten  und  Herren 
keinen  gwalt  hetten.  Da  so  hatt  die  Herren1)  Schidpotten 
uss  allerlei  gutmütigem  bedacht  und  bewegenden  Ursachen 
zethand  syn  angesechen:  Wiewol  es  thunlich,  sich  ouch  ge- 
zimpte,  das  es  in  F.  Dt.  zu  Savoy  als  Oberherren  söllicher 
jetz  iro  zugetheilten  Landen  gwallt  stan  sollte,  mass  und 
Ordnung  anzesechen  und  zegeben,  wie  es  inn  Relligions  und 
gloubens  sachen  inn  disen  Herschaften  und  Landen  ergon  und 
gehalten  werden  sölte,  Das  doch  nüt  desterweniger  unnd  one 
Verhinderung  desselben  die  F.  Dt.  zu  Savoy  und  die  Herren 
von  Bern  sich  hierumb,  wann  und  wie  es  inen  gfeliig,  ze~ 
sammen  thun  und  sich  wie  es  in  söllichen  gehalten  werden 
solle,  anderreden,  vereinen  und  betragen  mögen.2) 

l)  «ans  die  Schydbotten»  (L). 

*)  Art.  1  lautet  bei  A:  «Des  Ersten:  Alls  die  Stat  Beim  der 
F.  Dt.  zu  Savoy  etliche  Herschaften,  Landt  und  Flecken  vermög  jetz 
abgeredter  gütigen  Schidigung  und  Yertragshandlung  widerumb  zu- 


268  Der  Lausau ner  Vertrag  von  1564.  —  Beilage. 

Zum  andern:  So  vil  das  Gen  fisch  Burgrecht  be- 
langet, hatt  die  Herren1)  mitlere  und  thedingsmenner  für  gut 
angesechen,  das  daselbig  burgrecht  inn  Craft  und  bestandt  ver- 
plyben  solle.  Wann  aber  die  F.  Dt.  zu  Savoy  vermeinen 
wölte,  das  ein  statt  Genf  nit  befügt  were,  by  und  mit  Je- 
mandem einich  Burgrecht  zu  bewerben  noch  anzunemen,  unnd 
dieselb  F.  Dt.  söllichs  mit  Recht  abzetriben  widerstünde.  Das 
dann  ein  statt  Bern  sich  söllicher  der  Hochgemelten  F.  Dl 
zu  Saroy  Vorhaben  rechtlicher  Verhandlung  nit  widersetzen, 
Sonnder  die  selb,  wie  sich  gezimpt  unnd  gepürt,  ussfüren 
lassen  solle. 

Zum  dritten:  Die  gerech tigkeit,  so  Hochgeuielter  F. 
Dt.  zu  Savoy  vordem  Loblicher  gedechtnuss  zu  Genf  ge- 
hept,  Seche  die  Herren8)  Schidpotten  für  gut  an,  das  ein  söl- 
licher Articul  und  Handel  uf  diss  mal  ingestellt  werden  und 
beruwen  sollte,  Der  vertruwten  Zuversicht,  Es  möchte  die 
F.  Dt.  zu  Savoy  sich  hernach  umb  diss  mit  einer  statt  Genf 
mit  guter  bescheidenheit  vereinen,  verglychen  und  betragen. 
Wann  aber  dasselbig  kein  statt  befinden  unnd  nit  geschechen 
mochte,  das  als  dann  diss  mit  ordenlichem  Rechten  zeerörtern 
und  zu  entscheiden  fürgenommen  werden  sollte. 


stellen  und  übergeben  soll  und  derselben  lnwouere  inn  Religion* 
und  gloubens  Sachen  derselben  Statt  Bern  (aus  pillich)  gehorsamet, 
hierumb  ouch  wolgemelter  Statt  Bern  gsanndte  Ratsanweit  innamen 
irer  Herren  und  Obern  ir  stattlich  bedcncken  dahin  gesezt  habenn, 
das  man  dieselben  underthonen  by  derselben  Religion  bz  uff  ein  all- 
gemein frig  christenlich  Concilium  verpltben  lassen  sollte;  Hingegen 
aber  der  F.  Dt.  zu  Savoy  gsandlen  dem  selben  irem  gnedigen  Fürsten 
und  Hern  hierin  nüzit  haben  hingeben  noch  verthädingen  wollen, 
do  so  hatt  die  Herren  Scbidtpotten  uss  alierleygutmüetigem  bedacht  und 
bewegenden  Ursachen  ze  thund  sin  angesechen,  das  es  in  der  F.  DL 
zu  Savoy  gwalt  stan  solle,  mass  und  Ordnung  anzesechen  und  ze- 
geben,  wie  es  in  disen  Herschafften  und  Landen  inn  Religion*  und 
gloubens  Sachen  ergon  und  gehalten  werden  solle,  doch  das  sin  F.  Dt 
in  solchem  sich  aller  bescheidenheit  und  gnaden  erzeige,  halte  und 
gepruche.» 

1)  hatt  uns  die  Mittlere  (L). 

*)  uns  die  Schidpotten  (L). 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  —  Beilage.  269 

Zum  vierten  ist  der  Herren1)  Schidpotten  bedenken, 
das  ein  statt  Bern  Hochgemeiter  F.  Dt.  zu  Savoy  die  vorge- 
melten  Herschaften  und  Fleken  inn  söllichein  wert  unnd 
wessen,  ouch  inn  der  wiss  und  mass  übergeben  solle,  wie  sy 
diser  Zytt  inn  und  mit  aller  vereuderung  an  ligenden  and 
rarenden  gutem,  stukhenn,  Zinsen,  gälten,  zechenden  unnd 
andern  dingen  inn  gang,  gstallt  und  Übung  sindt,  unnd  wie 
ein  statt  Bern  sittliche  inn  iren  gemeinen  handen,  gwalt,  be- 
Sitzung,  nutzung  unnd  Verwaltung  gehept  hatt.  Doch  Sonder- 
barer personen,  Stetten,  Edellüthen,  Comunen  unnd  Dörfern 
eigen  unnd  Lehengütern,  ouch  andere  gerechtigkeiten,  die  ein 
satt  Bern  nit  inhette,  hierin  onbegriifen,  [welliche  denen 
zustan,  werden  unnd  gevolgen  sollen,  denen  si  zustendig 
unnd  gehörig.  Doch  das  Si  der  F.  Dt.  von  der  selben  wegen 
die  gezimmende  und  gepürende  ptiieht  unnd  was  sy  söllicher 
Lechnen  und  güttern  oder  gerechtigkeit  halb  zethund  schul« 
dig,  leisten  unnd  erstatten].  *) 

Zum  fünften:  Nachdem  sich  gar  nach  allenthalben  zu- 
tragt, das  sich  uss  der  Oberkheidten  erkantnus  und  verordnen, 
oQch  mit  derselben  Zulassen,  willen  und  vergünstigen  von 
Zytt  zu  Zytt  mancherlei  verenderungen  zutragen  unnd  dann 
merentheils  unmöglich,  das  dieselben  zu  erstem  wesen  wider- 
nmb  gericht  und  gepracht  werden  mögen,  Diss  ouch  inn  dero 
von  Bern  gehepten  Regierung  ouch  geschechen  sin  möchte, 
So  haben  die  Herren3)  mitlerc  Schidigungswiss  angesechen, 
Das  alle  unnd  jede  kouff,  verkoüff,  Tusch,  Wechsel  und  con- 
tracten  unnd,,  was  ein  statt  Bern  von  söllicher  sachen  wegen 
verhandlet,  Dessglichen  alle  brief  unnd  Sigell,  die  Si  darumb 
regeben  hetten,  wie  sölliche  alle  unnd  jedes  dero  insonnderheit 
jetz  in  sinem  wert  und  wessen  ist,4)  in  Crefften  bestan  und 
piiben  sollen,  es  berüre6)   joch   was   Bachen    und   güttere  es 


1)  unser  der  Schidpotten  (L). 

2)  Die  eingeklammerten  Worte  fehlen  A. 
8j  «wir  die  Mitlere»  (L). 

4)  «sind»  (L). 

b)  Der  folgende  Satz  lautet  hei  A  kürzer:  «Es  berüre  yoch  die 
weltlichen  oder  die  Küchengütern  oder  ander  sachen,  ligender  und 
vareoder  hab,  Stück,  gutem,  gepuwen,  Zinsen,  zechen ten,  eigentum- 
l*n.  Lechneu,  Thellen,  anlagen,  Confiscationen,  nützit  ussgenominen.» 


270  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  —  'Beilage. 

welle,  was  art,  eigentschaft  und  herkommens  onch  die  selben 
sin,  unnd  wie  joch  sölliche  nammen  haben  sollten  oder  mochten, 
gentzlichen  one  Sünderung  und  underscheidt,  es  were  von 
ligcnder  oder  varender  hab  unnd  güttern,  gepüwen,  zinssen, 
zechenden,  Eygenthumben,  Lechnen,  Tb  eilen,  anlagen,  Con- 
iiscationen  oder  anderer  stücken  und  Sachen  wegen,  nützit 
ussgenommen ,  alles  one  wytter  ersuchen  noch  bindersich 
gryffen.  Doch  was  inn  söllichem  in  verbriefften  oder  andern 
schulden  oder  inn  Zinssyerschrybungen  unnd  der  glichen  noch 
unbezalt  verhanden  weren,  das  dann  dieselben  Hochgemeiter 
F.  Dt.  oder  andern1),  denen  die  gehören  sollten  oder  möchten, 
zugestelt  und  fibergeben  werden  sollen. 

Zum  Sechsten  haben  onch  die  Herren  Schidtpotten*) 
ze  thund  sin  bedacht,  Das  alle  entliche  Urteiln,  nmb  was 
sachen  die  by  Zytt  einer  statt  Bern  regierung  und  vor  irer 
Übergebung  vorgenanter  Herschaften  unnd  Flecken  ausge- 
sprochen, Dessglichen  alle  güttliche  Spruch  unnd  vertrag. 
Die  von  den  parthygen  angenommen,  zu  glycher  wyss  alle 
Rathserkanntnussen*),  die  inn  Spänniger  parthygen  Sachen 
ussgangen,  bestendigklich  unnd  one  alles  wytterziechen,  be- 
rechtigen unnd  arguieren  by  iren  Creften  plyben  sollen. 

Zum  S  i  b  e  n  d  e  n  haben  die  vermelten  Schidherren  4)  an- 
gesehen, das  die  Landtmarchen  z wüschen  dem  Huss  Savoy 
unnd  einer  Statt  Bern  das  Innemmen  der  Zinssen,  Zechenden. 
Rennten  unnd  gülten  der  Küchen,  Clöstern  und  Stuften  güttern, 
wie  die  jetz  inn  wessen  und  gang  und  inn  der  Statt  Bern 
gemeinen  Händen  gestanden  sindt,  ouch  theilen  sollen;  Also 
das  jede  Herschaft,  was  inn  iren  Zillen  und  Märchen  gelegen, 
zu  Händen  nemmen  solle  und  möge,  ungeacht  und  ungehin- 
dert, Das  sölliche  Inkhommen  uss  einer  Herschaft  an  Küchen, 
Clöster  oder  stifftungen,  die  inn  der  andern  Herligkeit  ge- 
legen, gedienet  betten,  und  glider  derselben  gwessen  weren; 
Also  das  jedertheil  von  dem  andern,  Nämlich   die  F.  Dt.  za 


1)  statt  «oder  andern»  hat  A:  «oder  den  Küchen.» 
*)  «wir  dieSchidpotten»  (L). 

8)  «Subastacionen  und  Vergantungen»  (Zusatz  von  L). 
4)  «wir  die  vermellten  Schidmener»  (L). 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  —  Beilage.  271 

Savoy  von  einer  statt  Berrn,  Hingegen  ouch  ein  statt  Bern 
Ton  F.  Dt.  zn  Savoy  nnd  mengklichem  der  Iren  söllicher 
Kilchen  güttern  halb  unersucht  pliben  sollen.1) 

Znm  Achten  haben  die  Schidherren 2)  bedacht,  das  mit 
der  nechsten  yorgenden  Lüthrung  allen  sonderbaren  personen, 
Edlen  und  unedlen,  ouch  allen  stetten,  Dörffern  und  Comunen 
an  iren  sonderbaren  gütern,  eigenthumben  [der]')  Lecken, 
weidtgengen,  veldferten,  Hültzern,  Veldern,  guten  gewonheiten, 
prachen  und  gerechtigkeiten,  wie  die  jetziger  Zytt  inn  gang 
und  Übung  sindt,  nützit  benommen  noch  vertkediget  sin, 
Sonnder  das  mengklicher.  der  Oberkeit  halb  unverhindert,  by 
siner  hargeprachten  gerechtigkeit,  gewerdt  nnd  besitzung, 
ouch  bi  Sinem  Brieff  und  Siglen  belliben  solle. 

Zum  nündten  ist  durch  die  Herren  Schidpotten*)  an- 
gesechen,  das  die  Zoll  und  geleit  von  jeder  Oberkeit  inn  irer 
verwalltung,  wie  die  jetzunder  inn  gang,  Übung  und  wessen 
sindt,  one  Intrag,  Enderung  und  widerredt  bezogen  und  ge- 
hallten werden  sollen. 

Zum  Zechenden  ist  der  Herren  Schidpotten5)  meinung 
und  bedenkhen,   das   die  F.  Dt.  zu  Savoy  sich    gegen   einer 


')  «Und  solle  aber  diss  also  verslanden  werden,  Das  solliches 
aHein  die  Zinss,  Renten,  güllton  und  Stiftung  guter  belangen  solle, 
Die  in  dem  Krieg  des  Sechs  und  Drissigisten  Jares  durch  ein  Statt  Bern 
ingenomnien  worden  sindt,  Und  gar  nit  die  erkoufften  Zinss  und  güli- 
ten,  die  vor  und  nach  dem  Krieg,  Es  sye  durch  ein  Statt  Bern  oder 
sonderbare  Personen  und  Comunen  irer  angekörigen  erkoufft  und  har- 
geprac ht,  daran  das  Huss  Savoy  keyn  ansprach  noch  gerechtigkheit 
gebept.  Alls  da  sindt:  Fünffzig  Gronen  Zinss,  so  das  Ainpt  Bürren 
uff  dem  Schloss  Visancie  von  der  Stifft  Bürren  inhandts  hatt,  Und 
dann  Drig  und  zwentzig  Gronen  järlicbs  Zinss,  so  ein  Statt  Bern  uf 
Vyonesy  seligen  Erben  hatt  und  irem  getrüwen  Mittrhat  Ambrosin  Im 
Hoff  jerli eben  erlegenn  muss,  und  andere  derglichen  mer.  Was  aber 
«ollicner  gslaliten  vor  und  nach  nitt  erkoufft.  Das  solle  inmossen  vor- 
gender  Lütrung  ergan  und  gehallten  werden»  (Zusatz  von  L). 

*)  « wir   diu  Schidmener»   (L). 

3)   «der»  fehlt  hei  L. 

*)  «uns  die  Schidpotten»  (L). 

5)   «unser  der  Schidpotten»  (L). 


272  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  —  Beilage. 

statt  Bern  von  wegen  der  Herschafften  Gryers  ob  der 
Bock  he  n,  Orung1)  noch  andern  Flekhen  Lehenschafft, 
Huldigung  oder  erkhantnuss  an  das  Huss  Savoy  keiner  an- 
sprach anmassen  noch  undernemmen  solle  noch  möge.  Sovil 
aber  Sonderbarer  personen  Edel-  oder  pürische  Lehen  betreffe, 
Das  dieselben  von  der  Herschafft,  hinder  dero  sy  gelegen, 
empfangen  werden  sollen. 

Zum  Einliften  haben  die  Herren  Schidpotten2)  ange- 
sechen,  das  die  sonderbaren  vertreg  so  zwüschen  Berrn 
unnd  Fryburg  irer  zesammenstossenden  Savoyschen  Landen 
Zylen,  Märchen,  Zechenden  und  anderer  Sachen  halb,  dieselben 
Landtschafften  betreffende,  ufgericht,  gemacht  und  beschlossen 
unnd  bisshar  inn  Übung  und  bruch  gwessen  sindt,  inn  Erefften 
bestan  und  pliben  sollen.  Darzu  das  ouch  die  thussend  unnd 
anderthalben  Cronen  Zinss,  so  ein  statt  Fryburg  ab  irem  theil 
der  Savoyschen  Landen  abzetragen  über  sich  genommen, 
einer  statt  Berrn  weder  jetz  noch  Künfftigklichen  uffgelegt 
werden  noch  sy  inn  einichen  weg  berüren  sollen. 

Zum  Zwölften:  Diewyl  inn  diser  sach  und  Handlung 
Fründtschaft,  Frid  und  einigkeit  gesucht,  So  haben  die  Herren 
Schidpotten8)  angesechen  und  bedacht  billich  sin,  das  zu 
beiden  Sydten  alle  Veecht  unnd  Fyendschafft  uffgehept,  hin, 
thod  und  ab  sin  solle;  Also  das  die  F.  Dt  zu  Savoy  nie- 
mands,  so  sich  inn  oder  nach  dem  Krieg  gegen  einer  statt 
Berrn  günstig,  hilflich,  bystendig  und  geneigt  erzöugt  und 
bewyssen,  Echten,  straffen  noch  verfolgen,  unnd  hinwider, 
das  ein  statt  Berrn  mit  und  gegen  denen,  die  der  F.  Dt.  zu 
Savoy  Hilf,  Gunst  oder  Bystandt  bewissen  und  erzöugt  hätten, 
ouch  also  one  Veecht  und  straff  halten  sollen.4) 


*)  Oron. 

■)  «wir  die  Schidpotten»  (L). 

3)  «wir  die  Schidpotten»  (L). 

4)  «Alls  aber  in  sollichem  der  Herren  von  Berrn  fröndtlichs  he- 
geren  und  der  F.  Dt.  gesandten  günstiges  zulassen  gesin  ist,  das  sol- 
liches nitt  allein  von  sonderbarer  Personen  wegen,  die  vergangner 
zytt  obbemellter  sachenhalb  in  gonst  und  ungonst  der  Einen  oder  der 
andern  Oberkheit  gestanden  wären,  Sonder  ouch  gemeinlich  und  son- 


•  Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  —  Beilage.  273 

Zum  Drytzechenden  haben  die1)  Schidpotten  be- 
dacht, wann  jemants,  wer  joch  der  were,  Edell  oder  unedel, 
der  sinen  Hussheblichen  sitze  ass  einer  inn  die  ander  diser 
beider  parthigen  Oberkeit  zeverrucken  willens  uimd  gesynet 
wurde,  Das  dasselbig  einem  jeden  jetzt  und  hernach  zuge- 
lassen sin  und  Keinenwegs  versperrt  werden  solle.  [Doch 
das  beider  theilen  Landtsessen  sich  inn  sollichem  keiner  ge- 
verde,  betrügen  noch  argenlisten  gepruchen  unnd  söllich  ir 
Hinziechen  mit  ires  Oberherren  wüssen  thügen.]2)  Darzu 
das  ouch  keinem  von  sittlichen  sines  Hinziechens  wegen  sine 
guter,  die  er  hinder  der  Herschaft,  von  dero  er  gezogen  were, 
vertiesse,  Kh einen  wegs  behafft,  ingezogen  oder  genützt, 
Sonnders  dem  hingezognen  mit  söllichenn  nach  sinem  nutz, 
willen  unnd  gefal  lenze  handien,  one  allen  In  trag  zu  stan, 
verpliben,  ouch  gentzlich  werden  und  gevolgen  sollen.  Es 
solle  aber  die  person,  so  also  hinzuge,  die  pflicht  der  Lehen, 
Zingsen  unnd  Diensten,  darumb  si  der  andern  Herschaft,  von 
dero  Si  gezogen,  pflichtig  g wessen  und  sin  möchte,  nüt  d ester- 
minder leysten;  Doch  dheiner  andern  gstalten,  dann  das  si 
der  Herschafft,  hinder  dero  si  Husshablichen  gsessen,  mit 
persönlicher  pflicht  ires  Lybs  und  der  andern,  von  dero  si 
gezogen,  keiner  andern  gstallten  dann  durch  mittel  personen 
gehorsamen  solle.3) 

Zum  vierzechenden  ist  angesechen,  das  kein  theil 
sine  jetz  zugesprochne  Stett,  Vestinen,  Landt  unnd  Lüth  keinen 

derbarlich  von  aller  derowegen,  die  sydtanher  ein  Statt  Berrn  alls  ire 
gehepte  ordenliche  Oberkey t  ankhert  und  gepetten  haben  mochten, 
Si  nit  uss  irer  in  andere  Beherschung  ze  verschalten,  Sonder  in  irer 
Regierung  und  in  irem  schirme  ze  behauten,  verstanden  werden  solle, 
Do  60  lassen  wir  die  erwellten  Schidmener  dasselbig  pliben  Und  wollen 
gesetzt  haben,  das  demselben  gelept  und  stattgethan  werde»  (Zusatz 
Ton  L). 

')    «wir  die»  (L). 

»)  Der  eingeklammerte  Satz  fehlt  bei  A. 

*)  «Darzu  das  ouch  die  hinziechenden  von  irer  gutern  wegen, 
die  Si  hinder  der  Herschafft,  von  dero  Sie  zugendt  oder  gezogen 
«rerenrit,  mit  keynen  sonderbaren  Theilen  noch  Anlagen,  dan  allein 
mit  den  allgemeynen  Landtstuwren  und  Theilen,  wie  andere  ires 
«iandts  und  wesens  anheimsche  Underthanen,  beschwertt  und  keiner 
wylhern  beladungen  underworffen  sin  sollenn»  (Zusatz  von  L). 

18 


274  Der  Lausauiier  Vertrag  von  1564.  —  Beilage.  • 

andern  Fürsten,  Herren,  Stetten,  Landen  und  Communen,  wer 
joch  die  sin  möchten,  weder  koufs,  Tusch  noch  einicher  an- 
derer wyss  und  gstallt  übergeben  solle ;  Alles  damit  ein  theil 
den  andern  frömbder,  ungelegner  und  beschwerlicher  nach- 
purschafft  überbebe  unnd  ein  jeder  derselben  entladen  sin 
unnd  pliben  möge. 

Zum  Fun  ff  zechenden  ist  bedacht,  das  beid  theil  inn 
disen  iren  anstossenden  Landen  Keine  nüwen  bevestigungen 
gegen  einandern  puwen  noch  machen,  Darzu  by  einer  myl 
wegs  gegen  den  grentzen  unnd  anstössen  keine  kriegsrüst- 
ungen  besamlen  noch  hallten  sollen. 

Zum  Sechszechenden  ist  Schidigungswyss  gsetzt, 
das  jeder  theil  diser  beider  parthygen  dem  andern  theile  alle 
Brieff.  Sigel  unnd  andere  gwarsamen,  die  ime  zu  sinen  Her- 
schafften und  Landen  dienstlich  unnd  der  gepüre  nach  ge- 
hörig, by  guten  thrüwen  one  bezallung  uff  ein  Invcntarium 
zu  Händen  stellen  solle. 

Zum  Sibenzechenden:  unnd  diewyl  beide  vor  er- 
nempte  parthigen  der  Kö.  Mt.  zuHispanien  unnd  gmeiner 
Loblicher  Eydtgnoschaftzn  Sondern Eeren  zu  disem vertrag 
bewilliget,  unnd  Si  zu  beiden  theilen  begert,  Das  inen  nmb 
alles,  so  diss  Schidigung  und  Vertragshandlung  inn  sieb  haltet, 
von  den  Herren  Schidbotten ')  der  Orten,  so  darin  gehandlet, 
notwendige  und  gepürende  briefliche  Sicherheit  zu  erstattung 
und  bekrefftigung  ires  inhaltens  gevertiget  und  gegeben  werde, 
Haben  die  Herren  Schidpotten  *)  zu  demselbigen  willen  geben. 

Zum  achtzechenden  ist  hierinn  bedacht  unnd  ange- 
sehen, das  alle  die,  so  ein  statt  Bern  uss  den  Savoyschen 
Landen  biss  anher  zu  burgern  angenommen,  Als  der  Herr 
von  C  a  u  1  d  r  e  a  und  andere,  bi  söllichen  erlangten  unnd  be- 
standtnen  burgrechten  möge  beliben,  unnd  das  aber  von  diss- 
hin  in  das  künftig  kein  theil  des  andern  underthonen  und 
Landsessen  one  des  andern  theils  witssen  und  willen  söllicher 
gstallten  annemmen  solle. 


*)   «von  uns  den  Schidpotten»  (L). 
*;   «wir  die  Schidpotten»  (L). 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  —  Beilage.  275 

Zum  Nüntzechenden  Haben  die  Herren  Schidpotten l) 
gesetzt  und  angesechen,  Das  ein  theil  glich  als  dem  andern 
diser  beider  parthyen  in  allen  und  jeden  iren  vorermelten 
und  jetz  geschidigoten  unnd  abgetbeilten  Herschaften,  Landen, 
Oberkheiten  und  gepietten  zu  allen  Zytten  frigen,  sichern, 
nnversperten,  unverhinderten  unnd  unabgeschlagnen,  offnen 
pass  und  wandel  haben  solle.  Doch  das  sölliche  uff  erbare 
sacken  unnd  dheinen  wegs  uff  thedliche  oder  vyendtliche  an- 
scbleg  und  handlungen  gerichtet  und  angesechen  sigen. 

Zum  zwenzigisten  Haben  ouch  die  Schidherren ■)  unnd 
nritlere  bedacht,  Das  einem  jeden  diser  beiden  parthigen,  Näm- 
lichen F.  Dt.  zu  Savoy,  dessglychen  den  Herren  von  Bern 
an  der  gerechtigkeit  des  Sews,  wie  ein  jeder  theil  dieselbige, 
so  Terr  und  wyt  unnd  wie  sine  Herschafften,  Landt  und 
Flecken  daran  gelegen  sind,  an  demselben  Sew  haben  soll 
und  mag,  nützit  benommen  noch  entzogen  sin  solle.1) 

l)  «wir  die  Schidpotten»  (L). 

*)   «ouch  wir  die  Schidmcner»  (L). 

*)  Der  Artikel  20  fehlt  bei  A. 

8ei  L  folgt  als  Zusatz  zu  Art.  20:  «Und  solle  aber  die  mitte 
des  Sews  gegen  yedcntheils  daranstossender  und  gelegner  Landen  und 
Heerschafften,  so  wyt  die  in  ireru  zirkh  und  begriff  reichen,  zu  einer 
beendigen  rechten  und  heytern  Maren  gesetzt  und  benarabsset  sin. 

Damit  dan  ouch  die  offt  hoch  und  wolgenempten  beide  Parthigen 
?in  lutter  und  sattes  wüssen  haben,  wie  die  March  und  Limitacion 
wüschen  iren  jetz  geschidigoten  und  abgeteyllteun  Heerschaften  Gex 
des  Einen  und  der  Waat  sampt  N  yews  des  andern  theills  zesammen 
Rossenden  Oberkheyten  und  Landen  gestalltet  sin,  ouch  wohiu  sich 
die  selbige  streckhen  und  wie  solliche  gchallten  werden  solle,  Und  wir 
über  das,  so  vilgemelt  beyder  theylen  Anwellt  und  Gsandten  uns 
hierum b  zu  erkhenen  geben  haben,  unsern  bedacht  gehept  und  er- 
wpjjen  haben  ze  thund  sin,  Das  dieselbe  zu  einer  Lütrung  gepracht 
werde,  So  hatt  uns  die  Schydmener  und  Mittlere  zu  Verhütung  Künff- 
liger  Spennen  und  Irthumben,  die  uss  unwüssenheyt  soilicher  Dingen 
inrysen  und  fürfallen  raoehtten,  für  gutt  angesechen,  Das  solliche 
Laadtmarch.  wie  hernach  stat,  sin  solle  [Folgt  eine  detaillirte  Beschrei- 
bung der  Grenze  zwischen  Gex  und  Waadt,  Absch.  IV  2  1504 — b\ 
Und  sind  diss  die  tnarchen  gegen  wynd  und  Berg,  vom  Sew  hinuff 
biss  an  das  gemellt  Ortt  und  Rickh  Mijoux,  Da  die  march  der  Waat, 
Gex  und  des  Burgundts  daselbs  zusammen  s tossend t  und  dieselben 
H  verschafften  von  einandern  marchendt.  Und  ist  das  die  march  der 
Waat,  wyndtshalb  anfachende  am  See  biss  an  das  wasser  Versoex 
und  von  danen  ^et;en  dem  Hochgepirg;  Und  was  Bysenhalb  hiezwüschen 
ist,  gebort  zu  der  Waat,  Und  was  wyudtshalb  ligt,  gehört  zu  der 
fripen  Herschafft  Gex.» 


276  Der  Lausanncr  Vertrag  von  1564.  —  Beilage. 

Zu  L  e  t  s  t  Das  die  vilgenanten  Herren  der  statt  Bern 
die  beladnuss  aller  der  Houptsuinnien  geltes  nnd  Zinses,  da- 
mit hochgedachter  Hertzog  Carol  Loblicher  gedechtnuss  dise 
der  Herren  der  statt  Bern  bissanher  ingehepten  unnd  beher- 
ßchotten  theil  der  Landschafft  waat  und  andere  sine  hievor 
genempte  zevor  gehepte  Land  und  Herschafften  beladen,  otich 
haft  und  zinssbar  gemacht  hat,  allein  by  pfanndt  and  bandt 
diser  irer  Landschaft  waat  (und  ob  es  von  notten  sin 
wurde)  allen  andern  iren  Herschafften,  Landen  und  gutem 
ze tragen  unnd  zebezallen  für  si  unnd  ire  nachkommen  über 
sich  nemen  unnd  die  Hochgesagte  F.  Dt.  zu  Savoy  unnd  dero 
Erben  unnd  nachkommen  derselben  Houptgüttern  unnd  Zinssen, 
ouch  alles  des  costens  nnd  Schadens,  wöllicher  der  Hochge- 
dachten  F.  Dt.  zu  Savoy  oder  dero  erben  und  nachkommen 
inn  Craft  siner  F.  Dt.  derhalb  hinuss  gegebnen  Houptver- 
schrybungen  oder  inn  einich  anderweg  begegnen  mochten, 
gentzlichen  entheben  und  mit  söllichen  die  F.  Dt.  und  dero 
erben  unnd  nachkommen,  ouch  alle  unnd  jede  Herschafften, 
Landt  und  Flecken,  die  iro  jetzt  von  offtgenanten  Hernn  der 
statt  Bern  wider  zugestelt,  übergeben  und  ingerumpt  werden, 
schadloss  halten  sollen.  Doch  die  Summ,  so  die  Hern  von 
Fryburg,  als  vorstadt,  über  sich  genommen  haben,  hierum 
vorbehalten  unnd  ussgeschlossen. J) 

Unnd  zu  beschluss  diser  fründtlichen  Verhandlung 
haben  die  Herren  Schidpotten 2)  angesechen,  Das  dise  güttige 
Schidigung  keinem  theil  an  andern  iren  habenden  Rechten 
und  gerechtigkeiten,  von  dero  wegen  hierinn  nützit  gehandlet 
worden  ist,  einichen  nachteil  geperen  noch  bringen  solle.3) 

Darzu  wann  dieser  Vertrag  zu  beider  theilen  annem- 
lichen  und  gevelligen  benügen  ussgefürt  und  geendet  wurdet. 
Das  dann  die  F.  Dt.  zu  Savoy  die  Biderben  und  erbern  Lüth 
unnd  Landsessen,  die  iro  in  kraft  diss  fründtlichen  Vertrags 
zugestellt  und  übergeben  werden,  inn  gnaden  bedencken  unnd 
si  allweg  so  gnedig  halten  und  beherschen  wolle,  das  si  ur- 
Bach haben,    sich  alle  Zytt  diser  endrung  zebefrbwen,    unnd 


l)  Art.  21  fehlt  A. 

*)  «wir  die  Schidpotten»  (L). 

aj    Der  Absatz  fehlt  bei  A. 


Der  Lausanner  Vertrag  von  1564.  —  Beilage.  277 

sieb  als  gehorsame  nnderthonen  zu  erzoiigen,    oach  gott  den 
Allmechtigen  umb  ir  F.  Dt.  wolstandt  ze  pitten. l) 

Unnd  Hiemit  solle  ouch  alles  das,  so  sich  zwüschen  Hoch- 
genants  Fürsten  unnd  Hertzogen  zu  Savoy  ab  erstorbnen 
Herren  unnd  Vatter  Loblicher  gedechtnuss  unnd  siner  F.  Dt. 
selbs,  Desglich  iren  verwanndten,  ouch  allen  unnd  jeden  dero 
Aroptlüthen  unnd  angehörigen  an  einem,  Sodann  den  wolge- 
melten  Herren  Schultheisen,  Käthen,  Burgern  unnd  gantzer 
gmeinde  der  statt  Bern  nnnd  allen  den  Iren  am  andern  theil 
inn  der  Zytt  unnd  so  lang  diser  spann,  dessglichen  die  veecht 
unnd  Fyentliche  absagung,  die  derhalben  erwachsen  unnd  uss- 
gangen  ist,  gewert  hatt,  Fyentlicher  Wyss  oder  anderer  ge- 
stalten. Es  [were]  mit  Worten,  werkhen  oder  gethaten,  er- 
gangen und  verhandlet  worden  ist,  gentzlichen  und  aller 
dingen  ufgehept,  hin,  Tod  und  ab,  unnd  inn  Craft  diss  friindt- 
lichen  Vertrags  also  hingelegt  sin,  Das  dero  niemenner  zu 
ungutem  noch  unfründtlicher  wyss  weder  von  einein  noch 
von  dem  andern  theile  gedacht  werden  solle.  Unnd  das  si 
zu  beiden  Sydten  sampt  den  Iren,  glich  als  ob  sich  diser 
Zank  und  Spann  nie  erhept  unnd  gar  nit  vorhanden  gsin 
were,  wol  geeint,  gefridiget,  versünt  unnd  betragen  heissen 
und  sin.  Sich  ouch  hernach,  glich  wie  vor  disem  ingerissnen 
Spanne  geschechen,  als  gute  Liebe  Fröndt  und  nachburen 
gegen  einandern  hallten  unnd  einandern  mögliche  dienst  und 
gnthaten  erzöugen  und  bewyssen  sollen,   Alles  Erberlichen.*) 

[Unnd  als  die  Herren  Schidpotten  diss  alles,  wie  vorstat, 
inn  eines  Fründtlichen  Spruchswyss,  doch  unverpindtlich  unnd 
oft  beider  parthigen  gefallen  angesechen,  unnd  ouch  Si  inn 
diser  Hanndlnng  von  Hochgemeiter  F.  Dt.  gsanndten  ange- 
hört und  verstanden,  wie  iren  vermeinens  inn  abtheilung 
vorbedachter  Lannden  unnd  Herschafften  irem  gnedigen 
Fürsten  and  Heern  noch  etwas  mer  von  der  Landtschafft 
Waat  hinzugethan  werden  sollte,  Unnd  hingegen  das  der 
Herren  von  Bernn  Rathsanwelt  zu  erkhennen  geben,  wie  iren 
erachtens  bv  denselben  iren  Herren  und  Obern  beschwerlich 


')  A  hat  diesen  Satz  als  20.  und  letzten  Artikel:    «Zum  zw  an* 
z  i  g st « n :    wann  diser  Vertrag »  etc. 
*)  Dieser  Absatz  fehlt  bei  A. 


278  Der  Lausanner  Vertrag  von  15C4.  —  Beilage. 

fallen,  ja  khümmerlich  unnd  alsbaldt  gar  nlt  zeerheben  sin 
wurde,  Das  Si  über  die  Lanndt  unnd  Herschafften  Chablaix 
enet  Sews,  Genevoys  unnd  G e x  noch  von  der 
Landschafft  Waat  die  gantze  Herschaft  und  Vogtig  Nyews, 
dartzu  etwas  theils  von  der  Herschafft  und  Vogty  M  o  r  g  e 
von  Händen  geben  sollten,  Da  so  haben  die  Herren  Schid- 
pottcn  beiden  theilen  diss  ir  gestelltes  mittel  zugestellt  und 
geben,  sich  darinn  ze  ersechen  unnd  einer  schliesslichen  ant- 
wurt  darüber  zeendtheken  oder  söllichs  an  ir  jedes  Herren 
unnd  Obern  ze  pringen.  Was  dann  die  Herren  Schidpotten 
liierunder  ferers,  das  der  sach  und  Handlung  zu  guter  ver- 
endung  fürdersam  und  dienstlich  sin  niöcht,  handlen  Khönden, 
Dessen  wellen  sy  sich   bereit   und  geneigt  erpotteu  haben].1) 


!)  Dieser  Schlussabsalz  fehlt  A  und  L.  Statt  dessen  hat  L: 
«Alls  nun  beid  Parthigen  dise  unsere  ussfürliohe  und  Endtliche 
Verhandlung  alles  Inhal ltes  angehört  und  verstanden,  Haben  Si  uss 
ir  beidersyts  hierum b  von  ir  yedes  Herren  und  Obern  gehepten 
g wallt  und  bevelch  zu  dem  ersten  innamen  vilgemellter  irer  gnedi- 
gen  Herren  und  Obern,  ouch  für  ire  Personen,  uns  uneers  bysäan- 
ber  in  diser  sach  angewandten  und  gepruchten  vlisses,  darzu  un- 
serer gehepten  roüg  und  arbeyt  zum  höchsten  gedanckhet,  Und  dar- 
nach gantz  fründtlich  fürgetragen  und  zuerkhenen  geben.  Wie  Si 
umbwillen,  das  Fryd,  Ruh  und  Einigkheyt  erhallten  und  ir  beider- 
sydls  allte  gute  Fründtschafft  wider  gepflantzt  wurde,  diss  unser 
mitt  wüssenthaffler  Theding  und  fründtlichen  Spruchs wyss  ange- 
sechen  und  gesteltes  mittel  in  dem  namen  Gottes  gütigklichen  an- 
nemen  und  angenomen  haben  wollten,  Wolliches  wir,  die  erwollten 
Schidleut  und  Thedingsmener  mit  hertzlichen  Frouden  und  gantz 
gern  ouch  zu  höchstem  gefallen  gehört,  verstanden  und  angenomen. 
Und  haben  daruff  zu  bestand t  und  bekrefftigung  alles  Handel  1s  nach 
irem  hierum b  gegebnen  willen  und  gethanen  endtschluss  verner 
gesetzt,  erkhandt  und  gesprochen,  Nämlichen,  das  Si  zu  beiden  sidten 
nun  mer  zu  Ewigen  Zyten  und  tagen  diser  unserer  gestellten  und 
durch  Si  angeuomnen  Schydigung  und  Betragshandlung,  wie  die 
hievor  geschriben  stat,  nachkomen  und  statt  thun,  Und  dieselbe 
sampt  allem  irem  begriff  und  Inhallt  war,  vest,  stedt  und  unver- 
prochenlich  hallten,  Darwyder  ouch  nyemer  Komen,  thuo,  schaffen, 
verhengen  noch  gestatten  sollen  gethau  werden,  weder  mitt  noch 
one  Recht,  ouch  sonst  in  kein  wyss  noch  weg,  wie  yoch  das  yemer 
sin  und  geschechen  kondte  oder  mochte,  Alles  Erbarlich  und  ge- 
trüwlich.» 

Wilhelm  Oechslu 


Volkswirthschaftliche  Grundfragen/) 

Von 

Dr.  Gustav  H.  Schmidt,  eidg.  Abth.-Secretär. 


*)  Akademische  Antrittsrede,  gehalten  an  der  Universität  Bern 
am  29.  April  1899. 


Volkswirthschaftliche  Grundfragen.  281 


Wenn  wir  nach  der  Stellung  der  politischen  Oeko- 
nomie  in  dem  Kreise  der  Wissenschaften  fragen,  so  finden  wir 
sie  zu  den  Naturwissenschaften  in  Gegensatz  gestellt  und  unter 
die  Geisteswissenschaften  eingereiht.1)  Diese  Scheidung  hat 
man  damit  begründen  wollen2),  dass  in  den  Naturwissen- 
schaften die  Causalitttt,  dagegen  in  den  Geisteswissenschaften 
der  Zweck  das  zunächst  massgebende  Forschungsprinzip  sei. 
Der  Unterschied  ist  aber  schon  darum  nicht  zutreffend,  weil 
es  sich  auch  hier  in  theoretischer  Untersuchung  zuvorderst 
um  die  Causalität  handelt,  und  der  Begriff  eines  Zweckes 
nur  ein  ethisches  Postulat  darstellt.  Wenngleich  der  Causal- 
begriff  den  Zweckbegriff  als  seine  Ergänzung  fordert,  dürfen 
doch  beide  nicht  vermengt,  dürfen  in  die  zu  erklärenden 
Dinge  oder  Ereignisse  keine  ZweckvorstelJungen  hineininter- 
pretirt  werden. 

Zu  einer  sicheren  Erkenntniss  können  wir  auf  keinem 
anderen  Wege  denn  durch  Beobachtung  und  Erfahr- 
ung gelangen,  und  darum,  weil  diese  oft  versagen,  besitzen 
zahlreiche  sogenannte  wissenschaftliche  Gesetze  nur  den 
Charakter  relativer  Gewissheit,  einer  mehr  oder  minder 
grossen  Wahrscheinlichkeit.  Und  wenn  wir  uns  vergegen- 
wärtigen, wie  viel  Theorieen  und  Systeme  im  Laufe  der 
Jahrtausende  und  schon  vor  unseren  Augen  vorübergegangen 
sind,  dann  werden  wir  uns  um  so  mehr  genöthigt  sehen,  uns 

*)  Wilhelm  Dilthey,  Einleitung  in  die  Geisteswissenschaften, 
Versach  einer  Grundlegung  für  das  Studium  der  Gesellschaft  und 
4>r  Geschichte,  Bd.  1,  Leipzig,  1883. 

*)  Wilhelm  Wundt,  Logik,  eine  Untersuchung  der  Principien 
«to  Erkenntniss  und  der  Methode  wissenschaftlicher  Forschung, 
Bd.  1.  Erkenntnisslehre,  Stuttgart  1880,  Band  2,  Methoden  lehre, 
Stuttgart  1883. 


282  Volkswirtschaftliche  Grandfragen. 

vor  vagen  Allgemeinheiten  zu  bewahren  und  das  exacte  De- 
tail der  Einzelwissenschaften  zu  schätzen.  Aber  gewiss* 
treibende  Ideen  sehen  wir  zu  allen  Zeiten  und  bei  allen 
Völkern,  allerdings  nicht  in  derselben  Form,  sondern  in  all* 
mählicher  Entwickelung. 

Es  ist  die  Erfahrung,  welche  uns  auf  den  Gedanken  der 
Entwickelung  bringt.  Allerdings  ist  dieser  Gedanke  nicht 
Gewissheit,  sondern  nur  Hypothese  und  das  Feld  der  Hypo- 
thesen ein  unbegrenztes.  Da  kann  es  nicht  fehlen,  dass  sich 
auf  demselben  die  verschiedensten  Meinungen  geltend  machen, 
dass  Speculationen  in  allen  Richtungen  erfolgen.  Es  ist  klar, 
wie  verschieden  die  Meinungen  darüber  sein  können,  ob  die- 
Näherungswerthe,  zu  denen  wir  auf  Grund  unserer  Erfahr- 
ungen und  Beobachtungen  gelangen,  genügen  oder  nicht.  Und 
überall  und  immer  wieder  erscheint  auch  der  Alchemist. 

Unsere  Wissenschaft  der  politischen  0 Ökonomie  ist  difr 
Lehre  von  der  auf  ihre  Bedürfnissbefriedigung  gerichteten, 
in  gesellschaftlichem  Verbände  sich  vollziehenden  mensch- 
lichen Thätigkeit;  sie  lehrt  erkennen,  wie  der  Mensch 
sich  die  Naturkräfte  dienstbar  macht.  Im  Vordergrunde  un- 
serer Betrachtung  steht  der  Mensch  mit  allen  seinen  indivi- 
duellen und  socialen  Bedürfnissen  und  Bestrebungen.  Einer 
oberflächlichen  Betrachtung  erscheinen  die  menschlichen  Be- 
strebungen nur  auf  das  nächstliegende  gerichtet:  panein  et 
circenses,  essen  und  trinken,  Kleider  und  Schuhe,  Haus  und 
Hof,  Weib  und  Kind,  vielfach  auf  das  wenn  auch  recht  wert- 
lose, zufällig  in  dem  Horizont  des  Einzelnen  als  etwas  beson- 
deres Erscheinende.  Des  Negers  Sinn  steht  nach  Schirm  und 
Cravatte,  wie  des  Kindes  Weihnachtssehnsncht  nach  einem 
v«  niedergeklappten  Cylinderhut».  So  haftet  der  Wilde,  das 
Kind  und  die  kindlichen  Bevölkerungsschichten  in  einfältigem 


Volkswirtschaftliche  Grundfragen.  283- 

Sinn  an  werthlosem  Tand,  und  es  braucht  Erziehung  und  Er-N 
fahrung,  um  das  bessere  zu  schätzen  und  zu  erstreben ;  aber 
es  wächst  der  Mensch  mit  seinen  höheren  Zwecken ;  auch  die- 
ärmeren  Klassen,  über  deren  Putz-  und  Genusssucht  so  viel 
grezetert  wird,  lernen  unterscheiden,  lernen  massh alten,  und 
ihre  Bedürfnisse  wachsen  nicht  nur  quantitativ,  sondern  ver- 
edeln sich  auch  qualitativ. 

Bekanntlich  statuiren  wir,  da  uns  eine  psychische  Ent- 
wickelang nur  auf  der  Grundlage  physischen  Lebens  erscheint, 
in  aller  organischen  Entwickelung  einen  psychophysischen 
Vorgang,  wobei  die  physische  Entwicklung  wohl  nicht  als. 
Ursache,  sondern  vielmehr  als  Wirkung  des  psychischen 
Lebens  anzusehen  ist.  Durch  sorgfältige  Analyse  der  ver- 
schlungenen Thatsachen  des  Bewusstseins  hat  die  Psycho- 
logie1) die  Grundphänomene  gesucht,  welche  als  nicht  weiter 
aufzulösende  Elemente  des  inneren  Entstehens  vorauszusetzen 
sind,  und  betrachtet  als  solche  primitiven  Elemente  die  Em- 
pfindung von  Last-  und  Unlustgefühlen  und  den  Willen,  beide 
stets  mit  einander  verbunden,  und  ihre  Verbindung  das  psy- 
chische Elementarphänomen  der  Triebe,  die  in  immer  ver- 
wickeitere Formen*  äusserer  Willenshandlungen  sich  umsetzen. 
Der  Willensentschluss  ist  hiebei  meist  das  Ergebniss  eines. 
Streites  zwischen  verschiedenen  Motiven. 

Wie  bei  den  niedersten  Wesen  sich  das  psychische  Sein, 
nur  in  einfachen  Triebbewegungen  verräth,  so  beginnt  auch 
das  menschliche  Bewußtsein  mit  ähnlichen  einfachen  Trieben,. 


x)  Wilhelm  Wundt,  Grundzüge  der  physiologischen  Psychologie, 
2  Binde,  3.  Aufl.    Leipzig  1887. 

Gustav  Schmoller,  über  einige  Grundfragen  der  Socialpolitik 
und  der  Volkswirtschaftslehre.  Leipzig  1898.  (Darin  namentlich 
Abhandlung  1,  die  bereits  1874/75  in  den  Jahrb.  f.  Natök.  u.  Statist., 
n.  sep.  erschien.) 


"284  Volkswirtschaftliche  Grundfragen. 

deren  Aeusserungen  freilich  bald  in  Folge  der  vererbten  Or- 
ganisation eine  complicirtere  Beschaffenheit  offenbaren.  Die 
Triebe  lassen  sich  classificiren  nach  den  Gefühlen,  von 
welchen  sie  ausgehen,  und  nach  den  Zwecken,  auf  welche  sie 
gerichtet  sind.  Als  Grundformen  der  Zwecke  erscheinen  : 
der  Selbsterhaltungs-  und  der  Gattungstrieb  mit  zahlreichen 
Unterformen,  nach  den  wechselnden  Färbungen  des  Begehrens 
und  Widerstrebens.  Der  erstere  kann  in  Nahrungs-  und 
Schutztrieb,  der  letztere  in  sexuelle,  Familien-  und  sociale 
Triebe  zerfallt  werden.  Hierbei  findet  ein  wechselseitiges 
Ineinandergreifen  der  einzelnen  Triebe  statt. 

An  Gefühlen  unterscheiden  wir:  das  logische  Gefühl 
der  Uebereinstimmung  und  des  Widerspruchs,  der  Wahrheit 
und  Unwahrheit,  das  sich  auf  die  Objekte  unseres  Denkens 
und  ihr  gegenseitiges  Verhältniss  bezieht,  und  die  ethischen 
Gefühle,  die  aus  dem  subjectiven  Bewusstsein  unseres  Denkens 
und  Handelns  entspringen.  Letztere  äussern  sich  als  Selbst- 
gefühl, indem  das  Ich  durch  eine  Handlung  gefördert  oder 
verletzt  erscheint,  als  Mitgefühl,  durch  Theilnahme  an  den 
Vorstellungen  und  Gefühlender  Gemeinschaft,  sowie  in  Billigung 
oder  Missbilligung  der  das  Gefühl  erregenden  Handlungen ; 
ferner  dem  Bedürfniss  nach  Harmonie  zwischen  den  sittlichen 
Gefühlen  und  den  äussern  Erscheinungen  entsprechend  als 
religiöses  Gefühl  und  als   höhere  ästhetische  Gefühle. 

Aus  übereinstimmenden  Anlagen  des  menschlichen  Be- 
wusstseins  haben  sich  schliesslich  übereinstimmende 
sittliche  Anschauungen  entwickelt.  So  gewaltig  auch 
die  in  den  religiösen  Anschauungen  und  in  den  durch  Sitte 
und  rechtliche  Normen  geregelten  socialen  Erscheinungen  uns 
entgegentretende  Ent Wickelung  des  sittlichen  Bewusstseins 
ist,  verwandt  sind  dennoch  die  Eigenschaften,  die  der  Natur- 
mensch rühmlich  findet  einerseits,  und  anderseits  die  sitt- 
lichen, die  der  Kulturmensch  bevorzugt. 


Volkswirtschaftliche  Grundfragen.  285- 

So  gibt  uus  die  Psychologie,  and  für  das  menschliche 
Gemeinschaftsleben  namentlich  die  Völkerpsychologie,  Auf- 
schlags aber  das  menschliche  Denken  und  Handeln.  Wie  uns 
in  künstlerischer  Weise  Massen-  und  Menschheitspsychologie 
aas  den  Schilderungen  Homer's  und  Sophokles9,  Dante's  und 
Shakespeare^,  und  in  der  Gegenwart  Emil  Zola's  und  Gerhard 
Hauptmannes  oder  aus  den  bildhaften  Gestaltungen  Max  Klinger's 
anspricht. 

Die  wissenschaftliche  Thätigkeit  ist  nnn 
einestheils,  soweit  sie  nur  auf  die  firkenntniss  von  Thatsachen 
gerichtet  ist,  lediglich  eine  explicative,  andererseits  aber 
raisst  sie  nach  bestimmten  Kegeln,  bringt  sie  eine  Wert- 
schätzung zur  Anwendung,  gemäss  den  Normen,  die  durch 
Verallgemeinerung  aus  Thatsachen  in  dem  menschlichen  Be- 
wußtsein und  Willen  gewonnen  sind.  Gewisse  Normen 
stehen  dabei  so  fest,  dass  ein  normwidriges  Verhalten  zu  der 
Unterscheidung  des  Ist  von  dem  Soll  fuhrt.  Um  diesen 
Widerspruch  zu  beseitigen,  verwandelt  sich  das  Sollen  in  ein 
Müssen.  Jede  Norm  ist  zunächst  eine  Vorschrift  für  das 
Handeln  und  sodann  für  die  Beurtheilung  bereits  geschehener 
Thaten.  Diese  Normen  sind  ihrem  Charakter  nach  auf  Logik 
und  Ethik  zurückzuführen,  indem  die  Logik  die  normative 
Basis  der  theoretischen  und  die  Ethik  diejenige  der 
praktischen  Wissenszweige  bildet.  Und  zwar  ist  die 
wissenschaftliche  Untersuchung  überall  da  eine  theoretische, 
wo  es  sich  um  das  Sein,  um  die  Erforschung  des  thatsäch- 
lichen  Zusammenhangs  des  Gegebenen  handelt,  und  praktisch, 
sobald  sie  sich  mit  dem  Sollen,  mit  menschlichen  Willens- 
handlungen beschäftigt1) 


*)  Wilhelm  Wundt,  Ethik,  eine  Untersuchung  der  Thatsachen 
and  Gesetze  des  sittlichen  Lebens.    Stuttgart  1886. 

Friedrich  Paulsen,  System  der  Ethik  mit  einem  Umriss  der 
Staats-  und  Gesellschaftslehre  2  Th.  Berlin  1889  (3.  Aufl.  1894). 


286  Volkswirtschaftliche  Grundfragen. 

Gewisse  ethische  Principien,  wie  die  des  Guten 
lind  Gerechten,  hat  es  zu  allen  Zeiten  und  an  allen  Orten 
gegeben,  und  ohne  sie  erscheint  eine  menschliche  Gemeinschaft 
unmöglich,  wenngleich  auch  hier  eine  Entwickclung  und  Läu- 
terung sich  nachweisen  lässt.  Der  Grieche  und  der  Barbar,  der 
Freie  und  der  Sklave,  galten  nicht  als  gleichartige  und  darum 
nicht  als  gleichberechtigte  Wesen.  Und  bei  den  griechischen 
Gottheiten  herrschten  Betrug.  Hinterlist,  Ehebruch  wie  auf  Erden. 

Doch  vernehmen  wir  einige  Worte  aus  der  classischen 
Litteratur,  die  geeignet  sind,  uns  die  antike  Ethik  zu 
tiharakterisiren  in  ihrem  Wesen  als:  aus  den  sittlichen  An- 
schauungen des  allgemeinen  Bewusstseins  hervorgegangen 
und  zugleich  religiösen  und  praktisch-politischen  Charakters. 

So  heisst  es  bei  Homer  in  der  Odyssee: 
Dass  Du  erkennest  im  Herzen  und  anderen  auch  es  verkündest, 
Wie  viel  besser  es  sei,  gerecht  als  böse  zu  handeln, 

und  in  der  Ilias: 
Wer  dem  Gebot  der  Götter  gehorcht,   den  hören  sie  wieder. 

Ferner  von  Sokrates  in  Plato's  Gastmahl: 
Nichts  ist  so  gewiss    und  klar  für  mich  als  das,  dass  ich  so 
gut  und  edel  sein  muss,  wie  es  irgend  in  meinen  Kräften 
steht. 

Sophokles  lässt  einen  Chor  in  seinem  König  Oedipus 

singen.  Gönnte  stets  mir  doch  das  Schicksal 

Frömmigkeit  in  Wort  und  Werken, 
Scheu  vor  jenen  Urgesetzen, 
Jeneu  hoben,  die  des  Aethers 
Hcil'ger  Götterschoos  gebar! 
Des  Olympos  hehre  Kinder, 
Nicht  gezeugt  von  ird'schen  Wesen, 
Senket  sie  nimmer  die  Zeit  in   Vergessenheit, 
Jugendlich  blühend  erhält  sie  ein  Gott. 

und  Euripides  in  seiner  Helena: 


Volkswirtschaftliche  Grundfragen.  287 

Noch  nie  war  einer  glücklich,  welcher  Unrecht  that, 
Des  Heiles  Hoffnung  blühet  den  Gerechten  nur. 

Cicero,  pro  Ligario  sagt: 
Die  Menschen  kommen  durch  nichts  den  Göttern  näher,    als 
wenn  sie  Menschen  glücklich  machen. 

Plato's  sittliche  Ideen  sind  nicht  empirischen,  sondern 
metaphysischen  Ursprungs. 

Das  höchste  Gut  ist  ihm  nicht  die  Lust,  auch  nicht  die 
Einsicht  allein,  sondern  die  möglichste  Verähnlichung  mit 
Gott  als  dem  absolut  Guten.  Nicht  um  des  Lohnes  und  der 
«Strafe  willen,  sondern  an  sich  selbst  als  Gesundheit  und 
Schönheit  der  Seele  ist  die  Tugend  erstrebenswerth.  Unrecht 
thun  ist  schlimmer  als  Unrecht  leiden.  Der  Besitz  des  Guten 
ist  Glückseligkeit.  An  das  xuXov  xal  ayu&bv  elvtu  knüpft  sich 
die  tvdtuuovUt.  Der  Staat  ist  der  Mensch  im  Grossen.  Der 
Staat  ist  gegründet,  damit  nicht  eine  Klasse,  sondern  die 
Gesamintheit  möglichst  glückselig  sei.  Die  höchste  Aufgabe  des 
Staates  ist  die  Bildung  der  Bürger  zur  Tugend.  Bei  den 
Herrschern  und  Kriegern  soll  neben  der  Richtung  auf  das 
Wahre  und  Gute  kein  individuelles  Interesse  aufkommen; 
sie  alle  sollen  im  strengsten  Sinne  eine  einzige  Familienge- 
ineinschaft  bilden,  ohne  Ehe  und  ohne  Privateigentum.  Als 
spätestes  Lehrobjekt  ist  den  Gereiftesten  die  Erkenntniss  der 
Idee  des  Guten  vorbehalten. 

Bei  Aristoteles  besteht  die  sittliche  Tugend  nicht 
mehr  im  richtigen  Wissen,  sondern  im  guten  Wollen,  das 
zwar  vom  Wissen  abhängig,  aber  nicht  mit  ihm  identisch  ist. 

Das  Ziel  der  menschlichen  Thätigkeit  oder  das  höchste 
Gut  ist  ihm  die  Glückseligkeit.  Diese  beruht  auf  der  ver- 
nünftigen oder  tugendgemässen  Thätigkeit  in  der  vollen 
Dauer  des  Lebens.  An  die  Thätigkeit  knüpft  sich  als  deren 
Blütbe  und  naturgemässe  Vollendung  die  Lust.     Die  Tugend 


288  Volkswirtschaftliche  Grundfragen. 

ist  die  aus  der  natürlichen  Anlage  hervorgebildete  Fertigkeit, 
sich  yernunftgemäss  zu  verhalten.  Die  höchste  unter  den 
ethischen  Tugenden  ist  die  Gerechtigkeit,  d.  i.  die  gesammte 
ethische  Tugend,  sofern  sie  auf  den  Nebenmenschen  Bezug: 
hat.  Der  Mensch  bedarf  zur  Erreichung  der  praktischen  Lebens- 
ziele des  Menschen  und  zur  vollen  Glückseligkeit  einer  hinläng- 
lichen Ausrüstung  mit  äusseren  Gütern.  Nur  im  Staate  ist 
die  sittliche  Aufgabe  lösbar.  Der  Mensch  ist  von  Natur  ein 
für  die  staatliche  Gemeinschaft  bestimmtes  Wesen  (av&ponog 
floH  noXirixov  £<yor).  Der  Staat  ist  entstanden  um  des 
Lebens  willen,  soll  aber  bestehen  um  des  sittlich  guten 
Lebens  willen;  seine  Hauptaufgabe  ist  die  Bildung  der  Jugend 
und  der  Bürger  zu  sittlicher  Tüchtigkeit 

Der  Gegensatz  der  christlichen  und  der  neueren 
philosophischen  Ethik  liegt  darin,  dass  erster e  reli- 
giöser Art  die  sittlichen  Ideen  für  göttlichen  Ursprung» 
erachtet,  —  so  sagt  Thomas  von  Aquino :  Gott  ist  causa  ef- 
ficiens  und  causa  finalis  der  Welt.  Es  muss  einen  ersten  Be- 
weger oder  eine  erste  Ursache  geben,  weil  die  Kette  der  Ur- 
sachen und  Wirkungen  keine  unendliche  Zahl  von  Gliedern 
haben  kann.  Die  Ordnung  der  Welt  hat  einen  Ordner  zur 
Voraussetzung  —  während  die  Philosophie  die  Ethik  aus  der 
Psychologie  ableitet.  In  ihren  Ausführungen  aber  sagen 
beide,  «nur  mit  ein  bischen  anderen  Worten»,  ungefähr  das- 
selbe; wenn  es  auch  den  Forschern  vielfach  nicht  zum  Be- 
wusstsein  kommt,  wie  stark  die  Wechselwirkung  ist. 

Es  sagen's  aller  Orten 

Alle  Herzen  unter  dem  himmlischen  Tage, 

Jedes  in  seiner  Sprache.    (Göthe.) 

Die  sittliche  Weltanschauung  des  Christenthums  entfernt 
sich   von  derjenigen   des  Alterthums  hauptsächlich   in  3  Be- 


Volkswirtschaftliche  Grundfragen.  289 

Ziehungen :  in  der  Auffassung  des  Verhältnisses  des  Menschen 
zu  Gott,  der  Menschen  unter  einander  und  der  sinnlichen  zu 
den  sittlichen  Eigenschaften  und  damit  in  den  Vorstellungen 
von  der  Bestimmung  des  Menschen.  An  die  Stelle  des  heid- 
nisch-religiösen Motivs  der  Furcht  vor  den  Göttern  trat  das 
Motiv  der  Liebe,  und  mit  dem  Gedanken  der  gemeinsamen 
Gotteskindschaft  verschwanden  die  Schranken  der  Nationalität 
and  der  Stände. 

Hatte  die  Idee  einer  sittlichen  Weitordnung  von  dem 
egoistischen  Standpunkt  aus  zu  Wiedervergeltungsvorstellungen 
nach  dem  Tode  geführt,  so  läuterte  sich  das  sittliche  Ideal 
zu  der  sittlichen  Handlung  um  ihrer  selbst 
willen.  Und  auch  das  Christenthum  verlangt  mit  aller  Be- 
stimmtheit, dass  jeder  für  sich  persönlich  und  für  die  mensch- 
liche Gemeinschaft  das  Ziel  steter  Vervollkommnung  anzu- 
streben habe.  Von  Belohnung  und  Strafe  unabhängige  Motive 
einer  ethischen  Lebensführung  entsprechen  dem  Ideal  eines 
Gottesreiches  in  diesem  und  einem  anderen  Leben. 

Dagegen  steht  die  nicht  auf  psychologischer  noch  ethischer 
Basis  ruhende  mechanistische  Weltanschauung  vor  der  Frage 
des  Wozu?  und  des  Nihilismus.1)  So  findet  Eleutheropulos2) 
einerseits  «  die  Sittlichkeit  nothwendig,  im  Wesen  des  Men- 
schen begründet  und  von  ewiger  Gültigkeit»,  nennt  sie  an- 
dererseits aber  doch  «eine  optische  Täuschung.» 

Einer  egoistischen  Ethik  entspricht  eine  atomistisch  ge- 
dachte Gesellschaft,  während  die  christliche  und  ebenso  die 
utilitaristische  Ethik  (Hume,  Locke)  und  auch  der  Kant'sche 
Imperativ,  sein  durch  keine  Nu tzlichkeitser wftgung  bedingtes 


l)  Friedr.  v.  Hellwald,  Kulturgeschichte  in  ihrer  natürlichen 
Entwicklung  bis  zur  Gegenwart.     2  Bde.,  2.  Aufl.  Augsburg  1876. 

*)  Abr.  Eleutheropulos,  Die  Sittlichkeit  oder  der  philosophische 
Sittlidikeitswahu.    Berlin  1899. 

19 


290  Volkswirtschaftliche  Grundfragen. 

Pflichtgebot:  «Handle  so,  dass  die  Maxime  Deines  Willens 
jederzeit  zugleich  als  Princip  einer  allgemeinen  Gesetzgebung 
gelten  kann,  >  auf  das  Gesauimtwohl  den  entscheidenden 
Werth  legen  und  die  Zwecke  in  gewissem  Grade  als  Ideale 
betrachten,  auf  die  hin  die  Entwicklung  zielt.  Und  von  den 
neueren  Philosophen  bezeichnet  Wundt  zwei  sociale  Zwecke 
als  die  eigentlichen  Objekte  des  sittlichen  Woliens,  nämlich: 
die  öffentliche  Wohlfahrt  und  den  allgemeinen 
Fortschritt,  entsprechend  der  Selbstbeglückung  und  Selbst- 
vervollkommnung auf  individuellem  Gebiete  und  in  enger 
Wechselwirkung  mit  einander.  Bei  der  Nichtigkeit  und  Ver- 
gänglichkeit unseres  Einzeldaseins  richten  wir  naturgemäss 
unsern  Blick  auf  die  gesammte  Entwickelung  der  Menschheit 
und  ihre  fortschreitende  Vervollkommnung,  mit  dem  Endzweck 
«der  Herstellung  einer  allgemeinen  Willensge- 
meinschaft der  Menschheit,  als  der  Grund- 
lage für  die  möglichst  grosse  Entfaltung  menschlicher  Geistes- 
kräfte zur  Hervorbringung  geistiger  Güter*.1) 

Jede  unsittliche  That  aber  negirt  den  selb- 
ständigen Werth  des  eigenen  oder  eines  fremden  Lebens  oder 
eines  dem  Individuum  übergeordneten  Gesammtlebens  und 
hebt  in  ihren  Folgen  das  Humanitätsideal  auf.  Sie  ist  in 
diesem  Sinne  Auflehnung  eines  Einzelwillens  oder  eines  be- 
schränkten Gemeinschaftswillens  gegen  den  Gesammtwillen 
der  Menschheit.  Das  Unsittliche  oder  Zweckwidrige  im  sitt- 
lichen Leben  erklärt  sich  aus  sittlicher  Schwäche  und  mangel- 
hafter Erkenn tniss  oder  aus  sittlicher  Bosheit,  die  auf  Willens- 
schwäche oder  verkehrter  Wrillensrichtung  beruhen  und  Unter- 
lassung des  Guten  oder  Erzeugung  des  Schlechten  bewirken. 2 ) 


i)  Wilh.  Wundt,  System  der  Philosophie,  Leipzig  1889. 
s)  Rud.  v.  Jhering,  der  Zweck  im  Recht.  Bd.  1,  2.  Aufl.     Leipzi; 
1884.    Bd.  2,  1883. 


Volkswirtschaftliche  Grundfragen.  291 

Als  sittliche  Normen  bezeichnet  Wundt  die 
individuellen  Normen  der  Selbstachtung  und  Pflicht- 
treue, die  socialen  der  Nächstenliebe  und  des  Gemein- 
siiuis,  die  humanen  der  Demuth,  im  Gefühl  der  unend- 
lichen Aufgabe,  und  der  Selbstlosigkeit  und  die  Normen  des 
R  e  c  h  t  s  und  der  Gerechtigkeit.  Aus  der  Sitte  entsteht 
Bechtsgewohnheit,  Gewohnheitsrecht  und  Gesetzesrecht,  zum 
.Schutze  des  Rechts  das  Strafrecht;  immer  mehr  wird  privates 
Hecht  zu  öffentlichem  Recht,  und  entwickelt  sich  das  Rechts- 
bewusstsein  zur  Durchführung  grösserer  Staatszwecke. 

Als  sittliche  Lebensgebiete  erscheinen : 
Beruf,  Besitz,  geistige,    religiöse   uud  künstlerische   Gebiete. 

Als  Gemeiuschaftsorganisationen  (und 
2 war  als  Besitz-,  Wirthschafts-,  Rechts-,  Gesellschafts-  und 
Bildangsgemeinschaften)  sind  zu  nennen :  Stamm  und  Familie, 
Gesellschaftsklassen,  Gemeinde,  Staat,  die  Kulturstaaten  und 
zuletzt  die  Menschheit.  «Hiermit  hat  die  Idee  der  Humanität 
«inen  nie  zu  erschöpfenden  Inhalt  gefunden,  ans  dem  sich 
ein  Pfiichtbewusstsein  der  Völker  entwickelt,  das  den  sitt- 
lichen Lebensaufgaben  des  Einzelnen  Richtung  und  Ziel  gibt.» 

Wie  die  Negation  allein  nicht  befriedigt,  das  zeigt  das 
öffentliche  Leben  der  Gegenwart  deutlich.  Der  naturwissen- 
schaftliche Materialismus  mit  seinem  Dogma  des  Individualis- 
mus und  dem  Rechte  des  Stärkern  auf  Unterdrückung  und 
Vernichtung  des  Schwächern1),  der  schon  Charles  Darwin2) 
so  weit  führte,  die  Trade  Unions  als  Vereinigung  Schwächerer 


1)  Leopold  Jacoby,  Die  Idee  der  Entwicklung,  eine  social-philo- 
sophische  Darstellung.    2  Th.   2.  Aufl.    Zürich,  1887. 

Ludwig  Büchner,  Friedrich  Nietzsche,  Ernst  Häckel. 

*)  Brief  Darwin's   an  Prof.  Dr.  Heinr.  Fick    in  Zürich)    dalirt 
Down  Beckenham,  Kent,  July  26.  1872 : 


292  Volkswirtschaftliche  Grundfragen. 

zu  verdammen,  diese  Lehre  hat  uns  nicht  an  das  Ende  der 
Dinge  geführt,  sie  schärfte  nur,  nachdem  die  erste  Begeiste- 
rung" über  ihre  Entdeckungen  vorbei  war,  das  Verlangen 
und  die  Sehnsucht  nach  Erkenntniss;  das  Dunkel  des  nur 
Geahnten  erschien  um  so  tiefer,  je  heller  das  Licht  der 
Wissenschaft  leuchtete.  Und  auch  dem  alten  Darwin1)  hat 
es  noch  gedämmert:  «dass  auf  Grand  der  Beobachtung  in 
unserer  modernen  Civilisation  eine  natürliche  Auslese  nicht 
zu  Stande  komme  und  die  Tüchtigsten  nicht  überleben.  Die 
Sieger  im  Kampf  um  das  Geld  sind  keineswegs  die  Besten 
oder  die  Klügsten.»  Wenn  auch  Darwin  (1809 — 1882)  zu 
einer  für  die  Zukunft  der  Menschheit  hoffnungsvollen  An- 
schauung sich  nicht  mehr  aufzuschwingen  vermochte. 

Es  ist  zu  beachten :  Eine  Gesellschaftsordnung,  die  ledig- 
lich kraft  Naturgesetz  bestünde,  gibt  es  nicht8)  und  ist 
ein  Widerspruch  in  sich  selbst,  denn  es  umgeben  uns 
nicht    blosse     Natur  Verhältnisse,     sondern     eine    Welt     der 


«1  much  wish  that  you  would  sometimes  take  occasion  \o 
discuss  an  allied  point,  if  it  holds  good  on  the  continent.  namely 
the  rule  insitted  on  by  all  our  Trades-  Unions,  thal  all  workmeu, 
—  the  good  and  bad,  the  strong  and  week,  —  should  all  work  for 
the  same  number  of  hours  and  receire  the  same  wages.  These 
unions  are  also  opposed  to  piecework,  —  in  that  to  all  competüion 
I  fear  that  cooperative  Societies,  which  inany  look  at  as  tbe.  main 
hope  for  the  future,  likewise  exelude  competüion.  This  stems  to  we 
a  great  evü  for  the  future  progress  of  mankind.» 

*)  Alfred  Russell  Wnllace,  Menschliche  Auslese,  in  der  «Zukunft*. 
Bd.  8,  Berlin,  1894. 

2)  Werner    Sombarl,    Ideale   der    Social politik,  im  Archiv  für 
sociale  Gesetzgebung  und  Statistik,  Berlin  1897. 

Frz.  Walter,  Sozialpolitik    und  Moral  (vom  Erzbisch  of    von 
Freiburg  approbirt),  Freiburg  i.  ß.  1899. 


Volkswirtschaftliche  Grundfragen.  293 

Kultur,  die  der  menschliche  Wille  erschaffen  hat.  Börse 
und  Armenhans,  Rentiers,  Industriebarone,  Börsenjobber, 
Privatmonopolisten  neben  nichtsbesitzenden  Lohnarbeitern  und 
arbeitslosen  Proletariern  sind  gewiss  keine  blossen  Natur- 
produkte, sondern  Prodnkte  unserer  socialen  und  rechtlichen 
Ordnung,  die  in  fortwährender  Umbildung  und  Entwickelnng 
begriffen  ist  und  neben  herrlichen  Lichtseiten  solche  Schatten- 
bilder aufweist.  Als  Glied  einer  Gesammtheit  unterliegt  der 
Mensch  ihrem  Milieu,  ihren  zwingenden  socialen  Verhältnissen ; 
aber  darum  statuiren  wir  keine  vom  Einzelwillen  unbeein- 
flussbare  Naturnotwendigkeit.  Zum  Beweise,  wie  individuelle 
Willen6acte  Ursachen  von  grosser  Wichtigkeit  sein  können, 
weist  J.  Stuart  Mill  in  seiner  Logik  auf  die  Thätigkeit  des 
Steuermanns  in  einem  Sturm  hin.  Und  innerhalb  der  von  der 
Xatur  uns  gesteckten  Grenzen  liegt  dem  freien  Willen  ein 
weites  Feld  wirthschaftlicher  Bethätigung  offen. 

Insofern  die  Volkswirtschaftslehre  die  Wissenschaft  von 
der  im  Verbände  der  menschlichen  Gesellschaft  sich  vollzie- 
henden, auf  die  Erlangung  von  Gutern  gerichteten  Thätigkeit 
darstellt,  ist  noch,  nachdem  wir  die  menschliche  Natur  und 
die  Motive  menschlichen  Handelns  charakterisirt  haben,  auf 
die  äussern  Objecto  der  Natur  als  die  Basis 
'ier  menschlichen  Anstrengungen  hinzuweisen.  Bier  stossen 
vir  auf  den  Boden  in  seiner  natürlichen  Dotation,  auf  die 
Terticale  Configuration  der  Erdoberfläche  und  die  horizontale 
der  Meeresküsten,  Temperatur  und  Klima  etc.,  knrz  anf  die 
Productionsgrundlagen  und  -Bedingungen,  von  denen  die  Mög- 
lichkeit und  Ergiebigkeit  der  Bethätigung  im  Landbau  und 
Bergbau,  in  der  Industrie,  im  Handel  und  Verkehr  und  die 
ganze  wirtschaftliche  Lage  abhängt.     Und    die  wirth schaff- 


294  Volkswirtschaftliche  Grundfragen. 

liehe  Lage  ist  die  Voraussetzung  aller  höhern  Kultur,  aller 
künstlerischen  und  wissenschaftlichen  Entwickelung. ]) 

Da  ja  jede  Volksgemeinschaft  nach  Erwerbs-  und 
Berufsgruppen  gegliedert  ist,  so  ist  die  sociale  Lage 
der  einen  verknüpft  mit  landwirtschaftlichen,  der  andern 
mit  industriellen  und  commerciellen  Verhältnissen.  Die  Unter- 
scheidung Steinbach's*),  dass  die  Organisation  des  Berufs 
wesentlich  auf  ethischen,  dagegen  die  Organisation  des  ge- 
wöhnlichen Erwerbes  auf  wirthschaftlichen  Momenten  beruhe, 
ist  indessen  insofern  belanglos,  als  Erwerb  im  allgemeinen 
nur  in  einem  Berufe  zu  finden  ist.  Und  wenn  die  wirth- 
schaftlichen Motive  auch  meist  die  nächstliegenden  sind,  so 
finden  sich  ethische  Momente  doch  an  beiden  Orten,  und  der 
Begriff  des  banausischen  ist  für  eine  geläuterte  Anschauung 
ebensowenig  der  r^n  immanent  wie  den  liberalen  Berufs- 
arten: «Des  Arbeiters  Hand  ist  immer  rein,  und  sollte  sie 
russig  und  schweissig  sein.»8) 

Weil  sich  nun  das  volkswirtschaftliche  Leben  aus  land wirt- 
schaftlich, commerciell  und  industriell  etc.  thfttigen  Berufs- 
gruppen zusammensetzt,  und  jede  kleine  Störung  und  Aende- 
rung  in  diesen  Grundlagen  von  gewichtigen  Folgen  für  das 
Wohl  und  Wehe  Einzelner  oder  ganzer  Gemeinschaften  sich 
erweist,  so  kann  keine  volkswirtschaftliche  Kenntniss  exi- 
stiren,    ohne   Kenntniss   oder   wenigstens    Verständniss   auch 


')  Karl   Knies,    die   politische  Oekonomie   vom   geschichtlichen 
Standpunkt,  2.  Aufl.    Braunschweig  1883. 

Alb.  Schaffte,  Bau  und  Leben  des  sozialen  Körpers,  4  Bde. 
Tübingen,  1875 — 78  und:  Der  Staat  und  sein  Boden,  in  der  Zett- 
schrift iür  die  ges.  Staatswissenschaft.    Bd.  55.    Tübingen  1899. 

Friedr.  Katzel  u.  a.  über  Anthropogeographic  und  politische 
Geographie. 

*)  Emil  Steinbach,  Erwerb  und  Beruf,  Wien  1896. 
8)  Leopold  Jacoby,  Quinta,  2.  Aufl.    Zürich  1895. 


Volkswirtschaftliche  Grundfragen.  295 

der  social  wichtigen  technischen  Prozesse  der 
Einzelwirtschaften.  Die  alteren  Nationalöko- 
nomen der  Caineralisten  d.  i.  Kammer-  oder  Domänen-Beamten, 
hatten  hier  einen  grossen  Vorrang,  sie  waren  vertraut  mit  land- 
wirtschaftlichen und  auch  mit  den  damals  noch  einfachen 
gewerblichen  Verhältnissen.  Die  fortschreitende  industrielle 
Entwickelung  und  Arbeitstheilung  erschwert  und  verunmög- 
licht  nun  zum  Theil  den  Erwerb  dieser  Kenntnisse,  aber  ent- 
behrlich sind  dieselben  damit  nicht;  ihr  Nichtvorhandensein 
bleibt  ein  Mangel,  der  in  der  Litteratur  und  Politik  nur  allzu 
deutlich  zu  Tage  tritt. 

Wie  wollen  wir  über  Arbeitslöhne,  Arbeitsverträge,  Lehr- 
lingswesen, Wanderarbeiter,  Naturallöhne,  landwirtschaftliche 
Verschuldung,  Fabrikgesetzgebung,  Arbeitslosigkeit,  etc.  ur- 
theilen,  ohne  specielle  volkswirtschaftliche  und  technische 
Kenntnisse  ?  Oder  wollen  wir  etwa,  wie  der  Philosoph  in 
Klingcr's  Darstellungen  vom  Tode,  im  Hängen  von  eisiger 
Bergesspitze  nach  der  entglittenen  Brille  angeln?  Nur  wer 
selber  Meister  ist,  kann  ein  Meisterstück  beurtheilen.  Und 
«eine  Unze  Thatsachen,  sagt  ein  englisches  Sprichwort,  wiegt 
mehr  als  eine  Tonne  Theorieen.» 

Die  Nationalökonomie  hat  demnach  in  ihrem 
allgemeinen  Theil  dio  Erkenntniss  der  complicirten 
wirtschaftlichen  Verhältnisse  zu  liefern,  sowohl  nach  ihrer 
technisch-ökonomischen  Seite,  d.  i.  vom  Standpunkt 
der  Production,  der  Gütererzeugung  mit  den  geringst  mög- 
lichen Kosten,  als  auch  nach  ihrer  socialpolitischen 
Seite  hin,  d.  i.  vom  Standpunkt  der  Distribution,  der  Ver- 
keilung des  Productes  und  der  Lage  der  betheiligten  Klassen. 

Zu  solch  allseitiger  Klarlegung  der  wirthschaftlichen 
Verhältnisse   bieten  sich  uns  die  Wege  der  Beobachtung  und 


296  Volkswirtschaftliche  Grundfragen. 

Erfahrung  und  die  historische  wie  die  statistische  Methode,  die 
historische  Methode,  insofern  wir  etwas  erst  recht  er- 
kennen, wenn  wir  es  in  seinem  Entstehen  und  seiner  Ent- 
wickeln g  verfolgt  haben,  und  diestatistischeMethod  e1), 
insofern  dieselbe  uns  durch  Auszählen  der  charakteristischen 
Einheiten  über  die  Beschaffenheit  von  Massenerscheinungen  Auf- 
schluss  gibt.  Die  Auszahlung  lehrt  uns  die  Quantitätsverhältnisse 
kennen  und  führt  zur  Vergleichung  der  Summen  in  homogenen 
Massen  unter  Beduction  auf  gleiche  Nenner.  Dadurch  gelangen 
wir  zu  einem  Urtheil  über  die  Grösse  der  eingetretenen  wie  der 
erfahrungsgemäs8  als  wahrscheinlich  zu  erwartenden  Er- 
scheinungen (z.  B.  der  Sterblichkeit  und  Todesursachen  in  den 
einzelnen  Bevölkerungsklassen).  Und  in  den  Reihen  der  gleich- 
massig  oder  entgegengesetzt  oscillirenden  Summen  haben  wir 
Hinweise  auf  die  nach  den  Ursachen  und  Wirkungen  der 
Phaenomene  zu  vermnthenden  Kausalzusammenhänge  (z.  B. 
Kindersterblichkeit  und  Ernährung).  Während  das  Experiment 
von  den  bestimmten  Ursachen  auf  deren  Wirkungen  Schlüsse 
gestattet,  schliesst  die  Statistik  umgekehrt  von  den  bekannten 
Wirkungen  auf  deren  Ursachen  zurück  und  zwar  in  Fällen, 
in  denen  uns  ein  anderes  Mittel  meist  überhaupt  nicht  zur 
Verfügung  steht. 

Die  praktische  Nationalökonomie  oder  Volks- 
wir  th  schaftspoli  tik  legt  die  sittlichen  Normen 
an  die  volkswirtschaftlichen  Zustände,  und  auf  Grund  der 
Beurtheilung  sucht  sie  einen  entsprechend  hebenden  Einfluss 


i)  Chr.  Sigwart,  Logik,  2  Bde.,  1873  u.  1878.  Bd.  2,  §  101 
u.  102,  Hülfsmethoden  der  Induction. 

G.  iL  Schmidt,  die  Statistik  als  Lehrfach  (Referat  auf  der 
Zürcher  Statistikcr-Conferenz),  in  der  Zoitschr.  für  Schweiz.  Statistik- 
Bern  1894,  auch  sep.  Zürich  1894. 


Volkswirtschaftliche  Grundfragen.  297 

■auszuüben.  Als  oberstes  Ziel  bietet  sich  uns,  sub  aeternitatis 
specie,   die  Fortbildung  des  Cfjv    zum  *i  £?>,  zur  Humanität. 

Als  wichtige  Factoren  einer  socialen  Harmouisirung  er- 
scheinen die  gern  ein  wir  thschaf Hieben  Organisationen,  namentlich 
der  Staat  und  die  Kirche,  die  sich  keineswegs  *)  täglich  an 
Autorität  einbüssend  erwiesen  haben,  vielmehr  bereit  und 
fähig  sind,  neue  Ideen  in  sich  aufzunehmen  und  zur  Geltung 
zu  bringen. 

Die  Vorfrage  in  practisch-politischer  Betrachtung  lautet 
dahin:  was  absolute,  ökonomische,  also  unabänder- 
liche und  was  der  Fortbildung  unterliegende,  historische 
Kategorie2)  ist.  Die  Dogmen  von  der  überall  segens- 
reichen freien  Concurrenz  3)  und  der  höheren  Form  des  Privat- 
eigenthunis,  lassen  sich  nicht  aufrecht  erhalten,  indem  die 
geschichtliche  Betrachtung  uns  die  vielen  bezüglichen 
Wandlungen,  und  die  Kritik  nicht  nur  den  Segen,  sondern 
auch  die  fluchwürdigen  Seiten  offenbart.  Unter  Berück- 
sichtigung der  jeweiligen  Verhältnisse  wird  das  ürtheil 
verschieden  lauten,  nicht  mehr  absolut,  sondern  relativ;  und 
entsprechend  den  Ansichten  und  Verhältnissen  werden  indivi- 
dualistische Freiheit  und  sociale  Gebundenheit  ihre  Grenz- 
steine hin  und  her  versetzen  müssen.  Oft  treten  verschiedene 
Motive  mit  einander  in  Conflict,  und  erst  die  Wucht  der  Ar- 
omen te  entscheidet.  Und  wie  alle  Detailfragen  nur  auf 
lirnnd    einer    genauen  Kenn tniss    der    wirthschaft- 

l)  Ludwig:  Stein,  Die  sociale  Frage  im  Lichte  der  Philosophie, 
Mutigart  1897. 

»j  G.  Rodbertus-Jagetzow,  sociale  Briefe  an  v.  Kirchmann, 
2.  Aufl.     Berlin  1875. 

3j  In  dem  Bericht  des  eidgenössischen  Versicherun gsamtes  pro 
1897  (Direktor  Dr.  J.  Kummer)  müssen  wir  pag.  XIII  noch  den 
Satz  lesen:  «Die  wünschbarc  Grenze  (sc.  des  Gewinnes  von  Actien- 
unternebruungen)  ist  gezogen  durch  die  Konkurrenz.» 


298  Volkswirtschaftliche  Grundfragen. 

liehen  Zustände  behandelt  werden  können,  so  kann 
socialwissenschaftliche  Theorien,  wenn  solche  mehr  als  Be- 
kenntnisse oder  vage  Behauptungen  sein  sollen,  nur  auf- 
stellen, wer  auf  dem  volkswirtschaftlichen  Gebiete 
gründlich  orientirt  ist.  Subjective  Erfahrungen  und  Studien, 
wie  die  ganze  Lebens-  und  Weltauflassung,  werden  dabei 
die  menschlichen  Vorstellungen  und  Urtheile  stets  beeinflussen, 
so  dass  sich  socialpoli tische  Bestrebungen  verschiedener 
Klassen  unterscheiden  lassen,  die  alle  nach  der  Herrschaft 
streben  und  gemäss  ihren  Anschauungen  und  Interessen 
handeln.  Diese  verschiedenen  Bestrebungen  können  das 
Tempo  der  Entwickelung  verlangsamen  oder  einander  in  zeit- 
licher Folge  ablösen  und  im  Zickzackeurs  als  Kompromisse  bald 
nach  dieser  bald  nach  jener  Seite  wirksam  sein. 

Nebenbei  muss  erwähnt  werden,  dass  es  keine  be- 
sondere Socialpolitik  gibt,  sondern  der  sociale  Ge- 
danke mehr  oder  weniger  hervortritt  in  den  einzelnen  Zwei- 
gen der  praktischen  Nationalökonomie,  als  der  Agrar-,  Ge- 
werbe- und  Handelspolitik.  Und  eine  staatliche  Organisation 
ist  kein  Gefängniss,  sondern  eine  den  Bedürfnissen  der  Ge- 
sellschaft adaequate  Form. 

Da  Gau  und  Stamm  sich  als  zu  klein  erwiesen,  er- 
weiterte sich  das  Gebilde  zu  territorialer,  nationaler  und 
cultureller  Zusammenfassung.  Die  heutigen  Nationalstaaten 
entsprechen  gewiss  nicht  mehr  in  allen  Punkten  der 
stetig  an  Bedeutung  gewinnenden  und  einen  Kulturfort- 
schritt darstellenden  Weltwirtschaft  und  dem  die  ganze 
Kulturwelt  umspannenden  gleichartigen  Denken  und  Fühlen. 
Daher  die  Zoll-,  Handels-  und  Niederlassungsverträge  und  die 
Bestrebungen  zur  Einbürgerung  ansässiger  Ausländer,  wie 
zur  Schaffung  grosser  Zollbündnisse  für  Europa  und  ebenso 
Amerika,  oder  gar  der  Vereinigten  Staaten   von  Europa  wie 


Volkswirtschaftliche  Grundfragen.  299 

von  Amerika1),  daher  die  internationalen  Biireaux  und  Con- 
ferenzen  aller  Art. 

Hiemit  sind  die  besonderen  wirtschaftlichen  Bestreb- 
ungen und  socialen  Klassenkämpfe  aber  noch 
nicht  aus  der  Welt  geschafft,  wenngleich  die  Kampfformen 
dadurch  gewinnen,  dass  die  Kämpfenden  die  Stellungnahme 
ihrer  Gegner  verstehen  und  als  relativ  berechtigt  würdigen 
lernen.  Und  gewiss  ist  auch,  der  ideellen  und  politisch-for- 
malen Gleichheit  folgend,  eine  grössere  ökonomische  Gleich- 
heit im  Vormarsch  begriffen  und  das  Renteneinkommen  zu 
Gunsten  des  Arbeitseinkommens  in  die  Defensive  geworfen : 
gemäss  dem  «wer  nicht  arbeitet,  soll  auch  nicht  essen»  und 
«Jeder  Arbeiter  ist  seines  Lohnes  werth.»  Wissen  wir  doch,, 
dass  nicht  das  nächstliegende  Interesse  des  Einzelnen  Trieb- 
kraft allein  ist,  sondern  dass  mitwirkt :  die  auf  weiterem  Blick 
und  reifer  Erfahrung  ruhende  Ueberzeugung  von  dem  dauern- 
den Interesse  der  Familie,  der  Nachkommen,  der  Mitbürger 
«ad  der  Menschheit.  Weiss  doch  heute  jeder  König  oder 
kann  er  es  wissen,  dass  wie  in  seinen  Adern  Bettlerblut  rollt,, 
jeder  Bettler  einst  einen  adligen  oder  fürstlichen  Ahnherrn 
hatte.2)  So  weist  auch  die  herrschenden  Klassen  ihr  Rechts- 
gefuhl  und  ihre  Interessensolidarität  hin  auf  das  Wohl  des. 
Volkes  und  der  Menschheit. 

Gegenüber  einein  in  der  Gegenwart,  auch  in  wissen- 
schaftlichem Gewände,  sich  wieder  breit  machenden  Nationa- 
lismus sei  es  gestattet  zu  erinnern  an  unseres  Gottfried 


1)  Paul  Leroy-Beaulieu:  De  la  necessite  de  pre*parer  une. 
federalion  europeenne,  dans  l'Economiste  Francais  (No.  du  3  sepU 
1898,  8  avr.  et  27  mai  1899). 

2)  Freiherr  M.  du  Prel,  die  Bedeutung  von  Stammbäumen  für 
die  Erkenntnis  des  Bevölkerungsganges,  in  Allgem.  Statist.  Archiv 
Band  4,  Tübingen  1896. 


■300  Volks  wirtschaftliche  Grandfragen. 

K  e  1 1  e  r'  s  inhaltschwere  Worte  in  seinem  Fähnlein  der  sieben 
Aufrechten:  «dass  es  dem  Manne  gezieme,  in  beschaulichen 
Stunden,  in  schlafloser  Nacht  oder  auf  stillen  Wegen,  das 
sichere  Ende  seines  Vaterlandes  in's  Auge  zu  fassen,  damit 
er  die  Gegenwart  desselben  um  so  inbrünstiger  liebe;  denn 
Alles  ist  vergänglich  und  dem  Wechsel  unterworfen  auf  dieser 
Erde.  Oder  sind  nicht  viel  grössere  Nationen  untergegangen 
als  wir  sind?  Nein!  ein  Volk,  welches  weiss,  dass  es  einst 
oiicht  mehr  sein  wird,  nützt  seine  Tage  um  so  lebendiger, 
lebt  um  so  länger  und  hinterlässt  ein  rühmliches  Gedächtniss; 
denn  es  wird  sich  keine  Ruhe  gönnen,  bis  es  die  Fähigkeiten, 
<lie  in  ihm  liegen,  ans  Licht  und  zur  Geltung  gebracht  hat. 
Dies  ist  nach  meiner  Meinung  die  Hauptsache.  Ist  die  Auf- 
gabe eines  Volkes  gelöst,  so  kommt  es  auf  einige  Tage  län- 
gerer oder  kürzerer  Dauer  nicht  mehr  an,  neue  Erscheinungen 
harren  schon  an  der  Pforte  ihrer  Zeit!» 

Aber  gewiss  ist  die  hohe  und  beglückende  Aufgabe  unseres 
Volkes:  der  Welt  ein  Vorbild  freiheitlicher  und  gerechter, 
die  verschiedenen  Volksstärame  und  -Klassen  brüderlich  um- 
fassender, staatlicher  Organisation  zu  sein,  noch  nicht  erfüllt ! 

Noch  darf  ich  hinweisen  auf  die  Stellung  der  Na- 
tionalökonomie zur  Jurisprudenz,  darauf,  dass 
die  volkswirtschaftlichen  Studien  nicht  zufällig  und  nicht 
ohne  Grund  in  die  juristische  Fakultät  eingegliedert  sind. 

Auf  den  Zusammenhang  zwischen  Recht  und  Wirt- 
schaft haben  u.  a. :   H.  Danckwardt1).   Lorenz   Stein2),   Ad. 


1)  Nationalökonomie  und  Jurisprudenz,  4  Hefte,  Rostock  1858 
u.  1859  und  Nationalökonomisch-civilistische  Studien,  2.  Th.  Leip- 
zig 1862  u.  1869. 

2)  Verwaltungslebre,  7  Th.  Stuttgart  1865—68,  und  Gegenwart 
und  Zukunft  der  Rechts-  und  Staatswissenschaft  Deutschlands.  Stutt- 
gart 1876. 


Volkswirtschaftliche  Grundfragen.  301 

Wagner *),  H.  Dietzel  2)  und  besonders  treffend  in  folgenden 
Sätzen  Wilh.  Arnold  3)  hingewiesen :  Wie  jeder  wirthsebaftliche 
Act  Rechtsformen  voraussetzt,  so  haben  auch  alle  Rechtssätze,, 
zumal  die  des  Privatrechts,  direct  oder  indirect,  einen  wirt- 
schaftlichen Inhalt  oder  Bezug.  Es  liegt  klar  am  Tage,  dass  jedes 
Volk,  auf  welcher  Kulturstufe  es  stehen  mag,  für  seine  wirth- 
schaftliche  Thätigkeit  einer  rechtlichen  Ordnuug  bedarf.  Jedes 
wirtschaftliche  Institut  kann  daher  von  einer  andern  Seite 
als  Rechtsinstitut  betrachtet  werden.  Im  wirklichen  Leben 
<ribt  es  kein  Kechtsverhältniss  ohne  materiellen  Inhalt,  und. 
alle  Sätze  des  Privatrechts  haben  eine  wirtschaftliche  Be- 
deutung. Die  Volkswirthschaft  ist  so  wenig  etwas  isolirtes 
und  selbständiges,  als  das  Recht.  Das  wirtschaftliche  Leben 
ist  in  mehr  als  einer  Hinsicht  die  Grundlage  des  rechtlichen 
und  politischen  Lebens.  Somit  erscheint  das  Recht  als  die 
formelle  Ordnung  für  die  wirthschaftlich,  d.  h.  zur  Befriedi- 
gung ihrer  Lebens-  und  Kulturbedürfnisse  thätige  Volksge- 
meinschaft. 

Schon  Savigny  erklärte,  dass  das  Recht  überhaupt  kein 
Dasein  für  sich  hat,  dass  sein  Wesen  vielmehr  «das  Leben 
der  Menschen  selbst  von  einer  besonderen  Seite  angesehen» 
ist  natürlich  in  erster  Linie  das  wirtschaftliche  Leben. 
Daher  genügt  weder  für  den  Verwaltungs-  noch  auch  für 
den  Justizbeamten  die  Kenntniss  des  Gesetzes  allein,  hin- 
zukommen mus8  die  Kenntniss  der  zu  Grunde  liegenden 
wirthschaf tlichen  Verhältnisse;  diese  ist  für  den 
Juristen  ebenso  nothwendig   als   die  juristische  Construction. 


*)  Grundlegung  der  Volkswirtschaftslehre,  Volkswirthschaft 
und  Recht,  besonders  Vermögensrecht,  2.  Aufl.  Leipzig  u.  Heidel- 
berg 1879  (3.  Aufl.  1892  ffg.). 

*)  Srud.  jur.  et  cara.,  in  Jahrb.  f.  Nationalökonomie  und  Statt- 
>Uk,  III  F.  Bd.  14.   Jena  1897. 

*)  Kultur  und  Rechtsleben,  Berlin  1865. 


•302  Volkswirtschaftliche  Grundfragen. 

Dass  der  Jurist  von  dieser  Kenntniss  des  wirthschaft- 
licben  Lebens  nur  so  am  Wege  gelegentlich  dies  oder  jenes 
erhascht,  kann  nicht  als  genügend  erachtet  werden.  Unter 
den  alten  bäuerlichen  Verhaltnissen,  wie  sie  in  manchen 
Gegenden  unseres  Landes  noch  tief  bis  in  dies  Jahrhundert 
hinein  bestanden,  mochte  die  tägliche  Beobachtung  und  die  Ver- 
trautheit mit  dem  einfachen,  meist  naturalwirthschaftlichen 
Landleben  nationalökonomische  und  juristische  Kenntnisse 
entbehrlich  machen  ;  aber  mit  der  grösseren  socialen  und  tech- 
nischen Differenciirung  durch  den  internationalen  Handel  und 
die  Mannfactur  und  Grossindustrie  für  den  Weltmarkt,  —  die 

4 

in  keinem  andern  Lande  verhältnissmässig  so  gross  ist  wie  bei 
uns,  —  haben  wir  eine  Specialisirung  des  gewerblichen  Lebens 
und  eine  Complicirtheit  an  wirth schaftlichen  Formen  gewonnen, 
die  nur  zu  verstehen,  geschweige  denn  zu  beherrschen  eifriges 
Studium  erfordert.  Sehen  wir  doch  in  dieser  Entwicke- 
lung  eine  Abdankung  der  Juristen  lediglich  formaler 
Observanz  vor  den  nicht  juristischen  aber  dafür  saeh- 
ikundigen  und  mit  dem  wirklichen,  realen,  praktischen  Leben 
vertrauten  Handels-  und  Gewerberichtern.  «So  drängen  Recht 
oind  Leben  gleichermassen  zu  einer  Ergänzung  des  Rechts- 
studiums durch  ein  bewusstes,  systematisches  Stu- 
dium des  Lebens»,1)  zu  einem  Studium  des  in  Landban, 
Handwerk,  Industrie,  Geld-  und  Waarenhandel,  Transport- 
und  Versicherungswesen  mannigfach  gestalteten  wirtschaft- 
lichen Lebens. 

Schon  zu  Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts  hat  ein  preussi- 
scher  König  einem  neu  ernannten  Professor  für  «Oekonoinie-. 
Polizei-  und  Kammersachen»  eine  «erste  Stunde  in  dieser  wich- 
tigen Materie»  docirt,  und  wiederholt,  namentlich  in  den  letzten 

l)  Eug.  Schiffer,  Amtsrichter,  die  Ausbildung  der  Richter,  in 
•der  «Deutschen  Juristenzeitung»,  Berlin,  No.  7  vom  1.  April  1899. 


Volkswirtschaftliche  Grundfragen.  303 

Jahren,  hat  sich  die  preussische  Regierung  dahin  ausge- 
sprochen; die  überwiegend  juristische  Ausbildung  reiche  für 
die  materiell  richtige  Erledigung  der  volkswirtschaftlichen 
and  socialen  Aufgaben  unserer  Zeit  nicht  ans.  Die  blosse 
formalistische  Behandlung  der  Rechtsfragen  finde  eine  Ver- 
besserung, sobald  man  den  materiellen  wirthschaftlichen  In- 
halt mit  hineinbringe.  Dadurch  werde  die  formalistische 
Neigung  der  Juristen  abgeschwächt,  und  andererseits  sollten 
die  Nationalökonomen  die  volkswirtschaftlichen  Fragen  mit 
juristischer  Schärfe  prüfen. 

Und  mit  blosser  Studirstubenweisheit  ist  es  noch  nicht 
getlian.  Wiederholt  ist,  auch  von  Juristen  und  Justizbeamten, 
und  zwar  mit  immer  grösserem  Nachdrucke,  auf  die  Wichtig- 
keit einer  practischen  Bethätigung  im  wirth- 
schaftlichen Leben  hingewiesen  worden.  So  ver- 
langt der  Berliner  Oberstaatsanwalt  L.  Wachler  von  dem 
Jünger  der  Themis,  der  später  das  Recht  finden  und  sprechen 
soll,  eine  intensive  Thätigkeit  in  einem  Handelshause,  in  ge- 
werblichen Unternehmungen  der  Stadt  oder  des  Landes;  diese 
werde  die  Rechtsprechung  ihrem  Zwecke  näher  bringen.  Und 
ein  anderer  Jurist1)  weist  die  jungen  Collegen  auf  die  Be- 
thätigung in  einem  grossen  Bankhaus  oder  in  einer  Gutsver- 
waltung hin.  um  die  Bedürfnisse  des  practischen  Lebens 
kennen  zu  lernen. 

Nachdem  die  österreichische  Regierung  vor  einigen 
Monaten  die  staatlichen  Verwaltungsbeamten  in  einem  beson- 

x)  P.  Schellhas,  Amtsrichter,  Ideale  und  Idealismus  im  Recht, 
1*96  and  Spezialisinus  im  Recht,  in  der  « Deutschen  Juristenzeitung» 
No.  11  vom  1.  Juni  1899:  «Wir  meinen,  dass  unsere  heutigen  Ver- 
hältnisse geradezu  gebieterisch  den  Handelsrechtspezialisten  fordern, 
der  über  eine  eingehende  Kenntniss  des  kaufmännischen  Wissens, 
-der  Buch-  und  Geschäftsführung,  des  Kreditwesens  und  des  Börsenver- 
kehrs verfügt.» 


304  Volkswirtschaftliche  Grundfragen. 

deren  Erlasse  angewiesen  hat,  dessen  eingedenk  zu  sein,  dass 
die  Beamten  der  Industrie  wegen  da  wären  und  nicht  umge- 
kehrt, und  dass  demnach  die  amtlichen  Erledigungen  stets 
die  Bedürfnisse  der  Industrie  im  Auge  behalten  müssten,') 
ist  kürzlich  die  Prager  Handels-  und  Gewerbekammer  in 
einer  umfangreichen  Eingabe8)  an  den  Handelsminister  in 
schärfster  Weise  dafür  eingetreten,  dass  die  künftigen  Ver- 
waltungsbeamten für  den  wirtschaftlichen  Dienst  besser  vor- 
bereitet und  an  der  Universität  weniger  einseitig  für  den 
Justizdienst  vorgebildet  werden,  auch  wird  auf  die  Nothwen- 
digkeit  technischer  Fachkenntnisse  hingewiesen. 

Einer  practischen  Thätigkeit  müssen  naturgemäss  ent- 
sprechende volkswirthschaftliche  Studien  vorhergehen,  weil 
nur  damit  ein  rechter  Nutzen  aus  der  Praxis  gewonnen 
werden  kann,  und  nicht  weniger  auch  desshalb,  um  nicht 
kritiklos  von  den  Nichts-als-Practikern  auf  deren  einseiti- 
gen und  beschränkten  Interessen-  und  Partei- 
Standpunkt3)  hinabgezogen  zu  werden. 

Und  nicht  bloss  das  Wie?  des  Rechtes,  sondern  auch 
das  W esshalb?  ist  zu  studiren,  und  es  ist  zu  prüfen,  ob 
das  Recht,  was  ist,  dem  Rechte  entspricht,  das  sein  sollte. 

1)  «Volkswirthschaftliche  Wochenschrift»,  herausgegeben  von  Dr. 
Alexander  Dorn,  Wien,  Nr.  vom  2.  März  1899. 

2)  Der  «  Oesterreichische  Oekonomist »,  herausgegeben  von  E. 
Blau,  Wien,  No.  vom  5.  März  1899. 

8)  Man  beachte  die  Angriffe  in  Deutschland  gegen  den  Minister 
Freiberrn  von  Berlepscb,  den  Untorstaatssecretär  Dr.  von  Roten- 
burg, den  Oberregierungsrath  Dr.  Wörishoffer  etc.  und  vergleiche  die 
Reichstagsrede  vom  26.  April  1899  des  Grossfabrikanten  Abgeordneten 
Freiherrn  von  Heyl  aus  Worms.  Heyl  charakterisirte  die  Berufs- 
vereine, als  «in  ganz  einseitiger  Weise  nur  ihre  Interessen 
vertretend.  Die  Generalsekretäre,  die  bezahlten  Angestellten  dieser 
Industrieberufsvereine,   sind  für  mich  auch  nicht  unschädlicher  und 


Volkswirthschaflliche  Grundfragen.  305 

Unser  heutiges  Wirthschaf tsrecht  basirt  auf  dem  In  d  i- 
vidualprinzip,  das  Ende  vorigen  Jahrhunderts  zur  Herr- 
schaft kam  und  in  Privateigentum  und  Vertragsfreiheit 
seinen  rechtlichen  Ausdruck  fand.  Lange  galt  für  alleinige 
Aufgabe  des  Rechts:  die  folgerichtige  Verwirklichung  dieser 
Principien.  Heute  aber  ist  der  Glaube  an  die  Berechtigung  und 
ewige  Dauer  dieser  Ordnung  theilweise  erschüttert,  gefordert 
wird  wenigstens  eine  Umbildung  un  ser es  Wirth- 
schafsrechts  durch  Beschränkung  des  Privat  eigen  thums 
und  der  Vertragsfreiheit.  Aus  Dogmen  sind  wieder  Fragen 
und  Probleme  geworden.  Zur  Mitarbeit  an  der  Lösung 
dieser  Probleme  sind  die  Juristen,  soweit  sie  volks- 
wirtschaftlich entsprechend  gebildet  sind, 
in  erster  Reihe  berufen.  «Ein  grosser  Theil  der  Lebensar- 
beit unserer  Richter  und  Anwälte,  sagt  Dietzel,  vollzieht  sich 
auf  dem  Felde  des  Wirthschaftsrechts.  Indem  sie  durch 
Jahre  hindurch,  oft  nahezu  unausgesetzt  sich  mit  ihm  zu 
beschäftigen  haben,  kommen  sie  in  die  Lage,  seine  Wirkungen 
zn  Wohl  und  Wehe  des  Volkes  genau  und  allseitig  kennen 
zu  lernen,  werden  sie  zu  Sachverständigen,  die  an  erster 
Stelle  berufen  wären,  das  Wirthschaftsrecht,  da  wo  es 
Mängel  und  Lücken  aufweist,   weiterzubilden,    bezüglich  uni- 


anbedenklicher  als  die  Berufs  Vertreter  der  Ge  werk  vereine.  Die 
Generalsecretäre  massen  sich  an,  eine  Kritik  über  unsere  Tbätigkeit 
als  Abgeordnete  zu  üben  und  uns  in  einer  Art  und  Weise  unter 
ihre  Gensur  zu  stellen,  die  weit  schlimmer  ist,  als  diejenige  auf  der 
andern  Seite,  weil  sie  natürlich  über  ganz  andere  Geldmittel  und 
über  eine  mächtige,  weit  verbreitete  Presse  verfügen.  Ganz  abge- 
sehen davon  muss  ich  aber  sagen,  dass,  wenn  man  diese  Zeitungs- 
artikel liest,  eine  Unreife  des  Ausdrucks,  ein  Dilettantismus  der 
Auffassung  zum  Vorschein  kommen,  welche  auf  das  ärgste  zu  be- 
klagen sind.» 

20 


306  Volkswirtschaftliche  Grundfragen. 

zubildcn.  Aber  die  Gewähr  dafür,  dass  sie  solche  Mängel 
und  Lücken  suchen  und  linden,  ist  nur  gegeben,  wenn  ihnen 
durch  das  Studium  der  politischen  Oekonomie  der  Sinn  ge- 
öffnet, das  Auge  erschlossen  ist.  Nur  wenn  systematisch 
in  ihr  geschult,  werden  sie  die  Ergebnisse  der  Einzelfälle, 
die  der  Beruf  ihnen  unterbreitet,  fruchtbringend  zu  nutzen 
vermögen ;  sonst  bleibt  das  kostbare  induetive  Material  taubes 
Gestein.» 

Demnach  muss  die  politische  Oekonomie  in  ihrer  Theorie 
für  die  Rechtsanalyse  und  in  ihrem  praktischen  Theil  für 
die  Rechtsethik  und  -Politik  als  unentbehrlich  bezeichnet 
werden. 

Zum  Schlüsse  ist  es  mir  besonders  erfreulich,  constatiren 
zu  können,  dass  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  nicht  den 
Nationalökonomen  zur  alleinigen  Bearbeitung  überlassen  sind, 
sondern  dass  sie  auch  von  den  Juristen  in  theoretischer 
praktisch-politischer  und  gesetzgeberischer  Bethätigung  för- 
dersamste  Berücksichtigung  erfahren,  und  dass  damit  die 
juristische  Fakultät  Bern  voranschreitet,  zur  Erreichung 
des  Zieles,  das  der  staatsmännischesten  Fakultät 
schweizerischer    Eidgenossenschaft    gesetzt    ist. 

Und  der  wirthschafts-rechtlichen  Aufgaben  harret  im 
20.  Jahrhundert  die  Fülle! 


Jahresbericht  1899. 


Jahresbericht  1899.  309 


Das  letzte  Jahr  des  19ten  Jahrhunderts  verlief  bis  anhin*) 
relativ  friedlich;  die  Haager-Konferenz  gab  ihm  sogar  ein 
formell  ganz  besonders  friedliches  Gepräge,  von  dem  man  sich 
jedoch  nicht  zu  sehr  täuschen  lassen  darf.  Denn  dicht  da- 
neben her  bereits  gieng  die  Vergewaltigung  zweier  braver, 
kleiner  Völker  durch  die  beiden  mächtigsten  Reiche  der 
heutigen  Welt,  in  deren  «Machtsphäre»  sie  unglücklicherweise 
liegen,  mit  den  Redensarten  der  Staatsraison  und  Macht- 
politik, wie  sie  schon  Gessler  im  «Wilhelm  Teil»  braucht, 
nnd  die  rücksichtslose  Auftheilung  zweier  ehemaliger  Gross- 
staaten, deren  Uhr  wirklich  abgelaufen  zu  sein  scheint.  Die 
blosse  «Humanität»  hat  immer  ihre  Grenzen,  wenn  nicht  ein 
starkes  Rechtsgefühl,  oder  eine  wirkliche  Religion  ihr  etwas 
mehr  Rückgrat  verleiht,  als  sie  von  Haus  aus  besitzt,  und 
weiss  sich  leicht  mit  dem  schon  von  den  Römern  oft  ver- 
wendeten Raisonnement  zu  beruhigen,  dass  die  Theilnahme 
an  den  Gütern  der  allgemeinen  Kultur  die  Völker  für  den 
Verlust  der  Freiheit  entschädige. 

Dass  wir  unsern  Gedanken  ganz  aussprechen:  wir  haben 
gar  kein  Mitleid  mit  dem  zerfallenden  China  und  womöglich  noch 
weniger  mit  der  in  Trümmer  gehenden  spanischen,  oder  tür- 
kischen Weltmacht.  Alle  haben  für  die  Menschheit  wenig 
gethan,  als  sie  die  Macht  dazu  besassen,  und  ihr  Schicksal  ist 
ein  schon  längst  verdientes  in  unsern  Augen.  Dass  aber  die 
Rossifizirung   eines  Volkes  wie  das  finnische,  oder  die  Ein- 


•)  Anfang  August  1899. 


310  Jahresbericht  1899. 

verleibung  der  südafrikanischen  Republik  und  des  Oranje- 
freistaates  in  das  englisch-afrikanische  Reich  unentschuldbar 
ist,  und  der  letztere  Fall  namentlich  für  England  eine 
Schmach  bildet,  das  wir  als  den  Hort  und  Anwalt  der  Frei- 
heit und  Selbstbestimmung  der  zivilisirten  Völker  unter  den 
Grossstaaten  zu  betrachten  gewohnt  sind,  das  scheint  uns  ge- 
wiss, geht  aber  allerdings  über  die  Fassungsgabe  eines 
Popen,  wie  Pobedonoszeff,  und  eines  ehemaligen  Leder- 
händlers, wie  Chamberlain,  hinaus,  der  ein  grosses  Reich  nach 
«Geschäftsprinzipien»  regieren  will. 

Die  kleinen  Staaten    müssen  jetzt    auf  ihrer  Hut   sein, 
die  Zeit  ist  ihnen  nicht  günstig;    ihre  Tendenz   geht   dahin, 
grosse  staatliche  Komplexe  unter  Voranstellung  der  materiellen 
Interessen  vor  die  politischen  zu  bilden,  und  selbst  bei  uns 
giebt  es  Leute,  von  denen  man  die  Redensart  hören  kann,  die 
«Verkehrsinteressen»,   oder  die  internationalen   Beziehungen 
und  Verbindungen  seien  jetzt  in  erste  Linie  zu  stellen.    Sie 
würden  die  Freiheit,  an  die  wir  gewöhnt  sind,  und    die  wir 
daher    allzusehr    als   etwas    ganz    Selbstverständliches    be- 
trachten,   was  sie   in  der  jetzigen  Welt  noch  gar  nicht  ist, 
sehr  vermissen,  wenn   sie  einmal,   in  einen  Grossstaat    auf- 
gegangen, zwar  alle  Vortheile  eines  solchen  gemessen  könnten, 
aber  die  schweizerische  Eidgenossenschaft  entbehren  müssten. 
So  denken  die  Finnen  und  Boeren  ebenfalls,  und  daher  gehört 
ihnen  unsere  Sympathie,  und  wir  hoffen,   die  Macht,   welche 
noch  über  alle  Grossm&chte  geht  und  den  gerechten  Sachen 
auf  Erden  beisteht,    wenn  sie  sich   selber   nicht   auf- 
geben, werde  beiden  zum  Siege  helfen.  Einstweilen  aber  ist 
die  Beseitigung  der  finnischen  Autonomie,   wie  sie  seit    1809 
bestand,    bereits    eine  Thatsache   geworden   und   auch    der 
Krieg  gegen  die  südafrikanische.  Republik  wird  mutmasslich 
geführt  sein,  bevor  diese  Zeilen  ihre  Leser  erreichen. 


Situation .  311 

Wir  sind  in  allen  andern  Fallen  für  England,  wo  immer 
es  sich  um  einen  Streit  zwischen  Grossmächten  handelt ;  denn 
England  ist  der  Grossstaat,  bei  dem  man  am  sichersten  auf 
eine  freiheitliche  und  menschenwürdige  Regierung,  unter 
welcher  auch  noch  andere  Leute  leben  können,  in  seinen  Neu- 
erwerbungen rechnen  kann.  Wir  können  auch  eine  gewisse 
Sympathie  mit  dem  russischen  Reiche  haben,  wenn  es  sich  da- 
rum handelt,  den  gesammten  asiatischen  Norden  einer  grösse- 
ren Kultur  zu  erschliessen,  oder  die  armenische  Christenheit  aus 
der  Hand  ihrer  grausamen  Henker  zu  befreien.  Aber  in 
diesen  beiden  Sachen,  Finnland  und  Transvaal,  wünschen  wir 
diesen  Grossstaaten  eine  Niederlage  in  ihrer  dermaligen  Politik, 
welche  alle  Kleinstaaten  der  Welt  beunruhigen  kann,  denen 
nicht  mit  blossen  «Friedenskonferenzen»  gedient  ist,  sondern 
nur  mit  einer  aufrichtigen  Respektirung  des  Rechts  und 
Besitzstandes  zivilisirter  Staaten,  insofern  dieselben  diesen 
Besitz  menschenwürdig  zu  verwalten  noch  im  Stande  sind. 
Dass  die  andern  beseitigt,  oder  in  moderner  Weise  mittelst 
Einbeziehung  in  «Machtsphären»,  oder  Unterordnung  unter 
«Protektorate»  bevogtet  werden,  um  sie  zur  gebührenden 
Civilisation  ihrer  eigenen  vernachlässigten  Völker  zu  zwingen, 
dagegen  haben  wir  nichts  einzuwenden,  und  wir  müssten 
dieses  Schicksal  für  die  Schweiz  selbst  aeeeptiren,  wenn  sie 
einmal  aufhören  würde,  ein  für  Europa  nützliches  und  ehren- 
haftes Dasein  zu  führen. 

Der  Besitz  allein  ist  noch  kein  genügender  Rechtstitel 
für  Staaten,  das  haben  wir  selbst  vor  hundert  Jahren  erfah- 
ren, wie  es  jetzt  Spanier,  Chinesen,  Perser  und  Türken 
erfahren  müssen,  sondern  man  muss  auch  seinen  ererbten, 
oder  erworbenen  Besitz  rechtmässig  und  menschenwürdig  zu 
verwalten  und  zu  gebrauchen  im  Stande  sein,  sonst  wird  er 
iranz  mit  Recht  einer  bessern  Hand  anvertraut.    Darin 


312  Jahresbericht  1899. 

ist  das  heutige  Völkerrecht  schon  sehr  bedeutend  «sozialisti- 
scher» gestimmt,  als  dermalen  noch  das  Privatrecht  Wir 
zweifeln  aber  unsererseits  nicht,  dass  auch  dieses  letztere 
sich  im  nächsten  Jahrhundert  stark  nach  dieser  Richtung 
entwickeln  und  keine  gute  Zeit  für  bloss  inüssiggehende  und 
übermüthige  Milliardäre  werden  wird.  Nur  glauben  wir  das 
nicht,  dass  dies  auf  dem  Wege  des  jetzigen  Sozialismus 
geschehen  wird ,  dessen  Regierungsfähigkeit  wir  vielmehr 
gänzlich  bezweifeln.  Dazu  gehört  eine  Umgestaltung  der 
Gedanken  der  Menschen  nach  der  idealistischen,  nicht  bloss 
nach  der  materialistischen  und  atheistischen  Gedankenrichtung 
hin,  in  der  kein  Segen  und  kein  Gedeihen  liegt 

Ob  die  schweizerische  Eidgenossenschaft  als  besonderes 
Staatswesen  in  Europa  ihr  siebentes  Jahrhundert  ungehindert 
durchleben  werde,  das  wird  der  Gedanke  sein,  der  uns  am 
meisten  in  der  Mitternachtsstunde  des  31.  Dezember  1899  be- 
wogen wird,  denn  dem  setzen  wir  keinen  andern  Gedanken 
voran;  der  blosse  Internationalismus,  oder  Humanismus  hat  für 
uns  keinen  rechten  Sinn,  und  wir  glauben  auch  unsererseits 
nicht,  dass  er  jemals  Gottes  Wille  und  Ordnung  gewesen  sei, 
noch  sein  werde. 

Das  nächste  Jahr  bringt  uns  zuerst  die  Erinnerung 
an  den  ersten  helvetischen  Staatsstreich  vom  7.  Januar 
1800,  mit  welchem  eine  sehr  wohlgemeinte,  aber  mit 
falschen  Beimischungen  aller  Art  und  fremder  Intervention 
von  v  ornherein  verdorbene  Revolution  wieder  ihrem  Ende  und 
einer  nothwendig  gewordenen  Restauration  entgegen  gieng. 
Wir  hoffen,  dass  das  muthmassliche  Schicksal  der  «Doppel- 
initiative» uns  einen  zweiten  Versuch  dieser  Art  ersparen 
werde.  Später  im  April  folgt  der  Gedenktag  des  «Verraths 
von  Novara»,  eines  der  unschönsten  Bilder  aus  den  Tagen 
der  grossartigen  Schweizergeschichte,  dann  am  7.  August  1800 
der  zweite  helvetische  Staatsstreich,  und  von  dort  ab  beginnen, 


Situation.  313 

mit  den  Vorbereitungen  zu  den  Verfassungsentwürfen  von 
Malmaison,  diejenigen  staatsrechtlichen  Ideen  über  einen  richtig 
konstruirten,  der  Geschichte  und  der  Natur  des  schweizerischen 
Gesammtvolke8  entsprechenden  «Bundesstaat»,  an  denen  das 
ganze  19*  Jahrhundert  gearbeitet  hat,  und  die  hoffentlich 
auch  das  20te  keinem  andern  Staatsideale  opfern  wird. 


314  Jahresbericht  1899. 


L  Aeusseres. 

Die  Th  ei  hing  von  China  nimmt  ihren  nicht  mehr  auf- 
zuhaltenden Fortgang,  welcher  auch  auf  die  übrigen  Bezie- 
hungen der  nächstbetheiligten  Machte  von  grossem  Einflüsse  ist. 
Im  April  dieses  Jahres  erfolgte  vorderhand  ein  Machtab- 
grenzungsvertrag zwischen  den  beiden  Hauptansprechern  Russ- 
land und  England,  wie  es  scheint  hinter  dem  Rücken  der 
andern.  Ein  Hauptmittel  zur  Annexion  von  Ländern,  das  man 
zur  Zeit  der  drei  successiven  Theilungen  von  Polen  1772, 
1793  und  1795  noch  nicht  kannte  —  welche  Theilungen  im 
Uebrigen  das  genaue  Vorbild  dessen  sind,  was  in  China  vor- 
geht —  ist  jetzt  der  Bau  von  Eisenbahnen  durch  dritte 
Staaten,  und  die  damit  verbundene  militärische  Besetzung: 
derselben,  die  zu  ihrem  Schutze  wirklich  nöthig  ist. 

Wer  die  Eisenbahnen  hat,  hat  das  Land.  Es  bedurfte 
nicht  dieses  grossen  chinesischen  Beispiels,  um  uns  zu  einem 
Anhänger  des  Rückkaufes  der  schweizerischen  Eisenbahnen 
zu  machen,  die  überhaupt  nie  anders  als  durch  den  Staat 
hätten  gebaut  werden  sollen ;  aber  dieses  Beispiel  wird  wohl 
noch  die  letzten  Gegner  von  Staatsbahnen  überzeugen,  falls 
sie  überhaupt  staatliche  Interessen  über  private  zu  stellen 
vermögen. 

Nächst  China  kommt  nun  Persien  an  die  Reihe  dieser 
Annexion  mittelst  Eisenbahnlinien.  Russland  verlangt  die 
Conzession  einer  Bahn  von  Tiflis  und  Kars  längs  der  tür- 
kischen Grenze  nach  dem  persischen  Meerbusen  und  die  «Pacht  > 
eines  dortigen  Hafens,  imit  hm  asslich  Bender  -Abbas.  Hier 
wird  die  schwer  zu  erhaltende  Freundschaft  mit  England  ihr 
Ende  erreichen,  denn  ein  russischer  Eriegshafen  am  persi- 
schen Meerbusen  ist  nichts  anderes  als  die  Bedrohung  Indiens 
auf  noch  einer  andern  Front.    Ueber  dieser  «persischen  Frage> 


Allgemeine  äussere  Verhältnisse.   Orient.  315 

kann  der  Weltfriede  noch  wirksamer  ins  Schwanken  gera- 
then,  als  an  der  chinesischen  und  türkischen,  die  stets  daneben 
fortbestehen.  Ueberhaupt  wird  ja  dieser  Gegensatz  zwischen 
diesen  beiden  erobernden  Mächten  und  ihren  Alliirten,  die  sie  sich 
verschaffen  werden,  einmal  sicher  zum  Austrag  kommen  müssen. 
Wir  stehen  dabei,  wie  schon  gesagt,  naturgemäss  auf  der 
Seite  von  England,  das  —  man  möge  im  Uebrigen  über  seine 
Ländergier  und  Rücksichtslosigkeit  urtheilen  wie  man  wolle  — 
sie  ist  in  Wirklichkeit  nicht  grösser  und  nicht  kleiner,  als  die 
der  andern  Machte  —  ein  Staat  ist,  der  das  Kolonisiren  ver- 
steht, und  in  dessen  Kolonien  noch  andere  Leute  leben  können, 
was  bei  allen  andern  Staaten  sehr  viel  zweifelhafter  ist. 
Dass  die  wahrscheinlichen  Allianzen  der  Zukunft.  England, 
Amerika  und  Japan,  gegen  Russland,  Frankreich  und  Deutsch- 
land sind,  ist  schon  im  letzten  Jahrbuche  gesagt. 

Die  Nachspiele  des  spanisch-amerikanischen  Kriegs 
sind  bisher  weit  besser  vorübergegangen,  als  es  von  vielen  ver- 
kappten Anhängern  Spaniens,  oder  stillen  Gegnern  Amerikas 
geweissagt  wurde.  Die  amerikanische  Republik  hat  sich  als 
ein  grosses,  lebensvolles  und  thatkräftiges  Gemeinwesen  er- 
wiesen, in  dem  ein  ganz  anderes  Blut  pulsirt,  als  in  der  spani- 
schen unheilbaren  Misswirthschaft.  Von  Caba  und  Portorico 
hört  man  bereits  sehr  wenig  mehr,  und  auch  in  den  Philippinen 
wird  die  amerikanische  Thatkraft  mit  den  Tagalen  fertig 
werden.  Was  aber  bei  Weitein  die  Hauptsache  ist,  Amerika 
selbst  wird  durch  beständige  grosse  Aufgaben  der  Welt- 
politik ein  ganz  anderes  und  besseres  Land  werden ,  als 
es  seit  seiner  letzten  Kraftprobe,  dem  grossen  Sezessions- 
kriege war.  Dagegen  kommen  alle  anderen  Gedanken  ebenso 
wenig  in  Betrachtung,  als  die  Klagen  und  bösen  Prophe- 
zeiungen der  ehemaligen  Sklavenhalter  des  Südens,  welche 
s.  Z.  auch  glaubten,  an  der  Aufhebung  der  Sklaverei,  die  als 


316  Jahresbericht  1899. 

ein  Rechtsbruch  zu  betrachten  Bei,  gehe  Amerika  unter.  Die 
Geschichte  seit  1865  hat  ganz  anders  geurtheilt.  Es  giebt 
Zustände,  welche  durch  vielhundertjährigen  Besitz  niemals 
legitim  werden.  Dazu  gehört  die  Herrschaft  im  Sinne  der 
Sklaverei  und  in  der  Art  der  spanischen  Kolonialregierung. 
Dergleichen  muss  fort  aus  der  civilisirten  Welt,  wo  immer 
es  noch  besteht,  und  dazu  ist  der  K  r  i  e  g  ein  sehr  notwen- 
diges Mittel  und  einstweilen  noch  ganz  unentbehrlich  in  der 
Weltgeschichte.  f 

Es  mag  dahin  gestellt  bleiben,  ob  die  Vereinigten  Staaten 
die  Philippinen  dauernd  zu  behalten  beabsichtigen,  oder  sie 
seiner  Zeit  gegen  die  englischen  Antillen  austauschen  werden. 
Dieselben  würden  nicht  bloss  näher  liegen,  sondern  auch, 
nach  Ausführung  des  Nicaragua-Kanals,1)  viel  noth wendiger 

l)  Der  Nicaragua-Kanal,  der  neu  gebaut  werden  soll, 
ist  länger,  als  der  früher  geplante  Panama-Kanal,  nämlich  274  statt 
blos  74  Kilometer,  von  denen  jedoch  91  auf  den  Nicaraguasee,  der 
sich  auf  der  Landenge  befindet,  und  106  auf  dessen  Abflugs  in  den 
atlantischen  Ocean,  den  Rio  San  Juan,  entfallen,  der  auch  noch 
schiffbar  gemacht  werden  muss. 

Er  wird  ein  Schleusen-Kanal,  nicht  ein  Niveau-Kanal,  wie  der 
Suez-Kanal  und  der  unausführbare  Plan  des  Panama-Kanals,  werden. 

Der  erste  Plan  dazu  datirt  schon  in  die  Zeit  Carls  V.  und 
der  spanischen  Weltherrschaft  zurück.  1848  nach  Entdeckung  des 
Goldes  in  Californien  trat  er  wieder  auf  und  die  Vereinigten  Staaten 
schlössen  schon  damals  einen  darauf  bezüglichen  Staatsvertrag  mit  dem 
Staate  Nicaragua  ab;  England  erhob  aber  dagegen  Einspruch,  indem 
es  behauptete,  die  Moskito-Indianer  am  Westufer  Nicaragua'*  befinden 
sich  unter  seinem  Protektorat. 

Die  Streitsache  wurde  dann  1850  durch  den  nach  den  beid- 
seitigen Bevollmächtigten  genannten  Clayton-Bulwer-Vertrag 
erledigt,  durch  den  sich  beide  Staaten  verpflichteten,  keine  ausschliess- 
liche Herrschaft  Aber  den  Kanal  weder  auszuüben,  noch  anzustreben 
und  denselben  und  seine  Umgebungen  nicht  zu  befestigen. 

Inzwischen  wurde  dann  das  Projekt  zeitweise  zu  Gunsten 
des  Panama-Kanals  wieder  aufgegeben  und  ob  nun  —  nachdem   es 


Auswärtiges.    Amerika.  31? 

sein,  denselben  eigentlich  erst  völlig  für  Amerika  sicherstellen. 
Das  Interesse  bei  diesen  amerikanischen  Dingen  ist  für  die 
andern  freiheitlich  organisirten  Staaten  das,  dass  Amerika 
nun  ein  wirklich  grossartiges,  auch  militärisch  sehr  be- 
deutendes Gemeinwesen  werden  muss,  ob  es  wolle  oder  nicht, 
und  damit  ein  Hort  und  Anhaltspunkt  für  alle  freien  Staaten 
der  Welt.  Diese  Bolle  hätte  es  unseres  Erachtens  schon  der- 
malen auf  der  Haager  Konferenz  noch  etwas  bewusster  und  be- 
stimmter sich  aneignen  dürfen. 

Die  Kraftprobe  für  den  amerikanischen  Staat  als  Welt- 
macht, wozu  er  sich  jetzt  unaufhaltbar  entwickelt,  kommt, 
übrigens  erst  noch;  dazu  war  das  veraltete  Spanien  mit 
seinen  völlig  unfähigen  Generalen  ein  viel  zu  geringer  Geg- 
ner. Der  künftige  Kampf,  welcher  durch  die  deutsche  Er- 
Amerika wieder  aufnimmt  —  dieser  obige  Vertrag  noch  gelten  kann,, 
wird  die  Zukunft  erweisen.  Einstweilen  hat  England  noch  ein  sehr 
grosses  Interesse  an  dieser  interozeanischen  Verbindung,  dasselbe 
könnte  sich  aber  durch  eine  Abtretung  seiner  ohnehin  gefährdeten 
westindischen  Inseln  gegen  die  Philippinen  erledigen  und  es  ist  ein 
solcher  Austausch  nach  unserer  Ansiebt  das  Hauptmotiv  der  ameri- 
kanischen Annexion  der  Philippinen  gewesen. 

Die  Kosten  des  Kanals  werden  auf  höchstens  115  Millionen 
Dollars  berechnet  und  die  Gesellschaft,  die  ihn  bauen  wird,  steht  gänz- 
lich unter  der  Aufsicht  des  amerikanischen  Staats,  der  der  weitaus, 
grösste  Aktionär  ist  und  9  von  den  11  Mitgliedern  der  Direktion  er- 
nennt. Auch  wird  der  Bau  stets  von  dem  Ingenieur-Departement  der 
Vereinigten  Staaten  überwacht  werden  und  alles  Eigenthum  der 
Gesellschaft  wird  denselben  für  ihre  Betheiligung  verpfändet 

In  Bezug  auf  die  Rechtsverhältnisse  ist  einstweilen  blos  gesagt,, 
dass  die  Vereinigten  Staaten  die  Neutralität  des  Kanals  garantiren  und 
Schüfe  aller  Nationen  in  Bezug  auf  Zölle  gleichhalten  werden.  In 
Wirklichkeit  wird  er  eine  amerikanische  Wasserstrasse  werden,  so  gnt 
wie  der  Nordostsee-Kanal  eine  deutsche  ist ;  aber  die  andern  grossen 
Seestaaten  hätten  in  der  That  ein  Interesse  hier,  wie  am  Suez-Kanal. 
such  einen  internationalen  Vertrag  zu  proponiren. 


318  Jahresbericht  1899. 

Werbung  der  Karolinen-Inseln  und  die  Protektoratsideen  der 
Vereinigten  Staaten  über  Südamerika,  vorab  Brasilien,  jetzt 
noch  erheblich  näher  gerückt  ist,  ist  mutmasslich,  leider,  am 
ehesten  gegen  Deutschland  gerichtet. 

Für  die  nordamerikanische  Politik  ist  noch  be- 
merkenswerth  ein  Schutz-  und  Trutzbündniss,  welches  mit 
dem  Staate  Bolivia  gegen  Brasilien  abgeschlossen  sein  soll 
mit  folgendem  Inhalt: 

1.  Die  Vereinigten  Staaten  werden  Brasilien  auf  diplo- 
matischem Wege  bewegen,  die  laut  Vertrag  vom  Jahre  1867 
Bolivien  zuerkannten  Rechte  auf  das  zwischen  dem  Acre-, 
Purüs-  und  Jacü-Flusse  liegende  Gebiet  unangefochten  zu 
lassen. 

2.  Im  Kriegsfall  werden  die  Vereinigten  Staaten  Bolivien 
die  Beschaffung  von  Geldmitteln  und  Rüstzeug  erleichtern. 

3.  Die  Vereinigten  Staaten  werden  sich  im  Laufe  dieses 
Jahres  von  der  brasilianischen  Regierung  die  Vollmacht  er- 
zwingen, die  Bestimmung  des  bolivianisch-brasilianischen  Ver- 
trages auszuführen,  betreffend  die  definitive  Grenzlegung 
zwischen  dem  Jurtie-  und  dem  Jacary-Flnsse. 

4.  Brasilien  wird  auf  Veranlassung  der  Vereinigten 
Staaten  den  bolivianischen  Fahrzeugen  freie  Schiffahrt  auf 
den  Nebenflüssen  des  Amazonenstroms  gewähren  und  boli- 
vianische Waaren  in  Belem  und  Manäos  zollfrei  passiren 
lassen. 

5.  Als  Gegenleistung  für  die  von  den  Vereinigten  Staaten 
erwiesenen  Dienste  wird  Bolivien  die  Einfuhrzölle  auf  ameri- 
kanische Produkte  um  50  Prozent  herabsetzen  und  die  Aus- 
fuhrzölle auf  Kautschuk  während  einer  zehnjährigen  Frist 
um  15  Prozent  reduziren. 

6.  Im  Falle  eines  Krieges  zwischen  Bolivien  und  Bra- 
silien wird  Bolivien  den  Vertrag  von  1867  kündigen,  die 
Mündung  des  Purüs  und  den  Acre-Strom  als  Grenzlinie  be- 
trachten und  das  zwischen  dem  Purüs-,  Acre-  und  Crato- 
strom  liegende  Gebiet  den  Nordamerikanern  einräumen. 


Auswärtiges.   Amerika,  319 

7.  Im  Kriegsfall  würden  die  Vereinigten  Staaten  die 
Kosten  bestreiten  unter  Verpfändung  der  bolivianischen  Zoli- 
eionahmen. 

Damit  in  Zusammenhang  steht  eine  etwas  auffallende 
Forschungsreise  eines  amerikanischen  Kriegsschiffes  in  den 
oberen  Amazonenstrom  hinein,  gegen  welche  die  brasilianische 
Regierung  Einsprache  zu  erheben  fdr  gut  fand.  Der  Bericht 
des  Xew-York-Herald  darüber  ist  folgender: 

«Das  Kanonenboot  tWilmington»  der  amerikanischen 
Marine  ist  in  Manaos  angekommen,  welche  Stadt  ungefähr 
1000  Meilen  von  der  Mündung  des  Amazonenstroms  entfernt 
liegt.  An  diesem  Punkt  vereinigt  der  wasserreiche  Rio  Negro 
sich  mit  den  gelblichen  Wassern  des  einem  Meere  gleichenden 
Amazonenstroms  und  verbindet  diesen  mit  dem  Orinoco.  Bis 
zu  diesem  Punkte  lief  der  «Wilmington»  mehr  als  20  Häfen 
an.  Ueberall  erwarben  unsre  Offiziere  sich  die  wärmsten 
Sympathien  und  wurden  herzlich  bewirthet;  soweit  ihre  ma- 
gere Löhnung  es  ihnen  gestattete,  haben  sie  die  ihnen  er- 
wiesene Gastfreundschaft  vergolten.  Manaos  ist  der  entfern- 
teste Punkt,  welchen  jemals  ein  amerikanisches  Kriegsschiff 
oder  vielleicht  das  irgend  einer  anderen  Nation  erreicht  hat. 
Der  «Wilmington»  wird  den  Solimoes,  den  Oberlauf  des  Ama- 
zonas, bis  hinauf  nach  Iquitos  (Peru)  in  einer  Ausdehnung 
Ton  1500  Meilen  befahren;  diese  Stadt  liegt  2500  Meilen  im 
Innern  von  Südamerika,  dicht  am  Fasse  der  Anden,  wenige 
hundert  Meilen  vom  Stillen  Ozean  entfernt.  Das  Hochplateau 
von  Amazonas  hat  bis  jetzt  zu  der  Zahl  der  unbekannten 
Regionen  gehört,  und  es  wird  jetzt  Aufgabe  des  «Wilming- 
ton>  sein,  genaue  Nachrichten  einzuziehen  über  das  dortige 
Volk,  den  Reichthum  des  Landes  und  die  Vortheile,  welche 
unserm  Handel  durch  eine  grössere  Ausdehnung  daselbst  er- 
wachsen können.  Der  «Wilmington»  wird  auch  den  Rio  Ma- 
deira bis  zu  seinem  ersten  Wasserfall  in  einer  Entfernung 
Ton  600  Meilen  befahren,  d.  h.  bis  dicht  an  die  Grenze  von 
Bolivien  Derart  wird  das  grosse  Becken  des  Amazonenstromes, 
dessen  Aasdehnung  enorm  und  dessen  Reichthümer  unbere- 
chenbar sind,  endlich  der  Welt  bekannt  werden.  Der  hohe 
Preis  des  Kautschuk   hat  bisher   einen  Stillstand   bei   allen 


320  Jahresbericht  1899. 

Industrien  eintreten  lassen,  welche  nicht  auch  direkt  bei  dem 
Sammeln  des  wertbvollen  Naturproduktes  betheiligt  waren. 
Die  Indier  und  dort  naturalisirten  Portugiesen,  welche  in  den 
dortigen  Gummiwäldern  arbeiten,  beziehen  Lohn  und  ertragen 
nur  schwer  die  tödtlichen  Fieber  und  Ausdünstungen  jener 
Gegenden.  Das  Becken  des  Amazonenstromes  exportirt  trotz 
seiner  schwachen  Bevölkerung  alljährlich  Kautschuk  im  an- 
nähernden Werthe  von  50  Millionen  Dollars.  Bis  300  Meilen 
vom  Delta  entfernt  sind  die  Gummiwälder  reichlich  vorhan- 
den. Von  dort  an,  viele  hundert  Meilen  weit,  ist  der  Wald 
trotz  seines  tropischen  Charakters  arm  an  Gummibäumen; 
erst  weitere  300  Meilen  stromaufwärts,  am  neuen  Hafen 
—  Obitas  —  sind  dieselben  wieder  reich  vorhanden.  Ober- 
halb von  Manäos  und  in  seiner  Umgegend  findet  man  den 
besten  Kautschuck;  derselbe  kommt  von  Juraä,  Javary,  Rio 
Negro,  Bio  Branco,  Solimoes,  Purüs,  Madeira  und  Hunderten 
von  anderen  Zuflüssen  des  Amazonenstromes.  Parä  ist  durch 
seine  geographische  Lage  der  Schlüssel  zum  Amazonengebiete ; 
als  Rival  steht  ihm  Manäos,  ein  jugendlicher  Riese,  entgegen, 
welches  nur  30,000  Einwohner  hat,  dabei  aber  ein  schönes 
Opernhaus,  elektrische  Bahnen,  moderne  Wasserleitung,  Ab- 
zugskanäle und  asphaltirte  Strassen  besitzt.» 

In  Bezug  auf  die  neu  erworbenen  Gebiete  von  Hawai, 
Cuba,  Portorico,  Philippinen  ist  es  bisher  noch  zweifelhaft 
geblieben,  ob  dieselben  nach  Vorübergang  der  nothwendigen 
militärischen  Occupationsperiode  «Territorien»  der  Vereinig- 
ten Staaten  werden  sollen  und  können,  mit  den  Rechten,  die 
denselben  nach  der  bestehenden  amerikanischen  Bundesver- 
fassung zustehen,  oder  ob  ein  neues  Colonialsystem  entstehen 
soll,  das  in  der  Verfassung  keinen  Anhaltspunkt  hätte  und 
eigentlich  eine  Revision  derselben  bedeutete,  womit  jedoch 
die  Amerikaner  sparsamer  umgehen  als  wir. 

Spanien  ist  mit  dem  Verkauf  seiner  letzten  weitab- 
liegenden Kolonien  aus  der  Reihe  der  «Grossmächte»  definitiv 
ausgeschieden,  unter  welchen  es  einst  einen  grossen  Raum,  aber 
niemals   zum  Vortheile   seiner  jeweiligen  Untergebenen    ein- 


Auswärtiges.    Afrika.  321 

nahm.  Es  {riebt  keinen  europäischen  Staat,  welcher,  trotz 
mancher  tüchtiger  Eigenschaften  seiner  Bevölkerung  so  viel 
Böses  und  so  sehr  wenig  Gutes  in  seinem  ganzen  grossen 
Machtbereich  gethan  hat.  Für  solche  Staaten  kommt  — 
nur  manchmal  langsamer  und  später,  als  man  es  wünschen 
möchte  —  mit  Sicherheit  eine  Stunde  der  Abrechnung.  Möge 
ein  Theil  der  heutigen  Philosophie,  wie  sie  s.  Z.  von  dem  geistig 
beschränkten  Caspar  Schmidt  (Max  Stirner  mit  seinem  Schrift- 
stellernamen) in  Deutschland  inaugurirt  und  seither  von  dem 
ganz  verrückten  Friedrich  Nietzsche  bis  zum  Gipfel  aller  Un- 
moral und  Verkehrtheit  fortgesetzt  wurde,  noch  so  laut  die 
alleinige  Berechtigung  des  rücksichtslosen  Egoismus  und  der 
blossen  Macht  proklamiren;  es  kommt  der  Tag,  an  welchem 
auch  der  Mächtigste  es  fühlen  muss,  dass  er  noch  immer  nicht 
der  Höchstgebietende  auf  Erden  ist,  und  dass  es  für  Staaten  und 
Fürsten  genau  so,  wie  für  einzelne  Menschen,  eine  ganz  sichere 
nnd  unfehlbare  Vergeltung  alles  Guten   und  Bösen   giebt. 

Das  ist  die  Allianz,  welche  noch  immer  die  zuverlässigste 
ist,  und  in  der  sich  auch,  selbst  in  der  jetzigen  für  sie  gefähr- 
lichen Zeit,  die  kleinen  Staaten  sicher  und  getrost  fühlen 
dürfen,  wenn  sie  sich  nur  immerfort  in  ihr  zu  erhalten  bestrebt 
sind. 

Die  Theilung  der  Welt  in  Afrika  macht  ebenfalls  rasche 
Fortschritte.  Als  ungetheilte  Gebiete  bezeichnet  ein  englisches 
Blatt  dermalen  nur  noch  folgende: 

cAbgesehen  von  der  lybischen  Wüste,  die  infolge  ihrer 
gänzlichen  Unbewohnbarkeit  wohl  kaum  von  einer  europäischen 
Macht  in  Besitz  genommen  wird,  stehen  in  Afrika  nur  Abessy- 
aien  und  Marokko  allein  noch  nicht  unter  dem  Einfluss  einer 
europäischen  Macht.  Sollten  diese  Staaten  ihre  Unabhängig- 
keit behalten,  so  müssten  Grenzfragen  zwischen  ihnen  und 
den  benachbarten  Mächten  verhandelt  werden.  Auch  die 
inneren  Grenzen  vom   französischen  Somali-Land  sind  noch 

21 


322  Jahresbericht  1899. 

nicht  bestimmt,  die  genaue  Grenze  zwischen  Erytbräa  und 
Abessynien  ist  noch  nicht  gezogen,  ebensowenig  wie  die 
zwischen  Abessynien  und  dem  englisch-ägyptischen  Territorium. 
Von  anderen  noch  nicht  geordneten  Grenzen  sind  die  haupt- 
sächlichsten:  die  englisch-portugiesische  Grenze  am  oberen 
Sambesi;  die  englisch-deutsche  Grenze  hinter  der  Goldkaste 
(Salaga);  die  Grenze  zwischen  kongostaatlichem  und  deut- 
schem Gebiet  nördlich  vom  Tanganyika;  die  genauen  Grenzen 
zwischen  französischem  und  italienischem  Gebiet  am  Rolhen 
Meer  und  endlich  die  inneren  Grenzgebiete  der  spanischen 
Sahara.» 

Ueber  die  zwischen  Frankreich  und  England  schwe- 
benden Streitfragen  enthielt  die  «Revue  de  Paris»  einen  in- 
teressanten Artikel  von  Professor  Lavisse,   der  zugibt,   dass 
von    beiden  Seiten,    namentlich   von   Frankreich    bezüglich 
Tunis   und  des  Hafens  von  Biserta,   von  England  bezüglich 
der   Occupation    Aegyptcns,    Zusicherungen  ertheilt   worden 
seien,   die   nicht  gehalten   wurden.    Er   unterscheidet  daher 
geradezu  zwischen  «Versprechungen  von   auf  immer  binden- 
dem Charakter»  und   anderen.     Eigentlich  wussten    wir  das 
schon  langst,  dass    die  von  der  Diplomatie  ausgehenden  Er- 
klärungen selten  bindend  sind,  sondern  nur  unter  der  «clau- 
sula rebus  sie  stantibus»  abgegeben  werden,   aber  so   ungo- 
scheut  wie   heute,    unter    dem  Einfluss  einer   «Umwerthung 
aller  Werthe»    in  der  Philosophie    und  Moral,  ist    es  früher 
doch  nicht  gesagt  worden.   Im  nächsten  Jahrhundert  werden 
sich  daher   in   der   Politik   der   Staaten    die    beiden  Sätze: 
«Nichts  ist  wahr,  Alles   ist   erlaubt»   (Nietzsche)   nnd    «Die 
Politik  ist  die  königliche  Kunst,   den  Willen  Gottes  zu    er- 
kennen und  zu   verwirklichen»    (Rodbertus),   offener   als  je 
gegenübertreten,     und   es   wird   sich   wieder   einmal   zeigen 
müssen,   welcher   die   Wahrheit   enthält.     Denn   anders    als 
durch  schwere  Erfahrungen  lernen  nun  einmal  die  Völker 
nichts,  und  selbst  bei   den  Einzelnen  ist   dies   so   die  Regel. 


Auswärtiges.    Nachbarstaaten.   Frankreich.  323 

Wir  wagen  es  für  unseren  Staat  nicht  zu  hoffen,  dass 
er  eine  grosse  Ausnahme  hievon  bilden  werde ;  die  materi- 
alistische Lebensanschauung  und  Geschichtsauffassung  hat 
sich  auch  bei  uns  in  den  letzten  Jahrzehnten  zu  sehr  ein* 
gebürgert,  und  es  giebt  auch  bei  uns  Leute  recht  genug, 
welche,  wenn  sie  selbst  zu  jeder  ordentlichen  Arbeit  und 
Lebensführung  durch  Charakterschwäche  untauglich  geworden 
sind,  mit  Jubel  eine  sogenannte  «Philosophie»  begrüssen,  die 
aus  dieser  Schwäche  einen  Fortschritt  macht,  wodurch  sie 
dem  ersten  besten  etwas  energischen  Gewaltmenschen  willen- 
los zum  Opfer  fallen.  Doch  ist  bei  uns  noch  eine  gute  Dosis 
Ton  gesundein  Menschenverstand  und  natürlicher  Volkskrait 
vorhanden,  und  es  liegt  nur  an  den  oberen  Klassen,  wenn 
dieselbe  nicht  richtig  geleitet  wird. 

In  unsern  Nachbarstaaten  war  Frankreich  das 
ganze  Jahr  hindurch,  und  vielleicht  noch  auf  eine  unbe- 
stimmte Zeit  hinaus,  stets  mit  der  Dreyfus-Sache  beschäftigt. 
Wir  sind  noch  immer,  wie  von  Anfang  an,  überzeugt,  dass 
die  ganze  Wahrheit  in  dieser  Sache  niemals  an  das 
Licht  kommen  wird.  Kläglich  an  den  Tag  gekommen  ist 
blos  die  beständige  Kriegsfurcht  und  Kriegsvorbereitung,  und 
die  Falschheit  und  Oberflächlichkeit  der  ganzen  zeitgenös- 
sischen Diplomatie,  besonders  in  ihren  untergeordneten  Or- 
ganen. Niemals  aber  ist  auch  die  Grausamkeit  und  Eitelkeit, 
welche  in  dem  französischen  Charakter  liegt  und  oft  ganz  ai 
die  «bandar-log»  in  Kiplings  wundervollen  Jungle-Geschichte* 
erinnert,  neben  dem  Edelmuth  und  der  Grossherzigkeit, 
welcher  die  gleiche  Nation  dennoch  vollkommen  fähig  ist,  so 
deutlich  hervorgetreten  als  in  diesem  Prozesse,  in  welchem 
schon  seit  langer  Zeit  nicht  mehr  der  Hauptmann  Dreyfus, 
sondern  die  französische  Bepublik  der  Angeklagte  ist.  Was 
dieselbe  jetzt  dringend  bedürfte,   wäre  eine  Anzahl  von  füh- 


324  Jahresbericht  1899. 

renden  Menschen  des    besten  französischen  Typus,  die  wir 
bisher  weder  bei  der  einen,  noch  bei  der  andern  der  streitenden 
Parteien  angetroffen  haben.    Der   Prozess   einiger  Falscher 
und  Intriguanten    des    Generalstabs    mit    dem    unsaubersten 
Schriftsteller  des  Jahrhunderts  und  etlichen  ehrgeizigen  Poli- 
tikern und  Journalisten,  welche  die  Vertretung  der  formellen 
Gerechtigkeit  an  sich  rissen,  hatte  von  Anfang  an  etwas  an 
sich,  das  ein  rechtes  Interesse,  ausser  an  der  Beendigung  dieser 
Sache  auf  einer  richtigen  juristischen  Basis,  nicht  aufkommen 
Hess.  Das  war  auch  offenbar  das  Gefühl  des  grössten  Theils  der 
besten  französischen  Bevölkerung  selbst.    Seitdem  das  regel- 
rechte  Verfahren  festgestellt   und   durch   eine   hinreichende 
Machtentfaltung    der   Regierung    gegen   Willkür   von   jeder 
Seite  her  gesichert  war,  verlor  die  Sache  den  grösseren  Theil 
ihres  Interesses,  und  .jedermann  wird  sich  dem  (zur  Zeit  noch 
ausstehenden)   Spruche    des    zweiten   Kriegsgerichtes   fugen, 
durch  den  der  (wie  wir  nicht  zweifeln)  Freigesprochene  zwar 
nicht  allen  Verdachtes  enthoben  wird,  immerhin  aber  die  nicht 
vor  Gericht  gestellten  grausamen  Peiniger  desselben  die  wirk- 
lichen Verurtheilten  sind.    Das  Schöne  und  Gute,  was  daraus 
übrig  bleibt,  ist  die  Demonstration,  dass  die  öffentliche  Meinung 
heute  eine  nicht  mehr  zu  verachtende  Macht  ist  und  dass  eine 
regelrechte  Gerechtigkeitspflege  unter  keinen  Umständen,  oder 
politischen  Vorwänden  beseitigt  werden   darf;   im  Uebrigen 
tritt  der  ironische  Zug  in  der  Weltgeschichte  hier  ungemein 
stark  zu  Tage,  welche  sehr  oft  den  Sieg  des  Guten  nicht  durch 
die  Guten,  sondern  durch  die  «Mindern»  herbeifuhrt. 

Wir  hoffen,  die  Republik,  die  uns  die  liebste  französische 
Staatsform  ist,  werde  diese  schwere  Prüfung  ihres  Gehaltes 
überstehen,  sind  aber  dieses  Ausgangs  der  gegenwärtigen  Krise 
nicht  sicher.  Unserer  eigenen  Presse  hätten  wir  etwas 
mehr  Zurückhaltung  in  ihrer  Beurtheilnng  der 
Dreyfus-Sache  gewünscht. 


Ausw.  Verhältnisse.  Nachbarstaaten.  Frankreich.  Oesterreich.      325 

Die  Hauptfrage  für  die  französische  Politik  und  die 
ganze  Zukunft  dieses  Staatswesens  ist  stets:  Krieg  oder 
Friede  mit  Deutschland,  mit  andern  Worten:  Anerkennung 
des  Frankfurter-Friedens  im  letztern  Falle,  nicht  beständige 
Kriegsvorbereitung  und  gespanntes  Erwarten  des  günstigen 
Moments  zu  einer  Wiedereroberung,  der  jetzt  zwar  wahr- 
scheinlich weiter  entfernt  ist,  als  vor  zwanzig  Jahren. 
Ob  eine  wirkliche,  dauernde  Verständigung  beider  Nationen 
überhaupt  möglich  sein  würde,  darüber  können  die  Ansichten 
verschieden  sein.  Wir  halten  sie  nicht  für  möglich,  selbst 
nicht,  wenn  Deutschland  seine  Eroberungen  ohne  Krieg  zu- 
rückstellen würde,  was  ebenfalls  nicht  möglich  ist.  Denn  es 
handelt  sich,  weit  mehr  noch  als  um  Land  und  Leute,  um 
die  erste  Violine  in  dem  (oft  sehr  misstönenden)  europäischen 
«Konzert»,  die  Frankreich  stets  ansprechen  wird,  so  lange  es 
besteht,  und  die  es,  nach  menschlicher  Voraussicht,  durch 
den  Krieg  von  1870  verloren  hat.  Die  besten  Eigen- 
schaften des  französischen  Charakters  hängen  aber  so  sehr 
mit  dieser  Prätension  zusammen,  dass  sie  eben  so  wenig 
aufgegeben,  als  behauptet  werden  kann.  Es  gibt  auch  in  der 
Politik,  wie  in  der  Medizin,  verzweifelte  Fälle,  in  denen  das 
Heilmittel  ebenso  schlimm  ist  wie  das  Uebel;  ein  solcher 
Fall  ist  der  des  heutigen  republikanischen  Frankreich,  daher 
stammt  gross erntheils  das  permanente  Unbehagen,  welches  das 
französische  Staatswesen  empfindet.  Ein  anderer  Theil  ist 
der  mangelhaften  Befähigung  der  oft  wechselnden  Regier- 
ungen, der  übermässig  entwickelten  Bureaukratie  und  der 
zügellosen  Presse  zuzuschreiben. 

Viel  schlimmer  ist  die  politische  Lage  von  zwei  andern 
Nachbarstaaten.  Oestreich  geht  mit  dem  20ten  Jahrhundert 
dem  Zerfall  in  eine  Art  von  lockergefugtem  Bundesstaat 
mit  Sicherheit  und  mit  raschen  Schritten  entgegen,  in  welchem 


326  Jahresbericht  1899. 

das  ursprünglich  herrschende   deutsche  Element  die  unterge- 
ordnete Rolle  spielen  wird.    In  den  Jahren  1908—1907  wird 
sich  diess  muthmasslich  vollziehen.    Auch  hier  sind  es,  wie 
in  Frankreich,  weit  mehr  moralische,  als  rein  politische  Grande» 
die  diesen  Verfall  herbeifuhren.  Der  bekannte  Roman  «Unsühn- 
bar»  der  Frau  von  Ebner-Eschenbach  giebt  einen  deutlichen 
Begriff  von   der  trostlosen  Beschränktheit  und  Genusssucht 
der  obersten  Gesellschaftsschichten   von   Deutsch  -  Oestreich, 
aus   denen    die    leitenden    Staatsmänner    genommen    werden 
müssen,   die   in  Folge  dessen   den   noch   kräftigeren,   obwohl 
im    Grunde    weit    weniger    zur    Herrschaft    im   Gesammt- 
staate    berufenen    Slaven    und   Magyaren    stets    rettungslos 
unterliegen.    Der   Verfassungskampf  wegen   Suspension   der 
parlamentarischen  Rechte,  der  neuestens  wieder  — zum  wie- 
vielten Male  seit  in  Oestreich  im  engern  Sinne  eine  Verfas- 
sung besteht?  —  eingetreten  ist,  will  nichts  bedeuten;  eine 
sehr  gute  und  kräftige  deutsche  Regierung  wäre  sogar  ohne 
jede  Verfassung  weit  besser,  als  der  jetzige  Zustand.    Man 
kann  auch  mit  Verfassungen   allein  aus   sinkenden  Völkern 
keine  aufsteigenden  machen.     Oestreich  theilt  das  Schicksal 
der  ganzen    ehemaligen   Ostreich -spanischen  Weltmonarchie» 
und  aus  den  gleichen  Ursachen. 

«Trauernd  senk  ich  das  Haupt,  o  Du  mein  Oesterreich, 
Seh'  ich,  wie  Du  gemach  jetzt- zu  verfallen  drohst, 
Vom  unendlichen  Reiche 
Karls  des  Fünften  der  letzte  Rest.» 
Das  bezüglich  der  Verfassung  Gesagte  zeigt  sich  eben- 
falls deutlich   in  Italien,   in  welchem  der  äussere  Vortheü 
einer  lange  ersehnten  nationalen  Einigung  und  einer  wenigstens 
relativen  Grossmachtstellung  daneben  ein  bisher  stets  wach- 
sendes materielles  Elend,  ungeheure  Staatsschulden  and  eine 
allgemeine  Unzufriedenheit  aller  Schichten   der  Bevölkerung 


Auswärtiges.  Nachbarstaaten.  Oesterreich.  Italien.  Deutschland.      327 

mit  sich  geführt  hat.  Der  Staat  Italien  begann  im  Jahre  1862 
schon  mit  einer  Staatsschuld  von  3084,5  Millionen,  welche 
bis  1897  anf  nahezu  15  Milliarden  anwuchs,  worunter  Mos 
1200  Millionen  für  Eisenbahnbauten,  dagegen  2  Milliarden 
-Emissions Verluste»  figuriren.  Der  weitaus  grösste  Theil  dieser 
ungeheuren  Staatsschuld  ist  unproduktiv  ausgegeben  worden. 
Auch  hier  würde  vorläufig  eine  sehr  kräftige  Regierung, 
welche  Willens  und  im  Stande  wäre,  die  innern  Zustände 
wirksam  zu  heben,  viel  wohlthätiger  sein,  als  alle  liberalen 
Terfassungsmässigen  Garantien,  ohne  die  dazu  gehörigen  Or- 
gane, um  sie  auszuführen,  und  mit  einem  zurückgebliebenen 
Volk,  dem  zuerst  die  allerersten  Bedingungen  für  ein  men- 
schenwürdiges Dasein  gewährt  werden  müssten,  die  es  in 
einigen  Theilen  des  schönen  Landes  noch  gar  nicht  besitzt. 
Und  vollends  von  einer  Grossmachtstellung  Italiens  und  dem 
dazu  gehörigen,  der  Finanzlage  des  Landes  nicht  entspre- 
chenden Aufwand  sollte  nicht  mehr  die  Rede  sein,  so  lange 
das  Innere  nicht  bei  weitem  besser  bestellt  ist. 

Am  gesundesten  von  uusern  Nachbarstaaten  ist  offenbar 
das  deutsche  Reich,  und  daran  liegt  uns  auch  am  meisten, 
denn  alles  Ungesunde  dort  würde  uns  bei  weitem  am  meisten 
beeinflussen.  Hier  allein  besteht  auch  noch  eine  Regierung,  die 
eine  ist  und  regieren  will,  statt,  wie  es  jetzt  in  Europa 
die  Regel  geworden  ist,  eine  blosse  Dekoration,  oder  ein  oft 
wechselnder  parlamentarischer  Ausschuss  zu  sein.  Da  fehlt 
auch  nicht  der  Fond  in  einem  Volke  von  durchschnittlich 
nicht  bloss  gutem  Charakter,  sondern  auch  erheblicher  sitt- 
licher und  intellektueller  Bildung,  ohne  den  heutzutage  kein 
Staat  einen  kräftigen  Bestand  hat.  Der  Hauptfeind  des  deut- 
schen Reiches  ist  eine  gewisse  Genusssucht,  die  alle  Stände 
ziemlich  stark  durchdringt,  und  eine  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten  beständig  zunehmende  materialistische  Denkungsart, 


328  Jahresbericht  1899. 

die  vielfach  dort  (wie  anderwärts)  «mit  moderner  Bildung* 
verwechselt  worden  ist.  Die  Deutschen  müssen  zuerst  durch 
Sinnlichkeit  entnervt  werden,  bevor  sie  besiegbar  sind;  das 
wussten  schon  ihre  alten  Feinde,  die  Römer,  und  ebenso  ihre 
neueren,  die  Franzosen  des  17ten  und  18ten  Jahrhunderts.  Das 
wird  auch  in  künftigen  Zeiten  so  bleiben,  und  darauf  beständig 
und  vor  allen  Dingen  zu  achten,  wäre  die  Aufgabe  ihrer  Staats- 
männer und  Lehrer,  und  auch  die  ihrer  Nachbarn  und  Stamm- 
verwandten, die  es  gut  mit  Deutschland  meinen.  In  diesem 
Sinne  amcndirt  ist  das  Bismarck'sche  Wort  richtig,  dass  die 
Deutschen  nur  noch  Gott  zu  fürchten  brauchen.  Ob  dies 
aber  auch  thatsächlich  der  Fall  ist,  dass  sie  ihn  in  allen 
leitenden  Gesellschaftskreisen  fürchten,  und  ob  namentlich 
alle,  die  dieses  Wort  gerne  zu  zitiren  pflegen,  dies  mit  Recht 
thun  können,  das  wollen  wir  hier  nicht  beurtheilen. 

Die  übrigen  Staaten  kommen  für  unsere  Politik  weniger 
in  Betracht.  Unser  Interesse  ist  es,  dass  in  den  genannten 
vier  Ländern  geordnete  und  friedliche,  soweit  möglich  auch 
freiheitliche,  den  unsrigen  homogene  Zustände  herrschen.  Doch, 
sagen  wir  offen,  es  kommt  uns  mehr  auf  die  Ordnung,  als 
auf  die  politische  Freiheit  daselbst  an ;  Sympathien  und  Politik 
können  sich  nicht  unter  allen  Umständen  decken. 

Mit  Sympathie  betrachten  wir  die  Bestrebungen  der  süd- 
afrikanischen Republik,  sich  frei  zu  erhalten  und  die 
von  England  geforderte  massenhafte  Einbürgerung  der  fremden 
Spekulanten,  die  die  «auri  sacra  fames>  dahin  gezogen  hat, 
und  welche  gar  kein  anderes  Interesse  als  ihren  Erwerbstrieb 
kennen,  abzulehnen;  denn  sie  würden  sofort  ihre  Stimmen- 
mehrheit im  Interesse  des  Anschlusses  an  England  gebrau- 
chen. Es  ist  auffallend,  dass  selbst  schweizerische  Zeitungen  mit- 
unter noch  über  das  vollständige  Recht  der  Republik  gegenüber 
der  hinterlistigen  Politik  Chamberlains   sich  nicht  ganz  klar 


Auswärtiges.   Beßren.   Finnland.  829 

sind.  Es  wäre  ungefähr  so,  nur  noch  viel  gefährlicher,  wie  wenn 
Frankreich  die  Einbürgerung  aller  in  Genf  lebenden  Fran- 
zosen, oder  Deutschland  die  aller  in  Zürich  lebenden  Deutschen 
von  uns  kategorisch  verlangen  wollte.  Die  moderne  Gleich- 
berechtigung aller  Staatseinwohner,  welche  schon  jetzt 
ziemlich  weit  geht  und  nicht  immer  nur  gute  Früchte  trägt, 
darf  wenigstens  nicht  so  weit  gehen,  dass  das  Wesen  des 
Staates  dadurch  verändert  werden,  oder  seine  Existenz  ge- 
fährdet werden  kann.  Wahrscheinlich  ist  die  Sache  durch 
das  Schwert  entschieden,  bevor  dieser  Bericht  erscheint,  und 
wir  wünschen  von  Herzen,  dass  die  Beeren  noch  einmal  ihre 
Freiheit,  wie  schon  mehrmals,  zu  erhalten  im  Stande  seien. 
Wir  wünschen  England  überall  Sieg,  wo  seine  Fahnen  wehen, 
nur  hier  ganz  entschiedene  Niederlage.  Ebenso  steht  unsere 
Sympathie  auf  Seiten  der  Finn  lande  r,  welche  sich  mit  ebenso 
grosser  Klugheit  als  Zähigkeit  für  die  ihnen  von  Alexander  I. 
formlich  zugesagte  und  seither  noch  oft  bestätigte  Verfassung 
wehren.  Dass  die  russische  Regierung  auf  die  Vorstellungen 
einer  internationalen  Adresse  von  Staatsleuten,  Künstlern  und 
Gelehrten  nicht  achten  und  nicht,  was  sie  ihrem  eigenen  Volke 
versagte,  fremden,  formell  weit  weniger  berechtigten  Petitio- 
nären gewähren  werde,  war  zu  erwarten ;  der  Werth  dieser 
Kundgebung  bestand  auch  bloss  in  der  öffentlichen  Meinungs- 
äusserung, und  für  dieselbe  ist  es  gleichgültig,  ob  die  Adresse 
angenommen  wurde,  oder  nicht.  Diese  Erklärung  lautete  in 
der  deutschen,  am  besten  gefassten  Form,  wie  folgt: 

«Die  Unterzeichneten  fühlen  sich  gedrungen,  ihren 
warmen  Sympathien  für  die  finnländische  Nation  Ausdruck 
zn  geben.  Ein  nicht  grosses,  aber  tüchtiges  und  charakter- 
volles Volk,  ein  Volk,  das  sich  im  harten  Kampfe  mit  einer 
rauhen  Natur  gerade  in  unserin  Jahrhundert  zu  wachsendem 
Wohlstande,  zu  bedeutenden  wissenschaftlichen  und  künst- 
lerischen Leistungen,  zu  einem  vortrefflichen  Erziehungswesen, 


330  Jahresbericht  1899. 

zu  einer  reichen  und  eigenartigen  Kultur  emporgehoben  hat 
—  ein  solches  Volk  ist  jetzt  in  hoher  Gefahr,  seiner  Indivi- 
dualität und  damit  der  stärksten  Antriebe  zu  wirtschaftlichem 
und  geistigem  Schaffen  beraubt  zu  werden. 

Es  scheint  uns  eine  unabweisiiche  Pflicht,  unabhängig 
von  aller  Verschiedenheit  der  Nationalität  und  der  politischen 
Stellung,  hiergegen  laut  unsere  Stimme  zu  erheben  und  dem 
Wunsche  Ausdruck  zu  geben,  es  möge  einer  derartigen  Ver- 
nichtung eines  werthvollen  Gliedes  der  europäischen  Völker- 
familie Einhalt  geboten  werden.  Wir  können  nicht  glauben, 
dass  ein  Herrscher,  der  die  internationale  Friedenskonferenz 
zusammenruft,  ein  blühendes,  tüchtiges,  loyales  Volk  dem 
Untergang  anheimgeben  werde.» 

Der  im  Ausland  bekannteste  Russe  der  Gegenwart, 
Graf  Tolstoi,  fand  über  diese  Sache  folgendes  in  seiner  Kürze 
völlig  erschöpfendes  Urtheil: 

«Alle  gebildeten  Russen  sympathisiren  mit  Finnland 
ganz  wie  ich.  Meiner  Meinung  nach  sollte  man  die  russischen 
Verhältnisse  mit  den  finnlandischen  in  Einklang  bringen,  an- 
statt zu  versuchen,  Finnland  zu  russifiziren.» 

Ebenso  schloss  eine  Russland  befreundete  französische 

Zeitung  einen  Leitartikel  mit  folgendem  richtigen  Satze: 

«Entweder  ist  der  Zar  wirklich  von  den  edlen  Ge- 
fühlen beseelt,  die  er  in  seinem  Friedensmanifeste  ausgedrückt 
hat.  Dann  muss  man  bei  dem  Schauspiel,  das  sich  in  Finn- 
land abspielt,  fragen,  ob  der  russische  Herrscher  wirklich  der 
Autokrat  ist,  als  den  wir  ihn  uns  vorstellen,  ob  er  nicht  in 
seiner  Umgebung  Fraktionen  hat,  die  mächtiger  sind,  als  er 
selbst,  und  weniger  gute  Absichten  hegen.  Oder  der  Zar  hat 
vollbewusst  den  Staatsstreich  durchgeführt,  welcher  Finnland 
der  Verfassung  beraubt,  die  er  und  seine  Vorgänger  beschwo- 
ren haben,  und  er  hat  es  gethan,  um  sein  gewaltiges  Heer 
um  etliche  tausend  Mann  zu  verstärken.  Dann  verliert  sein 
Vorschlag  der  Abrüstung  oder  Verminderung  der  Heeresrus- 
tungen  jenen  Schein  der  Aufrichtigkeit,  der  so  viele  Hoff- 
nungen geweckt  hat.» 


Auswärtiges.    Schweizerische  Beziehungen  zu  Italien.        331 

Was  zuletzt  in  beiden  Fällen  entscheiden  muss,  ist  die 
ewige  Gerechtigkeit,  die  immer  denjenigen,  aber  anch  nur 
denjenigen  hilft,  die  fest  an  sie  glauben  und  selbst  sieh  rieh* 
tig  dabei  verhalten.  Beides  gehört  dazu,  dann  aber  findet 
sie  die  Mittel,  am  auch  die  Machtigsten  zu  demüthigen  und 
den  Kleinsten  zu  helfen.  Der  tapfere  alte  Präsident  Krüger  hat 
ganz  das  richtige  Wort  dafür  gebraucht,  wenn  er  am  Schlüsse 
einer  Bede  im  Volksrath  das  Bibelwort  anführte:  «Verflucht 
ist,  wer  seines  Nächsten  Grenze  engert».  Dieses  Vertrauen 
auf  die  heilige  Schrift  hindert  ihn  aber  nicht,  auch  Pulver 
und  Blei  bereit  zu  halten,  und  die  Zeiten  sind  noch  immer 
darnach  angethan,  trotz  aller  «Friedenskonferenzen*  und 
der  schönen  Worte,  die  dabei,  zum  Theil  von  den  nämlichen 
rücksichtslosen  Politikern  gebraucht  werden.  Klar  muss  jetzt 
Jedermann  werden,  dass  die  Republiken  in  der  Welt  nur  durch 
die  Sittlichkeit  and  Tüchtigkeit  ihrer  Bürger  and  durch  ihre 
sorgfältig  erhaltene  und  gepflegte  Wehrhaftigkeit  bestehen 
können.  Es  ist  sogar  sehr  fraglich,  ob  nicht  eine  gewisse 
beständige  Gefahr ,  welche  sie  zur  Wachsamkeit  und  zur  Sitt- 
lichheit nöthigt  und  ihnen  die  richtigen  Führer  zeigt,  zu  den 
Grundbedingungen  ihrer  Existenz  gehört 

Wir  legen  daher  auch  auf  die  herkömmliche  Redensart 
aller  Jahresberichte,  oder  «Blau-  und  Gelbbücher»  von  den  «un- 
getrübten Beziehungen»  zu  den  auswärtigen  Staaten 
keinen  ganz  unbedingten  Werth.  Die  Hauptsache  im  indi- 
Tiduellen,  wie  im  kollektiven  Dasein  ist  es,  dass  man  sich 
richtig  verhält,  nicht  dass  man  mit  Jedermann  in  voller 
Uebereinsümniung  steht.  Die  meisten  Schwierigkeiten  ver- 
ursachen uns  die  vielen  Italiener,  welche  periodisch  zu  aller- 
lei Bauzwecken  nach  der  Schweiz  kommen,  und  unter  denen 
sieh,  neben  sehr  tüchtigen,  arbeitsamen  und  sparsamen,  aucli 


332  Jahresbericht  1899. 

zweifelhafte  Elemente  befinden.  Namentlich  ist  dies  der  Fall 
mit  Bezng  auf  einzelne  sozialistische  Agitatoren,  sowie  mit 
Bezug  auf  einen  ganzen  Schwärm  von  Schenkwirthen,  die 
diesen  italienischen  Kolonien  nachziehen,  und  deren  Beseiti- 
gung allerdings  nur  von  Vortheil  sein  würde.  Dessen  unge- 
achtet ist  es  nicht  möglich,  unter  den  Verhältnissen,  wie  sie 
jetzt  völkerrechtlich  bestehen,  den  Angehörigen  eines  Staates, 
mit  welchem  man  in  freundschaftlichen  Beziehungen  leben  will, 
den  Aufenthalt  zu  verbieten,  und  wenn  dies  auch  seitens  der 
Vereinigten  Staaten  durch  ihre  Chinesenbill  geschehen  ist,  so 
ist  dies  keineswegs  ein  völkerrechtlich  anerkanntes  Präzedens, 
und  ein  kraftigerer  Staat,  als  China,  würde  sich  ein  solches 
Gesetz  auch  nicht  gefallen  lassen.  Es  wird  sich  daher  nur 
darum  handeln  können,  mit  Italien  selber  eine  bessere  Kon- 
trolle über  diese  Einwanderer  zu  verabreden,  um  die  schiech- 
ten Elemente  derselben  fern  zu  halten.  Die  bessern  dagegen 
können  unserm  eigenen  Volke  als  Muster  für  Arbeitsamkeit 
und  Nüchternheit  dienen. 

Mit  Frankreich  ist  die  Grenzbereinigung  am  Mont 
Dolent  noch  immer  ausstehend.  Es  wird  schliesslich  nichts 
übrig  bleiben,  als  in  Geduld  abzuwarten,  wie  lange  der  fran- 
zösische Senat  mit  der  Ratification  des  Vertrages  noch  zögern 
will,  einen  andern  wird  die  Schweiz  nicht  schliessen. 

Eine  wichtigere  Frage-könnte  dadurch  entstehen,  dass  be- 
absichtigt wird,  Thonon  dauernd  mit  Truppen  zu  besetzen. 
Wir  haben  im  Jahre  1883  bei  Anlass  der  Frage,  ob  der 
Mont  Vuache  im  neutralisirten  Savoyen  befestigt  werden 
dürfe,  von  der  französischen  Regierung  die  Zusicherung  er- 
halten, dass  dieser  Theil  von  Frankreich  nicht  in  dem  Mo- 
bilisationsplan  inbegriffen  sei.  Es  musste  daher  jedenfalls 
etwas  sonderbar  erscheinen,  dass  in  einer  Sitzung  vom  13.  M&rz 


Auswärtiges.  Schweizerische  Beziehungen  zu  Frankreich.    333 

dieses  Jahres  ein  hochsavoyischer  Deputirter  einen  ganzen 
Vertheidigungspian  dieses  Gebietes  entwickelte.  Die  «Ga- 
zette de  Lausanne»  berichtete  darüber  wie  folgt : 

«Dans  la  säance  du  13  mars  de  la  Chambre  francaise, 
comme  on  discutait  le  budget  de  la  gnerre  au  chapitre 
«Casernements»,  M.  Fernand  David,  däpute*  de  la  Haute- 
Savoie,  a  demandä  an  nom  de  ses  collegues  et  de  lui-meme 
et  avec  le  concours  de  MM.  Chautemps  et  Jules  Mercier 
qu'on  portat  le  credit  de  1,3  million  ä  1,4  million  afin  que 
la  Republique  plac.at  des  garnisons  dans  les  quatre  villes  de 
Thonon,  Bonneville,  Saint-Julien  et  Annemasse. 

Dans  un  discours  Studie,  M.  Fernand  David  a  montre 
que  ritalie  pourrait,  des  les  premieres  heures  de  la  mobili- 
sation,  masser  15,000  hommes  et  12  pieces  de  canon  dans  la 
vall6e  d'Aoste  et  passer  de  la  dans  la  valläe  de  l'Arve,  d'oft 
il  n'y  a  qu'un  saut  jusqu'au  Saleve.  Or,  du  Saleve  on  com- 
mande  les  trois  routes:  Geneve-Saint-Julien-Annecy,  Geneve- 
Annemasse-Annecy  et  Geneve-Culoz-Nyon.  Les  Italiens  dis- 
posent  pour  cette  invasion  des  cols  de  la  Seigne  et  du  Bon« 
homme,  qui  les  conduisent  ä  Bonneville,  et  de  la  route  Grand 
Saint-Bernard-Martigny-Tete  Noire,  qui  les  amene  a  Chamonix. 

«IIa  trouveraient  dans  le  monastere  du  Grand  Saint- 
Bernard  des  locaux  confortables,  spacieux  et  qui  ont  encore 
ete  agrandis.  IIa  violent,  il  est  vrai,  la  neutralite"  suissef 
mais  d'une  facon  purement  platonique,  car  les  Suisses,  qui 
ont  cr£e  des  retranchements  särieux  ä  Saint-Maurice,  n'ont 
pas  barre*  la  route  qui  conduit  par  la  Tete-Noire  a  Chamonix 
par  Vallorcines.  .  .  Une  fois  a  Chamonix,  la  troupe  qui  y  a 
penetre  et  qui  n'a  pas  trouve*  jusque-la  d'obstacle  devant  eile 
voit  s'ouvrir  la  vallee  de  l'Arve,  qui  conduit  d'une  part  vers 
Geneve,  de  l'autre  vers  le  massif  du  Saleve.  ...» 

Quelles  forces  la  France  aurait-ello  ä   opposer   ä   cette 


334  Jahresbericht  1899. 

Invasion  subite?  Elle  possöde  ä  Annecy  un  regiment  d'infan- 
terie  et  un  bataillon  de  chasseurs  alpins,  mais  Annecy  est  a 
cent  kilometres  du  col  du  Bonhoinme  et  de  Vallorcines !  C'est 
donc  tout  ä  fait  insuffisant. 

On  voit  que  dans  la  stratögie  de  M.  Fernand  David  la 
neutralite  de  la  Suisse  et  les  forces  dont  ce  pays  dispose 
pour  la  faire  respecter  ne  pesent  pas  lonrd.  Nous  n'entrerons 
pas  en  discussion  avec  llionorable  depute  de  Savoie. 

Di8on8  seulement  que  son  ainendement  n'a  pas  et6  min 
aux  voix.  M.  de  Freycinet,  ministre  de  la  guerre,  a  döclare 
que  la  frontiere  de  Savoie  lui  tenait  fort  a  cceur,  qu'apres 
le  bataillon  de  Thonon  on  en  installerait  un  autre  aiUeurs 
mais  que,  pour  le  surplus,  il  reservait  l'avis  de  la  commisaion 
de  l'arm6e.  La  question  pourrait  etre  reprise  plus  utilement 
devant  la  Chambre,  cette  commission  entendue. 

Les  däputäs  de  la  Savoie,  devant  ces  declarations  mini- 
sterielles, ont  retire  leur  proposition.» 

Wir  haben  das  Verhältnis«  der  savoyischen  Neutralität  im 
Jahrbuch  schon  wiederholt  auseinandergesetzt ;  es  findet  sich 
auch  in  dem  ersten,  gedruckten  Abschnitt  des  eidgenössichen 
Granzurbars.  Die  historische  Entstehung  dieser  immer  etwas 
difticilen  G  ranz  Verhältnisse  ist  nun  in  diesem  Jahrbuch  unter 
dem  Titel  «der  Lausannervertrag  von  1564»  von  zuverlässig- 
ster Seite  einmal  historisch  genau  festgestellt,  woran  es.  bis- 
her noch  gefehlt  hatte. 

Hier  ist  stets  Ursache  zur  Wachsamkeit  vorhanden.  Eine 
andere  Schwierigkeit,  die  wir  ebenfalls  s.  Z.  signalisirt 
hatten,  und  worüber  ein  ebenfalls  gedrucktes  Gutachten  «Ueber 
die  Rechtsverhältnisse  des  Genfersees»  existirt,  scheint  sich 
dermalen  von  selber  zu  lösen.  Ein  bezüglicher  Bericht  sagt 
darüber : 

«Le  L6man  n'ira  pas  ä  Paris.  —  On  lit  soas  ce 
titre  dans  la  Eevue: 


Auswärtiges.  Schweizerische  Beziehungen  zu  Oesterreich.    835 

«La  commission  technique  chargee  d'etudier  les  moyens 
d'alimenter  Paris  en  eaux  potables  a  6mis  l'avis  qu'il  n'y 
avait  pas  lieu  de  donner  snite  au  projet  d'adductiou  des  eaux 
du  Leman  &  Paris.  Le  coüt  et  l'imprevu  de  l'entreprise 
justifient  cette  resolntion,  qui  sera  bien  accueillie  sur  les 
bords  da  Leman,  &  Geneve  surtout.  La  commission  pari- 
sienne  a  decide  qu'il  convenait  de  poursuivre  les  etudes  sur 
les  sources  et  les  nappes  souterraines  des  bassins  de  la  Seine 
et  de  la  Loire.» 

Es  ist  natürlich  nicht  allein  Sache  einer  Pariser-Kom- 
mission, zu  entscheiden,  ob,  beziehungsweise  in  welchem  Mass- 
stabe dem  Genfersee  Wasser  zur  Ableitung  nach  dort  ent- 
nommen werden  könne,  oder  nicht. 

Oesterreich.  Rheinregulirung.  Ueber  die 
Rheinregulierung  von  der  Illmündung  bis  zum  Bodensee  ent- 
hält der  Geschäftsbericht  des  eidgenössischen  Oberbauinspek- 
torates  einige  nähere  Mittheilungen :  Die  internationale  Rhein- 
regulirungskommission  hat  die  beiden  Regierungen  (Schweiz 
und  Oesterreich)  auf  die  Aenderongen  aufmerksam  gemacht, 
welche  im  Jahre  1900  nach  der  Eröffnung  des  Fussacher 
Durchstiches  im  alten  Rheinbett  von  Monstein  bis  zum  Boden- 
see eintreten  werden,  und  welche  die  Regierungen  voraus- 
sichtlich veranlassen  dürfen,  bezüglich  der  Festsetzung  der 
Landesgrenze  und  mit  Rücksicht  auf  die  Zollverwaltung,  ge- 
wisse Massnahmen  zu  treffen.  Die  Kommission  übermittelte 
deshalb  den  beiden  Regierangen  je  ein  Exemplar  der  jetzigen, 
der  Mitte  des  Stromes  entsprechenden  Landesgrenze  zur  wei- 
tern Prüfung.  Unserseits  wird  Prüfung  durch  beidseitige 
Kommissionen  in  Vorschlag  gebracht.  Das  ursprüngliche  Pro- 
jekt hat  bei  jedem  Durchstich  zwei  hölzerne,  gedeckte  Brü- 
cken vorgesehen.    Mit  Rücksicht  auf  die  vielen  mit  langen, 


336  Jahresbericht  1899. 

hölzernen  Brücken  verbundenen  Nachtheile  hat  die  Kommission 
die  Ausführung  eiserner  Brücken  beantragt,  welchem  Vor- 
schlag, nebst  den  daherigen  Mehrkosten,  von  beiden  Regie- 
rungen die  Genehmigung  ertheilt  worden  ist.  Am  untern 
Durchstich  ist  die  Abtheilung  der  Dornbierer  Aach  im  September 
vollzogen  worden;  diejenige  des  Lustenauer  Kanals  fällt  in 
den  Anfang  des  Jahres  1899.  Die  Dämme  und  Traversen, 
sowie  der  Aushub  des  Leitkanals  im  untern  Durchstich  sind 
nahezu  fertig,  während  von  der  Faschinenanlage,  dem  Vor- 
grund und  dem  Kiesmantel  der  Dämme  noch  etwa  ein  Drittel 
fehlt.  Die  zwei  Brücken  über  den  untern  Durchstich  wurden 
in  Angriff  genommen,  und  es  ist  deren  Vollendung  auf  Ende 
1899  vergeben.  Am  obern  Durchstich  musste  im  allgemeinen 
mit  den  Arbeiten  etwas  zurückgehalten  werden,  weil  die 
fälligen  Jahresraten  der  beiden  Staaten  zur  Zeit  in  erster 
Linie  für  rechtzeitige  Vollendung  des  untern  Durchstiches 
verwendet  werden  müssen.  Indessen  ist  die  Grunderwerbung 
zu  67  Prozent  vollzogen,  der  linksseitige  Parallelgraben  fast 
und  der  rechtsseitige  zur  Hälfte  fertig  erstellt.  Die  Damm* 
arbeit  konnte  in  Angriff  genommen  werden. 

Die  wichtigste  Frage  ist  hier  die,  welche  Zollverhältnisse 
in  dem  Gebiete  zwischen  dem  alten  und  neuen  Rhein  ent- 
stehen sollen;  die  Landesgrenze  ist  schon  in  dem  Rhein- 
korrektions- Vertrage  festgestellt,  doch  sind  nähere  Bestim- 
mungen über  Zollaufsicht  und  drgl.  noch  vorbehalten  worden. 

Im  deutschen  Reichstage  fand  am  1.  Februar  eine  Ver- 
handlung statt  über  eine  Aeusserung  des  Centrumsabgeord- 
neten Dr.  Lieber,  welcher  die  Schweiz  in  einer  frühera 
Sitzung  als  ein  Land  bezeichnet  hatte,  in  welchem  «Königs- 
und Kaisermörder  frei  herumlaufen.»  Seine  Berichtigung  dieser 
etwas  dreisten  Behauptung  war  eine  nicht  genügende.    Das 


Auswärtiges.    Schweizer.  Beziehungen  zu  Deutschland.      337 

Richtige  wäre  es  gewesen,  wenn  der  Präsident  des  Reichstages 
eine  solche  Anschuldigung  von  sich  aus  gehörig  gerügt  hätte, 
noch  bevor  sie  in  die  Presse  gelangte.  Es  bleibt  sonst  leicht  aus 
solchen  Vorgängen  eine  Missstimmung  zurück,  wozu  die 
deutsche  Staatsregierung  selbst  keinen  Anlass  zu  geben  sich 
stets  sorgfältig  bemüht.  Um  so  weniger  darf  es  einzelnen  Partei* 
hänptern  gestattet  sein,  solche  Ungehörigkeiten  in  einer  offi- 
ziellen Verhandlung  vorzubringen. 

Weniger  Wichtigkeit  war  den  Lästerungen  einiger 
deutschen  Börsenkreise  beizumessen,  die  über  den  Rückkauf 
der  Eisenbahnen  erbost  waren.  Einzelne  Blätter,  u.  a.  auch 
die  in  der  Schweiz  viel  gelesene  «Frankfurter  Zeitung»,  brachten 
in  Fettschrift  folgendes  Inserat: 

«Das  ausländische  Kapital  ist  in  der  Schweiz  vogelfrei 
erklärt  worden !  Wir  warnen  das  Kapitalisten-Publikum  vor 
dem  Ankauf  schweizerischer  Staatsanleihen!  Die  Schweiz  ist 
kein  Rechtsstaat  mehr,  die  Schweiz  ist  ein  Raubstaat  !» 

Ein  «Verein   für  die  Interessen  der  Fonds-Börse*    hatte 

sojrar  den  Ausschluss  schweizerischer  Werthe  von  der  Berliner 

Börse  beantragt,  worüber  die  Zulassungsstelle  sich  wie  folgt 

erklärte : 

«Der  Verein  für  die  Interessen  der  Fondsbörse  hat,  ver- 
anlasst durch  die  Behandlung,  welche  die  geplante  Verstaat- 
lichung der  schweizerischen  Eisenbahnen  seitens  der  Schweizer- 
Behörden  erfährt,  bei  der  unterzeichneten  Zulassungsstelle 
den  Antrag  gestellt,  die  Zulassungsstelle  wolle  neue  schwei- 
zerische Werthe  zum  Handel  und  zur  Notiz  an  der  Berliner 
Börse  nicht  zulassen.  Der  Verein  hat  weiterhin  zugleich 
gegen  jede  solche  Zulassung  auch  so  lange  Verwahrung  ein- 
gelegt, als  nicht  seitens  des  schweizerischen  Bundesrathes  mit 
den  grossen  schweizerischen  Eisenbahngesellschaften  ein  die 
berechtigten  Ansprüche  der  Aktionäre  befriedigendes  Arran- 
gement getroffen  ist.  In  der  Diskussion,  welche  innerhalb 
unseres  Kollegiums   über   den  vorgedachten  Antrag   stattge- 

22 


338  Jahresbericht  1899. 

funden  hat,  sind  die  Gründe,  welche  den  Verein  zu  seinem 
Vorgehen  veranlasst  haben,  allseitig  gebilligt  worden.  Mit 
Rücksicht  jedoch  auf  die  gesetzlichen  Bestimmungen,  nach 
welchen  die  Zulassungsstellen  an  den  deutschen  Börsen  sich 
nur  mit  konkret  vorliegenden  Anträgen  auf  Zulassung  be- 
stimmter Papiere  zum  Börsenhandel  zu  befassen  haben,  sind 
wir  nicht  in  der  Lage,  den  beantragten  prinzipiellen  Beschluss 
zu  fassen.  Dagegen  stehen  wir  nicht  an,  schon  heute  zu  er- 
klären, dass  wir  die  Zulassungsstellen  an  den  deutschen  Bör- 
sen für  berechtigt  erachten,  auf  Grund  des  §  36  Abs.  3  c 
des  Eeichsbörsengesetzes  vom  22.  Juni  1896  den  Wert- 
papieren solcher  Länder  die  Zulassung  zum  Börsenhandel  zu 
versagen,  in  welchen  etwa  —  wenn  auch  unter  dem  Schutze 
von  Gesetzen  —  die  Grundsätze  von  Treu  und  Glauben  ver- 
letzt sein  sollten.» 

Die  «Vossische  Zeitung»  bemerkte  dazu:  «Die  grösste 
Frage  bleibt  danach  offen :  Hat  die  Schweiz  wirklich  Treu 
und  Glauben  in  der  Verstaatlichungsangelegenheit  verletzt  ? 
Diese  Frage  ist  längst  beantwortet.  Die  Schweiz  hat  ganz 
unzweifelhaft  das  Recht,  nach  den  Konzessionen  zurückzu- 
kaufen. Das  haben  auch  deutsche  massgebende  Blätter,  so 
die  «Kölnische  Zeitung»  ausdrücklich  anerkannt,  schon  da- 
mals, als  die  Rückkaufsbotschaft  des  Bundesrathes  bekannt 
wurde.  Von  einem  solchen  Recht  Gebrauch  zu  machen, 
wurde  jeder  Staat  sich  vorbehalten;  warum  Bollte  gerade  die 
Schweiz  das  nicht  thun?  Die  deutschen  Börsen  stellen  aber 
die  Sache  mit  beispielloser  Hartnäckigkeit  so  dar,  als  ob  die 
Schweiz  auf  Grund  der  Dividenden  oder  Börsenkurse  zurück- 
kaufen müsse.  Das  ist  durchaus  falsch.  In  Deutschland 
wurde  auf  dieser  Grundlage  zurückgekauft,  die  schweizerischen 
Konzessionen  lauten  aber  anders,  und  sie  lauten  so  klar,  dass 
das  Bundesgericht  in  den  meisten  Hauptfragen  einstimmig 
entschieden  hat  und  gar  nicht  anders  entscheiden  konnte. 
Darüber  war  sich  auch  die  rückkaufsfeindliche  Presse  in  der 
Schweiz,  die  sonst  in  ihrem  Eifer  den  deutschen  Blättern 
nichts  schuldig  bleibt,  sofort  klar,  und  sie  musste  einmüthig 
den  Entscheid  des  Bundesgerichtes  als  wohlbegründet  und 
unparteiisch  anerkennen.     Nun  kommt  die  ausländische  Bor- 


Auswärtiges.    Schweizer.  Beziehungen  zu  Deutschland.       339 

senpresse  mit  der  Anmassung,  die  schweizerische  Gesetz- 
gebung" sowohl  als  die  schweizerische  Rechtsprechung  umzu- 
stossen.  Oder  sie  meint,  mit  wüstem  Geschrei  einen  Druck 
auf  die  kommenden  Entscheidungen  des  Gerichtshofes  ausüben 
zu  können,  weil  die  wilde  Spekulation  unter  unrichtigen  An- 
gaben, allen  Abmahnungen  zum  Trotz,  die  Papiere  in  skan- 
dalöser Weise  in  die  Höhe  getrieben  hatte !  Alte  treue 
Aktionäre  kommen  dabei  natürlich  nicht  in  Betracht.  Die 
jüngste  Auslassung  der  Berliner  Zahlungsstelle  weckt  neuer- 
dings falsche  Vorstellungen,  wenn  sie  sagt,  der  Bundesrath 
mösse  mit  den  schweizerischen  Bahngesellschaften  ein  Arran- 
gement treffen,  das  die  Aktionäre  befriedige.  Freilich  kann 
der  Bundesrath  mit  den  Bahnen  ein  Abkommen  treffen,  aber 
für  die  Bestimmung  des  Rückkaufspreises  ist  er  durch  das 
Gesetz  gebunden,  das  vorschreibt,  dass  der  Preis  auf  Grund 
des  konzessionsgemässen  Rückkaufs  festzustellen  sei.  Die 
Schweiz  hat  das  gute  Recht  auf  ihrer  Seite  und  ist  dabei 
vollständig  beruhigt.» 

Wir  denken,  es  würde  Deutschland  auch  sehr  wenig  con- 
veniren,  die  Schweiz  für  ihren  Geldmarkt  noch  mehr  auf 
Frankreich  hinzuweisen,  als  es  schon  ohnehin  in  dieser  Be- 
ziehung der  Fall  ist. 

In  den  in  diesem  Jahre  auch  bei  uns  viel  gelesenen  «Ge- 
danken und  Erinnerungen»  Bismarcks  kommt  ein  Passus  über 
eine  «Theilung  der  Schweiz»  vor,  die  ihm  ein  franzö- 
sischer Staatsmann  vorgeschlagen  haben  soll,  und  die  er  zwar 
als  nicht  angehend  bezeichnet,  aber  nicht  ohne  einige  un- 
freundliche Worte  über  unsern  Staat  beizusetzen.  Wir  halten 
dafür,  die  letzteren  seien  der  Grund,  aus  welchem  diese  Sache 
von  jedenfalls  geringer  Bedeutung  in  einem  Werke  Erwähn- 
ung findet,  das  viel  wichtigere  Dinge  aus  der  neueren  Ge- 
schichte, deren  Zeuge  und  Mitarbeiter  der  Verfasser  war,  ruhig 
bei  Seite  lässt.  Er  wollte  uns,  wie  noch  manchen  andern  Leuten, 
sHd  Hissfallen  über  das  Grab  hinaus  bezeugen.    Wir  quittiren 


340  Jahresbericht  1899. 

hiefür,  finden  es  aber  in  Folge  dessen  nicht  sehr  passend,  wenn 
etwa  in  Zürich,  wenn  auch  aus  Privatmitteln,  eine  Bismarck- 
statue  errichtet  werden  sollte. 

Um  so  freundlicher,  als  dieses  Gegners,  dürfen  wir  des 
nunmehr  auch  verstorbenen  zweiten  Reichskanzlers  Grafen 
Caprivi  gedenken,  der  eine  andere  Politik  befolgte,  mit  uns 
die  bestehenden  Handelsverträge  abschloss  und  auch  in  einer 
Rede  im  deutschen  Reichstag  die  von  seinem  Vorgänger 
angezweifelte  schweizerische  Neutralität  ausdrücklich  wieder 
anerkannte.  Von  ihm  wurden  statt  «Gedanken  und  Er- 
innerungen», mit  der  Tendenz  wohlausgedachter  Selbst  Ver- 
herrlichung, nur  einzelne  Briefe  bekannt,  die  er  an  den  Re- 
daktor des  «Berliner  Tagblattes»,  als  Antwort  auf  einen 
solchen  Vorschlag  schrieb,  und  die  den  vornehmen  Charakter 
dieses  Mannes  recht  deutlich  kennzeichnen.  Wir  sind  es  dem- 
selben schuldig,  sie  auch  in  einer  schweizerischen  Publikation 
festzuhalten  : 

«Skyren,  9.  Oktober  1895.  Sehr  geehrter  Herr!  Die 
mir  gefälligst  übersandten  Zeitungsausschnitte  sende  ich  dan- 
kend zurück.  Ich  bin  nicht  in  der  Lage,  mich  über  die  wirk* 
liehen  Ursachen  meines  Rücktritts  zu  äussern.  Achtungsvoll 
und  ergebenst  G.  v.  Caprivi.» 

«Skyren,  26.  Februar  1896.  Sehr  geehrter  Herr!  Auf- 
richtig danke  ich  Ihnen  für  Ihre  freundlichen  Worte.  Es  ist 
schwer,  im  Handeln  auf  Zustimmung  derer,  für  die  man  han- 
delt, verzichten  zu  müssen,  schwerer  noch  im  Alter  von  den 
Kreisen,  mit  denen  man  durch  ein  langes  Leben  zusammen- 
gegangen ist,  getrennt  zu  werden,  am  schwersten  aber  mit 
gebundenen  Händen  der  öffentlichen  Missachtung  ausgesetzt 
zu  werden  und  zusehen  zu  müssen,  wie  das,  was  man  zum 
Besten  des  Staates  geschaffen  zu  haben  glaubt,  wieder  ein- 
gerissen wird.  Nochmals  aufrichtigen  Dank  für  Ihre  Theil- 
nahme.   Voll  Achtung  bleibe  ich  Ihr  ergebener  G.  v.  Caprivi.> 

(Aus  Montreux,  25.  Februar  1895) :  «Ein  nicht  unerheb- 


Auswärtige?.    Schweizer.  Beziehungen  zu  Deutschland.      341 

lieber  Theil  meiner  Motive  hatte  Bezug  auf  den  Fürsten 
Bismarck,  and  ich  darf  soviel  wohl  Ihnen  gegenüber  aus- 
sprechen, dass  ich  bei  aller  Anerkennung  des  Glanzes  seiner 
Pereon  und  unserer  Heldenzeit,  schon  ehe  ich  Kanzler  wurde, 
erkannt  zu  haben  glaubte,  wie  schwere  Schaden  die  Kehrseite 
jener  glänzenden  Medaille  zeigte.  Der  Nation  behilflich  zu 
sein,  dass  sie,  ohne  an  den  neugewonnenen  nationalen  Gütern 
Schaden  zn  leiden,  in  ein  Alltagsdasein  zurückkehrte,  in  dem 
sie  ihre  alten  Tugenden  wiederfände,  schien  mir  das  nächste, 
voraussichtlich  nur  im  Laufe  der  Jahre  zn  erreichende  Ziel. 
Forst  Bismarck  hatte,  wie  ja  schon  oft  ausgesprochen  ist, 
die  innere  Politik  mit  den  Mitteln  der  äusseren  geführt,  und 
die  Nation  war  in  Gefahr,  ihren  sittlichen  Standard  sinken 
zu  sehen.  Indess  auch  nur  hierauf  jetzt  näher  einzugehen, 
würde  mir  nicht  recht  scheinen.  Weiter  werden  Sie  sich 
selbst  sagen,  wie  vorsichtige  Behandlung  das  persönliche  Ver- 
hältniss  zwischen  Kaiser  und  Kanzler  fordert,  wie  tief  es  in 
die  Amtshandlungen  des  Letzteren  eingreift,  und  wie  wenig 
davon  an  die  Oeffentlichkeit  kommen  darf.  Was  Ihren  zweiten 
Wunsch  angeht,  so  kann  ich  sagen,  dass  alle  Nachrichten, 
die  dahin  gehen,  ich  wollte  nach  dem  Süden  reisen,  ich  wäre 
piquirt  über  Ungnade  u.  dergl.,  gänzlich  erfunden  sind. 
Ich  habe  von  Anfang  an  den  Wunsch  gehabt,  das  Frühjahr 
noch  hier  in  Montreux  zu  verleben  und  halte  daran  noch 
fest.  Ich  bin  zufrieden,  dass  ich  keine  Verantwortung  mehr 
trage  und  freue  mich  eines  stillen  und  zufriedenen  Daseins, 
leb  habe  ein  Alter  erreicht,  in  dem  ich  auch  als  Soldat 
meine  Laufbahn  für  abgeschlossen  gehalten  haben  würde.» 

(Aus  Skyren,  4.  März  1897):  *So  freundliche  Glück- 
wünsche von  einem  politischen  Gegner  zn  erhalten,  ist  für 
mich  um  so  wohlthuender,  als  ich  durch  diejenigen,  denen  ich 
meiner  ganzen  Lebensanschanung  nach  früher  nahe  stand, 
nicht  verwöhnt  werde.  Ich  habe  manche  sehr  liebe  Bezieh- 
ungen aufgeben  müssen,  um  den  Ueberzeugungen,  die  ich  mir 
erst  als  Reichskanzler  mühsam  erwarb,  treu  bleiben  zu 
können.  Dass  dies  gerade  mein  Schicksal  sein  würde,  habe 
ich  nicht  vorhersehen  können,  aber  ich  habe  es  am  letzten 
Abend,  den  ich  in  Hannover  unter  meinen  Kameraden  verlebte, 


342  Jahresbericht  1899. 

ausgesprochen,  ich  wäre  mir  darüber  klar,  dass  ich  schliess- 
lich von  dem  Glanz  und  dem  Schimmer  nichts  behalten  würde 
«als  die  Müh'  und  die  Schmerzen  und  wofür  wir  uns  halten 
in  unserem  Herzen.»  Ich  bin  mit  diesem  Trost  des  Wallen- 
steinschen  Kürassiers  einverstanden,  das  ist  Soldatenschicksal. 
Ich  glaube,  ich  bin  meinem  Könige  und  mir  selbst  treu  ge- 
blieben, diesen  Glauben  kann  mir  niemand  nehmen,  im  übri- 
gen mag  die  Welt  denken  und  sagen,  was  sie  will.  Ich  lebe 
hier  in  stillem  Frieden  sehr  zurückgezogen.  Ich  altere  schnell 
aber  es  sind  mehr  Gebrechen,  die  mir  lästig  werden,  als 
Krankheiten.  Venen-Entzündungen  sind  mir  alte  Bekannte, 
ich  hatte  eine  ziemlich  ernste,  als  ich  im  Reichstag  bei  der 
Vertheidigung  der  letzten  Militär- Vorlage  nicht  selten  unter 
Schmerzen  lange  stehen  musste.  Indess  nun  sehe  ich  das 
ruhiger  an,  ich  habe  ja  Zeit,  stille  zu  liegen  und  mich  zu 
schonen.  Sie  erwähnen  die  Haltung  der  Freisinnigen  bei 
jener  Vorlage.  Ich  habe  nicht  so  weit  gesehen,  um  den  Zer- 
fall der  freisinnigen  Partei  vorherzusehen.  Ich  war  zu  sehr 
davon  überzeugt,  dass  die  Verkürzung  der  Dienstzeit  und 
namentlich  die  Durchführung  der  allgemeinen  Wehrpflicht 
von  allen  Liberalen  vertreten  werden  müssten.  Ich  meinte, 
der  ideelle  Gewinn,  der  in  diesen  Ideen  für  die  Liberalen 
lag,  wöge  die  erhöhte  Steuerlast  reichlich  auf.  Dass  damals 
die  allgemeine  Wehrpflicht  nicht  voll  zu  erreichen  war,  be- 
dauere ich  noch  heute  und  nicht  bloss  aus  militari  sehen 
Gründen.  Unverständlicher  noch  wie  der  Freisinn  sind  mir 
in  dieser  Frage  die  Nationalliberalen  geblieben.  Dass  ihr 
Führer  ein  Landsmann  Scharnhorsts  war,  Hess  er  in  seinem 
Verhalten  zur  allgemeinen  Wehrpflicht  nicht  erkennen.  Diese 
Frage  wird  wieder  kommen  und  ich  wünschte,  dass  die  Li- 
beralen, sofern  sie  dann  überhaupt  noch  existiren,  einen  ob- 
jektiveren Blick  in  die  Zukunft  hätten.  Da  kommt  die 
senectus  loquax  und  es  fehlt  nicht  viel,  so  begänne  ich,  aus 
der  Rolle  fallend,  über  Znkunfts-Politik  zu  orakeln.» 

(Aus  Skyren,  6.  März  98.)  «Sie  legen  mir  noch  einmal 
die  Idee  nahe,  litterarisch  -etwas  für  mich  zu  thun.  Und  so 
verführerisch  sie  für  mich  ist,  so  gern  ich  eine  solche  Arbeit 
gerade  in  Ihren  Händen  wissen  würde,  bestärkt  sich  in  mir 


Auswärtiges.    Schweizer.  Beziehungen  xu  Deutschland.      343 

doch  die  Ucberzcugung  immer  mehr,  dass  es  für  mich  das 
Richtige  ist,  mich  direkt  oder  indirekt  der  Politik  ganz  fern 
za  halten.  Es  ist  and  bleibt  falsch,  und  anch  das  abweichende 
Beispiel  eines  grossen  Mannes  ändert  daran  nichts,  wenn 
frohere  Offiziere  und  Beamte  gegen  eine  Regierung,  unter 
der  sie  gedient  haben,  öffentlich  auftreten.  Denn  dass  mein 
Auftreten,  ob  ich  wollte  oder  nicht,  als  gegen  die  jetzige 
Regierung  gerichtet  angesehen  werden  würde,  ist  mir  zwei- 
fellos; meine  politischen  Gegner  würden  gewiss  unschwer 
die  Mittel  linden,  es  dahin  zu  bringen.  Daran  würde  es 
wenig  ändern,  wenn  ich  meine  persönliche  Einwirkung  auf 
die  Schrift  so  wenig  wie  möglich  hervortreten  Hesse.  Und 
was  liegt  daran,  ob  ich  verkleinert,  ja  beschimpft  werde,  ob 
mein  Bild  verdunkelt  auf  die  Nachwelt  übergeht,  wenn  man 
mir  nur  den  Ruf  eines  anständigen  Mannes,  eines  selbstlosen 
Patrioten  nicht  nehmen  kann?  Und  auch  wenn  ich  selbst 
gar  nicht  die  Feder  eintauchte,  würde  ich  nicht  sicher  sein, 
in  die  garstigen  Kämpfe,  die  voraussichtlich  mit  den  näch- 
sten Wahlen  verbunden  sein  werden,  persönlich  hineingezogen 
zu  werden?  Ich  würde  die  Ansichten,  die  ich  als  aktiver 
Staatsmann  vertreten  habe,  nicht  aufgeben  wollen  und  können, 
ob  ich  aber  jetzt,  wo  ich  noch  als  General  ä  la  suite  geführt 
werde,  die  Berechtigung  hätte,  für  die  Handelsverträge  zu 
schreiben,  kann  zweifelhaft  sein.  Und  was  würde  ich  denn 
leisten  können?  Ich  bin  schnell  gealtert,  ich  habe  die  Ge- 
wohnheit an  feste,  konsequente  Arbeit  verloren.  Mir  fehlt, 
bis  auf  die  Schreibkräfte,  das  vorzügliche  Personal,  durch 
das  ich  unterstützt  wurde.  Wenn  Sie  von  mir  verlangen 
worden,  ich  solle  meine  Motive  für  irgend  einen  Schritt  re- 
konstruiren  und  niederschreiben,  ich  würde  es  wahrschein- 
lich auch  mit  grosser  Mühe  nicht  können.  Ich  habe  sogar 
meine  persönlich  geschriebenen  Notizen,  Auszüge  aus  Büchern, 
Gedachtnisshilfen  bei  meinem  Ausscheiden  zerstören  lassen, 
am  nicht  etwa  einem  Arnim-Prozesse  oder  dergleichen  in  die 
Hände  zu  fallen.» 

Es  ist  ein  edler  Charakter,  der  sich  ausspricht  und  gleich- 
zeitig, wenn  man  damit  die  «Erinnerungen»  Bismarck's  ver- 
deicht, ein  typisches  Bild  der  Veränderung,  die  in  dem  deutschen 


344  Jahresbericht  1899. 

Wesen,  selbst  in  den  besseren  Kreisen  vorgegangen  ist.  Ein 
jetzt  lebender  österreichischer  Dichter  sagt  darüber  in  einer 
«Ode  an  Germania»  am  Schlüsse : 

«Deine  grimmigsten  Feinde 

Niederhält  sie  die  bleiche  Furcht. 
Ja,  man  fürchtet  und  preist  weithin  des  Reiches  Macht, 
Doch  man  beugt  sich  nicht  mehr  willig  dem  deutschen  G  e  i  s  t.>  — 

Das  ist  das,  was  wir  am  «Reiche»  anders  wünschten 
und  wess wegen  wir  niemals  zu  den  unbedingten  Bewunderern 
Bismarck's  gehört  haben,  so  nothwendig  eine  solche  Persön- 
lichkeit für  Deutschland  vorübergehend  war.  Wir  hoffen  auf 
eine  bessere  Zeit ,    die  nun  wieder  folgen  kann  und  muss. 

Mit  den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  be- 
stehen noch  immer  Schwierigkeiten  über  Verzollung,  welche 
der  Bundesrath  auf  Antrag  des  kaufmännischen  Direktoriums 
in  St.  Gallen  dort  anhängig  gemacht  hat.  Die  mit  Deutsch- 
land obwaltenden  Differenzen  dieser  Art  sind  hiegegen  be- 
seitigt worden.  Auch  Nordamerika  hat  die  Auslegung 
welche  die  Schweiz  der  Bezeichnung  «meistbegünstigte 
Nation»  in  dem  bestehenden  Handelsvertrag  gegeben  hat, 
zwar  angenommen  (was  logisch  nicht  wohl  anders  möglich 
war),  sich  aber  vorbehalteu,  den  Vertrag  zu  kündigen,  wenn 
man  nicht  zu  einer  Abänderung  dieser  Klausel  gelange.  Wir 
hoffen,  die  grosse  Republik  im  Westen  werde  es  der  Schweiz 
möglich  machen,  in  ihr  einen  festen  Anhaltspunkt  in  aüVn 
schwierigen  Fragen  zu  sehen,  welche  die  jetzige  Weltlage, 
namentlich  für  die  kleinen  Staaten,  mit  sich  bringt. 


Mit  dem  folgenden  Jahre  beginnen   nun   schon  die   Vor- 
bereitungen   für    den    Abschluss   neuer    Handelsverträge 


Auswärtiges.    Nordamerika.    Handelsverträge.  845 

deren  alierwichtigste  sämmtlich  mit  dein  Jahre  1903  ablaufen 
und  daher  vorher  erneuert  werden  müssen.' 

Es  würde  dabei  sehr  wünschenswerten  sein,  statistisch 
genauer  erörtert  zu  sehen,  wie  die  jährliche  Differenz 
zwischen  der  schweizerischen  Einfuhr  und  Ausfuhr  ge- 
deckt wird,  welche  regelmässig  mehr  als  300  Millionen  zu 
Ungunsten  der  Schweiz  beträgt,  die  also  in  Baar  an  das 
Ausland  vergütet  werden  müssen.  Diese  Frage  kam  beiläufig 
in  der  Sitzung  des  Nationalrathes  vom  Juni  zur  Sprache, 
und  es  wurden  von  mehreren  sachverständigen  Personen  Er- 
klärungen versucht,  die  aber  keineswegs  erschöpfend  waren. 
Gewöhnlich  bezieht  man  sich  einfach  darauf,  es  ergebe  sich 
ans  dem  allgemeinen  «Gefühl»,  oder  dann  etwa  auch  aus  dem 
Stande  der  Sparkassen-Einlagen,  dass  die  Schweiz,  trotz  dieses 
jährlichen  Ausfalles,  nicht  ärmer  werde ;  mitunter  wird  auch 
behauptet,  es  lassen  sich  die  Gründe  desselben  gar  nicht 
näher  konstatiren,  man  stehe  da  gewissermassen  vor  einer 
anerklärbaren  Thatsache,  die  mit  «Vertrauen  in  die  Zukunft» 
behandelt  werden  müsse.  Wir  sind  unsererseits  in  Sachen 
der  Nationalökonomie,  und  in  Geldsachen  überhaupt,  nicht 
für  den  «Glauben»  eingenommen  und  hegen  auch  von  der 
Statistik  eine  zu  gute  Meinung,  um  anzunehmen,  dieselbe  sei 
gar  nicht  im  Falle,  ein  so  wichtiges  Verhältniss  näher  auf- 
zuklären. Jedenfalls  müsste  der  Versuch  gemacht  werden, 
sonst  gleicht  die  Schweiz  einem  Privatmann,  der  eben  darauf 
los  lebt,  in  dem  blinden  Wahn  eines  leichtsinnigen  Jünglings, 
es  sei  bisher  immer  gegangen  und  werde  daher  auch  fernerhin 
gehen.  Das  aber  wäre  im  jetzigen  Zeitpunkte  namentlich, 
in  welchem  wir  unsere  Handelsverträge  neu  ordnen  und  gleich- 
zeitig eine  sehr  grosse  Summe  Geldes  für  den  Rückkauf 
der  Bahnen  aufnehmen  wollen,  ein  geradezu  unverantwort- 
licher Leichtsinn.    Wir  sind  unsererseits  überzeugt,  dass  sich 


346  Jahresbericht  1899. 

der  Wohlstand  eines  Staates  nicht  bloss  nach  dein  Verhält- 
niss  seiner  Einfuhr  and  Ausfuhr  bemisst,  das  ist  eine  aufge- 
gebene Position  einer  früheren  Nationalökonomie;  immerhin 
aber  ist  und  und  bleibt  es  ein  wi  chtiges  Verhältniss,  und  es 
muss  dafür  eine  Deckung  vorhanden  sein,  wenn  die 
Ausfuhr  dauernd  und  in  hohen  ßeträgen  geringer  ist;  be- 
ziehungsweise man  muss  sich  über  diese  Deckung  mit  an- 
nähernden Zahlen,  nicht  bloss  mit  allgemeinen  Redensarten, 
oder  Vermuthnngen,  aussprechen  können.  Das  erfordert  ein 
ordentlicher  Staatshaushalt,  der  überhaupt  nicht  auf  Vermu- 
thnngen beruhen  darf. 

Ohne  dieser  Untersuchung;  die  wir  dringend  wünschen, 
irgendwie  vorzugreifen,  sind  wir  einstweilen  der  Meinung, 
dass  diese  Deckung  der  circa  300  jährlich  fehlenden  Millionen 
wesentlich  aus  den  Einkünften  des  Fremdenverkehrs,  die  sehr 
wohl  annähernd  berechnet  werden  könnten,  ferner  aus  dem 
Ertrag  der  im  Ausland  betriebenen  Geschäfte  nnd  angelegten 
Kapitalien,  der  in  die  Schweiz  fliesst,  die  allerdings  weniger 
leicht  kontrollirbar  sind,  und  endlich  vielleicht  auch  aus 
den  nicht  ganz  kontrollirten  Mehrwerthen  unserer  Ausfuhr- 
artikel über  die  «deklarirten»  Angaben  hinaus,  besteht.  Das 
letztere  würde,  falls  es  sich  so  verhält,  wohl  der  Haupt- 
grund sein,  weshalb  es  nicht  möglich  ist,  darüber  einen  statis- 
tischen Nachweis  zu  erstellen.  Immerhin  wird  es  gut  sein, 
sich  darüber  wenigstens  einigermassen  im  Klaren  zu  befinden. 

Wir  sind  unsererseits  von  dem  soliden  Wohlstand  der 
Schweiz  überzeugt,  auch  davon  ferner  überzeugt,  dass  jeder 
private  Haushalt  bei  uns  über  eine  Differenz  zwischen  Er- 
werb und  Ausgaben  sich  nicht  so  leicht  hinwegsetzt.  Aber 
wir  können  dessen  ungeachtet  den  Wunsch  nicht  unterdrücken, 
dass  sich  die  Ausfuhr  der  Schweiz  noch  bedeutend  vermehren 
und   die   Einfuhr  wenigstens    in  einigen  Artikeln,  die  leicht 


Auswärtiges.    Dio  Handelsbilanz.    Diplomatischer  Dienst.    847 

im  Lande  selbst  zu  erzeugen  wären,  herabsetzen  lasse  und  wir 
erblicken  darin  einen  wichtigeren  Gegenstand  «sozialer  Poli- 
tik» als  in  manchen  andern  Dingen,  die  einen  sehr  grossen 
Tbeil  unserer  gewöhnlichen  Diskussionen,  Berichterstattungen 
und  Pressartikel  ausmachen,  während  dieser  Punkt  mit 
merkwürdigem  Stillschweigen  übergangen  wird. 

In  Belgien  ist,  nach  einem  verfehlten  Versuche  des 
klerikalen  Ministerpräsidenten  Vandenpeereboom  ein  partielles 
Proportional- Wahlsystem  nach  dem  Muster  der  Disraelischen 
(nicht  mehr  bestellenden)  Wahlreform  und  des  jetzt  vor- 
liegenden Schwyzer -Verfassungsentwurfs  einzuführen,  eine 
völlige  Wahlreform  auf  Grund  des  Proporzes,  gleichzeitig 
wie  bei  uns,  auf  der  Tagesordnung.  Belgien  ist  für  uns  über- 
dies das  Beispiel  eines  Staates,  dessen  Bevölkerung,  indu- 
strielle Bedeutung  und  im  Allgemeinen  gesprochen  Wohl- 
habenheit von  Jahr  zu  Jahr  wächst,  während  der  öffentliche 
Geist  abnimmt  und  die  Unzufriedenheit  in  einem  grossen 
Theil  der  Bevölkerung  bereits  einen  bedrohlichen  Grad  er- 
reicht hat.  Es  ist  sehr  gefährlich,  anzunehmen,  dass  bloss 
in  der  steigenden  Wohlhabenheit  eines  Theiles  der  Bevölker- 
ung eine  Garantie  für  einen  gedeihlichen  Fortschritt  eines 
Staates  liege,  und  die  belgischen  Verhältnisse  können  uns 
in  dieser  Hinsicht  zur  Warnung  dienen. 

In  dem  diplomatischen  Dienst  der  Eidgenossen- 
schaft wurde  Herr  Dr.  Choffat  von  Pruntrut  zum  Minister- 
residenten in  Buenos-Aires  gewählt.  Von  den  hier  accredi- 
tirten  Diplomaten  starb  der  französische  Ambassadeur,  Graf 
Montholon.  Die  einzige  schweizerische  Consular- Justiz ,  die 
bestand,  hat  mit  dem  1.  Juli  dieses  Jahres  in  Japan  auf- 
gehört, und  es  wird  wohl  mit  dem  System  eigener  schweizer- 
ischer Berufskonsuln  nicht  fortgefahren,  sondern  vorgezogen 


348  Jahresbericht  1899. 

werden,  die  Schweizer  in  Staaten,  die  nicht  hinreichende 
Gewähr  für  eine  genügende  Justiz  bieten,  unter  fremden 
Schutz  grösserer  Staaten  zu  stellen,  lieber  die  deutschen  Beruf s- 
Consulate  enthielt  der  letzte  Jahresbericht  der  Handelskammer 
von  Elberfeld  folgenden  bemerkenswerthen  Passus: 

«Wir  unsrerseits  möchten  angelegentlichst  befürworten, 
den  juristisch  oder  diplomatisch  geschulten  Berufskonsuln  an 
allen  denjenigen  Plätzen,  welche  besonders  dazu  geeignet 
erscheinen,  Mittelpunkte  für  den  deutschen  Handel  abzugeben, 
einen  kaufmännischen  Beirath,  bezw.  in  verschiedenen 
Zweigen  sachverständige  Persönlichkeiten  zur  Seite  zu  stellen, 
welche  jede  sich  dem  deutschen  Wettbewerb  bietende  gün- 
stige Gelegenheit  mit  aufmerksamem  Blick  zu  verfolgen  und 
den  mit  grösst möglicher  Schnelligkeit  arbeitenden  informa- 
torischen Dienst  in  allen  Handelsangelegenheiten  zu  über- 
nehmen hätten.  Durch  eine  solche  Einrichtung  würde  dem 
unternehmungswilligen  Kaufmann  und  in  erster  Linie  auch 
den  deutschen  Handelskammern  selbst  die  Möglichkeit  ge- 
boten, sich  bezüglich  aller  derjenigen  Angelegenheiten,  in 
welchen  dieselben  des  Raths  und  der  sachkundigen  Unter- 
stützung in  jenen  vom  Mutterlande  so  weit  entfernten  Ge- 
bieten bedürfen  sollten,  mit  den  Consulaten  in  direkte  Ver- 
bindung setzen  zu  können.» 

Es  ergibt  sich  daraus,  dass  doch  eigentlich  gut  gebildete 
Handelskonsuln  diesen  sogenannten  Berufskonsuln  bei  weitem 
vorzuziehen  sind. 

Leider  ist  es  vorgekommen,  dass  ein  schweizerischer 
Handelskonsul  in  Johannesburg  wegen  betrügerischer  Spe- 
kulationen in  seinen  Funktionen  eingestellt  werden  musste. 
Die  Schweizer  in  der  südafrikanischen  Republik  wurden 
in  Folge  dessen  unter  deutschen  Schutz  gestellt. 


Auswärtiges.  •  Staatsverträge.  349 

In  unserer  eigenen  Diplomatie  stehen  zwei  wesentliche 
Veränderungen  bevor,  indem  mutmasslich  ein  Mitglied  des 
Rundesrathes  an  die  Stelle  des  verstorbenen  Weltpostdirek- 
tors Höhn  treten  wird,  und  andererseits  das  Amt  des  eid- 
genössischen Generalanwalts,  das  zwar  im  Wesentlichen  nicht 
das  ist,  was  sein  Titel  besagt,  sondern  eine  Aufsichtsbehörde 
über  die  politische  Freradenpolizei,  durch  die  Resignation  des 
bisherigen  ersten  Inhabers  neu  besetzt  werden  muss.  Es 
wird  sich  daran  ohne  Zweifel  eine  neue  Diskussion  über  das 
Wesen  und  den  Werth  dieser  politischen  Polizei  knüpfen,  ein- 
geleitet durch  die  Verhandlung  über  die  Ausweisung  einiger 
italienischer  Agitatoren,  die  in  der  nächsten  Bundesversamm- 
lung vom  September  zu  erfolgen  hat.  Wir  halten  unsererseits, 
unter  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  unserer  Nachbar- 
staaten, besonders  Frankreich  und  Italien,  eine  gute  Frem- 
denpolizei für  notwendiger,  als  seit  geraumer  Zeit,  und  be- 
zweifeln auch  nicht,  dass  der  weitaus  grösste  Theil  des 
schweizerischen  Volkes  der  Ansicht  ist,  dass  eine  solche  un- 
entbehrlich sei.  Es  wird  sich  lediglich  darum  handeln,  eine 
geeignete  Persönlichkeit  zu  finden ,  die  mit  der  nöthigen 
Energie,  und  gleichzeitigen  Unabhängigkeit  gegenüber  allen 
ungehörigen  Zumuthungen,  ihres  nicht  leichten  Amtes  walte. 
Eine  Revision  des  dermaligen  Gesetzes  von  1889,  gegen  wel- 
ches die  sozialistische  Partei  damals  ein  Referendum  ver- 
suchte, aber  bloss  24,000  Unterschriften  dafür  fand,  halten 
wir  nicht  für  opportun. 

Staatsverträge. 

I.  Internationale.  Der  neue  (Washingtoner)  Welt  - 
postvertrag  vom  15.  Juni  1897,  wie  er  dermalen  besteht, 
findet  sich  nun  abgedruckt  in  der  E.  G.  S.  XVI,  897.    Ueber 


350  Jahresbericht  1899. 

die  Auswechslung  von  Colis  postaux  fand  mit  Frankreich 
ein  Spezialvertrag  vom  15.  November  1898  statt.  E.  G. 
S.  XVII,  55. 

Die  Uebereinkunft  über  internationales  Privatrecht 
und  Civilprozessrecht  vom  21.  Juni  1898  steht  in  E.  G. 
S.  XVII,  179.  Sie  besteht  zwischen  der  Schweiz,  Deutsch- 
land, Oester  reich -Ungarn,  Belgien,  Dänemark,  Spanien, 
Frankreich,  Italien,  Luxemburg,  Holland,  Portugal,  Rumänien, 
Russland,  Schweden  und  Norwegen. 

Der  Zusatzvertrag  zum  Miinzvertrag  vom  15.  Mai 
1898  in  E.  G.  S.  XVII,  44. 

Montenegro  ist  von  dem  Vertrag  über  das  Urheber- 
recht zurückgetreten.  E.G.  S.  XVII,  209.  Der  Vertrag 
tritt  mit  dem  1.  April  1900  ausser  Kraft.  Japan  tritt  dem 
litterarischen  und  gewerblichen  Eigen thumsschutz  bei.  E.  G. 
S.  XVII,  206. 

Die  Eidgenossenschaft  hat  die  Separatverträge  über  Ur- 
heberrecht mit  Italien  (22.  Juli  1868)  und  Deutschland 
(13.  Mai  1865)  gekündigt,  wonach  auch  mit  diesen  Staaten 
vom  17.  November  1899  ab  nur  noch  die  internationale  Kon- 
vention vom  9.  September  1886  besteht. 

Die  Anarchisten -Konferenz  in  Rom  wurde  ge- 
heim abgehalten  und  hat,  wie  vorauszusehen  war,  zu  keinem 
Vertrage  geführt.  Dagegen  verlautete  etwas  von  Beschlüssen 
über  eine  internationale  Ueberwachung  bekannter  Anarchisten 
und  einem  diesfälligen  Reglement,  welches  die  italienische 
Regierung  ausarbeiten  sollte,  und  das  dann  am  15.  Mai  1899 
hätte  in  Kraft  treten  sollen.  Bekannt  ist  ein  solches  eben- 
falls nicht  geworden.  Die  Gegenstände  der  Konferenzberath- 
ung  waren  folgende:  Strafrechtliche  Definition  des  Anarchis- 
mus, Massrcgeln  gegen  die  anarchistische  Presse,  Auslieferung 
der  Anarchisten,  Qualifikation  der  anarchistischen  Verbrechen 


Auswärtiges.    Staats  vortrage.  351 

als  gemeine  Verbrechen,  Organisation  des  Polizeidienstes  be- 
hufs Erleichterung  des  gegenseitigen  Austausches  von  Mit- 
theilungen betreffend  Anarchisten, 

In  Brüssel  fand  eine  Konferenz  von  betheiligten  Staaten 
aber  die  Einfuhr  alkoholischer  Getränke  in  Afrika 
statt.  Die  in  der  Brüsseler- Afrika- Akte  von  1890  festge- 
stellten Einfuhrzölle  wurden  erhöht. 

II.  SpezialVerträge.  1.  Vertrag  mit  Russland 
aber  Schutz  der  Fabrik-  and  Handelsmarken.  E.  G. 
S.  XVII,  227,  Bbl.  1899.  Nr.  24. 

Wir  haben  mit  Rassland  bloss  einen  bereits  alten  Nieder- 
lassungsvertrag von  1872.  Nun  soll  auf  Wunsch  unserer  Ex- 
port-Industrie noch  ein  Zusatzvertrag  gemacht  werden,  der 
folgende  etwas  komplizirte  Vorgeschichte  hat. 

Wir  erliessen  unser  Markenschutzgesetz  1879,  das  1890 
durch  ein  erweitertes  ersetzt  warde. 

Am  20.  März  1883  kam  hinzu  die  Union  zum  Schutz  des 
gewerblichen  Eigenthums,  die  auch  Patente,  Modelle,  Muster 
und  Geschäftsfirmen  umfasst.  Derselben  gehören  dermalen 
18  Staaten  an,  zuletzt  Japan,  Russland  hingegen  nicht.  Die 
internationale  Uebereinkunft  von  Madrid  von  1891  kam 
spater  noch  dazu,  es  ist  eine  spezielle  Uebereinkunft  zum 
Zweck  der  internationalen  Eintragung  der  Handelsmarken  in 
Bern.  Dieser  Uebereinkunft  sind  nicht  alle  Länder  der  all- 
gemeinen Union,   sondern   nur  10  der  obigen  18  beigetreten. 

Ebenso  wurden  in  Madrid  unter  noch  wenigeren  Staaten 
die  falschen  Herkunftsbezeichnungen  verboten. 

Russland  ist  bei  diesen  Verträgen  nirgends  dabei,  son- 
dern es  besteht  nur  ein  russisches  Gesetz  von  1896,  das  für 
Russland  gilt  und  das  vorbehält,  Fremden  gleichen  Schutz 
für  Handels-  und  Fabrikmarken  zu  gewähren,  wie  den  Russen 
«es  vertu  de  Conventions  diplomatiques». 


352  Jahresbericht  1899. 

Solche  Konventionen  mit  Russland  schlössen  alle  Indu- 
strieländer Europas,  zuerst  England,  zuletzt  Dänemark.  Die 
Schweiz  hatte  bisher  keine,  die  jetzt  abgeschlossen  wird, 
wozu  Russiand  sich  auf  Wunsch  der  Schweiz  bereit  erklärte. 
Der  Vertrag  wurde  in  Bern  mit  der  russischen  Gesandtschaft 
abgeschlossen. 

Es  ist  also  eine  Gleichberechtigung  mit  den  einheimischen 
Industrien  in  Russland,  beziehungsweise  mit  allen  anderen 
Staaten,  die  solche  Vertrüge  bereits  haben. 

Die  Marken  der  Schweizer  und  Russen  können  gegen- 
seitig im  Ursprungslande  eingetragen  werden. 

2.  Abänderung  des  schweizerisch- spanischen  Ver- 
tragstarifs. 

Am  11.  April  1899  berichtete  das  Generalkonsulat  in 
Spanien,  die  spanische  Regierung  wünschte  die  Position  Cko- 
colade  aus  dem  Zollvertrag  zu  entfernen,  weil  Spanien  den 
Zoll  auf  die  Rohmaterialien  der  Chocoladefabrikation  erhöhen 
möchte.  Es  stellte  eventuell  Kündung  des  Zollvertrags  in 
Aussicht. 

Es  ist  allerdings  ein  etwas  sonderbares  und  prinzipiell 
verwerfliches  Verfahren,  einzelne  Artikel  eines  Vertrags 
während  einer  Vertragsdauer  ausser  Kraft  zu  setzen;  die 
Schweiz  hat  aber  kein  grosses  Interesse  daran,  da  ihr  Cho- 
colade-Import  nach  Spanien  fast  auf  Null  gesunken  ist  und 
sie  ohnehin  in  Spanien  begünstigt  ist.  Die  Spanier  haben 
nämlich  dermalen  3  Tarife,  einen  Maximaltarif  (dem  lange 
Zeit  Deutschland  und  zeitweise  auch  Frankreich  unterlag), 
einen  Minimaltarif,  der  jetzt  ziemlich  allgemein  angewendet 
wird,  und  dann  noch  Vertragstarife,  die  nur  Russland,  Hol- 
land, Schweden-Norwegen  und  die  Schweiz  haben,  ausgenom- 
men Portugal,  das  noch  einen  ganz  besonders  günstigen  Vor- 


Auswärtige«.    Staatsverträge.  353 

trag  mit  Spanien  besitzt.  Abgesehen  davon  ist  die  Schweiz 
meistbegünstigt,  so  dass  man  Spaniens  Wünschen  etwas  ent- 
gegenzukommen geneigt  sein  musste.  Demgemäss  wurde  be- 
schlossen, die  Bindung  von  Chocolade  aufzuheben. 

Ueber  die  Fischerei  in  den  italienischen  Gränzge- 
wässern  wurde  ein  Zusatzvertrag  mit  Italien  vom  8.  Juli 
1898  abgeschlossen.  £.  G.  S.  XVII,  29 ;  der  Hauptvertrag 
ist  vom  8.  November  1882. 

Mit  den  Bodenseeuferstaaten  wurde  in  Konstanz  eine 
neue  Schifffahrts-  und  Hafenordnung  für  den  Bo- 
densee vom  8.  April  1898  abgeschlossen,  welche  den  früheren 
Vertrage  vom  22.  Sept.  1867  und  die  Revisionsvereinbarungen 
vom  6.  Mai  1892  und  30.  Juni  1894  abändert  BbL  1899, 
Nr.  22«  Betreffend  die  Tieferlegung  der  Hochwasserstande 
des  Bodensees  macht  das  eidgenössische  Oberbauinspektorat 
in  seinem  Geschäftsberichte  für  1898  folgende  Mitteilungen: 

cDa  die  Antworten  der  grossherzoglich  badischen  Regie- 
rung und  derjenigen  von  Schaffhausen  auf  das  ihnen  übermittelte 
Gesuch  des  Kantons  Thurgan,  die  Abgrabung  bei  Eschenz 
vertiefen  zu  dürfen,  ablehnend  lauteten,  so  wurde  beschlossen, 
es  sei  zur  Zeit  von  einer  weitern  Abgrabung  abzusehen  und 
damit  zuzuwarten,  bis  infolge  der  stattfindenden  Besprech- 
ungen eine  Abklärung  in  dieser  Angelegenheit  erfolgt  sein 
werde.  Baden  und  Thurgau  wurde  auf  bezügliche  Anfragen 
mitgetheilt,  dass  die  nötkigen  Schritte  zur  Beschickung  einer 
technischen  Vorkonferenz  erfolgen  werden,  sobald  die  Be- 
nennungen über  die  Tieferlegung  der  Wasserstände  des 
Bodensees  zu  Ende  geführt  sein  werden.  Die  vom  Bundes- 
rath  angeregte  internationale  Konferenz  zur  Besprechung 
der  Frage  wegen  Verbesserung  der  Zustände  des  Hemishofer- 
baches  hat  stattgefunden,  und  es  wurde  die  Regierung  des 
Kantons  Schaffhausen  eingeladen,  für  den  auf  ihrem  Gebiete 
liegenden  Theil  dieses  Baches  ein  Korrektionsprojekt  auf- 
zustellen.» 

23 


354  Jahresbericht  1809. 

Betreffond  Auslieferung  ist.  der  neue  holländische 
Vertrag  in  £.  G.  S.  XVII,  1  abgedruckt  Mit  Deutschland 
-besteht  dermalen  die  Schwierigkeit,  dass  dieser  Staat  den 
bei  uns  geltenden  Grundsatz  «ne  bis  in  idem»  nicht  anerkennt, 
somit  in  Deutschland  Jemand,  der  in  der  Schweiz  bestraft 
worden  ist,  für  das  gleiche  Verbrechen  noch  einmal  prozedirt 
werden  kann.  Solche  Leute  werden  daher  von  uns  mitunter 
nicht  mehr  ausgeliefert,  was  wieder  zur  Folge  hatte,  dass 
Deutschland  die  Strafverfolgung  von  Deutschen,  die  im  Kanton 
Zürich  Verbrechen  begangen  hatten,  ablehnte.  Es  wird  daher 
zweckmässig  sein,  den  obigen  Grundsatz  in  dem  neuen 
Strafgesetzbuch  überhaupt  fallen  zu  lassen« 

In  der  Junisitzung  der  Bundesversammlung  wurde  bean- 
tragt, mit  Italien  ein  Zusatzabkommen  über  den  Nieder- 
lassungsvertrag vom  22.  Juli  1868  über  Ausweisschriften 
für  Italiener,  welche  in  die  Schweiz  kommen,  abzuschliessen. 
Der  ßundesrath  nahm  die  Motion  nur  in  dem  Sinne  an,  dass 
er  bessere  Ordnung  in  den  Heimathschriften  dieser  Einwan- 
derer verlangen  will,  dagegen  nicht  Leumundszeugnisse,  wie 
sie  bloss  in  den  Verträgen  mit  Deutschland  und  Liechtenstein 
bestehen.  Auch  will  er  den  Niederlassungsvertrag  nicht 
künden.  Eine  allgemeine  «Italienerfrage»  in  der  Art  der 
Chinesenbill  in  Amerika  würde  der  Schweiz  auch  in  der  That 
nicht  zur  Ehre  gereichen« 

III,  Handelsverträge.  Da  auf  das  Jahr  1903  unsere 
wichtigsten  Handelsverträge  erneuert  werden  müssen,  wurde 
mit  der  Untersuchung  der  betreffenden  Grundlagen  begonnen. 
Unter  dem  Vorsitz  von  Bundesrath  Deucher  traten  im  August 
die  Präsidenten  der  drei  grossen  wirtschaftlichen  Interessen- 
verbände der  Schweiz,  nämlich  des  schweizerischen  Sandels- 
und Industrievereins,    des   schweizerischen  Handwerker-  und 


Auswärtiges.    Staalsvfcrträge.  855 

Gewerbevereins  und  des  schweizerischen  Bauernverbandes, 
sowie  die  ständigen  Sekretäre  derselben,  nebst  einigen  Vertre- 
tern spezieller  Produktionszweige  zu  einer  Konferenz  zusammen. 
Diese  Konferenz  hat  das  Programm  für  die  innerhalb  der 
Verbände  zu  veranstaltenden  Erhebungen  zu  den  Vorarbeiten 
für  Revision  der  Handelsverträge  zu  berathen.  Auf  Grund 
dieses  Programms  soll  dann  die  Angelegenheit  in  den  Sek* 
tionen  und  Zweigvereinen  der  Verbände  einlasslich  behandelt 
werden,  wobei  zwei  Hauptfragen  zu  beantworten  sein  dürften : 
einerseits  die  wirthschaftlichen  Folgen  der  Handelsverträge, 
andererseits  die  Wünsche  und  Begehren  für  die  Gestaltung 
unseres  eigenen  Zolltarifs.  Die  ständigen  Sekretariate  werden 
die  nöthige  Anleitung  für  eine  einheitliche  und  zuverlässige 
Behandlung  der  gestellten  Fragen  zu  geben  und  das  gewon- 
nene Material  zu  sammeln  und  zu  verarbeiten  haben.  Bis 
zum  L  Juli  1900  müssen  die  Verbände  ihre  Eingaben  fertig 
stellen  und  einreichen.  Der  Prüsidialkonferenz  dürfte  sodann 
die  weitere  Aufgabe  zufallen,  die  Forderungen  der  drei 
axosscn  Interessengruppen  thunlichst  in  Uebereinstimninng 
zu  bringen  und  einen  gutachtlichen  Bericht  an  den  Bundes- 
rath  zu  erstatten.  Es  ist  also  vorauszusehen,  dass  bis  zum 
Herbste  1900  dem  Bandesrath  die  Ergebnisse  der  Erbebungen 
und  Berathungen  in  den  Verbänden  zur  weiteren  Behandlung 
vorgelegt  werden  können. 

Die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika 
bat  die  Artikel. 8  und  12  des  Niederlassungs«  und  Handels- 
vertrages vom  25.  November  1850,  wonach  beide  Staaten 
steh  in  unbedingter  Weise  die  Rechte  der.  Meistbegünstigung 
in  Handels-  und  Zollsachen  zusichern,  gekündigt.  Der  BundeB- 
»ath  hat  beschlossen,  diese  theil weise  Kündigung  anzunehmen. 
Die  genannten  Artikel  bleiben  noch  bis  und  mit  depi  23.  März 
1900  in  Kraft. 


356  Jahresbericht  1899. 

Inzwischen  fand  eine  allerdings  in  diesem  Sinne  nur 
provisorische  Verständigung  über  den  Sinn  der  sogenannten 
Meistbegünstigungsklausel  im  jetzigen  Vertrag  von  1850  statt. 
Die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  hatte  durch  ein  Ab- 
kommen mit  Frankreich  die  Zollansätze  für  einige  Erzeug- 
nisse (Wein,  Spirituosen,  Wermuth,  Weinstein,  Weinhefe, 
Gemälde,  Zeichnungen  und  Bildhauerarbeiten)  ermässigt, 
wogegen  Frankreich  seinen  Minimaltarif  auf  eine  Reihe  von 
Erzengnissen  der  Vereinigten  Staaten  ausdehnte.  Der  Mit- 
genuss  der  genannten  amerikanischen  Zollermässigungen,  wo- 
von diejenigen  für  Spirituosen  einiges  Interesse  für  uns 
hatten,  wurde  uns  mit  dem  Bemerken  verweigert,  dass  die 
Wirkung  der  Meistbegünstigungsklausel .  sich  auf  diejenigen 
Konzessionen  beschränke,  die  einem  dritten  Lande  unentgelt- 
lich gemacht  werden,  wogegen  die  an  Kompensationen  ge- 
knüpften durch  ebensolche  erkauft  werden  müssten.  Der 
Bundesrath  war  jedoch  im  Fall,  die  Regierung  der  Vereinig- 
ten Staaten  zu  überzeugen,  dass  uns  die  Artikel  8,  9,  10 
und  12  unseres  Vertrages,  gemäss  ihrer  besondern,  von  der- 
jenigen der  andern  Verträge  abweichenden  Redaktion  und 
nach  der  dokumentierten  Absicht  der  Unterhändler,  den  un- 
entgeltlichen Mitgenuss  aller  Konzessionen  an  Drittstaaten, 
ohne  Ausnahme,  garantiren.  Indem  die  genannte  Regierung 
dies  schliesslich  anerkannte,  behielt  sie  sich  immerhin  vor 
den  Vertrag  zu  kündigen,  wenn  es  nicht  gelinge,  sich  über 
eine  Aenderung  der  Klausel  zu  verständigen.  Diese  Kündig* 
ung  ist  nnn  also  erfolgt. 

Der  mit  Chile  abgeschlossene  Handelsvertrag  vom 
31.  Oktober  1897  ist  in  der  E.  G.  S.  XVII,  70  abgedruckt 

Eine  Erklärung  über  die  Geleitscheine  im  Getränkever- 
kehr  mit  Frankreich  vom  15.  März  1899  findet  sich  in 
E.  G.  S.  XVII,  85. 


Auswärtiges.    Konkordate.    Kongresse.  857 

Die  Verträge,  die  mit  Argentinien  and  Paraguay 
abgeschlossen  sind,  sind  von  den  dortigen  Parlamenten  noch 
nicht  ratifizirt  worden.  Dagegen  ist  der  Handelsvertrag  mit 
Japan  vom  10.  November  1896  am  17,  Juli  1889  vollstän- 
dig in  Kraft  getreten  und  damit  auch  die  bisherige  schwei- 
zerische Konsular-Jurisdiktion  in  Japan  dahingefallen.  Neue 
Unterhandlungen  über  Handelsverträge  sind  angebahnt  wor- 
den mitC  an  ad  a  und  demOra  nje -Frei  Staat,  welcher 
letztere  sich  bereits  dazu  herbeigelassen  hat;  die  Verhand- 
lungen mit  Portugal  und  Bulgarien  dauern  fort. 

Konkordate.  Glarus  und  St.  Gallen  haben  ein  sol- 
ches über  die  Schifffahrt  auf  dem  Walensee  abgeschlossen, 
das  nach  der  in  diesem  Punkte  herrschenden  Regellosigkeit 
schwerlich  in  die  Eidgenössische  Gesetzessammlung  gelangen 

wird. 

Kongresse.  Ueber  einen  vorbereitenden  Arbeiter- 
schutz-Kongress  wird  von  der  Gazette  de  Lausanne 
Folgendes  berichtet : 

cLe  3  mai,  &  Berlin,  une  Conference  de  partisans  de  la 
protection  onvriere  s'est  reunie  ä  l'Hötel  des  architectes  pour 
diacuter  la  creation  d'une  nouvelle  union  internationale,  de- 
btinee  ä  unifier  et  &  deveiopper  la  legislation  protectrice  du 
travaiL  Des  propositions  precises,  emanant  du  comitg  beige, 
irat  servi  de  base  ä  la  discussion,  laquelle  a  abouti  au  vote 
d'une  resolution  et  ä  l'election  d'un  comite  provisoire.  En 
outre,  le  voöu  a  ete"  exprime*  par  l'assemblee  que  le  siege  du 
futar  ofrice  international  du  travail  füt  etabli  en  Suisse. 

Trois  orateurs  ont  parle*  en  faveur  de  ce  choix :  MM.  de 
Berlepsch,  ancien  ministre  d'Etat ;  Dr.  Sombart,  professeur  ä 
Breslau;  et  Max  Hirsch.  Personne  n'a  combattu  leur  pro- 
Position-  Ainsi  s'ouvre  pour  la  Suisse  la  perspective  de  de- 
Tenir  le  siege  d'un  cinquieme  bureau  international  si  jamais 
quelques  Etats   parviennent    ä   s'entendre   sur   ce   point.    II 


358  Jahresbericht  1899. 

sera  au  reste  plus  facile  de  creer  un   office  international  du 
travail  que  d'assurer  l'efficacite*  de  son  action. 

II  a  6te  declare  en  effet  &  Berlin  qae  le  futur  bureae 
ne  devait  point  se  borner  ä  centraliser  et  ä  distribuer  les 
reuseign  einen  ts  concernant  la  protection  ouvrierc:  bn  exigc 
qu'il  se  livre  ä  une  active  propagande.  Ce  serait  lä  une 
mission  äpineuse,  &  cause  de  la  Jalousie  avec  laquelle  chaque 
Etat  se  ferme  &  l'ingerence  de  l'Gtranger. 

La  Conference  de  Berlin  ne  s'est  d'ailleurs  pas  occnpee 
des  difticultes  pratiques  auxquelles  se  heurtera  vraisembla- 
blement  Je  bureau  international,  et  il  est  probable  qu'elle  ne 
s'y  serait  point  arretee  si  on  les  lui  avait  objectees.  Le 
propre  des  adeptes  de  la  protection  ouvriöre  est  d'avoir  ane 
grande  confiance  dans  la  reglementation.  Au  surplus,  la  pre- 
sence  de  professeurs  öininents,  tout  en  donnant  un  grand 
eclat  &  la  räunion  du  3  mai,  lui  conferait  en  ineme  temps  un 
certain  caractere  de  Manifestation  acadämique.  Le  comite 
qui  y  a  ete  6lu  couipte  parmi  ses  vingt  membres  les  profes- 
seurs de  science  sociale  les  plus  en  vue  en  Alleniagne,  MM. 
Schmoller  (Berlin),  Sombart  (Breslau),  Hitze,  Wagner,  Bren- 
tano (Munich). 

En  fait  de  personnages  politiques,  ce  meine  comite  pos- 
söde M.  de  Berlepsch,  M.  Lieber,  chef  du  centre,  et  les  de- 
putes  Schmidt  (Elberield)  et  Bassermann  (Mannheim).  Les 
pasteurs  Stöcker  et  Naumann  y  flgurent  aussi,  et  il  n<- 
man  que  ä  la  collection  de  couleurs  et  de  nuances  represen- 
tees  dans  le  comite  que  les  socialistes.  Invites  k  la  confe- 
rence,  ils  n'y  ont  point  paru.  Apparemmeat  ils  estiment  que 
MM.  de  Berlepsch  et  consorts  chassent  sur  leurs  terres  et 
ils  ne  veulent  pas  se  comrneitre  avec  ces  braconniers. 

Die  gleiche  Zeitung  berichtete  über  die  internatio- 
nalen Temper  enz-Kongresse,  welche  bisher  statt- 
fanden, Folgendes: 

Inauguree  ä  Anvers  en  1885,  Institution  des  congres 
internationaux  contre  Tabus  des  boissons  alcooliques  s'est  des 
lors  consolidee.  En  1895,  le  cinquieme  congres  ätait  tenu  ä 
Bal<;;  deux  ans  plus  tard,  le  sixieme  avait  Heu  ä  Bruxelles; 


Auswärtiges.  Kongresse.  359 

enfin,  le  septieme  sera  ouvert  ä  Paris  le  4  avril  prochain, 
sous  la  presidence  d'honnenr  de  M.  le  sönateur  Roussel, 
menibre  de  l'Academie  de  mädecine. 

Au  15  mars,  le  chiffre  des  adhesions  atteignait  700.  Le 
docteur  Legrain,  raeMecin  en  Ghef  des  asiles  d'aiienäs  de  la 
Seine,  preside  le  comite  d'organisation,  tres  nombreux,  dans 
lequel  on  remarque  en  particulier  les  noms  snivants :  B6dorez, 
directeur  de  Penseignement  primaire  &  Paris;  Brouardel, 
doyen  de  la  Facuite*  de  mädecine;  Dr.  Brousse,  conseiller 
mnnicipal  de  Paris;  Claretie,  membre  de  l'Academie  francaise; 
labbe  Lemire,  d6put6;  Herle  d'Aubignä,  pasteur;  Miilerand, 
deputö;  Monod,  conseiller  d'Etat,  directeur  de  PAsaistance  et 
de  Pbygiene  publiques  en  France;  Thuillier,  präsident  du 
Conseil  g6n6ral  de  la  Seine ;  Dr.  Tissiä,  Präsident  de  la  Ligue 
jrirondine  de  l'äducation  physique;  Mgr.  Turinaz,  e>eque  de 
Nancy. 

Voici  le  programme  des  questions  soumises  aux  assem« 
blees  gtaerales  du  congres: 

Mardi  4  avril.  —  Le  rdle  de  la  jeunesse  universitäre 
dans  la  lutte  contre  Palcoolisme.  Le  röle  des  etablissements 
dVnseignement  secondaire  (lycees,  Colleges,  gymnases,  etc.) 
dans  la  lutte  antialcöolique. 

Mercredi  5  avril.  —  De  Penseignement  antialcöolique 
apres  Päcoie  primaire.  Des  soctätes  scolaires  et  post-scolaires 
de  temperancc.  Preparation  du  personnel  enseignant  ä  la 
lutte  antialcöolique  dans  l'ecole  et  hors  de  Pecole. 

Jeudi  6  avril.  L'alcoolismo  et  les  conditions  du  travail 
chez  Pouvrier. 

Vendredi  7  avril.  D'une  entente  entre  les  Etats  pour 
la  protection  des  races  indigenes  contre  l'alcool.  De  la  lutte 
antialcöolique  dans  Parmöe  et  par  Parmee. 

La  discussion  ne  porte  plus  sur  la  qucstion,  aujourd'bui 
elucidäe  et  trancbee,  de  rinflucnce  pernicieuse  de  Palcool  pris 
&  doses  mode>6es.  Cela  ne  veut  pas  dire  que  le  congres  ne 
renscignera  pas  &  cet  6gard  ceux  de  ses  membres  qui  nc 
•>ont  point  au  courant  de  l'ätat  actuel  de  la  question.  Large- 
ment  ouvert  &  toutes  les  opinions,  le  congres  pratique  le  däbat 
contradictolre  d'autant  plus  volontiers  qu'il  a  reponse  &  tout. 


360  Jahresbericht  1899. 

II  n'y  a  pas  un  congr&s  oü  l'abstinence  complete  des 
boissons  distillees  ou  formendes  subit  quelque  assaut,  qui 
ne  lui  fournissc  l'occasion  bienvenue  de  produire  ses  argu- 
menta. Ainsi,  k  Bruxelles,  M.  Clement-Lyon  ß'est  livr£  4 
l'apostrophe  suivante,  qui  traduit  probablement  le  sentiment 
d'une  grande  partie  du  public: 

Avez-vous,  Messieurs,  la  conyiction  que  votre  abstinence 
complete  eloignera  toujours  de  vous  les  maux  physiques  et 
moraux  inhärente  k  l'humanitä  ?  Avez-vous  la  conviction  que, 
voua  et  vos  adeptes,  prolongerez  d'un  jour  seulement,  par 
cet  interminable  caräme,  votro  existence,  que  vous  en  arri- 
verez  enfin  k  vivre  mieux  et  plus  longtemps  que  nous  autres? 
Sie  vous  avez  cette  conviction  et  si  vous  me  fournissez 
quelque  preuve  tangible  de  ces  incommensurables  avantages. 
alorö  j'aurai  moins  d'hesitation  k  m'infliger  le  m&me  renale. 
Mais  si  vous  n'avez  pas  cette  conviction  —  et,  k  mon  sens, 
vous  ne  pouvez  l'avoir  —  vous  vous  serez  privfo,  vous  et 
vos  disciples  enrägimentäs,  d'une  bonne  part  des  jouissances 
que  Dieu  a  mises  liberalement  k  la  disposition  des  hommes; 
vous  vous  en  serez  prives  sans  profit  pour  vous  et  les  vötres; 
et  ce  seront  ceux  qui  en  auront  joui  avec  sagesse  et  mode- 
ration  qui  auront  6te  les  mieux  lotis  en  ce  bas  monde. 

S£ance  tenante,  il  a  6t6  räpondu  k  M.  Clement-Lyon 
par  les  expäriences  des  sociätes  d'assurance  anglaises.  Fa- 
miliers  aux  abstinents,  les  resultats  constatäs  en  Angleterre 
sont  moins  connus  du  grand  public.  L' Abstinence,  l'excellent 
Journal  qu'ädite  k  Lansanne  M.  le  professeur  Hercod,  publiait 
precisäment  dans  son  dernier  numero  les  chiffres  guivants, 
communiquäs  par  la  Sceptre  Life  Association  de  Londres: 

Section  abstinente.  Section  generale. 

Ann^es  Decäs      Dec&s    o/0      Däcös      Däces  % 

prövus  effectifs  prävus  effectifs 

1884-1888         195         HO    56,41       466      368       79 
1889-1893         312         184     58,97       564      466       82,62 
1894-1898         419        228     54,42       628      498       79,30 

Total  pour  15  ans  "926        522    56,37     1658     1332      80,34 

II  est  k  remarquer  que  les  assures  des  deux  sections 
appartiennent  presque  exclusivement   aux   äglises   non   con- 


Auswärtiges.    Kongresse.  361 

formistes  et  ont  tous  une  vie  regime  et  sobre.  C'est  donc 
l'abstinence  totale  qui  vaut  ä  la  section  abstinente,  relative- 
ment  ä  l'autre,  une  diminution  de  deces  de  34  pour  cent. 
La  compagnie  Sceptre  Life  Association  en  est  an  reste  telle- 
ment  persnadee  qu'elle  accorde  aux  assures  abstinents  une 
reduction  de  20  pour  cent  sur  les  primes  ä  payer.  Ce  fait 
n'est  d'ailleurs  nullement  isolö.  L'abstinence  augraentant  les 
chances  de  longävite*  et  diminuant  les  chances  de  maladie  et 
d'accident8,  les  abstinents  s'assurent  facilement  en  Angleterre 
am  conditions  favorables  que  justifie  leur  juste  attente  d'une 
vie  plus  longue  et  moins  snjette  aux  dßsordres  organiques. 
D'apres  une  communication  äcrite  faite  au  congres  de  Paria 
par  H.  Drysdale,  roödecin  Consultant  de  l'höpital  m&ropoli- 
tain  de  Londres,  la  g£neralitö  des  societäs  d'assurance  sur 
la  vie  admettent  que  les  chances  de  longevitä  des  abstinents 
sont  de  30  pour  cent  supeneures  a  Celles  indiqu6es  dans  les 
tables  de  tuortalite.  Quant  aux  sociötßs  d'assurance  contre 
les  accidents,  elles  consentent  une  räduction  de  10  pour  cent 
ä  leur»  meaibres  abstinents. 

Le  tarif  de  faveur  accorde*  en  Angleterre  aux  assuräs 
abstinents  constitue  une  preuve  «tangible»  des  avantages 
physiques  de  l'abstinence.  Aussi  les  abstinents  suisses  re- 
grrettent-ils  vivement  qu'un  fait  aussi  bien  ätabli  n'ait  pas 
dätermine1  les  Chambres  föderales  ä  prävoir  dans  le  projet  de 
loi  sur  les  assurances  sociales  les  concessions  a  faire  aux 
pereonnes  qui  renoncent  aux  boissons  alcooliques.  II  est  en- 
core  tempß,  il  est  vrai,  d'introduire  cet  amendement  dans  la 
loi  si  Ton  tient  ä  ne  pas  lui  aliener  les  suffrages  des  citoyens 
acquis  &  l'abstinence. 

Le  congres  de  Paris  n'a  pas  ete  renvoye"  ä  l'annäe  1900, 
comrae  l'avaient  dem  and  6  quelques  membres  du  congres  de 
Brnxeiles,  parce  que  sa  coi'ncidence  avec  l'exposition  et  avec 
d'autres  congres  aurait  risqu6  de  le  faire  passer  inapercn. 
D'ailleurs,  la  British  Temperance  League  se  propose  de  con- 
Toquer  ä  Londres  pour  juin  1900  un  congrös  universel  de 
temperance. 

Ein  seh  weizerischer  Temperenz-Kongress  fand 
im  Juli  in  Bern  statt,  und  eine  weitere  Konferenz  dieser  Art, 


362  Jahresbericht  1899. 

die  auch  positive  Schritte  zur  Revision  des  Alkohol-Gesetzes  zu 
thun  beabsichtigt,,  wird  im  September   in  Lnzern  stattfinden. 

Ueber  die  Vogel mörderei  in  Italien,  die  nach- 
gerade eine  dringende  internationale  Angelegenheit  werden 
wird,  wenn  nicht  diese  Thiere  ausgerottet  werden  sollen,  be- 
richtete die  N.  Z.  Zeitung  zn  Ende  des  vorigen  Jahres  Fol- 
gendes : 

r 

«Unser  Mailänder  Korrespondent  schreibt  uns  hierüber: 
Das  Einfangen  der  Vögel  mit  den  grossen  fahrenden  Netzen 
wäre  in  der  Lombardei  nur  in  der  Zeit  vom  20.  September 
bis  zum  20.  Oktober  gestattet.  Wie  so  manche  andere,  wird 
aber  auch  diese  Vorschrift  ungeniert  umgangen.  Die  Bauern 
gehen  des  Nachts  mit  Ihren  Netzen  über  Feld  und  überrum- 
peln die  armen  Vögel  im  Schlaf,  so  Tausende  von  Thierchen 
einfangend  und  hinmordend.  Einer  besonders  reichen  Beute 
rühmten  sich  neulich  in  einer  Wirthschaft  fünf  von  dieser 
Arbeit  zurückgekehrte  bergamaskische  Bauern.  Sie  massen 
geradezu  mit  Doppelzentnern!  Nach  ihrer  Aussage  haben 
sie  in  den  letzten  zwei  Wochen  neuu  Doppelzentner  Vögel 
nach  Hause  gebracht.  Rund  3600  Dutzend  *=  43.200  dieser 
niedlichen  Thierchen  wurden  durch  diese  fünf  Bauern  in  so 
kurzer  Zeit  getödtet  und  auf  den  Markt  gebracht!  Schreck- 
lich! Das  Dutzend  wird  durchschnittlich  mit  60  Centimes 
bezahlt,  denn  es  ist  immer  genügend  Nachfrage  da.  Der 
Vogelraord  ist  also  auch  ein  sehr  lohnendes  Handwerk,  nnd 
darum  wird  es  um  so  eifriger  betrieben.  Der  «Corriere  della 
sera»  fragt,  wann  wohl  Italien  einmal  dazu  gelange,  gleich 
andern  Staaten  Schutzgesetze  für  Vögel  aufzustellen  und  — 
durchzuführen  ? 

Solche  Nachrichten  werden  unter  den  Völkern  nördlich 
der  Alpen  eine  förmliche  Erbitterung  gegen  die  Italiener 
hervorrufen;  denn  der  Vogelmord  ist  ein  Gegenstand  inter- 
nationalen Interesses,  weil  andere  Völker  darunter  zu  leiden 
und  deshalb  ein  Recht  haben,  gegen  das  Verbrechen  der 
Italicner  vorzugehen.  Internationale  Schutzgesetze  nützen 
nichts,   weil  sie  in  Italien  einfach  nicht  gehandhabt  werden. 


Auswärtiges.    Projekte.  363 

ßo  wenig  wie  unser  schweizerisches  Vogelschutzgesetz  im 
Kanton  Tessin.  Da  kann  nur  die  Erziehung  und  die  Schule 
helfen.  Indessen,  bis  von  dieser  Seite  Hilfe  kommt,  sind 
wohl  alle  Wandervögel  ausgerottet.  Wir  spüren  ja  jetzt 
schon,  wie  deren  von  Jahr  zu  Jahr  weniger  zu  uns  kommen 
und  wie  unsere  Wälder  nach  und  nach  veröden.  Ein  Kreuz- 
zug der  mittel-  und  nordeuropäischen  Völker  gegen  die 
Vogelinörder  könnte  allein  der  gänzlichen  Ausrottung  unserer 
Sing-  und  Wandervögel  Einhält  thun.» 

Einen  solchen  Kongress  sollte  die  Eidgenossenschaft  ein- 
berufen. 

Endlich    hat   der    zürcherische   «Irrenrechts-Re- 

formverein»    an    die   kantonalen   Regierungen,  folgende 

Eingabe  gerichtet,    die    gegen   ein  beabsichtigtes  Konkordat 

über  diesen  Gegenstand  sich  ausspricht. 

«Der  unterzeichnete  Irrenrechts-Reformverein  hat  sich 
zum  Ziele  gesetzt,  die  jetzt  herrschenden,  ganz  unhaltbaren/ 
Zustände  im  Irrenwesen  aufzudecken  und  nach  Möglichkeit 
zu  beseitigen.  Zu  diesem  Zwecke  verlangt  er  insbesondere 
die  Schaffung  eines  die  Rechte  der  als  Geisteskranke  zu  er- 
klärenden Personen  in  gebührender  Weise  schützenden  Irren - 
rechts-Gesetzes.  Nun  hat  der  Irrenrechts-Reform verein  in 
Erfahrung  gebracht,  dass  den  verschiedenen  Kantonsregier- 
ungen der  Entwurf  zu  einem  interkantonalen  Konkordate 
betr.  den  Schutz  und  die  Beaufsichtigung  der  Geisteskranken 
mit  der  Einladung  zum  Beitritte  zu  diesem  Konkordate  über- 
mittelt worden  ist.  So  sehr  der  unterzeichnete  Verein  eine 
wahre  und  durchgreifende  Reform  auf  dem  Gebiete  des 
Irrenrechtswesens  zwar  begrüssen  würde,  ebensosehr  muss 
er  sich  aber  verwahren  gegen  einen  Versuch,  durch  ein  un- 
zulängliches Palliativ-Mittelchen  die  Irrenrechts-Reform  auf 
Jahre  hinaus  lahm  zu  legen  und  die  Schaffung  eines  umfas- 
senden Irren-Gesetzes,  das  hauptsächlich  den  Schutz  der 
Irren,  beziehungsweise  derjenigen,  die  für  geisteskrank  er- 
klärt werden  wollen,  im  Auge  hat,  zu  verhindern.  Als  einen 
solchen  Versuch,  die  wahre  Irrenrechts-Reform  hintanzuhal- 


364  Jahresbericht  1899. 

ten,  erblickt  nun  der  unterzeichnete  Verein  den  vom  Vereine 
der  Schweizerischen  Irrenärzte  hervorgebrachten  Entwarf 
eines  interkantonalen  Irren-Konkordates.  Es  ist  nämlich  ganz 
klar,  daBS  die  Schaffang  eines  blossen  Inspektorates  im  Sinne 
des  Konkordates  die  hauptsächlichsten  und  schlimmsten  Uebel- 
stände  im  Irrenwesen  ganz  und  gar  nicht  zu  beseitigen  im 
Stande  wäre.  Insbesondere  hat  das  Konkordat  die  oberste 
Forderung,  welche  auf  den  Schutz  der  Gesunden  vor 
widerrechtlicher  Einsperrung  in  Irrenanstalten 
abzielt,  gänzlich  ausser  Betracht  gelassen. 

Wie  sehr  aber  gerade  dieser  Schutz  in  allererster  Linie 
einer  gesetzlichen  Normirung  bedarf,  das  zeigt  Ihnen  die 
beiliegende  Broschüre  unseres  Vereinspräsidenten,  betitelt: 
«Dunkle  Punkte  im  Irrenwesen».  Der  Irrenrechts-Reform- 
verein  wäre  Ihnen  zu  grösstem  Danke  verbunden,  wenn  Sie 
diese  Broschüre,  in  welcher  die  Urtheile  von  einer  Beine 
der  bedeutendsten  wissenschaftlichen  Autoritäten  auf  dem 
Gebiete  der  Psychiatrie  aufgenommen  und  verarbeitet  sind, 
studiren  wollten.  Der  unterzeichnete  Verein  ist  überzeugt, 
dass  Sie  alsdann  den  Beitritt  zu  dem  fraglichen  Konkordate 
verweigern  und  mit  den  Bestrebungen  zu  einer  möglichst 
umfassenden  Irrenrech ts-Gesetzgebung  im  Sinne  der  von  uns 
geschilderten  und  befürworteten  Tendenzen  sympathisiren 
werden.» 

Laut  «Times»  wird  eine  Abordnung  von  Mitgliedern  des 
englischen  Parlaments  demnächst  Lord  Salisbury  beantragen, 
es  möchte  Belgien  benachrichtigt  werden,  dass  England  mit 
den  Zucker  produzirenden  Ländern  einen  Vertrag  abschliessen 
werde,  durch  den  die  Zuckerprämien  abgeschafft  werden. 
Als  Gegenwert  würde  den  betreffenden  Staaten  volle  Handels- 
freiheit in  England,  Irland  und  Indien  gewährt. 

Der  wichtigste  Kongress  des  Jahres  war  die  Haager- 

Conferenz    über    völkerrechtliche    Fragen,     welche    am 

18.  Mai  unter  dem  in  solchen  Angelegenheiten  bereits  üblich 

gewordenen  Vorsitze  von   Russland  eröffnet   wurde   und  bis 
in  die  Mitte  des  Juli  andauerte. 


Auswärtiges.    Die  fiaager-Konterenz.  365 

Dieselbe  hat  zwar  ihren  etwas  zu  pompösen  Titel  «.Con- 
ference du  desarmement»,  unter  dem  sie  durch  das  im  letzt- 
jahrigen  Jahrbuche  veröffentlichte  Circular,  die  sogenannte 
«Eacyclica  de  pace  aeterna»,  ins  Leben  gerufen  und  von 
allen  Friedensvereinen  und  derartigen  Schwärmern  mit  allzu 
Torzeitigem  Jubel  begrüsst  worden  war,  wie  leicht  voraus- 
zusehen war,  keineswegs  gerechtfertigt.  Sie  ist  sogar  nicht 
einmal  so  weit  gelangt,  wie  der  ehemalige  verunglückte  Ar- 
beiterschutzcongress  in  Berlin,  nämlich  die  allgemeine  Ent- 
waffnung als  «desirable»  zu  erklären  und  auch  in  einigen 
speziellen  Fragen  noch  hinter  den  allergrössten  Erwartungen 
zurückgeblieben.  Es  wäre  jedoch  dessenungeachtet  nicht  ganz 
gerechtfertigt,  von  einem  Misserfolg  zu  sprechen,  sondern  es 
ist  immerhin  ein  guter  Anfang;  nicht  gerade  zu  einer  heute 
noch  untunlichen  Beseitigung  des  Kriegs,  sondern  zu  einer 
sehr  möglichen  Verbesserung  des  geltenden  Kriegsrechts  ge- 
macht worden,  welche,  wenigstens  theil weise,  die  gleiche 
Wirkung  haben  wird.  Wir  verweisen  im  Allgemeinen  auf  unsern 
vor  der  Conferenz  geschriebenen  Aufsatz  «Völkerrechtliche 
Fragen  der  Gegenwart»,  dessen  Voraussetzung  en  sich  erfüllt 
haben^  sowie  auf  den  Aufsatz  «Krieg  und  Frieden»  im  Jahr- 
buch VIII,  welcher  bereits  die  Möglichkeiten  einer  schieds- 
gerichtlichen Erledigung  von  staatsrechtlichen  Streitigkeiten 
so  definirte,  wie  sie  nun  aeeeptirt  worden  sind.  Die  parla- 
mentarische Conferenz  von  1892,  welcher  diese  Vorschläge  vor- 
gelegt wurden,  hätte  sie  schon  damals  eher  annehmen  sollen, 
statt  ihre  eigenen  Utopien  weiter  zu  verfolgen,  die  bisher  zu 
gar  nichts  geführt  haben. 

Ueber  den  äusseren  Bestand  der  Konferenz  wurde 
zunächst  bekannt,  dass  eine  Vertretung  des  päpstlichen 
Stuhles  in  Folge  von  Widerspruch  Italiens  nicht  zugelassen 
wurde.   Ebenso  war  die  südafrikanische  Republik  zu  unserem 


366  Jahresbericht  1899. 

Bedauern,  wahrscheinlich  unter  gleichem  Widerspruch  Eng- 
lands, nicht  vertreten ;  ebenso  der  Oranje-Freistaat,  dessen 
Souveränität  doch  nicht  angezweifelt  werden  konnte.  Es 
wäre  unseres  Erachtens  eine  Ehrensache  Hollands  gewesen, 
auf  dessen  Boden  sich  die  Konferenz  versammelte,  für  diese 
seine  Stammesgenossen  energisch  einzutreten.  Die  kleinen 
halbsouveränen  Staaten  Europas,  wie  San  Marino,  Monaco 
und  Liechtenstein  fehlten  natürlich  auch;  dagegen  war  Bul- 
garien vertreten,  was  eine  kräftigere  Regierung,  als  die 
türkische,  nicht  zugestanden  haben  würde.  Von  den  außer- 
europäischen Staaten  war  nur  die  Vertretung  der  nord- 
amerikanischen Union  von  Bedeutung.  Die  Schweiz  hatte, 
nach  dem  Muster  der  meisten  anderen  Staaten,  eine  aus 
militärischen  und  diplomatischen  Vertretern  zusammengesetzte 
Kommission  von  drei  Mitgliedern  mit  einem  Sekretär  nach 
dem  Haag  abgeordnet  und  ihr  eine  schriftliche  Instruktion 
mitgegeben,  welche  sich  grösstenteils  auf  eine  Verbesserung 
des  geltenden  Kriegsrechts  bezog. 

i.  Die  wesentliche  Arbeit  wurde,  wie  immer  bei  solchen 
-Kongressen,  von  den  Kommissionen  und  den  dabei  beschäf- 
tigten Rechtsgelehrten  geleistet,  während  die  Diplomaten 
von  Beruf  mehr  die  dekorative  Seite  der  Sache  vertraten 
•und  bei  den. Militärs  die  natürliche  Neigung  vorwaltete,  sich 
in  der  Ausübung  ihres  Berufes  nicht  allzusehr  beschränken 
zu  lassen. 

Die  Coulissen  des  Kongresses  füllten  eine  Schaar  von 
diensteifrigen  Journalisten,  die  so  viel  als  möglich  aufzu- 
fangen .  und  an  ihre  Blätter  zu  berichten  versuchten, 
wobei,  in  Folge  des  Ausschlusses  <ier  Oeffentlichkeit,  be- 
sonders anfänglich,  oft  Vermuthungen  und  von  den  Sekiuv- 
tären   und  Attaches   abgelauschte  Notizen  an  die  Stelle  von 


Auswärtiges..  Die. Haager-Konferenz.  367 

wirklichen  Nachrichten  traten.   Ausser  ihnen  hatte  sich  auch 

•    •  •        . . 

eine  Art  von  Nebenkongress  aus  besonders  eifrigen  «Friedens- 
freunden» Im  Haag  eingefunden,  der  in  Tischgesellschaften 
und  mittelst  Vorträgen  eine  Vertretung  der  «öffentlichen 
Meinung»  zu  organisiren  versuchte,  was  ihm  jedoch  nur  in 
beschranktem  Masse  gelang. 

* 

>  .  • 

Ueber  die  Resultate  der  Verhandlungen,  die  bis  zupri 
Erscheinen  des  Jahrbuches  in  offiziellen  Aktenstücken  vorliegen 
werden,  ist  in  aller  Kürze  Folgendes  jeu  sagen: 

Die  drei  von  der  Konferenz  beschlossenen  Konven- 
tionen betreffen  die  Schiedsgerichte,  die  Kriegsgebräuche 
im  Landkrieg  und  die  Anwendung  der  Genfer  Konvention 
auf  den  Seekrieg.  Sie  wurden  nicht  unterzeichnet  von  Deutsch- 
land,   Oesterreich  -Ungarn,    China,    Grossbritannien,    Italien, 

■  •  ** 

Japan,  Luxemburg,  Serbien,  Schweiz  und  der  Türkei.  Die 
Vereinigten  Staaten  von  Amerika  unterzeichneten  nur  die 
Konvention  über  Schiedsgerichte ,  jedoch  unter  Vorbehalt. 
Rumänien  unterzeichnete  die  Konvention  über  die  Schieds- 
gerichte  unter  Vorbehalt.  Die  drei  Erklärungen,  betreffend 
das  Verbot,  Explosivkörper  aus  Ballons  zu  schleudern,  Stick- 
gase verbreitende  Geschosse,  sowie  Kugeln  in  der  Art  der 
Dam-Dum-Kugeln  zu  verwenden,  wurden  nicht  unterzeichnet 
von  Deutschland,  Oesterreich-Ungarn,  China,  Grossbritannien, 
Italien,  Japan,  Luxemburg,  Serbien  und  der  Schweiz,  wäh- 
rend Amerika  nur  die  Erklärung,  die  Ballons  betreffend, 
unterzeichnete. 

Es  kam  auch  keinerlei  Verständigung  über  eine  gäuz- 
liche  oder  zeitweise  Abrüstung  zu  Stande,  und  in  ^dieser  Hin- 
sicht konnte  man,'  insofern  man  nämlich  der  russischen  Pro- 
klamation vom  vorigen  Jahre  einen  grösseren  Wertb,  als  den 


&6ä  Jahresbericht  1899. 

einer  Einleitung  zu  einem  Kongress  betreffend  Kriegsrecht 
beilegte  (was  von  irgend  einer  Staatsregierung  schwerlich 
geschehen  ist),  von  einem  Fehlschlagen  des  Kongresses, 
von  getäuschten  Hoffnungen  und  einem  Schlag  in's  Wasser 
sprechen.  In  Bezug  auf  das  Kriegsrecht  ist  dies  aber  keines- 
wegs der  Fall,  sondern  es  liegt  wenigstens  ein  Anfang  zu 
den  Verbesserungen  vor,  die  wir  vor  dem  Kongresse  in  dem 
Artikel  «Völkerrechtliche  Fragen»  und  schon  im  Jahre  1892 
in  dem  Artikel  über  «Krieg  und  Frieden  und  die  Entschei- 
dung völkerrechtlicher  Streitigkeiten»  als  möglich  bezeichnet 
hatten.  Es  muss  nun  natürlich  ein  Fortgang  in  einer 
weiteren,  mehr  technischen  Konferenz  erfolgen,  welche  zu- 
nächst die  erste  Genfer-Konvention  von  1864  wesentlich  ver- 
bessert, unter  eine  wirksamere  Sanktion  und  Direktion  stellt 
und  in  geeigneter  Weise  dem  Seekrieg  anpasst.  Das  wird  bei 
einigermassen  gutem  Willen  der  Regierungen  durchführbar 
sein.  Ebenso  wird  es  möglich  sein,  aus  dem  Brüsseler-Projekt 
von  1874  durch  eine  wiederholte  eingehende  Berathung  einen 
brauchbaren  Vertrag  über  das  Kriegsrecht  civilisirter  Völker 
zu  gestalten,  und  endlich  ist  es  möglich,  eine  schiedsgericht- 
liche Entscheidung  völkerrechtlicher  Streitigkeiten  insoweit 
zu  erleichtern,  dass  eine  Instanz  hiefür  zu  fakultativer  Be- 
nutzung geschaffen  wird.  Ja,  man  kann  sogar  soweit  gehen 
(in  Anpassung  der  Kongo-Konvention  auf  allgemeinere  Verhält- 
nisse), dass  ein  Vermittlungsversuch  obligatorisch  vor  einem 
jeden  Kriege  zwischen  civilisirten  Völkern  stattfinden  soll, 
wobei  es  allerdings  bleiben  muss,  wenn  eine  Ablehnung  seitens 
des  einen  oder  anderen  Theiles  erfolgt. 

Eine  künftige  Zeit  wird  in  allem  dem  einen  sehr  grossen 
Fortschritt  der  Civilisation  erblicken,  während  die  jetzige 
Periode  unter  dem  Einflüsse  allzngrosser  Hoffnungen  und 
einer  beinahe  phantastischen  Auffassung  der  russischen  Ini- 
tiative diese  Dinge  zu  abschätzig  behandelt. 


Auswärtiges.    Die  Haager-Konferenz.  369 

Für  die  Eidgenossenschaft  hätte  besondere  Be- 
deutung die  Verbesserung  des  Brüsseler-Projektes  und  zwar 
in  den  drei  Richtungen  einer  bestimmten  Anerkennung  des 
sogenannten  «Volkskriegs»,  sofern  derselbe  regelmässig 
gefuhrt  wird,  des  Schutzes  der  Eisenbahnen  und  anderer 
Verkehrtfeinrichtungen  vor  jeder  definitiven  Erbeutuüg  und 
endlich  des  gleichen  Schutzes  für  die  Staats-  und 
Kantonalbanken. 

Der  wichtigste,  aber  am  schwersten  erreichbare  ist  natür- 
lich der  erste  Punkt,  und  es  zeigte  sich  leider  bei  dem  Haager- 
Kongress  sogar  eine  grössere  Abneigung  der  grossen  Militär- 
staaten und  was  noch  bedauerlicher  ist,  eine  grössere  Isoli- 
rung  der  Schweiz,  als  bei  dem  Kongresse  von  1874.  Welche 
Ursachen  namentlich  die  kleinen  Staaten  bewogen,  die  Schweiz 
nicht  besser  zu  unterstützen  in  einer  Sache,  die  von  gemein- 
samem Interesse  ist,  und  ob  eine  diesfällige  Verständigung 
noch  nachzuholen  sein  wird,  müssen  wir  hier  unerörtert  lassen. 

Vielfach  beruht  übrigens  die  Sache  auf  Missverstand. 
Wir  meinen  nicht  unter  vertragsmässigem  Volkskrieg  einen 
regellosen  Landsturm,  der  sich  an  keine  Kriegsgesetze  und 
civilisirten  Gebräuche  bindet  und  unter  keinem  Oberbefehl 
steht;  eine  solche  Landesverteidigung  ist  in  allerletzter 
Linie  wohl  denkbar,  aber  nicht  von  sehr  grosser  Wirkung 
gegen  moderne  Truppen,  und  jedenfalls  ein  solcher  Akt 
äusserster  Nothwehr  und  Verzweiflung,  dass  in  einem  dor- 
tigen Falle  auch  das  Risiko  harter  Gegenwehr  und  Repression 
von  Seite  des  Angreifers  mit  in  den  Kauf  genommen  werden 
mnss.  Dessenungeachtet  aber  bedürfen  die  jetzt  bestehenden 
Artikel  9  und  10  der  sogenannten  Brüsseler-Konvention  einer 
Verbesserung,  und  muss  schliesslich  —  da  die  Unterschiede 
zwischen  Armeen,  Milizen  und  Freiwilligen  immer  mehr  ver- 
schwinden werden  —  je  der  Krieg  als  ein  «Krieg»,   mit  Gel- 

24 


370  Jahresbericht  1899. 

tung  der  allgemeinen  Kriegsregeln,  anerkannt  werden,    der 
überhaupt  nach  denselben  geführt  wird.    Das  ist  das  unter- 
scheidende Merkmal;  nimmt  man  das  nicht  an,  so  würde  man 
auch  dem  jüngsten  amerikanischen  Krieg  mit  zu  diesem  Zweck 
geworbenen   Freiwilligen    leicht   die   Anerkennung   versagen 
können.     Ebenso   wird    es   nicht   erlaubt   sein,   selbst  Auf- 
ständische,  oder  Halbbarbaren,  wie  die  Tagalen  auf  den  Phi- 
lippinen, ganz  willkürlich  zu  behandeln,   wenn  sie  ihrerseits 
einen  ordentlichen  Oberbefehl  haben  und  die  Kriegsgebräuche 
respektiren.    Auch  die  sonst  sehr  difficile  Frage,   inwieweit 
ein  Bürgerkrieg  als  ein  Krieg  im  völkerrechtlichen  Sinne  zu 
betrachten  sei,   würde  damit  einer  Lösung  wenigstens  naher 
gebracht  werden,  und  es  könnten  Justifizirungen,  wie  die  der 
13  ungarischen  Generale  in  Arad,  über  die  man  nachher  er- 
röthen  muss,  nicht  mehr  vorkommen.    Es  bleibt  eine  schöne 
Aufgabe  der  Schweiz,   diese  Gesichtspunkte  auch  in  der  Zu- 
kunft  festzuhalten;    die    ihrer  Natur    und    Geschichte    ent- 
sprechen und  keineswegs  etwas  Excessives,  sondern  ein  F  o  rt  - 
schritt   des  geltenden  Kriegsrechts  sind.   Sie  miiss  dafür 
aber  in  der  öffentlichen  Meinung  mehr  Stimmung  zu  machen 
suchen,  als  es  bisher  geschehen  ist,   und  auch  bei  den  ande- 
ren Staaten  mehr  Anknüpfung  suchen.   Denn  eine  Abweisung 
in  einer  solchen  Frage  ist  immer  ein  schlimmeres  Präzedens 
für  einen  allfälligen  Krieg,  als  ein  völliges  Schweigen  darüber. 
Wir  hätten  die  ewige  Neutralität  auch  nicht  erlangt,    wenn 
sich   nicht    Pictet  de    Rochemont,   ein    Mustervertreter    wie 
er  allerdings   nur  selten    vorkommt,    die    Fürsprache   eines 
mächtigen  Staates  am  Pariser-Friedenskongress  von  1815  zu 
verschaffen  gewusst   hätte,    und   es  wäre  unseres  Erachtens 
jetzt  die  Aufgabe  der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika,  uns 
darin  wirksam  zu  unterstützen,  soweit  es  nicht  von  unseren 
Nachbaren  geschieht,    mit  denen   darüber  in  erster  Linie  zu 
verhandeln  sein  wird. 


Auswärtiges.   Die  Haager-Konferenz.  371 

Einstweilen  und  bis  darin  ein  besserer  Erfolg  erzielt 
wird,  wird  es  Sache  der  Schweiz  sein,  ihr  bestehendes  Land« 
sturmgesetz  so  umzuarbeiten,  dass  es  alle  eventuell  Krieg» 
fährenden  einschliesst  und  unter  das  Kriegsrecht  stellt, 
was  wohl  möglich  sein  wird,  und  daneben  die  Etappen- 
Kommandos  so  einzurichten,  dass  jeder  Volkskrieg  sofort  als 
ein  gänzlich  organisirter  und  regelmässig  geführter  erscheint. 
Wir  müssen  uns  jetzt  so  gut  helfen,  als  wir  können,  bis  in 
dieser  Richtung  ein  besserer  Moment  erscheint. 

Das  Schlassprotokoll  des  Kongresses  enthält  fünf 
Wünsche:  1.  Die  Konferenz  ist  der  Ansicht,  dass  eine  Be- 
schränkung der  militärischen  Lasten,  welche  gegenwärtig  die 
Welt  bedrücken,  in  hervorragender  Weise  wünschenswert  ist 
für  die  Förderung  des  materiellen  und  moralischen  Wohlbefindens 
der  Menschheit.  2.  Die  Konferenz  spricht  den  Wunsch  aus, 
dass  die  Frage  der  Hechte  und  Pflichten  der  Neutralen  auf 
daa  Programm  der  nächsten  Konferenz  gesetzt  werde.  3.  Die 
Konferenz  spricht  den  Wunsch  aus,  dass  die  auf  die  Art  und 
das  Kaliber  der  Gewehre  und  der  Marinegeschütze  bezüg- 
lichen Fragen,  soweit  sie  durch  die  Konferenz  bereits  ge- 
prüft sind,  Gegenstand  des  Studiums  der  Regierung  bilden 
würden  mit  dem  Ziele,  eventuell  zu  einer  einheitlichen  Lösung 
mittelst  einer  späteren  Konferenz  zu  gelangen.  4.  Indem 
die  Konferenz  in  Erwägung  zieht,  dass  seitens  der  Bundes- 
regierung der  Schweiz  bereits  vorbereitende  Schritte  zur  Re- 
vision der  Genfer  Konvention  gethan  sind,  spricht  sie  den 
Wunsch  aus,  dass  in  einem  kurzen  Zeitraum  zur  Zusammen- 
bemfnng  einer  Specialkonferenz  geschritten  werde,  welche 
zum  Zwecke  die  Revision  dieser  Konvention  hat.  5.  Ausser- 
dem hat  die  Konferenz,  abgesehen  von  einigen  Delegirten, 
die  sich  der  Stimmabgabe  enthielten,  einstimmig  den  Wunsch 


372  Jahresbericht  1899. 

ausgedrückt,  den  Vorschlag,  welcher  bezweckt,  das  Privat- 
eigentum im  Seekrieg  für  unverletzlich  zu  erklären,  und 
ferner  den  Vorschlag,  die  Frage  des  Bombardements  von 
Hafenplätzen,  Städten  nnd  Dörfern  durch  feindliche  Flotten 
zu  regeln,  einer  Prüfung  dnrch  weitere  Konferenzen  zu  über- 
weisen. Das  SchlusBprotokoll  ward  durch  die  sämmtlichen  be- 
vollmächtigten Delegirten  unterzeichnet.  Es  hebt  hervor,  dass 
die  Delegirten  beständig  von  dem  Wunsche  geleitet  waren, 
in  möglichst  erschöpfender  Weise  die  hochherzigen  Ideen  des 
Urhebers  der  Konferenz  zu  verwirklichen. 

Ueber  den  ursprünglichen  angeblichen  Hauptzweck  der 
Konferenz  liess  sich  der  berühmteste  Schriftsteller  der  Gegen- 
wart, Graf  Tolstoi,  wie  folgt  vernehmen: 

«Diese  Konferenz  kann  nichts  anderes  sein  nnd  ist  nichts 
anderes  als  eine  der  heuchlerischen  Institutionen,  deren  Ziel 
nicht  die.  Erreichung  des  Friedens  nnd  die  Milderung  der 
Uebel  des  Militarismus  sei,  sondern  die  im  Gegentheil  be- 
zwecke, die  Anfmerksamkeit  von  dem  wahren  Heilmittel  ab- 
zulenken. Was  bat  es  für  einen  Zweck,  die  Rüstungen  um 
ein  Geringes  zu  vermindern?  Wenn  dergleichen  möglich  ist, 
warum  nicht  gründlich  reduziren?  «Oder  warum  nicht  an 
Stelle  von  Armeen  Ringkämpfer  setzen?»  Mögen  David  und 
Goliath  internationale  Affairen  entscheiden!  Während  der 
Belagernng  von  Sewastopol  machte  ein  Fürst  S.  S.  Urossow, 
ein  tapferer  Offizier  nnd  vortrefflicher  Schachspieler,  dem 
Chef  der  Garnison,  General  Sacken,  den  Vorschlag,  die  Frage, 
wem  die  5.  Bastion,  welche  wiederholt  unter  grossen  Ver- 
lusten bald  der  einen,  bald  der  andern  Seite  zugefallen  war. 
gehören  solle,  nicht  durch  Kämpfen,  sondern  durch  Schach- 
spiel zu  entscheiden.  General  Sacken  ging  auf  den  Vorschlag 
nicht  ein,  weil  er  wusste,  dass  die  Engländer,  wenn  auch  die 
Russen  im  Schachspiel  gewännen,  doch  die  Bastion  besetzen 
würden.  So  steht  es  mit  unseren  Mächten.  Sie  können  ihre 
Armeen  nicht  verringern,  weil  sie  nicht  sicher  sind,  dass 
nicht  eines  Tages  ein  neuer  Napoleon  oder  ein  nener  Bismarck 


Auswärtiges.    Die  Haager-Konferenz.  373 

ohne  Rücksiebt  auf  die  Verträge  mit  Gewalt  nehmen  will, 
was  er  zu  haben  wünscht.  Was  mit  Gewalt  genommen  wor- 
den ist,  kann  nur  mit  Gewalt  gehalten  werden,  und  stets 
sind  die  grossen  Bataillone  siegreich.  Eine  Regierung  kann 
riel  im  Innern  ihres  Reiches  thnn,  aber  sie  kann  nicht  die 
militärische  Stärke  des  Staates  verringern,  nnd  zn  diesem 
Zwecke  wird  doch  die  internationale  Friedenskonferenz  be- 
rufen. Eine  Beschränkung  der  Rüstungen  ist  jetzt  um  so 
weniger  möglich,  als  alle  Mächte  sich  neue  Besitzungen  zu 
verschaffen  suchen.  Aus  diesen  Gründen  kann  die  Friedens- 
konferenz nicht  die  Fragen  wegen  der  Nichtableistung  der 
Militärpflicht  entscheiden.» 

Das  wird  so  ziemlich  die  Meinung  der  Grossstaaten  ins- 
gesammt  sein. 

Bei  dem  Eongress  waren  auch  noch  andere  Ein- 
gaben zahlreich  eingelaufen,  als  bloss  die  offiziellen. 

Die  interessantesten  waren  die  folgenden  zweier  t  n  r  k  i - 
sehen    Reformvereine: 

«Le  parti  de  la  JeuneTurquie,  quilutte  depuis  longtemps 
poar  l'oßuvre  de  paciücation  qui  vous  preoecupe  en  ce  rno- 
ment,  a  pense  qu'il  6tait  de  son  devoir  de  faire  enteadre  sa 
voix  dans  cette  solenneile  Conference  de  la  paix. 

Ce  parti  ne  demande  que  des  reformes  g£ne>ales  con- 
formemeut  aux  vceux  de  tous  ceux  qui  respectent  l'indepen- 
dance  et  l'integritä  de  l'empire  ottoman. 

Tous  les  sujets  du  sultan,  musulmans  et  non-musulmans, 
souffrent  des  memes  iniquitäs  et  aspirent  &  une  meine  con- 
dition  morale  comportant  l'egalitä,  la  säcuritä  de  la  vie  et 
Ie3  garanties  anxquelles  toute  agglora6ration  d'etres  humaius 
a  droit  en  ce  siecle. 

Le  parti  de  la  Jeune  Turquie  qui  ne  fait  aueune  di- 
stinetion  de  race,  ni  de  religion,  vous  prie  donc  dans  l'intäret 
de  la  paix  et  pour  le  bien-etre  de  l'hnmanitö  de  vouloir  bien 
encourager  la  Conference  ä  obliger  le  sultan  de  revenir  au 
regime  liberal  qu'il  avait  inaugure  lui-m§ine  au  commence- 
ment  de  son  regne,  et  au  Systeme  du  gonvernement  par  la 
Sublime-Porte  avec  un  ministre   responsable   devant  le  pays 


374  Jahresbericht  1899. 

et  Charge*  d'assurer  l'application  des  lois  y  compris  la  Consti- 
tution. 

Une  oeuvre  de  rentable  pacification  est  incompatible  en 
Turquie  avec  l'anarchie  actuelle. 

Venillez  agräer,   Messieurs,   l'assurance  de   notre    baute 
consideration. 

Comitö  ottoman  d'union  et  de  progres. 

Le  Congres  qui  se  tient  en  ce  moment  ä  La  Haye  a  an 
but  emlnemment  humanitaire;  il  Statt  donc  naturel  qne  les 
patriotes  ottomans,  sans  distlnction  de  race  et  de  religion, 
aient  pens6  &  y  organiser  une  se>ie  de  Conferences  et  une 
propagande  loyale  en  vue  d'attirer  l'attention  dn  monde  ci- 
vilis6  et  de  le  renseigner  sur  l'ötat  de  plus  en  plus  deplorable 
de  Tempire  ottoman.  Celles-ci  seront  conformes  ä  l'esprit  da 
Congres,  c'est-ä-dire  a  l'esprit  qui  nous  anime  nons-m6mes, 
et  qui  est  la  legalitä,  le  respect  de  tout  ce  qni  contribue 
au  maintien  de  la  paix  en  affranchissant  les  peuples  malhen- 
reux  comme  ceux  d'Orient  des  volontes  tyranniqnes  qui  les 
äcrasent.  Notre  voix  sera  l'6cho  tres  attönuä  des  clatneurs 
d'angoisse  et  d'6pouvante  qui  s'Slevent  de  tous  les  points  de 
la  Turquie.  A  la  conscience  des  nations,  nous  deinanderons 
justice  pour  nous  qui  souffrons  si  cruellement,  justice  contre 
celui  qui  nous  traite  au  gr&  d'une  fantaisie  aussi  folle  que 
barbare.  Nous  demanderons  justice  pour  les  opprimes  nos 
freres,  dont  le  plus  auguste,  S.  M.  Monrad  V  —  le  plus  graod 
martyr  de  ce  siecle  —  git  depuis  vingt-deux  ans  dans  l'igno- 
minie  et  l'horreur  d'une  prison  qui  est  sa  tombe,  justice 
contre  celui  qui  a  pu  commettre  ce  crime  sans  nom. 

Nous  entendra-t-on  ?  La  pitiö  des  forts  et  des  puissants 
repondra-t-elle  a  nos  cris  de  d6tresse?  Certes,  nons  avons  le 
droit  de  l'esperer  —  car  les  deleguäs  choisis  par  Abdul-Hamid, 
au  grand  scandale  du  pays,  ne  pourront  entraver  notre  ceuvre 
patriotique.  Et  c'est  pourquoi  nous  fcrons  tout  notre  devoir, 
puisant  les  energies  voulues  dans  la  lägitimite"  de  notre  cause. 

C'est  pourquoi  aussi  nons  avons  la  conviction  que  le 
vaillant  et  noble  peuple  näerlandais,  d'esprit  si  liberal,  si 
gene>enx,  nous  fera   bon   accueil.    Et   nous   estimerons   qne 


Auswärtiges.  Die  Haager-Konferenz.  375 

notre  but  ne  sera  pas  loin  d'&tre  atteint  si  de  ses  sympathies 
pour  nous  nait  son  Indignation  pour  qui  nous  persecute.» 

Le  comite*  liberal  ottoman. 

Ueber  die  wichtige  Frage  derSchiedsgerichte 

enthielt   der   ursprüngliche  Entwurf   der  dritten  Kommission 

folgenden  Wortlaut: 

Conference  Internationale  de  la  paix. 
Troisieme  Commission.  Projet  de  Convention  pour  le  regle- 
inent  pacifique  des  Conflits  internationaux,  präsente  ä  la  Com- 
mission par  le  comite  d'examen. 

§  1.  Du  maintien  de  la  paix  gänärale. 
Ariicle  1.  A  l'effet  de  prßvenir  autant  que  possible  le  recours 
ä  la  force  dans  les  rapports  internationaux,  les  Puissances 
signataires  conviennent  d'emploier  tous  leurs  efforts  pour 
amener  par  des  moyens  pacifiques  la  Solution  des  differends 
qui  pourraient  surgir  entrc  Etats. 

§2.  Des  bong  Offices  et  de  la  mödiation. 
Article  2.  Les  Puissances  signataires  decident  qu'en  cas  de 
dissentiment  grave  ou  de  conflit,  avant  d'en  appeller  aux 
armes,  elles  auront  recours,  en  tant  que  les  circoustances  le 
permettent,  aux  bons  Offices  ou  ä  la  mädiation  d'une  ou  de 
plusieurs  Puissances  amies. 

Article  3.  Independamment  de  ce  recours,  les  Puissances 
signataires  jugent  utile  qu'une  ou  plusieurs  Puissances  e*tran- 
£T$res  au  conflit,  offrent  de  leur  propre  initiative,  en  tant  que 
les  circoustances  s'y  pr&tent,  leurs  bons  Offices  ou  leur  m£di- 
ation  aux  fctats  en  litige. 

Le  droit  d'offrir  les  bons  Offices  ou  la  mädiation  appar- 
tient  aux  Puissances  etrangeres  au  conflit,  meme  pendant  le 
cours  des  hostillites.  L'exercice  de  ce  droit  ne  peut  Jamals 
etre  considärä  par  l'une  ou  Fautre  des  parties  en  litige  coinme 
an  acte  peu  amical. 

Article  4.  Le  röle  du  Mediateur  consiste  dans  la  con- 
ciliation  des  prätentions  oppos&s  et  dans  l'apaisement  des 
ressentiments  qui  peuvent  s'etre  produits  entres  le«  Etats 
en  litige. 


376  Jahresbericht  1899. 

Artlcle  5.  Les  fonctions  du  Mediateur  cessent  da  mo- 
ment  ou  il  est  constate,  soit  par  Pune  des  parties  en  litige, 
soit  par  le  Mediateur  lui-m&me,  que  la  transaction  ou  les 
bases  d'une  entente  amicale  proposäes  par  lui  ne  sont  pas 
acceptäes. 

Article  6.  Les  bons  offices  et  la  Mediation,  soit  sur  le 
recours  des  Parties  en  litige,  soit  sur  Pinitiative  des  Puis- 
sances  etrangeres  au  conflit  ont  exclusivement  le  caractere 
de  conseil  et  n'ont  point  force  obligatoire. 

Article  7.  L'acceptation  de  la  Mediation  ne  peut  avoir 
pour  effet,  sauf  Convention  contraire,  d'interrompre,  de  re- 
tarder  ou  d'entraver  la  mobilisation  et  autres  mesures  pre- 
paratoires  ä  la  guerre. 

Si  eile  intervient  apres  l'ouverture  des  hostilites,  eile 
n'interroropt  pas,  sauf  Convention  contraire,  les  Operations 
militaire8  en  cours. 

Article  8.  Les  Puissances  signataires  sont  d'accprd  pour 
recommander  l'application,  dans  les  circonstances  qui  le.  per- 
mettent,  d'une  Mediation  speciale  sous  la  forme  suivante. 

En  cas  de  differend  grave  menacant  la  Paix,  les  Etats 
en  litige  choisissent  respectivement  une  Puissance  ä  laquelle 
ils  confient  la  mission  d'entrer  en  rapport  direct  avec  la 
Puissance  choisie  d'autre  part,  &  reffet  de  prävenir  la  rup- 
ture  des  relations  pacifiques. 

Pendant  la  duree  de  leur  mandat  dont  le  terine,  sauf 
stipulation  contraire,  ne  peut  excäder  trente  jours,  la  question 
en  litige  est  conside>e>  comme  deföree  exclasivement  &  ces 
Puissances.  Elles  doivent  appliquer  tous  leurs  efforts  &  regier 
le  differend. 

En  cas  de  rupture  effective  des  relations  pacifiques,  ces 
Puissances  demeurent  chargees  de  la  mission  commune  de 
proiiter  de  toute  occasion  pour  rötabür  la  paix. 

§  3.  Des  Commissions  internationales 
d'enquäte. 

Article  9.  Pour  les  cas  oü  se  produiraient  entre  les  Puis- 
sances signataires  des  divergences  d'appröciation  concernant 
les  circonstances  locales  ayant  donn6  lieu  ä  un  litige  d'ordre 
international  qui  ne  pourrait  etre  r6solu  par  les  voies  diplo- 


Auswärtiges.    Die  Haager-Konferenz.  377 

matiques  ordinaires  et  dans  lequel  ni  l'honnear  ni  les  inte>$ts 
yitanx  de  ces  Puissances  ne  seraient  engagäs,  les  Parties  in- 
teressöes  conviennent  de  recourir,  en  tant  que  les  circon- 
stances  le  permettent,  a  l'institution  de  Commissions  inter- 
nationales d'enqu£te,  afin  de  constater  les  circonstances  qui 
ont  donne*  mattere  au  dissentiment  et  d'äclaircir  sur  les  lieux, 
par  nn  examen  impartial  et  consciencieux,  tontes  les  questions 
de  fait. 

Article  10.  Les  commissions  internationales  d'enquöte  sont 
constituäes,  sauf  stipulation  contraire,  de  la  maniere  de"ter- 
min6e  par  l'article  31  dö  la  präsente  Convention. 

Article  11.  Les  Pnissances  interess^es  s'engagent  &  four- 
nir  ä  la  Commission  internationale  d'enqu&te,  dans  la  plus 
large  raesure  qu'EUes  jugeront  possible,  tous  les  moyens  et 
toutes  les  facilitäs  nöcessaires  ponr  la  connaissance  complete 
et  l'appräciation  exacte  des  faits  en  question. 

Article  12.  La  Commission  internationale  d'enquöte  prä- 
sente aux  Pnissances  intäressäes  son  rapport  signä  par  tous 
les  membres  de  la  Commission. 

Article  13.  Le  rapport  de  la  Commission  internationale 
<Tenquete  n'a  nullement  le  caractere  d'une  sentence  arbitrale. 
II  laisse  aux  Pnissances  en  litlge  entiere  facultä  soit  de  con- 
clure  un  arrangement  amiable  snr  la  base  de  ce  rapport,  soit 
de  recourir   ultärieurement  ä  la   mödiation  ou  a  l'arbitrage. 

2.  De  l'arbitrage  international. 

L  De  la  Justice  arbitrale. 

Article  14.  L'arbitrage  international  a  pour  objet  le 
reglement  de  litiges  entre  les  Etats  par  des  juges  de  leur 
choix  et  conformement  ä  leurs  droits  röciproques. 

Article  15.  Dans  les  questions  de  droit  et  en  premier 
lieu  dans  les  questions  d'interprätation  ou  d'application  des 
Conventions  internationales,  l'arbitrage  est  reconnu  par  les 
Pnissances  signataires  comme  le  moyen  le  plus  efficace  et  en 
meme  temps  le  plus  äquitable  de  regier  les  litiges  non  räso- 
lus  par  les  voies  diplomatiques. 

Article  16.  La  Convention  d'arbitrage  peut  &tre  conclue 
pour  des  contestations  dejä  n6es  ou  pour  des  contestations 
eventuelles. 


378  Jahresbericht  1899. 

Elle  peilt  concerner  tout  litige  ou  seulement  les  litiges 
d'une  catägorie  däterminäe. 

Article  17.  La  Convention  d'arbitrage  renferme  l'engage- 
ment  de  se   soumettre    de  bonne  foi  a  la  sentence  arbitrale. 

Article  18.  Indöpendamment  des  traitäs  genäraux  et  par- 
ticullers  qui  stipulent  actuellement  l'obligation  da  recours  a 
l'arbitrage  ponr  les  Puissances  signataires,  ces  Puissances  se 
räservent  de  conclure,  soit  avant  la  ratification  du  präsent 
Acte,  soit  postärieurement,  de?  Accords  nouveaux,  gänäraux 
on  particuliers,  en  vue  d'ätendre  l'arbitrage  obligatoire  ä 
tous  les  cas  qu'Elles  jngeront  possible  de  lui  soumettre. 

Article  19.  En  vue  de  favoriser  le  developpement  de 
l'arbitrage  les  Puissances  signataires  jagen t  utile  de  däter- 
miner  certaines  röglos  concernant  la  jaridiction  et  la  proce- 
dura arbitrales. 

Ces  dispositions  ne  sont  applicables  qu'en  tant  qae  les 
Parties  elles-memes  n'adoptent  pas  d'autres  rägles  ä  cet  egard. 

II.  De  la  Cour  permanente  d'arbitrage. 

Article  20.  Dans  le  but  de  faciliter  le  recours  imm&liat 
a  l'arbitrage  pour  les  diffärends  internationaux  non  r6gles 
par  la  voie  diplomatique,  les  Puissances  signataires  s'engagent 
ä  organiser  de  la  mantere  suivante  une  Cour  permanente 
d'arbitrage,  accessible  en  tont  temps  et  fonctionnant,  sauf 
stipulation  contraire  des  parties  en  litige,  conformämcnt  aux 
Rögles  de  procädure  insärees  dans  la  präsente  Convention. 

Article  21.  Cette  cour  sera  compätente  pour  tous  les  cas 
d'arbitrage,  ä  moins  que  les  Parties  en  litige  ne  s'entendent 
pour  l'6tablissement  d'une  juridiction  speciale  d'arbitrage. 

Article  22.  Un  bureau  international  ätabli  ä  la  Haye 
et  placä  sous  la  direction  d'un  secrätaire  gänäral  permanent, 
sert  de  greife  k  la  Cour. 

II  est  l'intermidiaire  des  Communications  relatives  aux 
räunions  de  celle-ci. 

II  a  garde  des  archives  et  la  gestion  de  toutes  les 
affaires  administratives. 

Article  23.  Chaque  Pnissance  signataire  d&ignera,  dans 
les  trois  mois  qui  suivront  la  ratification  du  präsent  acte, 
quatre  personnes  au   plus,   d'une  competence  reconnue  dans 


Auswärtiges.    Die  Haager-Konferenz.  379 

les  qnestions  de  droit  international,  jouissant  de  la  plus  haute 
consideVation  morale  et  disposäes  ä  accepter  leg  fonctions 
darbitres. 

Les  personnes  ainsi  däsignäes  seront  inscrites,  an  titre 
de  membres  de  la  Cour,  sur  une  liste  qui  sera  notifiee  & 
toutes  les  Puissances  signataires  par  les  soins  du  Bureau. 

Tonte  modification  a  la  liste  des  arbitres  est  portee,  par 
les  soins  du  Bureau,  a  la  oonnaissance  des  Puissances  sig- 
nataires. 

Delix  on  plusieurs  Puissances  peuvent  s'entendre  pour 
Ja  däsignation  en  commun  d'un  ou  de  plusieurs  membres. 

La  m£me  personne  peut  6tre  d6sign6e  par  des  Puissances 
diffi&rentes. 

Les  membres  de  la  Conr  sont  nommäs  pour  un  terme  de 
six  ans.  Leur  mandat  peut  6tre  renouvele. 

En  cas  de  deces  ou  de  retraite  d'un  membre  du  Tribu- 
nal, il  est  ponrvu  ä  son  remplacement  selon  le  mode  fixe 
pour  sa  noraination. 

Article  24.  Les  Puissances  signataires  qui  däsirent 
s'adresser  a  la  Cour  pour  le  regienient  des  differends  sur- 
venus  entre  elles,  choisissent  dans  la  liste  generale  le  nombre 
d'arbitrcs  d£termin6  de  comwuo  accord. 

Elles  notifient  au  Bureau  leur  Intention  de  s'adresser  ä 
la  Cour  et  les  noms  des  arbitres  qu'elles  ont  d6sign6s. 

Sauf  Convention  contraire,  le  Tribunal  arbitral  est  consti- 
tu6  conformäment  aux  regles  fixäes  par  l'article  31  de  la  prä- 
sente Convention. 

Le«  arbitres  ainsi  noinmes  forment  le  Tribunal  d' Arbitrage 
pour  le  cas  en  qnestion. 

Hb  se  r&inissent  ä  la  date  fixöe  par  les  Partie  en  litige. 

Article  25.   Le  Tribunal  siege  d'ordinaire  ä  la  Haye. 

II  a  la  facultö  de  steger  aillenrs.  avec  l'assentiment  des 
Parties  en  litige. 

Article  26.  Toute  Puissance,  m&me  non  signataire  de  cet 
Acte,  peut  s'adresser  &  la  Cour  dans  les  conditions  prescrites 
par  la  präsente  Convention. 

Article  27.  Les  Puissances  signataires  considerent  comme 
an  devoir,  dans  le  cas  oü  un  conflit  aigu  menacerait  d'äclater 


380  Jahresbericht  1899. 

•entre  deux  ou  plasieurs  d'entre  Elles  de    rappeler  k  celles-ci 
que  la  Cour  permanente  leur  est  ouverte. 

En  consöquence,  Elles  däclarent  que  le  fait  par  une  on 
plu8ieurs  d'entre  Elles  de  rappeler  aux  Parties  litigeantes  les 
dispositions  de  la  präsente  Convention,  et  le  conseil  donnä,  dans 
l'intär&t  supärleur  de  la  paix,  de  s'adresser  k  la  Cour  perma- 
nente ne  peut  etre  considäre*  que  comme  an  acte  de  Bons  Offices. 

Article  28.  Un  Conseil  permanent  compose*  des  represen- 
tants  diplomatiques  des  Puissances  signataires  rösidant  k  la 
Haye  et  du  Ministre  des  Affaires  Etrangöres  des  Pays-Bas 
qui  remplira  les  fonetions  de  Präsident,  sera  constitue*  dans  cette 
ville  le  plus  tot  possible  aprös  la  ratification  du  präsent  acte. 

Ce  Conseil  sera  Charge*  d'6tablir  et  d'organiser  le  Burean 
international,  lequel  demeurera  sous  sa  direction  et  sous  son 
contröle. 

II  notifiera  aux  puissances  la  Constitution  de  la  Cour  et 
pourvoira  k  l'installation  de  celle-ci. 

II  arretera  son  röglement  d'ordre  ainsi  que  tous  autres 
reglements  näcessaires. 

II  däcidera  toutes  les  questions  qui  pourraient  surgir 
touchant  le  fonetionnement  du  Tribunal. 

II  aura  des  pouvoirs  absolus  quant  k  la  nomination,  la 
«nspension  ou  la  rävocation  des  fonetionnaires  et  employäs 
du  Bureau. 

II  fixera  les  traitements  et  salaires  et  contrdlera  la  de- 
pense  gänörale. 

La  pr6sence  de  cinq  membres  dans  les  reunions  düment 
convoquäes  suffit  pour  permettre  au  Conseil  de  deliberer  va- 
lablemcnt.    Les  decisions  sont  prises  k  la  majorite*  des  voix. 

Le  Conseil  adresse  chaque  annöe  aux  Puissances  Signa- 
taires  un  rapport  sur  les  travaux  de  la  Cour,  sur  le  fone- 
tionnement des  seryiees  administratifs  et  sur  les  döpenses. 

Article  29.  Les  frais  da  Bureau  seront  Supporte«  par 
les  Puissances  signataires  dans  la  proportion.  ötablie  pour  le 
Bureau  international  de  l'Union  postale  universelle. 

III.    De  la  proeädure  arbitrale. 

Article  30.  Les  Puissances  qui  aeeeptent  l'arbitrage 
signent  un  acte  special  (compromis)  dans  lequel  sont  nettement 


Auswärtiges.    Die  Haager-Konferenz.  381 


\ 


detertirineV  l'objet  da  litige  ainsi  que  l'ötendue  des  pouvoirs- 
des  arbitres.  Dans  cet  acte  se  trouve  conürmö  l'engagement 
des  Parties  de  se  souinettre  de  bonne  foi  a  la  sentence  ar- 
bitrale. 

Article  31.  Les  fonctions  arbitrales  peuvent  $tre  con- 
ferees  a  an  arbitre  nnique  ou  ä  plnsieurs  arbitres  designäs 
par  les  Parties  a  leur  gr6,  ou  choisis  par  Elles  parmi  lea 
membres  de  la  Cour  permanente  d'arbitrage  Stabile  par  le 
präsent  Acte. 

Sauf  Convention  contraire,  il  est  procäde*  de  la  maniere 
suivante  a  la  formation  da  Tribunal  arbitral. 

Chaque  Partie  nomme  deux  arbitres  et  ceux-ci  choisissent 
ensemble  an  surarbitre. 

En  cas  de  partage  des  voix,  le  choix  du  surarbitre  est 
confiö  ä  une  Puissance  tierce,  designöe  de  common  accord 
par  les  par  lies. 

Si  l'accord  ne  s'ätablit  pas  a  ce  sojet,  chaque  partie  d6~ 
signe  une  Puissance  dififörente  et  le  choix  du  surarbitre  est 
fait  de  concert  par  les  puissances  ainsi  designäes. 

Article  32.  Lorsque  l'arbitre  est  un  Soaverain  ou  un 
Chef  d'Etat,  la  procödure  arbitrale  releve  exlusivement  de  sa 
haute  d&ermination. 

Article  33.  Le  surarbitre  est  Präsident  de  jure  du 
Tribunal. 

Lorsque  le  tribunal  ne  comprend  pas  de  surarbitre,  il 
nomme  lui-m6me  son  president. 

Article  34.  Sauf  stipulation  contraire,  en  cas  de  däces, 
de  dlmission  ou  d'empechement  pour  quelque  cause  que  ce 
soit,  de  l'un  des  arbitres,  il  est  pourvu  ä  son  remplaceraent 
selon  le  mode  fixö  pour  sa  nomination. 

Article  35.  Le  siege  du  tribunal  est  dfoignä  par  lea 
Partie«  en  litige  ou,  a  däfaut  de  cette  dtoignation,  par  le 
Tribunal  d'arbitrage. 

Le  siege  ainsi  fixe*  ne  peut  Stre  change*  qu'en  vertu  d'un 
nouvel  accord  entre  les  Etats  inte>ess6s,  ou,  en  cas  de  rai- 
son majeure,  par  decision  du  Tribunal  lui-m&rae. 

Article  36.  Les  Parties  en  litige  ont  le  droit  de  nom- 
raer     aupres    da   Tribunal   des  däleguäs  ou  agents  speciaux, 


382  Jahresbericht  1899. 

avec    la  mission  de  servir  d'interinödiaires   entre  le  tribunal 
et  les  parties  litigeantcs. 

Elles  snnt  en  oatre  autorisöes  &  charger  de  la  defense 
de  leurs  droits  et  interets  devant  le  tribunal,  les  conseils  ou 
avocats  nommes  par  elles  ä  cet  effet. 

Article  87.  Le  tribunal  decide  du  choix  des  langues  dont 
l'emploi  sera  autorise*  devant  )ui. 

Article  38.  La  procödure  arbitrale  comprend  en  ragte 
generale  deux  phases,  la  phase  präliminaire  et  la  phase  de- 
finitive. 

La  premiere  consiste  daus  la  communication  faite  par  les 
agents  des  Parties  en  litige,  aux  membres  du  Tribunal  et  ä 
la  partie  adverse,  de  tous  actes  iinprimäs  ou  äcrits  et  de 
tous  docuinents  contenant  les  moyens  des  parties. 

La  seconde  est  orale  et  consiste  dans  les  däbats  devant 
le  Tribunal. 

Article  39.  Toute  piece  produite  par  Fune  des  parties 
doit  etre  communiquäe  a  l'autre. 

Article  40.  Les  däbats  devant  le  Tribunal  sont  diriges 
par  le  President. 

Ils  sont  consignes  dans  des  proces-verbaux  r6dig6s  par 
des  secretaires  que  nomme  le  präsident.  Ces  proces-verbaux 
ont  seuls  caractere  authentique. 

Article  41.  La  procedure  p reliminaire  etant  close  et  les 
debats  6tant  ouverts,  le  tribunal  a  le  droit  de  refuser  tous 
actes  ou  docutnents  nouveaux  que  les  repräsentants  de  l'une 
des  parties  voudraient  lui  soumettre  sans  le  consentement  de 
l'autre. 

Article  42.  Le  tribunal  demeure  libre  de  prendre  en 
consideration  les  actes  ou  documents  nouveaux  dont  les  agents 
ou  les  conseils  des  parties  en  litige  ont  profitä  dans  leurs 
explications  devant  lui. 

II  a  le  droit  de  requerir  la  production  de  ces  actes  ou 
documents,  sauf  l'obligation  d'en  donner  connaissance  &  la 
partie  adverse. 

Article  43.  Le  tribunal  peut,  en  outre,  requärir  des 
agents  des  parties  la  production  de  tous  les  actes  et  toutes 
les  explications  dont  il  a  besoin.  En  cas  de  refus  le  tribunal 
en  prend  acte. 


Auswärtiges.    Die  Haager-Konferenz.  383 

Article  44.  Les  agents  et  les  conseils  des  Parties  liti- 
geantes  sont  autorisäs  &  präsenter  oralement  au  tribunal 
tous  les  moyens  qu'ils  jugent  utiles  &  la  defense  de  leur 
cause. 

Article  45.  IIb  ont  le  droit  de  soulever  des  exceptions 
et  incidents.  Les  decisions  da  tribunal  sur  ces  points  ter- 
minent  la  controverse  et  ne  peuvent  donner  lieu  k  aacune 
discussion  ulterieure. 

Article  46.  Les  membres  du  tribunal  ont  le  droit  de 
poser  des  questions  anx  agents  et  aux  conseils  des  parties  en 
litige  et  de  leur  demander  des  äclaircissements  sur  des  points 
douteux. 

Ni  les  questions  posees,  ni  les  observations  faites  par  les 
membres  du  tribunal  pendant  le  cours  des  döbats  ne  peuvent 
etre  regardäes  coinine  enonciations  des  opinions  du  tribunal  en 
gene>al,  on  de  ses  membres  en  particulier. 

Article  47.  Le  tribunal  est  seul  autorisö  &  determiner  sa 
competence  par  l'interprätation  du  compromis  ainsi  que  des 
autres  traitös  qui  peuvent  etre  invoquös  dans  la  mattere,  et 
par  l'appiication  des  principes  du  droit  international. 

Article  48.  Le  tribunal  a  le  droit  de  rendre  des  or- 
donnances  de  proc&lure  sur  la  direction  du  proces,  de  däter- 
miner  les  forines  et  dölais  dans  lesqnels  chaque  partie  devra 
prendre  ses  conclusions  et  de  proceder  ä  toutes  les  forma- 
liter que  comporte  l'administration  des  preuves. 

Article  49.  Les  agents  et  les  conseils  des  Parties  en 
litige  ayant  presentä  tous  les  eclaircissements  et  preuves 
pour  la  defense  de  leur  cause,  le  pr&ident  du  tribunal  pro- 
nonce  la  cloture  des  dei>ats. 

Article  50.  Les  delibärations  du  tribunal  ont  lieu  & 
huis  clos. 

Toute  decision  est  prise  &  la  niajoritä  des  membres  du 
tribunal. 

Le  refus  d'un  membre  de  prendre  part  au  vote  doit  etre 
constatä  dans  le  proces-verbal. 

Article  51.  La  sentence  arbitrato,  votäe  &  la  majoritö 
des  voix  est  motivee.  Elle  est  rödigäe  par  ecrit  et  signöc 
par  chacun  des  membres  du  tribunal. 


384  Jahresbericht  1899. 

Ceux  des  membres  qui  sont  restes  en  minoritä,  peuvent 
constater,  en  signant,  leur  dissentiment. 

Articlo  52.  La  sentence  arbitrale  est  lue  en  säance  pu- 
blique du  tribunal,  en  presence  des  agents  et  des  conseils  des 
Parties  en  litige  ou  eux  düment  appeläs. 

Article  53.  La  sentence  arbitrale,  düment  prononcäe  et 
notifiöe  aux  agents  des  Parties  en  litige,  dScide  döfinitive- 
ment  la  contestation  et  clöt  l'instance  arbitrale  instituöe  par 
le  compromis. 

Article  54.  A  nioins  de  disposition  contraire  contenue 
dans  le  compromis,  la  rävision  de  la  sentence  arbitrale  peut 
etre  demandäe  au  tribunal  qui  l'a  rendue,  mais  seulement  & 
raison  de  la  d6couvcrte  d'un  fait  nouveau  qui  eüt  ete*  de  na- 
ture  ä  exercer  une  influence  däcisive  sur  la  sentence  et  qui 
au  moment  de  cette  sentence  a  6t6  inconnu  au  tribunal  lui- 
m&rne  et  des  Parties. 

La  proeödure  de  reVision  ne  peut  6tre  ouverte  que  par 
une  decision  du  tribunal  constatant  expressäment  l'existence 
du  fait  nouveau  lui  reconnaissant  les  caracteres  pre>us  par 
le  paragraphe  pröeädent  et  däclarant  ä  ce  titre  la  demaude 
recevable. 

Aucune  demande  en  r&vision  ne  peut  £tre  accueillie  trois 
mois  apres  la  notification  de  la  sentence. 

Article  55.  La  sentence  arbitrale  n'est  obligatoire  que 
pour  les  parties  qui  ont  conclu  le  compromis. 

Lorsqn'il  s'agit  de  l'interpretation  d'une  Convention  inter- 
venue  entre  un  plus  grand  nombre  de  Puissances  que  Celles 
entre  lesquelles  le  diiferend  a  surgi,  les  Parties  en  litige 
notinent  aux  autres  Puissances  signataires  de  la  Convention 
le  compromis  qu'elles  ont  conclu.  Chacune  de  ces  Puissances 
a  le  droit  d'intervenir  au  proces.  Si  une  ou  plusieurs  d' entre 
elles  ont  profite  de  cette  faculte*,  l'interprätation  contenue 
dans  la  sentence  est  egalement  obligatoire  ä  leur  egard. 

Article  56.  Chaque  partie  supporte  ses  propres  frais  et 
une  part  egale  des  frais  du  tribunal,  sans  prejudice  des  con- 
damnations  qui  peuvent  6tre  prononcäespar  le  tribunal  contre 
l'une  ou  l'autre  des  parties. 


Auswärtiges.    Die  Haager-Konferenz.  385 

Dagegen  wurden  zahlreiche  Bedenken  an  der  Konferenz 
selbst  und  in  der  Presse  erhoben,  worunter  eine  Zuschrift 
eines  in  Südamerika  lebenden  Schweizers  an  eine  schweizer- 
ische Zeitung  besonders  beachtenswert!]  ist,  die  sich  sogar 
gegen  die  Uebernahme  von  schiedsgerichtlichen  Aufträgen 
durch  die  Schweiz,  wie  folgt,  ausspricht : 

<Le  danger  des  arbi  träges.  On  n'a  pas  songe* 
jusqu'ici,  que  les  arbitrages  international,  dont  se  Chargen t 
le  Conseil  föderal,  Je  Tribunal  föderal  ou  tel  tribunal  arbitral 
suisse,  constitue  ad  hoc,  puissent  porter  preVjudice  aux  citoyens 
suisses  habitant  l'etranger,  ainsi  qu'ä  notre  commerce  national, 
lorsque  le  litige  inte>esse  certains  pays. 

Dans  le  plus  grand  norubre  des  cas,  les  sentences  arbi- 
trales,  encore  que  juridiquement  justes  et  impeccablement 
correctes,  n'ont  pas  le  don  de  contenter  les  deux  parties 
interessäes.  Alors  le  mäcontentement  de  celle  qui  s'estime  mal 
jogee  se  manifeste,  non  seulement  envers  la  partie  qui  est 
tenue  pour  favorisäe,  mais  aussi  envers  l'arbitre.  Si  cet  ar- 
bitre  est  un  des  pouvoirs  publics  de  notre  Coufödäration  ou 
simplement  un  Suisse,  ce  sont  les  Suisses  habitant  le  pays 
condamne*  qui  en  pätissent. 

On  dira  peut-etre  que  cela  a  peu  d'importancc.  C'est  une 
graade  erreur.  Si  la  Situation  de  nos  coiicitoyens  ä  l'etranger 
est  rendue  plus  difficile  encore  qu'elle  ne  Test  deja,  notre  com- 
merce en  souftrira  6galement.  On  fait  deja  si  peu  pour  les  Suisses 
ä  l'etranger.  Ceux  qui  selivrent  au  commerce  ont  deja  tant  ä 
Jatter  contre  les  AUemands,  les  Anglais,  les  Americains  et 
d'autres,  soutenus  et  favorises  par  leurs  agents  diplomatiques 
et  consulaires.  Et  nous,  faibles  citoyens  suisses  dans  les  pays 
d'outremer,  nous  en  sommes  ä  peu  pr&s  reduits  ä  ne  compter 
que  sur  nos  propres  forces.  Dans  nonibre  de  pays,  nous  n'a- 
vons  aueune  repräsentation  officielle.  C'est  dans  ces  pays,  oü 
Ton  confond  encore  notre  banniere  föderale  avec  celle  du 
Saint-Pöre,  qu'il  faut  craindre  de  porter  atteinte  a  la  bonne 
harmonie  qui  existe  entre  le  peuple,  le  gouvernement  et  les 
Suisses  qui  s'y  sont  ätablis.  Ces  Suisses,  en  gäneral,  se  fönt 
rapecter   en  observant  les   lois  et  les  coutumes   des    natio- 

25 


386  Jahresbericht  1899. 

naux  et  en  gardant  nne  scrupuleuse  neutralite  dans  les  dis- 
sensions  ou  les  commotions  intärieures.  Gräce  aux  sympathies 
qu'ils  ont  su  conquerir,  ils  peuvent  assez  facileraent  obtenir 
justice,  lorsqu'ils  ont  eu  ä  souffrir  quelque  dommage  du  fait 
d'une  revolution,  par  exernple,  et  sans  meme  recourir  a  l'en- 
tremise  des  ministres  ätrangers  sous  le  protectorat  desquels 
ils  doivent  se  placer.  Un  jugement  arbitral  peut  compromettre 
leur  Situation. 

Nous  avons  vu,  tont  rßcemment,  le  tort  considerable 
qu'un  jugement  arbitral,  par  les  suites  qui  en  decoulent,  peut 
avoir  pour  le  commerce  et  rindustrie  d'un  pays.  L'affaire 
Cerrutti  a  profondäment  troublß  les  rapports  commerciaux 
entre  l'Italie  et  la  Colombie.  La  Colombie,  ä  tort  ou  ä  raison 
—  cela  Importe  peu  —  se  tient  pour  victime  dans  cett« 
affaire.  Les  Colombiens  qui,  tout  naturellement,  ont  pris  fait 
et  cause  pour  leur  pays,  se  vengent  en  mettant  a  l'index 
toutes  les  maisons  italiennes  Stabiles  dans  le  pays.  Plusieurs 
de  celles-ci  ont  du  liquider  ou  s'apprGtcnt  a  plier  bagage. 
C'est  un  marche"  important  perdu  pour  l'Italie  pendant  un 
temps  plus  ou  moins  long.  Car,  il  ne  faut  pas  oublier  que 
le  couimer^ant  ä  l'6tranger  se  sert  toujours  de  präfexence 
aupres  des  maisons  de  son  pays  et  de  cette  facon  est  un 
utile  agent  pour  l'exportation  nationale. 

La  Suisse  vient  d'accepter  un  arbitrage  dans  l'affaire 
Punchard-Colombie.  Je  ne  veux  pas  examiner  le  fond  de  ce 
litige  et  vous  en  dire  ma  pensee.  Ce  serait  d6place\  C'est 
l'affaire  des  juges,  qui  prononceront  suivant  le  droit  et  rien 
que  suivant  le  droit.  C'est  leur  devoir  et  je  connais  assez 
nos  magistrat8  pour  savoir  qu'ils  n'y  failliront  pas.  Mais  6cou- 
tez  ceci: 

Punchard,  disons  les  Anglais,  reclame  ä  la  Colombie  — 
il  s'agit  d'une  concession  de  chemins  de  fer  —  une  certaine 
somme  d'argent.  Les  parties  ne  pouvant  tomber  d'accord  sur 
le  montant  de  l'indemnite,  le  litige  fut  porte  premierement 
devant  un  tribunai  arbitral  preside"  par  le  rainistre  d'AHe- 
magne  ä  Bogota.  Mais  la  colonie  allemande,  toujours  intelli- 
gente et  pratique,  ne  se  souciant  pas  du  sort  des  Italiens, 
s'adressa,    par   cäble  s'il    vous  plait,  ä  S.  M.  Pempereur,   ä 


Auswärtiges.    Die  Haager-Konferenz.  387 

Berlin,  lni  demandant  de  permettre  au  ministre  allem  and  ä 
Bogota  de  se  retirer  da  tribunal  arbitral.  Ce  qui  eut  lieu  sur 
Tordrc  tälegraphique  du  gouvernement  imperial.  Le  tribunal 
arbitral  fut  dissout  par  cc  fait  et  Paffaire  est  actuellement  pen- 
dante  devant  un  tribunal  arbitral  suisse. 

II  est  assuräment  fort  honorable  pour  un  pays  et  pour 
un  gouvernement  d'ötre  Charge*  d'un  jugement  arbitral  en  ma- 
uere internationale.  Dans  certains  cas,  cela  ne  peut  präsenter 
aucun  inconvänient ;  dans  d'autres,  c'est  le  contraire.  II  appar- 
tient  au  gouvernement  auquel  on  s'adresse  de  distinguer  et 
d'etre  prudent. 

Les  Suisses  d'outre-mer  demandent  pourquoi  la  Suisse  se 
charge  de  tant  de  responsabiiite's,  si  ses  enfants  ä  l'etranger 
doivent  en  souffrir  et  le  commerce  national  en  supporter  les 
consequences.» 

Das  Schiedsgerichts-Projekt  erhielt  schliesslich  folgende 
wesentliche  Fassung  : 

Plan  einer  Konvention  für  die  Schlich- 
tung internationaler  Streitigkeiten: 

cl.  Für  die  Erhaltung  des  allgemeinen  Friedens. 

Dm  in  den  internationalen  Beziehungen  die  Anwendung 
von  Gewalt  soweit  als  möglich  zu  vermeiden}  verpflichten 
sich  die  Signatarmächte,  alle  Bemühungen  anzuwenden,  um 
die  Schlichtung  von  Streitigkeiten,  welche  sich  zwischen  ein- 
zelnen Staaten  erheben,  durch  friedliche  Mittel  herbeizu- 
führen. 

2.  Ueber  gute  Dienste  und  Vermittlung. 

Die  Signatarmächte  erklären,  dass  sie  im  Falle  einer 
ernsten  Meinungsverschiedenheit  oder  eines  Streites,  ehe  sie 
an  die  Waffen  appellieren,  so  weit  es  die  Umstände  erlauben, 
zu  den  guten  Diensten  oder  zur  Vermittlung  einer  oder 
mehrerer  befreundeter  Mächte  greifen  wollen. 

3.  Unabhängig  hiervon  erklären  die  Signatarinächte  es 
für  nützlich,  dass  eine  oder  mehrero  der  nicht  am  Streite 
betheiligten  Mächte  aus  eigenem  Antriebe,  sobald  es  die  Um- 
stände    ermöglichen,    den    streitenden    Parteien    ihre  guten 


388  Jahresbericht  1899. 

Dienste  oder  ihre  Vermittlung  anbieten.  Den  neutralen 
Staaten  bleibt  das  Recht,  gute  Dienste  und  Vermittlung  an- 
zubieten, auch  während  des  Verlaufes  der  Feindseligkeiten 
gewahrt.  Die  Ausübung  dieses  Rechtes  soll  von  keiner  der 
streitenden  Machte  als  ein  unfreundlicher  Akt  angesehen 
werden. 

4.  Die  Rolle  des  Vermittlers  besteht  in  der  Versöhnung 
widerstreitender  Ansprüche  und  in  der  Besänftigung  von 
feindlichen  Empfindungen,  welche  zwischen  den  streitenden 
Staaten  entstanden  sind. 

5.  Die  Rolle  des  Vermittlers  hört  in  dem  Augenblicke 
auf,  in  welchem  von  einer  der  streitenden  Parteien  oder  vom 
Vermittler  selbst  erklärt  wird,  dass  die  von  ihm  vorge- 
chlagene  Vermittelung  des  Streites  oder  die  von  ihm  p  re- 
ponierten Grundlagen  zu  einer  Verständigung  nicht  ange- 
nommen sind. 

6.  Gute  Dienste  und  Vermittlung,  sei  es  auf  Wunsch 
der  streitenden  Parteien,  sei  es  auf  die  Initiative  neutraler 
Mächte,  haben  ausschliesslich  berathenden  Charakter  und 
keinerlei  obligatorische  Kraft. 

7.  Die  Annahme  einer  Vermittlung  soll,  so  lange  nicht 
das  Gegentheil  abgemacht  ist,  eine  Mobilisirung  oder  andere 
kriegerische  Vorbereitungen  nicht  unterbrechen  oder  ver- 
zögern. Ebenso  soll,  wenn  nach  dem  Ausbruche  von  Feind- 
seligkeiten eine  Vermittlung  stattfindet,  diese  —  so  lange 
nicht  das  Gegentheil  abgemacht  ist  —  den  Verlauf  der  mili- 
tärischen Operationen  nicht  hemmen. 

8.  Die  Signatarmächte  verpflichten  sich,  wenn  in  Folge 
einer  ernsten  Differenz  der  Frieden  bedroht  ist  und  die  Um- 
stände es  erlauben,  die  Anwendung  einer  besonderen  Ver- 
mittlung in  der  folgenden  Form  zu  empfehlen :  Die  streiten- 
den Mächte  wählen  jede  eine  Macht,  welcher  sie  die  Mission 
anvertrauen,  mit  derjenigen  Macht  in  direkte  Verbindung  zu 
treten,  welche  von  der  anderen  Partei  zu  dem  Zweck  ge- 
wählt worden  ist,  um  den  Bruch  der  friedlichen  Beziehungen 
zu  verhindern.  Während  der  Zeit  ihrer  Mandatswahl,  welche 
wenn  nicht  eine  andere  Abmachung  vorliegt,  30  Tage  nicht 
überschreiten  kann,  gilt  die  Streitfrage  als  eine  diesen  Mäch- 


Auswärtiges.    Die  Haager-Konferenz.  339 

ten  ausschliesslich  übertragene.  Es  ist  deren  Pflicht,  alle  ihre 
Bemühungen  zur  Schlichtung  des  Streites  anzuwenden.  Im 
Falle  die  friedlichen  Beziehungen  definitiv  abgebrochen  wer- 
den, bleiben  die  beiden  Mächte  mit  der  Mission  betraut,  jede 
sich  bietende  Gelegenheit  zur  Wiederherstellung  des  Friedens 
zu  benutzend 

Zuletzt  wurden  noch  folgende  Bestimmungen  dazu  aufge- 
nommen : 

«Die  Mitglieder  des  ständigen  Schiedsgerichtshofs  haben 
bei  Ansäbung  ihres  Amtes  diplomatische  Privilegien  und  Im- 
munität. Das  Centralbureau  wird  ermächtigt,  seine  Lokali- 
täten und  Organisation  den  Signatarmächten  für  die  Arbeiten 
eines  jeden  besonderen  Schiedsgerichts  zur  Verfügung  zu 
stellen.  Die  Signatarmächte  verpflichten  sieh,  dem  Bureau 
eine  Kopie  der  Abmachungen,  die  zwischen  ihnen  bezüglich 
des  Schiedsgerichts  getroffen  werden,  mitzuth eilen,  ferner 
auch  alle  Urtheilssprüche,  die  von  anderen  Schiedsgerichten 
als  dem  ständigen  Schiedsgerichtshof  gefällt  worden  sind. 
Die  Signatarmächte  verpflichten  sich,  auch  dem  Bureau  die 
Gesetze,  Verordnungen,  sowie  alle  Dokumente  mitzutheilen, 
durch  welche  die  Ausfuhrung  der  von  dem  ständigen  Schieds- 
gerichtshof  gefällten  Urtheilssprüche  festgesetzt  wird.> 

Als  Sitz  des  ständigen  Schiedsgerichtshofs  ist  der  Kon- 
ferenzort Haag  intendirt,  womit  wir  nicht  so  ganz  einver- 
standen sein  werden. 

Für  eine  weitere  Kongresssitzung  wurde  von  dem  Ab- 
geordneten von  Luxemburg  bereits  die  Frage  der  Rechte  und 
Pflichten  der  Neutralen  im  Kriegsfalle  anderer  Mächte 
vorgesehlagen,  eine  Frage,  die  an  Schwierigkeit,  und  auch 
an  Gefährlichkeit  für  diese  neutralen  Staaten  selbst,  alle  der- 
malen auf  diesem  ersten  Kongresse  besprochenen  bei  weitem 
übertrifft  und  vorher  sehr  wohl  zu  überlegt  sein  wird.  Wir 
verweisen  hiefür  auf  den  Artikel  «Völkerrechtliche  Fragen  der 
Gegenwart»  und  die  Broschüre  von  1889  «Die  Neutralität 
der  Schweiz   in   ihrer  heutigen  Auffassung». 


390  Jahresbericht  1899. 

Sicher  ist,  dass  der  ewige  Friede  noch  lange  nicht  vor- 
handen sein  wird,  sondern  dass  man  sich  demselben  nur  in 
Etappen  nahern  kann.  Nicht  bloss  der  materiellen 
Schwierigkeiten  wegen,  die  in  den  ungelösten  und  vielleicht 
in  anderer  Weise  unlösbaren  Streitfragen  und  in  dem 
dilapidirten  Zustand  einzelner  Staaten  liegen,  sondern  weil 
überhaupt  der  ewige  Friede  ein  viel  besseres  Geschlecht 
voraussetzt,  als  es  gegenwärtig,  in  der  Aera  des  materialist- 
ischen «Kampfes  um's  Dasein»  besteht.  Wie  soll  der  Krieg 
aufhören,  wenn  so  zahlreiche  Stimmen,  oft  die  gleichen,  pre- 
digen, dass  nicht  bloss  das  Dasein  der  Staaten,  sondern  sogar 
das  ganze  Leben  jedes  Einzelnen  ein  verzweifelter  Krieg 
gegen  alle  Anderen  sei,  in  welchem  alles  behnfs  der  Selbst- 
erhaltung  erlaubt  und  Kraft  eigentlich  das  einzige  Recht  sei. 

Von  solchen  Zeiten  und  Leuten  spricht  schon  der  Pro- 
phet Jeremias  VI,  13,  14,  und  seither  sind  sie  immer  noch 
vorhanden. 

Der  deutsche  Kaiser,  der  sehr  oft  das  richtige  Wort  in 
einer  schwierigen  Situation  findet,  äusserte  darüber  in  einer 
Ansprache  an  den  Brandenburger-Provinziallandtag,  noch  vor 
der  Haager  Konferenz: 

«Es  ist  ja  ein  herrliches  Beginnen,  für  alle  Völker  den 
Frieden  herbeiführen  zu  wollen.  Aber  es  wird  ein  Fehler  bei 
den  ganzen  Berechnungen  angestellt.  So  lange  in  der  Mensch- 
heit die  unerlöste  Sünde  herrscht,  so  lange  wird  es  Krieg  und 
Hass,  Neid  und  Zwietracht  geben,  und  so  lange  wird  ein 
Mensch  versuchen,  den  andern  zu  übervortheilen.  Was  aber 
unter  den  Menschen,  das  ist  auch  unter  den  Völkern  Gesetz. 
Deswegen  wollen  wir  trachten,  dass  wir  Germanen  wenigstens 
(für  das  Rechte)  zusammenhalten  wie  ein  fester  Block.» 

Möge  er  es  im  weitesten  Sinne  stets  wahr  machen. 
Jedenfalls  thun  diejenigen  am  meisten  für  die  Herbeiführung 
des    ewigen   Friedens,    welche   trachten,    den   Völkern    eine 


Mititünvcsen.  391 

bessere  Philosophie  uud  Religion  genehm  zu  machen,  als  sie 
gegenwärtig  im  Allgemeinen  besteht. 

Dann  kommt  der  Friede  von  selbst,  sonst  aber  ist  er, 
wie  in  dem  ganzen  jetzt  zu  Ende  eilenden  Jahrhundert,  ein 
sehr  prekäres  Gewächs,  anf  dessen  Bestand  man  trotz  aller 
sehr  anerkennenswerthen  Bemühungen  und  Fortschritte  nicht 
einmal  von  einem  Jahre  zum  anderen  rechnen  kann. 

Mili  tftrwesen.  «Aber  der  Krieg  lässt  die  Kraft  erscheinen, 
Alles  erhebt  er  zum  Ungemeinen, 
Selbst  den  Schwachen  stählt  er  den  Math.» 

Das  ist  einstweilen  noch  das  «Leitmotiv»  für  das  Militär- 
wesen aller  Staaten,  bei  uns  speziell  der  Grundton.  der 
durch  die  Geschichte  der  Schweiz  geht  und  dieselbe  auf  so 
lange  beherrschen  wird,  als  sie  ein  eigenthümliches  Leben 
unter  anderartigen  Völkergemeinschaften  behaupten  will. 

Wir  können  das  nicht  ändern,  selbst  wenn  wir  es  wollten, 
und  wir  brauchen  unsere  militärische  Kraftentfaltung  als 
Demonstration  nach  Aussen  sowohl,  wie  als  noth wendiges  Gegen- 
gewicht gegen  die  lähmenden  Wirkungen,  die  der  Friede  und 
seine  Thätigkeiten  mit  sich  bringen  kann. 

Die  Gesammtzahl  der  im  Jahre  1898  ausgehobenen 
Rekruten  betrug:  17,851  Mann,  die  Eekrutenzahl  des  Vor- 
jahres betrug  18,339  Mann ;  es  ergibt  sich  somit  für  1898 
eine  Verminderung  der  Rekruten  um  488  Mann.  Mehr  rekru- 
tirt  als  im  Vorjahre  wurden  bei  der  Kavallerie  7  Mann, 
Kanoniere  113,  Trainsoldaten  94,  Festungsartillerie  40,  bei 
den  Trains  8,  Sappeure  92,  bei  den  Sanitätstruppen  45,  bei 
den  Verwaltnngstruppen  3  Mann,  zusammen  402  Mann, 
weniger  rekrutirt  wurden :  bei  der  Infanterie  799  Mann,  Ge- 
birgsartillerie 44,  Positionsartillerie  8,  Pontoniere  3,  Pioniere 
3  Mann,  zusammen  890  Mann.  Von  den  17,851  Rekruten  ent- 
fallen   auf  den  jüngsten   Jahrgang    14,568  Mann,    auf   den 


392  Jahresbericht  1899. 

zweitjüngsten  1782,  auf  den  drittjüngsten  940,  den  viert- 
jüngsten  308,  den  fünftjüngsten  117,  auf  ältere  Jahrgänge 
136  Mann.  Die  Zahl  der  1898  aasexerzierten  Rekruten  be- 
trägt bei  der  Infanterie  13,732  Mann  (1897:  14,243  Mann); 
Kavallerie  525  (634);  Artillerie  1818  (1848);  Genie  491 
(423);  Sanität  442  (485);  Verwaltung  166  (121);  total 
17,174  Mann  (1897:  17,754  Mann).  Im  Durchschnitt  sind 
daher  93,64  Prozent  der  Rekruten  ausexerziert  worden.  In 
den  Vorjahren  schwankt  der  Prozentsatz  zwischen  94,1  Pro- 
zent (1896)  und  95  Prozent  (1897). 

Die  Kontrollstärke  des  Auszuges  des  schweizeri- 
schen Bundesheeres  auf  1.  Januar  1899  beträgt  laut  Geschäfts- 
bericht des  Militärdepartements  total  148,435  Mann.  Davon 
entfallen  auf  die  Truppen  der  Stabsquartiere:  425  Mann: 
Armeecorps  1:  35,316  Mann  und  zwar:  Division  I:  15,268, 
Division  2:  16,381,  Corpstruppen  3667  Mann.  Armeecorps  2: 
35,731  Mann  und  zwar:  Division  3:  16,075,  Division  5: 
16,028,  Corpstruppen  3628  Mann ;  Armeecorps  3 :  35,887  Mann 
und  zwar  Division  6:  16,406,  Division  7:  15,887.  Corps- 
truppen :  3594  Mann ;  Armeecorps  4 :  32,325  Mann  und  zwar 
Division  4:  15,236,  Division  8:  13,401,  Corpstruppen:  3668 
Mann.  Besatzungstruppen :  5833  Maun  und  zwar  Gotthard 
3917;  St.  Maurice  1916  Mann.  Dazu  disponible  Truppen: 
2916  Mann. 

Unter  den  Keglern  enten,  welche  das  Eidg.  Militärdepar- 
tement in  letzter  Zeit  erliess,  haben  allgemeines  Interesse 
besonders  die  folgenden : 

Dienstbefreiung  des  Eisenbahn-  und  Dampf- 
schiffpersonals. (Kreisschreiben  an  die  Militärbehörden 
der  Kantone  und  an  die  Waffen-  und  Abteilungschefs,  vom 
5.  Juni  1899.) 

Mittelst  Schlussnahme  des  Bundesrates  vom  11.  Januar 
1898  wurde  das  hierseitige  Kreisschreiben  an  die  schweize- 


Militärwesen.  393 

Tischen  Eisenbahn-  und  Dampfschiffgesellschaften  vom  17 
August  1875  (Militttrverordnungsblatt  1875,  Nr.  66),  soweit 
es  sich  auf  die  Dienstbefreiung  des  Eisenbahn-  und  Dampf- 
schiffpersonals bezieht,  durch  den  Bnndesratsbeschluss  yom 
27.  August  1878  (Militärverordnungsblatt  1878,  Nr.  40)  aus- 
drücklich als  aufgehoben  und  dieser  Beschluss  für  die  Frage 
der  Dienstbefreiung  des  Eisen  bahnpersonals  ausschliesslich  als 
massgebend  erklärt.  Nach  diesem  Bundesrathsbeshluss  umfasst 
die  Dienstbefreiung  nach  Art.  2,  litt.  f.  der  Militärorgani- 
sation nnter  Vorbehalt  der  Bestimmungen  der  Art.  3,  29  und 
207  der  Militärorganisation  folgendes  Personal  der  Eisenbahn- 
verwaltungen : 

1.  Die  Angestellten,  denen  der  Unterhalt  und  die  Bewach- 
ung der  Bahn  obliegt:  Bahningenieure,  Bahnmeister,  Bahn- 
aufseher, Bahnwärter,  Barrierenwärter,  Vorarbeiter,  Bahn- 
arbeiter. 

2.  Die  Angestellten  des  Bahnbetriebes :  Betriebschefs, 
Betriebsinspektoren,  Telegrapheninspektoren,  Maschinenm  eister, 
Lokomotivführer,  Heizer,  Wagenwärter,  Zugführer,  Conduc- 
tenre,  Bremser,  Weichenwärter,  Werkführer,  Depotchefs, 
Werkstättenarbeiter. 

3.  Das  Bahnhof-  und  Stationspersonal:  Bahnhof-  und 
Stationsvorstände  und  deren  Stellvertreter,  Bahnhofaufseher, 
Einnehmer,  Gepäck-,  Eilgut-  und  Güterexpedienten,  Portiers, 
Wagencontrolleurs,  Wagenvisiteurs,  Wagenwärter,  Bahnhof- 
arbeiter, Nachtwärter,  Telegraphisten. 

Veranlasst  durch  eine  Eingabe  des  schweizerischen  Eisen- 
bahnverbandes um  Wiedererwägung,  dieses  Beschlusses  im 
Sinne  der  Wiederherstellung  des  Status  quo,  beschloss  der  Bun- 
desrath  unterm  23.  August  vorigen  Jahres,  an  seiner  Schluss. 
nähme  vom  11.  Januar  1898  festzuhalten,  erweiterte  jedoch 
den   erwähnten  Bundesrathsbeschluss  vom    27.  August    1878 


394  Jahresbericht  1899. 

dahin,  dass  unter  Vorbehalt  der  Bestimmungen  von  Art  3, 
29  und  207  der  Militärorganisation  für  die  Dauer  ihrer  An- 
stellung ebenfalls  als  dienstfrei  erklärt  wurden :  die  Stell- 
vertreter und  das  Bureaupersonal  der  Bahningenienre,  Be- 
triebschefs, Betriebsinspectoren  und  Maschinenmeister. 

An  der  Hand  der  auf  Grund  dieser  Beschlüsse  von  den 
Eisenbahnverwaltungen  seither  aufgestellten  und  uns  über- 
mittelten Verzeichnisse  ihres  dienstfreien  Personals,  haben 
wir  festgestellt,  dass  die  Dienstbefreiung  des  Eisenbahper- 
sonals von  den  Bahngesellschaften  in  einem  solchen  Umfang 
in  Anspruch  genommen  werden  wollte,  dass  sie  eine  schwere 
Schädigung  der  Wehrkraft  bedeuten  würde  und  in  dieser 
Ausdehnung  weder  beabsichtigt  war,  noch  zugestanden  werden 
kann.  Die  Bahnverwaltungen  setzten  nämlich,  entgegen  der 
bisherigen  Praxis,  nicht  nur  das  mit  Vertrag  auf  einen  be- 
stimmten Termin  angestellte  Personal  auf  ihre  Listen,  son- 
dern führten  auch  alle  Bediensteten  auf,  die  ohne  Vertrag 
nur  auf  unbestimmte  Zeit  angestellt  waren  und  für  deren 
Dienstbefreiung  in  Friedenszeit  durchaus  kein  Bedürfniss 
besteht. 

Der  Bundesrath  beschloss  daher  unterm  31.  Mai  abhin, 
auf  seinen  Beschluss  vom  23.  August  1898  in  dem  Sinne  zu- 
rückzukommen, dass  ausdrücklich  erklärt  wird,  dass  die  Dienst- 
befreiung des  in  den  Bundesrathsbeschlüssen  vom  27.  August 
1878  und  23.  August  1898  aufgeführten  Personals  sich  nur 
auf  das  mit  Vertrag  auf  einen  bestimmten  Termin  angestellte 
Personal  erstrecke. 

Anschliessend  hieran  wollen  wir  nicht  unterlassen,  Sie 
derauf  aufmerksam  zu  machen,  dass  nach  dem  mehrfach  ci- 
tirten  und  als  massgebend  erklärten  Bundesrathsbeschluss 
vom  27.  August  1878  die  Beamten  und  Angestellten  der  Cen- 
tralverwaltung  und  der  centralen  Bureaux  des  Betriebsdienstes 


Militärwesen.  395 

von  der  persönlichen  Militärdienstleistung  nicht  befreit,  bezw. 
wieder  dienstpflichtig  geworden  sind. 

Tragen  militärischer  Gradabzeichen  durch 
Musik-  und  Kadetten corps.  (Kreisschreiben  des  Mili- 
tärdepartements an  die  Militärbehörden  der  Kantone,  vom 
28.  Juni  1899.) 

Es  wird  uns  zur  Kenntniss  gebracht,  dass  sich  Kadetten- 
corps für  die  Auszeichnung  ihrer  Cadres  der  Ordonnanzgrad- 
abzeichen bedienen  und  dass  auch  private  Musikcorps  solche 
Gradabzeichen  tragen.  Dies  veranlasst  uns,  Sie  unter  Hin- 
weis auf  Art.  151  der  Militär  Organisation  und  auf  das  Kreis- 
schreiben vom  9.  October  1889  (Militärverordnungsblatt  1889, 
Nr.  44)  zu  ersuchen,  mit  alier  Bestimmtheit  und  Energie  der 
Verwendung  von  der  Ordonnanz  entsprechenden  Uniformen 
und  Gradabzeichen  bei  Cadetten  und  privaten  Musikcorps 
entgegenzutreten  und  für  Abhülfe  zu  sorgen,  eventuell  im 
Sinne  des  Schlussatzes  des  vorcitirten  Kreisschreibens  unter 
Strafandrohung.  Das  Tragen  von  Phantasie-Uniformen  und 
-Gradabzeichen,  welche  den  Ordonnanz-Uniformen  und  -Ab- 
zeichen nicht  entsprechen  und  mit  denselben  nicht  leicht  ver- 
wechselt werden  können,  ist  den  fraglichen  Corps  selbstver- 
ständlich ohne  weiteres  gestattet. 

Ausserdem  wurden  die  alten,  ziemlich  unpraktischen 
-Kriegsartikel>  für  den  Friedensdienst  durch  neue  «Militär- 
strafartikel  für  den  Friedensdienst»  laut  Bundes - 
rathsbeschlu88  vom  30.  Dezember  1898  ersetzt. 

Von  gesetzgeberischen  Vorlagen  ist  zunächst  von 
Bedeutung  ein  neues  Militärpflichtersatzgesetz. 

Die  Ersatzpflichtigen ,  die  ihre  Militärsteuer  nicht 
zahlten,    wurden   früher   zu  Ersatzarbeiten  angehalten  oder 


396  Jahresbericht  1899. 

eingesperrt,  das  fand  aber  das  Bundesgericht  unzulässig,  als 
eine  Art  Scbuldhaft,  besonders  in  einem  Falle  Messerli. 

Die  prinzipielle  Frage  ist  also  die,  ob  der  Artikel  59 
über  die  Abschaffung  der  Schuldbaft  dem  im  Wege  stehe 
oder  nicht.  Ohne  Zweifel  wäre  das  der  Fall,  wenn  der 
Arrest  bloss  ein  Eintreibungsmittel  und  nicht  eine  Strafe  wäre. 
Dass  die  böswillige  Nichterfüllung  einer  Verbindlichkeit 
strafbar  gemacht  werden  könne,  hat  jedoch  das  Bundesgericht 
in  einer  Sache  gegen  den  Artikel  73  des  Solothuraer-Straf- 
gesetzes  im  Jahre  1888  anerkannt,  ohne  sogar  öffentliche  und 
private  Verbindlichkeiten  zu  unterscheiden.  In  den  spä- 
teren Entscheiden  des  Bundesgerichts  handelte  es  sich 
stets  um  Nichtbezahlung  öffentlich-rechtlicher  Leistungen 
Eine  weitere  Frage  ist  die,  ob  die  Strafen  von  Ad- 
ministrativbehörden  ausgesprochen  werden  dürfen,  sogar  Frei- 
heitsstrafen, oder  ob  dies  eine  gerichtliche  Behörde  thun 
müsse,  wie  es  bei  dem  Solothurner-Strafgesetz  z.  B.  der  Fall 
war.  Hier  kommt  nicht  Artikel  59,  sondern  Artikel  58  der 
B,  V.  in  Frage.  Um  allen  diesen  Schwierigkeiten  auszuweichen, 
wäre  es  weit  besser  gewesen,  bei  dem  gewöhnlichen  Schuld- 
betreibungsverfahren zu  bleiben  und  nicht  ein  Ausnahmsgesetz 
ohne  absolute  Notiiwendigkeit  zu  erlassen,  das  leicht  im  Wege 
des  Referendums  verworfen  werden  kann. 

Der  Entwurf  des  Bundesratheu  lautet: 

«Bundesgesetz  betreffend  die  Ergänzung  desBundesgesetzes 
über  den  Militärpflichtersatz  vom  28.  Juni  1878. 

Die  Bundesversammlung  der  schweizerischen  Eidgenossen" 
schaft,  gestützt  auf  Art.  18  der  Bundesverfassung;  nach  Ein- 
sicht einer  Botschaft  des  Bundesrathes  vom  1.  Juni  1898, 
beschließet: 

Art.  1.  Ersatzpflichtige,  denen  die  Bezahlung  des  Mili- 
tftrpflichtersatzes  nach  ihren  Vermögens-  oder  Erwerbsver- 
hältnissen unmöglich  ist,  können  die  Geldleistung  durch  Ar* 
beit  abverdienen.  Sie  haben  sich  hierzu  spätestens  innerhalb 


Militärwesen.  39? 

Monatsfrist  vom  Empfang  einer  schriftlichen  Aufforderung 
zur  Bezahlung  der  Steuer  an  gerechnet,  beim  Sektionschef 
ihres  Wohnortes  anzumelden  und  eine  von  der  Gemeindebe- 
hörde ausgestellte  Bescheinigung,  dass  ihnen  die  Bezahlung 
der  schuldigeu  Ersatzsteuer  unmöglich  sei,  beizubringen. 

Ein  Arbeitetag  ist  zu  drei  Franken  anzurechnen.  Die 
Kosten  für  Verpflegung  übernimmt  der  Staat. 

Art.  2.  Ersatzpflichtige,  welche  den  Militärpflichtersatz 
weder  in  Geld  leisten,  noch  durch  Arbeitsleistung  abverdienen, 
obgleich  sie  nach  ihren  ökonomischen  oder  persönlichen  Ver- 
haltnissen nachweisbar  wohl  im  Stande  waren,  das  eine  oder 
das  andere  zu  thun,  sind  wegen  schuldhafter  Nichterfüllung 
einer  öffentlichen  Pflicht  strafbar  und  werden  auf  Anzeige- 
des  Kreiskommandanten  durch  die  kantonale  Militärbehörde^ 
mit  Haft  von  3  bis  20  Tagen  bestraft. 

Der  Strafantrag  ist  vom  Kreiskommandanten  einzureichen,, 
gestützt  auf  eine  Bescheinigung  des  Sektionschefs  des  Wohn- 
orts dass  der  betreffende  Ersatzpflichtige,  obschon  er  dazu 
nach  seinen  ökonomischen  oder  persönlichen  Verhältnissen 
nachweisbar  wohl  im  Stande  wäre,  die  Ersatzsteuer  nach 
wiederholter  fruchtloser  Aufforderung  nicht  bezahlt  und  sich 
auch  zu  keiner  Arbeitsleistung  angemeldet  hat. 

Wegen  Nichtbezahlung  des  nämlichen  Steuerbetrages 
darf  nur  eine  Strafe  verhängt  werden. 

Art.  3.  Der  Bundesrath  wird  beauftragt,  auf  Grundlage 
der  Bestimmungen  des  Bundesgesetzes  vom  17.  Juni  1874, 
betreffend  die  Volksabstimmungen  über  Bundesgesetze  und 
Bundeßbeschlüsse,  die  Bekanntmachung  dieses  Gesetzes  zu 
veranstalten  und  den  Beginn  der  Wirksamkeit  desselben  fest- 
zusetzen.» 


Ueber  den  militärischen  Vorun  t  er  rieht  wurde 
im  November  vorigen  Jahres  erlassen  ein  Programm  für 
den  freiwilligen  militärischen  Vorunterricht  der  IIL  Stufe, 
vom  November  1898,  welches,  wie  folgt,  lautet : 


398  Jahresbericht  1899. 

I.  Aufgabe    und   Ziel. 

Art.  1. 

Der  militärische  Vorunterricht  III.  Stufe  soll  eine  Vor- 
schule für  den  Wehrdienst  sein.  Diese  Bestimmung  erfüllt 
der  Unterricht,  indem  er  die  Förderung  der  physischen  Ent- 
wicklung mit  spezieller  Richtung  anf  den  Wehrzweck  and 
die  Heranbildung  für  das  Schiessen  und  Marschiren  ins 
Auge  fasst. 

II.  Organisation. 

Art.  2. 

Zur  Theilnahme  an  diesem  Unterricht  sind  die  im  17.  bis 
19.  Altersjahre  stehenden  Schweizerjünglinge,  sowie  Zurück- 
gestellte berechtigt.  Körperlich  genügend  entwickelten  Lenten 
kann  die  Theilnahme  vom  zurückgelegten  15.  Lebensjahre  an 
gestattet  werden. 

Art.  3. 

Die  Bildung  von  Vorunterrichtssektionen  geschieht  in  der 
Kegel  gemeindeweise.  Der  kleinste  Mannschaftsbestand  einer 
Vorunterrichtssektion  wird  zu  8  Mann  angenommen.  Wo 
dieser  Bestand  in  einer  Gemeinde  nicht  erreicht  werden  kann, 
können  sich  auch  mehrere  Gemeinden  zur  Bildung  einer  Sek- 
tion vereinigen.  Die  einzelnen  Sektionen  vereinigen  sich  zum 
Zwecke  einheitlicher  Leitung  und  Ueberwachung  des  Unter- 
richts zu  Kreisen  und  diese  hinwiederum  zu  kantonalen  Ver- 
bänden. 

Art.  4. 

Für  Theilnehmer,  welche  bereits  einen  Jahreskurs  mit 
Erfolg  bestanden  haben,  wird  bei  genügender  Theilnehmer- 
zahl  eine  besondere  Klasse  mit  erweitertem  Unterrichtspro- 
gramm  errichtet. 

Art.  5. 

Die  Theilnehmer  werden  vom  Bunde  mit  Gewehren  und 
Patrontaschen  nebst  Leibgurt  ausgerüstet  und  soweit  möglich 
mit  Exerzier-Blousen  versehen.  Für  die  gefassten  Gegen- 
stände haften  dem  Bunde  die  Vorstände  der  Verbände,  Kreise 
und  Sektionen. 


Militärwesen.  399 

III.   Unterricht. 

Art.  6. 
Der  Unterrirht  umfasst : 

1)  Uebungen  im  Marschiren,  Laufen,  Springen,  im  Hin- 
dernissnehmen und  Turnspiele. 

2)  Soldatenschnle  ohne  und  mit  Gewehr  mit  dem  Lehr- 
ziel einer  möglichst  korrekten  Haltung  und  bestmöglicher 
Vorbereitung  zum  Schiessen. 

3)  6e wehrkenn tni 88  unter  Beschränkung  auf  das  Noth- 
wendigste,  als  Gewehrzerlegen  und  Zusammensetzen,  Gewehr- 
reinigen und  -Instandhalten  und  Abhülfe  bei  Störungen. 

4)  Schiesslehre:  Erklärung  der  Visireinrichtung  und  Art 
des  Korn-  und  Zielfassens  (Uebungen  am  Zielbock). 

5)  Schiessen: 

a.  Der  Unterricht  im  Schiessen  ist  möglichst  individuell 
zu  betreiben,  mit  besonderer  Bezugnahme  auf  eine 
richtige,  rasche  und  doch  ruhige  Schussabgabe,  An- 
sagen des  Abkommens  und  allfällige  Korrekturen  des 
Haltepunktes. 

b.  Die  Vorübungen  erfolgen  zunächst  mit  blinden  Patro- 
nen (Laden,  Entladen,  Schussabgabe),  alsdann  eventuell 
mit  Zielmunition.  Für  diese  Uebungen  werden  ent- 
weder 20  blinde  Patronen  oder  10  blinde  Patronen 
und  10  Stück  Zielmunition  im  Maximum  bewilligt. 

c.  Das  Schiessprogramm  enthält  folgende  Uebungen: 

I.  Klasse. 
1.  Uebung  200  m  Scheibe  I,  liegend  aufgelegt, 


2. 

> 

200  m 

> 

I,  knieend  freihändig, 

3. 

> 

300  m 

» 

I,  liegend           > 

4. 

> 

300  m 

> 

I,  knieend          » 

5. 

> 

200  m 

» 

I,  stehend          > 

6. 

» 

200  m 

> 

V,  knieend          > 

II.  Klasse. 

1. 

Uebung 

300  m 

Scheibe  I,  liegend  freihändig, 

2. 

> 

300  m 

> 

I,  knieend         > 

3. 

> 

300  m 

> 

I,  stehend          > 

4. 

» 

200  m 

» 

V,  knieend         > 

5. 

> 

200  m 

» 

V,  stehend         > 

6. 

> 

300  m 

> 

V,  liegend         » 

400  Jahresbericht  1899. 

Specielle  Bestimmungen  zu  5c: 

a.  In  jeder  Klasse  werden  bis  3  Probeschüsse  pro  Mann 

gestattet,  die  als  Kontrollschüsse  zn  notiren  sind. 
6.  Es  wird  mit  Bedingung   geschossen  —  in  fünf  auf- 
einanderfolgenden Schüssen  10  Punkte  auf  Scheibe  1, 
2  Treffer  auf  Scheibe  5.    Maximum    10  Schüsse  pro 
Uebung.  —  Vom  Bedingungsschiessen  kann  indessen 
unter    besondern    Umständen    mit    Zustimmung   des 
schweizerischen  Militärdepartements  Umgang  genom- 
men werden.     Es  ist  Schuss  für  Schuss  auzuzeigen. 
c.  Munition:    bis   auf  40  Patronen    für    das    Schiessen 
mit,   bis  auf  30  Patronen  für  das  Schiessen  ohne 
Bedingung ;    in   der  II.  Klasse  wird  zudem  für  zwei 
weitere   fakultative   Uebungen  die   nöthige  Munition 
vergütet. 
6)  Entfernungsschätzen     mit     geeigneten     Vorübungen 
(Messen,    Abschreiten)   und   mit    feldmässigem  Schätzen   bei 
wechselnden  Zielen  und  Strecken. 

7)  Zugschule  mit  Beschränkung  auf  folgende  Punkte: 
Bildung  der  Marschkolonne,  Herstellen  der  Linie ;  Aenderung 
der  Marschrichtung,  Entwicklung  zur  zerstreuten  Ordnung. 
—  Zusammenstellen  der  Gewehre. 

Art.  7. 
Für    den   Unterrichtskurs   sind   mindestens  50  Uebungs- 
stunden   einzustellen ;    in   dieser  Stundenzahl   sind   grossere 
Ausmärsche  und  die  Inspektionszeit  nicht  eingerechnet. 
Von  diesen  Stunden  entfallen: 

28  auf  Leibesübungen   und   Soldatenschule   ohne 

und  mit  Gewehr; 
16  auf  Gewehrkenntnis«,  Schiesslehre  u.  Schiessen ; 
3  auf  Entfernungsschätzen; 
3  auf  Zugschule. 

Zusammen  50  Stunden  im  Minimum  ohne  Inspektion. 

Obige  Stundenzutheilung  dient  indessen  lediglich  als 
Wegleitung. 

Art.  8. 
Die  Verbandsvorstände   sorgen   soweit   möglich    für   die 
Anordnung   von  Cadres-Instruktionskursen   vor  dem   Beginn 


Mititärwesen.  401 

der  Mannschaftskurse  und  für  eine  geordnete  Ueberwachung 
des  Unterrichts  im  Verlaufe  desselben. 

IV.  Inspektion  und  Kurs- Ausweis. 

Art.  9. 
Die  Verbände   haben   sich  am  Schlüsse  der  Unterrichts- 
kurse einer  Inspektion  zu  unterziehen,   für  welche  das  Mili- 
tärdepartement  den  Inspektor  bezeichnet. 

Art.  10. 
Als  Ausweis  für  die  Theilnahme  an  einem  Vorunterrichts- 
kursc  soll  das  Schiessheft  des  Mannes   gelten.    Dasselbe    ist 
bei  der  Stellung  zur  Rekrutirung,    sowie   beim  Einrücken  in 
die  Rekrutenschule  mitzubringen. 

Art.  11. 
Jünglinge,  welche  mindestens  zwei  Kurse  erfolgreich  be- 
standen haben,    sind,   im    Falle   von  Untauglicbkeit   für   die 
Feldarmee,    dem  bewaffneten  Landsturm    zuzutheilen,    sofern 
sie  für  diesen  als  tauglich  erscheinen. 

V.  Kosten. 
Art.  12. 

Das  Militärdepartement  genehmigt  die  Budgets  der  ein- 
zelnen Vor unterrichtskurse.  Es  leistet  an  die  Kosten  dieser 
Knrse  Beiträge  aus  dem  ihm  hiefür  von  der  Bundesversamm- 
lung jeweilen  zur  Verfügung  gestellten  Kredite. 

Beiträge  von  Kantonen,  Gemeinden  und  Privaten  finden 
in  erster  Linie  Verwendung  für  die  Anlegung  von  Hinder- 
nissbahnen, die  Entschädigung  des  Lehrpersonals  und  für 
Extraauslagen  bei  Ausmärschen  und  Inspektionen. 

Art.  13. 
Die  Verbände  haben  dem  Militärdepartement  vor  Beginn 
des  Kurses  ihr  Budget  und  30  Tage  nach  der  Schlussinspek- 
tion die  Kursrechnung  nebst  Jahresbericht  einzureichen. 

Art.  14. 
Der  Band  wahrt   sich   hinsichtlich   der   aus  seinen  Bei- 
trägen    angeschafften    oder    hergestellten    Gegenstände    das 
Eigentumsrecht,    und  es  sind  darüber  Inventarverzeichnisse 
anzulegen  und  nachzuführen. 

26 


402  Jahresbericht  1899. 

Unter  den  Problemen  der  nächsten  Zukunft  für  die  Aus- 
bildung des  schweizerischen  Militärwesens  ist  das  bedeutendste 
die  Einführung  neuer  Schnellfeuergeschütze,  nach 
dem  Muster  von  Deutschland  und  Frankreich,  die  damit  vor- 
angegangen sind,  worüber  wir  diesfillligen  Berichten  Fol- 
gendes entnehmen.  Die  Untersuchungen  sind  jedoch  noch  nicht 
abgeschlossen. 

«Im  Geschützkaliber  ist  Deutschland  auf  7,7  Centimeter 
herabgegangen  (früher  8,8),  Frankreich  noch  etwas  weiter 
auf  7,5  Centimeter.  Im  Zusammenhange  damit  hat  Frankreich 
ein  geringeres  Geschossgewicht. 

Beim  französischen  Feldgeschütz  kommt  neben  der  hydro- 
pneumatischen  Bremse  ausserdem  ein  Sporn  am  Lafetten- 
schwanz zur  Verwendung. 

Die  Franzosen  behaupten,  dass  ihre  Lafette  beim  Schiessen 
die  Stellung  auf  dem  Erdboden  unverändert  beibehält.  Regle- 
men tarisch  kommt  dies  derart  zum  Ausdruck,  dass  die  beiden 
am  Rohr  beschäftigten  Kanoniere  auf  seitlich  an  der  Aussen- 
wand  der  Lafette  angebrachten  Sitzbrettern  ihre  Verrichtung 
ausüben  und  hier  auch  beim  Schiessen  verharren.  Wenn  dies 
regelmässig  geschieht,  so  ist  es  jedenfalls  nicht  zur  Bequem- 
lichkeit der  Leute,  sondern  ihr  Gewicht  soll  den  Lafettendruck 
auf  den  Erdboden  vermehren,  der  bei  Rohrrücklauf  sonst  zu 
geringe  ist,  um  die  Lafette  festzuhalten.  Nebenbei  sind  diese 
Leute  in  der  sitzenden  Stellung  besser  gedeckt,  die  Franzosen 
wenden  nämlich  bei  ihrer  neuen  Feldlafette  stählerne  Schatz- 
schilde zur  Sicherung  dieser  Kanoniere  gegen  Gewehrfeuer 
und  Shrapnellkugeln  an,  diese  Schilde  sind  zu  beiden  Seiten 
der  Lafette  vorwärts  der  Achse  angebracht» 

Für  die  Erstellung  von  Unterkunftsräumen  in  den  Be- 
festigungen von  S  t.  M  a  u  r  i  c  e  wurden  Fr.  800,000  bewilligt. 
Dort  wurde  in  diesem  Jahre  auch  der  Versuch  einer  Allar- 
mirung  und  Mobilisation  des  gesammten  Auszugs,  Landwehr 
ersten  und  zweiten  Aufgebots  und  Landsturms  von  14  wal- 
lisischen und  waadtländischen  Gemeinden,  welche  der  Festung 
zunächst  liegen,  unter  der  Supposition  einer  von  französischer 


Milit&rwesen. 


403 


Seite  ausgehenden  Verletzung  der  schweizerischen  Neutrali- 
tät gemacht.  Die  Ordre  wurde  telephonisch  um  4  Uhr  Mor- 
gens gegeben,  die  ersten  Truppen,  ausser  der  Festungswach- 
mannschaft, langten  um  7  lfe  Uhr  in  Savatan  an,  die  letzten, 
aus  den  entferntesten  Gemeinden,  um  11  Uhr. 

Die  Entlastung  des  Militärbudgets  ist  ein  bestän- 
diges Postulat  auch  bei  uns.  Nach  einem  Berichte,  welchen  der 
Bundesrath  in  Folge  eines  Auftrages  der  Bundesver- 
sammlung abgab,  ist  jedoch  für  eine  nächstfolgende  Periode 
daran  kaum  zu  denken,  sondern  die  jährlichen  ordent- 
lichen Budgets  der  Militärverwaltung  werden  sich  bis  1903 
auf  der  nämlichen  Höhe,  wie  jetzt,  d.  h.  27  */a  Millionen 
Franken,  erhalten.  Erhebliche  Ersparnisse  könnten  nur  durch 
eine  Verminderung  der  Instruktionszeit  gemacht  werden, 
wovon  vernünftigerweise  nicht  die  Rede  sein  kann,  oder  all- 
fällig  durch  die  Beseitigung  des  Landsturms.  Wir  sind  un- 
sererseits im  Zweifel  über  die  grosse  Nützlichkeit  desselben, 
es  wird  sich  aber  schwerlich  gleichzeitig  auf  europäischen 
Congressen  die  Legalität  des  «Volkskriegs»  behaupten  und 
die  gesammte  vorhandene  Organisation  desselben  beseitigen 
lassen.  Im  Gegentheil  ist  die  erstere  These  nur  haltbar, 
wenn  man  den  Landsturm  noch  mehr  sogar  als  bisher  der 
ordentlichen  Heeresein  theilung  einzuverleiben  versteht. 

Die  «Gazette  de  Lausanne»  enthielt  über  diese  Sache 
die  folgende  richtige  Schlussbetrachtung,  welche  auch  ohne 
Zweifel  bei  der  Berathung  des  bundesräthlichen  Finanz-Be- 
richtes in  den  Kammern  die  durchschlagende  sein  wird.  Denn 
auf  Kosten  der  Wehrfähigkeit  des  Landes  zu  sparen,  das  ist 
wohl  nicht  die  ernstliche  Meinung  von  irgend  Jemand  im 
Lande,  und  wie  sich  ein  kleines  Volk  seine  Selbständigkeit  mit 
Aufbietung    aller  Kräfte  wahren    muss,    dafür  wird    uns  nun 


404  Jahresbericht  1899. 

noch  in  Südafrika  ein  schlagendes  Beispiel  gegeben    werden. 
Der  betreffende  Artikel  sagte: 

«II  reste  maintenant  ä  voir  ce  que  fera  l'Assemblee  fö- 
derale de  cet  exposä  du  gouvernement,  lorsqu'elle  se  räunira 
cn  septembre.  Etant  donnäes  la  proximite1  des  elections  ge- 
närales  et  les  deceptions  que  cansera  Pöchec  de  la  Conference 
de  La  Haye  sur  la  question  du  däsarmement,  on  peut  s'atten- 
dre,  de  la  part  d'un  certain  nombre  de  döputäs,  ä  de  violen- 
tes  diatribes,  sinceres  on  affectöes,  contre  le  fameux  moloch 
du  militarisme  et  sa  gloutonnerie  intolärable. 

Nous  avons  vu  ce  qu'il  en  fant  penser:  tandis  qne  de- 
pnis  1885  les  depenses  de  la  Confede>ation  ont  monte  de  46 
&  96^2  millions,  le  budget  militaire  n'a  participä  ä  cette 
ascension  que  pour  trois  millions  et  pour  des  cause«  absoln- 
nient  normales  dont  la  principale  est  l'accroissement  de  la 
popnlation.  Aussi  bien,  l'espoir  que  nourrissent.  certalnes 
personnes  de  pouvoir  trouver  dans  une  räduction  du  badget 
militaire  tout  ou  partie  des  huit  millions  necessaires  anx 
assnrances  devra-t-il  6tre  abandonnä.  La  majoritä  de  PAb- 
sembläe  föderale  se  rappellera  que  la  defense  nationale  est, 
de  par  la  Constitution,  le  but  premier  de  la  Conf6de>ation  et 
que  l'alliance  des  confäd&res  a  6t6  fondee  pour  «assurer  Tin- 
däpendance  de  la  patrie  contre  l'ätranger».  Elle  se  rappel- 
lera qne  les  droits  de  douane  dont  la  Confäderation  tirt 
aojourd'hui  de  si  abondantes  recettes  ont  6t6  institnes  a 
l'origine  precisäment  pour  snbvenir  aux  depenses  de  l'armäe. 
L'Assemblee  föderale  sait  d'ailleurs  que,  de  toutes  les  ad- 
ministrations  föderales,  celle  de  l'armäe  est  probablement  la 
plus  6conome.  Elle  sait  que  notre  6tat  militaire  est  fonde, 
avant  tout,  sur  le  patriotistne  et  les  sacrifices  de  temps  et 
d'argent  que  lui  fönt  les  citoyens  incorporäs  dans  l'armee. 
Qu'on  nous  dise  an  autre  pays  qui  puisse  se  procurer  des 
göneraux  de  corps  d'armee  et  de  division  pour  dixhuit  cents 
francs  par  an  et  des  commandants  de  brigade  et  de  rögiment 
pour  quelques  centaines  de  francs  de  solde.  Et  ainsi  de  suite, 
du  haut  en  bas  de  l'ächelle! 

Ces  jours  derniers,  la  presse  suisse  a  fort  approuve  le 
Conseil  föderal  d'avoir  donn6  pour  Instructions  &  ses  dälegues 


Inneres.    Revisionen  der  Bundesverfassung.  405 

ä  La  Haye  de  ne  laisser  contester  en  aucune  facon,  dans  le 
code  international  de  la  gaerre,  Je  droit  des  peuples  &  la 
levöe  en  inasse.  Elle  a  applaudi  aux  eloquentes  paroles  de 
M.  le  Colonel  Künzli  lorsqa'il  a  dit  aux  diplomat.es  reunis  ä 
la  Maison  dn  Bois  que  jamais  le  peuple  suisse  ne  consentirait 
ä  abandonner  ce  droit  qui,  chez  hu,  est  de  tradition. 

C'est  tres  bien.  Nous  aussi  nous  approuvons  et  applau- 
dissons  des  denx  mains.  On  peut  varier  d'opinion  sur  la  valeur 
miHtaire  de  la  leväe  en  masse  et  en  redouter  les  consequen- 
ces  horribles,  mais  ceci  demeure  que,  pacifique  et  neutre,  ne 
songeant  pas  ä  declarer  la  gaerre  &  qui  que  ce  soit,  la  Suisse 
ne  peut  coflsentir  ä  aueunc  Convention  quelconque  qui  affai- 
blisse  llmpulsion  de  son  peuple  au  jour  du  peril  ou  qui  l'en- 
trave  dans  sa  räsistance  ä  un  envahisseur. 

Mais  n'oublions  jamais  que  pour  6carter  le  danger  d'une 
invasion  toujours  possible  dans  la  Situation  strategique  qui 
nous  est  faite  au  centre  de  l'Enrope,  le  plus  sür  nioycn  est 
de  maintenir  notre  etat  militaire  sur  un  pied,  qui  inspire  ä 
tous  le  respect  et  qui  manifeste  clairement  notre  särieuse 
Intention  de  defendre  notre  sol.  Tonte  defaillance  äcet 
egard  serait  un  crime  envers  la  patrie.» 


II.   Inneres. 

Bundesverfassung.  Am  19.  April  (beziehungsweise 
29.  Mai)  ging  ohne  viel  Redens  darüber,  trotz  der  festsüch- 
tigen Zeit,  die  25.  Wiederkehr  des  Tages  vorüber,  an  welchem 
unsere  jetzige  Bundesverfassung  von  Volk  und  Kantonen  an- 
genommen, beziehungsweise  proklamirt  wurde,  während  sonst 
bei  jedem  nur  möglichen  Anlasse  « Jubiläen »  gefeiert  zu 
werden  pflegen  nnd  ein  solches  hier  nicht  ganz  unangebracht 
gewesen  wäre.  Denn  die  Schweiz  hat  doch  unter  dieser  Ver- 
fassung nicht  allein  ein  im  Ganzen  glückliches  und  geachtetes 
Dasein  geführt,  sondern  es  ist  auch  im  Laufe  dieser  Zeit  ge- 


406  Jahresbericht  1899. 

lungen  die  meisten  Fehler,  welche  in  dem  Kompromiss-Cha- 
rakter  derselben  begründet  lagen,  dnrch  nachträgliche  partiale 
Revisionen  auszugleichen.  Ja  es  sind  sogar  heftige  Gregner, 
z.  B.  der  Rechtseinheit,  die  damals  ganz  besonders  zur  Ver- 
werfung des  vorangegangenen  Entwurfes  (am  12.  Mai  1872) 
Veranlassung  gegeben  hatten,  wie  der  verstorbene  nachmalige 
Bundesrath  und  Chef  des  Justizdepartements  Ruchonnet,  ihre 
Freunde  und  Beförderer  geworden ,  während  wir  dama- 
lige «Centralisten»  jetzt  ungefähr  das  besitzen,  was  wir 
unter  grosser  Opposition  und  zuletzt  vergeblich  vertheidigt 
hatten.  War  das  nun  «weise  Mässigung»,  im  Jahre  1874  die 
Rechtseinheit  und  die  Militäreinheit  einstweilen  fallen  zu 
lassen,  um  des  augenblicklichen  Friedens  willen  und  weil  eben 
die  Zeitrechnung  der  Völker  eine  andere  und  auf  eine  andere 
Lebensdauerhaftigkeit  berechnet  ist,  als  die  eines  kurzen 
Menschenlebens  ?  Oder  war  es  allzu  rasche  Ermüdung,  wie  sie 
in  unserer  politischen  Geschichte  auf  zahllosen  Blättern  vor- 
kommt und  die  schönsten  Früchte  unserer  Tapferkeit  im  Felde 
oft  ungeerntet  Hess,  und  nicht  gerechtfertigt,  dass  eine  ganze 
Generation,  wenn  nicht  gar  eine  zweite,  ohne  die  Wohl- 
thaten  eines  einheitlichen  Rechtes  geblieben  ist  ? 

Die  Antwort  darauf  mag  verschieden  ausfallen,  ohne  dass 
man  die  eine,  oder  die  andere  tadeln  kann ;  immerhin  aber  ist  das 
grosse  Schweigen  am  19.  April  auch  eine  Antwort.  Eine  Liebe,  wie 
sie  der  in  mancher  Beziehung  mangelhaften  Konstitution  von 
1848  zu  Theil  geworden  ist,  wird  eben  einem  vielleicht  sehr 
vernünftigen  Vergleich  nicht  leicht  erblühen,  besonders  nicht, 
wenn  daran  beinahe  von  Jahr  zu  Jahr  geändert  wird,  so  dass 
die  Grundsätze,  welche  in  einem  Staate  den  Halt  für  die  Po- 
litik bilden  sollten,  stets  selber  mehr  oder  weniger  in  Frage 
stehen.    Es  ist  mit  den  Verfassungen  wie  mit  den  Mensche-n; 


Inneres.    Doppel-Initiative.  407 

die  sehr  Torsichtigen   nnd   klagen  erreichen  mitunter   mehr, 
aber  geliebt  werden  die  entschiedenen. 

Für  das  nächste  Jahr  und  den  Beginn  des  neuen  Jahr- 
hunderts zugleich  steht  nun  eine  Volks-  und  Kantonalabstim- 
mung über  die  Doppel-Initiative  betreffend  die  Einführung 
der  Proportional- Wahlen  für  den  Nationalrath  und  die  Volks- 
wahl des  Bundesraths  bevor,  wofür  während  des  ganzen  ersten 
halben  Jahres  eifrig  Stimmen  gesammelt  wurden.  Die  Ver- 
handlung der  Käthe  darüber  wird  mutmasslich  im  Juni 
1900  stattfinden  und  höchst  wahrscheinlich  ein  ablehnendes 
Resultat  für  beide  Initiativen  haben.  Von  der  Abtimmung 
im  Volke  und  der  Kantone  wird  jetzt  das  Nämliche  erwartet, 
seitdem  sich  die  Stimmung,  namentlich  für  die  Volkswahl  des 
Bundesrats,  die  ein  sehr  gefährliches  Experiment  wäre ,  be- 
reits bedeutend  abgekühlt  hat.  Hingegen  ist  die  Proporz-Frage 
durch  eine  Diskussion  in  Belgien,  wo  sie  durch  das  Ministerium 
Smet  prinzipiell  wieder  aufgenommen  wurde,  nachdem  das 
Ministerium  Vandenpeereboom  bloss  die  opportunistische  An- 
wendung des  Proporzes  für  einzelne  Wahlkreise  befürwortet 
hatte,  wieder  ein  wenig  belebter  geworden.  Für  die  Pro- 
portionalwahl wurden  64,478,  für  die  Volkswahl  des  Bundes- 
ratiis 56,031  gültige  Unterschriften  gesammelt. 

Die  Ansicht  der  weitaus  grösseren  Zahl  der  schweizer- 
ischen Parlamentsmitglieder  über  beide  Fragen  wurde  schon 
im  vorigen  t>ezember  in  einer  Partei  Versammlung  in  München- 
buchsee (nach  zwei  einleitenden  Referaten  von  Nationalrath 
Comtesse  und  dem  Herausgeber  des  Jahrbuches)  festgestellt 
und  wird  wohl  noch   vor  der  Verhandlung  publizirt  werden. 

Daneben  veröffentlichen  wir  in  den  Beilagen  ein  interessantes 
und  bisher  ganz  unbekannt  gebliebenes  Aktenstück  der  neueren 
schweizerischen  Geschichte,  welches  eigentlich  zu  dem  Brief- 


408  Jahresbericht  1899. 

Wechsel  Blösch's  in  die  Beilagen  zu  dem  Aufsatz  «Vor  fünfzig 
Jahren»  (Band  XI  des  Jahrbuchs)  gehört  hätte.  Wir  erhielten 
es  aber  erst  in  diesem  Jahre  durch  die  Freundlichkeit  des  Herrn 
Prof.  Dr.  Vogt  in  Zürich.  Es  ist  ein  autographirtes,  also  offenbar 
zu  grösserer  Verbreitung  bestimmtes  und  philosophisch  begrün- 
detes Verfassungsprogramm  von  Bluntschli  aus 
dem  August  1847,  unmittelbar  vor  dem  Sonderbundskrieg. 
Dasselbe  gehört  als  wesentliches  Dokument  in  die  schwei- 
zerische Geschichte  jener  bewegten  Zeit  und  enthält  offen- 
bar die  Ansicht  Derjenigen,  welche  glaubten  den  damaligen  hef- 
tigen Streit  noch  auf  dem  Vermittlimgswege  schlichten  zu  können. 
Die  Ereignisse  haben  diesen  höchst  begabten  und  ohne 
Zweifel  patriotisch-wohlmeinenden  Männern  des  damaligen 
«Centrums»,  wenn  wir  einen  seitherigen  Parteibegriff  in  jene 
Periode  verlegen  dürfen,  nicht  Becht  gegeben.  Es  wird  jetzt 
kaum  Jemand  es  ernstlich  bedauern,  dass  ein  Vergleich  auf 
diesen  Grundlagen  nicht  zu  Stande  kam,  sondern  die  Bundes- 
verfassung von  1848  an  die  Stelle  aller  solchen  Versuche  trat 
Offenbar  ist  das  bekannte  Gutachten  des  Grafen  Rossi 
von  1832  das  Vorbild  dieses  Entwurfes  gewesen,  aber  die 
Zeiten  sind  nicht  immer  die  gleichen  und  auch  dieser  Rossi'sche 
Entwurf  ist  nicht  zur  Ausfuhrung  gelangt.  Die  eigentliche 
Grundlage  von  allem  dem  ist  übrigens  der  Entwurf  von  Mal- 
maison,  worüber  das  Jahrbuch  Band  X  die  abschliessende 
Darstellung  von  Dr.  Strickler  nach  den  hierüber  neu  aufge- 
fundenen Papieren  enthält.  Zwischen  dieser  Verfassung  von 
Malmaison  und  der  sogenannten  zweiten  helvetischen  Verfassung 
von  1802  schwanken  seither  alle  unsere  Verfassungen ;  die 
jetzt  bestehende,  nach  den  letzten  Revisionsbeschlüssen  über 
die  Rechtseinheit  und  den  Rückkauf  der  Eisenbahnen,  geht 
sogar  in  einzelnen  Punkten  über  die  zweite  Helvetik  in  centrali- 
sirendem  Sinne  hinaus. 


Inneres.  Revisionen  der  Bundesverfassung.  Interpretationen.    409 

Die  Annahme  der  Proportionalwahl  und  der  Volkswahl 
des  Bundesrates  würde  eine  Totalrevision  der  Verfassung"  he* 
deuten,  denn  die  in  diesem  Falle  unterliegende,  wahrschein- 
lich sehr  grosse,  Minorität  würde  ein  solches  Resultat  mit 
einem  Antrag  auf  Totalrevision  erwiedern.  Dann  würde 
das  neue  Jahrhundert  mit  Verfassungskämpfen  heginnen,  ähnlich 
wie  sie  vom  7.  Januar  1800  bis  zum  19.  Februar  1803  statt- 
fanden, was  wir  einstweilen  weder  hoffen,  noch  voraussehen. 

Eine  weitere  eidgenössische  Verfassungsinitiative  wurde  in 
dem  Basler  Sozialistenorgan  «Vorwärts»  angekündigt,  um  den 
Artikel  70  über  die  Frera  denpolizei  zu  beseitigen. 
Es  ist  aber  einstweilen  nicht  wahrscheinlich,  dass  sich  die 
nöthige  Stimmung  des  schweizerischen  Volkes  auch  nur  zu 
dem  Versuche  einer  solchen  Abstimmung  findet. 

Eine  fernere  Initiative  wird  von  dem  Alkoholgegner-Bund 
zum  Zwecke  einer  Revision  des  Art.  31  der  Bundesver- 
fassung über  die  Gewerbe freiheit  beabsichtigt. 

Interpretationen  der  Bundesverfassung. 
Einige  besonders  bemerkenswerthe  Vorkommnisse  sind  die 
folgenden:  Der  Bundesrath  hat  eine  Beschwerde  gegen  die 
Regierungsrathswahlen  von  Zug  gutge* 
heissen,  wonach  eine  Verletzung  des  Artikels  4  der  Bundes- 
verfassung betreffend  den  Schutz  der  Rechtsgleichheit  dann 
besteht,  wenn  entweder  ein  «Willkürakt»,  d.  h.  eine  «ob- 
jektiv in  keiner  Weise  gerechtfertigte  Massnahme»  vorliegt, 
oder  eine  «rechtsungleiche  Behandlung»,  d.  h.  «wenn  unter 
völlig  gleichen,  oder  doch  wesentlich  gleichen  Verhältnissen 
verschiedene  Verfügungen  getroffen  werden  und  zwar  so, 
dass  einer  der  Gleichberechtigten  dadurch  in  seiner  Rechts* 
Stellung  gegenüber  dem  andern  ohne  rechtlichen  Grund 
hintangesetzt  wird».    Dieser  Entscheid;   der   sich   auch   auf 


410  Jahresbericht  1899. 

Anwendung  kantonaler  Gesetze  durch  kantonale  Behörden 
beziehen  kann  und  hier  thatsächlich  bezieht,  ist  offenbar  die 
Nachwirkung  des  Rekurses  Merinond  und  geeignet,  in  dieser  oft 
bestrittenen  Frage  endlich  einmal  festes  Recht  zu  schaffen 
(BBlatt  1899,  Nr.  30). 

Anlässlich  eines  in  der  Sitzung  des  Nationalraths  Tom 
29.  Juni  dieses  Jahres  gerügten  Vorfalles  wurde  als  Regel 
vom  Bundesrathe  beschlossen  und  allen  Departementen  mit- 
getheilt : 

1)  Es  sei  in  allen  denjenigen  Rechtsstreitigkeiten,  in  denen 
der  eidgenössische  Fiscus  von  Schweizerbiirgern, 
die  in  der  Schweiz  wohnen,  vor  kantonalen  Gerichten 
belangt  wird,  der  mit  der  Vertretung  des  ersteren  be- 
vollmächtigte Anwalt  anlässlich  der  Prozessinstruktion 
anzuweisen,  von  dem  Rechte  auf  Stellung  eines 
Kaution sbegehrens  keinen  Gebrauch   zu   machen. 

2)  Es  sei  dieses  Verfahren,  ausgenommen  in  Fällen,  in 
denen  ein  insolventer  Klager  einen  offensichtlich  trole- 
rischen  Anspruch  gegen  die  Eidgenossenschaft  erhebt, 
von  sämmtlichen  Departementen  zu  beobachten. 

In  Auslegung  des  öfter  bestrittenen  Artikels  1, 
Ziffer  5,  derMilitärstrafgerichtsordnung  wurde 
in  einem  Falle  erklärt,  dass  unter  «dienstlichen  Obliegen* 
heiten»,  deren  Verletzung  militärische  Kompetenz  auch  gegen- 
über nicht  im  Dienst  Befindlichen  nach  sich  zieht,  der  dienst- 
liche Verkehr  mit  militärischen  Vorgesetzten  m Einbegriffen  sei. 

In  Abweichung  von  der  früheren  Praxis  hat  der  Bundes- 
rath  erkannt,  dass,  wenn  einem  Familienvater  die  Bewilli- 
gung zur  Erwerbung  des  Schweizerbürgerrechts  ertheilt 
wird,  diese  für  dessen  minderjährige  Kinder  nur  dann  gilt,  wenn 
der  Vater  selbst  sich  einbürgern  lässt.  Wenn  Minderjährige 
unabhängig  von   ihren  Eltern  das  Schweizerbürgerrecht  er- 


Inneres.    Interpretationen  aus  dem  Bundesrecht.  411 

werben  wollen,  so  Ist  eine  besondere  Bewilligung  beim  Bun- 
desrathe  einzuholen. 

Die  Appellationskammer  des  Obergerichts  Zürich  hat  die 
Reproduktion  der  Stückelberg'schen  Fresken  in  der  Teils- 
kapelle  in  graphischer  Vervielfältigung  als  zulassig  erklärt, 
da  die  Teilskapelle  ein  «öffentlicher  Platz»  sei.  Damit  wurde 
die  Schadenersatzforderung  der  Firma  Benziger  in  Einsiedeln 
gegen  die  Lithographie  Schlumpf  in  Winterthnr  wegen  Er- 
stellung von  Ansichtspostkarten  nach  Aquarellen  der  Kläger 
abgewiesen. 

In  Bezug  auf  die   stets  etwas   schwierige    H  a  u  s  i  r  - 

Gesetzgebung   wurde   von   dem  Bundesrath  auf  eine 

Anfrage  des  Kantons  Graubünden  folgende  Ansicht  geäussert: 

«Da  die  Gesetzgebung  über  das  Hausirwesen  Sache  der 
Kantone  ist,  so  steht  ihnen  nach  jener  Antwort  das  Eecht 
zu,  Ton  Gesetzes  wegen  die  Ertheilung  von  Hausirpatenten  an 
deutsche  Reichsangehörige  von  der  Bedingung  ihrer  Nieder- 
lassung in  der  Schweiz  abhängig  zu  machen.  Die  gegen- 
wärtige Strömung  gegen  das  Hausirwesen  in  der  Schweiz 
wird  natürlich  die  Kantone  zur  Revision  der  Hausirgesetz- 
gebnng  im  Sinne  jener  Erschwerung  veranlassen.  —  Die 
neueste  deutsche  Gesetzgebung  enthält  über  den  «Gewerbe- 
betrieb der  Ausländer  im  Umherziehen»  (Hausirhandel)  u.  a. 
folgende  Bestimmungen:  1.  Ausländer,  welche  ein  Gewerbe 
im  Umherziehen  betreiben  wollen,  bedürfen  eines  Wander- 
gewerbescheines ...  4.  Die  Ertheilung  eines  Wandergewerbe- 
scheines ist  zu  versagen,  wenn  ein  Bedürfniss  zur  Ausstellung 
von  Wandergewerbescheinen  für  Ausübung  des  betreffenden 
Gewerbes  im  Bezirke  der  Behörde  nicht  besteht,  oder  sobald 
für  das  Gewerbe,  für  welches  der  Schein  nachgesucht,  wird, 
die  den  Verhältnissen  des  Verwaltungsbezirkes  der  Behörde 
entsprechende  Anzahl  von  Wandergewerbescheinen  ertheilt 
oder  ausgedehnt  worden  ist  .  .  .  7.  Der  Mangel  eines  festen 
Wohnsitzes  im  Inlande  ist  Ausländern  gegenüber  als  ein 
Grand  zur  Versagung  des  Wandergewejbescheines  oder  zur 
Versagung  der  Ausdehnung  desselben  nicht  anzusehen.» 


412  Jahresbericht  1899. 

Iu  einem  Basler-Rekurs  betreffend  Tragweite  und  Ver- 
bindlichkeit eines  Initiativ-Begehrens  wurden 
von  dem  Bandesgerichte  folgende  Ansichten  als  richtig  gut- 
geheissen : 

«Im  Juni  1895  haben  2111  Stimmberechtigte  beim  Grossen 
Rath  des  Kantons  Baselstadt  das  Begehren  um  Ersetzung  des 
bisherigen  Wahlgesetzes  mit  Einführung  des  Proportional- 
gesetzes eingereicht.  Nach  Ablehnung  des  Begehrens  durch 
den  Grossen  Rath  wurde  dasselbe  in  der  Volksabstimmung 
angenommen.  Darauf  wurde  vom  Grossen  Rath  ein  neues 
Gesetz  ausgearbeitet.  Gegen  dieses  Gesetz  ergriffen  Kündig 
und  Genossen  den  staatsrechtlichen  Rekurs  an  das  Bundes- 
gericht, mit  der  Begründung,  das  Initiativbegehren  verlange 
einen  Ersatz  des  Wahlgesetzes  von  1893.  Statt  dessen  habe 
der  Grosse  Rath  ein  Gesetz  über  Wahlen  und  Abstimmungen 
erlassen;  endlich  bringe  er  den  Grundsatz  des  Stimmzwanges 
in  dasselbe  hinein.  Das  sei  verfassungswidrig.  Der  in  der 
Initiative  kundgegebene  Wille  müsse  respektirt  und  es  dürfe 
nicht  über  denselben  hinausgegangen  werden.  Der  Grosse 
Rath  müsse  angehalten  werden,  ein  dem  Willen  der  Initianten 
entsprechendes  Gesetz  auszuarbeiten  und  könne  bezüglich 
des  Stimmzwanges  oder  der  Ausdehnung  des  Proportional- 
wahlsystems auf  andere  als  auf  die  Grossrathswahlen  eine 
besondere  Vorlage  ausarbeiten.» 

In  Erledigung  einer  Anfrage  wird  erwidert,  dass  der 
Bundcsrath  zu  wiederholten  Malen  den  Art.  8  Abs.  1  des  Al- 
koholgesetzes dahin  interpretirt  hat:  die  in  diesem  Artikel 
als  Minimalgrenze  des  Grosshandels  in  gebrannten  Wassern 
zugestandenen  40  Liter  dürfen  nicht  aus  verschiedenen  Sorten 
zusammengesetzt  werden,  sondern  nur  aus  einer  und  derselben 
Sorte  bestehen.  Die  Lieferung  von  30  Liter  Absinth  und 
30  Liter  Kirsch  gilt  also  nicht  als  Gross-,  sondern  als  Klein- 
handel, auch  wenn  diese  Lieferung  unter  einer  Faktur  und 
unter  einem  Frachtbriefe  zur  Ausführung  gelangt. 

In    einer    Beschwerdesache    der    Firma   E.  Dreyfus    in 


Inneres.    Interpretationen  aus  dem  Bundesrecht.  413 

St.  Gallen  erklärte  der  Bundesrat!!  «unter  Hinweis  auf  die 
Erwägungen  der  bundesräthlichen  Entscheidung  vom  1 9.  Au- 
gust 1898  in  Sachen  F.  Jelmoli  kann  ohne  weiteres  fest- 
gestellt werden,  dass  die  Kantone  im  Hinblick  auf  Art.  31 
litt,  e  der  Bundesverfassung  befugt  sind,  freiwillige  Aus- 
verkäufe jeglicher  Art,  also  auch  «sogenannte  Reklamc- 
Gelegenheits-  und  andere  vorübergehende  Massenverkäufe  zu 
reduzirten  Preisen»  an  eine  Patenttaxe  zu  knüpfen». 

In  Bezug  auf  das  Schächtverbot  (Art.  25  B.-V.) 
wurde  vom  Bundesrath  die  Einfuhr  geschächteten  Fleisches 
als  durchaus  zulässig  erklärt  (Bbl.  1899,  Nr.  8). 

Ueber  die  Civilstandsregister-Auszüge  bei  E  h  c  v  e  r  - 
kündungen  wurde  in  Bbl.  1899,  Nr.  19,  ein  Kreis- 
schreiben an  die  Kantone  erlassen. 

Ueber  die  ausnahmsweise  Samstags-Abstimm- 
u  n  g  der  Angestellten  von  TranBportanstalten  etc.,  welche 
die  Rflthe  in  dem  Rekurse  Lurati-Moroni,  entgegen  der  An- 
sicht des  Bundesrathes,  erlaubt  hatten,  wurde  in  neuerer  Zeit 
durch  ein  Kreisschreiben  die  Meinung  der  Kantone  eingeholt. 
Dieselben  scheinen  in  ihrer  Mehrheit  diese  Ansicht  zu  theilen. 

In  der  Junisitzung  der  Bundesversammlung  wurde  der 
Bundesrath  ersucht,  für  eine  bessere  Ordnung  in  den  Heimat- 
schriften der  zahlreich  in  der  Schweiz  aufhältlichcn 
Italiener  besorgt  zu  sein.  Der  Bundesrath  nahm  die  Motion  in 
dem  Sinne  an,  dass  er  durch  einen  Zusatzvertrag  mit  Italien 
möglichst  für  die  Herstellung  der  Identität  der  Träger  dieser 
Schriften  sorgen  will,  dagegen  lehnte  er  die  Einführung  von 
Leumundszeugnissen  (wie  sie  bloss  gegenüber  Deutschland 
und  Liechtenstein  bestehen)  als  ziemlich  unnütz  ab  und  sprach 
sich  auch  gegen  die  Beregung  einer  allgemeinen  «Italiener- 
frage »  aus. 

In  einer   der   nächsten   Sitzungen   der   Bnndesversamin- 


414  Jahresbericht  1899. 

lang  wird  die  Verfassungsmässigkeit  des  sogenannten  « pe  tits- 
che vaux«  -Spieles,  das  in  verschiedenen  sogenannten 
«Kursäälen*  der  Schweiz  unter  verschiedenen  Formen  vor- 
kommt, in  Frage  gestellt  werden.  Ein  sonst  tüchtiger  Offi- 
zier der  schweizerischen  Armee  wurde  vor  Kurzem  straf- 
rechtlich verurthcilt,  und  es  zeigte  sich  dabei,  dass  er  ihm 
anvertrautes  Geld  seiner  Untergebenen  in  erheblichen  Be- 
trägen in  dem  Luzerner-Kursaal  verspielt  hatte.  Es  wird 
hoffentlich  nicht  nöthig  sein,  dass  solche  Vorkommnisse  sich 
noch  mehren,  um  hier  Wandel  zu  schaffen.  Andernfalls 
würde  es  noch  besser  sein,  wenigstens,  wie  früher  in  Saxon, 
nur  Eine  offene  Spielanstalt  in  der  Schweiz  zu  toleriren,  die 
leichter  überwacht  und  reglementirt  werden  kann.  Ohne 
Zweifel  aber  wird  sich  der  Spielteufel  noch  für  seine  Insti- 
tutionen wehren. 

Die  von  uns  wiederholt  berührte  Angelegenheit  Civry 
wurde  in  diesem  Jahre  definitiv  zu  Gunsten  der  Stadt  Genf, 
als  Testamentserbin  des  Herzogs  Carl  von  Braunschweig,  er- 
ledigt und  die  Ansprccher  abgewiesen,  da  sie  nicht  im  Stande 
gewesen  waren,  die  Eigenschaft  ihrer  Erblasserin  Elisabeth 
Wilhelmine  de  Civry  als  einer  anerkannten  natürlichen 
Tochter  des  verstorbenen  Diamantenherzogs  nachzuweisen. 

Kantonsverfassungen.  Der  grössere  Theil 
der  hierin  vorgekommenen  Aenderungen  ist  wie  gewöhnlich 
unbedeutender  Natur  und  enthalt  keine  bemerkenswerthen 
Grundsatze. 

Es  sind  dies  Partialrevisionen  von  Genf  vom 
29.  Oktober  1898  betreffend  die  öffentliche  Armenunterstütz- 
ung; Zürich  vom  5.  Dezember  1898  betreffend  die  Organi- 
sation des  Regiernngsrathes  ;  A  a  r  g  a  u  vom  19.  Mai 
1899    betreffend   die  Mindestbesoldung  der  Volksschullehrer ; 


Inneres.    Kantons  Verfassungen.    Statistisches.  415 

G  1  a  r  u  s  vom  7.  Mai  1899  betreffend  die  Organisation 
des  Kriminal-  nnd  Polizeigerichts  und  vom  1.  November  1898 
betreffend  Verwandte,  die  nicht  in  der  gleichen  Behörde 
nebeneinander  sitzen  sollen.  "" 

Eine  bedeutendere  Tragweite  hat  bloss  die  neue 
Sckwyzer-  Verfassung  vom  23.  Oktober  1898,  welche 
die  Proportionalwahl  für  12  Wahlkreise  des  Grossen  Raths 
einfuhrt,  wogegen  18  das  Mehrheitssystem  beibehalten.  Dass 
diese  12  mit  der  Proportionalwahl  beglückten  Gemeinden 
lauter  grössere  sind,  in  welchen  bei  der  bisherigen  Mehrheits- 
wahl vorzugsweise  nicht  gouvernementale  Kantonsräthe  ge- 
wählt wurden,  scheint  nicht  ganz  zufällig  zu  sein  und  er- 
innert diese  Massregel  damit  an  die  sogenannte  Disraelische 
Wahlreform  in  England,  die  nun  aber  längst  durch  die  Glad- 
stone'sche  Reform  wieder  aufgehoben  ist.  Der  Bundesrath 
findet  die  Anwendung  verschiedener  Wahlsysteme  in  dem 
gleichen  Kanton  nicht  unzulässig ;  es  wird  sich  bei  dem  Re- 
kurse an  die  Bundesversammlung,  welcher  gegen  seinen  Ent- 
scheid (Bbl.  1899,  Nr.  34)  ergriffen  worden  ist,  wesentlich, 
wie  im  Rekurs  gegen  die  Regierungsrathswahlen  von  Zug, 
fragen,  ob  in  dieser  Bestimmung  des  Artikels  26  der  neuen 
Verfassung  eine  Willkürlichkeit  liegt,  die  zu  politischen 
Zwecken  von  der  Mehrheit  gegen  die  Minderheit  eingeführt 
werden  will,  um  bloss  in  den  der  letzteren  wesentlich  an- 
gehörenden Wahlkreisen  die  Stimmen  zu  spalten,  in  den  an- 
deren hingegen  nicht.  Insofern  ist  diese  Sache  auch  ein  et* 
welches  Vorpostengefecht  für  die  grosse  Frage  einer  Einführung 
der  Proportional  wähl  bei  den  Nationalrathswahlen,  deren  Be- 
sprechung in  den  Eidgenössischen  Räthen  wohl  kaum  noch 
in  diesem  Jahre  erfolgen  wird. 

Die    Statistik    wird  im   nächsten  Jahre  durch  die 
dann  vorzunehmende  Volkszählung  (die  letzte   fand    ausser- 


416  Jahresbericht  1899. 

ordentlicher  Weise  schon  1888,  statt  1890  statt)  eine  neue 
Grandlage  für  viele  ihrer  Resultate  gewinnen;  doch  werden 
dieselben  bis  zum  Erscheinen  des  nächsten  Jahrbuches  nur 
theilweise  bekannt  seilt.' 

Im  Anschluss  an  die  eidgenössische  Volkszählung  vom 
Dezember  1900  wird  eine  Gewerbezählung  und  zu  ihrer  Er- 
gänzung eine  Gewerbeenqnete  durchzuführen  sein.  Diese  Er- 
hebungen haben  sich  auch  auf  die  Hausindustrien,  das  Han- 
delsgewerbe und  die  Landwirthschaft  zu  erstrecken,  jedoch 
nicht  auf  die  Forstwirtschaft ;  ebenso  bleiben  die  Verkehrs- 
gewerbe der  Eisenbahnen  und  Dampfschiffe,  der  Post  und  des 
Telegraphen  von  denselben  ausgeschlossen. 

Ueber  die  gegenwärtigen  Verhältnisse  vor  dieser  neuen 

Volkszählung  enthält  der  stets  sehr  sorgfältig  ausgearbeitete 

Bericht  des   schweizerischen   Handels-   und   Industrievereins 

folgende  besonders  bemerkenswerthe  Zahlen: 

Die  Schweiz  hat  einen  Flächeninhalt  von  41419 
Quadratkilometern.    Davon  waren  im  Jahr  1877 : 

Produktives   Land 

Aecker,  Wiesen,  Weiden,  Gärten 21  291  km2. 

Wald       8  065    > 

Rebland 329    > 

Total:  71, 7  °/0  des  Gesain  rat-Areals     29  685  knr-. 

Unproduktives  Land 

Felsen,  Schutthalden  u.  s.  w.,  Wege       ...  8  044  km2. 

Gletscher 1  839    » 

Seen  und  fliessende  Gewässer 1  678    > 

Städte,  Dörfer,  Gebäude 173    » 

Total:  28,8  °i0  des  Gesammt -Areals     11  734  km. 

Die  Schweiz  zählte  Einwohner  am  1.  Dezember (1860 
am  10.): 

1860  1870  1880  1888 

Wohnbevölkerung  2  510  494    2  655  001    2  831  787    2  917  754 


Innen».    Statistisches, 


417 


Ausländer  wohnten  in  der  Schweiz: 


1860                 1870 

1880 

1888 

114  983           150  907 

211,035 

229  650 

(4,6°/o)               (5,7°/o) 

(VW 

(V/o 

) 

Davon  waren: 

1860 

1870 

1880 

1888 

Deutsche      ....     47  792 

57  245 

95  262 

112  342 

Franzosen     ....     46  534 

62  228 

53  653 

53  627 

Italiener       ....     13  828 

18  073 

41  645 

41  881 

Oesterreicher  u.  Ung.       3  654 

5  872 

12  735 

13  737 

Ueber  seeische  Auswanderung  Es  wanderten  aus 

Personen : 

1880        1885         1890         1895        1896         1897         1898 
7  255       7  583       7  712       4  268       3  330       2  508       2  288 

Die  Schweiz  zahlte  im  Jahre  1888  3185  Gemeinden, 
davon  folgende  mit  mehr  als  10  000  Einwohnern  (Wohnbe- 
völkerung) : 


Zürich   (im  jetz 
Basel 

igen  U 

mfang) 

90  088 
,    69  809 

Genf 

52  043 

Bern 

46  009 

Lausanne 

,     33  340 

St.  Gallen 

27  390 

Chaux-de-fonds  . 

25  603 

Luzern    . 

.     20  314 

Neuenburg 
Winterthur 

16  261 
,     15  805 

Biel 

.     15  289 

Herlsau  . 

.     12  937 

Schaffhausen 

.     12  315 

Freiburg 

Plainpalais 

Locle 

.  12  195 
.  11911 
.     11  226 

27 


418 


Jahresbericht  1899. 


Die  Gesammtbevölkerung  vertheilte  sich  folgendermassen 
auf  die  Beruf sklassen: 


Berufsklassen 


1870 


absolut 


in 

% 


1880 


absolut 


in 

°/o 


1888 


absolut 


in 


0/ 


10 


963,578 
175,912 

62612 


A.  Gewinnung  der  Natur- 1; 
erzeugnisse  .    .    .    .1,145,719 

B.  Veredlung  der  Natur 
und  der  Arbeitserzeug- 
nisse     

C.  Handel     ..... 

D.  Herstellung  von  Ver- 
kehrswegen, Verkehr 

E.  Allgemeine  öffentliche 
Verwaltung,  Rechts- 
pflege ,  Wissenschaft, 
Kunst 

F.  Nicht  genau  bestimm- 
bare   Berufstätigkeit 

G.  Personen  ohne  erkenn- 
bares Verhältniss  zu 
einem  Beruf     .    .    . 


Gesammtbevölkerung 


113,580 
18,248 


189,498 


2,689,147 


43 


36 
7 


4j 
1 


1,154,163 


1,075,330 
205,605 

114,715 


121,914 
17,463 

156,912 


100  2,846,102 


40 


7 
4 


4 
1 


38 1,074,589 
213,607 


1001 


1,133,865 


127,996 

127,426 
28,539 

211,832 


39 


37 


12,917,754 


4 
1 

_7 
100 


Münzen  und  Banknoten.    Bis  Ende  189  8  waren  an 
Münzen  eidgenössischen  Gepräge   dem  Verkehr  übergeben: 

Fr. 
Gold: 

2  550  000  Zwanzigfrankenstücke  im  Nennw.  v.  51  000  000 

Silber : 

2  126  000  Fünffrankenstücke  im  Nennwerth  v.  10  630  000 

5  700  000  Zweifrankenstücke  >  >  >    11  400  000 

10  600  000  Einfrankenstücke     >  »  >    10  600  000 

8  400  000  Halbfrankenstücke  >  »  »      4  200  000 

Nickel: 

16  000  000  Zwanzigrappenstücke   im  Nennw.  v.  3  200  000 

21  500  000  Zehnrappenstücke         >  >         »  2  150  000 

30  500  000  Fünfrappenstücke         >  >         »  1  525  000 


Innerei.  ;  Statistisches. 


419 


Kupfer : 
20  986  700  Zweirappenstücke  im  Nennwerth   v. 
38  050  000  Einrappenstücke       »  >  » 


419  734 
380  500 


156  412  700  Stücke  im  Nennwerthe  von  95  505  234 

Die  effektive  ßanknoten-EinisBion  der  schweizerischen 
Emissionsbanken  hat  betragen  im  Durchschnitt  der  Jahre 
1894  1895  1896  1897  1898 

Fr.    180585000  185&34000  197310000  207353000  219693000 
Entwicklung  des  Sparkassenwesens. 
'  1835  1862  1882  1895 

Sparkassen  100  235  487  557 

Einleger  60  028         355  291         746  984      1196  540 

>  auf 

100  Einw.  3  14  26  40 

Guthaben  der 

Einleger  Fr.  17  000  000  132  000  000  514  000  000  894  000  000 
Guthaben  auf 

1  Einw.    Fr.  8  53  181  296 

Versicherungswesen. 
Gesämmtbeträge  für  die  schweizerischen  Versicherten 

in  Millionen  Franken. 


Veraichenmgs- 
zweige 


Versieh.  Kapitalien 
auf  Ende 


1895 


1896  i  1897 


Bezahlte  Prämien 


1895     1896     1897 


Leben     

Unfall 

Feuer 

a)  kantonal      .    . 

b)  privat     .    .    . 

Glas 

Schaden  durch  Was- 
serleitungen    .    . 

Vieh  (Privat-Gesell- 
schaften).    .    .     . 

Hagel 

Transport   .... 


554,0 


4615,6 
5723,2 

4,8 

54,1 

3,9 

29,8 


580,6 


4800,8 

5842,8 

5,5 

57,9 

5,0 
34,3 


606,4 

19,77 
5,87 

20,79 
7,22 

4993,5 

6009,7 

6,0 

5,98 
7,94 
0,13 

5,77 
7.59 
0,14 

60,0 

0,02 

0,02 

6,0 
33,6 

0,16 
0,58 
1.48 

0,21 
0,72 
1,56 

Leben:    Versicherte  Renten    auf  Ende    1895:    2,06; 
2,17;  1897:  2,09  Millionen  Franken. 
,       Eingezahlte    Rentenkapitalien     1895:    2,25; 
2,68;  1897:  2,24  Millionen  Franken. 


22,10 
7,90 

6,07 
7,51 
0,16 

0,02 

0,24 
0,70 
1,47 

1896: 

1896: 


Jahresbericht  1899. 


G        BBC 

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B    3' 


Inneres.    Statistisches. 


421 


b.  Drahtseilbahnen  und  Tramways. 


Betriebs- 
länge,  i  11  km 

1893 

i 

i 

1894 

1895 

1896 

1897 

6lj 

82 

89 

110 

149 

Beförderte 
Personen 
auf  1  km 

1 

I 

212  930, 

i 

1     198  055 

234471 

228059 

210233 

Beförderte 
Personen 
im  Ganzen 

12  988  736 

16240500 

20  867  934 

25  086  510  31  324  695 

Dwm:  Stadt 
Z&rieh .    .    . 

4452017 

6077  895 

7027877 

7  604146 

8301019 

Telegraph. 


Linienlänge,in  km 
Drahtlänge,  in  km 
Bnreaux     .    .    . 
Personal     .    .    . 
Telegramme : 
Interner  Ver- 
kehr :  Versandt 
Verkehr  mit  dem 
Ausland:  Ver- 
sandt u.  Empfg. 
Transitverkehr . 
Einnahmen     .    . 
Ausgaben  inklus 
Amortisation     . 


1894 


7  203 

20092 

1579 

2253 

1 818  827 


l  301  376 

526  537 

12  905  378 


3  619  88 


i 


1895 


7153 

20132 

1668 

2  328 


1810  338 


1442117 

554  957 

2  797 


080i2 


1896 


714^ 

20  303 

1866 

2  605 


1897 


7102 

20  650 

1997 

2  785 


174101811665  333 


1  441  556! 
527  1841 

813  9441 

B  667  927 12  597  679i 


1  487  793 
576  068 

2  832  607 

2  671 845 


1898 


7144 

21083 

2  039 

2  871 


1684  719 


1569  071 

566  530 

2  921  1 13 

2  906  149 


422 


Jahresbericht  1899. 


Telephon. 


Linicnlänge, 
in  km    . 

Draht  länge, 
in  km    . 

Netze  .    . 

Stationen . 

Abonnenten  . 

Lokalgesprä- 
che  .    . 

Interurbane 
Gespräche . 

Phono- 
gramme 

Vermittelte 
Telegramme 

Einnahmen 

Erstellungs- 

m  kosten   . 

Übrige  Aus- 
gaben inkl. 
Amortisat.. 


1894 


7844 

41153 

189 

19  814 

17192 

9  981 031 

1  684  922 

5  251 

183  884 
3113  974 

1 176  289 


2  705  769 


1895 


8  911 

53076 

225 

23  446 

20  535 

12  402  040 

2  212  707 

4  879 

208  792 

3  296  367 

1 261  350 


2  938  894 


1896 


10  500 

73  98Q 

252 

28198 

25  090 

13  436  918 

2  729  070 

4  608 

212  184 
4  333  540 

2448478 
4348  481 


1897 


1898 


11865 

76  593 

276 

32  252 

28  846 

i 

15  619  172 

3  377  763 

4343 

226  670 
5,054  582 

2  625  720 

4  840  896 


12065 

87  483 

288 

35536 

31918 

16  091  971 

3  634244 

4  018 

239  343 
5364  049 

2286  745 
5  364  049 


Staatsrechnung  und   Vermögen  des  Bundes. 


Ein- 

Ausgaben 

!  Brutto- 

Staats- 

iNrttO- 

nahmen 

j  Vermögen 

schuld 

Vennögen 

Fr. 

Fr. 

Fr. 

Fr. 

Fr. 

1850 

10 166  870 

10  080  535 

,  12  484  754 

4  868  354 

7  616  400 

1860 

21  685  566 ; 

21913  766  13  241063 

4  925  370 

8315  693 

1870 

21906  816 

30  905  446  19  816  885 

21  396  647 

1  579  762 

1880 

42  511848 

41  038  227 

44  275  608 

37  442  029 

6  833579 

1890 

67  621  251 

66  688  381 

108  451117 

71112031 

37  339085 

1891 

69  041  928 

73  012  038  ,  97  521894 

60  964  575 

36  557  319 

1892 

74  454  062 

84  739  868  '  99  302014 

64  579  678 

34  722  336 

1893 

78  226  526 

86  301  439  95  855  803 

64  546  831 

31  308  972 

1894 

84  047  312 

83  675  812 

136  835  813 

85  203  586 

51  632  227 

1895 

81  005  586 ! 

76  402  63t  144800184 

83  889  439 

60  910  745 

1896 

87  262  389 , 

79  559  657  ;  155  041 545 

80  870  764 

74 170  782 

1897 

91 556  543 '  87  317  364 

1 161  854  827 

83  891688 

77  963140 

1898 

95  277  454 

94  109  943 

i       i 

169  700564 

84  392  065 

85  308  498 

Inneres.    Statistisches. 


423 


Verkehr  mit 
den  4  Grenz- 
lindern    .     . 

Verkehr  mit 
dem  übrigen 
Europa    .    . 

Europa      .    . 
Afrika       .    . 
Asien    .    .    . 
Amerika    .    . 
Australien 
Unbestimm- 
bar     .    . 

Ausserdem : 
gemünzte 
Edelmetalle . 

Einfuhr 

Ausfuhr 

1887 

1888 

1887 

1898 

715476  321 
182  342  994 

740  657  419 
170  701 652 

339  464  754 
221094684 

357  974  854 
228  768  585 

897  819  315 

12  895  438 

38480101 

77  001 063 

5023  638 

911359051 

13465  210 

36  652300 

98  005  579 

5905  520 

560  559  438 

6  020  733 

29  915  769 

90  400383 

2  930  422 

3  346  308 

586  743  439 

5  776  826 

32  170  752 

92  525  877 

3323404 

3  245  442 

1031 219  555 

1065  387  660 

693 173  053 

723  785  740 

83222542 

88934  831 

54  263  433 

57  596  958 

Der  Zuwachs  bei  den  Versicherungs-Gesell- 
schaften der  Schweiz  beträgt : 
i.  J.  1890    Fr.  13  359  772  oder  51,2  °/0  des  Brutto-Zugangs 


„  „  1891 

„11  800  772 

» 

56/0  „ 

„  „  1892 

„  13  692  085 

»> 

46,4  „ 

V    „     loUu 

„  12  989  738 

»J 

43,7  „ 

„  „  1894 

„  17  229  984 

» 

53,4  „ 

„  „  1895 

„  17  511  463 

M 

51,j  „ 

.,  „  1896 

„  18  218  305 

J» 

52*  „ 

„  „  1897 

„  18  212  098 

J) 

52l4  „ 

i)  „  1898 

*  20  707  558 

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91 


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Die  Steigerung  des  Bein-Zuwachses  rührt  zum  Theil 
toü  der  Betriebsamkeit  der  Anstalten  her,  zum  Theil  von 
der  zunehmenden  Einsicht  des  Publikums  in  die  Vertrauens- 
würdigkeit der  schweizerischen  Lebensversicherungsgesell- 
sc  haften. 


424  Jahresbericht  1899. 

Der  Werth  des  Vi  eh  Standes  unseres  Landes  betrug  im 
Jahre  1896:  592,4  Millionen  Franken,  im  Jahre  1886:  448,6 
Millionen  Franken,  im  Jahre  1876:  331,5  Millionen  Franken, 
wobei  jeweilen  die  Bienenvölker  nicht  berücksichtigt  sind. 
Das  Durchschnittsvermögen  an  Vieh  betrng  auf  1  Einwohner 
für  die  Gesammtschweiz  1896:  Fr.  194,  1886:  Fr.  155,  1876: 
Fr.  121.  Es  hat  sich  somit  von  1877  auf  1896  ein  Mehrwerth 
von  260  Millionen  oder  73  Franken  per  Einwohner  ergeben. 


Viehstand.  Die  Zählungen  in  den  Jahren  1866,  1876, 
1886  und  1896  ergaben i 

Tbiergattung  Zahl  der  Thiere 

1866  1876  1886  1896 

Pferde  100  324  100  933  98  622  108  529 

Maulthiere            ?  3  145  2  742  3  116 

Esel                       ?  2  113  2  046  1  735 

Rindvieh  993  291  1  035  856  1  212  538       1  304  788 

Schweine  304  428  334  507  394  917  565  781 

Schafe  447  001  367  549  341  804  271 432 

Ziegen  375  485  396  001  416  323  414  968 

Bienenstöcke        ?  177  120  207  384  253 108 

Laut  Geschäftsbericht  des  schweizerischen  Industriede- 
partements beläuft  sich  die  Zahl  der  am  31.  Dezember  1898 
dem  eidg. Fabrikgesetz  unterstellten  Etablisseinente  auf  5726 
mit  212,618  Arbeitern.  Gegen  die  Unterstellung  unter  das 
Gesetz  sind  im  Berichtsjahr  1898  siebzehn  Rekurse  eingereicht 
worden ,  wovon  vier  gutgeh  ei  es  en  und  dreizehn  abgewiesen 
wurden. 


Inneres.     Statistisches. 


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426  Jahresbericht  1899. 

Von  den  200  199  Arbeitern  beiderlei  Geschlechts  waren 

Schweizer 174  697 

Deutsche 14  872 

Italiener 5  124 

Franzosen 3  354 

Österreicher   und  Ungarn  1  896 

Andere 256 

Von  den  152  718  Betriebs-Pferdekräften  wurden  erzeugt 
durch 

Wasser 87  865 

Dampf 53  410 

Elektrizität 7  357 

Gas  und  Petrol    ....        4  086 

Der  Effektiv-Bestand  der  Armee  war  auf  l.  Januar  1889 

Auszug  149  560 

Landwehr  85  676 

Landsturm  271  780 

Total      507  016 

Ueber  den  augenblicklichen  Stand  der  Hauptindu- 
strien der  Schweiz  ist  dem  Handelsberichte  zu  entnehmen, 
dass  in  der  Seidenindustrie  sich  die  Webstühle  und  die  Preise 
(letztere  um  10— 20°/o)  im  Berichtsjahr  vermehrt  haben.  Dagegen 
leidet  die  Baumwollindustrie  an  Ucberproduktion  und  an  Un- 
sicherheit der  Einkäufe.  Die  Stickerei  hat  sich  im  Ganzen  ge- 
hoben, besonders  die  Ausfuhr  nach  Deutschland  und  Oesterreich, 
während  mit  Amerika  eine  Zeitlang  grosse  Schwierigkeiten 
in  Folge  der  plötzlichen  Einführung  eines  ganz  neuen  Deklara- 
tionssystems bestanden,  die  jetzt  augenblicklich  beseitigt  sind. 
Die  Wollenindustrie  hatte  in  den  feineren  Waaren  eine  bedeu- 
tende Preissteigerung  bis  zu  30°/0  zu  verzeichnen,  die  schwei- 
zerischen Tuchfabriken  litten  unter  der  massenhaften  Ver- 
sendung von  Mustern  und  Katalogen  aus  dem  Ausland,  na- 
mentlich Deutschland,    der  nun  durch  die  Gebühr  von  20  Cts. 


Inneres.    Statistisches.  427 

auf  jeder  Postsendung'  ein  Riegel  geschoben  worden  ist.  Die 
Lage  der  Leinenweberei  wird  als  befriedigend  bezeichnet,  die 
Handweberei  kann  sogar  der  vorhandenen  Nachfrage  nicht 
genügen,  auch  die  aargauische  Strohindustrie  steht  befriedi- 
gend; weniger  dagegen  die  Leder-  und  Papierindustrie.  Die 
Maschinenindustrie  hat  ein  gutes  Jahr  mit  reichlichen  Be- 
stellungen hinter  sich.  In  der  Uhrenindustrie  ist  noch  immer 
Deutschland  (sodann  England,  Russland  und  Oesterreich-Un- 
garn)  der  beste  Abnehmer  mit  mehr  als  IV2  Millionen  Uhren 
im  Werthe  von  über  26  Millionen  Franken.  Die  Importation 
der  Uhrenschalen  aus  Amerika  nimmt  beständig  zu.  Im 
Ganzen  aber  ist  die  Uhren-  und  Musikdosenindustrie,  wie  die  Bi- 
jouterie nicht  im  Vorschreiten  begriffen.  Ebensowenig  die 
Holz-  und  Glasindustrie.  Der  Kflsehandel  hat  sein  Hauptab- 
satzgebiet in  Frankreich  und  die  Verhältnisse  waren  nicht 
ganz  befriedigende.  Der  Export  von  Chocolade  hat  sich,  um 
30%  gesteigert.  Die  Hotelindustrie  ist  jedenfalls  in  diesem 
Jahre  von  sehr  gutem  Erfolg  gewesen.  Doch  lässt  hier  son-> 
derbarer Weise  die  Statistik  immer  sehr  viel  zu  wünschen  übrig. 
Wir  wissen  nicht  einmal  sicher,  wie  viele  Fromdenbetten  und 
Logir-Nächte  angenommen  werden  können.  In  Bezug  auf  die 
Gäste  bilden  immer  die  Deutschen  die  Grosszahl,  beinahe  ein 
Drittheil.  Indessen  sind  es  nicht  die  am  meisten  verzehrenden. 
Es  wäre  sehr  wünschenswerth,  dass  über  diese  wichtige  In- 
dustrie sehr  viel  genauere  Daten  aufgenommen  würden. 

Nach  der  Handelsstatistik  für  1898,  die  jüngst  vom 
handelsstatistischen  Bureau  des  Zolldepartements  herausgegeben 
wurde,  betrug  die  Einfuhr  im  letzten  Jahre  Fr.  1,065,305,000, 
die  Ausfuhr  Fr.  723,826,000,  die  Unterbilanz  somit  Fr. 
341,000,000  oder  32,05  Prozent  der  Einfuhr,  gegen  32,78% 
im  Vorjahre.  Wir  haben  schon  darauf  aufmerksam  gemacht, 
dass  diese  Unterbilanz  ohne  eine  hinreichende  statistische  Erklär- 


428  Jahresbericht  1899. 

ung,  wie  die  Decknnger  folgt,  eine  nicht  ganz  beruhigende 
Erscheinung  ist.  Noch  weniger  beruhigend  ist  die  Thatsache, 
dass  das  Leben  im  Laufe  des  letzten  Menschenalters  viel 
theurer  und  auch  viel  luxuriöser  geworden  ist,  ohne  dass  sich 
desshalb  die  Menschen  eigentlich  viel  besser  dabei  befinden. 
Man  darf  zugeben,  dass  der  sogenannte  «Standard  of  life», 
der  Stand  der  allgemeinen  Lebenshaltung,  in  den  unteren  Klassen 
sich  im  Ganzen  gehoben  hat,  und  dass  darin  ein  Zeichen  des 
Fortschrittes  eines  Staates  zu  erblicken  ist.  Das  bezieht  sich 
aber  vernünftigerweise  docli  nur  auf  die  Lebensbedürfnisse, 
die  zu  einem  anständigen  und  befriedigenden  Dasein  in  Bezug 
auf  Gesundheit,  Reinlichkeit,  Nettigkeit  gehören,  nicht  auf 
die  Zunahme  der  blossen  Luxusausgaben  und  der  Genuas-  nnd 
Vergnügungssucht  überhaupt,  die  sehr  im  Steigen  begriffen  ist 
In  dieser  Richtung  wäre  eine  Vereinfachung  sehr  zu 
wünschen  und  dieselbe  kann  unseres  Erachtens  nicht  anders 
kommen  als  dadurch,  dass  die  oberen,  gebildeteren  Klassen  mit 
einem  guten  Beispiel  vorangehen. 

Parteiwesen.  In  der  sozialistischen  Parteigeschichte 
wird  das  Jahr  1899  einen  bedeutsamen  Abschnitt  bilden.  Der  reine 
Marxische  Sozialismus  geht,  weit  entfernt  das  20.  Jahrhundert 
für  sich  zu  gewinnen,  nicht  einmal  mehr  von  seinen  Partei- 
genossen unbekämpft  in  dasselbe  hinüber.  Offenbar  geht  die 
revolutionäre  und  zugleich  die  rein  theoretische  Periode  des 
Sozialismus  ihrem  Ende  ent  gegen.  Es  stehen  immer  häufiger 
aus  den  Reihen  der  Sozialisten  selbst,  ja  sogar  aus  ihrem 
Generalstab,  Leute  auf,  die  den  «Marxismus»  für  ebenso  un- 
haltbar erklären,  wie  etwa  das  «eherne  Lohngesetz»  Lassalle's, 
das  schon  längst  zu  den  todten  Theorien  gehört,  nachdem  es 
der  Welt  eine  Zeitlang  als  die  wirksamste  aller  Waffen  gegen 
die  Bourgeoisie  gepredigt  worden  war.  Jetzt  kommt  die  Reihe 


Inneres.    Partei  weten.  429 

an  die  ebenso  phantasiereiche  Nationalökonomie  von  Carl 
Marx,  die  «Bibel  des  Sozialismus».  Dann  erst,  wenn  auch 
diese  durch  die  eigene  Ueberzeugung  der  Sozialisten 
von  ihrer  wissenschaftlichen,  wie  praktischen  Unbrauchbarkeit 
beseitigt  sein  wird,  werden  dieselben  ganz  von  selber  auf  den 
Gedanken  kommen,  den  wir  ihnen  immer  nahegelegt  haben, 
dass  aller  menschliche  Fortschritt  eine  geschichtliche  Ent- 
wicklung ist,  die  keine  gewaltsamen  Sprünge  verträgt,  und 
dass  sie  eigentlich  nichts  anderes  sind  und  sein  können,  als 
eine  politische  und  nationalökonomische  Fortschrittspartei  im 
jetzigen  Staats-  und  Gesellschaftswesen.  Damit  treten  sie  in 
den  Rahmen  der  historisch  gegebenen  Gesellschafts-  und 
Staatsordnung  zurück,  ausserhalb  welchem  sie  sich  eine  ganz 
besondere  und  grossartigere  Stellung  in  ihren  früheren  Kon- 
gressbeschlüssen zuerkannten,  die  mitunter  ein  wenig  an  die 
Ideen  der  tBandar  Log»,  des  berühmtesten  Buches  von  Kipling, 
erinnerte.  Hätte  nicht  unsere  Bourgeoisie-Presse  selbst,  die 
für  alles  «Neue»  (selbst  wenn  es  in  der  Geschichte,  die  sie 
oft  nicht  hinreichend  kennt,  schon  oft  da  war)  eine  bei- 
nahe kindliche  Empfänglichkeit  und  Neugier  an  den  Tag  legt, 
Lassalle,  Marx,  Engels  und  eine  Menge  kleinerer  Nachbeter 
dieses  Evangeliums  vom  vierten  Stande  ebenso  interessant 
gefunden,  wie  sie  auch  ihre  theologischen,  oder  naturwissen- 
schaftlichen Vorkämpfer,  die  denselben  den  Weg  öffneten, 
Strauss,  Renan,  Darwin,  Büchner  interessant  fand,  so  hätte 
diese  Erkenntniss  schon  lange  vorher  stattgehabt  und  wir 
wären  mit  den  wirklich  möglichen  Verbesserungen  des 
Looses  aller  Gedrückten  bedeutend  weiter,  als  es  jetzt  der 
Fall  ist. 

Das  entscheidende  Buch  in  der  oben  gedachten  Richtung 
einer  Zerstörung  der  bisherigen  Götzen  erschien  in  diesem 
Jahre:    «Eduard    Bernstein,    die  Voraussetzungen    des 


480  J*hr«storicht .  1699. 

Sozialiemas  und  die  Aufgaben  der  Sozialdemokratie»  *  Stutt- 
gart 1899. 

Der  Verfasser  dieses  Buches,  der  zu  den  bedeutendsten 
Vertretern  des  Sozialismus  in  wissenschaftlicher  Richtung 
gehört,  schliesst  soin  Werk  mit  den  Sätzen,  die  auch  wir 
unterschreiben  könnten : 

«Woran  mir  liegt,  was  den  Hauptzweck  dieser  Schrift 
bildet,  ist,  durch  die  Bekämpfung  der  Reste  utopistischer 
Denkweise  iu  der  sozialistischen  Theorie,  das  realistische,  wie 
das  idealistische  Element  in  der  sozialistischen  Bewegung 
glcichmässig  zu  stärken. >  (Schluss  der  Einleitung.) 

«Heute  braucht  sie  (die  Epoche)  neben  den  streitbaren, 
die  ordnenden  und  zusammenfassenden  Geister,  die  hoch  genug 
stehen,  um  die  Spreu  vom  Weizen  sondern  zu  können,  und 
gross  genug  denken,  auch  das  Pflanzchen  anzuerkennen,  das 
auf  anderem  Beete,  als  dem  eigenen,  gewachsen  ist,  die  viel- 
leicht nicht  Könige,  aber  warmherzige  Republikaner  auf  dem 
Gebiet  des  sozialistischen  Gedankens  sind.»  (Schluss  des 
Ganzen.) 

«Hat,>  so  fragt  er  weiter,  «die  Sozialdemokratie  als  Partei 
der  Arbeiterklasse  und  des  Friedens  ein  Interesse  an  der  Er- 
haltung der  nationalen  Wehrhaftigkeit  ?  Unter  verschiedenen 
Gesichtspunkten  liegt  die  Versuchung  nahe,  die  Frage  zu 
verneinen,  zumal  wenn  man  von  dem  Satz  des  kommunistischen 
Manifestes  ausgeht :  ,der  Proletarier  hat  kein  Vaterland'. 
Indess  dieser  Satz  konnte  allenfalls  für  den  rechtlosen,  aus 
dem  öffentlichen  Leben  ausgeschlossenen  Arbeiter  der  40er 
Jahre  zutreffen,  hat  aber  heute,  trotz  des  enorm  gestiegenen 
Verkehrs  der  Nationen  .miteinander,  seine  Wahrheit  zum 
grossen  Theil  schon  eingebüsst  und  wird  sie  immer  mehr  ein- 
büssen,  je  mehr  durch  den  fiinfluss  der  Sozialdemokratie  der 
Arbeiter  aus  einem  Proletarier  ein  —  Bürger  wird.  Der 
Arbeiter,  der  in  Staat,  Gemeinde  etc.  gleichberechtigter  Wähler 
und  dadurch  Mitinhaber  am  Geraeingut  der  Nation  ist,  dessen 


Inneres.    Parteiwesen.  431 

Kinder  die  Gemeinschaft  ausbildet,  dessen  Gesundheit  sie 
schützt,  den  sie  gegen  Unbilden  versichert,  wird  ein  Vater- 
land haben»  ohne  darum  aufzuhören,  Weltbürger  zu  sein,  wie 
die  Nationen  sich  näher  rücken,  ohne  darum  aufzuhören,  ein 
eigenes  Leben  zu  führen.  Es  mag  sehr  bequem  erscheinen, 
wenn  alle  Menschen  eines  Tages  nur  eine  Sprache  sprechen. 
Aber  welch  ein  Reiz,  welche  eine  Quelle  geistigen  Genusses 
gienge  damit  den  Menschen  der  Zukunft  verloren.  Die  völlige 
Auflöung  der  Nationen  ist  kein  schöner  Traum  und  jedenfalls 
in  menschlicher  Zukunft  nicht  zu  erwarten.  So  wenig  es  aber 
wnn6chen8werth  ist,  dass  irgend  eine  andere  der  grossen 
Kulturnationen  ihre  Selbständigkeit  verliert,  so  wenig  kann 
es  der  Sozialdemokratie  gleichgültig  sein,  ob  die  deutsche 
Nation,  die  ja  ihren  redlichen  Antheil  an  der  Kulturarbeit 
der  Nationen  geleistet  hat  und  leistet,  im  Rath  der  Völker 
zurückgedrängt  wird.> 

Den  ganzen  Gedankengang  fasst  die  Aufforderung  zu- 
sammen, die  Sozialdemokratie  möge  den  Muth  finden,  sich 
von  einer  Phraseologie  zu  emanzipiren,  die  thatsächlich 
überlebt  sei,  und  das  scheinen  zu  wollen,  was  sie  heute  in 
Wirklichkeit  sei:  eine  demokratisch-sozialistische 
Reformpartei. 

Ihm  werden  nun  noch  manche  andere  folgen,  denn  nichts 
thun  die  Menschen  lieber,  als,  was  sie  bisher  verehrten,  auf 
ihr  eigenes  Niveau,  oder  womöglich  noch  tiefer  herunterziehen 
und  jeder  einseitigen,  oder  falschen  Theorie,  die  zu  einer  un- 
gehörigen Bedeutung  aufgeblasen  worden  ist,  entstehen  zu- 
letzt nach  kurzem  Scheindasein  die  gefährlichsten  Gegner 
aus  den  eigenen  früheren  Anbetern. 

Die  Marx-Engels'sche  Kritik  der  bisherigen  National- 
ökonomie und  mit  ihr  die  ganze  Begründung  eines  wissen- 
schaftlichen Sozialismus,  als  besondere  Lehre  zur  Herstellung 
einer  ganz  neuen  Staats-  und  Gesellschaftsordnung,  darf 
man  also   mit   diesem  Jahre   als  durch  ihre  eigenen  wissen- 


432  Jahresbericht  1899. 

schaftlichen  Vertreter  aufgegeben  ansehen.  Womit  gar 
nicht  gesagt  ist,  dass  damit  alle  von  dieser  Schule  herrüh- 
renden Anregungen  fruchtlos  gewesen,  oder  überhaupt 
aufzugeben  seien.  Aber  eine  besondere  sozialistische  National- 
ökonomie nnd  einen  besonderen  sozialistischen  Zukunftsstaat 
wird  es  in  kürzerer  Zeit  schon  nicht  mehr  in  den  Gedanken 
der  Völker  geben,  so  wenig  als  ein  «ehernes  Lohngesetz», 
und  damit  wird  unseres  Erachtens  auch  der  gänzlich  unge- 
sunde Gedanke  einer  besonderen  «Sozialpolitik»  in  Wegfall 
kommen.  Die  sozialen  Fragen  sind  ein  Theil  und  zwar  ein 
ganz  berechtigter  Theil  der  gewöhnlichen  Politik  und 
müssen  durch  dieselbe  und  auf  der  Grundlage  der  jetzigen 
historischen  Staatsordnung  gelöst  werden,  wofür  wir  unserer- 
seits stets,  entgegen  dieser  Modekrankheit  der  «Sozialpolitik», 
eingetreten  sind.  Je  bslder  sich  die  gesammten  Sozialisten 
wieder  der  historischen  und  nationalen  Staatsordnung  an- 
schliessen  und  ihre  Vorstellungen  von  einem  bald  bevorstehenden 
radikalen  Umsturz  derselben  aufgeben,  desto  mehr  werden  sie  für 
ihre  Vorschläge  auch  bei  den  andern  Parteien  auf  Gehör  und 
billige  Anerkennung  rechnen  können. 

Eine  radikalste  Richtung  in  Politik,  Staatshanshalt  und 
Administration,  ja  selbst  Kirche  und  Religion,  wird  es  stets 
in  einem  Gemeinwesen  mit  freier  Meinungsäusserung  geben 
müssen  und  davor  haben  wir  speziell  in  der  Schweiz  uns  gar 
nicht  zu  fürchten.  Dagegen  ist  eine  Partei  unfruchtbar  für 
sich  selbst  und  nachtheilig  für  das  Gedeihen  des  Ganzen,  die 
sich  ganz  ausserhalb  der  gegenwärtigen  Staatsordnung  be- 
findet und  eine  völlig  andere,  nicht  durch  Entwicklung,  son- 
dern durch  Umsturz,  herbeiführen  will.  Wenigstens  in  einem 
Staate,  wo  dem  Willen  der  Mehrheit  und  der  Entwicklung 
der  staatlichen  Ideen  keinerlei  Hinderniss  entgegensteht,  darf 
dies  mit  Unbcdingtheit  gesagt  werden;  Revolutionen  können 


Inneres.    Partei  wesen.  433 

nur  da  gerechtfertigt  sein,  wo  sie  geschichtliche  Notwendig- 
keiten geworden  sind.  Da  aber  rechtfertigen  sie  sich  ganz 
von  seihst  durch  die  ausdrückliche,  oder  stillschweigende 
Theilnahme  des  grösseren  Theils  der  Mitlebenden  und  die 
völlige  Ratifikation  seitens  der  Nachwelt. 

Wir  hoffen,  unsere  verständigeren  schweizerischen  Sozia- 
listen werden  den  Spuren  ihres  Genossen  Bernstein  nun  folgen 
und  die  rothe  Fahne  wieder  unumwunden  mit  der  rothweissen 
vertauschen,  womit  der  Satz  des  kommunistischen  Manifestes 
von  Marx-Engels,  dass  «der  Proletarier  kein  Vaterland  habe» 
dahinfällt.  Sie  würden  damit  sich  selbst  den  grössten  Dienst 
leisten  und  weit  mehr,  als  bisher,  zur  Verbesserung  aller  un- 
gesunden staatlichen,  oder  ökonomischen  Verhaltnisse  beitragen 
können.  Damit  würden  sich  auch  die  Parteiverhältnisse  wieder 
vereinfachen  und  von  dem  ganzen  sozialistischen  Welttraume 
schliesslich  nichts  mehr  übrig  bleiben,  als  eine  Erfrischung 
der  liberalen  Partei  und  der  Bourgeoisie  überhaupt,  und  das 
ist  sehr  wünschenswert^. 

Was  diese  Entwicklung  noch  aufhält,  ist  einerseits  die 
Vorliebe  für  «internationale»  Organisationen,  welche  der  So- 
zialismus mit  noch  anderen  Bestrebungen  theilt,  andererseits, 
wenigstens  in  manchen  Ländern,  die  unnatürliche  Allianz  mit 
der  katholischen  Partei.  In  der  letzteren  Richtung  ist  im 
Verlauf  dieses  Jahres  ebenfalls  eine  Besserung  eingetreten, 
indem  der  deutsche  Centrumsführer  Dr.  Lieber  auf  einem 
hessischen  Katholikentage  in  Mainz  u.  a.  folgende  auch  für 
unsere  Verhältnisse  bemerkenswerthen  Aeusserungen  that: 

«Es  ist  ja  unmöglich  für  eine  politische  Partei,  vornehm- 
lich für  eine  führende,  massgebende  Partei,  in  jedem  Augen- 
blick den  Freunden  die  Karten  offen  auf  den  Tisch  zu  legen. 
Das  Spiel  wäre  ja  verloren,  weil  auch  der  Gegner  dann  die 

28 


434  Jahresbericht  1899. 

Karten  kennt.   Die  Lage  im  Allgemeinen  wird  —  so  scheint 
es  —  bedrohlicher  für  uns.» 

«Der  Kampf  des  Centrums  gegen  die  übrigen  Parteien 
ist  vollständig  in  den  Hintergrund  getreten  durch  den  immer 
scharfer  werdenden  Kampf  gegen  unserenTodfeind,dieSo- 
zialdemokratie.  Geben  wir  uns  darüber  doch  keiner  Tauschung 
hin,  dass  der  letzte  Entscheidungskampf  geschlagen  werden 
muss  zwischen  uns  und  ihnen. > 

Wir  könnten  auch  hier  nur  wünschen,  dass  diese  Ein- 
sicht etwas  früher  eingetreten  wäre.  Das  Gute,  was  beide 
Parteien  an  sich  haben  könnten,  wird  durch  diese  Verbindung, 
die  nicht  aufrichtig  ist  und  sein  kann,  am  allermeisten  ver- 
dorben. 

Die    internationale   Sozialdemokratie    hielt   im 

Mai  in  'Brüssel  eine  Konferenz  ihrer  Führer  ab. 

Die  Besprechung  hatte  u.  a,  den  Zweck,  das  Programm 
aufzustellen  für  den  «Internationalen  Sozialisten- Kongresse 
der  im  Jahre  1900  während  der  Weltausstellung  in  Paris 
gehalten  werden  soll.  Die  Tagesordnung  für  diesen  Kongress 
ist  demgemäs8  wie  folgt  festgesetzt  worden:  1.  Ausführung 
der  Beschlüsse  des  Kongresses;  Aufsuchung  und  Ausführung 
praktischer  Mittel  für  die  internationale  Verständigung,  Or- 
ganisation und  Handlung  der  Sozialisten  und  Arbeiter ;  2.  in- 
ternationale Arbeitsgesetzgebung  zur  Beschränkung  der  Ar- 
beitszeit, Besprechung  über  die  Möglichkeit  des  Mindestlohnes 
in  den  verschiedenen  Ländern;  3.  Besprechung  der  nöthigen 
Bedingungen  für  die  Befreiung  der  Arbeit:  a)  durch  Ver- 
einigung und  Vorgehen  des  Proletariats  als  Klasse ;  b)  durch 
politische  und  ökonomische  Enteignung  der 
Bourgeosie;  c)  durch  Sozialisation  der  Produktionsmittel; 
4.  Internationaler  Friede,  Militarismus,  Unterdrückung  ste- 
hender üeere;  5.  Kolonialpolitik ;  6.  Organisation  der  für  und 
in  der  Marine  thätigen  Arbeiter;  7.  der  Kampf  für  das  all- 
gemeine Wahlrecht  und  unmittelbare  Volksgesetzgebung;  8. 
Kommunaler  Sozialismus ;  9.  Eroberung  der  öffentlichen  Macht ; 
Bündnisse  der  Bourgeoisieparteien;  10.  1.  Mai; 
Trustbewegungen.      Der  Kongress   wurde  mit  den  üblichen 


i 


Inneres.    Parteiwesen.  435 

Verbrüderungsreden,   Hochrufen    auf   die  Internationale  und 
die  Kommune  und  mit  der  Marseillaise  geschlossen. 

Die  «Bündnisse  mit  Bourgeoisie-Parteien»  werden  unter 
diesen  Umstanden  bei  denselben  wenig  Anklang  finden.  Ueber- 
haupt  scheint  nun  die  Aera  dieser  grosssprecherischqn  inter- 
nationalen Sozialdemokratie  ziemlich  vorüber  zu  sein  und  die 
nationale  starker  in  den  Vordergrund  zu  treten. 

Ueber  die  Bestrebungen  derselben  enthält  eine  interessante 
Darstellung  eine  Broschüre  von  Prof.  Zürcher  «Die  Sozial- 
politik der  schweizerischen  Parteien»,  welche  sich  darüber 
wie  folgt  äussert: 

«Endlich  die  Stellung  der  Partei  zu  den  Angelegenheiten 
des  Bundes.  Sie  ist  sich  im  Grundsätze  stets  dieselbe  ge- 
blieben, Stärkung  der  Bundesgewalt  und  Durchführung  der 
allgemeinen  Zielpunkte  der  Partei  auf  dem  Gebiete  des  Bun- 
desstaates ist  ihr  Bestreben.  An  der  Revisionsarbeit  der  Jahre 
1872  und  1874  haben  die  Führer  der  demokratischen  Partei 
hervorragenden  Antheil  genommen ;  bei  jeder  seitherigen  Er- 
weiterung der  staatlichen  und  sozialen  Beth&iägung  des  Bundes 
wurde  von  der  demokratischen  Partei  die  Agitation  für  An- 
nahme der  Verfassungs-  und  Gesetzesvorlagen  ins  Werk  ge- 
setzt In  diesen  Bestrebungen  giengen  übrigens  die  drei  nicht- 
konservativen Parteien  meist  Hand  in  Hand,  in  der  Mehrzahl 
der  Fälle  wurde  geradezu  ein  gemeinsames  Vorgehen  organisirt 
und  der  im  Jahre  1894  gegründeten  schweizerischen  demo- 
kratisch-freisinnigen Partei  *)  traten  die  demokratische  und 
die  freisinnige  Partei  des  Kantons  Zürich  bei.  Für  die  liberale, 
jetzt  freisinnige  Partei  ist  die  Zerstörung  der  kantonalen 
Schranken  durch  eine  gemeinsame  Rechts-  und  Wirthschafts- 
gesetzgebung  ein  Postulat  der  Handels-  und  Gewerbefreiheit ; 
ebenso  streben  die  Ideen  der  demokratischen  Partei  nach 
Verwirklichung  auf  einem  etwas  grössern  Gebiete,  als  dem 
des  eigenen  Kantons.  Auch  hier  wollen  wir  das  Parteipro- 
gramm von  1892  wiedergeben.   Es  lautet: 


')  Hilty,  Politisches  Jahrbuch  1894/95,  Seite  408. 


436  Jahresbericht  1899. 

Eidgenössische    Angelegenheiten. 

1.  Eidgenössische  Verwaltungsreform  und  Wahl  des  Bnn- 
desrathes  durch  das  Volk. 

2.  Organisation  des  eidgenössischen  Referendums. 

3.  Gesetzgebungsinitiative. 

4.  Verstaatlichung  des  Eisenbahnwesens;  Aufstellung 
eines  Amortisationsplans  für  die  Eisenbahnschulden. 

5.  Staatliche  Unfall-,  Kranken-,  Alters-,  Invaliden-  und 
Lebensversicherung. 

6.  Bundesbank  mit  Notenmonopol.  Verbesserung  der  länd- 
lichen Kreditverhältnisse  in  Verbindung  mit  den  Kantonal- 
banken. 

7.  Zündholzmonopol. 

8.  Tabakmonopol. 

9.  Monopol  des  Getreidehandels. 

10.  Weitere  Zentralisation  auf  dem  Gebiete  des  Zivil- 
und  Straf  rechtes. 

11.  Eidgenössisches  Stimmrechtsgesetz  mit  obligatorischer 
Stimmgabe. 

12.  Ausbau  des  Art.  27  im  Sinne  der  Förderung  des 
Volksschulwesens  durch  den  Bund.  Unentgeltlichkeit  der  Lehr- 
mittel, obligatorische  Civilschule. 

13.  Schweizerisches  Gewerbegesetz  mit  obligatorischen 
Lehrlingsprüfungen. 

14.  Ausbau  des  Fabrikgesetzes,  Schutz  der  Arbeiterinnen, 
zehnstündiger  Arbeitstag,  weitere  Einschränkung  der  Frauen - 
und  Kinderarbeit. 

15.  Grössere  Bundessubventionen  für  Güterzusammcn- 
legung  und  Bodenverbesserung. 

16.  Ablehnung  aller  Uebergriffe  der  Fremdenpolizei. 

17.  Wahrung  des  Vereinsrechtes  auch  für  diejenigen, 
welche   in  wirthschaftlich  abhängiger  Stellung  sich  befinden. 

Die  letzten  sieben  Jahre  haben  dieses  Programm  unbe- 
streitbar schon  in  mehreren  Richtungen  verwirklicht.  An- 
derseits hat  sich  gerade  mit  Bezug  auf  das  Postulat  der 
Wahl  des  Bundesrathes  durch  das  Volk  ein  Umschwung  der 
Anschauungen  in  der  Partei  vollzogen ;  was  aber  die  übrigen 
Punkte,   insbesondere  auch   diejenigen  von  eigentlich  sozial- 


Inneres.    Parleiwesen.  437 

politischem  Inhalte  anbetrifft,   so    dürften    dieselben  auch  in 
ein  neues  Programm  wieder  aufgenommen  werden.» 

Es  braucht,  ausser  der  Wahl  des  Bundesraths  durch  das 
Volk,  die  wir  stets  als  unpraktisch  bekämpft  haben,  nur  sehr 
wenige  Abstriche  oder  Milderungen  an  diesem  Programm,  um 
es  für  die  gesammte  liberale  Partei,  ja  sogar  für  eine  er- 
hebliche Eichtung  der  Konservativen  annehmbar  zu  machen. 

Die  natürlichen  Parteien  bei  uns  sind  nicht  die  jetzt 
bestehenden,  sondern  einfach  die  (im  Wesentlichen  protestan- 
tische) liberale  und  die  (im  Wesentlichen  katholische)  kon- 
servative Partei.  Diese  Gegensätze  sind  historisch  und 
werden  immer  bestehen  bleiben.  Sie  sind  aber  auch  nicht  un- 
versöhnliche Gegensätze  bei  uns,  sondern  es  wird  sich 
über  dieselben  stets,  wenn  das  nicht  durch  unnatürliche  Par- 
teiorganisation in  den  Hintergrund  gedrängt  wird,  das  na- 
tionalschweizerische patriotische  Gefühl  und  bei  den  meisten 
Schweizern  auch  das  Bewusstsein  der  gemeinsamen  Eeligion 
erheben,  die  doch  (trotz  der  etwas  verschiedenen  Formuliruug 
in  mehr  äusserlichen,  als  innerlichen  Dingen)  besteht. 

Dieses  Bewusstsein,  dass  es  doch  noch  Eine  christliche 
Religion  gibt,  die  sich  gegen  den  blossen  Atheismus  als  eine 
Einheit  fühlt,  wird  sich  im  nächsten  Jahrhundert  wahrschein- 
lich bedeutend  stärken  und  mit  ihm  wird  dann  auch  mit  Be- 
zug auf  die  sozialen  Fragen,  die  gegenwärtig  Unordnung 
in  alle  natürlichen  Parteiverhältnisse  gebracht  haben,  das 
Wort  eines  berühmten  Mannes  zur  Geltung  gelangen:  «Bringt 
den  Mann  in  Ordnung,  dann  wird  er  seine  Verhältnisse  selber 
ordnen. > 

Es  ist  schon  zuzugeben,  dass  der  Staat  und  die  Gesell- 
schaft dazu  durch  ihre  Einrichtungen  auch  Vorschub  leisten 
sollen  und  müssen,  aber  niemals  wird  eine  soziale  Verbesserung 


438  Jahresbericht  1899. 

und  Umgestaltung  zum  Besseren  irgend  einen  dauernden  Er- 
folg gewinnen,  die  nicht  mit  einer  Besserung  der  einzelnen 
Menschen  beginnt  und  darin  ihren  wesentlichen  Halt  findet. 

Die  Bewegung,  welche  in  die  Frauenwelt  gekommen 
ist,  um  derselben  ihre  gebührende  Rechtsstellung  in  der  Welt  zu 
verschaffen,  ist  offenbar  in  einer  Zunahme  begriffen.  Uebrigens 
wird  dieselbe,  wie  wir  bereits  in  dem  Artikel  «Franenstim in- 
recht, in  Band  XI  des  Jahrbuches  auseinandersetzten,1)  sich 
bei  uns  in  ganz  naturgemässen  Etappen  vollziehen. 
Grössere  Freiheit  der  Berufswahl,  besserer  Rechtsschutz  für  die 
ökonomische  Stellung  der  Frauen  in  und  ausser  der  Ehe,  Stimm- 
recht und  Wählbarkeit  in  Schulsachen,  später  Stimmrecht  in 
KirchenBachen  und  zuletzt  erst  allgemeine  Rechtsgleichheit, 
das  werden  die  Stufen  sein,  auf  denen  diese  grössere  Hälfte 
des  Menschengeschlechts  allmählig  zu  der  gesicherten  Stell- 
ung gelangt,  in  welcher  sie  dann  auch  besser  an  den  all- 
gemeinen Kulturaufgaben  theilnehmen  kann. 

Vorher  aber  muss  das  Bewusstsein  in  den  Frauen  selbst 
noch  erstarken,  dass  sie  zu  etwas  Besserem  da  seien,  als 
bloss  ein  Schmuck  des  Hauses  und  ein  notwendiges  Mittel 
zur  Erhaltung  des  Menschengeschlechtes  zu  sein,  denn  «bene- 
ficia  non  obtruduntur».  Gegen  seinen  eigenen  Willen  wird 
Niemand  von  Rechtlosigkeit  befreit,  und  wo  dies  jemals  ge- 
schehen ist,  bedarf  es  einer  nachträglichen,  oft  sehr  müh- 
samen Lehrzeit,  um  diesen  willkürlichen  Entwicklungsgang  in 
einen  naturgemässen  umzugestalten. 

Uebrigens  hat  diese  ganze  Frage  noch  einen  tieferen 
Fond,  als  den  einer  blossen  politischen,  oder  Rechtsfrage. 
Das    Bedürfniss     nach    Arbeit,    das,    in    den     höheren 


)  Dasselbe  erscheint  in  diesem  Jahre  in  einer  Separatausgabe. 


Inneres.    Frauenfrage.  439 

Klassen  der  Gesellschaft  wenigstens,  durch  die  jetzige  Stel- 
lung der  Frauen  (ganz  besonders  der  unverheirateten,  welche 
die  Hälfte  der  Gesammtzahl  ausmachen)  nicht  befriedigt  wird, 
und  daneben  das  Liebebedürfniss  der  menschlichen,  ganz 
besonders  der  weiblichen  Natnr,  verlangt  eine  Bethätig- 
ungsmöglichkeit,  die  es  jetzt  nicht  hat.  Eb  würde  durch  eine 
grossere  Antheiinahme  an  den  Geschicken  des  gesammten 
VolkeB,  welche  jetzt  den  Frauen  eigentlich  ziemlich  fernbleiben, 
nnd  durch  eine  freundschaftliche  gemeinsame  Thätigkeit  mit 
gleichgesinnten  Männern,  die  jetzt  sozusagen  unmöglich  ist, 
vielleicht  sogar  besser  befriedigt,  als  dies  in  den  meisten 
Ehen  der  Fall  ist.  Die  edelgesinnten  Frauen  würden  unseres 
Erachtens  gerne  dafür  die  vielen  dilettantischen  Kunst- 
bestrebungen und  die  sogenannten  geselligen  Vergnügungen 
opfern,  oder  wenigstens  beschränken,  welche  das  Herz  doch  nicht 
befriedigen,  sondern  im  Gegentheil  veröden.  Denn  ein  Mensch 
ohne  grössere  Lebensziele  verkommt  unfehlbar  und  ein  Ge- 
bildeter noch  eher  als  ein  Ungebildeter,  dem  die  Noth 
der  täglichen  Existenz  wenigstens  einen  reellen  Lebens- 
zweck verschafft.  Sobald  diese  wirkliche  Sachlage  bei 
der  grösseren  Zahl  der  gebildeten  Frauen,  die  jetzt  noch 
zweifelnd  und  müssig  am  Markte  stehen,  oder  sich  durch  das 
Wort  «Un  Weiblichkeit»  terrorisiren  lassen,  zum  Bewusstsein 
durchgedrungen  ist,  so  wird  sich  auch  der  Gedanke  nicht 
mehr  abweisen  lassen,  dass  hier  eine  innert  den  Grenzen 
vernünftiger  Möglichkeit  liegende  Abhülfe  geschaffen  werden 
müsse,  nnd  zwar  in  den  Republiken  zuerst,  die  ohne  die  kräf- 
tige Mitwirkung  der  Frauen  nicht   bestehen    bleiben  können. 

In  diesem  Sommer  fand  ein  grosser  internationaler  Frauen- 
kongress  in  London  statt,  bei  welchem  alle  Fragen  der  weib- 
lichen Bernfsthätigkeit  in  zahlreichen  Konferenzen  besprochen 


440  Jahresbericht  1899. 

wurden1),  bei  welchen  wir  jedoch  zwar  nicht  den  praktischen,  wohl 
aber  den  philosophisch-ethischen  Theil  der  Sache  gerne  etwas 
eingehender  und  besser  behandelt  gesehen  hätten.  Daran 
fehlt  es  noch  ein  wenig,  dagegen  ergingen  sich  die  eng- 
lischen Damen  weitläufig  über  den  ewigen  Frieden  und  die 
Gerechtigkeit  im  Verkehr  zwischen  den  Völkern,  um  ein  paar 
Monate  später  diese  Prinzipien  gerade  von  England  mit  Füssen 
getreten  zu  sehen,  ohne  dass  sie  sich  erheblich  dagegen  er- 
eifern werden.  Glauben  sie  wirklich,  dass  man  die  Frauen 
emanzipiren  werde,  solange  man  unter  so  nichtigen  Vor- 
wänden Nachbarstaaten  mit  Krieg  überzieht?  Der  Egois- 
mus, welcher  dies  rechtfertigt,  wird  die  gleichen  Männer 
auch  abhalten,  ihren  bisherigen  weiblichen  Unterthanen  die 
erforderliche  Freiheit  zu  gewähren. 

Der  nächste  internationale  Frauenkongress  soll  in  5 
Jahren  in  Berlin  stattfinden.  Wir  sind  auch  in  dieser  Sache 
für  das  «internationale»  Kongresswesen  nur  sehr  mittel- 
mässig  eingenommen.  Die  reellen  Fragen  des  Lebens 
müssen  alle  auf  nationalem  Boden  und  in  den  einzelnen 
Staaten  gelöst  werden. 

Hierin  haben,  soweit  uns  bekannt,  folgende  bemerkens- 
werthe  Fortschritte  stattgefunden. 

In  England  nahm  das  Unterhaus  die  London-Munici- 
pal-Bill  an,  welche  den  Frauen  die  municipale  Wählbarkeit 
verleiht.     Ein  Bericht  darüber  sagt: 

«Der  vielumstrittene  Punkt  der  municipalen  Wählbarkeit 
der  Frauen  entfesselte  eine  interessante  Debatte  über  die 
Frauenrechtsfrage,    an   deren  Felsen   die   alten  Parteiformen 


x)  Vertreten  waren  dabei  9  nationale  Frauenorganisationen? 
8  andere  Länder,  in  denen  die  Organisation  noch  nicht  zu  einem 
völligeu  Abschlüsse  gediehen  ist,  worunter  die  Schweiz,  und  ausser- 
dem waren  noch  nicht  offizielle  Vertreter  von  7  anderen  Länden», 
worunter  China,  Persien,  Indien,  Russland  und  Palästina  vorhanden. 


Inneres.     Frauenfrage.  441 

wie  Glas  zersplitterten,  indem  sich  dafür  eine  neue  Majorität 
von  196  Frauenvorkämpfern  aus  Liberalen,  Konservativen, 
Unionisten  und  Kadikaien  bildete.  Diese  Mehrheit  verlieh 
nämlich  gegen  eine  Minorität  von  161  Stimmen  den  Frauen 
Grossbritanniens  das  Recht,  zu  Stadt-  und  Geuieinderäthen 
gewählt  zu  werden.  Ein  Amendement  Courtney6  verlangte, 
dass  keine  Person  durch  ihr  Geschlecht,  ihre  Heirat  oder 
ihr  Alter  von  der  Wählbarkeit  zum  Aldermann  oder  zum  Ge- 
meinderath  ausgeschlossen  bleiben  dürfe.  Boulnois  und  La- 
bouchere  bekämpften  das  Amendement  in  scharfen  Reden, 
während  Sir  Henry  Fowler  sich  die  Frau  zwar  nicht  als 
Bürgermeister,  Polizeipräsident ,  Parlamentsmitglied,  Erz- 
bischof, oder  gar  Armeekommandant,  wohl  aber  als  Stadt- 
oder Gemeinderath  gefallen  lassen  zu  wollen  erklärte.  Bei 
der  Abstimmung,  die  den  Courtney'schen  Antrag  zur  Annahme 
brachte,  ergab  sich  die  obige  Majorität,  in  der  Lord  Balfour 
neben  dem  liberalen  Führer  Cainpbell-Bann ermann,  Morley, 
Asquith,  John  Burns  u.  a.  für  die  Frauenrechte  einstanden.» 

Es  ist  dies  die  nächste  Etappe  zum  aktiven  Parlaments- 
wahlrecht und  sehr  bemerkenswerth  besonders  die  Theilnahme 
einflussreicher  Mitglieder  desselben. 

In  Irland  besitzen  die  Frauen  jetzt  bereits  das  aktive 
Wahlrecht  in  den  Grafschaftsrath  und  das  aktive  und  passive 
in  den  Gemeinde-,  Armen-  und  Schulrath  und  in  die  Kirchen- 
verwaltung. 

In  Frankreich  wurde  in  der  Deputirtenkammer 
mit  319  gegen  174  Stimmen  die  Zulassung  der  Frauen,  die 
den  Grad  eines  «licenciö  aux  droits»  (ungofähr  unserem 
juristischen  Doktorgrade  entsprechend)  erlangt  haben,  zur 
Advokatur  beschlossen.  Soweit  uns  bekannt,  steht  jedoch  die 
Genehmigung  durch  den  Senat  noch  aus. 

In  Deutschland  ist  zunächst  die  Zulassung  der 
Frauen  zu  den  Universitätsvorlesungen  und  den  medizinischen 
Prüfungen  in  Frage,  worüber  wir  Zeitungsberichten  Folgendes 
entnehmen : 


442  Jahresbericht  1899. 

«Unmittelbar  nach  der  Gründang  der  Strassburger  Uni- 
versität hatte  der  akademische  Senat  die  Zulassung  von 
Frauen  zu  den  Vorlesungen  und  Uebungen  für  unzulässig  er- 
klärt. An  diesem  Beschlüsse  hatte  die  Universität  seither 
streng  festgehalten  und  stand  schliesslich  mit  diesem  Verfahren 
allein  unter  den  deutschen  Universitäten.  Vor  kurzem  rich- 
tete nun  der  Vorstand  des  Vereins  elsaBS-  lothringischer 
Lehrerinnen  an  die  Universität  die  Bitte,  Lehrerinnen,  welche 
an  höheren  Mädchenschulen  die  Prüfung  abgelegt  haben,  als 
Hospitantinnen  zu  den  Vorlesungen  und  Uebungen  der  Uni- 
versität zulassen  zu  wollen.  Der  Vorstand  wurde  dazu  ver- 
anlasst durch  den  Gang  der  wissenschaftlichen  Vorbildung 
für  Lehrerinnen,  der  im  November  vorigen  Jahres  für  Elsass- 
Lothringen  neu  geregelt  worden  ist.  Danach  wird  die  Be- 
fähigung zu  der  Anstellung  als  Oberlehrerin  an  einer  höheren 
Mädchenschule  durch  die  Ablegung  einer  ferneren  wissen- 
schaftlichen Prüfung  bedingt.  Diese  Prüfung  nun  setzt  ein 
wissenschaftliches  Studium  in  verschiedenen  Fächern  voraus, 
das  seiner  Natur  nach  nur  im  Anschiuss  an  die  Universität 
erfolgen  kann.  Der  akademische  Senat  hat  nun  im  Anschlags 
an  jene  Bitte  den  früheren  Beschluss  von  neuem  geprüft  und 
beschlossen,  nicht  nur  die  elsass-lothringischen  Lehrerinnen, 
sondern  studirendc  Frauen  überhaupt  zuzulassen.  Der  frühere 
Beschluss  ist  ganz  aufgehoben  worden.  Von  jetzt  an  können 
also  Dozenten  der  Universität  Frauen,  die  den  entsprechenden 
Grad  von  wissenschaftlicher  Vorbildung  haben,  zu  ihren  Vor- 
lesungen und  Uebungen  nach  Belieben  zulassen.  Es  ist  also 
nunmehr  an  allen  deutschen  Universitäten  den  Frauen  der  Zu- 
gang zum  akademischen  Studium  eröffnet. 

Wie  aus  Aeusserungen  eines  Regierungsvertreters  in  der 
Petitionskommis8ion  des  preussischen  Abgeordnetenhauses  zu 
entnehmen  ist,  sind  die  beim  Reiche  schwebenden  Verhand- 
lungen wegen  Zulassung  der  Frauen  zu  den  medizinischen 
Prüfungen,  sowie  zu  den  Prüfungen  der  Zahnärzte  und  Apo- 
theker dem  Abschlüsse  nahe  gerückt.  Die  überwiegend«? 
Mehrzahl  der  Bundesstaaten  hat  sich  dafür  ausgesprochen, 
dass  den  Bewerberinnen,  welche  auf  Grund  des  Gymnasial- 
reifezeugnisses  zwar   nicht   als  immatrikulirte  Studentinnen, 


Inneres.    Frauenfrage.  443 

aber  als  Hospitantinnen  einen  ordnungsmäBsigen  Studiengang 
zurückgelegt  haben,  vorbehaltlich  der  Erfüllung  aller  sonstigen 
für  Männer  bestehenden  Erfordernisse,  die  Zulassung  nicht  zu 
nntersagen  sei.  Eine  entsprechende  Vorlage  an  den  Bundes- 
rat!) ist  in  Vorbereitung.  Die  Stellung  der  prenssischen 
Staatsregierung  zu  der  Frage  ist  die  gleiche  wie  früher. 
Die  Zahl  der  zum  Hören  von  Vorlesungen  zugelassenen 
Frauen  betrug  im  letzten  Wintersemester  an  den  prenssischen 
Universitäten  414,  welche  sich  auf  die  einzelnen  Universi- 
täten wie  foJgt  vertheilten :  Berlin  238,  Bonn  26,  Breslau  32, 
Gottingen  26,  Greifswald  17,  Halle  15,  Kiel  17,  Königsberg 
33,  Marburg  10,  Münster  0.  Der  Regierungskommissär  theilte 
hierüber  noch  Einzelheiten  mit.  Nur  22  der  Zugelassenen 
gehörten  dem  Alter  unter  20  Jahren  an,  250  waren  zwischen 
20  und  30,  142  über  30  Jahre  alt.  276  besassen  die  Reichs- 
angebörigkeit.  Von  den  Ausländerinnen  entfielen  59  auf 
Rassland,  50  auf  Amerika.  Dem  Bekenntniss  nach  waren, 
soweit  darüber  Mittheilungen  gemacht  sind,  300  evangelisch, 
24  katholisch,  88  isreali tisch,  dem  Familienstande  nach  374 
ledig,  36  verheiratet,  3  verwittwet.  Ais  Studienfächer  waren 
genannt  (von  den  einzelnen  Kombinationen  abgesehen)  bei 
159  Geschichte  und  Philosophie,  bei  92  Kunst  und  Litteratur, 
bei  72  neuere  Sprachen,  bei  48  Naturwissenschaften  und 
Mathematik,  bei  14  Medizin,  bei  3  Zahnheilkunde,  bei  13 
Rechts-  und  Staatswissenschaften,  bei  9  Theologie,  bei  4  alte 
Sprachen.  Als  Stand  des  Vaters  waren  in  133  Fällen  aka- 
demische Berufsarten,  in  17  Offiziersstand,  in  13  Lehrer- 
stand, in  23  mittlerer  und  unterer  Beamtenstand,  in  3 
Künstlerberuf,  in  144  Kaufmannsstand,  in  24  landwirtschaft- 
licher Beruf,  in  33  sonstige  gewerbliche  Berufsarten  ange- 
geben. Missstände,  die  sich  aus  dem  gleichzeitigen  Besuch 
der  Vorlesungen  durch  männliche  und  weibliche  Studirende 
ergeben  hätten,  sind  nicht  bekannt  geworden.  Gleichwohl 
besteht  in  Universitätskreisen  vielfach  noch  Abneigung  gegen 
die  Zulassung  der  Frauen,  wie  dies  erneut  bei  Besprechung 
der  Angelegenheit  in  der  im  Oktober  v.  Js.  abgehaltenen 
Rektorenkonferenz  hervorgetreten  ist.  Den  Frauen  die  Zu- 
lassung zur  Immatrikulation  und  damit  ein  Recht  auf  Besuch 


444  Jahresbericht  1899. 

sämmtlicher  Vorlesungen  zu  gewähren,   hält  die  preussische 
Regierung  unter  diesen  Uniständen  nicht  für  angezeigt. 

In  Rassland  können  seit  dem  23.  Februar  dieses  Jahres 
weibliche  Aerzte  in  den  Staatsdienst  treten. 

In  Norwegen  fand  am  17.  Mai  in  Christiania  eine 
grosse  Demonstration  zu  Gunsten  des  Frauenstimmrechts  in 
Staats-  und  Gemeindeangelegenheiten  statt,  worüber  der 
Zeitungsbericht  der  Lausanner-Zeitung  wie  folgt  lautet : 

«Le  17  mai,  «Jour  de  la  Libertö»  en  Norvöge,  les  feinmes 
norvegiennes  ont  fait  a  Christiania  une  grande  d&nonstration 
«n  faveur  du  droit  de  vote  politique  et  communal. 

Un  cortöge  de  deux  mille  cinq  cents  d'entre  elles,  jeunes 
et  vieilles,  des  plus  riches  et  des  plus  pauvres,  6tudiantes 
et  ouvriöres,  est  parti  ä  deux  heures  et  demie  de  la  place 
du  Nouveau-March6  pour  se  rendre  au  bätimenl  du  Biksdag. 
Le  cortöge  comptait  dix-sept  soc!6t6s  avec  leurs  banniöres; 
il  6tait  pr6c6d6  d'un  corps  de  musique  et  escortö  de  gendarmes 
ä  chevaL 

Le  pr^sident  du  Riksdag,  M.  Ulimann,  a  recu  d'une  de- 
putation  la  Petition  suivante  revetue  des  signatures  de  10,570 
femmes  : 

«D6put6es  d'un  grand  hombre  de  femmes  de  toutes  les 
classes  de  la  population,  nous  nous  permettons  aujourd'hui, 
jour  de  la  libertä,  de  präsenter  au  Storthing  notre  requete 
en  faveur  de  l'admission  des  femmes  ä  voter  en  mattere  poli- 
tique et  communaie. 

«Dcpuis  1885,  la  demande  en  a  etö  faite  au  Storthing 
toujours  plus  pressante,  appuyäe  par  un  nombre  croissant  de 
femmes  du  pays  entier,  habitant  palais  et  cabanes. 

«Chaque  fois  nous  avons  r£clam6  notre  droit  de  discuter 
les  lois  du  pays  et  de  la  commune,  de  concert  avec  les  hom- 
mes  de  qui  nous  partageons  les  soucis  domestiques  et  que 
nous  secondons  de  notre  travail  daus  tous  les  domaines  de 
l'activite  humaine. 

«Nous  räclamons  notre  droit  au  nom  de  la  collectivit£ ; 
de  meine  qu'homines  et  femmes  se  soutiennent  dans  le  travail 
journalier,  il  faut  qu'il  en  soit  de  m&me  dans  la  vie  publique. 


Inneres.    Frauenfrage.  445 

pour  la  prospäritä  du  pays  et  de  la  population.  Nous  röcla- 
mons  notre  droit  en  tant  qu'indiyidus :  il  est  blessant  et  avi- 
lissant  d'etre  mises  de  cöte. 

«Mais  bien  qu'on  nous  concäde  la  lägitimite'  de  nos  re- 
vendicatious  et  qu'on  reconnaisse  les  inconvenients  sociaux 
resultant  de  ce  qu'une  moitte  sculement  de  la  nation  jouit  des 
droits  politiques,  rien  n'a  6te  fait  encore  de  la  part  des  au- 
torites  pour  faire  droit  ä  nos  demandes. 

«Aucune  mere,  aucunc  fenune  norvegienne  n'a  jusqu'ici 
obtenu  ce  que  tout  houime  libre  a  conquis  par  les  dernieres 
extensions  du  droit  electoral :  le  droit  de  proteger  son  travail 
et  ses  inter&ts,  le  droit  de  contribuer  au  bonheur  et  ä  la 
prosperitä  de  notre  grand  chez  nous,  notre  patrie  aussi  bien 
que  celle  des  frommes. 

«Aujourd'hui,  jour  de  la  libertä,  nous  apportons  au  Stör- 
thing  notre  Petition  en  faveur  du  droit  de  vote  en  mattere 
politique  et  communale.  II  n'est  aucun  jour  oü  les  ombres 
de  l'injustice  soient  plus  profondes  que  ce  jour-lä.  Mais  nous 
avons  l'espoir  que  le  Storthing  de  Norvege  äcoutera  notre  de« 
inando  et  nous  donnera  notre  droit.» 

Le  cortege  s'est  ensuite  rendu  dans  le  jardin  du  chäteau 
royal  oü  la  pr&idente  a  prononcä  un  discours.  La  mani~ 
festation  s'est  ensuite  dispersa  paisiblement. 

On  a  6te  tres  frappä  a  Christiania  de  la  dignitä  et  de 
l'esprit  de  solidarit6  entre  toutes  les  classes  de  la  sociätä 
dont  cette  dämonstration  a  6te  empreinte.> 

In  Amerika  ist  folgendes  vorgegangen : 

In  South-Dakota  ist  das  Frauenstimmrecht  abgelehnt 
worden,  doch  mit  so  geringer  Majorität,  dass  man  hofft,  es 
beim  nächsten  Versuche  durchzubringen.  In  Nebraska  wurde 
den  Frauen  das  Recht  zuerkannt,  über  die  Verwendung  von 
Schulgeldern  mitzubestimmen.  —In  Colorado  haben  die  Frauen 
bereits  verschiedene  gute  Gesetze  durchgebracht,  beispielsweise 
die  Erhöhung  der  Schulzeit  für  die  Mädchen  bis  auf  das  18.  Jahr, 
die  .Gründung  eines  staatlichen  Heims  für  uneheliche  Kinder 


446  Jahresbericht  1899. 

ferner  ein  Gesetz,   das  den. Müttern  gleiche  Rechte  über  die 
Kinder  zuertheilt  wie  den  Vätern. 

Dass  sich  das  Franenstiromrecht  in  diesem  Staate  be- 
währt hat,  dafür  spricht  ferner  folgende  Resolution,  die  das 
Parlament  von  Colorado  mit  45  gegen  3  Stimmen  zur  Erinnerung 
an  die  vor  fünf  Jahren  eingeführte  Neuerung  angenommen  hat: 

«In  Erwägung,  dass  gleiches  Wahlrecht  für  beide  Ge- 
schlechter seit  fünf  Jahren  in  Colorado  besteht,  während 
welcher  Zeit  die  Frauen  es  ebenso  allgemein  ausgeübt  haben, 
als  die  Manner,  und  zwar  mit  dem  Erfolg,  dass  für  öffent- 
liche Aemter  geeignetere  Kandidaten  gewählt  wurden,  die 
Wahlmethode  verbessert,  die  Gesetzgebung  vervollkommnet, 
die  allgemeine  Bildung  gehoben,  das  politische  Yerantwort- 
Hchkeitsgefühl  infolge  des  weiblichen  Einflusses  stärker  ent- 
wickelt worden  ist,  beschliesst  das  Unterhaus,  dass  im  Hin- 
blick auf  diese  Resultate  die  politische  Gleichstellung  der 
Frauen  jedem  Staate  und  jedem  Territorium  der  nordameri- 
kanischen Union  als  eine  gesetzgeberische  Massnahme  em- 
pfohlen werde,  die  geeignet  ist,  eine  höhere  und  bessere  so- 
ziale Ordnung  herbeizuführen.» 

Eine  beglaubigte  Kopie  dieser  Resolution  ist  dnreh  den 
Gouverneur  von  Colorado  allen  Staaten  der  Union  und  der 
gesammten  Presse  zugestellt  worden.  Die  Franen  in  Colorado 
besitzen  nicht  bloss  das  aktive,  sondern  auch  das  passive 
Wahlrecht.  Das  Parlament  zählt  mehrere  weibliche  Mitglieder. 

Im  Staate  New-York  ist  ein  Gesetzesentwurf  in  Vorbe- 
reitung, wonach  die  Vergehen  von  Kindern  unter  12  Jahren 
von  einem  Gerichtshöfe,  der  ausschliesslich  aus  verheirateten 
Frauen  besteht,  abgeurtheilt  werden  sollen.  Der  Grundsatz, 
dass  Mütter  die  einzigen  massgebenden  Beurtheiler  kindlicher 
Fehltritte  sind,  würde  hier  zum  ersten  Male  gewissermaßen 
staatliche  Beglaubigung  erhalten. 

Ferner  hat  der  New- Yorker  Stadtrath  beschlossen,  mehr 
als  200  Knaben,  die  in  den  verschiedenen  Verwaltungen  als 


Inneres.    Frauenfrage.  447 

Aufwärter,  Laufbarschen,  Schreiber  verwendet  werden,  zu 
entlassen,  und  dafür  Mädchen  in  den  Dienst  der  Stadt  zu 
übernehmen.  Die  Herren  Jungen  haben  sich  nicht  als  zuver- 
lässig erwiesen.  Sie  waren  fanl,  frech,  unwillig,  rauchten  Ci- 
garetten  und  lasen,  wo  sie  nur  konnten,  unmoralische  Pten- 
nigblätter.  Die  bisher  angestellten  Mädchen  sind  ihnen  an 
Sauberkeit,  Fleiss  und  Aufmerksamkeit  überlegen.  Es  haben 
bereits  über  150  Mädchen  die  Prüfung  für  die  leichten  Dienste 
bestanden,  die  ihnen  obliegen.  Sie  erhalten  120  bis  150  Fran- 
ken per  Monat. 

Wir  verweisen  im  Uebrigen  für  die  amerikanischen  Ver- 
hältnisse auf  den  Origiuaibericht  von  Frau  Belva  Lockvood 
in  den  Beilagen  zum  «Frauenstimmrecht»  Jahrbuch  XI. 

Um  mit  einer  mehr  komischen  Episode  aus  diesem  Lande 
des  Fortschrittes  zu  schliesseu: 

«Jones,  deColombes,  Ohio  est  un  celibataire  membre  da 
conseil  communal  de  sa  ville.  A  ce  titre,  il  a  vot6  contre 
la  nomination  d'une  jeune  fille  au  poste  de  stänographe  du 
tribunal:  «Tant  qu'une  femme  gagnera  deux  cent  cinquanto 
francs  par  mois  dans  an  office  public,  s'est-il-ecrie,  il  sera 
impossible  ä  un  celibataire  de  songer  au  mariage.  Le  inal- 
heureux  I  Sa  correspondance  a  doubl6  depuis  qu'il  a  prononce 
cette  parole  imprudente.  De  toutes  les  parties  du  pays  ii 
rec,oit  des  centaines  de  lettres  de  femmes.  Les  unes  lui  offrent 
le  mariage,  les  autres  dänoncent  son  egoi'sme.  Pour  avoir  le 
temps  de  repondre  galamment  aux  unes  et  aux  autres,  Jones 
a  6te  obligä  de  louer  une  machine  ä  öcrire  et  de  prendre  ä 
son  Service,  comme  stenographe,  la  jeune  fille  contre  laquelle 
il  avait  vote  quelques  jours  auparavant.  Ce  sera  peut-etre 
eile  qu'il  finira  par  epouser.»     (Gazette  de  Lausanne.) 

Die  Sache  hat  übrigens  ihre  ernste  Seite,   der  Brodneid 


448  Jahresbericht  1899. 

spielt  auch   eine   erhebliche   Rolle   in  dieser  Emanzipations- 
frage. 

In  der  Schweiz  ging  folgendes  vor: 

In  der  NationalrathBsitzung  vom  27.  Mai  1899  wurde  die 
Frage  angeregt,  ob  Frauen  zur  Lehrlingsprüfung  im 
Handelsfache  zugelassen  werden  sollen,  was  die  männlichen 
Handelskreiße  perhorresziren ;  das  Handels-  und  Industriede- 
partement erklärte  jedoch,  dass  es  die  Frauen  gleich  be- 
handeln werde,  wie  die  Männer,  trotz  allfälligen  Widerstandes. 
Wenn  die  Sektionen  des  Handelsvereins  das  nicht  acceptiren, 
müssen  sie  auf  die  eidg.  Subvention  verzichten. 

In  der  gleichen  Sitzung  wurde  der  Wunsch  ausgesprochen, 
dass  auch  weibliche  Fabrikinspektoren  angestellt  werden, 
wie  es  jetzt  schon  in  England  geschieht,  mit  sehr  gutem  Erfolg  be- 
sondersfür die  Frauen-  und  Kinderarbeit.  Die  männlichen  Fabrik- 
inspektoren sind  natürlich  auch  hier,  wie  in  England,  dagegen, 
das  thut  aber  auch  gar  nichts  zur  Sache.  Der  Dep.-Chef 
meinte,  es  könne  dies  erst  mit  der  Revision  des  Fabrikge- 
setzes kommen,  das  jetzige  Gesetz  stehe  dem  entgegen.  Das 
letztere  ist  zwar  kaum  ganz  richtig,  immerhin  spricht  ein 
Opporrunitätsgrund  dafür,  daraus  keine  separate  Frage  zu 
machen. 

Die  eidg.  Postverwaltung  hatte  dagegen  in  den  letzten 
zwei  Jahren  nur  männliche  Postaspiranten  angenommen.  Es  wird 
hiefür  vom  Departement  der  Grund  angegeben,  dass  die  weiblichen 
Postbeamten  für  manche  Verwendungen  nicht  passen,  z.  B.  für 
Nachtdienst,  Bahndienst  etc. ;  alle  Kreispostdirektionen  ziehen 
daher  die  männlichen  Aspiranten  vor.  Im  nächsten  Jahre  soll 
das  jedoch  dennoch  wieder  in  grösserem  Masse  anders  werden. 
Wir  unsererseits  fanden  die  weiblichen  Postangestellten  stets 
mindestens  ebenbürtig,  soweit  wir  mit  solchen  jemals  in 
Berührung  gekommen  sind. 


Inneres.    Frauenfrage.  449 

In  den  Kantonen  gehen  merkwürdigerweise  die  romani- 
schen in  dieser  Frage  voran.  Am  12.  März  übten  in  einer 
Versammlung  der  freikirchlichen  Gemeinde  von  Lausanne  die 
Frauen  zum  ersten  Male  das  Stimmrecht  aus.  Sie  waren  zahl- 
reicher erschienen  als  die  Männer,  und  die  cGaz.  de  Lausanne» 
glaubt  annehmen  zu  dürfen,  dass  ihre  Stimmen  den  Ausschlag 
gaben  für  eine  Wahl  des  Pfarrers  Gagnebin,  zur  Zeit  in 
Biel,  im  ersten  VVahlgange.  Nachdem  die  Eglise  libre  voran- 
gegangen, beschäftigt  man  sich  nun  auch  in  der  Eglise 
nationale  der  Waadt  mit  der  Einführung  des  Frauen- 
stimmrechts. In  der  Gemeinde  Chexbres  machte  man  den 
Versuch  einer  Abstimmung  der  Frauen  selbst  über  die  Frage 
und  dieselbe  ergab  eine  grosse  Mehrheit  dafür,  was 
manchen  Leuten,  die  stets  behaupten,  die  Frauen  wollten  selbst 
nicht  mehr  Rechte,  als  sie  haben,  etwas  unerwartet  kam.  Es 
gibt  freilich  noch  viele  Frauen,  die  aus  Wohldienerei,  oder  Gleich- 
gültigkeit, da  sie  selbst  nicht  gerade  leiden,  von  der  « an- 
deren Aufgabe*  der  Frauen  reden ,  oder  es  «un weiblich  > 
finden  zu  stimmen.  Dagegen  ihre  Töchter  um  jeden  Preis  an 
den  Mann  zu  bringen,  das  finden  sie  gewöhnlich  sehr  weiblich. 

Betreffend  die  «condition  civile  de  la  femme  marine» 
wurde  im  waadtländischen  Grossen  Kath  eine  Gesetzesvorlage 
berathen,  deren  Artikel,  wie  folgt,  lauten: 

Article  premier.  —  La  femme  mariee  qui  exerce,  inde- 
pendamment  de  son  man,  une  profession,  une  Industrie  ou  un 
travail  retribue,  a  sur  le  produit  de  son  travail  et  sur  les 
acquisitions  provenant  de  ses  gains  les  memes  droits  que  la 
femme  separee  de  Mens« 

Art.  2.  —  La  femme  qui,  par  son  travail,  a  acquis  des 
biens  personnels,  doit  contribuer  proportionnellement  ä  ses 
facultas  et  ä  celles  de  son  mari  aux  frais  du  manage  et  ä 
ceux  de  l'education  des  enfants  communs. 

29 


450  .  Jahresbericht  1899. 

Elle  doit  supporter  entiörement  ces  frais  s'il  ne  reste  rien 
au  mari. 

Art.  3.  —  En  derogation  ä  Part.  1064  da  code  civil,  la 
reconnaissance  ou  l'assignat  passe  par  le  mari  n'emporte  en 
sa  favear  transfert  de  la  propriäte*  des  creanccs  et  autres 
tiires  appartenant  ä  la  femme  que  si  celle-ci  en  fait  la  de- 
mande  devant  le  jage  de  paix. 

Art.  4.  —  En  cas  de  contestation,  la  femme  doit  etablir 
l'origine  et  la  propriöte*  des  biens  lui  appartenant.  Elle  peut 
le  faire  par  tout  mode  de  preuve  et  m6me  par  temoins,  qu'elle 
que  soit  l'importance  de  la  de  man  de. 

Art.  5.  —  En  dehors  des  cas  prerus  au  deuxiöme  alinea 
de  l'art.  214  du  code  civil,  la  justice  de  paix  peut  designer 
la  märe  survivant  a  son  conjoint  comme  tutrice  de  ses  en- 
fants  mineurs. 

Art.  6.  —  Le  juge  de  paix  est  competent  pour  recevoir 
les  assignats  et  les  reconnaissances ;  il  est  ä  cet  effet  assiste 
du  greftier. 

Art.  7.  —  Sont   abrogäs  les   art.   1049  ä  1056   du    code 
civil,    ainsi  quo  tonte  disposition  contraire  a  la  presente  loi. 

Die  Kommission  beantragte  folgende  Amendements: 

Art.  7.  —  La  femme  ne  peut  ester  en  jugement  sans 
l'autorisation  de  son  mari. 

Si  l'autorisation  du  mari  est  refusee,  eile  pourra  etre 
aecord^e  par  la  justice  de  paix  apres  que  celle-ci  aura  en- 
tendu  les  parties. 

Cette  autorisation  n'est  pas  nßcessaire  pour  intenter  Fac- 
tum en  divorce,  demander  la  Separation  de  biens,  agir  en  re- 
vendication,  intervenir  dans  une  saisie  ou  intenter  l'action  en 
changement  de  reponse  coutre  son  mari  (L.  P.  107,  111  et 
250). 

Art.  8.  —  La  femme  ne  peut  passer  aueun  contrat,  ni 
autrement  s'obliger,  ni  aeeepter  de  donation  ou  de  succession 
sans  l'autorisation  de  son  mari. 

Si  l'autorisation  du  mari  est  refusee,  la  justice  de  paix 
pourra  l'accorder  apres  avoir  entendu  les  parties. 

Art.  9.  —  Si  la  femme  s'oblige  au  profit  de  son  mari, 
l'autorisation  de  la  justice   de  paix  sera  toujours  necessaire. 


Inneres.    Frauenfrage.  451 

Art.  10.  —  L'autorisation  generale  est  valable. 

Art.  11.  —  Lorsque  la  ferame  n'a  pas  6te*  au  torisäe  aux 
termes  des  art.  7,  8  et  9  de  la  präsente  loi,  l'action  en  nul- 
lit^ ne  pent  Gtre  exercöe  et  l'exception  ne  peut  Gtre  oppose> 
que  par  la  femme,  par  le  mari  ou  leurs  häritiers. 

L'art.  7  du  projet  prendra  le  n°  12  et  serait  modifie* 
comme  suit: 

Sont  abroge*  les  art.  117,  118,  119,  120,  121,  125, 
1049  et  1056  du  code  civil  ainsi  que  toute  disposition  con- 
traire  ä  la  präsente  loi. 

In  kurzer  Zeit  wird  das  Gesetz  ohne  Zweifel  zur  An- 
nahme gelangen  und  ein  Beispiel  für  andere  Kantone  bilden. 

Im  T  es  sin  wurde  die  Frage  des  Frauenstimmrechts  in 
der  Presse  erörtert.  Eine  solche  Stimme  machte  dabei  die 
interessante  Entdeckung,  dass  in  einigen  Gemeinden  im  Tessin 
das  Frauenstimmrecht  gewissermassen  thatsächlich  bestehe, 
da  im  Sommer,  wenn  die  Männer  auswärts  sind,  sonst  keine 
Beschlüsse  möglich  wären.1)  Die  Notwendigkeit  einer 
solchen  Massregel  hat  wenigstens  die  Gemeinde  Melano 
(Bezirk  Lugano)  anerkannt,  indem  sie  förmlich  beschloss, 
in  Ermangelung  volljähriger  Mitglieder  männlichen  Ge- 
schlechts dürfe  jede  zur  Bürgergemeinde  gehörende  Familie 
in  Bürgerangelegenheiten  sich  durch  volljährige  Frauensper- 
sonen vertreten  lassen.  Dem  Beschluss  steht  freilich  ein 
Gesetz  von  1843  über  die  Ordnung  der  Bürgerangelegenheiten 
entgegen,  die  Presse  ist  aber  der  Ansicht,  dass  dieses  Gesetz 
zur  Aufhebung  reif  sei.  Nur  die  spezifisch  katholischen 
Blätter   sprachen   sich   gegen  dieses   Frauenstimmrecht   aus. 

In  den  deutschen  Kantonen  geht  Bern  mit  der  Wähl- 
barkeit der  Frauen  in  die  Schulkommissionen  voran.  Eine  an- 
gesehene Zeitung  sagt  darüber: 

«Es  ist  in  jüngster  Zeit  in  unserem  Kanton  die  Anregung 
gemacht  worden,    dass  Frauen   zu  Mitgliedern   der   den  Er- 

*)  Einstweilen  scheint  uns  dies  etwas  zweifelhaft. 


452  Jahresbericht  1899. 

Ziehungsanstalten  jeder  Art  vorgesetzten  Kommissionen  ge- 
wählt werden  sollten.  Der  Direktor  des  Unterrichts  Wesens, 
Herr  Gobat,  spricht  sich  in  einem  Vortrag  an  die  Regierung 
nnd  den  Grossen  Rath  zu  Gunsten  der  Frauenbestrebungen 
aus :  Für  die  Einfuhrung  der  Frau  in  die  Schulkommissionen 
spricht  alles.  Die  Frau,  als  geborne  Erzieherin,  gehört  in  die 
Schule  und  in  die  Schulleitung,  das  ist  ein  unbestreitbarer 
Satz.  Dass  die  Frau  gegenwärtig  bei  uns  von  den  Schulkom- 
missionen ausgeschlossen  ist,  lässt  sich  nur  dadurch  erklären,, 
dass  der  Mann,  der  das  Privileg  der  Gesetzmacherei  in  An- 
spruch genommen,  nur  an  sich  gedacht  und  die  bessere  Hälfte 
der  Menschheit  einfach  ignorirt  hat  Die  Direktion  des  Un- 
terrichtswesens  hat  schon  einmal  den  Versuch  gemacht,  die 
Frau  in  die  Schulkommission  einzuführen.  In  ihrem  defini- 
tiven Entwurf  des  im  Jahre  1894  promulgirten  Gesetzes 
über  den  Primarun terricht  stand  folgende  Bestimmung: 
«Wählbar  in  die  Schulkommission  ist  jede  Person,  beiderlei 
Geschlechts,  welche  das  20.  Altersjahr  zurückgelegt  hat,  in 
bürgerlichen  Ehren  steht  und  unbescholtenen  Leumunds  ist.* 
Der  Regierungsrath  nahm  jedoch  diese  Bestimmung  nicht  ant 
und  es  blieb  bei  der  herkömmlichen  Wählbarkeit  der  Männer. 

Seither  hat  aber  die  Frage  viel  Terrain  gewonnen.  Die 
Frauen  haben  sich  in  den  meisten  Kulturländern  mit  aller 
Energie  an  die  Eroberung  von  Rechten  im  öffentlichen  Leben 
gewagt  und  es  ist  ihnen  gelungen,  bedeutende  Erfolge  zu  er- 
reichen, selbst  in  unserem  Kanton.  Bestimmt  doch  das  Armen- 
gesetz (§  84),  dass  «zur  Beaufsichtigung  von  weiblichen  Un- 
terstützten, insbesondere  zur  Obhut  armer  Mädchen  in  und 
ausser  Anstalten,  sowie  zur  Ueberwachung  der  Kinderpflege 
Staat  und  Gemeinde  Frauen  zur  Mitwirkung  beiziehen  können.» 
Gestützt  darauf  hat  der  Staat  Frauen  zu  Mitgliedern  ver- 
schiedener Anstaltskommissionen  gewählt.  Da  diese  Bestim- 
mung in  keiner  Weise  beanstandet  worden  ist,  so  6teht  zu 
erwarten,  dass  die  Erklärung  der  Wählbarkeit  der  Frau  als 
Mitglied  der  Primär-  und  Sekundarschulkommissionen  auch 
keinen  Schwierigkeiten  begegnen  wird.  Dem  Vortrage  ist  ein 
entsprechender  Gesetzesentwurf  beigegeben.» 

Die  Gesellschaft  «Berna»,  die  ausschliesslich  aus  Frauen 


Inneres.  Frauenfrage.  Kirchliches.  453 

besteht,  gibt  seit  diesem  Jahre  eine  Zeitschrift  heraus,  die 
sich  mit  Frauenfragen  beschäftigt.  An  der  Spitze  des  lei- 
tenden Komitos  steht  eine  ganz  dazu  berufene  Frau,  die  Gattin 
des  gegenwärtigen  Bundespräsidenten  der  Eidgenossenschaft. 

Dagegen  wurde,  während  dies  in  «Sparta»  geschieht, 
in  dem  schweizerischen  «Athen»  (allerdings  ganz  entsprechend 
den  athenischen,  in  dieser  Hinsicht  sehr  mediokren  Anschau- 
ungen) yon  der  Synode  die  Ertheilung  des  kirchlichen  Stimm- 
rechts an  die  Frauen  nnd  Ausländer,  ja  sogar  der  Ausdruck 
eines  Wunsches  dieser  Art  zu  Protokoll,  abgelehnt. 

Ohne  Zweifel  ist  auch  in  der  Schweiz  diese  Sache  in 
Fluss  gerathen,  gehörig  geregelt  kann  sie  aber  ohne  das  Frauen- 
stimmrecht nicht  werden.  Hierüber  sagt  ein  Schriftsteller  mit 
vollem  Recht :  Wenn  man  den  oft  schändlich  gequälten  Thieren 
Stimmrecht  geben  könnte,  so  wurde  das  Mitleid  mit  denselben 
plötzlich  viel  grösser  werden.  So  ist  es  leider  auch  im 
Menschenhaushalt.  Recht  bekommt  in  der  Regel  nur  der, 
welcher  es  sich  allfällig  selbst  verschaffen  kann. 

Dass  diese  Einsicht  manchmal  lange  auf  sich  warten 
lässt,  weil  die  unterdrückten  Parteien  die  Mittel  nicht  haben, 
11m  sich  auf  legale  Weise  Geltung  zu  verschaffen,  die  Revo- 
lutionen aber  stets  etwas  Odioses  an  sich  tragen  und  nicht 
immer  von  den  angenehmsten  Leuten  in  Scene  gesetzt 
werden,  liegt  in  der  Natur  der  Sache.  Ebenso,  dass  die  beati 
possidentes  niemals  gern  ihren  bisherigen  Unterthanen  Gleich- 
berechtigung einräumen.  Doch  könnte  man  ja  denjenigen 
Männern,  welche  am  eifrigsten  gegen  die  Ausübung  des 
Franenstimmrechts  im  Staat  und  in  der  Gemeinde  sind,  als 
etwelche  Gegenleistung  das  häusliche  Stimmrecht  garan- 
tiren,  das  gerade  sie  mitunter  nicht  besitzen. 

Das  kirchliche  Leben  zu  Ende  des  19.  Jahrhun- 
derts zeigt  bei  uns,  wie  anderwärts,  nicht,  wie  noch  vor  einem 


454  Jahresbericht  1899. 

halben  Jahrhundert  zu  vermuthen  war,  das  Greisenantlitz 
eines  unheilbaren  Marasmus,  sondern  die  deutlichen  Spuren 
einer  bevorstehenden  Verjüngung.  Zwar  die  ältere  Generation 
namentlich  der  gebildeten  Kreise  lebt  noch  ganz  in  den  An- 
schauungen des  naturwissenschaftlichen  Materialismus,  in  denen 
sie  erzogen  worden  ist,  und  erhebt  sich  höchstens  etwa  zu 
einem  Goethe'schen  Agnostizismus,  welcher  das,  was  man 
nicht  wissen  kann,  «schweigend  verehrt»  (d.  h.  ruhig  igno- 
rirt),  praktisch  jedoch  atheistisch  denkt  und  handelt.  Und 
ebenso  ist  der  Niederschlag  dieser  Art  von  «Bildung»  in  den 
unteren  Klassen  in  der  Form  einer  rohen  Genusssucht  in 
hohem  Grade  vorhanden.  Daneben  aber  fangen  die  Gebil- 
detsten doch  an,  sich  zu  besinnen,  ob  das  wirklich  das  Ende 
der  vieltausendjährigen  Versuche  der  Menschheit,  zu  einer 
höheren  und  allgemeineren  Kultur  zu  gelangen,  sein  soll,  und 
in  weiten  Kreisen  macht  sich  das  Verlangen  nach  einem 
festen  und  befriedigenden  Glauben,  neben  dem  erreichbaren 
Wissen,  bereits  unverkennbar  geltend.  Ohne  Zweifel  wird 
diese  «religiöse  Frage»  die  soziale  ablösen,  von  der  Erfah- 
rung ausgehend,  dass  dem  gewaltigen  Elend,  welches,  neben 
der  ebenso  stark  fortschreitenden  Ansammlung  unnützer 
Reichthümer,  immerfort  zunimmt,  durch  keine  staatlichen 
Massnahmen,  oder  gesellschaftlichen  Revolutionen  gründlich 
zu  steuern  sei,  sondern  nur  durch  eine  Veränderung  der 
Gesinnung  in  allen  Klassen,  welche  ebenfalls  erfahrungs- 
gemäS8  nicht  auf  philosophischem,  sondern  nur  auf  religiösem 
Wege  erzielt  werden  kann.  Die  Nothwendigkeit  der  Religion* 
die  sich  von  selbst  beweist,  wird  das  Ansehen  der  Religion 
besser  wiederherstellen,  als  alles  Lehren  und  Predigen  es 
vermochte,  und  wir  zweifeln  dabei  nicht,  dass  auch  in  Bezug 
auf  die  kirchliche  Form  derselben  eine  gewisse  Erneuerung 
vor   der  Thüre   steht,    die  übrigens    unseres  Erachtens  gar 


Inneres.    Kirchliches.  455 

nicht  die  Hauptsache  ist.  Für  die  christliche  Religion,  die 
wir  dabei  natürlich  wesentlich  im  Auge  haben,  wird  die  sehr 
intensive  Berührung:  mit  zwei  anderen  ebenso  verbreiteten 
Religionen,  dem  Islam  und  dem  Buddhismus,  in  die  sie  nun 
durch  die  Theilung  Asiens  unter  christliche  Mächte  gelangt, 
die  unmittelbare  Ursache  eines  kräftigen  Aufraffens  und  Zu- 
sammenschlusses werden,  ohne  den  sie  diesem  Einflnss  nicht 
«rehörigen  Widerstand  zu  leisten  vermöchte.  Schon  jetzt 
fangen  einzelne,  namentlich  deutsche  Gelehrte  an,  den  Budd- 
hismus, oder  den  Brahmanismus  als  dem  Christentum  eben- 
bürtig, ja  mitunter  sogar  als  die  eigentliche  Quelle  desselben 
zu  erklären  *),  und  was  den  Islam  betrifft,  so  lässt  sich  nicht 
läugnen,  dass  derselbe  im  Grossen  und  Ganzen  treuere  Be- 
kenner  besitzt  als  das  Christcnthum,  welche  namentlich 
nach  den,  allerdings  leichteren,  Geboten  ihrer  Religion  leben, 
was  bei  den  Christen  in  sehr  bescheidenem  Massstabe  der 
Fall  ist.  Viele  derselben  würden  auch  nach  ihren  Sitten  und 
Lebensanschauungen  ganz  gut  Islamiten  sein  können,  und  die 
«moderne»  Litteratur  und  Kunst  zeigt  nichts  weniger  als 
einen  ausgeprägt  «nazarenischen»  Typus.  Es  werden  daher 
offenbar  im  kommenden  Jahrhundert  die  inneren  Dissensionen 
innerhalb  der  christlichen  Kirche  an  Bedeutung  verlieren  und 
theilweise  aufhören  müssen  gegenüber  einer  evidenten  Not- 
wendigkeit, die  bei  weitem  überwiegende  gemeinsame 
Wahrheit  gegen  einen  Ansturm  aufrecht  zu  erhalten,  der 
—  wenn  auch  zunächst  nur  auf  geistigem  Gebiete  —  an  die 
bereits  einmal  drohende  Ueberschwemmung  der  ganzen  abend- 


i)  Vgl.  z.  B.  Deussen,  Prof.  in  Kiel,  «Sechzig  Upanischad's  des 
Veda»  und  «Die  Philosophie  der  Upaiüschad's».  Die  meisten  dieser 
Schwärmer  sind  Buddhisten,  doch  ist  ein  starker  Gegensatz  zwischen 
dem  Buddhismus  und  der  Religion  der  Veda's  vorhanden.  Praklisch 
ist  aber  beides  gleich  unfruchtbar. 


456  Jahresbericht  1899. 

ländischen  Kultur  durch  die  Araber  und  die  Mongolen  er- 
innern wird.  Das  scheint  uns  die  nächste  Aussicht  der  reli- 
giösen Frage  für  das  kommende  Jahrhundert  zu  sein,  ein 
«Kulturkampf»  in  einem  ganz  anderen  und  ausgedehnteren 
Sinne  als  derjenige,  welcher  das  letzte  Viertel  des  gegen- 
wärtigen erfüllte,  ohne  viel  reelle  Resultate  zu  hinterlassen. 
Einstweilen  ist  das  Bewusstsein  von  einer  solchen  Gemein- 
samkeit als  Aufgabe  aller  einigermassen  idealistisch  denken- 
den Menschen  noch  nicht  gerade  in  weiteren  Kreisen  vor- 
handen, aber  der  Idealismus  hat  überhaupt  die  Geschichte 
in  der  Welt,  dass  er  durch  harte  Notwendigkeiten  und 
schlechte  Erfahrungen  mit  dem  Gegentheil  am  meisten,  viel 
mehr  als  durch  die  blosse  Einsicht,  oder  philosophische  Ueber- 
legung  Einzelner  befördert  wird. 

In  der  römisch-katholischen  Kirche  machen 
sich,  neben  der  starken  Centralisation,  welche  durch  das 
vatikanische  Konzil  und  den  ihm  folgenden  fruchtlosen  Kul- 
turkampf befördert  wurde,  einige  leise  Spuren  einer  Ab- 
bröckelung  geltend,  namentlich  in  0 esterreich,  wo  eine 
«Los  von  Rom-Bewegung»  eine  Zeitlang  eine  gewisse  Rolle, 
wenigstens  in  der  Presse,  spielte,  und  in  Frankreich,  wo 
der  Dreyfus-Prozess  dazu  Veranlassung  gab.  Wir  lesen 
darüber  seit  der  Entscheidung  dieses  Prozesses  Folgendes: 

«Eine  höchst  merkwürdige  Bewegung  leitet  das  Pariser 
Blatt  «Le  Siecle»  ein :  das  französische  Seitenstück  zum 
österreichischen  «Los  von  Roml»  In  den  letzten  drei  Num- 
mern zeigte  der  ehemalige  Dominikaner  Hyacinthe  Loyson, 
dass  einzig  ihr  Katholizismus  den  Verfall  der  romanischen 
Völker  verschulde,  und  nun  entwickelte  Yves  Guyot  den  Ge- 
danken, Frankreich  müsse  protestantisch  werden,  um  zu  leben. 
«Frankreich»,  so  heisst  es  in  dem  Anfsatz,  «hat  alles  zu  ver- 
lieren, wenn  es  katholisch  bleibt,  alles  zu  gewinnen,  wenn 
es  protestantisch  wird.  Der  Protestantismus  hat  keinen  engen 
Syllabus,  durch  den  jedermann  sich  zwängen  muss,  er  nimmt 


Inneres.    Kirchliches.  457 

alle  Formen  an  und  passt  sich  allen  Geistesstufen  an.  Wenn 
wir  die  gegenwartige  Gliederung  des  Katholizismus  zerstören 
und  gegen  ihn  die  Möglichkeit  des  religiösen  Wettbewerbes 
herstellen,  müssen  wir  laut  und  unzweideutig  verkünden,  dass 
es  zum  Vortheil  des  Protestantismus  geschieht  und  dass  wir 
auf  den  Protestantismus  rechnen,  um  Frankreich  dem  Katho- 
licismus  zu  entreissen.  Wenn  die  Trennung  von  Kirche  und 
Staat  bisher  so  viele  Leute  in  Frankreich  erschreckt  hat,  so 
war  es,  weil  die  Frage  so  gestellt  wurde :  «Katholizismus 
oder  Unglaube?»  Warum  sollen  wir  Freidenker  nicht  die 
ersten  sein,  die  Frage  anders  zu  stellen  und  Mirabeaus  For- 
mel :  «Frankreich  muss  entchristlicht  werden»  durch  die  For- 
mel zu  ersetzen:    «Frankreich   muss  entkatholisirt  werden?» 

Unsererseits  legen  wir  diesen  beiden  Bewegungen  keine 
sehr  grosse  Bedeutung  bei  und  würden  auch  auf  einen  sol- 
chen Zuwachs  zum  Protestantismus,  der  ihn  nur  deswegen 
schätzt,  weil  er  keine  rechte  Glaubenskonsistenz  mehr  hat, 
keinen  Werth  legen.  Solche  Leute  würden  sich  allerdings  in 
der  Zürcher-Kirchc  sehr  wohl  befinden,  in  der  nicht  ein- 
mal mehr  die  Taufe  nöthig  ist,  um  zu  ihr  zu  zählen.  Zu 
einer  «Kirche»  gehört  aber  auf  die  Dauer  doch  ein  Glaube ; 
sie  auf  Unglauben  zu  basiren,  ist  ein  ebenso  grosser  nonsens, 
wie  einen  Staat  von  Anarchisten  konstruiren  zu  wollen. 

Im  Laufe  des  Frühjahrs  wurde  in  Folge  ernster  Krank- 
heit des  gegenwärtigen  Papstes  ein  baldiges  Konklave  er- 
wartet und  daraufhin  bereits  alle  möglichen  Konjunkturen  über 
die  künftige  Politik  seines  Nachfolgers  aufgebaut.  Wir 
unsererseits  glauben,  dass  eine  andere  Politik  der  Curie, 
als  die  bisherige,  gar  nicht  möglich  ist ;  von  ihr  gilt  in  hohem 
Grade  der  Satz  des  Jesuitengenerals  Eicci:  «sit  ut  est,  aut 
non  sit».  Einzig  der  ausgesprochene  Wille  der  katholischen 
Völker  kann  jeweilen  für  einen  mehr  oder  weniger  friedlichen 
«modus  vivendi»  gegenüber  den  anderen  Konfessionen  und 
dem  Staate   den  Ausschlag   geben,   nicht   der  Charakter  des 


458  Jahresbericht  1899. 

jeweiligen  Inhabers   der  Tiara,  so    dass    von    dieser    muth- 

masslich  in    nicht    sehr    langer   Zeit    bevorstehenden    Wahl 

keinenfalls  viel  abhängen  wird. 

Grössere  Bedeutung  hatten  von  den  Erlas  senderCurie 

seit   dem   letzten   Jahre  die  Vernrtheilung  des  Würzbarger 

Professors  Schell  und   die   beiden  Kundgebungen   gegen   den 

«Amerikanismus»   und  über  die  französische  Politik.    Schell 

hatte  sich  über  die  Bedeutung  der  wissenschaftlichen  Wahrheit 

auch  für  die   katholische  Theologie    in    seiner  Rektoratsrede 

vom  Herbst  1896  u.  a.  wie  folgt  ausgesprochen: 

«Auch  die  Theologie  kennt  nur  eine  Gebundenheit  — 
die  Gebundenheit  an  die  Thatsachen,  auch  der  Theologe  kennt 
nur  ein  Kriterium  des  Thatsächlichen :  dass  sich  die  Sache 
eben  mit  der  Vernunft  in  den  Grundgesetzen  aller  Erfahrung 
sowie  alles  Denkens  in  Uebereinstimmung  befinde.  Auch  die 
Theologie  kennt  nur  eine  Schranke  für  die  wissenschaftliche 
Freiheit,  nämlich  die  Wahrheit,  die  man  als  solche  erkannt 
hat,  und  sie  erkennt  fernerhin  als  Wahrheit  nur  das  an,  was 
sich  in  der  Thatsächlichkeit  nachweisen  lässt  und  was  sich 
im  tiefsten  Sinne  zum  Erklärungsgrund  der  Wirklichkeit  und 
zur  Ueberwindung  aller  Unvollkommenheiten  und  klaffenden 
Widersprüche  eignet.» 

Er  war  dafür  von  der  «Germania»,    einem  der  leitenden 

Organe   des    deutschen  Katholizismus,   wie   folgt   anerkannt 

worden : 

«Am  28.  Oktober  ergriff,  als  sich  kaum  die  Thore  des 
neuen  Kollegien hauses  der  Alma  Julia  in  Würzburg  zum 
ersten  Male  erschlossen  hatten,  der  neugewählte  Rektor, 
Professor  Dr.  Schell,  sein  Szepter.  Es  ist  für  die  deutschen 
Katholiken  ein  erhebender  Gedanke,  dass  der  erste  Herr  des 
neuen  Hauses  einer  der  ihren  und  ein  katholischer  Theologe 
ist.  Der  Glaube  .  .  .  hat  sogleich  auch  von  dem  neuen  Ge- 
bäude durch  den  Mund  eines  seiner  geistesgewaltigsten  Ver- 
treter Besitz  ergriffen.  Durch  die  Antrittsrede  geht  ein  froher, 
6elbstbewusster  grossartiger  Zug  .  .  .  Und  in  dem  Augenblick, 
da  wir  Katholiken  nach  Parität  im  Staate  rufen,  fuhrt  diese 


Inneres.  Kirchliches.  459 

Rede   den   genialen  Beweis    dafür,    dass   auch   wir   sie  dem 
Staate  zu  gewähren  vermögen  . .  .> 

Später  aber  wurden  seine  sämmtlichen  Werke  auf  den 
«index  Hbrorura  prohibitorum»  gesetzt,  und  er  unterwarf  sich 
dieser  Verurtheilung  seiner  Ansichten.  Der  «Amerikanismus»1) 
ist  nominell  die  Erfindung  des  Pater  Hecker,  eines  nach 
Amerika  ausgewanderten  Deutschen,  der  mit  päpstlicher  Ge- 
nehmigung eine  neue  Ordenskongregation  zu  dem  Zwecke 
der  Bekehr u ug  des  amerikanischen  Volkes  gegründet  hatte. 
Zu  diesem  Ende  sollte  sich  dieselbe  möglichst  dem  Genius 
dieses  Volkes  anpassen.  Um  dieses  Ziel  zu  erreichen, 
schreibt  u.  a.  Hecker,  «bin  ich  für  die  Annahme  der 
amerikanischen  Civilisation  mit  allen  ihren  Gepflogen- 
heiten und  Gebräuchen.  Der  Geist  und  Charakter  unseres 
Volkes  und  dessen  Institutionen  müssen  sich  in  unserer 
Kirche  zu  Hause  fühlen  .  .  .  Die  Regierungsform  der 
Vereinigten  Staaten  ist  für  die  Katholiken  jeder  andern 
vorzuziehen  .  . .  Die  katholische  Kirche  wird  daher  auch  in 
diesem  republikanischen  Lande  genau  in  dem  Verhältnisse 
mehr  aufblühen,  als  ihre  Repräsentanten  im  bürgerlichen 
Leben  an  die  Grundsätze  ihres  Republikanismus  sich  halten.» 
Diesen  Grundsätzen  gemäss  wurde  das  Ordensleben  der  «Pau- 
listen>  nicht  auf  den  klösterlichen  Gehorsam  der  alten  Welt, 
sondern  auf  die  Ueberzeugung  der  Mitglieder,  dass  die  Ver- 
einigung zur  Erreichung  des  gemeinsamen  Zieles  nothwendig 
sei,  gegründet.  Darum  sollte  nicht  auf  eine  grosse  Zahl  von 
Ordensmitgliedern,  sondern  auf  gute  Auswahl  geeigneter  In- 
dividualitäten gesehen  werden.  Im  Kollisionsfall  soll  das 
Recht  der  Persönlichkeit  vor  den  Interessen  der  Gemeinschaft 
den  Vorzug   haben.    Der   Ordensobere   soll   im   Kleinen   die 


*)  Wir  werden  Aber  denselben  im  nächsten  Jahrbuch  einen  Ar- 
tikel aus  sehr  berufener  diplomatischer  Feder  bringen. 


460  Jahresbericht  1899. 

Stellung  einnehmen,  die  dem  Präsidenten  der  Vereinigten 
•Staaten  gegenüber  den  Gliedern  der  Konföderation  zukommt» 

Die  Uebelstände,  die  P.  Hecker  unter  dem  katholischen 
Volke  in  vorwiegend  katholischen  Landern  wahrnahm, 
haben  seiner  Ansicht  nach  ihre  Hauptursache  darin,  dass  die 
Kirche  die  «passiven  Tugenden»  den  «aktiven»  vorzieht.  Soll 
«s  besser  werden,  so  muss  man  freie  Persönlichkeiten  erziehen, 
zumal  auch  der  Geist  Gottes  auf  die  Seelen  der  Einzelnen 
{also  nicht  blos  auf  die  Kirche)  einwirkt.  Der  Jesuitenorden, 
der  den  «Gehorsam»  allen  andern  Tugenden  voranstellt, 
wirkt  schädlich  und  hat  keine  Existenzberechtigung  mehr, 
da  er   im  vatikanischen  Konzil  sein  Ziel  erreicht  hat. 

Diese  dem  allgemeinen  System  der  Kirche  nicht  ganz 
entsprechenden  Grundsatze  fanden  nach  dem  Tode  des  Ordens- 
etifters  (1888)  in  Amerika  starke  Verbreitung  (namentlich 
durch  eine  Biographie  desselben,  welche  der  Erzbischof  von 
Sankt  Paul,  Minnesota,  Mgre.  Ireland,  herausgab)  und  schienen 
sich  nach  und  nach  auch  nach  Frankreich  und  Deutschland 
verbreiten  zu  wollen.  Der  Papst  hat  nun  dieselben  in  einem 
Schreiben  an  den  Kardinal  Gibbons,  Erzbischof  von  Balti- 
more, als  unkatholisch  erklärt.  Namentlich  wird  die 
Lehre  missbilligt,  dass  der  h.  Geist  sich  den  einzelnen 
christlichen  Personen  mittheile  (etwas,  was  wir  Pro- 
testanten unbedingt  und  auf  Grund  der  h.  Schrift 
glauben)  und  dass  die  geistlichen  Orden  den  modernen  Lebens- 
bedingungen nicht  hinreichend  angepasst  seien  (worüber  die 
Meinungen  verschieden  sein  können).  Trotz  dieser  augenblick- 
lichen Beschwichtigung  auch  dieser  divergirendea  Richtung 
im  Scitosse  der  katholischen  Kirche  ist  es  unwahrscheinlich, 
dass  ein  so  selbstbewusstes  Volk,  wie  das  der  Vereinigten 
Staaten,  sich  auf  alle  Zeiten  hinaus  einem  sehr  absolu- 
tistischen Kirchenregiment  unbedingt  fügen  werde,  an  dessen 


Inneres.    Kirchliches.  461 

Wahl  es  einen  verhältnissm&ssig  sehr  geringen  Antheil  hat. 
Der  Amerikanismu8  wird  daher  in  der  Kirchengeschichte  eine- 
gewisse Bedeutung  behalten. 

In  der  Encyclica  an  die  Franzosen  vom  16.  September 
dieses  Jahres  verweist  der  Papst  diese  «inclita  gens»,  die 
von  der  Vorsehung  zum  Werkzeug  aller  grossen  Werke  und 
zum  Retter  der  Menschheit  aiiserwählt  sei,  auf  eine  bessere 
Bildung,  namentlich  ihrer  Geistlichen. 

ein  den  grossen  (Priester-)  Setninarien  soll  nicht  dem  ans 
dem  Auslande  (d.  i.  dem  protestantischen  Deutschland)  iinpor- 
tirten  radikalen  Subjektivismus  gehuldigt,  sondern  eine  die* 
Lehrsatze  der  traditionellen  Metaphysik  festhaltende  Philo- 
sophie gelehrt  werden.  Daneben  sollen  auch  die  Naturwissen- 
schaften nicht  vernachlässigt  werden.  In  der  Theologie  soll 
der  Unterricht  auf  der  Summa  des  hl.  Thomas  fussen,  auch 
der  Katechismus  des  Konzils  von  Trient  fieissig  gelesen  und 
in  der  Exegese  zwar  die  jetzt  die  Welt  beunruhigenden  Inter- 
pretationen der  hl.  Schrift  vermieden,  aber  die  Schüler  doch 
mit  den  Fortschritten  der  Bibelkritik  bekannt  gemacht  wer- 
den. Beim  Studium  der  Kirchengeschichte  sei  nicht  zu  ver- 
gessen, dass  dieselbe  eine  Vereinigung  dogmatischer  ThaN 
sachen  in  sich  schliesse,  welche  sich  dem  Glauben  auferlegen. 
Das  menschliche  Element  in  derselben  solle  aber  mit  grosser 
Ehrlichkeit  vorgetragen  werden,  denn  Gott  bedürfe  unserer 
Lügen  nicht.  So  aufgefasst,  stelle  allerdings  die  Kirchen- 
geschichte eine  Demonstration  der  Göttlichkeit  der  Kirche 
dar.  Diese  Studien  müssen  die  Kenntniss  des  Kirchenrechts 
vervollständigen,  damit  den  Priestern  die  Rechte  des  Papstes 
und  der  Bischöfe  nicht  unbekannt  bleiben. 

Der  heilige  Vater  lobt  dann  weiter  die  Thätigkeit  der 
Priester,  welche,  der  Encyclica  Herum  novarum  gehorsam, 
zum  Volke  gehen,  Patronage,  Cercles,  Buralkassen,  Assistenz* 


462  Jahresbericht  1899. 

und  Ans  teil  ungsbureaux  gründen  und  durch  ihre  Schriften 
oder  Zeitungsartikel  den  Beweis  dafür  liefern,  dass  6ie  Ver- 
ständniss  für  die  Bedürfnisse  der  Zeit  besitzen.  Indessen  soll 
ihr  Eifer  mit  Klugheit,  Vorsicht  und  Reinheit  der  Absichten 
gepaart  sein  und  die  den  Bischöfen  zu  zollende  Ehrfurcht  in 
keiner  Weise  verletzt  werden«  Nichts  soll  ohne  die  Bischöfe 
geschehen.  Die  Priester  sollen  auf  diejenigen  nicht  hören, 
welche  den  Zwist  in  die  Kirche  hineintragen,  indem  sie  die 
Bischöfe  angreifen  und  verleumden.» 

Im  deutschen  Reichstage  fand  am  25.  Januar  wieder  eine 
der  bereits  üblich  gewordenen  Jesuitendebatten  statt.  Der 
Reichstag  nahm  nochmals  einen  Antrag  auf  Aufhebung,  resp. 
Beschränkung  des  Jesuitenverbotes  an,  obwohl  der  Bundes- 
rath  auf  den  letzten  diesfälligen  Beschluss  von  1897  noch 
nicht  einmal  eingetreten  war.  Hiebei  wurde  von  einem  natio- 
nalliberalen Redner  auch  auf  die  Schweiz  verwiesen.  Der 
«Bund»  bemerkt  hiezu: 

«Sehr  richtig  bemerkte  Hieber,  dass  die  Katholiken  in  der 
Schweiz  für  die  Aufhebung  des  Jesuitenartikels  keine  Agi- 
tation entfalten,  weil  sie  wissen,  dass  sie  dann  auf  eine  ge- 
radezu elementare  Volksbewegung  stossen  würden.  In  der 
That  wagen  unsere  ultramontanen  Blätter  nur  von  Zeit  zu 
Zeit  ganz  schüchtern  die  Aufhebung  des  Jesuitenartikels  an- 
zutönen,  hüten  sich  aber  sehr  davor,  etwa  von  dem  Rechte 
der  Volksinitiative  Gebrauch  zu  machen  und  eine  Verfassungs- 
revision im  Sinne  der  Wiederzulassung  der  Jesuiten  zu  be- 
antragen. Nicht  zutreffend  aber  ist  die  weitere  Bemerkung 
Hiebers,  dass  eine  solche  Bewegung  in  der  Schweiz  nor 
Wasser  auf  die  Mühle  der  Sozialdemokraten  treiben  würde. 
Wie  sich  unsere  schweizerischen  Sozialdemokraten  zu  einem 
Antrage  auf  Aufhebung  des  Jesuitenverbotes  stellen  würden, 
kann  heute  nicht  bestimmt  werden.  An  Doktrinarismus  geben 
ihre  Führer  den  deutschen  Sozialdemokraten  nichts  nach,  und 
es  ist  daher  wohl  möglich,  dass  einzelne  von  ihnen,  dem  Bei- 
spiele ihrer  deutschen  Gesinnungsgenossen  folgend,  die  Parole 


Inneres.   Kirchliches.  463 

auf  Zustimmung  zu  einem  Antrage  auf  Wiederzulassung  der 
Jesuiten  ausgeben  würden.  Aber  die  Partei  als  solche  würde 
sich  doch  zweimal  besinnen,  dieser  Parole  zu  folgen,  weil  sie 
wissen  muss,  dass  ihr  eine  solche  Stellungnahme  parteitaktisch 
zum  grössten  Nachtheil  gereichen  würde.  Sicher  ist,  dass  die 
schweizerische  Sozialdemokratie  in  einem  solchen  Kampfe 
überhaupt  keine  bedeutende  Rolle  spielen  würde.  Der  Kampf 
würde  zwischen  Protestantismus  und  Liberalismus  einerseits 
und  Ultramontanismus  andererseits,  zwischen  den  Prinzipien 
der  Geistesfreiheit  und  der  geistigen  Knechtschaft  angefoch- 
ten werden,  und  der  Gewinn  —  das  ist  sicher  —  käme  dem 
Liberalismus  zu  Gute,  nicht  der  Sozialdemokratie,  die  dabei 
ganz  in  den  Hintergrund  treten  würde,  welches  auch  ihre 
Stellungnahme  sein  sollte.  Im  Falle  einer  offenen  Parteinahme 
für  die  Jesuiten  würde  zweifellos  die  schweizerische  Sozial- 
demokratie eine  gewaltige  Einbusse  an  Ansehen  und  Einfluss 
erleiden.» 

Nach  unserem  Dafürhalten  würde  ein  solcher  Antrag 
höchstens  bei  Anlass  einer  Totalrevision  der  eidgenössischen 
Bundesverfassung  möglich  und  auch  dann  noch  nicht  erfolg- 
reich sein. 

Gegen  die  «katholische  Sozialdemokratie»  erheben 
sich  im  Schosse  der  katholischen  Kirche  immer  mehr  Stimmen. 
Eine  derselben  sagt  bei  Anlass  der  Suspension  des  belgischen 
Abbe  Daens  durch  seinen  Oberen,  den  Bischof  von  Gent: 

•  Soviel  ist  an  der  Hand  dieser  neuesten  belgischen  Händel 
ersichtlich,  dass 

1.  die  Beschäftigung  der  Seelsorgegeistlichkeit  mit  der 
praktischen  Politik  gefahrvoll  für  den,  der  sie  treibt,  und  für 
das  kirchliche  Gemeinwesen  ist; 

2.  dass  die  «christliche  Demokratie»  eine  Bewegung  ist, 
welche,  früher  oder  später,  ihre  Träger  durchweg  in  Kon- 
flikt mit  der  kirchlichen  Disciplin  bringt  und  welche,  ihrer 
ganzen  Natur  nach,  dem  Wesen  und  der  Idee  der  Kirche 
entgegengesetzt  ist.  Vor  vierzig  Jahren  noch  waren  das 
selbstverständliche  Dinge :   heute   läuft  der   wirklich  konser- 


464  Jahresbericht  1899. 

vative  Katholik,  welcher  an  diesen  Sätzen  festhält,  Gefahr, 
von  einer  approbirten  Presse  zerrissen  und  als  Gegner  der 
«Kirche»  ausgeschrieen  zu  werden.  So  nahe  sind  wir  dem 
Abgrund  gekommen* 

Ehre  jeder  Stimme,  welche  sich  gegen  die  neueste  Mode- 
krankheit erhebt.  Schon  mehr  als  einmal  haben  wir  Gelegen- 
heit gehabt,  die  Aeusserungen  des  Erzbischofs  von  Lyon, 
Kardinal  Coullie,  anzuführen,  eines  der  wenigen  Prälaten, 
welche  angesichts  des  herrschenden  Windes  Muth  und  Cha- 
rakter genug  haben,  der  demokratischen  Verseuchung  und  der 
Fälschung  der  kirchlichen  Idee  entgegenzutreten.  Zu  Neujahr 
hat  der  Kardinal  seinen  Klerus  abermals  mit  einem  Anschreiben 
erfreut,  aus  dem  wir  mit  Vergnügen  den  folgenden  Passus 
ausziehen:  Er  wendet  sich  gegen  die  von  der  <D6mocratie 
chrätienne»  eingeschmuggelte  Vorstellung,  als  sei  das  Heil 
der  Seelen  und  die  Zukunft  der  Kirche  nicht  von  den  in  ihr 
geordneten  Heilswegen  und  Heilsmitteln,  sondern  ganz  oder 
hauptsächlich  nur  mehr  von  der  Betheiligung  an  den  sozialen 
Aufgaben  und  dem  Mitmachen  an  den  Experimenten  der  mo- 
dernen Sozialpolitik  zu  erwarten.  «Nous  pouvons  courir,» 
sagt  der  Kirchenfürst,  «un  autre  danger :  oublier  la  puissance 
divin e  des  moyens  de  sanctification  mis  ä  notre  disposition 
par  le  souverain  Pretre,  et  croire  que  nous  devons  les  rem- 
placer,  remarquez  le  mot,  par  des  industries  nou volles.  Le 
zele  le  plus  ardent  peut  tomber  dans  cette  illusion.  Plnsienrs 
fois  dejä  nous  avons  touche*  cette  question  delicate.  II  nons 
semble  utile  d'y  revenir,  pour  vous  indiquer  le  chemin  de  la 
sagesHe  et  de  la  veritä.» 

«L'arsenal  inepuisable  et  näcessaire  du  pretre  ä  l'heure 
actuelle  comme  dans  tous  les  temps,  c'est  la  vie,  ce  sont  les 
exemples,  c'est  la  doctrine  de  Notre-Seigneur  Jesus-Christ, 
c'est  la  saintete*  personnelle,  c'est  le  respect  et  l'ob&ss&nce,  & 
qui  sont  dus  respect  et  obeissance,  c'est  la  vie  surnaturelle 
inspirant  tous  nos  actes  et  toutes  nos  pensäes :  sine  me  nihil 
potestis  facerc.» 

«Nous  pouvons  faire  du  bruit  par  1'eUoquence,  par  une 
activite  naturelle:  ce  bruit  ne  fait  aucun  bien  et  le  vrai  bien 
ne  fait  pas  de  bruit.» 


Inneres.    Kirchliches.     Römisch -Katholische  Kirche.  465 

Seit  langer  Zeit  haben  wir  kein  Pastorale  gelesen,  wel- 
ches uns  also  aus  der  Seele  herausgeschrieben  wäre :  aus 
diesen  Worten  steigt  das  Ideal  des  Seelsorgers  empor,  wie 
er  in  Sammlung  des  Geistes,  entfernt  von  dem  Lärme  der 
Welt,  dem  Gebet  und  dem  Studium  ergeben,  selbstlos,  nur 
das  Heil  seiner  eigenen  Seele  und  das  der  ihm  anvertrauten 
Gemeinde  sucht !  Welch  ein  Gegensatz  gegen  jene  geistlichen 
Hetzer  und  Politicanti,  welche  statt  der  Seelsorge  Wahl- 
geschäfte treiben,  die  Kanzel  vernachlässigen,  um  die  Tribüne 
der  Volksversammlungen  zu  besteigen,  ihre  Theologie  an  den 
Nagel  hängen,  um  Zeitungen  zu  redigiren,  und  die  Sterbenden 
ohne  den  Trost  der  Religion  lassen,  weil  sie  eine  Zeitungs- 
nummer  fertig  zu  stellen  oder  für  den  Landtag  zu  wählen 
haben!  Wir  Alten  haben  noch  einen  Klerus  gekannt,  dessen 
Erscheinung  Ruhe  und  Würde  ausprägte  und  in  dessen  Ant- 
litz man  die  Sammlung  und  den  heiteren  Frieden  eines  in 
Gott  lebenden  Gemüthes  las  und  bewunderte.  Jetzt  gehe  man 
auf  die  Bahnhöfe  und  sehe  an  gewissen  Tagen  eine  junge 
Klerisei  zusammenströmen,  deren  herrisches,  unbescheidenes 
und  fanatisches  Wesen  alle  Welt  abstösst  und  unter  denen 
man  Köpfen  begegnet,  in  denen  mit  tiefen  Zügen  die  Leiden- 
schaften des  politischen  Hasses  und  der  Hochmuth  der  Frak- 
tionsherrlichkeit eingegraben  sind.  Von  dem,  was  man  im 
kanonischen  Recht  ehedem  die  Residenzpflicht  nannte,  haben 
diese  jungen  Herren  keine  Ahnung  mehr. 

Das  religiöse  Prinzip  gleicht  Herkules  im  Kampf  mit 
An t aus :  solange  es  sich  in  idealer  Reinheit  erhält,  ist  es  un- 
besiegbar; sowie  es  mit  dem  Gegenstand  seines  Ringens  die 
Erde  berührt,  nimmt  es  an  der  Schwäche,  Verweslichkeit  und 
Korruption  aller  irdischen  Dinge  theil.> 

Damit  stimmt  offenbar  auch  die  päpstliche  Encyclica  an 
die  Franzosen  gänzlich  überein;  so  dass  diese  Modekrankheit 
vielleicht  allmählig  wieder  im  Schosse  der  katholischen,  ihrer 
Natur  nach  durchaus  konservativen  Kirche  verschwinden 
wird. 

Der  «46.  Katholiken  tag»  in  Deutschland,  welcher  dies- 
mal anfangs  September  in  Neisse  (Schlesien)  statt  hatte,  fand 

30 


466  Jahresbericht  1899. 

grosse  Theilnahme  und  einen  so  animirten  Verlauf,  dass 
die  nächste  Vereinigung  in  der  Reichshauptstadt  Berlin 
stattfinden  soll.  Selbst  die  nationalliberalen  protestantischen 
Blätter  Deutschlands  fangen  an,  von  «imponirenden»  Ver- 
sammlungen zu  sprechen  und  darüber  weitläufig  zu  berichten. 
Es  ist  das  Unschöne  an  dem  Liberalismus  —  hängt  aber  mit 
der  bloss  naturwissenschaftlichen  Weltanschauung  vieler  seiner 
Führer  zusammen  —  dass  er  gegen  alles  Kleine  und  Schwache 
recht  hochmüthig  ist,  gegen  das  Starke  aber  sofort  sehr 
unterwürfig  wird  und  überhaupt  nicht  das  Recht,  sondern  die 
Macht  in  erster  Linie  respektirt.  Daher  wurde  er  s.  Z.  in  Deutsch- 
laud  von  Bismarck  «an  die  Wand  gedrückt»  und  kann  sich 
jetzt  dafür  nicht  genug  thnn  an  Huldigungen  gegen  diesen  einst 
verspotteten  «Junker»,  der  ihm  allerdings  mehr  als  gewachsen 
war.  Ohne  sehr  feste  sittliche  Grundsätze  —  nicht  natur- 
wissenschaftliche —  hat  kein  politisches  System  Ausdauer 
gegen  Junkerthum  und  Kirch  enge  walt.  Das  wird  der  Libera- 
lismus überall,  in  Deutschland,  Frankreich,  England,  Belgien, 
Italien  noch  lernen  müssen,  vielleicht  auch  bis  auf  einen  ge- 
wissen Grad  sogar  bei  uns. 

Am  24.  Dezember  dieses  Jahres  findet  die  Inauguration 
eines  «Jubeljahres»  statt,  die  seit  1825  nicht  mehr  vorge- 
kommen ist.  Es  wird  dabei  unter  Assistenz  des  Papstes  die 
grosse  Bronzethüre  von  Sankt  Peter,  die  in  gewöhnlichen 
Zeiten  vermauert  ist,  geöffnet  werden. 

Der  Alt-Katholizismus  in  der  Schweiz  erlitt  einen 
grossen  persönlichen  Verlust  durch  den  Hinschied  eines  seiner 
wesentlichsten  Urheber,  Dr.  Weibel  in  Luzern,  dagegen  starke 
Förderung  durch  ein  Urtheil  des  Bundesgerichts,  wonach  der 
christkatholischen  Genossenschaft  St.  Gallen  der  Charakter  einer 
öffentlich-rechtlichen  Korporation   zugesprochen    wurde,   den 


Inneres.    Kirchliches.    Ghristkatholiken.  467 

ihr  die  dortige  Gesetzgebung  hatte  verweigern  wollen.  Es 
ist  damit  eine  bedeutende  staatsrechtliche  Frage  ein  für  alle 
Haie,  and  unseres  Erachtens  richtig,  gelöst. 

Von   der  Döllinger-Biographie  Professor  Friedrich's  ist 
der    2.    Band   herausgekommen,     in   dem     sich    u.    a.     die 
Notiz    findet,    dass    Döllinger    in    seinen    späteren    Lebens- 
jahren   noch    beabsichtigt     habe,     den    Protestanten    eine 
Art  von   verspäteter  Satisfaktion   für   sein   berühmtes,    oder 
vielleicht  besser  gesagt  berüchtigtes  Werk  über  «Die  Refor- 
mation» zu  geben,  dessen  erster  Band  1845/46   erschien  und 
worin  er  alles  zusammentrug,  was  etwa  Böses  oder  Schlechtes 
aber  die  Reformation  gesagt  werden  kann,  ohne  der  Wahrheit 
anders,  als  durch  Verschweigen,  Abbruch  zu  thun.  Es  ist  das 
die  perfide  Art  Geschichte  zu  schreiben,  die  Jansen  zu  seiner 
Berühmtheit  verholfen   hat   und   die   schärfere  Missbilligung 
finden  sollte,  als  es  bisher  geschieht.  Das  Gute  und  Schlechte 
ist  in  der  Geschichte  der  Völker,  wie  übrigens  auch  im  ein- 
zelnen Menschenleben,  so  sehr  gemischt,  dass  man  aus  jedem 
bedeutenderen   Menschen   beinahe    einen   Bösewicht    machen 
kann,   wenn  man  nur  seine  Mängel  und  Schwächen  aufzählt 
und  klag  gruppirt,  oder  einen  Heiligen,  sobald  das  Gegentheil 
geschieht.     In  dieser  Weise  wird  jetzt  vielfach  geschrieben, 
das    sind   die  Darstellungen  Goethe's    in  der  Art  Düntzer's, 
oder  Bismarck's   in  der   Art  Kohl's,   oder   die  Beurtheilung 
der  Engländer  und  Boeren,   wie  wir   sie  leider  jetzt  gerade 
von    der  Feder  Ed.  Naville's   in   unserem  eigenen  Lande  er- 
leben müssen.    Die  Perfidie  besteht  darin,   dass  man,  wie  es 
Jansen   stets  siegreich  gegen  seine  Gegner  gethan  hat,   für 
jede  Behauptung  etwelche  an  und  für  sich  gute  Beweistitel  vor- 
legen kann  und   damit  alle  weniger  Gelehrten  verblüfft  und 
augenblicklich  zum  Schweigen  bringt,   bis   sie   sich  mit  ähn- 
lichem Material  wieder  zur  Gegenwehr  gesammelt  haben.  Der 


468  Jahresbericht  1899. 

2.  und  3.  Band  der  Döllinger'schen  angeblichen  Reforuiations- 
geschichte  fiel  dann  übrigens  Verdientermassen  in  die  Jahre 
1847  und  1848  und  fand  daher  keinen  buchhändlerischen  Er- 
folg. Wie  es  scheint,  beabsichtigte  er  später,  ein  ähnliches 
Werk  über  die  Zustände  der  römisch-katholischen  Kirche 
«auf  Grund  eines  gleich  reichen  Materials»  (das  unzweifelhaft 
existirt)  zu  schreiben,  welches  «die  Protestanten  versöhnen 
und  beide  Theile  zur  Selbsterkenntniss  auffordern  >  sollte. 
Wir  bedauern  unsererseits  nicht,  dass  es  nicht  geschrieben 
worden  ist,  und  gestehen  offen,  dass  wir  diese  gelehrten  Cha- 
raktere, die  mit  unendlichem  Sammelfleiss  den  «Unmündigen» 
Waffen  zur  gegenseitigen  Bekämpfung  liefern»,  nicht  für 
richtige  Gelehrte  und  auch  nicht  für  gute  Menschen  ansehen. 

In  der  protestantischen  Kirche  ist  zu  Ende  des  19. 
Jahrhunderts  das,  was  ausserhalb  der  «Kirche»  geschieht,  einst- 
weilen noch  bedeutend  erfreulicher,  als  das,  was  ihrer  of- 
fiziellen Funktion  angehört.  Doch  regt  sich  auch  wieder  et- 
was mehr  Leben  in  ihr,  da  sie  wenigstens  dasselbe  nicht  mehr 
unterdrücken  kann  und  will,  wo  es  vorhanden  ist,  sondern 
wenn  auch  nicht  einen  starken  gemeinsamen  Glauben  und 
Glaubenszusammenhang  besitzt,  so  doch  die  nöthige  Freiheit 
für  die  Entwicklung  der  individuellen  Ueberzeugungen  ge- 
währt, was  vielleicht  doch  das  Aller  wichtigste  auf  diesem  Ge- 
biete des  Denkens  uud  Fühlens  ist.  Das  bildet  ihre  Stärke 
und  ihre  unvergängliche  Berechtigung. 

Offiziell  beschloss  die  Zürcher  Kantonssynode  unter 
Namensaufruf  mit  63  gegen  53  Stimmen,  dass  die  Taufe  keine 
Voraussetzung  der  Zugehörigkeit  zu  der  zürcherischen 
Landeskirche  bilden  solle.  Als  Mitglied  derselben  wird  jeder 
evangelische  Einwohner  des  Kantons  betrachtet,  der  nicht 
den  Austritt,  oder  die  Nichtzugehörigkeit  erklärt.  Eine 
herrliche  Definition  einer  Kirche. 


Inneres.    Kirchliches.    Protestantische  Kirche.  469 

Das  ist  vorläufig  der  offizielle  AbschlusB  des  Werkes 
Zwingli's,  schlimmer  als  Kappel,  aber  nicht  das  Ende. 

Das  Bundesgericht  hat  seinerseits  den  biblischen  Unter- 
richt in  den  Lehrplttnen  der  aargauischen  Schulen  als  Fa- 
kultativfach erklärt,  so  dass  nun  nach  Artikel  49  der  Bun- 
desverfassung jeder  Inhaber  der  väterlichen  Gewalt  seine 
Kinder  und  Mündel  davon  fernhalten  darf.  Auch  die  Ehe- 
scheidungspraxis dieses  obersten  Gerichtshofes  ist  stets  schlimm 
genug  und  wird  mit  Sicherheit  zu  einer  Revision  der  bezüg- 
lichen Artikel  des  eidg.  Ehegesetzes  führen  müssen,  die  dies 
zunächst  verschulden.  Weit  schlimmer  allerdings  steht  es  da- 
mit noch  in  dem  protestantischen  Amerika,  wo  auch  die  Ehc- 
schliessung  eine  verwahrloste  ist.  Ein  Zeitungsbericht  dar- 
über sagt: 

«Le  premier  pasteur  venu,  sans  autre  caractere  officiel 
que  celui  d'avoir  6t6  choisi  par  les  membres  d'une  6glise 
quelconque,  eclose  d'hier  peut-etre,  no  comptät-elle  qu'une 
douzaine  d'adhärents,  le  premier  pasteur  venu,  par  cela  seul 
qu'il  se  pre*tend  pasteur,  cr6e  le  lien  le  plus  solennel  de  la 
vie  entre  deux  individus  qui  recourent  ä  son  ministere,  sans 
le  moindre  avertissement  prealable.  D'aucuns,  räveilläs  ab- 
ruptement,  fonetionnent  ainsi  au  saut  du  lit.  De  la,  d'in- 
nombrables  cas  de  bigamie,  de  trigamie,  de  tetragamie,  etc., 
et  dans  les  Etats  qui  admettent  le  divorce,  des  separations 
plus  innombrables  et  plus  scandaleuses  encore.  Gertains  Etats 
du  nord-ouest  sont  connus  comme  usines  ä  divorce,  et  Ton  y 
court  de  loin  solliciter  leurs  bons  offices.  Inutile  de  dire  que 
mariages  et  divorces  se  paient  en  raison  merae  de  la  lögerete* 
avec  laquelle  ils  sont  prononeta. 

Or,  voiei  que  le  21  juin,  l'association  des  Pasteurs  con- 
gregationalistcs  du  Connecticut,  se  preoecupant  de  cet  6tat 
de  choses,  a  däcide*  de  provoquer  un  mouvement  de  räforme 
dans  rünion  entiere,  et  de  demander  le  concours  de  la  So- 
ciety g£ne>ale  du  barreau  amöricain,  aux  fins  d'obtenir  uue 
legislation  plus  prudente  et  plus  digne  d'un  peuple  civilis^.» 


470  Jahresbericht  1899. 

Die  letzte  Ursache  aller  dieser  Uebelstände  liegt  allerdings 
darin,  dass  die  Reformation  selbst  zu  weit  ging,  indem  sie  die  Ehe 
des  sakramentalen  Charakters  gänzlich  entkleidete,  während  sie 
in  Wirklichkeit  das  heiligste  und  unverletzlichste  von  allen 
menschlichen  Banden  ist  und  bleiben  sollte. 

In  einem  starken  Gegensatz  hiezu  steht  in  Amerika  eine 
ausserordentliche  Empfänglichkeit  des  Protestantismus  für 
«Erweckungen»  oder  «religiöse  Schriften».  Eine  kleine 
Broschüre  «in  His  Steps»  erreichte  in  diesem  Jahre  eine 
Verbreitung  von,  wie  behauptet  wird,  6  Millionen  Exemplaren, 
den  grössten  buchhändlerischen  Erfolg  seit  «Uncle  Tom's 
cabin».  Und  doch  wird  mit  uns  jeder  europäische  Leser  ßagen 
müssen,  dass  sie  das  Christenthum  in  ziemlich  rosenrother 
Färbung  darstellt,  so  wie  es  in  Wirklichkeit  gegenüber  den 
gewaltigen  Mächten,  die  in  und  ausser  dem  Menschen  ihm 
entgegenstehen,  gar  nicht  ist,  und  die  Erfolge  mit  etwas  kind- 
lichen und  höchst  unwahrscheinlichen  Mitteln  erzielt. 

In  England  wurde  am  25.  April  der  300jährige  Geburts- 
tag seines  grössten  Helden,  Oliver  Oromwell,  ohne  besondere 
Theilnahme  des  Volkes  gefeiert,  und  doch  ist  die  ganze  welt- 
geschichtliche Grösse  dieser  Nation,  die  trotz  ihrer  jetzigen 
Imperialpolitik  stets  bestehen  bleibt,  das  Werk  dieses  Mannes 
und  seiner  kurzen  Regierungszeit,  die  unvergängliche  Spuren 
hinterlassen  hat.  Vielleicht  wird  man  ihn  nach  weiteren 
100  Jahren  besser  feiern,  wenn  die  Ghamberlain'sche  Politik 
ihre  Früchte  gezeitigt  und  England  wieder  auf  den  Staats- 
bestand reduzirt  haben  wird,  den  es  damals  hatte,  während 
die  weiter  abliegenden  Reichstheile  sich  von  ihm  emanzipirt 
haben.  So  sieht  es  wenigstens  dermalen  aus;  denn  ein  sol- 
ches  Weltreich  kann  man   nur   mit  überwältigender  Macht 


Inneres.    Kirchliches.    Anglikanes.    Mission.  471 

in  der  Art  der  römischen  Militärherrschaft,  oder  dann  mit 
dem  Respekt  vor  Recht  und  Freiheit  zusammenhalten,  der 
Liebe  erzeugt.  Der  Boerenkrieg  zeigt  die  Schwäche  des 
jetzigen  Englands  nach  beiden  Seiten  hin  und  ist  daher  eine 
unbegreifliche  Thorheit,  bei  jedem  Ausgang.  In  der  englischen 
Staatskirche  mehren  sich  die  Anzeichen  eines  Sturmes  gegen 
ihre  immer  mehr  ritualistische  (katholisirende)  Richtung,  die 
ganz  zu  der  Imperialpolitik  passt.  Gegen  dieselbe  erhebt  sich 
beharrlich  ein  gewisser  John  Kensit,  der  gegenüber  dem 
Bischof  von  London  jetzt  ungefähr  die  gleiche  Rolle  spielt» 
wie  im  Jahre  1637,  bei  den  Anfängen  der  grossen  Revolution, 
Jenny  Geddes  gegenüber  dem  Dean  of  Edinburgh.1)  Nachdem 
alle  seine  öffentlichen  Briefe  an  verschiedene  anglikanische 
Bischöfe  keine  Wirkung  auf  dieselben  hatte,  veranstaltete  er 
mit  seinem  Bruder  in  verschiedenen  Städten  Englands 
grosse  Protest-Meetings,  welche  das  Parlament  bewogen,  am 
30.  Mai  einen  drohenden  Beschluss  zur  Aufrechthaltung  der 
englischen  Nationalkirche  zu  erlassen,  und  sogar  die  Erz- 
bischöfe, in  einer  Konferenz  inLambeth  Palace,  ihren  Unter- 
gebenen wenigstens  zu  rathen  (immer  noch  nicht  zu  befehlen), 
von  ihrer  illegalen  Praxis  abzustehen.  Dagegen  werden  die- 
selben von  der  «church  association»  ermuntert,  diesen  Rath 
als  einen  nicht  ernstgemeinten  zu  betrachten  und  fortzufahren 
—  bis  zu  dem  Abgrund,  der  im  nächsten  Jahrhundert  mit 
Sicherheit  diese  unnütze  und  kostspielige  Staatskirche,  viel- 
leicht mit  dem  Eönigthum  selber  verschlingt* 

Protestantische  Mission.  Die  Berichte  aus 
Kamerun  sind  diesmal  erheblich  tiefer  gestimmt,  als  wir  es 
in  früheren  Jahren  gewohnt  waren.  Auf  beiden  Seiten,  bei 
der  Mission  wie  bei  den  Eingeborenen,   ist  etwas  wie   eine 

1)  Garlyle,  Oliver  GromweU's  letters  and  Speeches  I,  137. 


472  Jahresbericht  1899. 

Enttäuschung  eingetreten.  Die  Mission,  die  anfänglich  mit 
Freuden  aufgenommen  wurde  nnd  sich  zur  Hoffnung  auf 
baldigen  grossen  Erfolg  berechtigt  glaubte,  findet  jetzt  die 
Leute  im  Grunde  ihres  Herzon6  unempfänglicher  und  gleich- 
gültiger, als  sie  zuerst  schienen. 

«Die  Missionare  sehen  immer  tiefer  in  die  entsetzliche 
Versunkenheit  dieser  Negerstämme  hinein  und  erfahren  es 
immer  mehr,  dass  auch  auf  diesem  zuerst  ungewöhnlich  hoff- 
nungsvollen Arbeitsfeld  eine  mühsame  Geduldsarbeit  not- 
wendig ist,  wenn  nicht  nur  eine  äusserliche  Christianisirungs- 
arbeit  gethan  werden,  sondern  das  Wort  Gottes  in  seiner 
Herz  und  Leben  erneuernden  Macht  zur  Geltung  kommen  soll. 
Die  Neger  hinwiederum  scheinen  an  vielen  Orten  in  demsel- 
ben Mass  gleichgültiger  zu  werden,  als  sie  erkennen,  dass 
ihnen  die  evangelische  Mission  in  erster  Linie  geistliche  Güter 
und  nicht  die  irdischen  Vortheile  einer  höheren  Kultur,  für 
welche  sie  nicht  nur  auf  die  Mission  angewiesen  sind,  bringen 
will.  Demgemäss  zeigt  sich  auch  in  den  Gemeinden  vielfach 
ein  Rückschlag,  der  freilich  nicht  allein  auf  jene  Enttäuschung 
zurückzuführen  sein  wird,  sondern  sich  auch  erklärt  aus  dem 
natürlichen  Nachlassen  einer  anfänglichen  Begeisterung,  dem 
Wiederaufleben  des  alten  heidnischen  Sinnes  und  dem  Ueber- 
handnehmen  schädlicher  Einflüsse  von  Europa  her.  Was  der 
Branntwein  thut,  ist  bekannt,  aber  auch  an  sich  harmlose  euro- 
päische Produkte,  die  nützlich  und  nothwendig  sind,  den  Fleiss 
der  Eingeborenen  zu  reizen,  können  wieder  schädlich  wirken, 
indem  sie  eine  Habsucht  erzeugen,  die  gern  zu  unlautern  Mitteln 
greift.  Die  Bakwiri  im  Gebirg,  unter  denen  von  Buea  aus  ge- 
arbeitet wird,  sind  fast  hoffnungslos  gleichgültig  und  un- 
empfindlich, obwohl  sie  den  Missionar  nicht  ungern  haben; 
für  seine  Botschaft  haben  sie  keine  Ohren,  und  nur  mit  grösster 
Mühe  bringt  er  in  einem  Dorfe  wenige  Zuhörer  zusammen. 
Besonders  trüb  werden  die  Aussichten  in  Buea  durch  die, 
von  der  ungeheuren  Ausdehnung  der  Plantagenwirtschaft  an 
den  Abhängen  des  Gebirges,  dem  Bakwirivolk  drohende  Ge- 
fahr. Es  handelt  sich  für  die  Bakwiri  um  den  Verlust  ihres 
Landes  und  ihrer  wirthschaftlichen  Selbständigkeit.  Soweit 
sie    sich   überhaupt    in   ihren   bisherigen  Wohnsitzen   halten 


Inneres.    Kirchliches.    Heilsarmee.  473 

können  oder  wollen,  droht  ihnen  die  Gefahr,  in  eine  auch  für 
ihr  religiöses  und  sittliches  Gedeihen  unheilvolle  Abhängig- 
keit von  den  Weissen  zu  gerathen.» 

Auf  dem  ganzen  Gebiet  der  Basler-Mission  befinden  sich 
jetzt  38,637  eingeborene  Christen,  eine  doch  noch  nicht  sehr 
grosse  Zahl.  Die  jährlichen  Ausgaben  betragen  dermalen  etwas 
über  Vk  Millionen  Franken,  mit  einem  beträchtlichen  Defizit, 
das  wesentlich  von  den  grossen  Kosten  für  die  verheirateten 
Missionäre  herrührt.  Es  ist  für  die  Miss ionsver waltung  sehr 
schwer,  daran  etwas  zu  ändern;  das  müsste  der  Geist  thun, 
der  in  den  jungen  Leuten  lebt,  die  diesen  entsagungsreichen 
Beruf  ergreifen  wollen. 

Aeusserlich    viel    sichtbarere    Fortschritte     macht    die 

Heilsarmee,  welche  in  diesem  Jahre  in  London  eine  grosse 

Aasstellung  veranstaltete.  Ein  Zeitungsbericht  darüber  lautete 

wie  folgt: 

«Zunächst  fallen  beim  Eingang  durch  die  riesige  Arkade 
die  vielen  dem  Betriebswesen  gewidmeten  Geschäftsstellen 
auf.  Da  sind :  die  Bau-Abtheilungen,  welche  in  allen  Ländern 
der  Erde  die  Errichtung  von  «Kasernen»,  Versammlungs- 
häusern  und  Asylen  der  verschiedensten  Art  für  die  Zwecke 
dieser  Körperschaft  zu  leiten  haben;  dann  ein  Bankgeschäft, 
eine  Apotheke,  eine  Fabrik  von  Musikinstrumenten,  eine 
Sammelstelle  für  verloren  gegangene  Kinder,  ein  Aufnahme- 
raum  für  nen  hinzutretende  Mitglieder,  in  dem  jedoch  auch 
jedem  Bekümmerten  Rath  oder  wenigstens  Trost  gespendet 
wird.  Der  Eingangsweg  erweitert  sich  zu  einem  grossen 
freien  Platz,  wo  in  sauberen  Gehegen  wahre  Musterexemplare 
von  Kühen,  Kälbern,  Pferden,  Fohlen,  Schweinen,  Schafen 
und  Eseln,  die  auf  eigenen  Kolonien  gezüchtet  werden,  aus- 
gestellt sind.  Der  Hühnerhof,  die  Gemüse-  und  Obstausstel- 
lung schliessen  sich  an  und  zeigen,  dass  auch  die  niedrigst 
stehenden  Menschen  zu  nützlicher  Arbeit  veranlasst  werden 
können.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  bei  der  Verkommen- 
heit von  Hunderttausenden  der  englischen  Bevölkerung,  um 
die  sich  nie  ein  Mensch,   sei's  Geistlicher  oder  Laie,   beküm- 


474  Jahresbericht  1899. 

inert,  das  Eingreifen  der  Heilsarmee  sich  geradezu  als  eine 
Segensthat  erweist.  Das  Wirken  der  Heilsarmee  unter  den 
versumpften,  halb  thierischen  Geschöpfen  der  Londoner  «Slnms> 
wird  in  einer  Reihe  von  Szenen  veranschaulicht,  die  in  einem 
geräumigen  Theater  aufgeführt  werden.  Sieht  man  diese  Ab- 
art von  Menschen,  so  begreift  man  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  die  lächerlichen  und  grotesken  Aeusserlichkeiten  der 
Heilsarmee  — ,  sie  sind  eben  ein  Mittel,  erst  die  Aufmerk- 
samkeit dieser  Verlorenen  zu  erregen  und  dann  ein  Verständ- 
niss  bei  ihnen  anzubahnen.  Nicht  weniger  als  44,960  Besuche 
haben  die  Frauen  dieser  Organisation  im  letzten  Jahre  bei 
Kranken  und  Hungernden  der  «Slums»  gemacht.  Das  spricht 
für  sich  selbst.  Besonderes  Interesse  erregen  dann  weiter  die 
verschiedenen  fremdländischen  Abtheilungen  der  Ausstellung. 
Schmucke  Holländerinnen  in  ihrer  kleidsamen  Tracht  —  die 
alle  Schwestern  der  Heilsarmee  sind  — ,  verkaufen  allerlei 
holländisches  Steingut  und  Käse.  Eine  Windmühle  dreht 
lustig  ihre  Flügel,  und  ein  nettes  Fischerboot  ist  eben  vom 
Fang  heimgekehrt.  Dänemark  ist  durch  ein  Farmhaus  und 
eine  Meierei  vertreten,  Deutschland  durch  die  getreue  Nach- 
bildung des  Luther-Zimmers  auf  der  Wartburg,  Australien 
durch  Modelle  der  verschiedenen  Rettungshäuser,  Kinderheime 
u.  8.  w.  Am  interessantesten  ist  vielleicht  die  Vertretung 
von  Afrika  durch  einen  Zulu-Kraal  mit  den  dort  beliebten 
Hausthieren  —  bissigen  Affen  und  sanften  Lamas.  Die  Zulus 
wurden  uns  als  eifrige  Anhänger  der  Heilsarmee  vorgestellt 
So  sind  viele  Länder  diesseits  und  jenseits  des  Meeres  durch 
irgend  etwas  Typisches  oder  durch  Modelle  der  Versamm- 
lungshäuser u.  s.  w.  der  Heilsarmee  vertreten.  Breite  Treppen 
hinaufsteigend,  gelangt  man  in  die  riesigen  Räume,  in  denen 
der  Stoff  für  die  Uniformen  der  Heilsarmee  gewoben  und  ver- 
arbeitet wird.  Man  wandert  durch  die  Arbeitsräume,  wo 
Hüte  und  Mützen  hergestellt  werden,  durch  die  Wäsche- 
abtheilung, die  Kinderspielplätze  und  Lehrräume,  die  Drucke- 
reien und  Buchbindereien,  wo  sowohl  Arbeiter  wie  Leiter 
Mitglieder  der  Heilsarmee  sind,  die  so  den  Verlorenen  Ver- 
ständniss,  Kleidung,  Nahrung,  Arbeit  und  Vergnügen  gibt 
durch  deren  eigene  Kraft.  Die  Heilsarmee  besitzt  sieben 
Zeitungen  und  zeigt  an  allerliebsten  Gegenständen,  wie  z.  B. 


Inneres.    Kirchliches.    Heilsarmee.  475 

an  dauerhaften,  ans  gepresstem  Papier  gemachten  Spazier- 
stöcken, dass  sie  selbst  ihre  Makulatur  praktisch  wieder  zu 
verwerteten  weiss.  Die  Abtheilung  für  Frauenthätigkeit  ist 
besonders  reich  ausgestattet,  von  jeder  Art  von  Handarbeit 
anfangend  bis  zu  den  Modellen  der  Krankenhäuser  und  Ge- 
fängnisse, in  denen  hauptsächlich  Frauen  walten.  Eine  an- 
schliessende Galerie  birgt  noch  eine  angenehme  Ueberrasch- 
ung  —  riesige  Wandbilder,  Landschaften  aus  Palästina,  Beth- 
lehem, Gethsemane,  der  Blick  über  Jerusalem,  der  Oelberg, 
die  Grabeskirche  u.  s.  w.,  die  alle  sehr  lebensvoll  gemalt  sind. 
Am  wenigsten  befriedigen  die  musikalischen  Leistungen,  die 
in  der  Ausstellung  zu  hören  sind.  Um  sie  würdigen  zu  können, 
muss  man  das  robuste  GhriBtenthum  und  das  derbe  Trommel- 
fell eines  englischen  Soldaten  der  Salvation  Army  besitzen. 
Die  sozialen  Gesammtleistungen  der  Heilsarmee,  wie  sie  sich 
aus  dieser  Ausstellung  ergeben,  sind  indess,  wie  gesagt,  er- 
freulicher Art.  Aber  bei  alledem  kann  man  sich  doch  nicht 
eines  Gedankens  erwehren,  der  für  die  Würde  der  Mensch- 
heit etwas  beschämendes  hat  —  nämlich,  dass  es  in  dem  sich 
mit  seinem  Reichthum  und  seiner  Bildung  brüstenden  Eng- 
land —  und  England  ist  ja  das  Hauptarbeitsfeld  der  Heils- 
armee —  eine  so  unsäglich  niedrige  Kultur  gibt,  die  es  mög- 
lich, vielleicht  auch  nothwendig  macht,  die  tief  Verkommenen 
durch  so  groteske  und  mit  dem  wahren  Geiste  des  Christen- 
thums  in  so  schreiendem  Widerspruch  stehende  Mittel  «dem 
Teufel  zu  entreissen»,  wie  die  bizarre  Organisation  der  Sal- 
vation Army  es  thut.» 

Wir  sind  unsererseits  der  Meinung,  dass  ob  hier  heisst: 
Hülfe  unter  allen  Umständen,  so,  wie  es  überhaupt  möglich  ist. 
Dass  aber  für  die  gänzlich  verkommenden  und  von  Jeder- 
mann sonst  beinahe  aufgegebenen  Klassen  der  Bevölkerung 
in  dieser  thatkräftigen  Gesellschaft  eine  Hülfe,  wie  keine 
sonst  bestehende,  erschienen  ist,  das  kann  Niemand  mehr  leug- 
nen, der  nicht  die  Augen  absichtlich  vor  der  Wahrheit  ver- 
schliessen  will,  oder  überhaupt  nichts  von  der  Sache  kennt. 
Wir  glauben  ferner,  dass  auch  das  ursprünglichste  Christenthum 
unter  der  Sklavenbevölkerung  der  verdorbenen  grossen  Städte 


476  Jahresbericht  1899. 

nicht  einen  viel  besseren  Eindruck  hinterlassen  haben  wird. 
Und  dennoch  ist  es  der  erste  Anstoss  zu  dem  grössten  Fort- 
schritt gewesen,  den  bisher  die  Welt  gemacht  hat. 

Aus  der  sonst  ziemlich  stagnirenden  g  r  i  e  c  h  i  s  ch-o  r  t  h  o- 
doxenKirche (die  uns  im  Uebrigen  auch  wenig  berührt) 
brachte  derTemps  folgenden  Bericht  über  ein  drohendes  Schisma 
zwischen  dem  ökumenischen  Patriarchat  von  Kons  tan  tinopel,  das 
die  eigentlich  legale  Centralautorität  ist,  und  dem  heiligen  Synod 
von  Russland,  der  in  dem  wesentlichen  Territorium  derselben 
die  thatsächliche  kirchliche  Gewalt  ausübt.    Derselbe  lajitet : 

«II  y  a  quelques  semaines,  une  de'putation  de  la  grande 
secte  religieuse  des  Raskolniks,  qui  compte  vingt-cinq  millions 
de  membres  en  Russie,  vint  ä  Constantinople  pour  soumettre 
au  patriarcat  oecumenique,  qui  est  l'autorite  supreme  de  toute 
l'orthodoxie,  un  long  memoire  par  lequel  les  Raskolniks  solli- 
citaient  du  saint  synode  du  Phanar  de  reconnaitre  le  sacer- 
doce  des  membres  de  leur  clerge*,  c'est-a-dire  de  proclamer 
la  16galit6  et  le  caractöre  sacre*  de  l'ordination  de  leurs  pre- 
tres,  legalitä  que  le  saint-synode  de  Russie  refuse  toujours 
de  reconnaitre,  en  considerant  les  Raskolniks  comme  schis- 
matiques.  Le  patriarcat  ne  pouvait  pas  ne  pas  prendre  en 
conside>ation  la  demande  de  vingt-cinq  millions  de  chrätiens 
qui  se  disent  plus  orthodoxes  que  le  reste  des  Russes,  qui 
s'intitulent  vieux-croyants,  et  qui  repoussent  les  innovations 
apporttas  par  Nicon,  inötropolite  de  Moscou,  et  autres  pr£lats 
russes  en  1567  et  depuis,  innovations  qui,  d'apres  les  Ras- 
kolniks, ont  change*  le  type  originel  de  rEglise  russe.  C'est 
ainsi  que  pensaient  les  membres  de  la  de'putation  et  leurs 
commettants,  et,  en  effet,  leur  pensee  6tait  assez  juste,  car 
le  patriarcat  a  pris  en  särieuse  considßration  cettc  demande 
et  chargea  une  commission  nommäe  ad  hoc  et  composäe  de 
plusieurs  prelats,  sous  la  presidence  du  mätropolite  de  Rhodes, 
d'examiner  la  question  et  d'adresser  un  rapport  au  saint- 
synode,  qui  statuera  en  dernier  ressort.  Les  Raskolniks  se 
disent  bons  orthodoxes  et  ne  reconnaissent  pas  le  saint-synode 


Inneres.    Kirchliches.    Griechen.    Islam.  477 

de  Russie  comme  un  Corps  ecclesiastique  legalement  constitue. 
IIb  ävitent  d'avoir  des  relations  avec  le  clerge'  russe,  mais 
ils  recherchent,  an  contraire,  la  bßnediction  donnee  par  des 
pretres  ou  eveques  grecs,  roumains,  serbes  et  autres  ortho- 
doxes. Ils  esperent  d'autant  plus  que  l'Eglise  du  Phanar 
rcconnaitra  le  sacerdoce  de  leur  clerge,  que  ce  sacerdoce  lui 
yiont  d'un  pr&at  appartenant  au  tröne  cecumönique,  le  mßtro- 
polite  de  Bosnie,  Ambroise,  qui  avalt  ordonne*  les  premiers 
pretres  et  sacr6  les  premiers  eväques  des  Raskolniks.» 

Der  Kaiser  hatte  inzwischen  dem  Oberprokurator  des 
russischen  Synod  Pobjedonoszew,  der  nicht  nur  diese  Sekte, 
sondern  auch  Millionen  von  Protestanten  und  Juden  in  dem 
weiten  Reiche  zur  Verzweiflung  getrieben  hat,  seine  Anerken- 
nung für  eine  Auseinanderlegung  seiner  Grundsatze  in  einem 
Bache  cQuestions  religieuses,  sociales  et  politiques»  aus- 
gesprochen. 

Selbst  der  sonst  bisher  so  passive  und  indolente  Islam 
fängt  unter  der  engeren  Berührung  mit  den  christlichen 
Nationen  an,  agressiv  zu  werden  und  benutzt  dazu  u.  a.  be- 
reits Berliner  Zeitungen.  Eine  solche  brachte  in  diesem  Jahre 
einen  Artikel  eines  Egypters,  Mustafa  Kamel,  der  den  «Panis- 
lamismus»  und  das  Aufhören  der  türkischen  Toleranz  predigt, 
die  bisher  den  Christen  im  Orient  ihre  Religion  und  ihre  Sitten 
gelassen  haben,  mit  Ausnahme  des  notwendigen  «im  Zaum- 
haltens» der  insurgirten  Armenier!  Unter  dieser  «muselmän- 
nischen Langmuth»  und  unter  der  irrigen  Tendenz  die  west- 
liche Kultur  in  den  Osten  einzuführen,  habe  bisher  die  orien- 
talische Welt  geseufzt,  nun  sei  es  Zeit,  umzukehren  und  sich 
um  den  türkischen  Sultan,  als  den  Chef  des  Panislamismus 
zu  schaaren. 

Direkt  hat  der  Artikel  natürlich  eine  politische,  speziell 
gegen  England  gerichtete  Tendenz ;  es  wäre  aber  unbegründet, 
darin  nicht  auch   ein   charakteristisches  Symptom  der  Jahr- 


478  Jahresbericht  1899. 

hundertwende  zu  erblicken,  die  auf  dem  Gebiet  aller  Reli- 
gionen eine  gewisse  stärkere  Betonung  des  Glaubens  mit  sich 
zu  führen  scheint. 

Betreffend  die  Juden  werden  wir  uns  bei  dem  soge- 
nannten «Zionismus»  nicht  weiter  aufhalten,  den  einige  «Re- 
formjuden» in  Scene  gesetzt  hatten,  und  der  bereits  nach  zwei 
Jahren  kläglich  im  Sande  zu  verlaufen  droht.  Nicht  bloss 
aus  Mangel  an  Geld-  und  Machtmitteln,  sondern  vor  allem, 
weil  derselbe  ganz  gegen  den  Geist  der  Geschichte  dieses 
Volkes  geht.  Jetzt  ist  es  genau  so  geworden,  wie  es  in  ihren 
eigenen  Geschichtsquellen  I.  Kön.  IX,  6,  7,  oder  III.  Mos. 
XXVI,  14—39  zu  lesen  ist,  und  wenn  sie  es  besser  haben 
wollen,  so  müssen  sie  zuerst  —  statt  aller  anderen  frucht- 
und  segenslosen  Versuche,  ihrem  Propheten  Jeremias  L,  4,  7, 
20  folgen;  dann  wird  auch  III.  Mos.  XXVI,  40—45  kommen; 
anders  kommt  ihre  Erlösung  aus  dem  «Galuth»  nicht. 

Für  uns  aber  ist  kein  Grund  vorhanden,  dieses  Volk, 
dem  wir  so  unendlich  viel  Gutes,  ja  das  Beste,  was  wir  an 
geistigen  Gütern  haben,  verdanken  (Besseres  sogar  noch  als 
den  Griechen  und  Römern),  zu  quälen,  oder  ihm  sein  ohnehin 
schweres  Schicksal  noch  schwerer  zu  machen,  bloss  weil 
einige  seiner  Mitglieder,  und  sichtlich  nicht  die  frömmsten, 
nicht  gerade  die  liebenswürdigsten  Eigenschaften  aufweisen. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  ausgehend,  den  wir  stets  ver- 
treten haben  und  ferner  vertreten  werden,  auch  wenn  wir 
zu  dem  sonderbaren  Dreyfuss-Kultus  einiger  unserer  Mitbürger 
uns  nicht  verstehen  konnten,  war  es  im  letztvergangenen 
Jahre  sehr  zu  begrüssen,  dass  sowohl  in  Baden,  als  im  deut- 
schen Reichstag  die  Versuche  der  Thierschutzvereine,  als  ge- 
wöhnlicher Vorhut  der  Antisemiten,  das  Schächten  verbieten 
zu  lassen,  ein  entschiedenes  Fiasco  erlebten.  Der  Bericht  aas 
Baden  lautet: 


Inneres.    Kirchliches.    Juden.    Heidnische  Kulte.  479 

c Unsere  beiden  Standekammern  gingen  am  21.  d.  M.  hin- 
sichtlich einer  Petition  des  badischen  Thierschutzvereins.  das 
Verbot  des  Schächtens  von  Schlachtthieren  betreffend,  zur 
Tagesordnung  über.  Die  über  diese  Angelegenheit  geführte 
lebhafte  Debatte  spitzte  sich  auf  die  beiden  Fragen  zu,  ob 
das  Schächten  eine  Thierquälerei  sei,  und  ob  das  Verbot  des 
Schächtens  einen  Eingriff  in  religiöse  Gebräuche,  somit  eine 
Gewissensbedrückung  bedeute.  Die  erste  Frage  wurde  auf 
Grund  von  253  wissenschaftlichen  Gutachten,  denen  sich  die 
Versicherungen  von  Praktikern  anschlössen ,  verneint,  die 
zweite  bejaht.» 

Es  waren  dies  die  gleichen  Gutachten,  welche  auch  un- 
sere eidg.  Räthe  überzeugten,  nur  nicht  das  irregeleitete,  oder 
für  die  Sache  gleichgültige  schweizerische  Volk,  das  mit  sei- 
nem Verbot,  neben  dem  sächsischen,  noch  immer  ganz  allein 
in  dem  weiten  Erdenrunde  steht.  Ein  Versuch  einiger  Metzger, 
den  Juden  auch  die  Einfuhr  von  geschächtetem  Fleisch  aus 
angeblichen  Gesundheitsrücksichten  verbieten  zu  lassen,  führte, 
wie  schon  berichtet  ist,  zu  einer  entschiedenen  Ablehnung 
seitens  des  Bundesrates. 

Im  deutschen  Reichstag  waren  bei  der  ersten  Lesung  des 
Antrags  der  Antisemiten  das  Schächten  als  Thierquälerei  zu 
verbieten,  alle  Parteien  als  solche  dagegen,  mit  ausdrück- 
licher Anerkennung,  dass  keine  Thierquälerei  vorliege  und 
dass  das  Schächtverbot  in  die  Kultusvorschriften  der  jüdischen 
Mitbürger  in  unzulässiger  Weise  eingreife. 

In  seinem  62.  Jahre  starb  in  Südrussland  der  Rabbiner 
Joseph  Rabbinowitsch,  der  es  sich  zur  Lebensaufgabe  gemacht, 
hatte,  sein  Volk  zu  dem  Glauben  an  die  Messiaseigenschaft 
Christi  zu  führen,  im  Uebrigen  unter  Beibehaltung  der  jü- 
dischen Religionsgebräuche.  Also,  rein  historisch  gesprochen, 
ungefähr  zu  dem,  was  Christus  s.  Z.  selbst  gewollt  hätte. 
Dass  dieser  «Anfang  des  Endes»  ein  sehr  viel   stillerer  und 


480  Jahresbericht  1899. 

bescheidenerer  Vorgang  war,  als  der  Zionismus,  beweist  für  uns 
zum  wievielten  Male  schon  die  Regel,  dass  alles  wirklich 
Wahre  und  Grosse  klein  anfängt  und  gross  endet,  während 
das  halb  oder  ganz  Falsche  stets  am  Anfang  am  bedeutend- 
sten aussieht,  weil  es  mit  viel  Reklame,  Zeitungs-  nnd  Ver- 
einswesen in  Scene  tritt  und  damit  einigen  einfältigen  Leuten, 
die  nichts  als  die  Zeitungen  lesen,  zu  imponiren  versteht 
Bezeichnend  war,  dass  bei  dem  Tode  dieses  Anfängers  selbst 
eine  sehr  fromme  Zeitung  ihren  Bericht  damit  schloss:  «Es 
wird  sich  nun  zeigen,  ob  sein  Werk  auch  nach  seinem  Tode 
weiterbesteht  und  fortschreitet».  So  wenig  glauben  in  Wirk- 
lichkeit manche  fromme  Kreise  selbst  daran,  dass  «Gottes  Ver- 
heissungen  Ja  und  Amen  sind». 

Kein  Wunder,  dass  unter  solchen  Umständen  jeder  solche 
Bericht  und  mit  jedem  kommenden  Jahre  mehr  auch  der 
heidnischen  Kulte  gedenken  muss,  mit  denen  wir  nun 
ebenfalls  in  Berührung  kommen.  Wir  meinen  damit  nicht 
bloss  den  Mormonismus,  der  auch  bei  uns  immer  noch  unter 
leichtgläubigen  Mädchen  seine  Opfer  sucht,  oder  den  ziemlich 
verbreiteten  Spiritismus,  dessen  Hauptvertreter  in  Deutsch- 
land, Du  Prel,  nun  die  Richtigkeit  seiner  Anschauungen  in 
einem  anderen  Leben  (statt,  wie  er  meinte,  an  der  Pariser 
Weltausstellung)  erproben  kann,  auch  nicht  die  Buddhisten, 
oder  Vedisten,  die  meistens  nur  der  Gelehrtenkaste  der  so- 
genannten «Indologen»  angehören,  sondern  wirklich  bestehende 
heidnische  Kulte  mitten   in  unserer   christlichen  Kulturwelt. 

Ueber  die  Mormonen  wird  Folgendes  berichtet : 

«Die  Kirche  der  Heiligen  der  letzten  Tage  zählte  nach 
einer  in  welschen  Blättern  erschienenen  Statistik  auf  Beginn 
dieses  Jahres  in  der  Schweiz  1001  Zugehörige,  die  27  Mis- 
sionäre, worunter  zwei  « Grosspriester  >,  nicht  inbegriffen. 
Unter  den  1001  befinden  sich  aber  309  Kinder  unter  acht 
Jahren.    Zuwachs  1898:    132   Taufen  und   34   Admissionen. 


Inneres.    Kirchliches.    Heidnische  Gülte.  481 

Verminderung:  57  Abgereiste,  wovon  31  Ausgewanderte  (nach 
Utah).  Der  *  Lokalklerus»  besteht  aus  11  Aeltesten,  21  Prie- 
stern, 13  Lehrern  und  7  «dienenden  Brüdern».  Es  gibt  14 
Gemeinden;  die  grösste  ist  Biel  mit  125  Mitgliedern,  dann 
folgt  Zürich  mit  124,  Thun  mit  116,  Bern  mit  82,  Langnau 
mit  80,  Herisau  mit  79.  In  der  französischen  Schweiz  gibt 
es  119  Mormonen,  die  sich  auf  die  Gemeinden  Genf,  Lausanne 
und  Chauxdefonds  vertheiien.  Die  Mormonen-Missionäre  hielten 
1898  in  der  Schweiz  1103  Versammlungen,  183  Sonntags- 
schalstunden und  28  Bibel-Lektionen  ab,  machten  12,944 
Hausbesuche  und  vertheilten  26,075  Schriften.  «Präsident 
der  schweizer.  Mission»  ist  ein  Herr  Bowman. 

Hier  wäre  zur  Abwechslung  etwas  mehr  Intoleranz  am 
Platze. 

Ueber  eine  Gemeinde  von  «Gnostikern»  berichtet  ein 
Berichterstatter  des  Pariser  «Matin»  Folgendes: 

«In  einem  weissau sgeschlagenen  Saal  fand  Basset  etwa 
30  Personen  vor.  Auf  der  einen  Seite  die  Männer  in  schwarzem 
Gesellschaftsanzug  mit  breiter  weisser  Schärpe,  auf  der  an- 
dern die  Damen  in  schwarzer  Robe,  ebenfalls  mit  weisser 
Schärpe.  Ein  schwarzer  Vorhang  trennt  die  Vorhalle  vom 
Chor,  in  dem  der  Altar  steht.  Auf  dem  Vorhang  leuchten  in 
blauer  Seide  dem  Zuschauer  die  Worte  entgegen:  «Kommet 
hierher,  alle  die  ihr  dürstet  nach  wahrer  Liebe,  Gott  ist  die 
Liebe».  Mit  einem  freundlichen  Lächeln  führte  die  Sakristanin 
—  «eile  est  träs  bien,  cette  petite  sacristine»  —  den  Er- 
zähler an  seinen  Platz  und  übergab  ihm  das  Bitual,  damit 
er  dem  Gottesdienst  folgen  könne.  Derselbe  beginnt  mit 
einem  feierlichen  Chorgesang  in  antiker  Melodie  und  Tonfall 
hinter  dem  Vorhang: 

Lucerna  Pleromatis, 

Lucet  mei  semitis ; 

Inclinavi  cor  meum, 

Ad  tuum  eloquium. 
Plötzlich  theilt  sich  der  Vorhang,  der  Altar  wird  sicht- 
bar, in  glänzendem  Weiss,  goldgeschmückt,  in  einem  Lichter- 
meer.   Der  Patriarch  celebrirt  die  Messe.    Er  ist   ein  Mann 

31 


482  Jahresbericht  1899. 

von  mittlerer  Grösse,  mit  grauem  Haar  und  majestätischem 
liebevollen  Blick.  Es  trägt  den  schwarzen  Rock  der  Katharer, 
an  der  Taille  zusammengefasst  mit  dem  grünen  «Knosti»,  ge- 
schmückt mit  83  Schleifen,  und  die  sattviolette  orientalische 
Mitra.  Ihm  zur  Seite  administriren  zwei  Bischöfe  mit  Stola 
und  Antoniuskreuz.  Hinter  ihnen  eine  Frau  von  strahlender 
Schönheit,  —  es  ist  die  «Grossdiakonissa»  —  sie  erhebt  ihre 
Hände  über  einen  Chor  von  Jungfrauen,  die  alle  mit  der 
Tunika  und  dem  «Peplon>  der  Alten  bekleidet  sind.  Das 
volle  Licht  fällt  auf  ihre  weissen  Gewänder,  ihre  blossen 
Arme,  ihr  ruhiges  Angesicht,  Statuen  von  lebendem  Marmor. 
Der  Patriarch  segnet  die  Menge,  die  sich  ehrfurchtsvoll  ver- 
neigt, dann  tritt  er  zur  Diakonissa  und  spricht:  «Accipe  os- 
culum  pacis»,  worauf  sie  sich  umarmen  und  küssen,  dann 
treten  die  Bischöfe  zu  den  Jungfrauen  und  umarmen  und 
küssen  sich,  wie  Vollkommene,  Gläubige,  Brüder  und  Schwestern. 

Auf  diese  Kommunion  der  Seelen  folgt  das  «Credo»,  wel- 
ches mit  enthusiastischen  Bewegungen  die  Diakonissa  vor- 
trägt :  «Ich  glaube  an  einen  Gott  des  Universums,  einen  ein- 
zigen Vater,  dessen  Gedanke,  die  heilige  Ennoia,  eins  von  aller 
Ewigkeit  her  mit  ihm  selbst,  die  Hierarchie  der  heiligen  Aeo- 
nen  hervorgebracht  hat  .  .  . 

Ich  glaube,  dass  der  letzte  der  heiligen  Aeonen,  Sophia, 
von  Liebe  zum  Vater  erfüllt,  mit  Macht  versuchte,  emporzu- 
dringen  zu  ihm,  aber  durch  das  Gewicht  ihres  Begehrens  in 
die  untern  Regionen  geschleudert  wurde  .  .  . 

Ich  glaube,  dass  aus  diesem  Begehren  geboren  wurde 
Sophia  Achamoth,  die  den  unvollkommenen  Deminrgen  zur 
Welt  brachte,  den  Ordner  des  Stoffes,  den  Schöpfer  des 
Himmels  und  des  Alls  .  .  . 

Ich  glaube,  dass  der  Aeon  Christus,  die  Frucht  des  hei- 
ligen Pleroma,  nachdem  er  die  durch  die  Begierde  der  Sophia 
zerstörte  Harmonie  des  Pleroma  wiederhergestellt,  in  Jesus 
zur  Erde  herabgestiegen  ist,  dass  beide  ihm  durch  Inspiration 
die  ewige  Lehre  des  Evangeliums  eingegeben,  und  dass  sie 
ihn  erst  im  Moment  seines  Leidens  verlassen  haben. 

Ich  glaube  an  die  Erlösung  des  Weltalls  in  der  Liebe 
und  durch  die  Liebe.» 


Inneres.    Kirchliches.    Heidnische  Gülte.  483 

Nach  diesem  Credo  trat  die  Diakonissa  zurück  und  der 
Patriarch  ertheilte  den  Segen:  Perfecti  und  Perfectae  und 
ihr,  Hyliker1),  die  heiligen  Aeonen  seien  mit  euch! 

Nun  erst  begann  das  heilige  Officium,  einer  römisch-ka- 
tholischen Messe  nicht  unähnlich,  immerhin  doch  mit  wesent- 
lichen Differenzen.  Feierlich  wurde  eine  Stelle  aus  dem  Jo- 
hannes-Evangelium in  griechischer  Sprache  recitirt,  und  — 
entzückende  Vision  aus  einer  andern  Zeit  —  während  des 
Officium  und  der  Konsekration  führte  der  Chor  der  Jung- 
frauen unter  der  Leitung  der  Diakonissa  zwischen  Altar  und 
Vorhang  heilige  Tänze  auf,  deren  Figuren  und  Bewegungen 
das  ausdrücken,  was  Worte  nicht  mehr  aussprechen  können, 
die  höchsten  Symbole  der  Religion  Valentins.» 

Das  Weitere  dieses  Kultus  zu  beschreiben  unterlassen 
wir  füglich  und  sind  der  Ansicht  eines  anderen  Berichter- 
statters, dass  das  heutige  Frankreich  überhaupt  dem  alten 
Griechenland  in  der  Zeit  des  Niederganges  gleiche,  als  man 
über  den  Zeus  spottete  und  gleichzeitig  Wunderthätern,  wie 
Apollonios  von  Tyana  zuströmte. 

Der  Buddhismus,  welcher  von  Schopenhauer,  der  eine 
Art  Buddhist  war,  in  die  deutsche  Welt  eingeführt  und  später 
namentlich  von  Oberpräsidialrath  Theodor  Schnitze  in  Potsdam 
vertreten  wurde«),  nimmt  ebenfalls  in  diesem  Lande  der  Denker 
zu,  begünstigt  durch  eine  weitgehende  Abneigung  gegen  das 
dortige  offizielle  Christenthum  und  durch  die  vorläufige 
Richtung  der  Zeit  auf  das  Zerstören,  statt  des  Auf  bauens.  Es 
ist  dafür  bezeichnend,  dass  in  einer  grossen  Berliner  Zeit- 
schrift folgendes  zu  lesen  war: 

«In  Summa  könnte  man  also  mit  dem  oben  erwähnten  In- 
dologen  C.  von  Schröder  den  Buddhismus  bezeichnen  «als  den 


*)  Hyliker  ist  der  noch  nicht  in  die  Vollkommenheit  der  Gnosis 
erhobene,  irdisch  gesinnte  Mensch. 

2)  Vgl.  dessen  Biographie  von  Arthur  Pfeugst. 


484  Jahresbericht  1899. 

grossartigsten  (religiösen)  Versuch  der  Menschheit,  durch  ei- 
gene Kraft  sich  selbst  zu  erlösen>.  Damit  hängt  es  aufs 
Eugste  zusammen,  —  und  das  ist  der  zweite  Punkt,  auf  den 
hier  hingewiesen  sein  möge,  —  dass  der  Buddhismus  ein  re- 
ligiöses System  des  Atheismus  ist,  das  einen  Gott  nicht  kennt. 
In  der  That,  wenn  der  Mensch  immer  wieder  nur  auf  sich 
selbst,  auf  seine  eigene  und  vor  allem  sittliche  Kraft  zurück- 
geführt wird,  —  wie  sollte  da  wohl  der  Gottesbegriff  mög- 
lich sein  ?  Gerade  in  diesem  Punkte  scheint  mir  aber  das  für 
die  europaische  Kultur  wichtigste  und  förderlichste  Moment 
zu  liegen.  Der  Pessimismus,  als  die  metaphysische  Grundlage 
des  buddhistischen  Systems,  auch  wenn  er  so  weit  umgebogen 
und  umgedeutet  wird,  dass  er  nicht  mehr  ein  Narkotikon  für 
den  Geist  und  ein  Hemmniss  für  den  Fortschritt  zu  sein 
braucht,  wird  sicher  niemals  allgemeinen  Eingang  finden 
können,  er  wird  jedenfalls  immer  Gegenstand  des  Streites 
sein,  wie  jede  ins  Transcendente  übergreifende  metaphysische 
Lebensansicht.  Dagegen  kann  vielleicht  die  Thatsache,  dass 
gerade  der  Buddhismus,  die  grösste  aller  Kulturreligionen, 
ein  atheistisches  System  ist,  auch  für  die  europäische  Kultur- 
welt noch  von  grosser  Bedeutung  werden,  insofern  die  nähere 
Kenntniss  dieser  Thatsache,  das  wachsende  Verständnis«  der- 
selben  und  ihre  Ausbreitung,  gewaltige  Vorurtheile  von  Jahr- 
tausende langer  Dauer  mit  niederreissen  helfen  kann.  Noch 
bis  zum  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  fiel  es  Niemandem 
ein,  an  der  Meinung  zu  rütteln,  dass  die  Religion  und  sei 
sie  auch  auf  die  kahle  Thatsache  eines  Glaubens  an  das  Da- 
sein Gottes  reduzirt,  die  unumgängliche  Voraussetzung  aller 
Sittlichkeit  sei,  bis  dann  Kant  die  Unabhängigkeit  der  Moral 
von  aller  Religion,  auch  vom  Gottesbegriff,  begründete.  Aber 
noch  immer  hielt  alles  an  der  Meinung  fest,  dass  Religion  in 
dem  üblichen  Sinne,  d.  h.  vor  allem  die  Gottesvorstellung 
selbst,  wenigstens  eine  absolute  psychologische  und  ethnolo- 
gische Notwendigkeit  sei,  dass  es  keinen  Menschen  und  kein 
Volk  ohne  Gottesvorstellung  geben  könne.  Da  hat  man  aber 
in  unseren  Tagen  (namentlich  die  Forschungsreisen  von  den 
Steinend  in  Brasilien  haben  hier  bahnbrechend  gewirkt)  pri- 
mitive Völker  entdeckt,   die  absolut  keine  Grottesvorstellung 


Inneres.    Gesetzgebung  und  Verwaltung.  485 

• 

oder  dem  Aehnliches  besitzen.  Und  nun  enthüllt  eben  das 
Studium  des  Buddhismus  immer  mehr,  dass  die  Gottesvor- 
stellung nicht  einmal  eine  religionspsychologische  Notwen- 
digkeit ist,  dass  nicht  nur  eine  unter  vielen  Religionen,  son- 
dern gerade  die  ausgebr  ei  totste  Kulturreligion,  die  ca.  500 
Millionen  Bekenner,  d.  h.  etwa  40  Prozent  der  ganzen  Men- 
schenwelt umfasst,  nichts  von  einem  Gotte  weiss,  wenn  auch 
dem  Stifter  der  Religion  selbst  innerhalb  verschiedener  ent- 
arteter Nebenbekenntnisse  göttliche  Ehren  erwiesen  werden. 
Wenn  aber  diese  Thatsachen,  dass  Gottesvorstellung  und 
Gottesbegriff  weder  eine  nothwendige  Vorbedingung  der  Sitt- 
lichkeit noch  eine  nothwendige  Thatsache  des  menschlichen 
Bewasstseins,  noch  selbst  eine  nothwendige  Vorbedingung  für 
eine  Religion  sind,  erst  einmal  allgemeinere  Ausbreitung  ge- 
wonnen haben  werden,  so  ergeben  sich  daraus  Ausblicke  auf 
mögliche  Umwälzungen  in  der  ganzen  inneren  Struktur  der 
modernen  Kulturwelt,  im  Vergleich  mit  welchen  selbst  die 
grössten  Veränderungen  etwa  in  unserem  oder  dem  vorigen 
Jahrhundert  noch  geringfügig  erscheinen.» 

Wir  werden    es    gewärtigen,    ob    diese  Bäume    in  den 

Himmel  wachsen,  oder  ob  der  «Herr  ihrer  lacht»  wie  schon 

der  zweite  Psalm  es  sagt,  der  noch  immer  besteht,  und  unter 

dessen   Stimmung,   was   die   religiösen  Angelegenheiten    der 

Menschheit  betrifft,   wir  in  das  neue  Jahrhundert  übergehen, 

welches  muthmasslich  diese  grossen  Fragen  wieder  für  einige 

Zeit  zn  lösen  haben  wird. 

HE.  Gesetzgebung  und  Verwaltung. 

Kehren  wir  zn  unseren  Penaten  zurück,  nachdem  die 
kirchlichen  Angelegenheiten  nothwendig  stets  ein  wenig  über 
die  Grenzen  unseres  Landes  hinausführen,  da  wir  eben  keiue 
Nationalkirche  haben,  noch  haben  können,  seitdem  das  t Man- 
dat vom  Glauben»,  der  letzte  Versuch  hiezu,  wir  wissen  nicht 
sollen  wir  sagen  unglücklicher  oder  glücklicherweise,  geschei- 
tert ist.  Denn  in  Religionssachen  ist  die  Wahrheit  wichtiger, 
als  die  Einheit. 


486  Jahresbericht  1899. 

Das  Haaptresultat  der  eidgenössischen  Gesetzgebung^ 
arbeit  war  in  diesem  Jahre  das  dreitheilige  Gesetz  über  die 
Unfall-  nnd  Krankenversicherung  nnd  Militärversicher- 
nng,  wie  es  schliesslich  in  einer  ausserordentlichen  Sitzung  der 
eidgenössischen  Räthe,  vom  Nationalratb  am  2.  Oktober  mit 
allen  gegen  Eine  Stimme  und  12  Enthaltungen  (lauter  Mit- 
glieder der  sozialistischen  Partei),  vom  Ständerath  am  5.  Ok- 
tober einstimmig,  angenommen  wurde  und  im  Bundesblatt 
Nr.  41  unter  dem  11.  Oktober  publizirt  ist.  Es  lauft  nun  zu- 
nächst die  Referendumsfrist,  welche  am  9.  Januar  1900  zu 
Ende  geht.  In  dieser  Zeit  muss  es  sich  entscheiden,  ob  das 
Gesetz  ohne  weiteres  mit  dem  1.  Januar  1903  in  Kraft  tritt, 
oder  noch  die  Barre  einer  Volksabstimmung  passiren  muss, 
um  aus  dem  Meer  in  den  Hafen  zu  gelangen.  Ob  dies  der 
Fall  sein  wird,  darüber  sind  die  Ansichten  getheilt.  Gegner, 
um  30,000  Stimmen  auszumachen,  sind  jedenfalls  genug  vor- 
handen, aber  es  wird  jede  organisirte  Partei  etwelche  Be- 
denken haben,  diese  Kastanien  aus  dem  Feuer  zu  holen  und 
lieber  eine  andere  voranschicken  wollen.  Das  zeigten  die  Ent- 
haltungen und  eine  etwas  langathmige  Erklärung,  die  den- 
selben im  Nationalrath  beigefügt  wurde,  während  ein  einziges 
Mitglied  den  Muth  besass,  direkt  Nein  zu  sagen.  Sehr  viele 
Schweizer  aller  politischen  Parteien  aber  würden  mit  Nein 
stimmen,  wenn  es  überhaupt  dazu  kommen  sollte.  Gründe  dafür 
sind  leicht  zu  finden.  Unsererseits  sind  wir  für  Annahme,  obwohl 
wir  glauben,  dass  der  ohnehin  sehr  komplizirte  Staate-  und 
Gemeindeorganismus  noch  viel  komplizirter  dadurch  wird  und 
Schwierigkeiten  mit  der  bisherigen  Genossenschafts-  und  Ge- 
meinde-Armenpflege (nebst  den  dazu  gehörigen  Bürgergutever- 
hältnissen) nicht  ausbleiben  können,  dass  ferner  eine  weitere 
Vermehrung  der  ohnehin  überwuchernden  Bureaukratie  ent- 
stehen wird  und  dass  die  finanzielle  Basis  immerhin  etwas  zu 


Inneres.    Gesetzgebung.  487 

wünschen  übrig  lässt.  Auch  zweifeln  wir  nicht,  dass  die  wach- 
gerufenen Wünsche  nicht  befriedigt  werden,  vielmehr  noch  neue 
entstehen,  und  dass  das  Gesetz  nur  der  Anfang  einer  allge- 
meinen Alters-  und  Invalidenversicherung  ist.  Aber  dem  allem 
und  was  noch  sonst  etwa  angebracht  werden  könnte  gegenüber 
steht  das  Bild  einer  abgearbeiteten  und  kummervollen  Frau 
mit  völlig  erschöpften  Mitteln  am  Krankenlager  des  Ernährers 
der  Familie,  die  beständige  Sorge  der  von  ihrer  Arbeit  leben- 
den Bevölkerung  selbst  in  guten  Tagen  vor  einem  solchen 
Schicksal,  das  sie  der  Armenunterstützung  überliefert,  ebenso 
auch  die  Ungerechtigkeit  und  Willkür  der  jetzigen  Haftpflicht- 
gesetzgebung, die  so  nicht  bleiben  und  auch  nicht  fortschrei- 
ten kann.  Das  muss  entscheiden,  trotz  allen  Bedenken,  in 
einer  Bepublik,  die  sich  eine  demokratische  nennt  und  in 
solchen  Dingen  nicht  hinter  monarchischen  Staaten  zurück- 
bleiben darf,  wenn  sie  bestehen  bleiben  will,  in  der  es 
überhaupt  kein  Elend  geben  darf,  dem  mit  möglichen  und  er- 
schwinglichen Mitteln  abgeholfen  werden  kann.  Etwas  Muth 
braucht  es  zu  grossen  Dingen  immer;  ohne  Muth  kann  die 
schweizerische  Eidgenossenschaft  überhaupt  nicht  existiren, 
auch  in  vielen  anderen  Richtungen.  Wenn  also  das  schwei- 
zerische Volk  die  angebotene  Hülfe  von  sich  stossen  will, 
so  mag  es  dies  thun,  aber  auf  eigene  Verantwortung  und 
Gefahr  hin;  wir  thun  es  nicht  und  wenn  die  Schwierig- 
keiten noch  doppelt  so  gross  wären. 

Wir  waren  daher  auch  für  einen  dermaligen  und  un- 
bedingten Beschluss  mit  möglichst  kurzer  Ausführungsfrist, 
dagegen  nicht  für  das  Tabakmonopol,  aber  nur  deshalb,  weil 
wir  in  einem  solchen  Anhängsel  eine  Gefährdung  des  Gesetzes 
.erbückten,  nicht  aus  Antipathie  gegen  dieses  sehr  zweck- 
mässige und  zweifellos  in  der  Zukunft  liegende  Staats- 
monopol. 


488  Jahresbericht  1899. 

Dass  der  Annahme  und  Durchführung  dieses  Gesetzes, 
das  seit  zehn  vollen  Jahren  schon  ein  Haupttraktandum  der 
Bundesversammlung  bildete,  einige  andere  ebenfalls  in  ihrer 
Art  wichtige  Gesetzgebungsvorlagen,  namentlich  das  Lebens- 
mittelgesetz, das  Forstgesetz,  die  neue  Organisation  des  Mili- 
tärdepartements einstweilen  den  Vorrang  einräumen  mu&sten, 
war  nicht  zu  vermeiden.  Eines  nach  dem  anderen,  qui  trop 
embrasse  mal  ätreint.  Dieser  Satz  dürfte  überhaupt  in  dem 
ganzen  Gang  der  eidgenössischen  Gesetzgebung  etwas  mehr 
zur  Geltung  kommen. 

Gleichzeitig  mit  dem  Versicherungsgesetz  kam  in  der 
ausserordentlichen  Septembersitzung,  im  Nationalrathe  vor- 
läufig, zur  Annahme  das  Nebenbahnengesetz.  In  dieses 
Gesetz  werden  die  Bedingungen  aufgenommen,  welche  die 
Voraussetzungen  zu  ihrer  Unterstützung  durch  den  Band 
bilden  werden,  welche  den  Gegenstand  eines  besondern 
Postulats  bilden  soll.  Es  ist  also  ein  Gesetz,  das  die  grösseren 
allgemeinen  Grundsätze  über  Nebenbahnen  enthält,  nach  denen 
sie  zu  konzessioniren  sind  und  das  zugleich  die  Basis  einer 
künftigen  Betheiligung  des  Bundes  bei  denselben  bildet.  Was 
Haupt-  oder  Nebenbahnen  seien,  was  ja  zweifelhaft  sein  kann, 
soll  der  Bundesrath  entscheiden,  aber  mit  Rekurs  an  die 
Bundesversammlung,  innert  Frist  von  3  Monaten  jedoch. 

Das  Gesetz  ist  im  Uebrigen  als  eine  Ergänzung  des  all- 
gemeinen Eisenbahngesetzes  von  1872  aufzufassen,  so  dass 
alle  Bestimmungen  desselben  selbstverständlich  auch  für  die 
Nebenbahnen  gelten,  falls  das  Nebenbahnengesetz  nicht  aus- 
drücklich eine  Ausnahme  enthält.  Natürlich  gelten  auch  da- 
neben noch  für  die  sehr  verschiedenen  Arten  dieser  Neben- 
bahnen die  speziellen  Bestimmungen  ihrer  Konzessionen» 
Die  speziellen  Vorschriften  über  die  Nebenbahnen,  die 
ihrer  Natur   und  Individualität   entsprechen,    aber   doch   die 


Inneres.    Gesetzgebung.  489 

Sicherheit  in  keiner  Weise  gefährden  sollen,  sind  vom  Bundes- 
rate zu  erlassen. 

Dagegen  gelangte  nicht  zur  völligen  Durchberathung  das 
Gesetz  über  die  Arbeitszeit  bei  demBetrieb  der 
Transportanstalten. 

Die  Anregung  hiezu  entstand  durch  eine  Petition  von  bei 
dieser  Sache  Betheiligten  an  den  Bundesratb  vom  Oktober 
1395.  Die  Arbeitszeit  von  12  Stunden  und  die  Ruhetage 
sollten  regulirt,  ein  jährlicher  Urlaub  eingeführt  und  die  Aus- 
nahmen, welche  der  Bundesrath  vom  bisherigen  Gesetz  ge- 
statten durfte,  beschränkt  werden.  Der  Bundesrath  veran- 
staltete zunächst  eine  Enquete  bei  den  betroffenen  Verwalt- 
ungen und  erliess,  darauf  gestützt,  dann  eine  Botschaft  .  im 
März  1898,  welche  sodann  an  die  Kommissionen  der  Räthe 
gelangte.  Seither  kam  nun  durch  den  Rückkauf  der  Eisenbahnen 
auch  noch  der  Bund  in  die  Reihe  der  hauptbetheiligten  Ver- 
waltungen, und  die  Kommission  des  Nationalraths  verlangte 
in  Folge  dessen  von  dem  Bundesrath  noch  einen  weiteren 
Bericht,  namentlich  über  die  Frage,  ob  man  ein  einheitliches 
Gesetz  erlassen  solle,  oder  eine  Reihe  von  Reglementcn  für 
die  einzelnen  Verwaltungen.  Der  Bundesrath  sprach  sich 
für  ein  allgemeines  Gesetz  aus. 

Der  Kommission  schwebte  im  Allgemeinen  vor  das  all- 
gemeine Dienstzeitreglement  der  Eisenbahnen,  das  im  Oktober 
d.  J.  im  deutschen  Reiche  in  Kraft  getreten  ist. 

Die  Remeduren,  die  von  allen  Seiten  verlangt  wurden, 
besonders  in  Bezug  auf  die  regelmässige  Arbeitszeit,  würden 
eine  Belastung  von  4 — 5  Millionen  Franken  jährlich  bedeuten 
und  bei  der  Eidgenossenschaft  dasjenige  verschlingen,  was 
man  als  muthmasslichen  Ueberschuss  in  der  künftigen  Eisen- 
bahnverwaltung berechnet  hatte. 


490  Jahresbericht  1899. 

Die  Hauptvorschläge  der  Kommission  betreffen  eine  Re- 
duktion der  Arbeitszeit  und  besondere  Bestimmungen  Aber 
Dienstbereitschaft  oder  Präsenzzeit  (die  etwas  Anderes  ist 
als  die  Arbeitszeit)  wie  sie  bis  anbin  nicht  bestanden. 

Ebenso  ist  der  sogenannte  «Urlanb>  im  Eisenbahn* 
dienst,  d.  h.  die  Einführung  einer  zusammenhangenden  ein- 
maligen Ruhezeit  im  Jahre,  neben  der  gewöhnlichen  täglichen 
Ruhezeit  projektirt. 

Eine  schlimme  Sache  ist  die,  dass  die  Schweiz,  als  ein 
vernehmlichstes  Dnrchgangsland  für  den  internationalen  Ver- 
kehr, den  Nachtdienst  der  Bahnen  nicht  nur  nicht  beschränken 
kann,  sondern  noch  ausdehnen  muss. 

Im  Uebrigen  soll  das  Gesetz  so  gestaltet  werden,  dass 
nicht  die  Ausnahmen,  welche  der  Bundesrath  immer  wird  ge- 
währen müssen,  die  Regeln  überwuchern. 

Ein  Hauptpunkt  war  die  11- oder  10  stündige  Arbeitszeit, 
statt  der  jetzt  12  stündigen,  bei  den  Eisenbahnen.  Es  ist  dies 
übrigens  nicht  ein  «Normal-Arbeitstag»,  wie  im  Fabrikgesetz, 
sondern  ein  «Maximal-Arbeitstag».  Ein  10  stündiger  Normal- 
Arbeitstag  wurde  schliesslich  auch  von  den  Vertretern  der 
Eisenbahnen  nicht  mehr  verlangt,  sondern  es  handelte  sich 
eigentlich  nnr  noch  um  einige  bevorzugte  Kategorien,  wie  Loko- 
motivführer und  Fahrpersonal.  Doch  beschloss  auch  dies  der 
Nationalrath  (6.0ktober)  nicht.  Dagegen  soll  die  Nacht- 
ruhe genauer  normirt  werden.  Die  Kontrolle  über 
die  effektive  Dienstleistung  nnd  die  sogenannte  cüeber- 
zeit»  soll  nach  der  Ansicht  der  Kommission  von  dem  Per- 
sonal selbst  ausgeübt  werden.  Ein  individueller  Antrag 
ausserhalb  der  Kommission  wollte  dafür  ein  besonderes  In- 
spektorat  aufstellen. 

Im  Ganzen  wird  dieses  Gesetz,   das   nun  natürlich  erst 
von  einer  folgenden  Legislative   angenommen    werden    wird, 


Inneres.    Gesetzgebung.  40t 

ohne  Zweifel  eine  erhebliche  Verbesserung  der  jetzigen  Zu- 
stande herbeiführen.  Auch  dass  der  Sonntag  etwas 
besseres,  körperlich  und  geistig  wirksameres  sei,  als  jeder 
andere  Freitag,  somit  auch  diesen  Leuten  wieder  voll  und 
ganz  zurückgegeben  werden  müsse,  wurde  endlich  einmal 
in  einem  schweizerischen  Rathssaal  mit  einer  bisher  unge- 
wohnten Wftrme  betont.  Das  weitschichtige  Gesetz  wurde 
erst  am  zweitletzten  Tage  einer  Legislativ-Periode  im 
Nationalrath  zur  Berathung  gestellt,  was  eigentlich  eine 
starke  Anomalie  war.  Von  einer  gründlichen  Berathung  konnte 
daher  nicht  mehr  die  Bede  sein.  Wir  verweisen  im  Allge- 
meinen auf  den  Artikel  «Arbeit  und  Ruhe»  im  Jahrbuch 
Band  XII. 

Im  Ganzen  machte  die  bisherige  Verhandlung  den  be- 
ruhigenden Eindruck,  dass  unsere  «Sozialpolitik»  eine 
etwas  andere  sei  und  die  Anschauungen  darüber  lange  nicht 
so  hoffnungslos  auseinandergehen,  wie  etwa  in  Deutsch- 
land, Frankreich  und  Belgien.  Die  Aera  der  «kommunisti- 
schen Manifeste»  und  die  Erwartung  des  «grossen  Kladdera- 
datsches» ist  bei  uns  jedenfalls  mit  dem  19.  Jahrhundert  nach 
einer  kaum  50jahrigen  Laufbahn  zu  Ende,  und  wir  stehen 
jetzt  da,  wo  wir  immer  standen,  in  der  Aera  der  ver- 
nünftigen Verständigung  und  des  wirklichen,  gemeinsamen 
Fortschritts  auf  dem  Boden  eines  «Vaterlands.» 

Zunächst  stehen  nun  noch  zur  Verhandlung  in  der  im 
Dezember  beginnenden  neuen  Legislaturperiode  bevor  ein 
Bandesgesetz  über  den  Versicherungsvertrag  nach 
einem  Entwurf  von  Prof.Rölli,  worüber  der  diesjährige  Juristen- 
tag  in  Freiburg  Verhandlung  pflog,  sodann  die  Revision  des 
veralteten  Gesetzes  über  den  Geschäftsverkehr  zwischen 
beiden  Käthen. 


492  Jahresbericht  1899. 

Ueber  dieRechtsgesetzgebung  gab  der  Vertreter  des 
-eidgenössischen  Justizdepartements  im  Ständerath  eine  Er- 
klärung ab,  wonach  er  sich  die  Frage  des  Vorangehens  des 
«Strafrechts  oder  Civilrechts»  noch  zu  weiterer  Prüfung  der 
Zweckmässigkeit  vorbehält,  womit  sich  auch  eine  Anzahl 
von  nationalräthlichen  Interpellanten  einstweilen  beruhigte, 
immerhin  mit  der  bestimmten  Erklärung,  dass  sie  das  Voran* 
gehen  des  Civilrechts,  als  des  reiferen  nnd  besseren  Ent- 
wurfes, der  auch  für  das  nationale  Leben  von  grösserer  Be- 
deutung und  Tragweite  sei,  fortwährend  wünschen  und  im 
Auge  behalten. 

Das  aligemeine  Interesse  an  der  Frage  ist  begreiflich  bei 
der  Tragweite  und  Wichtigkeit  des  Gegenstandes.  Immer- 
hin muss  der  Bundesrath  betonen,  dass  ein  Bericht  von  seiner 
•Seite  nicht,  präjudiziell  sein  kann.  Die  Vorarbeiten  haben  be- 
kanntlich vor  der  Vorlage  der  Verfassungsnovelle  begonnen 
durch  die  bekannten  Arbeiten  der  Professoren  Huber  und 
Stooss.  An  Hand  dieser  Arbeiten  konnte  man  sich  über- 
zeugen, dass  trotz  mannigfacher  Divergenzen  einheitliche  Ge- 
setzbücher nicht  ausgeschlossen  seien;  dann  folgte  die  Ver- 
fassungsnovelle. Für  das  Civilrecht  wurde  ein  Arbeitspro- 
gramm aufgestellt,  zu  dessen  Beurtheilung  die  Kantons- 
regierungen begrüsst  wurden. 

Diesen  ersten  eingeholten  Ansichtsäusserungen  folgten 
die  ersten  Vorentwürfe,  zunächst  das  Personen-  und  Familien- 
recht, über  die  weitere  Gutachten  eingeholt  wurden.  Im 
Grossen  und  Ganzen  fand  dieser  Theilentwnrf  eine  gute  Auf- 
nahme. Auch  der  Vorentwurf  des  Grundpfandes  wurde  den 
Experten  in  den  verschiedenen  Landestheilen  zugestellt,  es 
folgte  die  Erweiterung  des  Entwurfes  auf  das  gesammte 
Sachenrecht,  der  zunächst  einer  kleinern  Expertenkommission 
unterbreitet  wurde.  Bis  Ende  dieses  Jahres  soll  dieser  Theil- 
untwurf  wie  der  erste  publizirt  werden  können. 


Inneres.    Gesetzgebung.  49ä 

In  Sachen  des  Erbrechts  besteht  erst,  ein  erster  Vorent- 
wurf. Der  Strafrechtsentwurf  wurde  einer  grossen  Experten- 
kommission unterbreitet.  Das  gesammte  kritische  Material 
wurde  gruppirt,  um  an  Hand  desselben  eine  weitere  Lesung 
zu  ermöglichen.  Ein  Motivenbericht  des  Eedaktors  ist  für 
Ende  dieses  Jahres  in  Aussicht  gestellt.  Ferner  wurde  der 
Verfasser  des  Entwurfes  mit  verschiedenen  Abänderungen  be~ 
auftragt. 

Gegenwartig  ist  im  Weiteren  eine  Erhebung  über  den 
Strafvollzug  im  Gange.  Der  Bundesrath  gedenkt  so  weiter 
vorzugehen,  dass  das  Sachenrecht  in  diesem  Jahre  zum  Ab« 
schluss  kommt.  Dann  soll  das  Erbrecht  daran  kommen.  Ea 
sollte  möglich  sein,  bis  Ende  1900  alle  drei  Entwürfe  auf 
die  gleiche  Höhe  zu  bringen  und  auf  1901  auf  breitester 
Grundlage  zu  veröffentlichen.  In  die  grösseren  Experten- 
kommissionen, die  sich  nach  der  Publikation  weiter  mit  der 
Sache  zu  befassen  haben  werden,  sollen  Vertreter  der  weitesten 
Kreise  beigezogen  werden.  Die  Frage,  ob  der  Bundesver- 
sammlung seinerzeit  ein  Gesammtentwnrf  oder  Theilentwürfe 
vorgelegt  werden  sollen,  kann  heute  noch  nicht  entschieden 
werden.  Es  hängt  dieser  Entscheid  von  verschiedenen  Fak- 
toren ab,  die  erst  später  bestimmt  sein  werden.  Die  Arbeiten 
im  Strafrecht  können  gleichzeitig  gefördert  werden.  Für  den 
Vorzug  der  einen  oder  anderen  Materie  sprechen  weder  die 
Abstimmungsziffern,  noch  sonst  etwas.  Der  Strafgesetzent- 
wurf soll  1901,  wann  die  drei  Civilgesetzentwürfe  vorliegen, 
einer  Expertenkommission  unterbreitet  werden. 

Es  liegt  in  der  Meinung  des  Bundesrates,  dass  in  der 
Förderung  der  vorhandenen  Vorarbeiten  fortgefahren  werden 
soll  und  je  nachdem  die  eine  oder  andere  Materie  zum  Ab- 
schluß kommt,  dieselbe  den  Käthen  unterbreitet  wird. 


494  Jahresbericht  1899. 

Auf  Ende  des  Jahres  steht  die  Publikation  des  Sachen- 
rechtes in  sicherer  Aussicht,  nnd  da  auch  das  Erbrecht  be- 
reits in  einem  Entwürfe  ausgearbeitet  vorliegt  und  im  Früh- 
jähr  der  vorläufig  abschliessenden  Berathung  unterzogen 
werden  soll,  so  kann  auf  den  Herbst  1900  die  Veröffent- 
lichung eines  vollständigen  departementalen  Entwurfes  über 
das  Civilrecht  (mit  Ausschluss  des  Obligationenrechtes)  er- 
wartet werden.  Man  hofft,  dass  sich  die  in  Aussicht  ge- 
nommenen Berathungen  einer  grösseren  Kommission  von 
Fachmännern  und  Vertretern  aller  hervorragenden  Zweige 
unseres  wirtschaftlichen  Lebens  unmittelbar  daran  an- 
schliessen  werden.  Im  Interesse  der  Sache  liegt  unzweifel- 
haft eine  ununterbrochene  Fortführung  der  Arbeit  an  den 
Entwürfen. 

Jedenfalls  worden  wir  aber  bei  der  Behandlung  des  Straf- 
rechts schwerlich  den  modernen  Theorien  folgen,  wie  sie  jetzt 
auch  in  dem  neuen  Entwurf  zu  einem  norwegischen  Strafrecht 
enthalten  sind,  bei  dem  Civilrecht  hingegen  vielleicht  umge- 
kehrt noch  etwas  mehr  Modernität  befürworten. 

Durch  das  Unfall-  und  Krankenversicherungsgesetz  ist 
eine  gewisse  Retardirung  in  anderen  vorliegenden  Gesetzge- 
bungsarbeiten eingetreten.  Namentlich  wurden  z.  Th.  nach 
schon  begonnener  Berathung  zurückgelegt:  das  neue  Forstgesetz, 
das  Lebensmittelgesetz,  die  neue  Organisation  des  Militärde- 
partements und  das  Gesetz  über  die  Arbeitszeit  bei  den 
Transportanstalten,  Gesetze,  die  sämmtlich  eine  gewisse  Dring- 
lichkeit besitzen.  Ausserdem  liegen  der  nächsten  Legislatur- 
periode,  welche  mit  den  Nationalrathswahlen  vom  29.  Oktober 
d.  J.  beginnt,  namentlich  vor:  Ein  Gesetz  Aber  den  Ge- 
schäftsverkehr zwischen  den  beiden  Ruthen,  das  Bankgesetz, 
die  Reorganisation  der  Telegraphenverwaltung,  ein  Bundes- 
gesetz über  die  elektrischen  Schwach-  und  Starkstromanlagen, 


Inneres.     Gesetzgebung.  495 

die  Revision  des  Bandesgesetzes  über  die  Kontrolle  der  Gold- 
und  Silberwaaren,  ein  Gesetz  über  den  Verkauf  der  Bijouterie- 
und  Goldwaaren,  ein  Gesetz  über  den  Schutz  gewerblicher 
Muster  und  Modelle,  ein  Bundesgesetz  über  die  Währschaft 
bei  dem  Viehhandel.  Eine  Revision  des  Fabrikgesetzes  und 
des  Alkoholgesetzes  steht  ebenfalls  unmittelbar  vor  der  Thüre. 
In  weiterer,  aber  nicht  unmittelbarer  Aussicht  stehen:  die 
beiden  Rechtsgesetze  über  Civilrecht  und  Strafrecht,  von 
denen,  wie  gesagt,  zur  Zeit  noch  ungewiss  ist,  welches  zuerst  in 
Berathung  gezogen  werden  soll. 

Mit  dem  1.  Januar  1900  tritt  nun  das  deutsche  bürger- 
liche Gesetzbuch  in  Kraft,  dessen  Erfahrungen  auch  für  uns 
sehr  massgebend  sein  werden.  Darüber  sagt  die  Berliner  Zeit- 
schrift Nation: 

«Wir  haben  jetzt  ein  gemeinsames  bürgerliches  Gesetz- 
buch für  Deutschland ;  gewiss,  aber  wir  haben  es  nur  bis  auf 
die  strittigen  Punkte.  Das  Einführungsgesetz  spricht  in  seinem 
dritten  Abschnitt  über  das  Verhältniss  des  bürgerlichen  Ge- 
setzbuchs zu  den  Landesgesetzen.  Dieser  dritte  Abschnitt  um- 
fasst  98  Paragraphen.  Von  diesen  98  Paragraphen  beginnen 
bei  Weitem  die  meisten  mit  den  Worten :  «Unberührt  bleiben». 
Deutlich  gesprochen,  es  gibt  98  Materien,  in  denen  der  einer 
Rechtebelehrung  Bedürftige  aus  dem  bürgerlichen  Gesetzbuche 
keine  Auskunft  schöpfen  kann,  sondern  sich  an  die  Sonder- 
rechte der  26  Bundesstaaten  halten  muss. 

Dieser  Umstand  wird  es  hindern,  dass  das  bürgerliche 
Gesetzbuch  schnell  populär  werden  wird.  Jedes  neue  Gesetz 
drückt  wie  ein  neuer  Schuh.  Ueber  die  Justizgesetzc  des 
Jahres  1879  ergossen  sich  die  bittersten  Klagen;  gewisse 
Einrichtungen,  die  sich  in  grossen  Theilen  Deutschlands  langst 
bewährt  haben,  wurden  in  den  Theilen,  in  denen  sie  neu 
waren,  als  wahnwitzige  Erfindungen  gebrandmarkt  (die  kon- 
sequente Mündlichkeit,  das  Gerichtsvollzieheramt  u.  s.  w.). 
Die  Geschichte  des  Code  Napoleon  lehrt,  dass  man  über  alle 
Schwächen  und  Unbequemlichkeiten  eines  neuen  Gesetzbuchs 


496  Jahresbericht  1899. 

hinwegkommt,  wenn  dieses  neue  Gesetzbach  nur  das  kostbare 
Gut  der  Rechtseinheit  bringt.  Dieses  Gut  brachte  der  Code 
Napoleon.  Er  kennt  keinen  Unterschied  der  Stände  und  keinen 
Unterschied  der  Stämme.  Und  darum  halten  ihn  die  Fran- 
zosen trotz  seiner  Fehler  für  das  Ideal  eines  Gesetzbachs; 
darum  halten  sie  an  ihm  fest  und  scheuen  sich,  auch  nur  in 
Kleinigkeiten  daran  zu  ändern.  Uns  wird  das  kostbare  Gut 
der  Rechtseinheit  vorenthalten  trotz  des  bürgerlichen  Gesetz- 
buchs.» 

Diese  Vorbehalte  des  Landesrechtes  im  deutschen  Reiche 
betreffen  namentlich  sachenrechtliche  Materien.  Namentlich 
scheint  man  in  Deutschland  mit  dem  Erbrecht  an  liegenden 
Gütern  nicht  recht  zufrieden  zu  sein,  welches  eben  nicht 
nach  Jedermanns  Wunsch  geordnet  werden  kann.  Man  wird 
anch  bei  uns  in  ähnlichem  Umfang  Vorbehalte  verlangen. 
Wir  konstatiren  jedoch  gerne,  dass  der  nun  durchberathene 
Entwurf  des  Sachenrechts  in  der  Vereinheitlichung  viel 
weiter  zu  gehen  beabsichtigt,  als  dies  beim  Reichscivilgesetz- 
buch  der  Fall  ist. 

Andererseits  hat  in  neuerer  Zeit  ein  rechtsgelehrter 
Jesuit,  Pater  Lehmkuhl,  ein  bekannter  Schriftsteller  auch  der 
Moraltheologie,  den  Satz  aufgestellt  und  eingehend  zu  be- 
gründen versacht,  dass  das  Gesetz  nicht  den  sittlichen  For- 
derungen des  unumstössiiehen  «Naturrechts»  entspreche,  so- 
mit keine  absoluten  Verpflichtungen  enthalten  könne.  Das 
wird  die  wirkliche  Rechtseinheit   noch  wirksamer  gefährden. 

Ebenso  ist  in  Deutschland  ein  uns  näher  interessirender 
Entwurf  eines  neuen  Gesetzes  über  das  Urheberrecht  an 
Werken  der  Litteratur  and  Tonkunst  erschienen. 

Neue,  zum  Theil  in  der  Gesetzessammlung  bereits  auf- 
genommene Erlasse  sind  besonders:  das  Zündhölzchengesetz, 
E.  G.  S.  XVII,  76 ;  ein  Bundesrathsbeschlass  betreffend  allge- 
meine Vorschriften  über  elektrische  Anlagen.  E.G.S.  XVII,  284. 


Inneres.    Gesetzgebung.  497 

Für  das  Zündhölzchen gesetz,  das  die  Fabrikation,  Ein- 
fuhr, Ausfuhr  und  Verkauf  der  Zündwaaren  mit  gelbem  Phos- 
phor verbietet  und  am  28.  Februar  d.  J.  durch  unbenutzten 
Ablauf  der  Referendumsfrist  in  Kraft  getreten  ist,  müssen 
noch  ausführliche  Uebergangsbestimmungen  durch  den  Bundes- 
rath  erlassen  werden,  bevor  es  wirklich  in  Wirksamkeit  ge- 
langen kann.  Einstweilen  wurde  beschlossen:  Dasselbe  ist  in 
die  eidgenössische  Gesetzessammlung  aufzunehmen  und  tritt 
in  Kraft  wie  folgt:  1.  Für  die  Fabrikation  von  Zündhölzchen 
und  Streichkerzchen  mit  gelbem  Phosphor  am  1.  April  1900; 
2.  für  die  Einfuhr  von  Zündhölzchen  und  Streichkerzchen  mit 
gelbem  Phosphor  (Art.  4)  und  von  gelbem  Phosphor  (Art.  5) 
am  1.  Juni  1899 ;  3.  für  die  Ausfuhr  und  den  Verkauf  von  Zünd- 
hölzchen und  Streichkerzchen  mit  gelbem  Phosphor  am  I.Januar 
1901 ;  4.  für  die  Bestimmungen  des  Art.2,  Abs.  2,  Art.  8u.  10  sofort. 

Von  den  bereits  ganz,  oder  thcilweise  von  dem  einen  Rathe 
der  Bundesversammlung  behandelten  Gesetzen  sind  noch  mit 
einem  Worte  zu  berühren:  Das  eidg.  Gesetz  über  die  fortan 
allgemeine,  für  die  ganze  Schweiz  geltende  Forst  aufsieht. 
Die  Hauptfrage  dabei  bilden  immer  die  Schutzwaldungen,  deren 
Erstellung,  resp.  Erhaltung  natürlich  für  die  Besitzer  dieser 
Wälder  oneros  ist,  da  sie  nicht  allein  den  Nutzen  ihres  Landes 
einbüssen,  welches  sie  vielleicht  als  Weide  besser  verwerthen 
könnten,  sondern  dafür  noch  Kosten  tragen  müssen.  Es  wird  ohn  e 
Zweifel  schliesslich  dazu  kommen  müssen,  dass  alle  Schutz- 
wälder öffentliches  Eigenthum  des  Staates,  oder  der  Gemeinden 
werden.  Besonders  wichtige  Fragen  daneben  sind  die  Unter- 
stützung auch  der  unteren  Forstbeamten  durch  den  Bund  und 
eine  tbeilweise  Decentralisation  in  der  Oberaufsicht,  die  dnreh 
ein  neues  Organisationsgesetz  des  eidg.  Oberforstinspektorates 
zu  lösen  sein  wird.  Das  Gesetz  wurde  im  Nationalrath  am 
30.  Juni  1899  mit  65  gegen  31  Stimmen  angenommen. 

32 


498  Jahresbericht  1899. 

Das  Lebensmittelgesetz  ist  nur  in  den  Konimis- 
sionen beratheu  worden  und  wird  noch  eine  sehr  weitläufige 
Berathung  in  den  Eäthen  erfordern.  Eine  Uebersicht  des 
Inhalts  ist  folgende: 

«Der  Entwurf  eines  Bandesgesetzes  betreffend  den  Ver- 
kehr mit  Lebensmitteln  und  Gebrauchsgegenständen  betrifft 
den  Verkehr  mit  Nahrungs-  und  Genussmitteln  und  den  Ver- 
kehr mit  Gebrauchs-  und  Verbrauchsgegenständen,  soweit 
solche  das  Leben  oder  die  Gesundheit  gefährden  können.  Die 
Beaufsichtigung  liegt  ob,  in  den  Kantonen  unter  Leitung  der 
Eegierung  und  soweit  nothwendig,  unter  Mithülfe  der  Po- 
lizei :  der  kantonalen  Sanitätsbehörde,  dem  Kantonschemiker, 
den  kantonalen  Lebensmittelinspektoren,  den  örtlichen  Ge- 
sundheitsbehörden, den  Fleischbeschauern;  an  der  Landes- 
grenze :  den  Zollämtern  und  den  Grenzthierärzten.  Dem  Bun- 
desrathe  steht  die  Oberaufsicht  zu. 

Jeder  Kanton  hat  als  Centralstelle  für  die  chemische, 
physikalische  oder  bakteriologische  Untersuchung  von  Nah- 
rungs- und  Genussmitteln,  Trink-  und  Brauchwasser,  Ge- 
brauchs- und  Verbrauchsgegenständen  eine  Untersuchungsan- 
stalt  (kantonales  Laboratorium)  einzurichten  und  zu  unter- 
halten. Die  Leitung  dieser  Anstalt  ist  einem  diplomirten  Le- 
bensmittelchemiker  (Kantonschemiker)  zu  übertragen.  Die 
kantonalen  Untersuchungsanstalten  können  auch  andere  Un- 
tersuchungen zur  Förderung  der  öffentlichen  Gesundheitspflege 
und  zu  gerichtlichen  Zwecken  ausführen.  Ausnahmsweise 
können  einzelne  Kantone  mit  Genehmigung  des  Bundesratheg 
sich  zur  Einrichtung  und  Unterhaltung  einer  gemeinschaft- 
lichen Untersuchungsanstalt  vereinigen  oder  sich  die  Benutzung: 
der  Untersuchungsanstalt  eines  Nachbarkantons  durch  Vertrag 
sichern.  Grössere  Ortschaften  können  mit  Genehmigung  der 
kantonalen  Regierung  eine  eigene,  der  Örtlichen  Gesundheits- 
behörde unterstellte  Untersuchungsanstalt  (städtisches  Labora- 
torium) einrichten  und  unterhalten.  Die  Leitung  dieser  An- 
stalt ist  einem  diplomirten  Lebensmittelchemiker  (Stadtche- 
miker) zu  übertragen. 

Die  Untersuchung  der  von  den  Aufsichteorganen  ant 
Grund   dieses   Gesetzes   amtlich   übermittelten   Proben   wird 


Inneres.    Gesetzgebung.  499 

durch  die  Untersuchungsanstalten  unentgeltlich  besorgt,  unter 
Vorbehalt  besonderer  Bestimmungen.  Andere  Untersuchungen 
werden   von  diesen  Anstalten  gegen  eine  tarifgemässe  Ver- 
gütung1 ausgeführt.    Die  Kantone  haben  einen,  oder  mehrere 
Lebensmittelinspektoren  einzusetzen.  Diese  sind  dem  Kantons- 
chemiker unterstellt.  Ausnahmsweise  können  mit  Genehmigung 
des  Bandesrathes   einzelne   oder  sämmtliche  Funktionen   der 
Lebensmittelinspektoren    dem   Kantonschemiker   oder  andern 
Beamten    der    kantonalen    Untersuchungsanstalt    übertragen 
werden   Die  Kantone  haben  örtliche  Gesundheitsbehörden  ein- 
zusetzen.   Als   solche  können   ausnahmsweise  die  Gemeinde- 
räthe  bezeichnet  werden.  Die  Kantone  sind  befugt,  verschie- 
dene Gemeinden    zu  einem  Sanitätsbezirk  zu  vereinigen,  für 
den  eine  gemeinsame  Gesundheitsbehörde  bestellt  wird.     Die 
örtlichen  Gesundheitsbehörden  können  einzelne  Mitglieder  oder 
besondere  Beamte  mit   der  Vornahme  von  Nachschauen  oder 
von  Lebensmittelprüfuugen  betrauen  (Ortsexperten).  Die  Kan- 
tonschenüker  haben  die  nöthigen  Instruktions-  oder  Wieder- 
holungskurse für  die  kantonalen  Lebensmittelinspektoren  und 
die  Ortsexperten  abzuhalten.  Jede  Gemeinde  ist  zur  Anstellung 
wenigstens  eines  Fleischbeschauers  verpflichtet,  welcher,  wenn 
möglich,  patentirter  Thierarzt  sein  soll.   Ausnahmsweise  darf 
die  Fleischbeschau   einem  Nichtthierarzt,  der   sich    über  den 
Besitz  der  notwendigen  Kenntnisse  (Art.  20,  Absatz  2)  aus- 
weist, übertragen  werden.   Für  benachbarte  Gemeinden  kann 
«in  gemeinschaftlicher  Fleischbeschauer  bestellt  werden.  Jedem 
Fleischbeschauer  ist  ein  Stellvertreter  beizugeben,  der  im  Be- 
sitz der  nothwendigen  Kenntnisse  sein  muss  und  ihn  im  Falle 
der  Verhinderung  vertritt.     Der  Fleischbeschau    sind   unter- 
worfen die  Schlachtthiere,   sowie  Fleisch  und  Fleisch waaren, 
welche  zum  Genuss   bestimmt   sind.     Durch    bundesräthliche 
Verordnung  wird  bestimmt,  in  welchen  Fällen  die  Fleischbe- 
schau durch  eine  chemisch-physikalische  oder  bakteriologische 
Untersuchung  zu  ergänzen  ist.  Die  Kantone  veranstalten  die 
nöthigen  Instruktions-  und  Wiederholungskurse  für  Fleisch- 
beschauer.   Die  kantonalen  Aufsichtsorgane  haben  bei  Aus- 
übung der  ihnen   durch   dieses  Gesetz  übertragenen  Aufsicht 
die  Eigenschaft  von  Beamten  der  gerichtlichen  Polizei.    Die 
zu  untersuchenden  Proben  werden  sammt  einem  schriftlichen 


600  Jahresbericht  1899. 

Bericht  in  der  Regel  der  kantonalen  oder  städtischen  Unter* 
suchungsanstalt  übermittelt,  welche  der  anftraggebenden  Amts- 
stelle so  bald  als  möglich  von  dem  Untersuchungsresultate 
Kenutniss  gibt.  Eine  bnndesräthliche  Verordnung  wird  die 
technischen  Befugnisse  der  Lebensmittelinspektoren  und  der 
Ortsexperten  festsetzen  und  bestimmen,  welche  Untersuchungs- 
fälle direkt  von  diesen  Organen  unter  Vorbehalt  des  Rekurses, 
erledigt  werden  können.  Im  Zweifelsfalle  sind  Oberexpertisen 
anzuordnen.  > 

Ein  besonderes  Kreuz  für  die  Gesetzgebung  ist  das  eidg. 
Bankgesetz,  das  die  Berathungen  des  Nationalraths  bereits 
dassirt  hat.  Es  ist  darin  bis  an  die  äusserste  Gränze  dessen 
gegangen  worden,  was  geschehen  konnte,  ohne  neuerdings  eine 
Staatsbank,  entgegen  dem  ausgesprochenen  Willen  der  Hehr- 
heit des  Schweizervolkes  einzuführen  und  es  ist  nun  zu  ge- 
wärtigen, ob  der  Ständerath  dieses  Minimum  nicht  erhöht, 
oder  ob  sogar  schliesslich  noch  einmal  ein  Volksentscheid 
über  das  Gesetz  provozirt  wird.  Einstweilen  drängen  die 
GeldverhältniBse  sehr  nach  einer  Regelung  dieser  Frage.  Eine 
ausländische  Stimme  sprach  sich  über  die  wesentlichen  Punkte, 
die  dabei  in  Betracht  kommen,  wie  folgt  aus: 

«Schon  im  Jahre  1891  sprach  sich  eine  Volksabstimmung- 
für  die  Errichtung  einer  Central-Notenbank  aus.  Der  Bundes- 
rate hatte  für  die  Ausfuhrung  die  Alternative  der  Staats- 
oder der  Aktienbank;  er  entschied  sich  für  die  erstere  und 
schlug  im  Juni  1896  eine  mit  dem  Notenmonopol  ausgerüstete 
staatliche  Bundesbank  vor;  in  der  Volkabstim mung  vom 
Februar  1897  aber  wurde  dieses  Projekt  verworfen.  Die 
Handelskreise  nämlich  wollen  die  Bank  allen  politischen  und 
Parteieinflüssen  entrückt  wissen  und  die  Kantone  ver- 
langen von  der  Schaffung  einer  centralen  Kasse  und  Ab- 
rechnungsstelle und  der  einheitlichen  Banknote,  dass  ihren 
Kantonalbanken  daraus  nicht  etwa  eine  schwächende  Kon- 
kurrenz, sondern  im  Gegentheil  eine  neue  Kräftigung  er- 
wachse. Letzterer  Punkt  hängt  mit  der  allgemeinen  Politik 
zusammen,   welche   die   Kantone  dem  eidgenössischen  Bund 


Inneres.    Verwaltung.  501 

gegenüber  beobachten.  An  sich  sollten  sie  die  Kosten  für  den 
Bund  aufbringen.  Sie  haben  jedoch  —  ähnlich  wie  im  Deut- 
schen Reich  die  einzelnen  Bundesstaaten  die  Matrikularbei- 
träge  durch  die  Zollruckvergütung  wieder  ersetzt  erhalten 
—  umgekehrt  vom  Bunde  Vergütungen  zu  beanspruchen  und 
z.  B.  von  vornherein  den  ganzen  Ertrag  des  Alkoholmonopols 
für  sich  confiszirt.  Zu  einer  gleichen  Einnahmequelle  soll  nun 
auch  die  Schweizerische  Landesbank  erhoben  werden.  In 
ihrer  Mehrzahl  nämlich  sind  die  Kantonalbanken  Staatsbanken 
mit  einem  Dotationskapital,  das  ihnen  der  Staat  geleistet  hat, 
mit  unbeschränkter  Haftbarkeit  des  Kantons  für  alle  Ver- 
pflichtungen der  Bank.  Die  eigentlichen  Betriebskapitalien 
beschaffen  sie  sich  mittelst  Ansgabe  von  Obligationen.  Der 
Gewinn  fällt  dem  Staat  zu  und  soll  nun  durch  die  Central- 
bank  gesichert  und  erhöht  werden.» 

Der  direkte  Antrag,  trotz  der  Volksabstimmung  dennoch 
eine  Staatsbank  zu  errichten,  fand  im  Nationalrath  am  15. 
Juni  1899  bloss  noch  9  Stimmen  gegen  116,  eine  erhebliche 
Satisfaktion  für  diejenigen  Mitglieder  des  üaths,  welche  von 
Anfang  an   gegen  eine  reine  Staatsbank  gewesen  waren. 

Wir  bezweifeln  übrigens  unsererseits  keineswegs,  dass 
dieselbe  stets  einigermassen  angestrebt  werden  wird  und  dass 
Viele  die  jetzt  in's  Auge  gefasste  cgemischte  Bank»  nur  als 
ein  Provisorium  betrachten.  Aber  es  ist  im  Krieg  und  in  der 
Politik  schon  viel  gewonnen,  wenn  nur  ein  Angriff  abge- 
schlagen ist ;  vielleicht  wiederholt  er  sich  nicht,  oder  erst  in 
einer  anderen  Zeit,  oder  unter  sonst  günstigeren  Umständen. 
Namentlich  unser  Volk  ist  sehr  leicht  Stimmungen  des  Augen- 
blicks unterworfen. 

Verwaltung.  Das  schwierigste  in  derselben  ist,  die 
endlos  wachsende  Bureaukratie  ein  wenig  in  Schranken  zu 
halten.  Die  Gesammtzahl  des  im  Bundesdienste  stehenden 
Personals  beläuft  sich  schon  jetzt  auf  etwa  17,000  Beamte, 
Angestellte  und  Arbeiter.  Dazu  kommen  nach  Verstaatlichung 


502  Jahresbericht  1899. 

der  Eisenbahnen  etwa  23,000  Eisenbahner,  so  dass  die 
Eidgenossenschaft  In  wenigen  Jahren  40,000  Köpfe  in 
ihrem  Dienste  haben  wird.  Ungerechnet  die  Beamten,  die 
dnrch  die  Unfall-  und  Krankenversicherung  entstehen  werden. 
Theilweise  hängt  das  natürlich  auch  mit  der  fortwährenden 
Vermehrung  der  Geschäfte  zusammen,  über  welche  sowohl 
der  Bundesrath,  als  das  Bundesgericht  klagt;  mitunter  aber 
doch  auch  mit  einer  etwas  weitläufigen  Behandlung  der- 
selben, die  sowohl  an  den  bundesräthlichen  Berichten, 
oder  Rekursentscheiden,  wie  namentlich  an  den  übermässig 
langathmigen  Urtheilen  des  Bundesgerichts  auszusetzen  ist« 
welche  oft  beinahe  wie  Dissertationen  aussehen,  in  denen  der 
betreffende  Referent  alle  seine  juristischen  Kenntnisse  zeigen 
will.  Das  ist  nicht  die  Aufgabe  eines  Urtheils,  und  wenn 
dann  noch  gar  etwa  später,  wie  nicht  selten,  eine  andere 
Auffassung  Platz  greift,  so  tragen  solche  Abhandlungen  nur 
dazu  bei/  das  Recht  ungewisser  zu  machen.  Ueber  einen  selt- 
samen Versuch,  der  in  Deutschland  gemacht  wird,  um  die 
Verwaltung  durch  lebenslängliche  Anstellung  von  Beamten 
zu  verbessern  und  vielleicht  zu  vereinfachen,  lautet  ein  Zei- 
tungsbericht wie  folgt: 

«La  ville  de  Ludwigshafen,  dans  le  Palatinat  bavarois, 
en  face  de  Mannheim,  vient  d'innover  en  mattere,  d'antorite 
municipale.  Elle  s'est  donnä  un  bourgmestre  ä  vie.  Le  con- 
seil  communal  a  pris  cette  däcision  ä  l'unanimite  moins  une 
voix,  celle  d'un  dämoerate  socialiste  lequel  avait  en  vain 
Supplik  ses  collggues  de  ne  pas  jeter  präeipitamment  par  dessos 
bord  un  droit  politique  de  la  plus  haute  importance.  Un  con- 
seiller  lui  a  räpondu  assez  naivement  qu'il  fallait  assurer  la 
Situation  du  bourgmestre  pour  le  cas  oü  un  conseil  communal» 
moins  enebantä  que  lc  leur  de  la  personnalitä  qu'ils  61isaient> 
voudrait  lui  faire  la  vie  dure.  On  convient  d'autre  part  qu'il 
est  de  plus  <en  plus  difficile  de  trouver  des  citoyens  &  la  fois 
indSpendants,  de  fortune  et  de  caraetöre  intelligente  et  actifs* 


Inneres.    Verwaltung.  503 

qui  consentent  &  abandonner  leurs  affaires  durant  cinq  ans 
pour  se  consacrer  &  görer  lea  interets  de  leurs  concitoyens: 
ou  bien,  en  quittant  leurs  fonctions,  ils  ont  ä  recommencer 
nne  carriere;  ou  bien,  s'ils  retrouvent  leurs  affaires  en  etat 
de  pro8pe>it£,  c'est  qu'ils  les  ont  tout  particulierement  soignäes 
pendant  leur  paösage  au  pouvoir;  si,  enfin,  en  vue  d'une  r6- 
election,  ils  ont  courbe*  l'echine  devant  les  chefs  de  partis, 
c'est  qu'ils  sont  bons  tout  au  plus  ä  etre  les  marionnettes  de 
la  bureaucratie  qu'ils  sont  cense*  diriger.  Le  conseil  commu- 
nal  de  Ludwigshafen,  ville  de  40,000  habitants,  n'a  pas  fait 
les  choses  ä  moitiö.  II  a  fix6  les  honoraires  annuels  de  son 
bourgmestre  ä  dix-sept  mille  marks  (vingt-un  mille  francs), 
l'autorise  ä  prendre  de  copieuses  vacances  et  paye  tous  les 
deplacements  auxquels  ce  fonctionnaire  inamovible  jugera  bon 
de  proceder  dans  l'inter^t  de  ses  administratres.  Au  moins 
faut-il  esperer  que  les  Ludwigshafenois  ont  &  leur  tete 
l'oiseau  rare.»  (Gazette  de  Lausanne.) 

Wir  bezweifeln,  dass  das  die  richtige  Lösimg  ist,  na- 
mentlich wenn  man  nicht  die  Wahl  «unfehlbar»  machen  kann, 
woran  im  Grund  alle  Wahleinrichtungen  kranken.  Sieyes, 
der  Verfassnngskünstler  der  französischen  Revolution,  er- 
fand einen  «Gross Wähler»,  welcher  mit  2  Millionen  Gehalt, 
um  ihn  völlig  unabhängig  zu  machen,  und  lebenslänglicher 
Anstellung  nur  die  hohen  Staatsämter  richtig  zu  besetzen  gehabt 
hätte.  Andere,  auch  unsere  Sozialisten  und  Linksdemokraten 
meinen  in  der  Volkswahl  die  beste  Garantie  zu  finden,  was 
sehr  schwerlich  der  Fall  ist,  wie  die  Wahl  Napoleons  III. 
und  mancher  amerikanischen  Präsideuten1)  es  beweist;  auch 
die  künstlich  organisirte  Wahl  der  helvetischen  Direktoren 
hatte  keine  besseren  Resultate  aufzuweisen.     Selbst  die  Con- 


*)  Dieselben  wurden  nach  derraaliger  Praxis  einstlich  auch  vom 
Volke  gewählt,  indem  die  Wahlmänner  in  den  Einzclstaaten  unter 
der  Verpflichtung  gewählt  werden,  dann  einem  bestimmten  Präsi- 
dentschaftskandidaten ihre  Stimme  zu  geben,  was  auch  stets  geschieht. 
Der  ursprüngliche  Sinn  der  Verfassung  war  dies  allerdings  nicht. 


504  Jahresbericht  1899. 

claven,  die  möglichst  von  der  Aussenwelt  abgeschlossen  and 
nur  dem  Einflasse  des  heiligen  Geistes  geöffnet  werden, 
haben  in  der  bisherigen  Geschichte  nicht  immer  die  Besten 
anf  den  päpstlichen  Stuhl  befördert,  und  was  die  monarchische 
Einrichtung  anbetrifft,  so  haben  schon  Plato  und  Cicero  das 
Königthum  zwar  als  die  theoretisch  beste,  praktisch  aber 
nur  sehr  selten  auf  die  Dauer  entsprechende  Staatsein- 
richtung erklärt. 

Ueber  das  neue  Geschäftsreglement  in  Bezug  auf  den 
Verkehr  zwischen  beiden  Käthen  sind  vorläufig  von  der 
Kommission  des  Nationairaths  folgende,  von  der  bisherigen 
Praxis  abweichende  Vorschläge  gemacht  worden: 

<  Wenn  beide  Käthe  auf  ihren  Beschlüssen  verharren  und 
eine  Uebereinstimmung  nicht  erwirkt  ist,  sollen  die  beiden 
Kommissionen,  welche  den  Gegenstand  vorbereitet  haben,  zu- 
sammentreten und  eine  Verständigung  versuchen.  Darauf 
wird,  wenn  letztere  erzielt  würde,  an  den  Kath,  bei  welchem 
die  Angelegenheit  zur  Behandlung  liegt,  von  seiner  Kom- 
mission ein  neuer  Antrag  gestellt.  Können  sich  die  Kommis- 
sionen nicht  einigen,  so  ist  der  Verhandlungsgegenstand  von 
der  Tagesordnung  abzusetzen.  Jeder  Kath  hat  das  Recht, 
gegen  Gesetzesvorschläge  des  Bundesrates  förmliche  Gegen- 
vorschläge zu  machen.  Motionen  und  Postulate  brauchen  nur 
von  einem  Käthe  beschlossen  zu  werden,  sofern  sie  den  Bun- 
desrath  nur  zu  einer  Berichterstattung  einladen,  aber  von 
beiden  Käthen,  wenn  sie  verlangen,  dass  ein  Gesetz  oder  ein 
Bundesbeschlnss  vorgelegt  werde.  Die  stenographische  Auf- 
nahme der  Verhandlungen  erfolgt,  so  oft  sie  vom  Präsidenten 
oder  von  einem  Drittel  der  Mitglieder  verlangt  wird.  Sie 
muss  bei  Gegenständen,  die  beide  Käthe  beschäftigen,  in  beiden 
Käthen  erfolgen.  Bei  Interpellationen  spricht  nur  das  inter- 
pellirende  Mitglied  und  das  antwortende  Mitglied  des  Bundes- 
rathes;  es  kann  jedoch,  wenn  die  Mehrheit  der  Versammlung 
dies  beschtiesst,  eine  Diskussion  stattfinden.» 

Der  Bundesrath  schlägt  in  seinein  Entwurf  über  die  Ee- 
vision  des  Gesetzes  betreffend  den  Geschäftsverkehr  zwischen 


Inneres.    Verwaltung.  505 

den  eidgenössischen  Rftthen  eine  wesentliche  Ausdehnung  der 
stenographischen  Aufnahmen  vor:  «Die  Verhandlungen  über 
Bundesgesetze  und  allgemein  verbindliche  Bundesbeschlüsse, 
sowie  über  wichtigere  Interpellationen  sind  in  beiden  Räthen 
stenographisch  aufzunehmen.  Jedem  Rathe  steht  es  frei,  auch 
weitere  Verhandlungen  stenographiren  zu  lassen.  Die  Mit- 
glieder der  Bundesversammlung  und  des  ßundesrathes  haben 
das  Recht,  im  stenographischen  Bulletin  die  Aufnahme  ein- 
facher schriftlicher  Berichtigungen  oder  Ergänzungen  be- 
treffend die  Wiedergabe  der  von  ihnen  gehaltenen  Reden  zu 
verlangen.  Bei  Anständen  über  die  Richtigkeit  der  stenogra- 
phischen Redaktion  entscheidet  das  Bureau  des  betreffenden 
Rathes.» 

Für  diese  Ausdehnung  der  Stenographie  auf  alle  Gesetze 
und  allgemein  verbindlichen  Beschlüsse  und  auf  die  wichtigern 
Interpellationen  wird  angeführt,  dass  es  Pflicht  der  Behörden  sei, 
dem  Bürger,  welchem  das  Recht  zusteht,  gegen  jene  Gesetze  und 
Beschlüsse  das  Referendum  zu  ergreifen,  das  Material,  aus  wel- 
chem einzig  er  sich  objektive  und  umfassende  Belehrung  über 
die  Motive  der  Gesetzgeber  verschaffen  kann,  thunlichst  voll- 
ständig an  die  Hand  zu  stellen.  Die  gleichen  Gesichtspunkte 
treffen  für  diejenigen  Interpellationsverhandlungen  zu ,  in 
denen  über  wichtigere,  die  weitesten  Kreise  interessirende 
Fragen  der  Politik  und  Verwaltung  Auskunft  verlangt  und 
ertheilt  wird.  Mit  der  Annahme  dieses  Antrages  dürfte  den 
in  neuester  Zeit  wieder  aufgetauchten  Wünschen  um  weiter- 
gehende Veröffentlichung  der  Verhandlungen  der  eidgenössi- 
schen Rathe  in  ausreichender  Weise  Rechnung  getragen  sein. 
Desshalb  erachtete  der  Bundesrath  das  Postulat  betreffend 
die  Drucklegung  der  Protokolle  als  erledigt.  Dafdr  sei  kein 
Bedürfniss  vorhanden  und  Arbeit  und  Kosten  würden  sich 
nicht  lohnen. 

Ueber  die  Gesetzesredaktionen,  über  die  viel  und 
zum  Theil  mit  Grund  geklagt  worden  ist,  schlagt  der  Bundes- 
rath folgendes  vor: 

«Gesetze  und  allgemein  verbindliche  Beschlüsse  nicht 
dringlicher  Natur,  sind,   sofern   sie  in  der  Berathung  durch 


506  Jahresbericht  1899. 

die  Räthe  materielle  Abänderungen  erlitten  haben,  vor  der 
Schiassabstimmung  einer  Redaktionskommission  zur  Durch- 
sicht zu  unterbreiten.  Diese  Kommission  hat  insbesondere 
darüber  zu  wachen,  dass  der  deutsche  und  französische  Text 
übereinstimmen.  Die  Redaktionskommission  besteht  aus  den 
Berichterstattern  der  Kommissionen  beider  Räthe,  dem  zweiten 
Vicekanzler  und  den  Uebersetzern  beider  Räthe;  sie  wird 
einberufen  und  geleitet  durch  den  Berichterstatter  der  Kom- 
mission desjenigen  Rathes,  weichem  in  dem  Geschäfte  die 
Erstbehandlung  zukam.  Die  Protokollführer  der  beiden  Räthe 
sind  den  Kommissionssitzungen  beizuwohnen  berechtigt;  auch 
können  sie  ihre  bezüglichen  Bemerkungen  und  Anträge 
schriftlich  einreichen.  —  Der  italienische  Text  der  Gesetze 
und  allgemein  verbindlichen  Beschlüsse  nicht  dringlicher  Na- 
tur, welche  in  der  Berathung  Aenderuugen  erlitten  haben, 
ist  der  Revision  einer  Kommission  zu  unterstellen,  welche 
aus  zwei  Mitgliedern  des  National-  und  einem  Mitgliede  des 
Ständerathes  italienischer  Zunge,  dem  zweiten  Vizekanzler  oder 
einem  andern  des  Italienischen  mächtigen  höhern  Kanzleibeamten 
und  dem  Uebersetzer  des  Entwurfes  besteht.  Die  dem  Na- 
tional- und  Ständerathe  angehörenden  Kommissionsraitglieder 
sind  von  den  Präsidenten  dieser  Räthe  jeweilen  für  die  Dauer 
der  laufenden  Amtsperiode  zu  bezeichnen. 

In  den  Erläuterungen  zu  diesen  Vorschlägen  wird  na- 
mentlich auf  die  Stelle  des  zweiten  Vizekanzlers,  welcher 
gerade  zu  dem  Zwecke  geschaffen  wurde,  hingewiesen,  und 
auf  den  italienischen  Uebersetzer.  Selbstverständlich  ist  der 
zweite  Vizekanzler,  welcher  schon  die  vom  Bundesrath  in 
seinen  Entwürfen  vorgelegte  Texte  zu  bereinigen  hat,  vorab 
berufen,  an  der  Textesbereinigung  der  aus  den  Berathungen 
der  Bundesversammlung  hervorgegangenen  Erlasse  theilzn- 
nehmen.  Die  ihm  vom  Bundesrate  ertheilte  Instruktion  stellt 
ihn,  in  dieser  Richtung,  schon  während  der  Berathungen  im 
Schosse  der  eidgenössischen  Räthe  zur  Disposition  der  beiden 
Protokollführer,  damit  er  gegebenen  Falles  den  Uebersetzern 
in  ihrer  übersetzerischen  Thätigkeit  beistehen  könne.  Er  vor 
allen  wird  daher  zu  den  Sitzungen  der  Redaktionskommission 
einzuladen  sein.    Dagegen    könnte    man   die  Protokollfahrer 


Inneres.    Verwaltung.  507 

selber  von  der  Verpflichtung,  diesen  Sitzungen  regelmässig 
beizuwohnen,  entbinden.  Denn  abgesehen  davon,  dass  sie 
während  der  Sessionen  der  Bundesversammlung  ausserordent- 
lich belastet  sind,  scheint  es  überhaupt  nicht  praktisch,  die 
Redaktionskommission  allzu  zahlreich  zu  machen.  Grosse 
Kollegien  redigiren  in  der  Regel  schlechter  als  kleine.  Ea 
liegt  das  in  der  Natur  der  Sache. 

In  ähnlicher  Weise  sollte  aber  auch  für  Uebereinsüm- 
mung  des  deutschen  resp.  französischen  Textes  mit  dem 
italienischen  Texte  gesorgt  werden.  Wir  sind  zwar  noch 
nicht  bei  dem  an  und  für  sich  erstrebenswerthen  Ziele  an« 
gelangt,  wenigstens  die  wichtigsten  bundesräthlichen  Bot- 
schaften auch  in  italienischer  Sprache  erscheinen  zu  lassen; 
immerhin  ist  die  Sorge  fdr  einen  mit  dem  Originaltext  genau 
übereinstimmenden  italienischen  Gesetzes text  ein  Fortschritt, 
freilich  auch  das  allerwenigste,  was  wir  in  dieser  Beziehung 
für  unsere  Mitbürger  italienischer  Zunge  thun  können.  Vor 
wenigen  Jahren  noch  wäre  eine  Einrichtung,  wie  sie  heute 
beantragt  wird,  nicht  möglich  gewesen.  Jetzt,  wo  wir  einen 
ständigen  Uebersetzer  in  Bern  haben,  lässt  sich  die  Ueber- 
setzung  der  wichtigsten  gesetzgeberischen  Erlasse  ins  Ita- 
lienische in  der  Weise  vorbereiten,  dass  der  redaktionellen 
Durchsicht  auch  des  italienischen  Textes  während  der  Daner 
der  Bundesversammlung  nichts  im  Wege  steht.  Der  Bundes« 
rata  verspricht  sich  von  einer  solchen  Einrichtung  nicht  nur 
die  Erreichung  des  nächsten  Zweckes,  d.  h.  die  Herstellung 
eines  sachlich  unanfechtbaren  authentischen  Gesetzestextes, 
sondern  auch  noch  einen  indirekten  Nutzen  mehr  idealer  Na- 
tur, der  darin  bestünde,  unsere  italienisch  sprechenden  Mit- 
eidgenossen mehr,  als  bisher  der  Fall,  an  der  gesetzgeberischen 
Thätigkeit  des  Bundes  zu  interessiren.» 

Die  Kommissionen  der  eidgenössischen  Räthe  für  die 
Vorlage  über  den  Geschäftsverkehr  hatten  die  Anregung  ge- 
macht, es  sei  ein  eidgenössischer  Rechnungshof  einzu- 
setzen. Diese  Frage  ist  nicht  neu.  Sie  hat  Bundesratb  und 
Bundesversammlung  schon  verschiedene  Male  beschäftigt.  Das, 
Schlussergebniss  der  Prüfungen    war  jeweilen  ein   negatives 


508  Jahresbericht  1899. 

in  dem  Sinne,  dass  man  fand,  ein  Rechnungshof,  wie  er  in 
•den  Nachbarländern  bestehe,  würde  für  unsere  Verhältnisse 
nicht  passen.  Es  wurde  darauf  hingewiesen,  dass  in  denjenigen 
Ländern,  welche  einen  Rechnungshof  als  konstitutionelle  oder 
^gesetzliche  Institution  besitzen,  die  Parlamente  die  Prüfung 
•des  öffentlichen  Rechnungswesens  im  eigentlichen  Sinne  nicht 
besorgen,  dass  bei  uns,  umgekehrt,  diese  Prüfung  verfassungs- 
mässig dem  Parlamente  Überbunden  sei,  und  dass  wir,  bei 
einer  Verschärfung  der  bestehenden  Kontrollvorschriften,  wohl 
darauf  verzichten  können,  eine  die  Kompetenzen  des  Bundes- 
rates und  der  Bundesversammlung  stark  beschneidende,  ein- 
greifende Revision  der  Bundesverfassung  anzustreben.  Das 
Finanzdepartement  hat.  schreibt  die  Botschaft  des  Bundes- 
ratlies, trotz  jenen  Vorgängen,  die  Frage  nie  aus  dem  Auge 
verloren.  Wenn  es  nicht  heute  schon  einen  dieselbe  allseitig 
beleuchtenden  Bericht  vorzulegen  im  Falle  ist,  so  liegt  das 
•einzig  daran,  dass  ein  Theil  des  von  ihm  benöthigten,  im 
Auslande  requirirten  Materiales  noch  nicht  eingieng.  Immer- 
hin spricht  es  die  Ansicht  aus,  dass  die  Errichtung  eines 
Rechnungshofes  sich  nicht  empfehle.  Anstatt  eines  Rechnungs- 
hofes sollen  ständige  Kommissionen  eingesetzt  werden  nach 
folgenden  Vorschlägen : 

cBudget,  Nachtragskreditbegehren  und  Staatsrechnnngen 
einer  Amtsperiode  sind  der  Geschäftsprüfungskommission  zur 
Prüfung  und  Berichterstattung  zuzuweisen.  Im  Laufe  einer 
Amtsperiode  austretende  Mitglieder  sind  sofort  zu  ersetzen ; 
entstehen  derartige  Lücken  zwischen  zwei  Sessionen,  so  kann 
die  Ersatzwahl  durch  den  Präsidenten  des  betreffeuden  Rathes 
vorgenommen  werden.  Die  zur  Prüfung  des  Budgets,  Nach- 
tragskreditbegehren und  Staatsrechnungen  bestellten  Kom- 
missionen bezeichnen  ans  ihrer  Mitte  eine  Delegation  von 
fünf  Mitgliedern,  wovon  drei  aus  der  nationalräthlichen  und 
zwei  aus  der  ständeräthlichen  Kommission.  Dieser  Delegation 
liegt  die  nähere  Prüfung  und  Ueberwachung  des  gesammten 


Inneres.    Verwaltung.  509 

Staatshaushaltes  ob.  Sie  versammelt  sich  mindestens  einmal 
vierteljährlich,  im  übrigen  nach  Bedürfniss.  Sie  hat  das  un- 
bedingte und  jederzeitige  Recht  der  Einsichtnahme  in  das 
Rechnungswesen  der  verschiedenen  Departemente  und  Ver- 
waltungszweige. Insbesondere  ist  derselben  auch  seitens  der 
Finanzkontrolle  jeder  mögliche  Aufschluss  zu  ertheilen,  und 
es  sind  der  Delegation  zu  diesem  Zwecke  alle  Protokolle  und 
Gensuren,  alle  Korrespondenzen  zwischen  dem  Finanzdeparte- 
ment und  den  übrigen  Departementen,  beziehungsweise  der 
Bundeskanzlei  und  dem  Bundesgericht,  und  alle  Bundesratiis- 
beschlüsse,  welcbe  sich  auf  die  Ueberwachung  der  Budget- 
kredite und  den  Staatshaushalt  im  allgemeinen  beziehen,  zur 
Disposition  zu  stellen.  In  ähnlicher  Weise  ist  eine  Delegation 
seitens  der  beiden  Kommissionen  für  Prüfung  von  Budget 
und  Rechnung  der  Alkoholverwaltung  zu  bestellen,  welcher 
die  Alkoholverwaltung  gedruckte  Vierteljahrsberichte  über 
den  ganzen  Geschäftsgang  vorzulegen  hat.  Es  steht  den  bei- 
den Räthen  die  Befugniss  zu,  auch  noch  andere  Kommissionen 
für  die  ganze  Dauer  einer  Legislaturperiode  zu  bestellen.  — 
So  lauten  die  Vorschläge  des  neuen  Entwurfs.  Es  sollen  also 
die  ständigen  Kommissionen,  welche  sich  gegenüber  der  Al- 
kohol Verwaltung  bewährt  haben,  für  die  Ueberwachung  des 
gesammten  Staatshaushaltes  eingeführt  werden.» 

Oeber  die  Erhöhung  der  Gehalte  für  die  Mitglieder  dea 
Bnndesraths  und  den  eidg.  Kanzler  wird  sich  muthmasslich 
eine  der  nächsten  Bundesversammlungen  aussprechen. 

Die  zahlreichen  Reklamationen  über  die  neuen  Besoldungen 
der  Post-  und  Telegraphenverwaltung,  welche 
mit  dem  1.  Januar  1898  eintraten,  wurden  abgelehnt.  Einen 
prinzipiellen  Beschluss  darüber  fasste  der  Bundesrath  am  15. 
Dezember  wie  folgt : 

cNach  Einsicht  eines  Berichtes  des  Post-  und  Eisenbahn- 
departements wird  antragsgemäss  beschlossen: 

Es  sei  auf  die  Behandlung  von  Eingaben  der  Verbände 
des  Personals  der  Bundesverwaltung  oder  der  Organe  solcher 
Verbände  von  den  Bundesbehörden  nur  insoweit  einzutreten, 
als  es  sich  um  Anregungen  allgemeiner  Natur  handelt. 


610  Jahresbericht  1899. 

Dagegen  sei  bei  Eingaben  von  Verbänden  des  Personals 
der  Bundesverwaltung  oder  von  Organen  solcher  Verbände, 
welche  die  persönlichen  Verhältnisse  und  Beziehungen  zwischen 
den  Verwaltungen  und  ihrem  Personal  beschlagen,  z.  B.  das 
Anstellungsverhältniss  des  Einzelnen  und  dessen  dienstliche 
Verwendung,  die  Besoldung  des  Einzelnen,  die  Strafver- 
fügungen  etc.,  auf  den  gewöhnlichen  Dienstweg  zu  verweisen, 
wobei  dem  einzelnen  Petenten  das  Rekursrecht  bis  an  die 
oberste  Instanz  gewährleistet  isr.> 

Dessenungeachtet  ist  die  Ansicht  verbreitet,  dass  sich 
in  der  Zukunft  die  Postanstalt  nur  gerade  selbst  erhalten 
werde,  ohne  eine  Einnahmsquelle  für  die  Bundesverwaltung 
zu  bilden. 

Ueber  die  im  Werke  liegende  Reorganisation  der 
Telegraphenverwaltung  enthält  ein  sachverständiger 
Artikel  des  «Bund»  folgendes: 

«Die  gegenwärtige  Organisation  der  Telegraphen  Verwaltung 
beruht  auf  dem  Bunaesgesetze  vom  20.  Dezember  1854, 
welches,  abgesehen  von  dem  durch  Specialgesetze  ersetzten 
Abschnitt  betreffend  die  Besoldungen,  nur  zweimal  in  langem 
Zeitabschnitten  durch  die  Entwicklung  gebotene  Abänderungen 
oder,  richtiger  gesagt,  Erweiterungen  und  Ergänzungen  er- 
litten hat.  Die  Organisation  würde  voraussichtlich  ohne  we- 
sentliche Aenderungen  noch  auf  viele  Jahre  hinaus  genügt 
haben,  wenn  nicht  im  Jahre  1881  die  Einführung  des  Tele- 
phonwesens der  Verwaltung  eine  neue  Aufgabe  und  damit 
eine  ungeahnte  Ausdehnung  gebracht  hätte.  Es  entstanden 
neue,  in  der  bisherigen  Organisation  nicht  vorgesehene  Be- 
amtenstellen, nämlich  die  Telephonnetzvorstände,  und  zwar 
solche  von  Netzen  erster  Klasse,  die  vom  Telegraphendienst 
ganz  unabhängig  sind,  und  solche  zweiter  Klasse,  welche  Te- 
legraphenbeamten übertragen  wurden,  die  beide  Dienstzweige 
nebeneinander  besorgen.  Sie  erhielten,  je  nach  der  Bedeutung 
ihres  Netzes  oder  ihrer  Netzgruppe,  einen  oder  mehrere  wei- 
tere Beamte  als  Gehülfen,  nebst  der  nöthigen  Zahl  von  Li- 
nienarbeitern und  Monteuren,   die  aber  für  den  eigenartigen, 


Inneres.    Verwaltung.  511 

schwierigen  und  gefährlichen  Telephonbau  erst  nach  und 
nach  eingeschult  werden  mussten.  Das  den  Vermittlungs- 
dienst in  den  grössern  Centralstationen  besorgende  Personal 
wurde  von  Anfang  an  aus  dein  weiblichen  Geschlechte  re- 
krutiert, welches  sich  hierfür  aus  mehrfachen  Gründen  besser 
eignet  als  das  männliche.  Bei  den  Netzen  zweiter  Klasse 
und,  wo  die  Umstände  es  gestatteten,  auch  bei  denjenigen 
dritter  Klasse  wurde  die  Centralstation  mit  dem  Telegraphen- 
bureau vereinigt  und  ganz  oder  theilweise  durch  das  gleiche 
Personal  bedient.  Trotz  der  gewaltigen  Arbeitslast,  welche 
die  Einführung  des  Telephons  mit  sich  brachte,  wurden  die 
Geschäfte  der  Central  Verwaltung  in  den  ersten  Jahren  durch 
das  gewöhnliche  Personal  besorgt  und  dieses  erst  im  Jahre 
1884  um  einen  technischen  Sekretär,  einen  technischen  Ge- 
hülfen und  einen  Kanzleisekretär  vermehrt.  Seither  hat  das 
Personal  der  Direktion  infolge  fortwährender  Zunahme  des 
Telephonwesens  einen  beträchtlichen  Zuwachs  erhalten,  näm- 
lich einen  zweiten  technischen  Sekretär,  zwei  Inspektoren, 
einen  Materialverwalter,  einen  Vorstand  der  Reparaturwerk- 
stätte, einen  Kanzleisekretär,  sechs  Sekretäre  (frühere  Ge- 
hülfen) des  Materialbureaus,  einen  Sekretär  für  das  Inspek- 
torat,  sowie  eine  Anzahl  Revisoren  und  Gehülfen,  letztere 
verschiedenen  Abtheilungen  angehörend. 

Gestützt  auf  die  Erfahrungen,  die  unterdessen  in  der 
Verwaltung  gemacht  worden  sind,  hat  der  Bnndesrath  nun 
den  Entwurf  einer  neuen  endgültigen  Organisation  der  Tele- 
graphenverwaltung ausgearbeitet  und  mit  einer  Botschaft  an 
die  Bundesversammlung  geleitet.  Nach  demselben  soll  die 
Verwaltung  für  die  beiden  Dienstzweige,  Telegraph  und  Te- 
lephon, auf  der  bewährten  Grundlage  des  Organisationsge- 
setzes von  1854  neu  aufgebaut  oder  vielmehr  in  der  Weise 
erweitert  werden,  dass  der  Telephonbetrieb,  mit  Einschluss 
des  Baues  und  Unterhaltes  der  Netze  und  Linien,  unter  die 
Leitung  der  gleichen  Kreisorgane  gestellt  wird,  wie  der  Te- 
legraphenbetrieb. Eine  Reorganisation  in  dieser  Richtung  ist 
um  so  mehr  gegeben,  als  eine  Vermehrung,  beziehungsweise 
Verkleinerung  der  Telegraphenkreise,  wie  auch  eine  Vermeh- 
rung des  Personals  der  Kreisinspektionen,   ohnehin  zu  einem 


512  Jahresbericht  1899. 

dringenden  Bedürfniss  geworden  ist  Es  soll  nach  wie  vor  in 
jedem  wichtigern  Verkehrscentrum  der  Telephonchef  der  für 
den  technischen  und  administrativen  Dienst  des  Netzes  oder 
Netzgruppe  zunächst  verantwortliche  Beamte  bleiben,  der 
nnter  der  Oberaufsicht  und  Leitung  der  Kreisinspektion  mit 
dem  ordentlichen  Unterhalt  des  Netzes,  der  Linien  und  Sta- 
tionen, wie  auch  mit  dem  Verkehr  mit  Behörden  und  Publi- 
kum betraut  und  mit  dem  nöthigen  Hilfspersonal  versehen 
wird.  Um  den  bisherigen  Dualismus  im  Linienbauwesen  zu 
beseitigen,  ist  vorgesehen,  den  Telephonchefs  auch  die  Auf- 
sicht und  den  Unterhalt  der  in  ihren  Netzbereich  fallenden 
Telegraphenlinien  zu  übertragen,  sodass  die  Telephonnetie 
und  Netzgruppen  als  Sektionen  der  Kreise  zu  betrachten 
wflren.  Damit  ist  bei  der  Mehrzahl  der  wichtigern  Netze  jeder 
Friktion  zwischen  Inspektion  und  Telephonchef  vorgebeugt 
und  bei  der  nöthigen  freiem  Bewegung  in  der  Leitung  grosser 
Netze  zugleich  die  nöthige  Einheitlichkeit  und  die  wünschbare 
Wechselwirkung  zwischen  den  beiden  Dienstzweigen  auf  die  | 
natürlichste  Weise  erreicht.  Was  sodann  die  Central  Verwal- 
tung anbetrifft,  so  hat  dieselbe  seit  Einführung  des  Telepbon- 
wesens  auf  dem  Budgetwege  zwei  in  dem  Bundesgesetze  vom 
31.  Juli  1873  nicht  vorgesehene  Dienstabtheilungen  erhalten r 
nämlich  ein  technisches  Bureau  und  ein  Inspektorat,  wie  auch 
die  Zahl  der  Beamten  aller  Abtheilungen  successive  nach  den 
Bedürfnissen  vermehrt  wurde.  Ferner  sieht  das  Budget  für 
1899  eine  weitere  Dienstabtheilung  für  die  Starkstromkon- 
trolle vor ;  doch  glaubte  der  Bundesrath  einstweilen  noch  von 
der  definitiven  Besetzung  der  betreffenden  Stellen  absehen 
und  sich  mit  einem  Provisorium  behelfen  zu  sollen.  Die  fort- 
währende, auch  noch  in  der  Zukunft  zu  erwartende  Zunahme 
des  Telephonwesens  und  die  der  Verwaltung  durch  die  Stark- 
stromanlagen erwachsenen  Schwierigkeiten  werden  auch  in 
der  Folge  eine  weitere  Personalvermehrung  nothwendig  machen, 
besonders  bei  der  technischen  Abtheilung,  die  zur  Zeit  noch 
nicht  über  die  nöthige  Zahl  technisch  gebildeter  Beamter  ver- 
fügt, um  den  vielfachen  an  sie  gestellten  Anforderungen  nach 
allen  Richtungen  entsprechen  zu  können.  Es  ist  übrigens 
keine    so   leichte   Sache,   für   diesen   Dienstzweig  geeignete 


Inneres.    Verwaltung.  513 

Techniker  zu  finden,  und  wenn  dies  einmal  der  Fall,  so 
werden  öfter  Besoldungsansprüche  gestellt,  die  weit  über  das 
hinausgehen,  was  die  Verwaltung  auf  Grundlage  des  Besol- 
dungsgesetzes bieten  kann.> 

Ueber  die  eidgenössische  Baupraxis   entstand   in   den 

Eidg.  Räthen  eine   etwas  lebhafte  Missstimmung  bei    Anlass 

der  Vorlage  eines  Planes  für  das  neue  Postgebäude  in  Bern ; 

es  wurde  darüber  u.  a.  folgendes  gesagt: 

«Wie  allgemein  bekannt,  hat  die  auf  3,420,000  Fr.  angesetzte 
Bausumme,  zu  der  noch  ein  über  700,000  Fr.  ansteigender 
Betrag  für  den  Bauplatz  kommt,  gerechtes  Aufsehen  erregt, 
und  bereits  hat  die  Kommission  des  Ständerathes,  dem  die 
Priorität  zusteht,  beschlossen ,  auf  Reduktion  dieser  For- 
derung zu  dringen.  Ihr  Präsident  Zweifel  bietet  Gewähr, 
dass  die  Reduktion  mit  Nachdruck  verlangt  wird.  Es  ist  in 
der  That  an  der  Zeit,  dass  mit  «Zweifel»  an  diese  und  ähn- 
liche, Bauten  betreffende  Botschaften  des  Bundesrathes  herange- 
treten werde.  Einige  Einzelheiten  mögen  das  beleuchten  und  er- 
härten. Im  Erdgeschoss  wird  bei  einer  lichten  Höhe  von  7  (sage 
sieben)  Meter,  dem  Materialverwalter,  Sekretär  und  Werth- 
zeichonkontroleur  je  ein  eigenes  Zimmer,  mit  zusammen  87 
Quadratmeter,  im  Durchschnitt  also  29  Quadratmeter  zuge- 
dacht. Die  drei  Einzelherren  okkupiren  also  einen  Kubik- 
raum  von  609  Kubikmeter.  Eine  bürgerliche  Wohnung  ist 
mit  200  Quadratmeter  Fläche  bei  3  Meter  Höhe  für  eine  Fa- 
milie von  5  Köpfen  zureichend.  Davon  gehen  etwa  80  Pro- 
zent für  Corridore  und  Dienstraum  (Küche  etc.)  ab ;  140  3 
gleich  420  Kubikmeter  genügen  also  in  ganz  konvenabler 
Weise  für  sie.  Vergleiche  dazu  609  Kubikmeter  jener  drei 
einzelnen  Beamten  I 

Ein  Saal  von  47  Quadratmeter  für  den  einen,  von  49 
Quadratmeter  für  den  andern  ist  vorgesehen,  und  ähnlich 
geht  es  durch  das  ganze  Hans.  Die  Bureaus,  in  denen  je- 
weilen  ein  einziger  Mann  seines  Amtes  waltet,  sind  zum  guten 
Theil  so  gross,  dass  man  den  Betreffenden  förmlich  suchen 
muss  in  seinem  Saal.  Ferner  scheint  durchgehends  das  System 
einreissen   zu   wollen,  dass  jeder  Angestellte   durchaus  nur 

33 


514  Jahresbericht  1899. 

allein  in  seinem  Räume  wirken  dürfe.  Es  scheint  ganz  und 
gar  verpönt  zu  sein,  dass  in  grösseren  Räumen,  welche  dann 
und  wann  unvermeidlicherweise  aus  der  Grundrisseintheilung 
sich  ergeben,  zwei  oder  mehr  Beamte  untergebracht  werden. 
Diesem  Ansprüche,  der  natürlich  in  erster  Linie  von  den  An- 
gestellten ausgeht,  wird  von  oben  offenbar  in  keiner  Weise 
entgegen  getreten ;  vielmehr  wird  durch  Aufstellen  eines  darauf 
speciell  berechneten  Bauprogramms  eine  überschwänglich  ge- 
räumige Anlage  als  Erforderniss  hingestellt. 

Für  leitende  Beamte  sind  ja  eigene  Einzelbureaus  unent- 
behrlich; Säle  von  40—60  Quadratmeter  aber  brauchen  es 
nicht  zu  sein.  Vorzimmer  sind  gewiss  auch  nicht  so  nöthig. 
Was  geschieht  denn  in  diesen  ?  Haben  diese  Beamten  so 
reichliche  Audienzen  zu  geben,  dass  stets  eine  Anzahl  War- 
tender unterzubringen  ist?  Kaum! 

Vergleiche  man  doch  die  Räume  im  alten  Bundesgebäude, 
welche  dem  Bundesrathe  und  den  wichtigsten  Bureaus  zur 
Verfügung  stehen  —  vergleiche  man  die  praktische  Raum- 
ausnützung  in  Bankgebäuden  und  ähnlichen  Instituten  mit 
der  Raumverschwendung,  welche  in  diesen  Verwaltungsge- 
bäuden neuer  Observanz  von  den  Bundesorganen  getrieben 
wird !  Eine  andere  Erklärung,  als  eine  viel  zu  weitgehende 
Rücksichtnahme  auf  den  Wunsch  jedes  Beamten,  alleiniger 
souveräner  Inhaber  eines  eigenen,  möglichst  saalartigen  Ge- 
maches zu  sein,  lässt  sich  nicht  finden.  Dann  möge  man 
weiter  bedenken,  dass  die  Ausstattung  dieser  Räume  ganz  im 
Verhältniss  zu  ihrer  Grösse  kostspielig  ist.  Die  Möbel  müssen 
grösser,  wuchtiger  und  zahlreicher  werden,  sonst  sieht  es  zu 
leer  aus.  Teppiche,  Fenstergarnituren  und  andere  Ausstat- 
tungsobjekte nehmen  Dimensionen  an  und  werden  in  Quanti- 
täten gebraucht,  die  ausserordentlich  sind,  obwohl  zuzugeben 
ist,  dass  man  zur  einigermassen  angemessenen  Ausstattung 
der  Räume  so  weit  gehen  musste.  So  zieht  ein  Uebermass 
das  andere  nach  sich. 

Die  Räthe  werden  hier  einmal  Einhalt  thun  müssen.  Al- 
lein ohne  technische  sachverständige  Prüfung  wird  es  nicht 
zu  machen  sein.  Ohne  eine  solche  ist  gegen  die  zum  voraus 
von  den  Vätern  der  Vorlage  geschlossene  Phalanx  nicht  auf- 
zukommen.» 


Inneres.    Verwaltung.  515 

Eine  mehr  formale  neue  Verfügung  des  Bundesrates  ist 
die  folgende: 

«Vom  Bundesrate  wird  beschlossen:  Es  seien  bei  Ent- 
lassung von  Beamten  und  von  Offizieren,  soweit  eine  Ver- 
dankung überhaupt  beschlossen  wird,  vom  Bundesrath  ledig- 
lich die  geleisteten  Dienste  (ohne  besondere  Qualifikation)  zu 
verdanken.  Den  einzelnen  Departementen  soll  es  anheimge- 
stellt sein,  in  besondern  Fallen  noch  ihre  specielle  Aner- 
kennung auszusprechen.» 

Eine  neue  Verordnung  über  die  Inkompatibilitäten  bei 
Anstellungen  von  eidg.  Beamten,  die  sich  auch  auf  Gemeinde- 
und  Kantonsanstellungen  beziehen,  findet  ßich  in  der  E.  G. 
S.  XVII,   64. 

Eine  gewisse  Tendenz,  welche  mit  der  Verlegung  des 
Bundesgerichtssitzes  nach  Lausanne  begann,  macht  sich  fort- 
während dahin  geltend,  eidgenössische  Verwal tu ngscentren 
in  andere  Orte  zu  verlegen.  So  verlangt  Zürich  dringend  die 
Bank;  den  Sitz  des  Centralamtes  für  das  Unfall-  und  Ver- 
sicherungswesen verlangt  Luzern ;  auch  betreffend  St.  Gallen 
brachte  eine  Zeitung  die  folgende  Notiz : 

«Unter  dem  Stichwort  «Eidg.  Sitzfragen»  bringt  die 
«Ostschweiz»  einen  Artikel,  worin  sie  Klage  darüber  erhebt, 
wie  vernachlässigt  St.  Gallen  in  dieser  Beziehung  trotz  seines 
Ranges  als  vierter  Kanton  der  Schweiz  sei.  Dass  St.  Gallen 
um  den  Sitz  für  eine  Bundesbank  in  Mitbewerb  trete,  sei 
freilich  seiner  Lage  wegen  ausgeschlossen.  Stünden  die  Aus- 
sichten für  das  Gelingen  des  Kranken-  und  Unfallversiche- 
rungsprojektes nicht  so  sehr  unter  dem  Gefrierpunkt,  so  würde 
die  «Ostschweiz»  diese  Verwaltung  für  3t.  Gallen  fordern. 
Als  ganz  bestimmte  Forderung  und  zwar  aller  st.  gallischen 
Parteien  stellt  dagegen  das  Blatt  das  Verlangen,  dass 
St,  Gallen  den  Sitz  des  eidg.  Verwaltungsgerichtshofes  und 
damit  den  Rang  als  zweiten  Bundesgerichtssitz  der  Schweiz 
erhalte,  da  mit  der  Schaffung  eines  solchen  Hofes  voraus- 
sichtlich  noch  gewisse  Arbeitsteilungen  im  Bundesgerichte 


516  Jahresbericht  1899. 

selber  erfolgen  werden.  Damit  wird  die  Haut  des  Bären  ver- 
kauft, bevor  er  erlegt  ist.» 

Wir  sind  von  der  Nützlichkeit  eines  solchen  Gerichts- 
hofes unsererseits  überhaupt  noch  nicht  absolut  überzeugt. 

Die  Finanzverhältnisse  der  Eidgenossenschaft 
boten  in  dem  laufenden  Jahre  eine  ungewöhnlich  grosse  Ver- 
anlassung zur  Besprechung,  welche  durch  die  kommende 
Belastung  mit  der  Kranken-  und  Unfallversicherung  hervor- 
gerufen wurde.  Das  Resultat  der  ausführlichen  Verhand- 
lungen darüber  in  der  ausserordentlichen  Septenibersitzung 
der  eidg.  Räthe  war  zwar  schliesslich  ein  positiv  sehr  ge- 
ringes.   Der  Bundesbeschluss  lautet  wie  folgt: 

Art.  1.  Der  Bundesrathsbeschluss  betreffend  die  Hebung 
und  Förderung  der  schweizerischen  Kunst  vom  22.  Dezember 
1887  wird  dahin  abgeändert,  dass  die  in  Art.  2,  Alinea  1, 
festgesetzte  Summe  von  Fr.  100,000  auf  Fr.  50,000  reduzirt 
wird. 

Art.  2.  Vom  Jahre  1904  an  wird  für  neue  Hochbauten 
ein  jährlicher  Kredit  ausgesetzt,  der  die  Summe  von  Franken 
1,000.000  nicht  übersteigen  darf. 

Ueber  die  Verwendung  dieses  Kredites  hat  der  Bundes- 
rath  den  Räthen  jährlich  eine  Specialvorlage  zu  unterbreiten. 

Nicht  inbegriffen  in  dieser  Liuiitirung  sind  Uebertragungen 
von  nicht  verwendeten  Kr  editres  tanzen  auf  ein  folgendes  Jahr. 

Art.  3.  Die  Bestimmungen  des  Bundesgesetzes  betreffend 
Inspektion  und  Unterricht  des  Landsturmes  vom  29.  Juni  1894 
werden  dahin  abgeändert,  dass : 

a.  die  vorgesehenen  Uebungen  des  bewaffneten  Landsturms 
durch  blosse  Waffen-  und  Kleiderinspektionen  ohne 
Soldaiiszahlung  ersetzt  werden; 

b.  die  Verpflichtung  der  Infanterie  des  Landsturms  zur 
Theilnahme  an  den  Schiessübungen  der  freiwilligen 
Schiessvereine  aufgehoben  wird. 

Art.  4.  Die  Bestimmungen  der  Art.  1  und  3  treten  mit 
dem  1.  Januar  1900  in  Kraft. 


Inneres.    Finanzverhältnisse.  517 

Art.  5.  Der  Bundesrath  wird  beauftragt,  auf  Grundlage 
der  Bestimmungen  des  Bundesgesetzes  vom  17.  Juni  1874, 
betreffend  die  Volksabstimmung  über  Bundesgesetze  und 
Bandesbeschlüsse ,  die  Bekanntmachung  dieses  Bundes- 
be8chlus8es  zu  veranlassen. 

Gleichzeitig  mit  diesem  Bundesbeschluss  betreffend  Her- 
stellung des  Gleichgewichts  in  den  Bundesfinanzen  und  Be- 
schaffung der  Mittel  zur  Durchführung  der  Versicherungs- 
gesetze, vom  6.  Oktober  1899,  wurden  von  der  Bundesver- 
sammlung folgende  Beschlüsse  gefasst: 

I.  Die  Berathung  der  Entwürfe  betreffend  das  Lebens- 
mittelpolizeigesetz, Forstgesetz  und  Gesetz  über  die  Organi- 
sation des  Militärdepartements  wird  bis  auf  weiteres  sistiert. 

II.  1)  Der  Bundesrath  wird  eingeladen,  durch  strengere 
Handhabung  der  bezüglichen  Vorschriften  oder  wenn  erfor- 
derlich durch  Aenderung  derselben  dafür  zu  sorgen,  dass  nur 
solche  Leute  als  militärtauglich  erklärt  werden,  welche  die 
hierfür  nöthigen  körperlichen  und  geistigen  Eigenschaften 
wirklich  besitzen. 

2)  In  den  Wiederholungskursen  im  Corpsverbande  sind 
für  die  Infanterie  nur  100  Patronen  per  Gewehrtragenden 
abzugeben. 

In  den  Wiederholungskursen  der  Artillerie  im  Corps- 
verbande hat  eine  Reduktion  der  Munitionsdotation  um  20 
Patronen  per  Geschütz  einzutreten. 

3)  Der  Bundesrath  wird  eingeladen,  für  die  Mitwirkung 
der  Post  bei  der  Verzollung  von  Poststücken  aus  dem  Aus- 
lande vom  1.  Januar  1900  an  eine  Gebühr  von  20  Centimes 
per  Stück  zu  beziehen. 

4)  Der  Bundesrath  wird  eingeladen;  über  Revision  der 
bestehenden  Vorschriften  betreffend  die  Reiseentschädigungen 
der  Mitglieder  und  der  Kommissionen  der  Bundesversammlung 
im  Sinne  der  Ersetzung  des  Kilometergeldes  durch  Bezahlung 
der  Fahrtaxen  und  des  Taggeldes  Bericht  und  Antrag  ein- 
zubringen. 

Der  Bundesrath  gibt  seiner  Botschaft  über  die  Finanz- 
lage der  Eidgenossenschaft   ein   Zukunftsbudget  bei,  das 


518  Jahresbericht  1899. 

über  die  fünf  Jahre  1899  bis  1903  inkl.  sich  erstreckt.  Darin 
gelangt  er  zu  folgenden  Schlussergebnissen  der  eidg.  Staats- 
rechnnngen :  1899  (nach  definitivem  Budget)  Ausgabenüber- 
schuss  von  Fr.  2,095,000,  1900  Ausgabenüberschnss  von  Fr. 
3,550,000,  1901  Ausgabenüberschnss  von  Fr.  2,795,000,  1902 
Ausgabenüberschnss  von  Fr.  258,000,  1903  Einnahmenüber- 
schuss  von  Fr.  154,000.  Dabei  sind  die  Zolleinnahmen  mit 
folgenden  Zahlen  eingestellt:  für  1899  (definitives  Budget) 
mit  47,7  Millionen,  für  1900  mit  50,2  Millionen,  für  1901  mit 
51  und  für  1903  mit  52  Millionen.  Die  Totalaasgaben  sind 
veranschlagt:  für  1899  auf  98,6  Millionen,  für  1900  auf  104, 
für  1901  auf  106,4,  für  1902  auf  106,6  und  für  1903  auf 
109,4  Millionen. 

Der  Bundesrath  berechnet  ferner  die  Kosten  der  bevor- 
stehenden Neubewaffnung  der  Artillerie  sammt  Munition  auf  17 
bis  18  Millionen  Franken.  Er  nimmt  an,  dieselbe  soll,  wenn 
einmal  beschlossen,  innert  vier  Jahren  durchgeführt  werden. 
Allein  die  Finanzlage  gestatte  nicht,  diese  Summe  in  dem 
gleichen  kurzen  Zeitraum  zu  decken,  sondern  es  müsste,  von 
der  bisherigen  bewährten  Uebung  abweichend,  der  Militär- 
verwaltung dafür  ein  Kapitalvorschuss  gemacht  werden,  den 
sie  zu  amortisiren  und  zu  verzinsen  hätte.  In  das  Zukunfts- 
budget setzt  der  Bundesrath  vorläufig  eine  jährliche  Annuität 
von  Fr.  1,500,000  ein  (erstmals  für  1901).  Diese  Annuität 
entspricht  einer  Tilgungsdauer  von  cirka  16  Jahren.  Bei 
einer  Annuität  von  2  Millionen,  die  der  Bundesrath  vorzöge, 
wenn  die  Staatsrechnungsergebnisse  dies  gestatten  würden, 
könnten  18  Millionen   in   cirka  11  Jahren  amortisirt  werden. 

In  der  vom  Bundesrathe  festgestellten  Budgetvorlage 
für  das  Jahr  1900  werden  die  Einnahmen  veranschlagt  auf 
Total  Fr.  102,270,000 ;  die  Ausgaben  auf  Total  Fr.  102,990,000, 
was  einen  muthm asslichen  Ausgabenüberschuss  von  Fr.  720,000 
ergibt.  Das  vorstehende  Budget  pro  1900  stellt  sich  somit 
um  Fr.  2,830,000  günstiger  als  das  Zukunftsbudget,  und 
zwar  resultirt  diese  Besserstellung  in  der  Hauptsache  aus  fol- 
genden Positionen:  Fr.  1,000,000  Mehrertrag  der  Zölle.  600,000 
Fr.  grösserer  Reinertrag  der  Postverwaltung.  Fr.  5,000,000 
Rückstellung  von  Bauten.  Fr.  300,000  übrige  Ausgaben  des 


Inneres.    Finanzverhältnisse.  519 

Departements  des  Innern  (Wegfall  der  Gewerbezählnng,  Be- 
schränkung der  Kunstkredite  etc.,  Sistirung  des  Forst- 
gesetzes). Fr.  400,000  Nettominderausgaben  beim  Militär- 
departement. Auf  den  übrigen  Verwaltungszweigen  koni- 
pensiren  sich  verschiedene  Mehr-  und  Minderausgaben  gegen- 
seitig. 

Der  Bundesrath  proponirte  ursprünglich,  man  solle  Ge- 
setze, namentlich  das  Versicherungsgesetz,  zwar  beschliessen, 
aber  ihre  Vollziehung  in  suspenso  lassen,  bis  man  Geld  habe. 

Dieses  System  hat  bereits  der  sehr  kluge  bernische 
Finanzdirektor  inaugurirt,  und  man  nennt  dasselbe  hier  die 
«Nürnberger  -  Klausel»  nach  dem  bekannten  Diktum  «die 
Nürnberger  hängen  keinen,  sie  hätten  ihn  denn  zuvor.» 

Wir  könnten  darin  unsererseits  keine  Verbesserung  unseres 
Staatsrechts  erblicken ;  die  parlamentarische  Freiheit  von  Be- 
denken, um  es  mild  zu  bezeichnen,  würde  dadurch  nur  zu- 
nehmen, und  wir  würden  bald  eine  Eeihe  solcher  Gesetze  be- 
kommen, die  man  dann  bei  einer  guten  Gelegenheit  viel 
leichter  in  Funktion  setzen  kann,  als  wenn  man  sie  definitiv 
und  unter  dem  Damoklesschwert  des  Eeferondums  beschliessen 
muss. 

Die  Hauptsache  in  unserm  Staatshaushalt  würde  unseres 
Erachtens  die  sein,  dass  der  Bundesrath  selbst,  nicht  die 
Käthe,  die  dazu  gar  nicht  die  richtige  Stelle  sind,  den  Ent- 
schluss  fasste,  überall,  auch  in  sogenannten  kleinen  admini- 
strativen Dingen,  die  sich  zuletzt  doch  sehr  summiren,  zu 
sparen,  während  jetzt  die  ganze  eidgenössische  Verwaltung 
auf  einen  sehr  grossen  Fuss  zugeschnitten  ist.  Dabei  müsste 
die  oberste  Verwaltungsbehörde  sich  ganz  klar  machen, 
welche  Ausgaben  nothwendige  sind  und  gar  nicht  beschnitten 
werden  sollen,  selbst  auf  die  Gefahr  von  Defiziten  hin  nicht, 
welche  andere  hingegen  nur  bei  vorhandener  Prosperität 
ausgeführt    werden   können,  und  was  völlige  Luxusausgaben 


520  Jahresbericht  1899 

sind.  Zu  den  letzteren  zählen  wir  auch  die  übergrossen 
Bauten^  wie  das  Parlanientsgebäude,  das  entweder  in  sehr 
viel  bescheideneren  Formen  hätte  gehalten  .werden,  oder 
noch  Raum  für  Anderes  hätte  bieten  können,  manche  Post- 
gebäude, einzelne  Anschaffungen  für  Kunstzwecke;  zu  der 
ersten  Kategorie  dagegen  die  Militärausgaben«  Dieses  letztere, 
im  Ganzen  genommen,  wird  nun  der  Boerenkrieg  etwas 
klarer  als  bisher  gemacht  haben.  Die  Freiheit  kleiner  Völker 
ist  heute  ohne  ein  sehr  kräftiges  und  vollkommen  auf  der 
Höhe  der  jeweiligen  Erfordernisse  stehendes  Militärwesen 
fortwährend  bedroht.  Da  helfen  keine  Friedensvereine  oder 
Kongresse,  und  keine  anderen  Mittel,  sondern  nur  ein  sehr 
scharf  geschliffenes  Schwert,  das  Jedermann  Respekt  einflösst 

«Wir  könnend  All  vil  sagen 
Bim  Win  und  hinderm  Spil, 
Wie  unser  Vordem  ^schlagen 
Der  Fürsten  und  Herren  vil. 
Sagend  vil  von  den  Alten, 
Wie  mannlich  si  sich  ghalten, 
Dass  wir  uns  auch  so  stalten 
Und  lugtend  bas  in's  Spil; 
Die  Zit  s'erfordern  will.» 

Die  Staatsrechnung  für  das  Jahr  1898  weist  bei 
Fr.  95,277,453.  88  Einnahmen  und  Fr.  94,109,942.  51  Ausgaben 
einen  Einnahm enüberschuss  von  Fr.  1,167,511.  37  auf.  Im 
Budget  für  das  Jahr  1898  war  ein  Einnahm  enüberschuss  von 
Fr.  45,000  vorgesehen,  der  sich  aber  infolge  der  im  Laufe 
des  Jahres  bewilligten  Nachtragskredite  in  ein  muthmass- 
liches  Defizit  von  Fr.  7,651,834  verwandelte.  Es  betragen 
somit  die  Mehreinnahmen  und  Minderausgaben  zusammen 
Fr.  8,819,345.37,  oder  in  runder  Summe  8,820,000.  Die 
Mehreinnahmen  belaufen  sich  auf  Fr.  3,976,000 ,  die 
Minderausgaben  auf  Fr.  4,917,000,  zusammen  Fr.  8,893,000, 


Inneres.    Finanz  Verhältnisse.  521 

wovon  Fr.  73,000  Mindereinnahmen  abgehen,  so  dass  die 
erwähnte  Summe  von  Fr.  8,820,000  übrig  bleibt.  Diese 
Mehreinnahmen  und  Minderausgaben  und  Mindereinnahmen 
vertheiien  sich  auf  die  einzelnen  Rubriken  der  Staats- 
rechnung wie  folgt:  1.  Mehreinnahmen:  Liegenschaften 
Fr.  11,000,  Kapitalien  Fr.  153,000,  Allgemeine  Verwal- 
tung Fr.  2000,  Politisches  Departement  Fr.  8000,  Depar- 
tement des  Innern  Fr.  51,000,  Justiz-  und  Polizeidepartement 
Fr.  54,000,  Militärdepartement  Fr.  540,000,  Finanz-  und 
Zolldepartement  Fr.  2,817,000,  Post-  und  Eisenbahndeparte- 
ment  Fr.  340,000,  zusammen  Fr.  3,976,000.  2.  Minderaus- 
gaben: Amortisation  und  Verzinsung  Fr.  2000,  Allgemeine 
Verwaltung  Fr.  52,000,  Politisches  Departement  Fr.  16,000, 
Departement  des  Innern  Fr.  2,336,000,  Justiz-  und  Polizei- 
dopartement  Fr.  44,000,  Militärdepartoment  Fr.  967,000, 
Finanz-  und  Zolldepartement  Fr.  208,000,  Handels-,  Industrie- 
und  Landwirthschaftsdepartement  Fr.  314,000,  Post-  und 
Eisenbahndepartement  Fr.  965,000,  Unvorhergesehenes  Franken 
13,000,  zusammen  Fr.  4,917,000.  3.  Mindereinnahmen :  Han- 
dels-, Industrie-  und  Landwirthschaftsdepartement  Fr.  46,000, 
Unvorhergesehenes  Fr.  27,000,  zusammen  Fr.  73,000. 

Zu  den  Zahlen  der  Staatsrechnung  gibt  der  Bericht  des 
Bundesrathes  wie  gewöhnlich  einige  Erläuterungen.  Das  Ge- 
sammttotal  der  im  verflossenen  Jahre  bewilligten  Nachtrags- 
kredite beläuft  sich  auf  ziemlich  genau  den  nämlichen  Betrag 
wie  im  Vorjahre,  nämlich  auf  Fr.  7,696,834  (1897:  Franken 
7,690,923)  und  setzt  sich  zusammen  aus  Nachtragskrediten 
erster  Serie  mit  Fr.  2,423,858,  zweiter  Serie  mit  Franken 
722,265  und  dritter  Serie  mit  Fr.  3,519,343,  wozu  noch  die 
auf  besondern  Bundesbeschlüssen  beruhenden  Nachtragskredite 
mit  Fr.  1,031,368  hinzukommen.  Von  den  Nachtragskrediten 
sind  Kreditübertragungen   aus   dem  Jahre    1897  im  Betrage 


522  Jahresbericht  1899. 

von  Fr.  1,106,000,  das  Departement  des  Innern,  das  Militär- 
departement and  das  Handelsdepartement  betreffend.  Auf 
Kredite,  welche  durch  besondere  Bandesbeschlüsse  gewährt 
wurden  und  von  denen  der  grössere  Theil  bereits  in  den 
Nachtragskrediten  figurirt,  fallen  Fr.  3,249,000,  wovon  die 
erste  Rate  der  Subvention  an  den  Simplondurchstich  allein 
Fr.  900,000  beanspruchte.  Nach  Abzug  dieser  zwei  Posten 
von  dem  Qesammtbetrag  der  Nachtragskredite  von  Franken 
7,696,000  verbleiben  noch  Fr.  3,341,000.  Aber  auch  in  dieser 
Summe  sind  verschiedene  Kredite  im  Betrage  von  über  Fr. 
600,000  inbegriffen,  die,  weil  Liegenschaftserwerbungen  und 
Bauten  beschlagend  and  somit  eine  direkte  Vermehrung  des 
Staatsvermögens  bedeutend,  nicht  als  eigentliche  Nachtrags- 
kredite betrachtet  werden  können;  diese  letztern  betragen 
so  mit  bloss  3  Prozent  der  Gesammtausgaben. 

Eidgenössische  Spezialfonds.  Das  Vor- 
mögen der  im  Eigen th um  des  Bundes  liegenden  Spezialfonds 
ist  im  Jahre  1898  von  Fr.  24,653,279.  53  auf  Fr.  28,278,402.  66 
gestiegen  und  hat  sich  somit  um  Fr.  3,625,123.  13  vermehrt; 
davon  fallen  Fr.  2,214,500  auf  den  Fonds  für  Versicherungs- 
zwecke, der  nunmehr  auf  Fr.  7,364,500  angewachsen  ist. 
In  dieser  Vermehrung  ist  ebenfalls  inbegriffen  die  neue 
Berset-Müiler-Stiftung  mit  einem  Vermögen  auf  Ende  1898 
von  Fr.  893,941.  55.  Die  Depots  haben  sich  von  Franken 
1,555,019.20  auf  Fr.  1,452,128.53  vermindert,  hauptsächlich 
in  Folge  der  im  Laufe  des  Rechnungsjahres  vollzogenen 
Liquidation  der  Sold-  und  Pensionsrückstände  der  alten 
Schweizerregimenter  im  spanischen  Dienste.  Die  zu  Milit&r- 
pensionszwecken  bestimmten  Fonds  (Invalidenfonds,  Grenus- 
Invalidenfonds  und  eidg.  Winkelriedstiftung)  sind  von  Fr. 
14,983,999.  51  angewachsen  auf  Fr.  15,541,919.  05  und  haben 
sich  somit  vermehrt  um  Fr.  557,919.  54. 


Inneres.    Finanzverhältnisse.  52ä 

Eisenbahnfonds.  In  der  Staatsrechnung,  resp.  in 
der  Rechnung  über  den  Eisenbahnfonds  pro  1898  verrechnet 
der  Bundesrath  eine  muthmassliche  Dividende  für  seine  77,090 
Prioritätsaktien  von  Fr.  22.  50  gleich  4,5  Prozent  für  das 
Jahr  1898.  Der  Eisenbahnrückkaufsfonds,  der  aus  den  Ueber- 
schüssen  der  Eisenbahnpapiere  in  Händen  des  Bundes  über 
die  Eisenbahnrente  angesammelt  wird,  beträgt  dermalen 
Fr.  823,000. 

Staatsrechnung  1899.  Das  Budget  schloss  mit  einem 
Defizit  von  über  2  Millionen  Franken  nach  Vorschlag  des 
Bundesraths,  während  seit  einer  Reihe  von  Jahren  immer 
Ueberschüsse  vorhanden  waren.  Man  glaubte  schliesslich, 
wie  in  der  Fabel  vom  Wolf,  gar  nicht  mehr  an  dieses  Defizit 
des  Finanzdepartements,  sondern  sah  das  bloss  als  eine  fac,on  de 
parier  an,  die  man  nicht  ernsthaft  nehmen  müsse.  Die  Bud- 
get-Kommissionen prüften  dieses  Jahr  das  Budget  genauer 
als  gewöhnlich,  und  es  reduzirte  sich  das  Defizit  ein  wenig,, 
auf  Fr.  2,391,225  (Ständerath),  faktisch  jedoch  wird  auch  die 
Staatsrechnung  von  1899   mit  einem  Ueberschuss  schliessen* 

Engagements  sind  vorhanden:  Für  Gewässerkorrek- 
tionen 17  Millionen,  Bauten:  das  neue  Bundesrat hsh aus  noch  3 
Millionen,  Simplon-Subvention  3,600,000  Franken,  8  Millionen 
für  Gebäude,  wovon  2  Millionen  in  Reserve  gestellt  sind» 
Etwa  30  Millionen  sind  bis  1905  fällig  und  unabwendbar. 

Die  Kommission  des  Nationalraths  regte  von  Neuem  die 
Schaffung  eines  vom  Bundesrath  unabhängigen,  von  der  Bun- 
desversammlung gewählten  Rechnungshofes  an,  welchem 
jedoch  der  Bundesrath  eher  abgeneigt  ist.  Ferner  erklärte 
sie  mit  absoluter  Sicherheit,  man  könne  keinerlei  neue  Aus« 
gaben  dekretiren,  ohne  neue  Mittel  dafür  gleichzeitig  zu 
schaffen.  Vor  1904  könne  man  aus  dem  normalen  Budget 
dafür  keine  Mittel  finden. 


624  Jahresbericht  1899. 

Die  Postulate  der  Kommission  des  Nationalraths,  die 
damit  nicht  ganz  übereinstimmen,  gehen  dahin,  es  seien : 

1.  die  Protokolle  der  Räthe  (abgesehen  von  den  steno- 
graphischen Bulletins)  zu  veröffentlichen  und  den  Mitgliedern 
der  Käthe  mitzutheilen ; 

2.  die  Gehalte  der  Bundesräthe  and  des  Kanzlers  zu 
erhöhen. 

Unsere  Anlehen  sind:  1.  1889,  jetzt  über  20  Mil- 
lionen, es  wird  amortisirt. 

2.  1892,  5  Millionen  kündbar  Ende  1903,  es  wird  nicht 
Amortisirt. 

3.  1897  (ursprünglich  1887),  war  kündbar  1897,  es  wurde 
bis  dahin  amortisirt  regelmässig,  1897  wurde  es  konvertirt 
aus  3^2  °/o  in  3°/0.  Dieses  Anlehen  kann  vor  1905  nicht  ge- 
kündet, oder  ausgeloost  werden.  Diese  Bestimmung  unter- 
brach die  Amortisation,  wie  sie  bisher  war,  man  beschloss 
aber  die  Quote  der  Amortisation  in  einen  Fonds  zu  legen, 
der  Amortisationsfonds  heisst  und  Ende  1899  3  Millionen  be- 
trägt. Es  wird  jährlich  eine  Million  bei  Seite  gelegt.  1905 
wird  er  sieben  Millionen  betragen. 

4.  1894,  20  Millionen.  Dasselbe  ist  zum  ersten  Mal  1905 
rückzahlbar,  resp.  amortisirbar  in  längstens  15  Jahren. 

Eine  Unifikation  der  eidg.  Anlehen  zu  3  °/0,  wie  man 
damals  hoffte,  ist  nicht  mehr  möglich.  Die  jährliche  Annuität, 
die  von  1894  ab  zu  amortisiren  ist,  beträgt  Fr.  1,036,000. 
Zur  Speisung  der  Unfall-  und  Krankenversicherung  sollten 
ursprünglich  pro  1893  und  1894  2  Millionen  aus  diesem 
Amortisationsfonds  genommen  werden,  so  dass  derselbe  im 
Jahr  1905  statt  7  bloss  noch  5  Millionen  betragen  würde; 
schliesslich  wurde  jedoch  darüber  nichts  beschlossen,  sondern 
das  der  Zukunft  überlassen. 

Ohne   allen  Zweifel   wird   die  Einführung  der  Kranken- 


Inneres.    Finanz  Verhältnisse.  525 

und  Unfallversicherung,   sowie  überhaupt  die  beständige  und 

bis  auf  einen   gewissen  Grad  unausweichliche  Zunahme  der 

Staatsaufgaben   trotz  aller  Sparsamkeit    eine   Erhöhung  der 

Ausgaben  des  Bundes  herbeiführen,  die  die  Eröffnung  neuer 

Finanzquellen  nöthig  macht. 

Zunächst  steht  als  solche  das  Tabakmonopol.  Ein 
Expertengutachten  des  eidg.  Alkohol-Direktors  Milliet  aus  dem 
Jahre  1895  stellte  die  Einnahmen  fest  auf  28,700,000  Fr., 
die  Ausgaben  auf  20,700,000  Fr.,  so  dass  ein  Reinertrag  von 
8  Millionen  verbliebe.  Auf  den  Inland  verbrauch  fallen  26  lk 
Millionen,  auf  den  Export  2,168,000  Fr.  Dabei  ist  vorgesehen, 
dass  die  Konsumpreise  für  das  Landesfabrikat  die  bisherigen 
blieben,  während  für  die  Importwaare  eine  Erhöhung  von 
20°/0  eintreten  würde.  Die  auf  20,700,000  Fr.  berechneten 
Ausgaben  setzen  sich  zusammen  aus : 

7,580,000  Fr.  Ankauf  von  in-  und  ausländischen  Rohtabaken, 
1,725,000    >     Ankauf  von  Fabrikaten. 
5,500,000    >     Arbeitslöhne. 
1,832,000    »     Frachten  und  Zölle. 
1,000,000    >     Hülfsmaterialien. 

250,000    >     Unterhalt  der  Gebäude. 

487,500    >     Verzinsung  und  Amortisation  des  Anlagekapitals, 
1,500,000    »     Verwaltung. 

660,000    »     Verzinsung  des  Betriebskapitals. 

665,500    »     Verschiedenes  und  Unvorhergesehenes. 

Ein-  und  Ausfuhr  wäre  Sache  der  Regie.  Immerhin 
wäre  auch  an  Private  die  Einfuhr  zum  Eigengebrauch  zu  ge- 
statten, gegen  Entrichtung  einer  entsprechenden  Monopolge- 
bühr, ebenso  wäre  dem  Händler  die  Einfuhr  gewisser  Spe- 
cialitäten  in  kleineren  Mengen  zu  erlauben.  Unter  gewissen 
Bedingungen  könnte  auch  die  Ausfuhr  dem  Händler  gestattet 
werden. 

Jedermann  könnte  bei  der  Regie  gegen  baar  Bezüge  in 
Posten  von  125  Fr.  und  mehr  machen;  jeder  Bezüger,  der 
in  einem  Jahre  mehr  als  für  1500  Fr.  Konsumwaare  ab- 
nimmt, erhält  20  °/0  Rabatt  und  es  soll  der  Rabatt  fällig 
sein,   sobald  die  Fakturen  1500  Fr.  übersteigen.    Die  Regie 


526  Jahresbericht  1899. 

liefert   franko   und   nimmt  unverkäufliche  Waare    innerhalb 
zwei  Monaten  zurück. 

Die  Regie  würde  also  den  Tabak-  und  Cigarrenverkäufern, 
denen  sie  die  Verkaufspreise  vorschreibt,  einen  Bruttogewinn 
von  20%  gewähren. 

Die  Gesetzgeber  des  Staates  Arkansas  haben,  in  der 
Annahme,  dass  das  Rauchen  von  Cigaretten  gesundheits- 
schädlich sei,  den  Verkauf  oder  das  Verschenken  von  Ci- 
garetten bei  Geldstrafen  von  100  bis  1000  Dollars  verboten. 

Im  Weiteren  würde  eine  Biersteuer  nur  von  Gutem 
sein,  auch  um  diese  übermässige  Produktion,  die  dann  mit  allen 
Mitteln  der  Verführung  an  den  Mann  gebracht  werden  muss, 
einigermassen  einzuschränken  und  sollte  man  sich  bald  ent- 
schli essen  in  dieser  Richtung  der  mächtigen  Liga  der  Bier- 
brauer, Bierwirthe  und  ihrem  ganzen  Anhang  fest  ent- 
gegenzutreten. Die  Lausanner-Zeitung  enthielt  darüber  die 
folgende  Berechnung: 

«Un  Journal  agricole  bernois,  le  Schweizer  Bauer  a  cal- 
cul6  que  si  la  Suisse  cräait  une  taxe  sur  la  biere,  cet  impöt 
donnerait  les  produits  bruts  suivants,  selon  qu'il  serait  fixe 
au  taux  des  pays  ci-apres: 

Allemagne 
Belgique  .  . 
France  .  .  . 
Bavtere  .  . 
Bade  .  .  . 
Royaume-Uni 

Les  frais  de  perception  sont  peu  considerables.  IIb  se- 
raient  minimes  si,  comme  en  Baviere,  l'impot  frappait  le  malt 
Mais,  si  meme  on  suppose  ces  frais  assez  öleves,  fr.  500  par 
brasserie  par  exemple,  ils  n'atteindraient  que  fr.  137,500  pour 
les  275  brasseries  qui  existent  en  Suisse  d'aprös  la  derniere 
statistique,  celle  de  1896.  Pour  subvenir  aux  depenses  des 
assurances  ouvrieres,  un  impöt  de  fr.  3  ä  fr.  4  par  hecto- 
litre  serait  süffisant. 


r. 

1.02) 

fr. 

2,142,000 

> 

1,42) 

* 

2,982,000 

» 

2,69) 

> 

5,649,000 

> 

3,25) 

» 

6,825,000 

» 

4.-) 

> 

8,400,000 

» 

4,80) 

> 

9,600,000 

Inneres.    Finanz  Verhältnisse.  527 

La  feuille  bernoise  recherche  ensuite  qui  aurait  vraisem- 
blablement  ä  supporter  chez  nons  l'impöt  snr  la  biere.  Les 
prix  ne  seraient,  dit-elle,  certainement  pas  hausses  daus  la 
vente  au  detail.  Vers  1880,  les  aubergistes  payaient  l'hecto- 
litre  de  biere  27  ä  28  francs.  Aujourd'hui,  ils  ne  paient  plus 
qne  23  francs  et  möme  moins.  Cependant,  autrefois  comme 
maintenant,  la  grande  chope,  d'un  demi-litre,  s'est  toujours 
Tendue  20  Centimes  et  la  petite,  de  trois  däcilitres,  15  Cen- 
times. En  consäquence,  si  meine  les  detaillants  devaient  payer 
aax  brasseurs  l'hectolitre  un  ou  deux  francs  de  plus  qu'ac- 
tuellement,  ils  ne  seraient  pas  amenäs,  pour  cela,  ä  rencberir 
le  verre  de  biere  qu'ils  servent  au  client. 

Frequemment,  l'aubergiste  pourrait,  en  obtenant  une  r6- 
duction  de  loyer,  faire  supporter  une  partie  de  l'impöt  ä  son 
propriötaire.  Cet  impot  aurait  probablement  pour  consequence 
de  faire  baisser  la  valeur  des  immeubles  oü  se  trouvent  des 
debits  de  biere.  II  n'y  aurait  pas  lieu  de  s'en  plaindre  trop. 
Les  loyers  que  produisent  les  dits  immeubles  ont  quelque  chose 
d'excessif  et  d'anormal.  Ils  sont  matiere  ä  Spekulation,  Cette 
speculation  serait  entravee  au  profit  du  bien-etre  g6n6ral. 
Aucun  esprit  dösinteresse  et  equitable  n'y  verrait  d'incon- 
venient. 

Une  partie  de  l'impöt  serait,  en  outre,  supportöe  par  les 
actionnaires  des  brasseries. 

Ce  fardeau  ne  serait  pas  trop  lourd  pour  leurs  epaules. 
II  est  peu  d'entreprises  industrielles  qui  röalisent  d'aussi  beaux 
ben&ices  que  les  grandes  fabriques  de  biere  et  Celles  de  mo- 
jenne  importance. 

Certaines  grandes  brasseries  doivent  user .  dans  leur 
comptabilitä,  des  artifices  les  plus  subtiles  pour  ne  pas  payer 
a  leurs  actionnaires  des  dividendes  trop  eleves  et  pour  ne 
pas  laisser  entrevoir  aux  aubergistes  les  benöfices  conside>ables 
realises  par  leurs  fournisseurs.  Dans  le  domaine  de  la  fabri- 
eation  de  la  biere,  la  grande  Industrie  est,  plus  que  partout 
ailleurs,  fatale  ä  la  petite.  L^crasement  des  petites  brasseries 
par  les  grandes  ressort  clairement  du  tableau  suivant: 


528  Jahresbericht  1899. 

Brasseries  produisant  annuellement  1896  1891 

moins  de     1000  hl.  56  105 

1000     a      3999  >  100  140 

4000     ä    10000  »  74  68 

10000     et    plus    »  45  27 

En  soumettant  la  petite  Industrie  ä  un  impot  relative- 
ment  moins  fort  que  la  grande,  on  poarrait  latter  contre  la 
disparition  des  petits  brasseurs. 

On  pourrait  craindre  que  l'lmpöt,  s'il  n'ainene  pas  une 
hausse  du  prix  de  la  chope,  n'ait  pour  consequence  un  avi- 
lissement  de  la  biere.  Mais,  poursuit  le  Schweizer  Bauer,  les 
expe>iences  faites  dans  d'autres  pays  prouvent  que  ce  r6sul- 
tat  ne  sc  produit  pas  si  l'impöt  est  modere1.  Une  taxe  de 
trois  ä  quatre  francs  ne  diminuerait  pas  la  qualitä  dn  prodait. 
La  Baviere,  l'eldorado  de  Tamateur  de  biere,  preleve  an  im- 
pot de  fr.  3,25  par  hectolitre.  La  concurronce  forcera  bien 
les  brasseurs  ä  fournir  au  public  le  breuvage  qui  lui  con- 
vient.» 

Eine  Erhöhung  der  Zölle  hingegen,  soweit  sie  nicht 
als  Kampfzölle  bei  dem  Abschlnss  der  neuen  Handelsverträge 
auf  das  Jahr  1903  nöthig  sind,  sollte  nicht  in  Rechnung  ge- 
zogen werden  und  ebensowenig  kann  man  auf  erheblich 
grössere  Einnahmen  aus  den  übrigen  Regalien  des  Bundes 
zählen.  Wir  rechnen  unsererseits  auch  nicht  auf  einen  sehr 
erheblichen  Ueberschuss  ans  den  Einnahmen  der  künftigen 
Bundesbahnen,  welche  vielmehr  durch  die  grösseren  Schwie- 
rigkeiten der  Geldbeschaffung,  die  vielleicht  eintreten  und  je- 
denfalls durch  die  grösseren  Prätentionen  sowohl  des  Publi- 
kums, als  der  Eisenbahnangestellten  an  den  Bund,  stark  re- 
duzirt  werden  dürften.  Ueberdies  aber  sollen  ja  die  Eisen- 
bahnüberschüsse niemals  für  die  laufenden  Ausgaben  des 
Bundes  verwendet  werden,  sondern  einen  Amortisationsfonds 
bilden,  ohne  den  der  ganze  Eisenbahnrückkauf  eiue  Massregel 
von  zweifelhafter  Güte  sein  würde. 


Inneres.    Finanz  Verhältnisse.  529 

Auf  alle  Fälle  also,  damit  schliessen  wir,  ist  Sparsamkeit 
am  Platze,  aber  sparen  muss  der  Staat  wie  ein  guter  Haus- 
vater, zuerst  am  Luxus  (das  ist  sogar  nicht  nur  eine  öko- 
nomische, sondern  auch  eine  moralische  Pflicht),  dann  an  dem 
bloss  Nützlichen,  und  zuletzt  am  Notwendigen;  an  diesem 
sogar  in  einzelnen  Fallen  selbst  bei  andauernden  Defiziten 
gar  nicht.  Denn  die  Ausgaben,  die  zu  der  Erhaltung  des 
Staates  gehören,  muss  nicht  bloss  die  gegenwärtige  Generation 
tragen,  sondern  dazu  darf  sie  auch  die  künftigen  Geschlechter 
herbeiziehen  und  dafür  sind  Staatsschulden  gerechtfertigt. 
Aber  darin  eine  reinliche  Unterscheidung  zu  treffen,  ist  nicht 
Sache  —  wir  wiederholen  es  —  eines  Parlamentes,  das  da- 
für nicht  einmal  die  nöthige  gründliche  Sachkenntniss  besitzt 
und  stet8zu  sehr  nach  augenblicklicher  Stimmung  handeln  wird 
sondern  das  muss  sich  der  Bundesrath  jeweilen  durch 
gründliche  Prüfung  klar  machen,  dann  seine  Anträge  positiv 
stellen  und  mit  Festigkeit  behaupten.  Daran  Bcheint  es  uns 
bisher  hie  und  da  zu  fehlen  und  das  würde  auch  kein  Rech- 
nungshof, oder  irgend  ein  sonstiges  Kontrollmittel  ganz  er- 
setzen können. 

Im  Uebrigen  sind  wir  in  diesen  Finanzfragen  nicht  zu 
ängstlich.  Schlechte  Finanzwirthschaft  kann  bei  einem  mo- 
dernen kleinen  Staate  nicht  lange  dauern,  dafür  ist  die  öf- 
fentliche Kontrolle  der  gesammten  Presse  des  In-  und  Aus- 
landes viel  zu  gross  und  die  Aufrechthaltung  des  Kredits  zu 
wichtig;  so  etwas  können  sich  höchstens  Grossstaaten  er- 
lauben, deren  Erhaltung  davon  nicht  so  abhängig  ist.  Ueber- 
dies  ist  das  schweizerische  Volk  in  seinen  Privatangelegen- 
heiten sehr  nüchtern  und  ökonomisch,  ferner  ist  der  Haushalt 
der  Kantone  nothgedrungen  stets  auf  Sparsamkeit  und  guten 
Finanzhaushalt  angewiesen,  und  endlich  wird  sowohl  die  Re- 
gierung der  Eidgenossenschaft,    wie   das  Parlament  niemals 

34 


530  Jahresbericht  1899. 

in  Mehrheit  aus  schlechten  Haushaltern  zusammengesetzt  6ein, 
sondern  aus  guten  «bourgeois»,  die  sehr  wohl  wissen,  was  für 
eine  Rolle  im  menschlichen  Leben  der  «nervus  rernin  geren- 
darum»  spielt. 

Eine  massgebende  höhere  Klasse  von  tiefverschuldeten, 
aber  dennoch  flott  darauf  los  lebenden  adligen  Gutsbesitzern 
und  spielenden  Offizieren  haben  wir  glücklicherweise  selbst 
unter  unserer  goldensten  Jugend  nicht,  und  auch  dem  Börsen- 
spiel und  dem  Spiel  in  den  Kursäälen  und  anderen  Etablisse- 
ments hoffen  wir  mit  der  Zeit  Meister  zu  werden.  Im  Ganzen 
lebt  die  gesammte  schweizerische  Bevölkerung  noch  unter, 
nicht  über  ihren  Mitteln,  wie  dies  in  Norddeutschland  z.  B. 
in  sehr  grossen  Kreisen  der  Fall  ist,  und  selbst  unsere 
Sozialisten  würden,  wenn  sie  an  die  Regierung  gelangten, 
keinen  verschwenderischen  Haushalt  in  der  Ausfuhrung  ihrer 
Projekte  einrichten.  Wo  die  gesammte  Lebensauffassung  in 
einem  Volke  eine  nüchterne  und  zur  Sparsamkeit  und  Ordent- 
lichkeit geneigte  ist,  da  kann  niemals  der  Staat  auf  die 
Dauer  ein  verschwenderischer  sein,  und  wenn  es  der  eid- 
genössische zeitweise  gewesen  ist,  so  war  eben  daran  wesent- 
lich das  zu  viele  Geld  in  seinen  Kassen  schuld,  das  Nieman- 
dem gut  thut,  auch  einem  Staatswesen  nicht.  Dass  das  durch 
die  Kranken-  und  Unfallversicherung  und  noch  andere 
dringende  Ausgaben  ohne  Zweifel  aufhört,  das  halten  wir 
unsererseits  für  kein  Unglück,  sondern  für  einen  weiteren 
Vorzug  dieser  in  der  Zukunft  liegenden  Einrichtungen.  Auch 
ein  Staat,  wie  ein  Privatmann,  befindet  sich  bei  einer  nicht 
übermässigen  Prosperität,  die  weder  den  Nachbar  reizt  (wie 
in  Transvaal),  noch  ihn  selbst  zu  einem  üppigen  Leben  ver- 
führt, am  allerbesten. 

Ueber  die  Regalien  der  Eidgenossenschaft  ist  noch 
Folgendes  zu   sagen :   Das   wesentlichste  Regal,   von   dessen 


Verwaltung.    Regalien.    Zölle.  531 

Eingängen  überhaupt  die  eidgenössische  Finanzwirthsöh&ft 
ganz  und  gar  abhängt,  sind  immer  die  Zölle,  deren  Ein- 
nahmen in  diesem  Jahr  die  öOste  Million  übersteigen  werden. 
Ob  diese  stete  Progression  einem  Stillstand,  oder  Bückgang 
Platz  machen  wird  und  wann ,  das  entzieht  sich ,  wie 
die  letzten  10  Jahre  gezeigt  haben,  allen  Vorhersagungen 
auch  der  gewiegtesten  Sachkenner.  Einen  sehr  entscheiden- 
den Einfluss  darauf  könnten  nur  einerseits  Krieg  und  Frieden, 
andererseits  aber  die  jeweilen  bestehenden  Handels-  und  Zoll- 
verträge  ausüben.  Die  wichtigsten  dieser  Verträge  müssen 
alle  im  Jahre  1903  spätestens  neu  abgeschlossen  werden,  und 
dabei  werden  mutmasslich,  selbst  gegen  unsere  Absicht, 
nicht  geringere  Zölle  an  die  Stelle  der  bisherigen  treten,  son- 
dern in  einzelnen  Positionen  eher  erhöhte.  Die  Einnahmen 
der  Zollverwaltung  betrugen  im  Jahre  1898  beinahe  49  Mil- 
lionen Franken,  für  dieses  Jahr  sind  über  50  Millionen  zu 
erwarten. 

Die  Zollbündnisse  scheinen  auch  wieder  in  einigen 
Köpfen  zu  spucken.  Ein  Artikel  der  «N.  Z.  Zeitung»  sagte 
darüber  Folgendes. 

«Jüngsthin  ist  der  Gedanke  einer  zollpolitischen  Annähe- 
rung der  Niederlande  an  Deutschland  aufgetaucht,  und  in  der 
Folge  sind  Stimmen  laut  geworden,  auch  die  Schweiz  sollte 
ein  Zollbündniss  mit  Deutschland  eingehen.  Ueber  diese  Frage 
sind  wenig  fachmännische  Aeusserungen  gethan  worden.  Es 
ist  jedoch  von  Interesse,  dass  der  Verbandstag  deutscher 
€hokolade-Fabrikanten,  der  kürzlich  in  Cassel  stattfand,  und 
der  beschloss,  für  den  neuen  autonomen  Zolltarif  die  Fest- 
setzung des  Roh-Kakao-Zolles  auf  20  Mark  (jetzt  35  Mark) 
zu  beantragen,  sich  auch  mit  dieser  zollpolitischen  Annähe- 
rung befasste,  und  zwar  sprach  er  sich  gegen  ein  Zollbünd- 
niss mit  Holland  und  der  Schweiz  aus,  da  ein  solches  die  ge- 
sammte  deutsche  Kakaowaaren-Industrie  ernstlich  gefährden 


532  .         Jahresbericht  1899. 

würde.    Wie    man   vernimmt,   herrscht  in   den  Kreisen  der 
deutschen  Textil-Industriellen  eine  ahnliche  Ansicht  vor. 

Vom  schweizerischen  Standpunkt  ans  ist  die  Frage  bis 
jetzt  nicht  naher  untersucht  worden.  Würde  man  aber  ernst- 
lich daran  gehen,  sich  über  die  Bedeutung  eines  solchen  Zoll- 
bündnisses klar  zu  werden,  so  dürfte  man  zu  dem  gleichen 
Resultate  kommen,  zu  dem  man  in  den  Niederlanden  gelangte. 
Es  zeigte  sich  nämlich,  dass  die  Mehrzahl  der  Grosskauflente 
und  Industriellen  schon  aus  rein  wirtschaftlichen  Gründen 
einem  engern  Anschlüsse  an  Deutschland  grundsatzlich  ab- 
geneigt sei.  Die  politische  Seite  der  Frage  würde,  ebenso 
wie  in  den  Niederlanden,  auch  bei  uns  in  der  Schweiz  Tor. 
einem  solchen  Schritt  entschieden  abrathen.» 

In  Bezog  auf  die  Post  erfolgte  eine  wichtige  Abände- 
rung der  Post  -  Transportordnung  vom  3.  Dezember  1894 
mittelst  Bundesrathsbeschluss  vom  19.  Dezember  1898.  £.  G. 
S.  XVI,  871. 

Die  Zahl  der  Unfälle  des  Postpersonals  im  Dienst  belief 
sich  im  Jahre  1898  auf  142  gegenüber  174  im  Jahre  1897 
und  der  Betrag  der  bezahlten  Unfallentschädigungen  stellt 
sich  auf  Fr.  5,462.  55,  gegenüber  Fr.  38,913.  55  im  Jahre 
1897.  Durch  dieses  günstige  Ergebniss  ist  in  der  Unfallkasse, 
die  auf  Ende  1897  ein  Defizit  von  Fr.  1,914.  20  aufwies, 
wiederum  ein  Vermögen  vorhanden  von  Fr,  16,290.20. 

Eine  Hauptfrage  in  Bezug  auf  die  Post  bildet  stets  die 
Aufhebung  oder  wenigstens  Beschränkung  der  Portofrei- 
heit. Einer  Erhebung  der  Postverwaltung  gemäss  entfallen 
von  dem  portofreien  Verkehr  rund  9°/o  auf  die  Sendungen 
des  Bundes,  53  °/0  auf  solche  der  Kantone,  20  °/0  auf  Sen- 
dungen der  Gemeinden,  5  °/0  auf  Armensachen  und  13«/©  auf 
die  Sendungen  von  Militärs  im  Dienste.  Demgemäss  vertheilt 
sich  der  Ausfall  (von  Fr.  700,000)  in  der  Weise,  dass  auf 
den  portofreien  Verkehr  des  Bundes  Fr.  63,000,  der  Kantone 


Verwaltung.    Regalien.    Postwesen.  533 

Fr.  371,000,  der  Gemeinden  Fr.  140,000,  in  Armensachen 
Fr.  35,000  und  der  Militärs  Fr.  91,000  entfallen. 

Die  Geschäftsberichts-Komniission  des  Ständeraths  wollte 

die  Franko-Couverts  wieder  herstellen.  Im  Nationalrath  wurde 

« 

hingegen  der  Frankaturzwang  befürwortet.  Ueber  die  Zeitungs- 
posttaxen und  die  Arbeitszeit  der  Transportanstalten  Bind  be- 
sondere Vorlagen  vor  der  Bundesversammlung  anhängig. 

Weltpostverein.  Die  britische  Gesandtschaft  hat 
mit  Noten  vom  l.  und  26.  April  den  Beitritt  der  britischen 
Kolonie  Ceylon  zum  Washingtoner  Uebereinkommen  vom 
15.  Juni  1897  betreffend  den  Austausch  von  Werthbriefen 
und  Werthschachteln  auf  1.  April  erklärt.  Den  diesem  Ueber- 
einkommen beigetretenen  Staaten  wird  von  diesem  Beitritte 
Kenntniss  gegeben. 

In  Deutschland  wird  jetzt  der  Chekverkehr  bei 
der  Post  eingeführt,  eine  bedeutende  Verbesserung  der 
älteren  Idee  der  Postsparkassen.  Eine  deutsche  Zeitung 
schreibt  darüber: 

«Die  Einführung  des  Checkverkehrs  bei  der  Jedermann 
leicht  zugänglichen  Postverwaltung  wird  zweifellos  dieser 
Art  des  Ausgleichsverfahrens  noch  eine  bedeutende  Förderung 
bringen.  Unser  Nachbarland  Oesterreich  hat  ebenfalls  mit 
seinem  seit  16  Jahren  bestehenden  Postcheck-  und  Clearing- 
verfahren vorzügliche  Erfolge  erzielt;  das  Postsparkassenamt 
in  Wien  besitzt  heute  mehr  als  37,500  Inhaber  eines  Check- 
kontos, unter  denen  neben  den  Staatsbehörden  die  Kaufleute, 
Fabrikanten,  Vereine  und  Korporationen,  Gewerbsleute  und 
Advokaten  den  ersten  Platz  einnehmen.  Die  bei  dem  ge- 
nannten Amt  im  Clearingverkehr  abgerechneten  Summen  be- 
tragen mehr  als  die  im  inneren  Postanweisungsverkehr  ge- 
zahlten Beträge.  Es  Bind  nun  im  deutschen  Reichspostgebiet 
neun  Postcheckämter  in  Aussicht  genommen,  und  zwar  in 
Berlin,  Breslau,  Köln,  Danzig,  Frankfurt  a.  M.,  Hamburg, 
Hannover,  Karlsruhe  und  Leipzig.  Abgesehen  von  der  Stamm- 


534  Jahresbericht  1899. 

einlage  von  100  M.,  gegen  welche  die  Checkkontos  der  Post- 
verwaltung eröffnet  werden  sollen,  wird  für  die  Guthaben 
der  Kontoinhaber  eine  massige  Verzinsung  gewährt  werden.? 

Zum  Weltpostdirektor  an  Stelle  des  verstorbenen  Höhn 
wurde  durch  den  Bundesrath,  im  Einverständniss  mit  den 
übrigen  Regierungen,  Herr  Bundesrath  Ruffy  gewählt. 

Alkoholregal.  Die  wichtigsten  Gesetze  über  dieses 
Regal  sind  zusammengestellt  und  den  Kantonen  zugestellt 
worden.  Die  Revision  des  Alkoholgesetzes  selber  ist  bereits 
im  Fluss,  und  eine  Vorlage  soll  im  nächsten  Frühjahr  er- 
folgen. Einzelne  Notizen  sind  folgende:  Die  Alkoholverwaltung 
hat  jetzt  im  Ganzen  76  Angestellte.  Die  Verwaltungskosten 
betragen  Fr.  415,000.  An  die  Kantone  wurde  1897  der  höchste 
Betrag  mit  Franken  6,300,000  bezahlt.  Es  werden  241  Sorten 
Schnäpse  in  die  Schweiz  eingeführt.  Der  Alkohol  aus  dem  Aus- 
land ist  weit  billiger,  als  der  von  uns  fabrizirte,  da  die  fremden 
Staaten  Ausfuhrprämien  geben.  Der  Preis  ist  gegenwärtig  sogar 
ein  sehr  niedriger,  in  Deutschland  z.  B.  9  Mark  per  Hektoliter. 
Wir  geben  jährlich  eine  Million  Subvention  an  die  Brannt- 
weinbrenner, indem  wir  ihnen  den  Alkohol  theurer  abkaufen, 
als  wir  ihn  aus  anderen  Quellen  haben  könnten.  Der  Bundes- 
rath gab  ihnen  im  letzten  Jahre  sogar  ausnahmsweise  das 
Recht,  ausländischen  Mais  zu  brennen  für  '/s  ihrer  Lieferungen. 
Der  denaturalisirte  Alkohol  nimmt  beständig  an  Verbrauch 
zu,  für  Heizungs-  und  Beleuchtungszwecke  namentlich,  auch 
für  Krafterzeugung. 

Ueber  die  sogenannten  Z weiliterwirthschaf ten, 
welche  in  ausgedehntem  Massstabe  bestehen,  wurde  im  Schosse 
der  diesjährigen  gemeinnützigen  Gesellschaft  referirt. 

«Der  Referent  führte  aus ,  das  Alkoholmonopol  habe  aller- 
dings die  Schnapspest  in  der  alten  hässlichen  Form  beseitigt, 
andererseits  aber  sei  ein  neues  Uebel  entstanden,  die  Zwei- 
liter wir  thschaften,  die  den  Alkoholismus  in  anderer  Form,  der 


Verwaltung.    Regalien.    Alkoholregal.  539 

Bierpest,  im  Volke  ausbreiten.  Es  sei  heute  ein  überwundener 
Standpunkt,  den  Alkoholismus  mit  billigem  Wein  bekämpfen 
zu  wollen.  Der  Referent  schloss  mit  Anträgen,  die  eine 
tbatkräftige  Unterstützung  der  Bestrebungen  für  eine  Ver- 
schärfung der  Alkoholgesetzgebung,  Revision  der  Bundesver- 
fassung und  der  Gesetze  bezwecken  und  eine  Sympathiekund- 
gebung zu  Gunsten  der  AbBtinenzbewegung  enthalten  und  die 
Gesellschaft  einladen,  ihren  Einfluss  im  Sinne  einer  Sanirung 
der  Volksfeste  dnrch  Eindämmung  des  Alkoholismus  geltend 
zu  machen.  In  der  Junisitznng  der  Bundesversammlung  wurde 
an  die  diesfällige  Motion  Steiger  gemahnt.» 

Ueber  den  Alkoholmissbr auch  auf  Bauplätzen 
fand  in  Bern  eine  Besprechung  statt.  Auf  Einladung  des  Central- 
aasschusses  der  fünf  städtischen  Abstinenzgesellschaften  hatten 
sich  eine  Anzahl  Bauunternehmer  und  Bauhandwerker  ein- 
gefunden, die  einhellig  der  Ansicht  beitraten,  es  sollte  etwas 
geschehen,  um  den  riesigen  Bierverbrauch  auf  den  Bau« 
platzen  zu  bekämpfen.  Es  wurde  mit  Freude  begrüsst,  dass 
der  städtische  Gemeinderath  schon  1895  jegliche  Zufuhr  und 
Verkauf  alkoholhaltiger  Getränke  auf  den  Arbeitsplätzen 
städtischer  Unternehmungen,  ebenso  den  Genuss  solcher  Ge- 
tränke während  der  Arbeit  verbot.  Andererseits  haben  sich 
einige  Zimmermeister,  Spenglermeister  und  andere  Bauhand- 
werker geeinigt,  die  Zwischenmahlzeiten  abzuschaffen,  dafür 
die  Tagesarbeit  eine  halbe  Stunde  später  zu  beginnen  und 
ebensoviel  früher  zu  schliessen.  Sie  befinden  sich  dabei  voll- 
kommen gut.  Die  Kaffeehallen  Gesellschaft  ihrerseits  hat  vor 
etwa  drei  Jahren  begonnen,  billige  alkoholfreie  Getränke  auf 
die  Bauplätze  zu  führen,  um  denjenigen  Arbeitern,  die  es 
wünschten,  Ersatz  für  die  alkoholischen  Getränke  zu  bieten. 
Auch  wurden  Gutscheine  für  billige  Verköstigung  im  «Bären- 
höfli»  ausgegeben.  Alle  diese  Anstrengungen  vermochten  das 
Uebel  nicht  auszurotten.  Nach  den  Berechnungen  eines 
Kenners  der  Verhältnisse  ist  der  jährliche  Bierverbrauch  auf 
den  Bauplätzen  der  Stadt  Bern  auf  12,000  Hektoliter  zu 
schätzen ;  im  Sommer  werden  20  Prozent  des  Lohnes  während 
der  Arbeit  vertrunken.  Nach  allseitiger  Besprechung  ge- 
langte die  Versammlung  zu  dem  Schlüsse,    es  sollte,   ähnlich 


536  Jahresbericht  1899. 

wie  in  Luzern,  auch  in  Bern  möglich  sein,  dass  für  alle 
Bauarbeiter  die  Zwischenmahlzeiten,  diese  Hauptangelegen- 
hoiten  für  den  Alkokolgenuss,  abgeschafft  würden.  Dann 
könnte  die  Znfuhr  von  Bier  nach  den  Bauplätzen  verhindert 
werden.  Wäre  es  dabei  noch  zu  erreichen,  dass  billigere 
alkoholfreie,  erfrischende  Getränke  überall  angeboten  würden, 
wie  dies  in  Italien,  Frankreich  und  anderswo  der  Fall  ist, 
so  dürfte  der  Alkokolmissbrauch  im  allgemeinen  und  ganz 
besonders  auch  im  Baugewerbe  bedeutend  eingeschränkt  wer- 
den können.  Der  Baumeisterverband  der  Stadt  Bern  soll 
angegangen  werden,  der  Frage  der  Abschaffung  der  Zwischen- 
mahlzeiten neuerdings  näher  zu  treten. 

Bei  dem  Centralfest  des  «blauen  Kreuzes»  in  Bern  wur- 
den folgende  Resolutionen  angenommen: 

I. 
4 Antialkoholischer  Unterricht  in  den  Schulen. 
Die  am  12.  Juli  1899  in  Bern   versammelten  Mitglieder 
des  Vereins  des  Blauen  Kreuzes,  in  Erwägung, 

1.  dass  durch  das  schweizerische  statistische  Bureau  in 
der  Sterblichkeitsziffer  der  15  wichtigsten  Städte  nachgewiesen 
ist,  wie  bei  10—11  °/0  der  Todesfälle  bei  Männern  über 
20  Jahren  der  Alkoholismus  entweder  als  auschliessliche  oder 
doch  mitwirkende  Todesursache  angesehen  werden  niuss,  dass 
alle  Kriminalstatistiker  über  die  Erwachsenen  wie  über  die 
Jugend,  alle  Erhebungen  der  Spitäler,  der  Irrenhäuser,  der 
Anstalten  für  verwahrloste  Kinder  etc.  übereinstimmend  be- 
stätigen, dass  der  Alkoholismus  in  unserm  Lande  zahlreiche 
Opfer  fordert  und  den  Charakter  einer  nationalen  Gefahr  an- 
genommen hat; 

2.  dass  die  Erfahrung  aller  derer,  die  mit  Heilung  und 
Hebung  der  Trinker  sich  beschäftigen,  übereinstimmend  die 
tyrannische  Macht  des  Alkoholismus  über  seine  Opfer  kon- 
statirt,  so  dass  nur  eine  geringe  Bruchzahl  derselben  den 
Muth  gewinnt,  den  Kampf  zu  ihrer  Befreiung  aufzunehmen, 
und  dass  auch  unter  den  Letztern  die  Zahl  derer,  welche 
endgültig  zum  Siege  gelangen,  noch  sehr  Bchwach  ist; 

3.  dass,  wenn  es  nothwendig  war,  Gesellschaften  wie  das 


Verwaltung.    Alkoholregal.  537 

blaue  Kreuz  zur  Bettung  der  Trinker  zu  gründen,  es  folge- 
richtig nicht  weniger  dringlich  ist,  alle  gesetzlichen  Mittel 
zur  Bewahrung  der  zukünftigen  Generationen  vor  der  Ge- 
wohnheit der  Unmä8sigkeit  anzuwenden  nach  der  bekannten 
Maxime:  Es  ist  besser,  dem  Uebel  zuvorzukommen,  als  das- 
selbe zu  heilen; 

4.  dass  eines  der  besten  prophylaktischen  Mittel  darin 
besteht,  die  Kinder  über  die  t  tatsächlichen  Wirkungen  der 
alkoholischen  Getränke,  über  die  Gefahren  ihres  Gebrauchs 
und  insbesondere  ihres  Missbrauchs  vom  physiologischen, 
ökonomischen,  moralischen  und  gesellschaftlichen  Gesichts- 
punkte aus  zu  unterrichten; 

5.  dass  in  der  Uebernahme  des  Jugendunterrichts  durch 
die  kantonalen  Regierungen  diesen  auch  die  Verpflichtung 
zufällt,  diesen  antialkoholischen  Unterricht  ertheilen  zu  lassen ; 

6.  dass  ein  Unterricht  dieser  Art,  wenn  auch  in  ver- 
schiedenem Umfang,  theils  auf  dem  Wege  der  Spezialgesetz- 
gebung,  theils  durch  Entscheide  der  öffentlichen  Schulbehörden 
in  einzelnen  Ländern,  beispielsweise  in  den  Vereinigten 
Staaten,  in  Canada,  in  den  Australischen  Kolonien,  in  Skan- 
dinavien, Belgien  und  Frankreich  und  in  einigen  Kantonen 
der  Schweiz  bereits  eingeführt  ist; 

7.  dass  der  Art.  32biB  der  Bundesverfassung  den  Kan- 
tonen die  Verpflichtung  auferlegt  !),  den  Alkoholismus  in 
seinen  Ursachen  und  in  seinen  Wirkungen  zu  bekämpfen  und 
ihnen  zu  diesem  Zweck  den  Alkoholzehntel  zur  Verfügung  stellt, 

beschliessen : 
Das  Centralcomite  wird  ersucht,  sich  mit  den  andern 
schweizerischen  antialkoholischen  Gesellschaften  über  eine 
gemeinschaftliche  Aktion  zu  verständigen,  vermittelst  welcher 
in  allen  öffentlichen  Schulen  der  Schweiz  ein  antialkoholischer, 
den  Gefahren  der  alkoholischen  Ansteckung  vorbeugender  und 
dem  dermaligen  Stand  der  Wissenschaft  über  diese  ernste 
Frage  entsprechender  Unterricht  eingeführt   werden  könnte. 


!)  Art.  32*»8,  §  4.  Die  Kantone  sind  verpflichtet,  wenigstens 
10  %  der  Einnahmen  des  Alkoholmonopols  zur  Bekämpfung  des 
Alkoholismus  in  seinen  Ursachen  und  Folgen  zu  verwenden. 


538  Jahresbericht  1899. 

II. 
Einschränkungen  des  Absynth-Konsums. 

Die  am  12.  Juli  1899  in  Bern   versammelten  Mitglieder 
des  Vereins  des  Blauen  Kreuzes,  in  Erwägung, 

1.  dass  alle  wissenschaftlichen  Arbeiten  in  neuester  Zeit 
übereinstimmend  den  Absynth,  sowie  alle  sogenannten  Essen- 
zen, deren  Typus  er  ist,  als  das  schädlichste  und  giftigste 
aller  alkoholischen  Getränke  bezeichnen,  nicht  nur  wegen 
seines  Alkoholgehaltes,  sondern  besonders  wegen  den  Sub- 
stanzen, die  ihm  seinen  Geschmack  geben; 

2.  dass  er  durch  Schwächung  des  Verstandes,  des  Ge- 
dächtnisses und  der  Willenskraft  und  durch  impulsive  Hallu- 
cinationen  mehr  als  jedes  andere  alkoholische  Getränk  zum 
Verbrechen  reizt; 

3.  dass  er  besonders  Nervenstörungen  verursacht,  deren 
Haupttypus  die  Epilepsie  ist  und  dass  diese  unheilvolle  Wir- 
kung nicht  nur  den  Trinker  selbst,  sondern  auch  dessen 
Nachkommen  trifft; 

4.  dass  diese  verderbliche  Wirkung  des  Absynth  auf  die 
Nachkommenschaft  für  die  Zukunft  unseres  Volkes  um  so 
furchtbarer  ist,  als  die  nervösen,  den  Verfall  der  Race  her- 
vorrufenden Störungen,  die  man  diesem  Getränk  verdankt, 
bereits  bei  jugendlichen,  im  kräftigsten  Alter  stehenden  Eltern 
eintreten,  während  die  verderblichen  Wirkungen  der  andern 
alkoholischen  Getränke  erst  in  einem  Alter  sich  geltend 
machen,    wo   an  Familienzuwachs  nicht  mehr  zu  denken  ist; 

5.  dass  der  Absynth-Konsum ,  der  früher  mehr  oder 
weniger  auf  die  Städte  und  insbesondere  auf  die  industriellen 
Centren  der  französischen  Schweiz  beschränkt  war,  sich  mehr 
und  mehr  auf  das  Land  ausdehnt  und  zu  verallgemeinern 
droht ; 

6.  dass  der  Absynth-Konsum  seine  unheilvolle  Wirkung 
auf  die  Trinker  um  so  nachhaltiger  und  verderblicher  gel- 
tend macht,  als  er  das  eigentliche  Centrum  der  Nerven  an- 
greift und  lähmt; 

7.  dass  unser  Schweizervolk  aus  Mitleid  mit  den  Opfern 
der  Nekrose  nicht  vor  Unterdrückung  der  Zündhölzchenindu- 


Verwaltung.    Alkoholregal.  589 

strie  durch  scharfe  gesetzgeberische  Massregeln1)  zurück- 
schreckte und  folgerichtig  auch  keine  grundsatzlichen  Ein- 
wendungen erheben  kann  gegenüber  einer  Produktion,  die  un- 
gleich zahlreichere  Opfer  fordert  als  der  gelbe  Phosphor; 

8.  dass  der  Art.  31  c.  der  Bundesverfassung  den  Kantonen 
das  Recht  einräumt,  das  Wirthschaftswesen  und  den  Klein- 
handel mit  geistigen  Getranken  der  durch  das  öffentliche 
Wohl  geforderten  Beschrankung  zu  unterwerfen,  und  dass 
das  öffentliche  Wohl  durch  den  fortwährend  in  Zunahme  be- 
griffenen Absynth-Konsum  im  höchsten  Grade  gefährdet  ist 
und  wirkungsvolle  Massregeln  zu  dessen  Einschränkung  sich 
gebieterisch  aufdrängen, 
be8chliessen : 

Das  Centralcomite  wird  ersucht,  über  die  geeigneten 
Mittel  und  Wege  zu  berathen,  durch  welche  das  schweizerische 
Volk  und  ßeine  Behörden,  die  eidgenössischen  wie  die  kan- 
tonalen, dazu  gebracht  werden  könnten,  durch  energische 
Massregeln  im  Wege  der  Gesetzgebung  und  der  Verwaltung 
den  Absynth-Konsum  einzuschränken  in  den  Kantonen,  wo 
er  bereits  Verbreitung  gewonnen  hat,  und  in  den  andern 
Kantonen  dem  Uebel  in  seinen  Anfängen  zu  wehren. 

Sie  ladet  das  schweizerische  Central-Comite  ein,  sich  zu 
diesem  Behuf  mit  allen  antialkoholischen  und  mit  andern  Ge- 
sellschaften, die  etwa  zur  Mitwirkung  bereit  wären,  in  Ver- 
bindung zu  setzen,  um  einer  mächtigen  Kundgebung  des 
Volkswillens  zur  Ergreifung  notwendiger  Massnahmen  zu 
rufen.» 

Aus  Canada  kommt  diesfalls  folgende  Nachricht: 

cOn  a,  maintenant,  au  complet  le  vote  du  peuple  canadien 
sur  la  prohibition  de  l'alcool. 

II  s'agit  d'une  prohibition  absolue,  s'il  vous  plait,  de 
toutes  boissons  alcooliques  quelconques.  Elle  comprend  aussi 
bien  la  fabrication,  que  l'importation  et  la  vente. 

De  tous  les  votes  de  ce  genre,  c'est  le  plus  radical.  Les 
Etats  prohibitionnistes  de  l'Union  americaine  ont  pu  interdire 

')  Bundesgesetz  rom  2.  November  1898  über  Fabrikation  und 
Verkauf  von  Zündhölzchen. 


540  Jahresbericht  1899. 

ia  fabrication  et  la  vente,  mais  non  pas  l'importatfon,  le  re- 
gime douanier  relevant  de  la  tegislation  föderale.  Au  Canada, 
le  peuple  s'est  interdit  m6me  l'importation. 

Des  huit  provinces  du  Dominion,  les  sopt  provinces  anglo- 
eaxonnes,  avec  3,5  millions  d'habitants,  ont  vote*  l'interdiction 
ä  60,000  voix  de  inajoritä. 

La  province  fran^aise  de  Quebec,  avec  1,5  million  d'ha- 
bitants l'a  reponssäe  a  une  mojorite*  de  51,000  voix. 

En  sorte  que  la  majoritä  pour  l'ensemble  du  pays  est  de 
11,600  voix. 

Ge  n'est  pas  un  chiffre  tres  fort  et  on  se  demande  si, 
cela  6tant,  il  sera  possible  d'imposer  la  prohibition  a  la  pro- 
vince de  Quebec  qui  s'y  est  monträe  si  nettement  hostile. 

Näanmoins,  il  est  remarquable  de  voir  un  peuple  de 
5  millions  d'habitants  dätenant  un  territoire  de  dix  millions 
tle  kilometres  carräs  s'imposer  volontairement  une  pareille 
privation. 

Cela  dönote  assuröment  chez  les  Canadiens  une  Energie 
peu  commune.»     (Gazette  de  Lausanne.) 

Dagegen  enthält  ein  Berliner-Feuilleton  ein  Lob  des 
Bieres  und  Münchens,  das  wir,  als  Zeichen  unserer  an  Ver- 
kehrtheiten aller  Art  reichen  Zeit  auch  abdrucken  wollen. 

«Wo  ist  der  Grund  dieser  merkwürdigen  Harmonie  und 
Ausgeglichenheit  in  der  Bevölkerung  und  in  dem  Leben 
Münchens,  die  wie  eine  grüne  Oase  aus  der  Däcadence  des 
sie  umgebenden  Europa  hervorleuchtet?  So  paradox  es 
klingen  mag,  ich  wage  es  zu  wiederholen :  nichts  anderes  ist 
der  Grund  als  das  Münchener  Bier!  Der  deutsche  National- 
trank hat  das  deutsche  Volk  in  Gesundheit,  Jagend  und 
Kraft  erhalten.  Das  Bier  ist  der  grosse  Ausgleicher:  der 
physische  Ausgleicher  durch  Vermittlung  des  Magens,  der 
geistige  Ausgleicher  durch  Vermittlung  der  Nerven  und  der 
soziale  Ausgleicher  durch  seine  Nahrhaftigkeit  und  Billigkeit. 
So  erhält  es  den  Körper  kraftvoll  und  gesund,  den  Geist  im 
Gleichgewicht  unbewusster  Instinkte  und  bewusster  Gedanken, 
den  ganzen  Menschen  also  im  Gleichgewicht  der  Nerven  und 
des  Blutes,  und  den  Staatskörper  gewissermassen  im  Gleich- 
gewicht der  sozialen  Gegensätze.  Als  die  Griechen  aus  einem 


Verwaltung.    Alkoholregal.  541. 

thätigen  Volk  zu  einem  denkenden  geworden  waren,  unter- 
lagen sie  den  Römern.  Als  diese  ein  denkendes,  d.  h.  über- 
reifes nnd  dekadentes  Volk  geworden  waren,  unterlagen  sie 
den  jugendkräftigen  Deutseben.  Und  da  sich  das  deutsche 
Volk  Jugend  und  Gesundheit  erhielt,  unterlag  ihm  jetzt  der 
Erbfeind,  das  dekadenteste  Volk  des  heutigen  Europa. 

Des  Deutschen  Nationaltrank,  das  Bier,  ist  gewiss  ein 
Grund,  dass  sich  das  deutsche  Volk  so  lange  in  Jugend  und 
Gesundheit  erhielt.  Darum  sehen  wir  diese  Vorzüge  am 
deutlichsten  bei  dem  Münchener  Volk,  in  dessen  Stadt  das 
herrlichste  aller  Biere  gebraut  wird.  Das  Bier  erhält  die 
physische  und  darum  auch  die  geistige  Natur  des  Menschen 
im  steten  Gleichgewicht.  Den  allzu  unbewnssten,  instinktiven, 
beschränkten  Menschen  stachelt  es  zur  Thatkraft  auf,  und 
den  allzu  bewussten,  nervösen  Gehirnmenschen  des  fin  de 
siecle  entlastet  es  von  dem  Uebergewicht  des  Denkens  und 
macht  ihn  wieder  zur  That  fähig.  Das  Bier  befreit  von  un- 
gesunden Extremen  und  schafft  Sinn  und  Kraft  für  das  reale 
und  thätige  Leben.  Nirgends  fand  ich  so  viele  Tugenden  der 
Gesundheit,  als  da  sind:  Einheitlichkeit,  Muth,  Einsicht  und 
Lebenslust,  Vcrständniss  und  Liebe  auch  für  das  Anders- 
geartete, und  Höflichkeit,  wie  beim  Münchener.  Dort,  wo 
das  beste  deutsche  Bier  fliesst,  blüht  auch  einer  der  besten 
deutschen  Volksstämme:  der  Bayer.  Kraft  und  dabei  doch 
ein  heiterer,  fast  buddhistischer  Gleichmuth  sind  die  Grund- 
züge des  Münchener  Volkscharakters.  «Weil's  gleich  ist» 
und  < Schön  muss  's  geh'n»  sind  ihre  bezeichnenden  Lokal* 
Sprichwörter.  Frei  vom  wienerischen  Leichtsinn  und  von 
wienerischer  Sentimentalität  —  frei  von  norddeutscher  Härte 
und  Aufgeblasenheit,  repräsentirt  der  Münchener  und  über- 
haupt der  Bayer  in  seiner  Gelassenheit,  heiteren  Weisheit,. 
Lebensfreudigkeit  und  urgesunden  Festigkeit  eine  der  schön- 
sten und  tüchtigsten  deutschen  Menschentypen.  Er  ist  im 
Innern  wie  seine  Stadt:  geräumig,  hell,  heiter  und  fest! 
Man  möchte  der  ganzen  deutschen  Nation  zurufen:  In  bia 
signis  vinces !» 

Das   deutsche  Volk   wird  diesen   «Sieg»,    der  ihm  jetzt 

schon  jährlich  21'*  Milliarden  Mark,  abgesehen   von  der  Ge~ 


£42  Jahresbericht  1899. 

sundbeit  und  Idealität  von  Millionen  seiner  Bewohner  kostet, 
noch  schwer  bezahlen  müssen. 

Es  wird  auch  bei  uns  erst  besser  werden,  wenn  es  ein- 
mal schlecht  genug  geworden  ist,  um  auch  die  bisher  Gleich- 
gültigen zu  überzeugen.  Das  Ziel,  das  vorläufig  anzustreben 
ist,  ist  eine  Verbesserung  des  Alkoholgesetzes  und  sodann 
die  Freiheit,  für  jede  Gemeinde  die  Wirthschaften  und  den 
Alkoholgenuss  überhaupt  nach  ihrem  Gutfinden  zu  beschrän- 
ken oder  zu  verbieten,  ohne  dass  sie  durch  allgemeine  Ge- 
setze oder  Verfassungsartikel  betreffend  Gewerbefreiheit  darin 
gehindert  werden  kann.  Man  sollte  diese  Schädlichkeiten 
wenigstens  lokal  und  gemeindeweise  verbieten  können,  so  wie 
sie  in  einer  Familie  ausgeschlossen  werden  können.  Zunächst 
aber  sollten  einmal  die  Aerzte,  die  Irrenärzte,  die  Geist- 
lichen und  die  Frauen  viel  entschiedener,  als  bisher,  gegen 
dieses  Uebel  auftreten. 

Statistisches  über  den  gegenwärtigen  Zustand  ist 
folgendes:  Das  vom  Bundesrath  festgestellte  Betriebsbudget 
dieser  Verwaltung  für  das  Jahr  1900  sieht  vor:  Einnahmen 
Fr.  13,595,000,  Ausgaben  Fr.  7,085,000,  somit  Einnahmenüber- 
schuss  Fr.  6,510,000.  Der  Bundesrath  schlägt  vor,  diese 
Summe  wie  folgt  zu  verwenden:  Saldovortrag  für  1901 
Fr.  56,665,  Vertheilung  unter  die  Kantone  Fr.  6,453,335  oder 
Fr.  2.20  per  Kopf  der  Bevölkerung.  Der  Beinertrag  wird 
in  nachstehender  Weise  an  die  Kantone  vertheilt:  Zürich 
Fr.  745,923.  20,  Bern  Fr.  1,186,691,  Luzern  Fr.  298,588.  40, 
Uri  Fr.  38,027,  Schwyz  Fr.  110,831.  60,  Obwalden  Franken 
33,066,  Nidwaiden  Fn  27,544,  Glarus  Fr.  74,346.  80,  Zug 
Fr.  50,870.  60,  Freiburg  Fr.  262,963.  80,  Solothurn  Franken 
188,559.  80,  Baselstadt  Fr.  163,339,  Baselland  Fr.  136,738. 80, 
Schaffhausen  Fr.  83,327.20,  Appenzell  A.  Rh.  Fr.  119,222.  40, 
Appenzell  I.  Rh.  Fr.  28,388.  80,  St.  Gallen  Fr.  504,607.  40, 
Graubünden  Fr.  211,717,  Aargau  Fr.  426,434.  80,  Thurgau 
Fr.  231,266.  20,  Tessin  Fr.  279,281.  20,  Waadt  Fr.  552,853.40, 
Wallis    Fr.    224,041. 40,    Neuenburg   Fr.  239,881. 40,    Genf 


Verwaltung.    Alkoholregal.    Telegraph.    Telephon.        543 

Franken  234,823.  60.  Total  Franken  6,453.334.  80.  Seit  Ein- 
fahrung dieses  Monopols  haben  die  Kantone  nnd  Octroi- 
gemeinden  bis  Ende  1898  im  Ganzen  Franken  61,522,769.  70 
bezogen.  Rechnen  wir  hiezu  den  Saldo  der  Betriebsrechnung 
für  1898  (Fr.  65,380.  03),  so  erhalten  wir  mit  Fr.  61,588,149.  73 
die  Summe,  welche  das  Alkoholmonopol  bis  jetzt  über  die 
Amortisationen   und  Abschreibungen   hinaus  abgeworfen  hat. 

Diese  Alkoholeinnahmen  sind  jetzt  das  grösste  Hinder- 
niss  einer  gründlichen  Verbesserung  der  Sache. 

Ueber  die  Rückvergütungen  bei  Ausfuhr  flüssiger  Alkohol- 
fabrikate enthält  das  Bandesblatt  1899  Nr.  8  eine  neue  Ver- 
ordnung. 

Auch  der  Missbrauch  des  Tabaks,  namentlich  durch  die 
Jugend,  scheint  allmahlig  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  zu 
ziehen.  Der  «Corriere  della  Sera>  von  Mailand  enthielt  unter 
dem  1.  Oktober  folgenden  kleinen  Artikel: 

«II  tabacco  al  Congresso  d'igiene  di  Como 

Ci  mandano  da  Como,  28  settembre: 

Oggi,  al  Congresso  d'igiene,  su  proposta  del  dottor  R. 
Massalongo,  direttore  deirOspedale  Maggiore  di  Verona,  trat- 
tandosi  del  tabacco  dal  punto  di  vista  igienico  e  sociale, 
venne  approvato  un  ordine  del  giorno  concludente  cosi: 

«II  Congresso  esprime  l'opinione  essere  addirittura  ur- 
gente iniziare,  e  con  ardore,  una  Lotta  contro  l'abuso  del 
tabacco,  per  rimediare  ai  danni  attuali  e  per  preservarci  per 
l'awenire  da  conseguenze  peggiori. 

«Fa  voti  che  dalle  autoritä  competenti  venga  emanata 
una  legge,  e  relativo  regolamento,  per  combattere  l'abuso  dol 
tabacco  ed  attenuarne  le  conseguenze  sulla  salute  pubblica, 
sia  col  rendere  obligatoria  l'istruzione  nelle  scuole  pubbliche 
e  private  di  nozioni  elementari  d'igiene,  illuminando  i  giovani 
sui  pericoli  dell'uso  del  tabacco  o  con  qualunque  altro  me- 
todo  di  Propaganda,  sia  col  proibire  la  vendita  di  tabacchi 
che  non  sieno  stati  accuratamente  depurati,  o  col  favorire 
quella  di  tabacchi  esotici  che  contengano  minime  quantita  di 
nicotina.» 

Telegraph    und    Telephon.    Während   der   interne 


544  Jahresbericht  1899. 

Telegraphenverkehr  der  Schweiz  seit  einer  Reihe  von  Jahren 
einen  beständigen  Rückgang  zeigte,  konstatirt  der  Jahresbe- 
richt der  Telegraphen  Verwaltung  für  das  Jahr  1898  eine 
Vermehrung  der  internen  Telegramme  um  19,386,  oder  1,16 
Prozent,  welche  Vermehrung  grossentheils  durch  längere 
Störungen  des  Telephon  Verkehrs  (Schneefälle,  Brand  der  Zürcher 
Telephoncentrale)  hervorgerufen  wurde.  Die  rapid  zuneh- 
mende Vermehrung  der  Telephonabonnemente  der  letzten  Jahre 
ist  dagegen  im  Jahre  1898  ausgeblieben.  Statt  4000,  wie  das 
Budget  voraussah,  betrug  die  Vermehrung  der  Abonnenten- 
zahl bloss  3072.  Die  Gesammtzahl  der  auf  das  Jahresende 
bestehenden  Telephonabonnemdnte  beträgt  31,918.  Die  Ein- 
nahmen der  Telephonverwaltung  reichten  nicht  aus,  um  die 
vorgeschriebene  ordentliche  Amortisation  des  Baukontos  mit 
15°/o  zu  decken,  während  der  Telegraphenbetrieb  über  die 
auf  ihn  fallende  gleich  hohe  Amortisationsquote  hinaus  noch 
einen  Aktivsaldo  abwarf.  Die  Gesammtzahl  der  beförderten 
und  empfangenen  internen,  internationalen  und  Transittele- 
gramme betrug  3,820,320  gegen  3,729,194  im  Jahre  1897, 
das  Total  aller  telephonischen  Vermittlungen  19,969,576, 
gegen  19,227,948  im  Vorjahre.  Die  weitaujs  höchste  Zahl 
von  Gesprächen  weist  das  Telephonnetz  Zürich  auf,  nämlich 
3,5  Mill.;  es  folgen  Basel  mit  2,7  Mill.,  Genf  mit  2,2,  Bern 
mit  1,4  und  Lausanne  mit  1,1  Mill. 

Ueber  die  elektrischen  Leitungen  liegt  ein  Gesetzesent- 
wurf  den  Eidg.  Räthen  vor;  eine  Verordnung  über  Einrich- 
tung von  Telegraphenbureaux  und  Gemeinde-Telephonstationen 
vom  8.  Nov.  1898  findet  sich  in  der  E.  G.  S,  XVI,  862  ab- 
gedruckt. 

Die  nationalräthliche  Kommission  regte  für  Post,  Tele- 
graph und  Eisenbahnen  die  italienische  24  Stunden-Zählung 
an,  die  auch  in  Belgien  besteht.    Das  ist  schon  bei  der  Be- 


Verwaltung.    Mass  und  Gewicht.  545 

Stimmung  der  mitteleuropäischen  Zeit  abgelehnt  worden.  Eine 
Vereinfachung  wäre  es  nur  für  den  Eisenbahndienst,  aber 
das  bürgerliche  Leben  widersteht  dem  auch  selbst  in  Italien 
noch;  es  würde  auch  bei  uns  Widerstand  leisten.  Esmüssten 
jedenfalls   noch   andere  Staaten  vorläufig  beitreten. 

Mass  und  Gewicht.  Die  nationalräthliche  Geschäfts- 
prüfungskommission schlug  im  Juni  1899  vor,  es  solle  die 
Mass-  und  Gewichtsbestimmung  ausgedehnt  werden  auf  die 
Masse  für  Gas-,  Wasser-  und  elektrische  Kraft. 

Münze.  Im  Geschäftsbericht  des  eidgenössischen  Finanz- 
departeinents  über  die  Staatskasse  für  das  Jahr  1898  liest 
man : 

«Im  Dezember  trafen  wir  mit  der  Bank  von  Frankreich 
eine  Vereinbarung,  wonach  dieselbe  uns  während  des  ersten 
Semesters  des  laufenden  Jahres  monatlich  je  Fr.  100,000,  so- 
viel als  möglich  in  schweizerischen  Silberscheidemünzen,  liefern 
wird.  Die  Leichtigkeit,  mit  welcher  Frankreich  im  Stande 
war,  uns  die  oben  erwähnten  Beträge  zur  Verfügung  zu 
stellen,  sind  ein  Beweis,  dass  eine  lebhafte  Ausfuhr  von  Sil- 
berscheidemünzen^  aus  der  Schweiz  nach  diesem  Laude  statt- 
findet ;  aber  es  ist  ebenso  schwierig  zu  ermitteln,  auf  welche 
Weise  sie  sich  vollzieht,  als  ihr  wirksam  entgegenzutreten. 
Es  bleibt  uns  also  nichts  anderes  übrig,  als  unsere  Münzen 
jeweilen  wieder  zurückkommen  zu  lassen,  was  leider  nicht 
ohne  erhebliche  Kosten  möglich  ist.» 

Das  Verbot  der  Einfuhr  italienischer  Silberscheidemünzen 
vom  21.  Februar  1899  findet  sich  in  E.  G.  S.  XVII,  67.  Die 
Strafe  für  Uebertretung  des  Verbots  ist  die  Konfiskation  der 
Münzen. 

Ueber  die  beständig  vorhandene  grosse  Frage  der  Silber- 
entwerthung   und    Goldwährung    enthielt  ein   Artikel  der 

35 


546  Jahresbericht  1899. 

N.  Z.  Z.  folgende  Notiz,    die   mit  der  Voraussicht   der  Ein- 
führung der  Goldwährung  für  Indien  schliesst. 

«Als  am  26.  Juni  1893  die  Eegierung  von  Britisch-Indien 
die  Prägung  der  Silber-Rupie  einstellte,  wurde  dieser  Be- 
schluss  als  eine  währungspolitische  Begebenheit  ersten  Banges 
allgemein  gebührend  berücksichtigt.  Der  Abfall  Indiens,  des 
Silberlandes  par  excellence,  vom  weissen  Metall  brachte  einen 
mächtigen  Preisfall.  Innerhalb  acht  Tagen  sank  der  Preis 
in  London  von  Sh.  38  auf  32.  Diejenigen  aber,  die  eine  Er- 
holung nach  vorübergehendem  Sinken  voraussahen,  haben 
sich  getäuscht.  Denn  heute  ist  die  Londoner  Notirung  des 
Silbers  27  Sh.,  was  einem  Verhältniss  des  Goldes  zum  Silber 
von  1  :  34,9  entspricht,  während  bekanntlich  das  sogenannte 
klassische  und  der  lateinischen  Münzunion  zu  Grunde  gelegte 
Werthverhältniss  1  :  1572  beträgt.  In  Goldwerth  ausge- 
drückt beträgt,  darnach  heute  der  Werth  eines  Silberfrankens 
nur  mehr  41,2  Centimes.» 

Ueber  die  Einführung  der  Goldwährung  in  Amerika  wird 
folgendes  berichtet  (N.  Z.  Zeitung): 

«Die  amerikanische  Währung  leidet  an  zwei  Grundübeln. 
Das  eine  ist,  dass  die  Hälfte  des  geprägten  Geldes  aus  Silber- 
münzen besteht,  die  auf  weniger  als  die  Hälfte  ihres  Nenn- 
werthes  gesunken  sind  und  doch  ebenso  in  Zahlung  genommen 
werden  müssen  wie  Gold.  Das  andere  Uebel  ist  der  Umlauf 
einer  grossen  Menge  ungedeckten  Staatspapiergeldes  mit 
Zwangskurs,  das  jedoch  an  der  Kasse  des  Schatzamts  jeder- 
zeit einlösbar  ist.  Man  wird  zugeben,  dass  eine  solche  Zettel- 
wirthschaft,  wie  sie  in  Europa  nur  noch  einige  halbbankerotte 
Staaten  betreiben,  für  ein  wirthschaftlich  so  hochstehendes 
Land  etwas  unrühmliches,  geradezu  gefährliches  hat.  In 
seinem  Finanz-Expose*  vom  Dezember  1897  ist  Schatzsekretär 
Gage  von  dem  Grundgedanken  ausgegangen,  dass  die  tra- 
ditionelle Goldreserve  der  Vereinigten  Staaten  von  100  Mill. 
Dollars,   die   während   der  letzten  Geldkrisis   in   der  Union 


Verwaltung.    Münze.  547 

theilweise  bis  unter  70  Mill.  Dollars  gesunken  war,  nicht 
ausreicht,  um  den  Verbindlichkeiten  der  Regierung  von  rund  930 
Mill.  Dollars  zu  entsprechen.  Der  springende  Punkt  in  den 
Vorschlagen  des  Schatzsekretars  war  die  Bestimmung,  dass 
die  Noten  der  Vereinigten  Staaten,  nachdem  sie  in  Gold  ein- 
gelöst seien,  nur  gegen  Gold  wieder  ausgegeben  werden  sollen. 
Seine  Vorschlage  zur  Reform  der  Nationalbankgesetzgebung 
gingen  hauptsachlich  dahin,  die  Banken  sollen  Noten  zum 
Pariwerth  der  Rückzahlungsfonds  ausgeben  dürfen,  wenn  sie 
diese  im  Schatzamt  hinterlegen.  Ferner  sollen  die  Banken  als 
Sicherheit  beim  Schatzamte  Greenbacks,  Schatzamtnoten  oder 
Silbercertificate  bis  zum  Gesammtbetrage  von  200  Mill.  Dollars 
hinterlegen  dürfen,  wogegen  ihnen  sogleich  Nationalbanknoten 
im  gleichen  Betrage  ausgefolgt  werden. 

Nun  hat  jüngst  das  Komite  der  republikanischen  Partei 
«ine  Resolution  beschlossen,  welche  die  hauptsächlichsten  For- 
derungen folgendermassen  zusammenfasst :  Alle  von  der  Re- 
gierung ausgegebenen  Obligationen  müssen  auf  Verlangen  in 
Gold  zurückbezahlt  werden.  Greenbacks  können,  wenn  die- 
selben gegen  Gold  eingelöst  wurden,  ausschliesslich  gegen 
Einlieferung  von  Gold  wieder  ausgegeben  werden.  Die  Na- 
tionalbanken, welche  bisher  für  90  Procent  der  von  den- 
selben beim  Staatsschatze  deponirten  Regierungsbonds  Noten 
ausgeben  durften,  sollen  nunmehr  eine  Erweiterung  dieser 
Emissionsbefugniss  bis  zum  vollen  Betrage  erhalten.  Das 
gesetzlich  fixirte  Minimalkapital  der  Nationalbank  soll  auf 
die  Hälfte  reduzirt  werden. 

Diese  Beschlüsse  decken  sich  in  den  Hauptpunkten  mit 
-denjenigen  des  Schatzsekretärs  Gage.  In  der  amerikanischen 
Presse  finden  die  Vorschläge  getheilte  Aufnahme;  sogar 
Freunde  der  Goldwährung  bezeichnen  sie  vielfach  als  lahm 
und  unzureichend.  Dieser  Plan  wurde  überhaupt  nur  ange- 
nommen, weil  sich  als  unmöglich  erwies,  über  radikalere  Mass- 
nahmen eine  Verständigung  herbeizuführen. 

Das  Wahrungsproblem  —  so  hat  es  den  Anschein  — 
wird  vor  der  im  nächsten  Jahre  stattfindenden  Präsidenten- 
wahl wohl  kaum  eine  merkliche  Förderung  erfahren ;  es  werden 
sich   dann  voraussichtlich   dieselben  Kandidaten  wie  bei  der 


548  Jahresbericht  1899. 

letzten  Wahl  messen,  Mc  Einley  als  Kandidat  der  Goldwäh- 
rungspartei und  Bryan  als  Kandidat  der  Silbermänner.* 

Ueber  die  Banknotenemission  enthält  der  offizielle 
Bericht  folgende  Angabe  : 

«Wahrend  die  Notencirculation  im  Jahresdurchschnitt 
1871—1880  66,973,000  Franken,  oder  Fr.  24.  30  pro  Kopf 
der  Bevölkerung*  und  im  Jahresdurchschnitt  der  Jahre  1881 
bis  1890  123,754,000  Franken,  oder  Fr.  42.  65  pro  Kopf  der 
Bevölkerung  betrug,  ist  sie  bis  zum  Jahre  1898  auf  207,665,000 
Franken,  oder  Fr.  68. 40  pro  Kopf  der  Bevölkerung  gestiegen. 
Gegenüber  dem  Jahre  1897  weist  das  Jahr  1898  eine  Ver- 
mehrung der  Notencirkulation  um  Fr.  8,250,000,  oder  Fr.  2. 50 
per  Kopf  der  Bevölkerung  auf.  Im  zehnjährigen  Durchschnitt 
1881—1890  betrug  das  Verhältniss  zwischen  Baarvorrath 
und  ausgewiesener  Cirkulation  53,3  °/0,  im  fünfjährigen  Durch- 
schnitt 1891—1895  53,2%,  im  Jahre  1896  50,3  o/0)  im  Jahre 
1897  50,l°/0  und  endlich  im  letzten  Jahre  50,2  °/0. 

Die  grosse  Frage  der  Bundesbank  wird  durch  die  in 
den  letzten  Monaten  des  Jahres  1899  eingetretene  Geld- 
knappheit, verbunden  mit  starker  Erhöhung  des  Zinsfusses 
und  allerlei  Krachgerüchten,  besonders  in  Zürich,  nun  zu 
einer  brennenden  werden.  Sie  hängt  dermalen  bei  dem 
Ständerath.  Bei  der  Berathung  des  Geschäftsberichts  in  dieser 
Behörde  im  Juni  d.  J.  fand  eine  lebhafte  «Valuta-Debatte» 
statt,  in  welcher  sich  der  treffliche  Vorsteher  des  eidg.  De- 
partements (dem  wir  nur  nicht  in  seiner  ausgesprochenen  Vor- 
liebe für  eine  reine  Staatsbank  beistimmen  können)  u.  a.,  wie 
folgt,  vernehmen  Hess : 

«Eine  schweizerische  Landesbank  werde  die  Ausgabe  der 
circulirenden  Noten  nach  den  wirklichen  Bedürfnissen  regliren 
und  damit  am  besten  dafür  sorgen,  dass  das  baare  Geld  nicht 
durch  das  Papiergeld  zum  Lande  hinausgedrängt  werde,  und 


Verwaltung.    Banknoten.    Bundesbank.  549 

die  unnütze  und  spesenreiche  Herumsendung  von  Baarschaft 
im  Lande  herum  von  einer  Bank  zur  andern  gegen  Einlösung 
der  verschiedenen  Notenbanken  unter  sich  würde  dadurch 
aufhören  —  das  wird  genauer  bei  Berathung  des  Bankge- 
setzes dargethan  werden.  Künstliche  Abhülfe  für  die  gegen- 
wärtigen Uebelstände  wäre  auch  in  der  Weise  möglich,  wie 
Italien  sie  schuf,  das  ein  Ausfuhrverbot  für  seine  Silber- 
scheidemünze erliess,  dabei  aber  gezwungen  war,  sie  nach 
dem  Einzug  erst  recht  in  die  Kassen  zu  verscbli essen.  Ein 
zweites  Mittel  wäre  der  Rücktritt  von  der  lateinischen  Münz- 
union und  Einführung  der  Goldwährung;  dann  könnten  wir 
schweizerische  Thaler  prägen  und  im  Lande  behalten,  so  viel 
uns  gut  schiene;  wir  stünden  dann  aber  so  isolirt  da,  wie 
Rumänien,  und  die  Frage  braucht  kaum  erörtert  zu  werden, 
ob  dadurch  unser  «Kurs»  besser  würde  oder  ob  wir  nicht 
viel  mehr  einbüssen  müssten,  als  gegenwärtig.  Deshalb  hat 
ausser  Herrn  Dr.  Nationalrath  Joos  noch  niemand  diesen 
Ausweg  beschreiten  wollen. 

Uebrigens  sind  neben  den  zu  vielen  Banknoten,  welche 
gegenwärtig  beständig  in  Circulation  erhalten  werden  und 
den  Abschab  des  Baargeldes  befördern,  und  neben  den  Ur- 
sachen, die  man  der  Handelsbilanz  entnimmt,  auch  noch  die 
Bezüge  auf  unsere  schweizerischen  Handelsbanken  vom  Aus- 
lande her  mit  schuld  daran,  dass  fremde  Devisen  (zur  Deckung) 
gesucht  sind  und  deren  Kurse  daher  seit  geraumer  Zeit  so 
hoch  stehen.» 

Die  reine  Staatsbank  hat  dermalen  jedenfalls  keine  Aus- 
sicht auf  Erfolg,  auch  bei  dem  Ständerathe  nicht.  Es  wird  sich 
zwar  immer  um  ein  mehr  oder  weniger  annäherndes  Gebilde  han- 
deln, das  aber  dennoch  dem  juristischen  Charakter  eines  Staats- 
instituts möglichst  ausweicht  und  dafür  den  Anforderungen 
der  Geschäftswelt  an  ein  solides,  gut  geleitetes  und  von  po- 
litischen Einflüssen  möglichst  freies  Geschäftsinstitut  um  so 
besser  entspricht.  In  dieser  Richtung  erklärte  die  konserva- 
tive Genfer  «Suisse»,  sie  halte  das  neue  Bundesbankprojekt 
nur   unter   zwei  Bedingungen   für  annehmbar:    dass  die  Be- 


560  Jahresbericht  1899. 

Stimmung  wegfalle,  wonach  die  Eidgenossenschaft  von  vorn- 
herein die  allfällig  nicht  gezeichneten  Kapitalbetrage  der 
Kantone  oder  Privaten  übernehmen  kann,  und  dass  die  Wahl 
der  Direktoren,  statt  dem  Bundesrath  dem  Bankrath,  and  die 
Wahl  der  Kreisdirektoren  den  Kreiskomites  übertragen  werde. 

Eisenbahnen.  Das  schweizerische  Eisenbahnnetz 
hatte  bei  Beginn  des  vorigen  Jahres  3997  lfe  Kilometer  Länge, 
wovon  2530  den  5  grossen  Gesellschaften  angehören,  die  zu- 
rückgekauft werden  ;  bloss  491  Kilometer  davon  haben 
doppelte  Spur. 

Der  Beschluss  vom  19.  August  1892  über  Verstärkung 
der  schweizerischen  Eisenbahnbrücken,  welcher  nach  dem  Un- 
glück von  Mönchenstein  gefasst  wurde,  ist  noch  immer  nicht 
ganz  durchgeführt;  die  Bahngesellschaften  sollten  viel  rück- 
sichtsloser dazu  angehalten  werden. 

Ebenso  steht  es  mit  den  Niveau-Uebergängen  in  den 
grösseren  Städten,  die  die  Bahnverwaltungen  auch  möglichst 
hinausschieben.  Das  Rollmaterial  steht  ebenfalls  noch  um 
10°/0  hinter  dem  zurück,  was  der  Bundesrath  für  nöthig 
hält.  Ebenso  ist  für  das  Arbeitsgesetz  nach  Ansicht  der  na- 
tional räthlichen  Kommission  über  den  Geschäftsbericht  des 
Eisenbahn -Departements  eine  rücksichtslosere  Ausführung 
wünschenswerth.  Auf  dem  Netze  der  schweizerischen  Normal- 
bahnen,  d.  h.  der  5  Hauptbahnen  und  18  normalspnrigen  Ne- 
benbahnen, befand  sich  auf  Ende  1898  folgendes  Rollma- 
terial: 876  Lokomotiven  (1897:  858),  2215  Personenwagen 
(2154),  680  Gepäck-  und  Postwagen  (634)  und  11,817  Güter- 
wagen (11,090).  221  Postwagen  gehören  der  eidgenössischen 
Postverwaltung. 

Auf  den  1.  November  1899  trat  für  die  schweizerischen 
Eisenbahnen  ein  neues  Signalreglement  und  Signalbach  in 


Verwaltung.    Eisenbahnen.  551 

Kraft.  Dieselben  bringen  im  Gegensatze  zu  den  bisherigen 
eine  grosse  Reihe  von  Abänderungen  und  Neuerungen.  Bei 
der  Wichtigkeit,  welche  der  Signaldienst  für  den  ganzen 
Eisenbahnbetrieb  hat,  ist  das  neue  Signalreglement  für  die 
Bisenbahner  eine  vielbesprochene  Erscheinung.  Znr  Verwen- 
dung kommen,  wie  bisher,  optische  und  akustische  Signale. 
Die  verschiedenen  Signalmittel  bestehen  in  grünen,  weissen, 
rothen  und  blauen  Signalscheiben,  Signalflaggen,  Tafeln  etc. 
Diesen  Signalen  entsprechen  Nachts  weisse,  rothe,  grüne,  vio- 
lette Laternen.  Die  Signale  werden  in  wechselnder  Weise 
kombinirt,  ausserdem  variirt  ihre  Bedeutung  je  nach  der 
bahnlichen  Einrichtung,  mit  der  sie  im  Zusammenhang  stehen 
(Semaphor,  Weichen,  Abschlusssignale  etc.).  Ausserdem  wer- 
den  Signale  durch  Hornrufe,  Armbewegrungen  und  mit  Knall- 
erbsen abgegeben.  Dazu  kommen  andere  akustische  Signale, 
die  vermittelst  Schrillpfeifen,  Mundpfeifen,  Lokomotivpfeifen, 
Laut-  und  Rasselwerken  abgegeben  werden.  Auch  diese  Sig- 
nale kommen  in  allen  möglichen  Kombinationen  vor.  Das 
neue  Signalreglement  schreibt  vor,  dass  zwar  die  nöthigen 
Signale  abgegeben,  dabei  aber  jedes  unnütze  Signaiiren  und 
jeder  überflüssige  Lärm  vermieden  werden  müsse.  Diese  Vor- 
schrift wird  von  den  Anwohnern  der  Güterbahnhöfe  begrüsst 
werden.  Das  Signalbuch  enthält  70  Illustrationen,  welche 
die  Vorschriften  des  Signalreglements  in  anschaulicher  Weise 
illnstriren. 

Im  Sommer  wurde  zum  ersten  Male  eine  40  Kilometer 
lange  elektrische  Normalbahn,  Burgdorf-Thun,  er- 
öffnet. Eine  Menge  neuer  Bahnprojekte,  die  Konzession  ver- 
langen, finden  sich  im  Bundesblatt  1899,  Nr.  24,  verzeichnet. 

Das  bedeutendste  Ereigniss  des  Jahres  war  der  Ent- 
scheid des  Bundesgerichts  über  die  Grundsätze,  welche 
bei   dem  Rückkauf  der   Nordostbahn   stattfinden   sollen,   der 


552  Jahresbericht  1899. 

natürlich   auch  auf  die  anderen  zurückzukaufenden  Bahnen 

influirt.  Ein  kurzer  Bericht  darüber  in    einer    ausländischen 

Zeitung  lautete  wie  folgt: 

«Die  Nordostbahn  verlangt,  dass  ihr  als  Erwerberin  der 
ehemaligen  Nationalbahnlinie  dasjenige  Anlagekapital  ver- 
gütet werde,  welches  die  Herstellung  dieser  Linie  selbst  ge- 
kostet, und  nicht  bloss  der  Botrag,  welchen  sie  für  den  Er- 
werb bezahlt  hat.  Die  Rückkaufsbestimmungen  der  National- 
bahn konzession  sind  ihrem  Inhalt  nach  von  den  anderen  nicht 
verschieden.  Im  Jahre  1878  wurde  die  zwangsweise  Liqui- 
dation der  Nationalbahn  angeordnet.  Bei  der  Versteigerung 
wurde  die  Ostsektion  von  der  Nordostbahn  um  3  Millionen 
Franken,  die  Westsektion  um  700,000  Fr.  erworben.  Die 
Herstellungskosten  für  jene  hatten  sich  auf  14  Hill.  Fr.  und 
für  diese  auf  20  Hill.  Fr.  belaufen.  Nach  dem  Steigerungs- 
geding  übernahm  der  Erwerber  die  beiden  Sektionen  auf 
Grund  der  ursprünglichen  Konzessionsakte.  Die  Uebertragung 
der  Konzessionen  wurde,  ohne  irgendwelchen  Vorbehalt  zu 
machen,  genehmigt.  Vom  Bunde  sind  nur  die  Konzessionen 
für  die  Ostsektionslinie  Winterthur-Singen  und  Erz  weil  er- 
Konstanz gekündigt  worden.  Streitig  ist  nur  der  Anspruch 
auf  Vergütung  der  ursprünglichen  Herstellungskosten  von 
14  Millionen  Franken  an  Stelle  der  Versteigerungssurame  von 
3  Millionen,  welch  letztere  der  Bundesrath  als  Anlagekapital 
der  Nordostbahn  gelten  lassen  will.  Der  Referent  ist  der 
Meinung,  dass  dieser  Streitpunkt  auf  dem  Wege  der  Inter- 
pretation der  Verwaltungen  zu  lösen  sei.  Ein  Vorbehalt  be- 
züglich der  Berechnung  des  Anlagekapitals  im  Fall  des  Ver- 
kaufs hätte  die  Streitfrage  vermeiden  können.  Volles  Unter- 
lassen des  Vorbehalts  aber  bedeutet  keinen  Verzicht  zu 
Gunsten  der  Auslassung  der  Rekurrent  in,  wie  auch  ein  Still- 
schweigen nur  unter  besonderen  Umständen  als  Verzicht  auf- 
gefasst  werden  kann.  Die  Situation  war  beim  Uebergang 
der  Konzession  nicht  eine  derartige,  dass  ein  ausdrücklicher 
Vorbehalt  hätte  gemacht  werden  können.  Betreffs  der  Bilanz- 
aufstellung  bestehe  kein  Zweifel  darüber,  dass  die  Linien  der 
Nationalbahn  nur  zum  Ankaufswerth  unter  die  Aktiva  auf- 
genommen   werden    dürfen.    Die   Nordostbahn   habe   niemals 


Verwaltung.    Eisenbahnen.    Rückkauf.  553 

anders  gehandelt,  sonst  würde  sie  bei  der  Erhöhung  ihres 
Vermögens  um  30  Millionen  gezwungen  gewesen  sein,  den 
Vermögensüberschuss  in  Form  von  Dividenden  an  die  Aktio- 
näre zu  vertheilen,  und  da  ihr  keine  Gelder  znr  Verfügung 
standen,  würde  sie  selbst  in  Konkurs  gekommen  sein.  Es 
gilt  stets  nur  das,  was  die  Nordostbahn  für  die  Erwerbung 
der  Anlagen  ausgegeben  hat.  Die  Bundesbehörde  würde  nie, 
wenn  sie  bei  Ertheilung  einer  Konzession  oder  bei  Erlass 
eines  Gesetzes  diese  Frage  zu  lösen  gehabt  hätte,  dieselbe  im 
Sinne  der  Ansprüche  der  Nordostbahn  entschieden  haben,  und 
Niemand  würde  es  begreifen,  wenn  der  Bund  in  demselben 
Augenblick,  wo  er  den  Garantiestädten  der  Nationalbahn  noch 
finanzielle  Hilfe  angedeihen  lässt,  der  Nordostbahn  das  volle 
Kapital  auszahlt,  welches  für  die  Gläubiger  der  Nationalbahn 
verloren  gegangen  ist.  Die  Znsicheruug  der  Vergütung  des 
ursprünglichen  Anlagekapitals  ist  stets  als  eine  Veruiögens- 
steigerung  aufgefasst  worden,  und  es  wird  nun  und  in  Ge- 
mässheit  der  Anträge  des  Bundesraths  der  Nordostbahn  alles 
vergütet,  was  sie  selbst  ausgelegt  hat.  Die  Mehrheit  des 
Bundesgerichts  schliesst .  sich  dem  Antrag  des  Referenten  an. 
Die  Minderheit  macht  geltend,  die  für  die  Aufstellung  der 
Bilanz  mnssgebenden  Grundsätze  und  Normen  hätten  mit  den 
Rückkanfsbostiuimungen  nichts  zu  thun;  die  ursprünglichen 
Na tionalbahnkon Zessionen  seien  unverändert  auf  die  Nordost- 
bahn übergegangen;  die-  Rückkaufsbestimmungen  bildeten 
«•inen  notwendigen  Bestandteil  der  Konzessionen.  Die  Be- 
deutung der  Konzessionsklausel  habe  sich  dadurch  nicht  ge- 
ändert, dass  von  der  Nordostbahn  als  Kaufpreis  eine  ge- 
ringere Summe  als  die  Herstellung  der  fraglichen  Linien  ge- 
kostet hatte,  bezahlt  worden  sei.  Es  wäre,  wenn  in  Folge 
des  Erwerbes  der  Nationalbahnlinie  durch  die  Rekurrentin 
bezüglich  der  Verkaufsbestimmungen  eine  Aenderung  hätte 
eintreten  sollen,  Sache  der  Bundesbehörden  gewesen,  bei  An- 
lass  der  Ertheilung  der  Konzessionen  einen  diesbezüglichen 
Vorbehalt  zu  machen.  Da  dies  nicht  geschehen  sei,  hätten 
sie  sich  die  Konsequenzen  selbst  zuzuschreiben.  In  der  Ab- 
stimmung wurde  der  Antrag  des  Referenten  angenommen  und 
das  Begehren  der  Nordostbahn  abgewiesen.   Das  weitere  Be- 


554  Jahresbericht  1899. 

gehren  der  Rekurrenten  bezüglich  der  Berechnung  des  durch- 
schnittlichen Beinertrags  im  Sinne  der  Rücksichtnahme  auf 
die  Grösse  des  Anlagekapitals  wird,  wie  dies  bereits  gegen- 
über der  Centralbahn  geschehen  ist,  als  unbegründet  ab- 
gewiesen. Das  Gleiche  geschieht  mit  dem  Begehren  um  Ein- 
stellung der  Zinsen  für  die  konsolidirten  Anleihen  unter  die 
Ertragsausgaben  der  Reinertragsrechnung.  Die  Anleihen  der 
Nordostbahn  sind  durch  Verpfändung  der  Linien  gesichert. 
Allein  für  den  Bund  als  Rückkäufer  ist  dies  nach  Ansicht 
des  Bundesgerichts  gleich  nothwendig  und  besteht  nach  dieser 
Richtung  hin  keine  Unterscheidung  in  der  Behandlung  der 
Anleihezinsen  der  Centralbahn  und  der  Nordostbahn.  Auch 
der  weitere  Begehr  der  Rekurrentin  um  Abänderung  des 
Bundesrathsbeschlusses  bezw.  der  Aufstellung  der  Reinertrags- 
rechnung, soweit  er  mit  der  Entscheidung  des  Bundesgerichts 
in  dem  Prozess  der  Centralbahn  im  Widerspruch  steht,  wird 
abgelehnt  und  die  Verhandlung  einiger  Rechtsbegehren  unter- 
geordneter Natur  in  das  gewöhnliche  Civilprozessverfahren 
verwiesen.  Schliesslich  lehnte  der  Bundesrath  noch  das  Be- 
gehren der  Nordostbahn  ab,  dass  die  von  ihr  bezahlten  Kon- 
zessionsgebühren nicht  in  die  Ausgaben  der  Reinertrags- 
berechnung aufzunehmen  seien.» 

Von  der  inländischen  Presse  wurde  der  Entscheid  im 
Allgemeinen  günstig  aufgenommen,  besonders  auch  weil  er 
gegen  die  Nordostbahn  ging,  die  schon  durch  ihren  ersten 
Präsidenten,  Herrn  Alfred  Escher,  eine  grosse  Summe  voa 
Missstimmung  im  schweizerischen  Volke  gegen  sich  angehäuft 
hatte.    Der  «Bund»  sagte  darüber: 

«Im  Rekurs  der  Nordostbahn  hat  die  Feststellung  der 
allgemeinen  Grundsätze  für  den  Rückkauf  der  Eisenbahnen 
in  der  Hauptsache  abgeschlossen.  Man  weiss  jetzt,  wie  Rein- 
ertrag und  Anlagekapital  berechnet  werden  sollen.  Der  Ge- 
richtshof hat  die  Anwendbarkeit  des  Rechnungsgesetzes  ver- 
neint, im  Gegensatz  zum  Bundesrath,  um  sich  einzig  auf  die 
Konzessionen  zu  stützen.  Wir  haben  von  jeher  hervorgehoben, 
dass  es  so  oder   anders   auf   das   gleiche  Ergebniss  heraus- 


Verwaltung.    Eisenbahnen.    Rückkauf.  555 

kommen  müsse,  denn  das  Rechnungsgesetz  war  ja  nur  eine 
nähere  Umschreibung  der  Konzession.  Es  war  für  den  Haus- 
halt der  Bahnen  erlassen  worden,  hatte  aber  auch  den  Zweck, 
den  Rückkauf  vorzubereiten  und  namentlich  dessen  finanzielle 
Tragweite  klar  zu  stellen.  Heute  darf  man  sagen,  dass  die 
Berechnungen  des  Bundesrathes  im  Grossen  und  Ganzen 
richtig  waren  und  dass  sich  die  Voraussetzungen  bewähren 
werden,  auf  Grund  welcher  das  Scbweizervolk  die  Rückkaufs- 
vorlage angenommen  hat  Der  Preis  wird  den  Angaben,  die 
damals  gemacht  wurden,  ungefähr  entsprechen.  Das  Bundes- 
gericht war  auch  in  den  meisten  Punkten  einstimmig  oder 
nahezu  einstimmig;  nur  in  letzter  Stunde  that  sich  eine 
Streitfrage  auf,  bei  deren  Entscheidung  das  Zünglein  der 
Wage  schwankte.  Faktisch  handelte  es  sich  um  neun  oder 
zehn  Millionen ;  denn  es  ist  nur  die  Ostsektion  der  ehemali- 
gen Nationalbahn  zum  Rückkauf  gekündigt  worden,  für  die 
etwa  rund  15  Millionen  aufgewendet  worden  waren,  während 
die  ganze  Bahn  Fr.  33,800,000  gekostet  hatte  und  von  der 
Nordostbahn  um  4,5  Millionen  erworben  wurde.  Die  Minder- 
heit des  Gerichts  erklärte  nach  der  eleganten  Jurisprudenz, 
dass  durch  die  Uebertragung  der  Konzession,  die  ohne  Vor- 
behalt erfolgte,  die  Nordostbahn  den  Anspruch  auf  die  Ver- 
gütung der  Anlagekosten  im  Rückkaufsfalle  erworben  habe. 
Sie  stehe  an  Stelle  der  Nationalbahn,  die  ja  unzweifelhaft 
heute  die  Anlagekosten  erhalten  würde.  Immerhin  gab  auch 
Herr  Monnier  zu,  dass  im  Ergebniss  einer  solchen  Entschei- 
dung etwas  Stossendes,  Peinliches  liegen  würde.  Die  schwei- 
zerische Presse  stellt  sich  denn  auch  überwiegend  an  die 
Seite   der   Mehrheit   des   Bundesgerichts.» 

Das  «Vaterland»  schreibt :  «Wir  können  mit  der  Ansicht  uns 
nicht  befreunden,  dass  ein  Entscheid  zu  Gunsten  der  Gesellschaft 
in  diesem  Punkte  der  Billigkeit  entsprochen  haben  würde«  Es 
mag  richtig  sein,  dass  gegenüber  dem  Bunde  eine  Unbilligkeit 
schliesslich  nicht  vorgelegen  wäre,  wenn  er  die  ganzen  An- 
lagekosten hätte  ersetzen  müssen ;  er  hat  ja  vollständig  freie 
Hand,  die  betreffenden  Linien  anzukaufen  oder  sie  nicht  an- 
zukaufen. Das  Stossende  würde  aber  darin  gelegen  sein,, 
dass  die  vielen  Millionen,  welche  einstens  für  Gemeinden  und 


556  Jahresbericht  1899. 

Private  in  dem  unglücklichen  Unternehmen  der  Nationalbahn 
verloren  gegangen  sind,  nun  heute  bei  Heller  und  Pfennig 
den  Aktionären  der  Nordostbahn,  welche  dabei  nichts  ein- 
gebüsst  hahen,  ersetzt  werden  miissten,  und  dass  so  das  Un- 
glück jener  ehemaligen  Interessenten  der  Nationalbahn  heute 
zur  Quelle  übermässiger  Bereicherung  für  unbetheiligte  Dritte 
würde.  Ihr  Geld  werden  nun  freilich  die  Aktionäre  und  Sub- 
venienten  der  Nationalbahn  nicht  zurückerhalten;  aber  sie 
werden  doch  mindestens  nicht  in  die  Lage  kommen,  als 
Bürger  des  Landes  und  eventuell  als  Steuerzahler  das,  was 
sie  selbst  verloren  haben,  nochmals  an  andere  mitersetzen  zu 
helfen.  Der  öffentlichen  Meinung  wird  es  zur  Beruhigung 
gereichen,  wenn  dieses  heute  nicht  zur  Thatsacbe  wird.> 

Die  «Neue  Zürcher  Zeitung»  sagt:  «Dass  aber  Gründe 
-der  Billigkeit  den  gefallenen  Entscheid  wohl  begreiflich  er- 
scheinen lassen,  wird  man  gewiss  zugestehen  müssen.  Es 
wäre  keine  angenehme  Perspektive  gewesen,  wenn  der  Bund, 
der  ja  den  infolge  Liquidation  der  Nationalbahn  finanziell 
schwer  bedrängten  Gemeinwesen  beisprang  und  sich  dadurch 
Opfer  aufgeladen  hat,  nun  verpflichtet  worden  wäre,  der 
Nordostbahn  das  von  jenen  Gemeinden  verlorne  Geld  zu  er- 
setzen. Man  mag  in  guten  Treuen  die  unterlegene  Ansicht 
juristisch  für  mindestens  ebenso  richtig  erklären,  wie  die- 
jenige, die  für  den  gefällten  Entscheid  ausschlaggebend  war. 
Dass  das  gesprochene  Urtheil  der  Billigkeit  in  diesem  Punkte 
zuwiderlaufe,  wird  man  gleichwohl  nicht  behaupten  können 
mit  Rücksicht  darauf,  dass  die  Nordostbahn  zwar  durch  den 
Nationalbahn ankauf  kein  lukratives  Geschäft  erzielte,  aber 
doch  ihre  Selbstkosten  —  soweit  die  betreffende  Linie  über- 
haupt zum  Rückkaufe  gelangt  —  vergütet  erhält. > 

Im  Ausland  waren  die  Stimmen  verschieden,  je  nachdem 
die  Zeitungen  die  Stimmung  der  Börsenspekulanten  wieder- 
gaben, die  mit  uns  gerne  ungefähr  so  verfahren  würden,  wie 
die  Goldminenspekulanten  mit  der  Transvaalrepublik,  oder 
ein  billiges  unparteiisches  Urtheil  hatten.  Einige  der  schlim- 
meren Börsenzeitungen  in  Deutschland  äusserten  sich  wie 
folgt : 


Verwaltung.    Eisenbahnen.    Rück  kauf.  55? 

cFrankfurter  Zeitung»:  «Der  neueste  Rückgang  der 
schweizerischen  Eisenbahnaktien  hat  hier  wieder  hochgradig 
verstimmt,  um  so  mehr,  als  sich  dieser  Besitzstand  in  Deutsch- 
land wieder  erweitert  hatte.  Seit  dem  Beginn  der  berüch- 
tigten Verstaatlichungs-Aera  in  der  Schweiz  hätte  das  Aus- 
land doch  eigentlich  an  unerfreuliche  Ueberraschungen  seitens 
der  schweizerischen  Spekulanten  gewohnt  sein  sollen,  aber 
man  gab  sich  hier  der  Hoffnung  hin,  dass  den  Aktionären 
wenigstens  ein  Beruhigungspflaster  aufgedruckt  werden  würde. 
Wenn  die  Schweiz  statt  dessen  auf  ihrem  Schein  besteht, 
d.  h.  auf  den  Rechten,  die  sie  erst  durch  ad  hoc  geschaffene 
Gesetze  sich  selbst  gewährt  hat,  so  werden  wahrscheinlich 
dem  hiesigen  Markte  die  dadurch  erlittenen  Kapitalverluste- 
lange  genug  in  der  Erinnerung  bleiben,  dass  man  im  Falle 
eines  künftigen  Geldbedarfs  der  Schweiz  diese  Behandlungs- 
weise  des  fremden  Kapitals  hier  nicht  vergessen  haben  wird.» 

«Die  Entscheidungen  des  Lausanner  Gerichtshofes  sausen 
wie  Keulenschläge  auf  die  Aktionäre  der  schweizerischen 
Bahnen  hernieder.  Das  allgemeine  Rechtsgefühi  wird  sich 
gegen  die  Entscheidung  des  schweizerischen  Bundesgericht a 
empören,  die  man  allgemein  als  eine  Beugung  des  Rechts  zu 
Gunsten  der  schweizerischen  Staatsinteressen  beurtheilcn  und 
die  das  frühere  so  hochstehende  Ansehen  der  schweizerischen 
Rechtsprechung  auf  das  äusserste  herabsetzen  wird.» 

Der  «Berliner  Actionair»:  «Der  weitere  Kurssturz  der 
schweizerischen  Bahnaktien  lenkte  das  Hauptinteresse  der 
Spekulation  auf  sich,  denn  die  in  kapitalfeindlichem  Sinne 
gefassten  Beschlüsse  des  schweizer.  Bundesgerichtes  in  Sachen 
der  Rekursfrage  der  Centralbahn  verstimmten  dermassen,  dass 
ein  ungewöhnlich  starkes  Angebot  in  den  Aktien  aller 
schweizerischen  Bahnen  zu  Tage  trat,  eine  Geschäftsbewegung, 
die  Anfangs  eine  schwierige  Preisfeststellung  im  Gefolge 
hatte.  Der  geradezu  ungeheuerliche  Beschluss  des  Gerichts, 
den  Bestimmungen  für  den  Erneuerungsfonds  und  den  Rein- 
ertrag rückwirkende  Kraft  zu  verleihen,  rief  lebhafte  Ent- 
rüstung hervor,  da  es  sich  hierbei  offenbar  um  eine  ziel- 
bewusste  Vergewaltigung  der  Aktionäre  handelt,  die  in  letz- 
ter Zeit  oft  unliebsame  Erfahrungen  mit  der  Betheiligung  au 


•558  Jahresbericht  1899. 

schweizerischen  Unternehmungen  gemacht  haben.  Die  Miss- 
stimmung resultirte  auch  daraus,  dass  vor  kurzem,  nament- 
lich von  Bern  und  Frankfurt  aus,  kräftige  Anstrengungen 
gemacht  worden  sind,  auf  Grund  der  seitens  deutscher  Ge- 
lehrten über  die  Rückkaufsfrage  erstatteten  Rechtsgutachten 
die  Aufwärtsbewegung  der  Kurse  mit  willkürlichen  Ertrags- 
berechnungen  in  Fluss  zu  bringen,  wobei  man  angeblich  zu- 
verlässige Informationen  über  die  Absichten  des  Bundesrates 
verbreitete  und  erzählte,  dass  schweizerische  Gross-Speku- 
lanten mit  umfassenden  Meinungskäufen  vorgegangen  seien, 
die  anscheinend  rechtzeitig  realisirt  worden  sind.  Dieses 
Börsenspiel  hat  sich  im  Laufe  der  letzten  Jahre  mehrfach 
wiederholte 

Diese  Urtheile  bezogen  sich  übrigens  im  Wesentlichen 
schon  auf  die  früheren  Gerichtsbeschlüsse  gegen  die  Central- 
bahn.  Die  Herren  Spekulanten  werden  sich  wohl  allmählig 
in  ihr  beklagenswertes  Schicksal  zu  ergeben  haben. 

Die  Finanzirung  desEisenbahnrückkaufs  begann 
nach  vorheriger  Berathung  durch  eine  technische  Kommission 
mit  der  Genehmigung  eines  ersten  Eisenbahnanleihens  bis  auf 
den  Betrag  von  200  Millionen.  E.  G.  S.  XVII,  200. 

Uebrigens  hofft  man  die  jetzigen  Eisenbahnobligationen 
grossentheils  gegen  eidgenössische  $l\z0lo  Obligationen,  die 
15 — 20  Jahre  lang  unkündbar  sein  würden,  eintauschen  zu 
können.  Die  ganze  Rückkaufsumme  beträgt  1021  Millionen 
Franken,  den  Simplonbau  nicht  inbegriffen. 

Ueber  die  Verhandlungen  betreffend  den  freihändigen  An- 
kauf der  Centralbahn  wird  folgendes  bekannt : 

«Nous  avons  dit  que  dans  les  nägociations  pour  le  rachat 
ä  l'ainiable  du  Central  le  prix  offert  par  le  Departement  des 
chemins  de  fer  ätait  de  680  fr.  par  action,  payables  au  1er 
janvier  1901.  L'actionnaire  percevrait  encore  les  dividendes 
de  1899  et  1900,  6valu6s  chacun  ä  50  fr.,  ce  qui  releve  le 
prix  de  l'action  ä  environ  740  fr.,  Chiffre  voisin  des  cours 
actuels. 


Verwaltung.    Eisenbahnen.    Simplem.    Internationales.      559 

D'aatre  part,  le  message  da  Conseil  föderal  ävaluait  ä 
543  fr.  10  la  valear  de  rachat  de  l'action  du  Central,  valeur 
qui  serait  portöe  ä  576  fr.  par  les  döcisions  dejä  intervenues 
du  Tribunal  föderal.  L'offre  d'un  prix  notablement  superieur 
ä  068  6valnations  est  subordonnee  ä  la  condition  que  la  com- 
pagnie  rachetöe  aeeeptera  en  paiement  des  obligations  föde- 
rales W*. 

Jusqn'ä  präsent  les  conseils  du  Central  n'ont  rien  eon- 
clu.  Les  pourparlers  ont  etä  interrompus  parce  que  les  ne- 
gociateurs  de  la  compagnie  n'ont  pas  admis  les  chiffres  du 
Departement  pour  les  travaux  de  parachevement  et  l'ävalua- 
tion  de  la  rooins-value.»     (Lausanner  Zeitung.) 

In  Bezug  auf  die  Simplon-Bahn  fand  im  September  in 
Bern  eine  Verständigung  mit  Italien  über  die  interna- 
tionale Station  in  Domo  d'Ossola  statt,  mit  vorläufig 
folgenden  Vereinbarungen : 

«Der  internationale  Bahnhof  wird,  gemäss  der  Natur 
der  Dinge,  in  Domo  d'Ossola  sein,  wo  die  Uebergabe  der 
Bahnzüge  erfolgt,  und  wo  der  Post-  und  Telegraphendienst, 
sowie  der  Dienst  der  G-esundheitspolizei  bei  der  Station  ein- 
gerichtet wird«  Was  den  Zolldienst  betrifft,  so  wird  derselbe 
getheilt:  Das  italienische  Zollamt  wird  in  Domo  d'Ossola, 
das  schweizerische  Zollamt  für  Frachtgut  und  Eilgut  in  Brig 
sein.  Nur  die  schweizerische  Verzollung  der  aus  Italien 
kommenden  Poststücke  und  Fahrpostgegenstände  und  des 
Reisendengepäcks  hat,  im  Interesse  der  Raschheit  des  Ver- 
kehrs, in  Domo  d'Ossola  zu  geschehen.  Durch  besondere, 
zwischen  den  beiden  Staaten  vor  der  Betriebseröffnung  der 
Linie  abzuschliessende  Vereinbarungen  sollen  diese  verschie- 
denen Dienstzweige,  und  durch  Verträge  zwischen  den  schwei- 
zerischen und  italienischen  Eisenbahnverwaltungen  die  Ver- 
bindung der  Netze  und  der  Betrieb  der  Linie  Brig-Domo 
d'Ossola  näher  geordnet  werden.  Die  Konferenz  hat  endlich 
auch   die   Bestimmungen    eines   Staatsvertrages   festgestellt, 


560  Jahresbericht  1899. 


et 

o 


welcher   den    Regierungen   beider  Staaten  zur  Genehmigun 
unterbreitet  werden  soll.» 

Die  «Eisenbahner»  hielten  einen  Verbandtag  in 
Ölten  behufs  Feststellung  der  Bedingungen  und  Forderungen» 
welche  die  Eisenbahner  bei  Uebergang  der  Bahnen  an  den  Staat 
zu  stellen  für  nöthig  finden.  Es  sollen  alle  volljährigen  Personen 
bis  zum  40.  Altersjahr,  welche  wenigstens  ein  Jahr  im  Dienste 
der  Bahnen  und  Werkstätten  stehen,  vertraglich  angestellt 
werden.  Die  Lohnverliältnisse  sind  einheitlich  zu  regeln  und 
zu  verbessern.  Eine  Beschwerdeinstanz  soll  geschaffen  werden. 

Von    internationalen    Eisenbahn  Verhältnissen 

ist  besonders  bemerkenswerth  einerseits   die  Zunahme  in  der 

Verwendung  der  Elektrizität  für  die  Bewegung,  andererseits 

diejenige  des   flüssigen   Heizmaterials.     Ein   Artikel 

der  A.  Z.  sagt  darüber  u.  a. 

«In  neuerer  Zeit  schenkt  die  Feuerungstechnik  einem 
flüssigen  Heizmaterial,  den  bei  der  Leuchtöldestillation  aus 
dem  Eohpetroleum  als  Abfallstoffe  gewonnenen  Schwerölen, 
wachsende  Beachtung. 

Die  Vortheile  der  Petroleumfeuerung  liegen  im  hohen 
Heizwerth  des  Brennmaterials,  in  seiner  bequemen  Lagerung 
und  in  der  Form  der  Heizung.  Der  Heizeffekt  des  Petroleums 
übertrifft  den  der  Steinkohle  nicht  unwesentlich.  Der  lästige 
Aschenfall  verschwindet.  Wichtiger  ist  das  Fehlen  des  Bau- 
ches bei  der  Petroleumfeuerung,  die  sich  dadurch  für  viele 
Industrien,  zumal  für  die  Porzellanfabrikation,  für  Tunnel- 
und  Untergrundbahnen,  für  Stadtbahnen  und  für  Torpedo- 
boote empfiehlt.  Das  Nachfüllen  des  Brennmaterials  geschiebt 
automatisch ;  dadurch  wird  an  Arbeitskräften  gespart  und  die 
auf  Schiffen  so  schwere  Heizerarbeit  überflüssig.  Zugleich 
fällt  das  bei  der  Planrostfeuerung  zum  Zweck  der  Kohlen- 
aufschüttung nothwendige  Aufmachen  der  Feuerthür,  mit  dem 
stets  ein  Einströmen  kalter  Luft,  also  ein  Wärmeverlnst 
verbunden  ist,  fort,  was  auch  dazu  beiträgt,  den  Heizeffekt 
zu  erhöhen.  Ferner  zeichnet  sich  die  Petroleumfeuerung  durch 


Verwaltung.    Subventionen.  561 

leichte  Regali rbarkeit  und  grosse  Sauberkeit  aus.  Da  der 
Heizwerth  des  Petroleums  grösser  als  der  der  Kohle  ist,  so 
kann  der  Raum  zum  Lagern  des  Brennmaterials  kleiner  sein, 
was  für  Lokomotiven  und  Dampfer  von  Werth  ist.  Bei  den 
Schiffen  kommt  noch  das  Angenehme  hinzu,  dass  man  das 
flussige  Petroleum  iu  eckigen  Räumen  im  Schiffsbauche,  die 
sonst  schlecht  zu  verwerthen  sind,  bequem  unterbringen  kann, 
also  an  Raum  für  Menschen  und  Frachtgüter  gewinnt.» 

Wie  der  russische  Minister  des  Verkehrswesens,  Fürst 
Chilkow,  in  der  Versammlung  der  internationalen  Eisenbahn- 
verwaltungen erklärte,  wird  man  nach  Vollendung  der  si- 
birischen Bahn  die  Reise  um  dieWelt  in  33  Tagen  machen 
können.  Fürst  Chilkow  legt  seiner  Behauptung  die  folgende 
Berechnung  zu  Grunde.  Von  Bremen  nach  St.  Petersburg 
per  Bahn  in  l1/«  Tagen,  von  St.  Petersburg  nach  Wladiwo- 
stok per  Bahn  mit  einer  Geschwindigkeit  von  48  km  in  der 
Stunde  10  Tage,  von  Wladiwostok  nach  San  Francisco  über 
den  Stillen  Ozean  10  Tage,  von  San  Francisco  nach  New- 
York  4'/2  Tage,  von  New- York  nach  Bremen  7  Tage,  zu- 
sammen also  33  Tage.  Gegenwärtig  schätzt  man  die  kürzeste 
Zeitdauer  zu  einer  Reise  um  die  Erde  wie  folgt :  Von  New- 
York  nach  Southampton  6  Tage,  von  Southampton  nach  Brin- 
disi  über  Paris  3i/2  Tage,  von  Brindisi  nach  Yokohama  durch 
den  Suezkanal  42  Tage,  von  Yokohama  nach  San  Francisco 
10  Tage,  von  San  Francisco  nach  New- York  4^2  Tage,  zu- 
sammen 66  Tage,  also  genau  die  doppelte  Zeit. 

Ueber  die  Subventionen  ist  zunächst  folgendes  Sta- 
tistische zu  berichten : 

In  der  Periode  1899  bis  1908  gelangen  für  Flusskorrek- 
tionen und  Wildbachverbauungen  44  bewilligte  Subventionen, 
die  sich  auf  17  Kantone  vertheilen ,  zur  Ausgabe.  Die  Ge- 
sammtkostensumme    für   alle    diese  Arbeiten,   inbegriffen   die 

36 


562  Jahresbericht  1899. 

Kosten  für  die  Schutzbauten  an  Wild  wassern  im  Hochgebirge, 
die  sich  bis  1908  auf  Fr.  4,345,751.  33  belaufen  werden,  wird 
bis  zum  nämlichen  Zeitpunkte  Fr.  14,184,136.  12  betragen. 
Hiezu  kommen  noch  Fr.  1,831,933  für  Strassenbauten,  so 
dass  die  Totairestanz  auf  1.  Januar  1899  die  Höhe  von  Fr. 
20,361,720.  45  aufweist. 

Der  Jahresbericht  der  Konstanzer  Handelskammer  hält 
es  an  der  Zeit,  das  Projekt  einer  Korrektion  des  Rheins  von 
Basel  bis  Konstanz,  dessen  Verwirklichung  nach  der  voraus- 
sichtlich in  absehbarer  Zeit  stattfindenden  Reguli rung  des 
Rheinbettes  von  Mannheim  bis  Strassburg  und  weiter  bis 
Basel  einen  Durchgangsverkehr  von  Rotterdam  bis  Konstanz 
und  Bregenz  ermöglichen  würde,  ernstlich  in's  Auge  zu 
fassen  und  mit  den  dafür  notwendigen  Vorarbeiten  zu  be- 
ginnen. Die  wirthschaftlichen  Vortheile  einer  solchen  Anlage, 
heisst  es  in  diesem  Berichte,  seien  so  einleuchtend,  nament- 
lich für  die  Handels-  und  Industrieverhaltnisse  des  Konstanzer 
Bezirks,  dass  es  eines  erschöpfenden  Hinweises  darauf  kaum 
bedürfe.  Es  genüge,  die  Verbilligung  der  Frachten,  die  Stei- 
gerung des  Werthes  der  an  dem  regulirten  Rhein  gelegenen 
Grundstücke  und  die  günstige  Gelegenheit  zur  Errichtung  in- 
dustrieller Anlagen  hervorzuheben. 

Eine  Motion  Bossy,  welche  im  Nationalrath  am  12. 
Dezember  1898  behandelt  wurde,  verlangt : 

Es  sollen  Untersuchungen  über  die  in  der  Schweiz  vor- 
handenen Mineralien  vorgenommen  werden,  um  schliesslich 
eine  Art  Karte,  oder  ein  Grundbuch  darüber  zu  erstellen. 

Der  Bund  gibt  vorderhand  eine  Subvention  von  Fr.  5000 
an  diese  Arbeiten  und  zwar  von  1899  ab,  um  die  ersten  Ar- 
beiten zu  ermöglichen. 

Für  solche  Karten  werden  übrigens  schon  seit  Jahren 
jährlich  10,000  und  jetzt  15,000  Franken  ausgegeben,  es  ist 


Verwaltung.    Subventionen.  563 

aber  bloss  eine  rein  wissenschaftliche  Arbeit.  Die  jetzige 
Unterstützung  soll  mehr  praktischer  Natur  sein,  um  der  In- 
dustrie zu  dienen. 

Für  die  Verbauungen  des  Sasso  Bosso  bei  Airolo  und 
ebenso  für  die  Simmi  und  den  Grabserbach  wurden  mit  Recht 
trotz  der  Finanzrücksichten,  die  augenblicklich  Sparsamkeit 
empfehlen,  50<>/0  Subvention  bewilligt. 

Eine  grosse  technische  Frage,  die  gerade  gegenwärtig 
obwaltet,  ist  die  der  Verbauung  mit  Holz,  mittelst  Pfahl- 
bauten, die  von  Ingenieur  Schindler  in  Basel  befürwortet 
wird  und  thatsächlich  zum  Theil  bei  der  Lammbach-Rüfe  an- 
gewendet  wurde.  Das  Blatt  «Oberland»    berichtete  darüber: 

«Das  Regenwetter  vom  3.  und  4.  Februar  (1897)  hat  die 
hiesige  Bevölkerung  zu  grosser  Besorgniss  erregt.  Man  be- 
fürchtete, der  Lammbach  könnte  neue  Stösse  herunterbringen, 
und  wären  solche  heruntergegangen,  so  hätten  sie  an  der  in 
Arbeit  befindlichen  Thaisperre  grossen  Schaden  angerichtet, 
wenn  nicht  Grossmann  obenher  das  *  Pfahlbausystem»  ange- 
wendet hätte ,  welches  er  letzten  Herbst  bei  Hrn.  Schindler 
gelernt  hat.  Durch  dieses  Pfahlwerk  sind  sämmtliche  Stösse 
Aufgehalten  worden.» 

Herr  Schindler  fugt  in  einem  Artikel  der  A.  Seh.  Z.  bei: 

«Was  die  Fäulniss  des  Holzes  und  die  Verwüstung  des 
Waldes  durch  Pfahlbau  betrifft,  so  können  diese  Schreck- 
männchen vielleicht  dem  grossen  Publikum,  aber  nicht  dem 
Sachkenner  bange  machen- 

Es  sind  mir  Fälle  bekannt,  in  denen  schlechte  Tannen- 
holzpfahlbauten seit  30  Jahren  noch  nicht  den  geringsten 
Defekt  zeigen,  sondern  theilweise  auch  an  der  Oberfläche  noch 
gesunden  Stand  des  Holzes  vorweisen.  Wer  aber  so  prä- 
tentiös sein  will,  nur  mit  Jahrtausenden  sich  zufrieden  zu 
geben,  der  kann  bei  mir  Pfahlspitzen  sehen,  welche  2000 
Jahre  in  der  Erde  gestanden  haben  und  noch  so  hart  sind, 
<lass  die  kleinsten  Gegenstände  daraus  gedreht  und  polirt 
werden  können.  Mehr  dürfte  auch  der  unbescheidenste  Pfahl- 
baugegner kaum  fordern.» 


564  Jahresbericht  1899. 

Die  Hauptsubventionsfrage   ist   immer  die   der  Unter- 
stützung der  Volksschule  durch  den  Bund.  Der  vom 
Bundesrath  in  seiner  Sitzung  v.  21.  März  festgestellte  Entwurf 
eines  Bundesbeschlusses  betreffend  die  Unterstützung  der  öffent- 
lichen Primarschule  durch  den  Bund  lautet :  «Art.  1.  Zur  Un- 
terstützung  der   Kantone    in   der  Aufgabe,    für   genügenden 
Primär  Unterricht  zu  sorgen,    werden    denselben   aus  Bundes- 
mitteln  Beiträge   geleistet.  —  Art.  2.     Die    Bundesbeiträge 
dürfen    nur   für   die    öffentliche  staatliche  Primarschule  (mit 
Einschluss  der  obligatorischen  Ergänzungs-  und  Fortbildungs- 
schule) verwendet  werden,    und  zwar   ausschliesslich   zu  fol- 
genden Zwecken :  1.  Errichtung  neuer  Lehrstellen  zum  Zwecke 
der  Trennung  zu  grosser  Klassen  und  der  Erleichterung  des 
Schulbesuches;    2.  Bau    neuer    und    wesentlicher  Umbau    be- 
stehender Schulhäuser ;   3.  Einrichtung  von  Turnplätzen  und 
Anschaffung  von  Turngeräthen ;  4.  Aus-  und  Fortbildung  von 
Lehrkräften;    5.   Aufbesserung    von  Lehrerbesoidungen    und 
Ruhegehalte;  6.  Anschaffung  von  Lehrmitteln;  7.  unentgelt- 
liche  Abgabe    von  Schulmaterialien    an    die  Schulkinder;    8. 
Nachhülfe   in   Ernährung   und    Kleidung    armer  Schulkinder 
während  der  Schulzeit ;  9.  Erziehung  schwachsinniger  Kinder 
in  den  Jahren  der  Schulpflicht.  —  Art.  3.  Die  Beiträge  des 
Bundes    dürfen   keine   Verminderung    der    durchschnittlichen 
ordentlichen  Leistungen  der  Kantone  (Staats-  und  Gemeinde- 
ausgaben  zusammengerechnet)   in   den    letzten    fünf  Jahren 
zur  Folge  haben.  —  Art.  4.   Für    die  Periode    der   nächsten 
fünf  Jahre,    beginnend  mit  — ,    wird    zu   genanntem  Zwecke 
eine   jährliche  Summe    von  2,000,000   in   das  Budget   einge- 
stellt.   Diese  Summe  kann,  wenn  die  Finanzlage  des  Bundes 
es  gestattet,  je  für  eine  Periode  von  fünf  Jahren   auf   dem 
Budgetwege    erhöht   werden.  —  Art.  5.   Als  Grundlage    zur 
Bestimmung   der   Jahreskredite   für   die    Kantone    wird    die 
Wohnbevölkerung  derselben  nach  der  letzten  eidgenössischen 
Volkszählung  angenommen.  Der  Einheitssatz  zur  Berechnung 
des  Jahreskredites  beträgt  für  jeden  Kanton  sechzig  Rappen 
auf  den  Kopf  der  Wohnbevölkerung.  In  Berücksichtigung  der 
besondern   Schwierigkeiten   ihrer  Lage    wird    den   Kantonen 
Uri,  Schwyz,  ObwaJden,  Nidwaiden,    Appenzell  I.-Rh.,  Grau- 


Verwaltung.    Subventionen.  565 

banden,  Tessin  und  Wallis  eine  Zulage  von  zwanzig  Rappen 
auf  den  Kopf  der  Wohnbevölkerung  gewahrt.  —  Art.  6.  Die 
Organisation  und  Leitung  des  Schulwesens  bleibt  Sache  der 
Kantone.  Es  steht  jedem  Kanton  frei,  die  Subventionssumme 
in  Anspruch  zu  nehmen  oder  auf  dieselbe  zu  verzichten.  — 
Art.  7.  Die  Kantone,  welche  die  Subvention  in  Anspruch 
nehmen,  haben  dem  Bundes  rat  he  eine  Darlegung  der  beab- 
sichtigten Verwendung  des  Bundesbeitrages  im  nächsten  Rech- 
nungsjahre zur  Prüfung  und  Genehmigung  einzureichen.  Es 
ist  dem  Ermessen  der  Kantone  anheimgestellt,  für  welchen 
oder  welche  der  in  Art.  2  genannten  Zwecke  sie  den  Bundes- 
beitrag bestimmen  wollen.  Die  Verwendung  des  Bundesbei- 
trages zur  Ansammlung  von  Fonds  ist  nicht  zulässig.  Eben- 
sowenig ist  Uebertragung  eines  Subventionskredites  auf  ein 
folgendes  Jahr  zulässig.  —  Art.  8.  Der  Bund  wacht  darüber, 
dass  die  Subventionen  den  genehmigten  Vorschlägen  gemäss 
verwendet  werden.  Die  Ausrichtung  der  Subventionen  erfolgt 
auf  Grund  eines  von  den  Kantonen  einzureichenden  Berichtes 
und  nach  Genehmigung  der  Rechnungsausweise  durch  den 
Bundesrath.  —  Art.  9.  Der  Bundesrath  erlässt  die.  erforder- 
lichen Ausfuhrungsbestimmungen.  —  Art.  10.  Die  Bundes- 
versammlung ist  befugt,  Aenderungen  in  der  Bestimmung  des 
Einheitssatzes  und  der  Zulage  (Art.  5)  nach  Ablauf  der  er- 
sten fünfjährigen  Subventionsperiode  von  sich  aus  zu  be- 
schliessen.  —  Art.  11.  (Referendumsvorbehalt.)> 

Die  Frage  der  Verfassungsmässigkeit  eines  solchen  Be- 
schlusses ist  von  dem  Herausgeber  des  Jahrbuchs  in  einem 
Gutachten  an  das  eidgenössische  Departement  des]  Innern  be- 
jaht worden,  welches  wir  mit  dessen  Genehmigung  in  den 
Beilagen  dieses,  oder  des  nächsten  Jahrbuches  abdrucken 
werden. 

Im  verwichenen  Sommer  haben  die  Vorsteher  der  Er- 
ziehungsdepartemente  der  Kantone  Bern,  Freiburg,  Waadt, 
Wallis,  Neuenburg  und  Genf  dem  Bundesrathe  das  Gesuch 
um  finanzielle  Mithilfe  des  Bundes  für  die  Herausgabe  eines 
Wörterbuches    der    Mundarten    der    romanischen 


666  Jahresbericht  1899. 

Schweiz  eingereicht  and  demselben  sowohl  ein  Programm 
über  das  Unternehmen  als  einen  Voranschlag  über  die  jähr- 
lichen Koston  desselben  angeschlossen.  Aus  ersterm  geht  hervor, 
dass  den  Gesuchstellern,  welche  das  interkantonale  Verwal- 
tungscomite  bilden  werden,  sowohl  ein  tüchtiger  wissenschaft- 
licher Leiter  des  Werkes  als  die  nöthigen  fachmännischen  Mit- 
arbeiter aus  den  Kreisen  der  Sprachgelehrten  der  romanischen 
Schweiz  zur  Verfügung  stehen.  Die  jährlichen  Kosten  sind  für 
den  Anfang  auf  Fr.  11,000  veranschlagt,  wovon  man  einen  be- 
trächtlichen Theil  durch  Beiträge  der  romanischen  Kantone 
zu  decken  hofft.  Da  das  Unternehmen,  abgesehen  von  dem 
Vorgange  in  der  deutsch  sprechenden  Schweiz,  von  verschie- 
denen wissenschaftlichen  Gesichtspunkten  aus  sehr  zu  be- 
grüssen  ist,  hat  der  Bundesrate  nicht  Anstand  genommen, 
ihm  die  Unterstützung  des  Bundes  in  Aussicht  zu  stellen  und 
zu  diesem  Zwecke  für  1899  einen  Kredit  von  Fr.  5,000  aus- 
zusetzen. Derselbe  ist  für  den  Anfang  des  Unternehmens 
berechnet;  für  später  wird  es  einer  Erhöhung  des  Beitrages 
bedürfen* 

Schulwesen.  Gewerbliches  Bildungswesen.  Für  die 
industrielle  und  gewerbliche  Berufsbildung  der  Schweiz  hat 
der  Bund  im  vergangenen  Jahre  eine  Summe  von  Franken 
712,535  in  Form  von  Beiträgen  an  226  Bildungsanstalten 
aufgewendet.  Ferner  wurden  Fr.  15,135  anderweitige  Sub- 
ventionen an  Fachkurse  u.dgl.  verabfolgt,  sowie  Fr.  108,766 
au  124  Anstallen  für  weibliche  Berufsbildung. 

Während  die  Zahl  dieser  Anstalten  im  Jahre  1884,  in 
dem  zum  ersten  Mal  Bundesbeiträge  an  die  ständigen  An- 
stalten für  gewerbliche  und  industrielle  Berufsbildung  aus- 
gerichtet wurden,  noch  43  betrug,  so  ist  die  Zahl  derselben 
schon  im  nächsten  Jahre  auf  86   gestiegen   und  hat  von  da 


Verwaltung.    Schulwesen.  567 

an  Jahr  für  Jahr  zugenommen,  von  1894  auf  1895  sogar  um 
18  Schulen.  Die  Bundesbeiträge  betragen  für  die  Perlode 
von  1884—1898  Fr.  5,833,433.  03,  während  alle  anderweitigen 
Unterstützungen  Fr.  12,521,408.  84  ausmachen,  bei  Franken 
2 1 ,764,854  Gesammtkosten. 

Zu  den  einzelnen  Anstalten  übergehend,  bemerken  wir, 
dass  der  Kanton  Baselstadt  drei  solche  besitzt,  nämlich  die 
< Allgemeine  Gewerbeschule»,  das  «Gewerbemuseum»  und  das 
«Historische  Museum».  Sie  erhielten  zusammen  Fr.  49,578 
aus  der  Bundeskasse,  an  weicher  Summe  die  Gewerbeschule 
allein  mit  Fr.  35,090  partieipirt.  Von  den  32  Anstalten  des 
Kantons  Bern  erhielten  u.  A.  das  «Westschweizerische  Tech- 
nikum» in  Biel  Fr.  37,783  und  die  «Lehrwerkstätten  der 
Stadt  Bern»  Fr.  21,371.  Der  Kanton  Zürich  weist  33  Be- 
rafsbildungsinstitute  auf.  Die  «Gewerbeschule  der  Stadt 
Zürich»  hat  pro  1898  Fr.  58,000  Bundesbeitrag  erhalten, 
gegenüber  Fr.  65,000  pro  1897,  und  das  «Kantonale  Tech- 
nikum» in  Winterthur  Fr.  54,100.  Der  Kanton  St.  Gallen 
besitzt  30  Institute,  meistens  gewerbliche  Fortbildungsschulen, 
wahrend  im  Kanton  Tessin  18  Zeichenschulen  mit  zusammen 
Fr.  25,000  unterstützt  wurden.  Die  Kantone  Uri  und  Appen- 
zell I.-Rh.  weisen  je  nur  eine  solche  Bildungsanstalt  auf,  die 
Kantone  Luzern  und  Schaffhausen  deren  je  zwei.  Der  Kan- 
ton Appenzell  A.-Rh.  hat  deren  11  und  die  Kantone  Neuen- 
bürg und  Genf  endlich  jeder  drei  Institute. 

Was  die  weibliche  Berufsbildung  anbelangt,  so  wurden 
pro  1898  eine  Reihe  von  Schulen  und  Kurse  für  die  haus- 
wirthschaftliche  und  berufliche  Bildung  des  weiblichen  Ge- 
schlechts vom  Bunde  finanziell  unterstützt.  In  Frage  kommen 
hiebei  17  Kantone  mit  im  Ganzen  124  Anstalten,  für  die  vom 
Bunde  Fr.  108,766  ausgelegt  wurden,  gegenüber  Fr.  84,837 
in    den  Jahren   1896/97.    Die   grösste   Zahl   von   weiblichen 


568  Jahresbericht  1899. 

Fortbildungsschulen  weist  der  Kanton  Thurgau  auf  mit  28. 
Ihm  folgt  der  Kanton  Zürich  mit  17  Schulen.  Der  Kanton 
Baselstadt  hat  zur  Zeit  deren  drei,  die  vom  Bande  Beitrage 
erhalten,  und  die  alle  von  wichtiger  Bedeutung  sind.  Es 
sind  dies  die  «Kochkurse  der  Mädchensekundarschule»,  die 
«Kochschulen  der  Kommission  für  Fabrikarbeiterverhältnisse» 
und  die  «Frauenarbeitsschule»,  welch  letztere  einen  Bundes- 
beitrag von  Fr.  25,802,  gegenüber  Fr.  19,205  pro  1897,  er- 
halten hat.  Es  ist  dies  die  grösste  Subvention,  die  ausbezahlt 
wurde,  —  ein  Beweis,  dass  die  Behörde  die  hohe  wirtschaft- 
liche Bedeutung  dieses  Institutes  anerkennt.  Der  «Kochkurs 
der  Mädchensekunderschule»  erhielt  Fr.  1740.  Im  Kanton 
Baselland  bestehen  in  Liestal,  Gelterkinden  und  Sissach  der- 
artige Anstalten,  und  zwar  je  eine  in  den  genannten  Ort- 
schaften. Von  den  übrigen  Haushaltungsschulen  erhielt  die 
«Töchter-Fortbildungsschule»  in  Winterthur  Fr.  6838,  die 
«Schweiz.  Fachschule  für  Damenschneidern  und  Lingerie» 
Fr.  10,000  und  die  «Frauenarbeitsschule»  in  St.  Gallen  Fr. 
6890  Unterstützung. 

Zu  ihrer  weiteren  Ausbildung  erhielten  20  Lehrerinnen 
und  Lehramts-Kandidatinnen  für  weibliche  Berufsbildung  Sti- 
pendien im  Betrage  von  Fr.  2300. 

Nach  dem  Voranschlag  von  1899  hat  der  Bund  für  dieses 
Jahr  zu  Bildungszwecken  folgende  Ausgaben :  Gewerbliche 
und  industrielle  Berufsbildung  Fr.  859,000  (1898 :  Fr.  778,000), 
Hauswirthschaftliche  und  berufliche  Bildung  des  weiblichen 
Geschlechts  Fr.  169,000  (Fr.  120,000),  kommerzielles  Bil- 
dungswesen Fr.  248,000  (212,000).  —  Departement  des  Innern: 
Historische  Arbeiten  Fr.  68,300.(59,300),  Geschieh tsforschende 
Gesellschaft  Fr.  40,000,  Geodätische  Kommission  Fr.  15,800, 
Geologische  Kommission  Fr.  15,000,  Naturforschende  Gesell- 
schaft Fr.  4,700  (3200),   deutsch-schweiz.  Idiotikon  Franken 


Verwaltung.    Schulwesen.  569 

10,000,  Schweiz,  statistische  Gesellschaft  Fr.  6000,  Zeit- 
schrift Ripertorio  di  Giurisprudenza  Fr.  1000,  Erhaltung  histo- 
rischer Kunstdenkmäler  Fr.  58,990,  Bibliographie  der  Landes- 
kunde Fr.  4000,  Kurs  für  Mädchen turniehrer  Fr.  1500,  Wör- 
terbuch der  romanischen  Mundarten  Fr.  5000  (zusammen 
125,900),  Landesbibliothek  Fr.  88,600  (58,500),  Hebung  der 
Kunst  Fr.  100,000,  Jahrbuch  des  Unterrichtswesens  Fr.  3000 
(4000),  Decurtins'  räto-romanische  Chrestomathie  Fr.  2000. 

Im  Mai  wurde  die  Handelsakademie  in  St.  Gallen 
eröffnet.  Die  Anstalt  ist  bekanntlich  ein  Unternehmen  des 
Kantons,  unter  Mitwirkung  der  Stadt  StGallen,  des  kaufmänni- 
schen Direktoriums  und  der  Eidgenossenschaft.  Oberste  Auf- 
sichtsbehörde ist  der  Regierungsrath.  Das  Institut  zerfällt 
in  eine  Handelsakademie  mit  den  beiden  Abtheilungen  «höhere 
Schule  für  Handel  und  Verwaltung»  und  «Freifächer  und 
Vorlesungen»  und  in  eine  Verkehrsschule,  deren  erste  Ab- 
theilung dem  Post-,  Telegraph-,  Telephon-  und  Zollwesen  und 
deren  zweite  Abtheilung  dem  Eisenbahndienst  gewidmet  ist. 
Die  Handelsakademie  bezweckt  die  höhere  Ausbildung  von 
angehenden  Kaufleuten  und  Verwaltungsbeamten  in  allge- 
meiner und  speciell  beruflicher  Beziehung.  Sie  enthält  zu 
diesem  Behufe  für  die  Kauflente  zwei  festgeordnete  obliga- 
torische Jahreskurse  mit  bestimmtem  Unterrichtsplan;  dieser 
wird  durch  die  ebenfalls  planmässig  vorgesehene  Benutzung 
der  Freifächerabtheilung  ergänzt.  Die  Verkehrsschule  be- 
zweckt die  Ausbildung  von  Post-,  Telegraphen-,  Telephon-, 
Zoll-  und  Eisenbahnbeamten  sowohl  in  allgemeiner  als  in 
speciell  fachlicher  Beziehung.  Die  Unterrichtsprogramme  für 
diese  Abtheilungen  sind  in  Verbindung  mit  Praktikern  auf- 
gestellt worden.  Als  Minimalalter  für  den  Eintritt  in  die 
Eisenbahnschule   ist  das  Alter  von  14  V2  Jahren  festgesetzt. 

Gegenwärtig  sind   überhaupt  die  Handelsschulen  an 


570  Jahresbericht  1899. 

der  Tagesordnung.  Solche  wurden  (nach  dem  stenographischen 
Bericht  des  zweiten  Congresses  für  das  kaufmännische  Unter- 
richtswesen in  Deutschland)  in  Bussland  schon  1773  und  1804 
und  seither  noch  mehrere  gegründet.  In  Finnland  allein  gibt 
es  dermalen  8  solche.  In  Italien  sollen  über  60,000  Schüler 
solche  technische  und  industrielle  Schulen  besuchen,  wozu 
wir  ein  kleines  Fragezeichen  machen.  Deutschland  zählt  63 
Handelslehranstalten  mit  5681  Zöglingen,  Österreich-Ungarn 
fast  12,000.  Offenbar  Bind  aber  in  diesen  statistischen  An- 
gaben verschiedene  Schulen  und  Schulstufen  zusammenge- 
stellt. Eigentliche  Handelsakademien  bestehen  unseres  Wissens 
bisher  nur  in  Leipzig  für  Deutschland,  in  Antwerpen  für 
Belgien  und  vielleicht  fortan  in  St.  Gallen  für  die  Schweiz. 
In  London  besteht  eine  Privatanstalt  «the  London  school  of 
economics  and  political  science»,  die  mit  Unterstützung  der 
Londoner  Handelskammer  errichtet  worden  ist.  Dazu  kommt 
noch  die  «österreichische  Export-  und  Kolonial-Akademie  in 
Wien»,  die  1897  aus  Anlass  des  Regierungsjubiläums  des 
Kaisers  gegründet  worden  ist.  Alle  diese  eigentlichen  Aka- 
demien sind  mehr  oder  weniger  hochschulmässig  organisirt. 
Die  Konferenz  der  schweizerischen  Erziehungs- 
direktoren, welche  am  19.  Februar  in  Zürich  stattfand,  reprft- 
sentirte  alle  Kantone,  mit  Ausnahme  von  Uri,  Schwyz,  Luzern, 
Tessin  und  Freiburg.  Das  Traktandum  der  Herausgabe  eines 
Schalatlasses  fürLehrerseminarien,  Kantonsschulen  und  sonstige 
höhere  Lehranstalten  wurde  an  eine  Kommission  gewiesen, 
welcher  zu  den  nöthigen  Vorarbeiten  ein  Kredit  von  2500 
Franken  bewilligt  wurde.  Im  Ferneren  nahm  die  Konferenz 
ein  provisorisches  organisatorisches  Regulativ  für  die  Kon- 
ferenzen an.  In  der  Maturitätsfrage  wurden  die  Anträge  der 
Kommission  angenommen,  die  in  der  Hauptsache  dabin  gehen, 
dass  das  Griechische  als  fakultatives  Fach   bei   den  Maturi- 


Verwaltung.    Schulwesen.  571 

täten  zu  betrachten  sei  und  an  dessen  Stelle  neben  dem  La- 
teinischen eine  neuere  Sprache  treten  könne.  Ferner  soll  ein 
Eingreifen  der  eidgenössischen  Prüfungskommission  in  die- 
kantonalen  Maturitätsexamen  nicht  gestattet  sein.  Ein  Po- 
stulat des  Referenten  Dr.  Gobat,  die  Geographie  bei  den 
Maturitätsprüfungen  als  selbstständiges  Fach  aufzunehmen, 
wurde  gutgcheissen  und  eine  Anregung  aufgenommen,  dass 
die  Thierärzte  die  volle  Maturität  zu  bestehen  haben.  Diese 
Punkte  sollen  jedoch  nur  als  Vernehmlassung  der  Konferenz 
an  die  Erziehungsbehörden  der  Kantone  betrachtet  werden. 
Als  Ort  der  nächsten  Konferenz  wurde  St.  Gallen  bestimmt. 
Sie  soll  im  Herbste  unter  dem  Vorsitze  von  Erziehungsdi- 
rektor Kaiser,  dem  als  Beisitzer  die  Nationalräthe  Gobat  und 
Favon  beigegeben  Bind,  stattfinden.  Ferner  wurde  die  Schaffung 
eines  ständigen  Sekretariates  beschlossen  und  als  Sekretär 
Erziehungssekretär  Dr.  Huber  in  Zürich  gewählt. 

Schweizerische  Universitäten  und  Akademien. 
Nach  der  eben  erschienenen  Statistik  über  die  Frequenz  der 
schweizerischen  Universitäten  und  Akademien  im  Winter  1898/99 
haben  im  ganzen  an  diesen  Anstalten  4438  Studenten  und 
Zuhörer,  davon  937  weibliche,  studirt.  Darunter  waren  2029 
schweizerischer  Herkunft  (82  weibliche).  Die  Zahl  der  im- 
matrikulirten  Studenten  betrug  3589  (555  weibliche),  die  der 
Zuhörer  849  (382  weibliche).  Von  den  Immatrikulirten  wid- 
meten sich  der  Theologie  323,  der  Rechtswissenschaft  597 
(7  weibliche),  der  Medizin  1176  (355),  der  Philosophie  1493 
(193).  Auf  die  einzelnen  Anstalten  vertheilen  sich  die  Stu- 
denten wie  folgt:  Basel  441  (2  weibliche),  Zürich  702  (166), 
Bern  776  (117),  Genf  744  (184),  Lausanne  487  (67),  Freiburg 
322,  Neuenburg  17  (19).  Diese  letztere  Akademie  bat  di& 
Absicht  sich  ebenfalls  Universität  zu  nennen. 

Revision  der  eidg.  Maturitätsprüfung.  Das  eidg. 


£72  Jahresbericht  1899. 

Departement  des  Innern  hat  sich  an  sämmtüche  Erziehungsdirek- 
tionen der  Schweiz  gewandt  mit  der  Anfrage,  wie  sie  sich 
zu  der  vorgehabten  Revision  der  eidgen.  Maturitätsordnung 
für  Medizinalpersonen  verhielten.  In  der  Sitzung  vom  12. 
Juli  gab  nun  der  Erziehungsrath  des  Kantons  St.  Gallen  mit 
Bezug  auf  die  ihm  vorgelegten  Fragen  folgende  Meinung  ab : 
1.  Die  technische  Maturität  mit  einer  Nachprüfung  im  Latein 
soll  genügen  für  Apotheker  und  Zahnärzte,  nicht  aber  für 
Aerzte ;  2.  für  Aerzte  wird  die  Gymnasial-Maturität  verlangt 
mit  dem  Griechischen,  als  obligatorisches  Fach,  immerhin  in 
der  Meinung,  dass  davon  aus  zureichendem  Grnnde  dispensirt 
werden  könne;  3.  die  Geographie  soll  nicht  unter  die  Ma- 
turitätsfächer  aufgenommen  werden.  Auf  dieselbe  bezügliche 
Fragen  mögen  beim  Examen  in  verwandten  Lehrfächern  ge- 
stellt werden. 

Unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Dr.  Schmid,  Direktor  des 
eidgenössischen  Gesundheitsamtes,  wurde  eine  Versammlung 
von  Schulmännern,  Aerzten,  Technikern  und  Vertretern  von 
Behörden  behufs  Gründung  einer  schweizerischen  Gesellschaft 
für  Schulgesnndheitspf lege  in  Ölten  abgehalten.  Anwesend 
waren  35  Mann,  als  Vertreter  von  13  Kantonen.  Ausserdem 
waren  zahlreiche  Zustimmungen  ans  den  nicht  vertretenen 
Kantonen  eingelangt.  Das  vorgelegte  Organisationsstatnt 
wurde  durchberathen  und  das  Tagesbureau  mit  den  weiteren 
Anordnungen  betraut,  um  im  Laufe  dieses  Jahres  die  kon- 
«tituirende  Versammlung  der  Gesellschaft  abhalten  zu  können. 

Ein  schweizerischer  Lehrertag,  welcher  Anfangs  Ok- 
tober in  Bern  abgehalten  wurde,  beschäftigte  sich  wesentlich 
mit  Fragen  des  Sprachunterrichts  und  verlangte  daneben 
«energisch  die  Anhandnahme  der  Schulsubvention  durch  den 
Bund,    ungeachtet    der    vorhandenen    Finanzschwierigkeiten. 

Im  Uebrigen  beschloss  die  Versammlung: 


Verwaltung.    Schulwesen.  57$ 

1.  Für  den  höheren  Schulunterricht  kann  die  Natur- 
wissenschaft ebenso  geeignete  Grundlagen  bieten,  wie  die* 
sprachlich  historischen  Fächer.  Für  die  Gegenwart  ist  an- 
zustreben die  Vollberechtignng  aller  neunklassigen  höheren 
Schulen.  2.  Durch  Beseitigung  der  immer  noch  in  weitem 
Umfang  und  zum  Theil  sogar  in  hohem  Grade  bestehenden 
Ueberbürdung,  sowie  zur  Vermeidung  gesundheitlicher  Schä- 
digungen der  Schüler  sind  folgende  Massnahmen  zu  treffen  : 
a.  Beschränkung  und  Vereinfachung  des  Unterrichtsstoffes, 
soweit  es  den  Unterrichtszielen  enspricht,  b.  Beschränkung 
der  häuslichen  schriftlichen  Arbeiten  und  des  Memorirstoffes, 
sowie  Eindämmung  der  vielfach  noch  herrschenden  Neigung^ 
zum  Verbalismus,  c.  Fortfall  des  wissenschaftlichen  Nach- 
mittagsunterrichts, d.  Festsetzung  der  Zahl  der  wissenschaft- 
lichen Unterrichtsstunden  auf  24  wöchentlich  im  Maximum, 
e.  Einführung  von  zehn-  und  fünfzehnminutigen  Pausen  nach 
jeder  Unterrichtsstunde  in  freien  Räumen,  f.  Abschaffung  aller 
Uebergangs-  und  Versetzungsprüfungen,  g.  Erleichterung  der 
Abitnrientenprüfung  durch  Fortfall  der  mündlichen  Prüfungen 
für  den  Fall,  dass  die  Jahresleistungen  und  der  Ausfall  der 
schriftlichen  Prüfung  zufriedenstellend  waren,  h.  die  gymna- 
stischen Uebungen  sollen  niemals  zwischen  wissenschaftlichen: 
Lehrstunden  liegen. 

Wir  sind  lange  nicht  mit  allem  dem  einverstanden. 

Im  Kanton  Bern  waltete  längere  Zeit  ein  heftiger  Streit 
eines  Theils  der  Lehrerschaft  mit  dem  Erziehungsdirektor,, 
welcher  (prinzipiell  ganz  mit  Recht)  ein  sogenanntes  «Züch- 
tigungsrecht» als  einen  Ueberbleibsel  barbarischer  Zeitea 
in  den  Schulen  des  Landes  beseitigt  wissen  wollte.  Es  ist 
das  übrigens  eine  Frage  ähnlich  der  Krieg-  und  Friedens- 
frage. Praktisch  genommen  sind  einige  wohlangebrachte  und 
nicht  zu  häufige  Schläge  oft  das  einzige  Mittel,  um  einem 
bösen  Buben  Respekt  einzuflösen,  wie  lie  vielleicht  auch  so- 
gar bei  einzelnen  Gattungen  von  Verbrechen,  die  völlig  an 
das  Bübische  streifen,    am  wirksamsten   wären  und  das  Ge- 


$74  Jahresbericht  1899. 

fühl  für  Menschenwürde  nicht  verletzen  würden.  Aber  es 
ist  doch  sehr  gefährlich,  daraus  ein  allgemeines  Recht  zu 
machen  und  dasselbe  einer  Person  in  die  Hand  zu  geben,  die 
«ab  irato»  urtheilt,  Verletzter  und  Richter  in  Einer  Person 
ist  und  oft  sogar  die  Excesse  durch  Mangel  an  taktvollem 
Benehmen  verschuldet  hat.  Wir  haben  auch  aus  unserer 
Jugendzeit,  wo  solche  mit  Liebhaberei  «schlagende  Lehrer> 
(ähnlich  wie  « schlagende  Verbindungen  >)  noch  häufiger 
waren,  als  sie  es  jetzt  glücklicherweise  sind,  nicht  die 
Erinnerung,  dass  dieselben  dadurch  an  Achtung  bei  den 
Schülern  gewannen  und  dass  die  Schläge  überhaupt  viel 
nützten.  Es  dürften  also  diese  Dinge  zu  den  nicht  sehr  sel- 
tenen Vorkommnissen  gezählt  werden,  die  «ausnahmsweise) 
am  Platze  sind  und  eine  Toleranz  geniessen,  aber  niemals 
eine  feste  Regel  und  ein  förmlich  anerkanntes  Recht  bilden 
sollten.  Mit  diesem  Verlangen  hat  sich  die  bernische  Lehrer- 
schaft in  ihrer  Mehrzahl  auf  einen  offenbaren  «Holzweg> 
verirrt. 

In  der  Jahresversammlung  des  schweizerischen  Press- 
Vereins,  welche  diesmal  zu  Chur  abgebalten  wurde  und 
80  Theilnehmer,  worunter  auch  mehrere  Damen,  zählte,  wurde 
nach  dem  Berichte  der  Lausannerzeitung  im  Wesentlichen 
Folgendes  verhandelt: 

«Apres  la  lecture  du  rapport  et  des  comptes  annuels, 
M.  Börlin  a  präsente*  un  rapport  sur  les  congree  internatio- 
nal! x  de  la  presse  de  Lisbonne  et  de  Rome. 

Quelques  orateurs  ont  recommande*  au  comit6  unc  cer- 
taine  räserve,  en  ce  qui  concerne  la  repräsentation  de  la 
societe*  aux  congres  internationaux,  tout  en  continuant  a  faire 
partie  de  l'Union  de  la  presse. 

Apres  un  rapport  de  M.  le  Dr.  Bühler,  le  conrite*  a  6te 
Charge"  de  continuer  ä  s'occuper  de  la  question  de  Institution 
de  cours  destinäs  specialement  aux  journalistes  dans  les  Uni- 


Verwaltung.    Schulwesen.  575 

versitös  snisses,   ainsi   quo  de  la  publication   d'un  Annuaire 
de  la  presse  suisse. 

Les  vgbux  relatifs  a  la  reduction  de  la  taxe  de  transport 
des  jouraaux  et  des  taxes  telögraphiques  ont  6t6  presentäs 
a  nouveau  et  le  comite  a  et6  charge"  de  prendre  les  mesures 
neeessaires  dans  le  cas  oü  radministration  des  postes  per- 
sisterait  dans  son  refus.» 

Die  deutschen  Journalisten  versammelten  sich  im  Sep- 
tember sehr  zahlreich  in  Zürich. 

Aus  ausländischen,   uns  interessirenden  Verhältnissen  ist 

etwa  noch  Folgendes  zn  berichten: 

«Das  sächsische  Unterrichtsministerium  hat  eine  Ver- 
fügung erlassen,  nach  welcher  allen  die  öffentlichen  Schulen 
besuchenden  Mädchen  das  Tragen  eines  Corsets  verboten  ist, 
und  die  Verfügung  damit  begründet,  dass  das  Corset  un- 
zweifelhaft schädlich  sei,  da  es  die  körperliche  Entwicklung 
hemme.  Die  Mädchen  haben  weite,  blousenartige  Jacken  zu 
tragen.» 

Dieses  Wagniss,  in  die  weiblichen  Moden  einzugreifen, 
würden  wir  unsererseits  solange  unterwegen  lassen,  bis  die 
Frauen  selbst  in  den  Schulbehörden  vertreten  sind. 

Ueber  das  heutige  Bildungsideal  sprach  sich  der 
Professor  der  Philosophie  an  der  Berliner-Universität,  Paulsen, 
an  einem  evangelisch-sozialen  Kongress  in  Kiel  wie  folgt  aus : 

«Die  Bildung  lässt  sich  in  drei  Perioden  theilen.  Die 
erste  Periode  ist  die  klerikale,  die  zweite  die  höfisch-franzö- 
sische, die  dritte  Bildungsperiode  die  humanistisch-hellenische. 
Die  klerikale  Wissenschaft  herrschte  bis  in  den  Anfang  des 
17.  Jahrhunderts.  Die  Kirche  prägt  der  gesammten  Bildung, 
Kunst  und  Wissenschaft  ihren  Charakter  auf.  Die  Kirche 
hat  auch  vollständig  die  Erziehung  in  der  Hand.  Auch  das 
Sittlichkeitsideal,  das  Kloster,  bestimmt  die  Kirche,  obwohl 
dieses  Entsagungsideal,  wie  stets,  immer  nur  Ideal  blieb. 
Die  Sprache  der  Gebildeten  ist  die  lateinische.  Aber  bereits 
am  Ende   des  12.  Jahrhunderts   ist   eine  Reaktion  gegen  die 


576  Jahresbericht  1899. 

klerikale  Bildung  des  Mittelalters  zu  beobachten.  Es  ist  die 
Ritterbildung,  die  sogenannte  Herrenbildung  und  die  Bildung 
der  Universitäten,  die  sich  Bahn  zu  brechen  sucht.  Der 
zweite  Anfang  in  der  Bildungswendung  ist  die  Renaissance, 
der  dritte  Anfang  die  Reformation.  Am  Anfang  des  17.  Jahr- 
hunderts tritt  der  Staat  an  die  erste  Stelle,  die  Kirche  wird 
an  die  zweite  Stelle  gedrangt.  Es  erstehen  die  Ritteraka- 
demien, an  Stelle  der  Heiligenbilder  die  Bilder  der  Fürsten 
und  Herren,  an  Stelle  der  Passionsbilder  Schlachten-  und 
Jagdbilder.  Die  Ritterakademien  werden  von  der  adeligen 
Jugend  besucht.  Auf  den  Ritterakademien  wurden  Cavaliere 
ausgebildet.  Die  Universitäten  Halle  und  Göttingen  wurden 
Cavalier-Universitttten.  Am  Ende  des  18.  und  am  Anfang 
des  19.  Jahrhunderts  tritt  an  Stelle  der  höfisch-adeligen  Bil- 
dung die  bürgerliche  oder  die  humanistisch-hellenische  Bil- 
dung. Es  wird  die  Möglichkeit  geschaffen,  die  höhere  Bil- 
dung auch  den  bürgerlichen  Klassen  zugänglich  zu  machen. 
Es  bildet  sich  gewissermassen  eine  geistige  Aristokratie.  Es 
werden  die  Prüfungen,  das  Abiturientenexamen  und  die  staat- 
lichen Examina  eingeführt,  von  deren  Ergebniss  die  Er- 
langung einer  Anstellung  abhängt.  Bis  dahin  war  die  Er- 
langung einer  Anstellung  im  Staate  oder  der  Gemeinde  ledig- 
lich von  Beziehungen,  bezw.  Protektionen,  abhängig. 

Es  entsteht  nun  die  Frage:  welche  Richtung  hat  das 
Bildungsideal  in  der  Zukunft  zu  nehmen?  Es  ist  kein  Zweifel, 
das  Bildungsideal  der  Gegenwart  ist  ein  wesentlich  anderes 
als  vor  einem  Menschenalter  oder  gar  am  Anfang  dieses  Jahr- 
hunderts. Das  Bildungsideal  hat  seinen  internationalen  Cha- 
rakter abgestreift,  es  ist  zu  einem  nationalen  geworden.  Der 
Staat  bestimmt  die  Unterrichtssprache,  es  ist  die  Staats- 
sprache. Dies  ist  jedoch  nicht  ganz  zu  billigen.  Der  Volks- 
schüler muss  notwendigerweise  in  seiner  Muttersprache  unter- 
richtet werden,  wenn  der  Unterricht  ihm  zum  vollen  Ver- 
ständniss  kommen  soll.  Etwas  anderes  ist  es  bei  dem  ent- 
wickelten Menschen.  Desshalb  kann  ich  es  nicht  billigen, 
dass  die  Regierung  in  den  schleswig-holsteinischen  Schulen 
die  dänische  Sprache  als  Unterrichtssprache  verboten  hat. 
(Theilweises  Bravo.)    Bereits  in  den  Revolutionsjahren  1848 


Verwaltung.    Schulwesen.  677 

und  1849  wurde  die  Zurückdrängung  der  altklassischen  Spra- 
che, insbesondere  des  Lateinischen,  zu  Gunsten  der  modernen 
Sprachen  und  der  Realwissenschaften  gefordert.  Damals 
wurde  diesem  Verlangen  nicht  stattgegeben.  Inzwischen  sind 
aber  die  alten  Sprachen  derartig  zurückgedrängt,  dass  es 
fraglich  erscheint,  ob  sie  noch  einen  Werth  für  die  geistige 
Ausbildung  haben.  Es  wäre  besser  gewesen,  die  klassischen 
Gymnasien  oder  die  Realgymnasien  bestehen  zu  lassen  und 
letzteren  volle  Gleichberechtigung  zu  gewähren.  Das  Bil- 
dungsideal ist  seit  dem  Anfange  dieses  Jahrhunderts  ein  an- 
deres geworden.  Während  am  Anfang  dieses  Jahrhunderts 
die  Philosophie  und  Philologie  die  ersten  Studienfächer  waren, 
sind  es  jetzt  die  Medizin  und  die  Naturwissenschaften.  Ein 
weiterer  Beweis  für  die  Wandlung  des  Bildungsideales  sind 
die  Fachschulen.  Während  früher  die  Religion  den  Unter- 
richt beherrschte,  hat  der  Religionsunterricht  keine  Bevor- 
zugung in  den  Lehrplänen  mehr.  Aber  auch  unsere  Jugend 
ist  eine  ganz  andere  geworden.  Die  jetzige  Jugend  interessirt 
sich  bedeutend  mehr  für  Afrikareisen  und  Nordpolforschungen 
als  für  die  Irrfahrten  des  alten  Odysseus.  Es  geht  ein  all- 
gemeiner Bildungsdrang  durch  alle  Schichten  des  Volkes. 

Wenn  der  Staat  seinen  Bestand  erhalten  und  stärken 
will,  dann  ist  es  seine  Pflicht,  dafür  zu  sorgen,  dass  kein 
Talent  seiner  Glieder  verloren  geht,  dass  Jeder  die  Möglich- 
keit erhält,  die  höchste  Bildungsstufe  zu  erreichen.  Dieses 
Interesse  wird  am  besten  sichtbar  an  der  allgemeinen  Wehr- 
pflicht. Die  allgemeine  Wehrpflicht  ist  ohne  allgemeine 
Schulpflicht  undenkbar.  Aber  auch  die  Entwicklung  des  gc- 
sammten  Wirtschaftslebens,  insbesondere  des  Genossenschafts- 
wesens, das  für  den  Bestand  und  die  Kraft  des  Staates  und 
der  Gesellschaft  von  grösster  Bedeutung  ist,  hängt  von  der 
Entwicklung  der  allgemeinen  Volksbildung  ab.  Der  stumpf- 
sinnige Mensch  schliesst  sich  keiner  Genossenschaft  an.  Die 
Ausbildung  der  Genossenschaften  hat  die  grösstmöglichste 
Ausbildung  der  Verstandeskräfte  zur  Voraussetzung.  Ein 
grosser  Missstand  ist,  dass  die  grosse  Masse  des  Volkes  mit 
dem  14.  Lebensjahr  aus  der  Schule  entlassen  wird  und  sich 
alsdann  zumeist  selbst  überlassen  ist.    Dringend  erforderlich 

37 


578  Jahresbericht  1899. 

ist  es,  für  diese  Jugend  Fortbildungsschulen,  die  von  den 
aus  der  Schule  Entlassenen  bis  zum  20.  Lebensjahre  besacht 
werden  müssten,  zu  errichten.  Es  ist  nicht  zu  verkennen, 
dass  in  den  niederen  Ständen  ein  ungemein  starker  Bildungs- 
drang vorhanden  ist,  der  meiner  Ueberzeugung  nach  nicht 
mehr  zurückzudrängen  ist.  Es  ist  eine  Ehrenpflicht  des 
dritten  Standes,  in  dieser  Beziehung  dem  vierten  Stand  die 
Hand  zu  reichen.  Unsere  Pflicht  als  evangelisch-sozialer 
Eongress  ist  es,  dem  Volk  die  Hand  zu  reichen  und  alles  zu 
thun,  was  wir  können.» 

In  Bezug  auf  die  alten  Sprachen  und  die  Naturwissen- 
schaften sind  wir  durchaus  entgegengesetzter  Meinung  und 
halten  vielmehr  nur  die  ersteren  und  keineswegs  die  letz- 
teren für  die  Grundlage  einer  wirklich  diesen  Namen  ver- 
dienenden Bildung.  Wollte  man  sie  ersetzen,  so  müssten  sie 
durch  die  Geschichte,  welche  allerdings  auch  eine  Ge- 
schichte der  Entwicklung  der  Naturkenn tniss  sein  niuss.  er- 
setzt werden,  niemals  aber  durch  das,  was  man  jetzt  Natur- 
wissenschaften nennt,  die  einen  sehr  grossen  technischen,  aber 
einen  geringen  Bildungswerth  haben,  indem  sie  den  Charakter 
des  Menschen  wenig  beeinflussen  und  entwickeln. 

In  Deutschland  ist  auch  ein  neuer  Kampf  über  die  Aus- 
sprache des  Altgriechischen  entbrannt,  der  seit  den  Tagen 
des  Erasmus  und  Reuchlin  schon  datirt. 

«Die  Frage,  ob  man  reuchlinisch,  d.  h.  nach  neugrie- 
chischer Art,  oder  erasmisch,  d.  i.  auf  eine  aus  alten  Zeug- 
nissen erschlossene  und  dem  Buchstaben  gemässe  Weise 
sprechen  solle,  war  schon  fast  völlig  zu  Gunsten  des  Eras- 
mus entschieden,  als  mit  dem  Wiedererwachen  des  griechi- 
schen Nationalbe wusstseins  die  Gegenpartei  wieder  eine  be- 
trächtliche Stärkung  erhielt.  Es  begannen  lange  Erörterungen, 
selbst  auf  Philologenversammlungen,  und  es  wurden  von  grie- 
chischer Seite  gewaltige  Anstrengungen  gemacht,  der  von 
Erasmus  über  den  Haufen  geworfenen  Aussprache  wieder  zur 
Aufnahme    zu    verhelfen.     Dazu    brauchte    man    vor  Allem 


Verwaltung.    Seh  ulwesen.  579 

wissenschaftliche  Waffen,  und  um  diese  Waffen  zu  suchen 
und  zu  finden,  geschulte  grammatische  Kräfte;  doch  war  es 
hiemit  auf  der  reuchlinischen  Seite  schlecht  bestellt.  Hatte 
man  ein  Beispiel  eines  Lautwandels  gefunden,  so  sollte  dies 
für  einen  ganzen  Zeitraum  beweisend  sein,  dann  vergass  man, 
dass  doch  Zeugnisse  aus  hellenistischer  oder  gar  römischer 
Zeit  für  das  Attische  nichts  darthun.  So  war  es  denn  Fried- 
rich Bloss  ein  Leichtes,  in  seinem  grundlegenden  Werk  über 
die  Aussprache  des  Griechischen  alle  Scheingründe  zu  besei- 
tigen. Indessen  gab  man  auf  der  anderen  Seite  die  Sache 
nicht  auf.  Man  versuchte  nun  durch  immerwährendes  Vor- 
predigen der  abgethanen  Dinge  sich  Gebor  zu  verschaffen 
und  schien  nur  darauf  zu  warten,  bis  die  Gegenpartei  da- 
durch ermüdet  die  Hand  zum  Frieden  darböte.  Gewonnen 
wird  dabei  nichts:  Russland  nahm  die  deutsche  Aussprache 
des  Griechischen  an,  und  ein  Versuch,  die  renchlinische  Rich- 
tung in  Ungarn  zur  Geltung  zu  bringen,  ist  unlängst  niiss- 
lungen.  Der  neueste  Vorstoss  der  Reuchlinianer  geht  nun  von 
der  griechischen  Regierung  aus.  Sie  hat  durch  ein  Rund- 
schreiben die  Unterrichtsbehörden  der  vornehmsten  Staaten 
davon  in  Kenntniss  gesetzt,  dass  nach  dem  heutigen  Stande 
der  Wissenschaft  es  nicht  mehr  zweifelhaft  sein  könne,  dass 
die  neugriechische  Aussprache  im  allgemeinen  auch  schon  im 
Alterthum  angewendet  worden  sei,  und  sie  bittet,  die  Sache 
auf  Grund  des  von  dem  Griechen  Papadimitrokopulos  zu  diesem 
Zweck  ausgearbeiteten  wissenschaftlichen  Werkes  zu  prüfen 
und  weiter  zu  verfolgen.  In  ganz  besonderer  Weise  hat 
man  sich  dabei  an  das  preussische  Unterrichtsministerium  ge- 
wandt, denn  wird  erst  der  zur  Zeit  auf  dem  Gebiete  der 
griechischen  Sprachwissenschaft  herrschende  Einfluss  deutscher 
Gelehrsamkeit  gebrochen,  dann  ist  der  Hauptgegner  besiegt.» 

Im  Herbst  1898  tagte  auf  Anregung  der  päpstlichen 
Kurie  in  St.  Gallen  ein  internationaler  Kongress,  um  die 
Frage  zu  erörtern,  in  welcher  Weise  die  einem  sicheren  Ver- 
derben entgegengehenden  wer  thvollen  alten  Handschriften 
weiterhin  zu  erhalten  und  auszubessern  sein  würden.  Auf 
dieser  Konferenz  wurde  von  dem  von  der  kgl.  sächs.  Staats- 
regierung  entsandten   Delegirten  eine  Imprägnirung  geschä- 


580  Jahresbericht  1899. 

digter  Handschriften  (Zapon-Verfahren)  empfohlen,  wie  diese 
von  dem  kgl.  sächsisch.  Kriegsministerium  für  die  Zwecke 
der  Benutzung  von  Generalstabskarten  im  Freien  erfunden, 
angewendet  und  zu  gleichem  Zweck  auch  von  Prenssen  und 
Oesterreich-Ungarn  übernommen  wurde.  Die  St.  Gallener  Kon- 
ferenz hat  neben  anderen  ihr  vorgeführten  Conservirungs- 
methoden  die  Empfehlung  dieser  Imprägnirnng  von  deren 
weiterer  Prüfung  abhängig  gemacht.  Da  nun  die  im  hygie- 
nisch-chemischen Laboratorium  des  Kriegsministeriums  fort- 
gesetzten Untersuchungen  den  Vorzug  der  Imprägnirung  vor 
den  in  St.  Gallen  empfohlenen  Methoden  ergeben  haben  dürften 
und  die  Imprägniruug  sich  namentlich  als  ein  bisher  uner- 
reichtes Schutzmittel  für  dem  Verfall  entgegengehende  Archi- 
valien erwiesen  hat,  so  sind  von  dem  kgl.  sächs.  Kriegsmi- 
nisterium die  deutschen  Bundesstaaten,  Standesherren  und 
eine  grössere  Zahl  von  Städten  ersucht  worden,  Vertreter 
ihrer  Archive  zu  einem  vom  17.  bis  19.  September  d.  J.  in 
Dresden  tagenden  Congress  entsenden  zu  wollen.  Die  kgl. 
sächs.  Staatsregierung  erhofft  von  der  regen  Betheiligung  der 
Eingeladenen  die  seit  langer  Zeit  schwebende  Frage  der  Er- 
haltung und  Ausbesserung  schadhaft  gewordener  Schriftstücke 
zu  Nutz  und  Frommen  der  Archive  und  der  Wissenschaft 
zur  Lösung  zu  bringen.  Näheres  über  den  weiteren  Fort- 
gang der  Sache  ist  uns  nicht  bekannt  geworden. 

Soziales.  Das  Interessante  in  diesem  Kapitel,  das  wir 
zum  Theil  schon  unter  «Partei Verhältnisse»  berührt  haben, 
ist  kurz  gesagt  das,  dass  der  international-revolutionäre  So- 
zialismus, wie  er  s.  Z.  durch  das  «kommunistische  Manifest» 
von  Marx  und  Engels  als  der  Sieger  der  nächsten  Zukunft 
proklamirt  wurde,  nun,  nach  50  Jahren  vergeblichen  Wartens 
und  beständigen  Venröstens  der  «Enterbten»  auf  einen  bal- 
digen Zusammenbruch  der  bisherigen  Gesellschaft,  bei  der  Ab- 
rüstung angekommen  ist,  während  sich  die  bürgerliche  Ge- 
sellschaft immer  mehr  aufrafft,  um  die  wirklich  gesunden 
Ideen,    die    im  Sozialismus  liegen,   durch  ihre  Gesetzgebung 


Soziales.  581 

und  Rechtsprechung  zur  That  und  Wahrheit  zu  machen  und 
dem  wirklichen  Ueberwuchern  eines  ebenso  internationalen 
Kapitalismus  Schranken  zu  setzen.  In  dieser  letzten  Richtung 
sind  besonders  zwei  neue  «Ringe»  zu  verzeichnen,  worüber 
die  Zeitungsberichte  wie  folgt  lauten : 

«Vierzehn  Schweiz.  Kalkfabriken ,  mit  einer  Gesammt- 
produktion  von  jährlich  über  10,000  Waggons  hydraulischem 
Kalk,  haben  sich  zu  einer  Genossenschaft  vereinigt  und  er- 
richten in  Zürich  eine  gemeinschaftliche  Verkaufsstelle.  Die 
Leitung  dieser  Verkaufsstelle  ist  Herrn  Abraham  Egger  in 
Luzern  als  Direktor  übertragen  worden.» 

«Les  importantes  fabriques  de  la  Belgique,  de  la  France, 
de  la  Hollande,  de  la  Suisse,  de  l'Autriche-Hongrie  et  de 
l'Allemagne  se  sont  räunies  ä  Cologne  pour  constituer  une 
association  internationale  des  fabriques  de  fer-blanc  et  d'6mail. 
L'assembläe  a  r6digä  les  Statuts  de  l'association,  lesquels  en- 
treront  immädiatetnent  en  vigueur.  Les  prix  des  fabriques 
allemandes  ont  6t6  acceptös  et  ont  6t6  eleväs  de  5%  pour 
une  särie  des  principanx  articles.  Parmi  les  membres  de 
l'association  internationale  figure  M.  Karl  Wickardt,  de  la 
fabrique  d'objets  de  mätal  de  Zoug.» 

Gegen  diese  Ringe  wird  in  kürzerer  Zeit  die  schweize- 
rische Gesetzgebung  nothwendig  Stellung  nehmen  müssen. 

Einstweilen  hat  das  Bezirksgericht  St.  Gallen  jüngsthin 
in  Anwendung  der  Strafbestimmungen  des  kantonalen  Ar- 
beiterinnenschutzgesetzes eine  K  leider  mach  erin  mit 
Fr.  200  Busse  bestraft,  weil  diese  wiederholt  ihre  Lehrtöchter 
bis  Nachts  11  Uhr,  einmal  sogar  bis  2  Uhr  Morgens  mit  an- 
strengenden Näharbeiten  beschäftigte,  ohne  je  Ueberarbeits- 
zeit-Bewilligung  eingeholt  zu  haben.  Die  Ueberanstrengung 
war  ziemlich  gross  und  daher  den  Töchtern  schädlich,  besonders 
für  die  Angen.    Die  Beklagte  kannte  das  Gesetz  gut  genug, 


582  Jahresbericht  1899. 

da  sie  schon  einmal  wegen  dieser  Uebertretung  bezirksamtlich 
mit  Fr.  5  gebüsst  wurde.  Das  Gericht  fand,  dass  diese  milde 
bezirksamtliche  Busse  nicht  als  Warnung  aufgefasst  worden 
sei,  sondern  eher  zu  der  Berechnung  Anlass  gegeben  habe, 
dass  die  Yortheile  der  Zuwiderhandlung  die  Strafen  über- 
steigen. 

Der  Kanton  Aargau  hat,  um  die  Bevölkerung  vor  Tän- 
schung  und  Ausbeutung  zu  schützen,  eine  Verordnung  betreffend 
den  Verkauf  und  das  Ausbieten  von  Lotterieloosen  erlassen 
Darnach  ist  der  Verkauf  und  das  Ausbieten  von  Lotterieloosen 
jeder  Art,  mit  Ausnahme  der  Prämienloose,  untersagt.  Für 
den  Verkauf  und  das  Ausbieten  von  Prämienloosen  ist  ein 
Patent  des  Regierungsrathes  erforderlich.  Ein  solches  Patent 
erhalten  nur  solche  Bewerber,  die  gut  beleumdet  und  eigenen 
Rechtes  sind.  Sie  haben  bei  der  Staatskasse  eine  Realkaution 
zu  deponiren :  auswärtige  Firmen  haben  überdiess  im  Kanton 
ein  Domizil  zu  verzeigen.  Der  Inhaber  eines  Patenten  darf 
nur  solche  Wertpapiere  ausbieten  und  in  Verkehr  setzen, 
für  die  er  von  der  Regierung  die  besondere  Erlaubniss  er- 
halten hat.  Mit  dem  Gesuche  um  die  Bewilligung  sind  die 
bezüglichen  Geschäftspapiere  und  Publikationen  der  Behörde 
vorzulegen.  Ratenloose  dürfen  ohne  Uebertragung  des  Original- 
titeis  nicht  verkauft  werden.  Alle  Zuwiderhandlungen  gegen 
diese  Verordnung  sind  den  Bezirksgerichten  zu  verzeigen  und 
von  denselben  an  der  Hand  des  bezüglichen  Gesetzes  vom 
Jahre  1838  abzuwandeln.  Die  Namen  der  patentirten  Händler 
für  Prämienloose  sollen  den  im  Kanton  erscheinenden  Zei- 
tungen bekannt  gegeben  werden.  Den  Verlegern  ist  unter- 
sagt, Publikationen  über  Lotterielose  und  Prämienloose  von 
anderen  Personen  als  den  patentirten  Händlern  aufzunehmen. 
Zuwiderhandlungen  sind  ebenfalls  von  den  Gerichten  zu  be- 
strafen. 


Soziales.  683 

Mehrere  Kantone  haben  bereits  die  gemeingefährlichen 
Hydra-  oder  Schneeballen  -Verkaufssysteme  ver- 
boten. Diese  ursprünglich  von  Damen  zu  Kollekten-Zwecken 
gebrauchte  Erfindung  wird  in  einem  Blatte,  wie  folgt,  ge- 
schildert : 

«Vor  uns  liegt  der  Gutschein  Nr.  1426  einer  luzernischen 
Uhren-  und  Bijouteriehandlung,  versehen  mit  5  Coupons.  Für 
den  Gutschein  hat  der  Kaufer  A  6  Fr.  bezahlt.  Die  Coupons 
kann  er  zu  je  1  Fr.  an  seine  Bekannten  B,  C,  D,  £  und  F 
verkaufen.  Thut  er's  nicht,  so  sind  seine  6  Fr.  verloren.  Dem 
betr.  Geschäft  hat  er  dann  die  Adressen  seiner  Couponskäufer 
mitzutheilen,  worauf  jedem  derselben  wieder  ein  Gutschein 
mit  Coupon  gegen  Nachnahme  von  Fr.  5  zugesandt  wird. 
Lösen  B,  C,  D,  E  und  F  die  Nachnahmen  ein,  so  hat  dann 
A  das  Recht,  für  30  Fr.  Waaren  zu  beziehen.  Die  Rechnung 
ist  folgende:  A  hat  6  Fr.  für  den  Gutschein  bezahlt,  dagegen 
aber  5  Fr.  für  die  Coupons  eingenommen.  Er  erhält  .also 
Waaren  im  Werthe  von  30  Fr.  und  hat  dafür  effectiv  nur 
1  Fr.  ausgegeben.  Darin  liegt  die  treibende  Kraft  des  Sy- 
stems. Die  Uhrenhandlung  florirt  dabei  und  ihr  Inhaber  kann 
sich  in  kürzester  Zeit  als  reicher  Mann  vom  Geschäft  zurück- 
ziehen. Von  A  hat  er  nämlich  6  Fr.  erhalten,  von  B,  C,  D, 
E  und  F  je  5  Fr.,  zusammen  also  Fr.  31.  wofür  er  an  Waaren 
Fr.  30  abgibt.  Der  skrupellose  Geschäftsmann  verdient  also 
vorab  1  Fr.  an  jedem  Gutschein  und  sichert  sich  ausserdem 
durch  einen  erhöhten  Umsatz  einen  vermehrten  ordentlichen 
Geschäftsgewinn.  Der  Umstand,  dass  derjenige,  der  für  seinen 
einen  Franken  Waaren  «im  Werth  von  30  Fr.>  erhält,  selten 
controlliren  wird,  ob  die  gesandten  Waaren  auch  wirklich  30 
Fr.  werth  sind,  öffnet  grossartigen  Betrügereien  Thür  und 
Thor.  Das  System  spekulirt  auf  die  Gewinnsucht  und  Ein- 
sichtslosigkeit  der  Massen  und  zwingt  diejenigen,  die  sich 
durch  den  Schein  haben  blenden  lassen,  im  Interesse  des  Un- 
ternehmers thätig  zu  sein. 

Das  Verfahren,  das  wir  hier  beschrieben  haben,  ist  nur 
eine  der  vielen  möglichen  Formen  des  Systems.  Die  Zahl  der 
Coupons  kann  vermehrt,  die  Preise  dafür  und  der  Werth  der 


584  Jahresbericht  1899. 

zu  beziehenden  Waaren  kann  verändert  werden.  Es  ist  auch 
nur  ein  bescheidener  Anfang  in  der  Uhrenbranche  damit  ge- 
macht worden  und  es  steht  zu  erwarten,  dass  solche  moderne 
Ausbeuterei  sich  auch  in  andere  Branchen  einmischt,  wenn 
nicht  von  Staates  wegen  energische  Massnahmen  dagegen  er- 
griffen werden.  Der  Schaden  aber,  der  dadurch  gestiftet 
werden  könnte,  ist  nicht  abzusehen.  Auf  Kosten  einzelner 
könnten  mittlere  und  kleinere  Geschäftsleute  ganzer  Branchen 
einfach  ruinirt  werden,  denn  wer  würde  noch  bei  seinem  bis- 
herigen Lieferanten  seinen  Bedarf  decken  wollen,  wenn  er 
z.  B.  30  Mal  billiger  dieselben  Artikel  bei  einem  Hydrawaaren- 
hause  beziehen  könnten 

Endlich   hat   der  Kanton  Aargau  ein  Gesetz  über  den 

V  i eh h an  del  erlassen,  das  folgende  wesentliche  Bestimmungen 

enthält : 

«Zum  gewerbsmässigen  Betrieb  des  Handels  mit  Gross- 
und Kleinvieh  auf  dem  Gebiete  des  Kantons  Aargau  ist  der 
Besitz  eines  staatlichen  Patentes  erforderlich.  Nicht  als  ge- 
werbsmässiger Viehhandel  wird  betrachtet  der  mit  dem  Be- 
trieb eines  landwirtschaftlichen  Gewerbes  ordentlicher  Weise 
verbundene  An-  und  Verkauf  von  Vieh  und  ebenso  der  An- 
kauf von  Vieh  durch  Metzger  zum  Zwecke  des  Schlachtens, 
sofern  der  Ankauf  durch  diese  selbst  erfolgt.  Bewerber  um 
Viehhandelspatente,  welche  von  der  Staats wirthschaftsdirektion 
auf  die  Dauer  eines  Jahres  ertheilt  werden,  müssen  im  Be- 
sitze des  Aktivbürgerrechts  sein  und  einen  guten  Leumund 
besitzen ;  zudem  haben  sie  eine  Realkaution  von  Fr.  2 — 5000 
zu  leisten.  Ausserhalb  der  Schweiz  wohnende  Viehhändler 
haben  im  Kanton  Aargau  ein  Rechtsdomizil  zu  verzeigen. 
Bei  wiederholten  Uebertretungen  seuchenpolizeilicher  Vor- 
schriften kann  das  Patent  verweigert  oder  entzogen  werden. 
Für  jedes  Patent  ist  eine  jährliche  Gebühr  von  40  bis  400 
Fr.  zu  bezahlen.  Beim  Handel  mit  ausländischem  Vieh,  welches 
in  den  Kanton  eingeführt  wird,  kann  diese  Gebühr  bis  anf 
Fr.  1000  erhöht  werden.  Die  patentirten  Viehhändler  haben 
über  ihre  Vertragsabschlüsse  ein  Verzeichniss  nach  vorge- 
schriebenem Formular  zu  führen,    welches   den   zuständigen 


Soziales.  585 

Behörden  auf  Verlangen  zur  Einsicht  vorzulegen  ist.  Mit 
Geldbussen  von  20—500  Fr.,  in  schweren  Fällen  mit  Ge- 
fangenschaft, ev.  mit  Entzug  des  Patentes,  wird  bei  Viehhandel 
im  Sinne  dieses  Gesetzes  zuchtpolizeilich  bestraft :  das  Bieten 
dnrch  fingirte  Kaufsliebhaber,  d.  h.  Steigern  der  Viehpreise 
durch  eigens  vom  Verkäufer  hiezu  angestellte  Drittpersonen, 
sowie  das  Anstellen  solcher  Personen  ;  ferner  die  absichtliche 
Ausstellung  unvollständiger  und  rechtlich  unverbindlicher 
Währschaftsversprechen  und  endlich  Zuwiderhandlung  gegen 
das  hier  skizzirte  Gesetz.» 

Ueber  den   internationalen  Sozialismus   nach  der 

Marx'schen  Theorie  sprechen  jetzt  bereits  die  Sozialisten  selbst 

nicht  viel  anders  mehr,  als  wir. 

Ueber  sozialdemokratische  Prophezeiungen  äusserte  sich 
der  Abgeordnete  A  u  e  r  in  der  sozialdemokratischen  Versamm- 
lung des  dritten  Reichtagswahlkreises,  zu  Ende  des  vorigen 
Jahres  schon,  nach  dem  «Vorwärts»  wie  folgt:  «Die  Ansicht 
über  die  Katastrophentheorie  beruht  zum  grossen  Theil  auf 
Prophezeiungen.  Wie  schlechte  Erfahrungen  wir  aber  gerade 
in  der  Politik  mit  Prophezeiungen  gemacht  haben,  davon  kann 
sich  jeder  überzeugen.  Wer  erinnert  sich  nicht  an  die  Pro- 
phezeiung, dass  in  diesem  Jahre  der  grosse  Kladderadatsch 
eintreten  sollte,  der  aber  noch  nicht  eingetreten  ist !  Lieb- 
knecht hat  auch  einmal  prophezeit,  dass  das  von  Beust  ge- 
leitete Oesterreich  die  deutsche  Einheitsfrage  in  demokratisch- 
liberalem Sinne  lösen  werde.  Wer  den  Verlauf  sieht,  den  die 
Dinge  wirklich  genommen  haben,  der  wird  sagen :  Prächtiger 
Kerl,  aber  schlechter  Prophet!  (Heiterkeit).  Also  vor  Pro- 
phezeiungen soll  man  sich  in  der  Politik  hüten.  Die  Elends- 
Theorie  wird  schon  lange  scharf  kritisirt.  Nun  ist  es  aller- 
dings richtig,  dass,  wenn  wir  die  Elends-Theorie,  wie  sie  bis- 
her von  uns  vertreten  wurde,  aufgeben,  auch  die  Einleitungs- 
sätze des  Erfurter  Programms  nicht  bestehen  bleiben  können, 
denn  die  sind  auf  dieser  Theorie  aufgebaut.»  In  dem  Erfurter 
Programm  von  1891  hiess  es  bekanntlich,  dass  die  ökonomische 
Entwicklung  der  bürgerlichen  Gesellschaft  dahin  dränge,  die 
Produktionsmittel  zum  Monopol   einer  kleinen  Zahl  von   Ka- 


586  Jahresbericht  1899. 

pitalisten  und  Grossgrundbesitzern  zu  machen.  Daraus  folge 
für  das  Proletariat  und  die  versinkenden  Mittelschichten 
wachsende  Zunahme  ihres  Elends  und  ihrer  Ausbeutung,  Zu- 
nahme der  Proletarier  und  der  überschüssigen  Arbeiter,  Er- 
weiterung des  Abgrundes  zwischen  den  Besitzenden  und  Be- 
sitzlosen. Desshalb  sei  das  Privateigentum  an  Produktions- 
mitteln unvereinbar  geworden  mit  der  weiteren  Entwicklung.» 

Ueber  andere  frühere  Lieblingstheorien  des  Sozialismus 
äusserte  sich  der  Genosse  Be r  n  s  t  ei n ,  früherer  Redaktor  des 
«Sozialdemokrat»  in  seiner  unter  «Partei Verhältnisse»  bereits 
besprochenen  Schrift  noch  entschiedener: 

«Was  zunächst  den  Untergang  der  Kleinbetriebe  betrifft, 
so  erklärt  Bernstein :  im  Gegentheil,  nur  die  Zwergbetriebe 
gehen  zurück,  die  Klein-  und  Mittelbetriebe  im  Gewerbe 
nehmen  zu.  Ebenso  ist  es  im  Handel;  es  ist  «utopistisch», 
von  den  kapitalistischen  Waarenhäusern  eine  nennenswerthe 
Aufsaugung  der  kleineren  und  mittleren  Geschäfte  zu  erwarten; 
sie  schädigen  wohl  einzelne  kleinere  Geschäfte,  aber  neue 
Spezialitäten  und  neue  Combinirung  von  Geschäften  bilden  sich 
aus.  «Vielfach  zeigt  der  kleine  Mittelbetrieb  die  stärkste  Zu- 
nahme; die  Landwirtschaft  zeigt  entweder  Stillstand  oder 
direkt  Bückgang  des  Grössenumfangs  der  Betriebe.  Und  die 
Verminderung  der  Besitzenden  ?»    Bernstein  antwortet : 

«Dass  die  Zahl  der  Besitzenden  zu-  und  nicht  abnimmt, 
ist  nicht  die  Erfindung  bürgerlicher  Harmonie-Oekonomen, 
sondern  eine  von  den  Steuerbehörden  oft  sehr  zum  Verlust 
der  Betreffenden  ausgekundschaftete  Thatsache,  an  der  sich 
heute  gar  nicht  mehr  rütteln  lässt.» 

Dann  wirft  er  die  «Krisentheorie»  mit  Zahlen  um  und 
die  Zusammenbruchstheorie,  die  «Diktatur  des  Proletariats», 
beschreibt  er  wie  folgt  : 

«sie  heisst,  wo  die  Arbeiterklasse  nicht  schon  sehr  starke 
eigene  Organisationen  wirtschaftlichen  Charakters  besitzt  und 
durch  Schulung  in  Selbstverwaltungskörpern  einen  hohen  Grad 
von  geistiger  Selbständigkeit  erreicht  hat,  die  Diktatur  von 
Klubrednern  und  Literaten.» 

Die  «Konzentration  des  Kapitals»  wirft  er  mit  dem  Nach- 


Soziales.  587 

weis  um,  dass  gerade  die  Form  der  Aktiengesellschaft  die 
Aneignung  von  Kapitalien  durch  einzelne  Magnaten  zum  Zweck 
der  Konzentrirung  gewerblicher  Unternehmen  überflüssig 
mache.  Aehnlich  behandelt  er  die  Lobpreisung  des  Milizsy- 
steins, die  üblichen  Angriffe  auf  die  auswärtige  und  Kolonial- 
politik, und  stürzt  damit  alle  die  Götzen,  die  die  jetzige 
Führung  der  Sozialdemokratie  errichtet  hat,  um  zum  blinden 
Kultus  davor  die  ihnen  glaubenden  Massen  zu  führen.  Die 
«Nat-lib.  Korr.»  bemerkt  hiezu: 

«Natürlich  haben  die  Theoretiker  der  orthodox-marxisti- 
schen Schule  gegen  diese  Kritik  mobil  gemacht,  und  an  kräf- 
tigen Worten  wird  nicht  gespart,  wo  die  Thatsachen  dafür 
sprechen :  dass  die  bestehende  Gesellschaftsordnung  denn  doch 
zu  fest  gefügt  ist,  um  den  Angriffen  zu  erliegen,  die  bisher 
von  den  leitenden  Geistern  der  Sozialdemokratie  gegen  sie 
geführt  worden,  und  dass  die  verlästerte  Gesellschaft  an  der 
Hebung  der  Arbeiter  arbeitet,  nicht  aus  Furcht  vor  sozial- 
demokratischem Ueberdruck,  sondern  aus  dem  eigenen  Gewissen 
heraus.  Für  die  praktische  Politik  ist  diese  Auseinandersetzung 
weder  zu  unter-  noch  zu  überschätzen.  Nicht  mit  program- 
matischen Gesichtspunkten  kämpft  im  Deutschen  Reich  die 
Führung  der  Sozialdemokratie,  sondern  mit  Mitteln  des  An- 
griffs, die  an  sich  weder  mit  Demokratie  noch  mit  Sozialis- 
mus etwas  zu  thun  haben,  sondern  Mittel  reiner  Zerstörung 
sind.  Und  diesen  muss  der  Staat  entgegenwirken,  indem  er 
die  ihm  gesetzlich  geschaffene  Wehr  alle  Zeit  bereit  hält. 
Wohl  aber  ist  dieser  Zwischenfall  nützlich,  um  die  Papier- 
wände herunterzureissen,  hinter  denen  die  Gewaltpolitiker, 
die  jetzt  die  Bureaukratie  der  sozialdemokratischen  Partei 
beherrschen,  ihr  persönliches  Machtinteresse  verbergen,  um 
die  irregeführte  Arbeiterschaft  hinter  sich  zu  behalten. 

Der  «Vorwärts»,  der  seine  Gegensätzlichkeit  zur  bür- 
gerlichen Presse  unter  anderem  damit  markirt,  dass  er  keinen 
Kurszettel  enthält,  bringt  in  seiner  jüngsten  Nummer  unter 
der  Ueberschrift  «Vom  Weltmarkt»  eine  Auslassung,  die  sich 
in  nichts  von  derartigen  Darstellungen  unterscheidet,  wie  sie 
auch  die  bürgerliche  Presse  zu  bieten  pflegt  und  die  zur  Il- 
lustration der  Sachlage  es  auch  nicht  verabsäumt,  die  Kurs- 


Ö88  Jahresbericht  1899. 

Veränderungen  mit  der  Angabe  der  Dividenden  zusammen  zu- 
stellen. Man  wird  diese  Thatsache  und  auch  die  verhältniss- 
mässig  unbefangene  Behandlung  der  Dinge  —  es  wird  in  dein 
Artikel  der  Rückgang  der  Papiere  weniger  auf  das  unmittel- 
bare Bevorstehen  einer  industriellen  Krisis,  als  auf  die  zum 
Theil  durch  Ueberspekulation  in  Effekten,  zum  Theil  durch 
den  Transvaal-Krieg  hervorgerufene  Spannung  zurückgeführt 
—  man  wird  all  das  von  manchen  Seiten  aus  als  einen  Beleg 
für  die  sich  innerhalb  der  Sozialdemokratie  vollziehende 
Mauserung  ansehen.» 

Diese  Wendung  der  Dinge,  die  eine  thatsächliche  Wider- 
legung der  wesentlichen  Theorien  des  Sozialismus  bedeutet, 
wird  hoffentlich  ihre  Wirkungen  auch  auf  die  Schweiz  er- 
strecken. Schon  der  diesjährige  M  a  i  t  a  g  verlief  sehr  ruhig ; 
in  manchen  ganz  grossen  Betrieben ,  wie  z.  B.  Gebrüder 
Sulzer  in  Winterthur,  wurde  Vormittags  mit  wenigen  Aus- 
nahmen gearbeitet ;  viele  Arbeiter  machten  mit  Weib  und 
Kind  andere  Ausflüge,  als  den  der  Partei.  Von  «Imponiren» 
durch  diese  Demonstrationszüge  ist  dermalen  kaum  ernstlich 
die  Rede  mehr. 

Ueber  den  Selbstmord  der  Frau  Eleonore  Marx,  Tochter 
des  Sozialistenpapstes  Carl  Marx,  wurden  erst  nachträglich 
nähere  Umstände  bekannt,  die  auch  zur  Aufklärung  dienen 
können.  Demnach  war  sie  mit  Dr.  Aveling,  als  dessen  Frau 
sie  galt,  niemals  gesetzlich  verheirathet  und  als  derselbe  sich 
demgemäss  ohne  viele  Umstände  mit  einer  Anderen  zu  ver- 
heirathen  gedachte,  wurde  ihr  das  Leben  zur  Last,  obwohl 
sie  bloss  das  erfuhr,  was  sie  wohl  Hunderte  von  Malen  als 
das  Zukunftsideal  des  Verhältnisses  von  Mann  und  Frau  pro- 
phezeit hatte.  Sie  erlebte  ein  Stück  dieser  Zukunft  und  es 
schien  ihr  unerträglich.  «Was  der  Mensch  säet,  das  wird  er 
ernten.»  Oft  sieht  man  es  zwar  nicht  so  deutlich,  der  Fall 
ist  es  aber  immer. 


Soziales.  689 

Ein  Strike  der  Tunnelarbeiter  am  Simplon  wurde  in 
Folge  energischer  Massnahmen  der  Walliser-Regierung  rasch 
beendigt,  brach  dann  im  November  neuerdings  aus,  wurde 
indessen  auch  wieder  beschwichtigt,  auf  wie  lange,  steht  da- 
hin. 

Das  Bnndesgericht  hat  seine  Jurisprudenz  über  den  so- 
genannten Boykott  geändert. 

«Im  Jahr  1896  hatten  die  Mitglieder  der  Sektion  Brugg 
des  Schweizer.  Bäcker-  und  Conditorenverbandes  in  ihrem 
Fachorgan,  der  «Bäckerzeitung»,  die  Ankündigung  erlassen, 
dass  sie  mit  einem  Kollegen  ihres  Ortes  im  Streite  stehen 
and  die  Blokade  über  ihn  verhängt  haben ,  weshalb  sie  um 
die  Unterstützung  der  Verbandsgenossen  im  Kampfe,  ganz 
besonders  aber  um  strikte  Beobachtung  und  Befolgung  der 
statutarischen  Vorschriften  ersuchen.  Das  hatte  zur  Folge, 
dass  der  Verfehmte  nur  noch  mit  grösster  Mühe  und  bloss 
gegen  Bezahlung  erhöhter  Preise  Mehl  bekommen  konnte, 
weshalb  er  gegen  die  Bäcker  von  Brugg  klagbar  wurde  und 
deren  Verurtheiiung  zu  einer  angemessenen  Entschädigung 
durchsetzte,  weil  durch  die  Publikation  der  Beklagten  ein 
widerrechtlicher  Zwang  auf  die  übrigen  Verbandsgenossen, 
die  bei  Fortsetzung  des  Verkehrs  mit  dem  Verfehmten  selber 
eine  Boykottirung  riskiren  mussten,  ausgeübt  worden  sei. 
Die  blosse  Publikation  der  Verhängung  der  Blokade  hat  also 
damals  bereits  zu  einer  Verurtheiiung  geführt.  Von  diesem 
Standpunkt  ist  nun  das  Bundesgericht  in  seiner  neuesten  Ent- 
scheidung abgekommen. 

Im  Frühling  1897  hatte  der  Giessereibesitzer  Stucker- 
Boock  in  Carouge  einige  Arbeiter  entlassen  und  es  waren  des- 
wegen zwischen  ihm  und  dem  Comite  des  Syndikats  der  Genfer 
Eisenarbeiter  Differenzen  entstanden,  die  dazu  führten,  dass 
über  sein  Geschäft  die  Sperre  verhängt  und  vor  Zuzug  im 
«Grntlianer»  und  in  der  «Arbeiterstimme»  gewarnt  wurde. 
Ferner  warf  das  Comite  im  «Peupie  de  Geneve»  dem  Fabrik- 
inhaber vor,  dass  die  von  ihm  gezahlten  Löhne  und  andere 
Arbeitsbedingungen  den  Vergleich  mit  den  Verhältnissen,  wie 
sie  in  Unternehmungen  der  gleichen  Branche  bestanden,  nicht 


590  Jahresbericht  1899 

auszuhalten  vermöchten.  Acht  Tage  später  wurden  diese  An- 
gaben im  gleichen  Journal  durch  andere  Arbeiterdelegirte 
richtig  gestellt,  die  Verrufserklärung  jedoch  aufrecht  erhalten 
und  in  der  Genfer  «Tribüne >  einem  weiteren  Publikum  zur 
Kenntniss  gebracht. 

Der  angegriffene  Industrielle  belangte  hierauf  die  sieben 
Mitglieder  des  Comites  der  Arbeitskammer  auf  Bezahlung 
einer  Entschädigung  von  2500  Fr.  und  erhielt  von  den  Ge- 
richten erster  und  zweiter  Instanz  800  Fr.  zugesprochen, 
ausserdem  wurden  die  Beklagten  zur  Veröffentlichung  des 
Urtheils  auf  ihre  Kosten  im  «Peuple  de  Geneve»  verurtheilt. 
Als  sie  an  das  Bundesgericht  appellirten,  reduzirte  dieses 
zwar  die  Entschädigung  um  300  Fr.,  bestätigte  im  Uebrigen 
aber  das  ergangene  Erkenntniss,  indem  es  sich  folgender- 
massen  aussprach: 

«Die  Arbeiter,  insoweit  sie  dem  Unternehmer  vereinzelt 
gegenüberstehen,  sind  unzweifelhaft  der  schwächere  Theil, 
und  wenn  sie  im  Kampfe  um  die  Erlangung  besserer  Arbeits- 
bedingungen sich  koalisiren,  um  auf  diese  Weise  das  Gleich- 
gewicht einigermassen  herzustellen,  so  ist  das  erlaubt.  So 
wenig  im  Ferneren  es  dem  Einzelnen  verboten  ist,  die  Arbeit 
niederzulegen,  wenn  ihm  die  Arbeitsbedingungen  nicht  mehr 
konveniren,  so  wenig  kann  eine  unerlaubte  Handlungsweise 
darin  gefunden  werden,  dass  eine  Vereinigung  von  Arbeitern 
den  Ausstand  erklärt.  Auch  in  der  Publikation  dieser  Mass- 
nahme und  in  der  öffentlich  erlassenen  Mahnung,  keine  Arbeit 
mehr  bei  dem  in  Frage  stehenden  Arbeitgeber  zu  suchen, 
kann  etwas  Widerrechtliches  nicht  erblickt  werden,  so  lange 
die  Verrufserklärung  nicht  lediglich  als  ein  Akt  der  Bosheit 
aufzufassen,  oder  zur  Befriedigung  persönlicher  Rachegelaste 
zu  dienen  bestimmt  ist.  Die  Widerrechtlichkeit  beginnt  aber 
dann,  wenn  die  Mittel,  welche  zur  Durchführung  der  Sperre 
verwendet  werden,  als  rechtswidrige  bezeichnet  werden  müssen. 
Diese  Voraussetzung  trifft  nun  zu  auf  die  im  «Peuple  de 
Geneve»  erschienene  Publikation,  durch  deren  wahrheitswidrigen 
Inhalt  der  klägerische  Fabrikbesitzer  ganz  besonders  getroffen 
und  diskreditirt  werden  sollte.  Ob  Angesichts  der  kurz  dar- 
nach erfolgten  Richtigstellung   ihm   durch  jenen  Artikel  ein 


Soziales.  591 

materieller  Schaden  zugefügt  worden  sei,  lässt  sich  wohl 
nicht  feststellen;  für  den  widerrechtlichen  Angriff  auf  seinen 
Ruf  als  Arbeitgeber  gebührt  ihm  indessen  eine  angemessene 
Entschädigung  und  ist  auch  die  Veröffentlichung  des  Urtheils 
in  demjenigen  Journal,  in  welchem  der  inkriminirte  Artikel 
Aufnahme  gefunden  hat,  anzuordnen.» 

Daraus  geht  nun  hervor,  dass  die  Ankündigung  der  Ver- 
hängung der  Arbeitssperre  über  das  Etablissement  des  Klägers 
für  sich  allein,  obschon  die  Arbeiter  auch  ohne  Androhung 
von  Rechtsnachtheilen  im  Falle  der  Nichtbeachtung  der 
Mahnung  genau  wussten,  was  ihnen  von  seiten  der  organisirten 
Genossen  bevorstand,  zu  einer  Verurtheilung  nicht  genügt 
hätte,  während  dies  im  Jahr  1896  der  Fall  gewesen  war. 

Der  damals  von  der  Minderheit  des  Gerichts  vertretene 
Standpunkt  ist  nun  auch  von  der  Mehrheit  acceptirt  worden, 
was  einer  Annäherung  an  die  sozialistischen  Ansichten  gleich- 
kommt^ 

Ueber  das  Versicherungswesen  in  der  Schweiz 
gibt  der  12.  Jahresbericht  des  Eidg.  Versicherungsamtes  fol- 
gende Notizen: 

«Wir  haben  gegenwärtig  in  der  Schweiz  33  unter  Staats- 
aufsicht stehende  Lebensversicherungsgesellschaften,  wovon 
jedoch  nur  27  neue  Versicherungen  in  der  Schweiz  abschliessen. 
Der  schweizerische  Versicherungsbestand  in  diesem  Zweige 
der  Versicherung  ist  im  Jahre  1897  in  der  Kapital  Versicherung 
auf  112,067  Policen  mit  einer  Versicherungssumme  von 
606,367,257  Franken,  in  der  Rentenversicherung  auf  3988 
Policen  mit  2,088,629  Franken  Rente,  d.  h.  um  6079  Policen 
mit  25,743,706  Franken  Versicherungssumme  in  der  Kapital- 
versicherung und  150  Policen  mit  107,714  Franken  versicher- 
ten Renten  in  der  Rentenversicherung  gestiegen.  In  der 
Schweiz  sind  96,56  Procent  sämmtlicher  Policen  auf  Kapital- 
versicherungen geschlossen  und  nur  3,44  Procent  auf  Renten- 
policen. Die  sogenannte  Volksversicherung  weist  im  Jahre 
1897  ein  Anwachsen  des  schweizerischen  Bestandes  von  11,106 
auf  12,655  Policen  auf.  Das  Amt  begrüsst  dieses  Anwachsen 
einmal  desshalb,  weil  die  Volksversicherung  die  flottante  Be- 


592  Jahresbericht  1899. 

völkerung  zara  Sparen  erzieht,  und  dann  namentlich  auch 
desshalb,  weil  sie  mehr  und  mehr  das  Bedürfniss  derjenigen 
Kreise  befriedigt,  in  denen  sich  bisher  die  irrationeilen  Sterbe- 
kassen rekrutirt  haben. 

Von  Unfallversicherungs-Gesellschaften  haben  im  Jahre 
1897  dreizehn  mit  bundesräthlicher  Konzession  in  der  Schweiz 
ihr  Geschäft  betrieben.  Ihre  gesaramte  Prämien-Einnahme  be- 
trug 36,061,041  Franken  gegenüber  36,219,342  Franken  im 
Vorjahre.  Das  Amt  hebt  hervor,  dass  das  kollektive  Arbeiter- 
unfallversicherungs-Geschäft  die  schönen  Gewinne,  von  denen 
man  spricht,  nicht  abwirft;  wenn  die  «Zürich»  und  die  Win- 
terthurer  Gesellschaft  nicht  etwa  zwei  Drittel  ihrer  Prämien- 
einnahme aus  dem  ausländischen  Geschäfte  beziehen  würden, 
so  wären  die  schönen  Dividenden  dieser  Gesellschaften  nicht 
vorhanden.  Wenn  die  schweizerischen  Unfallversicherungs- 
Gesellschaften  gegenwärtig  in  erheblich  besserer  finanzieller 
Lage  sich  befinden,  als  im  Jahre  1886,  so  verdanken  sie  dies 
nach  Ansicht  des  Amtes  wesentlich  dem  Umstände,  dass  ihr 
Hauptgeschäft  nicht  die  Unfallversicherung  der  schweizerischen 
Arbeiter  ist.  Das  rentabelste  Geschäft  der  Unfall  versieh  er  ang 
ist  die  Einzelversicherung  und  hier  namentlich  die  Reisever- 
sicherung, sowie  die  Versicherung  der  Hausbesitzer  und  in- 
dustriellen Betriebe  gegen  die  Folgen  der  Schädigungen 
dritter  Personen. 

Innerhalb  der  zwölf  ersten  Jahre  seit  dem  Bestände  des 
Aufsichtsgesetzes  ist  die  Ausgabe  an  Prämien  für  die  private 
Versicherung  aller  Art  in  der  Schweiz  von  22  auf  42,3  Mil- 
lionen Franken  gestiegen.  Im  dreizehnten  Jahre  wird  die 
Verdoppelung  eingetreten  sein.  Das  widerlegt  die  bei  Erlass 
des  Gesetzes  geäusserten  Befürchtungen,  dass  eine  langsamere 
Entwickelung  als  Folge  der  angeblichen  Erschwerung  des 
Versicherungsbetriebes  eintreten  werde.  Diese  gewaltige 
Steigerung  legt  erfreuliches  Zeugniss  ab,  einmal  von  der 
Steigerung  der  materiellen  Wohlfahrt  des  Schweizervolkes 
und  zum  andern  von  dem  in  allen  Kreisen  der  Bevölkerung 
wachsenden  Verständniss  für  die  Wohithat  der  Versicherung. 

Die  Prämieneinnahme  der  einheimischen  Versicherungs- 
gesellschaften im  Schweizer  Geschäfte,  welche  im  Jahre  1886 


Soziales.  593 

47,4  Procent  aller  in  der  Schweiz  bezahlten  Prämien  betrag, 
ist  bis  1897  auf  59,9  Procent  gestiegen.  Durch  den  Hinweis 
auf  das  viele  von  fremden  Versicherungsgesellschaften  ins 
Ausland  geschleppte  Geld  wird  gelegentlich  eine  andere  Be- 
handlung der  fremden  Gesellschaften  zu  begründen  versucht. 
Das  Versicherungsamt  macht  dem  gegenüber  aufmerksam, 
dass  die  schweizerischen  Versicherungsgesellschaften  im  Jahre 
1897  im  Ganzen  an  Nettoprämien  54,120,606  Franken  einge- 
nommen haben,  wovon  25,384,684  Franken  in  der  Schweiz 
und  28,735,922  Franken,  d.  h.  die  grössere  Hälfte  ihrer  Prä- 
mien-Einnahmen im  Auslände,  während  die  ausländischen  Ver- 
sicherungsgesellschaften in  demselben  Jahre  nur  16,962,408 
Franken  an  Prämien  in  der  Schweiz  eingenommen  haben. 

Ueber  die  Geldverhältnisse,  welche  im  Verlauf 
der  Herbstmonate,  trotz  der  ausserordentlich  guten  Fremden- 
saison erheblich  knapper  wurden  und  in  Zürich  sogar  zu 
einer  Art  von  «Krach»  führten,  sagte  ein  dortiger  Bank- 
bericht : 

cDieser  Monat  dürfte  gewiss  allen  hiesigen  Börseninteres- 
sen ten  als  ganz  besonders  sorgenreich  und  verlustbringend 
auf  lange  hinaus  in  schmerzlicher  Erinnerung  bleiben.  Am 
letzten  Tag  des  Vormonats  vernahm  man  mit  Bestürzung 
die  Zahlungseinstellung  der  Firma  Grob  &  Cie.;  da  dieselbe 
mitten  in  die  Liquidationsarbeiten  der  Centralstelle  fiel,  wirkte 
sie  geradezu  verkehrshemmend  und  veranlasste  die  drastische 
Massregel,  dass  an  jenem  Samstag  den  30.  September  in  Aktien 
hier  überhaupt  nicht  gehandelt  werden  durfte.  Zwei  Banken 
schössen  alsdann  den  Betrag  der  schuldig  gebliebenen  Dif- 
ferenzen von  rund  einer  Million  Franken  vor,  gegen  frei- 
willige Verpfändung  der  Kautionen  sämmtlicher  21  Börsen- 
agenten; wäre  dies  nicht  erfolgt  so  würde  die  ganze  Liqui- 
dationsmaschinerie versagt  haben.  Es  stellte  sich  alsdann 
heraus,  dass  die  nothleidende  Firma  für  ca.  12  Millionen 
Franken  Titres  bei  sämmtlichen  Report-  und  Lombardgebern 
nicht  nur  Zürich's,  sondern  der  ganzen  Schweiz  versorgt 
hatte,  welche  Titres  jetzt  grösstenteils  auf  den  Markt  ge- 
langten, und  stark  auf  die  Kurse  drückten. 

38 


594  Jahresbericht  1899. 

Die  Verluste  ans  diesem  Zusammenbruch  waren  für 
manche  unserer  Börsenfirmen  höchst  empfindlich.  Im  Lauf 
des  Monats  kam  dann  als  zweite  Kalamität  die  Flucht  und 
der  Selbstmord  des  Inhabers  der  Commanditfirma  Blarer  & 
Cie.  und  deren  Zahlungseinstellung;  Resultat:  neue  Kursver- 
flauung,  jedoch  keine  direkten  Verluste,  da  die  jene  Firma 
kommanditirende  Bank  die  Gesammtposition,  rund  3  Millionen 
Franken  Titres,  auf  eigene  Rechnung  übernahm.  Ausser 
diesen  zwei  Firmen  treten  noch  mehrere  unserer  Börsen- 
agenten freiwillig  vom  Schauplatze  ihrer  Thätigkeit  zuiück- 
und  die  Börse  im  Allgemeinen  ist  natürlich  recht  geschwächt. 

Mit  Recht  ist  gesagt  worden,  es  brauche  nunmehr  hun- 
derte von  Kapitalisten,  um  die  Positionen  eines  einzigen 
solchen  waghalsigen  Spielers  so  zu  übernehmen,  dass  sie,  an- 
statt als  flottante  Waare  stets  auf  dem  Markt  zu  lasten,  de- 
finitiv klassirt  seien.  Es  hat  sich  eben  bei  diesen  Anlassen 
gezeigt,  dass  ein  grosser  Theil  aller  in  den  letzten  Jahren 
Torgenommenen  Kapitalerhöhungen  von  Banken  und  Industrie- 
gesellschaften nicht  vom  wirklichen  anlagesuchenden  Publi- 
kum gezeichnet  worden  sind,  sondern  nur  dazu  dienten,  der 
bereits  entfesselten  Spekulation  neue  Nahrung  zu  geben,  einer 
Spekulation,  weiche  während  Monaten  und  Jahren  willig  ihre 
Reportpositionen  mit  grossen  Geldopfern  durchgehalten  hat.» 

Also  auch  hier  ist  es  wieder  das  Spiel,  das  solche  Ka- 
lamitäten verschuldet,  und  hinter  dem  Spiel  steckt  die  über- 
mässig luxuriöse  Lebensart,  zu  der  schon  die  dermalige  Ju- 
gend durch  Lehre  und  Beispiel  angeleitet  wird  und  wofür 
die  Mittel  auf  redliche  Art  nicht  mehr  gefunden  werden 
können. 

Aus  ausländischen  Verhältnissen  berichten  wir 
noch  folgendes: 

«Strikes  sind  keine  vis  major.»  Durch  eine  Verfügung  des 
preussischen  Ministers  des  Innern,  Frhrn.  v.  d.  Recke,  wird 
künftig  bei  Vergebung  fiskalischer  Arbeiten  in  die  Verträge 
mit  den  Unternehmern  folgende  Klausel  aufgenommen. 


Soziales.  595 

«Arbeitsausstände  gelten  nicht  als  höhere  Gewalt  und 
begründen  kein  Anrecht  auf  Fristverlängerung,  oder  Preis- 
erhöhung. Anträge  auf  Fristverlängerung  können  nur  in  ganz 
besonderen  Fällen  in  Berücksichtigung  gezogen  werden  und 
unterliegen  der  Genehmigung  der  obern  Behörde,  haben  aber 
von  vornherein  keine  Aussicht  auf  Erfolg,  wenn  nicht  vom 
Unternehmer  glaubwürdig  nachgewiesen  wird,  dass  der  ge- 
werkschaftliche Verein  der  Maurer  Berlins  ausser  Stande 
war,  dem  Unternehmer  Hülfe  zu  leisten.  Mehrvergütungen 
werden  indess  auch  bei  Inanspruchnahme  des  genannten  Ver- 
eins nicht  gewährt.» 

Der  Innungsverband  deutscher  Baugewerkmeister  hat 
beschlossen,  gegen  diese  Klausel  eine  Eingabe  an  die  Re- 
gierung zu  richten. 

Der  deutsche  Gesetzesentwurf  zum  Schutz  des  gewerb- 
lichen Arbeitsverhältnisses,  weichen  die  demokratische  Presse 
als  «Zuchthausvorlage»  bezeichnet,  ist  dem  Reichs- 
tag zugegangen.    Er  hat  folgenden  Wortlaut: 

«§  1.  Wer  es  unternimmt,  durch  körperlichen  Zwang, 
Drohung,  Ehrverletzung  oder  Verrufserklärung  Arbeitgeber 
oder  Arbeitnehmer  zur  Thcilnahme  an  Vereinigungen  oder 
Verabredungen,  die  eine  Einwirkung  auf  Arbeits-  oder  Lohn- 
verhältnisse bezwecken,  zu  bestimmen  oder  von  der  Theil- 
nahme  an  solchen  Vereinigungen  oder  Verabredungen  abzu- 
halten, wird  mit  Gefängniss  bis  zu  einem  Jahre  bestraft. 

Sind  mildernde  Umstände  vorhanden,  so  ist  auf  Geldstrafe 
big  zu  1000  M.  zu  erkennen. 

§  2.  Die  Strafvorschriften  des  §  1  finden  auch  auf  den- 
jenigen Anwendung,  welcher  es  unternimmt,  durch  körper- 
lichen Zwang,  Drohung,  Ehrverletzung  oder  Verrufserklärung 

1.  zur  Herbeiführung  oder  Förderung  einer  Arbeiter- 
Aussperrung  Arbeitgeber  zur  Entlassung  von  Arbeit- 
nehmern zu  bestimmen  oder  an  der  Annahme  oder 
Heranziehung  solcher  zu  hindern, 


596  Jahresbericht  1899. 

2.  zur  Herbeiführung"  oder  Förderang  eines  Arbeiter- 
Ausstandes  Arbeitnehmer  zur  Niederlegung  der  Arbeit 
zu  bestimmen  oder  an  der  Annahme  oder  Aufsuchung 
von  Arbeit  zu  hindern, 

3.  bei  einer  Arbeiterausspermng  oder  einem  Arbeiter- 
ausstande die  Arbeitgeber  oder  Arbeitnehmer  zur 
Nachgiebigkeit  gegen  die  dabei  vertretenen  Forder- 
ungen zu  bestimmen. 

§  3.  Wer  es  sich  zum  Geschäfte  macht,  Handlungen  der 
in  §§  1,  2  bezeichneten  Art  zu  begehen,  wird  mit  Gefängnis? 
nicht  unter  drei  Monaten  bestraft 

§  4.  Dem  körperlichen  Zwang  im  Sinne  der  §§  1  bis  3- 
wird  die  Beschädigung  oder  Vorenthaltung  von  Arbeitsgeräth, 
Arbeitsmaterial.  Arbeitserzeugnissen  oder  Kleidungsstücken 
gleichgeachtet. 

Der  Drohung  im  Sinne  der  §§  1  bis  3  wird  die  plan- 
massige  Ueberwachung  von  Arbeitgebern,  Arbeitnehmern, 
Arbeitsstätten,  Wegen,  Strassen,  Plätzen,  Bahnhöfen,  Wasser- 
strassen, Hafen-  oder  sonstigen  Verkehrsanlagen  gleichge- 
achtet. 

Eine  Verrufserklärung  oder  Drohung  im  Sinne  der  §§  1 
bis  3  liegt  nicht  vor,  wenn  der  Thäter  eine  Handlung  vor- 
nimmt, zu  der  er  berechtigt  ist,  insbesondere  wenn  er  be- 
fugterweise  ein  Arbeits-  oder  Dienstverhältniss  ablehnt,  be- 
endigt oder  kündigt,  die  Arbeit  einstellt,  eine  Arbeitsein- 
stellung oder  Aussperrung  fortsetzt,  oder  wenn  er  die  Vor- 
nahme einer  solchen  Handlung  in  Aussicht  stellt. 

§  5.  Wird  gegen  Personen,  die  an  einem  Arbeiteraus- 
stande oder  einer  Arbeiteraussperrung  nicht  oder  nicht  dauernd 
theilnebmen  oder  nicht  theilgenommen  haben,  aus  Anlas» 
dieser  Nichtbetheiligung  eine  Beleidigung  mittelst  Thätlich- 
keit,  eine  vorsätzliche  Körperverletzung  oder  eine  vorsätzliche 
Sachbeschädigung  begangen,  so  bedarf  es  zur  Verfolgung 
keines  Antrags. 

§  6.  Wer  Personen,  die  an  einem  Arbeiterausstand  oder 
einer  Arbeiteraussperrung  nicht  oder  nicht  dauernd  theilnebmen 
oder  theilgenommen  haben,  aus  Anlass  dieser  Nichtbetheiligung 


Soziales.  597 

bedroht  oder  in  Verruf  erklärt,   wird  mit  Gefängtoiss  bis  zu 
einem  Jahre  bestraft. 

Sind  mildernde  Umstände  vorhanden,  so  ist  auf  Geldstrafe 
bis  zu  1000  Mark  zu  erkennen. 

§  7.  Wer  an  einer  öffentlichen  Zusammenrottung,  bei 
der  eine  Handlung  der  in  den  §§  1  bis  6  bezeichneten  Art 
mit  vereinten  Kräften  begangen  wird,  theilnimmt,  wird  mit 
Gefängniss  bestraft. 

Die  Rädelsführer  sind  mit  Gefängniss  nicht  unter  drei 
Monaten  zu  bestrafen. 

§  8.  Soll  in  den  Fällen  der  §§  1,  2,  4  ein  Arbeiteraus- 
stand oder  eine  Arbeiteraussperrung  herbeigeführt  oder  ge- 
fördert werden  und  ist  der  Ausstand  oder  die  Aussperrung 
mit  Bücksicht  auf  die  Natur  oder  Bestimmung  des  Betriebes 
geeignet,  die  Sicherheit  des  Reichs  oder  eines  Bundesstaats 
zu  gefährden  oder  eine  gemeine  Gefahr  für  Menschenleben 
oder  für  das  Eigenthum  herbeizuführen,  so  tritt  Gefängniss- 
strafe nicht  unter  einem  Monat,  gegen  die  Rädelsführer  Ge- 
fängnissstrafe nicht  unter  sechs  Monaten  ein. 

Ist  infolge  des  Arbeiterausstandes  oder  der  Arbeiteraus- 
sperrung eine  Gefährdung  der  Sicherheit  des  Reichs  oder  eines 
Bundesstaats  eingetreten  oder  eine  gemeine  Gefahr  für  Men- 
schenleben oder  das  Eigenthum  herbeigeführt  worden,  so  ist 
auf  Zuchthaus  bis  zu  drei  Jahren,  gegen  die  Rädelsführer  auf 
Zuchthaus  bis  zu  fünf  Jahren  zu  erkennen. 

Sind  in  den  Fällen  des  Abs.  2  mildernde  Umstände  vor- 
handen, so  tritt  Gefängnissstrafe  nicht  unter  sechs  Monaten, 
für  die  Rädelsführer  Gefängnissstrafe  nicht  unter  einem  Jahre 
ein. 

§  9.  Soweit  nach  diesem  Gesetz  eine  gegen  einen  Arbeit- 
geber gerichtete  Handlung  mit  Strafe  bedroht  ist,  findet  die 
Strafvorschrift  auch  dann  Anwendung,  wenn  die  Handlung 
gegen  einen  Vertreter  des  Arbeitgebers  gerichtet  ist. 

§  10.  Die  Vorschriften  dieses  Gesetzes  finden  Anwen- 
dung: 

1.   auf  Arbeits-  oder  Dienstverhältnisse,   die   unter   den 
§  152  der  Gewerbeordnung  fallen, 


598  Jahresbericht  1899. 

2.  auf  alle  Arbeits-  oder  Dienstverhältnisse  in  solchen 
Reichs-,  Staats-  oder  Kommunalbetrieben,  die  der 
Landesverteidigung,  der  öffentlichen  Sicherheit,  dein 
öffentlichen  Verkehr  oder  der  öffentlichen  Gesundheits- 
pflege dienen, 

3.  auf  alle  Arbeits-  oder  Dienstverhältnisse  in  Eisen- 
bahnunternehmnngen. 

§  11.  Der  §  153  der  Gewerbeordnung  wird  aufgehobene 

Unser   nächster  und  stets   sehr  wohlwollender  Nachbar, 

der  Grossherzog  von  Baden,  sprach  sich  nach  einem 

vor  Kurzem  erschienenen   « Skizzenbuch >    des    Schriftstellers 

v.  Gerhardt  über  den  Sozialismus,  wie  folgt,  aus: 

«Sie  haben  auch  des  öfteren  die  soziale  Frage  berührt. 
Die  Art  und  Weise,  wie  Sie  dies  thaten,  hat  mich  durchaus 
angesprochen;  man  muss  bei  Besprechung  dieser  Frage  auch 
den  Reichen  und  Vornehmen  derb  die  Wahrheit  sagen.  Nichts 
ist  verkehrter,  als  den  Sozialdemokraten  bei  Bekämpfung  der 
Doktrinen  nur  als  ihr  hochmüthiger  und  leidenschaftlicher 
Feind  gegenüberzutreten.  Man  muss  als  ihr  wohlwollender 
Helfer  auftreten  und  kann  dann  um  so  wirksamer  das  Ver- 
kehrte ihrer  Forderungen  bekämpfen.  Es  sind  Menschen  wie 
wir,  und  sie  wollen,  wie  wir,  als  Menschen  leben,  nur  die 
Mittel,  die  sie  zur  Erreichung  auch  ihrer  diskutirbaren  For- 
derungen anwenden  wollen,  sind  thöricht  und  verwerflich. 
Am  verkehrtesten  ist  es  aber,  ihnen  darin  nachzuahmen,  dass 
man  im  Kampf  gegen  sie  auch  jene  Art  von  Agitation  be- 
treibt, die  nur  Hass  und  Feindschaft  säet  und  in  der  ihre 
Wortführer  geradezu  Meister  sind;  ich  begreife  die  Leute 
hier  in  Berlin  nicht,  die  von  solchem  Vorgehen  das  Heil 
erwarten.  Die  soziale  Frage  wird  nur  durch  die  freiesten 
Köpfe  und  die  reinsten  Herzen  aus  dem  Volk  selbst  zu  lösen 
sein.  Und  da  werden  sich  freilich  auch  unsre  oberen  Stände 
gewaltig  ändern  müssen.  Hier  in  Berlin  herrscht  ein  Luxus, 
ein  Uebermuth  des  Geldes,  der  uns  mit  schwerer  Sorge  wegen 
der  Zukunft  erfüllen  kann.  Ich  bitte  Sie,  fahren  Sie  fort, 
Ihre  wohlmeinenden  Rathschläge  immer  wieder  an  jene  höheren 
Gesellschaftsschichten  zu  ertheilen,  die  in  kurzsichtigster  Ge- 


Soziales.  959 

nusssucht   für  die  Sturmzeichen  unsrer  Tage  gar  kein  Auge 
zu  haben  scheinen.» 

Hoffentlich  dringen  diese  trefflichen  Worte  in  recht 
weite  Kreise  und  finden  die  verdiente  Beherzigung.  Von 
diesen  Anschauungen  sollte  die  Bekämpfung  der  Sozialdemo- 
kratie überall  geleitet  sein,  dann  aber  eine  «Bekämpfung» 
bleiben.  Mit  einem  Uebergang  zu  ihr,  wie  ihn,  statt  dessen, 
einzelne  deutsche  Geistliche  vollziehen,  wird  unseres  Erach- 
tens  gar  nichts  ausgerichtet  werden. 

Wie  die  «ElbingerZtg.»  meldete,  sprach  sich  der  deutsche 
Kaiser  missbilligend  über  die  Arbeiterwohnungen  auf 
seinem  Gute  Cadinen  aus.  Er  äusserte  sich  wörtlich:  «In 
Cadinen  muss  noch  manches  anders  werden ;  ich  meine  beson- 
ders in  Bezug  auf  Arbeiterwohnungen.  Das  scheint  über- 
haupt noch  ein  Uebel  hier  im  Osten  zu  sein.  Der  schöne 
Viehstall  in  Cadinen  ist  ja  ein  wahrer  Palast  den  Arbeiter- 
wohnungen gegenüber.  Es  muss  dafür  gesorgt  werden,  dass 
nicht  etwa  die  Schweineställe  besser  sind,  wie  die  Arbeiter- 
wohnungen.» Den  «Agrariern»  war  dieses  Urtheil  begreiflicher 
Weise  sehr  unbequem,  denn  sie  halten  immer  noch  an  der 
Behauptung  fest,  dass  die  Arbeiterwohnungen  im  Osten  nichts 
zu  wünschen  übrig  lassen.  Das  agrarische  Hauptorgan  be- 
merkte denn  auch  zu  der  Aeusserung  des  Kaisers,  dass  die 
Arbeiter  gerade  auf  Cadinen  sehr  gut  behandelt  worden  seien, 
und  dass  die  Arbeiterwohnungen  im  Osten  im  allgemeinen 
nicht  schlecht  seien.  Wo  sie  etwa  doch  zu  wünschen  übrig 
Hessen,  da  trage  die  durch  die  Handelsverträge  gesteigerte 
Noth  der  Landwirte  die  Schuld,  und  besser  könne  das  nur 
werden,  wenn  man  der  Landwirtschaft  energisch  zu  Hilfe 
komme. 

* 

Die  englischen  Kooperativ-,  d.  h.  Produktions-  und 
Konsumvereine,  haben  in  Peterborough  während  der  Pfingst- 
tage  ihre  Jahresversammlung  abgehalten.  Die  Eröftnungsrede 
hielt  kein  Anderer  als  der  anglikanische  Bischof  von  London, 
Dr.  Creighton.    Er  behandelte  das  Thema  «Wissenschaft  ist 


600  Jahresbericht  1899. 

Macht  und  Unwissenheit  Ohnmacht»  und  betonte  dabei,  wie 
sehr  sich  die  Arbeitsverhältnisse  in  diesem  Jahrhundert  in- 
folge des  Auftretens  der  Grossindustrie  und  derTheilung  der 
Arbeit  geändert  hätten.  Der  heutige  Fabrikarbeiter  fertige 
keine  Produkte  von  Anfang  zu  Ende  an;  er  möge  ja  besser 
unterrichtet  sein  als  früher,  aber  er  sei  einseitiger  geworden 
als  früher,  und  die  Eontrole  seines  Schaffens  sei  ihm  zum 
grossen  Theil  entwunden.  Darin  zumeist  wurzle  die  Unzu- 
friedenheit der  Arbeiter;  sie  beschwerten  sich  mit  Recht, 
d  a  8  s  sie  nur  Zuthaten  der  Maschinen  seien.  Die  Kooperation 
sei  der  Gedanke,  den  sich  die  arbeitenden  Klassen  aneignen 
sollten;  durch  sie  werde  der  Geist  der  Assoziation,  welcher 
stets  in  England  mächtig  gewirkt  habe,  neu  belebt.  Die 
kooperative  Produktion  habe  bisher  schon  grossartiges  ge- 
leistet, schon  allein  ihre  erzieherische  Wirkung  sei  nicht  ge- 
ring anzuschlagen.  Der  verstorbene  Gladstone  habe  sich  für 
die  Kooperativvereine  namentlich  desshalb  erwärmt,  weil  sie 
Sparsamkeit  lehrten  und  das  unheilvolle  Kreditsystem  auf- 
heben. Dem  Kongress  in  Peterborough  wohnten  auch  Ab- 
geordnete der  holländischen  Produktiv-Genossenschaften  bei. 
Es  gibt  gegenwärtig  in  England  1845  Kooperativvereine, 
gegen  1741  im  Vorjahre,  mit  1,591,455  Mitgliedern.  Der 
Umsatz  belief  sich  auf  62,287,058  Pfd.  St.,  gegen  57,318,426 
Pfund  Sterl.  im  Jahre  1896;  der  Geschäftsnutzen  beziffert« 
sich  im  vergangenen  Jahre  auf  6,717,875  Pfd.  Sterl.  Es  ist 
erklärlich,  dass  die  Kooperativvereine  den  privaten  Geschäfts- 
leuten, denen  sie  starke  Konkurrenz  machen,  ein  Dorn  im 
Auge  sind ;  unbestreitbar  ist  jedoch,  dass  sie  vielfach  eine 
gute  erzieherische  Wirkung  auf  die  Arbeiterklassen  ausge- 
übt haben. 

Die  englische  parlamentarische  Kommission  für  das  AI  ters- 
Pensionsgesetz  veröffentlicht  ihren  Bericht  und  empfiehlt 


Soziales.  601 

darin,  jedem  Mittellosen  von  65  Jahren  an,  der  noch  nie  der  öffent- 
lichen Arinenverwaltung  znr  Last  fiel,  ausser  in  ausserordent- 
lichen Umständen,  und  der  seit  dem  45.  Lebensjahre  keine 
gerichtliche  Verurtheilung  erlitten  hatte,  eine  Pension  von 
im  Minimum  5  Schilling  und  im  Maximum  von  7  Schilling 
per  Woche  auszurichten,  wenn  sein  Einkommen  nicht  mehr 
^ls  10  Schilling  per  Woche  beträgt.  Eine  Armensteuer  soll 
einen  Theil  des  Fonds  zu  diesem  Zwecke   liefern. 

Eine  vortreffliche  Schrift  über  die  «Wohnungsfrage 
und  die  Betheiligung  der  Gemeinden  an  der  Lösung  derselben» 
gab  der  Oberbürgermeister  Beck  von  Mannheim  für  die  8. 
Konferenz  der  Centralstelle  für  Arbeiter- Wohlfahrtseinrich- 
tungen heraus. 

Der  niederländische  Professor  van  Eees  und  zwei  pro- 
testantische Pastoren  gründen  in  der  Umgebung  von  Appel- 
<ioorn  eine  Kolonie  nach  dem  vom  Grafen  Tolstoi  aufge- 
stellen  Muster.  Dort  werden  die  drei  Herren  als  gemeine 
Handwerker  gegen  eine  Bezahlung  von  700  fl.  jährlich  arbeiten. 

In  Amerika  scheint  dagegen  manches  Sonderbare  vor- 
zugehen. Die  Bettler  von  Philadelphia  haben  ihrerseits 
•eine  Vereinigung  gebildet,  welche  bezweckt,  der  Konkurrenz 
Einhalt  zu  thun.  Die  Stadt  wird  in  Bezirke  eingetheilt  und 
«dem  Bettler  wird  ein  gewisser  Eadius  angewiesen.  Jedes 
Mitglied  muss  einen  kleinen  Jahresbeitrag  entrichten  und 
wird  er  wegen  Bettelei  verhaftet,  so  zahlt  die  Vereinskasse 
seine  ihn  treffende  Geldstrafe.  Wenn  ein  Bettler  sich 
weigert,  der  Vereinigung  beizutreten,  wird  sein  Bezirk  sofort 
mit  Konkurrenten  überhäuft.  Hilft  das  nicht,  so  werden  gut- 
gekleidete Bettler,  als  tugendsame  Bürger  figurirend,  durch 
Beschwerden  bei  der  Polizei  seine  Verhaftung  herbeiführen. 
Im  Staate  Michigan  hat  das  Obergericht  der  Stadt  Detroit 
verboten,  die  Tramways  zu  munipalisiren,    also  das  zu  thun, 


602  Jahresbericht  1899. 

was  die  eidg.  Bundesstadt  mit  Beginn   des  nächsten  Jahres 
vornimmt. 

Also  en  resumä,  das  19.  Jahrhundert  schliesst  ohne  eine 
«Lösung  der  sozialen  Frage»  und  ebenso  ohne  jede  Aussicht 
auf  eine  baldige  Zerstörung  der  jetzigen  Staaten,  oder  der 
jetzigen  bürgerlichen  Gesellschaft.  Vielleicht,  dass  das  20. 
die  Sache  an  einem  anderen  Ende  anfasst.  Der  Heilsarmee- 
general Booth  sagt  einmal:  «Bring  den  Mann  in  Ordnung, 
dann  wird  er  seine  Verhältnisse  selbst  ordnen»;  das  ist  das 
allein  Richtige,  nur  das  ist  beizufügen,  man  kann  in  der 
Politik  nicht  so  lange  warten,  bis  alle  Leute,  oder  doch  die 
Mehrzahl  unter  ihnen,  persönlich  in  Ordnung  gebracht  sind, 
und  es  gehört  dazu  allerdings  auch  eine  sehr  kräftige  ökono- 
mische Fürsorge  des  Staates;  doch  ist  dieser  Gesichtspunkt 
nicht  der  Hauptpunkt,  sondern  die  moralische  Ver- 
besserung, die  allein  gründlich  hilft.  Darin  liegt  der  Irr- 
thum  der  sogenannten  «Sozialpolitik». 

Landwirthschaft.     Ueber   den   Werth    des   Vieh- 

staudes    in    der  Schweiz    sagt   ein  Artikel  des   statistischen 

Bureau's  in  der  Zeitschrift  für  schweizerische  Statistik  folgendes: 

Er  betrug  1896 :  Fr.  592,398,880, 
1886:    »     448,578,990, 
1876:    »     331,541,600, 
wobei  jeweilen  die  Bienenvölker  nicht  mitberechnet  sind. 

Das  Durchschnittsvermögen  an  Vieh  betrug  auf  1  Ein- 
wohner für  die Gesaramtschweiz,  1896:  Fr.  194,  1886:  Fr.  155, 
1876:  Fr.  J21. 

Es  ist  mithin  von  1876  auf  1896  per  Kopf  eine  Vermeh- 
rung von  Fr.  73  oder  von  62<>/0  eingetreten. 

Der  Werth  der  Pferde  beträgt  jetzt  durchschnittlich 
740,  der  Maulthiere  479,  der  Esel  195,  des  Bindviehes  345, 


Landwirthschaft.  603 

der  Schweine  76,  der  Schafe  22,  der  Ziegen  25,  der  Bienen- 
stöcke Fr.  18  per  Stück. 

Ueber  das  beständig  im  Vordergrund  der  Diskussion 
stehende  Kapitel  der  Viehseuchen  und  ihrer  Verhütung  wurde 
der  Bundesversammlung  von  dem  Vorsteher  des  Landwirth- 
schaftsdepartements  in  der  Junisitzung  dieses  Jahres  ungefähr 
folgendes  berichtet:  Der  Vorstand  des  schweizerischen  Bauern- 
verbandes hat  einen  Entwurf  eines  schweizerischen 
Viehseuchengesetzes  eingegeben.  Im  Ganzen  scheint 
die  Stimmung  vorzuherrschen,  dass  die  Sperre  eher  zu  oft 
komme,  andere  hingegen  treiben  immer  an  diesen  Sperren. 
Der  Viehhandel  mit  Oesterreich-Ungarn  hat  sich  vermin- 
dert, mit  Italien  kolossal  vermehrt.  Es  wird  jetzt  viel  mehr 
Vieh  aus  Italien  eingeführt,  als  aus  Oesterreich-Ungarn.  Der 
Viebverkehr  mit  Frankreich  ist  seit  li/f  Jahren  gänzlich 
gesperrt.  Frankreich  beharrt  darauf,  gar  kein  schweize- 
risches Vieh  einführen  zu  lassen ;  das  Verbot  betrifft  auch  den 
Transit  nach  Spanien,  der  für  das  Braunvieh  bedeutend 
ist.  Die  Eidgenossenschaft  hat  alle  nur  möglichen  Mittel 
dagegen  angewendet,  aber  ohne  Erfolg  bisher. 

Die  Delegierten  Versammlung  des  schweizer.  Bauern- 
verbandes fasste  am  6.  Februar  folgende  Beschlüsse : 

«Unter  dem  Vorbehalt  allfälliger  redaktioneller  Milderungen 
wurden  die  allgemeinen  Begründungen  angenommen,  nach 
welchen  eine  Revision  des  Bundesgesetzes  über  polizeiliche 
Massregeln  gegen  Viehseuchen  vom  8.  Februar  1872  und  der 
zudienenden  Verordnungen  anzustreben  sei,  weil  die  beutigen 
veterinärpolizeilichen  Vorschriften  dem  Stande  der  Wissen- 
schaft, insbesondere  der  bakteriologischen  Forschung  nicht 
mehr  entsprechen,  dieselben  auch  der  Aenderung  und  Ver- 
mehrung des  Viehverkehrs,  die  sich  seit  der  Eröffnung  der 
Arlberg-  und  Gotthardbahnen  vollzogen  haben,  nicht  genügend 
Rechnung  tragen,  die  gegenwärtige  Organisation  der  Viehseu- 


«04  Jahresbericht  1899. 

chenpolizei  sich  als  ungenügend  erwiesen  hat  und  die  Ent- 
schädigungsfrage der  durch  Maul-  und  Klauenseuche  in 
Nachtheil  gebrachten  Viehbesitzer  dringend  der  Lösung  bedarf. 
Für  die  Organisation  der  Seuchenverwaltung  werden  fol- 
gende Grundsätze  aufgestellt:  Es  soll  vom  Bunde  ein  beson- 
deres Viehseuchenpolizeiamt  errichtet  werden,  das  dem 
LandwirtliBchaftsdepartement  angegliedert  wird.  Die  Vieh- 
seuchenpolizei in  den  Kantonen  soll  der  Aufsicht  von  Vieh- 
seucheninspektoren unterstehen ;  denselben  fällt  die  Aufgabe 
zu,  den  Ursprung  der  Seuchenfälle  zu  ermitteln,  die  not- 
wendigen Massnahmen  anzuordnen,  eventuell  schon  angeordnete 
zu  kontrolliren  und  die  Desinfektion  der  Ställe,  Eisenbahn- 
wagen etc.  zu  überwachen.» 

Der  Schaden,  den  die  Maul-  und  Klauenseuche 
jährlich  verursacht,  wird  auf  ca.  6  Millionen  angeschlagen.  Ohne 
allen  Zweifel  wäre  eine  Revision  der  gesetzlichen  Bestim- 
mungen über  den  Viehverkehr,  aus  denen  dermalen  kaum 
mehr  klug  zu  werden  ist,  so  sehr  hat  eine  die  andere  geändert, 
sehr  am  Platze,  wenn  man  sich  selbst  völlig  klar  wäre,  was, 
ganz  besonders  in  Bezug  auf  die  Einfuhr  aus  dem  Auslande, 
zu  thun  sei  und  wenn  man  ferner  mit  allen  Nachbarstaaten 
darüber  Verträge  hätte.  So  lange  aber  dieselben  gegen  ans 
je  nach  Umständen  und  oft  sehr  willkürlich  verfahren,  wird 
es  schwer  sein,  sich  allein  durch  dauernde  Gesetze  zu  binden. 
Einstweilen  hat  das  Landwirthschaftsdepartement  beschlossen, 
auf  Zusehen  hin  die  Einfuhrbewilligung  für  Schlachtvieh  aus 
Italien  zu  ertheilen  und  zwar  für  die  Städte  Bern,  St.  Gallen, 
Zürich,  Basel,  Lausanne  und  Genf.  Es  bleibt  nun  den  Kan- 
tonsregierungen überlassen,  von  dieser  Bewilligung  Gebrauch 
zu  machen,  oder  nicht. 

Zur  Verhütung  der  Einschleppung  der  für  den  Obstbau 
in  hohom  Grade  gefährlichen  San-Jos6-Schildlaus  (As- 
pidiotus  perniciosus  Comstock)  wird  ferner  die  Einfahr 
frischen  amerikanischen  Obstes  verboten. 


Landwirtbschaft  605* 

Ueber  dieses  Insekt  sagt  der  sachverständige  Vorstand 
des  deutschen  Poinologen-Vereins  in  einem  Artikel  der  Ber- 
liner «Nation»  Folgendes  zum  Theil  beruhigende : 

«Zunächst  unterscheidet  sich  die  San-Josä-Schildlaus 
von  ihren  Geschlechtsgenossen  dadurch,  dass  sie  nicht  wie 
jene  Eier  legt,  soudern  junge  Thiere  zur  Welt  bringt.  Aber 
diese  jungen  Thiere  bleiben  gleichfalls,  wie  es  bei  den  Eier 
legenden  Schildlänsen  der  Fall  ist,  unter  dem  Schutze  dea 
mütterlichen  Schildes,  bis  sie  einen  gewissen  Entwicklungsgrad 
erreicht  haben.  Das  Umherwandern,  welches  sie  alsdann 
beginnen,  soll  nach  den  übereinstimmenden  Berichten  der 
amerikanischen  Forscher  Howald  und  Marlatt,  auf  welche 
vorzugsweise  die  deutschen  Lebensbeschreibungen  sich  stützen, 
nur  einige  Stunden  dauern,  in  welcher  Zeit  diese  winzigen,, 
flügellosen  Thierchen  je  nur  kurze  Entfernungen  zurückzu- 
legen vermögen.  Bei  den  in  Washington  auf  Topfpflanzen,  die 
eigens  für  diese  Versuche  hergerichtet  waren,  gehaltenen  Schild- 
länsen beobachtete  man,  dass  die  herumwandernden  Jungen 
sich  nie  weiter  als  zwei  Zoll  von  ihrer  Geburtsstätte  entfernten. 

Mehr  in  das  Gewicht  fallend  dürfte  der  Unterschied 
sein,  dass  die  San-Jos6-Schildlaus  ihre  lebendigen  Jungen  in 
mehreren  auf  einander  folgenden  Perioden  unausgesetzt  zur 
Welt  bringt,  während  die  europäischen  Geschlechtsgenossen 
es  bei  dem  einmaligen  Eierlegen  bewenden  lassen. 

In  den  ausgedehnten  amerikanischen  Obstpflanzungen, 
zu  deren  Kultur  des  hohen  Tagelohns  wegen  nur  sehr 
wenige  Arbeitskräfte  vorhanden  sind,  fehlt  es  offenbar 
an  Augen  und  Händen,  welche  diese  Beobachtung  und 
Vertilgung  genügend  durchzuführen  im  Stande  sind.  In 
deutschen  Baumschulen  und  Obstpflanzungen  würde  es  ver- 
bal tnissmässig  ein  Leichtes  sein,  diesen  Vernichtungskampf 
vorzunehmen.  Ein  Vergleich  mit  der  Reblausgefahr,  wie 
solcher  auch  in  den  Auslassungen  des  «Reichsanzeigers»  an- 
gestellt wird,  ist  hier  gänzlich  verfehlt.  Die  Reblaus  arbeitet 
im  Boden,  also  für  den  Weinbauer  unsichtbar.  Sie  kann 
Jahrzehnte  lang  bereits  vorhanden  sein  und  ihr  Verwüstungs- 
werk geübt  haben,  ohne  dass  der  Rebbergbesitzer  von  ihrer 
Existenz    auch   nur    eine    Ahnung  hat.    Sie    ist    in    beiden 


606  Jahresbericht  1899. 

Geschlechtern  beflügelt  und  kann  durch  den  Wind  meilenweit 
fortgeführt  werden.  Und  ihre  sichere  Vertilgung  kann  nur 
erfolgen,  indem  die  Rebstöcke  selber  vernichtet  werden  und 
der  Boden,  in  welchem  sie  gestanden,  fusstief  mit  Chemikalien 
durcharbeitet  wird.» 

Ueber  die  Beseitigung  der  Hagelgefahr  durch  Schiessen 

sagt  ein   ähnlicher  Artikel  folgendes: 

«Hier  handelt  es  sich  weder  um  willkürliche  Hervor- 
rufung atmosphärischer  Niederschläge,  noch  um  gewaltsame 
Verhinderung  derselben  —  jeder  Versuch  in  dieser  letzteren 
Richtung  wäre  auch  vergeblich,  weil  die  Verdichtung  des 
Wasserdampfes,  wo  derselbe  in  genügender  Menge  vorhanden 
ist,  unter  allen  Umständen  in  Kürze  erfolgen  inuss  —  son- 
dern nur  um  die  Beeinflussung  der  Form,  in  welcher  diese 
Verdichtung  stattfindet.  Der  Landwirth  ist  schon  zufrieden, 
wenn  anstatt  des  Hagels,  der  ihm  aus  der  gewitterschweren 
Wolke  drohte,  ein  kräftiger  Regen  oder  auch  selbst  ein 
feiner  Graupelfall  eintritt;  ihm  genagt  es,  wenn  nur  die 
Bildung  der  schweren  Hagelgeschosse  verhindert  wird.  Und 
so  wenig  auch  die  Gelehrten  bezüglich  der  Entstehungsweise 
des  Hagels  unter  einander  übereinstimmen,  so  halten  doch 
die  meisten  unter  ihnen  eine  Störung  der  Hagelbildung  durch 
das  vorgeschlagene  Verfahren  nicht  für  ausgeschlossen. 

In  der  «Meteorologischen  Zeitschrift»  ist  wiederholt  über 
Versuche  berichtet  worden,  welche  in  Windisch-Feistritz  im 
südlichen  Steiermark  von  dem  dortigen  Bürgermeister  und 
Weingartenbesitzer  A.  Stiger  angestellt  worden  sind,  um 
durch  systematisches  Beschiessen  der  nahenden  Gewitter- 
wolken die  Hagelgefahr  zu  beschwören.  Windisch-Feistritz 
liegt  am  Südabhange  des  Bachergebirges,  auf  welchem  die 
Hochwälder  vielfach  abgetrieben  wurden,  so  dass  sich  jetzt 
schon  daselbst  Hochmoore  bilden.  Seit  dieser  Zeit  (Anfang 
der  siebziger  Jahre)  datiert  nach  dem  Berichte  eine  jähr- 
liche Zunahme  der  Hagelwetter.  Die  Gewitter  bilden  sich 
meist  über  dem  Bacher  und  ziehen  von  hier  südöstlich.  Die 
Schiessstationen  waren  nun  in  drei  grossen  Linien  aufge- 
stellt, die  zusammen  17  Stationen  mit  je  zehn  Böllern  um- 
fassten;    sobald   eine  Gewitterwolke  auf  6  bis  10  Kilometer 


Landwirtschaft.  607 

herankam,  wurde  gegen  dieselbe  in  raschestem  Tempo  ein 
unaufhörliches  Feuer  eröffnet.  Seit  einigen  Jahren  wurde 
nun  im  Bereiche  dieser  Stationen  kein  Hagel  mehr  beob- 
achtet, während  einige  Kilometer  entfernt  davon  Hagel 
niederging.  Gewiss  kann  dabei  noch  der  Zufall  mitspielen, 
aber  die  bisherigen  Erfahrungen  dürfen  jedenfalls  zur  Fort- 
setzung der  Versuche  ermuthigen.  Auch  in  Italien,  wo  der 
Hagel  alljährlich  ungeheuren  Schaden  anrichtet,  beginnt  man 
Versuche  in  grossem  Massstabe  anzustellen;  hoffen  wir,  dass 
es  gelingen  werde,  mit  den  Waffen  des  Krieges  einen  Feind 
der  Landwirthschaft  erfolgreich  zu  bekämpfen.» 

Für  den  Bau  eines  Hengstendepots  in  Avencbes 
wurden  von  der  Bundesversammlung  620,000  Franken  be- 
willigt.   E.  G.  S.  XVII,  232. 

Ein  Postulat  der  eidgenössischen  Käthe  wünscht  auch 
die  landwirtschaftliche  Berufsbildung  in 
den  Kreis  der  Bundesfürsorge  eingeschlossen  zu  sehen. 

Ueber  die  Stellung  der  landwirtschaftlichen  Kreise  zu 
der  Unfallversicherung  äusserte  sich  der  «Bauern- 
sekretär» Dr.  Laur,  wie  folgt : 

«Es  gibt  für  uns  nur  zwei  Wege,  auf  denen  die  Kranken- 
und  Unfallversicherung  dem  Lande  Segen  bringen  kann: 

Entweder  werden  dem  Bunde  für  die  Versicherungs- 
zwecke neue  Einnahmen  geöffnet,  sei  es  nun  das  Tabak- 
monopol, die  Bierfabrikationssteuer  oder  eine  andere  indirekte 
oder  direkte  Steuer,  oder  aber  man  wartet  mit  der  Ver- 
sicherung bis  zum  Abschluss  der  Handelsverträge  und  sichert 
dem  Lande  durch  höhere  Zölle,  z.  B.  durch  einen  ordent- 
lichen Zucker-  oder  Weinzoll  höhere  Einnahmen.  Ich  würde 
dem  zweiten  Vorschlage  den  Vorzug  geben. 

1.  Ich  anerkenne  die  hohe  soziale  und  humanitäre  Be- 
deutung des  Entwurfes  für  eine  schweizerische  Kranken-  und 
Unfallversicherung,  der  gegenüber  die  der  Landwirthschaft 
zugemutheten  Opfer  nicht  als  zu  hoch  bezeichnet  werden 
können. 


606  Jahresbericht  1899. 

2.  Die  Finanzirung  der  Versicherung  darf  sich  aber  nicht 
auf  Ersparnisse  im  Bundeshaushalte,  insbesondere  nicht  auf 
die  Beschrankung  landwirtschaftlicher  Subventionen  stützen. 

3.  Es  gibt  wenige  Ausgaben  der  Eidgenossenschaft,  die 
volkswirtschaftlich  so  begründet  und  so  produktiv  sind,  wie 
die  Subventionen  zur  Förderung  der  Landwirtschaft. 

4.  Die  Landwirthschaft  muss  desshalh  die  Durchführung 
der  Kranken-  und  Unfallversicherung  so  lange  bekämpfen* 
bis  dass  entweder  dem  Bunde  die  nöthigen  Finanzquellen 
neu  eröffnet  werden,  oder  aber  die  Einnahmen  des  Bundes 
sich  auf  der  heutigen  Finanzgrundlage  so  verbessert  haben, 
dass  die  Durchführung  des  Versicherungswerkes  ohne  Schä- 
digung der  übrigen  Aufgaben  des  Bundes  möglich  ist.  > 

Jagd  und  Fischerei.  An  Raubwild  wurde  letztes 
Jahr  durch  die  Wildhüter  in  den  Bannbezirken  erlegt:  454 
Stück  Haar-  und  298  Stück  Federwild,  zusammen  752  Stück. 
Infolge  dieses  für  die  meisten  Bezirke  starken  Abschusses 
hat  das  Raubwild  in  erfreulicher  Weise  und  insbesondere 
auch  der  Fuchs  ab-  und  das  Nutzwild  fast  in  allen  Bezirken, 
in  einigen  ganz  bedeutend,  zugenommen.  Es  betrifft  dies 
insbesondere  die  Gemsen,  Murmelthiere  und  Hasen.  Im  Be- 
zirk Churfirsten  (St.  Gallen)  wurden  Gemsrudel  bis  zu  100 
Stück  beobachtet.  Die  Murmelthierkolonien  am  Glärnisch,  in 
den  Churfirsten  und  Schratten  erfreuen  sich  starker  Ver- 
mehrung. Rehe  stehen  in  verschiedenen  Bezirken;  allein 
jagende  Laufhunde  setzen  ihnen  aber  stark  zu.  Krankheiten 
haben  sich  unter  dem  Wilde  keine  gezeigt,  und  Jagdfrevel 
kommen  nicht  mehr  so  häufig  vor  wie  früher;  die  sehr  em- 
pfindlichen Strafen,  die  einige  Polizeigerichte  erkannt,  waren 
von  guter  Wirkung.  Ueber  Wildschaden  sind  nur  von  zwei 
Bezirken  Beschwerden  erhoben  worden.  —  Die  Zahl  der 
Fischbrutanstalten  belief  sich  Ende  des  Jahres  1897/98  auf 
150  (1896197:  139)  mit  einer  Fläche  der  Eierunterlagen  von 
480  m*  und  182  Brutgläsern.  Hiebei  sind  alle  Kantone  be- 
theiligt mit  Ausnahme  von  Uri  und  Appenzell  I.  Rh.  Es 
wurden  32,651,800  Eier  eingesetzt  und  daraus  27,636,400 
Fischchen  gewonnen.  Von  letzteren  kamen  27,353,300  Stück 
zur  Aussetzung   (1896/97:  23,512,300).    Der   Bundesbeitrag 


Jagd  und  Fischerei.  609 

an  die  in  öffentliche  Gewässer  ausgesetzten  Fischchen  betrug 
22,870  Fr.,  gegenüber  21,610  im  Jahre  1896/97.  Die  Eier 
von  Salvelinus  Namaycush  und  Salvelinus  fontinalis  hat  das 
eidgenössische  Departement  durch  Vermittlung  der  schwei- 
zerischen Gesandtschaft  in  Washington  von  der  Fischkommis- 
sion der  Vereinigten  Staaten  erbalten. 

Wald  und  Gletscher.  Nach  dem  Bericht  des  eid- 
genössischen Departements  des  Innern  hat  die  Schweiz : 
Staatswaldungen  37,504  ha,  Gemeinde-  und  Korporations- 
Waldnngen  565,086  ha,  Privatwaldungen  245,215  ha.  Die 
Gesammtk osten  der  mit  Beiträgen  aus  der  Bundeskasse  aus- 
geführten Aufforstungen  und  damit  zusammenhängenden  Ver- 
haue von  Wildbächen,  Lawinen  etc.  beliefen  sich  1898  auf 
338,241  Fr.  32  Rp.  (1897:  318,958  Fr.  98  Rp.)  uud  die 
diesfölligen  Beiträge  auf  181,716  Fr.  Von  16  Kantonen  sind 
79  neue  Anmeldungen  von  Aufforstungen  und  Verbauen  zur 
Aussetzung  von  Beiträgen  eingegangen.  Die  daherigen  Kosten  - 
Voranschläge  erreichen  den  Betrag  von  436,812  Fr.  68  Rp. 
An  der  Vervollständigung  der  Lawinen  karte  der  Schweiz 
wurde  weiter  gearbeitet  und  man  hofft,  dieselbe  sammt  einer 
Lawinenstatistik  im  laufenden  Jahre  vollenden  zu  können. 
Die  Gletscherbeobachtungen  wurden  durch  das  Forstpersonal 
der  betreffenden  Kantone  fortgesetzt  und  werden  ihre  Ver- 
öffentlichung im  34.  Jahrbuch  des  Schweizerischen  Alpen- 
klubs finden,  unter  dem  Titel:  «Les  variations  des  glaciers 
des  Alpes.» 

Aus  Schaffhausen  ergeht  die  Klage,  dass  der  Lachsfang 
im  Rhein,  der  wesentlich  im  November  seinen  Anfang  nimmt, 
durch  die  Elektrizitätswerke  in  Rheinfelden,  wo  ein  Damm 
den  Rhein  zum  grossen  Theil  sperrt,  sehr  beeinträchtigt 
werde. 

Ein  sehr  grosses  Aufsehen  verursachte  im  Oktober  d.  J. 
die  Ermordung  zweier  Wildhüter  in  Obwalden  durch  Wild- 
schützen. Diese  Wildschützenromantik  ist  sonst  in  unserem 
Lande  nicht  gebräuchlich  und  wird  vielleicht  manchen  auf  den 
Gedanken  bringen,   ob  nicht  das   ganze  Jagdwesen  eine  Er- 

39 


610  Jahresbericht  1899. 

ziehnng  der  Menschen  zur  Rohheit  und  Grausamkeit,  abge- 
sehen von  dem  damit  verbundenen  Müssiggang  sei.  Es  ist 
der  Erinnerung  werth,  dass  Friedrich  der  Grosse  darüber 
in  seinen  Werken,  wenigstens  für  seine  gekrönten  Kollegen, 
die  damals  und  jetzt  noch  zum  Theil  eifrige  Jäger  sind, 
während  sie  ihre  Zeit  nützlicher  anwenden  könnten,  folgende 
Betrachtung  macht:  ((Euvres  XI.  pag.  74): 

«Uebrigens  ist  die  Jagd  diejenige  Vergnügung,  welche 
von  allen  am  wenigsten  für  Fürsten  passt;  sie  könnten  ihre 
hohe  Thätigkeit  auf  hundert  andere  und  für  ihre  Unter- 
thanen  weit  nützlichere  Arten  zeigen  und  fände  sich's,  dass 
die  Menge  des  Wildes  die  Landleute  ruinirte,  so  könnte  man 
die  Sorge,  diese  Thiere  auszurotten,  sehr  wohl  den  Jägern, 
die  dafür  bezahlt  werden,  überlassen.  Die  Fürsten  sollten 
nur  mit  der  Sorge,  sich  zu  unterrichten  und  zu  regieren, 
beschäftigt  sein,  um  mehr  Kenntnisse  zu  erlangen,  sich  eine 
bessere  Idee  von  ihrem  Berufe  zu  machen  und  demgemfiss 
gut  zu  handeln.» 

Damit  sind  wir  eigentlich  schon  bei  dem  Kapitel: 

Sport  und  Spiel  angelangt,  das  für  einen  Theil  der 
Menschheit  ein  förmliches  Lebensgeschäft  bildet  und  dem 
auch  wir,  theils  aus  Nachahmungstrieb,  theils  des  Fremden- 
verkehrs wegen,  der  unser  Land  allmählig  zu  einem  Welt- 
erholungs-  und  Spielplatz  macht,  mehr  und  mehr  verfallen. 
So  gross  wie  in  diesem  Jahre  war  der  Fremdenzufluss  wohl 
noch  nie  gewesen ;  in  den  Monaten  August  und  September 
fand  auf  den  grossen  Bahnhöfen  bei  dem  Einsteigen  ein 
förmliches  Gedränge  statt,  in  welchem  die  völlige  Rohheit 
des  vornehmen  Pöbels,  ganz  besonders  der  jungen  Männer, 
selbst  gegen  die  Frauen,  oft  in  einer  Weise  zum  Ausdruck 
kam,  dass  ein  kräftiges  Einschreiten  der  Bahnverwaltnng 
gegen  dieses  Gedränge  und  namentlich  das  Unwesen  der  Be- 
legung aller  vorräthigen  Plätze  mit  Gepäckstücken  am  Platze 


Sport  und  Spiel.  611 

sein  würde.  Für  das  nächste  Jahr  prophezeit  uns  ein  englischer 

Journalist  noch  mehr  von  diesem  Vergnügen,  wie  folgt: 

«Die  kleine  Schweiz  hat  einen  guten  Sommer  (a  «bigv 
summer)  hinter  sich.  Wohl  selten,  wenn  überhaupt  je,  hatte 
sie  einen  solchen.  Jedermann,  einige  unverbesserliche  Brumm- 
köpfe  ausgenommen,  ist  zufrieden.  Das  «Jahr  der  Neuner» 
(1+8—99)  war  ein  Glücksjahr.  Obwohl  die  heurige  Saison 
—  zu  unserra  und  noch  vieler  Bedauern  nunmehr  definitiv 
beendet  —  eine  erfolgreiche  war,  so  darf  noch  eine  bedeu- 
tend erfolgreichere  für  das  nächste  Jahr  vorausgesehen 
werden.  Die  Weltausstellung  von  1900  wird  die  Besucher- 
zahl  für  die  Schweiz  bedeutend  vergrössern.  Viele  müde 
Touristen,  nachdem  sie  den  «Pariser  Weltmarkt  gesehen 
haben,  werden  froh  sein,  Ruhe  und  Erholung  an  den  Ufern 
des  Vierwaldstätter-Sees  und  anderswo  in  den  Bergen  zu 
finden.  Etwas  Besseres  könnten  sie  nicht  thun,  als  hierher 
zu  kommen :  denn  es  ist  kein  entzückenderes  Land  zu  finden 
als  die  Schweiz,  um  einige  angenehme  Sommerwochen  zuzu- 
bringen^ 

Wir  gestehen  es  ein,  zu  diesen  «Brummköpfen>  zu  ge- 
hören, denn  es  könnte  uns  nach  und  nach  so  gehen  wie  der 
Transvaal-Republik,  wo  die  Fremden  schliesslich  zu  regieren 
und  ihre  Sitten  und  Lebeusanschauungen  den  «rückständigen» 
Boeren  sogar  durch  Krieg  aufzunöthigen  versuchten. 

Bezüglich  der  Sitten  ist  bereits  eine  sehr  bedenkliche 
Laxheit  in  Bezug  auf  Vergnügungen  sehr  wenig  empfehlens- 
werther  Art  vorhanden.  In  Luzern  fand  Anfang  September 
«unter  dem  Protektorat  des  Grafen  von  Flandern»  ein  grosses 
«internationales»  Pferderennen  statt  und  selbst  in  den  «christ- 
lichen» Blättern  dieses  Kantons  konnte  man  lobende  Bemer- 
kungen nicht  bloss  über  diese  Thierquälerei  selber,  sondern 
sogar  über  die  zahlreichen  Wetten  lesen,  die  «nach  dem  von 
Baden-Baden  her  introducirten  Totalisator»  stattgefunden 
hätten.  Luzern  als  «Fremdenstadt»  zu  heben,  das  ist  natür- 
lich das  erste  Interesse,  alles  andere  kommt  in  zweiter  Linie. 


612  Jahresbericht  1899. 

Es  wurde  aber  im  Spätherbst  noch  von  Genf  darin  über- 
boten,  das  sogar  «Stiergef echte»  auf  seinem  Boden  erlebt«* 

Damit  wird  die  Rohheit  förmlich  gepflanzt,  die  sich  mit- 
unter schon  in  der  Kinderwelt  äussert.  Zu  den  beliebten 
Spielen  der  heutigen  Jugend  gehört  charakteristischer  Weise 
eine  geistlose  Plakerei  eines  kleinen  Holzkreisels,  der  durch 
unaufhörliche  Peitschenschläge  zu  immer  neuen  Anstrengungen 
getrieben  wird.  Es  ist  dies  eine  gute  Vorschule  zu  der  Be- 
handlung der  Thiere,  die  zunächst,  und  endlich  zu  der  Trei- 
berei der  Menschen  führt,  welche  zuletzt  folgt.  Daran  denken 
unsere  Schulgelehrten,  die  sonst  alles  systematisiren  wollen, 
schwerlich,  dass  sich  durch  solche  Spiele  eine  Neigung  zur 
Grausamkeit,  die  zu  den  unschönen  Naturanlagen  des  Men- 
schen gehört,  mehr  als  nöthig  manifestirt  und  ausbildet. 

In  dieser  Richtung  ist  uns  auch  das  englische  Football- 
spiel,  das  mit  seinen  «goals»  und  «matches»  auch  bei  uns. 
aufkommt  und  eigentlich  ein  ziemlich  rohes  Gestosse  ist, 
unsympathisch.  Ein  Sportbericht  gibt  dies  selbst  in  folgenden 
Worten  zu: 

«Samedi  a  eu  lieu,  comme  nous  l'avons  annonce,  le 
match  demi-final  pour  le  championnat  suisse  (2me  serie)  entre 
le  Berne  F.  C.  et  le  Cantonal  F.  C.  de  Lausanne.  Jona  sur 
le  terrain  des  casernes  ä  Berne ,  ce  match  a  et6  tr£s  inte- 
ressant, trös  dispulä,  un  peu  brutal  meme  de  la  part  de 
l'equipe  bernoiee  et  s'est  terminä  par  une  victoire  des  Lau- 
sannois,  qui  ont  triomph.6  par  2  goals  ä  0.  Le  Cantonal  F.  0. 
est  donc  qualiite  pour  le  match  final  qui  devra  se  jouer 
contre  le  St.  Gall  F.  C.» 

Das  Schlimmste  in  diesem  Kapitel  ist  die  Zunahme  der 
kleinen  Spielhöllen  in  der  Schweiz  und  zwar  nicht  bloss  der 
Privat-Cercles,  in  denen  gespielt  wird,  sondern  der  öffent- 
lichen Spielanstalten,  die  unter  dem  Namen  «petits 
chevaux»  das  Publikum  zum  Spielen  förmlich  auffordern  und 


Sport  und  Spiel.  613 

daran  gewöhnen.  Welches  Unheil  dadurch  gestiftet  werden 
kann,  zeigte  in  diesem  Jahre  die  Verurtheüung  eines  sonst 
geachteten  jungen  Offiziers,  der  ihm  anvertraute  Gelder  seiner 
Untergebenen  im  Kursaal  von  Luzern  verspielt  hatte  und 
nun  nebst  seiner  Familie  sein  Leben  lang  dafür  zu  btissen 
hat.  Man  kann  auch  mit  den  scheinbar  kleinen  Einsätzen 
leicht  an  einem  Tage  Hunderte  von  Franken  verlieren,  und 
was  noch  schlimmer  beinahe  ist,  man  gewöhnt  sich  dadurch 
an  das  Spiel  und  trägt  nachher  sein  Geld  nach  Monte-Carlo, 
über  dessen  europäische  Centralspielhölle  ein  Blatt  folgende 
Angaben  macht: 

«Die  Jahresbilanz  der  Spielhölle  von  Monte  Carlo,  auf 
31.  März  abgeschlossen,  ergab  einen  (Jeberschuss  von  Fr. 
1,000,000  über  das  vorjährige  Ergebniss.  Die  Spieltische 
machten  Einnahmen  von  Fr.  24,500,000,  das  der  Gesellschaft 
gehörende  Hotel  de  Paris  mit  dem  Cafe"  de  Paris  brachte 
Fr.  600,000  ein,  so  dass  das  Gesammteinkommen  der  Gesell- 
schaft die  ungeheure  Summe  von  Fr.  25,100.000  erreicht  hat, 
was  um  so  überraschender  ist,  als  die  Saison  an  der  Riviera, 
wegen  Kriegsgerüchten  und  infolge  von  Typhusfällen,  die  in 
Nizza  vorgekommen  sind,  keineswegs  eine  glänzende  war. 
Bis  Ende  Januar  ging  das  Geschäft  flau,  als  mit  den  Mo- 
naten Februar  und  März  der  Andrang  ein  ganz  gewaltiger 
wurde.  Ein  Engländer,  Besitzer  von  Kohlenminen  in  York- 
shire,  gewann  in  drei  Wochen  Fr.  375,000.  Ein  russischer 
Graf  steckte  in  einer  einzigen  Nacht  einen  Gewinn  von  Fr. 
350,000  ein  und  zwar  in  den  neuen  reservirten  Spielräumen, 
welche  bis  2 — 3  Uhr  Morgens  offen  gehalten  werden.  Sonst 
sind  die  alten  habituäs  —  richtige  plongeurs  für  grosse 
Summen  —  jetzt  viel  rarer  als  in  früheren  Zeiten.  Es 
spielen  mehr  kleinere  Leute,  welche  sich  auf  ein  Maximum 
von  Fr.  2500  oder  Fr.  12,500  bis  Fr.  25,000  Verlust  limi- 
tiren  und  nie  darüber  hinausgehen.  Einige  Ausnahmen  kommen 
stellenweise  noch  vor.  Da  ist  z.  B.  ein  Londoner  Wucherer, 
der  Jahr  für  Jahr  spielt,  bis  er  Fr.  250,000  verloren  hat, 
und  dann  aufhört.» 


614  Jahresbericht  1899. 

In  den  eidgenössischen  Käthen  wird  demnächst  die  Frage 
aufgeworfen  werden,  ob  diese  «petita  chevaux»  überhaupt 
nicht  zu  den  von  der  Bundesverfassung  verbotenen  «Spiel- 
anstalten» gehören,  was  für  Jedermann,  dem  nicht  der 
«Fremdenverkehr*  in  erster  Linie  am  Herzen  liegt,  unzwei- 
felhaft ist.  Die  Lausanner-Zeitung  berichtet  darüber,  wie 
folgt: 

«A  propos  des  petits  chevaux.  Nous  recevons  de  Geneve 
une  brochure  intitulee :  Les  huit  maisons  de  jeu  de  la  Suisse 
et  les  nouveaux  kursaals  projetes.  Elle  parait  etre  de  la 
meine  main  qui  Fan  dernier  a  publie  une  vigoureuse  pro- 
testation  contre  l'interpretation  donnee  par  le  Conseil  föderal 
ä  l'article  de  la  Constitution  interdisant  les  maisons  de  jeu. 
Meme  dialectique  serree,  meme  clarte  dans  l'exposition  des 
causes  qui  ont  amene  les  pouvoirs  publics  a  la  tolerance 
actuelle  et  meme  impitoyable  logique  dans  la  deduction  des 
consequences  demoraiisantes  d'un  pareil  laisser-aller. 

Nous  la  signalons  ä   tous  ceux  qui  s'interessent  a  cette 
questton  trop  actuelle,  malheureusement  meme  chez  nous. 
En  voici  les  conclusions: 

Mais,  sans  discuter  ici  l'6tendue  des  pouvoirs  de  l'Au- 
torite  föderale,  nous  nous  permettrons  de  dire  qn'il  est  un 
droit  qu'elle  n'a  pas,  c'est  celui  de  changer  le  sens  des  mots. 
Elle  n'a  pas  le  droit  de  dire  qu'un  cbat  n'est  pas  un  chat 
on  qu'un  epervier  en  bas  äge,  parce  qu'il  est  encore  inoffen- 
sif,  n'est  pas  un  oiseau  de  proie,  mais  un  de  ces  interessant» 
oiseaux  qui  ont  et6  mis  sous  la  protection  de  la  Confädera- 
tion  et  contre  lesquels  on  ne  per m et  pas  de  lächer  un  coup 
de  fusil. 

L'Autorite  föderale  n'a  pas  le  droit  de  dire  qn'un  eta- 
blissement  avec  jeu  de  petits  chevaux  ou  autres  jeux  quel- 
conques  oü  un  entrepreneur  offre  au  public,  c'est-ä-dire  au 
premier  venu,  de  ponter,  n'est  pas  une  maison  de  jeu,  parce 
que  la  mise  n'excede  pas  une  certaine  somme  et  qu'un  homme 
riche  et  imprudent  n'a  pas  chance  de  s'y  ruiner. 

Impossible,    quelles  que    soient    les  pontes  (fussent-elles 


Sport  und  Spiel.  615 

meme  de  10  Centimes),  impossible  de  dire  qu'il  n'y  a  pas  lä 
maison  de  jeu. 

Or  l'art.  35  ne  fait  pas  d'exception.  Tont  ce  qui  est 
constate  etre  une  maison  de  jeu  doit  etre  interdit  et  sup- 
prime*  en  Suisse. 

Eh!  bien,  les  maisons  de  jeu  y  pullulent  et,  en  presence 
de  ce  fait,  l'article  35  est  un  mensonge,  nne  hypocrisie  ins- 
crite  dans  notre  Constitution. 

Comme  le  propose  M.  Hilty,  il  faut  snpprimer  cet  ar- 
tiele.    Rappeions  ce  qu'il  disait  dejä  en  1897 : 

«Au  lieu  de  ces  demi-mesures  et  de  l'bypocrisie,  comme 
«on  la  pratiqne  aujourd'hui,  nous  prefererions  qu'on  fit 
«l'aveu  formel  que  nous  tenons  avant  toute  chose  ä  attirer 
«les  ätrangers  dans  notre  pays  et  a  les  y  garder  anssi  long- 
«teinps  que  possible.  Pour  cela  tous  les  moyens  nous  sont 
«bona.     Voila  le  fond  de  la  question  qui  s'agite.» 

Oni,  dirons-nous  aussi,  jetons  bas  le  masqne !  Ne  nous 
laissons  plus  taxer  d'hypocr  i  sie !  Que  le  Conseil  föderal, 
an  lieu  des  petites  rubriques  qu'il  invente  pour  n'avoir  pas 
Fair  de  laisser  violer  Tart.  35  de  la  Constitution,  propose 
carremem  a  TAssemblee  federale  l'abolition  de  cet  article. 
Si  les  Chambres  y  consentent  et  si  le  peuple  suisse  les  ap- 
prouve,  cela  donnera  ä  l'etranger  nne  triste  idee  de  notre 
etat  moral,  mais  an  moins  on  ne  nous  taxera  plus  de  men- 
songe. 

M.  Hilty  ajoute : 

«Une  autre  generation  pourra  arriver  qui,  mieux  et  plus 
«serieusement  inspiree,  n'estimera  plus  que  le  developpemen- 
«du  Fremdenverkehr  doit  primer  tout  autre  in- 
«teret  et  toute  autre  consideration.  Cette  g6n6ration-lä 
«pourra  retablir  l'article  35.  > 

Nous  ne  partageons  malheureusement  pas,  sur  ce  dernier 
point,  l'espoir  de  M.  Hilty.  Si  notre  generation  prend  le 
goüt  des  maisons  de  jeu,  la  generation  plus  serieuse  et 
mieux  inspiree  qui  remettrait  en  honnenr  l'art.  35  ne  naitra 
pas.  Le  supposer  serait  aussi  impossible  que  de  croire  qu'il 
viendra  un   temps   oü   on  renoncera  ä  Manille  aux  combats 


616  Jahresbericht  1899. 

de  coqs  et  en  Espagne  aux  combats  de  tanreaux  qui  sont 
cependant  l'une  des  causes  de  la  ruine  de  ces  pays. 

Uoe  partie  de  la  Suisse  a  6te  insensiblem ent  attaqnee 
d'une  gangröne.  Elle  ne  veut  pas  y  croire  et  eile  le  nie. 
Elle  prätend  que  c'est  un  b  o  b  o  qui  devait  näcessairement 
l'atteindre,  mais  avec  lequel  on  peut  vivre,  et  qui  n'offre  pas 
de  danger,  pourvu  qu'on  mette  un  bandage  sur  l'ulcere  et 
qu'on  ingurgite  de  temps  en  temps  des  potions  döpuratives. 
Elle  s  'apercevra  un  jour  que,  malgre  tous  les  palliatifs  pos- 
sibles,  la  gangr&ne  gagnera  toujours  du  terrain  et  deviendra 
fatale  pour  le  malade.  Si  Von  veut  la  guärison,  il  faut  am- 
puter  de  snite  les  membres  gangrenös. 

Aujourd'hui  encore  l'operation  est  fort  simple.  II  n'y  a 
qu'a  ordonner  l'application,  sans  reserves  sophistiques,  de 
l'art.  35  et  ä  döfendre  la  räouverture  des  maisons  de  jeu 
d&s  Fete*  prochain.  Plus  tard  ce  sera  difficile.  Mais  le  reniede 
est,  parait-il,  trop  höro'ique  pour  qu'il  reste  a  nos  autorites 
assez  d'energie  pour  l'appliquer.» 

Autorites  föderales  et  cantonales  tremblent  devant  la 
tonte  puissance  du  Fremdenverkehr.  Un  seul  gouverne- 
ment,  celni  de  Vaud,  a  montr6  qu'il  avait  encore  de  la 
poigne,  en  reponssant  l'oifre  tentante  faite  ä  la  ville  de 
Lausanne,  parce  qne  cctte  offre  coroportait  unemaison  dejea. 

La  presse  se  tait  et  se  tire  de  cöte  dös  qu'elle  rencontre 
en  chemin  le  Fremdenverkehr.  Un  seul  Journal,  croyons- 
nous,  la  «Gazette  de  Lausanne»,  a  donne*  un  vigoureux  coap 
de  clairon  pour  engager  la  bataiJle  contre  le  pernicieux 
ennemi  qui  est  venu  s'implanter  chez  nous. 

Mais  personne  n'a  räpondu  ä  Pappel. 

Ce  qu'il  faudrait  maintenant  et  sans  retard,  c'est  une 
serieuse  Interpellation  dans  1' Assembler  föderale.  Nous  avons 
rencontre*  plusieurs  membres  de  cette  assemblee  qui  recon- 
naissent  parfaitement  que  la  Constitution  föderale  est  outra- 
geuseraent  foulöe  aux  pieds.  Mais  pas  un  jusqu'ici  n'a  pris 
la  peine  de  se  baisser  seulement  pour  la  relever  et  la  re- 
mettre  debour. 

Se  sortir  d'une  vie  paisible  pour  s'attaqner  ä  des  in- 
tärets  materiels,    respectables  ou  non,    est,    ü  est  vrai,   peu 


Sport  und  Spiel.  617 

agröable.  On  est  bientöt  en  but  aux  inv^ctjves  violentes  de 
la  presse  et  de  la  parole  et  on  ne-s'y  soumet  pas  volontiere, 
surtout  quand  on  n'a  pas  foi  dans  la  röussite.  Majs  il  y  au- 
rait  moyen  d'aborder  la  question  sans  srattaquer .  ä,  personne 
et  sans  beaucpup  se  compromettre.  II  n'y  aurait  qu'ä  suivre 
a  l'idäe  de  M.  Hilty.  Un  d6put6!  devrait  une  boune  fois 
prendre  son  courage  ä  deux  mains  et  faire  la  motiori  ,sui- 
vante  dans  le  conseil  dont  il  fait  partje : 

«Attendu  qne  Part.  35  n'est  plus  observä,  que  son  main- 
<tien  dans  la  Constitution  fädeYale  est  une  hypocrisie,  je 
«propose  qu'il  soit  abroge\» 

Desormais  la  qnestion  sera  nettenient  pos6e  de  van  t  l'As- 
«erablee  föderale  et  devant  le  peuple.  Si  Tun  et  l'autre  votent 
l'abrogation  de  l'article,  la  position  sera  franche.  II  sera 
Stabil  que  la  Suisse  enttere  ne  craint  pas  d'assumer  la  honte 
de  devenir  un  tripot  ä  Pexemple  de  Monaco.  Mais  ön  ne 
pourra  du  moins  plus   l'accuser  d'hypocrisie  et  de  mensonge. 

Si  au  contraire  l'Assembläe  föderale  passe  ä  Vordre  du 
jour  sur  la  proposition,  cela  voudra  dire  qu'elle  veut  que 
Tarticle  35  de  la  Constitution  föderale  devienne  une  verite; 
cela  signiliera  qu'elle  veut  qu'il  soit  appliqu6  comme  l'ont 
voulu  ceux  qui  Tont  vote*  sans  aucune  hesitation  en  1874. 
Alors  les  magistrats  fede>aux  et  cantonaux  secoueront  leur 
indulgente  faiblesse  et  comprendront  que  tout  ce  qui  res- 
semble  ä  une  maison  de  jeu,  petits-clievaux  et  autres  entre- 
prises  de  jeu,  cercle  des  6trangers,  entrepreneurs  et  Croupiers 
Avec  leurs  engins,  doivent  Gtre  balayes  bors  du  territofre 
helvetique. 

Et  nons  osons  espärer  que  la  grande  majoritä  du  peuple 
suisse  approuvera  et  fera  comprendre  qu'elle  ne  se  soucie 
nuilement  de  voir  son  pays  devenir  le  Tripot  central 
de  l'E u r o p e.  » 

Leider  haben  diese  Fragen  eine  Art  von  politischem 
Beigeschmack  dadurch  erhalten,  dass  die  der  Eegierungs- 
partei  oppositionellen  Kreise  sich  vorzugsweise  derselben 
annehmen,  womit  dann  das  Spielen  und  noch  viel  schlimmere 
Dinge  als  «fortschrittlich»  erscheinen. 


618  Jahresbericht  1899. 

Aus  Belgien,  das  mit  ans  so  ziemlich  auf  der  gleichen 
Linie  «vorwärts»  geht,  wird  folgendes  berichtet: 

«Der  Senat  hat  den  Gesetzentwurf  betreffend  die  Glücks- 
spiele im  Ganzen  angenommen.»  Durch  dieses  Gesetz  werden 
Glücks-  und  Bankspiele  an  öffentlichen,  oder  dem  Publikum 
zugänglichen  Orten  verboten.  Eine  A  us  nähme  wird  für  die 
Städte  Spaa  und  Ostende  gemacht,  wo  die  Einrichtung  eines 
Spielklubs  erlaubt  wird(!)» 

So  werden  wir    vielleicht    auch   noch   dazu   kommen,  an 

einigen  privilegirten  Orten  das  Spiel  zu  gestatten,  wie  es 
früher  in  Saxon  war,  damit  wenigstens  dieses  Laster  und  die 
ganze  korrupte  Gesellschaft  von  Herren  und  Damen,  die  es 
anzieht,  sich,  nach  dem  System  der  Quarantaine-Einrichtuug, 
nur  auf  einzelne  Orte  eingegränzt  werden  und  nicht  das 
ganze  Volk  vergiften. 

Gegen  die  Lotterien,  die  auch  «eigentlich»  verboten 
sein  sollten,  anzukämpfen,  hat  sich  einstweilen  ebenfalls  als 
nicht  sehr  wirksam  erwiesen,  seit  überall  für  Gewerbeaus- 
stellungen, Kirchenbauten  und  dgl.  solche  Erlaubnisse  ertheilt 
werden.  Für  die  kantonale  Gewerbeausstellung  in  Baselstadt 
von  1901  soll  dies,  nach  dem  Muster  der  eidgenössischen 
Ausstellung  in  Genf,  nun  ebenfalls  wieder  geschehen. 

Ebensowenig  scheint  es  vor  der  Hand  möglich  zu  sein, 
das  Velorennen  in  den  Strassen  der  Städte  zu  beseitigen. 
Eine  Zeitung  berichtete  darüber,  wie  folgt: 

«Darf  ein  Radfahrer  Bürgersteige  benutzen,  auch  wenn 
er  sein  Rad  an  der  Hand  führt  ?  Mit  dieser  Frage  hatte  sich 
jüngst  der  Strafsenat  des  Oberlandesgerichts  Hamburg  zu 
beschäftigen,  der  in  verneinendem  Sinne  die  Entscheidung 
traf,  so  dass  nicht  nur  Bürgersteige,  sondern  auch  Fusswege, 
Promenaden-  und  Reitwege,  die  als  solche  bezeichnet  sind,, 
von  Radfahrern  auch  nicht  einmal  zum  Führen  ihres  Rades 
an  der  Hand  gebraucht  werden  dürfen.  —  In  Bern  sieht  man 
einzelne  Schläulinge  mit  dem  Rad  an  der  Hand  sogar  durch 


Sport  und  Spiel.  619 

die  «Laubon»  marschiren.  Das  ist  entschieden  unstatthaft. 
Es  gibt  da  Verkehrshindernisse  sonst  genug,  namentlich  am 
Dienstag  und  Samstag.» 

Dagegen  meint  der  «Touring-Club  Suisse»,  es  sollte  die 
Eidgenossenschaft  zu  seiner  grösseren  Bequemlichkeit  die 
Landstrassen  übernehmen  und  erhalten.  Ein  derartiges  Flug- 
blatt, das  wirklich  die  naive  Dreistigkeit  der  Sportleute 
köstlich  charakterisirt,  lautet: 

«Der  T.-C.  S.  eröffnet  in  den  Spalten  seiner  Revue  eine 
öffentliche  Besprechung  der  folgenden  Frage: 

Es  ist,  bei  dem  schlechten  und  ungenügenden  Zustande 
einer  grossen  Anzahl  schweizerischer  Strassen,  im  allgemeinen 
Interesse,  diese  Verkehrsmittel  so  vollkommen  wie  möglich  zu 
gestalten. 

Es  ist  kein  Grund  vorhanden,  weswegen  die  Eidgenossen- 
schaft, die  den  Rückkauf  der  Eisenbahnen  beschlossen  hat> 
nicht  in  gleicher  Weise  die  Landstrassen    übernehmen  sollte. 

Wäre  es  nun  nicht  möglich  durch  eine  Eingabe  an  die 
eidgenössischen  Kammern,  oder  dnrch  Volksinitiative,  die  eid- 
genössischen Autoritäten  zur  Annahme  einer  konstitutionellen 
Verfügung  zu  veranlassen,  durch  welche  sich  die  Eidgenossen- 
schaft zur  Anlage,  Korrektion  und  Instandhaltung  aller  kanto- 
nalen Strassen  der  Schweiz   verpflichtet?» 

Also  ein  < Velo- Artikel»  der  Bundesverfassung  zu  dem 
«Schächtartikel».  Einstweilen  befürchten  wir  denselben  noch 
nicht  stark. 

In  München  fand  in  diesem  Sommer  eine  grosse  «Sport- 

ausstellnng»  statt,  worüber  eine  Berichterstattung  der  A.  Z. 

folgende  Philosophie  der  Erholung  zum  Besten  gibt: 

«In  der  langgestreckten  Halle,  in  der  vor  Jahresfrist  unter 
der  Wirkung  des  vom  Menschengeist  gebändigten  und  dienstbar 
gemachten  Blitzes  die  Räder  surrten,  hat  sich  heuer  die 
«Kunst  der  Erholung»  von  harter  Arbeit  sesshaft  gemacht, 
die  wir  unter  dem  Sammelbegriff  «Sport»  zusammenfassen. 
Wir  Modernen,  die  wir  nicht  selten  die  Dekadenten  des  Fin 
de  siöcle  genannt  werden,  haben  es  längst  aufgegeben,  das. 
dolee  far  niente  nach  Art  der  Lazzaroni  zu  pflegen  und  zu 


620  Jahresbericht  1899. 

gemessen;  das  Zeitalter  des  Dampfes  und  der  Elektrizität 
hat  uns  untrüglich  die  Wahrheit  des  Spruches  demonstrirt : 
«Rast'  ich,  so  rost'  ich!»  und  dadurch  sind  wir  hin  übergeleitet 
worden  zu  der  Ansicht,  dass  auch  das  scheinbare  Spiel  den 
Zweck  verfolgen  müsse,  unsere  intellektuellen  oder  physischen 
Kräfte  für  die  ernste  Arbeit  zu  stählen,  zu  kräftigen.» 

Wir  haben  alsbald  nichts   dagegen,    wenn    wirklich   ein 

Sport  zur  Arbeit  stählt  und  Lust  macht.  Bei  den  weitaus  meisten 

Sportleuten  ist  dies  aber  gar  nicht  der  Fall,  sondern  das  ist 

■ 

ihre  Arbeit,  von  der  sie  sich  erst  wieder  erholen  müssen. 
Diese  Leute. geben  unserem  Volke  ein  beständiges  schlechtes 
Beispiel,  das  nicht  durch  das  Geld  ausgeglichen  wird,  welches 
sie  in  das  Land  bringen,  so  dass  wir  mitunter  den  Ideengang 
des  italienischen  Dichters  Carducci  ein  wenig  verstehen,  der 
in  seiner  berühmten  Ode  «Von  den  Thermen  des  Caracalla» 
sogar  das  Fiebor  anruft:  «Fieber,  höre  mich,  halte  die  Fremden 
ferne  von  hier  und  ihre  ganze  Alltäglichkeit.» 

Leider  gleicht  auch  die  moderne  Kunst  immer  mehr 
diesem  Sportwesen,  indem  sie  nicht  mehr  die  höchste  Dar- 
stellung des  Schönen  in  der  Welt  sein  will,  sondern  blosse 
Manierirtheit  zeigt,  die  etwas  als  schön  und  kunstvoll  erklärt, 
was  es  gar  nicht  ist,  oder  geradezu  einen  «Kultus  dcsHässlichen* 
an  die  Stelle  des  Kultus  des  Schönen  setzen  möchte.  In  dieser 
Hinsicht  waltete  in  diesem  Jahre  ein  grosser  Streit  über  die 
Fresken,  welche  der  Maler  Ferdinand  Hodler  von  Genf  an  die 
Wand  des  Waffensaales  im  Landesmuseum  von  Zürich  zu 
malen  beauftragt  wurde,  ein  Auftrag,  der  leider  von  der 
Mehrheit  der  eidgenössischen  Kunstkommission,  und  demzufolge 
auch  von  dem  Bundesrathe  bestätigt  wurde.  Es  bleibt  für 
uns  unbegreiflich,  wie  Jemand  überhaupt  an  den  Hodler'schen 
Gemälden  Geschmack  finden  kann ;  jedenfalls  aber  war  es 
gegenüber  einer  so  starken  Oppositon,  sogar  von  Seite  der 
Landesmuseumsdirektion   und   der  Stadt  Zürich  selber,  nicht 


Kunst.  62 1 

am  Platze  das  eidgenössische  Geld  für  Bilder  anzuwenden, 
die  eine  künftige  mit  besserem  Geschmack  begabte  Zeit 
wahrscheinlich  wieder  herabschlagen  wird.  Dass  einem  Maler 
vor  der  Richtung  Hodlers  überdies  jeder  historische  Sinn, 
wir  fürchten  sogar  die  historische  Kenntniss  von  Kostümen, 
Waffen  etc.  fehlt,  was  alles  zu  einem  historischen  Gemälde 
nothwendig  gehört,  das  ist  selbstverständlich  und  durch  diese 
Probe  neuerdings   erwiesen. 

Dessenungeachtet  glaubte  ein  Theil  der  schweizerischen 
Künstlerschaft  sich  ihres  Kameraden  annehmen  zu  müssen  und 
richtete  an  den  Bundesrath  ein  ziemlich  unpassendes 
Schreiben,  das  wir  zur  Charakterisirung  dieser  Richtung 
abdrucken.  Demnach  soll  also  das  ganze  gebildete  Publi- 
kum kein  Urtheil  mehr  darüber  haben,  was  schön  sei ; 
nur  bezahlen  darf  es  noch,  was  die  «Künstler»  als  schön  je« 
weilen  erklären.  Und  sie  machen  es  sich  wirklich  damit 
zuweilen  bequem,  einige  Figuren  mit  einer  schwarzen  Linie 
umzogen,  wie  es  die  Kinder  machen,  darin  einige  möglichst 
bunte  Farbenklekse,  und  wenn  es  dann  recht  hässlich  ist,  so  wird 
es  «kraftvoll»  genannt.     Das  Schreiben  lautete,  wie  folgt: 

«An  den  hohen  Bundesratli !  Die  unterzeichneten  Künstler 
protestiren  aus  allen  Kräften  gegen  die  Handlungsweise  der 
Landesmuseumskommission  und  den  von  dieser  Kommission 
gegenwärtig  geführten  Feldzug,  der  den  Zweck  hat,  die  Aus- 
führung des  Gemäldes  von  Ferinand  Hodler,  das  den  Rückzug 
von  Marignano  darstellt,  zu  hintertreiben. 

Von  dem  Grundsatze  ausgehend,  dass  ein  Künstler  wahr- 
haft und  nach  seinem  vollen  Werthe  nur  durch  seinesgleichen 
(que  par  ses  pairs)  kann  beurtheilt  werden,  bitten  die  Unter- 
zeichneten den  hohen  Bundesrath,  in  dem  vorliegenden  Falle 
seine  ganze  Autorität  zu  gebrauchen,  um  dem  Beschluss  seiner 
Kunstkommission  und  seiner  Jury  Nachachtung  zu  verschaffen 
und  so  dem  Künstler  die  Ausführung  seiner  Arbeiten,  auf 
die  er  ein  Recht  hat,  zu  sichern.» 


622  Jahresbericht  1899. 

Ein  sachverständiger  Artikel  der  Lausanner-  Zeitung 
Äusserte  darüber: 

«Dans  l'adresse,  qa'ils  se  disposent  &  reinettre  au  Conseil 
f£d6ral,  les  camarades  de  M.  Hodler  revendiquent  pour  celui-ci 
le  droit  d'etre  juge"  par  ses  pairs,  et  c'est  ä  ce  titre  qu'ils 
recommandent  avec  instance  au  Conseil  federal  l'exäcution  de 
la  composition  contestee.  Un  personnage  bien  renseigne  et  qui 
«onnait  en  particulier  le  sentiment  des  Zurichois  dans  cette 
affaire,  m'assure  que  la  cause  de  M.  Hodler  n'a  rien  &  ga^ner 
&  etre  prise  en  mains  par  les  artistes,  et  il  m'en  a  donne*  les 
raisons  snivantes: 

«L'impression  produite  sur  le  public  zurichois  par  les 
deux  projets  successifs  de  M.  Hodler  est  däplorable.  II  n'y 
a  eu  qu'ane  voix  pour  declarer  que  ces  compositions  etaient 
laides,  inintelligibles  et  qu'elles  ne  repräsentaient  pas  la  re- 
traite  de  Marignan,  tuöme  assigne"  au  peintre.  Le  jury  a  6te 
en  somme  de  cet  avis,  car  il  a  refuse"  le  premier  carton  et 
il  ä  fait  du  second  une  critique  qui  n'en  laissait  rien  debout. 
Mais,  par  une  inconsequenco  injustifiable,  le  jury  a  conclu 
li  l'exäcutiou  de  la  composition  dont  il  avait  si  bien  releve 
les  defauts  capitaux.  A  Zürich,  on  a  attribue  cette  conclusion 
4  la  camaraderie,  et  on  n'a  pas  etö  trop  etonne  de  voir  la 
commis8ion  des  beaux-arts  se  ranger  au  meme  avis,  puisqur 
certains  de  ses  raembres  avaient  dejä  si6ge  dans  le  jury  de 
concours.  Sans  s'emouvoir  beaucoup  de  la  contradiction  flag- 
rante oü  6tait  tombe*  le  jury,  on  en  a  conclu  &  Zürich  qu'on 
avait  eu  tort  de  le  composer  d'artistes  et  de  s'ecarter  ainsi 
de  l'exemple  donne"  par  d'autres  pays.  Mais  si,  maintenant, 
toute  la  confrerie  juge  &  propos  de  se  proclamer  solidaire 
avec  M.  Hodler  et  si  eile  prätend  avoir  raison  de  l'indignation 
de  la  population  zurichoise,  il  faut  s'attendre  ä  ce  que  ceile-ci, 
loin  de  däsarmer,  acquiere  une  conscience  plus  nette  de  son 
instinctive  räpulsion  pour  l'6cole  qui  entreprend  de  forcer  son 
admiration.  Cela  ne  sera  pas  un  mal,  car,  vraiment.  certains 
peintres,  Ferdinand  Hodler  en  täte,  se  moquent  depuis  trop 
longtemps  du  public,  et  il  est  bon  que  celui-ci  s'en  apergoive. 
Les  Zurichois,  dans  tous  les  cas,  sont  d'avis  que  des  peintures 
k  exäcuter  aux  frais  des  contribuables  ne  doivent  pas  froisser 


Kunst.  623 

le  sens  esthetique  de  tonte  une  popnlation;  ils  se  refusent 
^nergiquement  ä  reconnaitre  Marignan  dans  la  coniposition 
repugnante  et  confuse  de  M.  Hodler,  et  ils  ont  bon  espoir 
que  le  Conseil  föderal  sera  de  leur  cöt6  dans  la  resistance 
que  le  bon  sens  public  oppose  enfin  aux  extravagances  et 
aux  mystifications  d'artistes  fourvoy6s,  qui  cherchent  &  imposer 
leurs  ceuvres  ä  force  de  reclame  et  de  toupet.» 

Les  appräciations  qui  pröcedent  ne  sont  pas  le  fait  d'un 
horame  isole  et  j'ai  6t6  £tonne  da  progres  que  le  point  de 
vue  zarichois  a  fait  dans  les  regions  officielles.  11  y  a  la  une 
indication  qui  ne  doit  pas  etre  perdue  pour  les  artistes  de 
la  Suisse  romande.» 

Das  klassische  Gutachten,  welches  Herr  Prof.  Dr. 
Kahn  auf  den  Wunsch  des  Stadtrathes  von  Zürich  über  die 
.zweite,  sogenannte  «Verbesserung»  des  Hodlerschen  Cartons 
abgegeben  hatte,  lantete  u.  a.: 

« Vorzüge  des  neuen  Cartons  sind  dem  früheren  gegenüber 
nicht  zu  verkennen:  Die  Grnppirung  der  Massen  ist  eine 
gesammeltere,  die  Auffassung  ruhiger  und  mass voller  ge- 
worden, an  Kraft  und  Bestimmtheit  hat  die  farbige  Gesammt- 
wirkung  gewonnen.  Aber  befriedigend  und  wahrhaft  erfreu- 
lich vermag  ich  auch  diese  Lösung  nicht  zu  linden ;  sie  ist 
von  diesem  Erfolge  fast  so  weit  wie  die  vorige  entfernt. 

Die  Scene  stellt  den  Rückzug  eines  Nachtruppes,  oder 
eines  Häufleins  Versprengter  vor,  die  auf  müdem  Marsche 
mit  Bannern  und  mit  ihren  verwundeten  Kameraden  dem 
schon  entschwundenen  Heerhaufen  folgen.  Nur  zwei  sind 
zurückgeblieben,  scheinbar  im  Begriffe  stehend,  die  Abzie- 
henden gegen  einen  unsichtbaren  Angriff  zu  decken.  Halb 
vergraben,  mit  aufgesperrtem  Maule  schaut  zuvorderst  ein 
Gefallener  aus  dem  Boden  heraus.  Hinter  dem  Zuge  dehnt 
sich  mit  parallelen  Falten  eine  leblose  Wüste  aus.  Gefallene 
tauchen  hin  und  wieder  aus  den  Furchen  auf,  aus  der  Mitte 
ein  Gewimmel  von  Fahnen  zwischen  fernen  Gruppen,  deren 
Verhältniss  zu  den  vorderen  ein  unverständliches  ist. 
Schwefelgelb,  Orange  und  Hellblau  sind  die  dominirenden 
Farben,  die  sich  schreiend  und  trocken  von  dem  lichten  Rosa 
der  Tiefe    sondern.     Gleiche  Müde   in   der  Haltung  und  auf 


624  Jahresbericht  1899. 

den  Gesichtern,  Monotonie  in  Gruppen,  Bewegungen  und 
Gliederlagen  und  eine  grelle  Härte  sind  die  Eindrucke,  die 
wir  zuerst  empfinden. 

Kann  ausserdem  von  einer  Komposition,  von  treffender 
Schilderung  eines  historischen  Momentes,  oder  auch  nur  von 
Wahrheit  im  einzelnen  gesprochen  werden  ?  Ich  wage  nicht 
Ja  zu  sagen.  In  Bezug  auf  die  Komposition  hat  sich  dieser 
Entwurf  so  wenig  wie  der  frühere  Carton  über  die  Schwäche 
erhoben,  die  in  der  blossen  Reihe  und  dem  absoluten  Mangel 
an  natürlicher  Tiefe  liegt. 

Aus  zwei  gleichen  Hälften  setzt  sich  das  Häuflein  zu- 
sammen, die  beide  die  nämliche  Gruppirung  wiederholen.  In 
gereckter  Haltung  geht  jeder  ein  gedrungener  Geselle  zur 
Seite,  der  eine  schwefelgelb,  der  andere  in  Orange  gekleidet; 
dahinter  zwei  Männer,  die  einen  Verwundeten  hier  und  die 
letzten  einen  Sterbenden  tragen;  im  dritten  Gliede,  alle  ge- 
beugt, die  Mannschaften,  welche  die  Banner  bewachen. 

Das  sollen  die  Streiter  sein,  die  besiegt,  aber  unge- 
brochen die  Schweizerehre  aus  einer  Heldenschlacht  gerettet 
haben?  Es  ist  schlechterdings  unmöglich,  an  den  Ernst 
dieser  Vorstellung  zu  glauben,  wenn  wir  einen  Zug  gewahren, 
der  sich  in  nichts  von  der  Haltung  eines  Maleticanten Schubes 
nach  dem  Eichtplatz  unterscheidet.  Gewiss,  Erschöpfung, 
Ingrimm  und  Trauer  sind  unzertrennliche  Gefährten  der  ge- 
schlagenen Streiter  gewesen,  aber  sicher  auch  andere  Ge- 
fühle; Stolz  und  Trotz  und  der  Wagemuth,  auch  den  Rück- 
zug als  Helden  zu  machen.  Hat  der  Künstler  diese  Seite  in 
Anschlag  gebracht  ?  Scheinbar  in  den  Zweien  ,  die  zur 
Rechten  stehen,  einem  untersetzten,  barhäuptigen  Bravo,  der 
aber  vorerst  das  Eisen  der  Mordaxt  noch  auf  den  Boden 
senkt  und  sich  ausnimmt,  wie  ein  Holzknecht,  der  von  un- 
gefähr des  Weges  gekommen  ist.  Der  zweite,  den  eine  häss- 
liche  Lücke  von  dem  Zuge  trennt,  wiederholt  eine  piece  de 
resistance,  für  welche  der  Meister  eine  so  unwandelbare  Zu- 
neigung besitzt,  dass  er  sie  in  der  gleichen  unmöglichen 
Parirstellung  nun  allbereits  zum  vierten  Male  wiederholt. 

Und  nun  die  Situation,  in  der  sich  die  übrigen  befinden. 
Sie  ist  eine  solche  geworden,  dass  nur  noch  jene  Parade  sie 


Kunst.  625 

von  den  auf  den  Fersen  nacheilenden  Feinden  trennt ;  doppelt 
kritisch  im  Geleite  der  Fahnen,  unter  denen  das  Lilienpanner 
als  Trophäe  die  höchste  Heransforderung  an  den  Gegner  be- 
deutet. Aber  unbeirrt  schiebt  das  Trüpplein  weiter;  keine 
Miene  verräth  die  Aussicht  auf  ein  neues  Gewühl,  kein 
freudiges  Auge  hebt  sich  zu  den  geretteten  und  erbeuteten 
Ehrenzeichen  empor,  kein  Haupt  ist  zurück  in  der  Eichtung 
gewendet,  ans  welcher  abermals  die  Macht  des  Todes  droht. 
Ist  die  Spur  von  Wahrheit  in  dieser  Auffassung  zu  finden 
und  wie  stellt  sich  nun  auch  noch  ihr  Verhältniss  zum  Ein- 
zelnen dar? 

Ueber  Geschmackssachen  zu  rechten  ist  erfahrungsgemäss 
ein  fruchtloses  Beginnen  und  so  möge  der  Künstler  seinen 
Gefallen  an  einer  abgelebten,  brutalen  und  stumpfen  Mensch- 
heit bewahren.  Aber  wenn  diese  Kreaturen  am  Ende  nur 
gehen,  handeln  und  einer  normalen  Leiblichkeit  sich  erfreuen 
könnten.  Wie  ägyptische  Figuren,  so  schieben  und  schleifen 
sie  auf  platten  Sohlen  einher;  nicht  eine  Ferse,  keine  Fuss- 
ßohle  hebt  sich  vom  Boden  ab.  Unmögliche  Handgriffe  haben 
schon  auf  den  früheren  Cartons  befremdet;  die  neue  Arbeit 
weist  deren  die  Menge  auf.  Hat  je  ein  Krieger  wie  der 
letzte  zur  Hechten  in  kampfbereiter  Stellung  gestanden  und 
je  einer  sich  des  Zweihänders  als  Spazierstock  bedient?  Wie 
mochte  die  Qual  der  Verwundeten  sich  gesteigert  haben, 
indem  sie,  sowie  der  Künstler  es  schildert,  auf  langem 
Marsche  transportirt  worden  sind :  Zwei  Beine  auf  einer 
Achsel  und  dazu  noch  über  dem  glatten  und  harten  Panzer, 
auf  dem  sie,  um  nicht  herabzugleiten,  mit  doppelter  Wucht 
umklammert  werden  inussten. 

Ich  unterfange  mich  nicht,  einem  Künstler  gegenüber 
mit  zeichnerischen  Belehrungen  aufzutreten  ;  aber,  was  jeder 
Laie  sieht,  vermag  auch  ich  zu  sehen:  Verzeichnungen  an 
Rücken,  Bäuchen  und  Gliedmassen,  Köpfe  ohne  Augen,  einen 
Unterschenkel,  der  dreimal  ausgerenkt  erscheint.  Wer  hält 
die  Fahnen?  Wo  ist  das  rechte  Bein  des  violetten  Trägers 
in  der  hintern  Gruppe  zu  suchen  und  wo  auf  dem  Erden- 
rund ein  Mensch,  dem  ein  grasgrüner  Bart  gewachsen  ist  ? 
Gleiches  Befremden    erwecken  die    rothen  Flecken,    die  sich 

40 


626  Jahresbericht    1899. 

durch  die  vorderste  Fahne  ziehen.  Sie  sind  keine  Blutspuren, 
in  denen  der  Künstler  so  gerne  macht,  sondern  sie  werden 
als  Risse  gedeutet,  durch  die  ein  zweites,  sonst  nicht  sicht- 
bares Panner  schimmert.  Das  hindert  aber  nicht,  an  Flecken 
zu  glauben  und  das  Auge  so  zu  verwirren,  dass  es  immer 
wieder  zu  diesen  Blutegeln  emporschauen  muss.  Die  Hand 
aufs  Herz;  hätte  ein  armer  Unbekannter  so  gezeichnet  und 
gefarbelt,  er  würde  als  Stümper  verschrien  und  sein  Werk 
ohne  weiteres  aus  dem  Gesichtsfeld  geräumt  worden  sein. 

Für  die  Wiedergabe  von  Einzelheiten  hat  der  Künstler 
den  Rath  von  Sachverständigen  vernommen  and  demgemäss 
das  eine  und  andere  der  ihm  zur  Verfügung  gestellten  Ob- 
jekte kopirt.  Damit  aber  begonnen,  hätte  ein  Weiteres  nicht 
unterbleiben  sollen,  das  Studium  der  Trachten,  die  so  unend- 
lich schöner  und  malerischer  als  die  hier  vorgeführten  sind, 
und  die  Art,  wie  die  Waffen  in  That  und  Wahrheit  geführt 
worden  sind.  Zeugniss  krasser  Unkenntniss  oder  geflissent- 
licher Missachtung  des  Historischen  sind  die  Fahnen.  Ein 
weisses  Kreuz  auf  blauem  Feld,  was  soll  dieses  Zeichen  be- 
deuten und  welcher  Historiker  oder  Antiquar  ist  imstande, 
ein  violettes  Kriegsbanner  nachzuweisen  V 

Wie  viel  solchen  Schlages  die  Zukunft  noch  bringe,  es 
berührt  mich  nicht,  weil  ich  mir  ein  weiteres  Schauen  er- 
sparen kann.  Das  Vorliegende  mnsste  ich  sehen  und  ich 
musste  Meinung  bekennen,  weil  den  Anlass  dazu  ein  Appell 
an  meine  amtliche  Stellung  gab. 

Unverständliche  Schilderung  des  gegebenen  Momentes, 
Unwahrheit  im  einzelnen  und  Mangel  jeglichen  Feingefühls 
für  Empfindungen,  Formen  und  Farben,  ein  anderes  Urtheil 
vermag  ich  nicht  zu  fällen.  Ich  gehe  aber  noch  weiter,  in- 
dem ich  der  Ueberzeugung  Ausdruck  gebe,  dass  das  Werk 
auf  solcher  Stelle  der  Massstab  eines  Urtheils  werde,  das 
der  sc hw ei ze rischen  Kunst  vor  dem  Forum 
des  Auslandes  weder  zum  Frommen  noch  zur 
Ehre  gereicht.» 

Einstweilen  hat  die  Bundesversammlung  darauf  mit  der 
Herabsetzung  des  Kunstkredits  auf  die  Hälfte  geantwortet, 
und  wenn  man  das  Publikum  fragen  würde,  was  es  darüber 


Kunst.  627 

and  aber  die  Auswahl  der  Gemälde  denkt,  welche  bisher  bei 
den     Ausstellungen    für    Rechnung   des    Bundes     um    hohe 
Summen  angekauft  worden  sind,  so  würde  vielleicht  auch  noch 
die    andere  Hälfte  gestrichen  werden.     Auch    der   illustrirte 
Katalog   der   letzten  Ausstellung  prangte  mit  der  Titelfigur 
eines  hässlichen  nackten  Jünglings,  der  seltsam  genug  nur*  am 
Kopf  und  an  den  Füssen  bekleidet   und  dessen  ausgestreckter 
Arm    verzeichnet  war.      Es    wäre   unseres   Erachtens   hohe 
Zeit,    die  eidgenössische  Kunstkommission  von  Grund  aus  zu 
ändern,  wenn  sie  in  ihrer  Mehrheit  dieser  Richtung  angehören 
will.  Unseres  Erachtens  ist  überhaupt  der  ganze  «Symbolismus» 
ein  Irrthum.    Darauf,   dass    er  jetzt   gerade   Modesache  ist, 
kommt  es  nicht  an  und  wenn  einige  schweizerische  Zeitungen 
sich  sogar  dahin  verstiegen,  zu  sagen,   das  Ausland  beneide 
uns  bereits  um  unseren  Hodler,  so  beneiden  wir  dieses  Aus- 
land nicht  um  seinen  Kunstgeschmack,  der  übrigens  meistens 
nur  das  Urtheil  einer  kleinen  Clique  ist,  wenn  man  die  Sache 
näher   besieht.    Die  Kunst  ist  dazu  da,   um  das  menschliche 
Herz  durch  die  richtige  Darstellung  des  Besten  und  Schönsten 
zu  e  r  fr  e  n  e  n  und  über  das  Alltägliche  zu  erheben.  Wenn  sie 
das  nicht  leistet,   ist   sie   nicht  viel  werth  und  es  ist  leider 
wahr,   was   ein   englischer  Kritiker  von   einer   von  Zeit  zu 
Zeit  auftauchenden  Richtung  unter  den  Künstlern,  namentlich 
den  geringeren,  sagt : 

«Mere  art  perverts  taste ;  just  as  mere  theology  depraves 
religion.» 

Auch  eine  Anzahl  schweizerischer  Künstler  wünschen 
eine  Reform  der  Kunstkommission,  aber  in  einem  ganz  an- 
deren Sinne  als  wir.  Der  «Bund»  berichtete  darüber,  wie 
folgt  : 

«Eine  Anzahl  schweizerischer  Künstler  haben  an  das 
eidg.  Departement  des  Innern  ein  Gesuch  gerichtet ,  es 
möchten  Reformen  eingeführt  werden  in  der  Ernennung  und 


628  Jahresbericht  1899. 

der  Organisation  der  schweizerischen  Kunstkommission.  Die 
Unterzeichner  des  Gesuches  glauben,  dass  die  Autorität  der 
schweizerischen  Kunstkommission  wirksamer  wäre,  wenn  die 
Künstler  die  Mitglieder  derselben  ernennen  könnten.  — 
Dieses  Begehren  wird,  so  viel  wir  bis  jetzt  bemerken  konn- 
ten, von  der  Presse  der  verschiedensten  Richtungen  als  un- 
zulässig und  unzeitgemäss  abgelehnt.  Die  «Züricher  Post> 
meint,  im  Volke  werde  das  Gesuch  den  Eindruck  machen, 
den  die  Herren  ja  zweifellos  nicht  beabsichtigen,  dass  ge- 
wissen Künstlerkreisen  sehr  wenig  daran  liegt,  was  aus 
Bundesmitteln  für  die  Kunst,  aber  sehr  viel  daran,  was  für 
einzelne  Künstler  aufgewendet  wird.  Man  werde  sich  auch 
fragen,  wie  die  Herren,  wenn  sie  selbst  über  die  Verwen- 
dung der  Bundesbeiträge  «zur  Förderung  der  Kunst»  ent- 
scheiden; sich  die  Verbindung  der  Kunst  mit  dem  Volk,  den 
Laien  denken.  Das  Verlangen,  sich  ohne  Kontrolle  über  die 
Bundesunterstützungen  hermachen  zu  können,  habe  doch  gar 
zu  viel  Aehnlichkeit  mit  dem  ordinären  Hunger  nach  der 
Staatskrippe,  der  heute  in  allen  wirtschaftlichen  Vereini- 
gungen grassirt.  Wir  halten  dafür,  dass  es  im  Interesse  der 
Künstler  wie  der  Kunst  sei,  dass  die  Wahl  der  Kunstkoni- 
mission nicht  in  die  Hände  der  Künstler  gelegt  werde.  Un- 
befriedigte würde  es  auch  bei  dem  neuen  Wahlmodus  geben, 
und  dann  würde  des  Streites  und  Haders  unter  den  Künstlern 
kein  Ende  sein.» 

Es  ist    wenig  Gefahr    vorhanden,    dass    die  Bundesver- 
sammlung das  noch  beschliesse,  ganz  im  Gegentheil. 

Auch  in  Deutschland  waltete  ein  ähnlicher  Streit,  wie 
der  Hodler'sche,  um  ein  Deckengemälde  eines  Malers  Stuck, 
welches  das  Reichstagsgebäude  zieren  (?)  sollte,  das  aber 
dort  (vernünftiger  als  wir  gehandelt  haben)  von  der  Aus- 
schmückungs-Kommission verworfen  wurde,  unter  Abfindung 
dieses  sogenannten  Künstlers,  der  vorsichtiger  Weise 
übrigens  bereits  22,000  Mark  vorausbezogen  hatte. 

Der  bekannte  bayerische  Cent  rums- Abgeordnete  Lieber 
erklärte  in  seiner  derben  Ausdrucks  weise  geradezu  :  cMalerei 
verdient    dieses  Bildwerk    kaum    genannt    zu    werden;    ein 


Kunst.  629 

Kunstwerk  ist  es  nnr,  wenn  jede  Schmiererei  ein  solches 
sein  sollte.  (Zustimmung  rechts.)  Es  ist  das  schlechteste* 
Werk  des  vielgenannten  Künstlers.  Auf  die  Umgebung  wirkt 
dieses  Bildwerk  wie  ein  Tintenklecks,  wie  ein  Hohn  auf 
jeden  geläuterten  Geschmack.  (Zustimmung  rechts.)  Wenn 
wir  ko  unser  Gebäude  ausschmücken  wollen,  dann  kommen 
wir  besser  weg,  wenn  wir  die  Titelbilder  der  «Jugend» 
sammeln  und  ankleben,  statt  solche  Spottgeburt  von  Dreck 
und  Feuer  als  dekorative  Malerei  zu  verwenden.» 

Aach  in  der  Musik  beginnt  sich  eine  gewisse  Reaktion 

gegen    die  Uebertreibung  der  angeblichen  «Kunstleistungen» 

geltend  zu  machen.  In  einem  Vortrag  in  St.  Gallen,  welchen 

Pfarrer  Rohrer  (jetzt  in  Bern)  hielt;  konstatirte  er  zunächst, 

«dass  der  Volksgesang  vor  Zeiten  eine  ungleich  bedeutsamere, 
«einer  Natur  besser  entsprechende  Stelle  im  Volksleben  ein- 
genommen habe.  Sang  vordem  das  Volk  und  war  die  Familie 
der  traute  Hort  dieses  Gesanges,  so  ist  das  heute  leider 
anders  geworden  —  das  Volk  singt  nicht  mehr,  nur  noch 
die  Vereine  —  und  diese  singen  keinen  Volksgesang  mehr, 
sondern  Kunstgesang  oder  höchstens  verkünstelten  Volksge- 
sang. Der  vierstimmige  Tonsatz  hat  den  Unisono-Gesang  ver- 
drängt; jener  aber  ist  ein  künstliches  Produkt,  das  nie  und 
nimmer  den  einstimmigen  Volksgesang  ersetzen  kann.  Die 
Sänger  der  nur  der  Accordfüllung  dienenden  Stimmen  fassen 
die  Melodie  meist  nicht  auf  und  können  darum  das  Lied  auch 
nicht  mitempfinden  —  sie  erleben  das  Lied  inwendig  nicht 
und  können  es  darum  auch  nicht  auswendig.  So  können 
ausserhalb  des  Vereins  auch  die  einfachsten  Volkslieder  nicht 
mehr  gesungen  werden,  die  Bücher  sind  nicht  zur  Hand,  es 
fehlt  am  I.  Tenor  oder  am  I.  Bass  oder  sonstwo.  Nur  noch 
vereinzelt  tritt  heutzutage  der  wahre  Volksgesang  als  Aus- 
druck des  innern  Gemüthslebens  auf,  so  bei  den  Kindern, 
deren  Singen  oft  der  Sonnenschein  des  ganzen  Hauses  ist, 
dann  bei  den  Studenten,  die  ihre  einstimmigen  Lieder  noch 
auswendig  singen  und  wenn  sie  zehn  Strophen  enthalten  — 
und  doch  wird  ihr  Singen  so  oft  «Brüllen»  genannt,  weil 
die    dynamischen  Nuancirnngen    vielleicht    nicht  so  peinlich 


630  Jahresbericht  1899. 

beachtet  werden.  Dafür  können  diese  dann  dnrch  die  Strassen 
ziehen  unter  den  Klängen  eines  flotten  Marschliedes,  wahrend 
unsere  Vereinssänger  ihre  Stimmen  schonen  müssen  auf  das 
bevorstehende  Konzert,  ebenso  wie  ihre  Lieder  dem  Publikum 
nicht  zu  früh  geboten  werden  dürfen,  da  sie  ja  ein  Zugstück 
des  nächsten  Konzertes  bilden  müssen.  Ja,  für  Sängertage, 
Konzerte,  Abendunterhaltungen  und  andere  Festlichkeiten 
wird  gesungen,  dass  alles  über  die  vielen  Proben  jammert« 
und  nachher  ist  unter  allen  Wipfeln  Ruh!  Das  ist  sicher- 
lich kein  gesunder  Zustand.  Zum  Kunstgesange  fehlt  auf 
dem  Lande  jener  Grad  von  Bildung,  der  zu  dessen  Uebung 
wie  zu  dessen  Genüsse  erforderlich  ist,  daher  er  denn  auch 
den  Volksgesang  nicht  ersetzen  kann.  Die  Hauptstelle  im 
Gebiete  des  Gesanges  soll  das  einfache  Volkslied  einnehmen 
und  nicht  der  künstlich  gepflegte  Vereinsgesang,  der  zwar 
auch  seine  Berechtigung  hat,  aber  erst  in  zweiter  Linie, 
hinter  dem  Volksgesange. 

So  wies  der  Vortragende,  der  ein  feinsinniger  Kenner 
der  Musik  und  des  Volkslebens  ist,  jedem  Gebiete  die  ihm 
gebührende  Stellung  an.  Erschalle  denn  nicht  ungehort  sein 
Ruf:  Mehr  Volksgesang  in  allen  Kreisen  der  Bevölkerung 
—  mehr  als  je  Pflege  des  einfachen,  ungekünstelten  aber 
lebensvollen  Volksliedes  in  Familie,  Schule  und  Verein!» 

Zur  Schule  rechnen  wir  auch  mit  die  Schule  des  Wehr- 
manns, den  nationalen  Wehrdienst. 

So  lange  aber  die  Schiedsgerichte  an  eidgenössischen 
und  kantonalen  Sängerfesten  den  widersinnigen  Unterschied 
machen  zwischen  «Volksgesang  I.  Ranges»  oder  «schwieri- 
gerem Volksgesang»  und  «Volksgesang  II.  Ranges»  oder 
«einfachem  Volksgesang»,  eine  Unterscheidung,  die  beweist, 
dass  die  Fachkundigen  gar  nicht  mehr  wissen,  was  Volks- 
gesang ist,  —  so  lange  wird  der  Herzenswunsch  des  Vor- 
tragenden noch  ferne  ßein  von  seiner  Verwirklichung.  So 
wie  das  einfache  Volkslied  ein  einstimmiges  Lied  ist,  so 
sind  es  auch    die    richtigen  Marschlieder.    Fügen    wir  bei: 


Kunst.  631 

so  sind  es  auch  die  fanfarenartigen  Unisonomärsche,  die  dem 
Soldatenohr  am  verstandlichsten  sind,  die  den  Soldaten  am 
meisten  packen  und  die  von  nnseren  der  Holzinstrumente 
entbehrenden  Militärmusiken  hauptsächlich  geblasen  werden 
sollten.  Aber,  was  entgegnen  uns  unsere  Fachmänner,  wenn 
man  ihnen  das  vorhält?  «Solche  Märsche  sind  ohne  musika- 
lischen Gehalt»  Den  Musikdirigenten  von  heutzutage  ist  eben 
das  Verständniss  für  volksthüm liehe  Musik  ganz  und  gar 
abhanden  gekommen.  Und  sie  werden  Herren  bleiben  der 
Situation,  bis  dereinst  aus  dem  Laienthum  eine 
reaktionäreBewegung  mitNaturgewalt  her- 
vorbricht, die  der  vertrakten  Künstelei  ein  Ende  macht.» 

Von  monumentalen  Bauten  war  besonders  der 
Basler  Rathhausneubau  der  Gegenstand  eines  lebhaften  Ge- 
schmackstreites. Schliesslich  entschied  dort  das  Volk  durch 
Abstimmung,  was  schön  sei  und  was  nicht,  nicht  etwa  die 
Run  stierschaft,  und  dieses  Recht  wird  es  sich  auf  die  Dauer 
nirgends  nehmen  lassen,  selbst  wenn  es  Ein  Mal,  wie  im  Falle 
Hodler,  durch  eine  Clique  vergewaltigt  worden  ist. 

Ueber  die  Restauration  der  Kathedrale  von  Lau- 
sanne sagt  ein  Artikel  der  Lausanner-Zeitung : 

«Une  notice  trös  complele  et  illustre'e  avec  goüt  vient 
d'fctre  mise  en  vente  au  profit  de  Toßuvre  de  restauration  de 
la  cathädrale.  Elle  est  intitul6e :  «La  cathädrale  de  Lausanne 
et  ses  travaux  de  restauration,  1869  ä  1898»,  et  a  6te  re- 
digäe,  sous  les  auspices  du  comitä  de  restauration,  par  M.  L. 
Gauthier,  chef  de  service  au  departement  cantonal  de  In- 
struction publique  et  des  eultes. 

On  lira  avec  inte>et,  ä  Lausanne  et  an  dehors,  le  re- 
8um6  des  longs  et  patients  travaux  de  restauration  de  la 
noble  cathädrale  oü,  des  le  XIIIe  siecle,  les  pelerins  adoraient 
Notn?-Dame  de  Lausanne  et  oü,  le  14  avril  1476,  ä  la  veille 
de  la  bataille  de  Morat,  Charles-le-T6meraire  vint,  en  graude 
pompe,  entendre  la  messe. 


632  Jahresbericht  1899. 

Le  memoire  montre  que  si  la  restauration  a  dejä  coüte 
beaucoup  de  teraps  et  beaucoup  d'argent,  eile  est  loin  d'etre 
achevöe.  «II  reste,  dit-il,  encore  enormem  eot  ä  faire  et  les 
depenses  en  perspective  sont  considerables.  Mais  le  peuple 
vaudois  saura  se  montrer  ä  la  hauteur  de  la  täche  et  tien- 
dra  ä  transmettre  en  bon  etat  ä  la  posteritä  an  monument 
qai  de  tout  temps  a  fait  l'admiration  des  connaisseurs  et  des 
artistes.  La  fin  da  siecle  approche  et  ce  doit  etre  pour 
chacuu  l'occasion  d'un  redoublement  d'activitö.  II  faat  qu'en- 
fin  la  vieille  cathädrale  de  Lausanne  apparaise  dans  toute  sa 
splendear.  C'est  sous  les  voutes  d'un  temple  dignement  re- 
staurä  qu'en  1903  nous  voulons  c£16brer  le  centieme  anni- 
versaire  de  notre  eher  canton  de  Vaud.* 

Bemerkenswerthe  Denkmäler  wurden  folgende  in- 

aagurirt : 

Vor  Allem  das  Davel's  auf  der  Ebene  von  Vidy,  auf  dem 
ehemaligen  Hinrichtungsplatz.  Es  trägt  die  einfach  schone 
Inschrift:  «Ici  Davel  donna  sa  vie  pour  son  pays.»  Heute 
beklagen  sich  die  Verschwörer  selbst  über  blosse  Ausweisungen. 
In  Zürich  wurde  ein  Pestalozzidenkmal,  in  Basel  ein  Hebel- 
denkmal aufgestellt,  in  Lausanne  soll  nun  vor  dem  Bundes- 
gerichtsgebäude der  von  einem  Pariser-Juden  geschenkte 
Wilhelm  Teil  aufgestellt  werden.  Während  im  Uebrigen 
überall  Denkmäler  wie  Pilze  aus  der  Erde  wachsen,  dachte 
merkwürdigerweise  Niemand  im  Erinnerungsjahr  des  Schwa- 
benkrieges daran,  dem  Heinrich  Wohlleb  von  Uri  ein  solches 
auch  nur  im  bescheidensten  Masse  zu  errichten,  dessen  Hel- 
dentod bei  Frastenz  doch  nahezu  an  den  Winkelrieds  erinnert. 

Von  Festen  und  Festspielen  reden  wir  lieber 
nicht  mehr,  sie  sind  Legion.  Wir  müssen  förmlich  darauf 
denken,  wieder  Helden  zu  produziren,  damit  die  zahllosen 
Dichter  und  Komponisten  der  letzteren  wieder  Stoff  bekommen  > 
die  alten  sind  sämmtlich  aufgebraucht,  und  das  19.  Jahrhun- 
dert hat  zwar  Eisenbahnen,  Telegraphen  und  Internationales 


Literatur.  633 

in  Masse  geschaffen,  aber  das  ist  eben  nicht  poetisch  genug. 
Im  nächsten  Jahre  kommt  zunächst  das  Monate  lang  dauernde 
Weltfest  der  Pariser-Ausstellung,  wobei  man  kaum  umhin 
kann,  an  die  Worte  des  Propheten  Jeremias  LI,  1—9  zu 
denken,  und  am  2.  Juli  in  Bern  das  25jährige  Jubiläum  des 
Weltpostvereins.  Andere  werden  ohne  Zweifel  folgen.  Im 
Ganzen  wäre  für  unser  Volk  etwas  Ernst  des  Lebens,  wie 
ihn  jetzt  die  afrikanischen  Republiken  brauchen  müssen,  besser, 
als  diese  beständige,   künstlich   hervorgerufene  Festseligkeit. 

Litteratur.  In  der  Schweiz  erscheinen  nach  einer 
französischen  Statistik  verhältnissmässig  jährlich  mehr 
Bücher,  als  in  jedem  anderen  Lande.  Es  wird  darin  be- 
hauptet, dass  die  Schweiz  jährlich  in  runden  Ziffern  1000  Werke 
publizirt,  was  auf  3000  Einwohner  ein  Buch,  oder  333  Bücher 
auf  eine  Million  Seelen  ausmacht.  In  den  andern  Ländern  ist 
das  Verhältniss  folgendes :  Deutschland  20,000  Werke,  das 
ist  1  auf  3100  Einwohner  oder  323  auf  eine  Million.  —  Ita- 
lien 9000  Werke  oder  1  auf  3300  Einwohner  oder  300  auf 
eine  Million.  —  Frankreich  11,000  Werke,  gleich  1  auf  3450 
Einwohner  oder  290  auf  eine  Million.  —  England  6000  Werke, 
1  auf  6500  Einwohner  oder  154  auf  eine  Million.  —  Ver- 
einigte Staaten  5000  Werke  oder  1  auf  12,400  Einwohner 
oder  81  auf  eine  Million  Einwohner.  Die  Schweiz  steht  hier 
also  an  der  Spitze ;  das  nämliche  ist  der  Fall  mit  Bezug  auf 
die  Zeitungen  und  Zeitschriften ;  auf  3000  Einwohner  kommt 
ein  Tagesblatt :  in  den  übrigen  Ländern  ist  der  Durchschnitt 
der  Einwohner,  die  auf  eine  Zeitung  kommen,  nachstehender: 
Vereinigte  Staaten  3100,  Deutschland  4727,  Holland  5,000, 
Frankreich  6333,  England  7800,  Italien  12,000,  Russland 
100,000.  Die  Schweiz  begnügt  sich  aber  nicht  mit  der  eigenen 
Produktion,  sondern  importirt  jährlich  Buchhändlerwaaren  für 


634  Jahresbericht  1899. 

bedeutende  Summen,  so  beispielsweise  für  Fr.  8,894,966  im 
Jahre  1897,  in  welchem  Deutschland  mit  Fr.  4,077,000  und 
Frankreich  mit  Fr.  2,561,871  figurirten.  Andererseits  expor- 
tirt  unser  Land  ebenfalls  geistige  Produkte  für  eine  Summe, 
die  keineswegs  zu  unterschätzen  ist,  nämlich  für  Franken 
3,166,283  im  genannten  Jahre.  Wie  viele  ganz  gute  Bücher 
darunter  sind,  welche  das  19.  Jahrhundert  überdauern  werden, 
wollen  wir  nicht  untersuchen. 

Das  beste  in  der  Schweiz  geschriebene  Buch,  das  wir 
in  diesem  Jahre  gelesen  haben,  ist:  «Goethe's  Charakter,  eine 
Seelenschilderung»  von  Robert  Saitschik,  Professor  in 
Zürich.  Daneben  Professor  Conrad  von  Orelli  in  Basel  «All- 
gemeine Religionsgeschichte». 

Von  historischen  Werken,  die  uns  betreffen, 
sind  zu  erwähnen,  zunächst  ein  neuer  (der  VII.)  Band  der 
Aktensammlung  der  Helvetik  von  Dr.  Strickler.  Er  geht 
bis  zum  Mai  1802.  Ebenfalls  von  Dr.  Strickler  eine  kurze 
Uebersicht  des  «Uebergangs»  unter  dem  Titel  «Die  alte 
Schweiz  und  die  helvetische  Revolution».  Von  Zeller- 
Werdmüller  eine  Anzahl  sehr  interessanter  Briefe  über  die 
Kriegsereignisse  von  1799  in  Zürich  und  Umgebung;  von 
Dr.  Dunant  in  Genf  «La  reunion  des  Grisons  ä  la 
Suisse,  correspondance  de  F.  Guiot,  resident  de  France  pres 
les  ligues  grises  1798/1799»  ;  von  Dr.  Pieth  «Die  Mission 
Justus  von  Gruner's  in  der  Schweiz  1816—1819»,  wesentlich 
aus  dem  Berliner- Archiv;  von  Dr.  Rott  in  Paris  «Histoire 
de  la  repräsentation  diplomatique  de  la  France  auprös  des 
cantous  suisses,  deieurs  alltäs  et  conf6de>6s»  (im  Erscheinen 
begriffen) ;  von  der  antiquarischen  Gesellschaft  in  Zürich  der 
erste  Band  der  interessanten  «Zürcherischen  Stadtbücher 
aus  dem  14.  und  15.  Jahrhundert.»  Von  Herrn  Rudolf 
Thommen  in  Basel  ist   eine  Urkundensammlung,    welche  die 


Litteratur.  635 

schweizerische  Geschichte  bis  zum  Jahre  1500  betrifft,  aus. 
österreichischen  Archiven  geschöpft,  in  einem  stattlichen 
Quartband  erschienen.  Sie  dient  als  Ergänzung  der  Eidg» 
Absehiede  und  der  Kopp'schen  Urkundensammlung. 

Zur  Geschichte  des  Schwabenkrieges  hat  Pro- 
fessor Constantin  Jecklin  an  der  Kantonsschule  Chur  die  in  der 
dortigen  Bibliothek  befindlichen  «Akten  des  Tyrolerkrieges», 
unmittelbare,  tagebuchartige  Notizen  von  einem  Zeitgenossen, 
wahrscheinlich  einem  österreichischen  Geistlichen,  der  in  Chur 
lebte,  herausgegeben,  die  ein  ungemein  deutliches  Bild  der 
Aktion  auf  dem  östlichen  Kriegsschauplätze  gewähren.  Sehr 
bezeichnend  ist  darin  namentlich  die  Schilderung  der  öster- 
reichischen adeligen  Herren,  die  «vil  Krieg  br neben  und  wenn 
es  an  ain  treffen  (geht),  sich  uff  ain  Ort  wyt  binden  stellen  .  .  . 
graatz  wol,  flicken  si  sich  hinzu  und  hands  alles  allain  thon, 
grads  übel,  so  hat  man  in  nit  wollen  volgen.»  Von  den 
Siegern  hingegen  sagt  er:  nach  der  entscheidenden  Schlacht 
an  der  Malserheide,  «wäre  man  wol  willig  gewesen  wyter  ze 
ziehen,  da  wass  der  halbtail  Knächt  mit  Robgut  verloffen», 
eine  nicht  ungewöhnliche  Nachschrift  fast  aller  eidgenössischen 
Siegesberichte  der  grossen  Zeit.  Von  der  letzten  Schlacht, 
bei  Dornach,  wird  berichtet,  dass  zuerst  nach  etlichen  Tagen 
die  Nachricht  nach  Chur  gelangte,  die  Eidgenossen  hätten 
1100  Mann  eingebüsst  und  die  Schlacht  verloren.  «Stat  zu 
erfarn,  ainss  glob  ich  und  dass  ander  nit.»  Aehnlich  sind 
wohl  heute  die  englischen  Siegesdepeschen  aus  Afrika  zu 
beurtheilen. 

Von  der  tapfern  Haltung  Benedikt  Fontana's  erzählt  er 
nichts,  wohl  aber  von  derjenigen  Heinrich  WohlleVs  in  der 
Schlacht  von  Frastenz.  die  damals  also  den  grössern  Ein- 
druck machte.    Heute  vergessen  ihn  selbst  seine  Landsleute. 

Das  war,  neben  einem  Festspiel  von  Dr.  Bühler  und 
Luck,  Musik   von  Barblan,    das  Beste,    was   bei  Anlass  der 


636  Jahresbericht  1899. 

Feier  der  Schlacht  an  der  Malserheide  in   diesem  Jahre  er- 
schien. 

Im  Allgemeinen  waren  die  «Gedanken  und  Erinnerungen» 
des  Fürsten  Bismarck  das  gelegenste  Buch  der  euro- 
paischen Litteratur.  Sie  erlebten,  neben  vieler  gedanken- 
losen Bewunderung,  auch  eine  sachlich  sehr  ruhige,  aber 
um  so  vernichtendere  Kritik  durch  Ludwig  Bamberger, ') 
einen  guten  Kenner  der  zu  Grunde  liegenden  tat- 
sächlichen Verhältnisse.  Es  ist  übrigens  merkwürdig  und 
sollte  abschreckend  sein,  dass  alle  Selbstbiographien,  Er- 
innerungen, Memoiren,  oder  wie  dies  mehr  oder  weniger  ge- 
schickte Selbstlob  jeweilen  genannt  wird,  auf  den  nicht  von 
vorneherein  zum  Beifall  entschlossenen  Leser  abkühlend  wir- 
ken. Das  Wort  Goethe's,  «man  merkt  die  Absicht  und  wird 
verstimmt»  trifft  hier  in  hohem  Grade  zu.  Ganz  objektiv  ge- 
nommen und  abgesehen  von  der  Persönlichkeit  des  Verfassers, 
enthält  aber  das  Buch  Bismarcks,  neben  vielen  treffenden  Be- 
merkungen manche  Richtigstellungen,  welche  die  Geschichte 
der  Zelt  von  1848  bis  1890  bleibend  beherrschen  werden. 
So  ist  der  Titel  Wilhelm  «der  Grosse»  fortan  unmöglich  ge- 
worden, ohne  dem  gerechten  Andenken  des  ersten  deutschen 
Kaisers  Eintrag  zu  thun,  und  ebenso  wird  die  Nachwelt 
sowohl  die  Schwierigkeiten,  welche  Bismarck  zu  überwinden 
hatte,  um  sein  Lebenswerk  zu  leisten,  als  die  schliessliche 
Entlassung  eines  solchen  «Dieners»  richtiger  beurtheilen  lernen. 

Nekrologie.  Der  bei  weitem  grösste  Verlust,  den 
die  Eidgenossenschaft  in  diesem  Jahre  erlitt,  war  der  aller- 
dings seit  geraumer  Zeit  zu  erwartende  Hinschied  ihres  be- 
deutendsten   Staatsmannes    aus    der   Zeit    nach    1848,    Emil 


*)  Unter  dem  Titel:    «Bismarck  Posthumus»    in   der  Berliner- 
« Nation»  zuerst  erschienen,  jetzt  als  Broschüre  zu  haben. 


Nekrologie.  637 

W  e  1 1  i  von  Zarzach,  im  Kanton  Aargau.  Er  war  ein  ge- 
bietender Mann ;  das  ist  das  schöne  Wort,  dessen 
hässlichere  Nuance  das  Wort  «autoritär»  ausdrückt.  Es. 
braucht  aber  eben  gerade  in  den  demokratischen  Republiken 
stets  auch  solche  Leute,  die  eine  natürliche  Autorität  besitzen 
und  das  Amt  zieren,  in  den  Augen  des  Volkes  erhöhen,  nicht 
umgekehrt  dies  vom  Amte  für  sich  erwarten  müssen.  Diese 
natürliche  Autorität  wird  durch  keine  Stimmzettel  verliehen, 
sie  ist  eine  Legitimation  von  Oben  her,  ein  Stück  « Gottes- 
gnaden thum»  auch  in  der  Republik,  und  die,  einzige  wirk- 
liche Berufung  zu   einem  Amte,  die  niemals  fehlgeht. 

Das  Schwere,  ohne  das  kein  bedeutendes  Menschenleben 
möglich  ist,  blieb  Welti  namentlich  in  seinen  späteren  und 
letzten  Lebensjahren  nicht  erspart,  und  er  vermehrte  es  noch 
selbst  durch  eine  zu  frühe  und  nach  unserer  Meinung  nicht 
hinreichend  motivirte  Abdankung.  Die  Beschäftigung  mit  dem 
Beiwohnen  an  Schulstunden  im  Gymnasium,  die  an  ihm  oft 
über  das  rechte  Maass  hinaus  gerühmt  wurde,  war  unseres. 
Er  achtens  mehr  eine  schöne  Liebhaberei,  als  eine  genügende 
Arbeit  für  solch  einen  Mann,  der  hätte  «in  den  Sielen  sterben» 
müssen. 

Er  war  der  einzige  Stoiker,  den  wir  in  unserem  Lande 
kannten,  der  ganz  nach  den  Prinzipien  dieser  Schule,  aus 
reinem  Pflichtgefühl  heraus  dachte  und  handelte.  Von  der 
Religion  hatte  er  keinen  vollständigen  Begriff,  respektierte 
aber,  ganz  im  Sinne  des  bekannten  Schiller'schen  Diktums, 
aufrichtig  das,  was  viele  Menschen  verbindet,  —  tolerant, 
aber  nicht  überzeugt.  Auch  die  Politik  war  in  ihm  mit 
starken  Zweifeln  an  allen  ihren  dogmatischen  Sätzen 
verbunden  und  ein  überzeugter  Demokrat  war  er  nicht, 
sondern  ein  Aristokrat  der  Bildung.  Aber  wo  es  sich  um 
Pflichterfüllung,  Selbstzucht,  ja  Selbstüberwindung,  und  Wohl 


638  Jahresbericht  1899. 

des  Vaterlandes  handelte,  da  war  er  niemals  unschlüssig  zu 
finden.  Besser  noch,  als  in  die  moderne  Schweiz,  hätte  er  in  die 
erste  Zeit  des  römischen  Staates,  oder  an  die  Spitze  einer  der 
altgriechischen,  oder  der  heutigen  südafrikanischen  Republiken 
gepasst.  «Er  war  ein  Mann,  nehmt  alles  nur  in  allem, 
wir  werden  nicht  mehr  Seinesgleichen  seh'n.> 

Von  politisch  bedeutenden  Persönlichkeiten  starben  ausser- 
dem im  Laufe  des  Jahres  Bundesrichter  Broye  von  Frei- 
burg, ein  sehr  redlicher  und  zuverlässiger  Richter  des  obersten 
Gerichtshofes,  unparteiischer  Ehrenmann  durch  und  durch,  was 
die  werthvollste  Eigenschaft  in  einer  solchen  Stellung  ist. 

Ferner  in  Genf  Moi'se  Vautier,  langjähriger  Ad- 
jutant des  Diktators  Fazy  und  Chef  seiner  Leibgarde,  der 
«fruitiers  d' Appenzell^  ein  ächter  «libertin»  im  alten  Sinne 
des  Wortes,  typisch  für  die  eine  Seite  des  Genfer-Lebens,  wo 
es,  so  lange  diese  Stadt  besteht  und  noch  bestehen  wird,  stets 
Libertins  und  Calvinisten  geben  wird,  wie  in  Florenz  s.  Z. 
Pallesken  und  Piagnonen. 

In  Tessin  Gioachino  Respini,  «ein  Theil  von  jener 
Kraft,  die  stets  das  Böse  will  und  nur  das  Gute  schafft'. 
Ihm  verdankt  die  jetzige,  im  Ganzen  sehr  gute  liberale  Partei- 
regierung im  Tessin  ihre  Existenz;  ohne  seine  hartnäckige 
Opposition  gegen  jede  Amnestirung  der  Urheber  der  Septem- 
berrevolution wäre  6ie  nicht  so  dauernd  ans  Ruder  gelangt. 
Persönlich  war  er  ein  ehrenwerther  Mann,  aber  ein  Typus 
des  schroffen  Parteimannes,  der  stets  der  Partei  am  meisten 
schadet,  welcher  er  augehört.  Die  Ursache  davon  war  ein  zn 
leidenschaftliches  Temperament,  das  nicht  rechtzeitig  durch 
eine  genügende  Bildung  gemässigt  worden  war.  Requiescat 
in  pace. 

Ihm  nicht  ganz  unähnlich  war  der  in  Zürich  ver- 
storbene  Adolf   Guyer-Zeller,    der   letzte  jener   gewalt- 


Nekrologie.  639 

thätigen  Präsidenten  der  Nordostbahn,  deren  erster  der  der 
Eidgenossenschaft  in  jeder  Hinsicht  wenig  nützliche  Alfred 
Escher  war.  Er  hatte  die  Neigung  und  den  Entschluss  eine 
Art  Eisenbahnkönig  im  amerikanischen  Sinne  zu  werden ;  da- 
zu ist  aber  in  der  Eidgenossenschaft  kein  ganz  geeigneter 
Boden  vorhanden.  Persönlich  war  er,  wie  wir  aus  eigener 
langjähriger  Erfahrung  bezeugen,  ein  durchaus  gemüthvoller, 
liebenswürdiger   und  seinen  Freunden  treuergebener  Mensch. 

Ein  vollkommen  anderer  Typus  von  Schweizern  war  der 
zuletzt  im  November  verstorbene  Ständerath  Rasch  ein  von 
Malix,  ein  Graubündner  von  der  allerbesten  Sorte,  einfach,  bieder, 
pflichtgetreu,  frei  von  Ehrgeiz  und  Streberthum,  kurz  von  dem 
edlen  «Bauern Charakter»,  der  den  besten  Typus  dieses  merk- 
würdigen Volkes  neben  einem  viel  geringeren  bildet,  der 
dort  auch  vorkommt. 

Aus  den  Kreisen  der  Wissenschaft  starb  in  Basel  ein 
«ehr  bekannter  Chirurg,  Professor  So  ein,  aus  den  Kunst- 
kreisen der  Bildhauer  Max  Leu;  zu  früh,  denn  er  hatte  un- 
seres Erachtens  noch  manches  zu  lernen,  was  aber  sicher 
geschehen  wäre. 

Im  Juli  starb  in  Ölten  ein  im  industriellen  Gebiet  sehr 
bekannter  Mann,  Nicolaus  Riggenbach,  der  Erfinder  der 
Bergbahnen  in  der  Schweiz  nach  dem  System  der  von  ihm 
konstruirten  Rigibahn.  Ein  «selfmade-man»,  mit  allen 
Eigenschaften  dieser  Art  von  Menschen.  Es  gab  eine  Zeit 
in  unserer  Jagend,  in  der  uns  dieselben  unbedingt  als  Muster 
angepriesen  wurden.  Dermalen  fängt  der  Gedanke  an  wieder 
mehr  in  den  Vordergrund  zu  treten,  dass  die  vorzüglichsten 
Eigenschaften  des  Menschen  nicht  in  Einem  Lebenslaufe  ent- 
wickelt werden  können,  sondern,  zum  Theil  wenigstens,  einer 
bereits  geleisteten  Vorarbeit  durch  Vorangegangene  bedürfen, 
dass  daher  auch  die  politische  Demokratie  eines  aristokratischen 


640  Jahresbericht  1899. 

Gegengewichts  bedürfe.  Nor  muss  die  Aristokratie  stets  voll* 
kommen  acht  in  Gesinnung  und  Bildung  sein,  wirklich  das  höchste 
Bild  der  Nation  in  ihrer  besten  Auffassung  darstellen,  und 
stets  für  Alle  offen  sein,  ohne  Voraussetzung  weder  des  Reicta- 
thums,  noch  von  irgend  etwas  anderem,  als  Charakter  und  Bil- 
dung. Natürlich  ist  dies  ganz  das  Gegen theil  der  jetzigen 
höheren  Aristokratie,  die  vielmehr  eine  ganz  internationale 
Kaste  ohne  allen  nationalen  Unterschied  geworden  ist,  in  die  sich 
auch  jede  Tochter  eines  rohsten  amerikanischen  Spekulanten, 
oder  Schwindlers  ohne  weiteres  einkaufen  kann  und  die  keinen 
andern  Typus  mehr  hat,  als  eine  oft  geradezu  unglaubliche 
geistige  Beschranktheit,  zufolge  deren  auch  die  Arbeit  nicht 
mehr  regenerirend  wirken  kann.  Dass  ein  Theil  der  Regenten- 
familien und  der  Diplomatie  diesem  Typus  angehört,  bildet 
das  Unglück  der  Völker,  die  von  ihnen  regiert  werden,  ohne 
dass  sich  dafür  ein  eigentlich  wirksames  Abhülfmittel  finden 
lässt. 

Ebenfalls  im  Juli  starb  bei  Paris  ein  sehr  bekannter 
Schriftsteller  und  Mitarbeiter  der  Revue  des  deux  raondes, 
Victor  Cherbuliez,  bei  dem  es  jedoch  zweifelhaft  ist,  ob 
wir  ihn  als  Schweizer  zu  betrachten  haben.  In  seiner  Jugend 
galt  er  als  Genfer,  spater  wurde  er  Franzose  und  seine  Fa- 
milie wurde  als  «hugenottische  Refugi6s>  bezeichnet,  was  aber 
nicht  ganz  richtig  zu  sein  scheint.  Jedenfalls  gehörte  er 
zu  den  litterarischen  Schweizern,  deren  eigentliche  Heimat 
immer  Paris  ist.  In  der  Politik  wurde  er  vor  dem  Kriege 
von  1870  zu  einer  Art  «confidentieller  Mission  >  (um  kein 
schlimmeres  Wort  zu  wählen)  bei  den  verschiedenen  süd- 
deutschen Höfen  gebraucht  und  trug  durch  seine  Berichte 
zur  Täuschung  der  Franzosen  über  deren  Dispositionen  bei. 
Auch  die  Königin  Augusta  empfieng  ihn  natürlich,  Bismarck 
hingegen  lehnte  diese  Bekanntschaft  ab  und  das  Denkmal,  welche 


Nekrologie.  641 

er  in  Beinen  «Erinnerungen*  seiner  «ungnädigen»  Herrin  sagt, 
mag  sich  zumTheil  gerade  auch  auf  solche  Unterstützungen  der 
antideutschen  Politik  von  Seiten  der  kapriziösen  Dame  beziehen. 
Die  Bedeutung  von  Cherbuliez  lag  ganzlich  in  einigen  guten 
Romanen,  während  seine  unter  dem  Pseudonym  «Valbert»  in  der 
Revue  des  deux  mondes  regelmässig  erscheinenden  politischen 
Berichte  ebenfalls  stets  den  unverkennbaren  Stempel  der 
Amateur-Politik  trugen.  Das  Schlimmste,  was  er  schrieb,  kurz 
nach  dem  deutschen  Kriege,  war  «Meta  Holdenis»;  ein  geradezu 
bösartiger  Deutschenhass  zeigte  sich  darin.  Ueberhaupt  war 
in  allen  Werken  von  Cherbuliez  ein  Etwas,  was  dem  Leser 
nicht  gefiel,  nämlich  eine  Art  von  Egoismus.  Der  Schrift- 
steller dachte  offenbar  bei  dem  Schreiben  stets  an  sich  selbst 
(das  Gegentheil,  was  Dante  empfiehlt)  und  hatte  zwar  sehr  viel 
Geist,  oder  vielmehr  «esprit»,  aber  zu  wenig  Herz  für  dieses, 
beides  verlangende  Geschäft. 

Wir  würden  ein  wahres  Unrecht  begehen,  wenn  wir 
unter  «unseren»  Verlusten  des  Jahres  nicht  auch  noch  den 
Parlamentarier  und  Schriftsteller  Ludwig  Bamberger  aus 
Mainz  anführen  wollten,  der  zwar  stets  ein  Deutscher  blieb 
aber  jeden  Sommer  längere  Zeit  in  seinem  Garten  inlnterlaken 
lebte  und  stets  ein  verständnissvoller,  treuer  Freund  des 
Schweiz  gewesen  ist.  Seine  letzte  grössere  Schrift  «Bismarck 
Posthumus»  ist  eine  Kritik  der  «Gedanken  und  Erinnerungen» 
des  ihm  im  Grunde  tief  antipathischen  und  aus  der  lang- 
jährigen parlamentarischen  Laufbahn  in  allen  seinen  schlimmen 
Eigenschaften  und  Launen  nur  zu  wohlbekannten  Staatsmannes, 
eine  Schrift,  die  ihren  wahren  Werth  erst  erlangen  wird,  wenn 
die  Deutschen  ihre  berechtigten  äusseren  Ziele  erreicht  haben 
werden  und  sich  dann  wieder  von  selbst  die  Sehnsucht  nach  der 
«Jugend  Hütten»  einstellt.  Dann  wird  Bismarck  als  Staats- 
mann von  einer  besseren  Geschichtsschreibung,  als  der  jetzigen, 

41 


642  Jahresbericht  1899. 

wohl  an  die  Seite  Richeliea's,  oder  Cäsar's  und  Napoleonsgestellt 
werden  können,  aber  niemals  etwa  an  die  Seite  Washington^. 
Von  Bamberger  erscheinen  jetzt  auch  eigene  posthume  Er- 
innerungen, herausgegeben  von  Dr.  Nathan. 

Wenn  wir,  in  diesem  Gedankengange  fortfahrend,  das 
Jahrhundert  mit  einer  ganz  kurzen  Betrachtung  schliessen 
sollten,  wie  sie  in  solchen  Fällen  üblich  ist,  so  würden  wir, 
im  Hinblick  auf  das  Grosse,  was  es  geschaffen  und  nicht 
geschaffen  hat,  sagen:  Das  Gute  kommt  in  dieser  Weit, 
wie  sie  einmal  ist  und  auch  nicht  wesentlich  anders 
werden  wird,  niemals  und  nirgends  separat,  gewisBermassen 
in  gediegener  Form  vor,  sondern  eng  verbunden  mit  geringeren 
Bestandteilen,  das  Gold  mit  taubem  Gestein  stark  vermischt 
Die  Aufgabe  einzelner  Zelten  ist  es  dann,  das  wieder  einmal 
deutlicher  zu  gewahren  und  den  Ausscheidungsprozess  für 
eine  geraume  Periode  neu  zu  vollziehen.  Das  wird,  wenn 
wir  nicht  sehr  irren,  das  Werk  des  kommenden  Jahrhunderts 
in   seiner  ersten  Hälfte  sein,  auch  bei  uns. 

Was  das  19.  Jahrhundert  in  Befreiung  der  Völker  aus 
geistiger  und  materieller  Knechtschaft  und  an  Kulturfort- 
schritten,  namentlich  auf  dem  Gebiete  der  Technik,  geleistet 
hat,  wird  ihm  in  der  Geschichte  der  Menschheit  unvergessen 
bleiben.  Dass  aber  dadurch  eine  allgemeine  Befriedigung, 
oder  auch  nur  eine  viel  grössere  Gesammtsumme  von  indi- 
viduellem Glücksgefühl  eingetreten  sei,  als  sie  vor  hundert 
Jahren  bestand,  wird  niemand  ernstlich  behaupten  wollen 
und  es  mag  daher  der  Zweifel  gestattet  sein,  ob  das  über- 
haupt mit  materiellen  Fortschritten  erreicht  werden  könne. 
Mehr  wirkliche  Liebe  muss  in  diese  kalte  Welt 
hinein.  Alles  Andere,  ohne  das,  hilft  ihr  so,  gut 
wie    nichts. 


Neurologie.  643 

Das  wird  entweder  die  civilis] rte  Menschheit  mit  ihrer 
Staats-  und  Kircheneinrichtung  freiwillig  zu  Stande 
bringen;  das  ist  das,  was  wir  wünschen  und  hoffen.  Geschieht 
es  aber  nicht,  so  wird  genau  wieder  geschehen,  was  zu  Ende 
des  vorigen  Jahrhunderts  eingetreten  ist,  nnd  was  schon  der 
Prophet  Hesekiel  in  seinem  berühmten  34.  Kapitel  von  einer 
ähnlichen  Zeit  voraussagt: 

«Das  Verlorene  will  Ich  wieder  suchen,  das 
Verirrte  zurückbringen,  das  Verwundete  ver- 
binden und  des  Schwachen  warten;  was  aber 
fett  und  stark  ist,  will  Ich  vertilgen  und  will 
es  weiden  mit  Gericht.» 


644  Jahresbericht  1899. 


Nachträge. 

I.  Aeusseres.  Der  Bo  er en krieg  ist  seit  dem 
Beginn  unseres  Jahresberichtes  wirklich  aasgebrochen  and 
hat  sofort  einen  blutigen  Ernst  für  England  angenommen, 
den  der  Leiter  der  kolonialen  Politik  wahrscheinlich  nicht  ganz 
voraussah.  Wir  können  übrigens  trotz  der  geringen  Meinung, 
welche  wir  von  seinem  Charakter  und  seinen  politischen  Fähig- 
keiten besitzen,  nicht  glauben,  dass  Alles,  was  in  dieser 
Sache  voranging,  bekannt  gegeben  ist  und  dass  nicht  eine 
mehr  oder  weniger  begründete  Befürchtung  vorlag,  bei 
längerem  Zuwarten  die  allmählige  Ablösung  der  holländischen 
Bevölkerung  der  Capkolonie,  oder  gar  die  deutsche  Schutz- 
herrschaft über  die  beiden  Republiken  gewärtigen  za  müssen. 
Ohne  diesen  Gesichtspunkt,  nur  Herrn  Rhodos  und  seiner 
bankerotten  Ohartered  Company  von  Rhodesia  zu  lieb  einen 
solchen  Krieg  zu  beginnen,  der  auf  keinen  Fall  ein  günstiges 
Endresultat  haben  kann,  selbst  wenn  die  Uebermacht  den 
augenblicklichen  Sieg  erringen  sollte,  das  wäre  doch  eine  zu 
grosse  Beschränktheit  gewesen.  Im  englischen  Parlamente 
selbst  herrschte  Missstimmung ;  der  Krieg  wurde,  nachdem  er 
thatsächlich  bereits  begonnen  hatte,  nur  mit  362  gegen  135 
gebilligt,  und  Englands  Prestige  hat  durch  die  bisherigen,  fast 
beständigen  Niederlagen  eine  ungeheure  Einbusse  erlitten, 
die  schwerlich  wieder  gutzumachen  ist.  In  der  Eidgenossen- 
schaft ist,  wie  überall  in  der  Welt,  die  öffentliche  Meinung 
für  die  beiden  tapferen  Republiken,  welche  jetzt  eine  Feuer- 
probe durchmachen,  ähnlich  wie  wir  in  dem  Schwabenkrieg. 
Sie  werden  aber  auch  Gott  für  sich  haben,  der  die  Gerech- 
tigkeit   immer   schützt,    wenn   die  Menschen   selber  fest  da- 


Nachträge.    Aeusseres.  645 

für  eintreten.  Eine  sehr  bedauerliche  Ausnahme  bildete  nur 
eine  bereits  im  Anfang  des  Krieges  erschienene  Broschüre 
von  Edouard  Naville  in  Genf,  die  ganz  die  englischen 
Sophismen  entwickelte.  Es  war  eine  Unehre  für  die 
ganze  Schweiz,  dass  so  etwas  in  ihr  geschrieben  werden 
konnte ;  wir  hoffen  aber,  eine  solche  Stimme  sei  auch  in 
Genf  vereinzelt  geblieben,  das  wahrlich  alle  Ursache  hätte, 
ein  Beispiel  von  rücksichtsloser  Gewalt  gegen  ein  kleines 
Nachbarvolk,  das  seine  Selbständigkeit  liebt,  zu  fürchten. 

Ausser  diesem  Krieg,  der  noch  grosse  Folgen  haben 
wird,  ist  bemerkenswerth ,  dass  die  S  a  m  o  a  -  Gemein- 
schaft zwischen  England,  Deutschland  und  Amerika,  die 
lauter  Streit  herbeiführte,  durch  einen  neuen  Samoa- Vertrag, 
welcher  eine  Theilung  enthält,  aufgelöst  worden  ist. 

Die  Türkei  will  uns  mit  einem  Gesandten  beehren, 
etwas,  was  wir  schwerlich  erwidern  werden.  Die  Lausanner- 
Zeitung  schreibt  darüber,  was  folgt: 

«H  est  naturellement  ä  präsumer  que  le  Conseil  föderal 
a  donnä  son  assentiment  ä  la  däcision  que  vient  de  prendre 
la  Sublime  Porte,  car  l'6tablissement  d'une  mission  diploma- 
tique est  subordonnä  ä  l'agräment  du  gouvernement  qui  doit 
la  recevoir. 

En  pla$ant  le  public  suisse  devant  un  fait  accompli,  le 
Conseil  föderal  a  sans  doute  voulu  eviter  toute  discussion  sur 
nne  mesure  qui  6tait  de  nature  ä  soulever  un  vif  d£bat. 
D'autre  part,  le  choix  du  ministre  destine  ä  repräsenter  le 
Grand  Türe  ä  Berne  a  6t6  aussi  habile  que  possible.  La 
Sublime  Porte  se  borne  pour  le  rooment  ä  aceröditer  ä  Berne 
son  ministre  de  Bruxelles,  M.  Etienne  Carathäodory,  diplo- 
mate  instruit  et  correct,  tout  ä  fait  incapable  de  jamais  abu- 
ser  des  immunitäs  de  son  poste.  M.  Caratheodory  r6side  de- 
puis  longtemps  ä  Bruxelles,  oü  il  est  fort  avantageusement 
connu.  II  a  pour  gendre  M.  Streit,  professeur  de  droit  inter- 
national ä  l'acadämie  d' Äthanes.    En  däpit  de  son  nom  alle- 


646  Jahresbericht  1899. 

mand,    qui    rappeile    l'origine    bavaroise    de    ses    anc&tres, 
M.  Streit  est  Hellene. 

Le  nom  de  M.  Carathäodory  däsarme  donc  toutes  les 
objections  en  taot  qn'il  s'agit  du  chef  de  la  future  mission* 
Mais  cet  agent  pourra  6tre  flanque*  d'un  secrätaire  musulman 
räsidant  en  Suisse  et  s'y  livrant  ä  la  surveillance  des  Jeunes 
Turcs  ä  l'abri  de  Fimmunit6  diplomatique.  La  röside  le  danger. 

Est-ce  qne  la  Sublime  Porte  n'a  pas  rappele*,  moins  d'un 
an  aprös  sa  nomination,  son  premier  consul  ä  Genöve  pour 
le  remplacer  par  un  agent  plus  actif?  Dans  tous  les  cas,  il 
Importe  qne  le  gouvernement  ottoman  sache  que  l'opinion 
n'est  nullement  disposöe  ä  toterer  cbez  ses  agents  des  intri- 
gues  semblables  ä  celles  provoqu6es  räcemment  &  Genöve  par 
des  policiers  de  bas  6tage. 

II  est  ä  rem  ar quer  qne  la  Snisse  se  trouve  heureusement 
vis-ä-vis  de  la  Turquie  dans  une  Situation  assez  independante. 
Les  ressortissants  snisses  domicilies  dans  l'empire  turc  sont 
placös  sous  la  protection  —  la  seule  efficace  —  des  grandes 
puissances  et  nous  demandent  seulement  de  ne  pas  nous  occu- 
per  d'eux.  II  y  a  quelques  ann6es,  ils  ont  proteste  6nergi- 
quement  contre  le  projet  d'6riger  une  legation  suisse  ä  Con- 
stantinople,  projet  qui  a  ainsi  recu  le  coup  de  ruort  et  ne 
sera  vraisemblablement  pas  ressuscitö  par  l'ätablissement  de 
relations  diplomatiques  directes  entre  la  Suisse  et  la  Turquie. > 

Unser  eigener  Ministerresident  in  London  ist  zum 
Gesandten  befördert  und  sein  Gehalt  auf  40,000  Franken  er- 
höht worden,  was  vielleicht  gerade  jetzt,  zur  Zeit  des  Boeren- 
krieges,  besser  unterblieben  sein  würde. 

In  einigen  schweizerischen  Zeitungen  war  von  eng- 
lischen Werbern  die  Rede,  welche  junge  Schweizer 
unter  sehr  lockenden  Versprechungen  für  den  Boerenkrieg 
anzuwerben  versuchen,  wogegen  jedenfalls  ernstliche  Repres- 
sion am  Platz  wäre,  falls  es  sich  wirklich  so  verhält 
Der  englische  Konsul  in  Lausanne  richtete  darüber  an  einen 
dortigen  Journalisten  folgenden  Brief: 


Nachträge.    Aeusseres.  647 

«Monsieur, 
Votre  nuraero  de  ce  jour  reproduit  sous  le  titre:  En- 
rons pour  le  Transvaal,  an  räcit  fantaisiste  publik  par  un 
autre  Journal  et  qui,  je  l'espere,  n'a  6t6  pris  au  serieux  par 
personne.  Toutefois,  pour  dissiper  tout  malen tendu  ä  i'egard 
de  certains  enrölements  soi-disant  effectues  par  des  agents 
anglais  pennettez-moi  d'informer  vos  lecteurs  que  le  consulat 
recoit  et  refuse  journellement  des  offres  de  citoyens  suisses 
desireux  de  faire  la  campagne  d'Afrique.  Veuillez  agreer  etc. 

Alfred  Galland,  Consul  de  S.  M.  britannique.» 

Wir  hoffen,  dass  der  Herr  Konsul  ein  wenig  übertreibt 
und  wollten  sehr  gern  die  Namen  der  Schweizer  kennen  ler- 
nen, die  für  Geld  mit  uns  befreundete  Republiken  zerstören 
wollen.  Das  wäre  das  schlimmste  Söldnerthum,  das  jemals 
seit  dem  16.  Jahrhundert  vorgekommen  ist,  und  für  England, 
wenn  es  zu  solchen  Mitteln  greifen  müsste,  ein  sicheres  Zei- 
chen des  Niedergangs.  Mit  fremden  Söldnern  hat  schon  das 
alte  meerbeherrschende  Karthago  schliesslich  das  Spiel  ver- 
loren, und  ebenso  ist  England  selbst  in  seinen  ehemaligen 
Kolonien  von  Nordamerika  unterlegen,  als  es  versuchte,  die- 
selben mit  angeworbenen  Hessen  zu  bekriegen.  Ein  grosses 
Land  muss  heutzutage  mit  seinen  eigenen  Söhnen  seine  In- 
teressen vertreten,  und  es  wäre  für  uns  eine  Frage,  ob  Söldner- 
heere überhaupt  noch  als  «berechtigte Kriegführende»  anerkannt 
werden  sollten,  was  eine  kommende  völkerrechtliche  Kon- 
ferenz entscheiden  mag. 

Im  Uebrigen  ist  offenbar  jetzt  eine  englisch-amerikanisch- 
japanische Allianz  gegen  eine  russisch-französisch-deutsche  im 
langsamen  Werden  begriffen,  von  welcher  wir  bereits  in  dem 
letzten  Jahrbuche,  in  dem  Artikel  «Die  Theilung  der  Welt», 
Jahrbuch  XII,  und  Jahresbericht  pag.  338,  gesprochen  haben. 
Die  angeblich  bereits  bestehende  Tripel-Allianz  mit  Deutschland 
und  Amerika,  von  welcher  Chamberlain  in  einer  Rede  sprach, 


648  Jahresbericht  1899. 

beruht   dagegen   auf  der  lebhaften  Phantasie  dieses  Staats- 
mannes, die  Wünsche  mit  Thatsachen  verwechselt. 

II.  Inneres.  Zu  den  in  der  eidgenössischen  Gesetzes- 
sammlung publizirten  Gesetzen  und  Vertragen  sind  folgende 
nachzutragen : 

Staatsvertrag  mit  Russland  über  Theilung  der  Fabrik- 
und  Handelsmarken  1.  Mai/19.  April  1899,  XVII,  285. 

Schifffahrts-  und  Hafenordnung  für  den  Bodensee  30.  Juni 
1899,  XVII,  295. 

Neue  Erklärung  mit  Baden  über  den  Militärtransport 
auf  den  Eisenbahnen  29.  August/4.  September  1899  XVII,  368. 

Erklärung  zwischen  Schweiz  und  Italien  über  Formalitäten 
der  Eheschliessung  beidseitiger  Staatsangehöriger  23.  Sep- 
tember 1899,  XVII,  370. 

Reglement  für  die  polytechnische  Schule  3.  Juli  1899, 
XVII,  333. 

Vollz.- Verordnung  zum  Bundesgesetz  betreffend  Organi- 
sation der  Bundesbahnen  (Rückkaufsgesetz)  vom  15.  Oktober 
1897,  7.  November  1899 ;  E.  G.  S.  XVII  393. 

Vollz.-Verordnung  über  Mass  und  Gewicht  vom  24.  Nov. 
1899,  E.  G.  S.  XVn,  465. 

Neue  Extrapostordnung  14.  November  1899,  XVII,  412. 

Die  Uebcreinkunft  mit  Italien  und  mit  Deutschland 
(Norddeutschland)  über  den  Schutz  des  litterarischen  und 
künstlerischen  Eigenthums  vom  22.  Juli  1868  (E.  G.  S.  IX. 
880,  932)  ist  von  uns  gekündigt  worden,  ebenso  schon  früher 
die  üebereinkünfte  mit  Frankreich  vom  23.  Febr.  1882  (E. 
G.  S.  VI.  418)  und  mit  Belgien  vom  25.  April  1867  (E.  G. 
S.  IX.  114  und  Bundesblatt  1886  I.  256).  Mit  Frankreich 
ist  also  der  Schutz  der  Fabrik-Handelsmarken,  Handels- 
firmen und  gewerblichen  Zeichnungen  und  Modelle  aufge- 
hoben.   Vgl.  übrigens  Otter  B.-Blatt  1899,  Nr.  48. 


Nachträge.    Inneres.  649 

Dem  Weltpost  vertrag  sind  beigetreten  die  Republiken 
Honduras  and  Salvador.  Einzelnen  Theilen  desselben  Jamaica, 
Neufundland,  Straits  Settlements  (Singapore)  und  England 
selbst.    E.  G.  S.  XVII,  455  und  folg. 

Den  Eidg.  Käthen  werden  vorgelegt : 

Eine  Botschaft  des  Bundesrathes  über  das  Tarifwesen  der 
Bundesbahnen  B.  Bl.  1899  Nro.  47,  ferner  eine  solche  eines 
revidirten  Gesetzes  über  gewerbliche  Muster  und  Modelle, 
und  über  die  Taggelder  und  Reiseentschädigungen  für  die 
Verwaltungsräthe  der  Bundesbahnen  und  die  Ereiseisenbahn- 
rätbe. 

An  einer  vom  Schweiz.  Lan d wir th Schaftsdepartement 
nach  Bern  einberufenen  Konferenz  waren  17  Kantone  und 
Halbkantone  durch  Delegierte,  zusammen  cirka  40,  vertreten; 
nämlich  die  Kantone  Zürich,  Bern,  Luzern,  Glarus,  Freiburg, 
Solothurn,  Baselstadt,  Baselland,  Schaffhausen,  Appenzell  a.  Rh., 
St.  Gallen,  Graubünden,  Aargau,  Thurgau,  Tessin,  Waadt 
und  Neuenburg.  Die  Ansichten  der  Delegierten  gingen  hin- 
sichtlich einzelner  Punkte  ziemlich  einig,  iu  Bezug  auf  andere 
Fragen  bestanden  dagegen  wesentliche  Meinungsverschieden- 
heiten. —  Bezüglich  der  Grundlage,  auf  welcher  die  Zu- 
theilnng  der  Bundesbeiträge  erfolgen  soll,  einigte  sich  die 
Versammlung  dahin,  dass  die  kantonalen  Leistungen  als  mass- 
gebend zu  betrachten  seien.  Ferner  hat  sie  sich  dahin  ge- 
äussert, es  werde  die  obligatorische  Viehversicherung  am 
zweckmässigsten  in  mittelgrossen  Kreisen  orgauisirt,  die  so 
viel  als  möglich  mit  den  Viehinspektionskreisen  zusammen- 
fallen sollen.  Im  weitern  ist  die  Versammlung  der  Meinung, 
der  Werth  der  versicherten  Thiere  werde  am  zweckmässigsten 
mittelst  Selbstschatzungen  durch  die  Eigenthümer  in  Ver- 
bindung mit  Inspektionsschatzungen  festgestellt.  Im  Schaden- 
falle hat  eine  neue  Schätzung  stattzufinden.  Der  erlaufene 
Schaden  soll  höchstens  bis  zu  80  Proz.  vergütet  werden.  Die 
Geschäftsführung  der  Viehversicherung  ist  wo  möglich  dem 
Viehinspektor  zu  übertragen.  —  Wie  wir  vernehmen,  ist  die 
obligatorische    Viehversicherung    zur   Zeit    bereits    in    acht 


650  Jahresbericht  1899. 

Kantonen  und  Halbkantonen  eingeführt  nnd  in  neun  Kantonen 
und  Halbkantonen  vorbereitet.  Die  andern  Kantone  haben 
bis  jetzt  in  Sachen  nichts  gethan.  Doch  ist  zu  erwarten, 
dass  wenigstens  einzelne  derselben  dem  Beispiele  der  andern 
bald  nachfolgen  werden. 

Der  Bundesrath  hat  in  Vollziehung  des  neuen  Eisen- 
bahnrückkaufgesetzes, die  fünf  Eisenbahnkreise,  mit 
Sitz  in  Lausanne,  Basel,  Zürich,  Bern,  St.  Gallen,  festgestellt.  Der 
6.  Kreis,  Luzern,  wird  erst  mit  der  Uebernahme  der  Gotthard- 
bahn  (1908)  errichtet.  Für  die  übrigen  Gebiete  tritt  die 
Generaldirektion  mit  dem  1.  Juli  1901  und  der  Verwaltungs- 
rath  am  1.  Oktober  1900  in  Funktion,  die  Kreisdirektionen 
und  Kreiseisenbahnräthe  konstituiren  sich  im  August  1900 
und  beginnen  ihre  Wirksamkeit  am  1.  Mai  1903. 

III.  Soziales.  Aufsehen  erregte  in  der  jüngsten  Zeit, 
auch  in  der  Schweiz,  der  offene  Uebertritt  des  bekannten 
Pfarrers  Blurahardt  in  Boll  zn  der  Sozialdemokratie,  der  er 
noch  bis  vor  Kurzem  ziemlich  stark  abgeneigt  gewesen  war. 
Die  Motivirung  dieses  Schrittes  in  einer  sozialistischen  Ver- 
sammlung war  eine  nicht  genügende,  denn  die,  überhaupt 
leicht  ersichtlichen,  Mängel  der  Bourgeoisie,  welche  dazu  die 
Veranlassung  geboten  haben  sollen,  mussten  einem  solchen 
Manne  schon  läng  st  bekannt  sein,  ebenso  aber  auch  die  völlige 
Unvereinbarkeit  des  Christenthums  mit  dem  Atheismus,  der 
die  philosophische  Grundlage  der  Sozialdemokratie  bildet.  Daran 
sind  schon  Stärkere  gescheitert.  Allerdings  mag  es  in  Deutsch- 
land mitunter  schwer  sein,  mit  einer  evangelisch-lutherischen 
Richtung  auszukommen,  welche  selbst  unseren  Herrn  nicht  an- 
erkennen würde,  falls  er  nicht  genau  nach  ihren  Glaubensformeln 
lehrte,  und  die  für  das,  was  das  Volk  in  der  Kirche  sucht,  oft 
einen  zu  unvollständigen  Begriff  besitzt.  Aber  das  muss  auf 
einem  anderen  Wege  verbessert  werden,  wozu  auch  der  Vater 
Blumhardt's  bereits  einen  sehr  guten  Anfang  gemacht  hatte, 


Nachträge.    Soziales.    Wahlen.  651 

nicht  durch  den  förmlichen  Anschiuss  an  eine  ihrer  Natur 
gemäss  glaubenslose  Partei,  wofür  ein  zwingender  Grund 
nicht  vorlag. 

Die  Wahlen  in  den  Nationairatb,  welche  in  der 
letzten  Woche  Oktober  stattfanden,  lassen  keine  irgendwie 
erhebliche  Aenderung  in  der  schweizerischen  Politik  voraus- 
sehen, indem  sich  die  Parteiverhältnisse  ziemlich  gleich  ge- 
blieben sind.  Die  sozialistischen  Stimmen  hatten  einen  Zu- 
wachs in  Basel,  Genf  und  Bern  zu  verzeichnen.  Die,  theil- 
weise  durch  eigene  Entschliessung,  austretenden  Mitglieder 
des  Nationalraths,  deren  Verlust  von  einem  allgemeinen  Stand- 
punkte aus  zu  beklagen  ist,  gehörten  grösserentheils  der  kon- 
servativen Partei  an.  Besonders  sind  es  die  Herren  C6r6sole, 
Odier,  Boiceau,  Tobler,  Tissot,  welche  wir  gerne  wieder  ge- 
sehen hätten.  Der  Erstgenannte,  den  Gesundheit» Verhältnisse 
zum  Rücktritte  nöthigten,  schliesst  damit  eine  ruhmreiche 
politische  Laufbahn,  in  deren  langjährigem  Verlauf  er  stets 
—  und  zwar  zu  Zeiten,  in  denen  das  mitunter  in  seinem 
Heimathkanton  nicht  so  leicht  war,  wie  jetzt  —  treu  zur 
Eidgenossenschaft  und  ihren  Interessen,  gegenüber  einem  jeden 
engherzigen  Föderalismus  stand.  Die  Eidgenossenschaft  ist 
ihm  dafür  ebenfalls  ein  treues  Andenken  schuldig. 


Druckfehler.  In  dem  IL  Aufsatze  dieses  Jahrbuches 
ist  da,  wo  der  frühere  Jahrbuchaufsatz  über  diese  Materie 
citirt  wird,  Band  VIII  (nicht  VII)  pag.  226  zu  lesen. 


Beilagen. 


Beilage  I. 

Bluntschli's  Vermittlungsprojekt  vor  dem 

Sonderbundskrieg. 

(Bisher  unbekannt.) 

„Gedanken  zur  Vermittlung  der  Schweiz." 

(August  1847). 

I.  Die  po  litis  che  Natur  undBedeutuug  der  schweize- 
rischen Eidgenossenschaft. 

§  1.  Die  schweizerische  Eidgenossenschaft  ist  aus  Bünden 
einzelner  Republiken  entstanden.  In  der  Vereinigung  such- 
ten und  erlangten  die  Städte  und  Länder,  die  sich  ver- 
bündeten. Sicherheit  für  ihr  eigentümliches  Dasein,  für 
ihre  Selbständigkeit,  für  ihre  Freiheit  Da  kein  Staat  das 
Urprincip  seiner  Entstehung  aufgeben  kann,  ohne  unterzu- 
gehen, so  mu8s  die  Schweiz,  wenn  sie  sich  erhalten  will,  dem 
Princip  des  Bundes,  dem  föderalen  Princip  treu  bleiben.  Gibt 
sie  dasselbe  auf  gegen  das  der  Einheit,  so  legt  sie  Hand  an 
ihr  Lebensprincip. 

§  2.  Die  äussere  Natur  der  Schweiz  zeichnet  sich  durch 
höchste  Mannigfaltigkeit  der  Formen,  Gestaltungen  und  Ver- 
hältnisse aus.  Auf  ihr  beruht  die  in  ihrer  Art  einzige  na- 
türliche Bedeutung  der  Schweiz  in  Europa  und  ihre  Schönheit. 

Auch  sie  weist  auf  eine  entsprechende  politische  Mannig- 
faltigkeit der  Bildungen  und  Zustände  hin,  und  eben  darum 
auf  den  Föderalismus. 

§  3.  Die  Geschichte  der  Schweiz  bewegt  sich  zunächst 
in  den  einzelnen  Republiken,  aus  denen  sie  besteht.  Das 
politische  Leben  des  Volkes  ist,  so  lange  die  Eidgenossenschaft 
existirt,  Torherrschend  kantonales  Leben. 

Nur  in  gemeinsamen  grossen  Krisen  und  Gefahren  han- 
delt die  Schweiz  zusammen.  Auch  in  ihren  grossen  Kriegen 
beruhte  die  Kraft  der  Eidgenossen  in  ihrer  innigen  Verbrü- 
derung, in  der  Gemeinschaft  der  Gesinnung,  nicht  in  der  Ein- 


656  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

heit  des  Organismus.  War  die  Krisis  und  Gefahr  überstanden, 
so  lebte  jeder  Ort  wieder  für  sich,  nach  eigenem  Ermessen, 
und  nach  eigener  Freiheit. 

Auch  die  gemeinsamen  Feste  und  freien  Vereinigungen 
der  Schweizer  tragen  diesen  Charakter.  In  der  gehobenen 
Feststimmung  freut  sich  der  Schweizer  der  gemeinsamen  Ver- 
brüderung; sowie  er  aber  wieder  zu  seinem  täglichen  Wir- 
kungskreis übergeht,  so  herrscht  wieder  das  kantonale  Be- 
wusstsein  vor. 

§  4.  Der  politische  Charakter  der  einzelnen  Gemein- 
wesen, aus  denen  die  Schweiz  besteht,  ist  republikanisch  und 
zwar  vorherrschend  demokratisch. 

Diesem  Charakter  widerspricht  das  Einheitsprincip.  Eine 
einheitliche  Bundesregierung  würde  eine  Halbheit  sein,  in 
ihrer  Fortbildung  und  Spitze  müsste  sie  zur  Monarchie  werden. 
Ein  einheitlicher  Grosser  Rath  des  Bundes  würde  die  Selbst- 
bestimmung und  Selbstregierung  der  einzelnen  Demokratien 
hemmen  und  zerstören.  Die  Tagsatzung  der  Stände  würde 
neben  ihm  zum  Schatten  werden.  Er  würde  aus  sich  heraus 
auch  eine  Einheitsregierung  gebären,  und  damit  den  republi- 
kanischen Charakter  der  Schweiz  und  ihre  Mannigfaltigkeit 
bedrohen. 

Die  Zusammenstellung  der  Schweiz  mit  Nordamerika  ist  unpas- 
send. Nordamerika  ist  ein  ganz  junger,  die  Schweiz  in  ihrer  Verbin- 
dnung  wie  in  ihren  einzelnen  Gliedern  ein  alter  Staat.  Die  einzelne 
nordamerikanischen  Staaten  haben  eine  grosse  Ausdehnung  und  ein 
weites  neues  Gebiet  für  ihre  geistige  und  physische  Arbeit  vor  sich. 
Die  schweizerische  Kantone  haben  einen  geringen  Umfang  und  eine 
dicht  gedrängte  Bevölkerung,  welche  mit  Mühe  die  alte  Kultur  des 
Landes  erhält  und  vervollkommnet.  Nordamerika  hat  das  Bedürfniss 
und  die  Mission  einer  auswärtigen  Politik  und  handelt  als  amerika- 
nische Grossmacht.  Die  Schweiz  ist  in  Europa  wesentlich  auf  sieb 
selber  augewiesen. 

§  5.  Die  politische  Stärke  der  Schweiz  den  Mächten  ge- 
genüber würde  durch  eine  Einheitsregierung  nicht  erhöht, 
sondern  geschwächt.  Sie  wäre  der  Einwirkung  der  grossen 
Mächte  weit  mehr  ausgesetzt  und  zugänglich,  als  eine  Ver- 
bündung von  zweyundzwanzig  selbstständigen  Ständen  es  ist 
Napoleon  hat  der  Oonsulta  zu  Paris  in  dieser  Beziehung  die 


BliiDtschli's  Gedanken  zur  Vermittlung  der  Schweiz  1847.    657 

Wahrheit  gesagt.  Die  politische  Stärke  der  Schweiz  mitten 
unter  grossen  Staaten  beruht  wesentlich  auf  der  Mannigfal- 
tigkeit und  Selbstständigkeit  der  schweizerischen  Republiken, 
auf  der  föderalen  Natur  der  Schweiz.  Zweyundzwanzig  kleine 
verbundene  Republiken  sind  schwerer  zu  leiten  oder  zu 
missbrauchen,  als  eine  immerhin  noch  kleine  Republik  von 
2  Millionen  Menschen. 

§  6.  Die  Entstehung  der  Schweiz,  die  äussere  Natur 
hres  Landes,  ihre  Geschichte,  ihr  republikanischer  Charakter, 
hre  Sicherheit  nach  Aussen,  Alles  weist  darauf  hin,  dass  der 
Föderalismus,  d.  h.  die  Verbündung  selbstständiger  Republiken 
der  Grundcharakter  der  Schweiz  ist. 

In  engstem  Zusammenhang  damit  steht  auoh  die  Mission 
der  Schweiz  in  Europa. 

§  7.  Die  europäische  Mission  der  Schweiz  ist  in  dem 
Worte  bezeichnet :  Die  Schweiz  ist  das  republikanische  Wider- 
bild  des  monarchischen  Europa. 

Wird  dieses  Wort  begriffen,  so  ist  damit  auch  die  rich- 
tige Politik  der  Schweiz  dem  Auslande  gegenüber,  und  des 
Auslandes  gegenüber  der  Schweiz  erkannt. 

§  8.  Die  Schweiz  ist  berufen,  die  moralischen  und  gei- 
stigen Fragen,  welche  die  Zeit  an  Europa  stellt  in  ihrer  re- 
publikanischen Weise  selbstständig  zu  behandeln  und  für  sich 
zu  erledigen.  —  Eben  darum  nimmt  sie  an  der  grossen  eu- 
ropäischen Politik  keinen  unmittelbaren,  sondern  nur  einen 
mittelbaren  Antheil.  Je  geringer  jener,  desto  wichtiger  aber 
ist  dieser. 

§  9.  Die  Neutralität  der  Schweiz  beruht  im  letzten 
Grunde  auf  dieser  ihrer  europäischen  Mission.  Diese  Neu- 
tralität ist  nicht  das  Werk  der  Verträge  von  1815.  Die 
ganze  Geschichte  der  Schweiz  im  Verhältniss  zu  Europa  seit 
Jahrhunderten  weist  auf  die  Neutralität  der  Schweiz  hin,  als 
eine  Grundbedingung  ihrer  Mission.  —  In  den  Burgunder- 
kriegen und  den  Mailänderkriegen  des  XV.  und  zu  Anfang 
des  XVI.  Jahrhunderts  hat  sich  die  Schweiz  noch  in  direkter 
Theilnahme  an  der  europäischen  Politik  versucht,  zu  ihrem 
Schaden  und  zur  Gefährdung  Europas.  Seitdem  nicht  mehr. 
Sogar  während  des  XXX-jährigen  Krieges  blieb  die  Schweiz, 

42 


8&8  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

obwohl  innerlich  von  denselben  Streitigkeiten  wie  Deutsch- 
land lief  bewegt,  neutral.  Sie  erledigte  die  konfessionelle 
Frage  für  sich. 

§  10.  Die  innern  Kampfe  der  Schweiz  haben  für  Europa 
die  Bedeutung  entweder  eines  Vorspiels  oder  eines  Zwischen- 
spiels oder  eines  Nachspiels  in  dem  grossen  politischen  Drama, 
das  Europaische  Geschichte  heisst. 

§  11.  Auch  die  Bedeutung  der  Schweiz  als  eines  Asyls 
für  fremde  Flüchtlinge  der  verschiedenen  politischen  Partheyen 
hangt  damit  zusammen.  Die  Schweiz  soll  ein  Friedensland 
seyn,  mitten  in  Europa  gelegen,  welches  von  den  Stürmen 
der  europaischen  Kampfe  geschützt  bleibt,  und  den  müden 
und  verfolgten  Kampfern  einen  Ruheplatz  bietet. 

Die  Schweiz  hat  ihre  kleinen  Stürme  für  sich.  Würde 
sie  den  grossen  geöffnet,  oder  würde  sie  sich  selber  in  die- 
selben hinaus  wagen  in  thörichter  Verblendung,  so  wäre  sie 
durch  ihre  Lage  zwischen  den  grossen  Nationen  Europas  und 
durch  ihre  Gebirge  der  heftigsten  Brandung  ausgesetzt. 

Wahrend  ihrer  ganzen  Geschichte  ist  die  Schweiz  nur 
Ein  Mal  wahrend  weniger  Jahre  ihrer  Natur  völlig  untreu 
geworden.  Als  sie  ihre  föderale  Natur  verkannte  und  das 
System  der  helvetischen  Einheit  annahm,  da  wurde  sie  auch 
in  die  europaischen  Kampfe  unmittelbar  verwickelt.  Sie  war 
nie  schwacher  und  nie  unglücklicher  als  damals.  Ihr  Land 
wurde  von  fremden  Herren  zertreten ;  ihre  Freyheit  war  zer- 
rissen und  gebunden ;  sie  war  ein  ohnmachtiger  Spielball  Eu- 
ropas. Napoleon  rettete  die  Schweiz  von  ihrem  Untergang, 
indem  er  den  Föderalismus  und  die  Neutralitat  dem  Wesen 
nach  herstellte. 

§  12.  Die  Schweiz  verkennt  und  missachtet  ihre  wahre 
Stellung  zu  Europa,  wenn  sie  irgend  eine  angriffsweise  Politik 
gegen  Europa  oder  gegen  einzelne  Europäische  Staaten  ver- 
folgt. Die  Anfechtung  des  monarchischen  Prinzips  in  Europa 
von  der  Schweiz  aus,  ist  ein  politischer  Fehler,  die  revolutio- 
näre Propaganda  ist  ein  politisches  Verbrechen  an  der  Schweiz. 

Die  Schweiz  ist  zum  Angriffe  nicht  tauglich.  Sie  hat 
keine  stehende  Armee  und  kann  keine  haben. 

Die  Schweiz  ist  zur  Vertheidigung  entstanden.  Dafür  ist 


Bluntschli's  Gedanken  zur  Vermittlung  der  Schweiz.  659 

sie  stark.  Für  den  Schutz  seines  Herdes,  seiner  Freyheit 
steht  das  ganze  Volk  ein. 

§  13.  So  gross  das  Interesse  ist,  welohes  Europa  an  der 
Entwickelung  der  schweizerischen  Kämpfe  hat ,  so  darf  Eu- 
ropa, so  lange  die  schweizerische  Eidgenossenschaft  besteht, 
auch  seinerseits  nicht  unmittelbar  in  den  Gang  derselben  ein- 
greifen, noch  der  Schweiz  vorschreiben,  wie  sie  die  Fragen, 
welche  sie  bewegen,  zu  lösen  habe.  —  Auch  die  europäische 
Theilnahrae  an  der  schweizerischen  Politik  darf  nie  eine  un- 
mittelbare werden,  sie  muss  eine  mittelbare  bleiben,  d.  h.  der 
Entscheid  muss  bey  den  Schweizern  und  zwar  als  ein  freyer 
Entscheid  verbleiben.  Nur  wenn  Europa  die  Politik  beachtet, 
hat  die  Existenz  der  Schweiz  auch  für  Europa  Werth,  und 
und  ist  die  Europäische  Mission  der  Schweiz  erfüllbar.  Der 
Charakter  der  Europäischen  Politik  der  Schweiz  gegenüber 
darf  nie  Dominatian  noch  Vormundschaft  seyn. 

§  14.  Die  Fragen,  welche  gegenwärtig  die  Schweiz  auf^ 
regen,  lassen  sich  in  zwey  Hauptfragen  zusammenfassen: 

1.  nach  dem  Verhältniss  des  Staates  zu  der  Kirche, 
beziehungsweise  zu  den  Konfessionen.  Dahin  ge- 
hören grossen  Theils  die  Kloster-  und  Jesuitenfrage. 

2.  nach  dem  Verhältniss  der  politischen  Partheyen. 

Dahin    gehören   zum  Theil  auch  jene  Fragen,  so- 
dann alles  Uebrige;  als  Freyschaaren,  Sonderbund, 
XII  Stimmenmehrheit  der  Tagsatzung,  Bundesreform 
und  Bundesrevolution. 
Beyde    Fragen    haben    eine  offenbare    Europäische    Be- 
deutung. 

IL  Die  Eidgenossenschaft  und  die  Konfessionen 
§  15.  Die  konfessionellen  Fragen  haben  das  Gemüth  des 
Volkes  in  seiner  Tiefe  aufgeregt.  Bevor  der  konfessionelle 
Friede  in  den  Gemüthern  hergestellt  ist,  ist  jede  politische 
Befriedigung  der  Schweiz  unmöglich. 

Das  Fallenlassen  der  konfessionellen  Frage  ist  zwar  einer 
falschen  und  gewaltsamen  Erledigung  vorzuziehen,  aber  es 
lfisst  auf  beyden  Seiten  Stacheln  zurück,  welche  bey  der 
kleinsten  Reibung  die  Wunden  wieder  aufreissen.  Das  Fallen- 
lassen kann  höchstens  als  Waffenstillstand,   nicht  als  Friede 


660  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

gelten.  Die  Schweiz  aber  bedarf  nm  ihret  nnd  am  Europas 
Willen  des  Friedens. 

§  16.  Eine  auf  richtigen  politischen  Principien  beruhende 
nnd  gerechte  Erledigung  der  Kloster-  und  Jesuitenfrage  ent- 
hält in  sich  die  Wiederherstellung  des  konfessionellen  Friedens 
und  damit  zugleich  die  Grundlage  der  politischen  Befriedigung 
der  Schweiz. 

§  17.  Das  Grundprinzip  der  eidgenössischen  Politik  ge- 
genüber den  Confessionen  ist  die  Parität  Die  aufrichtige  und 
entschiedene  Durchführung  dieses  Prinzips  allein  kann  den 
konfessionellen  Frieden  in  der  Schweiz  neu  begründen. 

§  18.  Das  Prinzip  der  Paritat  ist  nach  allen  frühern 
konfessionellen  Kriegen  jeder  Zeit  in  den  Friedensschlüssen 
des  XVI.,  XVII.  und  XVIII.  Jahrhunderts  anerkannt  worden 
als  eine  Grundbedingung  des  Eidgenössischen  Friedens.  Die 
Missachtung  dieses  Prinzips  im  XIX.  Jahrhundert  ist  um  so 
weniger  zu  entschuldigen  und  um  so  zeitwidriger,  als  dieses 
Jahrhundert  die  Freyheit  der  Gewissen  und  des  Glaubens 
proklamirt,  und  es  Aufgabe  gerade  dieses  Jahrhunderts  ist, 
das  Prinzip  der  Parität  in  seinen  Consequenzen  durchzuführen. 

§  19.  Der  Radikalismus  hat  das  Prinzip  der  Parität  in 
neuerer  Zeit  wiederholt  durch  seine  Angriffe  auf  die  Rechte 
der  katholischen  Bevölkerungen  und  auf  katholische  Anstalten 
verletzt.  Die  Aufhebung  der  Aargauischen  Klöster  und  die 
beantragte  zwangsweise  Verweisung  der  Jesuiten  aus  den  ka- 
tholischen Kantonen  sind  die  auf  dem  Gebiete  des  Eidgenös- 
sischen Staatsrechtes  augenfälligsten  Verletzungen  jenes 
Prinzips. 

§  20.  Aus  dem  Prinzip  der  Parität  folgt: 
Dass  in  konfessionellen  Dingen  nicht  die  Mehrheit  einer 
Konfession  der  Minderheit,  welche  der  andern  Konfession 
angehört,  das  Gesetz  mache  oder  Zwang  gegen  sie  übe.  — 
Für  dieses  Prinzip  hatte  in  den  frühern  Jahrhunderten  die 
reformirte  Minderheit  der  eidgenössischen  Orte  wiederholt  die 
Waffen  ergriffen  gegenüber  der  katholischen  Mehrheit  der- 
selben. —  Und  nun  hat  der  Radikalismus  wiederholt  mit 
Hülfe  einer  protestantischen  Mehrheit  der  katholischen  Min- 
derheit das  Gesetz   gemacht   nnd  Zwang  gedroht      Die  Ge- 


Bluntschli's  Gedanken  zur  Vermittlung  der  Schweiz.         661 

schichte  hat  gegen  die  Unterdrückung  des  Protestantismus 
durch  Mehrheitsbeschlüsse  der  Katholiken  entschieden.  Die 
Unterdrückung  der  Katholiken  in  Sachen  ihrer  Konfession 
durch  radikale  Mehrheit  wird  ebenso  wenig  gelingen.  Beydes 
ist  uneidgenössisch  und  ungerecht. 

§  21.  Der  Radikalismus  geht  bey  seinen  Angriffen  auf 
das  Recht  der  Katholiken  nicht  von  einem  konfessionellen 
Motive  aus.  Er  greift  nicht  an,  weil  er  von  einem  übereif- 
rigen protestantisch  religiösen  Gefühl  geleitet  wird. 

Seine  Motive  und  sein  Streben  sind  nicht  religiös  sondern 
politisch. 

§  22.  Der  Radikalismus  ist  geneigt,  in  der  Kirche  eine 
Anstalt  zu  sehen,  welche  seiner  absoluten  Herrschaft  im  Wege 
stehe. 

Es  ist  unläugbar,  dass  in  unsern  Tagen 

a)  die  meisten  Manner,  welche  mit  dem  Christenthum 
gebrochen  haben  und  nihilistische  und  pantheistische 
Ansichten  und  Tendenzen  haben,  —  und 

b)  die  welche  zwar  vor  der  Moral  des  Christenthums 
noch  Ehrfurcht  bewahrt,  und  einzelne  Fragmente 
des  christlichen  Glauben  gerettet  haben,  aber  der 
Kirche  feindselig  gesinnt  sind, 

regelmässig  zum  Radikalismus  halten. 

Es  wäre  ein  zu  starker  Ausdruck,  wenn  dem  Radikalis- 
mus geradezu  Feindseligkeit  gegen  die  Religion,  aber  es  ist 
nicht  ungerecht,  wenn  ihm  Misstrauen  und  Abneigung  gegen 
die  Kirche  zugeschrieben  wird. 

Der  schweizerische  Radikalismus  hat  diese  Abneigung 
nicht  bloss  in  den  Angriffen  auf  katholische  Institute,  sondern 
nicht  weniger  gegenüber  der  evangelisch-reformirten  Kirche 
an  den  Tag  gelegt.  Die  Berufung  eines  NichtChristen  Dr. 
Strauss  zum  Professor  der  christlichen  Dogmatik  in  Zürich, 
die  Anfeindung  und  Verfolgung  zuerst  der  Methodisten,  dann 
der  gesamten  Wadtländischen  Geistlichkeit,  die  Berufung  des 
mit  mehrern  Grunddogmen  des  Christenthums  in  Widerspruch 
gerathenen  Hegelianers  Dr.  Zeller  an  einen  theologischen 
Lehrstuhl  zu  Bern,  sind  unzweifelhafte  Belege  für  diese 
Wahrheit. 


662  Jahresbericht  1899«    Beilagen. 

§  23.  Der  Radikalismus  achtet  die  Kirche  nicht  in  ihrer 
Selbstständigkeit ;  er  duldet  sie  höchstens  und  fordert  von  ihr 
absoluten  Gehorsam.  Die  Staatsallmacht  ist  sein  Götze. 

Da  er  die  Kirche  nicht  achtet  in  ihrer  Selbstständigkeit, 
so  achtet  er  auch  die  Konfessionen  nicht  in  ihrer  Freyheit. 
Auch  sie  will  er  seiner  Staatsallmacht  unbedingt  und  unbe- 
schränkt unterwerfen. 

In  diesem  Geiste  sind  seine  Angriffe  auch  gegen  die  ka- 
tholische Kirche  aufzufassen. 

§  24.  Das  Prinzip  der  Parität  verwirft  die  Staatsall- 
macht und  erkennt  die  Selbstständigkeit  und  Freyheit  der 
Konfessionen. 

Das  Prinzip  der  Parität  setzt  nicht  die  Allmacht,  son- 
dern die  Hoheit  des  Staates  auch  über  die  Kirche  voraus, 
es  macht  dem  Staate  zur  Pflicht,  sein  weltliches  Schwert  zum 
Schirme  der  Freyheit  der  Kirche  und  der  Konfessionen  zu 
führen,  aber  es  hindert  den  Staat,  seine  Gewalt  im  Dienste 
einer  Confession  zur  Unterdrückung  des  Glaubens  oder  der 
Rechte  der  andern  zu  missbrauchen,  es  hindert  den  Staat  die 
Kirche  zu  unterdrücken. 

Das  Prinzip  der  Parität  ist  kein  radikales;  es  ist,  inso- 
fern es  die  bestehenden  Gonfessionen  achtet  und  schirmt,  eine 
konservative,  insofern  es  sich  der  in  ihm  liegenden  geistigen 
Freyheit  und  Hoheit  des  Staates  bewusst  ist  und  die  Konse- 
quenzen dieser  weiter  verfolgt,  eine  liberale  Idee. 

§  25.  Wenn  aber  der  Radikalismus  in  seinen  Angriffen 
auf  die  katholische  Konfession  nicht  von  konfessionell-prote- 
stantischen Motiven  ausgieng,  wie  denn  auch  die  Führer  des- 
selben vorerst  katholische  Radikale  waren,  so  stützte  er  sich 
doch  in  seinen  Operationen  vornehmlich  auf  die  protestan- 
tischen Volkgefühle  und  die  in  dem  Blute  des  protestantischen 
Volkes  seit  den  frühern  konfessionellen  Kämpfen  überlieferten 
Antipathien,  die  er  wieder  aufzuregen  suchte. 

§  26.  Das  Eigenthümliche  und  Gefährliche  dieser  Er- 
scheinung liegt  darin,  dass  der  Angriff  auf  die  (katholische) 
Konfession  nicht  von  der  (protestantischen)  Konfession,  son- 
dern von  dem  politischen  Radikalismus  ausging,  aber  dass 
dieser  sich  mit  konfessionellen  Stimmungen  des  protestantischen 
Volkes   zu    alliren    und   dieses   zu   eiuem    guten    Theile   zu 


Bluntschli's  Gedanken  zar  Vermittlung  der  Schweiz.         668 

täuschen  and  zu  missleiten  wnsste.  —  Und  die  Aufgabe  der 
Politik  ist  es,  diese  innerlich  unwahre  Allianz  zu  trennen, 
and  die  Maske  des  Radikalismus,  dass  er  Vertreter  des  Pro- 
testantismus sey,  demselben  vom  Gesicht  zu  ziehen.  Das  aber 
kann  nicht  durch  blosse  Erörterung  und  Erklärung,  sondern 
auf  eine  für  das  Volk  verstandliche  Weise  und  nur  durch 
überzeugende  Thatsachen  geschehen. 

§  27.  Als  der  Angriff  des  Radikalismus  sich  auf  katho- 
lische Institute  zunächst  bezog,  so  bildete  sich  ihm  gegen- 
über eine  katholische  Parthey.  Und  ganz  in  demselben  Ver- 
hältniss,  in  welchem  die  äussere  und  innere  Schweiz  immer 
mehr  wieder  dem  Radikalismus  verfiel,  gerieth  die  innere 
and  katholische  Schweiz  immer  mehr  unter  die  Leitung  einer 
extremen  ultramontanen  Politik. 

Bern  wurde  das  Haupt  der  radikalen,  Luzern  der  Sitz 
der  ultramontanen  Richtung.  In  Bern  triumphirte  die  Revo- 
lution  in  der  Gestalt  des  Freischarenthums,  in  Luzern  setzte 
sich  die  Reaktion  fest,  mit  der  Fahne  des  Jesuitenordens. 

§  28.  Auch  die  ultramontane  Parthey  verbannte  das 
Prinzip  der  Parität. 

Auch  sie  störte  den  konfessionellen  Frieden. 

§  29.  Zwar  ist  es  wahr,  dass  die  katholische  Parthey 
kein  bestehendes  äusseres  Recht  der  Protestanten  verletzt 
hat  Als  Luzern  die  Jesuiten  berief,  machte  es  von  einem  ihm 
zustehenden  Rechte  Gebrauch,  und  der  Radikaiismus  war  im 
Unrecht,  als  er  dieses  Recht  bestritt  und  mit  Zwang  drohte. 

Aber  es  ist  auch  wahr,  dass  Luzern  durch  die  Art,  wie 
die  Jesuitenberufung  in  einer  fieberhaft  erregbaren  Zeit  be- 
trieben und  durchgesetzt  wurde,  und  durch  die  ganze  seither 
verfolgte  Politik  sich  moralisch  gegen  die  Parität  versündigte, 
die  konfessionellen  Gegensätze  in  der  Schweiz  verbitterte 
und  erweiterte  und  dem  Frieden  der  Geinüther  tiefe  Wun- 
den schlug. 

§  30.  Wie  man  immer  über  den  Werth  oder  Unwerth 
der  Jesuiten  denken  mag,  so  ist  nicht  zu  übersehen,  dass  die 
Gesinnung,  welche  sich  in  der  Berufung  der  Jesuiten  kund 
gab,  weder  von  dem  Geiste  der  Parität  erleuchtet  noch  eine 
eidgenössische  war.  Es  lag  darin  unter  den  damaligen  Um- 
ständen 


664  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

a)  eine  feindselige  Reizung  der  Protestanten,  die  um 
so  schmerzlicher  empfunden  werden  musste,  als  sich 
eben  damals  die  protestantischen  Konservativen  und 
nicht  ohne  beginnenden  Erfolg  und  mit  Aufopferung 
bestrebten,  die  frühem  Verletzungen  der  Katholiken 
durch  den  Radikalismus  wieder  gut  zu  machen,  und 
neuen  zu  wehren,  und  als  es  ihnen  damals,  trotz  der 
grossen  innern  Schwierigkeiten  gelungen  war,  durch 
einen  Tagsatz  im  gsbeschluss  den  Antrag  des  Aar- 
gauischen RadikaÜHmus  auf  Ausweisung  der  Jesuiten 
abzuschlagen, 

b)  eine  Missachtung  von  vielen  wohldenkenden  Katholi- 
ken unterstützten  Bitten  der  protestantischen  Schweiz, 
nicht  in  einem  solchen  Moment  den  konfessionellen 
Hader  neuerdings  zur  Wuth  zu  reizen, 

c)  eine  Verkennung  der  besondern  vorörtlichen  Stellung 
Luzenis,  welche,  da  die  Eidgenossenschaft  ein  pari- 
tätisches Gemeinwesen  ist,  eine  erhöhte  Sorgfalt  des 
Vorortes  in  Wahrung  des  konfessionellen  Friedens 
erheischte, 

d)  der  Grund  und  die  Veranlassung  zu  einer  allgemeinen 
und  gefährlichen  Gährung  in  der  Schweiz,  die  sich 
in  heftigen  Feindseligkeiten  des  Radikalismus  gegen 
Luzern  Luft  machte  und  demselben  überall  in  der 
äussern  Schweiz  neue  Macht  und  Stärke  verlieh, 

e)  indem  die  Berufung  der  Jesuiten  als  der  Triumph 
der  Luzernischen  Politik  proklamirt,  der  ganze  Pro- 
testantismus als  Radikalismus  verdächtigt  und  dem 
Charakter  jener  Politik  eine  ausschliesslich  konfes- 
sionelle Färbung  und  zwar  mit  den  grellsten  Farben 
aufgeprägt  wurde,  die  Erneuerung  einer  konfessio- 
nellen Spaltung  der  Schweiz, 

§  31.     Eine   Herstellung   des   konfessionellen  Friedens 
in  der  Schweiz  setzt  mit  Nothwendigkeit  voraus: 

1.  Sühne  und  Abwehr  des  radikalen  gegenüber  der 
katholischen  Konfession  verübten  und  angedrohten 
Unrechts. 

2.  Abwehr  der  ultramontanen  Politik,  als  einer  uneid- 
genössischen. 


BlunUchli's    Gedanken  zur  Vermittlung  der  Schweiz.        605 

Die  erstere  läge  in  der  definitiven  Lösung  der  Aargaui- 
schen Klosterfrage  im  Einverständnisse  mit  der  katholischen 
Bevölkerung  des  Aargaues  und  der  Schweiz. 

Die  zweite  lflge  in  der  friedlichen  Abberufung  der  Jesuiten 
von  Luzern  durch  den  päpstlichen  Stuhl  oder  der  freywilligen 
Verzichtleistung  auf  die  Jesuiten  von  Seite  Luzerns. 

Die  eine  ohne  die  andere  ist  nicht  geeignet,  den  kon- 
fessionellen Frieden  neu  zu  befestigen.  Denn  bliebe  das  radi- 
kale Unrecht  ungesühnt,  so  würden  weder  die  Katholiken 
beruhigt,  noch  die  Radikalen  von  Erneuerung  solchen  Unrechts 
abgehalten.  Und  wurde  die  ultramontane  Richtung  ihre  Herr- 
schaft in  der  katholischen  Schweiz  fortsetzen,  so  würde  die 
Spaltung  und  die  Feindseligkeit  der  Konfessionen  stets  erneuert 
werden. 

Der  konfessionelle  Friede  setzt  die  gegenseitige  Beruhi- 
gung der  Gemüther  und  den  Triumph  des  paritätischen  Prin- 
zips über  beyde  extreme  Richtungen  voraus. 

§  32.  Gegen  eine  neue  und  letzte  Behandlung  der 
Klosterfrage  kann  hauptsächlich  angeführt  werden: 

a)  die  formelle  durch  eine  Tagsatzungsmehrheit  gutge- 
heissene  Erledigung  derselben, 

b)  die  Schwierigkeit  der  Herstellung  der  aufgehobenen 
Abteyen  Muri  und  Wettingen, 

c)  die  Verjährung. 
Allein  wenn  erwogen  wird: 

a)  dass  jene  Erledigung  durch  die  Tagsatzung  teils  eine 
innerlich  ungenügende  Sühne  für  die  geschehene  Ver- 
letzung des  Bundes  und  des  konfessionellen  Friedens 
enthält,  indem  die  reichen  Abteyen  aufgehoben  blieben, 
und  nur  die  ärmern  Frauenklöster  hergestellt  wurden, 
somit  das  Unrecht  in  der  Hauptsache  fortdauerte,  teils 
äusserlich  wieder  von  einer  radikalen  und  protestan- 
tischen Mehrheit  entgegen  einer  starken  fortdauernd 
protestirenden  Minderheit  gefasst  wurde,  also  in  sich 
selber  dem  Geiste  einer  paritätischen  Politik  zu- 
widerlief, 

b)  dass  die  Verletzungen  der  Parität  und  die  Angriffe 
auf  die  katholische  Konfession  vornämlich  von  dem 


666  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

in  sich  selber  paritätischen  Stande  Aargau  ausgiengen, 
somit  eine  Herstellung  des  konfessionellen  Friedens 
in  der  Schweiz  voraus  die  Herstellung  desselben  im 
Aargau  erheischt, 

c)  dass  die  Bücksicht  auf  das  inzwischen  Geschehene 
zwar  für  Art  und  Mass  der  Erledigung  der  Kloster- 
frage (z.  B.  blosse  Herstellung  von  Muri  verbunden 
mit  einer  fruchtbaren  Anstalt)  von  Bedeutung  ist, 
aber  um  so  weniger  das  neue  Eintreten  auf  die 
Aargauische  Klosterfrage  verhindern  kann,  als  von 
einer  richtigen  Lösung  auch  das  Schicksal  der  übri- 
gen in  paritätischen  oder  protestantischen  Kantonen 
liegenden  Klöster  abhängt,  mithin  die  Aargauische 
Klosterfrage  anch  hier  beständig  nachwirkt, 

d)  dass  nur  dadurch  in  der  katholischen  Bevölkerung  das 
Gefühl  der  Rechtssicherheit  in  konfessionellen  Dingen 
wieder  erweckt  werden  kann, 

so  kann  man  sich  dieser  Frage  nicht  entziehen,  sondern 
muss  dieselbe  mit  zur  Erledigung  gebracht  werden.  Es  kann 
das  so  geschehen,  dass  die  Hoheit  des  Staates  vollkommen 
geachtet  wird  und  die  Klosterverhältnisse  in  der  Schweiz 
überhaupt  im  Etnverständniss  mit  dem  päpstlichen  Stuhl  so 
regulirt  und  fruchtbar  gemacht  werden,  dass  dieselben  der 
Kirche  zum  Segen  und  dem  Vaterlando  zu  höherem  Nutzen 
gereichen. 

§  33.  Eben,  so  nöthig'aber  ist  es,  dass  auch  die  Jesuiten- 
frage im  Geiste  einer  paritätischen  Politik  ihre  Erledigung 
finde. 

Das  setzt  voraus: 

a)  dass  das  Rechtler  katholischen  Stände,  katholische 
Orden  aufzunehmen,  aber  zugleich  das  eidgenössische 
Kreuz  und  nicht  die  Fahne  der  Jesuiten  als  das  Pa- 
nier  auch  des* katholischen  Vororts  in  seinen  Bezieh- 
ungen zur  gesainmten  Eidgenossenschaft  von  Neuem 
anerkannt^werde, 

b)  nicht  auf  dem  Wege  des  Zwangs,  sondern  auf  dem 
moralischer^Einwirkung,  im  Interesse  der  Beruhigung 
der  Gemüther^und  zur  Herstellung  des  Friedens  die 
Jesuiten  wieder  von  Luzern  entfernt  werden. 


Bluntechli's  Gedanken  zur  Vermittlang:  der  Schweiz.         667 

Wie  in  der  Klosterfrage  die  Angriffe  des  Radikalismus 
zurückgewiesen  werden  sollen,  so  müssen  in  der  Jesuitenfrage 
die  Gegenreizungen  des  Absolutismus  beseitigt  werden.  Dort 
muss  die  Revolution,  hier  die  Reaktion  getroffen  werden. 

Damit  ist  der  Friede  da,  in  der  ganzen  Schweiz  und 
unter  beiden  Konfessionen,  ohne  das  nicht. 

§  34.  Wird  der  konfessionelle  Friede  in  diesem  Sinne 
hergestellt,  so  ist  die  Frage  der  Freyschaaren  und  des  Sonder- 
bandes Ton  Belbst  erledigt.  Jene  haben  keine  Unterstützung, 
dieser  keinen  Sinn  mehr.  Das  Verbot  jener  ist  eine  Wahrheit, 
die  Auflösung  dieses  leicht  zu  erlangen. 

Zugleich  ist  auch  der  Boden  gewonnen  für  die  politische 
Vertnittlung  und  Befriedigung  der  Schweiz. 

III.  Die  europaischen  Machte  und  der  confessionelle 

Friede  der  Schweiz. 

§  35.  Auch  in  Europa  ist  der  Gegensatz  der  Konfessio- 
nen vorhanden.  Auch  in  Europa  bedroht  auf  der  einen  Seite 
der  Radikalismus  und  das  Idol  der  Staatsall  macht,  die  Selb- 
ständigkeit und  Freyheit  der  Kirche,  und  erhebt  sich  auf  der 
andern  Seite  die  Parthey  der  Jesuiten  und  Ultramontanen 
mit  ihren  einer  untergegangenen  Periode  entlehnten  staats- 
feindlichen und  reaktionären  Tendenzen. 

Würde  in  der  Schweiz  das  Prinzip  der  Parität  siegen, 
und  der  konfessionelle  Frieden  neu  befestigt,  so  hätte  die 
Schweiz  ihre  Aufgabe  ehrenvoll  und  fruchtbar  gelöst. 

Käme  es  in  der  Schweiz  zu  einem  Bürgerkriege  mit 
konfessioneller  Färbung,  so  wäre  das  nicht  bloss  für  die  Schweiz 
ein  Unglück  und  eine  Schmach,  sondern  auch  ein  böses  Vor- 
spiel für  die  Leidenschaften,  die  in  Europa  gären. 

§  36.  So  wichtig  und  höchst  wünschenswerth  es  ist,  dass 
die  Schweiz  ihre  Aufgabe  selbständig  löse,  ohne  irgend  eine 
Dazwischen  kunft  der  Europäischen  Mächte,  so  natürlich  ist 
es,  dass  auch  Europa,  aus  Gründen  seines  eigenen  Interesses, 
den  Gang  der  schweizerischen  Entwicklung  mit  Aufmerksam- 
keit und  mit  moralischer  und  geistiger  Th  eil  nähme  betrachte. 

§  37.  Deutschland  voraus  ist  in  konfessioneller  Bezie- 
hung  ähnlichen   Gefahren  Preis   gegeben   wie  die  Schweiz. 


668  Jahresbericht  1899.     Beilagen. 

Wie  diese  besteht  auch  Deutschland  aus  katholischen,  pro- 
testantischen uud  gemischten  Staaten.  Aach  Deutshland  darf, 
ohne  seine  Gesammtexistenz  Preis  zu  geben,  in  sich  weder 
eine  radikale  Bedrückung  der  Kirche,  noch  eine  ultramontane 
Politik  aufkommen  lassen.  Der  dreissigjährige  Krieg  enthält 
fdr  Deutschland  eine  fruchtbare  Mahnung,  den  konfessionellen 
Frieden  zu  erhalten. 

Oesterreich  als  katholische  Macht  hat  ein  unermessliches 
Interesse,  zwar  die  Rechte  der  katholischen  Konfession  in 
Deutschland  zu  schirmen,  aber  den  politischen  Ultramontanis- 
mus, der  in  seiner  Konsequenz  zur  konfessionellen  Spaltung 
und  zum  konfessionellen  Kriege  führt,  und  mit  dem  Dasein 
einer  politischen  Grossmacht  unverträglich  ist,  niederzuhalten. 

Preussen  als  eine  vorherrschend  protestantische  Macht, 
welche  indessen  schon  um  ihrer  katholischen  Prinzipien  willen 
eine  paritätische  Politik  zu  befolgen  genöthigt  ist,  ist  durch 
seine  Geschichte  und  seine  politischen  Prinzipien  darauf  an- 
gewiesen die  unwahre  Verwechslung  von  Radikalismus  und 
Protestantismus  zu  verhindern,  den  Ultramontanismus  zu  be- 
kämpfen und  die  Rechte  auch  der  Katholiken  zu  achten. 

Bayern  hat  die  Gefahren  des  Ultramontanismns  an  sich 
selber  erfahren  und  ist  durch  seine  Lage  und  seine  Bedürf- 
nisse auf  entschiedene  Geltendmachung  der  Parität  hinge- 
drängt. 

§  38.  Frankreich  bekennt  sich  zu  dem  Prinzip  der 
Staatshoheit.  Würde  es  in  der  Schweiz  die  ultramontane 
Politik  unterstützen,  so  würde  es  mit  sich  selbst  in  einen 
gefährlichen  Widerspruch  gerathen.  Frankreich  hat  in  neue- 
ster Zeit  seine  Jesuitenfrage  in  friedlicher  Weise  gelöst  und  die 
religiöse  Freiheit  auch  einer  extremen  Parthey  zu  respektiren, 
zugleich  aber  die  Triumphe  des  Jesuitenordens  bei  sich  zu  nichte 
zu  machen  gewusst.  Es  kann,  wenn  es  moralisch  verfahren  will, 
nicht  in  der  Schweiz  den  Triumph  eines  Prinzipes  wünschen, 
das  es  auf  seinem  eigenen  Gebiete  in  Schranken  gewiesen  hat. 

Eben  so  wenig  kann  Frankreich  unter  derselben  Voraus- 
setzung, nachdem  es  selber  der  Revolution  entwachsen  ist, 
und  die  radikale  Parthey  in  seinem  Innern  besiegt  hat,  diese 
in  der  Schweiz  beleben  und  kräftigen  wollen. 


Bluntschli's  Gedanken  zur  Vermittlung  der  Schweiz.  669 

Das  Prinzip  der  Parität  entspricht  allein  den  Wünschen 
und  den  Interessen  auch  von  Frankreich,  der  Parität  im 
Gegensatz  zu  den  Bedrohungen  and  den  Leidenschaften  bei- 
der Extreme. 

§  39.  England  hat  in  neuerer  Zeit  sich  energisch  los- 
gemacht von  den  Ueberlieferungen  einer  ungerechten,  im  Na- 
men des  Protestantismus  gegen  die  katholische  Bevölkerung 
des  Reiches  verübten  Politik  des  Zwangs,  der  Gewalt  und 
der  Unterdrückung  und  ist  übergetreten  zu  dem  Prinzip  der 
religiösen  Freyheit.  Es  hat  verzichtet  auf  jeden  Staatszwang 
in  konfessionellen  Dingen.  Es  verwirft  das  illiberale  Prinzip 
des  Radikalismus  und  seiner  politischen  Freiheiten  bewusst, 
verschmäht  es  den  Ultramontanismus. 

§  40.  Es  ist  somit  klar.  Wenn  die  Schweiz  das  Prinzip 
der  Parität  festhält  und  durchführt,  so  ist  jeder  Konflikt  in 
diesen  Dingen  mit  einer  europäischen  Macht  unmöglich.  Die 
Schweiz  würde  sich  nur  zu  demselben  Prinzip  bekennen,  auf 
welchem  auch  der  konfessionelle  Friede  Europas  und  der 
einzelnen  europäischen  Länder  ruht. 

Wenn  es  dagegen  in  der  Schweiz  zu  einem  Bürgerkrieg 
mit  konfessioneller  Färbung  käme,  so  ist  der  Konflikt  mit 
einzelnen  Mächten  wenigstens  je  nach  nach  Umständen  nicht 
unwahrscheinlich,  weil  mit  Recht  oder  Unrecht  leicht  einzelne 
Mächte  daran  einen  Rückschlag  auf  ihre  eigenen  konfessio- 
nellen Zustände  zu  besorgen  scheinen. 

§  41.  Können  und  dürfen  aber  die  Mächte  —  und  zwar, 
da  die  deutschen  Mächte  und  Frankreich  am  nächsten  daran 
betheiligt  sind,  zunächst  diese  auf  die  Herstellung  des  kon- 
fessionellen Friedens  in  der  Schweiz  einwirken?    Und  Wie? 

1.  Absolute  Indifferenz  der  Mächte,  wäre  Unnatur  und 
vertrüge  sich  nicht  mit  den  eigenen  Interessen  der- 
selben an  der  Frage. 

2.  Jede  Ausübung  eines  Zwangs  gegenüber  der  Schweiz, 
in  der  Absicht,  ihr  diese  oder  eine  andere  Erledi- 
gung der  Frage  aufzudringen,  wäre  ein  Unrecht 
gegen  die  Schweiz  und  eine  Verkennung  ihrer  auch 
im  europäischen  Interesse  liegenden  Mission,  ihre 
Fragen  selbstständig  zu  entscheiden. 


670  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

8.  Sogar  der  Schein  des  Zwanges  und  die  Drohung 
wäre  ein  um  so  grösserer  Fehler,  als  die  Schweiz 
mit  Recht  als  eine  republikanische  Bundesgenossen- 
schaft  auf  ihre  Freiheit  eifersüchtig  ist  und  als  in 
konfessionellen  Dingen  jede  Zwangspolitik  doppelt 
verderblich  ist. 

§  42.  Zwischen  der  Indifferenz  und  dem  Zwang  liegt 
aber  noch  ein  weites  Gebiet  moralischer  und  geistiger  Theil« 
nähme,  und  selbst  der  Aeusserung  dieser  Theilnahme. 

Dahin  gehören,  wenn  wir  uns  einfach  an  der  Erfahrung 
der  letzten  Jahre  halten, 

a.   Direkte    Aeusserungen   der  Mächte   an    die 

Schweiz. 

Die  Schweiz  ist  geneigt,  auch  in  dem  Rathe  eine  Aus- 
übung vormundschaftlicher  Anmassung  zu  wittern,  und  dem- 
selben schon  desshalb  Misstrauen  und  Abneigung  entgegen 
zu  setzen.  Sie  weiss  überdem,  dass  keine  europäische  Macht, 
wenn  man  an  die  Geschichte  der  letzten  fünfzig  Jahre  zu- 
rückdenkt, frei  ist  von  eigener  Verletzung  konfessioneller 
Rechte  und  von  eigener  Verschuldung  an  dem  Prinzipe  der 
Parität,  und  hat  desshalb  ein  Recht  auf  schonende  Beurthei- 
lung  auch  ihrer  Fehlgriffe. 

Daher  wirken  direkte  Aeusserungen,  welche  diesen  Stim- 
mungen und  Ansichten  der  Schweiz  nicht  Rechnung  tragen, 
eher  schädlich  als  förderlich  auf  die  innere  konfessionelle 
Befriedigung  der  Schweiz  ein.  Nur  wenn  die  Mächte,  mit 
voller  Freimüthigkeit  und  Offenheit  ihre  eigenen  Interessen 
voranstellen,  ihre  eigenen  Erfahrungen  kundgeben,  sich  nur 
auf  die  Macht  der  Moral  stützen,  sich  nur  auf  die  Kraft 
menschlich  wahrer  Prinzipien  berufen,  nur  dann  wenn  sie 
nicht  als  physische  Grossmächte,  sondern  als  Repräsentanten 
einer  weisen  und  gerechten  europäischen  Politik  aufrichtig 
und  klar  zur  Nation  reden,  nur  dann  können  ihre  Aeusse- 
rungen allerdings  in  dem  Masse  heilsam  wirken,  in  welchem 
sie  wahrhaft  diesen  Charakter  in  sich  haben  und  gemein- 
verständlich offenbaren. 


Bluntschli'ß  Gedanken  zur  Vermittlung  der  Schweiz.         671 

§  43.    b.   Die   auswärtige   Presse. 

Die  auswärtige  Presse,  die  deutsche  unter  Censur  stehende 
Presse  zumal,  hat  seit  Jahren  im  Uebermass  die  radikalen 
Bestrebungen  in  der  Schweiz  untertützt,  bald  offen,  bald 
geheim,  bald  durch  Verteidigung,  bald  durch  Verschweigung. 
Ein  Theil  der  auslandischen  Presse  umgekehrt  hat  sich  der 
ultramontanen  Taktik  angeschlossen.  Grosse  Zeitungen  wie 
die  allgemeine  Augsburger,  haben  zwischen  diesen  beiden 
Richtungen. hin-  und  hergeschwankt. 

Nur  die  prinzipielle  Mittelparthei,  welche  die  Herstellung 
des  konfessionellen  Friedens  sich  zur  Aufgabe  stellte,  fand 
in  der  auswärtigen  Presse  geringe  Anerkennung  und  sehr 
wenig  Unterstützung,  und  vielfältige  Befeindung.  Und  doch 
vertrat  sie,  und  sie  allein,  ein  gerechtes  und  wahres  Prinzip 
von  nicht  bloss  schweizerischem  Werthc. 

Dieser  Zustand  der  auswärtigen  Presse  ist  ein  ganz 
offenbares  Zeugniss  der  grossen  innern  Schäden,  an  welchen 
in  diesem  Fall  nicht  die  Schweiz,  sondern  die  öffentlichen 
Zustände  Deutschlands  krank  sind. 

Der  französischen  Presse  lagen  diese  Fragen  ferner : 
aber  als  sie  sich  damit  beschäftigte,  zeigte  sie  jedenfalls  mehr 
politisches  Verständniss  als  die  deutsche  Presse,  wenn  schon 
zugleich  auch  mehr  Neigung;  je  nach  innern  speziell-fran- 
zösischen Partheiinotiven  und  Interessen  sich  der  Frage  zu 
bemächtigen  und  dieselben  auszubeuten. 

§  44.    c.  Unterhandlungen  mit  dem  Papste  zur 
Förderung    des  konfessionellen  Friedens   in 

der    S  c  h  w  eYz. 

Es  ist  das  ein  Punkt  von  grösster  Wichtigkeit.  Der 
Papst  ist  als  das  Oberhaupt  der  katholischen  Kirche  in  der 
Lage,  und  Pius  IX.  insbesondere  ist  als  ein  ächter  Jünger 
Christi,  auch  persönlich  befähigt  für  die  konfessionelle  Be- 
friedigung der  Schweiz  in  völlie:  rechtmässiger,  in  einer  dem 
Geiste  auch  des  neunzehnten  Jahrhunderts  zusagenden  Weise 
Grosses  zu  thun.  Es  kommt  nur  darauf  an,  dass  Pius  IX. 
von  den  Verhältnissen  und  den  Richtungen,    die   sich  in  der 


672  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

Schweiz  bekämpfen,  wahrhaft  unterrichtet,  und  bei  ihm  die 
Bestrebungen  der  Männer,  welche  in  der  Schweiz  im  Gegen- 
satze zu  dem  Kriege  der  Extreme  für  einen  gerechten  Frieden 
und  die  Freiheit  der  Konfessionen  arbeiten,  unterstüzt  werden. 

IV.    Die    Bandesreform    und    die    politischen 

P  ar  theien. 

§  45.  Die  konfessionelle  Beruhigung  der  Schweiz  ist  nicht 
genügend  für  die  volle  Befriedigung  der  Schweiz,  aber  sie  ist 
ein  unerlässliches  Erforderniss  dieser.  Sie  muss  der  politischen 
Vermittlung  vorausgehen  und  sie  einleiten. 

§  46.  Die  politische  Vermittlung  ist  nur  dann  wahrhaft 
möglich,  wenn  die  politischen  Partheien  in  das  richtige  Ver- 
hältniss  eingetreten  sein  werden.  In  demselben  Maasse,  in 
welchem  die  schiefen  Verhältnisse  der  Partheien  sich  lösen 
und  in  das  richtige  übergehen,  geht  die  Vermittlung  vor  sich. 

In  der  Schweiz  sind  die  politischen  Partheien  schärfer 
und  prinzipieller  geschieden,  als  in  andern  europäischen 
Staaten.  Aber  indem  es  den  extremen  Partheien  gelungen  ist, 
die  Leidenschaften  der  Massen  anzuregen  und  zu  benutzen, 
ist  die  natürliche  Ordnung  gestört,  und  dadurch  das  Miss- 
verhältniss  der  Partheien  hervorgerufen  worden,  an  dem  die 
Schweiz  leidet. 

§  47.  Der  Radikalismus  versucht  die  Schweiz  seiner 
Herrschaft  zu  unterwerfen  und  in  seinem  Sinn  den  Bund 
umzuändern. 

Zu  diesem  Behuf  bereitet  er  den  Angriff  auf  die  innere 
Schweiz  vor.  Um  dessen  Willen  vornämlicb  verletzt  er  den 
konfessionellen  Frieden.  Die  Jesuitenfrage  ist  in  seiner  Hand 
nur  ein  Mittel;  um  eine  neue  radikale  Herrschaft  aufzurichten. 

§  48.  Die  Herrschaft  des  Eadikalismus  ist  die  grösste 
Gefahr,  womit  die  Schweiz  bedroht  ist.  Denn  sie  ruinirt  die 
Schweiz  zugleich  im  Innern  und  gefährdet  ihre  europäische 
Stellung. 

Sein  nächstes  Ziel  ist  die  Bundesrevolution. 

§  49.  Nur  ein  kleiner  —  obwohl  durch  die  Logik  des 
radikalen  Prinzipes  starker  —  Theil  der  radikalen  Parthei 
will   aus   der  Schweiz  einen  einheitlichen  Staat  machen,    mit 


Bluntsehli's  Gedanken  zur  Vermittlung  der  Schweiz  1847.     673 

zentraler  Gesetzgebung  nnd  Regierang  nach  Art  der  Helveük, 
ohne  kantonale  Selbstständigkeit  Die  Masse  der  Parthei 
scheut  sich  davor,  die  Kantone  als  besondere  Republiken  auf- 
zulösen und  in  der  einen  und  untheilbaren  helvetischen  Re- 
publik untergehen  zu  lassen.  Sie  sucht  nach  Qebergängen 
aus  dem  Prinzip  des  Föderalismus  zu  dem  der  Staatseinheit. 

Aber  die  ganze  Parthei  verletzt  jetzt  schon  unbedenklich 
das  Prinzip  der  kantonalen  Selbstständigkeit  und  somit  das 
Prinzip  des  Föderalismus  im  Interesse  radikaler  Leidenschaft 
und  radikaler  Gewaltherrschaft,  und  jede  von  ihr  beantragte 
und  durchgeführte  Veränderung  des  Bundes  wird  daher  die 
Tendenz  haben,  die  Verletzung  jener  beiden  Prinzipien  für 
die  radikale  Partei  noch  mehr  zu  erleichtern,  beziehungsweise 
die  Eigentümlichkeit  und  Freiheit  der  Kantone  und  der 
föderalen  Natur  der  Schweiz  noch  mehr  zu  verletzen.  —  Hat 
die  radikale  Parthei  jetzt  schon  kein  Bedenken,  das  formale 
Prinzip  einer  XII  Stände-Mehrheit  in  antiföderalem  Sinne 
auszubeuten,  und  wenn  diese  XII  Stände-Mehrheit  radikale 
Beschlüsse  fasst,  mit  Gewalt  die  Selbstständigkeit  der  Kantone 
zu  zerstören,  so  wird  jeder  Schritt,  den  die  Parthei  thut, 
den  Bund  zu  verändern,  diese  absolute  Gewaltherrschaft  er- 
weitern, und  kann  sie  die  starke  und  zähe  Natur  der  Schweiz 
nicht  auf  einmal  zum  Falle  bringen,  so  reisst  sie  stückweise 
die  Garantie  ihrer  Existenz  zusammen  und  verdirbt  ihren  Geist. 

§  50.  Die  radikale  Parthei  kann  daher  nur  die  Zer- 
störung des   Bundes,  nicht  die  Reform  des  Bundes  bringen. 

Es  fehlt  ihr  an  dem  Geist,  das  schweizerische  Leben 
in  seiner  Eigen  thümlichkeit,  Manigfaltigkeit  und  lebendigen 
Freiheit  zu  erfassen,  und  es  fehlt  ihr  an  der  moralischen 
Kraft  gerecht  zu  sein. 

Sie  spielt  mit  dem  Schicksal  und  der  Wohlfahrt  des 
Volks,  erfreut  sich  an  Nichtigkeiten.  Sie  jagt  abstrakten 
Begriffen  von  Freiheit,  Gleichheit,  Kultur  nach,  und  zertritt 
die  Bedingungen  des  gesunden  schweizerischen  Volkslebens, 
eine  lebendige  Freiheit  und  eine  tüchtige  Gesittung. 

Nach  Innen  wählt  sie  entweder  auflösend  oder  ein- 
schnürend bis  zum  Ersticken,  nach  Aussen  propagandistisch. 

43 


674  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

§  51.  Der  Grundsatz,  dass  der  Mehrheit  sich  die  Minder- 
heit unterordne,  ist  ein  alter  demokratischer.  Wenn  aber  die 
Kantonalverfassungen  ausschliesslich  auf  der  Vollzahl  begründet 
sind  und  das  Prinzip  der  Zahl  als  ein  bloss  formelles  zur 
Herrschaft  kommt,  so  entsteht  daraus  fürs  erste  eine  un- 
wahre und  wechselnde  Mehrheit  und  für's  zweite  der  Despo- 
tismus der  Mehrheit  über  die  Minderheit.  Daran  leiden  alle 
die  sogenannten  regenerirten  Kantone.  In  allen  gebricht  es 
an  einer  natürlich  organisirten,  die  Rechte  aller  Klassen  und 
Theile  respektirenden  Mehrheit. 

Wird  das  Prinzip  der  Volkszahl  und  die  blosse  Stimmen- 
mehrheit übergetragen  auf  die  Bundesverfassung,  so  wird  auch 
in  der  Schweiz  der  föderale  Organismus  zerstört  und  das 
Recht  der  Minderheit  unterdrückt. 

§  52.  Der  radikalen  Parthei  gegenüber  steht  nun  der 
Sonderbund  gerüstet  zum  offenen  Kampfe.  Soweit  der  Sonder- 
bund die  Selbstständigkeit  der  innern  Schweiz  vertheidigt 
gegen  den  Angriff  des  Radikalismus,  so  weit  ist  er  im  Recht. 
Er  hat  das  Recht  der  Nothwehr  für  sich. 

So  weit  der  Sonderbund  als  dauerndes  Prinzip  sich  geltend 
machen  wollte,  ist  er  im  Unrecht.  Und  er  ist  zugleich  auch 
unfähig,  seinen  partikularen  Geist  zum  Eidgenossischen  zu 
verallgemeinern. 

In  dem  Sonderbund  sind  zwei  Elemente  verbunden,  ein 
konservatives  (Bewahrung  der  Freiheit  der  in  ihrer  konfessionellen 
und  politischen  Selbstständigkeit  bedrohten  Kantone)  und  ein 
absolutistisches  (Verfolgung  einer  kurzsichtigen  und  ausschliess- 
lichen Reaktionspolitik). 

§  53.  An  dem  Sonderbunde  kann  sich  im  günstigsten 
Falle  der  Radikalismus  momentan  in  seinem  gewaltsamen 
Anlaufe  brechen.  In  keinem  Fall  kann  die  schliessliche  Be- 
friedigung der  Schweiz  von  ihm  ausgehen. 

§  54.  Der  Radikalismus  zerstört  die  alte  Schweiz  in 
ihrer  Berechtigung.  Die  Reaktion  müht  sich  vergeblich  ab, 
die  Entwicklung  der  Schweiz  zu  hintertreiben. 

Jener  missachtet  die  Selbstständigkeit  der  Stände  und 
die  föderale  Natur  der  Schweiz.  Diese  missachtet  das  er- 
wachte Bewusstsein  und  die  Bedürfnisse  der  Gemeinschaft, 
die  eidgenössische  Gesinnung. 


Bluntschli's  Gedanken  zur  Vermittlung  der  Schweiz  1847.     675 

§  55.  So  lange  die  Extreme  herrschen,  so  lange  ist  eine 
wahre  Befriedigung  der  Schweiz  unmöglich.  Sie  zerreissen 
dieselbe,  sie  entzünden  die  Leidenschaften,  sie  reizen  zum 
Bürgerkrieg.  Bedrückung  und  Unterdrückung  des  realen 
Lebens  und  seiner  Rechte  fällt  beiden  zur  Last 

§  56.  Der  Fall  und  der  Verfall  der  extremen  Herrschaft 
in  den  wichtigsten  Kantonen  der  Schweiz  und  in  der  Eid- 
genossenschaft sind  wesentliche  Erfordernisse  einer  föderalen 
und  eidgenössischen  Politik. 

§  57.  Die  Aufgabe  der  eidgenössischen  Politik  ist  ein- 
mal, alles  Recht,  auch  der  alten  Schweiz  zu  ehren,  die  Selbst- 
ständigkeit und  Freiheit  der  einzelnen  Republiken  zu  achten 
und  zu  erhalten,  und  zugleich  das  erwachte  Bedürfniss  der 
Gemeinschaft  zu  befriedigen,  sowohl  in  materieller  Beziehung 
als  in  dem  Organismus  des  Bundes. 

Jene  Aufgabe  ist  eine  konservative,  diese  eine  liberale. 
Beide  Richtungen  vereint  und  versöhnt  enthalten  den  Frieden 
und  die  Entwicklung  in  sich.  Von  da  aus  allein  wird  es  ge- 
lingen, die  verderbliche  Einwirkung  der  Extreme  zu  hemmen. 

§  58.  Eine  Bundesreform  ist  nöthig,  denn  der  jetzige 
Bund  entspricht  weder  ganz  der  wahren  Natur  der  Schweiz 
noch  ihren  Bedürfnissen. 

Weder  die  Ordnung  noch  die  Freiheit  der  Schweiz  finden 
gegenwärtig  hinreichende  Garantie  in  der  Bundesverfassung. 
Für  beides  ist  weitere  Sorge  nöthig. 

§  59.  Der  Radikalismus  mit  seinen  Eonsequenzen  unter- 
drückt die  Kantone.  Die  Reaktion  und  ihre  Konsequenzen 
löst  die  Kantono  von  einander  ab.  Beide  zerstören  die  Eid- 
genossenschaft; jener,  indem  er  sie  in  ihren  Gliedern,  diese 
Indem  sie  dieselbe  in  ihrer  Verbindung  bricht. 

§  60.  Die  wahre  Bundesreform  hält  sich  ganz  konsequent 
an  das  Prinzip  des  Föderalismus.  Es  ist  ein  Hauptfehler  der 
jetzigen  Bundesverfassung,  dass  die  vorörtliche  Leitung  bloss 
kantonal  nicht  föderal  organisirt  ist. 

Die  wahre  Bundesreform  gewährt  dem  gemeinsamen  Leben 
der  Eidgenossenschaft  Stärke  und  Befriedigung  und  schützt 
und  hebt  zugleich  die  Freiheit  und  Selbstständigkeit  der 
einzelnen  Stände.  Sie  sorgt  auch  für  die  gemeinsamen 
materiellen  Interessen. 


676  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

Sie  ist  ein  Werk  des  liberal-konservativen  Prinzips,  und 
beruht  auf  der  Zusammenwirkung  der  liberalen  und  der 
konservativen  Schweiz. 

Dieses  Werk  wird  erst  gelingen,  wenn  die  Herrschaft 
der  extremen  Partheien  gebrochen  oder  erloschen  ist 

Wenn  die  Schweiz  dasselbe  zu  vollbringen  vermag,  hat 
sie  ihren  Frieden  gewonnen,  und  ihre  Mission  für  unsere 
Zeit  erfüllt. 


Peilage  II. 

Lettre  encyclique 

de 


Sa  Saintetä  le  Fape  L6on  XIII 

aux 

archeveques,  eveques  et  au  clerge  de  France. 

A  nos  venerables  freres   les   archeveques,  6v6ques  et 
au  clerge*  de  France. 

V6n6rables  freres 
tres  chers  Als! 

Depuis  le  jour  oü  Nous  avons  6t6  eleve*  ä  la  Chaire 
pontilicale,  la  France  a  et6  constamment  l'objet  de  Notre 
sollicitude  et  de  Notre  affection  tonte  particuliere.  C'est  chez 
eile,  en  effet  qne,  dans  le  cours  des  siecles,  mu  par  les  in- 
sondables  desseins  de  sa  misöricorde  sur  le  monde,  Dieu  a 
choisi  de  präference  les  hommes  apostoliques  destinäs  ä  pre- 
cher  la  vraie  foi  jusqu'aux  confins  du  globe,  et  ä  porter  la 
lumiere  de  l'Evangile  aux  nations  encore  plongäes  dans  les 
tänebres  dn  paganisme.  II  l'a  pr6destin6e  ä  6tre  le  d6fen- 
senr  de  son  Eglise  et  Hnstrument  de  ses  grandes  oeuvres: 
Oesta  Dei  per  Francos. 

A  nne  si  haute  mission  correspondent  evidemment  de 
nonibrenx  et  graves  devoirs.  Desirenx,  corame  Nos  pred6ces- 
seurs,  de  voir  la  France  accomplir  fidelement  le  glorieux 
mandat  dont  eile  a  6t6  chargee,  Nous  lui  avons  plusieurs 
fois  deja>,  durant  Notre  long  Pontificat,  adress6  Nos  con- 
seils,  Nos  encouragements,  Nos  exhortations.  Nous  l'avons 
fait  tout  specialement  dans  Notre  Lettre  Encyelique  du  8 
fävrier  1884  :  Nobilissima  Gallorum  gens,  et  dans  Notre 
Lettre  du  16  fävrier  1892,  publice  dans  l'idiome  de  la 
France  et  qul  commence  par  ces  mots :  Au  milieu  des  solli- 
citudes.  Nos  paroles  ne  sont  pas  demeur6es  infructueuses,  et 
Nous  savons    par  vous,    Venerables  Freres,    qu'une    grande 


678  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

partie  du  peuple  francais  tient  toujours  en  honneur  la  foi 
de  ses  anc&tres  et  remplit  avec  fidälite*  les  devoirs  qu'elle 
impose.  D'autre  part,  Nous  ne  saurions  ignorer  que  les 
ennemis  de  cette  foi  sainte  ne  sont  pas  demearäs  inactifs, 
et  qu'ils  sont  parvenus  ä  bannir  tont  principe  de  religion 
d'un  grand  nombre.de  familles,  qui,  par  suite,  vivent  dans 
une  lamentable  ignorance  de  la  v6rit6  r6v616e,  et  dans  une 
complete  indiffßrence  pour  tout  ce  qui  touche  ä  leors  intärets 
spirituels  et  au  salut  de  leors  ämes. 

Si  donc,  et  ä  bon  droit,  Nous  f&icitons  la  France  d'&tre 
pour  les  nations  infideles  un  foyer  d'apostolat,  Nous  devons 
encourager  aussi  les  efforts  de  ceux  de  ses  fils  qui,  enröles 
dans  le  sacerdoce  de  J6sus-Christ,  travaillent  ä  ävangeliser 
leurs  compatriotes,  a  les  premunir  contre  l'envahissement 
du  naturalisme  et  de  l'incr&lulitS,  avec  leurs  funestes  et 
inevitables  cons6qnences.  Appells  par  la  volonte  de  Dieu  a 
6tre  les  sauveurs  du  monde,  les  pretres  doivent  toujours,  et 
avant  tout,  se  rappeler  qu'ils  sont,  de  par  l'institution  m&me 
de  J6sus-Christ,  «le  sei  de  la  terre»,  *)  d'oü  S.  Paul,  6cri- 
vant  ä  son  dissiple  Timothäe,  conclut  avec  raison  «qu'ils 
«doivent  ßtre  l'exemple  des  fidöles  dans  leurs  paroles  et  dans 
«leurs  rapports  avec  le  prochain,  par  leur  charitä,  leur  foi 
«et  leur  puret6  2>. 

Qu'il  en  soit  ainsi  du  clerge"  de  France,  pris  dans  son 
ensemble,  ce  Nous  est  toujours,  V6ne>ables  Freres,  une 
grande  consolation  de  l'apprendre,  soit  par  les  relations 
quadriennales  que  vous  Nous  envoyez  sur  l'6tat  de  vos  dio- 
ceses,  conformäment  ä  la  Constitution  de  Sixte-Quint;  soit 
par  les  Communications  orales  que  Nous  recevons  de  vous, 
lorsque  Nous  avons  la  joie  de  Nous  entretenir  avec  vous  et 
de  recevoir  vos  confidences.  Oui,  la  dignite  de  la  vie,  Far- 
deur  de  la  foi,  l'esprit  de  dövouement  et  de  sacrifice,  l'älan 
et  la  genärositä  du  zele,  la  charite*  inepuisable  envers  le 
prochain,  l'energie  dans  toutes  les  nobles  et  fäcondes  entre- 
prises  qui  ont  pour  but  la  gloire  de  Dieu,  le  salut  des  ämes, 
le  bonheur  de    la  patrie:    telles    sont  les    traditionnelles  et 

*)  Matth.  5,  13. 
2);i.'Tim.  6,  12. 


Päpstliche  Encyclika  an  den  franz.  Clerus.  679 

pröcieases  qualites  da  clerg6  fran$ais ,  auxquelles  Nons 
sommeB  heureux  de  pouvoir  rendre  ici  nn  public  et  paternel 
tämoignage. 

Toutefois,  en  raison  m&ne  de  la  tendre  et  profonde  affec- 
tion  que  Nous  lni  portons;  tout  ä  la  fois  pour  satisfaire  an 
devoir  de  Notre  ministöre  apostolique,  et  pour  r6pondre  & 
Notre  vif  d6sir  de  le  voir  demeurer  toujours  ä  la  hauteur 
de  sa  grande  mission,  Nous  avons  rösolu,  Venörables  Freres, 
de  traiter  dans  la  presente  Lettre  quelques  points  que  les 
circonstances  actuelles  recommandent  de  la  fagon  la  plus 
instante  k  la  consciencieuse  attention  des  premiers  Pasteurs 
de  l'Eglise  de  France,  et  des  pr&tres  qui  travaillent  sous 
leur  autoritä. 

C'est  d'abord  chose  evidente  que,  plus  un  Office  est  re- 
levä,  complexe,  difficile,  plus  longue  et  plus  soignäe  doit  ötre 
la  preparation  de  ceux  qui  sont  appeles  ä  le  remplir.  Or, 
existe-t-il  sur  la  terre  une  dignitö  plus  haute  que  celle  du 
sacerdoce,  et  un  ministöre  imposant  une  plus  lourde  respon* 
sabilitä,  que  celui  qui  a  pour  objet  la  sanctification  de  tous 
les  actes  libres  de  l'homme?  N'est-ce  pas  du  gouvernement 
des  ftmes  que  les  Peres  ont  dit  avec  raison,  que  c'est  «l'art 
des  arts>,  c'est-ä-dire  le  plus  important  et  le  plus  dälicat  de 
tous  les  labeurs  auxquels  un  homme  puisse  6tre  applique  au 
profit  de  ses  semblables  «ars  artium  regimen  animarum»  l)? 
Rien  donc  ne  devra  etre  n6glig6  pour  pröparer  ä  remplir 
dignement  et  fructueusement  une  teile  mission,  ceux  qu'une 
vocation  divine  y  appelle. 

Avant  toute  chose,  il  convient  de  discerner,  parmi  les 
jeunes  enfants,  ceux  en  qui  le  Tres-Haut  a  depose*  le  germe 
d'une  semblable  vocation.  Nous  savons  que,  dans  un  certain 
nombre  de  diocöses  de  France,  gräce  ä  vos  sages  recomman- 
dations,  les  pretres  des  paroisses,  surtout  dans  les  campagnes, 
s'appliquent  avec  un  zele  et  une  abnägation  que  Nous  ne 
saurions  trop  louer,  ä  commencer  eux-memes  les  Stades  616- 
mentaires  des  enfants  dans  lesquels  ils  ont  remarquö  des 
dispositions  s6rieuses  ä  la  piet6  et  des  aptitudes  au  travail 
intellectueL    Les  Ccoles   presbyt6rales   sont    ainsi  comme  le 

*)  S.  Greg.  M.  Lib.  Regula  Past.  P.  I,  c.  1. 


680  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

premier  degr6  de  cette  Schelle  ascendante  qui,  d'abord  par 
les  petits,  puis  par  les  grands  S6minaires,  fera  monter  jus- 
qu'au  sacerdoce  les  jeunes  gens  auxquels  le  Sauveur  a  re- 
p6t6  l'appel  adressö  ä  Pierre  et  Andr6,  ä  Jean  et  ä  Jacques: 
Laissez  tos  filets:  *suivez-moi;  je  veux  faire  de  vous  des 
«p^cheurs  d'homines»  1). 

Quant  aux  petits  Säminaires,  cette  tr6s-salutaire  Insti- 
tution a  6t6  souvent  et  justement  comparöe  ä  ces  p6pinieres, 
oü  sont  mises  ä  part  les  plantes  qni  räclaraent  des  soins  plus 
sp6ciaux  et  plus  assidus,  moyennant  lesquels  seuls  elles  peu- 
vent  porter  des  frnits  et  d^dom  mager  de  leurs  peines  cenx 
qui  s'appliqnent  ä  les  cultiver.  Nous  renouvelons  ä  cet  egard 
la  recommandation  que,  dans  son  Encyclique  du  8  decembre 
1849.  notre  pr6d6cesseur  Pie  IX  adressait  aux  Ev6ques. 
Elle  so  r&'ärait  elle-meme  ä  une  des  plus  importantes  deci- 
sions  de»  Peres  du  S.  Concile  de  Trente.  C'est  la  gloire  de 
l'Eglise  de  France,  dans  le  siecle  präsent  d'en  avoir  tenu  le 
plus  grand  compte,  puisqu'il  n'est  pas  un  seul  des  94  dio- 
ce*es  dont  eile  se  compose,  qui  ne  soit  dote*  d'un  ou  de 
plusieurs  petits  Säminaires. 

Nous  savons,  V6n6rables  Freres,  de  quelles  sollicitudes 
yous  entourez  ces  institutions  si  justement  cheres  &  votre 
zöle  pastoral,  et  Nous  vous  en  felicitons.  Les  pretres  qui, 
sous  votre  haute  direction,  travaillent  ä  la  formation  de  la 
jeunesse  appel6e  ä  s'enröler  plus  tard  dans  les  rangs  de  la 
milice  sacerdotale,  ne  sauraient  trop  souvent  m6diter  devant 
Dieu  l'importance  exceptionnelle  de  la  mission  que  vous  leur 
confiez.  II  ne  s'agit  pas  pour  eux,  comme  pour  le  commun 
des  maitres,  d'enseigner  simplement  ä  ces  enfants  les  616- 
ments  des  lettres  et  des  sciences  humaines.  Ce  n'est  1&  que 
la  moindre  partie  de  leur  täche.  II  faut  que  leur  attention, 
leur  zöle,  leur  devouement  soient  sans  cesse  en  eveil  et  en 
action,  d'une  part  pour  6tudier  continuellement  sous  le  re- 
gard  et  dans  la  lumiöre  de  Dieu,  les  ämes  des  enfants  et 
les  indices  significatifs  de  leur  vocation  au  service  des  au- 
tels;  de  l'autre,  pour  aider  l'inexpärience  et  la  faiblesse  de 
leurs  jeunes   disciples,   ä.  prot6ger   la  gräce  si  pr6cieuse  de 

l)  Matth.  4,  19. 


Päpstliche  Encyclika  an  den  frans.  Cleruts.  681 

l'appel  divin  coutre  toutes  les  influences  funestes  soit  da 
dehors,  soit  du  dedans.  Us  ont  dono  ä  remplir  un  ministöre 
humble,  laborieux,  dälicat,  qui  exige  nne  constante  abn6ga- 
tion.  Afin  de  sontenir  leur  courage  dans  l'accomplissement 
de  leurs  devoirs,  ils  auront  soin  de  le  retremper  aux  sonrces 
les  plus  pures  de  l'esprit  de  foi.  Ils  ne  perdront  jamais  de 
vue,  qu'ils  n'ont  point  ä  pr6parer  pour  des  fonctions  terres- 
tres,  si  legitimes  et  honorables  soient -elles,  les  enfants  dont 
ils  forment  rintelligence,  le  coeur,  le  caract&re.  L'Eglise 
les  leur  confie  pour  qu'ils  deviennent  capables  un  jour  d'ätre 
des  pretres,  c'est-ä-dire  des  missionnaires  de  l'Evangile,  des 
continuateurs  de  l'ceuvre  de  J&us-Christ,  des  distributeurs 
de  sa  gräce  et  de  ses  sacrements.  Que  cette  consid6ration 
toute  surnaturelle  se  möle  incessamment  ä  leur  double  action 
de  profesBeurs  et  d'6ducateurs,  et  soit  comme  ce  levain  qu'il 
faut  m&anger  au  meilleur  froment,  suivant  la  parabole  evan- 
g&ique,  pour  le  transformer  en  un  pain  savoureux  et  sub- 
stantiel  1). 

Si  la  präoccupation  constante  d'une  premiöre  et  indis- 
pensable formation  ä  l'esprit  et  aux  vertus  du  sacerdoce 
doit  inspirer  les  maitres  de  vos  petita  S6minaires  dans  leurs 
relations  avec  leurs  61öves,  c'est  a  cette  möme  id6e  principale 
et  directrice  que  se  rapporteront  le  plan  des  ätudes,  et  toute 
l'äconomie  de  la  discipline.  Nous  n'ignorons  pas,  V6nerables 
Fröres,  que,  dans  une  certaine  mesure,  vous  etes  Obligos  de 
compter  avec  les  prograinmes  de  PEtat  et  les  conditions 
mises  par  lui  ä  l'obtention  des  grades  universitäres,  puisque, 
dans  un  certain  nombre  de  cas,  ces  grades  sont  exig6s  des 
pr&treg  employös  soit  ä  la  direction  des  collöges  libres,  plac6s 
sous  la  tuteile  des  Eveques  ou  des  Congr6gations  religieuses, 
soit  ä  l'enseignement  supärieur  dans  les  Facultas  catholiques 
que  yous  avez  si  louablement  fondges.  II  est  d'ailleurs  d'un 
int6r£t  souverain,  pour  maintenir  l'influence  du  clergö  sur  la 
soci6t6,  qu'il  compte  dans  ses  rangs  un  assez  grand  nombre 
de  prfttres  ne  le  cädant  en  rien  pour  la  science,  dont  les 
grades  sont  la  constation  officielle,  aux  maitres  que  l'Etat 
forme  pour  ses  lycöes  et  ses  Universitäs. 

0  Hatth.  13,  33. 


682  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

Toutefois,  et  apres  avoir  fait  &  cette  exigence  des  Pro- 
gramm es  la  part  qu'imposent  les  circonstances,  il  faut  qne 
les  6tudes  des  aspirants  au  sacerdoce  demeurent  fideles  aux 
m6thodes  traditionnelles  des  siecles  passes.  Ce  sont  elles  qui 
ont  forme  les  hommes  eminents  dont  l'Eglise  de  France  est 
fiere  ä  si  juste  titre,  les  Patau,  les  Thom assin,  les  Mabillon 
et  tant  d'autres,  sans  parier  de  votre  Bossuet,  appelö  l'aigle 
de  Meaux,  parce  que,  soit  par  F61e>ation  des  pensees,  soit  par 
la  noblesse  du  langage,  son  g6nie  plane  dans  les  plns  su- 
blimes rägions  de  la  science  et  de  l'eloquence  chr6tienne. 
Or,  c'est  Petude  des  belles  lettres  qui  a  puissamment  aidö 
ces  bommes  ä  devenir  de  tres-vaillants  et  utiles  ouvriers  au 
service  de  l'Eglise,  et  les  a  rendus  capables  de  composer  des 
ouvrages  vraiment.  dignes  de  passer  ä  la  posterite  et  qui 
contribuent  encore  de  nos  jours  ä  la  defense  et  ä  la  diffusion 
de  la  verit6  r6v616e.  En  effet,  c'est  le  propre  des  belies 
lettres,  quand  elles  sont  enseignäes  par  des  maitres  chre- 
tiens  et  habiles,  de  dövelopper  rapidement  dans  Farne  des 
jeunes  gens  tous  les  germes  de  vie  intellectuelle  et  morale, 
en  meme  temps  qu'elles  contribuent  ä  donner  au  jugement 
de  la  rectitude  et  de  l'ampleur,  et  au  langage  de  l'^legance 
et  de  la  distinction. 

Cette  consid6ration  acquiert  une  importance  speciale 
quand  il  s'agit  des  litteratures  grecque  et  latine,  d6positaires 
des  chefs-d'oeuvre  de  science  sacree  que  l'Eglise  compte  ä 
bon  droit  parmi  ses  plus  precieux  trfoors.  II  y  a  un  demi- 
siecle,  pendant  cette  periode  trop  courte  de  veritable  liberte, 
durant  laquelle  les  Eveques  de  France  pouvaient  se  reunir 
et  concerter  les  mesures  qu'ils  estimaient  les  plus  propres  ä 
favoriser  les  progres  de  la  religion  et,  du  meme  coup,  les 
plus  profitables  ä  la  paix  publique,  plusieurs  de  vos  Conciles 
provinciaux,  V6ne>ables  Freres,  recommanderent  de  la  facon 
la  plus  expresse  la  culture  de  la  langue  et  de  la  littärature 
latines.  Vos  collegues  d'alors  däploraient  deja  que,  dans 
votre  pays,  la  connaissance  du  latin  tendit  ä  däcroitre  1). 

*)  Porro  liaguam  latinam  apud  nos  obsolescere  nee  quisquam 
est  qui  nesciat,  et  viri  prudentes  conqueruntur.  Discitur  tardisaimc, 
celerrirae  didiscitur  (Litt  Synod.  Patrum  Gons.  Paris,  ad  clericos 
et  fideles,  an  1849,  in  Collectio  Lacensis  Tom.  4,  col.  86). 


Päpstliche  Encyclilca  an  den  franz.  Clerus.  683 

Si,  depuis  pluBieurs  annäes,  les  mäthodes  pädagogiques 
en  rigueur  dans  les  Etablissements  de  l'Etat  röduisent  pro- 
gressiveinent  l'ötude  de  la  langue  latine,  et  suppriment  des 
excercices  de  prose  et  de  po£sie  que  nos  devanciers  estimaient 
ä  bon  droit  devoir  tenir  une  grande  place  dans  les  classes 
des  Colleges,  les  petits  Säminaires  se  mettront  en  garde 
contre  ces  innovations  inspiräes  par  des  präoccupations  uti- 
litaires,  et  qui  tournent  au  dätriment  de  la  solide  formation 
de  1'esprit.  A  ces  anciennes  mäthodes,  tant  de  fois  justiftees 
par  leurs  r&ultats,  Nons  appliquerions  volontiers  le  mot  de 
S.  Panl  ä  son  disciple  Timothäe,  et  avec  l'Apdtre,  Nous  vous 
dirions,  Venörables  Fröres :  «Gardez-en  le  döpöt»  *),  avec  un 
soin  jaloux.  Si  un  jour,  ce  qu'ä  Dieu  ne  plaise,  elles  de- 
vaient  disparaitre  completement  des  autres  äcoles  publiques, 
que  tos  petits  Säminaires  et  Colleges  libres  les  gardent  avec 
une  intelligente  et  patriotique  sollicitude.  Vous  imiterez  ainsi 
les  prStres  de  Jerusalem  qui,  voulant  soustraire  ä  de  bar- 
bares envahisseurs  le  feu  sacre*  du  Temple,  le  cacherent  de 
inaniere  ä  pouvoir  le  retrouver  et  ä  lui  rendre  toute  sa  splen- 
deur,  quand  les  mauvais  jours  seraient  passes8). 

üne  fois  en  possession  de  la  langue  latine,  qui  est  comine 
la  clef  de  la  science  sacräe,  et  les  facultas  de  l'esprit  suffi- 
samment  däveloppäes  par  l'6tude  des  belles  lettres,  les  jeunes 
gens  qui  se  destinent  au  sacerdoce  passent  du  pctit  au  grand 
SSminaire.  Ils  s'y  pr6pareront,  par  la  pi6t6  et  l'exercice  des 
vertus  cl£ricales,  ä  la  räception  des  saints  Ordres,  en  m£nie 
teraps  qu'ils  s'y  livreront  ä  l'ätude  de  la  Philosophie  et  de 
la  Theologie. 

Nous  le  disions  dans  Notre  Encyclique  Aeterni  patris,  dont 
Nous  recommandons  de  nouveau  la  lecture  attentive  ä  vos  s6mi- 
naristes  et  ä  leurs  maitres,  et  Nous  le  disions  en  Nous  appuyant 
sur  rautoritädeS.  Paul :  c'est  par  les  vaines  subtilit6s  de  la  mau- 
vaise  philosophie,  *per philosophiatn  et  inanem  fallaciam,»  8)  que 
l'esprit  des  fideles  se  laisse  le  plus  souvent  tromper,  et  que 
la   purete*   de  la  foi  se  corrompt  parmi  les  hommes.    Nous 

«)  1  Tim.  6,  20. 

a)  U  Mach.  1,  19—22. 

•)  Col.  2,  8. 


684  Jahresbericht  1899.    Boilagen. 

ajoutions,  et  les  ävenements  accomplis  depuis  vingt  ans  out 
bien  tristement  confirme*  les  röflexions  et  les  apprähensions 
que  Nouß  exprimions  alors:  «Si  l'on  falt  attention  aux  con- 
«ditions  critiques  du  temps  oü  noas  vivons,  si  Ton  embrasse 
«par  la  pens6e  l'6tat  des  affaires  tant  publiques  que  priveea, 
«on  decouvrira  sans  peine  que  la  cause  des  maux  qui  nous 
«oppriment,  comme  de  ceux  qui  nous  menacent,  consißte  en 
«ceci  que  des  opinions  erronäes  sur  toutes  choses,  divines 
«et  humaines,  des  6coles  des  philosophes  se  sont  peu  ä  peu 
«glissäes  dans  tout  les  raugs  de  la  sodtete*  et  sont  arrivees 
«&  se  faire  accepter  d'un  grand  nombre  d'esprits.»1) 

Nous  räprouvons  de  nouveau  ces  doctrines  qui  n'ont  de 
la  vraie  Philosophie  que  le  nom,  et  qui,  6branlant  la  base 
m&me  du  savoir  humain,  conduisent  logiquement  au  scepticisrae 
universel  et  ä,  l'irreligion.  Ce  nous  est  une  profonde  donleur 
d'apprendre  que,  depuis  quelques  annäes,  des  catholiques  ont 
cru  pouvoir  se  mettre  ä  la  remorque  d'une  philosophie  qui 
sous  le  spöcieux  prätexte  d'affranchir  la  raison  humaine  de 
toute  id6e  preconc,ue  et  toute  illusion,  lui  d&iie  le  droit  de 
rien  affirmer  au  delft  de  ses  propres  Operations,  sacrifiant  ainsi 
k  un  subjectivisme  radical  toutes  le  certitudes  que  la  nräta- 
physique  traditionelle,  consacr6e  par  rautorite"  des  plus  vigou- 
reux  esprits,  donnait  comme  n6cessaires  et  inäbranlables 
fondements  ä  la  dämonstration  de  l'existence  de  Dien,  de  la 
spiritualite*  et  de  immortalite*  de  l'äme,  et  de  la  r6alit6  objec- 
tive  du  monde  extärieur.  II  est  profondäment  regrettable 
que  ce  scepticisme  doctrinal,  d'importation  Prangere  et  d'ori- 
gine  protestante,  ait  pu  Gtre  accueilli  avec  tant  de  faveur 
dans  un  pays  justement  c&öbre  par  son  amour  pour  la  clarte* 
des  idäes  et  pour  celle  du  langage.  Nous  savons,  V6n6rables 
Freres,  &  quel  point  vous  partagez  lä-dessus  Nos  justes  pre^ 
occupations  et  Nous  comptons  que  vous  rädoublerez  de  solli- 
citude  et  de  rigilance  pour  äcarter  de  l'enseignement  de  vos 
Säminaires  cette  fallacieuse  et  dangereuse  philosophie,  mettant 
plus  que  jamais  en  honneur  les  mäthodes  que  Nous  recom- 
mandions  dans  Notre  Encyclique  pr6cit6e  du  4  aoüt  1879. 

Moins  que  jamais,  &  notre  äpoque,  les  elöves  de  vos  pe- 
tits   et   de   vos   grands    Söminaires   ne   sauraient    demeurer 

x)  Encyclique:  Aeterm  Patris. 


Päpstliche  Encyelika  an  den  franz.  Clerus.  685 

6trangers  ä  l'etude  des  sciences  pbysiques  et  naturelles.  II 
convient  donc  qu'ils  y  soient  appliquäs,  mais  avec  mesure  et 
dans  de  sages  proportions.  II  n'est  dono  nullement  näcessaire 
que,  dans  le  cours  de  sciences,  annexäs  ä  l'6tude  de  la  Philo- 
sophie, les  professeurs  se  croient  obligto  d'exposer  en  detail 
les  applications  presque  innombrables  des  sciences  physiqaes 
et  naturelles  aux  diverses  branches  de  l'industrie  humaine.  U 
suffit  que  leurs  elöves  en  connaissent  avec  pröcision  les  grands 
principes  et  les  conclusions  sommaires,  afin  d'6tre  en  6tat 
de  resoudre  les  objections  que  les  incrädules  tirent  de  ces 
sciences  contre  les  enseignements  de  la  R6v61ation. 

Par  dessus  tout,  il  Importe  que,  durant  deux  ans  au  moins 
les  Kleves  de  vos  grands  Sßniinaires  ätudient  avec  un  soin 
assidu  la  Philosophie  rationnelle,  laquelle,  disait  un  savant 
b6n6dictin,  l'honneur  de  son  ordre  et  de  la  France,  D.  Mabillon, 
leur  sera  d'un  si  grand  secours,  non  seulement  pour  leur  ap- 
prendre  ä  bien  raisonner  et  ä  porter  de  justes  jugements, 
mais  pour  les  mettre  ä  mßme  de  däfendre  la  foi  orthodoxe 
contre  les  arguments  captieux  et  souvent  sophistiques  des 
adversaires.1) 

Yiennent  ensuite  les  sciences  sacräes  proprement  dites, 
ä  savoir  la  Theologie  dogmatique  et  la  Theologie  morale, 
rEcriture  Sainte,  l'Histoire  ecctesiastique  et  le  Droit  Canon. 
Ce  sont  la  les  sciences  propres  au  prötre.  II  en  recoit  une 
premiere  initation  pendant  son  sejour  au  grand  S&ninaire; 
U  devra  en  poursuivre  l'etude  tout  le  reste  de  sa  vie. 

La  Theologie,  c'est  la  science  des  choses  de  la  foi.  Elle 
s'alimente,  nous  dit  le  pape  Sixte-Quint,  a  ces  sources  tou- 
jours  jaillissantes  qui  sont  les  Saintes  Ecritures,  les  däcisions 
des  Papes,  les  decrets  des  Conciles.2) 

Appelee  positive  et  spekulative,  ou  scolastique,  suivant 
la  mäthode  qu'on  emploie  pour  l'6tudier,  la  Theologie  ne  se 
borne  pas  ä  proposer  les  v6rit6s  ä  croire;  eile  en  scrute  le 
fond  intime,  eile  en  montre  les  rapports  avec  la  raison  hu- 
maine, et  ä  l'aide  des  ressources  que  lui  fournit  la  vraie  Phi- 
losophie, eile  les  explique,  les  developpe,  et  les  adapte  exac- 

*)  De  Studiis  Monaslicis  Part.  II.  c.  9. 
*)  Goost.  Apost.  «Triuojphantis  Jerusalem». 


686  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

tement  ä  tous  les  besoins  de  la  defense  et  de  la  propagation 
de  la  foi.  A  l'instar  de  Bel6s6el,  ä  qni  le  Seigncur  avait 
donne*  8on  esprit  de  sagesse,  d'intelligence  et  de  science,  en 
lui  confiant  la  mission  de  bätir  son  Temple,  le  theologien 
«taille  les  pierres  precieuses  des  divins  dogmes,  les  assortit 
«avec  art,  et  par  l'encadrement  dans  lequel  il  les  place  en 
«fait  ressortir  Peclat,  le  charrae  et  la  beautß».1) 

C'est  donc  avec  raison  qne  le  m&me  Sixte-Quint  appelle 
cette  thäologie  (et  il  parle  specialement  ici  de  la  theologie 
scolastique)  nn  don  du  ciel  et  dem  and  e  qu'elle  soit  main- 
tenue  dans  les  ecoles  et  cultivöe  avec  une  grande  ardeur, 
comme  etant  ce  qu'il  y  a  de  plus  fructueux  pour  l'Eglise.*) 

Est-il  besoin  d'ajouter  que  le  livre  par  excellence  oü  les 
Kleves  pourront  Studier  avec  plus  de  profit  la  theologie  sco- 
lastique,  est  la  somme  theologique  de  S.  Thomas  d'Aqüin? 
Nous  vonlons  donc  qne  les  professeurs  aient  soin  d'en  expli- 
quer  &  tons  leurs  Kleves  la  mäthode,  ainsi  que  les  principaux 
articles  relatifs  ä  la  foi  catholique. 

Nons  recommandons  6galement  que  tous  les  Säminaristes 
aient  entre  les  mains  et  relisent  sonvent  le  livre  d'or,  connu 
sou8  le  nom  de  Catächisme  du  S.  Concile  de  Trente  ou  Cate- 
chisme  romain,  dödie  ä  tous  les  pretres  investis  de  la  Charge 
pastorale  (Chatechismus  ad  parochos).  Remarquable  ä  la  fois 
par  la  richesse  et  l'exactitude  et  la  doctrine  et  par  l'elegance 
du  style,  ce  catöchisme  est  un  precieax  abrege*  de  tonte  la 
theologie  dognjatique  et  morale.  Qui  le  possederait  &  fond. 
aurait  toujours  &  sa  disposition  les  resources  &  l'aide  des- 
quelles  un  pretre  peut  prßcher  avec  fruit,  s'aequitter  digne- 
ment  de  l'important  ministere  de  la  confession  et  de  la  di- 
rection  des  ämes,  et  etre  en  etat  de  refuter  victorieusement 
les  objeetions  des  incredules. 

Au  sujet  de  l'etude  des  Saintes  Ecritures,  Nous  appelons 
de  nouveau  votre  attention,  Venärables  Freres,  sur  les  en- 
8eignements   que  Nous  avons   donnes   dans  Notre  Encyclique 


*)  Pretiosas  divini  dogmatis  geminas  insculpe,  fideliter  coapta, 
adorna  sapienter;  adiiee  splendorem,  gratiam,  venustatem.  (S.  Vinc. 
Lir.  Commonit.  c.  2). 

ft)  M6me  Constitution. 


Päpstliche  Eocyclika  an  den  franz.  Giema.  687 

Providentissimus  Deus1)  dont  Nous  däsirons  que  les  Profes- 
sears donnent  connaissance  ä  leurs  disciples,  en  y  ajoutant 
les  explications  n6cessaires.  Ils  les  mettront  specialement  en 
garde  contre  des  tendances  inquiötantes  qui  chercbent  ä  s'in- 
troduire  dans  Interpretation  de  la  Bible,  et  qui,  si  elles  ve- 
naient  ä  prövaloir,  ne  tarderaient  pas  ä  en  ruiner  Inspira- 
tion et  le  caractere  snrnaturel.  Sons  le  späcieux  prätexte 
d'enlever  aux  adversaires  de  la  parole  r§v6l6e  l'usage  d'ar- 
guments  que  semblaient  irröfutables  contre  Pauthenticite*  et  la 
väracitä  des  Livres  Saints,  des  ecrivains  catboliqaes  ont  cru 
tres-habile  de  prendre  ces  argumenta  ä  leur  compte.  En  vertu 
de  cette  Strange  et  pärilleuse  tactique,  ils  ont  travaill6;  de 
leurs  propres  mains,  ä  faire  des  brecbes  dans  les  murailles 
de  la  cite*  qu'ils  avaient  mission  de  döfendre.  Dans  Notre 
Encyclique  pr6cit6e,  ainsi  que  dans  uo  autre  documenta), 
Nous  avons  fait  justice  de  ces  dangereuses  temeritäs.  Tout 
en  encourageant  nos  ex£getes  ä  se  tenir  an  courant  des 
progres  de  la  critique,  Nous  avons  fermement  maintenu  les 
principes  sanctionn6s  en  cette  matiere  par  Pautorit6  tradi- 
tio nnelle  des  Peres  et  des  Conciles,  et  renouvelös  de  nos 
jours  par  le  Concile  du  Vatican. 

L'histoire  de  l'Eglise  est  comme  un  miroir,  oü  resplendit 
la  vie  de  l'Eglise  a  travers  les  siecles.  Bien  plus  encore  que 
l'histoire  civile  et  profane,  eile  demontre  la  souveraine  liberte" 
de  Dieu  et  son  action  providentielle  sur  la  marche  des 
e>enements.  Ceux  qui  l'ötudient  ne  doivent  jamais  perdre 
de  vue  qu'elle  renferme  un  ensemble  de  faits  dogrnatiques, 
qui  s'imposent  ä  la  foi  et  qu'il  n'est  permis  ä  personne  de 
rävoquer  en  doute.  Cette  id6e  directrice  et  surnaturelle  qui 
präside  aux  destinees  de  l'Eglise  est  en  m6me  temps  le  flam- 
beau  dont  la  lumiere  Gclaire  son  histoire.  Tontefois,  et  parce 
que  l'Eglise,  qui  continue  parmi  les  hommes  la  vie  du  Verbe 
incarnä,  se  compose  d'un  616ment  divin  et  d'un  616ment 
humain,  ce  dernier  doit  £tre  expose*  par  les  maitres  et  ätudiä 


*)  18  Nov.  1893. 

a)  «Genus  interpretandi  audax  atque  immodice  liberum»  (Lettre 
au  Mioistre  General  des  Fr6res  Mineurs,  25  Nov.  1898). 


688  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

par  les  616 ves  avec  une  grande  probite\  Comme  il  est  dit  an 
livre  de  Job,  «Dieu  n'a  pas  besoin  de  nos  mensonges»  x). 

L'historien  de  l'Eglise  sera  d'aatant  plus  fort  pour  faire 
ressortir  son  origine  divine,  supärieure  ä  tout  concept  d'ordre 
purement  terrestre  et  naturel,  qn'il  aura  6t6  plus  loyal  ä  ne 
rien  dissimuler  des  öpreuves  que  les  fautes  de  ses  enfants, 
et  parfois  mSme  de  ses  ministres,  ont  fait  sabir  a  cette 
Epouse  du  Christ  dans  le  cours  des  siecles.  Etudiäe  de  cette 
fagon,  l'histoire  de  l'Eglise,  a  eile  tonte  Beule,  constitue  une 
magnifiqne  et  concluante  d6monstration  de  la  vörite*  et  de  la 
divinite"  du  Christianisme. 

Enfin,  pour  achever  se  cycle  des  ätudes  par  lesquelles 
les  candidats  au  sacerdoce  doivent  se  präparer  a  leur  futur 
ministöre,  il  faut  mentionner  le  Droit  canonique,  ou  science 
des  bis  et  de  la  jurisprudence  de  l'Eglise.  Cette  science  se 
rattache  par  des  liens  tres-intimes  et  tres-logiques  a  celle  de 
la  Theologie,  dont  eile  montre  les  applications  pratiques  ä 
tont  ce  qni  concerne  le  gouvernement  de  l'Eglise,  la  dispen- 
sation  des  choses  saintes,  les  droits  et  les  devoirs  de  ses 
ministres,  l'usage  des  biens  temporeis,  dont  eile  a  besoin  pour 
l'accomplissement  de  sa  mission.  «Sans  la  connaissance  du 
«Droit  canonique  (disaient  fort  bien  les  Peres  d'un  de  tos 
«conciles  provinciaux)  la  thäologie  est  imparfaite,  incomplete, 
«semblable  ä  un  homme  qui  serait  prive*  d'un  bras.  C'est 
«l'ignorance  du  droit  canon  qui  a  favorise"  la  naissance  et 
«la  diöusion  de  nombreuses  erreurs  sur  les  droits  des  Pon- 
«tifes  Romains,  sur  ceux  des  e>6ques,  et  sur  la  poissance 
«que  l'Eglise  tient  de  sa  propre  Constitution,  dont  eile  pro- 
«portionne  l'exercice  aux  circonstances»  *). 

Nous  räsumerons  tout  ce  que  Nous  venons  de  dire  sur 
tos  petits  et  vos  grands  Söminaires  par  cette  parole  de 
S.  Paul,  que  Nous  recommandons  ä  la  fräquente  m&litation 
des  maitres  et  des  Kleves  de  vos  athenäes  eccleaiastiques : 
«0  Timoth^e,  gardez  avec  soin  le  d6pot  qui  vous  a  6te* 
«confie\  Fuyez  les  profanes  nouveautäs  de  paroles  et  les 
«objections    qui  ce  couvrent  du   faux  nom   de   science; 


')  Ntmquid  Beut  indiget  vestro  mendacio?  (lob.  XIII,  77). 
*)  Theologicarum  doctrinarum  solidae  acientiae  coniungi  debct 
Sacrorum  Ganonum  cognitio...  sine  qua  theologia  erit  imperfecta  et 


Päpstliche  Encyclika  an  den  franz.  Clerus.  689 

«tone  ceux  qni  en  ont  fait  profession,  ont  err6  au  sujet  de 
da  fol»  '). 

C'est  ä  vous  maintenant,  träs-chers  Fils,  qui,  ordonnes 
prfetres,  fites  devenus  les  coopärateurs  de  vos  Evfiques,  c'est 
a  vous  que  Nous  voulons  adresser  la  parole.  Nous  connaissons, 
et  le  monde  entier  connait  comme  Nous,  les  qualitäs  qui  vous 
distinguent.  Pas  une  bonne  oeuvre  dont  vous  ne  soyez  ou  les 
inspirateurs  ou  les  apötres.  Dociles  aux  conseils  que  Nous 
avons  donnäs  dans  Notre  Encyclique  Herum  Novarum,  vous 
allez  au  peuple,  aux  ouvriers,  aux  pauvres.  Vous  cherchez 
par  tous  les  moyens  ä  leur  venir  en  aide,  ä  les  moraliser  et 
a  rendre  leur  sort  moins  dur.  Dans  ce  but,  vous  provoquez 
des  räunions  et  des  congr&s;  vous  fondez  des  patronages, 
des  cercles,  des  caisses  rurales,  des  bureaux  d'assistance  et 
de  placement  ponr  les  travailleurs.  Vous  vous  ingäniez  a 
introduire  des  räformes  dans  l'ordre  äconomique  et  social,  et 
pour  nn  si  difficile  labeur  vous  n'häsitez  pas  ä  faire  de 
notables  sacrifices  de  temps  et  d'argent.  C'est  encore  pour 
cela  que  vous  öcrivez  des  livres  ou  des  articles  dans  les 
journaux  et  les  revues  päriodiques.  Toutes  ces  choses,  en  elles- 
m&nes,  sont  trös  louables  et  vous  y  donnez  des  preuves  non 
äquivoques  de  bon  vouloir,  d'in teiligen  t  et  g6n6reux  dävoue- 
ment  aux  besoins  les  plus  pressants  de  la  sociätä  contera- 
poraine  et  des  ämes. 

Toutefois,  trös-chers  Fils,  Nous  croyons  devoir  appeler 
paternellement  votre  attention  sur  quelques  principes  fonda- 
mentaux,  auxquels  vous  ne  manquerez  pas  de  vous  conformer, 
si  vous  voulez  que  votre  action  soit  reellem ent  fructueuse 
et  föconde. 

Sonvenez-vous  avant  tonte  chose  que,  pour  6tre  profi- 
table au  bien  et  digne  d'etre  louö,  le  zele  doit  &tre  «accom- 


qaasi  manca,  nee  non  multi  errores  de  Romani  Pontificis,  epis- 
coporum  iuribus  ac  praesertim  de  potestate  quam  Ecclesia  iure 
proprio  exereuit,  pro  varietate  temporura,  forsitan  serpeut  el  paula- 
tim  invalescent  (Gonc.  prov.  Bitur.  a.  1868). 

')  0  Timothce,  depositum  custodi,  devitans  profanas  vocum 
novit at es,  et  oppositiones  falsi  nominis  scientiae,  quam  quidam 
prominentes,  circa  fidem  exciderunt  (I  Tim.  VI,  20—21). 

44 


690  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

pagne  de  discretion,  de  rectitude  et  de  purete».  Ainsi  s'ex- 
prime  le  grave  et  judicieux  Thomas  a  Kempis1).  Avant  lui, 
S.  Bernard,  la  gloire  de  votre  pays  au  douzieme  siecle,  cet 
apötre  infatigable  de  toutes  les  grandes  causes  qui  touchaient 
ä  l'honneur  de  Dieu,  aux  droits  de  l'Eglise,  au  bien  des  ämes, 
n'avait  pas  craint  de  dire  que  «säpare  de  la  science,  et  de 
«resprit  de  discernement  ou  de  discretion,  le  zele  est  in- 
«supportable  ....  que  plus  le  zele  est  ardent,  plus  il  est 
«necessaire  qu'il  soit  accompagne  de  cette  discretion  qui 
«met  l'ordre  dans  l'exereice  de  la  charitä  et  sans  laquelle 
«la  vertu  elle-meme  peut  devenir  un  defaut  et  un  principe 
«de  dösordre»2). 

Mais  la  discretion  dans  les  oeuvres  et  dans  le  choix  des 
moyens  pour  les  faire  reussir  est  d'autant  plus  indispensable 
que  les  temps  präsents  sont  plus  troubles  et  herisses  de 
difficultäs  plus  nombreuses.  Tel  acte,  teile  mesure,  teile 
pratique  de  zele  pourront  6tre  excellents  en  eux-meuies,  les- 
quels,  vu  les  circonstances,  ne  produiront  que  des  resultats 
fächeux.  Les  prltres  e>iteront  cet  inconvönient  et  ce  malheur 
si,  avant  d'agir  et  dans  l'action,  ils  ont  soin  de  se  conformer 
ä  l'ordre  etabli  et  aux  regles  de  la  diseipline.  Or,  la  dis- 
cipline  ecclesiastique  exige  l'union  entre  les  divers  membres 
de  la  hiärarchie,  le  respect  et  l'ob&ssance  des  inferieurs  ä 
l'egard  des  superieurs.  Nous  le  disions  naguäres  dans  Nos 
lettres  ä  l'Archeveque  de  Tours:  «L'&iifice  de  l'Eglise,  dont 
«Dieu  lui-meme  est  l'architecte,  repose  sur  un  tres-visible 
«fondement,  d'abord  sur  l'autorite  de  Pierre  et  de  ces 
«Successeurs,  mais  aussi  sur  les  Apötres,  et  les  Successeurs 
«des  Apötres,    qui   sont     les    Eveques ;     de  teile   sorte  que, 


1)  Zelus  animarum  laudandus  est  si  sit  discretus,  rectus  et  purus. 

2)  Importabilis  siquidem  absque  seien tia  est  zelus .. .  Quo  igitur 
zelus  fervidior  ac  vehementior  Spiritus,  profusiorque  charitas,  eo 
vigilantiori  opus  scientia  est  quae  zeluni  supprimat,  spiritum  tem- 
peret, ordinet  charitatem . . .  Tolle  hanc  (discretiouem)  et  virtus  Vitium 
erit,  ipsaque  affectio  naturalis  in  perturbationem  magis  convertetur 
exterminiumque  naturao  (S.  Bern.  Senn.  XLIX  in  Gant.  n.  5). 


Päpstliche  Encycllka  au  den  franz.  Geras.  691 

«Scouter  lenr   voix  ou  la  mepriser,  Squivaut  ä  ecouter  ou  a 
«mepriser  J£sus-Christ  lui-m6me»  *)». 

Ecoutez  donc  les  paroles  adressäes  par  le  grand  martyr 
d'Antioche,  St.  Ignace,  au  clergö  de  Peglise  primitive:  «Que 
«tous  ob&ssent  a  leur  Eveque  comme  Jesus-Christ  a  obei 
«a  son  Pere.  Ne  faites  en  dehors  de  votre  Eveque  rien  de 
<ce  qui  touche  au  Service  de  PEglise,  et  de  meine  que 
«Notre  Seigneur  n'a  rien  fait  que  dans  une  ätroite  union 
«avec  son  Pere,  yous,  prßtres,  ne  faites  rien  sans  votre 
«Evfcque.  Que  tous  les  membres  du  corps  presbyte>al  lui 
«soient  unis,  de  meme  que  sont  unies  ä  la  harpe  toutes  les 
«cordes  de  l'instrument.»  *) 

Si,  au  contraire,  vous  agissiez  comme  pr&tres,  en  dehors 
de  cette  soumission  et  de  cette  union  ä  vos  Eveques  Nous 
vous  r6p6terions  ce  que  disait  Notre  prödecesseur  Gregoire 
XVI,  ä  savoir  que,  «autant  qu'il  dopend  de  votre  pouvoir, 
«vous  dätruisez  de  fond  en  comble  Tordre  6tabli  avec  une  si 
«sage  prevoyance  par  Dien,  auteur  de  PEglise»  8). 

Souvenez-vous  encore,  Nos  chers  fils,  que  l'Eglise  est 
avec  raison  comparäe  ä  une  armee  rangöe  en  bataille,  sieut 
tastrorum  acies  ordinata4),  parce  qu'elle  a  pour  mission  de 
combattre  les  ennemis  visibles  et  invisibles  de  Dieu  et  des 
ämes.    Voila  pourquoi  S.  Paul  recommandait  ä  Timothee  de 


J)  Divinum  quippe  acdifieium,  quod  esl  Ecclesia,  verissime 
nititur  in  fundamento  conspicuo,  priraum  quidem  in  Petro  et  Suo 
cessoribus  ejus,  proxima  in  Apostolis  et  Successoribus  eorum,  Epis- 
copis,  quos,  qui  audit  vel  spernit,  js  perinde  facit  ac  si  audiat  vel 
spernat  Christum  Dominum  (Epist.  ad  Arch.  Turon.). 

*)  Omnes  episcopum  sequimini  ut  Christus  lesus  Patrem.  Sine 
episcopo  nemo  quidqaam  faciat  eorum  quae  ad  Ecclesiam  spectant 
(S.  Ign.  Ant.  Ep.  ad  Smyrn.  8).  Quemadmodum  itaque  Dominus 
sine  Patre  nihil  fecit....  sie  et  vos  sine  episcopo  (idem  ad  Magn.  VII). 
Vestrum  presbyterium  ita  coaptatum  sit  Episcopo  ut  chordae  citharae 
(idem  ad  Ephes.  IV). 

8)  Quantum  in  vobis  est,  ordinem  ab  auetore  Ecclesiae  Deo  pro- 
videntissime  constitutum,  funditus  evertitis  (Greg.  XVI,  Epist  Encycl. 
15  Aug.  1832). 

4)  Caut.  6.  3. 


692  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

se  comporter  «comme  un  bon  soldat  du  Christ  Jesus». *)  Or„ 
ce  qui  fait  la  force  d'une  armee  et  contribue  le  plus  ä  la 
victoire,  c'est  la  discipline,  c'est  l'ob&ssance  exacte  et  ri- 
goureuse  de  tous,   ä  ceux   qui  ont  la  Charge  de  Commander. 

C'est  bien  ici  que  le  zele  intempestif  et  sans  discreiion 
peut  aisement  devenir  la  cause  de  veritables  desastres.  Rap- 
pelez-vous  un  des  faits  les  plus  memorables  de  l'histoire 
sainte.  Assurement,  ils  ne  inanquaient  ni  de  courage,  ni  de 
bon  vouloir,  ni  de  devouement  a  la  cause  sacree  de  la  re- 
ligion,  ces  pretres  qui  s'&aient  groupes  autour  de  Judas 
Machabäe  pour  combattre  avec  lui  les  ennemis  du  vrai  Dien, 
les  profanateurs  du  temple,  les  oppresseurs  de  leur  nation. 
Toutefois,  ayant  voulu  s'affranchir  des  regles  de  la  discipline,. 
ils  s'engagerent  tämerairement  dans  un  combat  oü  ils  furenl 
vaincus.  L'Esprit-Saint  nous  dit  d'eux  «qu'ils  n'etaient  pas 
de  la  race  de  ceux  qui  pouvaient  sauver  Israel».  —  Pour- 
quoi?  parce  qu'ils  avaient  voulu  n'obeir  qu'ä  leura  propres 
inspirations  et  s'ätaient  jetes  en  avant  sans  attendre  les 
ordres  de  leurs  chefs.  In  die  illa  ceciderunt  sacerdotes  in 
hello  dum  volunt  foriiter  facere  dum  sine  consllio  exeunt  in 
praelium.  Ipsi  autem  non  erant  de  semine  virorum  iüorumy 
per  quos  salus  facta  est  in  Israel  i) 

A  cet  egard  nos  ennemis  peuvent  nous  servir  d'exemple,. 
Ils  savent  tres-bien  que  l'union  fait  la  force,  «vis  unita  for- 
tiori ;  aussi  ne  manquent-ils  pas  de  s'unir  etroitement,  des 
qu'il  s'agit  de  combattre  la  sainte  Eglise  de  Jäsus-Christ. 

Si  donc,  Nos  chers  Fils,  comme  tei  est  certainement  votre 
cas,  Tous  desirez  que,  dans  la  lutte  formidable  engagee 
contre  l'Eglise  par  les  sectes  antichretiennes  et  par  la  eile 
du  demon,  la  victoire  reste  a  Dieu  et  a  son  Eglise,  il  est 
d'une  absolue  näcessitä  que  vous  combattiez  tous  ensembler 
en  grand  ordre  et  en  exacte  discipline,  sous  le  comman- 
dement  de  vos  chefs  hiärarchiques.  N'ecoutez  pas  ces  hom- 
mes  neTastes  qui,  tout  en  se  disant  chrätiens  et  catholiques, 
jettent  la  zizanie   dans  le  champ  du  Seigneur    et  sement  la 


*)  IL  Tim.  2,  3. 

»)  I.  Mach.  5,  67.  62. 


Päpstliche  Eneyclika  an  den  fanz.  Clerus.  698 

division  dans  son  Eglise  en  attaquant,  et  souvent  m6me,  en 
«alomniant  les  Ev&ques,  «ätablis  par  l'Esprit  saint  pour  regir 
«PEglise  de  Dien.»  l)  Ne  lisez  ni  leurs  brochures,  ni  leurs 
journaux.  Un  bon  prätre  ne  doit  autoriser  en  aucune  ma- 
niere  ni  leurs  id6ea,  ni  la  licence  de  lenr  langage.  Pourrait- 
il  jainais  oablier  que,  le  joar  de  son  Ordination,  il  a  solen- 
nellement  promis  ä  son  Evgque,  en  face  des  saints  autels, 
<obedi  enttarn  et  reverentiatn»  ? 

Par  dessus  tout,  Nos  chers  Fils,  rappelez-vous  qne  la 
Kondition  indispensable  da  vrai  zele  sacerdotal  et  le  meilleur 
£age  de  succes  dans  les  oeuvres  auxquelles  l'obäissance 
hierarchiqae  vons  consaore,  c'est  la  puretä  et  la  saintetö  de 
la  vie.  «J6sus  a  commencö  p&r  faire,  avant  d'enseigner>  2). 
Comme  lui,  c'est  par  la  prödication  de  l'exemple  que  le  pretre 
doit  preluder  ä  la  prädication  de  la  parole.  «Separös  du 
«siecle  et  de  ses  affaires  (disent  les  Peres  du  S.  Concile  de 
«Trente),  les  clercs  ont  6t6  places  ä  nne  hauteur  qui  les  met 
«en  evidence,  et  les  fideles  regardent  dans  leur  vie  comme 
«dans  an  rairoir  pour  savoir  ce  qu'ils  doivent  imiter.  C'est 
«pourquoi  les  clercs,  et  tous  ceux  que  Dieu  a  specialement 
«appeläs  ä  son  service,  doivent  sibien  rögler  leurs  actions  et 
«leurs  mcenrs  que  dans  leur  maniere  d'Stre,  leurs  mouvements, 
«leurs  demarches,  leurs  paroles  et  tous  les  autres  dätails  de 
«leur  vie,  il  n'y  ait  rien  qui  ne  soit  grave,  inodeste,  profonde- 
«ment  empreint  de  religion.  Ils  öviteront  avec  soin  les 
«fautes  qui,  legeres  chez  les  autres,  seraient  tres-graves  pour 
«eux,  afin  qu'il  n'y  ait  pas  un  seul  de  leurs  actes  qui  n'in- 
«spire  a  tous  le  respect»  *). 

i)  Act  20,  28. 

*)  Act.  1.  1. 

')  Cum  eoim  a  rebus  saeculi  in  altiorem  sublati  locum  con- 
spiciantur,  in  eos  tanquam  in  speculum  reliqui  oculos  coniiciunt  ex 
iisque  sumunt  quod  imitentur.  Quapropter  sie  decet  oinnino  cleri- 
cos,  in  sortem  Domini  vocatos,  vi  tarn  moresque  suos  omnes  com- 
ponere,  ut  habitu,  geslu,  inecssu,  sermone,  aliisque  omnibus  rebus, 
nil  nisi  grave,  moderatum,  ac  religione  plenura  prae  se  ferant; 
levia  etiam  delicta,  quae  in  ipsis  maxima  essent,  effugiant,  ut 
*orum  actiones  eunetis  affer  an  t  venera  tionem  (S.  Conc.  Trid.  Sess. 
XX([  de  Reform,  c.  1). 


694  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

A  ces  recoinmandations  du  saint  Concile,  que  Nous  vou- 
drions,  Nos  chers  Fils,  graver  dans  tous  vos  coeurs,  man- 
queraient  assurement  les  pretres  qui  adopteraient  dans  leurs 
predications  un  Jangage  peu  en  harmonie  avec  la  dignite  de 
leur  sacerdoce  et  la  saintete*  de  la  parole  de  Dien;  qui  as- 
sisteraient  ä  des  r6unions  populaires  oü  leur  presence  ne 
servirait  qu'ä  exciter  les  passioos  des  impies  et  des  ennemis 
de  l'Eglise,  et  les  exposerait  eux-meines  aux  plus  grossieres 
inj u res,  sans  profit  pour  personne  et  au  grand  ätonnement, 
ßinon  au  scandale  des  pieux  fideles ;  qui  prendraieot  les  habi- 
tudes,  les  manieres  d'etre  et  d'agir,  et  l'esprit  des  säculiers. 
Assuröment,  le  sei  a  besoin  d'etre  melange  ä  la  inasse  qu'il 
doit  pröserver  de  la  corruption,  en  meine  temps  que  lui- 
meme  se  däfend  contre  eile,  sons  peine  de  perdre  toute  sa- 
veur  et  de  n'etre  plus  bon  ä  rien,  qu'ä  etre  jet6  dehors  et 
foule"  aux  pieds  *)• 

De  m&ine,  le  pretre,  sei  de  la  terre,  dans  son  contact 
Obligo  avec  la  sociäte  qui  l'entoure,  doit-il  conserver  Ja  mo- 
destie,  la  gravi te,  la  saintete*  dans  son  maintien,  ses  actes, 
ses  paroles,  et  ne  pas  se  laisser  envahir  par  la  legerete\  la 
dissipation,  la  vanitä  des  gens  du  monde.  II  faut,  au  con- 
träire,  qu'au  inilieu  des  horames  il  couserve  son  äme  si  unie 
ä  Dien,  qu'il  n'y  perde  rien  de  l'esprit  de  son  saint  6tat  et 
ne  soit  pas  contraint  de  faire  devant  Dieu  et  devant  sa 
conscience  ce  triste  et  humiliant  aveu :  «tont es  les  fois  que 
j'ai  6t6  parini  les  laiques,  j'en  suis  revenu  moins  pretre». 

Ne  serait-ce  pas  pour  avoir,  par  un  zele  presomptueux, 
mis  de  cote"  ces  regles  traditionnelles  de  la  discr&ion,  de  la 
modestie,  de  la  prudence  sacerdotales,  que  certains  pretres 
traitent  de  surannes,  d'incouipatibles  avec  les  besoins  du 
ministere  dans  le  temps  oü  nous  vivons,  les  principes  de 
discipline  et  de  conduite  quMls  ont  recus  de  leurs  maitres  du 
grand  säniinaire?  On  les  voit  aller,  comme  d'instinct,  au 
devant  des  innovations  les  plus  perilleuses  de  langage,  d'al- 
lures,  de  relations.  Plusieurs  helas!  engages  t6merairement 
sur  des  pentes  glissantes,  oü  par  eux-memes  ils  n'avaient  pas 

*)  Matth.  5,  13. 


Päpstliche  Encyclika  an  den  franz.  Clerus.  695 

la  force  de  se  retenir,  mäprisant  les  avertisseinents  chari- 
tables  de  leurs  supärieurs  ou  de  leurs  confreres  plus  anciens 
et  plus  expe>iment£s,  ont  ab'outi  ä  des  apostasies  qui  ont 
rejoui  les  adversaires  de  l'Eglise  et  fait  verser  des  larmes 
bien  amöres  ä  leurs  Eveques,  ä  leurs  freres  dans  le  sacer- 
doce  et  aux  pieux  fideles.  S.  Augustin  nous  le  dit :  «Plus 
«on  uiarche  avec  force  et  rapiditä,  quand  on  est  en  dehors 
«du  bon  chemin,  et  plus  on  s'ägare»  1). 

Assurement,  il  y  a  des  nouveautäs  avantageuses,  propres 
ä  faire  avancer  le  royaume  de  Dieu  dans  les  ämes  et  dans 
la  soci6te\  Mais,  nous  dit  le  saint  Evangile  2),  c'est  au  Pere 
de  famille,  et  non  aux  enfants,  ou  aux  ser  vi  teurs,  qu'il  ap- 
partient  de  les  examiner  et,  s'il  le  jage  a  propos,  de  leur 
donner  droit  de  cite,  ä  cote  des  usages  anciens  et  ve*ne>ables 
qui  composent  l'autre  partie  de  son  trösor. 

Lorsque  nagu&re  Nous  remplissions  le  devoir  aposto- 
lique  de  mettre  les  catholiques  de  l'Araerique  du  Nord  en 
garde  contre  des  innovations  tendant,  entre  autres  choses,  k 
substituer  aux  principes  de  perfection  consacräs  par  Ten- 
seignement  des  docteurs  et  par  la  pratique  des  saints,  des 
maximes  ou  des  regles  de  vie  inorale  plus  ou  moins  impr6- 
gnees  de  ce  naturalisme  qui,  de  nos  jours,  tend  ä  p£.n6trer 
partout,  Nous  avons  hauteinent  proclame  que,  loin  de  räpu- 
dier  et  de  rejeter  en  bloc  les  progres  accoinplis  dans  les 
temps  präsents,  Nous  voulions  accueillir  tres-volontiers  tout 
ce  qui  peut  augmenter  le  patrimoine  de  la  science  ou  g6n6- 
raliser  davantage  les  conditions  de  la  prospärite'  publique. 
Mais  Nous  avions  soin  d'ajouter  que  cos  progr&s  ne  pouvaient 
6er vir  efficacement  la  cause  du  bien,  si  Ton  mettait  de  cote 
la  Bage  autorite*  de  l'Eglise. 3) 

*)  Enarr.  in  Ps.  31,  n.  4. 

*)  Matth.  13,  52. 

3)  Abest  profecto  a  Nobis  ut  quaecuroque  horum  tcraporum 
iogenium  parit,  omnia  repudiemus.  Quin  potius  quidquid  indagando 
veri  aut  enitcndo  boni  attingitur,  ad  Patrimonium  doctrinae  augen- 
dum  publicaeque  prosperitatis  fines  proferendos,  libeotibus  sane 
Nobis  accedit.  Id  tarnen  omne,  ne  solidae  utilitatis  sit  expers,  esse 
ac  vigere  nequaqua,  debet  Ecclesiae  auctoritate  sapientiaque  post- 
habita  (Epist.  ad  S.  R.  E.  Prebyt.  Card.  Gibbons  Archiep.  Baitimor., 
die  22  Jan.  1899}. 


696  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

En  terminant  ces  lettre«,  il  Nous  plait  d'appliquer  au 
clergö  de  France  ce  que  Nous  6crivions  jadis  aax  prfctres 
de  Notre  diocese  de  Pörouse.  Nous  reproduisons  ici  une 
partie  de  la  Lettre  pastorale  que  Nous  leur  adressions  le 
19  juiUet  1866. 

«Nous  demandons  aux  eccläsiastiques  de  notre  diocese 
«de  r6fl6chir  särieusement  sur  leurs  sublimes  Obligation«, 
«sur  les  circon8tances  difficiles  que  nous  traversons,  et  de 
«faire  en  sorte  que  leur  conduite  soit  en  harmonie  avec 
«leurs  devoirs  et  toujours  conforme  aux  regles  d'un  zele 
«äclaire  et  prudent.  Ainsi  ceux-la  m&me  qui  sont  nos 
«ennemis  chercheront  en  vain  des  motifs  de  reproche  et  de 
«blame :  qui  ex  adverso  est,  vereatur  nihil  Habens  tnalum 
<dicere  de  ndbis  *).> 

«Bien  que  les  difftcultäs  et  les  pe>ils  se  multiplient 
«de  jour  en  jour,  le  prätre  pieux  et  fervent  ne  doit  pas 
«pour  cela  se  däconrager;  il  ne  doit  pas  abandonner  ses 
«devoirs ,  ni  m&me  s'arr&ter  dans  l'acomplissement  de  la 
«mi8sion  spirituelle  qu'il  a  recue  pour  le  bien,  pour  le  salut 
«de  l'huinanite  et  pour  le  maintien  de  cette  auguste  religion 
«dont  il  est  le  häraut  et  le  ministre.  Oar  c'est  surtout  dans 
«les  difficnltäs,  dans  les  epreuves  que  sa  vertu  s'affirme  et 
«se  fortifie:  c'est  dans  les  plus  grands  malheurs,  au  milieu 
«des  transformations  politiques  et  des  bouleversements  so- 
«ciaux ,  que  l'action  bienfaisante  et  civilisatrice  de  son 
«ministöre  se  manifeste  avec  plus  d'äclat.» 

«  ,  .  .  .  Pour  en  venir  a  la  pratique,  nous  trouvons 
«un  enseignement  parfaitement  adaptä  aux  circonstancee 
«dans  les  quatre  maximes  que  le  grand  apötre  S.  Paul 
«donnait  ä  son  disciple  Tite.  En  toutes  choses,  donnez  le 
«bon  exemple  par  vos  cßuvres,  par  votre  doctrine,  par  l'in- 
«t6grit6  de  votre  vie,  par  la  gravitä  de  votre  conduite,  en 
«ne  faisant  usage  que  de  paroles  saintes  et  irreprähensibles*). 


*)  Tit.  11,  8. 

*)  In  omnibus  tcipsum  praebe  exemplum  bonorum  operum,  m 
doctrina,  in  integritate,  in  gravitate,  verbutn  Sanum,  irreprehensibüe. 
(Tit.  II,  7—8). 


Päpstliche  Encyclika  an  den  franz.  Clerus.  697 

«Nora  voudrion8   que  chacan  des    membres  de   notre  clergö 
«medit&t  ces  maximes  et  y  conformat  sa  conduite.» 

«/n  amnibus  teipsum  praebe  exemplum  bonorum  operum. 
«En  toutes  choses  donnez  l'exemple  des  bonnes  oeuvres, 
«c'est-ä-dire  d'une  vie  ezemplaire  et  active,  animäe  d'nn 
«rentable  esprit  de  charitö  et  guid6e  par  les  maximes  de 
«la  prudence  evangelique;  d'une  vie  de  sacrifice  et  de 
«travail,  consacräe  &  faire  du  bien  au  procbain,  non  pas 
«dans  des  vues  terrestres  et  pour  une  räcompense  perissable, 
«mais  dans  un  but  surnaturel.  Donnez  l'exemple  de  ce 
«langage  &  la  fois  simple,  noble  et  elev6,  de  cette  parole 
«saine  et  irreprähensible,  qui  confond  toute  Opposition  hu- 
«maine,  apaise  l'antique  haine  que  nous  a  vou6e  le  monde, 
«et  nous  concilie  le  respect,  l'estime  mfone  des  ennemis  de 
«la  religion.  Quiconque  s'est  vou6  au  service  du  sanctuaire 
«a  6te  oblige  en  tout  temps  de  se  montrer  un  vivant  modele, 
«un  exemplaire  parfait  de  toutes  les  vertus :  roais  cette 
«Obligation  est  beaucoup  plus  grande  lorsque ,  par  suite 
«d  es  bouleversements  sociaux,  on  marche  sur  un  terrain 
«difficile  et  incertain,  oü  l'on  peut  trouver  ä  chaque  pas 
«des  embüches  et  des  prätextes  d'attaque.> 

«in  doctrina.  En  presence  des  efforts  combinäs  de 
«l'in  cr^dulite  et  de  Pheräsie  pour  consommer  la  ruine  de  la 
«foi  catholique,  ce  serait  un  vrai  crime  pour  le  clergö  de 
«rester  hösitant  et  inactif.  Au  milieu  d'un  si  grand  deborde- 
«ment  d'erreurs,  d'un  tel  contiit  d'opinions,  il  ne  peut  faillir 
<a  sa  mission  qui  est  de  deTendre  le  dogme  attaquä,  la 
«moraie  travestie  et  la  justice  si  souvent  mSconnue.  C'est 
<a  lui  qu'il  appartient  de  s'opposer  cumme  une  barriere  ä 
«•Ferreur  envahissante  et  ä  Fhärösie  qui  se  dissiraule;  ä  lui 
«de  surveiller  les  agissements  des  fauteurs  d'impiätö  qui 
«s'attaquent  &  la  foi  et  ä  l'honneurde  cette  contröe  catholique; 
«lui  de  dömasquer  leurs  ruses  et  de  signaler  leurs  embüches ; 
«a  lui  de  premunir  les  simples,  de  fortifier  les  timides, 
«d'ouvrir  les  yeux  aux  aveugles.  Une  Erudition  superficielle, 
«une  science  yulgaire  ne  suffisent  point  pour  cela:  il  faut 
«des  etudes  solides,  approfondies  et  continuelles,  en  un  mot, 
«4in    ensemble  de  connaissances  doctrinales  capables  de  lutter 


698  Jahresbericht  1899.    Beilagen. 

«avec  la   subtilite  et  la   singuliere  astuce  de    nos  modernes 
«contradicteurs.» 

«In  integritate.  Rien  ne  prouve  tant  l'importance  de 
<ce  conseil,  que  la  triste  expe>ience  de  ce  qui  se  passe 
«autour  de  nous.  Ne  voyons-nous  pas  en  effet  qne  la  vie 
< relach ee  de  certains  ecclesiastiques  discrödite  et  fait  me- 
« priser  leur  ministere  et  oecasionne  des  scandales  ?  Si  des 
«hommes,  doues  d'un  esprit  aussi  brillant  que  remarqaable, 
«dösertent  parfois  les  rangs  de  la  sainte  milice  et  se  mettent 
«en  revolte  contre  l'Eglise,  cette  mere  qui,  dans  son  affec- 
«tueuse  tendresse,  les  avait  prepoBes  au  gouvernement  et 
«au  salut  des  ämes,  leur  defection  et  leurs  egarements  n'ont 
«le  plus  souyent  pour  origine  que  leur  indiscipline,  ou  leurs 
«mauvaises  uioenrs.» 

«In  gravitate.  Par  gravite,  il  faut  entendre  cette 
«conduite  serieuse,  pleine  de  jugement  et  de  tact  qui  doit 
«etre  propre  au  ministre  fidele  et  prudent  que  Dieu  a  choisi 
«pour  le  gouvernement  de  sa  famille.  Celui-ci,  en  effet,  tont 
«>en  remerciant  Dieu  d'avoir  daignö  Pelever  ä  cet  honnenr, 
«doit  se  montrer  fidele  ä  toutes  ses  obligations,  en  m&me 
temps  que  mesure  et  prudent  dans  tous  ses  actes ;  il  ne 
«doit  point  se  laisser  dominer  par  de  viles  passions ,  ni 
«empörter  eu  paroles  violentes  et  excessives ;  il  doit  com- 
«patir  avec  bontä  aux  malheurs  et  aux  faiblesses  d'autrui, 
«faire  ä  chacun  tout  le  bien  qu'il  peut,  d'une  maniere  de> 
«sinte>ess6e,  sans  ostentation,  en  maintenant  toujours  intact 
«rhonneur  de  son  caractere  et  de  sa  sublime  dignitä.» 

Nous  revenons  maintenant  ä  vous,  Nos  chers  fils  du 
elergö  trancais,  et  Nous  avons  la  ferme  confiance  que  Nos 
prescriptions  et  Nos  conseils,  uniquement  inspires  par  Notre 
affection  paternelle,  seront  compris  et  rec,us  par  vous,  selon 
le  sens  et  la  portee  que  Nous  avons  voulu  leur  donner  en 
vous  adressant  ces  Lettres. 

Nous  attendons  beaucoup  de  vous,  parce  que  Dien  vous 
a  richement  pourvus  de  tous  les  dons  et  de  toutes  les  qua- 
lit^s  nöeessaires  pour  operer  de  grandes  et  saintes  choses 
ä  l'avantage  de  TEglise  et  de  la  societe.  Nous  voudrions  que 
pas    un   seul  d'entre  vous  ne  se  laissät  entamer  par  ces  im- 


Päpstliche  Encyclika  an  den  franz.  Glerus.  699 

perfections   qui   diminuent  la  splendeur  du  caractere  sacer- 
dotal  et  nuisent  &  son  efficacitö. 

Les  temps  actuels  sont  tristes;  Pavenir  est  encore  plus 
sombre  et  plus  menagant ;  il  serable  annoncer  Tapproche  d'une 
crise  redoutable  de  bouleversements  sociaux.  II  faut  donc, 
comme  Nous  l'avons  dit  en  diverses  circonstances,  que  nous 
mettions  en  honneur  les  principes  salutaires  de  la  religion, 
ainsi  que  ceux  de  la  justice,  de  la  charite,  du  respect  et  du 
devoir.  C'est  ä  nous  dVn  penetrer  profond6ment  les  ämes, 
particulierement  celles  qui  sont  captives  de  I'incr6dulit6  ou 
agitees  par  de  funestes  passions,  de  faire  regner  la  gräce  et 
la  paix  de  notre  divin  Redempteur,  qui  est  la  Lumiere,  la 
Eesurrection,  la  Vie,  et  de  r6unir  en  lui  tous  les  hommes, 
malgrä    les   inevitablos  distinctions  sociales  qui  les  separent. 

Oui,  plus  que  jamais,  les  jours  oü  nous  somnies,  recla- 
ment  le  concours  et  le  devouement  de  pretres  exemplaires, 
pleins  de  foi,  de  discrätion,  de  zele,  qui,  s'inspirant  de  la 
douceur  et  de  l'energie  de  Jesus-Christ  dont  ils  sont  les 
veritables  ambassadeurs,  pro  Christo  legatione  fungimur *), 
annoncent  avec  une  courageuse  et  indefectible  patience  les 
vörites  äternelles,  lesquelles  sont  pour  les  ämes  les  semences 
fecondes  des  vertus. 

Leur  min  ister  e  sera  laborienx;  souvent  merae  penible, 
späcialement  dans  les  pays  oü  les  populations,  absorbees  par 
les  int^rets  terrestres,  vivent  dans  l'oubli  de  Dieu  et  de  sa 
sainte  religion.  Mais  Taction  6clair6e,  charitable,  infatigable 
da  pretre,  fortifiee  par  la  gräce  divine,  operera,  comme  eile 
l'a  fait  en  tous  les  temps,  d'incroyables  prodiges  de  resur- 
rection. 

Nous  saluons  de  tous  Nos  voeux  et  avec  une  joie  inef- 
fable  cette  consolante  perspective,  tandis  que,  dans  toute 
raffection  de  Notre  ccßur,  Nous  accordons  ä  vous,  Ven6rables 
Freres,  au  Clerg6  et  a  tous  les  catholiques  de  France,  la 
bönediction  Apostolique. 

Donna  a  Rome,  pres  Saint-Pierre,  le  8  Septernbre  de 
l'annee  1899,  de  Notre  Pontificat  la  vingt-deuxieme. 

LEO  PP.  XIII. 


l)  IL  Corinth.  V.  20. 


Alphabetisches  Generalregister  der  XIII  Jahrgänge 

des  politischen  Jahrbuches. 

1886— 1899. 


I.  Aufsätze. 

Bd.        Seite 

Achäische  Bund,  Der,  vom  Herausgeber  VII.      334 

Arbeit  und  Ruhe,  Ueber,  mit  Rücksicht  auf  eine  künf- 
tige Sonntagsgesetzgebung  .  .      XII.       47 

Assurances  ouvrieres,  Les,  par  G.  Bodenheimer,  ancien 
deput6  au  conseil  des  Etats  suisse,  reclacteur  en  chef 
du  «Journal  d'Alsace»,  ä  Strasbourg 

Auslieferung,  Die,  gegenüber  dem  Auslande,  vom 
Herausgeber     ...... 

Berner  Denkschrift  über  die  Unruhen  in  der  Waadt 
von  1790  und  1791,  von  Dr.  P.  Hirzel  und  Prot  W. 
Oechsli,  aus  dem  Archiv  der  Familie  Hirzel  in  Zürich 

Beziehungen,  Die,  der  Schweiz.  Eidgenossenschaft  zum 
Reiche  bis  zum  Schwabenkrieg,  von  Dr.  W.  Oechsli, 
Professor  der  Schweizergeschichte  am  eidg.  Polytech- 
nikum in  Zürich  ..... 

Bisthum  Basel-Lugano,  Das,  vom  Herausgeber 

Bundesgericht,    Das  schweizerische,    vom  Herausgeber 

Determinisme,  R&lexions  sur  le,  en  droit  pönal T  par  le 
Dr.  F.-H.  Mentha,  professeur  de  droit  pönal  ä  l'Aca- 
demie  de  Neuchätel    ..... 

Eidgenossenschaft,  Einige  Gedanken  über  die  Aufgabe 
und  die  nächste  Zukunft  der  Schweiz.,  vom  Herausgeber 

Eidgenossenschaft,  Die  innere  Natur  der  schweizerischen, 
vom  Herausgeber         ..... 

Eidgenossenschaft,  Die  Entstehung  und  die  Gründer 
der,  vom  Herausgeber  .... 


in. 

199 

VII. 

95 

XII. 

107 

V. 

302 

HI. 

775 

VIIL 

274 

IV. 

172 

VH. 

1 

I. 

521 

V. 

746 

VI. 

230 

III. 

1 

XI. 

24a 

V. 

1 

IX. 

1 

IX. 

202 

Alphabetisches  Generalregister.  701 

Bd.       Seit» 

Erziehung,  Ueber  die  Grundgedanken  der  schweizerischen, 
Tom  Herausgeber        .....     VIII.         1 

Eschenthaies,  Der  Verlast  des,  Tora  Herausgeber 

Pin  de  siede,  vom  Herausgeber 

Frauenstimmrecht,  vom  Herausgeber    . 

Freiheit,  vom  Herausgeber        .... 

Gemülhsruhe,  Ueber  die,  in  der  Politik,  vom  Herausgeber 

Genfer  Zonen,  Die,  vom  Herausgeber   . 

Geschichten,  Eidgenössische.  Erste:  «Unter  dem  Pro- 
tektorat», vom  Herausgeber   .  I.       26 

Geschichten,  Eidgenössische.  Zweite:  «Die  lange  Tag- 
satzung», vom  Herausgeber    .... 

Geschichten, Eidgenössische.  Dritte:  «Die Restauration», 
erste  Abtheilung,  vom  Herausgeber 

Geschichten,  Eidgenössische.  Vierte :  « Die  Restauration » , 
zweite  Abtheilung,  vom  Herausgeber 

Geschichten,  Eidgenössische,  Aus  der  Regeneration. 
Die  Feldzöge  des  Oberstlieutenants  Albrecht  von 
Muralt,  von  ihm  selbst  erzählt 

Grenz-  und  Neutralitätsverhältnisse,  Die  schweizerischen, 
yom  Herausgeber         ..... 

Haller'sche  Konstitution,  Die,  für  Bern  vom  19.  März 
1798,  vom  Herausgeber         .... 

Handelsvertrag,  Der  französisch -schweizerische,  vom 
30.  Mai  1799,  von  Dr.  J.  Strickler  in  Bern,  Redak- 
tor der  helvetischen  Aktensammlung,  ehemaligem 
Staatsarchivar  in  Zürich         .... 

Hirzei,  Tagebuch,  Das  des  schweizerischen  Abgesandten 
bei  seiner  Sendung  in  das  Hauptquartier  der  Alli- 
irten,  November  1813  .... 

Inkamaration,  Die  österreichische,  von  1803,  mit  be- 
sonderer Berücksichtigung  des  Kantons  Graubünden, 
yon  Dr.  P.  G.  v   Planta,  Alt-Ständerath  in  Ghur     . 

Intervention,  Die  eidgenössische,  vom  Herausgeber 

Israels,  Die  sozialen  Grundgedanken  im  Gesetze,  von 
Dr.  theol.  S.  Oettli,  Professor  der  alttest.  Theologie 
an  der  Universität  Bern         ....         V.     257 


IL 

42 

HI. 

306 

IV. 

197 

vm. 

45 

IL 

669 

X. 

187 

VII. 

202 

XI. 

181 

IL 

545 

VI. 

1 

702  Alphabetisches  Generalregisler. 


Bd.        Seite 


Jahren,  Vor  fünfzig,  vom  Herausgeber,  mit  einem  An- 
hang von  bisher  ungedruckten  Briefen  schweizerischer 
Staatsmänner,  in it  Einleitung  Y.Prof.  Dr.  Blösch  in  Bern         XI.      27 

Jahren,   Vor  hundert  (Französische  Revolution),   vom 

Herausgeber     .  .  .  .        III.  1 

Krieg,  Ueber,  und  Frieden,  und  die  Voraussetzungen 
schiedsgerichtlicher  Entscheidung  von  völkerrecht- 
lichen Streitigkeiten,  vom  Herausgeber         .  .     VIII.      197 

lASsaHe,   Ferdinand,    und    Thomas  von  Aquino,  vom 

Herausgeber     .  .  .  .  .  IV.  1 

Lausanner  Vertrag,  Der,  von  1564,  vou  Professor 
Dr.  "W.  Oechsli  in  Zürich       .... 

Litteratur,  Soziale,  vom  Herausgeber    . 

Militärorganisationen,   Die,   der  schweizerischen  Eid- 
genossenschaft   (nebst  Anhang:    Bieocca  und  Cöri- 
solles),  vom  Herausgeber        .... 
Militärstrafrecht,  Das  eidgenössische,  vom  Herausgeber 
Minoritätenvertretung,  Die,  vom  Herausgeber 
Neurasthenie.  Ueber,  vom  Herausgeber 
Orientalische  Frage,  Die,  vom  Herausgeber 
Politik,  Moderne  Grundlinien  für  die,  vom  Herausgeber 
Redekunst,  Offene  Geheimnisse  der,  vom  Herausgeber 
Revision,  Bundesgesetz  über  das  Verfahren  bei  Volks- 
begehren und  Abstimmungen  betreifend,  der  Bundes- 
verfassung, vom  Herausgeber  .  .  .      VII.      189 
Röscher,    System  der  Armenpflege  und  Armeupolitik, 
Ueber,  vom  Herausgeber         .... 

Schächtfrage,  Die,  vom  Herausgeber    . 
Senectute,  De,  vom  Herausgeber 
Staatsbank  u.  Landesbank  im  Kriegsfalle,  v.  Herausgeber 
Staatsverträge,  Die,  der  Eidgenossenschaft,  v.Herausgeber 
Theilung  der  Welt,  Die,  vom  Herausgeber 
Ticino,  Cooie  riinanesse  svizzero,    il  —  nel  1788,   da 
E.  Motta,  redattore  del  «Bolletino  Storico»,  a  Milano       III.        97 

Valais,  La  Reaction  de  1843  en,  par  L.  Ribordy,  ancien 

secrätaire  du  Grand  Conseil,  ä  Sion  .  .         II.      607 


XIII. 

139 

II. 

744 

IX. 

29 

IV. 

746 

VII. 

139 

X. 

1 

X. 

355 

I. 

1 

II. 

1 

IX. 

163 

VII. 

161 

XI. 

1 

VII. 

76 

HI. 

810 

XII. 

151 

X. 

51 

XII. 

1 

XIII. 

63 

Alphabetisches  Generalregister.  703 

Bd.        Seite 

Valais,  Le  Sonderbund  en,    1844 — 47,  par  L.  Ribordy, 

ancien  secretaire  du  Grand  Conseil,  ä  Sion  II.      607 

Verfassung,  Die,  der  schweizerischen  Eidgenossenschaft, 

vom  Herausgeber         .....  I.      535 

Verfassung,    Die  aristokratische,    im  alten  Bern,    von 

Prof.  Dr.  E.  Blösch,  Oberbibliothekar  in  Bern         .        IV.      122 

Verfassung,  Die,  v.  Malniaison  (als  Aohang:  Die  beiden 
Verfassungsprojekie  v.  Malmaison),  v.  Dr.  J.  Strickler 

Vergeltung,  Die,  vom  Herausgeber 

Völkerrechtliche  Fragen  der  Gegenwart,  v.  Herausgeber 

Volkswirtschaftliche  Grundfragen,  v.  Dr.  G.  H.  Schmidt 

in  Bern  ......     XIII.     279 

Ifasserrechts,  Ueber  die  rechtliche  Natur  und  Zukunft 

des,  von  Dr.  jur.  Edgar  Hilty,  Rechtsanwalt  in  Ghur    VIII.      157 

Wehrwesen,  schweizerisches,  der  Gegenwart,  von  Major 

Affolter.  Professor  an  der  eidg.  Kriegsschule  in  Zürich  I.      613 

Zeitschriften,  Die  gemeinnützigen  und  politischen,  der 
Schweiz,  von  Dr.  J.  Strickler  in  Bern,  Redaktor  der 
helvetischen  Aktensammlung,  ehemaligem  Staats- 
archivar io  Zürich  VI.      72 

IL  Aktenstücke.1) 

Aargauer-Klosteraufhcbungs-Beschlüsse  von  1841,  Die 
Abdankungsdekret,  Das,  vom  4.  März  1798 
Aepli,   Miuister,   Brief  über   die  schweizerische  Politik 
Aktenstücke    betreffend    die  Arbeiter unruhen   in  Bern 

vom  19.  Juni  1893      .....      VIII.      586 
Apostolischer  Brief  Papst  Leo's  Xni.  an   alle  Fürsten 

und  Völker  der  Erde,  vom  20.  Juni  1894     .  IX.      717 

Apostolischer  Brief  Papst  Leo's  XIII.  an  die  Engländer, 

vom  14.  April  1895 IX.      703 

Apostolischer  Brief  Papst  Leo's  XIII.  an  den  französi- 
schen Clerus,  vom  8.  September  1899  .  .     XIII.    677 
Arbeiterschutz-Congress,  Der,  in  Berlin  V.      633 
Armenische  Reformen.  Auszug  aus  dem  Memorandum 
der  drei  Mächte  vom  11.  Mai  1895    ...         X.      414 


XI. 

95 

X. 

229 

XII. 

667 

1)  Die  in  den  «Eidgenössischen    Geschichten»    ein  geflochtenen   Aktenstack6 
sind  hier  nicht  aufgezählt. 


XI. 

81 

XII. 

27a 

XIL 

7» 

XIII. 

121 

X. 

457 

X. 

346 

XII. 

70S 

X. 

424 

xiir. 

65fr 

X 

228 

xra. 

127 

x% 

422 

704  Alphabetisches  Generalregister. 

Bd.        Seite 

Armenunterstützung,    obligatorische    der  Gemeinden.       IX.     476 

Badener-Artikel,  Die,  vom  27.  Januar  1834     . 
Balkan-Vertrag  zwischen  Oesterreich  und  Bussland 
Basler-Frü»de,  Der,  vom  22.  September  1499    . 
Basler-Bundesbrief,  Der,  vom  9.  Mai  1501 
Benedel  tischen  Vorschläge,  Die,  betr.  Luxemburg  und 

Belgien  ....  . 

B<td.  Urkundliche  Erklärung  des  GrossenRathes  von.  1815 
Bern,  Beschiuss  betr.  die  Betheiligung  des  Staates  am 

Bau  neuer  Eisenbahnlinien    .... 
Bismarck,  Ein  Bericht  des  Fürsten,  vom  13.  August  1875 
Bluntchli,  Projekt  zu  einer  Bundesverfassung;  von  1847 
Brune's  Ultimatum  und  Dekret  vom  1.  März  1798 
Brüsseler-Projekt,  ober  das  Kriegsrecht  von  1874 
Bulgariens,  Russische  Erklärung  über  die  Stellung    . 
Bund,  Der  erste   ewige   zwischen    Uri,    Schwyz    und 

UnWwalden  (Archiv  Schwyz)    .  .  .V.    1091 

Buudesfeier,  Die  offiziellen  Festreden  bei  der,  vom  1. 

und  2.  August  1891 VI.      665 

Bundesvertrag  zwischen  den  XXII  Kantonen  der  Schweiz 

vom  7.  August  1815   .....       IIL      7» 
Bündniss,  Das  erste,  zwischen  Uri,  Schwyz  und  Zürich 

(Archiv  Zürich) V.    1093 

Capo  d'Istria,   Denkschrift  von,   über  die  Bundesein- 
richtungen der  Schweiz,  1814,  aus  dem  eidg.  Archiv        II.      465 
China,  Verträge  über  Pacht  .    XU.  230.  231.  275 

Ghur,  Erinnerungen  an  das  Schützenfest  in,  von  1842      VIL      810 
Colorado,  Verfussungsartikel  betr.  die  Frauen  .       XI.      355 

Congoslaat,    Vertrag  desselben   mit   Frankreich   über 

Vorkaufsrecht  . 
Congo-VertraK,  1885,  Art.  X— XII 
Confiscationsdecret,  Das,  vom  24.  Februar  1798 
Cypern,  Vertrug  Englands  mit  der  Türkei 

Dappes,   Traite"   du  8  decembre  1862    entre  la  Suisse 

et  la  France  coucernant  la  vallee  des 
Dardanellen  vertrag,  Der  .... 


xn. 

185 

XHL 

m 

X. 

220 

XU. 

232 

IV. 

377 

X. 

405 

Alphabetisches  Geoeralregister  705 

Defensiv-  Allianz  vertrag  zwischen  der  französischen  Re- 
publik und  der  schweizerischen  Eidgenossenschaft 
vom  27.  September  1803        .... 

Directoire,  ArreHe*  du,  du  8  Nivose  Tan  6 

Dreibund,  Der,  Vertrag  zwischen'  Deutschland  und 
Oesterreich-Ungarn      ..... 

Dreiländerbund,  Der,  zu  Brunnen  (Archiv  in  Schwyz) 

Edikt  vom  3.  Februar  1798  über  die  Verfassungsrevision 
Eisenbahnruckkaufsgesetz,  Das,  vom  15.  Oktober  1897 
Elisabeth,  Schreiben  der  Königin,  an  die  XIII  Kantone 
Encyclica,    Die  päpstliche,    «de    conditione    opificum» 

(Reruru  novarum)  vom  15.  Mai  1891 
Encyclica,    Die   russische,    «de    pace    aeterna»,    vom 

12./24.  August  1898    ..... 
Engel,  Frau  Oberst,  Auszüge  aus  deu  Memoiren  über 

ihre  Kriegsdienste   unter   dem  Konsulate   und  dem 

Kaiserreich       ...... 

Eidesleistung,  Rede  bei  Anlass  der,  am  10.  Januar  1798 

Eid,  Erklärung  über  den,  vom  8.  Januar  1798 

Erfurter  Sozialisten -Programm  (1891),  Das 
Erlach,  von,  Schultheiss  in  Burgdorf,  Bericht  über  die 
Vorgänge  des  5.  März  1798 

Fetzer,  Regierungsrath,  Rückblicke  auf  die  Jahre  1813, 

1814,  1815.    Memoire  aus  dem  eidgen.  Archiv        .         II.      436 

Finsler,  Bericht  des  eidgenössischen  Obersten,  über 
die  wünschenswerthen  Militärgrenzen  der  Schweiz, 
1814,  aus  dem  eidg.  Archiv  .  .II.     529 

Finsler,  Gutachten  des  eidg.  General-Quartiermeisters, 
vom  3.  und  10.  August  1815  betreffend  Militärgrenze, 
Ergänzungen  zu  dem  Vorhergehenden 

Frauenstimmrecht,  Bericht  über  den  gegenwärtigen 
Stand  desselben  in  Amerika  .... 

Franche-Couitä,  Der  Protektorats  vertrag 

Garantien gesetz,  Das  italienische,   vom  15.  Mai  1871 
Gentz,  Friedrich  von,   Auszüge  aus  Briefen  und  Tage- 
büchern ...... 


Bd. 

Seite 

I. 

402 

X. 

209 

XI. 

412 

V. 

1094 

x. 

224 

XII. 

687 

XI. 

778 

VI. 

665 

XIL 

671 

IL 

380 

X. 

211 

X. 

212 

VI. 

696 

X. 

234 

IV. 

358 

XL 

367 

234 

VII. 

864 

XL 

37 

45 

706  Alphabetisches  Generalregister. 


Bd.        Seite 


Gesandtscbaftsberieht,  Ein  österreichischer,  aus  der 
Schweiz,  von  1827.  mitgetheilt  von  Prof.  Dr.  Alfred 
Stern  in  Zürich IX.      685 

Geneve,  Declaration  du  Plänipotentiaire  de  la  Conf&le*- 
ration  suisse  et  du  Ganton  de,  sur  la  dotation  du 
Cure*  de  l'Eglise  catholique  de  Geneve,  du  16  mars  1816       IV.     447 

Genf,   Auszüge   aus   den  Verträgen   über  den  Schutz 

von,  und  die  Neutralisirung  von  Savoyen  IV.      468 

Genf,  Nole  des  eidgenössischen  Vororts  an  den  Kanton, 
betreffend  die  Zurückgabe  des  Littorals,  vom  12.  De- 
zember 1815    ......       IV.      406 

Girard,  Gutachten  des  Pater,  von  Freiburg  an  die  hel- 
vetische Regierung  über  den  Unterricht  in  der  Schweiz     VIII.      537 

Glarus,  Die  Rede  des  Bundespräsidenten  Hauser  am 
eidg.  Schützenfest  in,  von  1892  VII.      803 

Graubünden,  Bundesbeschluss  betr.  Bewilligung  einer 
Bundessubvention  für  ein  Schmalspurbahnnetz         .      XII.      725 

Graubündnerische  Landleute,  Unterredung  dreier, 
über  die  öffentlichen  Angelegenheiten  ihres  Vater- 
landes, 1814  (Verfasser  unbekannt)  .         II.      405 

Griechenland,  Friedenspräliminarien      .  .  .XI.      393 

Haller'sches  Projekt  einer  Constitution  für  die  Schwei- 
zerische Republik  Bern,  vom  19.  März  1798  .        X.      270 

Handelsvertrag.  Aktenstücke  zum  französisch-schwei- 
zerischen, vom  30.  Mai  1799  ....       VII.      294 

Handelsverträge,  Die,  mit: 

Deutschland  und  Oesterreich-Ungarn  nebst  Liechten- 
stein vom  10.  Dezember  1891  VII.      870 

Italien,  vom  19.  April  1892  VII.      918 

Spanien,  vom  13.  Juni  1892  VII.     940 

Frankreich,  vom  23.  Juli  1892  VII.     944 

Handelsverträge,   Die,  der  Schweiz,  wie  sie   seit  1896 

bestehen  ....*.         X.     483 

Helvetische  Verfassung,  Beschluss  über  Annahme  vom 

9.  Februar  1798  .  X.     218 

Hirtenbrief,   Der,   des  Hülfsbischofs   von  Sitten,   vom 

24.  Januar  1898  .....      XII.     676 


f 


Bd. 

Seite 

X. 

398 

III. 

718 

XI. 

765 

XII. 

306 

XII. 

232 

XIL 

674 

VI. 

701 

I. 

423 

XII. 

229 

IX. 

695 

Alphabetisches  Generalregister.  707 

Hunkiar  Iskelessi,  Der  Vertrag  von,  von  1833 

Hüaingen,  Tagebuch  der  Belagerungs-Operationen  gegen 
die  Festung,  von  Ingenieur-Hauptmann  Hegner 

Index,  Apostolische  Constitution  über  den 

Insurrektionen,  Vorschlag  eines  Reglements  darüber   . 

Intervention         ...... 

Italien,  Gorrespondenz  wegen  Schiedsgerichts  in  Zoll- 
sach eü,  mit      ......     XIII.      116 

Jerusalem,  Die  kaiserliche  Ansprache  in  der  Erlöser- 
kirche, in,  vom  31.  Oktober  1898 

Kantonal  Verfassungen,  Die  1891  bestehenden,  der  Schweiz 
Kontinentalsperrtarif,  Der,  für  die  Schweiz  vom  9.  No- 
vember 1810,  aus  dem  eidg.  Archiv 
Korea,  Vertrag  zwischen  Russland  und  Japan 
Kossuth's,  Ein  Brief,  an  die  Eidgenossenschaft  von  1853 
Kreisschreiben  des  eidgenössischen  Vororts  an  sämmt- 

liche  eidgenössischen  Stande,  vom  16.  April  1816    .       IV.      448 
Kriegs-  und  Friedensfrage,    Völkerrechtliche   Akten- 
stücke zur VIII.      230 

Ijausanner- Vertrag,  Der  vorangehende  Vermittlungs- 
spruch vom  11.  Mai  1563       .... 

Liechtenstein,  Staatsverfassung 

Lörrach,  Der  offizielle  Rapport  über  die  Konferenz 
von,  vom  9.  Dezember  1813,  aus  dem  eidg.  Archiv 

Madagaskar,  Protektoratsvertrag 

Manifest,   das  kommunistische,   von   Karl   Marx   und 

Friedrich  Engels         ..... 
Manual  derProvisorischen  Regierung  in  Bern,  7. März  1798 
Manual  der  Provisorischen  Regierung  in  Bern,  8.  März  1798 
Malmaison,  L,  Französischer  Vorschlag 
Malmaison,  IL,  Verbesserter  Vorschlag 
Markenschutz.  Die  Vereinbarung  mit  Deutschland  über 

den,  vom  13.  April  1892        .... 
Maueranschlag  vom  5.  Januar  1798 
Mediation,  Acte  de,  du  30  Pluviöse  XI 
Meerengenkonvention,  Die,  von  1841 


XIII. 

264 

XII. 

220 

I. 

429 

XII. 

211 

VII. 

828 

X. 

243 

X. 

243 

X. 

175 

X. 

179 

VII. 

966 

X. 

209 

I. 

390 

X. 

405 

I 


Bd. 

Seite     1 

1. 

408    1 

1. 

415    ] 

XII. 

234    1 

IV. 

381 

xm. 

117     1 

XIII. 

119 

XIII. 

663 

ii. 

543 

XL 

429 

I. 

425 

IV. 

340 

708  Alphabetisches  Generalregister. 

Militärkapitulation,     Die    erste     französische,     vom 

27.  September  1803  ..... 
Militärkapitulation,  Die  zweite,  vom  28.  März  1812  . 
Monroe-Doktrin,  Die  ..... 
Neutralität,   Aktenstücke   zur  Geschichte  der   savoy- 

ischen,  aus  dem  eidg.  Archiv  und  der  Korrespondenz 

Pictet's,  mit  Einleitung  des  Herausgebers 
Neutralitäts-Akte  der  Schweiz,  vom  12.  November  1815 
Neutralität  von  Belgien,  Luxemburg,  den  jonischen  Inseln 
Neuch&tel,  Programmrede  des  Bundespräsidenten  Ruffy 

am  eidg.  Schützenfest,  in,  von  1898 
Oberländer-Freiheitslied,  Das,  1814,  v.  Pfarrhelfer  Roschi 
Oesterreichische  Inkainerationsangelegenheit     . 
Offiziers-Etat,  Der,  der  kapitulirten  Dienste  von  1803 
Pictet-de  Rochemont,   Instruktionen   und  Vollmachten 

für  Oberst,   als  eidg.  Abgeordneten  an  den  Pariser 

Kongress,  aus  dem  eidg.  Archiv        .  . 

Pictet's  Schlussbericht  über  seine  Pariser  Mission,  aus 

dem  eidg.  Archiv        .....        IV.     363 
Pictet-de  Rochemont,  Staatsrath,   Schreiben  des  eidg. 

Vorortes  an  denselben  vom  10.  März  1816 
Pictet-de  Rochemont,  Instruktion  des  Vorortes  an,  vom 

12.  Dezember  1815 
Pictet-de   Rochemont,    Nachträgliche    Instruktion    des 

eidg.  Vororts  für  Herrn,  vom  27.  Dezember  1815    . 
Proklamation  vom  22.  Dezember  1797 
Proklamation  der  Tagsatzung  vom  2.  Januar  1798 
Proklamation  vom  5.  Januar  1798 

Proklamation  Menard      ..... 
Proklamation  der  provisorischen  Regierung  von  Waadt, 

2Ö./27.  Januar  1798    . 
Proklamation,  Letzte  bernische,   vom  3.  Februar  1798 

Proklamation  Brune        ..... 

Proklamation  an  die  ehemaligen  Unterthanen  von 
Aargau  und  Waadt,  vom  24.  Dezember  1813 

Protektorats  vertrag,  Der  (angebliche),  zwischen  Russ- 
land und  China  von  1896      .... 


IV. 

420 

IV. 

411 

IV. 

413 

X. 

205 

X. 

207 

X. 

210 

X. 

213 

X. 

214 

X. 

216 

X. 

221 

X. 

255 

X. 

451 

Alphabetisches  Generalregister.  709 

Bd.      Seite 

Rechtsgang,  Einleitung  zu  dem  Gutachten  der  Kom- 
mission des  (helvetischen)  Grossen  Rathes  über  den 
bürgerlichen,  aus  dem  helvetischen  Archiv  .       IV.      738 

Rheinregulirung,  Bundesbeschluss  betreffend  Zusiche- 
rung eines  Bundesbeitrages  an  den  Kanton  St.  Gallen 
für  die VIII.      582 

Rheinvertrag,  Der,  mit  Oeslerreich  VIII-      573 

Rosti,  Graf  Pellegrino,  Auszug  aus  seinem  Bericht 
über  die  Bundesverfassung,  von  1832  .  .        XI.       45 

Schächtfrage,  Bundesrathsbeschluss  vom  17.  März  1890 

betreffend  die  ......         V.    1097 

Schiedsgerichtsantrag  (Projekt)  zwischen  England  und 
Amerika  .....         XI  427, 

Schwabenkrieg,  kaiserliches  Manifest  vom  22.  April  1499 

Schwaben  krieg,  Beschreibungen  des  Chronisten  Ansheliu 

Schwaben  krieg,  Die  Tagsatzungsabschiede,  des 

Schwaben  krieg,  Das  Lied  «Der  alte  Greis»  von  Peter 
Müller    ........ 

Simplon-Verträge.  Die  ..... 

Simplondurchstich,  Aktenstücke  betreffend  die  Subven- 
tion des  Bundes        ......      XII.     712 

Sonderbund,  Der,  nebst  dem  vorangehenden  Verhand- 
lungsprotokoll vom  13./14.  September  1845  .    XL  102.  111 

Sonderbund,    Briefe   hervorragender  Männer  aus    der 

Zeit  des  .......        XL      136 

Steigentesch,  von,  Generalmajor,  Militärbevollmäch- 
tigter der  Alliirten  in  der  Schweiz,  seine  Berichte 
1815,  April  bis  August,  aus  dem  k.  k.  Österreich. 
Staatsarchiv  (bisher  unbekannt) 

Suezkanal-Konvention,  Die,  von  1888 

Südafrikanische  Republik,  Bund  mit  dem  Oranje- 
Freistaat  ...... 

Testaferrata  Nuntius,  Schreiben  vom  31.  Dez.  1814 

Testaferrata  Nuntius,  Schreiben  vom  7.  Mai  1814 

Trüklibund,  Der  ..... 

Turin,    Bericht   des  Staatsraths   Pictet-de  Rochemont 

über  seine  Sendung  nach,  vom  17.  März  1816  .       IV.     422 


XIII. 

121 

XIII. 

22 

XIII. 

29 

XIII. 

37 

Xlll. 

52 

X. 

731 

III. 

596 

X. 

407 

XL 

402 

.       XL 

72 

XL 

76 

XII. 

270 

710  Alphabetisches  Generalregister. 

Bd.      Seite 

Turin,  Uehereinkunft,  abgeschlossen  am  13.  April  1816, 
zu,  zwischen  den  Bevollmächtigten  des  Kantons 
Wallis  und  denen  seiner  Majestät  des  Königs  von 
Sardinien,  betreffend  die  Art  und  Weise,  wie  die  im 
ncutralisirlen  Savoyen  stehenden  sardinischen  Trup- 
pen durch  den  Kt.  Wallis  sich  zurückziehen  können        IV.      453 

Turin,  Uebereinkunft,  abgeschlossen  am  13*  April  1816, 
zu,  zwischen  den  Abgeordneten  des  Kantons  Wallis 
und  den  Bevollmächtigten  S.  Maj.  des  Königs  von  Sar- 
dinien über  Transitverhältnisse  auf  der  Strasse  über 
den  Simplon,  sowie  über  die  Unterhaltung  derselben        IV.     457 

Turiner  Vertrag,  Aktenstücke  zum  .  .IV.      402 

Turiner  Vertrages,  Bericht  der  eidgenössischen  Bevoll- 
mächtigten, Herren  Staatsräthc  Pictet-de  Rochemont 
und  d'Ivernois  an  den  eidgenössischen  Vorort  vom 
25.  Oktober  1816  betreffend  die  gegenseitige  Ueber- 
gabe  des  Gebietes  in  Folge  des,  vom  16.  März  1816 

Turiner,  Vertrags-Entwurf,  Erster,  von  Pictet 

Türkisches  Reformprojekt  vom  Oktober  1895    . 

Uccialli,  Vertrag  zwischen  Italien  und  Abyssinien 

Utah,  Verfassungsartikel  betr.  die  Frauen 

Veltliner-Deputation,  Die,  am  Wiener-Kongress,  aus 
den  Papieren  Guicciardi's,  von  Romegialli,  mit  Ein- 
leitung vom  Herausgeber  .... 

Verfassung,  Die  französische,  vom  24.  Juni  1793 

Verfassungen,  Die,  der  südafrikanischen  Republik  und 
des  Oranje-Freistaates        ..... 

Verfassung,  Rede  des  ersten  Konsuls  über  die  schwei- 
zerische, vom  12.  Dezember  1802 

Volksabstimmungen,  Uebersicht  der  sämmtlichen  seit 
1848  bis  zum  20.  Februar  1898 

Winterthur,  Programm  rede  des  Bundespräsidenten 
Zemp  am  eidg.  Schützenfest  in,  von  1895 

Wohlgemuth-Handel,  Der      ...         .     IV.  4: 

Wyoming,  Verfassung  des  Staates 

Zolltarif,  Der  erste  eidgenössische,  vom  26.  November 
1813,  aus  dem  eidg.  Archiv        ....  I.      424 


IV. 

462 

IV. 

402 

X. 

415 

XI. 

415 

XI. 

357 

IL 

473 

III. 

86 

X. 

801 

I. 

384 

CIL 

727 

IX. 

681 

,  v 

628 

XI. 

296 

H*?'* 


Verlag  von  &  J.  WYSS  in  Bern. 

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1898.  J.  SterchL  Die  Sendung  Samuel  Friedrich  Lüthards  nach 
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1892.  Dr.  Georg  Finaler.   Das  Berner  Festspiel  und  die  attische 
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