Google
This is a digital copy of a bix>k lhat was preservcd for gcncralions on library sIil-Ivl-s before il was carcfully scanncd by Google as pari ol'a projeel
to makc the world's books discovcrable online.
Il has survived long enough Tor the Copyright lo expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subjeel
to Copyright or whose legal Copyright terni has expired. Whether a book is in the public domain niay vary country tocountry. Public domain books
are our gateways to the past. representing a wealth ol'history. eulture and knowledge that 's ol'ten dillicult to discover.
Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear in this lile - a reminder of this book's long journey from the
publisher lo a library and linally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries lo digili/e public domain malerials and make ihem widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their cuslodians. Neverlheless. this work is expensive. so in order lo keep providing this resource. we have laken Steps lo
prevent abuse by commercial parlics. iiicIiiJiiig placmg lechnical reslriclions on aulomatecl querying.
We alsoasklhat you:
+ Make non -commercial u.se of the fites We designed Google Book Search for use by individuals. and we reüuesl lhat you usc these files for
personal, non -commercial purposes.
+ Refrain from imtomuted qu erring Do not send aulomated üueries of any sorl to Google's System: If you are conducling research on machine
translation. optical characler recognilion or olher areas where access to a large amounl of lex! is helpful. please contacl us. We encourage the
use of public domain malerials for these purposes and may bc able to help.
+ Maintain attribution The Google "walermark" you see on each lile is essential for informing people about this projeel and hclping them lind
additional malerials ihrough Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use. remember that you are responsable for ensuring lhat what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in ihc United Siatcs. lhat ihc work is also in the public domain for users in other
counlries. Whelher a book is slill in Copyright varies from counlry lo counlry. and we can'l offer guidance on whelher any specific use of
any specific book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search means it can be usec! in any manncr
anywhere in the world. Copyright infringemenl liability can bc quite severe.
About Google Book Search
Google 's mission is lo organize the world's information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers
discover ihc world's books wlulc liclpmg aulliors and publishers rcacli new audiences. You can searcli ihrough llic lull lexl of this book on llic web
al|_-.:. :.-.-:: / / bööki . qooqle . com/|
Google
Über dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches. Jas seil Generalionen in Jen Renalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Well online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat Jas Urlieberreclil ühcrdaucrl imJ kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich isi. kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheil und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar. das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren. Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Original band enthalten sind, linden sich auch in dieser Datei - eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Niitmngsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in Partnerschaft lieber Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichlsdcstoiroiz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sic diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sic keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zcichcncrkcnnung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist. wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google- Markende meinen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sic in jeder Datei linden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuchczu linden. Bitte entfernen Sic das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sic nicht davon aus. dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich isi. auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sic nicht davon aus. dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechlsverlelzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unlcrslül/1 Aulmvii und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen.
Den gesamten Buchlexl können Sic im Internet unter|htt:'- : / /-■:,■:,<.-: . .j -;.-;. .j _ ^ . .::-;. -y] durchsuchen.
t •
s
\^. .e>s
Ci
JL JL JL J- JL JL JL JL JL JL JL JL 1
Heraasgegeben
von
Politisches Jahrbncb 1:
• ! &
Schweizerischen Eidgenossenschaft. |
— g
%-
%-
%-
Bern. S^-
Druck und Verlag von K. J. Wyss. ^**
1899.
Dr. Carl Hilty,
Professor des Bundesstaatsrechts an der Universität Bern.
Dreizehnter Jahrgang. 1899.
>CC y y | | j j j | | | j | | | j j | j | i/j^.
Verlag von K. J. WYSS in Bern.
Die Berner Chronik
des
X>iel>ol<l Schilling
1468-1484
Im Auftrage des historischen Vereins des Kantons Bern
herausgegeben von
Prof. Dr. Gustav Tobler.
I. Band. 408 Seiten 8°, Preis Fr. 7.50. In 2- Banden complet.
Schweizerisches Bundesrecht
Staatsrechtliche und terwaltongsrecbtlicbe Praxis
des
Bundesrates und der Bundesversammlung
seit dem 29. Mai 1874.
Im Auftrage des schweizer. Bundesrates
dargestellt von
Prof. Dr. L. B. von Salis.
4 Bände brosch. Fr. 27. 80, geb. Fr. 39. —
Das gleiche Werk ist auch in französischer Sprache er-
schienen.
Amtsrichter Barkhalter
und seine Briefe an Jeremias Gotthelf
(A. Bitzius).
Herausgegeben von Pf*r. €3. Jovs.
95 Seiten 8°. Preis brosch. Fr. 2. — , eleg. geb. Fr. 3. -
Geschichte von Graubünden.
In ihren Hauptzugen gemeinfasslich dargestellt
von
l)r. P. C. v. Planta.
Zweite Auflage.
449 Seiten mit einer Karte. Brosch. Fr. 7. — , eleg. geb. Fr. 9. —
Durch jede Buchhandlung zn beziehen.
Politisches Jahrbuch
der
Schweizerischen Eidgenossenschaft.
Herausgegeben
von
Dr. Carl Hilty,
Professor des BundeastaaUrechts an der Untrer ei tat Bern.
Dreizehnter Jahrgang. 1899.
• • * * * S * * # * 4 *
. 4 . * . ' *
• ' ' 4 -
• * • ' «
' ' . '
Ben*.
* * ä * • * • * *
Druck und Verlag von K. J. Wyss.
1899.
1
THE NEW YORK
PUBLIC LIBRARY
fl-Z2QiV\
Alle Hechte vorbehalten.
Dreizehnter Jahrgang 1899.
Seite
Flu de Sleele, vom Herausgeber 1
Völkerroohtliche Fragen der Gegenwart, vom Herausgeber . 63
Der Lauaanner Vertrag von 1564, von Prof. Dr. W. Oechsli in
Zürich :
I. Der Friede von St. Julien und der 8prneh von Peterllngen 141
IL Die Eroberung der Waadt 158
HL Der Friede von Catean-Cambresls 177
IV. Der Sonderband der katholischen Orte mit Savoyen . 188
V. Die Entstehung des Lansanner Vertrages . .197
TL Die Vollziehung des Lausanner Vertrages .... 299
VII Die angebliche Garantie der Freiheiten der Waadt durch
Frankreich 251
Beilage: Der Spruch gefUlt sn Basel am 11. Mal 1668 264
Voiktwirthschaftliohe Grundfragen, von Dr. Gustav H. Schmidt,
eidg. Abtheilungs-Sekretär in Bern 279
JaJireeberioht fOr da« Jahr 1899 307
Bellagen:
I. Bluntschli's Vermittlungsprojekt vor dem Sonder-
bund a krieg (lh47) . . .653
II. Apostolischer Brief des Papstes Leo XIII. an den
französischen Clerus 677
Register zum Jahresbericht 1899.
Seite
Situation 309
I. Aeuueres, allgemeine Verhältnisse 314
Verhältnis* der Schweiz zu andern Staaten . 831
Diplomatische Veränderungen 347
Staatsvertrage, Konkordate, Kongresse .349
Die Haager- Konferenz und ihre Resultate . 364
Das Militftrwesen der Eidgenossenschaft .... 891
II. Innere« 405
Bundesverfassung. In Aussicht stehende Revisionen . 405
Interpretationen der Bundesverfassung .... 4ü(>
Kantons Verfassungen 414
Statistisches 415
Parteiwesen 428
Frauenfrage 438
Kirchen 453
III. Gesetzgebung und Verwaltung 485
Gesetzgebung 486
Verwaltung 501
Finanzen 516
Regalien 530
Eisenbahnen 550
Subventionen 561
Schulwesen 566
IV. Gaeelltohaftliohes 580
Soziales 5S0
Landwirthschaft, Forstwesen, Jagd und Fischerei . . 602
Sport und Spiel 610
Feste. Kunst 620
Litteratur 633
Nekrologie 636
Nachtrage ... 643
Beilagen 651
Register 700
Aktenstacke, welche in diesem Bande des
Jahrbuchs enthalten sind.
Bette
Das kaiserliche Manifest gegen die Eidgenossen vom 22. April
1499 22
Beschreibungen Anshelm's aus dem Schwabenkriege 29
Auszüge ans den Eidg. Abschieden von 1498/99 ... 37
Das Lied « Der alte Greis» von Peter Müller von Rapperswyl 52
Die Artikel X— XII des Congo -Vertrages von 1885 .116
Die schweizerische Neutralitfttsakte vom 20. November 1815 117
Der Basier Bundesbrief vom 9. Juni 1501 121
Schiedsgerichtvertrag (Projekt) zwischen England und Amerika 12 1
Diplomatische Korrespondenz zwischen der Schweiz und Italien
betr. Schiedsgerichte 122
Neueste französische Aeusserungen über die savoyische Neu-
tralität 125
Die Brüsseler-Artikel über das Kriegsrecht von 1874 . 127
Der VermittlungBspruch vom 11. Mai 1568, Grundlage des
Lausanner -Vertrages (bisher ungedruckt) .... 264
Briefe des zweiten deutschen Reichskanzlers von Caprivi . 340
Blnntschli's Vermittlungsprojekt vor dem Sonderbundskrieg
(1847) (bisher unbekannt) .653
Apostolischer Brief des Papstes Leo XI LI. an den französischen
Clerus 677
Fin de Siede.
I.
Welches ist wohl die vorherrschende Stimmung, in welcher
das complizirte Wesen «civilisirte Menschheit» aus dem 19.
in das 20. Jahrhundert hinübergleitet?
Noch vor einem Menschenalter hätte eine vorausschauende
Antwort wahrscheinlich gelautet : Mit Bewunderung vor den
Fortschritten naturwissenschaftlicher und technischer Art, der
Ueberwindung von Zeit und Raum, der Annäherung der
Nationen, der Aufklärung der unteren Volksschichten, der
Verbesserung des Looses Aller, die in diesem Jahrhundert
gemacht worden sind und mit der Aussicht auf ein weiteres
Jahrhundert friedlichen Fortschrittes , in welchem jede
drückende Armuth und Ungleichheit beseitigt, alle Schwerter
in Pflugscharen verwandelt sein werden und eine wirkliche
Verbrüderung aller civilisirten Völker beginnen kann.
Ob das dermalen, da wir wirklich an dieser Schwelle
ans befinden, noch die Antwort sein wird, möchten wir sehr
bezweifeln. Was jetzt die Völker in Wirklichkeit innerlich
bewegt, ist auch nicht die Sehnsucht nach Humanität, das
war das Ideal der vergangenen Jahrhundertwende, das seit-
her bis auf einen gewissen Grad erreicht worden ist, sondern
die Sehnsucht nach Kraft, welche weder aus der domini-
renden Stellung der Naturwissenschaften, wie sie in dem
4 Fin de Siecle.
zweiten Theile des 19. Jahrhunderts bestand, noch aus der-
jenigen der abstrakten Philosophie, in welcher dessen erste
Hälfte, nach Vorübergang der napoleonischen Kriegsstürme,
den Schlüssel zu allen Geheimnissen des Lebens gefanden zu
haben glaubte, hervorgegangen ist. Ein sich zu schwach
fühlendes Geschlecht sucht jetzt Kraft um
jeden Preis, in der Politik, wie in der Kunst, oder der
Erziehung, — und sie will sich auf den bisherigen Wegen
nicht finden lassen.
Die Welt ist, wie es scheint, doch etwas anders, als
die bisherige, etwas oberflächliche Anschauung sie sich vor-
stellte; es liegen noch hinter ihrer blossen Aussenseite,
die beobachtet, gemessen und gewogen werden kann, Reali-
täten, die mit einein anderen Sinne erfasst werden müssen,
und denen der blosse Naturforscher mit einem «ignoramus»
gegenübersteht.
Der Materialismus, und die daraus resultirende Ueber-
schätzung der naturwissenschaftlichen Kenntnisse, war ein
ganz natürlicher Rückstoss gegen den blossen Formalismus
der abstrakten Philosophie, gegen welchen die für die zweite
Hälfte des Jahrhunderts typische Abwendung von aller
Metaphysik eintrat, welche von Schopenhauer «metaphysische
Bedürfnisslosigkeit* genannt wird. Nun tritt mit der TJn-
widerstehlichkeit eines Natur Vorganges dieses Bedürfniss
wieder ein, bei Tausenden von Gebildeten auf Einmal, und
was bisher ein vollständiges wissenschaftliches System zu
sein schien, erscheint ihnen nur noch als eine theil weise und
ungenügende Erkenntnis bloss einzelner Vorgänge des kom-
plizirten Vorganges, welcher «menschliches Leben> heisst.
Jacob Burkhardt in seinem mit Recht berühmten Buche :
«Die Zeit Konstantins des Grossen» schildert auf pag. 185 eine
Fin de Siecle. 5
ganz Ähnliche Epoche. Auch damals, am Ende der alten
Zeit und ihrer Kultur entdeckte die Welt plötzlich wieder, dass
(wie Geizer sagt) «der Glauhe, der Sinn für die unsichtbare Welt,
eine natürliche Anlage des Menschen ist, deren Unterdrück-
ung and Vernachlässigung eine anormale Bildung, eine Ver-
krüppelnng der Seele zur Folge hat.> Wir vermuthen, dass
sie dermalen zum zweiten Male in dieser Entdeckuug begriffen
ist. und dass der interimistische und provisorische
Zwischenzustand, den man jetzt «Agnostizismus» nennt,
welcher dermalen der Inhalt des Denkens der weitaus meisten
Gebildeten unserer Zeit ist, die überhaupt weiter als an Essen
und Trinken und die täglichen Bedürfnisse und Interessen des
Lebens denken, nur der Vorläufer einer grossen Bewegung
sein wird, den ein anderer heutiger Philosoph1) einen «Kampf
um die Seele» nennt. Wir setzen die charakteristische Stelle
wörtlich hieher; sie betrifft viele heute im Vordergrund des
Interesses und der Diskussion liegende Erscheinungen:
«Nicht geringer ist die Wandlung, die in der reinen
Gedankenarbeit vorgeht. Hinter uns liegt die Zeit, wo die
Natur das Ganze unserer Wirklichkeit zu bilden schien, wo
alle Gebiete sich gemäss der Naturwissenschaften gestalten
sollten, wo auf den Trümmern des alten Glaubens sich
ein neuer Glaube aus popularisirter Naturwissenschaft ein-
richten wollte. Die klägliche Leere dieses neuen Glaubens
musste gar bald zur allgemeinen Empfindung kommen; die
Wissenschaft aber sehen wir jetzt weit mehr darauf bedacht,
das Eigentümliche der geistigen Vorgänge und Gebiete
deutlich herauszuarbeiten, ihren Unterschied von den Natur-
prozessen hervorzukehren. Das geschieht zunächst ohne alle
Tendenz, in reiner Ermittelung des Thatbestandes, es erfolgt
M Eucken, «die Lebensanschauungen der grossen Denker»
im Schlusskapitel.
C Fin de Siede.
mehr an besonderen Vorwürfen, als in prinzipieller Erörte-
rung1. Aber es drängt schltesslicti mit Notb wendigkeit zu
der grossen Frage, was denn das Ganze bedeute, das sich
in so ei grnthiim liehen Kräften uud Gesetzen zu erkennen giebt,
und wie dieses Ganze znm sinnlichen Dasein sich verhält.
Damit, wird der Gedanke über dieses Dasein hinansge tri eben ;
Probleme, die schon erledigt, schienen, erwachen von Neuem;
ein grösseres Weltbild wird gesucht, um den ganzen Urnbreis
unseres Lebens aufzunehmen.
Die traibende Kraft aller solcher Bewegungen ist eine
stärkere Entfaltung des Subjekts. Es kann sich aber nicht so
entfalten, ohne zugleich die Unsicherheit seines eigenen Bestan-
des, die Unklarheit über den eigenen Inhalt zn empfinden ; so ver-
wandelt sieh alsbald jenes Streben in ein Suchen des eigenen
Wesens, in einen Kampf um die eigene Erhaltung. Ein solches
Siehselbstsuchen des Subjekts ist es, was die moderne Kunst
durchdringt und ihre Bestrebungen, bei allem Unreifen und
Unerquicklichen, so bedeutsam und so zwingend macht. Wo
aber ein Suchen, da ist auch Irren und Verirren; so ist nicht
verwunderlich, dass In dem neuen Streben auch viel Sonder-
bares und Verkehrtes zur Oberfläche drängt, dass es In
ihm zunächst wirr, ja wild durch ei n Amiergeh t. Namentlich
liegt hier die unglückliche Wendung nahe, dass das Subjekt
niuht, in seiner Innerlichkeit eine neue Welt entdeckt und in
ihr eine Substanz wie eine Norm findet, sondern dass es
sich in seiner blossen und leeren Empfindung als freischwe-
bendo (iriisse behandelt und zum Mittelpunkte der Wirk-
lichkeit macht, zugleich aber das Lehen in eine unablässige
Selbstbespiegelung und eitle Reflexion verwandelt, sich in
Wunderlicher Mischung von Sophistik und Romantik in der
blossen Stimmung" zu einem weltüberiegenen Kraftgefühl
FIn de Siede. 7
aufbauscht, dem kein grosser und kraftiger Lebensprozess
entspricht, das daher seine innere Hohlheit nur durch Phrasen
verbergen kann. Das ist die Philosophie Tom «Ueber-
menschen> u. s. w. Sie ist aus der Zeitlage vollauf begreif-
lich und findet darin eine Entschuldigung. Aber sie spiegelt
nnr eine flüchtige Stimmung, nicht die Substanz der Zeit.
Gewiss bedarf unsere Zeit der Kraft, wie überhaupt die Be-
deutung der Kraft wohl ausser Frage steht.
Aber man mnss die Kraft auch haben, nicht sie sich
künstlich einreden.
Der wirklich Kräftige pflegt ebenso wenig von der
Kraft viel Worte zu machen, wie der Gesunde von der Ge-
sundheit, der Ehrliche von der Ehrlichkeit.
Aber solche durchaus begreifliche Auswüchse sollten den
Glauben an eine grosse Aufgabe der Zeit und an das Recht
der Wendung zum Subjekt nicht erschüttern. Der ganze
Verlauf der geschichtlichen Bewegung lässt sich in seinen
grossen Zügen betrachten als eine unablässige Verschiebung
des Lebens aus dem Verhältniss zur Umgebung in die Innerlich-
keit ; mehr und mehr wird sie zn einer Innenwelt ausgebaut,
mehr und mehr von hier aus unsere Wirklickheit umge-
wandelt Uns aber drängen auf diese Bahn, drängen zur
Selbstbesinnung und Selbsterneuerung mit besonderer Stärke
die Unfertigkeit unserer geistigen Lage, die grossen Wider-
sprüche unseres geschichtlichen Standes. Wir fühlen uns als
Glieder der Neuzeit, ihr Streben nach einer unmittelbaren
und universalen Lebensführung, nach einer Auseinander-
setzung mit dem Ganzen der Welt, ist auch unser Streben;
alles, was nicht eigenes Erlebniss ist und nicht dem ganzen
Menschen dient, kann auch uns nicht befriedigen. Aber die
Art, wie die letzten Jahrhunderte diese unanfechtbare Auf-
gabe behandelt haben, kann uns nach den Erfahrungen und
8 Fin de Siede.
Erschütterungen der Zeiten nicht mehr genügen. Die einzige
völlig präzise Art der Durchführung bot die Aufklärung;
aber dass sie das Leben in zu enge Bahnen lenkte, darüber
besteht heute kein Zweifel mehr. So wenden wir uns mit
besonderer Vorliebe zur Renaissance, um hier das Grund-
streben der Neuzeit in ursprünglicher Frische zu erfassen.
Aber in der Renaissance war in solcher Ursprünglichkeit
auch viel Ungeklärtheit, die sich unmöglich mit aufnehmen
lässt; vor allem aber können wir uns ihr überschäumendes
natürliches Kraft- und Lebensgefübl nicht so einfach aneignen.
Wir haben nicht mehr die optimistische Grundstimmung, die
der Bund von Schönheit und Lebenskraft dort erzeugte ; die
Dunkelheiten des Lebens, die Schranken unseres geistigen
Vermögens, die Konflikte in der eigenen Seele des Menschen
wie im Zusammenleben der Menschheit, sie sind uns viel zu
deutlich vor die Augen gerückt, als dass sie sich glatt und
rasch erledigen Hessen; die Stimmung ist stark verdüstert,
die Lebensarbeit lastet auf uns mit weit grösserer Schwere,
die ungeheuren Widerstände drängen zu neuen Vertiefungen ;
so kann das Lebensbild der Renaissance unmöglich das
unsrige sein, so gilt es, die Grundidee der Neuzeit in eigener
Weise anzugreifen und mit der Gesammterfahrung der Mensch-
heit in Einklang zu bringen. Welcher andere Angriffspunkt
aber bietet sich bei solcher Aufgabe als das Subjekt mit
seiner Innerlichkeit; hier gilt es, die grossen Weltprobleine
aufzudecken, hier einen glücklichen Fortgang zu suchen.
Finden lassen aber wird sich ein solcher Fortgang nur,
wenn sich die Lebensbewegung vertieft zu einem Kampf um
die Seele, um eine geistige Selbsterhaltung, wenn sie damit
einen ethischen Charakter gewinnt. Erreichen wir nicht
einen Punkt, wo aus der Freiheit eine Noth wendigkeit her-
vor bricht, wo durch Verneinung und Vernichtung dem
Fin de Siecle. 9
Menschen ein neues Wesen und eine neue Welt aufsteigt,
so ist alle Mühe verloren; auch das Streben unserer Zeit
wird bei aller Aufregung nutzlos verflattern und verwehen,
wenn es nicht zu diesem Punkt vordringt, eine grosse Wen-
dung des Innern vollzieht und sie zur historischen Situation,
zu den Notwendigkeiten der geschichtlichen Lage in engste
Beziehung setzt. Es ist und bleibt der moralische Cha-
rakter, der über die Tiefe und Wahrheit des ganzen Lebens
entscheidet. Im Lauf der Jahrhunderte Bind der Moral
Gegner über Gegner erwachsen: Sophistik wie Bomantik,
blosse Naturkraft wie ästhetisches Selbstgefühl, glaubten sich
über sie wie etwas Minderwerthiges, Philisterhaftes hoch er-
heben zu können. Aber was sie als Moral bekämpften, war
ein blosses Zerrbild ihrer eigenen Vorstellung; ein solches
Karrikiren lässt sich ja Niemanden verwehren. Aber es
ändert nichts an der Sache, die Sonne bleibt Sonne, mag sie
der Beobachter noch so getrübten Auges anschauen. Darum
also handelt es sich auch für unsere Zeit, ob sie die Zerr-
bilder abstreifen und den Weg zu jener Erneuerung finden
wird. Bei der Eigenthümlichkeit ihrer Lage kann sie ihn
jeden Falls nur ans eigener Arbeit finden, nicht von einer
anderen Zeit gewiesen erhalten.»
Das ist auch unsere Ansicht, und desshalb gehen wir
hoffnungsvoll in das neue Jahrhundert, während wir
mit der Lebensanschautrag Gcethe's, oder Darwins, oder gar
Nietzsche's an einer gesunden Weiterentwicklung Europas,
namentlich einer solchen im Sinne der Ausbildung politischer
Freiheit, Zweifel hegen müssten.
Darüber kann vernünftigerweise kein Zweifel sein, dass
wir aus dem Agnostizismus heraus müssen, und dass es
sich jetzt darum handelt, eine befriedigende Gesammtanschauung
10 Fin de Siecle.
für das ganze Leben des Menschen zu finden, die einem grossen
Theile, namentlich der gebildeten Menschen fehlt. Das ist
wichtiger als Alles Andere nnd wird sich aufdrängen, man
möge es wünschen oder nicht, im Staat, in der Gesetzgebung1
und Verwaltung, in der Kirche, in der Familie und Erziehung,
im Leben des Einzelnen und nicht am wenigsten in der Rege-
lung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse. Auch diese
sind ohne eine gesunde Grundanschauung in dem Sinne, den
man mit den Worten Philosophie oder Religion ausdrückt,
nicht neu zu begründen, nnd der Hauptfehler der bisherigen
Versuche liegt gerade in der rein materialistisch-atheistischen
Denknngsart der leitenden Geister, welche sich auf die hinter
ihnen stehenden Massen übertragen hat, als das einzige
vorläufig gewisse Resultat ihrer Bestrebungen.
Das kommende Jahrhundert wird nicht ein Jahrhundert
der «sozialen Frage» sein, so wie sie heute aufgefasst wird,
sondern vielmehr ein Jahrhundert der religiösen Frage, in
welchem sich wieder deutlicher, als seit langem, zeigen
muss, was überhaupt das welttbewegende Prinzip ist, ob der
kleinliche, vorübergehende und engbegrenzte Wille kurz-
lebiger Menschen, die bloss auf sich selber und ihre eigene
Einsicht und Kraft gestellt sind, oder der unveränderliche,
feststehende WilJe eines Geistes, für den eine Jahrhundert-
wende keine grosse Bedeutung hat.
Der Agnostizismus, das blosse Bekenntniss, dass man
eigentlich über die höchsten Lebensräthsel nichts wisse, ist
schon ein Fortschritt gegenüber dem blinden und dreisten
Materialismus, der Alles zu wissen behauptete, was wirk-
lich sei; es ist bloss noch passiver Unglaube an Stelle des
activen. Aber er ist doch eine armselige Lehre. Er ver-
zichtet einfach darauf, zu wissen, was das Menschenleben
Fin de Siecle. 11
eigentlich bedeutet. Es wird alles zur Mittelmässigkeit
verdammt in ihm und dem Zufall, oder der Gewalt und List
der jeweilen stärksten unter den lebenden Menschen preis-
gegeben. Im politischen Leben führt er zum ober-
flächlichen Liberalismus, welchem der Staat und seine Form
der höchstmögliche Gedanke der Menschheit ist, oder zu einem
ebenso oberflächlichen Konservativismus, der nichts Anderes
weiss, als einmal hergebrachte und gewohnte Formen politischen
und kirchlichen Lebens zu erhalten, gleichviel ob sie gut oder
schlecht seien, — weil man eben selbst nichts wesentlich
Besseres kennt.
Da können wir ruhig sagen, das ist auch, wenn nicht
vorübergegangen, so doch im Vorübergehen begriffen.
Auch ist «Rom» nicht mehr allein in Frage, wie noch vor
drei Jahrzehnten ; dieselbe hat sich unterdessen ve r t i e f t.
Was Spinoza, Voltaire, Goethe, oder selbst Schopenhauer
noch nicht auszusprechen wagten, wofür sie immer uoch
irgend eine pantheistische Formel suchten, das wird jetzt von
Tausenden, bald von Millionen offen bezeichnet und der Ge-
gensatz dazu als die Grundursache aller bestehenden Uebel
der menschlichen Gesellschaft angeklagt werden. In diesem
Verstände hat auch der Wahnsinn Nietzsche's Methode und
Zusammenhang mit der Wirklichkeit. Und das ist der wahre
Grund des Lobes, der ihm zu theil wird.
Die Frage des nächsten Jahrhunderts ist die, ob der
philosophische (oder unphilosophische) Atheismus Recht hat,
oder das Christenthum, als die historisch letzte und beste
Form des Gottesglaubens. Die gebildeten Klassen wenden
sich demselben sichtbar wieder zu, während in den unteren
Schichten der Atheismus im Zunehmen begriffen ist.
Es mag manchen Menschen, welche die Vorgänge der
Geschichte kennen und wissen, mit welchen Erschütterungen
12 Fin de Siecle.
der Austrag dieser Frage schon wiederholt, begleitet gewesen
ist, hange werden bei dem Gedanken, dass die jetzige äusser-
licli glanzende Kultur wieder einer Verwüstung unterliegen
könnt?, wie es die Völkerwanderung, oder die Ausbreitung
des Islams, oder in nah erliegen den Epochen der drei ssigj ährige
Krieg und die französische Revolution gewesen sind. Andere
werden sich sagen, dass jeder grössere Fortschritt im
Gesam tntleben der Menschheit mit Leiden erkauft werden
innss, wie es auch im Leben des Einzelnen der Fall ist.
Und vielleicht auch, dass es doch noch schöner sein wird,
in einer Zeit zu leben, wo man um die allerhöchsten
■ ■:! der Menschheit kämpft, als in einer solchen, wo
es Mth höchstens um Eisenbahnen, oder nm Kolonien handelt,
- vorausgesetzt immer, dass man Muth genug besitzt und
daher ist, auf der rechten Seite zu stehen, die am Ende den
Htg davontragen wird.
n.
Das letzte Jahr eines Jahrhunderts ist zu zweien Malen
l'iir die Schweiz ein Schicksals- und Entscheidungsjahr ge-
■FBMB. Im Jahre 1499 ging sie aus dem strategisch nnd politi-
tisch bedeutendsten Kriege ihrer Geschichte an Kraft und
lehren reich hervor und nahm in Folge dieser tapfern Hal-
tung vom Beginn des 16. Jahrhunderts an ihren Platz ata
laRntSadlges Staatswesen in Europa ein. Zn Ende 1799
hingegen hatte sie ihren blühenden Wohlstand durch den
Krlftg fremder Nationen auf Ihrem Boden nnd die eigene
BWUTgrihaftc Wehrverfassung eingebüsst, und begann das
in. Jahrhundert mit der bestimmten Aussicht auf weitere
Fin de Siecle. 13
Erschütterungen des kaum geschaffenen modernen Staats,
vielleicht bei den Besten ihres damaligen Volkes sogar ohne
fiel Hoffnung auf einen selbständigen Fortbestand desselben
überhaupt. Diese beiden Kriegsjahre sind also der Höhe- und
der Tiefpunkt der schweizerischen Geschichte.
Das Jahr 1499 war der thatsächliche Abschluss eines
allmähligen , in verschiedenen Entwicklungsstadien durch-
laufenen Wachsens des eidgenössischen Staatsgedankens.1)
Derselbe bestand ursprünglich nicht darin, einen eigenen
«souveränen Staat» in Europa zu bilden, sondern einen ewigen
Bund Ton Städten und Ländern, die sich im deutschen Reiche
und unter dessen Oberhoheit selbständig regierten und keinem
speziellen Landesherrn erblich angehörten, wie es solche
Verbindungen weniger dauerhafter Art auch noch andere
gab. Daher wurden in den Bundesbriefen gewöhnlich Kaiser
und Reich vorbehalten, bis in das 15. Jahrhundert hinein
auch noch um die Bestätigung der Freiheitsbriefe, die die
Grundlage dieser Konstitution enthielten, bei den deutschen
Kaisern nachgesucht, dieselben, wenn sie in die eidgenössischen
Länder kamen, mit allen Ehren als Oberherrn empfangen, und
der Kaiser überhaupt stets «unser Herr», unser «gnädiger
Herr», hie und da etwas spöttisch auch «unser ungnädiger Herr»
genannt. Dieses Verhältniss änderte sich allmählig durch ganz
verschiedene Umstände und in langsam fortschreitender Weise.
Zunächst kamen seit dem 15. Jahrhundert die deutschen
Kaiser seltener mehr als früher in die Schweiz, ferner wurde
nach und nach diese Würde gewissermassen erblich in dem
Hause Oeaterreich, gegenüber welchem bis zu der «ewigen
*) Am besten und übersichtlichsten findet sich dieser ganze Ver-
lauf dargestellt in dem Aufsatz von Professor Oechsli «Die Be-
ziehungen der schweizerischen Eidgenossenschaft zum Reich bis
zum Schwabenkrieg», im V. Bande unseres Jahrbuchs.
14 Fin de Siecle.
Iitung» von 1474 bloss ein stets sich verlängernder
ffcnstillBtand ohne rechte Versöhnung und ein beständiges
-Trauen bestand; sodann wurden im deutschen Reiche
allmählich immer mehr die Landesfurten, ganz besondere
<\b Kurfürsten, die eigentlichen Landesherren, zu welchen
dir Eidgenossen scbaft kein Verhältnis» hatte. Von den Reichs-
gerlekten hatte sie sich durch die feste Begründung eines
eigenen gehörigen Rechtsschutzes und Bechtsganges mittelst
lt-s j 'f äffen!) rief es und des S tanser Vorkommnisses emanzipirt,
lanjre bevor das Beich am Wormser- Reichstag von 1495
■jaen ahnlichen ewigen Landfrieden zu begründen versuchte,
dd endlich war seit den Burgunderkriegen und den ersten
iliiiidafssen initFr ankreich unter Karl VII. und Ludwig XI.
•Joe nahe Beziehung zn diesem Lande eingetreten, welche
mit' Jahrhunderte hinaus die vorwiegende blieb.
Unter diesen Umständen war es selbstverständlich, dass
dl« Eidgenossenschaft den von Kaiser Friedrich III. gestifteten
Krhwäbischen Bund an ihren G ranzen nicht gerne sah, ihm auch
ni.lit beitreten und noch viel weniger die Beschlüsse des Reich s-
tagos von Worms anerkennen konnte, durch die ein r Reich s-
mergericlit. als oberste Instanz auch für sie, und eine
■ II eiiieine Reichssteuer eingeführt werden sollte. Von 1406 ab
winde diese vom Reiche ganz bestimmt verlangt'), und als dann
null positive Massregeln dieses neuen Gerichtshofes gegen
In; zugewandten Orte St. Gallen, Schaffhansen und Rottweil
]) Die Eidgenossen erkannten sehr wohl, wohin das AJW
KkHenllch führen würde, und der Kurfürst von Mainz soll auch
In Liinntlich einer eid gen flssis eben Abordnung geradezu erklär!
Iiiiln'ji. der Weg sei gefunden, den Schweizern einen Herrn zu geben,
hiiJ ,t seihst werde diess mit der Feder hl seiner Hand zuwege-
hringen, worauf er die treffende Antwort empfing, es hätten diess
ii in' [i tehon andere Leute mit Hellebarden «ersucht, die noch ge-
fuhrlither seien, als ein Gänsekiel. Ansliclm's Chronik If, 112.
Fin de Siecle. 15
hinzutraten und überdiess durch grobe Schmähungen die
Stimmung in den Gräuzgebieten sich mehr und mehr ver-
bitterte1), wurde ein friedlicher Ausgang in den folgenden
Jahren immer unwahrscheinlicher.
Den direkten Anlass zum Kriege gab das Umsichgreifen
Oesterreichs in den südöstlichen Gebieten des heutigen Grau-
bnndens, wogegen sich der dortige Graue Bund und Gottes-
hausbund durch ein Bündniss mit den sieben östlichen Eid-
genössischen Orten (ohne Bern) zu stärken versuchten. Das
Frauenkloster Münster, unmittelbar an der Gränze von Tyrol,
das noch in unserer Zeit einen gewissen Anhalt an Oesterreich
findet2), war der Punkt, an welchem der Krieg ausbrach,
indem es im Januar 1499 plötzlich von Tyrolern besetzt
wurde. Eine Friedenskonferenz in Feldkirch vom 10. Januar
blieb erfolglos, und die Regierung von Tyrol rief nun den
schwäbischen Bund, die Graubündner hingegen die Eidgenossen
zu Hülfe, welche letzteren auch sofort, zu allererst die Urner,
*) Der Neid und die Bosheit der Gränznachbarn, die sich
allmählig bei dem allerdings auffallenden Glöck uud Kuhm der
Eidgenossen ansammelte, ist besonders gut aus dem Lied des Isen hofer
Ton Waldshut. «Woluf, ich hör' ein nüw Getön» aus der Zeit des
alten Zürichkriegs, schon ein Menschenalter zuvor, ersichtlich.
Tschudi II 412. Seither war noch viel mehr Ruhm, in den Burgunder-
kriegen besonders, erworben worden. Namentlich war der zahlreiche
verarmende Gränzadel ein erbitterter Feind der eidgenössischen
«Bauern», die sich selbst seiner «natürlichen» Herrschaft entzogen
hatten und Andern ein beständiges «schlechtes Beispiel» gaben. Es
würde sich lohnen, alle diese kleinen Feinde der Eidgenossen, Marx
Sittich von Hohenems, die Grafen von Werden berg und Fürstenberg,
Graf Alwig von Sulz, die Tiroler Herren, Jacob von Medici von
Musso n. A. m. in einem zusammenhängenden Zeitbilde zu beschreiben
*) Vgl. darüber die noch hängende Inkamerationssachc, Jahr-
buch XI, p. 432.
16 Fin de Siede.
unter der Anführung Heinrich Wohllebs, der bei Frastenz
fiel, der Mahnung entsprachen. Vom Februar an begann der
Krieg auf der ganzen langen Linie1) vom Münsterthal bis
zum Elsass, in welchem die Eidgenossenschaft udd das deutsche
Reich anfänglich bloss Helfer, nicht «Ursachen» waren, nach
und nach aber thatsächlich und naturgemäss die Hauptparteien
wurden. Er endete mit der bedeutenden Schlacht, von Dornach
am 22. Juli, und es kam sodann, nach allerlei Schwierigkeiten,
durch die Vermittlung des Herzogs von Mailand der Friede
von Basel vom 22. September zu Stande, der in den Beilagen
zum letzten Jahrbuch bereits abgedruckt ist und die faktische
Unabhängigkeitserklärung der Eidgenossenschaft bildet. Die
nächste Folge davon war der Eintritt von Basel und Schaff-
hausen in den Bund, der zwei Jahre später ziemlich gleichzeitig
erfolgte; dagegen ging Konstanz, das sich schon vor dem
Kriege dem schwäbischen Bund angeschlossen hatte, während
es früher (und zum Theil auch noch später) in vielen freund-
schaftlichen Beziehungen zur Eidgenossenschaft stand, der-
selben definitiv verloren und ist bis zum heutigen Tage das
einzige kleine Stück nicht schweizerischen Gebietes auf der
linken Rheinseite geblieben.
Der Krieg selbst war ein sehr erbitterter und theilweise
auch blutiger gewesen. Die Eidgenossenschaft und Grau-
bünden siegten in allen Gefechten2) ohne Ausnahme auf der
*) Die eigentliche Kriegserklärung ist vom 16. Februar.
2) Die beiden entscheidenden Schlachten des Krieges waren die
an der Maiser beide, oder wie sie in neuerer Zeit genannt wird, an
der Galven, vom 22. Mai auf dem südöstlichen und die von Dorn ach
am 22. Juli auf dem nordwestlichen Kriegsschauplatz, deren Be-
schreibungen nach Anshelm in den Beilagen folgen. Ueber die
erstere besteht eine vom Eidg. Generalstabsbureau 1895 heraus-
gegebene genaue Darstellung mit Angabe aller Quellen.
Fin de Stecle. 17
ganzen langgestreckten Gefechtslinie und konnten sich am
Schlüsse desselben mit Recht rühmen, nicht einen Zollbreit
Boden bei Beginn der Friedensunterhandlungen in gegneri-
schen Händen und keinen Feind anders als todt eine Nacht
lang auf ihrem Gebiete gelassen zu haben.
Der Kaiser, welcher selbst kurz vorher, 1487, die c ewige
Richtung» seiner Vorgänger in der Herrschaft von Vorder-
osterreich und Tyrol erneuert und darin den ganzen eidge-
nössischen Besitzstand unbedingt anerkannt hatte, erliess
am 22. April ein . Manifest an das Reich, welches neben dem
«Zornbreve» Papst Julius IL und dem sogenannten «Gebet»
WimphelingV) um unsere Bekehrung das Gröbste enthält,
was jemals über unsern Staat geäussert worden ist2). Er
vermochte es indessen trotzdem über sich, bereits im Jahre 1500
die «ewige Erbeinung» Oesterreichs mit den «groben, schnöden
Bauersleuten» wieder zu erneuern, und Hess es sich sogar
sehr angelegen sein denselben in einem noch engern Frcund-
schaftsbund, der «erneuten Erbeinung» von 151 18), (welche
im letztjährigen Jahrbuche (p. 234) abgedruckt ist), das Pro-
tektorat über die Grafschaft Burgund (die heutige Franche-
comtä) Namens seines Enkels, Erzherzog Karl, des nach-
maligen Kaisers Karl V, anzuvertrauen. So hatten sich durch
die Entschlossenheit und die Kriegskunst der Eidgenossen
die Ansichten über sie in kurzer Zeit völlig geändert.4)
Von dem Basler-Frieden ab hörte der Zusammenhang
der damaligen Eidgenossenschaft mit dem Reiche thatsächlich
auf; sie galt fortan nicht mehr als «Glied», sondern bloss
*) Eidg. Abschiede III, Abtheüung II. 519 und Oechsli Quellen-
buch 282.
*) Vgl. die Beüage I.
*) Eidg. Abschiede III. Beilage 19.
*) Ganz ähnlich, wie es im letzten Jahre bezüglich der Ameri-
kaner der Fall war.
2
18 Fin de Siede.
noch als Verwandte» des Reiches; einzijr die Städte Basel,
. -uii und St. Gallen, die Bistliümer von Basel,
(imf, Lausanne und Sitten, die Abtei St. Gallen und eine
Anzahl anderer geistlicher Stifte wurden noch theoretisch
als in die Reicbskrciseintheilnng gehörend beansprucht. Der
dreissigjährige Krieg, in welchem es der Eidgenossenschaft
gelang, ihren Boden (mit Ausnahme von Rottweil) von dieser
verwüstenden Furie gänzlich intakt zu erhalten, und der
tiefe Vorfall Deutschlands nach demselben mussten ihr die
Folgen ihrer Politik und des Krieges von 1499 im besten
Lichte zeigen, und bei dem Wostphälisehen Fried cnskongreas,
Welcher dem Unglück ein Ende machte, wurde auf ihr Ver-
langen ihre «Souveränität» nun förmlich durch einen Artikel
des !■ Q8instrumcntes anerkannt.1) Im Rys wicker- Frieden
von 11497 wurde dann nochmals das Gebiet des »Corpus Hel-
veticwii* als ein besonderer europäischer Staat erklart.
Einzig das Gebiet des Bistbums Basel ist dort nicht zur
Schweiz gerechnet und blieb bis zum Anfang dieses Jahr-
hunderts, eigentlich bis 1815, in etwas zweifelhaften Ver-
haltnissen.
Win 1648 ab verschwindet dann auch der Reichsadler
überall aus den Wappenschildern und an den Gebäuden der
Schweiz-), und die Eidgenossen werden fortan nur noch als
«Freunde» des Reiches bezeichnet.
Im Jahre 1650 sandten sie eine Botschaft nach Wien
mit dem Ansuchen, man möchte Inskünftig die bisher ge-
bräuchliche Kanzleianrede «liehe und getreue» in «liebe und
besondere» abändern, da ihnen die Franzosen und Venezianer
') Kid«. Abschiede V, II, 2218. Unterhändler war der Börger-
nwjstar Wettstein von Basel.
Fin de Siede. , 19
vorhalten, es liege in der bisherigen Ansprache doch noch eine
< Subjektion und Unterwürfigkeit». Die kaiserliche Kanzlei
antwortete zwar damals noch ablehnend, man ziehe vor,
«bei dem alten Stylo zu verbleiben», entsprach dann aber
dennoch von 1688 ab und titulirte die Eidgenossen fortan
«besonders liebe», wobei wir auch dermalen noch sehr gerne
verbleiben wollen und können.
Im Ganzen kann man wohl behaupten, in diesem Kriege
sei, wie schon oft in der Weltgeschichte, dem Uebermuth sein
Recht widerfahren, denn an unfläthigen Lästerungen und
frechen Drohungen ist nie so Arges gegen die Eidgenossen-
schaft geschehen, als es bei Beginn nnd während desselben
der Fall war. Von Seite der Eidgenossenschaft ist nur ein
sehr derbes Spottlied bekannt, das aber nicht vor, sondern
nach dem Krieg und Sieg gesungen wurde; es ist das erste
Dornacherlied, in dem die Verse vorkommen:
«Dorneck bist ein hohes Hus,
Da schluogend d'Schwaben d'Kuchi uf,
Die Häfen thatend's schumen,
Doch als es ward um d'Vesperzyt,
That man die Knchi rumen.
Solothurn bist ein vester Kern,
Das hant die Schwaben gar nit gern,
Es will mich selber dünken,
Z'Dorneck band's ein Häring g'essen
Und erst zu Strassburg trunken.
Der uns das Liedli macht bekannt,
Ein Schwyzerknab ist er genannt,
Er hat dick wol gesungen,
Zu Dorneck vor dem grünen Wald
Hat man die Schwaben gschwungen.»
Mit dem Schwabenkrieg begann die äusserlich grösste
Zeit der Eidgenossenschaft, in der sie ein Vierteljahrhundert
•>0 F in de Siede.
lang die erste Kriegsmacht Europas war, und zugleich
die lange Rivalität mit den deutschen Landsknechten und
den Spaniern um den Ruhm der besten Infanterie der Welt,
deren poetischer Epilog das schöne Kriegslied Caspar Snter'B
ans der - 'Macht von Cerisollcs1) ist, mit der eine andere
Periode eintritt.
Ein gänzlich anderes Bild bietet, in Ereignissen und
Folgen, das Jahr 1799, das wir hier nicht näher beleuchten
wollen. Eine kurze Darstellung findet sich in nnsern «Öffent-
lichen Vorlesungen aber die Helvetik» von 1878, ein Be-
richt des französischen Gesandten Pichon (nach Oechsli
Qiiellenbueh, pag. 468) In den Beilagen; eine anschauliche
Schilde runs; der Schlacht von Zürich ist in dem diessjährigen
Nenjahrsblatt der Feuerwerker - Gesellschaft von Zürich
enthalten. Es wird nicht leicht in irgend einer Staats-
geschichte ein grösserer Gegensatz gefunden werden können,
als diese beiden Kriegsjahre ihn enthalten, und ebenso ist
schwerlich jemals ein Land so rasch und vollständig in Wohl-
stand und Thatkraft her abgekommen, wie die zuerst durch
langen Frieden verwöhnte und nachher durch leidenschaftliche
Parteiung ziellos gewordene Eidgenossenschaft von 1798 und
1798,
Densen angeachtet gibt es bei der neuen Jahrhnndert-
wemle abermals Leute, die vor allem andern an den
Wehri'inrichtnngen sparen wollen, oder es für erspriesslich
halten, fortwahrend die Verfassung des Landes in Frage zu
stellen, um Parteizwecke besser erreichen zu können. Wir
glauben unsererseits nicht an den ewigen Frieden, anch nicht
nach neuestem russischem Rezept, und halten es ferner für
unmöglich, dass das kommende Jahrhundert für die Eidgenos-
senschaft ao friedlich nach Aussen vorübergehen könne, wie
') ..ich IX p. 157.
Fin de Siecle. 21
es in dem nun vergangenen, allerdings nur nach voran-
gegangenen Stürmen, im Ganzen der Fall gewesen ist.
Es ist auch bei Völkern, ähnlich wie bei Individuen,
nicht immer ein Glück, wenn sie lange Zeit hindurch keinen
grossen Prüfungen ihrer Kraft ausgesetzt sind, so dass ganze
Generationen in fast selbstverständlichem Wohlstand ver-
gessen können, dass es noch andere Güter und Zwecke des
Lebens gibt, als die Beförderung desselben. Wo sich vollends
in einer solchen Generation eine bereits ererbte starke Neigung
zu materiellem Lebensgenuss vorfindet, da ist dieselbe —
darüber machen wir uns keine Illusion — selten mit blossen
Vorstellungen, oder geschichtlichen Erinnerungen zu der rich-
tigen Lebensansicht zurückzuführen, sondern dann ist Un-
glück die einzige Methode, um sie auf ernstere
Gedanken zu bringen.
Das war so in den Jahren 1798—1815 der Fall, und
diesem Ernsterwerden verdankte die Generation, welche von
1815—1848 heranwuchs, die Thatkraft und den Idealismus,
die unser jetziges blühendes Staatswesen geschaffen baben.
Ein solcher Ernst wird sich daher muthmasslich früher oder
später im kommenden Jahrhundert der eidgen. Bevölkerung
neuerdings mit einer Macht aufdrängen, vor welcher alle
andern «Fragen» und Parteibestrebungen völlig verschwinden
müssen.
«Wie wenn auf einmal in die Kreise
Der Freude mit Gigantenschritt,
Geheimnissvoll nach Geister Weise
Ein ungeheures Schicksal tritt,
Da beugt sich jede Erden grosse
Dem Fremdling aus der andern Welt,
Des Jubels nichtiges Getöse
Verstummt, und jede Maske fallt,
Und vor der Wahrheit mächt'gem Siege
Verschwindet jedes Werk der Luge.»
Beilagen.
I. Das kaiserliche Manifest an die Beichsstände.
Lut der kaiserlichen mannng, inhaltend der Eidgnosson eids-
aniang, ir abzog vom rieh, fürsten und vom adel, ouch
urhab diss kriegs.
ximilian von Gots gnaden Konischer küng, zu allen
ziten tuerer des richs etc.
Ir lieben, getrttwen 1 Wir haben unseren und des hei-
ligen ■'■Mischen richs kurfürsten, forsten und ständen, das
>tig und verächtlich fü meinen der Eidgnossen und
daran vom Grawenpttnd nach der lange in etlichen OBSchriben
angezeigt, und dabi nf das höchst vermant, uns uf das aller-
stilrfcst ze rosa und ze fuss undur des heiligen Römscuen
richs jiauer z uz ez Jenen. Uf BÖlich uBsgepot, wie wol wir mit
unserm herzogtuin Geldren und Friessland zehandlen gehabt,
so haben wir doch dieselben handlungen unser person halb
zu riijrk gesteh, und vier unser und des heiligen richs fürBten,
der nach nottorft uszewarten, an unser etat bevolhen, der
Zuversicht, etlich uss den selbigen vier fürsten werden uns
mit- hoftem sig vom almäclitigen Got, dein vertrüwen nach,
so wir zu iren fürstlichen tugenden, sipschaft und personen
tragen, kürzlich nachvolgen.
mnach so haben wir uns, in ansehen der ehaften not,
in eigner person erhäpt und uns zu des heiligen richs ver-
WUnlnffg des angefangen richstag zu Köln gefügt; doch
zuvor so vil gehandlet nnd bestelt, dass uns der hochgeboren
Philip, erzherzog zu Oesterrich, herzog zu Burgun und Bra-
bant., unser liber sun und fürst, mit unserm kriegsvolk von
den niiiren Burgunschen landen gar kurzlich in eigner person
Fin de Siede. Beilagen. 23
voJgen wirt. Des glich haben wir ouch etwe vil kriegsvolk,
das wir selbs versolden und bezalen wollen, uss unserem Her-
zogtum Gelderen mit nns herufgefüert, und nüt dester minder
das kriegsvolk wider die Niderländischen des heiligen richs
Verächter mit andrem volk ersezt und erstattet.
Uf berüertem richstag zu Köln haben wir die bemelt
veraamlung des heiligen richs erhäpt, und die selb bis gon
Mäntz gebracht, da si uf ein nüws mit samt etlichen und
merern kurfürsten, forsten und botschaften etc., so wir uf
den weg zu uns vertagt und zu uns gebracht, von nüwein
widerum versamlet und alda gehandlet in maussen, dass unser
kurfürsten, fürsten, ouch irund ander stand von iren gesanten
den morteil verston werden.
Doch ist zuvor durch uns und den hochwirdigen Bert-
holden, erzbischofen zu Mäntz, des heiligen Ronischen richs
durch Germaniam erzkanzler, unserm lieben nefen und kur-
fursten, und durch die ganz versamlung underenandren ein-
heiliklich mit gutem vorrat beschlossen worden, dass, in kraft
der vereinung und Ordnung, so wir mit allen des richs ver-
wanten, | unseren lieben brüederen und öhen, klingen, kur-
forsten, fürsten und ständen, die von der Tütschen, Wälschen
und Windischen nation sind, der zit anfangs unser regierung
in merklicher anzal zu mermalen bi enandren gwesen, fürge-
non, nfgericht und beschlossen haben, ouch ir und wir endlich
uns mitenandren vereint und betragen, das den durchächtern
des heiligen richs tapferlicher und ussträglicher widerstand
geton sölte werden. Wer dan die sind, iedermann vast wol
kündig ist.
Damit aber menglich der Eidgnossen unbilliche Handlung
und uss was unredlichem grund ir eid kommen und ent-
sprungen sie, merken und klarlich verston möge, wie wol
der, leider und das zu erbarmen ist, von der Welt unwislich
geeret wird — so ist dem also : Anfanglich haben sich etliche
örter in der Eidgnosschaft, nämlich die von Ure, Switz und
Underwalden, wider ir erst eid und alt harkommen, wider
ir recht natürlich herren und lantfürsten, die herzogen zu
Oesterrich, als grafen der alten und edlen fürstentumen Haps-
burg und Kyburg, wider Got, er und recht und alle billikeit,
24 Fin de Siecle. Beilagen.
uss eignem bösen, mutwilligen fürnemen, in | vergessung
Gots, ires glimpfs, er und eidspflicht, sich ufgeworfen, zu-
samengeton, und mit geschwornen, unredlichen, unkristlichen
eiden sich mitenander verpunden, ouch also nachmals ander
ir umsässen und anstösser, darunter dan ein merkliche anzal
von stäten, grafen, frien, ritern, edlen und knechten, die
zum vordristen des heiligen richs, und zum teil der fürsten-
tum von Hapsburg uudertanen gwesen sind, zu inen in sölich
unghorsame und Verpflichtung gwalteklich genötiget, und inen
dieselben ir natürlich undersässen vor etwa vil hundert jaren
abgetrungen, und mit nammen die, so hernach volgen: näm-
lich am ersten dem heiligen rieh und nachmals dem hus
Oesterricb, so nun dieser zit ouch dem heiligen rieh, als das
inerest glid desselben, underworfen ist, die fürstentum, graf-
schaften und länder Hapsburg, Lentzburg, Kyburg und Oeucht-
land; dazu ouch die grafen von Nüwenburg, Fronburg, Ar-
berg, Raperschwyl, Balm, Rotenburg, Sanagaza. Item, die
friherren von Grassberg, Wolhusen, zum Turn, Ringenberg,
Falckenstein, Bechburg, Spietz, Granson, Illingen, Rarr,
Sennen, Müsin, Wassersteltz, Togern, Tägerfeld, Bussnang,
Btirglen, Swanden, Friedberg, Wadeschwyl, Eschenbach,
Schwartzenburg, Fryenstein, Hasenburg, Strätlingen, Signow,
Egerten, Gösiken, Clingen, Hanberg, Wartta, Regensberg,
Seldenbürreu, Krechingen, Buhelsee, Kempten, Samen, Arburg,
Sedorf. Item von edellüten : Rüseck. Erisswil, Rhüte, Lung-
hofen, Hattingen, Rordorf, Mülinen, Sengen, Kloten, Kilch-
berg, Optiken, Attichshusern, Wolfshofen, Hofstetten, Wagen-
berg, Rein, Afholter, Beckle, Gessler, Brunegk, Wellenberg,
Bettwissen, Hege, Spiegelberg, Schönenwerd, Rostbach,
Rosenberg, Baden, Klingnow, Schlatt, Uelingen, Stettfurt,
Busingen, Beinwyl, Keiserstuhl, Ölten, Arwangen, Schinss-
burg, Votzingen, Glaris, Howenstein, Heideck, Wildegk,
Diessenhofen, Buchse, Wartensee, Bamoss, Lüttishofen, Tann-
egk, Trostburg, Biberstorf, Tüffenberg, Hundwil, Pfingen,
Schönstein, Hültiken, Dubstein, Nünwise, Winterberg, Friesen-
berg, Hospital, Mos8, Schwanow, Krochtal, Thorberg, Wangen,
Madoltswyl, Sumisswald, Tracbselwald, Balm, Sternenberg,
Pfister, Rormoss, Schowense, Küngstein, Wartenfels, Langen-
Fin de Siecle. Beilagen. ' 25
stein, Vernigken, Rubenswil, Suppensee, Rüed, Rüederswyl,
Rogwyl, Wyl. Ifental, Wilspach, Hagberg, Rhietnow, Wat-
ttnwyl, Tettingen, Guttenberg, Urburg, Schowenburg, Grim-
menstein, Bonstetten, Sumiken, Stienken, Wurtzwyl, Kotzwyl,
Ryniow, Herten stein, Sempach, Artingen, Ufhusenwagen,
Schleyerbach, Sursee, Bobendorf, Pfafnach, Stettenberg, Rhust,
Buttenstein, Toschley, Ertzingen, Vorkilcben, Mattstetten,
Frenisperg, Nidow, Bärren, Schär, Manegk, Wildberg, Dessen*
ber, Remingen, Wessenberg, Münchingen, Kienberg, Behem
Ton Bernang, Heistab, Wolen, Bitselen, Ostingen, Abdorf,
Nu wolffingen, Mechingen, Escbikon, Erendingen, Grissberg,
Kronburg, Lütisperg, Langenhart, Wissenburg, Rüederen,
Fröudenfels, Winckel, Kappenberg, Schäfte, Liebenfels, Hof-
meister, Valkenbcrg, Binnishofen, Möcke, Oberdorf, Littow,
Iberg, Gegingen, Kien, Rhingk, und vil ander burger und
gmeinden von ländren, landschaften und statten; darunter
der raerteil, um des heiligen richs und Tätscher nation, und
um ir selbs 3r, cid, adel und fromkeit zu verwaren, ir Blut
vergossen, und mit dem schwert erschlagen, uf dem iren und
von den iren und uss dem iren vertriben und gänzlich uss-
ge tilget; darzu ouch der geistlichen weltliche besitzungen und
oberkeiten an sich gezogen. Darzu wir und wiland unsere
vorfaren loblicher gedächtnäss bisshar zugesehen und das
gellten, und wider si nichts gehandlet, sunder verhoft haben,
mit der zit mit güetikeit ichts ze erlangen. Aber si, als
verhärt und verstopft, also für und für durch uneinikoit und
zwitracht der kurfürsten, fürsten und stände des heiligen
richs, zu abbrach, vertruckung und straf derselben, uss güt-
licher verhängntiss, um unser aller sünd willen, der maussen
ingewurzelt, dass kein kling noch fürst neben inen, als dan
die alzit der unrechten parti lieber wan der gerechten ge-
holfen, dan mit merklichen beschwerungen iren eignen regie-
rungen usswarten mögen. Durch sölich, mit samt andren
zufallenden beschwerungen, so sich noch täglich erzeigen,
die grnsamen Türken und verspoter unseres kristlichen glou-
bens 4ind unseres herren Jhesu Cristi, das ganz kriechisch
land und etliche ungerische fürstentum in mitler zit der kristen-
heit abgetrungen, und sich ferrer geschikt, die nächsten an-
26 Fin de Siede. Beilagen.
Btossende kristliche küngrich, als ieztan Poland, ouch ze er-
obren und zu irem Machinetischen gl o üben zebringen. Und
wiewol die Sachen gross und merklich, so haben doch die
gemelten vom unehlichen und unnatürlichen, nüw erdachten
eid, an sölichen iren ungegründeten, unkristlichen und uneh-
lichen handlungen und harkommen nit gnug gehebt, sunder
iezt uf ein nüws fürgenommen und bedacht, iren fuss witer
in das heilig rieh und Tütsche nation zesetzen, und uss eignem
mutwillen, ungewarneter 6ach und unbewarter eren, wider
alle billikeit, glimpf und recht, un entsagt, wider alle kriegs
brach, dess man doch weder vom Türken noch Heiden ge-
warten ist, das ganz heilig rieh anzegrifen, das zu bekriegen,
und ein merklichen teil, nämlich die vom Grawenpund, so on
mittel dem heiligen rieh zugehören, und die zu dieser zit
inen ganz volgen und darzu diss gegenwärtigen kriegs reizer
und anfanger sind, in ir ghorsame und in den obberüerten
iren ungegrünten, unnatürlichen eid zetringen und zebringen,
listenklieh understanden. Zu was Verachtung, vertruckung
und verderblichem schaden das Tütscher nation, dem heiligen
rieh und der ganzen kristenheit diene, mag menglich er-
messen, wiewol si bisshar mit iren listigen Worten und hand-
lungen etwa vil des heiligen richs stät und undertanen an
sich gezogen und gebracht, die iezt uf hütigen tag gegen
iren nachpuren als grob und dem heiligen rieh ganz wider-
wärtig sind, wie die ersten gepurslüt, denen sie stäts hilf
bewisen.
Deshalb ganz erschrockenlich zehören war, sölte den
bösen, groben und schnöden gepurslüten, in denen
doch kein tugend, adelich geblüet, noch mässigung, sunder allein
uppikeit, untrüw, verhassung der Tütschen nation, irer rechten,
natürlichen herschaft, darvon si sich, wie obgemelt, gescheiden
haben, und eine grosse schand ist, länger zuzesehen und si
nit gebürlich darum strafen, so die kristenheit also spotlich
und jämerlich verlassen, ouch dass unser heiliger kristiieher
gloub, des heiligen Römschen richs und Tütscher nation er
dermaussen dadurch zerstört sölte werden. Der hofnung zu
dem almächtigen Got, ir etwa vil, deren frommen vorfaren
mit irem blutvergiessen und libs und guts verlieren gern die
Fin de Siede. Beilagen. 27
er und wolfart des heiligen richs und ir natürlichen herschaft
gerett hatten, und doch mit der höchsten betrügnüss in iren
unredlichen eid gebracht sind worden, werden si, so fer wir
irem bösen mutwillen tapferlich widerstand tund, darum
strafen, als kristenlüt, in denen noch einiger grund der from-
keit und eren ist, die sölich unbillikeit bedenken und be-
trachten, und sich der unredlichen eidspflicht müessigen, ouch
sich in rechte ghorsame begeben ; zu sampt dem, als wir
achten, dass noch menger redlicher Eidgnoss, dem sölich uf-
rur und ungeschikt fürneinen von herzen leid ist.
Damit ir aber anfang diss kriegs gänzlich underrichtung
entpfahid, so haben sölichen obberüerten anschlag mit denen
vom Grawenpund etlich von dem unredlichen, unnatürlichen,
nuw erdachten eid, so die Eidgnossen genant werden, und
ouch etlich uss den Grawenpünten, sonüw Eid-
gnossen und böser denn die alten sind, nämlich
irer bi 1800 gemacht. Die selben sind für den berren von
Brandis gezogen, und witer etlich vom adel und etlich
von der geistlikeit, so in etlichen dörfern hier innenhalb
Ryns gesessen, die in iren eid nit hond kommen, sunder e
sich irer eignen güeter, von ir er, sei und des heiligen richs
und Tütscher nation gelübt wegen, verzühen wellen, berowt
und verbrent. Dagegen die Swäbsch j pündischen hoptlüt
und dienstlüt das zeräcben fürgenommen und sich darzu mit
allen dingen geschikt haben.
üf ßölichs der anzug an allen Enden von unsern und dos
heiigen Römschen richs pund, so wider die vorgemelten Eid-
gnossen gemacht ist worden, und ouch von allen orten des
selben unerlichen eids beschähen, si vil mit enandren ge-
schlagen, doch darunder kein hoptstrit geton, und zu beden
siten me dan tusend man umkommen und etwa vil gefangen ;
da doch die von dem unerlichen eid gar vil me Schadens,
dann die vom heiligen rieh gellten haben.
Es ligend ouch von den selben Eidgnossen uf dise stund
zwei her uf des heiligen Römschen richs ertrieb; das ein
am Rjn oberhalb des Costenzerses, und das ander und er dem
se, an dem end des Ryns, da si die bruggen inhaben, und
behalten täglich den unsern das veld vor, mit merklichem
28 Fin de Siecle. Beilagen.
schaden an vil orten, zu verlierung stät, Schlösser, lant-
Schäften und anders; ouch angesehen, dass, so wir uns in
die nähe gefüegt, unser volk ganz erschrocken und werlos
gefunden, haben wir uf das uns persönlich zu inen uf der
siten geton und des heiligen richs vienden nach al unserm
vermögen, mit den unsern und mit denen, so uns vom heili-
gen rieh täglich zuziehen, kräftigen widerstan zetund, der
ungezwifleten hofnung, dass die, so am witischten gesässen
sind, werdid sich ouch nit sumen, sunder ufs aller förderlichst
zuziehen ; dann die selben sollen | warlich glouben, wie ouch
die nächsten das warlich wissen, dass diser krieg des heiligen
Konischen richs und Tütscher nation entlicher ernst ist, und
deshalb ganz not, dass von iederman ilends zugezogen werd,
damit der unlustig verlust, welchen die unsern für und für
me gewarten sind, und uf dise stund stäts in verlust sind,
abgestelt möge werden. Und begerend dem nach abermal an
üch, mit allem ernstlichen und hohen fliss, ermanend ouch
üch alles des, damit ir uns und dem heiligen rieh verwant
sind, ir wollend uf das stärkist ze ross und ze fuss, in an-
gesicht diss briefs, tag und nacht ganz ilends uns zuziehen,
und üch darin in keinen weg sumig erzögen. Und ob üch
durch die widerparti, ir anhänger, oder iemands andren ichts,
das unserm schriben widerwertig möchte sin, angezögt wurde,
dass ir dem selben, noch andren fliegenden mären keinen
glouben wöllid geben, sunder allein uf unser schriben ufseheu
haben ; dan wir üch, wie sich die Sachen allenthalben witer
anschicken — nämlich, so oft ichts merklichs guts oder bösses
begegnet oder vorhanden ist — ungesumt verkinden wollen,
und üch hierin zusamt der billikeit gutwillig erzeigen, und
der maussen halten, als wir uns dan ungezwifelt uf üch ver-
lassen. Daran tund ir unsern willen und sunder wolgefallen,
mit allen gnaden gegen üch und gmeinem stat zu erkennen
und zu gut nimmer vergessen. Das alles haben wir üch,
ouch andren unsern und des richständen unverkint nid wollen
lassen, damit ir und si gelegenheit aller diser Handlung
warlich bericht, den fliegenden mären zeglauben kein ursach
sie. Geben zu Fryburg im Brissgöw, uf Mentag nach dem
Sontag Jubilate.
Fin de Sieclc. Beilagen. 29
Der Chronist Anshelm, bei dem allein noch dieses merk-
würdige Aktenstück erhalten ist, setzt an den Schluss des-
selben die trockenen Worte: «Was der 22. tag Aprel anno
99; was vil gschrei und wenig woll.»
II. Der Aufbruch.
Ussug der stäten Zürich, Bern, Lucern, Zog, Fryburg, Schaf-
linsen und Baden für Tüengen.
Wie dan mit gmeiner Eidgnossen rat zu Zürich in der
Osterwochen was beschlossen, dass, so der orten Ure, Swytz,
Underwalden, Glaris, Appenzel und S. Gallen paner ins Ober-
land gezogen wflrid, Soloturn ires lands sölte hüeten, aber
Zürich, Bern, Lucern, Zug, Schafhusen und Baden mit iren
wolgerüsten paneren söltid sich uf den 13. tag Aprellen zu
Keiserstul, Eglisow und zu Schafhusen befinden, da dannen
mittenander über Ryn, ir viend ze suchen, in Schwarzwald,
Baar und Högöw zeziehen.
Und also, uf den 11. tag ägenements monats, zoch die
mezgerpaner von Bern uss. trug Barthlome Bütschelbach,
der schützen vänle Gunrat Vogt, der panner venner Peter
Strub, mit 5000 man, deren hoptman her Rudolf von Erlach,
alt schulthes, und her flans Rudolf von Scharnenthal, riter.
Deren zoch die paner von Fryburg nach.
Des glich die paner von Zürich mit 4000; deren hopt-
man her Rudolf Aescher, Burgermeister; venner Heinrich
Werdmüller; der schützen hoptman Felix Schmid; vänrich
Jörg Gröbel. Item Lucern mit 2000, und Zug mit 300 man.
III. Die Calvenschlacht.
Wie die Etschlüt nss irer lätzte zu Mals die Engendiner
gesch&diget und gebrantschatzet hond, und hiemit die Pünter
zur räch bewegt.
Als dan, wie vorgemelt, die Römisch küngschen und
Etschlüt zu Mals und Latsch im Vinstgöw, | vom Etschfluss
gl) Fin de Siecle. Beilagen.
an ^c.hlingenberg, zum stärksten verläzinet. Linder dem Tirol-
W&BB paner 8O00 Etschlaotlüt, und under Zilien vänlin 2000
biiHisen schützen, und 1500 versöldeter lanzknecht nnd erz-
"■■l, besunder an die Eidgnossen schnitzig, hatten mit
klier gwer und gschiiz wol versorgt; die Karwalen im En-
^ciuliii geng und übel schädigeten, also dass sie, die Engen-
dinir, (in schwere brant Schätzung uf sich naraen und von
deren wegen 33 der fürnewsten landsftssen zu bnrgschaft
flbergabend, die zn Meron wurdend uf glowen gvengklioh
■/ai .-tliclieiii tod behalten.
Anschlag der Kurvalen wider die Etschlütt und ire lätze.
Hierum uf nächst obgemelte beder heren der Eidgnossen
lllbffitng und Bern reis in's Snntgöw, nämlich uf den zechen-
tli'ii tat-' Heien, erwägten sich die Pünter, dia lätze ze ge-
winnen und iren schaden zerächen, zugend um mittemacht
9000 man stark von Münster gon Dürers in ein dorf, vor
ilir lätze gelegen, teiltend sich da, also dass 4000 siiltid vor-
zühen uf den Schiingenberg, die wacht ze überfallen nnd
ili'umacli hinter die lätze zeziehen, und wenn das beschuhe,
zu wortzefchen ein hus anzünden, nnd daruf gSch nnd fräch
fr md einsmals hinden vor anzegrifen.
Wit die Kurwalen die küngschen zu Mals uss der lätze
tehtngmd und die gewutmend. Uf diesen anschlag zoch der
minder linf bi nacht st.il den ruhen berg uf, erstach die
wacht, nnd am tag, als die viend, iren gewar, den weg ver-
üteltan, namends einen vast rohen, unwegsamen abweg gon
Lätscli.
Indes hatten die viend ir gute Ordnung in dri hnfen ver-
ordnet, und einen uszng geschikt, den Pnnteren den Weg
über die Etsch und hlnder die lätze ze furkoramen, welchen
die Pünter ubertrungend nnd binder sich zu irem züg jagten.
Ksraend also in die lätze gon Latsch, zündend ir wort-
zeidien an, und nachdem sie nach gwonheit der Eidgnossen
gebetet, ruktends in guter spitzordnnng gegen den viend,
liefend den ersten hufen so truzlich und hantlluh an, dass si
durch in an den andren karoend, welcher inen mit schiessen
grettttB schaden tat, also dass sie die barr hinderst ch
und fürsich mit hartem strit of fier stund enthielten, und
Fin de Siecle. Beilagen. 31
garaach die zwen hufen erlegten, e dan inen ir inerer hnf
zu Dafers gelassen, ze hilf ouch nit on | merklichen schaden
des gwaltigen schiessens. vor in die lätze gebrach, schlissen ds,
ßtachends und schlugends so verv anglich drin, dass die küng-
schen Etscher und Swaben überwunden die Flucht namend
durch das stätle Gluren über d'Etsch, da die brugk zerbrach,
und der vienden so vil ertrunkend, dass die Pünter über
si uss, als über ein brugk, eins schlachtens ein grosse mil
jagten, biss gon Schlunders, kartend sich da vor müede um,
berowten und verbranten underwegen alle höf und ouch das
egenemt stätle, erwurgtend darin noch vil mannen, gwunnen
vil guts und acht vass büchsenbulvers ; verbranten die sechse,
lfigertend sich in die erobreten lätze. Und als am driten
niemands kam, den schaden ze rächen, zugends mit herlichem
8ig und grossen eren ab und heim, verkünten Iren Eidgnossen
gluk und fröwd.
Der Kurtcalden zu Mals gwin und verlust. Hatten am
strit in der lätze und flucht ob 4000 man erschlagen und
ob 400 man in der Etsch ertränkt, die paner von Tirol hangt
zu Kur in unserer frowen kilchen, — sechs vänle, acht
schwerer hoptstük und ob 400 klein büchsen gwunnen, das
stätle Glurens und die dörfer Mals, Latsch, Dufers, Dertsch,
Berguss, Schluss, Liechtenberg, Prutz, Pratz, Schengels,
Schinders und das Bad Spondina geblündert und verbrent;
aber im strit 225 man verloren ; so warend bi 700 man wund
worden, deren vil, und ouch vil loufens und trinkens, hernach
sturbend. Deshalb Dietrich Fröweler von Switz, des meren
hufens hoptman, so durch sumniss des zuzugs übel geschadt
hätte, mnsst uss iren händen und landen entfliehen.
Wie der Engendiner bürgen zu Meron zerhowen. Und
nach ergangner flucht liefend die zornigen lanzknecht für
das stätle Meron, ertrowten wider der Meronef willen, her uss
die 33 Engendiner zegeben, welche frommen, redlichen mannen
um gnad der bicht und schwerts bittende, si vorm tor uf
einem plaz grim on alle gnad erstachend und uf türkische
wia zu stucken zerhüwend. Was eine unmanliche manheit,
aber der flüchtigen beiden zornige räch.
Fin de Sitkle. Beilagen.
IV. Sie Schlacht von Dornach.
Macht und wesen der Römisch küugschen vor Dornach.
Wie nun die Kölnisch kfingschen, vom Brisgöw, Elsess,
Smitfröw, Strassburg, Sletstat and (Mmar, von frien Gelleri-
M'lu-n lanzknecht.cn und von reisigen Tatschen, ouch vom
ni'lrrn Bin, von geistlichen nnd weltlichen forsten Jiaruf ge-
s-fit, nnd Bnrgunschen, die fri Welsche gard gnenit, 400 riiter,
vi ni prinzen j von Oestjrricb und Burgun sinem vater, dem
i Ischen küng, nnder dem türen lioptman Loy de Wadere,
■ lassen, zusamen ob 15,000 man, verspinnet, in ir gwalti-
gss macht, mit gschliz nnd gwer nach aller krlegsnotturft
V. 'j-sorgt, nnder irem feldherren, graf Heinrichen von Fiirsten-
ijerg, graf Wolfen bruder, zu Costentz der reisigen hoptman,
hIkt die Birs für Dornach waren gerukt, da anhubend ze-
Imsen, doch gmach, ou sorg, on wacht, mit kurzwil, spil,
prssS, singen, springen, tanzen, nnd ouch der herren etlich
in adhemdren nnd langen schuhen, inen von iren gef Hinten,
nun- und jnngkherren von Basel barusa gesendt, als die,
so uf ires Pfeilerhansen sichere Warnung noch lang oder
keiner Eidgnossen macht warteten, schachten, ja die ver-
ai'liti-B, und fröliche kilcliwihe und hadfart wöltid halten,
Sab doch etlich ir hoptlüten, so der Eidgnossen kriegsart be-
k n tit, ouch die uf Tschartenfluh gesehen, vast missvicl ; rietend,
sorg und wacht zehaben und die belagerung zefurdren und
zeveotnen; welcheu ir feldher im langen mantel sagt, wan
■3 ich vörchtid, so söltends heim gon. Dem widersprach
.Storch von Friburg, ein frier hoptman: er wüste und wölte
tinea stand als redlich verston, onch darvon komen also wol,
als sin gnad, man sölte nun talame der Swytzer tust, nun
oft empfanden, wol giert hon kennen; und bald demnach
lends; do entflog nach sinem stand Storch, und bleib sin
aar dahinden, der ouch erst an von sinem Pfefferhansen und
tWeuonrg, so kum in ir statt entrunnen, abermals der Eid-
gnossen znlouf gwarnt was. Jungermann versumt sich.
Fin de Siecle. Beilagen. 33
Angrif des Vorzugs der Eidgnossen vor Dornach.
Nachdem nun die obgenemten dri ort der Eidgnossen ire
viend anzegrifen hattend beschlossen, zwischen zweien und
drien des tags abendstunden, tatends zuvor ir ernstlich
gebet, und trostlich ermanung, ruktend demnach ganz stil
durchs gebürg und holz nider. Do was der trostlich hopt-
man Cnnrat von Solatern nit mit grossem, aber wolmntigem
hufen furgeschossen, dass si d'viend sehen und ir marter- und
laUterflüech mochtend hören. Do ermant er si der türen
rcdlikeit irer altvordren, so da nie keinen grossen hufen,
ouch keinen tod, um irer er, friheit und land zeretten und
zeschirmen, geschücht hättid, desglichen si ouch zu dieser
stund, als redlich irer frommen altvordren nachkomen, wider
dis ir erzviend, so da Got, und si in anhören schmächtid
und lästertid, uf irem ertrich lägid, und ir land nnd lüt, wib
und kind ze verderben und gar uszertiten, suchtid, tun söltid
zu ewigem lob, trüwlich ufenander sehen, und handlich furt-
rucken, ungezwifelten sig wider die zerteilte, ungwarsame
macht zegwinnen. Und als da si kum ein pater noster
hatten gebetet, wuschtends frech uf durch die stud und stök,
nnd griffen mit stichen nnd streichen so vervänglich an, dass
die zerteilten lanzknecht nidsich zu ihrem grossen hufen an
d*Birs zu begunten zeloufen, und e der küngsch z\Lg, der
an drien orten um Dornach lag, zur wer käme, da waren
irer vil, und nämlich d'hcrren im gschüzläger und in hütten,
ungewapnet, ja etlich in badkütlen, bim spil, bim win, bin
motzen, der z'vil da was, erstochen und erschlagen; wonten
von erst an, ire rüter und lanzknecht, nach trunkner gwon-
beit ir vollen abend -zecb, schlugid selbs enander.
Anzug der paner und zeichen zum hoptstrit.
und als aber nun der ernst da was, also dass d'viend
mit dem getümmel nnd lärm zur wer und zum gschüz> so
vast sie mochtend, kommen warend, und der Eidgnossen vor-
zog, von wegen der holen strass hinder Dornach, sich zer-
teilt, ein teil zur lingen und der ander zur rechten band
gegen dem grossen hufen an d'Birs zutrang, liten uf beiden
siten von den reisigen schaden, dass die paner und zeichen
ze graach, von unwegsame wegen, derhalb ouch ir schwer
3
34 Fin de Siecle. Beilagen.
gschüz dahinden bleibe nachtruktend, ouch von denen hinderm
schleus angefochten, also dass sich die zur rechten hand raus-
tend umwenden, hindersich gegen iren paneren, die iren uf
der lingen hand, hindersich ins holz gewichen, zu entschitten.
In dem umker llt die Welsche gard durch Birs hinach und
tat inen den grösten schaden, der an diesem strit beschach;
doch so ward es mit büchsen und spiessen abgetriben, dass
sie diesen hufen liess und uf den obren, so die gröst not lit,
rant. So iltend d'Eidgnossen den iren zu, und entschittends,
zugend doch wider nidsich gegen Arlessen, da sich indes die
gröst macht der viendeu ze ross und ze fuss, und fürnämlich
die Gellerischen lanzknecht, zu irem gschüz in ein Ordnung"
vervasst und die Welsche gard alweg bisits oder hinden in
zeträngen gerüst hatt; dennocht im umker ward der von
Strassburg gschüz verschlagen und umgeworfen.
Da erhub sich nun erst der recht ernst und strit, so
sich d'Eidgnossen z'ringum erweren raustend; und als d'viend
ze hoch uf si abgeschossen, trungens on schaden mit schiessen
und spiessen hantlich in si, welche sich hargegen ouch so
standlich warten, dass der sig lang im zwifel stund, je ein
teil dem andren hin und wider wichen, und ein huf den
andren schirmen must. Das wäret lang.
Lucem und Zug zuzug und angrif, und eroberung des strtts.
In dem strengen gefecht, zu guter zit und gltik, so drukt
ob Arlessen hinden den berg und wald herab ein nüwer züg,
ab welchem bed teil ein entsetzen namend, unss dass d'Eid-
gnossen deren von Lucern vänle und deren von Zug paner
bekanten ; und als die mit ungestüemem gschrei und hörnen
harzu trungend, — zuvor in unbekant Welsch fründ, so
ussert dem strit mit der todneten seklen rungend — und
fürer in d'viend ernstlich schussend, stachend und schlugend,
da begunten die Eüngschen der Birsbrugk zu hindersich
wichen und d'Eidgnossen tapferlich hinach schlahen, unss dass
si die nacht gar vonenand schied, und also den glükhaftigen
Eidgnossen der loblich, hart gwonen sig beleih; wan es so
finster was, dass ouch d'fründ anenander kamend, der etlich
wund und etlich erschlagen wurden. So hatten ouch die
abtretnen viend die Birsbrugk hinder inen, doch vilen ze früe
und ze spat, abgeworfen und zerrissen.
Fin de Siede. Beilagen. 35
Wie cTEidgnossen nach erobretem sig sich in der viend läger
lagerten, und da noch vier orten zeichen zu in kantend.
Deshalb d'Eidgnossen von der nachil abston, den flüchti-
gen vienden ein gross volk, item schloss und dörfer, so dieser
schrek verlassen hätte, ersparen ronssten. Ouch so warends
dri tag ilich zogen, disen heissen tag vil nah on spis
gwesen, und den harten strit ob fünf stund an den gertiwten,
reisigen vienden nssgeharret, und darum vast hellig und
müed, der ruw notturftig, sich von der Birs um in der viend
läger karten, knüwten da vor allen dingen nider, sagten Got,
irem gnädigen schirm er, gross lob und dank um verlühnen
sig, assend darnach und trunkend nach not und lust gnug,
dan si allerhand spis und trank gnug da funden. Mornedigs
trugen ds und furends ir gwunnen gschüz und gut zusammen,
begrabend | ire und etlich der vienden umkomne toten; lies-
send keinen hinweg füeren ; und do kamend, wegsferre halb
gesamt, erst zu inen uf die walstat die paner von Ure, Un-
derwalden und Friburg, item morn der von Swytz vänle,
uss dem Swaderloch abgezogen; hieltend da fröd mitenander
und lobten Got, um allenthalben gehabens grosses glük.
JJass Bern ire büt, zu Dornach gewannen, ihren tvunden hat
uss geteilt.
Wan nachdem ein loblich stat Bern die varende büt in
ir stat und lant bi gswornen eiden hat lassen ersuchen, ist
nit me denn 800 pfund wert erfunden, welche uss rat und
ansuchen der oberkeit sind den armen an diser Schlacht ver-
wandten and gelämpten hienach uf den 8. tag Jenner durch
bätmeister assgeteilt worden.
Lob dis Dornachstrits.
Dis ist der strit, ouch diss kriegs, so nüt denn ein strit
ist gsin, der letst, der allem schimpf und den Swäbisch-pün-
dischen anschlagen den boden ussgestossen und zum friden
die hochwerinen gewunnen hat.
Hätte vast wol darzu land und lüt mögen gwinnen, wenn
die sighaften Eidgnossen so gneigt wärid gsin, fremde land
und lüt zegwinnen, als die iren zeschirmen und ze behalten,
and. ouch, wie si konten sigen, also des sigs hättid gwüst
36 Fin de Siecle. Beilagen.
zebrachen. Doch so wolts Got, Ton dem aller 6ig, nit. Zu-
glich wie Yom türen Hanibal gesagt: er könte sigen, aber
des sigs nit gebruchen, — hätte wol Rom nach einer Can-
nischen schlacht gewunnen, so honds die göter nit gewöllen.
V.
End dis kriegs mit lob der Eidgnoschaft.
Und also so hat dis grimmer krieg ein end, mit so
herrlichem nammen der ganzen Eidgnoschaft, als vor und
nach iren ie begegnet, dan si an iren landen so gmeinlich,
so stark und so streng nie angefochten ist; harzu iren hilf-
lich gwesen vorab Got, von dem aller sig, demnach ir un-
gesunden, dorstigen angrif und Verachtung, so ire viend, uf
eigne macht vertröst, gegen iren hielten. Und wo si zu irer
dorstikeit gegen iren selbs bständige einmietigkeit, und gegen
den ergebnen ufrechte trüw, ouck me, wie ire vordren, uf
&r und lob, wenn uf git und row hätte gehalten, wäre so gross
wunder durch si geschaft, als in kriegsüebung alle Tütsche
nation in vil hundert jaren nie hat enpfunden, wie dan ouch
sust in langen ziten nie kein härterer kämpf in so kurzer
zit in Tütschen landen ist ergangen, fürnämlich uss Ver-
achtung und schmachworten entsprungen. Darum ein iede
nachpurschaft, durch diesen krieg gewarnt,
sich früntlich, ja nit verächtlich und ver-
schmächlich gegen der andren zetragen ganz
geflissen sin sol, harzu ein fürsichtige,
fromme oberkeit allein hilflich ist und
fürnemlich a 1 wegen sin sol. Das könnten sich
noch heute manche Leute bemerken.
Es mocht nit on sunder glük besehenen, dass d'Eid-
gnossen, alwegen vil der minder und nackenderer huf, diss
kriegs 6 veldstrit on nämlichen Verlust, item schloss, stät,
land und lüt erobret und gwunnen, irer vienden ob 20,000
erschlagen, und si nie über eine nacht uf irem
er trieb geduldet hon. Gotes gnad und gericht sind
wol hierin zu erkennen, und im, als aller hern herren, alle
macht, sig, lob und er alweg und ewig zuzeschriben. Amen.
Fin de Siecle. Beilagen. 37
Ans den Tagsatzungen 1498/99. Eidg. Xbsch. in, I, 585 u. folg.
Ein sied ein, 22. Oktober 1498.
Da allerlei Gerüchte ausgehen, als haben einige beson-
dere Personen vor, Knechte in unserer Eidgenossenschaft zu
einem Kriegszug gegen das Land Schwaben zn sammeln, der
groben Schmachreden halben, welche dort gegen die Eidge-
nossen ausgegangen, ebenso des Grafen Georg und derer von
Rothweil, St. Gallen und Appenzell wegen, da es ferner heisst,
es sei bereits eine solche Sammlung von Zügern zu Zug bei
einander, so sind von diesem Tage aus Vogt Hasler und ein
Bote von Schwyz nach Zug gesendet worden mit dem Auftrag,
diese Knechte bei den Pflichten, die sie ihren Herren schuldig
sind, aufzufordern, dass jeder in seine Heimath gehe und in
keinen Krieg laufe, noch uns Eidgenossen in Krieg verwickle,
da man jener Angelegenheit wegen schon einen Tag zur Ver-
handlang angesetzt habe nach Zug, auf nächsten Sonntag zu
Nacht (27. October) da einzutreffen. Die Stadt Schaffhausen
meldet, es seien ihr und dem Abt daselbst vom römischen Könige
Mandate zugekommen, dass sie den gemeinen Pfenning bezahlen
sollen; sie begehrt diesfalls der Eidgenossen Eath. Auf dem
Tag zu Zng will man über diesen Gegenstand sich berathen.
Zug, 30. Oktober 1498.
Denen von Schaffhausen wird bezüglich ihrer Anfrage
in betreff des gemeinen Pfennings geantwortet: Wir Eid-
genossen haben auch königliche Mandate denselben zu geben,
wir wollen ihn aber nicht geben und rathen auch ihnen nicht,
selben zu geben, da sie dem Eeich nicht zu mehr verpflichtet
seien als wir. Dabei wolle man sie schützen und Leib und
Gut zn ihnen setzen.
Zürich, 19. November 1498.
Dem obern Bund in Churwalden, der mit uns in Ver-
einigung steht, wird auf sein Anbringen geantwortet, es sei
unser Brauch und Herkommen, dass um Schmachworte einer
da beklagt werde, wo er die Worte geredet hat. Das An-
bringen der Boten des obern Bundes in Churwalden, es möch-
ten wohl die Gotteshausleute zu Chur auch zum Anschluss
an den Bond mit den Eidgenossen zu bereden sein, was sie,
wenn es uns recht sei, thun wollen, will man heimbringen.
38 Fin de Siecle. Beilagen.
Zürich, 10. December 1498.
«Der Irrung halb, Herr Graf Jörgen von Sargans
berürend, mit andern anhängen von des Kammergerichts und
aller Sachen wegen, die dann krieg vnd vffrur anzöigent
zwüschen der römischküniglichen Majestät vnd vns Eidge-
nossen», ist allerlei geredet und am Ende beschlossen, der
Bischof von Constanz, der ohnehin eine Botschaft zum König
thun wird, soll durch die Boten von Zürich gebeten werden,
sich dieser Sachen anzunehmen. Auch sollen die von Bern, die
beim König wohl angesehen zu sein behaupten, eine Botschaft
mit zum König schicken und beide mit einander sollen dahin
arbeiten, dass Graf Georg zufrieden gestellt, auch gemeine
Eidgenossen und die Ihrigen mit dem Kammergericht ruhig
gelassen und grosse Unruhe, die daraus erwachsen möchte,
vermieden werde.
Lucern, 29. Januar 1499.
Da den Eidgenossen zu dieser Zeit «swär mergklich,
kriegsvbung begegnet», so ist auf diesem Tag beschlossen,
allen Städten, Schlössern und Vögten, so an das Land unserer
Widerpart anstossen, zu schreiben, dass sie sich auf alle Fälle
gerüstet halten. Der Vogt von Baden soll Klingnau and
Kaiserstuhl nach aller Nothdurft versehen, die Vögte im
Rheinthal und im Oberland sollen jede Nacht aus der Um-
gegend 100 Mann in die Städte daselbst nehmen, damit sie
einem Überfall widerstehen können, bis Hülfe kommt. Dabei
aber soll nirgends etwas Feindseliges gegen unsere Widerpart
vorgenommen werden, damit wir nicht als die Anfänger
gelten. Jedes Ort soll sich bestens rüsten, damit «was vns
ioch begegnet, das wir ein andern trostlich sin möchten».
Zürich, 13. Februar 1499.
Den Anschlag des Zugs, welchen Zürich, Bern, Freiburg und
Solothurn thun wollen und wie sie alle auf nächsten Montag»
(18. Februar) zu Schaffhausen und Diessenhofen eintreffen
und darnach im Namen Gottes hinziehen sollen, weiss jeder
Bote. Das ist auch verkündet in den Feldlagern am Rhein
hinauf und nach Rothweil, Schaffhausen u. s. w. Heimbringen,
wie man die fremden Kaufleute halten, ob man ihnen Sicher-
heit geben wolle, da einige bereits Brief und Siegel darum
Fin de Siede. Beilagen. 39
haben. Der Bischof von Constanz sacht durch eine Botschaft
nach, man möchte ihm nochmals vergönnen, freundliche Mittel
zur Abstellung dieses Kriegs zu suchen. Es wird geantwortet,
solches stehe nicht in der Gewalt der Boten dieses Tags, da
die Eidgenossen bereits mit offenen Zeichen ins Feld gezogen
und zu kriegerischen Unternehmungen «geursacht» seien.
Den Bischöfen und Städten des niedern Bunds wird
Kenntnis Ton dem Ausbruch des Krieges gegeben mit Anfrage,
wessen man sich von ihnen zu versehen habe.
Lucern, 25. Februar 1499.
Unsere Eidgenossen von den Ländern sollen von ihren
Büchsen diejenigen, welche ihnen wenig oder nichts nützen,
nach Zürich fertigen, damit die daselbst zugerüstet und an
die Ende geschafft werden, wo man sie gegen den Feind
braucht.
Jeder Bote weiss zu sagen, wie unsere Eidgenossen von
Zürich, Bern, Freiburg, Solothurn und Schaffhausen sich im
Hegau ritterlich halten und die Schlösser und Dörfer Ramsen,
Lindegg, Habsperg, Rosenegg, Balisingen, Singen unter Twiel,
Friedingen, Steisslingen, Staufen, das Schloss bei Twiel, Hi-
fingen, Neuhausen und Witerdingen unter Staufen, wo unser
Heer jetzt liegt, eingenommen und verbrannt haben.
In beide Heere wird geschrieben, dass bei Strafe an
Leib und Gut Niemand ohne Erlaubnis der Obern aus dem
Feld heimziehe. Der Herzog von Savoyen lässt unter Ver-
sicherung seiner besondern Zuneigung zu den Eidgenossen
seine Vermittlung zur Beilegung dieses Kriegs beim römischen
König nnd beim schwäbischen Bund anbieten. Unter Bezeu-
gung herzlichen Dankes, überlftsst man ihm zu thun, was er
in Sachen gut finde.
Auf das Begehren der Kaufleute um sichern Pass durch
die Eidgenossenschaft wird erkennt, solche, die uns, nicht
aber unsern Feinden Essen und Trinken zuführen, sollen
Sicherheit haben, sie seien Freund oder Feind, diejenigen,
die nicht unsre Feinde sind, sollen auch ohne das sicher
durch unser Land fahren, die aber, welche unsere Feinde
sind, sollen für ihren sonstigen Verkehr kein Geleit haben.
Der StAdte nnd Länder gemeiner Eidgenossen Rftthe zu Luzern
lil Fin de Sieclc. Beilagen.
versammelt, schreiben an die Eidgenossen von Lucern, Uri,
Siliwyz, Unterwaiden, Zug und Glarus, die im Oberland im
Kid liegen, man vernehme, dass Etliche ohne Wissen und
Willen der Hanptleutc die Feldzeichen verlassen und nach
Hause frühen, was sie bei Leib und Gnt verbieten sollen.
erhaupt sollen sie Gott vor Augen haben und nach dein
Bejsjfel ihrer Vorfahren Kriegszucht halten.
Zürich, 1. Harz 1499.
Da aus dem Hegan und der Umgegend viel Korn und
anderes nach Schaffhausen nnd Dicssenhofen geflüchtet ist,
BD wird beschlossen, es soll nach altem Herkommen solches
jrc flüchtete« Gut., es gehöre Freund oder Feind, geschirmt,
nnd nur im Fall man zu Speise und Nahrung dessen bedürfte,
um einen bescheidenen Pfenning davon gebraucht werden.
Jeder Bote weiss auch zu erzählen, wie die Bot-
Hhaft des Königs von Frankreich, der Bischof von Sens
iini Herr Klgot D'Orielli, Bitter und Hofmeister, erschienen
sind und im Namen ihres Herrn auf eine Vereinigung
iini (kr königlichen Majestät von Frankreich angetragen
batan, nicht als ob der König derselben dedürfe; er sei mit
dem Papst, den Königen von Spanien, Portugal, England,
Dngarn, Schottland, anch mit dem Herzog Philipp, den
Yi'iie-digern, Florentinern nnd andern seiner Feinde völlig zu
Frieden gekommen, betrachte aber der Eidgenossen streitbares
WsHO und die guten Dienste, welche man gegenseitig aus
den Vereinigungen zu Zeiten seiner Vorfahren, der Könige
Ludwig und Carl, gezogen, und anerbiete nun in unsern
X-tlien Hülfe an Mannschaft oder Geld, 80,000 Guld e,n, dazu
ji'dem Ort jahlich 2000 Franken, während wir wohl sehen,
jage das Haus Oestereich uns jederzeit feindlich gewesen,
suu:li des Herzogs von Mailand höfliche Worte nicht hoch
lilagen sollen. Wenn aber zwischen Frankreich nnd den
Eidgenossen eine solche Vereinigung zu gegenseitiger Hülfe
angeschlossen sei, so werden sie die grösste Macht in der
Christenheit bilden und allen ihren Feinden Schrecken einjagen.
■ ■II die Boten nicht Vollmacht haben, so möchten sie doch
Sie Sache eilends an ihre Herren bringen. In Betrachtung
ilis fr uteu Willens des Königs und der schweren Kriegslaufe,
Fin de Siecle. Beilagen. 41
in welche wir verwickelt sind, haben hierauf die Boten der
Eidgenossen übernommen, diesen Antrag an ihre Obern zu
bringen, auch wofern die zu Hause nicht Gewalt hätten, in
das Feld zu berichten, damit man auf den Sonntag Mittefasten
zu Lucern darüber verhandeln könne.
Zürich, 11. März 1499.
Zürich soll überall an den Rhein Wachen stellen, wo es
nothwendig erscheint.
<Als dann vff disem Tag treffenlich reden gehalten sind
von der vngehorsamkeit wegen der fryheitsknecht, so ietz
in beiden Heeren durch sy beschechen, sy ein vnzimlich
wesen, so vnser vordem nie beschechen ist, im Feld gebrucht
haben, dadurch wir gross vnlob gegen Gott dem allmächtigen
erholen, vns dadurch auch gross smach vnd schand zugefügt
möcht werden vnd damit wir in die Fusstapfen vnsrer frommen
Altvordern mögen tretten, ist vff disem Tag einbelliglich an-
gesehen, wann wir hinfür mit vnsern offnen Zeichen zu feld
ziechen, dz man die fryheit ganz abtun vnd Inen dz nit mer
gestatten, noch gedulden welle noch solle. Vnd welche darüber
vngehorsam erschinen, dz man die an lib vnd gut straff.
Doch welche also Iren Herren nachziehen vnd vnd er Ir panner
swerent, dz man die verziechen lassen solle.» In beiden
Heeren hat sich unter den Knechten grosser Ungehorsam
und Verachtung der Gebote der Hauptleute gezeigt, einige
Kirchen sind erbrochen, Kelche und Messgewänder daraus
entfremdet worden, was Gott den Allmächtigen beleidigt und
ans seine Strafe zuziehen könnte. Daher ist auf diesem Tag
beschlossen, wer fürderhin Kirchen oder Priester antasten
oder den Hauptleuten ungehorsam sein sollte, der soll ohne
Gnade an Leib und Gut gestraft werden. Jedes Ort soll den
Seinen verkünden, dass, wenn die Eidgenossen mit ihren
offenen Zeichen im Feld liegen, jeder Kriegsmann, er sei aus
welchem Ort er wolle, allen Hauptleuten gehorsam sein soll.
An die von R o t h w e i 1 wird geschrieben, dass sie als treue
Bundesgenossen ehrlich zu uns halten sollen, was wir auch
unsererseits gegen sie thun werden. Da auf die an unsere
Bundesgenossen, die Fürsten und Städte der niedern Ver-
einigung gerichtete Anfrage, wessen wir uns bei diesem Krieg
42 Fin de Siecle. Beilagen.
von ihnen zu versehen haben, noch keine Antwort erfolgt ist,
so ist vom jetzigen Tag diese Anfrage wiederholt worden.
Jedes Ort soll verordnen, dass man die Kreuzdegen ganz
abthne and zu den Spiessen, wie zu den Hellebarten, ein
Schwert oder Mordächsli trage, wie das von Bern, Lucern
und Uri bereits angeordnet ist
Einige Orte meinen, der von Castelwart habe die Graf-
schaft Werde nberg und die Herrschaft War tau auf Schirm
verkauft und sei nun unser Feind ; man sollte selbe einnehmen,
jedoch denen von Lucern ihr Geld unabzüglich darauf stehen
lassen. Lucern dagegen antwortet, die jungen von Höhwen
(die Käufer) seien mit den Leuten der Grafschaft im Feld
bei unsern Pannern gewesen, und haben Leib und Gut zu
uns gesetzt. Das soll jeder Bote heimbringen.
Wenn wir fürderhin mit offenen Zeichen zu Felde ziehen,
soll Niemand essige Speise hinwegführen ; auch «in Legern
brönnen» soll ohne Erlaubniss der Hauptleute Niemand, bis
man ein Lager bricht und wegzieht. Jedes Ort soll
die Seinen schwören lassen, wenn wir hiefür
ein Gefecht und Streit thun, keine Gefan-
genen zu machen, sondern Alles todt zu
schlagen, «als vnser frommen Altvordern
all weg brucht haben».
Auf das Ansuchen, dass der König von Frankreich uns
in diesen schweren Kriegsläufen mit seinem Geschütz, Pulver,
Stein und Büchsen meistern versehen und dennoch das Geld
geben wolle, haben die französischen Boten in allen Theilen
freundliche zusagende Antwort gegeben und versichert, der
König werde mit Leib und Gut uns zu Hilfe kommen und
auch nächstens alle Kaufleute aus Schwaben oder andern
Ländern, die mit uns in Feindschaft stehen, aus seinem
Königreich vertreiben.
Zürich, 2. Mai 1499.
Roth weil meldet, es sei vom römischen König zur Hülfe
gegen uns Eidgenossen aufgefordert, was es nicht gern thue
und deshalb wissen möchte, wessen es sich zu uns zu ver-
sehen hätte. Hierauf wird Tag nach Zürich gesetzt auf
Samstag St. Pancratien Abend, um denen von Rothweil Ant-
Fin de Siecle. Beilagen. 43
wort zu geben. Unsere Bandesgenossen von Basel haben
durch ihre Botschaft uns mit vielen Worten antworten lassen,
sie seien zwar von königlicher Majestät als eine Reichsstadt
aufgefordert, ihm und dem Reiche gegen uns Hülfe und Zu-
zug zu leisten; allein sie werden dessenungeachtet still sitzen,
weder wider das Reich noch wider uns sein und die Ver-
einigung mit uns halten, wogegen sie auch von unsrer Seite
sich aller Freundschaft versehen.
Zürich, 12. Mai 1499.
Auf das auf letztem Tag geschehene Anbringen unserer
Bandesgenossen von Rothweil ist heute einhellig geantwortet,
da wir Eidgenossen den Krieg wider das Reich nicht vor-
genommen, sondern vom schwäbischen Bund angegriffen und
zur Gegenwehr gedrängt worden seien, dermassen mit dem
Reich nichts in Unfreundschaft zu thun haben, so möchten
sie in Ansehung der alten Treue und Freundschaft, die
zwischen uns und ihnen bestanden, sich wider uns nicht be-
wegen lassen, sondern ruhig bleiben. Wir wollen sie nicht
am Hülfe ansuchen, in der Hoffnung, dass auch der römische
König sie dann unangefochten lasse. Wollen aber unsere
Feinde sie angreifen, so werde man sie nicht verlassen, son-
dern die Vereinigung an ihnen halten.
Lucern, 27. Mai 1499.
Bern und Frei bürg beklagen sich sehr, es sei den Ihrigen,
als sie bei den Eidgenossen im Hegau im Feld gewesen, viel
Schmach und Verachtung begegnet; man habe sie Kistenfeger
genannt und Anderes mehr. Sie bitten, die Eidgenossen
wollen bei den Ihrigen bewirken, dass solches nicht mehr
vorkomme, sonst würden sie für sich selbst sorgen und zu
Hause bleiben. Das soll jeder Bote heimbringen, *das wir
Eidgenossen nu hinfür in disen sweren löuffen ein andern lieb
haben vnd solicher smachlicher Worten vertragen vnd man
von ein andern vor gut haben solle».
Zug, 12. Juni 1499.
Auf diesen Tag haben unsere Bundesgenossen von C h u r -
walden ihre Rathsboten zu uns geschickt mit Meldung, wie
des römischen Königs Zug merklich auf das Engadin gehe,
und wie er sie durch Mandate ermahnt habe, ihm gehorsam
44 Fin de Siecle. Beilagen.
zu sein und dem Reiche zu schwören, ansonst er sie mit
Gewalt dazu zwingen werde. Hierauf haben sie ans Eid-
genossen dringend gebeten und ermahnt, getreues Aufsehen
zu halten und ihnen mit Leib und Gut zu helfen. Auf Be-
gehren der Boten von Churwalden wird beschlossen, ihnen
4000 Mann zu Hülfe zu schicken und selbe folgendermassen
auf die Orte zu verlegen: Zürich soll 1000 Man geben, Lucern
600, Uri 200, Schwyz 400, Unterwaiden 200, Glarus 300,
Zug 200, Sarganserland 200 Mann, St. Gallen 50 Büchsen-
schützen, Appenzell 400 Mann, Wallis 400 Mann. Alle diese
sollen auf künftigen Samstag (15. Juni) mit ihren <Venlin>
im Namen Gottes ausziehen.
Da im Feld Niemand mehr den Hauptleuten
gehorchen will, so ist auf diesem Tag beschlossen
worden, dass Alle, die sich ungehorsam oder unehrlich
hielten, im Feld nach Verdienen von den Hauptleuten
gestraft werden sollen.
Lucern, 23. Juni 1499.
Auf diesem Tag ist angezogen worden, wie unsere Eid-
genossen von Bern sich eben schlechtlich in diese schweren
Kriegslänfe schicken, und wir wenig Trost von ihnen haben.
Das soll man heimbringen, und falls etwa der Tag mit dein
Herzog von Mailand zu Bern gehalten würde, soll man ihnen
ernstlich zureden, sich besser in den Handel zu schicken als
bisher, und uns nicht so zu verlassen, da wir im burgun-
dischen Krieg ihnen auch trostlich zugezogen sind und sie
nicht verlassen haben.
Baden, 27. Juni 1499.
Auf diesem Tag ist den Eidgenossen berichtet worden, wie
Strassburg, Colmar und andere Städte mündlich und schriftlich
Basel aufgefordert haben, zu erklären, ob es mit ihnen
halten wolle oder nicht und zwar unter Androhung einer
Belagerung. Hierauf hat man Basel geschrieben und es ge-
beten, sich in diesen Kriegsläufen nicht von den Eidgenossen
zu trennen ; falls ihm deswegen etwas Feindseliges geschehe,
werde man es mit Leib und Gut schützen.
Lucern, 2. Juli 1499.
Boten von unsern Venlinen im Oberland, die bei Mayen-
feld liegen, haben sichere Kundschaft gebracht, dass der
Fin de Siecle. Beilagen. 45
römische König, Herzog Georg von Sachsen, der Markgraf
Ton Brandenburg, Württemberg nnd andere grosse Herren
letzten Samstag mit grosser Macht von Feldkirch ausgezogen
und bis Triesen vorgerückt seien, in der Absicht, die Unsrigen
anzugreifen. Sie begehren, dass wir ihnen mit unserer Macht
zuziehen. Das soll jeder Bote heimbringen und auf nächsten
Tag zu Lucern antworten ; doch soll für den Fall, dass eilende
Hülfe nothwendig würde, sich jedes Ort gerüstet halten.
Lucern, 9. Juli 1499.
Auf diesem Tag ist des Herzogs von Mailand Botschaft
erschienen und hat zuerst weitlfl ufig erörtert, wie ihrem Herrn
der Krieg zwischen unB Eidgenossen, den Bündnern und dem
römischen König, zwischen Völkern gleicher deutscher Zunge
leid thue ; er habe deshalb bei beiden Parteien geworben, dass
man ihm Vollmacht gebe, den Krieg durch Vermittlung ab-
zustellen. Mittlerweile habe der Allmächtige den Eidgenossen
Sieg und Ruhm gegen ihre Feinde verliehen, was ihm sehr
erfreulich sei. Beide Parteien haben ihm erlaubt, in die
Sache zu reden und, wenn er Mittel finde, die Sache gütlich
beizulegen. Nun habe der Herzog seine Botschaft zu den
Eidgenossen gesendet, um zu vernehmen, was ihre Amnuthung
und ihr Begehren gegenüber dem römischen König sei, oder
wie sie wollen, dass man die Sache zu Händen nehme. Sobald
er, der niailftndische Bote, ihre Ansichten und Begehren kenne,
werde er sich zum römischen König verfügen und bitte dann,
ihm einen Geleitsmann bis auf unsere Gränze mitzugeben;
er werde weder Mühe noch Kosten sparen, um diesen Krieg
zu einem für die Eidgenossen befriedigenden Vergleich zu
bringen. Jeder Bote soll diese Eröffnungen heimbringen und
Rath pflegen, was für Forderungen wir an den römischen
König stellen wollen. Es weiss auch jeder Bote, wie der
Gesandte den Herzog verantwortet hat wegen der Sperrung
der Lebensmittel gegen den grauen Bund.
Im Etschland ißt laut den Briefen unserer Eidgenossen
Ton Zürich, Uri und Glarus ein in lateinischer und italienischer
Sprache geführter Briefwechsel zwischen einem Kanzler des
Herzogs von Mailand, Namens Petrus Bononius de Tergesta,
und einem Kanzler des römischen Königs, Namens Matthäus
46 Fin de Siecle. Beilagen.
Lang, aufgefangen worden, worin unter Anderm der mail&n-
(üsche Kanzler unter seines Herrn Siegel mit Berufung auf
die dem König gelieferten Gelder, Harnische und Leute gegen
die Eidgenossen 4 — 10,000 Mann Hülfsvölker gegen den König
von Frankreich verlangt und verspricht, uns und unsern
Bundesgenossen von Churwalden keine Speise zukommen zu
lassen, ausser etwa zwei Saum wöchentlich, damit er auf
diesem Wege über unser Thun Kundschaft erhalten möge,
und wenn er etwas gegen die tSwizer» thun könne, so werde
er es an Geld nicht mangeln lassen u. s. w., wie die Boten
zu sagen wissen.
Basel, 18. bis 25. August 1499.
Auf das Begehren der m a i län di sehen
Botschaft, den gegenwärtigen Krieg zu
vermitteln, haben die Eidgenossen folgende
Begehren gestellt: 1. Gemeine Eidgenossen und alle
ihre Unterthanen, Zugehörigen und Verwandten, geistliche
und weltliche, sollen bei allen ihren Privilegien und Her-
kommen gelassen und weder mit dem Kammergericht, noch
andern ausländischen Gerichten fürgenommen werden. Schon
anhängige Processe sollen unter Kostens- und Schadensersatz
abgethan, auch sie aller Steuern, Anschläge, Tribute und
Auflagen erlassen werden. 2. Die Stadt Constanz, wohin sie
ohnehin als nach dem Sitz des Bisthums und nach einer
innerhalb dem Kreis und Zirkel der Eidgenossenschaft ge-
legenen Stadt vielen Verkehr haben müssen, soll aus dem
schwäbischen Bund entlassen und fürderhin in keinen aus-
ländischen Bund mehr aufgenommen, sondern als freie Mittel-
stadt wie von Altersher belassen werden. 3. Die Eidgenossen-
schaft soll bei allen ihren Eroberungen in diesem Kriege
bleiben, auch sollen alle Güter und Rechte in feindlichem
Land, welche den Eidgenossen oder ihren Zugehörigen ge-
hörten, ihnen wieder werden, ohne allen Abtrag, als ob der
Krieg nicht gewesen wäre. 4. Den Eidgenossen soll für
allen Schaden, den sie in diesem unbilliger Weise gegen sie
begonnenen Krieg erlitten, Entschädigung und für die un-
menschliche und unchristliche Ehrverletzung Genugthuung
geleistet werden. 5. Wenn der römische König und die,
Fin de Siecle. Beilagen. 47
welche es berührt, auf diese Punkte eintreten wollen, so sind
die Eidgenossen bereit, über viele weitere Irrungen und
Streitigkeiten, welche noch zu beseitigen sein werden, an
gelegenem Orte ferner zu unterhandeln. Actum auf dem
gehaltenen Tag zu Schaff hausen Dienstag vor Laurentii
(6. August) Anno 1499. «Die Artikel durch den römischen
künig der französischen Botschaft zugeschickt, die sin Maiestät
zu Hinlegung dieses kriegs begehrt. » 1. Alle Neuerungen,
welche die Eidgenossen mit dem grauen Bund und andern
vorgenommen, sollen abgethan und jeder Theil in seinen
Besitzstand vor dem Krieg hergestellt werden, denn sonst
mochten sich die Eidgenossen zu aller deutschen Lande Be-
gierern machen, so dass weder König noch Kaiser mehr nöthig
wftre. 2. Die Eidgenossen, so vom Reich herkommen, sollen
dem Eeich schwören und dem Reich ihre Pflichten leisten,
nichtsdestoweniger aber ihre Bünde mit den Eidgenossen,
so von Oesterreich herkommen, behalten, in der Weise, wie
die Bundesgenossen des schwäbischen Bundes ihren Bund in
Kühe und Gehorsam gegen das heilige Reich halten. Die
Eidgenossen, welche von Oesterreich herkommen, haben den
Eid der Unterthänigkeit nicht zu schwören, sondern nur sich
nach Gerechtigkeit und in Ruhe zu halten, dann werden der
König und das heilige Reich sie in Schirm nehmen und den
Frieden, den jene vordem mit dem Haus Oesterreich gemacht,
handhaben und befestigen. 3. Die Eidgenossen, welche den
ersten Anlass zum Krieg gegen das heilige Reich gegeben,
sollen gestraft werden nach Erkenntniss der Reichsstände.
«Zu Bericht der gegenwärtigen vifrar sind die nachgeschriben
artikel vff beider teil wideranbringen abgerettet»: 1. Die
sechs Gerichte im Prättigau, welche dem König als Erzherzog
von Oesterreich, der sie von dem von Metsch gekauft, ge-
schworen haben, sollen ihm wieder huldigen ; die zwei Gerichte,
die noch nicht geschworen, sollen ihm schwören, doch dass
er sie wegen dieses Krieges nicht strafe, sondern sie gänzlich
halte, wie der von Metsch gethan. 2. Die Streitigkeiten
zwischen dem König als Grafen von Tyrol und dem Bischof
von Chur, seinem Stift und seinen Gotteshauslcuten sollen
wieder auf den Weg Rechtens zurückgesetzt werden. 3. Todt-
48 Fin de Siecle. Beilagen.
schlage, Brand n. s. w., in diesem Krieg vorgegangen, sollen
ohne Abtrag gegenseitig aufgehoben sein. 4. Gegenseitige
Herausgabe aller Eroberungen im gegenwartigen Zustand,
doch unvorgreiflich allen vor dem Krieg schon erworbenen
Rechten. 5. Bei hoher Strafe sollen fortan alle Schmähungen
untersagt sein. 6. Kein Theii soll fortan Angehörige des
andern Theils in Burgrecht, Landrecht, Schutz, Schirm u. s. w.
aufnehmen, auch keine Partei Schlösser, Städte, Herrschaften
n. s. w. der andern ohne der Obrigkeit Willen durch Kauf,
Tausch u. s. w. an sich bringen: auf Zehnten, Gülten, Zinse,
u. s. w. soll jedoch das keinen Bezug haben. 7. Alle noch
nicht bezahlten Brandschätze und Schatzgelder von Gefan-
genen sollen abgethan sein und alle Gefangenen gegen Urfehde
und bescheidenes Atzungsgeld ledig werden. 8. Zwischen
dem Haus Oesterreich und seinen Angehörigen und den Eid-
genossen und ihren Angehörigen soll für alle Streitigkeiten
ein Austrag gestellt werden auf den Bischof von Constanz
und die Stadt Basel, wie er vordem im Erbfrieden gestellt
war, Das Gleiche soll für den schwäbischen Bund die zwölf
Jahrs aus gelten, auf die derselbe jüngst von königlicher
Majestät erstreckt ist. 9. Der römische König soll ans Gnaden
alle Recht und Processe abthun, welche in dem Krieg und
vor dem Krieg wider die Eidgenossen und ihre Angehörigen
ergangen sind und sie als Glieder des heiligen Reichs zu
Gnaden nnd Hulden kommen lassen. Alle andern Sachen,
die hierin nicht begriffen sind, sollen beidseitig bleiben, wie
sie vor dem Krieg gewesen sind. Insbesondere bitten die
Eidgenossen demüthig, dass Graf Georg der Acht entlassen
werde. 10. In diesen Frieden schliesst der König ein das
Haus Oesterreich, den Herzog zu Mailand und alle andern
Churfürsten, Fürsten nnd Stände des Reichs; die Eidgenossen
dagegen schliessen ein den König von Frankreich nnd alle
die, welche mit ihnen in Bündnis oder Vereinigung sind.
Alle diese Artikel nehmen beide Theile in Abschiedsweise an
ihre Obern zu bringen und auf einem weitern Tag zu Schaff-
hausen auf Mittwoch nach St. Verenentag (4. September)
ferner darüber zu verhandeln an. Der Friedensentwurf wird
mit des mailändischen Boten und Untertädingers Galeazzo
Fin de Siede. Beilagen. 49
Visconti Siegel bewahrt, doppelt ausgefertigt und jedem Theil
einer zugestellt zu Basel am Sonntag nach Bartholomäi
(25. August) 1499.
Basel, 6. September 1499.
Da nun durch Gottes Gnade dieser schwere Krieg ge-
stillt ist, die königlichen Räthe aber angebracht haben, wie
der Herzog von Mailand, ein Fürst des Reiches, vom König
von Frankreich zu schwerem Nachtheil deutscher Nation
gegenwärtig bedrängt werde, weshalb sie um Verwendung
der Eidgenossen zur Beilegung dieses Krieges und um Hülfe
für <fen Herzog nachsuchen, so will man diese Begehren
heimbringen und auf nächsten Tag Antwort geben. In Be-
trachtung des grossen Ernstes, den der mailändische Orator
Galeazzo Visconti zur Beilegung dieses Krieges angewendet
hat, wird sein Gesuch um den Schirm und Beistand der Eid-
genossen bei dem schweren Stand seines Fürsten den eid-
genössischen Orten zur Berücksichtigung empfohlen.
Dem Scherer des Herrn Galeazzo, dem in einem Geleit
der Eidgenossen 19 Gulden an Gold, 3 Ducaten an Gold uud
6 Gulden an Münze, zusammen 29 Gulden, Kleider, Pferd
und Anderes weggenommen worden, soll solches zu Lucern
aus des von Baldegg Geld ersetzt und denen von Solothurn
an ihrem Theil abgezogen werden. Diese mögen dann suchen,
denjenigen zu ermitteln, der den Raub gethan, und sich an
ihm schadlos halten. Denen von Zug und Andern, welche
der Büchsen wegen reclamiren, soll aus vorgemeldetem Geld
30 Gulden gegeben werden.
Schwyz, 16. September 1499.
Den Hauptleuten zu Rheineck ist geschrieben, sie sollen
die Knechte abhalten, den Wein oder die Trauben, die den
Eidgenossen gehören, gewaltsam zu nehmen. Und da die
Knechte in solchen Dingen den Geboten der Hauptleute nichts
nachfragen und keine Zucht noch Ordnung unter ihnen herrscht,
so wird deshalb auch ihnen geschrieben, bei Strafe sich fortan
der Ordnung zu unterziehen. Jedes Ort soll auch die Seinen
von solchem Ungehorsam abmahnen.
4
50 Fin de Siecle. Beilagen.
Basel, 22. September 1499.
Hans Sunneberg und Ludwig Seiler «jez Sendpotien zu
Basel» berichten dem Eath zn Lucern: Nachdem die Antwort
des Königs in Betreff des Landgerichts im Thurgau dahin
ausgefallen, dass selbes dem Herzog von Mailand als dem
Untertädingcr zur freien Verfügung gestellt sei und die mai-
ländische Botschaft den Eidgenossen diesfalls genügliche Ver-
schreibimg gethan habe, so habe man mit vieler Mühe gesucht,
durch die andern Artikel Jedermann zufrieden zu stellen,
was auch gelungen sei mit Ausnahme des Artikels wegen
Aufnahme von Bürgern, mit dem Zürich sich nicht einver-
stehen wolle. Doch habe man denselben etwas gemildert
nach Inhalt der ewigen Eichtung. Nichtsdestominder beharre
Zürich auf seiner Meinung. Auch Solothurn wolle durchaus
die Grafschaften Thierstein und Büren als eigen behalten und
den [Grafen kein Losung gestatten. Daran wäre bald die
Friedensunterhandlung gescheitert, denn die königlichen Ab-
geordneten erklärten, dass es mit des KönigB und des Reichs
Ehre unverträglich sei, Jedermann zu dem Seinen kommen
zu lassen und diese dagegen auszuschliessen. Darauf sei man
überein gekommen, dass die Grafen innert Jahresfrist die
Stadt Solothurn um die Pfandsumme nebst allen Zinsen und
Rückständen ausrichten sollen, ansonst Solothurn das Recht
haben soll, die Grafschaften ohne weitere Losung zu Händen
zu ziehen! Auch sollen die Grafen selbe niemanden anders
als denen von Solothurn versetzen oder verkaufen. Hierauf
habe man ans jedem Ort einen Boten nach Solothurn geschickt,
um es zu bitten, dieses einzugehen. Und demnach habe man
sich Solothurns und auch Zürichs gemächtigt und in Gottes
Namen einen Frieden beschlossen und zugesagt. Denn sobald
man des Landgerichts wegen die Versicherung gehabt, so sei
man entschlossen gewesen, Friede zu machen, man habe auch
den Zusätzen verkündet, heimzuziehen, und angesehen, dass
alle Feindseligkeiten aufhören sollen, was eilends verkündet
werden möchte, bis der Abschied des Tages in den Orten
verhört werde. Datum zu Basel, vf der xj Stund Vormittag
vf Sunntag Mauricii. In einem beigeschlossenen Zeddel ist
dann nähere Auskunft über das Landgericht im Thurgau
Fin de Siede. Beilagen. 51
enthalten: «Dieweil das selb lantgericht dem Herzogen von
Mailand übergeben, wie Ir dz In diser Missiue verstand, hat
sich der meilftndisch pott zu fdrderung der Sach vnd des
fridens vorhin versehen In der gstalt mit einem wyssen
vngeschribenen permentin brieff mit des Herzogen von Mailands
anhangendem grossen Sigel besigelt vnd handgschrift be-
zeichnet, daruf der pot angends vns eidgnossen des landgrichts
vbergäbung zu vnsern handen vffgericht vnd vbergeben hat
vnd mag dz niemermer von unsern handen gelöst werden,
dann von dem kung oder dem rych zu derselben handen
allein, vnd dz soll beschechen mit xxm rinschen Gulden. Das
wollten wir ftch nit verhalten, doch vnser beger, dz Ingeheim
behalten vnd zu helen gebieten, damit dz dem guten Herrn
nit vertryssenlich stände.» Friedensvertrag zwischen dem
Kaiser und dem schwäbischen Bunde und den Eidgenossen
vom 22. September 1499.
Fin de Siede. Beilagen.
Das Lied über den Schwabonkrieg, genannt
„der alte Greis",
von Peter Hüller von Rapperswyl.
Wiewol ich bin ein alter gris,
So dicht, icb doch ein nftwe wis,
Ein nüwes Üed zesingen,
Zesingen von dem Römschcn küng,
Wie er ist kommen hinder d'spriing,
Ein Eidgnoschaft ze zwingen:
Er hats von einen eltren ghört.
Sin vater hats in euch gelert,
Er sölt bi einem leben
Ja brücken alle eine macht
Ze zwingen die ganz Eidgnoschaft,
Und ir ein herren geben.
Des hat er geucht so mängen fund,
Zn gmeinem rieh gm acht ein pnnd
Und zn den Swdbschen stäten ;
Die hond vil silber und oucli gold,
Si mögen geben riehen sold,
Und ligend si an betten.
Der sold war der Eidgnossen fog:
Kiiniid Schwaben und schmneker gnng,
Fürsten und ander herren.
So liessend wirs frölich hargon,
Als unser vordren hond geton:
Wir trttwen uns z'erweren.
Der bock nnd stier1) hond z'sa
Das tat dem Römschen kunig zorn,
Er wollt steh daran rächen.
Es ist des kric^s ein anefang,
Er meint, es sölt nit wllren lang,
Die plint weit er zerbrechen.
') (J raub finden und l.'i'l.
Fin de Siecle. Beilagen. 53
Die Schwaben sprechen: wir habid ein alten Got,
Den lond si uns enpfor und tribend Spot,
Und lästrend Got mit Worten.
Si sprechend, wir tüegid wider d'Cristenheit ;
Das ist in z'Meyenfeld worden leid,
Und oucli an andren orten.
Darum wir Got vor ougen hand,
Wir hond noch 6r und gute pfand,
Die trüwen wir ze bhalten.
Wärend der herren noch so vil,
So uns der alt Got helfen wil,
Den wellen wirs Ion walten.
D'lanzknecht hattend Meyenfeld ingenommen,
Des ist das Walgöw zu schänden kommen,
Die stat mustends wider ufgeben,
Fünfhundert den pünten gfangen schweren,
Und's WalgÖw verlognen sinen herreu,
Damit fristen ir leben.
Die Schwaben waren zogen uf Lutzisteig,
Am fünften tag wards inen leid,
Der luft wolt in nit schmecken,
Do si die pünt gsahend inher ziehen,
Ire beste kunst was schnei ze fliehen,
Dan unglük wolt sich wecken.
Do greif man d'Schwaben frölich an
Mit mengem unverzagten man,
Dass in bergen tat erhallen ;
Man jagts zu Baltzers durch den bach,
Ein grosse zal man inen erstach,
Schuch, waffen liessends fallen.
Da musten d'Schwaben Ulmer vänle lan,
Und darzu mängen stolzen man;
Es was in übel glungen.
Fin de Si&rle. Beilagen.
Der ruch stier lüegt ennet dem Rin,
Vod herzen gern war er dabi gesin,
Hätt auch gern mit In grungen.
Veldkllch, wie hattest dich fliehens vermessen,
Do du din vänle zd Faduz hattest vergessen ;
Ich mein, da forchtist der Swytzer klingen.
Einem boten gabst du zwen gülden bald,
Den sclüktest durch den Schanwald,
Im sak sol er dir's vänle bringen.
D'Eidgnossen Seiend zu Trisen durch den Rin,
Ir Swaben, lond uwer mugen nnd lüejen sin,
Ucb wird sin bald gelonet.
Man jagts zu Trisen uf nni ab,
Do nach man mengen Switzerknab,
Der der Swaben lntzel schonet.
Desglich zn Fussach nnd zu Hard,
Da inen irs blärens gelonet ward;
Si hond so lang geblaret,
Biss si mit fliehen sind geschändt;
Etlich Märten nnz in ir end,
Und hand sich nie geweret.
Ein tiefer graben ligt bi Hard,
Da vil der Schwaben in getöfet ward,
Des kam end sie in truren;
Der bar, der touft nach siner Art,
Muliger Swytzer da ir götte ward,
Von Ölaris und von Ure.
Die scliand inuss man von inen sagen,
Wie viel inen d'Eidgnossen hond lüt erschlagen
An denen drien enden;
Mo denn fnnftusend man ze tod,
Dri schif ertrankt in Wassersnot,
Hot wel uns kutnmer wenden I
Fin de Siede. Beilagen. 55
Högöw, du hast dich nit recht erkent,
Die hosen wort hond dich verbrent!
An d'Swytzer wolst den Vorzug haben.
Du wondst, es wäre mit tröwen schlecht,
Denn du kantst nit der Eidgnossen knecht,
Und ire frien knaben.
D'Eidgnosssen sind durch's Högöw trukt,
Hond do mengs guts schloss umgerukt,
Stät, dörfer t&tend's verbrennen,
Und zugend danach wider heim;
Sie funden kein viend gross noch klein,
Der si dörft anrennen.
Ob Basel in dem Leimental
Da hattend d'herren bösen fal;
Von Swytzern wurdens vertriben,
Dem adel und dem jtippenpund,
Der Swytzer luft was in nit gsund,
Achthundert sind da bliben.
Costentz, bedenk und bsinn dich bas,
Du meinst sin als wis, du hörst das gras
Wachsen in dem Meyen.
Du hattest zu Ermatingen ein grosse weit,
Bin Eidgnossen dorst nit bliben im veld,
Du forchtest iren reihen.
Doch mochtest nit entrinnen gar.
Irs reiens mustest nemen war,
Und mit inen daran tanzen;
Du verlurst vil büchsen, das tat dir we,
Ob tusend man und noch vil ine;
Den reien mustest pflanzen.
Tüengen, du kamt ouch an disen tanz,
Etlichen gefiel die sach nit ganz,
Der daruss mocht entrinnen.
56 Pia de Siecle. Beilagen.
Mancher zu dem reien ward genöt,
Einen usszogen, den andren tot;
Die etat die inust verbrinnen.
Walgöw, du hast dich gehalten schlecht,
Din eid hast du gehalten nit recht,
Den da den Eidgnossen hattest geschworen,
Des hat man dir vil volks erschlagen,
Ob funftusend man hört man sagen:
Du hättest sin wol entboren.
Vor Frastenz an dem Lanzengast
Stunden die Schmucker1) nit gar vast,
Vor forcht hond si z'hoch gschossen:
Sie hattend vil büchsen, ein letze gut,
D'Eidgnossen schlugend drin mit mut,
Das hat die Swaben verdrossen.
Die Swaben meintend, si wärid daheim bim win,
Und sprach einer zum andern: nu schenk mir
Des trunkes will ich erwarten, [tapfer in,
Ich beston der Swytzer me dan drig.
Die Eidgnossen waren mutes frig,
Sie schwungen ire hallenbarteu.
Dar mit hond si inen ingeschenkt,
In die 111 gejagt, darin ertrankt,
Ab irem schenken tut in schuhen.
Am ersten schruwends: heia, hei!
Und als si hörten der Swytzer gschrei,
Do tätends al dahin fliehen.
An einem Samstag es beschach,
Das Feldkirch in das Wasser sach,
Si hattend grosses wunder:
Sind das d'Eidgnossen und die ptint,
Die man an disem rechen findt?
So sind wir zu fröuden kommen.
*) Name für die tyrolischen Bergknappen.
Fin de Siecle. Beilagen. 57
Sie zugends uss; ir fröud war unnüz,
Sie hatteud al nur rote krtiz,
0 we, das ist Übel gefochten!
Nun hond wir zelten and büchsen verlorn,
Der ruche stier mit sinem hörn
Hat uns die knecht erstochen.
Die dri pünt ganz offenbar,
In dem nun und nünzigsten jar,
Im Meyen ist es beschehen,
Do zugend si durch's Engadin.
Zu Mals und Schluderns sind si gsin.
Das hat man brinnen sehen.
Die pünt, die griffend ir viend an,
Der schmucker fünfzehentusend man,
Die hond sie halb erstochen ;
Das ander halbteil in entran.
Siben grosser büchsen honds den püulen glan;
Si hond sich erlich grochen.
Darzu vil vänle mit ganzem fliss,
Ein roten adler in eim paner wiss,
Zu Cur siht man si hangen,
Bi unser Frowen im münster schon,
Den schmuckern gab man den alten Ion
Mit spiessen und mit Stangen.
Jüppenbund, was hast dich bedacht?
Du hast vil nüwer gasten bracht
Dem bär zum abendessen;
Büchsenpulver, mengerlei spis,
Vänle, und ein paner rot und wiss.
Hast zu Dorn ach vergessen.
Und darzn mengen stolzen man,
Den man vor'n studen nit zählen kan,
In toblen nnd in hägen,
1
58 Fin de Siecle. Beilagen.
On die, so in der Birs ertrunken sind.
Wer die Eidgenossen schlafen findt,
Der züch inen me entgegen!
Darzu vil adels ist da beliben,
Ein heimlicher brief kam in geschriben,
Der war zum teil erlogen,
Wie d'Eidgnossen alle doch
Wärid zogen ins Swaderloch;
Der brief hat si betrogen.
0 Strassburg, wie ist es dir ergangen?
Man siht din vänle zn Zürich hangen,
Es möcht dich wol verdriessen !
Wiltn me die Swytzer kriegen,
So lass dich (din) mut nit betriegen :
Solt ander büchsen giessen!
Bischof von Mentz, mit dim gedieht,
Was schafst mit dinem gadengricht ?*)
D'Eidgnossen drin woltst zwingen.
Kämends zu dir in din getr&ng,
Dir wurd warlich bi in ze eng,
Mit dem bär inüestist ringen.
Bischof von Mentz, din ding betracht !
Behalt dir selbst din ban und acht,
Bruchs in andren landen!
Du schaffest an Eidgnossen nüt,
Es möcht dich bringen um din hüt,
Du kämist sin ze schänden.
Bischof von Mentz, du dunkst mich ein kind,
Dass du vergibst einem alle sind,
Der an die Swytzer kriege.
Hastu hie ein solchen gewalt,
So gibs dir selb wol warm und kalt ;
Lug, dass din bul nit liege!
l) Spöttisch für «Kammergericht».
Fin de Siecle. Beilagen. 59
Und sider nun verrichtet ist
Der forsten krum und's keisers list,
Und der Swaben vermessen,
Und die stät in ruwen sind ; —
D'Eidgnossen swigend wie die kind,
Des argen wirt vergessen.
Nun singend lob dem alten Got,
Der uns geholfen hat uss not,
Vil gliik und sig gegeben;
Im sie dank in ewikeit
In sir hohen drivaltikoit,
Verlüch uns ewigs leben !
60 Fin de Siecle. Beilagen.
Aus einem Bericht des französischen Gesandten in der
Schweiz, vom 20. November 1799.
(Oecbslis Quellenbuch 468.)
«Sie haben wohl sagen hören, dass die Schweiz viel zu
leiden habe, und Sie zweifeln auch nicht daran ; ich dachte
mir das schon in Paris; aber man macht sich kaum einen
Begriff davon, welchen Grad das Elend erreicht hat.
»
Die kleinen Kantone sind eine Wüstenei; nach zwei
Aufständen, welche von 15,000 Franzosen mit Feuer und
Schwert unterdrückt wurden, sind die Wechselfälle des Krieges
dort häufiger und verderblicher gewesen, als sonst irgendwo.
Das französische Heer ist nur binnen sechs Monaten drei-
bis viermal im Hin- oder Hermarsche zwischen Glarus und
dem Gotthard gestanden und hat da Dinge gethan oder ge-
litten, die fabelhaft scheinen. Zwei oder drei Divisionen
haben die Wege, welche aus jenen Kantonen nach Bünden,
an den Gotthard und zu den andern Pässen nach Italien
führen, in allen Richtungen und mehrere Male gemacht. Der
Soldat hat von den Vorräthen der Einwohner gelebt. Da
es beinahe unmöglich war, Lebensmittel an diese Punkte mit
einer den Bewegungen entsprechenden Raschheit hinzuschaffen,
so musste man auf Kosten des Landes leben. Was man nicht
aus Mitleid gab, ward mit Gewalt genommen. Da unsere
Truppen keine einzige Ration aus Frankreich erhielten, so
war seit einem halben Jahre alles aufgezehrt worden, ehe
noch die Russen 25,000 Mann in diese verödeten Gegenden
warfen. Nur Urseren hat seit einem Jahre etwa 700,000
Menschen ernährt und beherbergt, was auf den Tag fast
2000 Menschen beträgt. Die vom Schwert verschonten Ein-
wohner mussten ihre Weiler im Stiche lassen.
Fin de Siede. Beilagen. 61
«Die wohlhabendsten Kantone sind durchweg von Re-
quisitionen erdrückt und erliegen unter der Last der Ein-
quartierungen, der Unterhaltung der Soldaten und Pferde,
üeberall mangelt es an Futter; überall schlachtet man das
Vieh ; die Zugpferde sind zu Grunde gerichtet und dem Acker-
bau entzogen. Im Kanton Freiburg hat ein kleines Dorf
seit einem halben Jahre 25,000 Mann ernährt, welche wäh-
rend dieser ganzen Zeit keine einzige Ration von der Re-
publik erhalten haben.
< Bei einer so vollständigen Einstellung aller Leistungen
unsererseits ist ein Heer von 95,000 Mann eine Geissei für
Helvetien und Helvetien eine Geissei für dieses Heer.»
Volkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
In den kleineren Staaten Earopa's macht sich seit einiger
Zeit eine gewisse Beunruhigung über ihr künftiges Schicksal
bemerklicb, welcher eine Behauptung Treitschke's indem
zweiten Bande seiner «Politik» zum Ausgangspunkte dienen
kann: Die ganze Entwicklung unserer Staatengesellschaft gehe
darauf aus, die Staaten zweiten Ranges «zurückzudrängen».
Ein vieldeutiges Wort, namentlich bei einem Schriftsteller,
dessen letzte Gedanken dahin gehen, die Machtsphäre seines
eigenen Staates so weit als nur immer möglich auszu-
dehnen.1)
Diese Beängstigung nahm eine Zeit lang die Form einer
Begeisterung grösserer Volkskreise für einen «ewigen Frieden»
an, mit der gewöhnlichen Weiterentwicklung dieser Idee, dass
alle völkerrechtlichen Streitigkeiten künftighin durch inter-
nationale Schiedsgerichte erledigt werden sollten. Während
jedoch diese Gedanken vorzugsweise nur in solchen Kreisen
ihre Vertretung fanden, welche zu der Leitung der grossen
Politik sehr wenig zu sagen haben, gingen dagegen die Be-
mühungen der eigentlich massgebenden Stellen weit mehr und
weit praktischer dahin, alle bereits schwebenden oder voraus-
sichtlichen Differenzen durch direkte Verständigung auszu-
l) Er fährt denn auch in der That fort: «Es handelt sich um
unser Dasein als Grossstaat bei der Frage, ob wir auch jenseits der
Meere eine Macht werden können. Sonst eröffnet sich die grässliche
Aussicht, dass England und Russland sich in die Welt theileu, und
man weiss wirklich nicht, was unsittlicher und entsetzlicher wäre,
die russische Knute, oder der englische Geldbeutel.»
5
66 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
gleichen und zu diesem Ende die noch alifällig tkeilbare Welt
in «Interessensphären» ersten und zweiten Ranges zu t heilen,
von denen die ersteren der wirklichen Besitznahme unter
irgend einer schonenden Form anheini fallen, wogegen in den
letzteren wenigstens eine andere Besitzergreifung, als die
des SphärenBtaates, vertragsmäßig ausgeschlossen ist.1)
Gegenwärtig sind die wirlichen Machtverhältnisse
in Europa die folgenden: Bussland, England und Deutsch-
land sind die ganz grossen, starkgerüsteten Mächte, von
denen jede demzufolge den Anspruch erbebt, ihren unbeengten
«Platz an der Sonne» zu haben, oder «diesmal bei der Ver-
theilung jedenfalls nicht zu kurz zu kommen.* Dieser
Gedanke ist der Grundgedanke ihrer ganzen Politik, 'dem
jede andere Bücksicht nachstehen muss; wer das nicht
voraussetzt, der täuscht sich in ihnen. Eine Zeitlang freilich
schien der Abrüstungsvorschlag Busslands, welcher in dem
letztjährigen Jahrbuche abgedruckt ist, einer etwas ander-
weitigen Auffassung der dortigen Politik Baum zu lassen.
Man konnte aber ziemlich bald bemerken, wenn man über-
haupt darüber je im Zweifel gewesen war, dass damit wenig
anderes gemeint war, als eine Erneuerung der heiligen
Allianz zur Beherrschung Europas durch einige Grossmächte,
unter der allerdings nothwendigen Voraussetzung eines ge-
wissen Gleichgewichts der Macht unter denselben, und es
wird schon dermalen Niemand, der denkt, glauben, dass
*) Der erstere Fall tritt nun in grossem Massstabe bei China
ein, dessen «Pachtverträge» zum Theil bereits in «Schutzgebiete*
umgewandelt worden sind, ohne dass die chinesische Regierung
etwas dazu zu sagen hatte; ein Fall der zweiten Kategorie ist am
persischen Meerbusen deutlich sichtbar geworden, ebenso bei der
afrikanischen Verständigung zwischen England und Frankreich.
Vergl. hierüber unsern Aufsatz des letzten Jahrganges «die Theil ung
der Wetl», die seither noch starke Fortschritte, gemacht hat
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 67
daraus mehr als ein sehr bedingter «Friede auf Kündigung»
entstehen kann, wie er eigentlich jetzt schon vorhanden ist.
Neben diesen drei Machten stehen noch vorläufig Frank-
reich, Oesterreich und Italien in gleichem Range, welche
aber jede für sich, ohne Allianzen, keiner der drei erst-
genannten gewachsen sind; eine Thatsache, welche äugen«
blicklich eine gewisse Beruhigung über einen Krieg herbei-
führt, den man lange Zeit als bevorstehend angesehen hatte,
and der sich nun vielleicht ganz verzögert; oder wenigstens
in entferntere Gebiete verzieht.
Alle anderen consolidirten Staaten Europa's sind «natürlich
neutral», auch wenn sie das völkerrechtliche Privilegium der
sogenannten «ewigen Neutralität» nicht besitzen; d. h. sie
beabsichtigen keine Vergrösserungen, oder Kolonisationen, und
erhalten sich auf dem Fasse einer massigen Kriegsrüstung,
bloss zum Zwecke der Vertheidigung ihres gegenwärtigen
Besitzstandes. Belgien, Luxemburg und die Schweiz sind
darunter die bereits förmlich neutralisirten Staaten, deren
völkerrechtliche Verhältnisse Andern allfällig als eine Art
von Zielpunkt vorschweben können.
Eine dritte, resp. vierte Kategorie bilden in Europa die
Staaten, welche in einer Restauration oder Liquidation be-
findlich 6ind, und deren Verhältnisse daher augenblicklich
nicht mit Sicherheit beurtheilt werden können, jedenfalls
aber nicht ganz so bleiben werden, wie sie sind. Es sind
dermalen Griechenland, die Türkei, vielleicht auch Spanien
und Portugal, und in gewissem Verstände die Balkanstaaten :
Rumänien, Serbien, Bulgarien und Montenegro.
Die außereuropäischen Staaten befinden sich sozusagen
alle in diesem Zustande, mit Ausnahme jedoch von Amerika
und Japan, von denen ersteres seit dem letzten Jahre, letzteres
seit dem Kriege mit China, der das Signal zu der Auflösung
L
68 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
dieses grossen Reiches gegeben, aber ganz unerwartete
Erben herbeigerufen hat, zu den Grossstaaten mit «Imperial-
Politik» gehören. Diese beiden Staaten mit Aspirationen
werden desshalb nothwendig auch in die europäische Politik
einbezogen werden müssen, deren Schachbrett jetzt nicht
mehr am Rhein, oder an der Weichsel, sondern am Nil
und Kongo, an den Küsten China's und den Nordgrenzen
Indiens aufgestellt ist. Sie sind die neuen Konkurrenten
um die eigentliche Grossmachtstellung in der Welt, die mit
Eclat die Bühne betreten haben, und deren Allianz den
anderen Grossmächten wünschenswerth, oder sogar noth-
wendig sein wird. Es kommt dadurch ein Element von fast
unberechenbarer Art in die europäische Politik hinein, da&
bisher in derselben noch niemals eine Rolle gespielt hat;
das ist das Neue in der Situation, — für uns vielleicht das Be-
ruhigendste dabei. —
Weitab, fast aus der Miterwägung der jetzt Lebenden,,
wenigstens soweit diess aktive Politiker sind, verdrängt,,
sind die Gedanken an Völkerfreiheit, Idealität und Humanität
in der Politik. Die dominirende Frage ist jetzt die, mit
welchen Kräften und Mitteln die grösste Zahl von Menschen
am sichersten beherrscht werden könne, und die Beherrschten
selber haben am meisten Achtung vor der Kraft und der
Macht, wobei Manche von ihnen auch einen erheblichen
materiellen Vortheil daraus ziehen, die Mehrheit aber sich
mit dem befriedigenden Bewusstsein, einem mächtigen Staate
anzugehören, begnügt.
Das ist die Situation bei Beginn des neuen Jahrhunderts,
in einiger Hinsicht nicht ganz unähnlich derjenigen vor
hundert Jahren, und daraus ergiebt sich für die kleineren
Staaten die Frage, auf welche Weise sie sich am besten
gegen Alles, was sie in ihrer friedlicheren Existenz bedrohen
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 69
könnte, sicherstellen werden, ob durch ewigen Frieden, oder
durch einen bundesmässigen Zusammenschluss, oder durch
vine garantirte Neutralität. Ein weiteres Mittel, abgesehen
von der kriegsmassigen Verteidigung, wird kaum anzu-
geben sein.
I.
Der ewige Friede ist insofern jedenfalls eine Utopie,
als er eine andere Gesittung, als die gegenwärtige, in
allen Staaten und eine völlige Beherrschung der Welt
durch lauter hochcivilisirte Staaten voraussetzt. So lange
es noch Staaten, oder Theile der Welt giebt, in welchen
ungeordnete, oder sogar unmoralische Zustände bestehen,
oder die Besitzesverhältnisse nicht liquid sind, ist zeit-
weiliger Krieg unvermeidlich; selbst Monis konnte sich in
seiner berühmten Schrift dieser Einsicht nicht ganz ver-
sehHessen. Oder sollte man etwa die Derwische in Charturn
rahig ganze Länder und Völker fortvernichten lassen, die
schon halbwegs der Kultur angehörten, oder den armenischen
Grenelthaten herzlos oder gedankenlos auf so lange zu-
sehen, bis ein christliches Volk ausgerottet sein wird, nur um
des ewigen Friedens willen ? In diesem Falle wäre derselbe
«in Privilegium für die, welche ein solches am wenigsten
verdienen.
Es mnss also Ausnahmen von demselben doch noch geben
können, oder er niuss lokal abgegränzt sein ; in diesem Falle
aber wird es schwer sein, auch nur Europa gänzlich vom
Kriegstheater auszunehmen. Wir glauben kaum, dass irgend
Jemand an massgebender Stelle Europa für völlig friedens
fähig ansieht, und noch weniger wäre diess möglich, wenn
nicht alle Grossstaaten aufrichtig entschlossen sind, inner-
halb Europa' s überhaupt keinen Krieg mehr zu führen, noch
führen zu lassen. Eine eigentliche Abrüstung aber würde
70 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
sich auch selbst in diesem Falle noch als unmöglich heraus-
stellen, weil seitens aller grossen Staaten das Gerüstetsein für
die aussereuropäischen Verhältnisse nothwendig Ist, die jetzt
geradezu die Hauptrolle in der Politik spielen.1)
«Friede auf Erden» wird überhaupt nie sein, solange
es noch Böses und Schlechtes auf Erden giebt. Das verursacht
den Krieg und muss auch bekriegt werden; Friede mit
ihm wäre noch schlimmer, als jedes Uebel des Kriegs.
Dann, wenn einmal das Gute allein mächtig in der Welt
ist, sinken die Waffen von selbst nieder, vorher sollen sie
erhoben bleiben.
Am allermeisten spricht gegen die Idee eines «ewigen> Frie-
dens ein psychologischer und ein ganz praktischer
Grund, die beide schwerlich jemals zu beseitigen sein werden,
anders als durch eine so grosse Verbesserung der Mensch-
heit, wie sie vorläufig noch ausserhalb jeder Möglichkeit
zu sein scheint.
Der Krieg allein zeigt unwiderleglich, was an einem
Volk und an einer Generation desselben ist. Griechenland y
die Türkei, Spanien und Nordamerika, vorher Italien und
Abessynien werden jetzt unzweifelhaft richtiger gewerthet
von ihrem eigenen Volke und von Andern, als vor den
neuesten Kriegen, und diese Selbsterkenntniss vor-
nehmlich ist es, welche die Verbesserung der noch
bildungsfähigen Völker sowohl, wie ihre Ermuthigung zu
grösseren Aufgaben, als den blossen Gelderwerb und Lebens-
genuss herbeiführt, auf den es doch eigentlich bei dem be-
ständigen Frieden herauskommt.
*) Die «Abrüstungskonferenz» in Haag wird daher kaum
einen andern Erfolg haben, als vielleicht in Bezug auf einzelne
Fragen, wovon wir später sprechen.
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 71
Der Krieg allein beseitigt auch unter den heutigen Ver-
hältnissen verrostete Zustande. Man kann es sich gar nicht
genügend mehr vorstellen, wie traurig es in Europa ohne die
Kriege dieses Jahrhunderts aussehen würde, die im Ganzen
betrachtet doch fast alle ein Glück, auch für die im Augen-
blicke darunter leidenden Völker gewesen sind. Unsere
Eidgenossenschaft selbst würde ein veralteter, ziemlich
lebensunfähiger Staatenbund, wenn nicht ein blosses fran-
zösisches Protektorat, Amerika ein gründlich verdorbener
Sklavenstaat sein.1) Oesterreich wäre, selbst wenn man bloss
die Verhaltnisse von 1815 ab berücksichtigt, in Italien, Däne-
mark in Holstein unmittelbar vor den Thoren von Hamburg, die
Türkei an der Donau und vielleicht noch jenseits derselben, je-
denfalls aber in Griechenland herrschend geblieben, Frankreich
wäre ein verrottetes Kaiserreich, Rom ein ebensolcher Kirchen-
staat, inNeapel und Modena würden dieBourbonen in ihrer Weise
regleren, in Cuba die Spanier und in Algier, Tunis und
Tripolis die Piraten des Mittelmeers. Der Krieg allein hat
überall Fragen gelöst, die sonst unlösbar gewesen wären,
und Raum zu neuen, viel gesunderen Entwicklungen geschaffen.
Der praktische Grund ist. der, dass zum Aufhören der
Kriege und Kriegsrüstungen, die schädlicher für den Volks-
wohlstand sind, als die Kriege selber, eine allgemeine Zu-
stimmung: aller, wenigstens aller grösseren Staaten gehört.
l) Wir hatten den ewigen Frieden und die Abrüstung ein
Jahrhundert lang von 1712 bis 1798 und würden diesen Zustand
kaum mehr ernstlich herbeiwünschen, oder dem heutigen vorziehen.
Ebenso ist die amerikanische Republik erst seitdem sie in dem Sezes-
sionskrieg durch das rothe Meer (nach Parkers Ausdruck) ging und
noch mehr seit dem letztjährigen Kriege ein überall völlig geachteter,
jedenfalls ein der Achtung würdigerer Staat geworden, in welchem
«dura jetzt wenige ganz verständige Leute diese Entwicklungen
bedauern werden, in hundert Jahren vielleicht Niemand mehr.
72 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
Bis zu einem gewissen Grade wird dieselbe vielleicht zu er-
reichen sein, und ist sie bereits erreicht worden. Wegen
blossen Etiquettefragen, oder aus sonstigen ganz kleinlichen
Ursachen werden keine Kriege mehr geführt, und es wird
möglich sein, dieselben noch mehr zu vermindern; zur
Aufhebung des Kriegs aber gehört ein Zustand einer allge-
meinen Befriedigung, der von Niemand der jetzt Lebenden
gesehen werden wird.
Die Erledigung der Kriegsveranlassungen
durch Schiedsgerichte, die völkerrechtlichen Laien
sehr leicht erscheint, ist ebenfalls in vielen Fällen möglich,
und es haben diess bereits zahlreiche Beispiele bis in die
jüngste Zeit hinein gezeigt. Es ist auch wahr, dass in
keinem bisherigen Falle ein Schiedsurtheil von einem der be-
theiligten Staaten nicht anerkannt worden ist. Ebenso richtig
aber ist, dass noch keine sehr bedeutenden Fragen, wie
etwa beispielsweise der Besitz, oder die Befreiung von Kuba
oder Kreta, oder vollends etwa gar die elsass-lothringische
Frage, schiedsgerichtlich behandelt und entschieden worden
sind, sondern die Entscheidungen betrafen vielmehr lauter
Streitsachen, um derentwillen ein Krieg kaum ernstlich in
Aussicht gestanden hätte. In einem neueren Falle, welcher die
Schweiz selbst, gegenüber Italien betraf, hat es sich sogar
gezeigt, dass die Schiedsgerichts vertrage unwirksam sind,
sobald der eine Theil sich weigert, sie auf die gegebene
Streitsache anzuwenden.1) Es giebt dann kein Mittel, um
ihn dazu zu veranlassen, sondern es gehört immer der freie
Entschluss, auch im einzelnen konkreten Streitfalle, dazu,
eine Sache schiedsgerichtlich entscheiden zu lassen, selbst
wenn ein solcher Vertrag besteht. Mit andern Worten, es
') Vgl. die Aktenstücke darüber in den Beilagen.
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 73
ist eigentlich ziemlich gleichgültig, ob ein Schiedsgerichts-
Vertrag Ein für alle Male vorhanden sei, oder ob er für
jeden einzelnen Fall geschlossen wird, etwas was natürlich
schon dermalen geschehen kann und oft geschieht. Auch
wenn ein feststehendes internationales Schiedsgericht für
alle völkerrechtlichen Streitfälle bestünde, dessen Einführ-
ung und Bestellung übrigens sehr grosse praktische Schwierig-
keiten haben dürfte, so würde sich dasselbe schwerlich für be-
fugt und für mächtig genug erachten, einen grossen Staat, der
es im gegebenen Fall nicht anerkennen würde, in contumaciam
zu verartheilen, und ein solcher Spruch würde auch gar keine
Execution finden können — anders als durch Krieg, der also
stets die «ultima ratio» bleibt.
Wir haben selbst, in unserer Geschichte, eine ganze
Reihe von solchen schiedsgerichtlichen Verhandlungen mit
Oesterreich, seit dem Eintritte von Luzern, Zürich, Glarus
and Zug in den Bund, die alle für die Eidgenossenschaft
mehr oder weniger ungünstig ausfielen, beziehungsweise ihren
Fortbestand mehr oder weniger in Frage stellten.1)
Diese Urtheile wurden nie von der Eidgenossenschaft
anerkannt, und den Streit um die Unabhängigkeit derselben
von Oesterreich entschied, trotz derselben, nur die Schlacht von
Sempach von 1386 und in letzter Linie der Schwabenkrieg
von 1499.
Auch die Bestellung der Schiedsgerichte, für den einzelnen
Fall, ganz besonders die des Obmanns, ist eine schwierige
Sache und die eidgenössischen Bünde enthalten ebenfalls eine
ganze Reihe von lehrreichen Versuchen verschiedenster Art
einen unparteiischen Obmann zu erhalten, auf den es, bei der
*) Vgl. darüber «Die Bundesverfassungen der Schweiz. Eidge-
nossenschaft 1891» p. 54— 70.
74 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
Wahl der Schiedsrichter durch die Parteien, am meisten an-
kommt. Eine Vereinbarung über denselben hat gewöhnlich
den Effekt, dass derselbe sehr geneigt ist, keinem der strei-
tenden Theile vollkommen Recht zu geben, sondern irgend
einen Mittelweg einzuschlagen : überlässt man dagegen die
Wahl dem Zufall des Looses unter verschiedenen Vorge-
schlagenen, so thäte man in vielen Fällen besser, gerade den
ganzen Streit durch das Loos entscheiden zu lassen.1) Das
Resultat würde vielleicht das Nämliche sein.
Mitunter sind in neuerer Zeit Staatsregierungen als
Schiedsrichter bezeichnet worden; das hat aber den Nachtheil,
dass selten das Staatsoberhaupt selbst den Entscheid fällt,
oder auch nur zu fällen im Stande ist, sondern dazu einen
Vertreter, oder wenigstens einen massgebenden Referenten
ganz willkürlich von sich aus bezeichnet. Man legt damit also
das Schicksal des Streites in die Hände einer durchaus un-
verantwortlichen, keinem der beiden Streittheile zum Voraus
bekannten, und vielleicht auch keinem genehmen Person.
In den meisten Fällen, wo es sich nicht etwa um technische
Untersuchungen handelt, wird es daher ebenso zweckmässig
sein, sich direkt, ohne Schiedsgericht, zu verständigen; in
einigen allerdings ist die Bezeichnung eines Schiedsgerichts
ein Mittel, um einstweilen die erregten Volksgeister zu beruhi-
gen, und es einer Regierung möglich zu machen, mit Ehren
nachzugeben. Ein solcher Fall war die bedeutendste bisherige
Entscheidung dieser Art, die «Alabama -Frage». Nachdem
') Jedenfalls muss man nicht einen bei dem gegnerischen
Staat accreditirten Diplomaten als Obmann annehmen, wie es die
Eidgenossenschaft zu ihrem Schaden in dem Cravairola-Gränzstreit
gegen Italien gethan hat. Ein solcher Fehlgriff würde in einem
andern Staate, und bedeutenderen Falle leicht zum Sturze des Mini-
steriunis, das ihn beging, geführt haben.
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 75
der Schiedsvertrag von Washington geschlossen war, war
das Endnrtheil ziemlich leicht Torausznsehen nnd kam jeden-
falls dem im Wesentlichen unterliegenden Theile nicht uner-
wartet. Wo also solche Gründe vorhanden sind und daneben
allseitig guter Wille besteht, eine Sache zu erledigen und sich
auch den denkbar schlimmsten Schiedsspruch lieber gefallen
zu lassen, als Krieg um das Streitobjekt zu führen, da
werden die Schiedsgerichte immer ihren Platz finden; in
anderen Fällen aber ist es schwer anzunehmen, dass sie
jemals den Krieg gänzlich ersetzen werden.
Eine andere Art von Gerichtsbarkeit aber, als die auf
freiwilligem Einverständniss beruhende schiedsgerichtliche, ist
unter souveränen Staaten nicht denkbar; dazu würde eine
Art von dauernder Staatenverbindung, mindestens in der
Form eines Staatenbundes gehören.
Es ist daher ganz naturgemäss unter den sehr zahl-
reichen Vorschlägen, welche dieser Gegenstand bereits her-
vorgerufen hat, kein einziger, der die vollständig ge-
nügende Garantie für ein durchaus zweckmässiges und un-
parteiliches Schiedsverfahren in allen Fällen darbietet,1)
sondern es erscheint im Gegentheil immer noch sicherer, die
Vereinbarung auf einen schiedsgerichtlichen Entscheid sowohl,
als die Bestellung des Gerichts und die Regulirung des Ver-
fahrens in jedem einzelnen Falle vorzunehmen.
Ein feststehendes europäisches Schiedsgericht wäre über-
haupt eine Mediatisirung wenigstens der kleineren Staaten.
Ein Staat, welcher sich in jedem Falle eines Streites mit
andern Staaten, selbst wenn es sich um seine Existenz
handeln sollte, einem über ihm stehenden Gerichte unterwerfen
muss, ist kein völlig unabhängiger Staat mehr; jede zwangs-
l) Vgl. hierüber unsern Aufsatz im Jahrbuch VIII, 197, wo
auf p. 27 auch einige Vorschläge gemacht sind.
76 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
weise Execution eines solchen Spruches würde das sofort bis
znr Evidenz für Jedermann beweisen.
Der Grundsatz, dass alle Streitigkeiten zwischen
Staaten schiedsgerichtlich erledigt werden müssen, hat, auch
abgesehen von speziellen praktischen Schwierigkeiten, offenbar
einen solchen ewigen Frieden, wie er in einer bundesstaat-
lichen Staatenverbindung besteht, zur Voraussetzung und
wird nicht eher, als dieser, zur allgemeinen und ausnahms-
losen Geltung gelangen.
Eine Sicherheit gegen Kriege bieten also vorläufig diese
Veranstaltungen nicht. Dieselbe ergibt sich viel eher noch
rein thatsächlich ans der fortwährenden Vervollkommnung
und zunehmenden Kostspieligkeit der modernen Kriegsmittel,
sowie durch das ausserordentlich vermehrte, auch fast un-
berechenbare Risiko, weiches jetzt mit den Kriegen unter
civilisirtcn Staaten verbunden ist. Dieselben werden wahr-
scheinlich künftighin durch den ersten, oder zweiten Zu-
sammenstoss zu Land, oder zur See entschieden, bis zur Un-
möglichkeit einer Fortsetzung für den dabei unterliegenden
Theil, und derselbe erleidet dann eine solche Erschütterung
seiner Wehrfähigkeit, seiner Finanzkraft und seines Ansehens,
tlass es der gleichen Generation, welche den unglücklichen
Krieg geführt hat, in der Regel gar nicht mehr möglich ist,
sich davon wieder zu erholen. So haben sich schon dermalen
Dänemark, Oesterreich, Frankreich von ihren Niederlagen
nicht gänzlich erholt und ihre frühere Weltstellung nicht
wieder gefunden ; Griechenland ist nur durch europäische
Intervention vor der Vernichtung gerettet worden, und für
China und Spanien bedeuteten die unglücklichen Kriege eine
dauernde Versetzung dieser Staaten in eine ganz andere
Rangklasse, ohne jede Hoffnung auf eine Restauration. Das
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 7?
macht jeden modernen Staat bedenklich gegen ein solches
Wagniss, und in der That würde kein einziger einen gründlich
verlorenen Feldzug ohne die dauerndsten und schwersten Folgen
aberleben, nicht einmal Russland und die Türkei, die in
•lieser Richtung vielleicht die grösste Lebenskraft besitzen.
Deutschland als ein Bundesstaat würde gar nicht existiren, wenn
<iie Schlacht von Königsgrätz anders ausgefallen wäre, England
sein ganzes Prestige in allen Welttheilen mit einer völligen
Niederlage zur See verlieren, Italien vielleicht wieder in
seine früheren Bestandteile zerfallen. Ein dreissigjähriger,
oder auch nur ein siebenjähriger Krieg in Europa, in welchem
die Chancen wechseln, wie es damals der Fall war, ist heute
schon nicht mehr denkbar, die ersten Monate bereits ent-
scheiden — für den besser gerüsteten Staat. Aus dem gleichen
Grande aber ist eben auch eine ernstliche Abrüstung für
Staaten nicht thunlich, die noch möglicherweise grosse Kriege
zu bestehen haben, und deren ganze Existenz, in Gegenwart.
and Zukunft, von der Möglichkeit, oder gar Wahrscheinlich-
keit abhangt, einmal einem überlegenen Feinde zu begegnen.
Man kann also vielleicht im Resume sagen, die Kriege
werden sich in civilisirten Gebieten vermindern, die soge-
nannten Cabinetskriege vielleicht ganz aufhören, die K ri e g s -
Vorbereitungen aber schwerlich, solange nichteine ganz,
andere Politik und Staatenmoral an die Stelle der bisherigen.
tritt.
IL
Dagegen wird es möglich sein, in einigen weniger
prinzipiellen Punkten den Forderungen der Friedensfreunde
entgegenzukommen, und dieselben würden unseres Erachtens
gut thun, sich, zunächst wenigstens, darauf zu beschränken ;
denn eine so lange Gewohnheit der Völker, ihre Streitig-
keiten mit den Waffen zu erledigen, wird nicht in wenigen
78 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart
Jahrzehnten beseitigt, selbst wenn darüber keinerlei prin-
zipielle Differenz bestünde.1)
1. Zunächst könnte es sich darum handeln, einen Grund-
satz in das allgemeine Völkerrecht der civilisirten Staaten
aufzunehmen, der für westafrikanische Verhaltnisse schon
seit 14 Jahren besteht, obwohl ein Fall der Anwendung noch
nicht vorgekommen ist. Es ist dies der Artikel XII der
Kongo-Akte vom 26. Febr. 1885, welcher lautet:
«Falls sich zwischen den Mächten, welche die gegen-
wärtige Akte unterzeichnen oder denjenigen, welche etwa
in der Folge derselben beitreten, ernste Meinungsverschieden-
heiten mit. Bezug auf die Grenzen oder innerhalb der
Grenzen der im Artikel I erwähnten und dem Freihandels-
system unterstellten Gebiete ergeben, so verpflichten sich
jene Mächte, bevor sie zur Waffengewalt
schreiten, die Vermittelung einer odermehrerer
der befreundeten Mächte in Anspruch zu
nehmen. Für den gleichen Fall behalten sich die gleichen
Mächte vor, nach ihrem Ermessen auf ein schiedsrichter-
liches Verfahren zurückzugreifen.»
Es ist unzweifelhaft leichter, einen weiteren Fortschritt
des civilisirten Völkerrechts an einen bereits bestehenden
J) Eine solche Verbesserung des geltendenKriegsrech t s
und damit eine indirekte Beförderung des Friedens unter den civilisirten
Völkern (damals den Hellenen im Gegensatz zu den Barbaren) strebten
schon im Alterthum die griechischen Amphiktyoneobflnde an, die sich
nach dieser Richtung hin ein wenig mit den heutigen Friedensligeu
vergleichen lassen. Die allgemeinen Friedensbestrebungen aber
verspottete auch schon damals Aristophanes mit den Worten:
«Wohl nicht dünkt es genehm den unsterblichen seligen Göttern
Eher zu enden den Krieg, vor der Wolf mit dem Schafsich vermählet.»
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 79
anzuknüpfen, als einen ganz neuen Gedanken in Vorschlag
zu bringen, nnd es wäre durch eine solche allgemeine, nicht
bloss für den Westen von Afrika geltende, Bestimmung wahr-
scheinlich sowohl der griechisch-türkische, als der spanisch-
amerikanische Krieg vermieden worden. Es ist ohnehin etwas
rigenüiüinlich, dass in einem so wichtigen Punkte das afri-
kanische Völkerrecht civilisirter sein und bleiben sollte, als
das in Europa und Amerika geltende.1)
2. Eine weitere sehr mögliche Verbesserung des gegen-
wärtigen Kriegsrechts wäre die förmliche Annahme nnd
Ratifikation der sogenannten zweiten Genfer-Kon-
vention von 1868, welche in ihren ersten fünf Artikeln
Verbesserungen der ersten, allein förmlich geltenden von
1864, in den folgenden eine Anwendung dieser Grundsätze
auf das Seekriegsrecht enthält. Dieser Konventionsentwurf
pflegt in den seitherigen Kriegen durch jeweiliges Einver-
ständniss der kriegführenden Theile beobachtet zu werden,
das aber immer nur temporär gilt. Einzelne Staaten, wie
z. B. die schweizerische Eidgenossenschaft, haben ihn auch
ratitizirt, im Ganzen aber ist es nicht der Fall, und es wäre
eine definitive Verständigung darüber um so notwendiger,
als er, wie gesagt, auch einige dringend nothwendige Ver-
besserungen der Konvention von 1864 enthält, die ohne
die definitive Ratifikation noch immer in der Luft stehen.
Es Hessen sich hieran natürlich alle weitern Fragen
über eine Revision der Genfer-Kon vention an-
knüpfen, die in verschiedener Richtung der Verbesserung
*) Dieser Vorschlag wurde von dem Verfasser bereits an dem
interparlamentarischen Kongress von Bern gemacht und findet sich,
nebst den übrigen daran geknöpften, auch im politischen Jahrbuch
der schweizerischen Eidgenossenschaft Bd. VII p. 228.
80 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
bedürftig ist, worüber auch Gutachten und Vorschläge schon
seit langer Zeit vorliegen.1)
3. Ohne Zweifei wird man hiedurch auf den weiter-
gehenden Gedanken geleitet werden, das Schlussprojekt der
B r ü 8 s e 1 e r- Ko n f e r e n z vom Jahre 1 874*) noch einmal
durchzuberathen and zu einem definitiven Vertrage über das
gesammte geltende Kriegsrecht zu gestalten, mit Benutzung
des «Manuel» des Institut de droit international, welcher
seither erschienen ist und in einzelnen Staaten bereits eine Art
von supplementärer Geltung besitzt.8) Es wäre der Absckluss
eines solchen völkerrechtlichen Vertrags der grösste Fort-
schritt, welcher vorläufig im Sinne der Regularisirun^r
und Beschränkung der Kriege gemacht werden konnte.
Ueber die einzelnen Fragen, welche dabei vorzugsweise
nochmals zur Berathnng gelangen könnten, wäre es vielleicht
verfrüht, sich hier bis in's Einzelne zu äussern; wir wollen
im Allgemeinen bloss die Möglichkeit erwähnen, das See-
beuterecht dem Landbeuterecht gleich zu stellen, d. h. die
Wegnahme von Privateigen thum zur See nur unter den
gleichen Voraussetzungen zu gestatten, unter denen Eigen-
thum von Privaten auch zu Lande, vorübergehend, oder ohne
Rückgabe, für Kriegszwecke in Anspruch genommen werden
darf. Hiebei würde die Kaperei gänzlich verboten werden müssen
für alle Staaten, ob sie dem Vertrage beitreten oder nicht (unter
Vorbehalt dessen, was wir später darüber noch sagen).4) Auch
l) Eine neueste Zusammenstellung derselben findet sich in der
Militärzeitschrift von Hungert) ühler 1899 No. 3.
*) Vgl. die Beilagen.
a) Allfällig auch der amerikanischen Kriegsartikel aus dem
Sezessionskrieg, General-Ordre No. 100.
4) Auch die Prisengerichtsbarkeit, das Seeblokaderecht und die
Kriegscontrebande verdienten eine Revision und genauere Fest-
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 81
für das Landkriegsrecht wäre es möglich, über die stets noch
bis auf einen gewissen Grad zweifelhaften Fragen betreffend die
Beanspruchung der Gelder von Staats- oder sogenannten ge-
mischten Banken und die Wegnahme von Eisen bah n-
und sonstigem Transportmaterial geeignetere und grundsätz-
lichere Bestimmungen aufzunehmen.1)
Für die kleineren Staaten, ganz besonders auch für die
Schweiz, wäre eine Revision der Artikel 9 und 10 des Brüsseler
Schiassprojektes über die Verwendung von Frei-
schaaren, Landsturm und Volksbewaffnung
angezeigt, worüber der jetzige Wortlaut dieser Artikel
mannigfache Zweifel lässt. Der spanisch - amerikanische
Krieg hat es wieder gezeigt, dass heutzutage mehr noch,
als früher, Freiwillige neben den sogenannten stehenden
Armeen, oder der gewöhnlichen Miliz Verwendung finden;
der Begriff «stehende Armee» ist überhaupt durch die
allgemeine Dienstpflicht ein obsoleter geworden. Es hat auch
keinen Grund, alle Beschränkungen festzuhalten, welche in
Artikel 10 des Projekts genannt sind und im Anwendungsfalle
unmöglich zur Ausführung gelangen könnten,2) sondern es sollte
Stellung, um nur einige Hauptpunkte noch zu erwähnen, die mit
dem Seekriegsrecht in Verbindung stehen.
() Es hat keinen rechten Sinn, dass Tb eile grosser und sehr
humanitärer Verkebrsanstalten, wie das rollende Material der Eisen-
bahnen dauernd erbeutet werden dürfen, sofern es Staatsbahnen
sind, andere Thcile dagegen nicht ohne Gebietsübergang, und es dürfte
das Recht des Erbeuters füglich auf diezeitweiligeBenutzung
der Bahnen und sonstigen Transportanstalten jeder Art, inclusive
Telegraph und Telephon, unter Verpflichtung zu gehöriger Unterhaltung
und Rückgabe hei dem Friedensschlüsse, eingeschränkt werden.
*) Wie wäre es z. B. möglich, im einzelnen Falle zu entscheiden,
ob Jemand «freiwillig», bei «Annäherung» des Feindes zu den
Waffen gegriffen hat, oder erst später, als das Gehiet schon, theil-
wetse wenigstens, besetzt war. Die Freiwilligkeit würde durch jeden
6
82 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
einfach gesagt werden, dass alle Streitkräfte eines Staates
als Kriegführende (belligerants) im Sinne des Kriegsrechtes
angesehen werden, die unter dem regelmässigen Oberbefehl
des Staates stehen, nach den Bestimmungen des Art. 9 als
Kriegführende auf Distanz erkennbar sind, und sich selbst
kriegsmässig verhalten. Wobei natürlich die Kriegsrebellion
in bereits vom Feinde formlich besetzten Gebieten ausge-
schlossen bleiben,1) in Bezug dagegen auf distinktive Abzei-
chen, verantwortliche Führung und offenes Waffentragen die
Bestimmungen des Artikels 9 bestehen bleiben, oder revidirt
werden könnten, wenn ein Bedürfniss dazu sich zeigen sollte.
Durch eine solche Revision könnte indirekt auch die
Kaperfrage gelöst werden, insofern nämlich die Seebeute
von feindlichem Privateigen thum ausgeschlossen wird. Denn
dann sind Kaperschiffe, als Freiwilligen-Corps zur See, und
unter den ganz gleichen Voraussetzungen des Landkriegs-
rechts, zur Unterstützung der regulären Seemacht sehr wohl
denkbar und für kleinere Seestaaten in einem längeren Kriege
sogar unentbehrlich ; der jetzige Ausschluss geht, unter dieser
Voraussetzung, zu weit.
Eine besonders wichtige Frage würde die Ausdehnung
der Petersburger-Konvention auf neue Kriegs-
mittel, Torpedo's, Dum-Dumkugeln, Explosivkugeln von gros*
serer Wirksamkeit als die bisherigen, unterseeische Torpedo's,
Rammvorrichtungen der Schiffe etc. bilden, wobei wir freilich
keinen erheblichen Glauben an solche Verbote besitzen, denn
Aufruf der Staatsbehörde zum Ergreifen der Waffen, unter An-
drohung vielleicht von Strafen, aufhören, und ebenso ist die
Klause] «ohne Zeit zur Organisation in Freiwilligenkorps gehabt
zu haben» z. B. mit unserem seither erlassenen Landsturmgesetz un-
vereinbar, das Jedermann den Eintritt in den Landsturm offenstellt.
*) Vgl. hierüber einen Aufsatz des Verfassers in den «Blättern
für Kriegsverwaltung» 1887.
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 83
diese Kriegsmittel lassen sich nicht ganz beseitigen und
worden für schwächere Staaten stets daß Mittel einer
gewissen Ausgleichung der Kräfte bilden. Immerhin wäre
dies doch möglicher, als eine allgemeine Abrüstung, oder eine
Kontingentirung der gegenseitig erlaubten Streitkräfte, die
eine reine Utopie sind.
Aach die Beschränkung der Spionage imFrieden,
welche bereits so seltsame Blüthen gezeitigt hat, die keinem
Staate zum Yortheil gereichen, wäre, wenigstens als Gegen-
stand der Bcrathung denkbar, ebenso der Ausschluss von
Bestimmungen über die Anwendung des Kriegsrechtes auf
Frauen und Minderjährige, und eine nähere Fest-
stellung des geltenden Rechtes mit Bezug auf Luft-
schiffer, Kriegskorrespondenten und andere der Armee
Attachirte.
Wir sind der Meinung, dass eine solche Codifizimng
des gesammten Kriegsrechts zu den grössten möglichen
Fortschritten im Sinne der Friedensidee gehören würde.
Vorläufig handelt es sich, wie schon gesagt, darum, das
Mögliche und Thunliche zu erreichen und das liegt
darin, den Krieg zu beschränken, und so weit es sich mit
seinem Zwecke überhaupt verträgt, zu humanisiren.
Geht man über das hinaus, so wird man zwar zu «hoch-
achtbaren» Ideen und Proklamationen gelangen, die in der
Geschichte der Menschheit einen trügerischen Schimmer von
Humanität eines gewissen Zeitalters hinterlassen können,
praktisch aber das Resultat des Berliner-Arbeiterschutz-
kongresses haben, welcher eine Anzahl von Verbesserungen
als «wünschen s wer th> bezeichnete, wobei es bis zum heutigen
Tag sein Verbleiben gehabt hat.1)
*) Vgl. darüber politisches Jahrbuch Band V, pag. 653. Die
Verhandlungen über diesen Kongress sind vollständig in diesem
84 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
HL
Die wichtigste Frage für die kleineren Staaten ist im
gegenwärtigen Momente die Verstärkung ihrer militärischen
Kraft und die Sicherung ihrer Unabhängigkeit gegenüber
direkter oder indirekter Vergewaltigung, oder auch nur Ein-
beziehung in gewisse Macht- oder Einflusssphären. Es ist
offenbar, dass diess letztere einigermassen in der Zeit liegt und
bereits seine Präzedentien nicht bloss in Afrika und China,
Bondern auch in Europa, namentlich auf der Balkan-
halbinsel hat. Ebenso hat die Idee des Wiener- und Aachener-
Kongresses, dass es einer bestimmten Anzahl von Staaten
zuBtehe, eine Art Ueberwachungscomite* für den europäischen
Frieden zu bilden, neuerdings Gestalt gewonnen, indem die
alten fünf Grossmächte, in etwas erneuter Gestalt und um
Eine vermehrt, wieder handelnd aufgetreten sind. Demgegen-
über ist es für die kleineren Staaten crspriesslich, Stellung
zu nehmen und einerseits neuerdings zu betonen, dass nach
dem modernen Völkerrecht alle souveränen Staaten gleichen
Ranges Bind und keiner Bevormundung unterliegen, andrer-
seits diese ihre Stellung zu sichern. Die Mittel hiezu sind
— ausser der Kriegsrüstung — die bundesstaatliche Organi-
sation und die ewige Neutralität.
Der Zusammenschlii8s mehrerer kleinerer Staaten zu
einem Bundesstaat ißt natürlich nicht in allen Fällen
möglich, beispielsweise könnte die Schweiz sich nirgends
mehr anschliessen, sondern hat das höchst Erreichbare in dieser
Richtung bereits geschaffen. Ebenso ist diess von andern bereits
Bande, von pag. 633 ab zu finden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass
der Haager-Congress sich auch in ähnlicher Weise auflösen wird,
wenn man nicht von vornherein sein Programm richtig limitirt.
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 85
bestehenden Bundesstaaten, wenn man diese Beispiele über-
haupt herbeiziehen will, bei Deutschland der Fall, dagegen
nicht bei Amerika, das noch einer grossen Angliederung von
neuen Gebieten fähig ist, ebenso nicht bei England und
Oesterreich, welche der bundesstaatlichen Organisation sichtbar
entgegenwachsen, während Russland soeben im Begriffe steht,
die letzten Spuren einer solchen gegenüber Finnland zu be-
seitigen.
Im Ganzen ist der Bundesstaat die Staatsform der Zu-
kunft. Denn sie allein gestattet es den Menschen, in
kleineren Staatsformen sich ihren Bedürfnissen gemäss wohl
zu fahlen, was in einem grossen Staate ohne Verletzung
einzelner Volkstheile, die dann in ihrer speziellen Entwick-
lung zurückbleiben, niemals möglich ist — ohne dass damit
die Kraft des Staates nach Aussen geschwächt wird, und
die mannigfachen Nachtheile der «Kleinstaaterei» eintreten.
Diese Möglichkeit, sich der Vortheile des Grossstaates und
des Kleinstaates bis auf einen gewissen Grad gleichzeitig
zu erfreuen, hat dieser Staatsform, welche vor 1848 nur
einen einzigen Repräsentanten in der Welt besass und dem
ganzen Alterthum so zu sagen unbekannt war1), eine immer
noch steigende wissenschaftliche Anerkennung und eine noch
bedeutendere thatsächliche Zukunft verschafft.
Es gehören dazu aber nothwendig bereits einigermassen
civilisirte Staaten mit einer sehr ruhigen und politisch ge-
bildeten Bevölkerung, die das notwendige Gleichgewicht
zwischen der Zusammenfassung nach Aussen und der Frei-
heit nach Innen stets mit fester und sicherer Hand aufrecht
zu halten versteht. Denn etwas Schwankendes, einerseits
*) Vgl. hierüber den Aufsatz «der Achäische Bund» im Jahr-
buch VII, 334.
86 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
nach der natürlichen Staatseinheit, andrerseits nach dem
lockerern «Staatenhund» Tendirendes behalt der Bundesstaat
immer; auch eine ganz feste Regel für die Vertheilung der
Staatsgewalt auf den Gesammtstaat und die Einzelstaaten
«riebt es jetzt nicht und nirgends, und wird es nie geben.
Nur das wird man sagen können, ans bisheriger Erfah-
rung, dass die diplomatischen Verhältnisse und das Militär-
wesen stark zentralisirt sein müssen , auch für eine
bundeBgerichtliche Entscheidung in staatsrechtlichen Streitig-
keiten und wichtigeren Civil- und Strafsachen gesorgt sein
muBS, während die kirchlichen Angelegenheiten, die Schule,
die innere Verwaltung, die direkten Steuern und ein wesent-
licher Theil der Justiz ohne Schaden der Bestimmung
der Einzelstaaten überlassen bleiben können. In wieweit dann
die sogenannten Volksrechte, Referendum und Initiative, als
Regulatoren dieses gegenseitigen Besitzstandes herbeigezogen
werden sollen, oder ob der Parlamentarismus in einem
solchen zusammengesetzten Staate das allein Richtige ist,
ob die Regierungen vom Volke gewählt werden müssen,
und welchen Einfluss überhaupt die neuen sozialen Fragen
auf diese Staatsgestaltungen haben werden, das gedenken
wir später einmal auseinanderzusetzen; es wird das auch
nicht in jedem Bundesstaate ganz gleich zu halten sein.
Die richtige Verbindung des Parlamentarismus mit dem Re-
ferendum und der Initiative zu finden, das ist gerade jetzt
die brennendste Frage im schweizerischen Bundesstaatsrecht,
worüber die Meinungen noch sehr getheilt sind. Dagegen
scheint uns, entgegen der jetzt geltenden deutschen Theorie,
die Frage liquid, dass der Bundesstaat eine «Theilung der
Souveränität! nothwendig voraussetzt, wenn er nicht bloss
Schein sein soll, oder die Praxis der Theorie absolut
widersprechend, wie es in Deutschland der Fall ist. Der
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 87
Einzelstaat in einem Bundesstaat kann nicht bloss Au-
tonomie besitzen, oder bloss ein «staatenähnliches Gebilde»,
oder gar ein «Staat ohne Souveränität» sein; das sind
alles Begriffe, die man aufstellen kann, wie «chinesische
Pachtverträge», die aber in Wirklichkeit anders aussehen.
Ebensowenig natürlich können die Calhoun'schen Ideen über
freie Sezession, oder « Nullification » der Bandesbeschlüsse
durch die Einzelstaaten jemals wieder Bandesstaatsrecht
werden, sondern sie sind, wie Präsident Gariield es sagte,
durch den höchsten Gerichtshof des KriegB für immer ab-
gethan und erledigt; die Einzelstaaten müssen sich jedenfalls
der bundesmftssigen Entscheidung fügen. Es ist übrigens auch
hierin stets nach beiden Seiten hin gesorgt, dass die Bäume
nicht in den Himmel wachsen. Ohne eine gewisse Rechnung
auf den gesunden Menschenverstand der Mehrheit in einem
gebildeten Staate ist überhaupt kein Staatsrecht, am wenig-
sten ein Bundesstaatsrecht möglich. Ob dann die Einzel-
staaten sich ihre Rechte in der Verfassung förmlich reser-
viren sollen (dass diess nicht durch einen eigentlichen
Vertrag geschehen kann, ist selbstverständlich), so dass diese
Rechte bestimmt aufgezählt sind, wie wir es in der zweiten
helvetischen Verfassung hatten, und wie es im Ganzen das
deutsche System ist, oder ob sie eine Art von historischer
Präsumtion als Erstgeborene und zuerst dagewesene Staaten
geltend machen sollen, die natürlich im einzelnen Falle
bundesmässiger Entscheidung unterliegt (wie es bei uns und
in Amerika der Fall ist), das ist eine rein praktische Frage.
Immerhin hat die Erfahrung gezeigt, dass diese Präsumtion
mehr dekorativ ist und in wichtigen Angelegenheiten nicht
die genügende Widerstandskraft besitzt.
Das geltende Bundesstaatsrecht ist also nach ver-
schiedenen Richtungen hin der Entwicklung fähig; es ist
88 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
überhaupt eine verhältnissmässig sehr neue Wissenschaft,
für die man sich nicht auf griechische, römische, oder mittel-
alterliche Vorbilder berufen kann, und die selbst in den be-
stehenden Bundesstaaten die nöthige Festigkeit noch nicht
erlangt hat. Dagegen kann man bereits, auf Erfahrung gestützt,
behaupten, dass der Bundesstaat eine Staatsform ist, die für
alle denkbaren vernünftigen Staatszwecke mehr Spielraum
und Entwicklungsfähigkeit besitzt, als jede andere.
Welche Staaten sich noch für den Bundesstaat, be-
ziehungsweise den bundesstaatlichen Zusammenschluss mit
andern eignen würden, ist schwer zu bestimmen. Im gewöhn-
lichen Falle, der die Auflösung eines Einheitstaates bedeutet,
könnten in Europa höchstens Spanien, Oesterreich (im engern
Sinn) und Italien sein, nachdem in England die Gladstone'sche
Homerule-Idee , die im Grunde nichts anderes bedeutete,
dahingefallen ist. Italien würde sich zu einem Bundesstaat
mit starker piemontesischer Spitze sogar viel besser geeignet
haben als zu dem jetzigen Einheitsstaat, wenn nicht Rom
gewesen wäre. Ein Bundesstaat mit einem theokratisch
organisirten Einheitsstaat in der Mitte, dessen Regent zu-
gleich das geistliche Oberhaupt des Gesammtstaates und noch
weiterer Staaten ist, das würde eine Aufgabe für das Bundes-
staatsrecht gewesen sein, welche dessen Verdauungskraft, die
zwar eine sehr starke ißt, wahrscheinlich überstiegen hätte.
Ein Zusammenschluss mehrerer bestehender Einheits-
staaten zu einem Bundesstaat wäre hingegen denkbar bei
den drei skandinavischen Staaten (obwohl dort gegenwärtig
eine, zwar schwer begreifliche, entgegengesetzte Tendenz be-
steht), ferner bei Holland und Belgien, die sich nie hätten
trennen sollen, vielleicht bei Spanien und Portugal, und
jedenfalls unter den Balkanstaaten nach Auflösung der eu-
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 89
ropäischen Türkei, ') die dann entweder in österreichische und
russische «Interessensphären» auseinanderfallen, oder den
Bundesstaat als Rettungsanker für ihre Selbständigkeit er-
greifen müssen. Je bälder sie es thun können, desto besser
wird es für sie sein. Das Haupthinderniss ist dermalen die
europäische Türkei und die Art und Weise ihrer Liquidation,
die sich nicht durch diese Staaten allein vollziehen wird.
Die Zukunftsstaatsform der gebildeten Menschheit sind
kleine Staaten, nicht grosse Agglomerationen, wie sie jetzt
gerade vorläufig an der Tagesordnung zu sein scheinen, das
ist nur ein Uebergang. Denn am Ende ist der Staat doch
dazu da, damit sich die Menschen in ihm wohl befinden und ihre
individuellen höchsten Lebenszwecke um so besser erreichen
können; er ist um ihretwillen, nicht sie um seinetwillen ge-
schaffen, und Macht ist — wie sogar Lassalle es uns sagt —
nur dann das höchste Gut des Himmels, «wenn man sie
braucht zu einem edeln Zweck.» Sonst aber ist sie eine
blosse Täuschung der Phantasie, in die auch edle Völker
zeitweise verfallen, namentlich wenn sie die ihnen zukommende
Machtstellung lange Zeit vorher schmerzlich entbehrt haben
und dieser Gedanke nun mit elementarer Gewalt, alles Andere
verdrängend, an die Stelle der früheren Bestrebungen tritt.
Sie werden zu ihrer «Jugend Hütten», den bessern Idealen,
wieder zurückkehren, wenn die richtige Staatsgestaltung ein-
mal hinreichend gewonnen ist.
*) Die Türkei würde, wenn sie überhaupt ein reformirbares
Staatswesen wäre, auch bundesstaatlich reorganisirt werden müssen
und sollte diess in diesem Falle selbst den Balkanstaaten vorschlagen.
England müsste ebenfalls ein Bundesstaat werden, wenn es nicht
seine sehr freie Colonial-Regierung der civilisirten Colonien hätte,
die das einstweilen noch ersetzt. Im Grunde aber sind die nor-
mannischen Inseln, Man, Ganada, Australien und das Gapland nicht
viel Anderes, als Glieder eines Bundesstaats.
90 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
Von den übrigen Welttheilen wird ohne Zweifei ganz
Amerika und ganz Australien vollständig znr republikanischen
Bundesstaatsform übergehen, und auch in Süd- und Mittel-
afrika wird dies muthmasslich geschehen/) selbst in Asien
hat nun die Bundesstaatsform durch Amerika starken
Fus8 gefasst. Es ist übrigens einer der grössten praktischen
Vortheile dieser Staatsform, den sie vor jeder anderen vor-
aus hat, dass sie sowohl die republikanische, wie die
monarchische Staatsregierung, ja sogar, wie es Deutschland
und die Schweiz bereits zeigt, eine Mischung von ver-
schiedensten Einrichtungen der obersten Staatsgewalt ohne
ersichtlichen Nachtheil vertragt.
IV.
Die aktuellste völkerrechtliche Frage ist vielleicht der-
malen die der «ewigen Neutralität». Denn durch eine
solche werden sich wahrscheinlich in nächster Zukunft auch
noch andere mittelgrosse Staaten, ausser den drei europäischen,
welche sie besitzen (Schweiz, Belgien und Luxemburg), gegen
die Gefahren zu decken suchen, die ein Krieg in Europa
für sie herbeiführen könnte, oder gegen Zumuthungen, denen
sie mit Rücksicht auf einen solchen ausgesetzt sein könnten.
Für die ganz kleinen Staaten Europas bestehen keine
vertragsmässigen, oder sonst ausgesprochenen Neutralitäts-
verhältnisse; dieselben sind aber in Wirklichkeit Protek-
torate2), und es ist geschichtlich leicht erkennbar, dass auch
*) Dort ist bloss die Frage noch offen, ob Ohm Paul, oder Cecil
Rhodes an die Spitze kommt.
") Die allerkleinsten Staaten Europa's, wie Liechtenstein, Monaco,
Andorra, San Marino, oder das neutrale Gebiet von Moresnet in
der Nähe von Aachen kommen daher dabei nicht in Betracht
Augenblicklich ist auch Kreta nun ein solches europäisches Pro-
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 91
diu ewige Neutralität, wo sie besteht, aus ähnlichen Gesichts-
punkten hervorgewachsen ist und sich nur im Laufe der Zeit
zu einem selbständigen völkerrechtlichen Begriff entwickelt hat.
Was die schweizerische Eidgenossenschaft
anbelangt, deren Neutralitätsakte die historisch erste und das
Vorbild der anderen beiden gewesen ist, so handelte es sich in
den Jahren 1814 und 1815 zunächst darum, das französische
Protektorat, unter welches sie nach der helvetischen Revolutions-
zeit durch die Mediation von 1803 gerathen war,1) durch ein
europäisches zu ersetzen, ähnlich wie diess jetzt etwa gegen-
über Griechenland der Fall ist, und ein geheimer Artikel
dos ersten Pariser - Friedens von 1814 enthielt darüber
Näheres, neben der allgemeinen Erklärung in Artikel 6 dieses
Friodensinstruments.
Ueber die Ausführung sind erst in neuerer Zeit Projekte
bekannt geworden, welche sowohl die Schweiz, als Holland
dem damals zu erstellenden deutschen Bunde in irgend einer
Form angliedern wollten.2) Eine Denkschrift des englisch-
tektorat. Die Verhältnisse des konventionellen Kongobeckens und
des Kongostaats nach dem Vertrag von 1885, sowie der Samoa-,
Tonga- und Savagc-lnseln nach den Verträgen von 1886 und 1889
sind auch nicht das Nämliche, wie die ewige Neutralität der drei
europäischen Staaten. Andere, eigentlich vertragsmässig festgestellte
ewige Neutralitäten, die früher vorhanden waren, bestehen nicht
mehr. Einzig die jonischen Inseln, wenigstens Gorfu und Paxo,
haben noch eine Zusicherung durch die alten 5 Grossmächte vom
14. Nov. 1863 und 29. März 1864, welche auch bei der Blocade
von 1887 und dem Kriege von 1897 respektirt worden ist.
1) Vgl. hierüber politisches Jahrbuch, Band 1, «Unter dem Pro-
tektorat-, 1886.
2) Vgl. Wilhelm Adolph Schmidt, «Geschichte der deutschen Ver-
tasungsfrage während der Befreiungskriege und des Wiener Kon-
gresses 1812—1815,» herausgegeben von Prof. Stern 1890.
92 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
hannoveranischen Grafen Münster vom 5. Januar 1813 (pag.
48, 99) sagt : c Rien ne donnerait plus de stabilitä & ce
Systeme de defense, qne de savoir reunir la Suisse et la
Hollande. Ces deux pays flanqueraient comme deux grandes
bastions la frontiere de rAllemagne vers la France.» Dem-
zufolge sollten dieselben dann auch in dein zu errichtenden
Bundes-Direktorium vertreten sein (pag. 140). Der preus-
sische Vertreter Wilhelm von Humboldt wollte sich dagegen
in einem, schon früher von Oncken veröffentlichten, Memoire
an Stein mit der Unabhängigkeit dieser beiden Bastionen
begnügen, dagegen wird diese «Unabhängigkeit» in einem
früher ebenfalls unbekannten «Memoire preparatoire» vom
April 1814 wie folgt näher präzisirt:
«Die von der der deutschen Staaten völlig verschiedene
Verfassung dieser beiden Länder gestattet ihnen augen-
scheinlich nicht; am Bunde eigentlich theilzunehmen. Aber
es wäre möglich und äusserst nützlich, sie durch ewige
Allianzverträge mit Deutschland in innigerer und speziellerer
Weise zu verbinden, als es die andern europäischen Mächte
sein werden.» In Bezug auf Holland wäre ein kombinirtes
Festungsystem die Hauptsache. «Die Schweiz wird
nicht leicht ihr Neu tralität ssystem aufgeben,
undmankönnte es sogar durch denzn schliessen-
denVertragauf ewig sanktioniren, vorausgesetzt,
dass sie sich verpflichtet:
a) in jedem Kriegsfall zwischen dem deutschen Bund
und Frankreich ihre Gränzen mit einer bestimmten Truppen-
zahl zu besetzen, um jede Verletzung ihres Gebietes wirk-
sam zu vermeiden;
b) dass sie ein für allemal eine gewisse Truppenzahl in
deutschen Sold gebe und verspreche, sie im Kriegsfall zn
vermehren. Da es Hollands beständige Sitte war, fremde
Truppen in Sold zu nehmen, und die der Schweiz, solche zu
geben, so könnte das erstere Deutschland eine bestimmte
Geldsumme für die deutschen Truppen bezahlen, welche einen
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 93
Thell der Garnisonen der holländischen Festungen bilden
würden, und diese selbe Summe könnte Deutschland zur Be-
zahlung der Schweizertruppen dienen;
c) dass sie auf. das Recht verzichten würde, irgend einer
andern Regierung Truppen in Sold zu geben.»
In dem Verfassungsplan des Hildburghausen'schen Ge-
heimraths Schmidt, aus dessen Nachlass diese Aufzeichnungen
zum Theil herrühren, war ebenfalls ein solcher Anschluss
der Schweiz an den deutschen Bund vorgesehen; ebenso
in einer damaligen Flugschrift «Deutschlands Wiedergeburt»
und in einem Hardenberg'schen Entwurf.
Doch ist davon der Schweiz niemals irgend eine offi-
zielle, oder halboffizielle Mittheilung gemacht worden, und
beruhten diese Projekte sämmtlich auf der Voraussetzung ihres
freiwilligen Beitritts, an den, selbst unter den damali-
gen Umständen, im Ernste kaum zu denken gewesen wäre.
Uebrig blieb davon der Anschluss des Königs von Holland
für sein Nebenland Luxemburg an den deutschen Bund,
welcher erst in unseren Tagen durch das Londoner-Protokoll
von 1867 aufgehört hat.
Die ewige Neutralität der Schweiz und die Unverletz-
lichkeit ihres Gebiets wurde dann bei Anlass des zweiten
Pariser-Friedens durch eine von den acht eigentlichen Kon-
gressmächten unterzeichnete identische Garantieerklärung
festgestellt, deren wirklicher Autor der schweizerische Ab-
geordnete Pictet de Rochemont von Genf war.*)
Eine weitere Diskussion über dieselbe hat niemals an
l) Vgl. hierüber und über alles Weitere die 1889 bei Anlass
des sogenannten «Wohlgemuthhandels» deutsch und französisch er-
schienene Broschüre des Verfassers dieses Aufsatzes: «Die Neu-
tralität der Schweiz in ihrer heutigen Auffassung», die alles
Wesentliche, ausser den oben zitirten Schmidt'schen Akten, enthält.
94 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
einem spateren Kongresse stattgefunden, und man darf auch
nach neueren und neuesten Erklärungen benachbarter Mächte
annehmen, dass darüber in diplomatischen und militärischen
Kreisen massgebender Art kein Zweifel bestehe.1)
Dagegen lassen allerdings die völkerrechtlichen
Darstellungen der ewigen Neutralität noch sehr
zu wünschen übrig, und es sind sogar über die historische
Entstehung derselben, selbst bei sehr namhaften Schriftstellern
erhebliche Irrthümer, nicht bloss Lücken, vorhanden.2)
Es rührt das zum Theil daher, dass das Neutralitäts-
recht überhaupt ein ziemlich neues Kapitel des Völkerrechtes
ist, und die «ewige Neutralität» vollends vor diesem Jahr-
J) Vgl. hierüber und über den augenblicklichen Versuch einer
Bezweifelung in den Jahren 1848 und 1889 obige Broschüre pag.
48 — 54; auf pag. 52 ist ein förmliches Anerkennungsschreiben des
Grafen Bismarck von 1870 abgedruckt; die bisher nicht publizirten
Depeschen der Wohlgemuthsache sind in dem politischen Jahr-
buch von 1889 pag. 486 alle genannt. Vgl. darüber auch Band IU,
757 und IV. 477—510 und folg.
Spätere Anerkennungen sind enthalten in einer Rede des
Reichskanzlers von Gaprivi im deutschen Reichstag vom 23. Nov.
1892. Ebenso hat sich der französische Kriegsminister Frey einet
im März dieses Jahres geäussert. Auch in Moltke's militärischer
Korrespondenz ist die Ueberzeugung ausgesprochen, dass die
Schweiz im Kriegsfall ihre Neutralitat mit den Waffen aufrecht er-
halten werde, worüber überhaupt kein Zweifel möglich ist.
2) Galvo in seinem bekannten Werke Bd. 111 enthält über die
schweizerische Neutralität derartige Irrthümer, z. B. den (p. 445),
dass Napoleon I. von 1803—1813 die schweizerische Neutralität ge-
treulich respektirt habe. Ebenso behandelt er es als eine Anmas-
suug der Schweiz, die Abtretung Savoyens von 1860 nicht sogleich
anerkannt zu haben. «La Gonfederation eut la Prätention de ne
pas aeeepter les consequences du vote populaire, gui avait ratifie
l'annexion.» (IU, 447.)
V
\
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 95
hundert kein praktisches Beispiel aufzuweisen hatte. Es
findet sich daher nirgends in einem bekannten Lehrbuch des
Völkerrechts eine recht eingehende Beleuchtung dieses Ver-
hältnisses, sondern es ist dieselbe in der oben zitirten Bro-
schüre von 1889 zum ersten Male versucht worden.1)
1. Die ewige Neutralitat theilt ohne Zweifel die Natur
einer gewöhnlichen Neutralität für den einzelnen Fall inso-
weit, dass sie auch Pflichten in sich schliesst, und dass auch
ihr Recht von der Beobachtung dieser Pflichten abhängig
ist. Man darf daher namentlich gewiss nicht annehmen, dass
sie ein einfaches Ruhekissen, oder ein Stück «ewigen Friedens»
in dem Sinne sei, dass der ewig Neutrale nichts zu ihrer
Verteidigung zu thun habe, sondern sein Militärwesen vernach-
lässigen, oder gänzlich aufgeben dürfe. In diesem Falle würde
er thatsächlich seine Souveränität aufgeben und ein Protek-
toratsgebiet eines, oder mehrerer Staaten werden. Er muss
also, wenn die garantirte ewige Neutralität sich von einem
Protektoratsverhältniss unterscheiden soll, sein Aensserstes
zur Behauptung der Neutralität und zur Erfüllung der ge-
wöhnlichen Pflichten derselben, wie sie jedes Lehrbuch des
Völkerrechtes enthält, leisten; diese Pflichten können auch
bei ihm keine anderen, und namentlich nicht geringere
sein, als bei einem bloss für einen einzelnen Fall neu-
tralen Staat. Die ewige Neutralität unterscheidet sich
überhaupt von der gewöhnlichen nur dadurch, dass sie eine
*) Selbst Rivier, dem die Sache am nächsten liegt, enthält nur
einen ganz kurzen Passus in zwei Anmerkungen, auf p. 419 und
337 seines Lehrbuches von 1889. Grotius sagt bekanntlich noch
nichts Ober die Neutralität, sie kommt erst bei Bynkersboek zur
Sprache. Ueber die ältere Litleratur dieses Jahrhunderts in Bezug
auf die schweizerische Neutralität vgl. die Sammlung Helvetia I
547. Eine neueste bezügliche Schrift ist : « Die strategische Bedeu-
tung der Schweiz» von Oberst Weber 1898.
96 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
präsumtive, Ein für alle Male erklärte ist, während
jeder andere Staat sich in jedem Kriegsfalle anderer, besonders
benachbarter Mächte erst zu entschliessen hat und entschliessen
kann, ob er neutral bleiben wolle oder nicht. Sie enthält
somit allerdings einen Verzicht auf ein Souveränitätsrecht,
der Ein für alle Male ausgesprochen ist; die benachbarten
Staaten, denen daran etwas liegt, können sich darauf
verlassen, dass der ewig neutrale Staat in jedem ihrer
Kriege neutral bleiben und seine Neutralität mit den
Waffen nach Kräften aufrecht erhalten werde. Insofern,
aber auch nur insofern, ist es richtig, was dem Vernehmen
nach ein dänischer Kriegsminister in einer Rede in einem
Arbeiterverein vor Kurzem behauptete, die «nationale Selb-
ständigkeit der ewig neutralen Staaten sei beeinträchtigt,
während seine weitere Behauptung, dieses Verhältniss sei der
Schweiz und Belgien aufgezwungen worden und liege bloss im
Interesse der benachbarten Mächte, einer der vielen historischen
Irrthümer ist, denen man in dieser Sache begegnet. Die
ewig neutralen Staaten verzichten auf ihr Kriegsrecht, na-
mentlich auf das Recht des Angriffskrieges (worüber noch
weiter zu sprechen sein wird) und sie haben daher das Recht,
weil sie etwas von ihren SouveränitätBrechten der Idee des
ewigen Friedens und der Sicherheit ihrer Nachbarstaaten
opfern, umsomehr von denselben pünktliche Respektirung
dieser durch eine wesentliche Gegenleistung erkauften Neu-
tralität zu erwarten. Denn es muss für jeden Staat wichtig
sein zu wissen, dass er auf alle Fälle hin von dieser Seite
her vor Angriff, oder sonstiger Benachtheiligung sicher ist,
und diese Gränzlinie fremder Hut anvertrauen kann.
2. Die Garantie fremder Staaten für die ewige Neu-
tralität, oder eine formliche vertragsmftssige Anerkennung
derselben durch einen europäischen Kongress, oder durch
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 97
einzelne Erklärungen Anderer gehört an nnd für sich nicht
nothwendig zur ewigen Neutralität, obwohl thatsachlich eine
solche ohne solche Formen dermalen, wenigstens in Europa,
nicht besteht1). Aber es könnte keinem selbständigen Staate
•
Terwehrt werden, so gut wie er in jedem einzelnen Falle
eines Krieges Dritter seine Neutralität erklären kann, oder
auch ohne Erklärung als neutral angesehen wird, solange er
sich wirklich neutral verhält, in einem Zirkular an aäm rat-
liche Mächte diesen Entschluss Ein fiir alle Male kund zu
thun. Man müsste auch das als ein Recht dieses Staates
respektiren, so gut wie man seine Neutralitätserklärung für
jeden besonderen Fall zu beachten hat.
Es ist kein Grund denkbar, der es einem Staate gestatten
könnte, die Erklärung ewiger Neutralität von Seite eines
andern zu beanstanden. Insofern können also alle Staaten
ohne weitere Umstände sich ewig neutral erklären, und sie
werden sogar, wenn sie diesen Entschluss den übrigen Mächten
notHiziren, eine nach gewöhnlichen diplomatischen Höflichkeits-
regeln abgefasste Empfangsanzeige zu erwarten berechtigt
sein, die eine Art von Anerkennung enthalten wird. Immer-
hin ist ein solcher Fall noch nicht vorgekommen und die
allgemeinere Meinung bisher die gewesen, dass eine ewige Neu-
tralität eine Art von zweiseitigem Vertrag zwischen dem
aeutralisirten Staate und den Garanten der Neutralität sei.
Diese Anschauung kommt aber offenbar nur daher, weil man
bisher thatsachlich eine nicht garantirte ewige Neutralität
nicht gekannt hat. Eine solche ist aber völlig denkbar.
Eine formliche Garantieerklärung seitens Dritter ist zwar
ein nützliches und auch bisher gewöhnliches Accedens, aber
1 ) Nor bei den jonischen Inseln ist die Garantie nicht aus-
drücklich ausgesprochen, sondern Mos die Anerkennung.
7
98 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
dennoch nicht ein integrirender Bestandtheil der ewigen
Neutralität.
3. Wo sie vorhanden ist, da wird sie die Verpflichtung
der Garantiemächte enthalten, die garantirte Neutralität, so-
lange sie besteht, in jedem Falle eines Angriffs auf dieselbe
sowohl diplomatisch, als thatsächlich aufrecht erhalten zu
helfen, jedem Versuch einer theoretischen Bezweiflung der-
selben seitens Dritter entgegenzutreten und natürlich am aller-
wenigsten selbst gegen dieselbe zu sprechen, oder zu handeln.
4. Im Falle der Schweiz namentlich, übrigens auch in
dem Belgiens, könnte noch die Frage entstehen, ob Machte,
welche erst seit 1815 in ihrem jetzigen Bestände entstanden
sind, zur Garantie, als Rechtsnachfolger früherer Garanten,
verpflichtet seien. Speziell würde sich diess auf Deutsch-
land und Italien beziehen. Wir glauben diese Frage
bejahen zu sollen, da mit den völkerrechtlichen Berechtig-
ungen auch die Pflichten in Zweifel übergehen. Jedenfalls
müsste in Deutschland Preussen, und Italien als Besitzer
der anstossenden Lombardei diese Verpflichtung anerkennen.
Es war übrigens, wie sich aus der schweizerischen Neu-
tralitätsakte ergiebt, die Meinung derselben, dass alle euro-
päischen Staaten dieser Garantie beitreten sollten, und
eB ist dieselbe nur zufällig nicht weiter eingeholt worden,
nachdem die eigentlichen Kongressmächte ihre Zustimmnn
ertheilt hatten.
g
5. Ob eine solche Garantie seitens der Garanten auf-
kündbar sei, kann fraglich erscheinen, besonders wenn sie
als ein gemeinsamer Akt eines Kongresses sich darstellt, von
dem sich eigentlich nicht Einzelne lossagen können sollten.
Trotzdem sind wir der Meinung, dass es kaum solche unauf-
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 99
kündbare Staaten Verpflichtungen gebe, wie denn ja auch andere
Staatsverträge im Zweifel niemals unaufkündbar sind.1)
Immerhin wurde eine förmliche, unzweideutige Aufkün-
dtmg einer solchen einmal aktenmässig vorhandenen Garantie,
unter Anzeige an alle Mitgaranten, erfolgen müssen und der
Fortbestand zu präsumiren sein, so lange sie nicht erfolgt.
Auch würde man ohne Zweifel berechtigt sein, eine solche
als ein Anzeichen von unfreundlicher gewordener Gesinnung
anzusehen und mit Repressalien, oder selbst Vorkehrungen
vor drohender Kriegsgefahr, als deren Vorspiel sie in der
Regel zu betrachten wäre, zu beantworten.
6. Dagegen ist die Neutralitat selbst, auch die ewige
Neutralität, kein Gegenstand einer Aufkündung seitens
Dritter ; m. a. W. dieselben könnten höchstens die Garantie,
nicht zugleich aber die Neutralität aufkünden. Denn dieselbe
ist ein unzweifelhaftes Souveränitätsrecht jedes Staates und
ihm den Entschluss zur Neutralität versagen, wäre nichts
anderes, als ein Zwang zur Allianz, mit Kriegsdrohung im
Falle der Ablehnung derselben verbunden. Es ist das zwar
seitens Preussens gegenüber den norddeutschen Staaten im
Jahre 1866 wirklich geschehen, immerhin waren die Ver-
hältnisse nicht ganz gleichartig, wie in jedem andern denk-
baren Falle, da diess nicht gegenüber ganz selbständigen,
sondern gegenüber in einem Bundesverhältnisse stehenden
Staaten geschah. Im Allgemeinen dürfte darüber jedoch
kein Zweifel bestehen, das« man die Neutralität selbst nicht
*) Vgl. Ririer pag. 837. In unserem schweizerischen früheren
Staatenbundesrecht wurde diese Frage ausführlich behandelt mit
Besag auf die sogenannten «eidgenössischen« Konkordate, von denen
ein einseitiger Rücktritt einzelner Konkord au ten nicht erlaubt sein
sollte. Vgl. TagsatzungsbeschlDSs vom 25. Juli 1836, Off. Samm-
lung II 381. Doch gilt dieses Recht längst nicht mehr.
100 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
aufkünden kann, wenn der neutrale Staat sie im ge-
gebenen Falle behalten will und im Stande ist, die daraus
hervorgehenden Pflichten zu erfüllen. Dieser Wille und diese
Kraft ist die einzige Frage, die hier bestehen kann.
7. Dagegen könnte es auch einem ewig neutralen Staate
nicht verwehrt sein, seinerseits diese permanente und
präsumtive Rechtstellung aufzukünden. Wollte man seiner-
seits Unkündbarkeit annehmen, so wäre die ewige Neutralität
nicht bloss ein Verzicht auf die Betheiligung an Kriegen
Dritter, sondern ein Verzicht auf die Souveränität selbst,
und ein solcher Staat nichts anderes, als ein Protektoratsland
ohne selbständige politische Entschliessungsfähigkeit. Da-
gegen müsste allerdings eine solche Aufkündigung der ewigen
Neutralität rechtzeitig, nicht erst im Momente eines
ausbrechenden Krieges erfolgen, so dass den nächstintereasir-
ten Mächten noch Zeit zu ihren durch die veränderte Sach-
lage nothwendig gewordenen Vorkehrungen bliebe, und es
könnte ihnen auch kaum verwelirt werden, über die Grunde
einer solchen Entschliessung allfällig Aufschluss zu verlangen.
Es wäre also eine solche Aufküudung seitens des bisher
ewig neutralen Staates immerhin eine etwas bedenkliche Ent-
schliessung, die zu Schwierigkeiten führen könnte.
Es ergiebt sich daraus, dass es zwar rechtlich sehr
leicht ist, in eine ewige Neutralität einzutreten, weniger
leicht aber, sie wieder aufzugeben.
Die schweizerische Eidgenossenschaft speziell könnte das
letztere nicht, solange ihre gegenwärtige Verfassung besteht,
welche die Aufrechterhaltung der Neutralität als eine bestän-
dige Pflicht ihrer oberstenBehörden erklärt (Art. 102). Es ist
auch davon niemals die Bede gewesen.1)
*) Ein Angebot einer Allianz gegen Oesterreich ia Italien wurde
der Schweiz im Jahre 1848 von König Karl Albert von Sardinien
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart 101
V.
Die zwei praktisch-wichtigsten Fragen in dieser Sache
sind die : ob die ewig neutralen Staaten noch ausser den
gewöhnlichen Pflichten der Neutralität besondere Obliegen-
heiten, namentlich politischer Natur besitzen und ob, bezie-
hungsweise in welchem Grad und unter welchen Umständen
sie allianzfähig seien. Während alles andere ziemlich selbst-
yerständlich erscheinen kann und sozusagen aus einer logi-
schen Auslegung des bestehenden Völkerrechts sich ergibt,
sind diese beiden Fragen einer verschiedenen Auffassung zu-
gänglich.
L Die Pflichten der ewig Neutralen sind zunächst die
Pflichten der Neutralen nach gewöhnlichem Völkerrecht,
nicht mehr noch weniger. Sie unterscheiden sich von den-
selben ja nur dadurch, dass sie präsumtiv neutral sind,
also für jeden Fall bis zu einer etwaigen förmlichen Auf-
kündung, aber sie sind nicht anders, als gewöhnlich,
neutraL
Neben den gewöhnlichen Pflichten der Neutralität, die
jedes völkerrechtliche Lehrbuch enthält, und die wir hier
nicht anführen wollen, könnten diese Staaten allerdings noch
besondere Pflichten (und Rechte) besitzen, insofern nämlich
dieselben in ihrer Neutralitätsurkunde ausdrücklich angegeben
wären. Es wäre denkbar, immerhin aber nicht wahrschein-
gexnaeht, von ihr aber abgelehnt Vgl. Repertorium der Restauralions-
zeit II, 77. Ein weiteres machte ihr Kossuth noch später (1853) in
finem sehr interessanten Briefe, der zum ersten Mal im politischen
Jahrbuch IX p. 695 abgedruckt ist. Dieser Brief gelangte jedoch nie-
mals auch nur zur Verlesung im Schosse des Bundesrates, sondern
fiurde von dem damaligen Bundespräsidenten, an den er gerichtet
rar, als Privatsache und als indiskutabel betrachtet.
102 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart
lieh, dass in der Urkunde wesentliche Aasnahmen von
dem allgemeinen Rechte der Neutralität stipulirt wären.
Faktisch ist dies bei keinem der bisherigen ewig neutralen
Staaten der Fall. Die schweizerische Neutralitätsurkunde
speziell enthält gar keine besondern Auflagen, als die selbst-
verständliche, sich aller fremden Beeinflussung zu enthalten ;
eine Besonderheit, die sich nicht von selbst verstünde, ist
bloss die nach dermaliger Anschauung für die Eidgenossen-
schaft fakultative Ausdehnung ihrer Neutralität auf einen
Theil von Savoyen.
Man kann höchstens noch aus allgemeinen Gesichtspunkten
der Billigkeit und völkerrechtlichen Loyalität beifugen:
ewig neutrale Staaten, denen die Wohlthat eines ewigen
Friedens und einer Unverletzlichkeit ihres Gebietes europäisch
garantirt ist, werden die Verpflichtung eines inoffensiven
Verhaltens gegen andere Mächte, auch im Frieden und ab-
gesehen von Krieg, anerkennen, sich also nicht den berechtigten
Vorwurf zuziehen, dass sie Heerde der beständigen Beunruhi-
gung Anderer, oder gar etwa Sammel- und Waffenplätze des
Aufruhrs und der Revolution gegen benachbarte Mächte seien.
Das sogenannte «Asylrecht» der Schweiz ist je-
doch damit gar nicht in Verbindung zu bringen; es giebt
überhaupt gar kein besonderes, etwa durch Verträge, oder
Kongressbeschlüsse näher bestimmtes «schweizerisches» Asyl-
recht, sondern die Schweiz hat ganz das gleiche Recht, Fremden
Schutz und Aufenthalt auf ihrem Boden zu gewähren oder
nicht, wie jeder andere Staat es besitzt, nicht mehr noch
weniger. Es kommt nur, vermöge ihrer Lage und Verfas-
sung häufiger, als bei andern Staaten (ausser etwa Eng-
land und Amerika) vor, dass politische Flüchtlinge zeitweisen
Aufenthalt bei ihr suchen, der ihnen auch herkömmlich, unter
der Voraussetzung eines ruhigen Verhaltens gestattet wird.
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 103
Wenn dagegen die Schweiz wirklich ein cwildes Land» wäre,
wie es zur Zeit des Wohlgemuthhandels zuweilen, mit ten-
denziöser Absicht, in den Spalten der damaligen Norddeutschen
Allgemeinen Zeitung zu lesen war, oder wie es noch seither
etwa in ihren gewagten Spekulationen auf schweizerische
Eisenbahnpapiere getäuschte Börsianer erklärten, oder wenn
bei ihr die Anarchisten massenhaft und unter besonderem
Wohlgefallen der Behörden herumliefen, wie es die Ansicht
eines angesehenen deutschen Parteiführers zu sein scheint,
so würden wir selbst als die Meistinteressirten diess als
ihrer ewig neutralen und gegen jede Gebieteverletzung
gesicherten Stellung nicht entsprechend betrachten. Aus
diesem Grunde gerade machen die schweizerischen Behörden
öfter Ton dem nach Art. 70 der Bundesverfassung ihnen zu-
stehenden Rechte der Fremdenausweisung, wenn nöthig selbst
gegen den Willen der nächstbetheiligten souveränen Kantone,
Gebrauch, und wenn irgend eine Partei der Schweiz dieses
Recht aufzuheben, oder nur wesentlich zu beschränken beab-
sichtigen sollte, so würde sie die Erfahrung zu machen haben,
dass dies nicht dem Willen der Mehrheit entspricht, die einen
liberal denkenden, aber weder sozialistischen, noch gar anar-
chistischen, oder beständig revolutionären Staat will. Tat-
sächlich befinden sich auch in der Schweiz — abgesehen viel-
leicht von dem vorübergehenden Fremdenzufluss im Sommer,
den wir nicht kontrolliren können — nicht mehr Anarchisten,
oder Revolutionäre als in jedem andern Staate Europa's, Russ-
land und Deutschland nicht ausgenommen, und die Ueber-
wachung der gefährlichen Elemente der bürgerlichen Gesell-
schaft, die heutzutage sehr kosmopolitisch sind, ist liier eine
mindestens ebenso gute, als anderswo. Die schweizerische
Bevölkerung ist im Grossen und Ganzen überhaupt nicht
extrem in ihren Meinungen; die Leute dieser Art sind
104 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart
groBsentheils Fremde oder Neubürger, welche Ihre Ansichten
aus dem Aaslande Importiren, und dort, unter dem Schutz-
dache der dortigen Gesetze, so geworden sind, wie sie sind.
Diese Frage des allgemeinen Verhaltens der ewig Neu-
tralen in Friedenszeiten kann daher mitunter einer Diskus-
sion in der Presse unterliegen, sogar eine gewisse Differenz in
der Auffassung der Behörden des Bundes und der Kantone zwi-
schen grösserer oder geringerer Schärfe in der Ueberwachung
im Innern der Schweiz gestatten ; im allgemeinen aber gehört
die Schweiz zu den ruhigsten und geordnetsten
Staaten Europa's und wird sich auch dieser völkerrechtlichen
Pflichten jederzeit so gut, wie aller anderen, bewusst bleiben.
Es hat sich dies auch im letzten Jahre noch in der parla-
mentarischen Diskussion über den sogenannten «Italiener-Zug»
deutlich genug gezeigt.1)
2. Wichtiger ist die Frage der Allianzfähigkeit.
Schon desshalb, weil hier wirklich die fremden Staaten, ins-
besondere die Garantiestaaten, welche für die Unverletzbar-
keit des schweizerischen Gebiets einzutreten schuldig sind,
offenbar ein Wort mitzureden haben, eben weil sie Garanten
sind und ein Interesse an einer reellen Neutralität haben.
Es ist ganz natürlich, dass diese Garantie ganz
wesentlich eben die «Unverletzlichkeit des Gebiets» im Auge
hat, mehr als die Neutralität selbst sogar, welche auch ohne
diese Unverletzlichkeit einen geringen Werth haben würde.
Hier fragt es sich also: Darf, muss sogar die
Schweiz ihre Neutralität und ihre Gränzen gegen jeden An-
griff mit allen ihren Kriegsmitteln vertheidigen, und sodann
in zweiter Linie, sind unter diesen «Kriegsmitteln» auch
') Vgl. hierüber das politische Jahrbuch von 1898 pag. 347.
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart 105
Allianzen verstanden, eventuell unter welchen Umständen
ist dies der Fall?
Die erste Frage betrachten wir als eine ganz liquide.
Jeder Neutrale, auch ein ewig Neutraler, hat nicht bloss
das Recht, sondern ebenso die Pflicht, die Neutralität seines
Gebiets mit allen seinen Kräften aufrecht zu erhalten. Es
wird das von ihm verlangt, selbst wenn er sich davon
aus Er8parnis8gründen lieber dispensiren möchte, und man
verlangt auch, der Natur der Sache gemäss, dass er sich
bereits in Friedenszeiten auf einen solchen möglichen Fall
der Verteidigung vorsehe und seine sämmtlichen Kriegs-
mittel in gutem Stande erhalte. Dazu, um das zu be-
obachten und darüber zu berichten, sind die Militärattaches
der fremden Gesandtschaften da. Wollte sich ein ewig neu-
traler Staat gänzlich nur auf seine Garanten verlassen und
sein Militärwesen abschaffen, oder wesentlich einschränken,
so würde er sofort zum Protektoratsstaat herabsinken, der
sich unter den Schutz eines andern begeben muss; es wäre
das also ganz abgesehen von der Unehre, in den aller-
meisten Fällen sogar das richtige Mittel, um der Wohl-
tbaten der ewigen Neutralität verlustig zu gehen. Denn er
wurde fortan an die Politik seines speziellen Schätzers
gebunden sein, oder, im Falle mehrerer Schützer mit
divergirenden Interessen, mit aller Sicherheit zum Kriegs-
schauplatz werden, sobald sie selber in offene Feindschaft
«rerathen würden. Das letztere wäre unser Fall.
Es gehört daher offenbar zu den Essentialien jeder
ewigen Neutralität einerseits eine beständige Wachsamkeit
und Bereithaltung aller Kriegsmittel trotz und neben der
Garantie, die noch hiezu angerufen werden kann, sobald
eine Verletzung in nächster Aussicht steht ; andererseits ein
Sichenthalten von allem fremden Einfluss und jeder näheren
106 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart
politischen Verbindung mit irgend einem — wenigstens einem
eventuell kriegerischen, nicht selbst ewig neutralen — Staat,
wie dieß auch (wie schon gesagt) in der schweizerischen
Neutralitätsakte sogar ausdrücklich vorgeschrieben ist
Darin liegt nun allerdings ein gewisser, wenigstens
scheinbarer Widerspruch. Denn «Kriegsmittel», für einen
kleineren Staat sogar wesentliche und notwendigste Kriegs-
mittel in jedem Konflikt mit einem grösseren — wie es bei
der Schweiz immer der Fall wäre — sind auch Allianzen.
Es könnte daher Niemand einem ewig neutralen Staate
es verwehren, zur Abwehr gegen Angriffe und zum
Schutze seiner Neutralität auch eine Allianz mit
einem andern Staate, vorzugsweise dem allfälligen Kriegs-
gegner des Angreifers, ab zu seh Hessen, unbeschadet der An-
rufung der Garantiemächte. Das gehört zu seinem Rechte
der Verteidigung und insoweit ist er allianzfähig. Da-
gegen sind wir der Ansicht, dass eine Allianz ohne ein drin-
gendes augenblickliches Bedürfniss der Vertheidigung gegen
einen Angriff, ganz besonders etwa eine Allianz zum An-
griffskriege, wie sie im Jahre 1848 und 1853 Karl Albert
von Sardinien und Kossuth uns vorschlugen, mit der ewigen
Neutralität unvereinbar sei.
Sogar eine Allianz für einen gewissen Fall, der nicht
augenblicklich vorliegt, ist unzulässig; denn dadurch wird
ein ewig neutraler Staat entweder — das würde regelmässig
der Fall sein — zum Schutzstaat eines andern, oder er wird
zum mindesten die bei ihm, wie bei jedem gewöhnlichen Neu-
tralen, vorausgesetzte unparteiliche Stellung für den Kriegs-
fall zum Voraus aufgeben. So wenig man, wie jetzt im
Völkerrecht allgemein anerkannt ist, von einer «neutralitä
bienveillante> reden darf, die schon nicht mehr unparteilich
genug ist, so wenig dürfte ein Staatsoberhaupt eines ewig
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 107
neutralen Staats sich dahin äussern, dass er «jedenfalls
niemals gegen Deutschland, oder gegen Frankreich feindlich
auftreten werde>, noch weniger aber einer solchen Gesinnung
etwa durch offene oder geheime Verträge Ausdruck ver-
leihen.1) Es würde das jedenfalls ein äusserst gefährliches
Verhalten sein, welches den Staat, gegen welchen eine
solche Allianz abgeschlossen wird, berechtigen müsste, bei
Ausbruch des Kriegs den bloss angeblich ewig neutralen
Staat sofort als Kriegsschauplatz zu benutzen, oder
ihm zum mindesten eine förmliche Erklärung über seinen
Rücktritt von der Allianz abzuverlangen. Wir sind über-
zeugt, dass dies faktisch geschehen würde, und zweifeln
auch daran nicht, dass ein Garant der ewigen Neutralität,
gegen welchen eine solche Allianz mit einem andern ge-
schlossen wird, das Recht besitzt, die Garantie aufzukünden,
ja sogar, wenn er es auf Krieg ankommen lassen will, den
sofortigen Rücktritt von der Allianz zu verlangen.2)
Es wird das freilich, auch abgesehen von den theoretischen
Schwierigkeiten einer Konstruktion eines Allianzrechtes «in
extremis», eine ziemlich heikle Frage für die praktische
Politik der ewig neutralen Staaten bleiben, die zeitig
keine Allianzverträge machen können, auch nicht einmal
wissen und noch weniger zum Voraus entschlossen sein
*) Wir befinden uns damit in einem gewissen Widerspruche mit
Aeusserungcn belgischer Gelehrter, dagegen nicht mit Rivier
/Lehrbuch pag. 419). Vgl. darüber die Broschüre über die
schweizerische Neutralität pag. 79.
*) Darin befinden wir uns also in Ucbcreinstimmung mit dem
dänischen Kriegsminister Bahnson, welcher erklärte, Dänemark
dürfe desshalb nicht ewig neutral werden, weil es dann «infolge
einer Neutralitätserklärung für alle Fälle von dem Abschluss jeder
Allianz mit andern Staaten ausgeschlossen wäre.» Das ist, den
3othfall des Angriffs vorbehalten, vollkommen richtig.
108 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart
dürfen, mit wem sie zu schliessen sind, sondern den
Angriff, oder wenigstens die allernächsten unzweifelhaften
Zeichen eines Angriffs abwarten müssen. Heutzutage ist diess
bei den grossen Eisenbahnlinien, die von allen Seiten in das
Gebiet eines kleinen Staates eindringen, und bei den Kavallerie-
Massen, die meistens schon im Frieden nahe an allen
Gränzen liegen, doppelt und dreifach schwierig, dennoch aber
nicht zu ändern.
Der ewig neutrale Staat dürfte ferner, selbst in dem
Falle einer erlaubten Allianz, dieselbe ausdrücklich nur zur
Vertheidigung seiner Neutralität, und nicht für fremde
Zwecke abschliessen, was auch nicht immer leicht aus-
einander zu halten sein wird, und er müsste jedenfalls allen
Garantiemächten davon Eenntniss geben und sie auffordern,
ihm dabei behilflich zu sein. Ebenso würde er sich natürlich
bereit erklären müssen sofort, nach Abwehr des drohenden
Angriffs, die ewige Neutralität wiederherzustellen und die
Allianz aufzuheben.
Dagegen giebt die Natur des Krieges und der Strategie
es mit sich, dass, wenn einmal der Krieg vorhanden ist, der
ewig neutrale Staat seine Truppen auf jede m Gebiete ge-
brauchen darf, nicht bloss etwa innerhalb seiner eigenen Gränzen,
die er allerdings, dem Zwecke nach, allein zu schützen be-
absichtigt. Ebenso dass er nun fremden Truppen (seinen
Alliirten) den Zutritt auf sein Gebiet gestatten darf, und dass
er auch im darauf folgenden Frieden berechtigt ist, nicht
bloss eine neue allseitige Anerkennung seiner ewigen Neu-
tralität zu fordern, sondern allfällig auch bessere Garantien
für dieselbe, z. B. bessere militärische Gränzen, wenn sich
die bisherigen als zu schwach erwiesen haben. Das würde
z. B. ohne allen Zweifel in einem jeden derartigen Kriege
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 109
der Schweiz der Fall sein müssen, und zwar auf jeder der
vier Gränzfronten.
Diese Allianzfrage gehört also zu den grössten Schwierig-
keiten der Diplomatie und Generalstabswissenschaft der ewig
neutralen Staaten, und sie ist eine auch im theoretischen
Völkerrecht dermalen noch ungelöste, bis zn einem gewissen
Grade vielleicht sogar unlösbare Frage, indem der «casus
foederis», der Moment, wo die Allianzberechtigung unbeschadet
des Grundsatzes der Aufrechterhaltung ewiger Neutralität
eintritt, ein für alle und jede möglichen Falle mit der nöthigen
Bestimmtheit kaum zu bezeichnender ist. Dafür sind aber
eben die Diplomaten da und gut bezahlt, um schwierige
Fragen glücklich zu lösen.
VI.
Wenn die ewige Neutralität demnach, auch dermalen
schon, ihre bedenklichen Seiten hat und nicht eine Rose ohne
Dornen ist, sondern eine Sache, die man sich vorher tiberlegen
muss, und die namentlich nicht für einen Staat mit Aspirationen
auf Wachsthum, oder einen Sozialstaat passt, so lässt sich
ferner noch die bisher rein theoretische Frage aufwerfen,
ob ewig neutrale Staaten sich unter sich verbünden
dürfen.
Das würde unseres Erachtens keinem ernstlichen Wider-
spruche begegnen können, da eben dieses BündniBB bei ihnen
von vornherein keinen andern Zweck haben könnte, als
gemeinsame Abwehr im Falle eines Angriffs, höchstens allfällig
noch gemeinsame Vorbereitung und gleichmässige Organisation
ihrer Streitkräfte auf einen solchen Fall hin. Es würde anch
thatsächlich vielleicht Niemand etwas gegen einen solchen
Bündnissvertrag zwischen der Schweiz und Belgien einzuwenden
haben ; ob gegen einen solchen zwischen Belgien und Luxem-
110 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
bürg wäre schon zweifelhafter und vollends gehört die «neu-
trale Zone» einiger Zeitungspolitiker, die von der Nordsee
bis nach Basel sich erstrecken sollte, in die Aera des «ewigen
Friedens» überhaupt, der ebenso möglich und wahrscheinlich
wäre, als eine solche Erledigung der sog. «elsassisch-lothrin-
gischen» Frage, die, völkerrechtlich betrachtet, überhaupt
keine «Frage» ist.
Ein Bund der ewig Neutralen könnte in der Zukunft,
wenn deren einmal zahlreichere beständen, den günstigen Ein-
fluss auf den allgemeinen Friedensstand in Europa haben, dass
diese Neutralen eine Art von Friedensgebiet, eine theil-
w e i 8 e Realisation wenigstens des «ewigen Friedens» in Europa
bilden würden. Aehnlich wie diess in dem alten schweizeri-
schen Staatsrechte der Fall war, nach welchem die drei
Stände Basel, Schaffhausen und Appenzell «stille sitzen» und,
bei Krieg der übrigen Eidgenossen unter sich selbst, keinem
Theile zustehen, sondern «Vermittlung suchen» sollten, eine
sehr zweckmässige Einrichtung in einer complizirten Staaten-
gesellschaft, bei welcher thatsächliche Kontestationen nicht
unter allen Umständen ausschliessbar sind. Wenn dann we-
nigstens ein Theil dieser Staaten unbetheiligt und mit beiden
Kriegsgegnern in gutem Vernehmen bleibt, so ist das nicht
nur ein friedlicher Kern, um den sich die streitenden Glieder
der Gesellschaft wieder sammeln können, und eine natürlich
gegebene und autorisirte Vermittlung, die sich nicht aufzu-
drängen oder anzubieten braucht auf die Gefahr hin, brüsk
abgewiesen zu werden, sondern es liegt darin auch sehr deut-
lich der Gedanke ausgesprochen, der überhaupt das mo-
derne Kriegsrecht beherrscht und beherrschen soll, dass es
keine dauernden Feindschaften zwischen civilisirten Staaten
geben darf, sondern jeder Krieg nur den begränzten Zweck
der Erledigung eines bestimmten Streitpunktes hat.
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 111
Eine solche, verbündete, Gesellschaft von europäischen
Friedensstaaten würde für den Zweck des ewigen Friedens
mehr ausrichten, als jedes der bisher vorgeschlagenen Mittel
and eine beständige Propaganda dafür bilden. Es blieben
dann schliesslich nur einzelne «kriegführende» Staaten übrig
(ähnlich wie die «schlagenden» Verbindungen unter einer ge-
sammten Studentenschaft), die sich diesen Luxus des Krieg-
f&hrens noch gestatten; auch diese Kriege aber würden
wahrscheinlich von kurzer Dauer sein, und, wie es bereits
in Thessalien und Cuba der Fall war, als geordnete Duelle
vor einer Corona aufmerksamer Zuschauer stattfinden, die
stets bereit sind zu vermitteln und die öffentliche Meinung
wirksam gegen die anzurufen, welche gegen die allgemein
anerkannten Kriegsregeln handeln, oder den Krieg grausam,
oder unnöthig verlängern wollen.
Eine solche Friedensrolle kann aber nur eine viel zahl-
reichere Gruppe von unter sich eng verbundenen und über-
einstimmenden ewig Neutralen inmitten des dermalen noch
kriegerisch gearteten Europas spielen; die jetzigen einzelnen
und vereinzelten Staaten dieser Art sind dazu nicht im
Falle.
Eine andere, mehr politische Frage allerdings, wäre die,
inwiefern ihnen eine nähere Verbindung unter sich kon-
v e n i r t e. Namentlich die Schweiz und Belgien sind einstweilen
in der Lage, sich gegenseitig ata Blitzableiter zu dienen, wie dies
auch im Jahr 1815 thatsächüch der Fall gewesen ist,1) und
eine Allianz eigentlicher Art würde diese Kriegsgefahr für
x) Vgl. darüber die Erzählungen aus dem Jahre 1815 im politi-
schen Jahrbuch Bd. III p. 310 u. folg., und die «Steigenteschpapiere»,
polit. Jahrbuch Bd. III p. 596, die dort zum ersten Male veröffentlicht
sind. Man glaubte 1815 zuerst, Napoleon würde die Schweiz zum
Kriegsschauplätze machen, erst nachträglich wählte er Belgien dazu.
112 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
den einen, oder den andern Theil vermehren, und jedenfalls
neue, fernabliegende Gedanken und Gesichtspunkte in die
auswärtige Politik beider Staaten einfuhren, was immer
etwas Bedenkliches hat.
VII.
Von nicht sehr allgemeinem, sondern speziell schweize-
rischem Interesse ist sodann noch die Frage, unter was für
Umständen einzelne Gebiete, die zu nicht ewig neutralen
Staaten gehören, dieser ewigen Neutralität in ihrem Interesse,
oder im Interesse ihrer Gränznachbareu theilhaftig gemacht
werden können. Ob ferner solche Gebiete an andere Be-
sitzer abgetreten werden dürfen, ob sie der Befestigung oder
Besetzung mit Truppen zugänglich seien, und ob ihre Be-
völkerung persönlich neutralisirt sei, oder nicht.
Es giebt zur Zeit zwar bloss ein einziges neutralisirtes
Gebiet dieser Art, nämlich den Theil von Hochsavoyen, in
welchem der Schweiz im Falle eines Kriegs benachbarter
Mächte das Besetzungsrecht gleich wie im eigenen Gebiete
zusteht. Immerhin wäre es nicht undenkbar, dass auch an-
dere solche Fälle entstehen könnten, und es ist die heutige
diplomatische Praxis mindestens ebenso geneigt, als diejenige
des Wiener- und Pariser-Congresses, mit Auskunftsmitteln
solcher Art über die allfälligen Schwierigkeiten einer unum-
wundenen Gebietsabtretung hinweg zu gleiten.1)
Ueber die etwas komplizirte Geschichte dieser savoyischen
Neutralität, welche dermalen seitens der Schweiz als eine
') Die Verhältnisse in Samoa sind ein aktuelles Beispiel davon,
wie ein sehr bedeutender Diplomat unserer Zeit Schwierigkeiten
damit löste, dass er sie seinen Nachfolgern vermachte. Der Ber-
liner-Congress von 1878 ist nicht sehr viel mehr gewesen und so
wird es vielleicht auch der Haager sein.
Völkerrechtliche Praxen der Gegenwart. 113
fakultative, in dem Sinne eines ihr zustehenden Rechtes,
nicht einer obligatorischen Verpflichtung zur Besetzung, an-
gesehen wird, wie dies bei einer gewöhnlichen Nentralität
d*r Fall sein würde, treten wir hier nicht ein, sondern ver-
waisen auf die Erzählung im politischen Jahrbuch der
^hweizerischen Eidgenossenschaft Band IV, die bundesräth-
liche Denkschrift von 1859 und eine diplomatische Verhand-
hing mit dem jetzigen Besitzer dieses Gebiets, Frankreich,
welche im Bundesblatt 1884 No. 20 abgedruckt ist. Ueber
•len sogenannten «Lausanner-Vertrag» vom 30. Oktober
1564, welcher als der erste historische Ausgangspunkt dieser
Verhältnisse zu betrachten ist, wird das diesjährige Jahr-
buch, Band XIII, einen ausführlichen Aufsatz enthalten.
IVber die sogenannten « Genfer - Zonen » , welche eine
\n<iere ausnahmsweise Rechtstellung eines Theils dieses neu-
tral isirten Savoyens normiren, findet sich eine Darstellung
'ni Jahrbuch IX pag. 203 und folg.
Wir betrachten es demzufolge als selbstverständlich und
durch diese historischen Vorgänge auch dargethan, dass
-"kho mit einem völkerrechtlichen Servitut zu Gunsten
-in<>s andern Staates belastete Gebiete nicht an einen dritten
I^sitzer übergehen dürfen, ohne dass darüber mit dem
.Servitutsberechtigten eine Verständigung stattfindet, und
• l-'nso, dass die Neutralisirung eines Gebiets und das aus-
schliessliche Besetzungsrecht eines dritten Nichteigenthümers
;*'i Kriegsfall, eine Befestigung ohne seine ausdrückliche Zu-
stimmung und Mitwirkung ausschlicsst.*) Es besteht übrigens
l) Vgl. Rivier 111, 112 und 144. Ein neues, sonst sehr gutes
frinzögisches Lehrbuch des Völkerrechts, von Bonills, Professor in
Toulouse, 1894, enthält darüber, auf Seite 188, eine unrichtige An-
wirbt.
8
114 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart.
in concreto darüber Uebereinstinimung zwischen den Staaten
und ist diese Verständigung, mit der Schweiz sowohl als den
Mächten des Wiener Kongresses, auch in dem Abtretungs-
vertrag zwischen Sardinien und Frankreich s. Z. ausdrücklich
vorbehalten worden.1)
Die Landesbewohner eines solchen neutralisirten
Gebietes sind ihrerseits keineswegs als neutral anzusehen,
eine solche Neutralität von physischen Personen giebt es
überhaupt im Völkerrechte nicht; sondern sie sind in dem
Staate, welchem sie angehören, militärpflichtig und über-
haupt in jeder Hinsicht allen andern Bürgern und Ein-
wohnern gleichgestellt. Sie haben aber allerdings die Aus-
nahmsstellung, dass sie im Kriege nicht in ihrer eigenen
engern Heimath zur Vertheidigung ihres Wohnorts ver-
wendet werden können, und in dieser Richtung lässt dieses
Verhältniss, wie übrigens jede solche Ausnahme von dem
gewöhnlichen Recht, leicht einer gewissen Unbefriedigung
Raum, welcher kaum abgeholfen werden kann.*)
Diese sämmtlichen Fragen haben ohne Zweifel dermalen
eine gewisse Aktualität und verdienen näher überlegt zu
werden. Sie sind auch die einzigen reellen Grundlagen
einer «Friedensliga», Gedanken, die ausführbar sind,
keinerlei berechtigte Interessen verletzen und eine all-
mählige Verminderung und schliesslich vielleicht die Bt-
*) Vgl., ausser obiger Litteratur, noch Jahrbuch IE, 697.
2) Dieselbe hat sich noch in neuester Zeit in einer Rede eines
Deputirlen von Hoch-Savoyen iu der französischen Kammer aus-
gesprochen, deren Auszug in den Beilagen abgedruckt ist
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. 115
seitigung der Kriege in civilisirten Welttheilen
herbeiführen können, — während die gewöhnlichen Postulate
der Friedensvereine, welche sich auf eine sofortige allgemeine
Abrüstung oder Eontingentirung aller Staaten, oder auf einen
allgemeinen, für alle Falle eines Streites zwischen Staaten
verbindlichen SchiedsgerichtSYertrag beziehen, der Schatten
eines Traums und der Mühe nicht werth sind, welche sich
viele wohlmeinende Leute damit geben.
116 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. Beilagen.
Beilagen.
I.
Die Artikel der Oongo-Akte vom 26. Februar 1885 über
Neutralität und Vermeidung von Krieg in dem Oonventions-
gebiet.
Art. X. Um dem Handel und der Industrie eine neue
Bürgschaft der Sicherheit zu geben, und durcli die Aufrecht-
erhaltung des Friedens die Entwicklung der Civilisation der-
jenigen Länder zu sichern, welche im Artikel I erwähnt und
dem System der Handelsfreiheit unterstellt sind, verpflichten
sich die Hohen Vertragschliessenden, welche die gegenwär-
tige Akte unterzeichnen, und diejenigen, welche ihr in der
Folge beitreten, die Neutralität der Gebiete oder Theile von
Gebieten, welche den erwähnten Ländern angehören, ein-
schliesslich der territorialen Gewässer, zu achten, solange die
Mächte, welche Souveränitäts- oder Protektoratsrechte über
diese Gebiete ausüben oder ausüben werden, von dem Rechte,
sich für neutral zu erklären, Gebrauch machen und den durch
die Neutralität bedingten Pflichten nachzukommen.
Art. XL Falls eine Macht, welche Souveränitäts- oder
Protektoratsrechte in den im Art. I erwähnten und dem
Freihandelssystem unterstellten Ländern ausübt, in einen
Krieg verwickelt werden sollte, verpflichten sich die Hohen
Vertragschliessenden, welche die gegenwärtige Akte unter-
zeichnen, sowie diejenigen, welche ihr in der Folge beitreten,
ihre guten Dienste zu leihen, damit die dieser Macht ge-
hörigen und in der konventionellen Freihandelszone einbe-
griffenen Gebiete im gemeinsamen Einverständniss dieser
Macht und des anderen, oder der anderen kriegführenden
Theile, für die Dauer des Krieges den Gesetzen der Neutra-
lität unterstellt und so betrachtet werden, als ob sie einem
nicht kriegführenden Staate angehörten. Die kriegführenden
Theile würden von dem Zeitpunkte an darauf Verzicht zu
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. Beilagen. 117
leisten haben, ihre Feindseligkeiten auf die also neutralisirten
Gebiete zu erstrecken oder dieselben als Basis für kriegerische
Operationen zu benutzen.
Art. XII. Falls sich zwischen den Mächten, welche die
gegenwärtige Akte unterzeichnen oder denjenigen, welche et-
wa in der Folge derselben beitreten, ernste Meinungsver-
schiedenheiten mit Bezug auf die Grenzen oder innerhalb der
Grenzen der im Art. I erwähnten und dem Freihandelssystem
unterstellten Gebiete ergeben, soverpflichten sich
jene Mächte, bevor sie zur Waffenge-
walt seh reiten, die Vermittelung einer
oder mehrerer der befreundeten Mächte
in Anspruch zu nehmen. Für den gleichen Fall
behalten sich die gleichen Mächte vor, nach ihrem Ermessen
auf ein schiedsrichterliches Verfahren zurückzugreifen.
IL
Die schweizerische Neutralitätsakte.
ACTE
portant reconnaissance et garantie
de la
neutraliU perpStuelle de la Suisse et de Vinviolabilite'
de son territoire.
(Du 20 novembre 1815.)
L'accession de la Suisse ä la däclaration donnäe ä
Vienne le vingt mars mil huit cent quinze, par les Puissances
signataires du traitö de Paris, ayant e"te* düment notifi6e
aux ministres des Cours imperiales et royales, par l'acte de
la Dtete helv&ique du vingt-sept mai suivant, rien ne
8'opposait ä ce que l'acte de la reconnaissance et de la
garantie de la neatralite" perpätuelle de la Suisse dans ses
nouvelle« frontieres, füt fait conformäment ä la däclaration
susdite. Mais les Puisßances ont jug£ convenable de suspendre,
118 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. Beilagen.
jusqu'a ce jour, la Signatare de cet acte, ä cause des
changements que les 6v6nements de la guerre, et les arrange-
raents qui devaient enetrelasuite, pouvaientapporterauxlimites
de la Suisse, et des raodifications qui pouvaient aussi en r£-
sulter dans les dispositions relatives au territoire associe au
bienfait de la neutralite* du Corps helve"tique.
Ces changements se trouvent deterrainäs par les stipu-
lation du traite* de Paris de ce jour, les Puissances Signa-
taires de la däclaration de Vienne du vingt mars fönt, par
le present acte, une r econnaissan ce formelle et
au t hentique de 1 a ne utralit 6 perpetuelle de la
Suisse, et Elles lui garantissent l'int£grit6 et
l'in violabilite" de son territoire dans ses nou-
v eil es limites, t elles qu'elles sont fixGes, tant par l'acte
du Congres de Vienne que par le traite* de Paris de ce jour ;
et telles qu'elles le seront ulterieurement, conformäment ä la
disposition du protocole du 3 novembre ci -Joint en extrait,
qui stipule en favenr du Corps helv6tique im nouvel ac-
croissement de territoire a prendre sur la Savoie, pour ar-
rondir et däsenclaver le canton de Geneve.
Les Puissances reconnaissent et garantissent egalem ent
la neutralite des parties de la Savoie, d6sign£es par l'acte
du Congres de Vienne du 20 mars mil huit cent quinze, et
par le traite* de Paris de ce jour, comme devant jouir de la
neutralite" de la Suisse de la meme maniere quo si elles ap-
partenaient ä celle-ci.
Les Puissances signataires de la dßclaration du vingt
mars reconnaissent au th en tiquem en t , par le
präsent acte, que la neutralite et l'in viola bili te de
la Suisse et son independance de tonte influence
etrangere, sont dans les vrais int-6rets de la
politique de l'Europe entiere.
Elles declarent qu'aucune induetion defavorable aux
droits de la Suisse, relativement a sa neutralite, et a l'in-
violabilite de son territoire, ne peut ni ne doit etre tiree
des ävenements qui ont amen6 le passage des troupes alltees
sur une partie du sol helvetique. Ce passage, librement con-
senti par les cantons dans la Convention du vingt mai, a
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. Beilagen. 119
ete le resultat näcessaire de 1'adhäsion franche de la Snisse
aui prineipes manifestes par les Puissances signataires du
traite" d'Alliance du 25 inars.
Les Puissances se plaisent ä reconnaitre que la conduite
de la Suisse, dans cette circonstance d'öpreuve, a monträ,
qu'elle savait faire de grands sacriüces au bien g6neral, et
au soutien d'une cause que toutes les Puissances de l'Europe
ont deTendue ; et qu'enfin la Suisse 6tait digne d'obtenir les
avantasres qui lui sont assuräs, soit par les dispositions du
Congres de Vienne, soit par le traite de Paris de ce jour,
soit par le present acte, auquel toutes les Puissances
de l'Europe sont invitäcs ä aceßder.
En foi de quoi la presente declaration a 6te" faite et signee
ä Paris le 20 novembre de l'an de gräce mil huit cent quinze.
Snivant les signatures dans l'ordre alphabetique desCours:
Autriche: Le prince de Metternich.
Le baron de Wessenberg.
F r an c e : Richelieu.
Grande-Bretagne: Castlereagh.
Wellington.
Portugal: Le comte de Palmella.
Don Joachim Lobo da Silreira.
Prusse: Le prince de Hardenberg.
La baron de Humboldt.
R u s s i e : Le prince de Rasoumoffsky.
Le comte Capo ä" Istria.*)
Die belgische Neutralität ergiebt sich aus einem
Vertrag vom 15. November 1831 und einem vorangehenden
Protokoll der 5 Grossmächte, welches sagt:
«La Belgique formera un Etat perpätuellement neutre.
Les cinq puissances lui garantissent cette neu traute" perp6-
tnelle, ainsi que l'inviolabilite" de son territoire.» Holland
anerkannte den belgischen Staat erst 1839 und damals wurde
diese Neutralität neuerdings bestätigt durch den Londoner-
Vertrag vom 19. April 1839.
*) Spanien und Schweden kamen noch dazu.
1
120 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. Beilagen.
Die luxemburgische Neutralität, die bisher letzte in
Europa, lautet nur kurz:
La grand-duche* de Luxembourg . . . formera d6sormais
un Etat perpetuellement neutre* U sera tenu d'observer
cette meine neutralite envers tous les autres Etats. Les
Hautes Parties contractantes s'engagent ä respecter le
principe de neutralite" stipule par le präsent acte. Ce
principe est et demeure place sous la sanetion de la garantie
collective des puissances signataires du present traite, ä
l'exception de la Belgique, qui est elle-memo un Etat
neutre.
Die jonischen Inseln haben eine «nicht garantirte>
Neutralität durch Vertrag der ehemaligen fünf Grossmächte
vom 14. November 1863 mit folgendem Wortlaut:
«Les iles Joniennes apres leur reunion au royautne de
Grece jouiront des avantages d'une neutralitä perpetuelle . . .
Les Hautes Puissances contractantes s'engagent ä respecter
le principe de neutralite stipule par le present articlo
Neutralisirt sind ferner noch die Schiffahrts-
anstalten der untern Donau zufolge des Vertrages
von 1871, 13. März, und durch Art. 53 des Berliner-Ver-
trages von 1878, 13. Juli, ebenso der Suez-Kanal und seine
Zufahrtshäfen durch den Suez-Kanalvertrag vom 29. Oktober
1888. Dagegen ist die Neutralisirung des schwarzen Meeres
durch den Pariservertrag vom 30. März 1856 Art. 11, durch
den Londonervertrag vom 13. März 1871 wieder aufgehoben
worden.
Ausserdem besteht noch die vertragsmässige Neutralität
des Congo-Beckens nach den vorstehend abgedruckten Artikeln
der Congo-Akte, diejenige der Samoa-, Tonga- und Savage-
Inseln nach dem Samoa-Vertrag, der sich gerade jetzt als
ein sehr zweifelhaftes Werk eines grossen Staatskünstlers
erweist, sowie die thatsächliche von Moresnet und einiger ganz
kleiner Staaten in Europa.
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. Beilagen. 121
III.
Der Basler-Bundesbrief
vom 9. Juni 1501.
19. Wa es ouch durch Eynich vngefell darzuo kerne, das
vnder vnd zwischen vns der Eydgnossschafft Es were eyns
oder meer ortten gegen vnnd wider eynander vffruor wurden
erwachssen Das Gott eewiglich welle verhütten So tnag eyn
Statt Basel durch Ir bottschafft sich dar Inn arbeyten söllich
vffruur Zweygung und Spenn hynzulegen. 20. Vnnd ob
das ye nit sin möcht So soll doch dieselb Statt sust dheynen
teyl hilfflich wider den andern tcyl anhangen, Sonder still
sitzen, Doch Ir früntlichen mittlung wie vorstat ob die er-
schiessen möcht vnuerzigen.
IV.
Der projektrfrte Schiedsgerichtsvertrag zwischen England
und Amerika enthielt folgende Bestimmungen : Geldforde-
rungen, soweit sie nicht den Betrag von 100,000 Pfund über-
schreiten, werden je einer von England und von den Ver-
einigten Staaten von Amerika zu ernennenden Jury, sowie
einem von diesen beiden zu wahlenden Schiedsrichter unter-
breitet. Höhere Geldforderungen werden einem ahnlich zu-
sammengesetzten Gerichtshofe vorgelegt, dessen Entscheidung,
wenn sie einstimmig erfolgt, endgültig ist ; andernfalls kann
jede der beiden Parteien an einen neuen Gerichtshof appel-
liren, der aus je zwei von jedem Lande zu ernennenden Ju-
risten und einem von den letzteren zu wählenden Schieds-
richter besteht. Die mit Stimmenmehrheit erfolgte Entschei-
dung dieses Gerichtshofes soll endgültig sein. Jede Streit-
frage, die Gebietsansprüche einschliesst, wird einem aus
je drei amerikanischen und englischen Richtern höchsten
Ranges zusammengesetzten Gerichtshofe vorgelegt. Die Ent-
scheidung dieses Tribunals ist, wenn sie mit fünf gegen eine
Stimme getroffen wurde, endgültig. Wenn die Mehrheit ge-
ringer ist, kann jede der beiden Mächte gegen das Erkennt-
122 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. Beilagen.
niss Einspruch erheben. Eventuell boII um die Vermittlung
einer befreundeten Macht ersucht werden. Falls die Juristen
der beiden erstgenannten Gerichtshöfe sich über einen Schieds-
richter nicht einigen können, soll derselbe von dem obersten
Gerichtshofe der Vereinigten Staaten und vom Rechtsaus-
schusse der Londoner Privy Councils ernannt werden ; wenn
auch diese beiden nicht zu einer Einigung gelangen, durch
den König von Schweden und Norwegen.
Der Schiedsgerichtsvertrag bleibt fünf Jahre in Kraft;
dann gilt eine Kündigungsfrist von zwölf Monaten.
V.
Diplomatische Correspondenz zwischen der Schweiz und
Italien über die Anwendung der Schiedsgerichtsklausel im
italienisch -schweizerischen Handelsvertrag.
Es handelte sich darum, ob ein italienisches Dekret vom
8. November 1893, welches die Entrichtung der Zölle in
Metallgeld vorschrieb, dem italienisch-schweizerischen Handels-
vertrag widerspreche, der eine solche Verfügung nicht vor-
behielt, obwohl schon damals ein Agio von 3 Prozent gegen-
über dem Staatspapiergeld bestand, welches dann zeitweise
bis auf 13 bis 16 Prozent anstieg. Wichtiger, als diese
Frage selbst, war schliesslich der Umstand, dass die italienische
Regierung die ihr von der schweizerischen vorgeschlagene
schiedsgerichtliche Entscheidung ablehnte. Die beiden hiefür
entscheidenden Aktenstücke, die auch für die Zukunft und fdr
alle Schiedsgerichtsklauseln in auswärtigen Verträgen von
Bedeutung sind, lauten wie folgt:
«Note remise par la Legation suisse au tninistere d*x
affaires Üranglres a Rome, 19 mai 1894.
Le Conseil föderal a pris connaissance de la Note et du
Memoire que le Gouvernement royal a bien voulu lui adresser
et qui lui sont parvenus le 11 mai.
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. Beilagen. 123
£n resumant dans sa Note da 6 mars 1894 les raisons
exposees de part et d'antre, et sous reserve des observations
responsives qu'elle pouvait appeler, le Conseil föderal avait le
sentiment qu'il ne fallait pas prolonger davantage tine dis-
cussion evidemment epuisee; il devait etre difficile, en effet,
d'aniver par ce moyen ä Tentente de deux Gouvernements
ayant ä cceur de döfendre des interets manifestement contra-
dictoires. Le Conseil föderal 6tait en meine temps convaincu,
et l'e>enement le montre, que la Solution desiree ne pourrait
etre obtenue que par l'exercicc de l'arbitrage tel qu'il est
prescrit k l'article 14 pour Lrancher les questious concernant
Interpretation et Tapplication du traite qui ne pourraient
pas etre regl6es ä la satisfaction commune par la voie directe
d'une negociation diplomatique.
Dans cette pensee, le Conseil föderal avait cru devoir
mettre l'accent sur ce moyen de Solution et il se plaisait ä
esperer fermement que le Gouvernement Italien ne manquerait
pas de s'expliqner avec präcision ä cet egard. II est oblige
de Qonstater que le Cabinet de Borne se borne ä reprendre
le fond meme de la question, sans traiter, en aucun point
de la proposition d'arbi trage. II ne saurait, des lors, changer
sa maniere de voir et, sans suivre le Gouvernement royal
sur ce terrain ni dans certaines des observations du Memoire,
il continue ä relever dans le decret du 8 novembre une at-
teinte au traite de commerce du 19 avril 1892.
Dans ces circonstances, fort d'un texte aussi clair dans
son esprit et dans sa lettre et auquel il ne veut pas cesser
d'avoir confiance, le Conseil föderal, invoquant derechef l'ar-
ücle 14, persiste ä proposer l'arbitrage. Et, comme les Notes
du 4 fevrier et du 8 mai, non plus que leurs annexes, ne
paraissent, sur ce point, contenir l'expression d'une detcrmi-
nation precise, le Conseil federal prie le Gouvernement royal
de vouloir bien, en vue de la nettete de la Situation pour
l'avenir et quittant momentanement le debat sur le fond,
lui faire connaitre definitivem ent dans sa prochaine Note s'il
accepte ou s'il croit devoir refuser de remettre & des arbitres
la Solution du differend.
124 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. Beilagen.
Note du minister e des affaires itranghres ä Borne ä la L4-
gation de Suisse.
Borne, le 30 Mai 1894.
Dans la Note du Conseil fedäral que vous avez bien
voulu me transinettre, en copie, le 17 de ce mois, an sojet
de la question da paiement des droits de douane en monnaie
metallique, est expriine" le desir de recevoir du Gouvernement
du Roi une reponse definitive, exclusivement pour ce qtii
concerne l'acceptation de Farbi trage pour la Solution de ce
diffSrend.
A notre point de vue, le principe de l'arbitrage, que
Tltalie a tant contribue' k introduire dans les relations inter-
nationales, est une garantie si precieuse pour la paix et les
bons rapports des Etats, qu'il doit etre maintenu dans toute
sa puretä, et ne point etre compromis par Pobjection que lui
fönt ses adversaires, celle d'6tre en certains cas danger eux
pour la liberte et l'indäpendance de chaque peuple dans ses
affaires interieures.
Le traUe" du 29 avril 1892 stipule que les deux Gouver-
nements: «conviennent de resoudre, le cas echeant, par voie
«d'arbitrage les questions concernant Vinterpritation et Vap-
«plication du traue*, qui ne pourraient etre regläes k la sa-
«tisfaction commune par la voie directe d'une negociation
«diplomatique. »
II eüt ete contraire k toute mäthode correcte d'exclure
explicitement de Tarbi trage 6ventuel des matteres d ordre
interieur, qui, par leur essence, ne sont pas de corapetence
arbitrale, et ne peuvent affecter le regime du traite que d'une
facon tont k fait indirecte. Parmi ces matieres sont au plus
haut degre" celles relatives au regime de la circulation et des
banques, comme il a ete" abondamtnent demontre* par les Com-
munications precedentes de mon collegue des Finances, trans-
mises avec confiance, comme documents, k la Lägation Helv6-
tique.
II ne saurait echapper k la clairvoyance da Gouverne-
ment de la Confederation que les questions de la circulatiou
entre pays, dej& lies uniquement k l'egard de la frappe et de
la circulation de Tor et de l'argent par les Conventions con-
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. Beilagen. 125
stituant l'ünion latine, ne sauraient sans irregularite, et sans
peril, etre encore soumises, sous forme d'arbitrage, ä des
restrictioos ; 31 y va de la liberte* et de Findependance intö-
rienre da regime de circulation, que la Suisse a autant d'in-
teret que nous ä conserver, en tant que le comportent les
Engagements de 1' Union latine, lesqnels d'ailleurs ne sont pas
en question dans le cas.
L'interet commun des deux pays, egale ment desireux de
preserver leurs bons rapports, exige donc, 6elon nous, qu'ils
se gardent d'engager le grand et salutaire principe de Par-
bitrage dans une voie oü il n'a pas d'application legitime et
de creer ainsi un precädent qui nuiraitäl'introduction dansles
traites entre les Etats du pacte d'arbitrage, dont nous devons
conserver les justes limites desquelles dopend sa valeur ä venir.»
Es hat sich hiedurch herausgestellt, dass die Schieds-
gerichtsklausel, auf welche seitens der Friedensfreunde
*i\n sehr grosses Gewicht gelegt zu werden pflegt, ohne Wir-
kung bleiben muss, insofern nicht beidseitige Uebereinstim-
mnng besteht, sie im konkreten Falle auch zur Ausführung
gelangen zu lassen. Die Angelegenheit blieb mit den beiden
abgedruckten Noten liegen, da ein schiedsgerichtlicher Ent-
scheid, auch über die Vorfrage der schiedsgerichtlichen Kom-
petenz selber nicht erzielt werden konnte.
VI.
Les garnisons de Savoie.
Artikel aus der Gasette de Lausanne.
On va prochainement installer un bataillon d'infanterie
entier a Thonon qui n'avait jusquMci que deux compagnies.
Cela ne suffit pas encore ä la tranqnillite d'esprit de nos
exeellents voisins et amis de Savoie.
Dans la seance du 13 mars de la Chambre francaise,
eomme on discutait le budget de la guerre au chapitre «Ca-
sernements», M. Fernand David, depute de la Haute-Savoie,
a demande* au nom de ses collegues et de lui m£me et avec
le conconrs de MM. Chautemps et Jules Mercier qn'on portät
126 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. Beilagen.
le credit de 1,8 million ä 1,4 million afin que la Republique
placat des garnisons dans les quatre villes de Thonon, Bonne-
ville, Saint-Julien et Annemasse.
Dans un discours etudie, M. Fernand David a montre
que PItalie pourrait, des les premieres heures de la inobili-
sation, masser 15,000 hommes et 12 pieces de canon dans
la vallee d'Aoste et passer de la dans la vaU6e de FArve
d'oü il n'y a qu'un saut jusqu'au Saleve. Or, du Saleve on
commande les trois routes: Geneve-Saint Julien-Annecy, Ge-
ne ve- Annemasse- Annecy et Geneve-Culoz-Lyon. Les Italiens
disposent ponr cette invasion des cols de la Seigne et du
Bonhoinme qui les conduisent ä Bonneville et de la route
Grand St- Bernard -Martigny- Tete Noire, qui les amene ä
Chamonix.
«Ils trouveraient dans le inonastere dn Grand St-Bernard
des locaux comfortables, spacieux et qni ont encore 6te agran-
dis. Ils violent, il est vrai, la neutralitä suisse, mais d'une
facon pnrement platoniqne, car les Suisses, qni ont cree des
retranchements sörieux ä St-Maurice, n'ont pas barrö la route
qui conduit par la Tete Noire ä Chamonix par Vallorcines.
Une fois ä Chamonix, la troupe qui y a penäträ et qui n'a
pas trouvö jusqne-lä d'obstacle devant eile, voit s'ouvrir la
vallöe de TArve qui conduit d'une part vers Geneve, de
l'autre vers le massif du Saleve . . .>
Quelles forces la France aurait-elle ä opposer a cette
invasion subite ? Elle possöde ä Annecy un regiment d'infan-
terie et un bataillon de chasseurs alpins, mais Annecy est ä
100 kilometres du col du Bonhoinme et de Vallorcines ! C'est
donc tout a fait insufftsant.
On voit que dans la Strategie de M. Fernand David la
neu traute* de la Suisse et les forces dont ce pays dispose pour
la faire respecter ne pesent pas lourd. Nons n'entrerons pas
en discussion avec l'honorable deput6 de Savoie.1)
*) Wir unserseits glauben allerdings, dass ein gewisses Hinder-
niss dem Wege vom St. Bernhard nach Ghamounix zu erstellen im
Interesse und der Aufgabe der Schweiz liegen würde, und das*
diess auch geschehen wird müssen, sobald die Verhältnisse dazu
günstiger liegen.
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. Beilaffen. 127
Disons seulement que son amendement n'a pas ete" uiis
aux voix. M. de Freycinet, ministre de la guerre, a döclare
que la frontiere de Savoie lui tenait fort ä cceur, qu'apres
le bataillon de Thonon, on en installerait un autre ailleurs,
mais que pour le surplus, il räservait l'avis de la commission
de i'arm6e. La question pourrait &tre reprise plus utilement
devant la Chambre, cette commission entendue.
Les deputes de la Savoie, devant ces declarations mini-
sterielles, ont retire leur proposition.
VII.
Die Brüsseler Artikel über das Kriegsrecht.
<Prqjet cTune diclaration internationale concernant les lois et
coutumes de la guerre*
iTextc modifil par la Commission. Yoir protocole des sdances plenieres n9 IV.)
De l'autoriti militaire sur le territoire de VEtat ennetnu
Article premier. Un territoire est considere* comme
occnp6 lorsqn'il se trouve place* de fait sous l'autorilä de
Farmee ennemie.
L'occupation ne s'eiend qu'aux territoires oü cette
autorite est etablie et en mesure de s'exercer.
Art. 2. L'autoriti du pouvoir legal 6tant suspendue et
ayant passe* de fait entre les mains de l'occupant, celui-ci
prendra toutes les mesures qui dependent de lui en vue de
r€tablir et d'assurer, autant qu'il est possible. l'ordre et la
vie publica.
Art. 3. A cet effet, il main tiendra les lois qui etaient
en vigueur dans le pays en temps de paix, et ne les modi-
fiera, ne les sospendra ou ne les remplacera que s'il y a
necessite\
Art. 4. Les fonctionnaires et les employäs de tout ordre
qui consentiraient, sur son invitation, ä continuer leurs
fonctions, jouiront de sa protection. Ils ne seront rövoques
ou punis disciplinairement que s'ils manquent aux obligations
acceptees par eux et livres ä la justice que s'ils les tra-
hissent.
128 Yrölkerrechl liehe Fragen der Gegenwart. Beilagen.
Art. 5. L'armäe d'oecupation ne prelevera que les
impöts, redevances, droits et peages deja Etablis au profit
de l'Etat, ou leur äquivalent, s'ils est impossible de les
encaisser, et, autant que possible, dans la forme et suivant
les usages existants. Elle les emploiera a pourvoir aux frais
de l'administration dans la mesure oü le Gouvernement legal
du pays y Etait oblige.
Art. 6. L'armEe qui oecupe un territoire ne pourra
saisir que le numeraire, les fonds et les valeurs exigibles
appartenant en propre ä l'Etat, les de"pöts d'armes, moyens
de transport, magasins et approvisionnements et, en generah
toute propriete* mobiliere de l'Etat de nature ä servir au but
de la guerrc.
Le material des cherains de fer, les telegraphes de terre,
les bateaux ä vapeur et autres navires en dehors des cas
regis par la loi maritime, de meme que les depöts d'armes
et en gEneral toute espece de munitions de guerre, quoique
appartenant ä des Soctätes ou a des personnes priväes, sont
egalement des moyens de nature ä servir au but de la
guerre et qui ne peuvent pas £tre laissEs par l'armee
d'oecupation ä la disposition de l'ennemi. Le materiel des
chemins de fer, les telegraphes de terre, de mfrne que les
bateaux ä vapeur et autres navires susmentionnEs, seront
restitues et les indemnitßs reglEes ä la paix.
Art. 7. L'Etat oecupant ne se considerera que comme
administrateur et usufruitier des edifices publics, immeubles,
forets et exploitations agricoles appartenant ä l'Etat ennerai
et se trouvant dans le pays oecupe. II devra sauvegarder
le fonds de ces proprietes et les administrer conformement
aux regles de l'usufruit.
Art. 8. Les biens des communes, ceux des Etablissements
consacres aux eultes, ä la charitä et ä Instruction, aux arts
et aux sciences, meine appartenant ä l'Etat, seront traites
comme la propri6t6 privEe.
Toute saisie, destruetion ou degradation intentionnelle
de semblables Etablissements, de monuments historiques,
d'oeuvres d'art ou de science, doit Gtre poursuivie par les
autoritEs compätentes.
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. Beilagen. 129
Qui doit etre reeonnu comme partie heiliger ante: des
combattants et d*.s non-combattants.
Art. 9. Les lois, les droits et les devoirs de la guerre
n* s'appliquent pas seulement a l'armee, mais encore aux
miljees et aux corps de volontaires reunissant les conditions
«uirantes :
1° D'avoir ä leur tete une personne responsable ponr ses
subordonnes ;
2* D'avoir un signe dlstinctif fixe et reconnaissable ä dis-
tance;
3» De porter les armes ouvertement, et
4° De se conformer dans leurs Operations anx lois et cou-
tumes de la gnerre.
Dans les pays oü les milices constituent 1'armee ou en
fönt partie, elles sont comprises sous la denomination
dJarmre.
Art. 10. La population d'un territoire non oeenpe qui}
'V Papproehe de Vennemi, prend spontane'ment les armes pour
'ftmbattre les troupes d? Invasion sans avoir eu le temps de
Jorgani&t.r conformhnent ä Varticle 9, sera consideree comme
(»elh'grrante si eile respecte les lois et coutumes de la guerre.
Art. 11. Les forers armees des parties bellige>antes
f»eiivent se composer de combattants et de non-combattants.
En cas de capture par l'ennemi, les uns et les autres
joniront des droits de prisonniers de guerre.
Des moyens de nuire ä Vennemi.
Art. 12. Les lois de la guerre ne reconnaissent pas
aax belligerante un poivoir illimite' quant aux choix des
•novens de nuire ä l'ennemi.
Art. 13. D'aprös ce principe sont notamment interdits;
a. L'emploi du poison ou d'armes empoisonnees ;
b. Le raeurtre par trahison d'individus appartenant a
l'arsiee ennemie;
r. Le meurtre d'un ennemi qui, ayant mis bas les armes
ou n'ayant plus les moyens de se deTendre, s'est rendu
a merci ;
#/. La declaration qu'il ne sera pas fait de quartier;
9
130 Völkerrechtliche Fragea der Gegenwart. Beilagen.
e. L'emploi d'arines, de projectiles ou de matieres propres
& causer des maux superflus, ainsi que l'nsage des pro-
jectiles prohibes par la dßclaration de St.-Petersbourg
de 1868;
f. L'abus du pavillon parlementaire, du pavillon national
ou des insignes militaires et de l'uniforme de Pennemi,
ainsi que des signes distinetifs de la Convention de
Geneve ;
<j. Toute destruetion ou saisi de propriet6s ennemies qui
ne serait pas inipe>ieuscinent commandee par la
necessite" de guerre.
Art. 14. Les rnses de guerre et l'emploi des moyeus
necessaires pour se procurer des renseignements sur l'ennetni
et snr le terrain (sauf les dispositions de l'article 36) sont
considäres comme de moyens Ucites.
Des sifyes et botnbardement.
Art. 15. Les places fortes peuvent seules etre assieget-s.
Des villes, agglomerations d'habitations ou villages ouverts
qui ne sont. pas defendus ne peuvent etre ni attaqu6s ni
boinbardäs.
Art. 16. Mais si une ville ou place de guerre, agglo-
meration d'habitations ou village, est defendu, le commandant
des troupes assaillantes, avant d'entreprendre le bombarde-
ment, et sauf Pattaque de vive force, devra faire tout ce
qui depend de lui pour en avertir les autorites.
Art. 17. En pareil cas, toutes les mesures necessaires
doivent etre prises pour epargner, autant qu'il est possible.
les ädifices consacreß aux eultes, aux arte, aux scienecs et
ä la bienfaisance, les höpitaux et les lieux de rassemblement
de malades et de blessäs, a condition qu'ils ne soient pas
employes en nieme temps ä un but militaire.
Le devoir des assi6ges est de de"signcr ces edifices par
des signes visibles späciaux a indiquer d'avance par
l'assiege\
Art. 1 7. Une ville prise d'assaut ne doit pas etre li vree
au pillage des troupes victorieuses.
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. Beilagen. 131
Des espions.
Art. 19. Ne peut etre considere* comine espion que
l'individu qni, agissant Claudes tiu einen t ou sons de faux
preteztes, rrcueille ou cherche ä recueillir des informations
dans les localites occupe*es par l'ennemi, avec Finten tion de
lvs communiquer a la partie adverse.
Art. 20. L'espion pris sur le fait sera juge et traite*
d'apres les lois en vigueur dans l'armäe qui l'a saisi.
Art. 21. L'espion qni rejoint l'armee ä laqnelle il
appartient et qni est captnre plus tard par l'ennemi est
traite' comme prisonnier de guere et n'encourt ancune
responsabilite ponr ses actes antärieurs.
Art. 22. Les militaires qui ont pänetre dans la zone
d'operations de Farm6e ennemie, a Peifet de recueillir des
informations, ne sont pas considäres comme espions. s'il a
ete possible de reconnaitre leur qualile de militaires.
De meme, ne doivent pas etre conside>6s comme espions,
s'ils sont captures par l'ennemi : les militaires (et aussi les
non-militaires accomplissant ouvertement leur mission) chargös
de transmettre des depeches destinees soit ä leur propre
armee, soit ä l'armäe ennemie.
A cette categorie appartiennent egaleinent, s'ils sont
captures, les individus envoyes en ballon pour transmettre
les depeches, et, en general, pour entretenir les Communi-
cations entre les diverses parties d'une armee ou d'un
tenitoire.
Des prisonniers de guerre.
Art. 23. Les prisonniers de guerre sont des ennemis
legaux et desarmes.
Ils sont au pouvoir du Gouvernement ennemi, mais nou
des individus ou des corps qui les ont captures.
Ils doivent etre traites avec Kumanite.
Tout acte d'insubordination autorise ä leur egard les
mesures de rigueur necessaires.
Tout ce qui leur appartient personnellement, les armes
exceptees, reste leur proprietö.
132 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. Beilagen.
Art. 24. Les prisonniers de guerre peuvent etre
assujettis ä l'internement dans une Tille, forteresse, camp oa
localite quelconque, avec Obligation de ne pas s'en eloigner
au delä de certaines limites determinees ; mais ils ne peuvent
etre enfermes que par mesure de süretö indispensable.
Art. 25. Les prisonniers de guerre peuvent etre
einployes ä certains travaux publics qui n'aient pas un
rapport direct avec les Operations sur le theätre de la guerre
et qui ne soient pas extenuants ou humiliants pour leur
grade militaire, s'ils appartiennent ä l'armee, ou pour leur
Position officielle ou sociale, s'ils n'en fönt point partie.
Ils pourront egalement, en se conformant aux dispositions
reglementaires, ä fixer par l'antorite militaire, prendre part
aux traVaux de l'industrie privee.
Leur salaire servira ä ameliorer leur position ou leur
sera compte" au moment de leur liberation. Dans ce casr
les frais d'entretien pourront etre defalques de ce salaire.
Art. 26. Les prisonniers de guerre ne peuvent etre
astrein ts d'aucune maniere ä prendre unc part quelconque ä
la poursuite des Operations de la guerre.
Art. 27. Le Gouvernement au pouvoir duquel se
trouvent les prisonniers de guerre se Charge de leur en-
tretien.
Les conditions de l'entretien des prisonniers de guerre
peuvent etre etablies par une entente mutuelle entre les
parties belligerantes.
A defaut de cette entente, et comme principe general,
les prisonniers de guerre seront traites pour la nourriture et
1'habillement sur le meme pied que les troupes du Grouver-
inent qui les aura captures.
Art. 28. Les prisonniers de guerre sont soumis aux lois
et reglements en vigueur Jans l'armee au pouvoir de laquelle
ils se trouvent.
Contre un prisonnier de guerre en fuite il est permis,
apres soinmation, de faire usage des armes. Repris, il est
passible de peines diseiplinaires ou soumis ä une surveillance
plus severe.
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. Beilagen. 133
Si, aprös avoir räussi & s'6chapper, 11 est de nouveau
fait prisonnier, il n'est passible d'aucune peine pour sa fuite
ant£rieure.
Art. 29. Chaque prisonnier de gnerre est tenu de de-
clarer, s'il est interrogä ä ce sujet, ses veritables noms et
grade« et, dans le cas oü il enfreindrait cette regle, il en-
coorrait nne restriction des avantages accord^s aux prison-
niers de guerre de sa catägorie.
Art. 30. L'ächange de prisonniers de guerre est r6gl£
par une entente mutuelle entre les parties belligerantes.
Art. 31. Les prisonniers de guerre penvent Gtre mis en
liberte snr parole, si les lois de leur pays les y autorisent,
eU en pareil cas, ils sont Obligos, jsous la garantie de leur
honnenr personnel, de remplir scrupuleusenient, tant vis-a-vis
de leur propre Gouvernement que Tis ä-vis de celui qui les
a faits prisonniers, les engagements qu'ils auraient contractu.
Dans le m6me cas, leur propre gouvernement ne doit ni
exiger ni accepter d'eux ancun service contraire a la parole
donnäe.
Art. 32. Un prisonnier de guerre ne peut pas &tre con-
traint d'accepter sa liberte' sur parole; de mfrne le Gouverne-
ment ennemi n'est pas Obligo d'accäder ä, la demande du pri-
sonnier rtclamant sa mise en liberte sur parole.
Art. 33. Tout prisonnier de guerre, Iib6r6 snr parole
et repris portant les armes contre le Gouvernement envers
lequel il s'etait engagä d'honneur, peut etre privä des droits
de prisonnier de guerre et traduit devant les tribunaux.
Art. 34. Peuvent ägalement fctre faits prisonniers les
individus qui, se trouvant auprös des ärmeres, n'en fönt pas
directement partie, tels que : les correspondants, les reporters
de jonrnanx, les vivandiers, les fournisseurs, etc., etc. Toute-
fois ils doivent 6tre munis d'une autorisation imanant du
pouvoir cornpätent et d'un certiöcat d'identitä.
Des malades et des blesses.
Art. 35. Les obligations des belligärants concernant le
service des malades et des blessäs sont regies par la Conven-
tion de Genöve du 22 adut 1864, sauf les modifications dont
celle-ci pourra etre l'objet.
134 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart Beilagen.
Du pouvoir militaire ä Vigard des personnes privees.
Art. 36. La population (Tun territoire occupe* ne peut
etre forcee de prendre part anx Operations militaires contre
ßon propre pays.
Art. 37. La population d'un territoire occupe ne pent
etre contrainte de preter serment ä la puissance ennemie.
Art. 38. L'honneur et les droits de la famille. la vie
et la proprietä des individus, ainsi qne leurs convictions re-
ligieuses et Texercice de leur culte doivent etre respect^s.
La proprie'te' privee ne peut pas etre confisquee.
Art. 39. Le pillage est formellement interdit.
Des contributions et des rtquisüions.
Art. 40. La proprtete* privee devant etre reBpectee, Ten-
nemi ne demandera aux communes ou aux habitants que des
prestations et des Services en rapport avec les necessites de
guerre generalement reconnues, en proportion avec les res-
sources du pays et qui n'impliquent pas pour les populations
l'obligation de prendre part aux Operations de guerre contre
leur patrie.
Art. 41. L'ennemi prelevant des contributions soit comme
äquivalent pour des inipöts (v. Art. b) ou pour des presta-
tions qui devraient etre faites en nature, soit ä titre d'amende,
n'y procedera, autant que possible, que d'apres les regles de
la repartition et de l'assiette des impöts en vigueur dans le
territoire occup£.
Les autorites civiles du Gouvernement legal y prSteront
leur assistance si ejles sont rest^es en fonctions.
Les contributions ne pourront etre imposäes que sur
l'ordre et sous la responsabilitö du general en chef ou de
l'autorite' civile superieure etablie par Tennemi dans le terri-
toire occupö.
Pour tonte contribution. un recu sera donne* au contri-
buable.
Art. 42. Les requisitions ne seront faites qu'avec Tau-
torisation du commandant dans la localite occupee.
Pour toute requisition, iL sera accorde" une inderanite ou
delivre un regu.
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. Beilagen. 135
Des parlementaires.
Art. 43. Est considere* comme parlementaire l'individu
antonse" par Tun des belligerants ä entrer en pourparlers
aTec l'autre et se Präsentant avec le drapeau blanc, accom-
pagne d'un trompette (clairon ou tambour) ou aussi d'un
porte-drapeau. II aura droit ä Pinviolabilite* ainsi que le
trompette (clairon ou tambour) et le porte-drapeau qui l'ac-
compagnent.
Art. 44. Le chef auquel un parlementaire est expödie*
n'est pas Obligo de le recevoir en toutes circonstances et dans
toutes conditions.
II lui est loisible de prendre toutes les mesures neees-
saires pour empecher le parlementaire de profiter de son s6-
jour dans le rayon des positions de l'ennemi au prejudice
de co dernier, et si le parlementaire s'est rendu coupable de
cet abus de confiance, il a le droit de le retenir temporaire-
ment.
II peut egalement declarer d'avance qu'il ne recevra pas
de parlementaires pendant un temps determine\ Les parlemen-
taires qui viendraient ä se präsenter aprös une pareille noti-
fication, du cöt6 de la partie qui l'aurait recue, perdraient
le droit a l'inviolabilitä.
Art. 45. Le parlementaire perd ses droits d'inviolabilite\
s'il est prouve d'nne maniere positive et irrecusable qu'il a
profite de sa posttion privilögi6e pour provoquer ou commettre
un acte de trahison.
Des capitulations.
Art. 46. Les conditions des capitulations sont däbattues
entre les parties contractantes.
Elles ne doivent pas etre contraires ä l'honneur militaire.
Une fois fix£es par une Convention, elles doivent etre
scrapuleusement observöes par les deux parties.
De V armist ice.
Art. 47. L'armistice suspend les Operations de guerre
par un accord mutuel des parties bellige>antes. Si la duräe
136 Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart. Beilagen.
n'en est pas determinee, les parties belligerantes peuvent re-
prendre en tout temps les Operations, pourvu, toutefois, que
l'ennemi soit averti en temps convenu, conformement aux con-
ditions de l'armistice.
Art. 48. L'armistice peut etre g6ne>al ou local. Le pre-
mier suspend partout les Operations de guerre des Etats bei-
ligerants; le second seulement entre certaines fractions des
arm^es belligerantes et dans un rayon determine.
Art. 49. L'armistice doit etre officiellement et sans re-
tard notiiie* aux autorites competentes et aux troupes. Les
hostilitäs sont suspendues immediatement apres la notification.
Art. 50. II depend des parties contraetantes de fixer
dans les clauses de l'arinistice les rapports qui pourront avoir
lieu entre les populations.
Art. 51. La violation de l'armistice, par l'une des par-
ties, donne ä l'autre le droit de le dänoncer.
Art 52. La violation des clauses de l'armistice par des
particuliers, agissant de leur propre initiative, donne droit
seulement ä reclamer la punition des coupables et, s'il y a
lieu, une indemnite* pour les pertes eprouvees.
Des belligtrants internes et des blesses soignes chez les
neutres.
Art. 53. L'Etat neutre qui reeoit sur son territoire des
troupes appartenant aux armees belligerantes, le» internera,
autant que possible, loin du theätre de la guerre.
II pourra les garder dans des camps et meme les en-
fermer dann des forteresses ou dans des lieux appropries ä cet
effet.
II deeidera si les officiers peuvent etre laissäs libres en
prenant l'engagenient sur parole de ne pas quitter le terri-
toire neutre sans autorisation.
Art. 54. A defaut de Convention speciale, FE tat neutre
qui reeoit des troupes belligerantes fournira aux internus les
vivres, les habillements et les secours cominandes par l'hunia-
nit6.
Bonification sera faite ä la paix des frais occasionnes par
1'internement.
Völkerrechtliche Fragen der Gegeuwart. Beilagen. 137
Art. 55. L'Etat neutra pourra autoriser le passage par
son territoire des blosses ou malades, appartenant aux ar-
roees belligärantes. sous la röserve que les trains qui les
ameneront ne transporteront ni personnel ni materiel de guerre.
En pareil cas, l'Etat neutre est tenu de prendre les me-
sores de BÜrete* et de contröle necessaires & cet effet.
Art. 56. La Convention de Geneve s'applique aux ma-
lades et aux blessäs internus sur territoire neutre.
Der Lausanner Vertrag von 1564.
I.
Der Friede von 8t. Julien und der Spruch von Peterlingen.
Bis gegen Ausgang des Mittelalters waren die städte-
nud schlössererfüllten Landschaften, die wir hente mit Stolz
unser Welschland nennen, von Neuenburg abgesehen, der
Eidgenossenschaft fremd und bildeten ihrer Masse nach einen
Bestandteil des grossen Savoyerstaates, der von Nizza
bis zum Bielersee reichte. Von ihrem Stammland aus hatten
sich die Grafen von Savoyen schon im 11. Jahrhundert im
Unterwallis und in der Landschaft am obern Ende des
Genfersees, im Chablais, festgesetzt und nöthigten
schliesslich den eigentlichen Landesherrn des Rhonethaies,
«len Bischof von Sitten, ihnen alles Gebiet unterhalb Sitten
zu überlassen. Im 13. Jahrhundert gelang es ihnen, mit
Geld, List und Gewalt ihre Oberhoheit in der Waadt zu
begründen. Selbst die Grafen von G r e y e r z und Nidau,
letztere als Herren von Er lach, anerkannten die Lehns-
herrlichkeit des savoyischen Hauses. Im 14. Jahrhundert
erwarb dieses Faucigny und Gex, im 15. die alte Graf-
schaft Genf, das sogen. Genevois, und noch um die Mitte
des Jahrhunderts gelang ihm eine ansehnliche Erweiterung
nach der helvetischen Seite hin, indem die Stadt Fr eiburg
mit ihrem Gebiete sich von Oesterreich löste und an
Savoyen anschloss.1)
Mitten in diesem savoyischen Länderkomplex zu beiden
Seiten des Genfersees hatten sich die geistlichen Ftirsten-
1) Vgl. darüber Büchi, Freiburgs Bruch mit Oesterreich, sein
Obcrgang an Savoyen und Anschluss an die Eidgenossenschaft.
Freiburg 1897.
142 Der Lausanner Vertrag von 1564.
thümer der Bischöfe von Lausanne und Genf als be-
sondre Staaten erhalten. Die weltliche Herrschaft des
Fürstbischofs von Lausanne umfasste die Stadt Lausanne
mit den umgebenden Dörfern, dem Mont Jorat und den vier
Kirchspielen von Lavaux (Lutry, Villette, St. Saphorin,
Corsier), was ein zusammenhängendes Gebiet von der Venoge,
bis zur Veveyse ausmachte, ferner verschiedene zerstreute
Enklaven, wie Avenches, Lucens, Curtilles und Villarzel in
der Waadt, Bulle und La Roche im heutigen Et. Freiburg.
In ähnlicher Weise bestand der Genfer Kirchenstaat aus der
Stadt sanimt ihrer nächsten Umgebung und den im Savoyischen
enklavirten Aemtern Peney, Jussy und Thiez.
Es lag in der Natur der Dinge, dass das mächtige
Savoyeu auch diese geistlichen Inseln zu verschlingen trachtete.
Schon 1260 zwang Graf Peter den Bischof von Lausanne
ihm auf Lebzeiten einen Theil seiner Gerichtsbarkeit abzu-
treten, und so sehr die Bischöfe sich gegen die Verewigung
dieses Verhältnisses sträubten, behaupteten die Herzöge
schliesslich doch in Lausanne das wichtige Recht der
Appellation und übten es seit 1480 in der Regel durch ihren
Landvogt in der Waadt als sogenannten juge deBillens
aus.1) In gleicher Weise gelang es ihnen, einen Fuss nach
Genf hineinzusetzen. 1287 bemächtigte sich Graf Amadeas V.
des Inselschlosses in der Rhone und nöthigte den Bischof,
ihm die Ernennung des Vidomne, d. h. des bischöflichen
Beamten, der die Zivil- und Polizeigerichtsbarkeit in der
Stadt handhabte, zu überlassen. Ein noch wirksameres
Mittel, Genf von sich abhängig zu machen, fanden die Herzoge
*) Gingin s- la-Sarra et Forel, Recueil des chartes, Statuts
et documents concernant 1'ancien 4v6che de Lausanne (Memoires et
documents de la Suisse Romaude VII) XVI ff., 728 ff. Vgl. Eid-
gen. Abschiede IV la S. 804 ff.
Der Lau saliner Vertrag von 1564. 143
in der Beeinflussung der Bischofswahlen, vermöge deren im
15. Jahrhundert in der Kegel Angehörige oder Günstlinge
ihres Hauses den bischöflichen Stuhl zu Genf bestiegen.
So schien die ganze Suisse Romande Savoyen verfallen
zu sein, als der erste grosse Rückschlag gegen die Macht
dieses Hauses von der Schweiz her erfolgte. Im Jahre
1475 erlitt die traditionelle Freundschaft zwischen Bern and
Savoyen einen jähen Bruch, indem das letztere, der alten
Beziehungen uneingedenk, sich mit dem Feind der Eid-
genossen, mit Karl dem Kulmen, alliirte. Die Folge war,
dass Bern den kecken Entschluss fasste, «der uralten Eid-
genossenschaft uralte Landmark gegen Sonnenuntergang» her-
zustellen und «das Land zwischen dem Läbergebirg und
dem Rotten, von Erlach und Murten an bis gen Genf an die
Brack» einzunehmen.1) Es bewog Freiburg, sich von Savoyen
loszoreissen, und eroberte mit diesem gemeinsam in heisser
Blutarbeit die Städte and Burgen derWaadt, während die
Wallis er sich des unteren Rhonethaies bis zur Enge von
St. Maurice bemächtigten.
Leider verdarb die Zerfahrenheit der eidgenössischen
Diplomatie, was das gute Schwert gewonnen hatte. Von der
übrigen Eidgenossenschaft nicht unterstützt, musste Bern
trotz des Sieges von Murten in die Rückgabe des eroberten
WaadtlandeB willigen; doch behielt es die Herrschaften
Erlach, Aigle, Ormont und Bex für sich and mit
Freibarg gemeinsam Murten, Grandson, Orbe und
Echallcns, wie auch die Walliser sich im Besitz des
M Ans heim I 99. Der treffliche Berner Geschichtschreiber
identifizirt, wie alle seine Zeitgenossen, ohne weiteres die alten
Helvetier mit den Eidgenossen. Daher sind ihm die von Cäsar an-
§<fgebenen Grenzen der Helvetier, der Jura und die Rhone bei
Genf, die «uralte Landmark der Eidgenossenschaft.»
144 Der Laiisa mier Vertrag von 1564.
Unterwallis bis St. Maurice behaupteten. So hatte die
Savoyerherrschaft am Genfersee durch die Burgunderkriege
eine gründliche Erschütterung erfahren; die Waadt war
wenn nicht schweizerisch geworden, doch in die Macht-
sphäre der Eidgenossen gerückt, und schon zogen diese auch
Genf, den «Riegel der Lande», in ihren Bereich. Am
14. Nov. 1477 schlössen Bern und Freiburg mit Johann
Ludwig, dem Administrator des Bisthums Genf, für ihn und
seine Stadt ein Burgrecht auf Lebenszeit.
Mit dem Schicksal von Genf hing fortan das der ganzen
Westschweiz aufs engste zusammen. Das Burgrecht von
1477 erlosch mit dem Tode Johann Ludwigs wieder, aber
die einmal angeknüpften Beziehungen der Rhonestadt zu den
beiden Schweizerrepubliken blieben bestehen. Als der
skrupellose Herzog Karl III. von Savoyen (1504—1553)
durch schnöde Gewaltthat sein Vidomnat in Genf zur förm-
lichen Landeshoheit zu erweitern und auch die Herrschaft
über Lausanne durch alle möglichen Mittel zu erschleichen
suchte, die beiden Bischöfe aber nur noch die Rolle von ge-
fügigen Werkzeugen der savoyischen Pläne spielten, da
fand die Unabhängigkeitspartei in beiden Städten einen Rück-
halt an den Eidgenossen. Zunächst war es Freiburg>
das den Genfer Patrioten entgegenkam, indem es mit ihrer
Stadt im Febr. 1519 ein Burgrecht eingieng. Der Herzog
berief sich jedoch auf sein 1512 mit den Eidgenossen ge-
schlossenes Bündniss, wonach kein Theil die «Hintersassen
und Unterthanen> des andern in Schirm, Burg- und Land-
recht aufnehmen durfte, und erreichte die Auflösung des.
Bnrgrechts durch einen Spruch der XII Orte. Aber während
nun Karl in. die Genfer durch Henker und Hellebarden zum
Verzicht auf ihre Freiheiten zu zwingen suchte, und Papst
und Kaiser sein Vorhaben begünstigten, gieng in der Eid-
Der Lausann er Vertrag von 1564. 145
?<*nossenschaft ein bedeutsamer Wandel vor. Der Versuch
Freiburgs, 1519 Genf an die Eidgenossenschaft zu fesseln,
war hauptsachlich an den Rücksichten gescheitert, welche
Bern seinem wiederhergestellten Freundschaftsverhältniss
zu Savoyen tragen zu müssen glaubte. Diese Rücksichten
erlitten nun einen starken Stoss, indem der Herzog, ur-
sprünglich wie die Eidgenossen ein Alliirter Frankreichs in
den Weltkrieg zwischen Franz I. und Kaiser Karl V., im
Sommer 1524 zu letzterem abfiel. Jetzt stimmte Bern mit
Freiburg überein, dass man die Gesinnung der beiden von
Savoyen abhängigen Bischofsstädte am Leman benutzen
müsse, um sich gegen den feindlich gewordenen Savoyer-
fürsten dieser wichtigen Festungen zu versichern. Am
T. Dezember 1525 nahmen Bern und Freiburg Lausanne
in ihr Burgrecht auf und am 8. Februar 1526 thaten sie
f-in Gleiches mit Genf.
Durch diese Bnrgrechte stiess die Eidgenossenschaft
ihre Grenze bis zum Genfersee vor; Genf und Lausanne,
schweizerisch geworden, mussten früher oder später die da-
zwischen liegende Waadt nach sich ziehen. In der Ahnung
der Dinge, die da kommen würden, machte der Herzog ver-
zweifelte Anstrengungen, um die Annullirung jener Burg-
rechte zu erwirken, und die innern Orte, bei denen die alte
Abneigung gegen jede Erweiterung der Eidgenossenschaft
nach Westen durch die Sympathie mit den in ihren Herr-
*chaftsrechten bedrohten Bischöfen verstärkt wurde, arbeiteten
ihm in die Hände, indem sie durch mündliche und schrift-
liche Abmahnungen die neuen Bündnisse rückgängig zu
machen suchten. Aber Bern und Freiburg erklärten ihren
ft-sten Willen, dabei zu bleiben; sie wiesen den Vorwurf,
•las« dieselben eine Rechtsverletzung gegenüber Savoyen ent-
hielten, energisch zurück, da Genf und Lausanne freie
10
146 Der Lausanncr Vertrag von 1564.
Reichsstädte und dem Herzog nicht unterthan seien, und
brachten es durch ihre Festigkeit dahin, dass die übrigen
Orte von ihren Abmahnungen abstanden und, worauf für
den Rechtsstandpunkt alles ankam, die Bischöfe von
Genf und Lausanne die Burgrechte aner-
kannte n.1)
Hand in Hand mit dem diplomatischen Ränkespiel in
der Schweiz gieng ein mehr oder weniger verdeckter Krieg
Savoyens gegen Genf. Lausanne Hess der Herzog einst-
weilen in Ruh, wiewohl die Stadt sich weigerte, seinen
Landvogt in der Waadt fernerhin als juge de Billens anzu-
erkennen; dafür suchte er Genf mittelst Verkehrssperren
und unablässiger Befehdung durch die zum «Löffelbund» ver-
einten savoyisch-waadtländischen Edelleute mürbe zu machen.
Jahre hindurch bemühte sich Bern, auf der Basis des
strengen Rechts den Frieden zu erhalten; allein zwischen
dem Herzog, der die Genfer schon als seine Unterthanen
betrachtete, und der Stadt, die nach voller republikanischer
Freiheit strebte, war kein Ausgleich möglich. Endlich, als
Ende September 1530 die Herren vom Löifelbund alles, was
diesseits und jenseits des Sees Spiess und Stange zu tragen
vermochte, aufboten und ihnen sogar Helfer aus der Frei-
grafschaft Burgund zuströmten, um Genf durch plötzlichen
Ueberfall zu nehmen, da beschloss Bern, mit Freiburg und
seinen nähern Verbündeten ins Feld zu ziehen, während es
die übrigen Eidgenossen mahnte, sich zur Hilfeleistung bereit
zu halten. Zürich sagte seinen Beistand zu ; die fünf innern
Orte dagegen, die mit Savoycn als einem wichtigen Gliede
des katholischen Machtsystems sympathisirten, beschlossen ,
1) Occhsli, Orte und Zugewandte, Jahrbuch für Schweiz.
Gesch. XIII, 446 ff, Böget, Les Suisses et Genfcve I 268. Mämoires
et Docum. de la Suisse Rom. VII 740. Abschiede IV lb 1544.
Der Lausanuer Vertrag von 1564. 147
wenn es nicht gelinge, die Anstände mit dem Herzog auf
gütlichem Wege zu vermitteln oder ans Recht zu weisen,
den Bernern «handlich* herauszusagen, man Bei durch die
Bunde zu keiner Hilfe verpflichtet und wolle sich der Sache
nicht beladen.1)
Zum Glück genügte der blosse Aufbruch des durch
Mannschaften von Solothurn, Biel, Neuenburg und Payerne
verstärkten bernisch-freiburgischen Heeres, um die Schaaren
des Löffelbundes von den Mauern Genfs hinwegzuscheuchen.
Herzog Karl III. suchte die Berner zur Umkehr zu bewegen,
indem er versicherte, der Ueberfall sei ohne sein Vorwissen
geschehen. Allein die Regenten der Aarestadt fanden mit
Recht, dass, nachdem man einmal zu den Waffen gegriffen,
das Werk ganz und voll gethan werden müsse, damit nicht
«über Nacht der Herzog oder die Sinen widerum den Krieg
anfachen und die statt Genf und inwoner derselbigen wie
vor beleidigen und begwaltigen söltind.»2) Sie gaben dem
Heere Befehl vorwärts zu ziehen, und wenn sie auch
Schonung der Waadt geboten, zeigten doch die verbrannten
Adelsschlösser von Rolle, Vufflens, Allaman, Gaillard, die
geplünderten Dörfer und Klöster in der Umgegend von
Genf den erschreckten Unterthanen des Herzogs , dass
man nicht umsonst den Bären ans seiner Höhle rief. Wohl
oder übel musste sich Karl III., der dem Schweizerheere
keine irgendwie ebenbürtige Macht entgegen zu setzen
hatte, den Bedingungen unterwerfen, die ihm die Sieger
diktirten. Unter Vermittlung von Gesandten der neun
Orte Zürich, Luzern, Uri, Schwyz, Unterwaiden,
i) Abschiede IV lb 791 ff. Vgl. Roget, Les Suisses et Ge-
nere. Lefort, L'6mancipation politique de Geneve. V auch er,
Lüttes de Geneve contre la Savoie 1517—1530.
*) Abschiede IV lb 499 ff
148 Der Lausanner Vertrag von 1564.
Zng, Basel, Solothurn, Seh af f hausen, sowie
St. Gallens und des Wallis wurde am 19. Oktober 1530
zu S t. J u 1 i e n (südwestl. von Genf) ein F r i e d e geschlossen^
durch den sich der Herzog verpflichtete, gegen die Genfer
keinerlei Gewalt zu brauchen, ihnen freien Handel und
Wandel zu gestatten und seine Unterthanen, die sie schädigen
würden, gebührend zu bestrafen. «Sölichs also stif,
stät und unwandelbar zuo halten, sol gesagter
unser gnädiger her von Savoy für sich und sin
nachkomen beiden stetten Bern und Fryburg
in underpfands und inpunds wyss insetzen und
verpfenden das land genampt die Wat, mit
allem dem rechten, so erjetz daran hat oder er
und die sinen in künftig zyt überkomen und
gehaben möchten, nützit usgenoroen noch vor-
behalten.» So wurde nichts Geringeres als die ganze
Waadt zum Pfand für die künftige Sicherheit Genfs einge-
setzt, und die beiden Schweizerstädte erhielten das vertrag-
liche Recht, bei der ersten Unbill, die der Herzog ihrer
Bundesgenossin zufügte, auf das wohlgelegene Land zu
greifen. Umgekehrt wurden auch den Genfern bei Strafe
der Entziehung des Schirms der beiden Städte alle Thätlich-
keiten gegen den Herzog und seine Angehörigen untersagt
und alle streitigen Punkte, wie die savoyischen Hoheits-
ansprüche auf Genf, die damit zusammenhängende Frage der
Giltigkeit oder Ungültigkeit des Burgrechts u. s. w., einem
von den neun Orten und zwei Zugewandten, die den Frieden
zu St. Julien vermittelt hatten, zu bestellenden Schieds-
gerichte zugewiesen.1) Schon Ende November 1530 trat
dieses in Payerne zusammen und fällte nach langwierigen
») Abschiede IV lb 1501 ff.
Der Lau sanner Vertrag von 1564. 149
Rechts Verhandlungen bis zum 31. Dezember eine Reihe von
l'rtheilen, durch welche dem Herzog das einzige unbestreit-
bare Recht, das er in Genf nachweisen konnte, das Vidomnat,
zuerkannt, aber die Ausübung desselben an Vorbehalte ge-
knüpft wurde, die seinen Prätensionen auf Landeshoheit den
Riegel schoben. Das Burgrecht Genfs mit Bern und
Freiburg wurde dagegen bestätigt, weil der wirk-
liche Landesherr der Stadt, der Bischof, darein gewilligt
habe, und der Herzog als Urheber des Krieges zu einer Ent-
schädigung von 21000 Kronen an die drei Städte verfällt.1)
Dieser für Savoyens Anspräche so vernichtende Pet er-
lin»: er Spruch ist um so bemerkenswerther, als sich von
der Mehrheit der elf Stände, die ihn fällten, von Luzern, Uri,
Schwyz, Unterwaiden, Zug, Solothnrn, Wallis, damals eher
alles andere hätte erwarten lassen, als eine Förderung der
Genfer Interessen auf Kosten Savoyens.
Karl III. würde sich wohl um den Spruch der Eid-
genossen herzlich wenig gekümmert haben, wenn ihm Bern
und Freiburg nicht vorschauend durch die Verpfändung der
Waadt die Schlinge um den Hals gelegt hätten. Durch alle
möglichen Schliche und Ränke suchte er daher zunächst diese
unbequeme Fessel los zu werden. Er stellte die Behauptung
auf. da der Handel nun rechtlich ausgetragen sei, falle auch
die Pfandschaft dahin ; dann Hess er durch eine Gesandt-
schaft des Kaisers, den er auf dem Reichstag von Augsburg
um Hülfe und ßündniss gegen die Schweizer angegangen
hatte, die Aufhebung derselben oder wenigstens ihre Um-
wandlung in eine Geldbusse verlangen.2) Die Zerklüftung
der Eidgenossen und die Niederlage der Reformirten bei
i) Abschiede IV lb 863 ff. 1516—1562.
*) Abschiede IV lb 1562; 1056, 1088.
150 Der Lausanner Vertrag von 1564.
Kappel gaben ihm sogar den Math, die festgesetzten Termine
für die Raten der Kriegsentschädigung ohne Zahlung ab-
laufen zu lassen und im Anfang des Jahres 1532 die Genfer
wieder mit Verkehrssperre und Ueberfällen zu bedrohen.1)
Freiburg war der Ansicht, dass damit die Waadt verfallen
sei, und rüstete, hitziger als Bern, zum Kriege.2) Nachdem
Karl III. einen vergeblichen Versuch gemacht, durch Ver-
mittlung des Wallis mit den V katholischen Orten ein
Sonderbündniss zu knüpfen und durch sie die Umstossung
des Peterlingerurtheils und die Aufhebung des Genfer Burg-
rechts zu erwirken,") kroch er zu Kreuze, hob die Proviant-
sperre auf und bezahlte im April 1532 die erste Rate der
Kriegsentschädigung, womit er endlich den Pcterlinger
Spruch anerkannte.4) Immer wieder kam er aber auf die
<Verpenigung» der Waadt zurück, und die beiden Städte
stellten ihm wenigstens eine «Milderung» derselben nach der
letzten Zahlung in Aussicht. Als diese im Mai 1533 wirklich
geleistet wurde, erklärten sich Bern und Freiburg bereit,
statt der ganzen Waadt nur die vier Städte Romont, Yverdon,
Cudrelin und Stäffis einsetzen zu lassen und dem Herzog,
wenn die vier Plätze ihnen verfielen, die Lösung derselben
binnen drei Jahren mittelst einer Summe von 20 000 Kronen
zu gestatten, freilich alles dies nur gegen die wohlverbriefte
Zusicherung, dass diese Erleichterung den übrigen Bestimm-
ungen des Vertrages von St. Julien und des Urtheils von
Peterlingen keinerlei Abbruch thun solle.5)
i)AbschiedcIVlb 1247, 1267, 1284, 1298.
2) Abschiede IV lb 1281, 1298, 1305.
3) Abschiede IV lb 1323, 1347, 1351.
4) Abschiede IV lb 1308 f., 1337, 1405, 1413, 1440.
5) Abschiede IV lb 1309. 1337, 1434, 1440, IV lc 59 f.,
67, 72 ff., 75.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 151
Karl III. verschmähte es jedoch, auf diese «Milderung >,
die ihn allerdings noch immer mit dem Verlust der halben
Waadt bedrohte, einzugehen, da sich ihm plötzlich ge-
gründete Hoffnung aufthat, Burgrecht, Verpfändung und
Peterlinger Spruch, alles miteinander zerreissen zu können.
Der religiöse Zwiespalt, der die Eidgenossenschaft spaltete,
übertrug sich auf das Verhältniss der beiden Zähringer-
städte zu Genf. Bei den ersten Manifestationen der neuen
Lehre in der Rhonestadt bedrohten beide sie mit Auflösung
des Burgrechts, Frei bürg, wenn sie die lutherische Ketzerei
in ihren Mauern dulde, Bern, wenn sie die Anhänger seines
Glaubens verfolge.1) Als die Genfer, vor die bittere Wahl
zwischen Bern und Freibnrg gestellt, unentschieden hin und
her schwankten und das letztere daran verzweifelte, den
Einfluss der mächtigen Schwesterstadt aus dem Felde zu
schlagen, wandte es, das bisher in der Beschirmung der
Unabhängigkeit Genfs wenn nicht die grösste Kraft, so doch
den grössten Eifer gezeigt, sich plötzlich den Gegnern zu,
dem Bischof und dem Herzog, weil ihm die Erhaltung des
Katholizismus in der Rhonefeste nun als das wichtigere
Interesse erschien. Im Sommer 1533, bei Anlass des an
dem altgläubigen Chorherrn Wehrli begangenen Todtschlags,
verständigte es sich mit dem Bischof und mit Savoyen, in-
dem es die alten Bünde mit letzterem beschwor,2) und als
der Rath von Genf am I.März 1534 es geschehen liess, dass
sich die Reformirten einer Kirche bemächtigten, sandte es
am 27. März den Burgrechtsbrief mit abgetrenntem Siegel
an Genf zurück. Gleichzeitig traf Freiburg mit dorn
savoyischen Landvogt und den Ständen der Waadt eine
Vereinbarung zur Aufrechterhaltung des wahren Glaubens,
l) Oeehsli , Orte und Zugewandte 450.
*) Abschiede IV lc 114 ff. 126.
152 Der Lausanner Vertrag von 1564.
und knüpfte der Herzog durch Vermittlung des Bischofs von
Sitten mit den VII katholischen Orten, die sich am 17. Dez.
1533 mit dem Wallis zn einem festen konfessionellen Sonder-
bnndc vereinigt hatten, Verhandlangen an, um seine Auf-
nahme In dieses Glaubensbündniss zu erwirken, zn dem aus-
gesprochenen Zwecke, Genf und Lausanne mit Gewalt zu
unterwerfen und in dem daraus erfolgenden Kriege mit
Bern die katholische Eidgenossenschaft auf seiner Seite zu
haben.1) Die Werbungen Karls III. fanden, wenn sie auch
schliesslich nicht zum Ziele führten, bei den katholischen
Orten doch ein solches Entgegenkommen, dass er beim Vor-
gehen gegen das ketzerisch gewordene Genf zum mindesten
ihrer moralischen Unterstützung sicher sein durfte. Ausser-
dem fühlte er sich gedeckt durch den Kaiser, mit dem er,
wie die übrigen italienischen Fürsten, im Februar 1533 ein
Vertheidigungsbündnisa geschlossen hatte,2) so dass er sich
nun stark genug glaubte, alle Rücksichten gegen Bern über
Bord werfen zu können. Im Juni 1534 eröffnete er in Ver-
bindung mit dem Bischof, der im Sommer 1533 die Stadt
auf Nimmerwiedersehen verlassen hatte, die Feindseligkeiten
gegen Genf wieder in alter Weise, durch eine Lebensmittel-
sperre und unablässige Ueberfälle seitens der Edelleute und
verbannten «Mameluken», denen das Schloss Peney als
Stützpunkt diente. Umsonst erinnerte Bern den Herzog an
den Vertrag von St. Julien, umsonst drohte es dem Land-
vogt und den Ständen der Waadt, es werde in zutreffendem
Fall von seinem Pfandrecht umfassenden Gebrauch machen/)
') Abschiede IV lc 297 ff.; 292; 286, 289, 294, 335, 396,
414 f., 417, 452.
2) Papiers d'Etat du Cardinal de Gran volle, publ.par Weiss
II 18, 155, 430.
3) Abschiede IV lc 346 ff. 354, 378 f., 386 f., 400 f.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 153
Auf einer Konferenz zu Thonon im Dezember 1534, wo
die Boten der Eidgenossen zwischen Bern und dem Herzog
vermitteln sollten, trat der letztere äusserst, trotzig auf.
Dos Beifalls der katholischen Orte, d. h. der eidgenössischen
Mehrheit sicher und von einem kaiserlichen Gesandten unter-
stützt, verlangte er gebieterisch Rückkehr Genfs zum alten
Glauben, Auflösung des Burgrechts mit Bern und Wieder-
einsetzung seiner selbst wie des Bischofs in alle Rechte, die
sie vor dem Burgrecht in der Stadt genossen hätten. Als
die Berner sich auf den Vertrag von St. Julien und den
Peterlinger Spruch beriefen, erklärte er, dass er sich weder
durch den einen noch durch den andern gebunden erachte ;
er halte sich überhaupt zu nichts verpflichtet und kenne
<weder Vortrag noch Hypothek», und als sie ihm Recht auf
die Schiedsrichter von Peterlingen boten, weigerte er sich,
darauf einzugehen. Nicht als Schiedsrichter, nur als Ver-
mittler wollte er sich die Eidgenossen gefallen lassen; denn
als Richter hätten auch die katholischen Orte schwerlich
umhin gekonnt, den von ihnen vor vier Jahren gefällten
Spruch zu bestätigen ; als Vermittler dagegen hatten sie
freie Hand, die eidgenössische Intervention zu Gunsten
Savoyens zu wenden.1)
In der That schlugen die XII Orte unter dem dotni-
nirenden Einfluss der katholischen Mehrheit auf einem Tag
zu Luzern im Januar 1535 entgegen der Bitte Berns,
es beim Frieden von St. Julien und beim Urtheil von Peter-
lingen zu «handhaben», Vergleichsartikel vor, die auf eine
Auslieferung Genfs an den Herzog und Bischof gegen eine
illusorische Bestätigung seiner alten Freiheiten hinausliefen.2)
Berns Lage war damit äusserst schwierig geworden. Nahm
*) Abschiede IV lc 431—442.
*) Abschiede IV lc. 449, 452.
154 Der Lausanner Vertrag von 1564,
es die Vorschlage der Tagsatzung an, so verzichtete es da-
mit auf alle im Feldzug von 1530 errungenen Vortheile und
gab Genf, das im Vertrauen auf seine Unterstützung und
unter seiner Leitung mit dem Katholizismus gebrochen, da-
durch das Burgrecht mit Freiburg verscherzt und sich in
die schwersten Gefahren gestürzt hatte, schimpflich preis.
Nahm es sie nicht an, so lud es in den Augen der Miteid-
genossen die Schuld am Kriege auf sich. Die katholischen
Orte erklärten offen, dass sie, wenn es wegen Genfs zum
Kriege käme, sich der Sache entschlügen, d. h. Bern
keine Hülfe leisten würden, und auch die evangelischen,
Zürich voran, drangen darauf, dass es um des Friedens
willen die Luzerner Vorschläge annehme. Bern half sich
aus dem Dilemma, indem es Genf vorschob und damit die
Verantwortlichkeit für die Ablehnung der eidgenössischen
Vermittlung auf dieses abwälzte.1) Anderseits liess es sich
auch durch die dringendsten Hülferufe der Genfer nicht dazu
bewegen, das Schwert aus der Scheide zu ziehen, und be-
schränkte sich auf blosse Unterhandlungen und Drohungen,
so unwirksam sich diese Mittel auch erwiesen.
Die dilatorische Politik Berns in der Genf erangelegen-
heit ist wiederholt abfällig beurtheilt worden ; glaubte doch
ein Forscher wie Kampschulte darin die macchiavellistische
Absicht zu erblicken , Genf durch das Hinausschieben
der Bundeshülfe, durch Steigerung seiner Noth zur Unter-
werfung unter bernische Hoheit mürbe zu machen. Wer
indess die Grösse der Schwierigkeiten, die Bern vor sich sah,
ohne Voreingenommenheit ermisst, wird im Gegentheil der
Klugheit und Festigkeit, mit der es den Konflikt zu einem
glücklichen Ende führte, seinen Beifall nicht versagen
') Abschiede IV lc. 456, 460, 463, 465, 467, 474, 479.488.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 155
und den Tadel für diejenigen sparen, die ihm die Er-
füllung seiner politischen Aufgabe erschwerten. Der Gegner,
mit dem die Aarestadt es zu thun hatte, war allerdings an
sich wenig zu furchten; auch wenn Bern ganz allein blieb,
war es Savoyen militärisch mehr als gewachsen. Aber
hinter dem Herzog stand die gewaltige Macht seines
Schwagers und Verbündeten, Kaiser Karls V.
Von Deutschland aus wurden Zürich und Bern gewarnt,
dass die Kaiserlichen im Bund mit Piemont Genf einnehmen
worden, und dass es dann gegen die evangelischen Schweizer-
stftdte selbst gehen werde.1) Wie ernstlich in der That der
Kaiser an eine solche Einmischung dachte, zeigen die Ver-
handlungen, die er 1535 nach dem Tod des letzten Sforza in
Mailand mit Frankreich anknüpfte. Er war bereit, das
vielbegehrte Mailand einem Sohne Franz I. zu übertragen,
aber unter der Bedingung, dass der König sich in den
grossen Angelegenheiten an den Kaiser anschliesse, unter
anderem auch bei der Herstellung des Katholizismus und der
Savoyerherrschaft in Genf kräftig mitwirke.2) Bern war also
nicht einmal sicher, ob es nicht auch Frankreich auf gegneri-
scher Seite finden werde. Auf der andern Seite stand die
Eidgenossenschaft wegen der stets neu auftauchenden kon-
fessionellen Händel fortwährend am Rande des Bürgerkrieges,8)
und Bern musste fürchten, dass ihm, wenn es den Kampf
gegen Savoyen aufnahm, seine ältesten und nächsten Ver-
bündeten, Freiburg, Solothurn, Wallis und mit ihnen der ganze
i) Abschiede IV lc. 479, 560. Roget, Les Suisses et Gene ve
U 200.
s) Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation,
IV 16. Papiers d*Etat de Granvel le II 406.
«) Abschiede IV lc 314 (e), 323 (bb), 382, 392 (e)? 395 f.,
411 (gg). 445, 474, 481, 483, 484 f., 487, 573, 607 (r).
156 Der Lausanner Vertrag von 1564.
katholische Sonderbund in den Rücken fallen würden.1) Unter
solchen Umständen begreift man es, dass das durch die unglück-
lichen Erfahrungen des Kappelerkrieges darniedergebeugte
Zürich an Bern die Zumuthung stellte, lieber Genf fahren
zu lassen, als die Gefahren des innern und äussern Krieges
heraufzubeschwören,2) wenn Bern selbst den Krieg so lang
als möglich zu vermeiden trachtete und alle diplomatischen
Mittel erschöpfte, ehe es zu den Waffen griff. Wenn Bern
die Genfer immer wieder zur Geduld wies und dabei die
Drohung, sie im Stich zu lassen oder das Burgrecht auf-
zulösen, nicht sparte,3) so zeigen die gleichzeitigen Verhand-
lungen mit Savoyen, dass es damit nur den Zweck verfolgte,
«ie vor unzeitigen Repressalien abzuhalten. Unbeirrt durch
die Feindseligkeit der katholischen und den Kleinmuth der
evangelischen Miteidgenossen vertheidigte es in dem langen
diplomatischen Ränkespiel Genfs Unabhängigkeit aufs zähste
und Hess sich nicht dazu herbei, ihr das Geringste zu ver-
geben. Unerschütterlich hielt es daran fest, dass der Friede
von St. Julien und der Peterlinger Spruch die Basis der
Verhandlungen bilden müssten, und verlangte als erste Be-
dingung, dass der Herzog die Genfer ungekränkt beim
Gotteswort bleiben lasse und das Burgrecht anerkenn«-.
"Wie wenig es sich durch eigennützige Absichten leiten Hess.
zeigten die letzten Verhandlungen mit Savoyen anfangs
Dezember 1535 zu Aosta, wo die bernischen Gesandten
Vollmacht hatten, die Verpfändung des Waadtlandes preis-
zugeben, wenn die Genfer durch andere Mittel beim gött-
liehen Worte und bei ihrer Freiheit gesichert werden könnten.
Das angeblich so ländergierige Bern war also bereit, auf
i) Abschiede IV lc 394, 563, 584, 603, 637, 645.
*) Abschiede IV lc 394, 479.
3) Abschiede IV lc 480, 497, 536, 565, 576, 582.
Der Lausanner Vertrag yon 1564. 157
sein bereits erstrittenes Anrecht zu verzichten, wenn Genf
frei und protestantisch bleiben konnte.1)
Dann darf nicht übersehen werden, dass die Blockade,
die der Herzog mittelst der Proviantsperre nnd der Fehde
der Insassen des Raubschlosses Peney gegen Genf ins Werk
setzte, zwar die Bürger in grosse Noth brachte, aber noch
keine unmittelbare Gefahr für die wohlbefestigte Stadt be-
deutete. Zu stärkeren Rüstungen Savoyens gab erst der
im Oktober 1535 vom Val de Travers aus organisirte Frei-
scbaarenzng der Neuenburger Anlass, den die Berner nach
dem Gefecht bei Gingins zur Umkehr bewogen, um einen
vorzeitigen Kriegsausbruch zu verhüten. Den eigentlichen
Angriff auf die Stadt aber schob der Herzog zum grossen
Aerger der katholischen Orte2) immer wieder hinaus. So-
bald wirkliche Gefahr drohte, dass eine fremde Macht sich
in Genf festsetze, handelte Bern mit einer Raschheit und
Energie, die nichts zu wünschen übrig liess.
Diese Macht war Frankreich, das den Genfern Mitte
Dez. 1535 unter der Hand seine Hilfe anbot, aber unter Be-
dingungen, die es zum Herrn der wichtigen Rhonefeste ge-
macht haben würden. Da Bern «des französischen Königs
List und Geschwindigkeit» kannte und keine Lust hatte,
v einen solch schweren Nachbarn als der König zu Genf
sein würde», sich diesseits des Jura einnisten zu lassen, kam
*s ihm mit raschem Entschlüsse zuvor, um so mehr als es
jetzt die Gewissheit hatte, dass Franz I. entschlossen war,
mit Savoyen zu brechen, dass also Frankreich gegen den
>) Abschiede IV lc 590.
2) Vgl. den Rathschlag Luzerns Ende Okt. 1535: «wollen sich
nit mer beladen des Herzogen handeis noch der Genfferen, diewyl
<-r so schlecht lieh handlet und die Berner so übel fürchtet.« Absch.
IV lc 575.
158 Der Lausanner Vertrag von 1564.
Kaiser ein Gegengewicht bilden werde1). Am 27. Dezember
beschloss der grosse Rath den Krieg und setzte, nm des
Volkes sicher zu sein, im Geheimen die Aemter der Land-
schaft von der Absicht, Genf zu entschütten, in Kenntniss.
Als diese am 13. Januar 1536 ihre Zustimmung gaben, er-
folgte am 16. Januar die Kriegserklärung. Zugleich theilte
Bern den eidgenössischen Ständen die Sachlage mit, indem
es die Vertrauteren zu getreuem Aufsehen mahnte und den
übrigen die Erwartung aussprach, dass sie ihm keine Hinder-
nisse bereiten werden.2)
IL
Die Eroberung der Waadt.
Das nächste Ziel des Krieges war die Besitzergreifung
des im Frieden von St. Julien für Genfs Sicherheit einge-
setzten und von Savoyen durch seinen Vertragsbruch ver-
wirkten Pfandes. Das savoyische Waadtland, das die
Berner nun zum zweiten Mal eroberten, um es nicht wieder
fahren zu lassen, war mit dem heutigen Kanton nicht völlig
identisch. Ausser dem Gebiete des Bischofs von Lausanne,
dein bernischen Amt Aigle und den bernisch-freiburgischen
Vogteien Grandson, Orbe und Echallens gehörte auch das
Seeufer von Vevey aufwärts nicht dazu; vielmehr wurde
dieses sammt dem Seeschloss Chili on zum Chablais ge-
rechnet. Dafür umfa8ste die Waadt die ganze Westhälfte
des jetzigen Kantons Freiburg von Stäffis bis Chätel
St. Denis.
Die Verfassung des Landes war noch ganz feudal.
«Nulle terre sans seigneur» galt auch für die Waadt. Mit
i) Abschiede IV lc 601—603.
2) Abschiede IV lc 607—611.
Der Lausarmer Vertrag von 1564. 159
Ausnahme der wichtigeren Städte, der «Bonncs Villes», die
direkt unter der Hoheit des Landesfürsten standen, und der
herzoglichen Domänen, war das Land in eine Menge geist-
licher und weltlicher Herrschaften zersplittert, von denen
jede sozusagen einen kleinen Staat für sich bildete. Weite
Gebietskomplexe lagen in der Hand der Klöster, unter
denen Romain mott er, Hautcret, Payerne, Bonmont, Lac de
Joux hervorragten ; der Abt von Roinainmotier regierte über
ein geschlossenes Territorium von 13 Ortschaften, in welchem
er die gesammte Gerichts- und Grundherrschaft besass.1)
Sonst war im grössten Theil des Landes die Gerichtsbarkeit
alier Stufen mit Einschluss des Blutbanns Eigenthum des
hohen und niedern AdelB, der sich in Grafen, Barone,
Bannerherrn und gewöhnliche Edle schied. Der gräfliche
Titel war den Dynasten von Neuenburg und Greyerz, sowie
dem Bischof von Lausanne als dem alten Grafen der Waadt
vorbehalten. Um sich Baron nennen zu dürfen, musste man
ausser 3000 Gl. Einkünften aus der Gerichtsbarkeit mindestens
25 Vasallen haben, von denen wenigstens einer die hohe
Gerichtsbarkeit mit Einschluss des Blutbanns besass. Für
einen Bannerherrn war ein festes Schloss und das hohe Ge-
richt über mindestens 80 Feuerstellen erforderlich.2) Mit
der hohen Gerichtsbarkeit waren die Jagd- und Fischerei-
hoheit, mit der mittlem Vormundschaftspolizei, Aufsicht über
Maass und Gewicht, mit der niedern der Backofen- und
Mühlenzwang, das Recht auf herrenlose Gegenstände, die
Aufsicht über Wirthe, Metzger, Bäcker, Lebensmittelhändler
u. s. w. verbunden.8)
*) Darmstftdter, die Befreiung der Leibeigenen in Savoyen,
der Schweiz und Lothringen, 85.
*) Quisard, Coutumier de Vaud, her. von Schnell und
Heusler, Zeitschrift für Schweiz. Recht XIII S. 62 t
») Quisard, XIII 61, 68. XIV 3 f., 143 f., 146, 161 ff.
1(50 Der Lausanner Vertrag von 1564.
Die ganze ländliche Bevölkerung befand sich in
mehr oder weniger starker Abhängigkeit von diesen geist-
lichen und adeligen Grund- und Gerichtsherren. Allgemein
verbreitet war noch die sogenannte «Mainmorte», die den Ge-
bieten französischer Zunge eigentümliche Form der Leib-
eigenschaft, deren Hauptkennzeichen darin bestand, dass die
Güter des Leibeigenen, der ohne eheliche und mit ihm in Ge-
meinschaft lebende Kinder verstarb, ganz dem Herrn anheim-
fielen. Die Mainmorte haftete am Gut wie an der Person.
Ein Freier, der ein mainmortables Gut erwarb, wurde mit
all seinen Nachkommen unfrei. Umgekehrt folgte die
Mainmorte dem Unfreien nach, wo er sich auch niederliess,
ausser wenn es ihm gelang, in einer der bonnes villes Bürger
zu werden, ohne binnen Jahr und Tag von seinem Herrn
reklamirt zu werden.1) Die unterste Stufe der Leibeigen-
schaft nahmen die «Taillables», die «Teilpflichtigen», ein, die
nicht bloss der Mainmorte, Bondern auch der Taille unter-
lagen, d. h. dem Recht des Herrn, in sechs bestimmten Fallen
das Gut des Leibeigenen bei seinen Lebzeiten einzuziehen >
bez. ihn nach Willkür (ä misericorde) zu besteuern : nämlich,
wenn der Herr ins gelobte Land reiste, wenn sein Sohn
Ritter wurde, wenn er seine Töchter oder Schwestern ver-
heirathete, wenn er aus der Gefangenschaft losgekauft
werden sollte, wenn er Herrschaften erwarb, und wenn er
durch Feuersbrunst oder Krieg Verluste erlitt.s) Etwa»
höher standen die «Censitifs», die zinspflichtigen Leibeigenen,
die der Mainmorte, aber nicht der Taille unterworfen waren
und, vom Heimfall des Gutes abgesehen, dem Herrn nur die
OQuisard, XIV, 189, (176a), 191, (178), 198 (183a),
Darms lädt er a. a. 0.
2) Quisard, XIV, 191, (178), 198 (183).
Der Lausanncr Vertrag; von 1564. 161
tixirten Grundzinsen schuldeten. Von den Censitifs unter-
schieden sich wieder die «Censiers», die zinspflichtigen
Hörigen, die weder der Taille noch der Mainmorte unterlagen,
•leren Gut nur dem Herrn anheimfiel, wenn sie drei Jahre
mir. ihren Zinsen in Rückstand waren.1) Die mildeste Form
«ler Unfreiheit war die des einfachen «homme lige», des
Eigenmanns, der zwar einem Herrn angehörte, aber von den
Lasten der Leibeigenschaft befreit war und über seine Güter
M verfügen durfte. Vom Lige unterschied sich der «Franc»,
•ler freie Hintersasse, nur noch dadurch, dass er als per-
vlalich frei mit dem Gute auch den Herrn aufgeben und sich
«'inem andern unterwerfen konnte.2) Ausser dem Zehnten,
•Jen Grundzinsen und den spezifischen Leibeigenschaftslasten
•mtte der waadtländische Bauer noch eine Menge anderer
Feadailasten zu tragen. Beim Verkauf von Gütern hatte er
in der Regel dem Grundherrn den Lods (Ehrschatz), der 1I&
Ms x?i3 des Kaufpreises betrug, zu entrichten.3) Jede Feuer-
welle schuldete dem Gerichtsherrn die Censes usagAres, Ab-
gaben in Geld, Getreide, Hafer, Brot, Hühnern, Eiern, bei
'l*ren Nichtbezahlung der Herr dem Schuldner die Hausthüre
aasheben und sie auf die Strasse legen durfte, bis er befriedigt
*var.4) Dazu kamen in den bei der Taille erwähnten und ähn-
lichen Fallen auch für die übrigen Hintersassen der Gerichts-
herrschaft ausserordentliche Steuern (aides oder subsides), deren
Betrag durch drei neutrale Seigneurs als Schiedsrichter fest-
gesetzt wurde,5) ferner Wach-, Kriegs- und Botendienste,
Fuhr- nnd Spanndienste, Fronarbeiten bei Bauten im
0 Quisard, XIV, 200 (185), 204 (189).
*) Quisard, XIV, 201 (186). 205 (189 a), 206 (190 a).
*) Quisard, XV, 3 f. (204 a, 205 u. a.)
«) Quisard, XV, 19 (216 a).
*) Quisard, XV, 33 f. (228 a, 229).
11
162 Der Lausauner Vertrag von 1564.
Schlosse, auf dem herrschaftlichen Gute etc.; doch waren
die Fronden, weil nicht allgemein, von geringerer Be-
deutung.1)
Inmitten der bäuerlichen Hörigkeit waren die Städte.
Inseln der Freiheit, Der Bürger kannte keine Mainmorte,
keine Feudallasten, er war in seiner persönlichen Freiheit
durch die Privilegien der städtischen Gemeinwesen wohl ge-
schützt, und diese erfreuten sich einer ausgedehnten Selbst-
verwaltung durcli Käthe und Stadtvorsteher (syndics oder
gouverneurs.2) Früher hatten sie sich sogar, was freilich
im 16. Jahrhundert verpönt war, etwa das Recht heraus-
genommen, unter Vorbehalt des Landesherrn auswärtige
Bündnisse zu schliessen ; so stand Payerne seit 1343 in
einein ewigen Burgrecht mit Bern, vermöge dessen es so-
gar 1530 am Feldzug gegen den eigenen Herrn theilge-
nommen hatte.3)
Gegenüber den Rechten der Seigneurs und der städtischen
Selbstverwaltung erscheinen die Befugnisse des Land es -
f ürsten als sehr beschränkte. Er war verpflichtet, die
alten Freiheiten und Privilegien, das geschriebene und un-
geschriebene Gewohnheitsrecht des Landes beim Regierungs-
antritt zu bestätigen und zu beobachten. Ihm stand das
Recht zu, Notare zu krdren, Geleite zu geben, das Münz-
und Begnadigungsrecht, die oberste Appellationsgerichtsbar-
keit, sowie die Gesetzgebung «für Erhaltung heiligen und
guten Lebens, guter Sitti* und des öffentlichen Wohles»,
letztere jedoch nicht ohne Mitwirkung der Stände der
i) Quisard, XIV, 206(191), 207 (191 a, 192), 209(193),
XV, 32 (228), 35 (230), 37 (231 a).
*) Quisard, XIV, 211 ff., 217. Grenus, Documenta rdatife
ä l'hist. du Pays de Vaud, X— XVII.
3) Eidgeu. Abs eh. I., 415, IV Ib., 808 (3).
Der Lausauner Vertrag von 1564. 163
Waadt Gesetze and Verordnungen des Fürsten mussten
vor ihrer Publikation den Ständen vorgelegt werden, die
Einwendungen, Remonstranzen dagegen erheben konnten,
worauf der Rath des Fürsten endgiltig entschied. Falls
jrdoch die Neuerung die Freiheiten und Gewohnheiten des
Landes verletzte, stand den Ständen der Waadt die Be-
rufung an die savoyischen Etats-G6n6raux, zu denen sie
Vertreter ernannten, im äussersten Fall selbst an den Kaiser
zu. Umgekehrt erhielten Beschlüsse, die von den Ständen
ausgieugen, erst Gesetzeskraft, wenn sie vom Fürsten oder
»einem Vertreter bestätigt wurden. Die Erhebung von
Steuern, der sogen, dons gratuits, bedurfte ebenfalls der
Zustimmung der Stände, ebenso die Leistung von Kriegs-
dienst, der über acht Tage andauerte oder den Waadt»
länder über die Grenzen der drei Bisthümer Lausanne, Genf
und Sitten hinausführte. Die Landstände der Waadt traten
in der Regel zu Moudon, der Hauptstadt der savoyischen
Waadt. zusammen. Die Klöster bildeten die Bank der
Geistlichen; auf der Adelsbank hatten die Grafen von Neuen-
burg, Greyerz und — als Graf der Waadt — der Bischof
von Lausanne für die Lehen, die sie in der savoyischen
Waadt inne hatten, dann die verschiedenen Barone und
Bannerherrn Sitz und Stimme. Den dritten Stand bildeten
die Vertreter der direkt unter dem Landesfürsten stehenden
Bonnes Villes Moudon, Nyon, Yverdon, Morges, Romont,
Cossoney, Payerne, Rue, Estavayer, Cndrefin, St. Croix,
les C16es, Chätel St. Denis, Grandcourt. Einberufen wurden
die Stände bald vom Landvogt, bald vom Rath von Moudon.
Neben den Versammlungen aller drei Stände fanden auch
solche bloss des Adels und der Städte oder der Städte allein
statt. Nach den erhaltenen Aktenstücken scheinen die
Stände der Waadt ihre Hauptaufgabe darin gesucht zu
164 Der Lausanner Vertrag von 1564.
haben, sorgfaltig über die alten Freiheiten und Gewohnheiten
des Landes zu wachen, über Verletzung derselben durch die
weltlichen und geistlichen Behörden beim Landesherrn Be-
schwerde zu erheben und die Abstellung von Neueningen
und Missbräuchen zu verlangen.1 )
Die allgemeine Regiernng des Landes führte als Stell-
vertreter des Herzogs der Landvogt oder Gouverneur,
der im Schloss zu Moudon residirte. Er führte den Vorsitz
in dem Obergericht zu Moudon, an welches ans dem
ganzen Lande appellirt werden konnte nnd vor das in erster
Instanz Prozesse unter und gegen die Adligen selbst ge-
bracht wurden ; von Moudon ging die Appellation in letzter
Linie an die Räthe des Herzogs in ÜhambeYy. Der Land-
vogt bot die Mannschaften auf und hatte für die Instand-
haltung der festen Plätze zu sorgen. Unter ihm standen
die Kastellane, denen die Hut der herzoglichen Schlösser,
sowie die Verwaltung der dazu gehörigen Aemter und Do-
mänen anvertraut war.2)
Das ist das Bild der Waadt am Vorabend ihres Ueber-
gangs in schweizerischen Besitz. Unsere welschen Miteid-
genossen pflegen nach Laharpes Vorgang heute mit einem
gewissen Wohlgefallen die milde Savoyerherrschaft der
harten Herrschaft des Mutz entgegenzusetzen nnd nicht ohne
Grund, wenn man nur die Stellung des Adels nnd der Städte
ins Auge fasst. Die Waadt wurde unter Savoyen durch
Einheimische, nicht durch Sprach- und Stammfremde ge-
i) Quisard, XIII, 27—29, 42—44; XV 34, 35. Grenus,
Documenta XVII— XXXII (mit den Beweisstellen). Vgl. den Artikel
«Etats» in Martig nier et Crousaz, Dict. histor. du Gt de Vaud.
2) Quisard, XIII, 48 f. Grenus, XX f. Gingins-La
Sarra, Episode des Guerres de Bourgogne, Mem. et Doc. SuisseRom.
VIII, 130 ff.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 165
richtet und regiert; die Städte und der Adel hatten in den
Ständen ein wirksames Organ, um ihre Wünsche und Be-
schwerden zur Sprache zu bringen, und die waadtländischcn
Seignenrs konnten im Dienst des Herzogs bis zu den höchsten
Staatswürden emporsteigen. Und doch, wenn je mit Recht
von «Heloten des Waadtlandes» gesprochen werden kann,
so gilt das für die Savoyerzeit, wo die Masse der Bevölker-
ung aus Leibeigenen und Hörigen des Adels und der Klöster
bestand. Gab es doch in der ganzen Terre de Romain-
moiier mit Ausnahme der freien Leute des Dorfes La Praz
keine Bauern und kein bäuerliches Gut, die nicht der Main-
morte unterworfen waren.1) Hier konnte ein Staat, der wie
Bern prinzipiell keine persönliche Unfreiheit auf seinem Ge-
biete duldete, ein segensreiches Werk vollbringen.
* *
*
Am 22. Februar 1536 brach das bernische Panner, 6000
liann stark, nach Murten auf, unter dem Befehl des Hans
Franz Nägeli, des letzten Kriegsmannes der alten Eid-
genossenschaft, dem es beschieden war. seinen Namen in
rühmlicher Weise in die Annalen unserer Landesgeschichte
einzuzeichnen. In Murten stiessen die Zuzüger von Neuen-
bürg und Biel, in Payerne die von dieser Stadt, von
Greyerz und Aelen zum Heere. Trotz der vorausgegangenen
Provokationen wurde Savoyen von dem möglichst in der
Stille betriebenen Aufbruch der Berner völlig überrascht ;
weder der Herzog noch sein Landvogt oder die Stände in
der Waadt hatten ernstliche Anstalten zur Gegenwehr ge-
troffen, und weder der Kaiser noch die katholischen Orte
waren in der Lage, etwas für ihn zu thun.2) In den Städten
!) Darmstäd ter, a. a. 0., 87.
«) Papiers de Granvellc II, 446. Abschiede IV lc. 606, 627, 637,
645.
166 Der Lausanner Vertrag von 1564.
und Schlössern der Waadt zitterte aber noch die Erinner-
ung an die furchtbaren Blutszenen des Jahres 1475 nach,
so dass es, recht im Gegensatz zur ersten Eroberung, nur
des raschen Vorgehens und energischen Auftretens des
bernischen Befehlshabers bedurfte, um das ganze Land zu
unterwerfen. Cudrefin, Grandcourt, selbst M o u d on
und R u e ergaben sich vom 22. bis 25. Januar auf die erste
Aufforderung. Nur Yverdon, wo der Freiherr von La Sarra
eine ansehnliche Besatzung zusammengezogen, gab aus-
weichende Antwort. Nägeli liess diese Stadt einstweilen
liegen und drang gen Morges vor, wo der berüchtigte
Castellan von Musso, der als alter Schweizerfeind den
Oberbefehl über die savoyischen Streitkräfte übernommen
hatte, mit 3000 italienischen Söldnern gelandet war, denen
sich Milizen aus der Waadt und dem Chablais anschlössen.
Aber sobald der Müsser am 28. Januar der gefürchteten
schweizerischen Schlachtordnung ansichtig wurde, flüchtete
er sich nach kurzem Beiterscharmützel auf seiner Flotille
wieder über den See, und sein Heer stob nach allen Seiten
auseinander, worauf Morges, Bolle, Divonne, Nyon,
Coppet,Gex dem Sieger die Thore öffneten. Am 2. Februar
hielt Nägeli mit seinem durch das Contingent von Lausanne
verstärkten Heere unter dem Jubel der Bürgerschaft seinen
Einzug in dem entschütteten Genf und empfing hier während
dreitägiger Bast die Huldigung der Edellcute am Südnfer
des Sees von der Arve bis zur Dranse. Am 5. Februar
brachen die Berner nach St. Julien auf, des Willens, den
Feldzug bis ins Herz des feindlichen Landes, bis nach
Rumilly und Chambery fortzusetzen.1)
l) Ueber den Feldzug in die Waadt siehe v. M ü line n , Waadt-
laudische Kriegsberichte des Hans Franz Nägeli, Archiv des histVer.
Bern XF1 253 ff. V u 1 1 i e m i n , Le Chroniqueur. F r o m e n t , Les artes
Der Lausanncr Vertrag von 1564. 167
Aber als man den Bären so wacker zugreifen sah, da
erwachte ancli in Andern die Begierde nach den schutzlosen
savoyischen Landen. Von allen Gliedern der katholischen
Eidgenossenschaft hatte das Wallis die intimsten Be-
ziehungen zu Savoyen unterhalten; es hatte mit ihm 1528
ein Bündniss auf 101 Jahre eingegangen, seinen Geheim-
verkehr mit den katholischen Orten vermittelt und sich
noch im November von den V Orten Hülfszusicherungen
g«*ben lassen, für den Fall, dass es wegen Erfüllung seiner
Verbindlichkeiten gegen Savo3ren mit Bern in Krieg käme.1)
Jetzt entfaltete es in der That am 6. Februar seine Kriegs-
fahne, aber nicht, um dem bedrängten Herzog beizustehen,
wie die V Orte gewünscht hätten, sondern um- mit den
Bernern Halbpart zu machen. Die Walliser suchten ihren
entrüsteten Sonderbundsgenossen begreiflich zu machen, sie
hätten diess thun müssen, um nicht von den Bernern srünzlich
eingeschlossen zu werden und um das Land beim alten
Glauben zu erhalten ; dem Herzog meldeten sie ein Gleiches :
sift konnten sich, wenn er seine Lande nicht zu schirmen
vermöge, mit dem neuen Glauben und den Bernern nicht
dergestalt «einthun» lassen ; übrigens seien sie bereit, ihm
später das Land gegen Erstattung der Kosten zurückzu-
sehen. Den Bernern gegenüber führten sie freilich eine
andere Sprache. Eine Abordnung, die sich am 8. Februar
im Lager zu St. Julien einfand, erklärte: da sie ver-
nommen, wie viel Land und Leute Bern eingenommen,
hätten sie sich ebenfalls aufgemacht, um das Gebiet von
St. Moriz bis Thonon zu besetzen, und bitten, ihnen diess zu
et gestes de la cito de Genövc. M&noires de Pierre fleur. Hidber,
Waadt wird schweizerisch durch die Berner. Sinner, Hans Franz
*%eli, Berner Taschenbuch 1873. Böget a. a. 0.
2) Abschiede IV lc. 584.
168 Der Lausanuer Vertrag von 1564.
lassen, damit Bern auch bei seinem Eroberten bleiben
möchte; denn es sei wohl zn erachten, dass der Herzog sich
nicht darein schicken, sondern es mit Gewalt wieder zu ge-
winnen versuchen werde ; in einem solchen Krieg könnten
dann die Walliser den Bernern gute Dienste leisten. So sah
man auch in Bern die Dinge an ; die Regierung schrieb an
die Uauptleute im Feld: «sie sollten die Walliser in Irem
Fürnämen auch ein Fädern von der Ganss zu rupfen nicht
stören, dadurch der Krieg sich hiemitt nf sy ouch lade und
wir nit allein die Last tragend.» In diesem Sinne dankten
die bernischen Hauptleute zu St. Julien den Wallisern für
ihren «tröstlichen Zuzug» und erklärten sich gern bereit,
ihnen das Gebiet jenseits der Dranse zu überlassen. Ohne
Widerstand zu linden, rückten die Walliser bis nach Evian
vor und nahmen vom 6.-22. Februar Monthey, Colom-
bey, St. Gingolph, Meillerie, Evian nebst allen
Gemeinden bis zur Dranse, sowie die Alpenthäler von Abon-
d a n c e und St. Jean d'Aulph in Besitz. Einzig die Berg-
leute von Troistorrens und Val d'Illiers, griffen für
ihren Herrn zu den Waffen und huldigten erst am 24. Fe-
bruar, als die Walliser sie ernstlich mit einem Angriff be-
drohten.1)
Aber ein noch viel gefährlicherer Gegner erhob sich gegen
Savoyen. Das kecke Vorgehen der Berner riss Franzi, von
Frankreich dazu hin, einen schon seit einiger Zeit ge-
hegten Plan in Ausführung zu bringen, durch Eroberung
Savoyens und Piemonts, wozu ihm ein zweifelhafter Erb-
anspruch als Vorwand diente, sich gewaltsam den Weg in
der Lombardei zu bahnen. Am 9. Februar theilte der an-
2) Im es eh, die Erwerbung von Evian und Monthey 1536,
(Blätter aus der Walliser Geschichte II). Abschiede IV lc. 624,
625 ff., 635, 664, 679.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 169
scheinend als Vermittler nach Bern gesandte Herr von
Boisrigaut die Absicht des Königs den bernischen Haupt-
leuten zu St. Julien im tiefsten Geheimniss mit. Am 12.
eröffnete ihnen ein zweiter Gesandter, dass bereits eine
Armee von der Dauphine her in Anmarsch sei, um Älaurienne,
Chambery und Rumilly einzunehmen, und schlug ein gegen-
seitiges Zusammenwirken vor. Zu letzterem hatte Nägeli
weder Vollmacht, noch Geneigtheit; dagegen gab er nun-
mehr seinen Vormarsch auf der Strasse nach Chambery auf,
um den König an der Besitznahme jener Städte und Lande
* nicht zu irren» und schwenkte rechts ab, um mit der Ein-
nahme des Felsenschlosses laCluse an der Rhone die Unter-
werfung des vom Jura, Mont Vuache und Salevo um-
schlossenen Genferbeckens zu vollenden. Schon am andern
Tag erlag die für uneinnehmbar gehaltene Festung dem
Angriff der Berner.1)
Damit war der Feldzug nach dieser Seite hin abge-
schlossen, und Nägeli kehrte nach Genf zurück. Schon bei
seinem ersten Aufenthalt hatte er kraft des Eroberungs-
recktes das Vidomnat und die Hoheitsrechte des Bischofs
über die Stadt für Bern in Anspruch genommen und wieder-
holte nun dieses Verlangen. Ohne Genf Hess sich an eine
Behauptung der neuen grossen Eroberungen im Norden und
Soden des Genfersces nicht denken; man darf sich daher
nicht verwundern, wenn die nüchternen bernischen Real-
politiker auf den Gedanken verfielen, sich seiuer für immer
zu versichern, indem sie es aus einer Bundesgenossin zur
Unterthanenstadt herabzudrücken suchten. Allein die Genfer
erwiderten mit Würde, wenn sie je die Absicht gehabt
J) Briefe Nägelis vom 5., 10., 13. und 14. Februar, Archiv
hwt. Bern XII 260 ff.; Ranke, Deutsche Geschichte IV 18 ff.;
Baumgarten, Karl V., III 185 ff.
170 Der Lausanner Vertrag von 1564.
hätten, ihre Stadt jemandem zu unterwerfen, so hätten sie
nicht so vieles erduldet. Leib und Gut stehe den Bernern
zu Diensten ; aber man könne nicht glauben, dass sie ge-
kommen seien, die Stadt zu unterwerfen, sondern ihr die
Freiheit zu bringen. Dank diesem kräftigen Widerstands
drangen die Befehlshaber nicht weiter in sie.1)
Am 18. Februar trat das bernische Heer den Heini-
marsch an, um auf demselben die Unterwerfung der
Waadt zu vollenden. In Morges nahm Nägeli die Huldig-
ung Veveys entgegen. Das Stammschloss des Herrn
von La Sarra gieng in Rauch auf und Yverdon kapi-
tulirte am 25. Februar unter Auslieferung aller Waffen.2)
Am l.März hielt der Feldherr, ohne einen Mann verloren zu
haben und doch mit glänzendem Erfolge gekrönt, seinen
Einzug in der Vaterstadt. Noch war indess nicht alle Ar-
beit gethan. Dem Feind war ein starker Stützpunkt in dein
gewaltigen Seeschloss C h i 1 1 o n geblieben, und am See-
ufer herrschte der B is cho f von Lau s anne, Sebastian
von Montfaucon, ein eifriger Parteigänger Savoyens, der
seine Unterthanen für das letztere unter die Waffen gerufen
hatte, in der Hoffnung, mit Hülfe des Herzogs und dos
Kaisers seine unbotmässig gewordene Hauptstadt wieder
völlig zu unterwerfen.8) Da die Besatzung von Chillon
wiederholte Aufforderungen zur Uebergabe unerwidert
Hess, erhielt Nägeli Befehl zu einem zweiten Auszug. Am
1) Abs eh. IV lc, 623, 635. Rogct, Les Suisses et Geneve
11. 214 ff.
2) Berichte NUgelis vom 25. und 26. Febr. Der vom 24. Febr.
datirte (S. 272 f.) stammt in Wirklichkeit vom 24. Januar; Februar
ist offenbar verschrieben.
3) Siehe den Brief des Bischofs datirt von Gierolles 25. Juni
im Ghroniqueur 230. Ferner Absch. IV lc, 674.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 171
20. März brach er mit 1500 Mann gegen Chillon auf, am
27. eröffnete er die Belagerung, und die mit Hülfe einer
(renfer Flotille von der See- und Landseite her einge-
schlossene Festung ergab sich schon nach zwei Tagen.
Hierauf erfolgte die Abrechnung mit dem Bischof, der auf die
Kunde von dem zweiten Auszug der Berner in der Nacht
vom 21./22. ans seinem Schloss zu Lausanne heimlich ent-
wichen war, um nicht wieder zu kehren.1) Am 31. März
durchzogen die Berner die Dörfer des weingesegneten Ryf-
thales, deren Unterwerfung entgegen nehmend, und rückten
hierauf in Lausanne ein. Am andern Tag pflanzte Nägeli
die Berner Fahne auf dem verlassenen bischöflichen Schlosse
auf und nahm von aller weltlichen Herrschaft des Kirehen-
tarstcn feierlich Besitz. Auf dem Heimweg bemächtigte er
sich noch der bischöflichen Enklaven, der Burg L u c e n s
und der zum Landstädtchen herabgesunkenen ehemaligen
Kapitale Helvetiens, Avenches. So hatte Franz Nägeli
binnen drei Monaten fast ohne Schwertstreich nicht bloss
die ganze Waadt, sondern in der Erkenntniss, dass für ihre
und Genfs Behauptung der Besitz des ganzen Genfersee-
beckens noth wendig sei, auch das Fays de G ex bis zum Fort
d'Ecluse, die Herrschaften Ga i 11 a r d und T er n i e r im
Genevois und das Chablais auf beiden Seiten des Sees
erobert oder durch die Walliser in Besitz nehmen lassen,
während die übrigen Eidgenossen sich darauf beschränkten,
theils die Bolle von wohlmeinenden, aber unberufenen War-
nern und Vermittlern, theils die von missgünstigen, im Grund
ihres Herzens dem Feinde gewogenen Zuschauern zu spielen.2)
i) Schmitt, Histoire du Dioceso de Lausanne (Memorial de
Fribourg VI 354), lässt es unentschieden, ob der Bischof nach Sa-
Toyert. wie die einen, oder nach Freiburg, wie die andern wollen,
geflohen ist.
*) Abschiede IV 1c, 606, 610, 613 ff, 627, 628 ff, 636. 642.
172 Der Lausanner Vertrag von 1564.
Schwieriger als die Eroberung niusste aber die Be-
hauptung der neuen Erwerbungen werden. Der Herzog, dem
die Franzosen in plötzlichem Anfall nicht nur sein Stamm-
land, sondern auch Piemont entrissen, war allerdings völlig
lahmgelegt. Aber unmöglich konnte der Kaiser diesen An-
griff auf seinen Schützling ruhig hinnehmen; der Wieder-
ausbruch des alten Weltkrieges zwischen Frankreich und
Habsburg stand unmittelbar bevor. Wäre die Eidgenossen-
schaft in sich einig gewesen, so hatte Bern diesen Krieg
ruhig an sich herankommmen lassen können ; aber so wie die
Dinge standen, musste es befürchten, dass die katholische
Eidgenossenschaft geradezu mit dem Herzog und dem
Kaiser gemeine Sache machen werde. Daher gieng das vor-
schauende Streben der bernischen Staatsmännner dahin, dem
Sonderbund der katholischen Orte in bezug auf Savoyen
die Spitze abzubrechen, indem sie so viel Glieder desselben
als möglich am neuen Stand der Dinge interessirten und sie
zu Theilhabern an der Beute machten. Nachdem dies mit
dem Wallis bereits geglückt war, wiederholte sich das
Gleiche mit Frei bürg, das sich nach Abbruch seiner Be-
ziehungen zu Genf ganz auf die Seite Savoyens gestellt und
diesem sogar gegen seine einstigen Bundesgenossen Söldner
hatte zulaufen lassen.1) Als jedoch die Berner bei ihrem
Aufbruch nach der Waadt freien Durcbpass verlangten,
wagte es nicht, ihnen einen Abschlag zu ertheilcn, und als
es den gefahrlosen und doch so gewinnreichen Verlauf ihres
Feldzuges sah, regte sich in ihm die Begierde, auch etwas
von den Früchten zu erhaschen. Bern zog diese Stimmung
klug zu nutze, indem es Mitte Februar den Freiburgern das
Anerbieten machte, ihnen Romont undRue zu überlassen.
l) Abschiede IV lc. 609, 765.
Der Lau sanner Vertrag von 1564. 173
}>*amg giengen diese darauf ein, ihre Schwenkung vor den
V Orten und dem Herzog mit den gleichen Argumenten wie
•li** Walliser rechtfertigend, und verlangten, als sie die Be-
reitwilligkeit der Berner wahrnahmen, noch gleich St.
Aub!n.Stäffis,LaMoliere,Surpierre,Vuissens,
Vaulruz, Chätel St. Denis, Bossonens,
A 1 1 a 1 e n s , Vevey und Montreux dazu, was ihnen die
Ferner, mit Ausnahme der beiden letztern, alles zugestanden.»)
IVr mühelose Landerwerb reizte die Freib arger sogar zu
:mrn<*r grössern Ansprüchen. Die von Bern als Entgelt
verlangte Versicherung, dass sie die eroberten Lande be-
nutzen helfen sollten, wollten sie nur geben, wenn ihnen
•IiV Hälfte davon abgetreten würde; umgekehrt wollten sie
nicht gestatten, dass Bern den Grafen von Greyerz, der ihr
Mitbürger sei, als Lehnsmann Savoyens zur Huldigung
aothige. Die Verhandlungen zwischen Bern und Freiburg
nahmen darüber einen so gereizten Charakter an, dass das
.-tztere die katholischen Orte bereits zur Kriegsbereitschaft
jiahnte. Doch erfolgte schliesslich ein Vergleich, indem die
Körner auf die Huldigung des Grafen verzichteten und den
Fmburgern zu den früheren Erwerbungen noch Corbieres,
s)wie die bischöflichen Herrschaften Bulle und Laßoche
iberliessen. Anstände mehr untergeordneter Natur wurden
im Lauf des Jahres 1537 durch Schiedssprüche der vier Orte
Zürich, Luzern, Schwyz und Basel beseitigt.2)
Im übrigen richtete nun Bern in dem neuen Gebiete mit
tt-iter Hand seine Herrschaft auf und duldete keine unklaren
M Abschiede IV lc. 612, 627, 637, 639 f., 643, 645, 647,
♦4* f., 653 ff.
«j Abschiede IV lc. 649, 652, 657 ff., 660, 661 ff., 675, 685,
•2*1 ff.. 755, 765, 769, 775, 779 ff., 795, 804 ff., 806 ff., 815, 824 ff..
-2* 836 ff., 877.
174 Der Lausanner Vertrag von 1564.
Verhältnisse. Payerne und Avencbes mussten ihre
alten Burgrechte mit Freiburg aufgeben, um fortan ganz
allein ihrem neuen Oberherrn Bern zu gehören.1) Ihre «lieben
Mitbürger» von Lausanne behandelten die Berner möglichst
schonend. Sie überliessen ihnen in einem am 1. Nov. 1536
ausgestellten Privileg, der sogen, petite largition, die hohe,
mittlere und niedere Gerichtsbarkeit in dem ehemals bischöf-
lichen Gebiete von der Venoge bis zur Veveyse, mit Aus-
nahme der vier Kirchspiele von Lavaux und des Schlosses
üuehy, sammt einem reichlich bemessenen Antheil an den
Kirchen- und Klostergütern in diesem Umkreis ; aber sie be-
hielten sich ausdrücklich die Souveränitätsrechte, d. h. die
Münze, das Begnadigungs- und Mannschaftsrecht und die
letzte Appellation vor. Damit war Lausanne aus einer
Bundesgenossin eine wenn noch so freigestellte Unterthanen-
stadt Berns geworden und, wie die kleinen Städte, wurde es
ebenfalls angehalten, sein Burgrecht mit Freiburg zu lösen.*)
Selbst Genf gegenüber erneuerte der Rath von Bern die
Forderung in betreff des Vidomnats und der bischöflichen
Rechte, begnügte sich aber schliesslich damit, dass dem
Burgrecht ein «ewiger Vertrag» vom 7. August 1536 hin-
zugefügt wurde, durch den Genfsich verpflichtete, zu allen
Zeiten im Krieg und im Frieden «den Herren von Bern.'
offen zu stehen und ohne ihr Wissen und Wollen keinerlei
anderweitige Verbindungen eingehen oder einen andern
Schirm anrufen zu wollen.3)
Das ganze eroberte Gebiet wurde einheitlich organisirt
und zunächst in sechs Landvogteien mit den Sitzen Yver-
0 Abschiede* IV lc. 726, 835, 869, 901, 907, 924.
2) Abs chiede IV lc. 745, 766, 770, 869, 916, 941. Mem.
et Doc. Suisse Rom. VII 768.
3) 0 e c hs 1 i , Orte u. Zugewandte 452.
Der Lausanner Vertrag von 15G4. 175
don, Moudon, Chillon, Lausanne, Gex und
Thonon getheilt.1) In jeder Landvogtci wurde ein Ober-
Bericht anter dem Vorsitz des Landvogts bestellt mit den
Attributen des ehemaligen Obergerichts zn Moadon und als
oberste Appellationsinstanz die «wälsche Appellati onskainin er»
in Bern geschaffen, während anderseits den Gerichtsherrn
befohlen wurde, regelmässige Untergerichte von 12 Ge-
schworenen einzusetzen.2) Die alten Landstände der Waadt
worden nicht förmlich abgeschafft, aber die Trennung des
freiburgischen Theils und der Anschluss bisher fremder Ge-
biete, sowie die religiöse Umwälzung machten ihre Beibe-
haltung in der bisherigen Form faktisch unmöglich. Erst
nach der definitiven Auseinandersetzung mit Savoyen lebte
tine Ständeversammlung der bernischen Waadt wieder auf.
Von 1535 bis 1570 hat die Waadt keine Stände gesehen.8)
Im übrigen blieb die Lokalverwaltung der Städte und
Seigneurien fast unberührt. So wie die Regierung beim Er-
oberungszug den Mannschaften aufs strengste verboten hatte,
in der Waadt zu verheeren und zu plündern, um die Be-
völkerung nicht von vornherein gegen sich zu erbittern,
60 Hess sie ihr, wo immer möglich, die bisherigen Hechte
und Gewohnheiten, immerhin unter dem Vorbehalt, offenbart-
Missbräuche zu beseitigen.4)
Nur auf einem Gebiete giengBern revolutionär und ge-
waltsam vor, auf dem der Kirche ; aber es war dies eine
absolute Notwendigkeit, um die neue Landschaft unwider-
*j Grenus, 200. Till ier III, 365. Später wurden noch
Landvogteien in Avenches, Payerne, Morgcs, Nyon, Romainmotier,
ßoamoot und Ternier errichtet.
*) Grenus XXI; 201.
»j Grenus XXIX.
4j6renu8 196, 201, 210, 220.
176 Der Lausanner Vertrag von 1564.
ruflich an den bernischen Staat zu ketten. Dass Bern alle
seine Eroberungen «lutherisch» machen werde, galt als so
selbstverständlich, dass Freiburg und Wallis gerade damit
ihren Raub vor dem Herzog und den katholischen Miteid-
genossen rechtfertigten. Einstweilen sorgte es für unge-
hemmte Wirksamkeit der evangelischen Prediger, so Yiret's
in Lausanne, Fabri's in Thonon; dann griff es, ohne sich
durch eine kaiserliche Abmachung abwendig machen zu
lassen, zu dem beliebten Mittel der Disputation. In der
ersten Woche des Oktober 1536 hallte die ehrwürdige
Lausanner Kathedrale von den Keulenschlägen wieder, die
Farel und Viret gegen den papistischen Götzendienst führten ;
im Hintergrund Btand die mächtige Gestalt Calvins. Der
Ausgang konnte nicht zweifelhaft sein ; noch vor Beendigung
der Disputation begann der Bildersturm in der Kathedrale.
Am 19. Oktober befahl die bernische Regierung ihren Land-
vögten, die Bilder und Altäre aus den Kirchen zu entfernen,
und am 24. Dezember ergieng ein grosses Reformationsedikt
für die welschen Lande.1) Mit der Reformation war die
Einziehung des reichen Kirchen- und Klostergutes verbunden,
in das sich die Herrscherstadt redlich mit den Unterthanen
theilte. Wenn der berühmte Kirchenschatz der bischöflichen
Kathedrale nach Bern abgeführt wurde und dieses sich über-
haupt alle Güter des Bisthums und Domkapitels vorbehielt,
so bekam Lausanne ausser seinen fünf Pfarrkirchen die zwei
Klöster in der Stadt und vier (St. Sulpice, Montheron, Belle-
vaux und St. Catherine) ausserhalb derselben mit allen Gü-
tern unter der Bedingung als Eigenthum , dass es den
Mönchen und Nonnen , die sich der Reformation an-
schlössen, lebenslänglichen Unterhalt gewähre. Später kamen
J) V u 11 i e m i n , Le Chroniqueur 303 ff., 315 ff., 340, 348 ff. ;
G r e n u s 203 ff.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 177
noch Wälder ans dem Besitz des Domkapitels hinzu. Payerne
«rhielt die Abteigeb&ude nebst den Garten im Stadtbann and
Weinbergen in Lavaux. Der Ursprung der meisten Bourses-
des-Pauvres und mancher reichen Gemeindegüter im Kanton
Waadt geht auf die Schenkungen zurück, die Bern den Ge-
meinden ans dem Kirchengut machte. Moudon erhielt die
Mittel, um eine Schule zu unterhalten. 1537 wurde in
Lausanne die Akademie ins Leben gerufen und wenig später
das Seminar der «zwölf Schüler der Herren von Bern» da-
mit verbunden.1)
Wenn wohl die Mehrheit der Bevölkerung die Refor-
mation zunächst nur gezwungen annahm, so gieng diese doch
dem Waadtland rasch in Fleisch und Blut über, und damit
vollzog sich die innerliche Trennung von dem katholischen
Savoyen. Als der Augenblick kam, wo der Sohn Karls III.
das ihm entrissene Erbe zurückverlangte, da wollte die neue
Generation, die inzwischen in der Zucht der reformirten
Kirche aufgewachsen war, von der Herstellung der Herr-
schaft des katholischen Fürstenhauses nichts mehr wissen
und stand entschlossen und treu zu Bern.
m. Der Friede von Cateau-Cambresis.
Es war für die Befestigung der bernischen Herrschaft
in der Waadt ein unberechenbarer Vortheil, dass ihr die
französische Okkupation in Savoyen fast ein Vierteljahr-
hundert hindurch als Vormauer diente. So lange die Fran-
zosen in Piemont und Savoyen standen, hatte der Herzog
*) Memoires et Docum. Suisse Rom. VII, 771 ; 2e serie I
(Extrattsdes Manuaux duConseil de Lausanne, publ.parC havannes)
27 ff., 130, 134. Grenus 209. V erdeil, Hist. du Ct de Vaud II
47. Tillier 371. Marti gnier et Crousaz, Lausanne.
12
178 Der Lausanner Vertrag von 1564.
keine Aussicht, sich wieder am Genfersee festzusetzen, and
jene schienen das wichtige Passageland zu beiden Seiten
der Westalpen dauernd ihrem Reiche einverleiben zu wollen.
Wohl eröffnete Karl V. wegen der Wegnahme Piemonts un-
verzüglich den Krieg; aber dieser nahm einen solchen Ver-
lauf, dass sich der Kaiser schliesslich genöthigt sah, in dem
zehnjährigen Waffenstillstand, den er am 18. Juni
1538 mit Franz I. za Nizza abschloss, Savoyen preiszu-
geben. Karl III. mii8ste, um nicht aus Nizza, seinem
letzten Zufluchtsort, vertrieben zu werden, zu diesem Ver-
trag, der ihn auf zehn Jahre des grössten Theiles seines
Fürstenthnms beraubte, seine ausdrückliche Zustimmung
geben.1) Da konnte Bern eine im April 1542 von Speyer
aus ergangene Aufforderung des römischen Königs und der
Reichsstande, dem Herzog das Seine zurückzuerstatten, getrost
anf sich beruhen lassen, wiewohl ihm die katholischen Orte
bei diesem Anlass nngescheut erklärten, sie würden, falls
ans seinen Eroberungen Gefahr entstünde, sich «solcher
fremden Sachen» nicht annehmen.2)
Schon bedenklicher gestaltete sich die Lage beim
Friedensschluss von Crepy (18. Sept. 1544), in
welchem Karl V. und Franz I. das Abkommen trafen, dass
der zweite Sohn des Königs, der Herzog von Orleans, ent-
weder die Tochter des Kaisers mit den Niederlanden oder
dessen Nichte mit Mailand als Aussteuer erhalten, und dass
dafür der Herzog von Savoyen wieder in seine Lande ein-
gesetzt werden solle. An diese Verschwägerung sollte sich
ein enges Bündniss der beiden Monarchen zur Unterdrück-
*) Üumont, Corps universel diplomatique IV 2, 170, 172.
Ranke, Deutsche Gesch. IV 85. Baumgarten, Karl V.. III
241 ff.
2) Abschiede IV 1 d, 142, 145, 171.
Der Lausannes Vertrag von 1564. 179
ung der Ketzerei knüpfen, und die gräuelvoiie Niedermetzel-
ang der Waldenser in der Provence im April 1545 schien
dafür zu bargen, dass es Franz I. damit ernst sei1). Jetzt
wurde Bern doch um seine Eroberungen bange, und es stellte
im Juni 1545 die bestimmte Anfrage an die eidgenössischen
Kitstände, wessen es sich von ihnen zn versehen habe, wenn
es wegen- der neuen Lande angefochten würde.
Im Zeitalter der Burgunder- und Mail&nderkriege wäre
eine solche Anfrage wohl überflüssig gewesen ; damals hätte
es als selbstverständlich gegolten, dass für einen Ort, der in
seinem Besitzstand bedroht wurde, die ganze Eidgenossen-
schaft eintrete. Aber seit der Glaubensspaltung war diess
£olidaritfiteprinzip, dem die Eidgenossenschaft ihre Stärke und
ihre Erfolge verdankte, ins Wanken gerathen; die Idee des
schweizerischen Vaterlandes, die sich in der Heldenzeit so
mächtig: entwickelt hatte, erlag der zersetzenden Wirkung
des konfessionellen Haders*). Bern erhielt auf sein wieder-
holt angebrachtes Begehren keine Antwort. Wie die
katholischen Orte in der Sache dachten, war bekannt ; darob
wurden auch die evangelischen unsicher, und Zürich mahnte
schliesslich Bern, ron seinem Drängen auf Antwort in An-
betracht der politischen Umstände abzustehen, worauf dieses
in der That die Sache einstweilen ruhen liess, zumal die un-
mittelbare Gefahr sich wieder verzog.8) Am 8. September
»jDumont IV 2, 289. Ranke IV 227 ff. Martin,
HUtoire de France VII 305 f., 333 ff.
*J Zuerst hatte sich das im Müsserkrieg gezeigt. 0 echsli, Orte
and Zugewandte 118 ff.
*) Abschiede IV ld 490, 545, 599, 609. Vgl. auch Geiser,
Heber die Haltung der Schweiz während des Schmalkaldischeu
Krieges (Jahrbuch für Schweiz» Gesch. XXII, p. 218 ff.), wo der in-
teressante Nachweis geführt wird, dass Bern aus Besorgniss für
**ine aavoyischen Lande ein aktives Eingreifen in den deutschen
Glaubenskrieg anstrebte.
180 Der Lausanner Vertrag von 1564.
1545 starb nämlich der Herzog von Orleans, ehe die geplante
Heirath zustande gekommen, und damit fielen die Abmach-
ungen des Friedens von Crepy dahin. Der Kaiser behielt
Mailand, der König Piemont, und die Restitution des Her-
zogs war wieder in weite Ferne gerückt.
Karl III., der 1553 starb, sollte sie nicht mehr erleben.
Sein Nachfolger EmannelPhilibert, einer der fähigsten
Fürsten der an hervorragenden Persönlichkeiten nicht armen
savoyi8chen Dynastie, knüpfte sein Schicksal noch enger als
sein Vater an die Politik des Hauses Habsburg. Als Erb-
prinz verdiente er sich iin Gefolge Karls V. seine Sporen im
schmalkaldischen Kriege. Im Vollgefühl des Sieges der
kaiserlichen Sache, die zugleich die seinige war, richtete der
Zwanzigjährige am 19. August 1548, in den Tagen, da die
Spanier Konstanz stürmten, von Ulm aus ein selbstbewusstes
Schreiben an die Eidgenossenschaft, mit welchem er einer
Gesandtschaft seines Vaters den Weg zu bahnen suchte, die
in Bern und Freiburg, sowie auf der Tapsatzung die Rück-
erstattung der Eroberungen forderte. Von irgend einem Er-
folg dieses Schrittes konnte freilich keine Rede sein. In
Bern gieng die Stimmung dahin, «eher keinen Stein auf dem
andern bleiben zu lassen, als die neu gewonnenen Lande
herauszugeben», und auch der Nachfolger Franz I.y
Heinrich II., Hess den Bernern erklären, er denke nicht
daran, Piemont herauszugeben, und begehre, dass sie ihr
Land auch behalten. Nur eines erreichte Einanuel Philibert,
einen abermaligen Beschluss der katholischen Orte, den
Bernern des neu gewonnenen Landes halber keinen Beistand
zu leisten.1) Der uneidgenössische Charakter dieser Er-
i) Abschiede IV ld 1020, 1021, 1065. 1072, 1079; IV le 3,
9, 20, 41, 55. Das bei Guichenon Buch VI p. 501 abgedruckte
Schriftstück aus dem Turiner Archiv, wonach ein kaiserlicher
Der Lausanner Vertrag Ton 1564. 181
klarung erhellt so recht deutlich daraus, dass dieselben Orte
bei der gleichzeitigen Erneuerung der französischen Allianz
(I. Juni 1549) sich zur Vertheidigung der von Frank-
reich okkupirten savoyischen Lande verpflichteten, wie wohl
sie einige Skrupeln darüber empfanden, dass es nicht gerade
anständig sei, Frankreich die Hülfe, die man den Bernern ver-
weigerte, zu gewähren, da diese doch ewige und ältere
Bundesgenossen seien. «Aber», bemerkt ein päpstlicher
Agent dazu, «vom König haben sie eben mancherlei Vor-
teile, von den Bernern nichts anderes als Frieden.»1)
Im September 1551 entbrannte der Kampf zwischen
den Habsburgern und den Valois von neuem. Der junge
S&voyerfürst bewährte sich in demselben als kaiserlicher
Truppenführer mit steigendem Ansehen, bis er, schliesslich
Herold, gestützt auf ein kammergerichtliches Urtheil, am 14. April
1548 die Berner zur Rückerstattung der savoyischen Laude samt
200O0O Thalern Schadenersatz aufgefordert und durch Androhung
der Kriegserklärung von Seite des Kaisers zur besiegelten Zusage
bewogen haben soll, erweist sich auf den ersten Blick als eine
plompe Fälschung. Wie wenig der Kaiser damals daran dachte,
durch Kriegsdrohungen die Eidgenossen vor den Kopf zu stossen,
geht aus den Abschieden (IV ld 927 und 942) zur Evidenz her-
vor. Sollte diese Fälschung etwa mit dem mysteriösen «Brief und
Siegel» identisch sein, worin nach der Behauptung der savoyischen
Gesandten Bern dem Herzog die Rückgabe der Laude versprochen
haben sollte? Von den Bernern in der Tagsatzung zu Baden,
Februar 1549 aufgefordert, den betreffenden Brief vorzuweisen, ent-
schuldigten sie sich damit, es habe das in ihrer Instruktion ge-
standen, aber der Fürst könne den Brief nicht finden, was ihnen
von den Bernern die derbe Zurechtweisung zuzog, es sei nicht
fürstlich, einem Gesandten etwas in Brief und Siegel zu geben und
bernach nichts davon wissen zu wollen. Abschiede IV le 41.
*) Wirz, Akten über die diplomatischen Beziehungen der
römischen Curie zu der Schweiz 1512—1552, S. 462, 465.
182 Der Lausanner Vertrag von 1564.
von Philipp II. zum Statthalter der Niederlande und Ober-
befehlshaber der dort gesammelten Armee ernannt, durch
den glänzenden Sieg bei St. Quentin (10. August 1557)
dem Krieg die entscheidende Wendung gab. Bei den
Friedensverhandlungen, zu denen das ermüdete Frankreich
im Herbst 1558 die Hand bot, stellte Philipp II. die Forder-
ung, dass sein ruhmbedeckter Feldherr seine angestammten
Lande wieder erhalten müsse, in erste Linie. Die Versuche
der Franzosen, Piemont und Savoyen dadurch zu retten, dass
sie Emanuel Philibert eine entsprechende Gebietsentschädig-
ung- im Innern Frankreichs in Aussicht stellten, wurden von
diesem mit Entrüstung zurückgewiesen, und so mussten denn
die französischen Unterhändler am 18. Oktober 1558 im
Prinzip in die Restitution der savoyischen Lande ein-
willigen.1) Nachdem die Franzosen in diesem Punkte nach-
gegeben, räumte der Tod der Gemahlin Philipps, Maria der
Blutigen von England, ein anderes Haupthinderniss de»
Friedens, die Frage der Rückerstattung des von Guise er-
oberten Calais an die Engländer, aus dem Wege, indem die
Spanier nun kein Interesse mehr daran hatten, den Fran-
zosen diesen magern Ersatz für Pieinont zu verweigern. So
wurde am 3. April 1559 zu Ca te au- Cam br 6 s i s der
Friede zwischen Frankreich und Spanien unterzeichnet, der
dem Ringkampfe zwischen den beiden Hauptmächten des
Kontinents für längere Zeit ein Ende bereitete.
Wie im Frieden von Cr6py, sollten Familien Verbind-
ungen zwischen den rivalisirenden Dynastien die Grundlage
für die künftige Freundschaftsära bilden, und dabei war auch
dem Herzog von Savoyen eine Rolle zugedacht. Der Ver-
trag von Cateau-Cambresis stipulirte eine Doppeiheiratu
!) Weiss, Papiers d'Etat du Cardinal de Granvelle V 173, 176,
181, 187, 196, 244—248, 257, 268, 272.
Der Lausanne* Vertrag von 1564. 183
zwischen Philipp II. und Elisabeth, der Tochter, und
zwischen Einanuel Philibert und Margaretha, der
Schwester des Königs von Frankreich. Heinrich II. gab
seinem künftigen Schwager alle Eroberungen heraus, ausge-
nommen Turin und vier weitere feste Plätze in Piemont,
die noch drei Jahre in französischem Besitz verbleiben
sollten; ausserdem brachte die französische Prinzessin dem
Herzog die Einkünfte des Herzogthums Berry und eine Mit-
gift von 300 000 Kronen zu. Dafür sollte Emanuel Philibert
mit all seinen Landen künftig nentral und «der gemeinsame
Freund des allerchristlichsten und des katholischen Königs»
bleiben.1)
So war der noch eben landerlose Fürst, der nicht viel
mehr sein eigen nannte als sein Schwert, mit einem Schlage
wieder Herr eines Staates geworden, der von der Saone bis
zur Sesia und bis zum Meere reichte, umgeben vom Ruhmes-
schi in mer einer der ersten Waffenthaten des Jahrhunderts
und in enger Verwandtschaft verbunden mit den mächtigsten
Monarchen des Abendlandes. Bern und Genf hatten an
Emanuel Philibert einen gefährlichen Feind erhalten, einen
Feind, der, in der Vollkraft seiner Jahre, im Bewusstsein
seiner Fähigkeiten und seiner ausnehmend günstigen Lage,
entschlossen war, alsbald an die Herstellung des vollen Um-
fangs, den der Staat seiner Väter besessen hatte, zu gehen.
IV. Der Sonderbund der katholischen Orte mit Savoyen.
Mit gespanntester Aufmerksamkeit hatte Bern den (rang
der Weltbegebenheiten verfolgt und nichts versäumt, um
seine gefährdeten Interessen dabei zu wahren. Als unmittel-
bar nach der Schlacht bei St. Quentin der in spanischen
1 j Dumont, Corps diplom. V 1, 38—40.
184 Der Lausanner Vertrag von 1564.
Diensten stellende Elsässer Bollwiler ein Heer von 12 OOO
Mann durch die Freigrafschaft nach Süden führte, um die
Wiedereroberung des von Frankreich besetzten savoyischen
Gebietes zu beginnen, veranstaltete es im Verein mit Freiburg
und Wallis ein starkes Aufgebot zum Schutz seines Gebiets.1)
Auf die erste Kunde von den bevorstehenden Friedensver-
handlungen stellte es schon im August 1558 an den fran-
zösischen Gesandten das Begehren, dass seine von
Savoyen eroberten Lande in den Frieden eingeschlossen
werden möchten, und wiederholte dasselbe in einem Schreiben
an Heinrich IL selber. Allein man begreift, dass der König,
nachdem er sich entschlossen hatte, seinen Antheil an der
Savoyerbeute zu opfern, keinen grossen Eifer zeigte, den
Bernern den ihrigen zu sichern. <Was den Brief der Herren
von Bern an uns betrifft», schrieb er am 24. November an
seinen Gesandten in der Schweiz, den Herrn von Coignet,
«können Sie nichts besseres thun, als den Einschluss der er-
oberten Lande in den Frieden möglichst auf die lange Bank
zu schieben, da es klarer ist als der Tag, dass sie weder
eingeschlossen werden können noch sollen» ; doch wolle er,
ehe er den Bernern einen Korb gebe und ihnen alle Hoffnung
benehme, den Verlauf der Friedensverhandlungen abwarten.3)
So wurde zwar wohl die Eidgenossenschaft im All-
gemeinen in den Vertrag von Cateau-Cambresis mit einge-
schlossen, aber der bernischen Eroberungen absichtlich darin
nicht gedacht und Emanuel Philibert in Bezug auf sie
freie Hand gelassen. Noch war der Friede nicht einmal unter-
i) A b seh ie de, IV 2, 53, 54, 58.
*) «Quant a la lectre que les seigneurs de Bernenous ontescript.
vousne scauriez mieulx faireque deremectreen laplus grande longueur
quil vous sera possible le premier poinet qui est celuy de la compre-
hension des pays conquis au traicte de paix ou il est plus clair que le
Der Lausann er Vertrag von 1564. 185
zeichnet, als der Herzog schon an Bern Briefe abgehen
Hess, worin er die Zurückstellung seiner Lande und die
Wiederherstellung des alten Bundesverhältnisses begehrte,
und Heinrich II. wies am 16. März 1559 seinen Botschafter
in der Schweiz an, der Absicht des Herzogs in keiner
Weise entgegenzuwirken. Die Forderung Emanuel Phili-
berts gelangte schon am 21. April gleichzeitig mit dem
Frieden von Cateau-Cambräsis im bernischen Grossen Käthe
zur Verlesung.1) Damit war gewissermassen der Krieg
Savoyens gegen Bern angekündigt, und eine Weile hatte es
den Anschein, als ob in demselben auch sogleich das Schwert
würde gezogen werden.
Es ist bekannt, welche welthistorische Folgeu Bern's
muthigo That von 1536 gezeitigt hat. Der von ihm
Savoyen abgenommene und protestantisch gemachte ro-
manische Erdenwinkel war das Centrum der Häresie, das
von ihm beschirmte Genf das Asyl der Religionsflüchtlinge
aller Länder, die Metropole des Protestantismus geworden,
von wo aus der geistesmächtige französische Reformator
durch seine Schriften und seine Sendlinge in staunenerregen-
jour quilz ne peuvent ny doibvent estre compris. Toutes foys avant
que de les cn eseonduire et desesperer du tout Je serey bien aise de
reoir ce qui debvera reussir du faict de la paix.» Heinrich 11. an
lioignet, St. Germain 24. Nov. 1558; vgl. auch die Briefe vom 12. Sept.
1558 und 5. Jan. 1559. Ich verdanke der Güte des Herrn Bundes-
archivar Dr. K a i s e r die Mittheilung der dem Bundesarchiv einver-
leibten Kopien der einschlägigen Akten aus den Archiven in Paris und
Turin.
i) Heinrich IL an Goignet, 16. März 1559. Zehender's Tage-
buch, Archiv des bist. Vereins Bern V, 24. Antwort Berns auf das
Schreiben Em. Philiberls vom 22. April 1559, Staatsarch. Bern,
Savoyen 1545—65.
186 Der Lausanner Vertrag von 1564.
der Thätigkeit Frankreich, die Niederlande, Schottland, Un-
garn und Polen Rom zu entreissen drohte. Kein Name war
daher den glaubenseifrigen Katholiken verhasster, als der-
jenige Genfs, dieses Ansteckungsheerdes, der die Welt mit
seinem Gift verpestete. Jetzt schien endlich der Augenblick
gekommen, denselben auszuräumen. Emanuel Philibert
brannte vor Begierde, die Stadt, auf die er ein erbliches
Anrecht zu haben glaubte, in seine Gewalt zu bringen und
dem ketzerischen Unwesen ein Ende zu machen. Papst
Paul IV. erklärte sich bereit, das heilige Unternehmen
finanziell zu unterstützen und forderte die katholischen Höfe
zum Beistand auf; in ihrem Nest, sagte er, muss man die
Natter ersticken.1) Und Heinrich IL von Frankreich, der
sich für den Verlust von 198 festen Platzen, welche ihn der
Friede von Cateau-Cambresis kostete, mit dem Gedanken
tröstete, dass er nun im Verein mit seinem Schwiegersohn r
dem König von Spanien, an die allgemeine Ausrottung der
Ketzer in seinem Reiche, in den Niederlanden, in der ganzen
Christenheit gehen könne, schlug in der That dem Herzog
von Alba, der den König von Spanien bei der Hochzeit mit
Elisabeth vertrat, ein gemeinsames Vorgehen gegen die Stadt
Calvins vor. «Genf», Hess er dem Spanier am 24. Juni 1559
durch den Connätable von Montmorency sagen, «ist die Brut-
stätte dieses ganzen Verderbens ; dahin flüchten die verur-
theilten Unterthanen beider Könige; von da aus trägt man
die Unordnung in beide Reiche.» Er und der König von
Spanien müssten sich daher verständigen, dieses Genf zu
zerstören ; dann könnten ihre Unterthanen nirgends mehr hin
flüchten, ohne alsbald ausgeliefert zu werden. Er stelle zu
*) Brief von Karl Borromäus im Turiner Archiv, citirt von
VuHicmin's Gesch. der Eidgenossen 11, 24.
Der Lausauner Vertrag von 1564. 187
diesem Zweck alles, was er an Streitkräften besitze, dem
König Ton Spanien znr Verfügung.
Man sieht, Genf hatte seine guten Gründe, auf die War-
nungen, die ihm von allen Seiten zukamen, sich nach Kräften zur
Verteidigung zu rüsten und die ganze Bürgerschaft zur Fron«
arbeit an den Befestigungswerken heranzuziehen. Sein bester
Schirm war freilich, dass es durch das Burgrecht mit Bern
ein Bestandtheil der Eidgenossenschaft geworden war und
dasa die ersten Mächte des Erdtheils vor dem Risiko eines
Zosammenstosses mit den noch immer als unbesieglich gel-
tenden Schweizern zurückscheuten. «Was Genf betrifft,»
schrieb Alba an seinen König, «so bin ich dem Counetable
auf dein Weg, den er mir wies, nicht gefolgt, weil es mir
der Sache Eurer Majestät nicht zu frommen schien, den
Franzosen die Mittel an die Hand zu geben, jemals sagen
zu können, dass Eure Majestät etwas gegen die Schweizer
habe unternehmen wollen.»1)
Wie seltsam verknüpft erscheinen doch manchmal die
Faden der Weltbegebenheiten! In dem Moment, wo Frank-
reich bereit war, den Savoyerherzog auf Genf loszulassen.
legte ihm Alba, der hernach die Calvinisten der Niederlande
zu Tausenden dem Tode überlieferte, den Zügel an und han-
delte damit durchaus nach dem Sinne seines Herrn, der zwar
den Ketzerverbrennungen mit derselben Wonne wie den
Stiergefechten beiwohnte, der aber seine Mitwirkung zum
Angriff auf die Brutstätte der Häresie versagte, weil er es
um keinen Preis mit den gefürchteten Schweizern verderben
wollte.
l) Depesche des Herzogs von Alba an Philipp IL vom
26. Juni 1559 bei M i g n e t , Journal des Savants 1857, S. 170 ff.
Ueber Genfs Rüstungen s. R o ge t , Histoire du peuple de Geneve V,
250 ff.
188 Der Lau sanner Vertrag von 1564.
Die Turnierlanze, die Heinrich II. fünf Tage nach jener
Unterredung tödtlich verwundet niederstreckte, beraubte
Einanuel Philibert der kräftigen Unterstützung, welche jener
«einem künftigen Schwager gegen Genf in Aussicht gestellt
hatte. Von den im Namen Franz II. regierenden Guisen,
deren Politik sich anfänglich in antispanischen Bahnen be-
wegte, erhielt er als Schützling Philipps II. nur schöne
Worte,1) aber auch von Philipp II. selber schliesslich eine
derbe Abfertigung. Am 21. Juni 1560 schrieb der Kardinal
Granvella, der im übrigen die Gefühle der Katholiken gegen
Genf vollkommen theilte,2) an den König von den Nieder-
landen aus, man schreibe ihm aus Italien und Deutschland,
dass der Herzog von Savoyen einen Handstreich auf Genf
plane und seine Majestät um Unterstützung angehe. Er wisse
zwar wohl, dass die Umgebung Emanuel Philibcrt's ihn un-
ablässig zu einem solchen Schritte dränge; aber ein Versuch
der Art habe die Vertreibung seines Vaters herbeigeführt;
der Herzog sollte sich erst im eigenen Lande recht befestigen,
ehe er an Unternehmungen nach aussen denke. Er habe es für
seine Pflicht gehalten, ihm diesen Bat zu geben. Für den König
könnte eine Unterstützung Savoyens grosse Verlegenheiten
zur Folge haben, vor allein die Sicherheit der Freigraf-
schaft kompromittiren. «Die Schweizer könnten daraus den
Vorwand nehmen, in die Freigrafschaft Burgund einzufallen,
und, wenn sie zu diesem äussersten schritten, glaube ich
nicht, dass wir jemals wieder zum freien Besitz derselben
gelangen würden.» Philipp II. pflichtete seinem Minister
völlig bei : «Sie haben gut daran gethan, mich vor den Pro-
jekten meines Vetters, des Herzogs von Savoyen, gegen
r) Guichenon, Histoire Genäalogique 680.
2) «Le Heu le plus infame et le plus infect, la sentine et abyine
des heresies» nennt er es einmal. Papiers d'Etat VII, 613.
Der Lau sann er Vertrag von 1564. 189-
Genf zu warnen ; denn sie bieten in der That die Nachtheile,
auf die Sie aufmerksam machen. Auch habe ich, als mir in
seinem Namen davon gesprochen wurde, wie es früher von
Seite des Papstes geschehen war, in einer Weise geantwor-
tet, dass ihm die Lust vergangen ist, darauf zurück zu
kommen.*1)
Bei den spanischen Politikern wurde also der Hass gegen
die Stadt Calvins durch die Rücksicht auf die schwierig zu
vertheidigende Freigrafschaft aufgewogen. Sie betrachteten
die Schweizer als die unentbehrlichen Hüter dieser isolirten
Provinz gegen Frankreich. Um der Freigrafschaft willen
hatte das Haus Habsburg 1511 die Erbeinung mit den Kan-
tonen geschlossen und Philipp sie 1557 erneuert, und wirk-
lich war es einzig dem «getreuen Aufsehen» der Eidgenossen
auf dies Land zu verdanken, wenn Frankreich in den ver-
schiedenen Kriegen in die Neutralisirung desselben gewilligt
hatte. Jeder Schritt, der direkt oder indirekt den Bruch
der Erbeinung herbeiführen würde, schrieb Granvella noch
1564, wäre das offenbare Verderben für die Freigrafschaft,
«weil der Name der Schweizer allein uns bis auf diesen Tag
dazu gedient hat, das Land gegen Frankreich zu schützen.»
Unfehlbar, meint er, würde bei einem solchen Anlass das
alte Projekt einer Theilung dieser Provinz zwischen den
Schweizern und Frankreich heraufbeschworen.2)
Diese Haltung Spaniens wirkte ernüchternd auf die Curie
zurück. Der Nachfolger Pauls IV., Pius IV., wies den sa-
voyischen Gesandten, der ihn um Unterstützung zum Angriff
>) Weiss, Papiers d'Etat du Cardinal de Granvelle Vi,
103, die Antwort Philipp's IL vom 7. September 1560, p. 153.
«) Weiss, Papiers d'Etat du Cardinal de Granvelle VIII, 397.
V>1. Maag, die Freigrafschaft Burgund und ihre Beziehungen zur
Eidgenossenschaft, 45 ff.
190 Der Lausanner Vertrag von 1564.
auf Genf ersuchte, fast unwirsch zurück, und zu dem vene-
tianiscben Botschafter sagte er, er wolle von diesen Ideen
des Herzogs von Savoyen nichts wissen und wundere sich,
dass er solche Dinge betreibe; zu der Unternehmung auf
Genf sei jetzt die Zeit nicht angethan.1)
Wenn die katholischen Mächte aus Furcht vor den
Schweizern und aus gegenseitigem Misstrauen nicht wagten,
Emanuel Philibert ihre Unterstützung gegen das verhasste
Genf zu leihen, um wie viel weniger zu einem direkten An-
griff auf Bern, zu dem er allein zu schwach war. Wohl
erklärten sich Frankreich und Spanien bereit, dem Herzog
nach Kräften zur Wiedererlangung Beiner Lande behilflich
zu sein9); aber diese Unterstützung konnte sich bei den Be-
ziehungen beider Mächte zu den Schweizern nur auf diplo-
matischem Felde bewegen3), und zudem trachteten beide dar-
nach, sie so einzurichten, dass die Empfindlichkeit der «Herren
von Bern» als des mächtigsten Kantons möglichst geschont
wurde.4) Philipp IL wagte nicht einmal, ein ihm 1560 ange-
J) Ranke, Die römischen Päpste 1, 211.
2) Franz IL wollte immerhin zuerst vom Herzog darum ge-
beten sein (Brief an Coignet, 4. Nov. 1559), gab aber dann am
26. Januar und am 7. Juni 1560 seinem Gesandten Befehl, die Be-
vollmächtigten des Herzogs in allem, was sie von ihm verlangen
würden, zu fördern und zu unterstützen, als ob es seine eigenen
Angelegenheiten wären. Aehnlich Carl IX. am 10. April 1561.
8) Vgl. die Bemerkung Granvellas (Papiers d'Etat VIII, 402):
« De plus je ne vois pas trop comment les Suisses pourraient y con-
sentir, aujourd'hui surtout qu'il n'y a pour eux aueune apparence de
guerre si ce n'est entre eux ou aveo le duc de Savoie qu'ils craignent
peu lui seul, ceprince nepouvant reeevoir de secours ni de votre
MajestS ni de la France, ä raison des aUiances de Vune et Vauire
avec les Suisses.*
4) Vgl. z. B. Charles IX. an Coignet, 10. April 1561 und 9. Mai
1562. D'Orbais an de l'Höpital, 10. Mai 1563. (Copien im Bundes-
archiv.)
Der Lausanner Vertrag von 1564. 191
tragenes Sonderbündniss mit den katholischen Orten «zur Be-
schirmung Mailands und gegen die Ketzer» anzunehmen, weil,
wie ihm Granvella auseinandersetzte, zu befürchten stand,
d&ss die Berner im Fall einer Unterstützung der katholischen
Orte durch Spanien sich alsbald zur Vergeltung auf die Frei-
Grafschaft werfen würden.1)
Noch war eben der Waffenruhm der Schweizer so gross,
d&ss niemand es gewagt hätte, ihnen ein Gebiet, das sie seit
einem Vierteljahrhundert inne hatten, mit Gewalt zu ent-
reissen. Es hatte nur ihres festen Willens bedurft, um das
Südufer, wie das Nordufer des Genfersees, um den natür-
lichen Wall des Jura, Mont Vuache, Salere und der Savoyer-
alpen, wie ihn Bern mit dem Schwerte gewonnen hatte, für
immer fest zu halten. Berns Schuld war es nicht, wenn
das bereits Errungene grossentheils wieder verloren ging ; es
war diejenige der Eidgenossenschaft, die ihm ihre Unter-
stützung versagte, in erster Linie diejenige der katholischen
Orte, die mit dem Feind geradezu gemeine Sache machten.
* *
Im Sommer 1559 erschienen drei verschiedene savoyi-
sche Botschafter in der Schweiz, die eine ungemeine Rührig-
keit entfalteten, von Ort zu Ort reisten und sich auf allen
Tagsatzungen einfanden.2) Ihr Bestreben ging dahin, unter
dem Vorwand einer Erneuerung des alten Bündnisses zwischen
den Eidgenossen und Savoyen Bern möglichst zu isoliren
und durch die übrigen Orte einen Druck auf dasselbe aus-
l) Philipp II an Granvella 7. Sept. 1560 ; Granvella an Philipp
6. Okt. (Papiers d'Etat VI 153, 193).
*) Greditiv för Claudius von Bellegarde, Herrn von Montagny,
an Zürich, 8. Juli 1559 (Staatsar eh. Zürich, Savoyen), für den Herrn
ton Chevron (Staatsarch. Bern, Savoyen 1545-65 Nr. 45/46. Eidgen.
Abschiede IV 2, 106, 113, 119, 121, 126, 127, 130, 135, 137, 138,
192 Der Lausanner Vertrag von 1564.
zuüben. Dabei griffen sie mit besonderm Raffinement nicht
auf das funfundzwanzigjährige Biindniss mit Karl III. von
1512 zurück, sondern auf ein angeblich ewiges, das die Eid-
genossen am 23. April 1477 mit der Herzogin Jolanthe ge-
schlossen haben sollten. In Wahrheit war dies Biindniss mit
Jolanthe ein blosser Entwurf geblieben, den die Kantone gar
nie angenommen hatten; aber weil darin gesagt war, dass die
von den Eidgenossen gegen Zahlung von 50,000 61. an Sa-
voyen zurückgestellte Waadt ewig bei diesem ver-
bleiben solle, schmiedeten die Savoyarden daraus ohne
weiteres eine Waffe gegen Bern, indem sie eine «beglaubigte*
Abschrift des angeblich in Händen des Herzogs liegenden
Originalbundesbriefes vorwiesen. l)
Bern trat diesen Umtrieben entgegen, indem es die eid-
genössischen Mitstände dringend ersuchte, sich in keine Bundes-
verhandlungen mit Savoyen einzulassen, so lange es mit diesem
wegen der eroberten Lande in offener Fehde stehe ; es mahnte
sie zu getreuem Aufsehen und verlangte die Ausweisung des
Hauptgesandten, Lambert de la Croix, der sich als «Läger-
herr» d. h. als ständiger Botschafter in der Schweiz aufthat.
143, 148, Zehender, Tagebuch 24. Der Herr von Montagny bereiste
Solothurn, Basel, Zürich, Schaffhausen, Appenzell; Lambert. Herr
vou St. Croix, Luzern, Uri, Schwyz, Unterwaiden, Zug und Glarus;
der Freiherr v. Chevron Bern, Freiburg und Wallis (Sl. Bern, Sa-
voyen 1545-65 N. 48),
*) Abschiede IV 2, 121, 130. Das angebliche BOndniss war ein
am 23. April 1477 zu Annecy aufgesetzter «Abschied», d. h. blosser
Entwurf (Absch. II, 670). Dass derselbe nie in Kraft erwuchs, geht
aus Abschied II 678 (u), 683 (y), 694 (N. 908), 700 (e), sowie aas
dem Fehlen eines entsprechenden Instrumentes in den eidgenössi-
schen Archiven zur Genüge hervor. Statt des geplanten Bündnisses
mit der ganzen Eidgenossenschaft kam nur ein solches mit Bern und
Freiburg am 20. August 1477 zu stände. Vgl. Dierauer, Geschichte
der Eidgenossenschaft II, 248.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 193
Alle diese Forderungen entsprachen dem Geist der Bünde,
und ihre Erfüllung wäre in früherer Zeit selbstverständlich
gewesen.1) Auch gaben die evangelischen und paritätischen
Orte, Zürich voran, wirklich die Erklärung ab, sie könnten
sich mit Savoyen so lange in kein Bündniss einlassen, bis es
sich mit Bern vertragen habe.8)
Anders die katholischen Orte. Auch sie hatten im
Jahre 1557, als Emanuel Philibert den schweizerischen Kriegs-
haufen in Frankreich noch als Feind gegenüberstand, Bern
zur Erneuerung des Bargrechts mit Genf ermahnt, in Anbe-
tracht, welchen Nachtheil es ihm und der ganzen Eidgenossen-
schaft bringen würde, wenn es in eines fremden Fürsten Ge-
walt fiele.3) Jetzt, drei Jahre später, waren sie bereit,
nicht bloss Genf, sondern selbst die Waadt dem fremden
Fürsten preiszugeben, vorausgesetzt, dass er ihnen in dem
Glaubenskrieg, den sie gegen ihre Miteidgenossen vom Zaun
zu brechen im Begriffe standen, bewaffneten Beistand leiste.
Die V innern Orte hatten nämlich gerade damals den Plan
jtefasst, Glarus mit Gewalt in den Schoss des Katholizismus
zurückzuführen, und da voraussichtlich Zürich und Bern eine
solche Unterdrückung ihrer Glaubensgenossen nicht gutwillig
zugaben, sahen sie sich auf allen Seiten nach auswärtigen
Bundesgenossen um.4) Sie gingen den Papst um Geld und
l) So wiesen die Eidgenossen z. B. im Juni 1495 ein Gesuch
der Herzogin von Savoyen um eine Vereinigung mit Rücksicht auf
obwaltende Anstände zwischen Wallis und Savoyen zurück; erst
wenn diese beseitigt seien, könne man darauf eintreten. Absch. Hl1,
48Dp.
*) Mit besonderer Energie auch Appenzell; Zehender Tagebuch
S. 26. Vgl. Absch. IV 2 13H, 175.
3) Abschiede IV 2 29. Vgl. Oechsli, Orte u. Zugewandte, 455 (f.
4) Vgl. den Artikel Aegidius Tschudi in der Allg. deutschen
Biographie.
13
194 Der Lausaimer Vertrag von 1564.
Truppenhilfe an, sie tragen dem spanischen Statthalter in
Mailand das oben erwähnte Bündniss gegen die Ketzer an,
sie baten Franz II. von Frankreich dringend um Beistand
bei ihrem Vorhaben gegen die protestantischen Kantone.1,)
Freilich ernteten sie damit fast allerorten Abweisungen; nur
einen Bundesgenossen fanden sie, Emanuel Philibert von Sa-
voyen, dem diese Stimmung der V Orte begreiflicher Weise
äusserst gelegen kam. Seine Gesandten erklärten auf den
fünfö r tischen Konferenzen, dass ihr Herr das Bündniss insbe-
sondere mit den katholischen Orten aufzurichten wünsche.2)
Nur ein Umstand liess diese einen Moment zaudern, die dar-
gebotene Freundeshand anzunehmen, die Rücksicht auf Frei-
burg und Wallis, die wie Bern gegen eine Verbindung mit
Savoyen protestirten, so lange dieses sich mit ihnen nicht
verglichen habe.3)
Schliesslich Hessen sie auch diese Rücksicht fallen. Trotz-
dem Bern Gesandtschaften von Ort zu Ort schickte mit der
Mahnung, es nicht zu «übergeben»,4) schlössen die V Orte
nebst Solothurn am 11. Mai 1560 mit Savoyen das ge-
wünschte ewige Bündniss ab. Scheinbar ein unverfäng-
licher Freundschaftsvertrag ohne Verpflichtung zu gegensei-
tiger Bundeshülfe war es in Wirklichkeit nichts anderes, als
ein gegen Bern gerichteter konfessioneller Sonderbund. Dies
Gepräge erhielt es einmal durch den Zeitpunkt, in dem es
geschlossen wurde, dann dadurch, dass in der Einleitung unter
*) «Et ä ce propos il faut que je vous dye que ceulx des cinq
quanthons m'onl fort iüstamnieut recherche de les vouloir secourir
et favoriser l'cntreprise qu'ilz mostroient avoir voluntö de faire contre
les quanthons protestants.» Francois II an Coignet, 7. August 1560.
2) Absch. IVi 125, 127.
»J Absch. IV* 119, 134.
•*) Zehender, Tagebuch 27.
Der Lausanne? Vertrag von 1564. 195
Verweisung auf das angebliche Bündniss Jolanthes die «ganze
Landschaft Waadt» als rechtmässiges Eigen thum Savoyens
hingestellt wurde, und endlich durch die geheimen Verab-
redungen, die dem offenen Bunde zur Seite gingen. In einem
geheimen Beibrief vom 9. Nov. versprach der Herzog den
fünf Orten, seinen «ewigen puntsgenossen», so oft sie mit
Jemand, «von wegen des alten, wahren, unzweifelhaften christ-
lichen Glaubens» zum Krieg kämen, auf ihre erste Mahnung
500 erprobte Büchsenschützen auf seine Kosten zuzusenden
oder nach ihrer Wahl monatlich 2000 Kronen Subsidien zu
bezahlen.1) Ueber die Gegenleistung, welche die V Orte da-
ij Abschiede IV 2. 1461, 1466. Segesser, Ludwig
PfvfTer I, 86, 89, 359, iässt in einem für einen so gewiegten
Historiker unbegreiflichen lrrthum auch Zürich an dem savoy-
ischen Bündniss von 1560 theünehmen und stellt dadurch die
Handlungsweise des Vorortes gegen Bern in ein äusserst schiefes
Licht. Allerdings steht der Name Zürichs in dem Freundschafts-
vertrag mit fimanuel Philibert und sein Siegel hängt an dem-
selben; aber schon die verschiedenen Stellen der gedruckten Ab-
schiede, die Segesser citirt, hätten ihn darüber belehren sollen,
dass der Beitritt Zürichs in viel spätere Zeit fällt Zürich stellte
sieh vielmehr mit Basel, Schaffhausen, Glarus und Appenzell
durchaus auf den korrekten Standpunkt, dass der Herzog sich
zuerst mit Bern und Freiburg über die Eroberungen von 1536
zu vertragen habe, ehe es sich mit ihm in Unterhandlungen
einlasse (Abscb. IV 2, 175 v.). Erst im September 1570, nach-
dem durch die Ausführug des Lausanner Ver-
trages die Anstände mit Bern geregelt waren
und dieses selber am 5. Mai 1570 sein altes Bünd-
niss mit Savoyen erneuert hatte,, zeigten sich
Zürich, Glarus, Basel, Schaffhausen und Appenzell bereit, dem
erneuerten ansuchen Savoyens, sie möchten wie die anderu
Orte in das Bündniss treten und dasselbe mit ihren Siegeln
bekräftigen, da nun durch die Gnade Gottes alle Anstände mit
Bern glücklich beigelegt seien, zu entsprechen, zumal Bern
196 Der Lau sann er Vertrag von 1564.
für dem Herzog verhiessen, fehlt ans ein ähnliches Dokument.
Nach der ganzen Lage der Dinge kann sie nur in dem Versprechen
bestanden haben, seine Ansprüche auf Genf und die von Bern
selber erklärte, es würde besonderes Wohlgefallen darau haben,,
wenn die fünf Orte sammt St. Gallen mit dem Herzog in dies
Bündniss träten (Absch. IV 2, 458 cc). Jetzt nahmen aber die
evangelischen Orte neuen Anstoss an gewissen Bestimmungen des
Vertrages betr. Ehestreitigkeiten und geistliche Händel, so wie
am Vorbehalt des Papstes und verlangten, dass ihren Bedenken
entweder durch eineu «Beibrief» oder einen neuen Buudesbrief
Rechnung getragen werde (Abscb. IV 2, 459 ff.). In Zürich wurde
am 14. Oktober 1570 eine Commission, bestehend aus den beiden
Bürgermeistern, den Obristzunflmeistern, den beiden Seckel meistern
und dem Bannerberrn Lochmann, mit der Prüfung der Frage
hetraut, und dem Gutachten derselben entsprechend beschloss der
Ralh, den Beitritt zum Bündniss von der Hodificirung jener an-
stössigen Artikel durch einen Beibrief abhängig zu machen. Auch
Basel erklärte sich durch ein Schreiben an Zürich vom 12. Feb-
ruar 1571 damit einverstanden, und am 31. März 1571 vereinbarten
die Boten von Züri ch , G lar us, Basel, Seh äff ha u sen t
Appenzell und St. Gallen auf der Tagsatzung zu Baden sich
mit dem Herrn von Roll, dem Gesandten des Herzogs, dahin, dass
sie das Bündniss, das dieser mit Luzern, Uri, Schwyz, Unterwaiden,
Zug und Solothurn aufgerichtet habe, «besiglen wellint» und dass
der Gesandte dafür den verlangten Beibrief, in welchem der Artikel
betr. Ehesachen und geistliche Händel, sowie derVorbehalt des Papstes
für die vier evangelischen Städte als unverbindlich erklärt wurde, im
Namen des Herzogs genehmigte (Savoyer Akten, Staatsarchiv Zürich).
Gemäss dieser Abmachung verlangte nun der Herr von Roll am
5. Mai 1572 auf einer fünförtigen Konferenz zu Luzern die Heraus-
gabe des Bundesbriefes, damit ihn die andern Orte ebenfalls be-
siegeln könnten, stiess aber damit auf Schwierigkeiten, da die V
Orte fanden, diese Verbindung des Herzogs mit den Neugläubigen
stehe dem 1560 zwischen ihm uud den V Orten «heimlich» abge-
schlossenen Bündniss entgegen (Absch. IV 2, 460, 498). Im Juni
1572 bemerkte Luzern, es könne sich nicht dazu verstehen, diesen
Brief herauszugeben, bevor ihm der Graf von Gampofort die ihm
Der Lausanner Vertrag toq 1564. 197
in Besitz genommenen Lande nach Kräften zu unterstützen,
ihm, wie ein Nidwaldner Beschluss Ton 1563 sagt, «zu seinen
Landen beholfen und berathen» zu sein.1) Was das Vater-
land dabei verlor, das gewann ja der Glaube.
V. Die Entstehung des Lausanner Vertrages.
Bern befand sich gegenüber dem Herzog von Savoyen
in einer peinlichen Lage, die weder Krieg noch Frieden war.
Zu statten kam ihm, dass die Bevölkerung der streitigen Ge-
geliehene Geldsumme sammt Zinsen zurückerstattet habe. In
welchem Zusammenhang dieser sonst nicht genannte Graf von
Campofort mit dem Bundesbrief steht, ob er ein Sekretär der
savoyiseben Gesandtschaft war etc., gebt aus den Abschieden nicht
hervor. Cysat bemerkt dazu, die Heransgabe des Bundesbriefes
sei hernach verwilligt worden ; aber der von Roll habe zu Luzern
in der Herberge beide Originalia «mit flyss vergessen und liegen
lassen, bis uffs 1577. Jahr, da sy der Herr von Jacob — der
neue savoyische Botschafter — funden. ussbracht und in die Ort
geschickt and siglea lassen» (Absch. IV 2, 496). Also wäre das
Siegel Zürichs erst 1577 an die Urkunde gekommen, d. b. in dem
Jahre, da die V katholischen Orte den blossen Frcundschaftsver-
trag mit Savoyen in aller Form in ein «hülfliches» ßündniss
<8- Hai 1577) verwandelten und die Urkunde von 1560 für sie
wertlos geworden war, so dass die Vermuthung nahe liegt, die
Schuld an der Verzögerung sei eher bei den luzern ischon Staats-
männern, als beim savoyischen Gesandten zu suchen. Das Be-
kanntwerden des neuen Sonderbundes der katholischen Orte mit
Savoyen wird die übrigen evangelischen Orte von der Bestellung
des Instrumentes abgehalten haben. Damit sollte nun doch das
Märchen von der Thcilnabme Zürichs an dem katholischen Son-
derbund mit Savoyen, das ich schon in meiner Arbeit Über Orte
and Zugewandte, S. 458 f., als solches erwiesen habe, das aber
noch in der tüchtigen Schrift von D u n a n t , Les relations poli-
fiqaes de Gen&ve avec Bern« et les Suisses S. 184, spukt, end-
gültig beseitigt sein.
*) Archiv für die Schweiz. Reformationsgeschichte FFI, 370.
198 Der Lausanner Vertrag von 1564.
biete mit wenigen Ausnahmen treu zu ihm hielt. Einzig
einige Edelleute fielen zum Herzog ab, wie der Herr von
Lullin im Chablais, den Bern dafür mit der Einziehung seiner
Güter züchtigte. Im Februar 1560 sandte es eine Kommis-
sion, an deren Spitze der Altschultheiss Hans Franz
N ä g e 1 i stand, in die von ihm vor 24 Jahren eroberten
Lande, um sie gegen die savoyischen «Praktiken» zu stählen,
sie zu mahnen, «by iren geschwornen eyden sich nit uffwiglen
ze lassen, sonders an m. Hrn. stiff ze halten», mit der Ver-
sicherung, man werde «sy ouch nitt übergeben, sonders sy
nach bestem vermögen schützen und erhalten.» Der Mit-
wirkung der Bevölkerung sicher, traf Bern energische Vor-
kehrungen. Die wichtigsten Punkte, wie Cluse, Morges,
Yverdon, wurden in Vertheidigungszustand gesetzt und zn
Hause selbst alles «zur reyss gerüstet.» Ein Auszug von
10,000 Mann war bereit, jeden Augenblick ins Feld zu
ziehen.1)
Auf der andern Seite musste es der Stadt doch daran
gelegen sein, mit dem wiederum zum Nachbar gewordenen
Savoyerherzog auf einen erträglichen Fuss zu kommen , mit
ihm wo möglich den Friedenszustand herzustellen. Angesichts
der Haltung Frankreichs und Spaniens, die ihn um die Wette
protegirten, und derjenigen der V Orte, die auf dem Punkte
standen, mit ihm vereint den Kreuzzug für den (Hauben zu
beginnen, hielt die bernische Regierung eine schroffe Zurück-
weisung der savoyischen Ansprüche für unthunlich; daher er-
klärte sie sich bereit, zu 4 freundlicher Hinlegung der Späne»
Konferenzen zu besuchen, für die Neuenburg als «Mal-
stätte» bestimmt wurde. Die Verhandlungen sollten schon 5m
Oktober 1559 beginnen, aber, Herzog Emanuel Philibert zog
*) Zehender, Tagebuch 25 ff., 44.
Der Lau sanner Vertrag von 1564. 199
es vor, dieselben um ein ganzes Jahr zu verschieben, angeb-
lich wegen Erkrankung seiner Gemahlin und anderer Ge-
schäfte. Vermutlich waren seine Genfer Plane die Haupt-
ursache dieser Verzögerung.
Als die Delegirten der Parteien am 18. November 1560
endlich in Neuenbürg zusammen kamen, führten die vornehmen
Herren, die der Herzog als seine Vertreter geschickt hatte,
Dnbochct, Gouverneur zu Chambe>y, von Montfort, Vice-
präsident des savoyischen Staatsrates, und der Freiherr von
Chevron, eine sehr selbstbewusste Sprache, konnten sie sich
doch auf das inzwischen perfekt gewordene Sonderbundniss
mit den katholischen Orten, sowie auf das Versprechen des
französischen und spanischen Botschafters stützen, die Sache
des Herzogs zu fördern, wie diejenige ihrer eigenen Herren.
Sie forderten alles zurück, was Bern eingenommen : Waadt,
Gex, Genevois und Chablais, sammt allen Nutzungen und Ab-
gaben, die es vom Tag der Besitzergreifung an daraus be-
zogen habe, ferner alle Kirchenzierden und Kirchengiiter
nebst den daraus bezogenen Einkünften, und behielten sich
noch vor, diese Forderung «zu stärken.» Die Berner blieben
ihnen indess die Antwort nicht schuldig; sie hielten den
Savoyarden ihr ganzes Sündenregister gegen Genf vor und
führten den Frieden von St. Julien, den Spruch von Peter-
lingen ins Feld. Die Waadt besitze Bern kraft der Ver-
pfändung von St. Julien, das übrige nach Kriegsrecht, und
es erwarte daher, dass der Herzog von seinen Forderungen
abstehe, dann könne ein für beide Theile erspriessliches nach-
barliches Verhältniss begründet werden. In ihrer Replik
kamen die Herzoglichen auf ihre alte These von der Ungül-
tigkeit des Genfer Burgrechts zurück, denn «wenn die von
Genf nicht des Hauses Savoyen Unterthanen gewesen, seien
sie wenigstens von savoyischem Gebiet gänzlich umgeben»;
200 Der Lausanner Vertrag tob 1564.
Bern habe daher keinen genügenden Grund gehabt, um der
Genfer willen ältere Bünde zu brechen. Schliesslich rückten
sie doch mit ihrem wirklichen Auftrag heraus, Bern für die
Wiederabtretung der Lande eine Geldentschädigung
anzubieten, theils als Bezahlung für alte Kapitalschulden
Savoyens, die auf das streitige Gebiet versichert waren,
theils als Vergütung für die Kosten, die es durch die «ver-
meinte Uebertretung» des Herzogs erlitten habe. Die Berner
verlangten für ihre Antwort einen Aufschub bis zum 10. Fe-
bruar 1561, um sich inzwischen mit den andern Theilhabern
an den eroberten Landen, mit Freiburg und Wallis zu
besprechen.1)
Wirklich fand im Januar 1561 eine Konferenz der drei
Stände in Freiburg statt, in welcher Bern den Versuch
machte, sich mit Freiburg und Wallis zu gemeinsamer Ab-
wehr der savoyischen Ansprüche zu verständigen. Es war
jedoch ein vergebliches Bemühen; die beiden katholischen
Stände wollten zwar ihre Eroberungen so wenig herausgeben
als Bern, aber sie hielten es für klüger, ihre Sache nicht mit
der seinigen zu vermengen, weil ihnen die V Orte Hoffnungen
gemacht hatten, ihnen zu einem günstigen Austrag mit dem
Herzog zu verhelfen, wenn sie sich von Bern abseits hielten.
So inusste dieses den Strauss allein ausfechten.*)
Auf der zweiten Konferenz zu Neuchätel (10. Februar
1561) lehnten die Berner jedes Eintreten auf das herzogliche
Anerbieten ab; dasselbe sei so beschaffen, dass sie darauf
*) Abschiede IV 2 152—157, Instruktionenbuch der Stadt
Bern 1561—77 S. 188 ff. (Staatsarch. Bern.)
*) Zehender 30. Absch. IV 2. 119 h, 134 b, 176 hh. Vgl. die
Instruktionen der bernischen Gesandten nach Freiburg 6./8. Mai
1560 und 5. Januar 1561. (St. Bern, Instruktionen buch 1561—67
föl. 179 ff., 217 ff.)
Der Lausanner Vertrag von 1564. 201
*
«weder viel noch wenig antworten könnten.» Dagegen einigte
man sich darauf, unparteiischeDrittpersonen darin
handeln zu lassen, immerhin in der Meinung, dass es den
Parteien freistehe, ihre Vorschläge ganz oder theilweise an-
zunehmen oder abzulehnen. Es handelte sich also nicht so-
wohl um ein Schiedsgericht, dessen Spruch verbindlich ge-
wesen wäre, als um Vermittler, die sich bemühen sollten, den
Parteien mundgerechte Vorschläge zu einem gütlichen Ver-
gleich zu machen. Als solche Vermittler schlugen die Sa-
voyarden den spanischen und den französischen
Botschafter vor, ferner die VI katholischen Orte. Die Berner
lehnten jedoch die fremden Gesandten wegen der Blutsver-
wandtschaft ihrer Könige mit dem Herzog ab;. statt der VI
katholischen Orte schlugen sie alle elf unbetheiligten
Orte vor, und zwar nannten sie gleich bestimmte Persönlich-
keiten, fast lauter Schultheissen, Bürgermeister und Land-
ammänner der betr. Orte, so dass die Savoyarden, ohne gegen
die Eidgenossen unhöflich zu sein, nicht umhin konnten, sie
anzunehmen ; nur wiederholten sie ihre Forderung, dass auch
die beiden Botschafter zugezogen werden müssten. Allein
die Berner blieben fest und schliesslich verstanden sich die
Herzoglichen zu der Vermittlung durch die elf Orte allein,
immerhin mit dem Vorbehalt, dass die beiden Gesandten in
den Sessionen den Vorträgen beiwohnen dürften. Als Mal-
statt wurde nach dem Vorschlag der Berner Basel be-
zeichnet, da Neuenburg für eine so grosse Versammlung
< nicht wohl beherberget» sei.1)
So hatten die Berner Gesandten, Nikiaus von Diesbach,
Anton Tillier, Wolfgang von Weingarten, Hans Steiger, Am-
brosius Imhof, alle Mitglieder des kleinen Ratbes, und Nikiaus
i) Abschiede IV 2. 165 ff. Inslruktiouenbuch 223 ff. Ze-
igender 33.
202 Der Lausanner Vertrag von 1564«
Zurkinden, der Stadtschreiber, durch ihre Festigkeit die of-
fizielle Vermittlung der fremden Mächte glücklich vermieden.
Die gewählten eidgenössischen Schiedsrichter oder besser Ver-
mittler nahmen ihren Auftrag mit Genehmigung ihrer Orte
sämtlich an1) und traten am 18. Mai 1561 zu Basel in Funktion.
Es waren von Zürich Bathsherr Itelhans Thumysen,
regelmässiger Vertreter seines Standes auf der Tagsatzung,
eine beredte und federgewandte Persönlichkeit, von Luzern
Schultheiss Jost Pfyffer, der «Begründer der Stellung
der Pfyflfer in Luzern», von Uri Jakob Arnold, von
Schwyz Georg Reding, von Unterwaiden Nikiaus von
Fltie, von Zug Hans Letter, von Glarus Paul Schu-
ler, die alle in ihren Ländern schon das höchste Amt be-
kleidet hatten, von Basel Bürgermeister Kaspar Krug,
von Solothurn der bekannte Söldnerhauptmann Bitter Wil-
helm Fröhlich, von Schaff hausen Bürgermeister Ale-
xander Peyer und von Appenzell Landammann Joachim
M egg eli. Neben ihnen und den Vertretern der Parteien
fanden sich der spanische Gesandte Marc Anton Bosso
nebst einem spanischen Hofrath, sowie der französische Bot-
schafter Mathieii Coignet ein, aber nicht als offizielle Ver-
mittler, sondern nur als Zuhörer oder Fürsprecher Savoyens
bei den Eidgenossen. Coignet war von Karl IX. und Ka-
tharina von Medici wiederholt eingeschärft worden, den Tag
von Basel ja nicht zu versäumen und dort den Deputirten
ihres «Oheims» und «Bruders» allen möglichen Beistand zu
leisten2), und auch die beiden Spaniolen ersuchten die Eidge-
') Vgl. die Schreiben der Orte und Schiedsrichter März und
April 1561 (St. Bern, Savoybuch B 445—497).
s) Karl IX an Coignet, 10. April 1561. Gatharina an Coignet,
14. Mai 1561 (Gopien im Bundesarchiv). Das hinderte Coignet nicht,
im August den Bernern im Geheimen mitzutheilen, es sei nicht des
Königs Absicht, den Herzog auf ihre Kosten grösser zu machen
(Savoybuch B 653).
Der Lau sann er Vertrag von 1564. 20$
nossen im Namen ihres Königs, Fürstl. Durchlaucht, zu Sa-
voyen «befuegt, gut recht und vorderung» nach Gebär za
bedenken.
Nach Anhörung der schriftlichen und mündlichen Vorträge
beider Parteien legten die Vermittler den Savoyern successive
drei verschiedene Vergleichs vorschlage vor : 1. dass der Her-
zog sich von Bern durch eine angemessene Geldentschädi-
gung abfinden lasse, 2. dass ihm alles, was Bern in den Land-
schaften Chablais und Genevois «enent Sews» ein-
genommen, schuldenfrei zugestellt werden und das übrige
«mit aller Beladnis» Bern bleiben solle, 3. dass Bern dem
Herzog alles, was es in Genevois und Chablais ein-
genommen (also mit Einschluss von Vevey, Chillon etc.), zu-
stelle und ihm ausserdem für die Herrschaft Gex eine
Geldentschädigung bezahle. Die Herzoglichen lehnten
indess einen dieser Vorschläge nach dem andern ab, da «Irem
gnädigen Fürsten und Herrn nützit veyl und sin Fürstliche
Durchläuchtigkeit mer und lieber ze kauffen denn zc ver-
kauften gesinnet»; sie erklärten überhaupt keine Vollmacht
zu haben, irgend eines der geforderten Lande fallen zu lassen ;
nur auf eine Geldentschädigung an Bern könnten sie ein-
treten.1) Als die Eidgenossen den Abschlag der Savoyer den
Berner Deputirten mittheilten, erklärten diese aber ebenso
bestimmt, dass das, was die Savoyer wollten, bei ihren Herrn
und Obern gänzlich unerhältlich sein werde. Darauf hin
machten die Vermittler von sich aus einen endgültigen Vor-
schlag: Bern solle dem Herzog ausser dem ganzen Chablais
(mit Vevey, Chillon etc.) und Genevois, soweit sie es ein-
genommen, auch die Herrschaft Gex schuldenfrei zurück-
stellen, unter der Bedingung, dass es allezeit durch dieselbe
1 j Auch der französische Hof war der Ansicht, Bern werde sich
mit Geld abfinden lassen. Karl IX. an Coignet, 10. April 1561.
204 Der Lau sann er Vertrag von 1564.
freien Durchpass habe; dagegen solle ihm die Waadt als
Eigen thum verbleiben, so dass es damit schalten und walten
könne, wie mit andern seinen eigenen Landen und Herr-
schaften. *)
Da die VI katholischen Orte in ihrem Sonderbnnd mit
Savoyen die Waadt bereits als dessen rechtmässiges Eigen-
thum anerkannt hatten, wird man den Basler Spruch, der
Bern wenigstens diese vorbehielt, als eine Art Konipromiss
zwischen den Savoyens Ansprüche begünstigenden Katholiken
und den für Bern geneigten Beformirten aufzufassen haben.
Leider sahen sich Zürich und die übrigen evangelischen Orte
nicht veranlasst, sich unbedingt auf Berns Seite zu stellen
und es in der Behauptung des alteidgenössischen Grundsatzes,
einmal Gewonnenes nicht mehr herauszugeben, ohne weiteres
zu unterstützen, wie es im Interesse der Eidgenossenschaft
zu wünschen gewesen wäre. Der Besitz der entfernten
welschen Lande um den Genfersee herum war in ihren Augen
nicht werthvoll genug, um die Gefahren beständiger Ver-
wicklungen mit Savoyen und seinen Beschützern aufzuwiegen.
&ie waren der Ansicht, dass Bern vor einem Opfer nicht
zurückscheiien dürfe, um der Eidgenossenschaft nach dieser
Seite hin zu Ruhe und dauerndem Frieden zu verhelfen, and
näherten sich dadurch den katholischen Orten.8)
x) Berichte der Berner Gesandten vom 24. u. 27. Mai 1561
(Savoybuch B 603, 621). Abschied der elf Orte, Basel 18. Hai 1561,
im Staatsarchiv Zürich (Savoyen). Dem in den gedruckten Ab«
•schieden (IV* 177) benutzten Schwyzcr Exemplar scheinen die drei
ersten, Bern günstigeren Vorschlage der Vermittler zu fehlen. Sollten
diese etwa nur von den evangelischen Vermittlern gestellt worden
sein ?
2) Zürich machte Bern schon auf der Tagsatzung zu Baden
Ende Oktober 1560 das Anerbieten, mit Basel und Schaffhausen bei
den Konferenzen in Neuchätel eine Vermittlung zu versuchen. Am
Der Lausanner Vertrag von 1564 205
Um einen festen Punkt zu finden, auf dem eine Einigung
der Parteien möglich sei, griffen die Vermittler nach dem
urkundlich zu erweisenden Rechte. Auch die Katholiken
konnten nicht umhin, anzuerkennen, dass Bern im Vertrag
von St. Julien einen wirklichen Rechtstitel auf die Waadt
besage '), wie umgekehrt die Evangelischen zugeben mussten,
dass ihm, wenn man das Recht der Eroberung, das Gewicht
politisch-militÄrischer Erwägungen nicht gelten liess und sich
einzig auf den Standpunkt des formellen Rechtes stellte, ein
aber die Waadt hinaus gehendes Anrecht auf seine Erober-
ungen fehlte. So erklärt es sich, dass die elf Vermittler nach
einem kaum ernstlich gemeinten Versuche, für Bern das Ganze
zu retten, vor den savoyischen Ansprächen Schritt für Schritt
zurückwichen, bis sie endlich auf der Waadt stehen blieben,
dass sie einen Theilungsvorschlag machten, der für Bern so
nngunstig wie möglich war, indem er nicht bloss mit der
Rückerstattung von Gex einen Keil zwischen Genf und Waadt,
sondern mit derjenigen von Vevey, Chillon, Villeneuve etc.
als Theilen des Chablais auch einen solchen zwischen die
Waadt und Aelen hineingetrieben hätte.
Nach der Fällung ihres Spruchs vertagte sich die Kon-
ferenz bis zum 24. August, um den Parteien Zeit zu geben,
üch aber Annahme oder Verwerfung desselben schlüssig zu
machen. An Bern trat jetzt die Frage heran, ob es über-
haupt auf einen Theil seiner vor 25 Jahren geraachten Erobe-
rungen verzichten wolle. Im Volke zu Stadt und Land
herrschte durchaus die Meinung vor, dem Herzog von Sa-
1*. November 1560 dankte Bern dafür, lehnte aber einstweilen ab,
fbeoso am 6. Dezember. Am 21. Dezember forderte Basel Zürich
tat, die Vermittlung an die Hand zu nehmen. St. Zürich, Savoyen.
M Freilich wollten sie denselben als blosse Pfandschaft aufge-
fisst wissen, die mit Geld gelöst werden könne. Zehender, Tageb. 55.
1206 Der Lausanner Vertrag von 1564.
voyen nichts herauszugeben und es lieber auf einen Krieg
•ankommen zu lassen. Es widerstrebte dem mannhaften
Berner Geiste, ein Gebiet, das seit einem Menschenalter zum
Staate gehörte, ohne Kampf fahren zu lassen und mit dem-
selben zahlreiche Glaubensgenossen einer katholischen Regie-
rung preiszugeben. Noch traute sich das Berner Volk die
Kraft zu, das, was es mit dem Schwerte gewonnen, auch
mit dem Schwerte zu behaupten. Diese Stimmung kam in
<lor höchsten Landesbehörde, im Grossen Rath der
Zweihundert aufs Kräftigste zur Geltung. Wenn die gleiche
Entschiedenheit die eigentlichen Staatslenker Berns, die
Schultheissen und Mitglieder des Kleinen Rath es, be-
seelt hätte, so würden Gex und Chablais ein Bestandteil der
Schweiz geblieben sein, wie Genf und Waadt, und zwar ver-
muthlich ohne jede Anwendung von Waffengewalt. Wir
kennen die Gründe, die Philipp II. abhielten, sich in einen
Krieg mit Bern einzulassen ; noch viel weniger war die vor-
sichtige Katharina von Medici gesonnen, sich um Savoyens
willen mit dem mächtigsten Kanton der Eidgenossenschaft
zu überwerfen, und ohne fremde Unterstützung konnte Emanuel
Philibert nicht daran denken, ein Gemeinwesen von der Wehr-
kraft Berns anzugreifen.
Leider trat in der bernischen Regierung im Gegensatz zum
Volke das thatkräftige Wagen allzusehr vor dem ängstlichen
Abwägen der Umstände zurück ; man spürte, dass Hans Franz
Nägeli, der jetzt als Schultheiss an ihrer Spitze stand, ein
Greis geworden war. Sie hatte kein Vertrauen auf einen
guten Ausgang, wenn sie es zum Aeussersten kommen Hess;
sie sah nur, wie sich die Umstände zu Ungunsten Berns ver-
ändert hatten, wie an die Stelle des schwachen Karl m. ein
berühmter Kriegsfürst als Gegner getreten war, und wie die
beiden Grossmächte, auf deren Antagonismus man 1536 ge-*
Der Lausunner Vertrag von 1564. 207
baut hatte, nun in warmer Unterstützung Savoyens wett-
eiferten. Auf welche Bundesgenossen aber konnte Bern
gegenüber dem durch Spanien und Frankreich gedeckten
Gegner zählen ? Es musste froh sein, wenn die katholischen
Orte der Eidgenossenschaft mit Savoyen nicht geradezu ge-
meine Sache machten, und auch von den evangelischen er-
hielt es statt bestimmter Hilfszusagen nur Vermittlungsaner-
bieten und Mahnungen zur Nachgiebigkeit. Selbst von den
beiden direkt interessirten Ständen, Freiburg und Wallis,
war keine Zusicherung zu erlangen, dass sie die Wechsel-
fälle eines Krieges mit Bern zu theilen gesonnen seien. So
ist es begreiflich, dass die Regierung die Verantwortlichkeit
für einen Krieg, dessen Last Bern voraussichtlich ganz allein
zu tragen gehabt hätte, nicht übernehmen und lieber von
den Eroberungen etwas preisgeben wollte, als das Ganze aufs
Spiel zu setzen. Aus dieser Verschiedenheit der Ansichten
entspann sich zwischen Kleinem und Grossem Rath ein merk-
würdiger Konflikt, den der erstere nur durch einen für unser
parlamentarisches Gefühl ganz ungehörigen Druck auf den
letzteren, sogar durch Vorladung und Einschüchterung ein-
zelner Mitglieder schliesslich zu seinen Gunsten lenkte1).
Als man am 22. August 1561 über die in Basel abzu-
gebende Antwort berieth, beschloss der Grosse Rath anfäng-
lich mit allen gegen vier Stimmen, dass «man mit gutein
gwüsseu und one nachtheil des heiligen Wort Gottes vom
gemeldten land dem Hertzogen nützid wyder geben khönne»,
und es bedurfte aller erdenklichen Missfallensbezeugungen, Dro-
hungen und Vorstellungen von Seiten des Kleinen Rathes,
um schliesslich seinem Antrag die Mehrheit zu verschaffen.
l) Studer, Auszuge aus der handschriftlichen Chronik Sa-
muel Zeh ende rs, Archiv des bist. Vereins Bern, V 20 ff., 39 f.,
i2 ff., 56 ff., 61, 66 f.
208 Der Lausanner Vertrag: von 1564.
dass man dem Herzog, der den Spruch, soviel man höre,
nicht annehmen werde, das Odium der Verwerfung lassen
wolle; würde er wider Erwarten annehmen, wolle man sich
zum Verzicht auf Chablais, Ternier und Gaillard
bereit erklären, doch ohne Vevey, Chillon und Villeneuve
«von wegen der Strass zu ir alten landschafft Aclen»; eben-
sowenig könne man Gex als den Pass nach Genf und Frank-
reich fahren lassen; auch müsste es dem ganzen Lande nur
zu grösserer Unruhe gereichen, wenn Genf von seinen
Freunden völlig abgeschnitten und mit «unversöhnter Nach-
barschaft» umgeben wurde. Ferner sollte für die zurück-
zuerstattenden Lande Religionsfreiheit, freier Zug und Aner-
kennung der unter bernischer Herrschaft vorgenommenen
Rechtsakte ausbedungen werden ; dafür sei Bern bereit, sämmt-
liehe auf den eroberten Landen haftenden Schulden zu über-
nehmen und dem Herzog im Nothfall noch eine durch die Ver-
mittler festzusetzende Geldentschädigung zu gewähren. So war
doch auch in Bern dank der Haltung der Regierung die Idee
einer Gebietsabtretung zum Durchbruch gekommen; man war
bereit, den Frieden durch den Verzicht auf das Südufer des
Genfersees zu erkaufen.1)
Aber noch war der Sieger von St. Quentin weit davon
entfernt, sich mit einem solchen Zugeständniss zufrieden zu
geben ; nicht einmal auf die Waadt glaubte er verzichten zu
müssen, wenigstens nicht auf die ganze. Am 24. August er-
klärten seine Vertreter in Basel die Nichtannahme des
Spruches, worauf die Berner sofort ihrerseits die Erklärung
abgaben, dass sie damit die Verhandlungen als abgebrochen
betrachteten und die Sache dem lieben Gott empfehlen müssten.
Trotz dieses wenig tröstlichen Verhaltens der Parteien glaubten
*)Zehender,38f. Instruktion für die Boten nach Basel
22. Aug. 1561 (St. Bern, Instruktionenbuch 246).
Der Lausanner Vertrag von 1564. 209
die Vermittler ihre Bemühungen fortsetzen zu sollen, zumal
auch der spanische Botschafter nebst einer Gesandtschaft
Kaiser Ferdinands sich bei ihnen in diesem Sinne verwendeten.
Anf einen Vorschlag der Savoyer, den Bernern Payerne, Cudrefin
nnd Avenches mit einer Entschädigung von 50.000 Kronen
für das übrige zu lassen, gingen sie nicht ein; doch suchten
sie ihren Spruch dem Herzog annehmbarer zu machen, indem
sie zu Chablais, Genevois und Gex, die ihm derselbe zuerkannt
hatte, noch ein Stück der Waadt, die Vogtei Nyon, hinzu
fügten, unter der Bedingung, dass die Grenzgebiete mit Ein-
schluss Ton Vevey, Chillon etc. neutralisirt, keine Festungen
darauf errichtet würden und beide Theile zu allen Zeiten freien
Durchpass durch dieselben haben sollten. Aber während der
spanische Botschafter unter Bezeugung des «sonder grossen
Wohlgefallens» seines Herrn über das von den Vermittlern
acceptirte Theilungsprinzip glaubte, die Annahme des so modi-
fizirten Spruchs durch den Herzog in Aussicht stellen zu
können, erklärten ihn die bernischen Vertreter für gänzlich
unannehmbar und gestatteten nicht einmal, dass derselbe ihrem
Abschied einverleibt werde.1)
Wirklich war man in Bern sehr erbittert, dass die Ver-
mittler sogar die Waadt anzutasten wagten, und entschlossen,
auf dieser Grundlage nicht weiter zu verhandeln. Als die
savoyischen Deputirten auf ihrer Bückreise von Basel am
2. September zu Bern im Falken übernachteten, sandte man
ihnen 12 Kannen Wein, leistete ihnen aber keine Gesellschaft,
und am andern Tag beschloss der Grosse Hath, den Handel
ruhen zu lassen; «d'wyl man gspüre, das der Hertzog gern
l) Abscbeidt der Einliff Orten , Basel Barthol ome 1561 ; Vor-
trag des spanischen Gesandten (Staatsarch. Zflricb, Savoyen). Vergl.
Sammlung eidgen, Absch. IV. 2, 187. Bericht des heroischen Ge-
sandten, Dienstag nach Bartholome (Savoybuch B 669).
14
210 Der Lausanner Vertrag von 1564.
vil haben, wir aber ihm ntith geben wellind, möge wol jeder
syn hämisch und gweer zum krieg rüsten.» Ein Schreiben
der Vermittler, worin sie der Stadt ihren neuen Vorschlag
empfahlen, wurde nicht einmal einer Antwort gewürdigt.
Wohl aber mahnte Bern die Zürcher und vermuthlich aucli
die übrigen Eidgenossen zu getreuem Aufsehen.1)
Für einmal stockte das Vermittlungswerk vollständig, und
der Konflikt drohte einer gewaltsamen Lösung entgegen zu
treiben, indem dem Herzog aus dem Schoss der Eidgenossen-
schaft selber Helfer gegen Bern zu erwachsen schienen. Der
Ausbruch des Religionskrieges in Frankreich steigerte die
Leidenschaften der Glaubensparteien in der Schweiz zur
Siedehitze. Die katholischen Orte, die dem von den Guisen
ins Schlepptau genommenen Könige mit Freuden ein Regi-
ment zum Vernichtnng8kampf gegen die Ketzer bewilligten,
machten den Bernern ein Verbrechen daraus, dass sie die An-
werbung eines Regiments zum Schutz der Lyoner Hugenotten
auf ihrem Boden duldeten. Am meisten aber erbitterte es
sie, dass aus dem Wallis ein Fähnlein zu dem protestantischen
Regimente stiess ; sie trugen sich alles Ernstes mit dem Ge-
danken, gegen die im Glauben infizirten Walliser Obern einen
Aufstand anzustiften und, wenn Bern denselben beistehen
würde, ihrerseits zu den Waffen zu greifen, um den Glaubens-
streit einmal gründlich auszutragen. Am 24. August 1562
beschlo8s eine Geheimkonferenz der V Orte zu Brunnen, dem
Papst zu schreiben, in welch grosser Gefahr die altgläu-
bigen Orte und der Herzog von Savoyen sich be-
fänden, und ihn um Geld und Büchsenschützen anzugehen;
') Zehender, 40 f. Die elf Orte an Bern, 29. August 1561
(St. Bern, Savoybuch B. 676). Bern an Zürich 3. Sept. 1561 (SL
Zur, Savoyen).
Der Lausanner Vertrag von 1564. 211
wenn es ihnen inisslänge, könne er leicht ermessen, wie es
ihm nnd den andern altgläubigen Potentaten gehen würde.1)
Mit dem Herzog von Savoyen fühlten sich die V Orte als
ein Herz und eine Seele. Schon im April hatte der savoyische
Botschafter Lambert auf einer Bundreise durch die Inner-
schweiz Zusicherungen erhalten, «wie man sie nur wünschen
konnte» • In Unterwaiden zeigte sich das ganze Volk für das
gute Recht Savoyens begeistert, und die ersten Staatsmänner
der katholischen Orte, Schultheiss Jost Pfyffer von Luzern
und Landammann Dietrich in der Halden von Schwyz, wett-
eiferten in Ergebenheitsbezeugungen für den Herzog. *) Briefe
and Boten gingen im Sommer 1562 zwischen den V Orten
und Emanuel Philibert hin und her, geheime Verabredungen
wurden getroffen, die sogar den französischen Hof beun-
ruhigten. Welches Inhaltes sie ungefähr waren, zeigt ein
Schreiben, das die V Orte am 18. September an den Herzog
richteten, er solle sein Kriegsvolk sammt Hilfe des Königs
von Spanien bereit halten, damit er beim Ausbruch des
Krieges *sin volek uff die Jenffer und Berner schicke, sy
daselbst und in denen landen, so sy vom hertzogthumb
Savoy innhabent, anzegryffen, damitt sy genöttiget werden,
sich an zweyen orten ze schirmen.»8) Auf der andern Seite
schien auch Bern gar nicht abgeneigt, all die obschwebenden
Händel mit Savoyen und den V Orten mit dem Schwerte zu
entscheiden, und suchte zu diesem Zweck im Sommer 1562
i) Abschiede IV 2, 222, 227, 228. Oechsli, Orte und Zu-
gewandte, 293 f.
*) Lambert an den Herzog. Altorf, 11. April 1562. (Gopie im
Bundesarchiv.)
*) Abschiede IVs 217, 222 (h), 223, 228, 232 (1). Gysats Ge-
heimbucb, Archiv für schweizerische Reform ationsgesch. III 159.
Cath&rina von Medici an Goignet, 11. Juli 1562.
212 Der Lau sanner Vertrag von 1564.
ein engeres Verständniss unter den evangelischen Städten
herzustellen. !)
Was Emanuel Philibert betraf, so zog er unter
dem Vorwand, dem König von Frankreich Hilfe gegen die
Hugenotten zu leisten, ansehnliche Streitkräfte zusammen2),
deren erstes Ziel sicherlich Genf gewesen wäre, wenn er
nur auf die Unterstützung Spaniens hätte rechnen können.
Aber eben diese blieb aus, und diesem Umstand war wohl die
Erhaltung des Friedens zu verdanken. Philipp II. wünschte
den Krieg mit den Bernern jetzt ebensowenig als früher.
Das einzige, wozu er sich durch seinen «Vetter» bewegen
Hess, war, dass er ihm mittelst eines neuen, kräftiger als
bisher geführten diplomatischen FeldzugeB in der Schweiz
zu Hilfe kam. Im März 1562 ritt der eigens zu diesem
Zwecke bei sämmtlichen Orten beglaubigte spanische Bot-
schafter Bosso von Ort zu Ort, um sie zu ermahnen, sie
sollten die Vermittlung wieder an die Hand nehmen und Bern
zur Annahme eines billigen Ausgleichs anhalten. Auch in
Bern erschien er, um der Stadt begreiflich zu machen, dass
die Dinge nicht auf diesem Punkte stehen bleiben könnten,
erhielt aber keine Antwort. Als er auf ein neues Schreiben
seines Herrn eine solche verlangte, beschloss der Grosse Rath
am 24. April einhellig, dem König von Spanien zu schreiben,
man danke ihm für seine freundliche Ermahnung; da aber
der Herzog selber den Spruch der Vermittler ausgeschlagen
habe, könne man sich auf keine weitern Verhandlungen mit
ihm einlassen. Inzwischen hatte der Botschafter von Zürich
die Ansetzung einer besondern Tagsatzung begehrt; diese«
wollte jedoch nicht ohne Berns' Zustimmung handeln und der
>) Abschiede IVs 225.
2) Carl IX an Coignet, 9. Mai 1562.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 213
Grosse Rath der Aarestadt beschloss — in scharfer Oppo-
sition zur Regierung — , es bei dem beschlossenen Brief an
den König von Spanien bewenden zu lassen. x) Allein die
spanische Diplomatie Hess Bern keine Ruhe mehr. Auf der
Jahrrechnung zu Baden im Juni 1562 verwahrte sich Bosso
im Namen seines Herrn gegen die Folgen eines langern Ab-
schlags Ton Seiten der Berner und erwirkte, dass der Zürcher
Borgermeister Bernhard von Cham und Landammann
Abjberg von Schwyz im Auftrag der Tagsatzung nach
Bern ritten und dort am 15. Juli 1562 vor dem Grossen
Käthe dringende Vorstellungen machten. Die Berner er-
widerten, in der Werbung Spaniens sei Genfs nicht gedacht
und doch lasse sich kein bestandiger Frieden denken, wenn
es mit Savoyen unversöhnt bleibe; daher müssten sie, ehe
sie sich erklären konnten, wissen , ob Genf in die Friedens-
verhandlung mit eingeschlossen werden solle. Als der Herzog
in dies Verlangen willigte und die zwei Deputirten der Tag-
satzung am 1. Okt. 1562 abermals in Bern vorsprachen, da
konnte dieses nicht umhin, «der hispanischen Majestät und
den elf Orten zu Gefallen im Namen Gottes> der Arbeit der
Vermittler wieder ihren Lauf zu lassen, immerhin unter dem
Vorbehalt, dass ihr Spruch unverbindlich sei. Für den Zu-
sammentritt der Konferenz wurde anfänglich der 11. Januar,
später der 25. April 1563 bestimmt und wiederum Basel als
Malstatt, ausersehen.2)
l) Cmditive für Bosso, 9. Nov. 1561 ; Vortrag des span. Gesandten
in Zürich ; Zürich an Bern, 7. März 1562 ; Bosso an Bern und Zürich,
tri 13. April; Zürich an Bern, 23. April; Vortrag der spanischen
Geundtochaft im Juni 1562 auf der Tagsatzung zu Baden (SU Bern
SaToybucb B 683—720). Zehender 41—43.
*} Zehender, 44 f. Abschiede IV » 212,224. Antworten Berns
auf die Botschaften von Chams und Abybergs, 15. Juli und 1. Okt.
1562 (St. Bern, Instruktionen buch 1561—67, S. 48 und 72), Bosso an
B. v. Cham und Abyberg, 16. Sept 1562 (Savoybuch B 735).
214 Der Lausanner Vertrag von 1564.
Inzwischen hatte Emanuel Philibert mit Bern auch direkte
Verhandlungen angeknüpft. Während die Rüstungen des
Herzogs in Genf und Bern Argwohn erweckten, erfüllten
ihn umgekehrt die Werbungen, die in Bern und dessen Burg-
rechtsstädten für die Hugenotten stattfanden, mit Besorgniss
vor einem Angriff, wesshalb er Ende Juni 1562 den Bernern
durch den Herrn von Morrens einen förmlichen Waffen-
stillstand antrug. Die Aarestadt ging darauf ein, und am
1.(3. Dezember 1562 wurde zu Nyon auf solange, als es
der einen oder andern Partei gefällig sein würde, ein vor-
läufiger Friede vereinbart, wonach den Angehörigen beider
Theile mit Einschlags der Genfer gegenseitig freier Handel
und Wandel zugesichert wurde; dagegen lehnten die Berncr
jedes Eintreten auf die Restitutionsfrage unter dem Hinweis
auf den künftigen Vermittlertag zu Basel ab.1) Im Januar
1563 machte Emanuel Philibert noch einmal einen Versuch,
sich durch seinen vornehmsten Edelmann , den Grafen von
C ha Hand, auf Kosten Genfs direkt mit den Bernern zu ver-
ständigen. Dieser hielt sich, angeblich in Privatgeschäften,
acht Tage lang in Bern auf, um in zwanglosem Gedankenaus-
tausch die Regenten der Stadt auszuholen. Als die Berner
meinten, die Hauptschwierigkeit einer Verständigung mit dem
Herzog liege in der Religion und den Kirchengütern, er-
klärte Challand rund heraus, sie liege vielmehr in Genf, das
der Fürst ehrenhalb nicht fahren lassen könne noch wolle;
wenn die Berner darin nachgäben , werde er ihnen in an-
derem entgegenkommen. Die Berner erwiderten, dass ihre
Neigung zu Genf nicht allzugross sei — was in Betracht
der vielen Reibungen zwischen ihnen und dem hartköpfigen
kalvinischen Regiment wohl keine blosse Phrase war — aber
!) Zeh ende r 44 f. Savoyhuch 725— 731. Abschiede IV > 236 ff.
Der Lausanner Vertrag yon 1564. 215
die Ehre verbiete ihnen, eine Stadt, mit der sie ein ewiges
Bargrecht beschworen hätten, im Stiche zn lassen. So blieben
die direkten Anknüpfungsversuche de? Herzogs ohne Ergeb-
otts.1) Wie sehr Emanuel Philibert darüber missstimmt war,
bewies er, indem er im März 1563 an die V Orte die direkte
Anfrage stellte, wie sie sich verhalten würden, wenn er
gegen die Berner und Genfer die Offensive ergriffe. Die In-
nerschweizer, deren Stimmung inzwischen wieder friedlicher
geworden war , wichen der verfänglichen Frage ans ; aber
sie versicherten, dass sie ihr Möglichstes für ihn thnn wür-
den, und der Landrath von Nidwaiden wies den Am mann von
Ftöe, einen der Vermittler, noch besonders an, dem Herzog
«zu sinen landen behulfen und beraten» zu sein.2)
Iu der letzten Aprilwoche 1563 sah Basel zum dritten
Mal die Eidgenossen der elf Orte, die das schwierige Makler-
amt zwischen Bern und Savoyen auf sich genommen, in
seinem Rathhanse versammelt. Ausser den zahlreichen An-
wälten der Parteien und den elf Vermittlern waren die Bot-
schafter von Spanien und Frankreich anwesend, um das
Friedenswerk dnrch ihren Zuspruch zu fördern. Trotzdem
drohte auch diese Konferenz wieder resultatlos zu verlaufen.
In erster Linie drehte sich diesmal der Streit um Genf,
da die Berner die Anerkennung des Burgrechts und den Ein-
schluss der Stadt in die «schiedliche Vertragshandlung» ver-
langten, da sonst nach ihrer Ansicht nichts Fruchtbares
') Ghalland an Montfort, Valangin 4. Februar 1563 (Gopie im
Bundesarcbiv). Zeheader 47 f. Die Besprechungen mit Ghalland
sollten zu Valangin fortgesetzt werden ; es scheint jedoch der Ver-
abredung keine Folge gegeben worden zu sein.
*) Archiv für schweizerische Reformationsgeschichte III 159,
370. Abschiede IV« 245.
216 Der Lausanner Vertrag von 1564.
geschaffen werden könne. Die Savoyarden hatten nichts da-
gegen, dass man sich mit Genf befasse, und forderten ihrer-
seits die Auflösung des Burgrechts, sowie die Wiedereinsetzung
des Herzogs und des Bischofs in alle ihre ehemaligen Rechte,
wobei sie sich vornehmlich auf den Luzerner Abschied vom
Januar 1535 stützten.1)
Die Berner hatten indess dafür gesorgt, dass eine Genfer
Gesandtschaft anwesend war, die auf die Gewaltakte hin-
wies, durch welche Bischof und Herzog ihre einstigen Ge-
rechtsame nach Fug und Recht verwirkt hatten; für die
Gültigkeit des Burgrechts berief sie sich auf den Spruch der
Eidgenossen zu Peterlingen ; eher würden sich ihre Mitbürger
mit Weib und Kind unter den Trümmern ihrer Stadt be-
graben lassen, als auf die Vortheile der Verbindung mit Bern
verzichten. Angesichts der Thatsache, dass die katholischen
Orte selber 1530 beim Spruch von Peterlingen mitgewirkt
und 1557 die Berner zur Erneuerung des Burgrecbts ange-
halten hatten, konnten die Vermittler nicht wohl anders, als
gemäss dem Begehren der Berner dasselbe in Kraft erklären ;
doch Hessen sie dem Herzog eine Hinterthüre offen, indem
sie ihm vorbehielten, es auf dem Rechtsweg anzufechten,
wenn er vermeine, die Genfer seien dazu nicht befugt ge-
wesen. Die Rechte des Bischofs dagegen überglengen sie
klüglich mit Stillschweigen, und die Entscheidung über das
Vidomnat und die übrigen savoyischen Ansprüche stellten sie
einem gütlichen Ausgleich zwischen Genf und dem Herzog
oder, wenn dieser nicht zu stände komme, einer künftigen
Rechtshandlung anheim. Dieser Entscheid, der im Grunde
keiner war und alles auf die Zukunft schob, war allerdings
weit davon entfernt, die von Bern verlangte Klarheit in
!) Siehe oben S. 153.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 217
Genfs Lage zu schaffen ; aber er verrieth doch das Bestreben,
den seit drei Jahrzehnten bestehenden thatsächlichen Verhalt*
nissen Rechnung zu tragen, und fügte den früheren Bestäti-
gungen des Burgrechts durch die Eidgenossen eine neue
hinzu.1)
Wenn die Vermittler in Bezug auf Genf die Klippe mit
Noth umschifften, so wollte ihnen das in Betreff der Haupt-
sache, der Gebietsausscheidung , nicht gelingen. Als Tag
um Tag über fruchtlosen Versuchen , zwischen den Parteien
eine Einigung zu erzielen, verfloss und die Vermittler schon
davon sprachen, schriftlich oder durch eine Botschaft wei-
tergehende Vollmachten für die bernischen Gesandten aus-
zuwirken« erklärten diese, sie würden davon doch keinen Ge-
branch machen , riethen aber , dass man sich vorerst über
die Bedingungen vergleiche, unter denen überhaupt eine Re-
stitution stattzufinden hätte, da sonst der Haupthandel noch
daran scheitern könnte. Die Vermittler waren froh, die lei-
dige Gebietsfrage für einen Augenblick ruhen lassen zu können,
und stimmten dem Antrag der Berner zu. Diese stellten in
zwanzig Artikeln, die sich fast alle im spätem Lau-
sanner Vertrag wiederfinden, die Bedingungen zusammen, die
sie an jede Restitution, gleichviel welchen Umfangs, zu
knüpfen gesonnen waren. In erster Linie verlangten sie, dass
der Herzog die abzutretenden Unterthanen bis auf ein allge-
meines christliches Konzil — das von Trient anerkannten sie
selbstverständlich nicht als solches — bei ihrer jetzigen evan-
gelischen Religion verbleiben lasse. Der zweite und
dritte Artikel betrafen Genf. Der vierte stellte den
l) Der erwöllten Schidherren gestellte Gonditiones (s. Beilage),
Art. 2 und 3 (vgl. Abschiede IV 2 1500). Bericht der Berner Ge-
sandten vom 2. Mai 1561 (St Bern Savoybuch B 825). Rofret,
Hut. du peuple de Geneve VII 6 f.
218 Der Lau sanner Vertrag von 1564.
Grundsatz auf, dass Savoyen die abzutretenden Lande, so
wie sie Bern jetzt besass, ohne jeden Ansprach
auf Herstellung des früheren Zustandes zu übernehmen habe,
der fünfte, dass alle von Bern oder unter seiner Autorität
abgeschlossenen Käufe und Verkäufe, Tauschhand-
lungen und Kontrakte, gleichviel welcher Art, s&mmt
den von ihm ausgestellten Rechtstiteln in Kraft bestehen
sollten, «nützit ussgenommen, alles one wytter ersuchen noch
hindersich gryffen», und der sechste, dass gleicher Weise
alle unter Berns Regierung ergangenen Endurtheile, Ver-
gleiche und Rathserkenn tni ss e in Prozessen «one
alles wytter ziechen* als gültig anerkannt werden müssten.
Der siebente Artikel bestimmte, dass die «Landmarch*
das Eigen thum an den von Bern eingezogenen Kirchen-
gütern scheiden und jeder Theil das, was an geistlichen
Gütern und Einkünften in seinem Gebiete liege, zu Händen
nehmen solle, gleichviel wo das Gotteshaus, zu dem sie ge-
hört hatten, liege; der achte, dass diese Ausscheidung der
Stiftsgüter nach der Landesgrenze das Eigenthum und die
Gerechtsame von Privaten und Gemeinden nicht be-
rühre, dass vielmehr jedermann bei seinem Eigenthum ver-
bleiben solle. Der neunte Artikel setzte fest, dass jeder
Theil die Zölle und Geleitgelder in seinem Gebiet, so wie sie
jetzt in Uebung seien, unverändert beziehen solle. Der
zehnte Artikel erklärte alle lehensherrlichen Rechte
Savoyens im bernischen Gebiete, namentlich diejenigen
über die Grafschaft Greyerz, für erloschen. Der elfte
bestätigte die Verträge, die Bern und Fr ei bürg in Betreff
der Grenzen, Zehnten und Schulden der Waadt unter sich
abgeschlossen. Der zwölfte stipulirte eine gegenseitige Am-
nestie für die Parteigänger des einen oder andern Theilcs,
der dreizehnte für die Unterthanen überhaupt das freie
Der Lausanner Vertrag von 1564. 219t
Aus wander ungsr echt von einem Gebiet ins andere. Der
vierzehnte untersagte beiden Parteien, die ihnen zu-
gesprochenen Stftdte, Festen, Lande und Leute durch Kauf,
Tatisch oder sonst in irgend einer Weise an andere Fürsten
oder Staaten zu veräussern, «damit ein Theil den andern
fremder, ungelegener und beschwerlicher Nachbarschaft über-
hebe.» Der fünfzehnte verbot ihnen, in den betreffenden
Landen neue Befestigungen gegen einander zu errichten
oder innerhalb einer Meile von der Grenze Kriegsvolk
zu versammeln. Der sechszehnte ordnete den Austausch
der auf die beiderseitigen Gebiete bezüglichen Urkunden an,
der siebzehnte, dass der Vergleich, in den beide
Parteien zu besondern Ehren des Königs von Spanien und
gemeiner Eidgenossenschaft gewilligt, in gebührender ur-
kundlicher Form ausgefertigt werden solle. Im acht-
zehnten Artikel verlangte Bern, dass die Privatpersonen
aus den savoyischen Landen, die es bisher in sein Bürger-
recht aufgenommen, dabei verbleiben könnten. Im neun-
zehnten bedang es sich freien Durchpass durch die
abzutretenden Lande aus. Im zwanzigsten endlich em-
pfahl es dem Herzog, die biderben Leute, die es ihm über-
geben werde, gnädiglich zu halten, dass sie Ursache hätten,
sich dieser Aenderung zu freuen.
Die Savoyischen Abgeordneten hatten an diesen berni-
schen Artikeln mancherlei auszusetzen. In Betreif der Re-
ligion beriefen sie sich auf den von Bern selbst jederzeit
gehandhabten Grundsatz «cujus regio ejus religio» und wollten
ihrem Herrn hierin nichts vergeben. Auch die Artikel, durch
die Bern allen Reaktionsgelüsten, wie sie bei Restaurationen
aufzutauchen pflegen, so energisch den Riegel schob, ferner
die reinliche Ausscheidung des Eigenthums an den Kirchen-
vätern nach der Landesgrenze, die radikale Vernichtung
aller oberlehn sherrli eben Ansprüche Savoyens in den Bern
220 Der Lausanner Vertrag von 1564.
bleibenden Gebieten, die Zugsfreiheit der Unterthanen u. a.
erregten bei ihnen Anstoss, und sie sachten einerseits die
Tragweite der bernischen Artikel durch allerlei Modifikationen
abzuschwächen, anderseits manches Verfängliche zu ihren
Gunsten daran anzuhängen, insbesondere einen Vorbehalt
künftiger Ansprüche des Bisthums Lausanne. Allein die
Berner Hessen an ihren wohlerwogenen Bedingungen nicht
rütteln; sie beharrten in der Begel sogar auf dem Wortlaut
ihrer Artikel, die nur den Zweck hätten, künftige Späne and
Zwietracht zu vermeiden, und Hessen sich auch keine Zu-
sätze gefallen, am wenigsten den Vorbehalt zu Gunsten des
Bisthums Lausanne, da es ihren Herren nicht gelegen sei,
die schwere Last von Zinsen und Hauptgütern der fürstlichen
Durchlaucht abzunehmen und aber «des Inkhomens so sy et-
licher raass entheben möcht, in gevar ze Btan.»1)
Bei der Entschiedenheit und dem Geschick, womit die
Berner ihre Artikel vertheidigten, konnten die Vermittler
nicht umhin, sie fast im ganzen Umfang zu adoptiren. Sie
stellten am 9. Mai ihrerseits einen vorläufigen Entwurf von
zwanzig «Conditioncs und Gedingen> auf, der
im Grunde nichts als eine Wiederholung der Berner Artikel
in der gleichen Reihenfolge war. Nur in einem wesentlichen
*) Der ursprüngliche Entwurf der Berner ist nach der gütigen
Mittheilung von Herrn Staatsarchivar T ö r 1 e r im heroischen Archiv
nicht mehr zu finden ; dagegegen ergibt sich der Inhalt der 20 Artikel
fast vollständig aus dem «Kurtzen bescheyd über F. Dt. zu Savoy
gesanthen Inred uf der Statt Bern gestellte Artikel» (St. Archiv Bern.
Sav. 1545—65 N. 152). Einverstanden waren die Savoyer eigentlich
nur mit Artikel 14, 15 und 16. Zum Gang der Verhandlung vergleiche
den Bericht der Berner Gesandten vom 8. Mai (Savoybuch B 833),
den Brief von ltelhans Thumysen an Zürich vom 8. Mai und den
«Abschied der Einliff Orten», Basel, Woche nach St. Georgi (beides
im St. Zürich, Savoyen).
Der Lausanner Vertrag von 1564. 221
Punkte waren sie davon abgewichen. Wie von einem in
Mehrheit katholischen Collegium nicht anders zu erwarten
war, urtheilten sie, dass es in der Gewalt des Herzogs
stehen solle, zu bestimmen, wie es mit dem Glauben in den
abzutretenden Landen gehalten werden solle.1) Allein die
Berner, die sich sonst mit der Fassung der zwanzig Artikel
durch die Vermittler einverstanden erklarten, machten ans
der Annahme ihres Religionsartikels eine Condito sine qua
non: wenn er nicht, so wie sie ihn festgesetzt hätten, be-
willigt werde, sei alle bisher angewandte Mühe und Arbeit
vergeblich; die Vermittler sollten die savoyischen Gesandten
bewegen, ihre Opposition aufzugeben, oder, wenn sie lieber
wollten, es Bern überlassen, sich hierin mit Savoyen direkt
zu verständigen. In der That zogen sie es gegenüber dieser
kategorischen Erklärung vor, den Religionsausgleich den
Parteien zu überlassen, da die Katholiken unter ihnen sich
l) iDer Erwölten Scbydlierren gestellte Gonditiones und
Gedingen, in welcher der F. Dt. zu Savoy die Land und Flecken
etc. wider zugestellt und wie es sonst zu beden Siten gehalten
werden soll» (St. Bern. Savoyen 1545 — 65, N. 153). Eine Ver-
rfeiebung der «Gonditiones» mit den Bemerkungen des «Kurtzen
bescheyd» zu den einzelnen Artikeln lassen keinen Zweifel zu, dass
die «Gonditiones der Schydherrem, vom Religionsartikel abgesehen,
mit den von den Bernern aufgestellten Artikeln in allem Wesent-
lichen identisch sind. Vgl. auch D'Orbais an Aubespine 14. Juli 1563,
wonach die Savoyer Gesandten beim Botschafter für die Auslassung
Frankreichs in Art. 17 sich damit entschuldigten, dass die Berner den
Artikel entworfen hätten. Einzig der Artikel 19, der das Durch-
p*8g recht durch die streitigen Lande gegenseitig, jedoch unter
Ausschliessung feindlicher Absichten, feststellt, mag auf die Redak-
tion der Vermittler zurückgehen, da Bern es in Betreff dieses Artikels
den Vermittlern anheimstellte, «wie der zu beider Theilen Sicher-
heit, Frieden, Ruhe und unargwöniger bywonung erhaltung bester
Wys zu stellen sei.»
222 Der Lausaun er Vertrag von 1564.
nicht damit befassen wollten, eine Bestimmung zu Ungunsten
ihrer Eeligion zu sanktioniren. ')
Die Vermittler brachten nun die «Conditiones» in die
endgültige Form, indem sie den Religionsartikel in diesem
Sinne redigirten und am Schluss zwei neue Bestimmungen
als 20. und 21. Artikel hinzufügten: 1. dass die Hoheit
über den Genfersee dem Besitz am Ufer entsprechen solle,
2. dass Bern alle auf den streitigen Landen haftenden
Kapital- und Zinsschulden für seinen Gebietstheil zu
übernehmen und dem Herzog den seinigen schuldenfrei zu
übergeben habe. Die so ins Beine gebrachten Artikel fassten
sie am 11. Mai mit ihrem endgültigen Vorschlag in Be-
treff der Gebietstheilung zu einem «freundlichen Spruch» zu-
sammen. Dabei hielten sie ihren Vorschlag vom 24. August
1561, der dem Herzog Chablais, Genevois, Gex und
N y o n zuerkannt hatte, als Ausgangspunkt fest. Weil jedoch
die Berner des Bestimmtesten erklärt hatten, dass sie auf
das diesseits des Sees gelegene Chablais (Vevey,
Chillon, Villeneuve etc.) als ihre einzige Landstrasse nach
Aelen und ins Wallis unmöglich verzichten könnten, schlugen
die Vermittler dies Gebiet zum bernischen Antheil, suchten
aber dafür Savoyen eine Kompensation am andern Ende des
Sees zu schaffen, indem sie zu dem ihm schon bestimmten Nyon
noch ein Stück der Vogtei Morges, nämlich das Gebiet von
Bolle bis zur Aubonne, hinzufügten.8)
l) SU Bern, Savoyen 1545—65 N. 154. Art. 1 der «Conditiones
und Mittel». Vgl. Zehender 64: «dan sich die bäpstischen Schidort
•der Religion halben nflth annemmen wellen.»
8) «Der erwöllten Schidherren gestellte Conditiones und
Mittel etc.» (Siehe Beilage.) Diese «Conditiones und Mittel»
(der endgültige Spruch) sind mit den S. 55 N. 2 erwähnten « Con-
ditiones und Gedingen» grösstentheils, doch nicht ganz identisch.
Der Lau sanner Vertrag: von 1564. 223
Da die Anwälte der Parteien keine Vollmacht hatten,
weder za- noch abzusagen, wurde bestimmt, dass beide Theile
ihre definitive Antwort auf die nächste gemein-eidgenössische
Tagsatzung in Baden senden sollten, und da man sich nicht
verhehlte, dass die Aussichten auf Annahme in Bern gering
seien, wurden schon jetzt von den elf Vermittlern vier ans
ihrer Mitte, Thumysen von Zürich, Pf y ff er von Luzern,
Beding von Schwyz und Krug von Basel, ausgewählt,
um im Nothfall nach Bern zu reiten und im Namen aller
durch ihr Zureden die harten Gemüther zu erweichen.1)
Es kam so, wie die Konferenz besorgt hatte. Herzog
Emanuel Philibert genehmigte am 2. Juli 1563 den BaBler
Spruch, und seine Boten wiederholten diese Erklärung am
30. Juli vor den in Baden versammelten Vermittlern.*) In
Bern war der dem Druck der fremden Botschafter und der
Miteidgenossen unmittelbar ausgesetzte Kleine Rath ebenfalls
zur Nachgiebigkeit geneigt ; aber im Grossen Rath bäumte
sich der Berner Stolz noch einmal hoch auf gegen jegliche
Konzession. In der ersten Abstimmung am 23. Juli 1563
erhob sich für den Spruch der Eidgenossen keine Hand
Völlig übereinstimmend sind Art. 2, 3, 6 — 12, 14—19. Die Haupt-
abweichung Hegt im Religionsartikel (1). Ferner enthalten die
•Mittel» die im Text erwähnten neuen Bestimmungen als 20. und
letzten (21.) Artikel, sowie im Anfang den Landlheüungsvorschlag,
was alles den t Gedingen» fehlt. Der 20. Artikel der c Gedinge»
and des Berner Entwurfes erscheint in den «Mitteint, umrahmt von
dem Vorbehalt der sonstigen Rechte der Parteien und der Erklärung,
dass hiemit alle Fehde und Feindschaft todt und ab sein solle, als
■Beschluss» des Ganzen. (Siehe Beilage.)
') Abscbeid der EinM Orten, Woche nach Georgt 1563 (St.-A.
Zärieh, Savoyen).
2) Baden, 2. Heumonat 1563 (St. Zürich, Savoyen; St. Bern,
SaToybuch B 853). Vgl. Absch. IV2 261, 264.
224 Der Lausauner Vertrag von 1564*
und kein auf irgend eine Landabtretung zielender Antrag
der Regierung machte mehr als 20 Stimmen. Durch alle
möglichen Vorstellungen , unter denen namentlich diejenige
Eindruck machte, dass der Herzog seine Ansprüche auf den
König Ton Spanien oder andere, «die uns villicht zu stark
gyn würden >, übertragen könnte, erreichte sie schliesslich
am 25. Juli eine Mehrheit von 108 gegen 43 Stimmen für
den Antrag, dass man den Basler Vergleich ablehne, da man
Gex und Nyon nicht aufgeben könne, aber zur Abtretung
der Landschaft «ennet dem See und dem Rotten» unter den
zu Basel vereinbarten Bedingungen bereit sei, wofern sich
der Herzog vorher mit Bern der Religion halb vergleiche
und auch mit Genf ein gründlicher Friede zu stände gebracht
werde.1) Diesen Bescheid überbrachten Schultheiss Hans
Steiger und Seckelmeister Manuel den in Baden versammelten
Vermittlern, die nun die in Basel bezeichnete Viererbotschaft
nach Bern zu entsenden beschlossen. Für den Fall, dass ein
erster Vortrag erfolglos bliebe, erhielt die Botschaft Befehl,
in schärferer Tonart mit den Bernern zu reden, was für ein
Recht sie eigentlich auf die eingenommenen Lande zu haben
vermeinten etc. Indess sorgte Zürich dafür, dass der zum
Sprecher ernannte Itelhans Thumysen nicht in dieser
Weise Oel ins Feuer goss, indem es ihn in einer besondern
Instruktion anwies, ohne sich geradezu von seinen «Mitherren»
zu trennen, diesen zweiten, «mit etlichen Worten zu scharpfen»
Befehl «nit wie er gestelt» vorzutragen, sondern es bei guten,,
freundlichen Worten bewenden zu lassen.*) Die Vorsicht
*) Zehender 53 — 60: Berns Antwort im Instruktionenbuch
S. 265.
2) Abschiede IV2 264. Instruktion für die vier Boten, Baden,.
Freitag nach Jakobi 1563 (St. Zürich, Bern). Instruktion von
Bürgermeister und Räthen für Itelhans Thumysen, Zürich, 7. August
1563 (St. Zürich, Sa*oyen).
Der Lausanner Vertrag von 1564. 225
Zarichs war keineswegs überflüssig; denn in Bern herrschte
gegen die Eidgenossen wegen ihrer Haltung in der Savoyer-
frage eine so bittere Stimmung, dass der Rath eine besondere
Ermahnung an die Bürger bei Strafandrohung für nothwendig
hielt, «dheyn unzucht weder mit Worten noch werken ge-
meldteu botten ze erzöugen.» *)
Mit den vier Boten der Eidgenossen machte sich auch
die savoyis che Abordnung, der Präsident, von Montfort
and der Botschafter Lambert, welche die Zustimmung des
Herzogs nach Baden überbracht hatten, auf den Weg und in
Solothurn schloss sich der französische Botschafter D'Obais
an, um sein Scherflein zum Frieden beizutragen.2) Die Sa-
Toyer getrauten sich aber nicht, in Bern zu bleiben, sondern
warteten im nahen Murten den Erfolg des Schrittes der
Vermittler ab. Der französische Botschafter drückte den
beiden bernischen Schultheissen, die ihm die Aufwartung
machten, den dringenden Wunsch des Königs aus, den Streit
auf gütlichem Wege beigelegt zu sehen, und die vier
Boten der Eidgenossen erschienen zweimal, am 13. und
14. August, vor Kleinem und Grossem Rath, erlangten aber
keinen andern Bescheid, als dass man bei der zu Baden ge-
gebenen Antwort verbleibe ; weitere Zumuthungen müsse man
bei der Wichtigkeit des Handels vor die Gemeinden zu Stadt
and Land bringen. Auf einen Appell an das Berner Volk
wollten es aber die eidgenössischen Boten bei der wohlbe-
kannten Stimmung desselben nicht ankommen lassen. Sie
zogen es vor, nach Murten zu reiten und den Savoyern zu-
zumutben, durch den Verzicht auf Nyon und Rolle den
Bernern einen Schritt entgegen zu kommen. Die herzoglichen
1) Zehender 61.
2) D'Orbais an Aubespine 25. August 1563 (Gopie im Bundes-
arthhr).
15
226 Der Lausanncr Vertrag von 1564.
Gesandten erklärten zwar, sie hätten keine Vollmacht, «einen
einzigen schlich erdrichs», der durch den Spruch der Ver-
mittler ihrem Herzog zuerkannt worden, fahren zu lassen,
und anerboten 30,000 Kronen für Nyon, 100,000 für Vevey,
Chillon u. 8. w.; aber auf die Erwiderung der Eidgenossen,
den Bernern sei so wenig Erdreich feil, als dem Herzog,
willigten sie schliesslich doch ein, den Vorschlag an ihren
Herrn gelangen zu lassen. Dann traten die vier Boten am
17. August abermals vor den Grossen Rath in Bern und
richteten einer nach dem andern die dringende Bitte an den-
selben, durch den Verzicht auf Gex die Hand zum Frieden
zu bieten. Bern habe die Wahl zwischen der «Freundlich-
keit», dem «Recht» oder dem Krieg; es solle bedenken, wie
es besser fahre. In der That gab die Erwägung, dass man
dem Herzog, wenn er der Stadt das Recht auf die Eidge-
nossen biete, dasselbe kaum abschlagen dürfe, dass man aber
von einem Richterspruche der elf Orte höchstens die Waadt
zu erwarten habe, den Ausschlag. Der Grosse Rath gieng
von seinem frühern Beschlüsse, <|en Handel vor die Land-
leute zu bringen, ab und ertheilte den Boten der vier Orte
im Geheimen die Zusage, dass er auf Gex verzichten wolle,
wofern mit dem Herzog in Betreff der Religion und Genfs
eine Verständigung möglich sei. Zugleich stellte er an die vier
Boten das Begehren, es möchten nun die Eidgenossen das
Bern noch verbleibende Land «in die eidgenössischen Bündi*>
aufnehmen, und sie versprachen, ihr Bestes zu thun. *)
Mit der Einigung über die Gebietsfrage war der Friede
im Wesentlichen erreicht. Die Berner hatten durch ihre Zähig-
*) Zehender 61 — 64. Abschied uff das Anbringen der vier Orte.
Bern 18. August 1563 (St. Zürich, Bern). Antwort Berns am
17. August (Savoybuch B 272).
Der Lausanner Vertrag von 1564. 227
keit immerhin so viel gewonnen, dass ihnen nicht bloss die
Waadt intakt blieb, sondern dass sie dazu das werthvolle
Stück Chablais diesseits des Sees mit Vevey nnd der Seefeste
Ciiülon behielten. Aeusserst schmerzlich blieb immerhin die
Amputation von Gex, womit die Savoyarden wieder in den
Besitz des Eingangsthores zur schweizerischen Hochebene
sowie der «starken Passe nach Burgund» gelangten und Genf
wieder eine von feindlichem Gebiet umschlossene Enklave
wurde. Das war für Savoyen ein Erfolg, zu dessen Siche-
rung es sich schon lohnte, das kleine Opfer von Nyon und
Kolle zn bringen. Die herzogliche Gesandtschaft in Murten
erhielt daher Vollmacht, Bern zur Formulirung seiner Be-
kehren in Betreff der letzten noch unausgetragenen Punkte ein-
zuladen. Am 1. September stellte der Grosse Rath dem Herrn
von Morrens, der im Namen der Gesandtschaft in Bern erschien,
seine Forderungen zu: 1. Beibehaltung der bisherigen Religion
bis auf ein allgemeines Konzil, 2. unbedingte Anerkennung
des Genfer Burgrechts, 3. Heimfall der abgetretenen Lande
an Bern, falls der Herzog den Vertrag in irgend einem
Punkte verletze. Als jedoch die Savoyer sich weigerten,
diese Artikel ihrem Herrn zu übermitteln, weil die vorge-
schlagene Verpfandung einen beleidigenden Zweifel in seine
Ehrenhaftigkeit involvire und der Ausschluss des Rechts
in betreff des Genfer Burgrechts im Widerspruch mit den
von Bern bereits anerkannten Basler Abmachungen stehe,
Hess der Grosse Rath am 10. September mit «schlechtem
Mehr» die Verpfändung fallen und begnügte sich, in Be-
treff des Burgrechts zu erklären, er «werde stiff daran halten >
und wolle gewärtigen, wer ihn mit Gewalt oder Recht davon
zu treiben sich unterstehen werde. ') Umsonst setzten die Genfer
*) Zehender 67—69. Rcsponce de nos trta redoubtes S«« . . sur
k memoire de Noble . . seigneur de Morrens, 1. Sept. 1563 (St. Bern,
228 Der Lausanner Vertrag von 1564.
alle Hebel gegen diese Nachgiebigkeit der Berner in Be-
wegung; man war an der Aare des Handels sichtlich müde
und wollte einmal zum Ende kommen. Am 24. November
wurde einer Genfer Gesandtschaft erwidert, Bern könne
Genf nicht das Privileg verschaffen* dass es niemandem, der
es rechtlich belange, zu antworten habe ; bei den Eidgenossen
sei es Brauch, das Recht niemandem zu verweigern ; dagegen
werde man der Stadt gegen jede Vergewaltigung treue Hilfe
leisten. Selbst die Verschwörung, die der Gouverneur Du-
bochet um Weihnachten 1563 im Verein mit vertriebenen
Libertinern gegen Genf anzettelte, vermochte den Entechluss
der Bern er nicht mehr zu ändern ; diese waren . sogar ge-
neigt, der Behauptung der Savoyer Glauben zu schenken,
die Genfer hätten die Verschwörung nur erfunden, um den
Frieden zu hintertreiben.1)
Nach den Verabredungen im September 1563 sollte zur
Schlichtung der letzten Anstände eine Konferenz der beiden
Staaten in Nyon zusammentreten, die indess von Bern mit
Rücksicht auf die Vorgänge in Genf verzögert wurde, bis
der Herzog die Verschwörung Dubochets durch seinen Bot-
schafter energisch desavouiren Hess.2) Am 1. Mai 1564
kamen endlich die Vertreter Savoyens, der Gouverneur Du-
Savoyen 1545—65 N. 148; auf der Rückseite steht: «Der Herr von
Morrens hat dise antwort uiinen g. Hrn. wider hinus geben ne au-
steritate ejus oftenderetur princeps visis conditionibus insertis»).
Instruction ä Mons. de Morrens, Morat 4. Sept. 1563, unterzeichnet
Montfort, Lambert (Savoyen N. 149). Responce, 10. Sept. (Instruk-
tionenbuch S. 275).
l) Zehender 67—75. Roget, VII 27 ff.
») Zehender 75—80, Dubochet an Bern, 24. Jan. und 23. Febr.
1564, Montfort an Bern, 28. Febr. (St. Bern, Savoybuch C). Mont-
fort nennt die Genfer Verschwörung «une imposture controuree»,
welche den Nyoner Tag nicht länger aufschieben sollte.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 229
bochet, die Präsidenten Ton Montfört und Milliet, der Ritter
von Montagny, der Freiherr von Chivron und der Botschafter
Lambert de la Croix mit denjenigen Berns, den beiden Schult-
heissen Hans Franz Nägeli und Hans Steiger, den Seckel-
meistern Nikiaus von Graffenried und Hieronymus Manuel,
den Vennern Wolfgang von Wingarten und Ambrosius Iin-
hof auf dem Bathhaus zu Nyon zusammen. In Betreff der
Religion wurde man rasch einig, da Emanuel Philibert, so
schwer es ihm auch fallen mochte, sich den Bedingungen der
Berner vollständig unterwarf. Die evangelische Kirche, so
wie sie Bern eingerichtet hatte, mit ihren Prädikanten und
Helfern, sollte in ihrem ökonomischen Bestände gesichert und
vor jeder Verfolgung geschützt in den abzutretenden Landen
fortbestehen, bis ein durch die Fürsten und Stände der
Christenheit veranstaltetes allgemeines Konzil die Religions-
frage nach der heiligen Schrift entscheide.1)
*) Der Religionsartikel des Nyoncr Abschieds, der meines
Wissens nirgends gedruckt ist, lautet: «Nam blich das alle Under-
thanen, Hindersessen unnd Inwoner so ein Statt Bern der F. Dt.
übergeben wurde, beharren sollend inn der Religion, die sy jez
hall teilt, sampt der Reformation unnd dero anhänger nach luth der
Mandaten, so hierab biss uff disen thag ussgangen, ane einich Ver-
stössen noch Verhinderung solticher Religions Uebung. Sy sollen
oueb ronn desswegen nitt gestrafft, beschwert, vervollgct noch be-
eidiget werden, eym'cherley gstallt, an lyb noch an gut, weder durch
die F. Dt., Ire amptlülh, diener noch' andere, sonnders wann inen
tttwas widerdriess der Religion oder sonnst unzimlicher gstallt be-
gegnet, die F. Dt. aus ein warer Forst der gerechtigkeit die straff
hitrumb gan lassen, wie er dess gegen anndere sine Underthanen
euch pflegt, und dbein Unterscheid hierinn hallten.
Damit aber berürte Unnderthanen inn Uebung irer vorgemellten
Religion fürfaren mögend, ist uff disshalb beschechnen anzug der
Herren Gesandten vonn Bern abgerett, das die Predicanten und
Hilffer so sölliche Religions Uebung er v ordert, inn der Land t schafft
230 Der Lausanner Vertrag von 1564.
Diese Vereinbarung sollte schriftlich ausgefertigt, aber
bis zu völligem Austrag der Sache sorgfältig geheim gehalten
werden, da Emanuel Philibert besorgte, sich durch dieses Zu-
geständniss Unannehmlichkeiten von Seiten der beiden Könige
und anderer Fürsten zuzuziehen.
In Betreff des Genfer Burgrechtes kam man überein,
dass es in seinem jetzigen Bestand verbleiben solle, bis über
seine Gültigkeit oder Ungültigkeit ein Bechtserkenntuiss er-
gangen sei, und der Herzog verpflichtete sich, bis zur nächsten
Vermittlerkonferenz, auf welcher der endgiltige Friedens-
schluss zwischen ihm und Bern erfolgen sollte, alle seine An*
ane beleidigung und seh mach sollten erhallten werden mit glychcr
besoldung, wie sy die vor gehept und noch diser Zit innemend.
Doch diss alles biss das durch Usssprechen eins allgemeynen fryen
sichern Concilii, durch die Fürsten unnd st&nnd der Christenheit zu
ergründung der göttlichen Wahrheit durch anleidtung des heiligen
geists bewilliget, erlflthert wird, was fhorm der Religion man hallten
solle nach Usswysung der heiligen geschrillt dess allten und nuwen
testaraenls, einem solichen beschluss möge man dann die Unnder-
thanen wysen ze gehorsamen, wie gemeinlich sonnst Jedermann, und
ze laben, wie es alls obstadt angsechen wirt.
Disen Articull bewilligend die Hertzogischcn Gesandten mit
Vorbhallt, nämlich so die übrigen spenn all zwüschen F. Dt. und
den Herren von Bernn ouch entscheiden und verträglich ze hallten
angnommen werden; wo nit, das dise bewilligung und erlüthrung
ouch nichtig sye, alls ob dero nie gedacht worden ; denne ouch mitt
gedingen, dass dise abredung, erlüthrung unnd bewilligung der Re-
ligion weder schrifftlich noch müntlich solle usskhommen vor end-
lichem beschluss gegenwärtiger Unterhandlung und Vertrags beyder
Parlhyen, sonnders allso in gschrifft durch beid Secretarien, an die
mann zu Nüwenburg gehalltner lhagleistungen khotnmen, unnder-
schriben, inn geheimbd zwüschen beiden theilen beruwen biss zu Uss-
trag der Houpthandlung. Jm Vaal aber derselbigeu Zerschlacheuns
(das Gott wennd) solle jeder theil dem andern dise gschrifft hinus-
geben, nach yorgendem bericht siner Herrn und Obern.*
Der Lausanner Vertrag von 1564. 231
sprachen an die Genfer ruhen zu lassen, sie in keiner Weise
weder durch seine Amtsleute noch durch seine Unterthanen zu
belästigen, ihnen freien Handel und Wandel zu gestatten
o. s. w. ') Endlich vereinbarte man noch «lütherungswis»
einige unwesentliche Zusätze zu dem 6., 7., 12., 13. und
20. Artikel des Basler Spruchs.*)
Ueber die Friedensbedingungen war man jetzt im Reinen.
Ehe aber die Berner Regierung sich endgültig entschloss,
wollte sie nach dem guten Brauche der Reformationszeit an-
hören, was ihr Volk zu dem wichtigen Schritte sagte, den
zu thun sie im Begriffe stand. Am 24. Mai beschloss der
Grosse Rath, Botschaften in alle Aemter zu schicken, um
ihnen den Stand der Dinge vorzutragen und ihre schriftlichen
Antworten entgegen zu nehmen.3) Noch sind die Akten
dieser denkwürdigen Volksabstimmung, die in den einzelnen
Aemtern vom 13. Juni bis 11. Juli 1564 von statten gieng,
erhalten und gewahren einen lehrreichen Einblick sowohl in
die Art dieses altschweizerischen Referendums überhaupt als
in die damalige Stimmung des Berner Volkes. Wenn dieses
nach dem ursprünglichen Beschlüsse schon im Herbst 1563
angefragt worden wäre, würde es ohne Zweifel mit über-
wiegender Mehrheit gegen jedes Zurückweichen vor Savoyen
*) Abscheid gchalltener Gonferenz zu Neuws im Majo 1564
(St Bern, Savoybuch C 41—51). Vgl. Zehender 80 f. und die
Instruktionen der Berner vom 18. April (Instruktionenbuch 278).
*) Der fürstl. Dt. zu Savoy ersame Anwalt an einem und der
Statt Bern Gesanten am andern teil gesteltes Bedencken über der
Srhidlfiten zu Basel . . . ussgesprochne mittel im Mayen des jüngst
verrückte» Jares 1563 etc. (St Bern, Savoyen 1545—65 iN. 164).
Dies undatirte Schriftstück kann nur dem Nyoner Tag angehören,
dt in der Instruktion Nägelis für den Lausannertag bereits Bezug
darauf genommen wird (N. 162.)
sj Zehender 81.
232 Der Lausanner Vertrag von 1564.
protestirt haben. Jetzt stellte die Regierung es vor ein fait
accompli; sie präsentirte ihm einen nach den mühevollsten
Verhandlungen zu stände gebrachten Frieden, der Bern den
ruhigen Besitz von zwei Dritteln des eroberten Landes, des
schönsten und wichtigsten Stückes, sicherte und die abzu-
tretenden Gebiete in ehrenhafter Weise bei ihrem bestehenden
Rechtszustand und ihrem evangelischen Glauben schützte,
dessen Verwerfung die Eidgenossen ohne Unterschied des
Glaubens beleidigen und allem Anschein nach die bedenklichsten
Verwicklungen nicht bloss mit Savoyen, sondern auch mit
Spanien nach sich ziehen musste. Trotzdem der Bericht der
Regierung, den die Rathsbotschaften den versammelten Ge-
meinden vorzutragen hatten, diese Sachlage eindringlich vor
Augen legte *), wollte es einem starken Theil des Berner
Volkes noch immer nicht in den Kopf, dass man Lande, die
man ohrlich mit dem Schwert gewonnen und achtundzwanzig
Jahre ruhig besessen, ohne Kampf preisgeben solle. Von
37 Am tsgemeinden sprachen sich nur achtzehn,
also kaum die Hälfte, für die Annahme des
Friedens aus.2)
Fünf stellten den Entscheid der Regierung anheim3),
darunter eine, Ranflüe, mit dem Beifügen, das Beste würde
sie immerhin bedünken, das Land mit dem Schwert zu be-
*) Instruktion minen Herrn den Gesandten inn Stadt und Land
für die Räth und Gemeinden von wägen der Savoyischen Vertrags-
handiung etc. (St. Bern, Savoyen 1545—1566 N. 155. Instruktionen-
buch 298.)
*) Konolfingen, Unterseen, Inderlappen, Hasle, Frutigen, Nieder-
sibenthal, Seftigen, Obersibenthal, Saanen. Oesch, Landshut, Lanpen.
Brugg, Amt Eigen, Grafschaft Lenzburg, Schenkenberg, Aarau und
Zofingen. Die Antworten der Acmter im Savoybuch C S. 65 ff.
8) Rougemont, Hutlwil, Ranflüe (Trachselwald), Wangen mit
Aarwangen und Bipp, Biberstein.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 233
haupten. Vierzehn aber, Thun, Spiez, Aeschi, Aelen,
die vier Kirchspiele, Zoliikofen, Sternenberg, Aarberg, Erlach,
Xidau, Büren, Burgdorf, Aarburg und Stadt Lenzburg waren
mit Entschiedenheit dafür, dem Herzog «gar nützid weder
viel noch wenig von den eingenommenen Landen» wiederzu-
geben, sondern Leib, Leben, Ehre und Gut an die Behauptung
des Ganzen zu setzen. Das Landgericht Sternenberg meinte,
der vorige Herzog habe viel verheissen und nichts gehalten,
der jetzige werde seinem Vater nachschlagen ; wenn es ihm
gelinge, sich im einen oder andern Platz einzunisten, werde
er weiter greifen und die ganze Sache wieder von vorn an-
fangen. Auch würde es allen Bernern zum Spott gereichen,
wenn man draussen hb'ren müsste : «Ir hand ein Land widej
recht inngehept und es darumb müssen widergen.> *) Beson
ders kräftig war der Protest der Amtsgemeinde Nidau. Da
wurden die Alten, die 1536 das Land hatten gewinnen helfen,
voraus angefragt, und diese beschlossen einstimmig mit auf-
gehobenen Händen, sie wollten «gemelltem Hertzogen ganz
und gar von sblichem Land nitt ein schu breit noch wit
widergäben >, sondern, da es mit dem Schwert gewonnen,
es anch mit dem Schwert erhalten, mit Ehre, Leib und Gut,
<so wit der allmächtig gott uns gnad verüben wirt.» Diesem
Beschluss der Veteranen fielen die Jungen einmüthig bei. 2)
An dem Muth des Berner Volkes hat es wahrlich nicht ge-
bangen, wenn die Schweiz im Südwesten ihre natürliche
Grenze nicht behauptet hat.
Immerhin konnte die Bern er Regierung nun sagen, dass
bk von der Mehrheit der Aemter zum Abschluss des Friedens
unter den zu Basel und Nyon vereinbarten Bedingungen er-
mächtigt sei. Am 18. Juli beschloss der Grosse Rath mit
M St Bern, Savoybuch G S. 143 ff.
?j Ebenda S. 160.
234 Der Lausanner Vertrag von 1564.
v
146 gegen 49 Stimmen die Annahme des Vergleichs von
Nyon, und am 20. Juli erschien eine Gesandtschaft des Her-
zogs, die von seiner Seite das Gleiche meldete.1) Unmittel-
bar nach Empfang der bernischen Zustimmung Hess Emannel
Philibert durch seine Botschaft in Bern in aller Form er-
klären, dass er sich mit den anerbotenen drei Vogteien Thonon,
Ternier und Gex zufrieden gebe und auf die im Basler Spruch
ebenfalls genannten Vogteien Nyon und Morges verzichte.2)
Am 7. August wurde der Nyon er Geheimvertrag ur-
kundlich ausgefertigt.3) Dann verabredete man die Einbe-
rufung einer letzten Vermittlerkonferenz auf den 22. Oktober
nach Lausanne, um den Frieden in endgültiger Form aufzu-
richten. *)
Die stattliche Versammlung, die am 22. Oktober 1564
in Lausanne zusammentrat, bestand aus den uns bekannten
elf Vermittlern, nur dass an die Stelle des inzwischen ver-
storbenen Wilhelm Fröhlich als Vertreter Solothurns der Alt-
schultheiss Urs Sury getreten war, ferner aus den sechs savoyi-
schen und den sechs bernischen Unterhandlern, die zu Nyon
verhandelt hatten, an ihrer Spitze Schultheiss Hans Franz
Nägeli, dem es mithin beschieden war, den Kriegszustand
mit Savoyen, den er vor 28 Jahren durch seinen Eeldzug
eröffnet, wieder zu schliessen. Anwesend war auch der fran-
zösische Botschafter D'Orbais, während spanischerseits sich
niemand eingefunden zu haben scheint. So zahlreich die Lan-
1) Haller ur.d Müslin (Arch. hist. Ver. Bern V 82). Tillier.
Geschiebte des Freist. Bern III 416. Larabert's Vortrag vom 27. Juli
1564 (St. Bern, Savoyen 1545—65 N. 157).
2) Larabert's Vortrag (St. Bein, Savoyen 1545—65 N. 163
und 165).
3) St. Bern, Savoybuch C S. 57 ff.
4) Vgl. die Antworten der elf Orte auf die Einladung vom
1. — 12. Sept. im Savoybuch C.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 235
sanner Versammlung war, sie hatte im Grunde nur noch
Formalitäten zu erfüllen. Die Anwälte beider Parteien
sprachen den Vermittlern für ihre Mühe und Arbeit ihren
höchsten Dank aus, meldeten ihnen, dass man sich über die*
zu Basel und Mnrten unausgetragen gebliebenen Punkte in-
zwischen verständigt und über andere etwas näher erläutert
habe, und richteten an sie die Bitte, ihnen nunmehr über
den ganzen Handel den verheissenen «brieflichen Schyn» auf-
zurichten. Der Stadtschreiber Heinrich Falkner von Basel,
der bei allen Verhandlungen der Vermittler als «gemeiner
Schreiber» die Feder geführt hatte, verfasste das vom 30. Okt.
1564 datirte Friedensinstrument. Sehen wir von der langen
geschichtlichen Einleitung mit den Plaidoyers, Repliken und
Dapliken der Parteien ab, so sind die eigentlichen Vertrags-
artikel völlig identisch mit den im Mai 1563 nach
den bernischen Vorschlägen aufgestellten
Basler Artikeln, nur dass unter den an Savoyen zu-
rückzuerstattenden Gebieten Nyon und das Stück der Vogtei
Horges bis zur Aubonne fehlte, dass ferner einzelne Artikel
gemäss den Verabredungen von Nyon durch Zusätze näher
ausgeführt wurden, ohne ihrem Wesen nach eine Veränderung
zu erleiden. !) Insbesondere wurde in Art. 20 als Grenze
lJ Die zu Basel aufgestellten «Gonditiones und Mittel» sind wört-
lich in deu Lausanner Vertrag übergegangen und bilden den eigent-
lichen Körper desselben. Im Lausanner Vertrag sind neu hinzuge-
kommen: 1. die Einleitung mit der Geschichte des Streites, den
Plaidoyers, Repliken und Dupliken (Abschiede IV», 1477 — 98) ; 2. in
Artikel 6 (S. 1501) die Worte «Subastacionen und Vergantungeu»,
3. in Artikel 7 die zweite Hälfte «und solle aber — gehallten
werden», 4. in Artikel 12 (1502) die zweite Hälfte «als aber in sol-
liebem — stattgethan werde», 5. in Art. 13 (S. 1503) der Schluss-
satz «Darzu das ouch — underworffen sin sollen», 6. in Art. 20 alle
die genauen Grenzbestimmungen «Und solle aber die Mitte des
SeesfS. 1503 unten) — zu der frigen Herrschaft Gex» (S. 1506 oben),
7. der Scbluss (S. 1507—8.) Siehe Beilage.
236 Der Lausanner Vertrag von 1564.
im See die Mitte desselben festgesetzt und» zugleich eine bis
ins Detail gebende Grenzbereinigung zwischen Gex und der
Waadt eingefügt. Der Nyoner Vertrag selbst fand keine
Aufnahme in den Lausanner Vertrag, vermnthlich weil der
Religionsartikel nach dem Wunsch des Herzogs geheim
bleiben sollte. Nicht im Vertrag, weil die bernischen Ge-
sandten keine Vollmacht dazu hatten, aber im Abschied
setzten die Vermittler als Tag der Uebergabe der abzutreten-
den Gebiete den 1. März 1565 fest1) Statt jedoch diesen
Termin zn acceptiren, knüpfte Bern die Uebergabe an die
Erfüllung einer Bedingung, die weder im Vertrag noch im
Abschied mit einer Silbe erwähnt wurde, über die es sich
aber mit dem Herzog schon vorher verständigt hatte, ohne
eine Ahnung zu haben, dass dieselbe 233 Jahre später der
Nagel zum Sarge seiner Unabhängigkeit werden sollte.
Schon während den Nyoner Verhandlungen scheinen die
Berner den Wunsch, dass der endgültige Friedens-
vertrag von den Königen von Frankreich und
Spanien mit Brief und Siegel «approbirt» werde,
geäussert und mit den savoyischen Gesandten ein Formular
dafür vereinbart zu haben. In dem Schreiben, worin sie
Emannel Philibert die Annahme der Nyoner Artikel anzeigten,
hatten sie diesen Wunsch wiederholt, und der Herzog hatte
sich damit einverstanden erklärt. Bern war daran so viel
gelegen, dass dem Schultheissen Nägeli in dem «Denkzettel»,
den er nach Lausanne mit bekam , noch besonders einge-
schärft wurde, «das bed parthien jede für sich selbs die beden
J) Abscheyd des Tags etc. zu Losanne geballten vor Simonis und
Judä, anno 1564 (Staatsarchiv Zürich, Savoyen). Abschiede IV2 300.
Die eilf Orte an Bern, Lausanne 31. Okt 1564 (Staatsarch. Bern,
Savoybuch G S. 357). Instruktion der Berner Gesandten vom
18. Okt. (Instruktionenbuch 286).
Der Lausanner Vertrag von 1564. 237
künig zu Frankrich und Hispanien um besiglete bestätigungs-
brieff der schydherrn Ussspruchs ankeren sollend uff wyss
and form, wie die Savoyschen den Bernischen Gesandten dess
ein Copy zugestellt.*1) Offenbar wollte es bei der engen
Verwandtschaft der beiden Könige mit dem Herzog and bei
dem Eifer, mit dem sie sich für ihn verwendet hatten, die
(rewissheit haben, dass gegen den Besitz dessen , was ihm
noch blieb, oder gegen die Bedingungen, die es an die Kack-
erstattung geknüpft hatte, nicht etwa nachträglich von
ihrer Seite Einsprachen erhoben würden, die dem Herzog eine
Möglichkeit gewährt hätten, sich nach erfolgter Restitution
der Erfüllung des Vertrags zu entziehen. Die Savoyer
mochten auch ihrerseits eine Garantie gegen Bern darin
finden , kurz sie machten sich anheischig , die von ihm
gewünschten Ratifikationsurkunden der beiden Könige beizu-
bringen, und jenes legte solches Gewicht darauf, dass es am
16. November an Savoyen schrieb, in Betreff der Einsetzung
müsse es bitten, das Ziel zu verlängern, bis der Schidherrn
l) Staatsarch. Bern, Savoyen 1545—65, Nr. 162, 163 und 165
(Vortrag Lamberts). Ganz falsch wird von Tillier, Gonzenbach u. a.
der Artikel 17 des Lausanner Vertrages bez. der Basler Mittel auf
diese Ratifikation durch die beiden Könige bezogen. Der Artikel
sagt wie namentlich die offizielle französische Uebcrsctzung deut-
lich zeigt, weiter nichts, als dass die beiden Parteien, die zu Ehren
des Königs von Spanien und gemeiner Eidgenossenschaft — Frank-
reich wird gar nicht erwähnt — in den Vertrag gewilligt, auch die
gehörige urkundliche Ausfertigung des Vertrags durch die Vermittler,
den •schriftlichen Schyn», von dem am Schluss noch einmal die
Rede ist. verlangen. Vgl. die französische Form des Artikels (St.
Bern. Savoybuch G, S. 320) : « 4u dix-septi&nie considärant que ce
traictö et aecord se faict a l'esgard du Roy d'Espaigne et des seig-
neors des Ligues et que les partyes ont requis a nous qui avons
moyennG cest aflaire quil sott donni aux parties asseurance neces-
tairc par lettre* de tout ce traicii et aecord pour icelluy con firmer
et ratifier.»
"238 Der Lausanncr Vertrag von 1564.
Traktat und beider Könige Befestigung aufge-
richtet, besiegelt und den Parthien zugestellt
seien.1)
Neben dem Hauptgeschäft hatte die Friedenskonferenz
zu Lausanne auch die Anstände zwischen Genf und Savoyen
zu schlichten gesucht, aber ohne Erfolg, da die Savoyer auf
ihren alten Forderungen, Auflösung des Burgrechts, Einsetzung
in das Vidomnat, ja sogar auf der Anerkennung des Her-
zogs als Reichsvikar über Genf beharrten. Die Berner unter-
stützten eine Genfer Botschaft, die auf ihr Verlangen in
Lausanne erschienen war, durch die positive Erklärung,
dass sie am Burgrecht festzuhalten gesonnen seien, und die
Vermittler zogen es vor, die Entscheidung der Zukunft zu
überlassen, indem sie sich damit begnügten, den Weg zu
weisen, auf dem dieselbe zu suchen sei. Sie machten den
Vorschlag, Genf und Savoyen sollten eine Anzahl Ehrenper-
sonen bezeichnen, welche zuerst den Streit gütlich beizu-
legen trachten, dann, wenn dies keinen Erfolg hätte, als
Schiedsrichter ein Urtheil fällen, und, wenn sie in gleichge-
theilte Parteien zerfallen würden, einen unparteiischen Ob-
mann ernennen sollten. Bis zum gütlichen oder rechtlichen
Austrag des Handels aber sollten die Genfer vor allen Be-
lästigungen und Beleidigungen von Seite Savoycns und seiner
Angehörigen gesichert sein. In diesem von beiden Parteien
aeeeptirten Waffenstillstand, der jedes gewaltthäUge Vor-
gehen des Herzogs gegen Genf ausschloss, lag für letzteres
der einzige Gewinn des Lausannertages. *)
x) Schultheiss, Klein und Grosse Rütbe an die savoyischeu
•Gesandten, 16. Nov. (Staatsarch. Bern, Savoybuch C S. 359). Vgl.
Abschiede IV 2, 342.
f) Roget, Hist. du peuple de Genövo VII 112 ff.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 239
VI.
Die Vollziehung des Lausanner Vertrages.
Mit dem umfangreichen Vertrag von Lausanne, der, in
zwei Exemplaren vom Stadtschreiber von Basel ins Reine
geschrieben, von seinem Sohne und einem savoyischen
Agenten im Februar 1565 von Ort zu Ort zur Besiedlung
darcb die Schiedsrichter gebracht wurde *)i schien der lange
Streit sein Ende gefunden zu haben, und doch zog sich seine
Erledigung noch beinahe drei Jahre hin. Der Verabredung
gemäss richteten Emanuel Philibert und Bern an die Könige
von Frankreich und Spanien die Bitte um Gutheissung des
Vortrages1). Karl IX. willfahrte ihr am 26. April, Philipp IL
nach auffälligem Zögern9) erst am 22. August 1565. Als
jedoch eine savoyische Botschaft die beiden Dokumente nach
Bern brachte, fand dieses darin gewisse Vorbehalte, die sie
in seinen Augen werthlos oder geradezu gefährlich machten.
Die französische Ratifikationsurkunde enthielt die Klausel:
+Sauf moii droit et Vautruy en toutes choses» 4), die den Ber-
V Der Stadtschreiber von Basel an Bern, 30. Jan. 1565 (Staats-
arehiv Bern, Savoybuch G 367).
*j Bern an die Könige von Frankreich und Spanien, 16. Nov.
Es übersandle seinen Brief den Savoyern, die ihn mit dem des Her-
zogs zusammen an die Majestäten befördern sollten (Savoybuch G
359, 365.)
3) «L'accord du duc de Savoye avoc les Bernois est tousiours
airrouche sur quelque difticulte que faict le roy d'Espaigue de y ap-
[xKcr son scel.» Bellievre an Villeparisis, 14. Juli 1565 (Gopic im
Bundesarchiv).
•; -Mon oncle le duc de Savoye ina fait yci deinonstrer depuis
tosUv parteraent que les Scigneurs de Bern» fönt difflculte daeeep-
1>t lapprobation que jay faiete de laccord passe a Lauzanne entre
**aLxT soulz couileur que dedans les lectres que jen feiz lors expedyer
il y a une clause: »Sauf man droit et Vautruy en toutes choses »,
riisant que a ceste oegasion lenect du dict aecord est re tarda.»
Charles IX an Bellierrc, 27. Febr. 1566 (Copie im Bundesarchiv).
240 Der Lausanner Vertrag von 1564.
nern um so bedenklicher schien, als Karl IX. die von Franz I.
erhobenen Erbansprüche auf Savoyen rechtlich noch immer
nicht aufgegeben hatte.1) Noch schlimmer stand es mit der
spanischen Ratifikation, indem Philipp II. zur Beruhigung
seines katholischen Gewissens alle Artikel des Lausanner Ver-
trages, die sich auf die Religion, die Kirchengüter und Zehnten
bezogen, ausdrücklich von seiner Genehmigung ausschloss.*)
Die Berner fanden, sie hätten die Approbation der beiden
Könige verlaugt, um des Besitzes, der ihnen noch blieb,
sich in voller Sicherheit freuen zu können; die beiden Bestäti-
gungsbriefe aber böten ihnen nicht mehr Sicherheit, als wenn
sie gar keine erhalten hatten; ja dieselben verrietheu sogar
gefährliche Hintergedanken.8)
Sie erklärten daher am 25. November 1565 dem Herzog,
dass sie die Ratifikationen wegen jener Vorbehalte nicht an-
nehmen könnten und die Vollziehung des Vertrags bis zu
ihrer Verbesserung aufschieben müssten. Emanuel Phili-
bert zeigt sich in seiner Antwort über diese unver-
mutheten Schwierigkeiten sehr verwundert, versprach aber,
sofort die nöthigen Schritte zu thun, um die Vorbehalte wo
immer möglich zu beseitigen ; er hoffe aber, dass Bern, wenn
dieselben erfolglos bleiben würden, sich dadurch nicht werde
abhalten lassen, den Vertrag doch zu vollziehen. Am 10. Jan.
1566 holte ein savoyischer Agent, Gavain von Beaufort, die
beiden Urkunden in Bern wieder ab, und Emanuel Philibert
bemühte sich nun in der That, von beiden Höfen eine Bern
*) «Aussi Sire il semble que ayant vostre Majestä droict ä la
succession de Savoye les Bernois desireroient obtenir la dicte ap-
probatiou pure et simple». Bellte vre an Charles IX., 17. März 156&
(Gopie im BundesarchiY.)
2) Abschiede IV 2, 1509.
*) Bellievre au Charles IX, 17. März und 21. April 1566.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 241
besser zusagende Redaktion derselben zu erlangen.1) Karl IX.
suchte zunächst den Bernern durch seinen Botschafter be-
greiflich zu machen, dass jene Klausel eine allgemein ge-
bräuchliche, harmlose Formel sei und ihnen keinen Grund zu
Hisstrauen gebe; er hätte vielmehr Ursache, ihnen zu miss-
trauen, da sie ohne rechten Grund etwas so Ausserordent-
liches von ihm verlangten. Die Berner erwiderten jedoch
dem französischen Botschafter «als kluge Leute*, sie hätten
in dieser Sache von seiner Majestät gar nichts verlangt, und
er könne sich die Mühe sparen ; sie hätten darin einzig mit dem
Herzog ron Savoyen zu thun, der sich ihnen gegenüber ver-
pflichtet habe, die Approbation in einer ihren Wünschen ent-
sprechenden Form zu erlangen; so wie sie vorliege, genüge
*ie keineswegs für die Sicherheit, die ihnen der Herzog ver-
sprochen habe, und sei ihnen eher schädlich als nützlich.
Nach längerem Zögern entschloss sich der französische Hof
im Juli 1566, jenen Vorbehalt zu streichen, weil man nach
den Berichten des Botschafters die Berner im Verdachte
hatte, sie lauerten nur auf einen Vorwand, um sich der
Restitution zu entziehen.2) Philipp II. dagegen liess sich
zu keiner Abänderung herbei.3)
Vielleicht hatten die Franzosen mit ihrem Verdachte
nicht ganz Unrecht. Abgesehen von dem Bedauern, ein schon
\> Emanuel Philibert an Bern 12. Dez. 1565 und 7. Febr. 156G;
Empfangschein des Gavain de Beaufort für die Ratifikationsurkun-
den vom 10. Jan. 1566 (Staatsarch. Bern, Savoybuch C 373—79.)
*) Charles IX. an Bellievre 27. Febr. 1566 ; Bellievre an Char-
les K. 17. März, 21. April, 15. August 1566. Charles IX an Bei-
rre 2. April, 19. April, 4. Mai 1566. Catharina an Bellievre,
30. Joli 1566. (Copien im Bundesarchiv).
3) Bellievre an Charles IX. 21. Mai, an Catharina 1. Juni 1567
Copien im Bundesarchiv).
16
242 Der Lausanuer Vertrag von 1564.
so lange beherrschtes Gebiet ans der Hand geben zu müssen,
dürfte wohl die Rücksicht auf Genf Bern veranlasst Laben,
den Mängeln der Ratifikationsurkunden eine solche Wichtig-
keit beizumessen. *) Gemäss den Abmachungen von Lausanne
hatten Genf und Savoyen mit Beginn des Jahres 1565 auf
verschiedenen Konferenzen über das zu bestellende Schiedsge-
richt verhandelt. Der Herzog schlug die elf Orte vor, wo-
rauf die Genfer wohlweislich nicht eingingen, weil sie von
einem Gericht, dessen Mehrheit aus Katholiken und Verbün-
deten Savoyens bestand, nicht viel Gutes zu erwarten gehabt
hätten. Sie beriefen sich darauf, dass die zu Lausanne vor-
gesehene Wahl eines Obmanns eine gerade Zahl von Schieds-
richtern voraussetze, und schliesslich einigte man sich auf
die Kantone Zürich, Luzern, Uri, Schwyz, Basel und Schaff-
hausen, drei evangelische und drei katholische, deren Ver-
treter am 1. April 1565 zu Rolle in Funktion treten sollten.
Allein von einem derart zusammengesetzten Gerichte hatte
wieder Emanuel Philibert nicht viel zu hoffen, weshalb er
den Zusammentritt desselben immer wieder hinausschob, in
der Meinung, durch direkte Verhandlungen mit Genf eher
ans Ziel zu gelangen. Aber die Genfer waren nicht dahin
zu bringen, dem Herzog das kleinste Zuges tändniss zu machen,
das ihm gestattet hätte, wieder einen Fuss in die Stadt hin-
einzusetzen. So blieb der Streit zwischen ihnen und Savoyen
unausgetragen in der Schwebe, und es ist begreiflich, dass
die Berner, so lange der Herzog zu keinem Verzicht auf
seine Genferpläne zu bringen war, sich doppelt besannen.
l) Schon in der Instruktion für den Tag zu Lausanne hatte
Bern seinen Boten Auftrag gegeben, mit der Einsetzung Savoyens
nicht zu eilen, sondern «so vil immer möglich anhalten, das zuvor
die Jenfisch sach uf ein gewüssen Verstand gepracht» (Instruktionen-
buch 286).
Der Lausanuer Vertrag von 1564. 243
ihm das Land und die festen Plätze rings um ihre Bundes-
5-tadt auszuliefern. !)
Emanuel Philibert beklagte sich wiederholt, über die
Nichterfüllung des Lausanner Vertrages auf der Tagsatzung
und forderte die Eidgenossen auf, Bern zur Vollziehung des
Vertrages anzuhalten, aber ohne Erfolg, da sich dieses auf den
unannehmbaren Vorbehalt des Königs von Spanien berufen
könnt«, 2)
Schon brach das Jahr 1567 an, und noch immer resi-
dirten bernische Landvögte in Thonon, Ternier und Gex.
Aber mit ihm schien auch der Augenblick gekommen, wo
Bern dem längst gefürchteten vereinigten Angriff Savoyens
und Spaniens ins Auge sehen musste. In Oberitalien sam-
melte sich ein auserlesenes spanisches Heer; es war
dasjenige, das Alba nach den Niederlanden führen sollte.
In Bern glaubte man aber nichts anderes, und das Gerücht
bestätigte es, als dass diese Armee dazu bestimmt sei, Genf
und die bernischen Eroberungen einzunehmen, im Bunde mit
Emanuel Philibert, der ebenfalls Truppen zusammenzog. Bern
machte daher einen Auszug von 12,000 Mann sainmt seiner
ganzen Artillerie marschbereit, schickte Gesandte nach Genf,
am für die Sicherung der Stadt Vorsorge zu treffen8) und
veranstaltete mit Freiburg und Wallis am 21. Januar
und 20. Februar 1567 Zusammenkünfte, um sich mit ihnen
als den nächst Interessirten zu gemeinsamer Verteidigung
der eroberten Lande ins Einvernehmen zu setzen. Aber die
beiden Stände schienen es nur darauf abgesehen zu haben,
Berns Beunruhigung auszunutzen, um ihm Land und Leute
*) Roget, bist, du peuple de Geneve VII 117 ff., 145 ff.
*) Abschiede IV2 333, 342, 362.
s) Bellicvre an Charles IX. und Catharina 9. Jan., 6. Febr.
1567. Roget VII 211 ff.
244 Der Lausanner Vertrag von 1564.
abzupressen.1) Wohl hatte das Wallis sich ebenfalls in
Kriegsbereitschaft gesetzt, aber es forderte, «die weil es des
Lands gar wenig und allso zu nampsen anders nützid dann
Geissberg besitze», als Preis seiner Mitwirkung einen Theil
des Gebiets, das Bern dem Herzog habe abtreten wollen, und
zog sich, als dieses nicht darauf eingehen wollte, von den Be-
rathungen zurück. Freiburg, dem um seinen An theil an
der Waadt ebenfalls bange wurde, gab anfänglich Bern die
Zusage, an die Beschirmung der eingenommenen Lande gegen
einen Angriff Spaniens und Savoyens zu ihm Leib und Gut
setzen zu wollen, knüpfte aber auch die Bedingung daran, dass
es ihm, falls der Vertrag von Lausanne keinen Bestand ge-
winne, einen Theil der drei für Savoyen bestimmten Vogteien
überlasse. Auch weigerte es sich, in Betreff Genfs irgend
welche Zusage zu geben, verlangte aber doch, dass dieses
ihm «offene Stadt» sein müsse. Als Bern die Freiburger
bat, von ihren Forderungen abzustehen, damit es nicht scheine,
als ob eine Stadt die Bundeshülfe der andern mit Land und
Leuten zu kaufen gezwungen werde, zumal mit solchen, über
die in einer Verhandlung, deren Ausgang noch niemand kenne,
bereits verfügt sei, sandten jene eine Botschaft nach Bern,
welche am 19. und 20. März vor dem Grossen Käthe brüder-
liche Hilfe verhiess, wenn man das eroberte Land zum Er-
satz der Kosten mit ihnen theile. Die Berner waren über
diese Unverfrorenheit so entrüstet, das6 sie die Verhandlungen
abbrachen und den Freiburgern antworteten, sie stellten nun
den Ausgang der Sache dem lieben Gott anheini. -)
*) Nach dem französischen Botschafter sagte man in Freiburg
«que les Bernoys estoient reduietz a telz termes que plus tost que
de se passer du secours du Ct. de Friboürg ilz aecorderoient de
partir egalement les pays conquestes ce que le peuple trouva hon*
Bellievre an Charles IX. 27. April 1567 (Gopie im Bundesarchiv).
2) Abschied, Freiburg 20. Febr. 1567. Der Stadt Bern Gegenant-
Der Lausanner Vertrag von 1564. 245
Keinen bessern Erfolg" hatte Bern mit eiflem Appell an
die Bandestreue der Eidgenossen. Längst darüber belehrt,
dass es für die Beschirmung seiner savoyischen Lande auf
eine regelrechte Bundeshilfe nicht zu rechnen habe, verlangte
es von den übrigen Orten, wie eine fremde Macht, im März
1567 je ein Fähnlein Knechte auf seine Kosten, gegen ge-
bührliche Besoldung. Aber was die Eidgenossen ohne An-
stand Frankreich, dem Papst, Venedig bewilligten, das ver-
weigerten sie ihren Miteidgenossen von Bern. Die katho-
lischen Orte beschlossen, ihm eine ausweichende Antwort zu
LvbeD, da sie es seiner Zeit gewarnt hätten, man werde sich
seiner nicht annehmen, wenn ihm wegen der savoyischen
Lande etwas zustossen sollte. Aber auch Zürich er t heilte
seinen Boten, die im April auf der Tagsatzung zu Baden
Antwort geben sollten, die Weisung, nur zu «losen», wie
sich andere Eidgenossen dazu verhielten und «nit fürzu-
schiessen.» Aehnlich Glarus und Appenzell; einzig Basel
und Schaffhausen äusserten sich, man sei Bern im Fall der
Xoth zur Hilfe verpflichtet.1) Zum Glück beruhte Berns
Unruhe auf einer irrigen Annahme. Wohl liess Papst Pius V.
uort über den Jetztgethanen Entschluss der Stadt Freiburg, 6. März.
Fiviburg an Bern, 13. und 24. März 1567 (Staatsarch. Bern,
ftvorbnch G 387—435). Bellievre an Gatharina und Karl IX., 20.
«od 28. Februar, 13. und 28. März, 27. April 1567. Heydt und
Praroman an Bellievre 22. März 1567 (Copien im Bundesarchiv).
Karl IX. erwidert am 12. April : « Jay trouve estrange que l'in-
Mligenee qui avayt este traicte entre les dietz Bernoys et ceulx
de Fribourg et Valays se soyt ainsy dissoulte». Das Ausland
Konnte sich zum Glück nicht vorstellen, wie weit die Zersetzung des
Hfipenössischen Sinnes bereits vorgeschritten war.
!) Abschiede IV 2 354, 357, 361. Bern an Zürich 17. März
1567 und Ratbschlag der Verordneten darüber (Staatsarchiv Zürich,
iVrnj. Instruktion für die Gesandten nach Solothurn, 22. März
1567 (Staatsarch. Bern, Savoyen 1566—1779, Nr. 5).
246 * Der Lausanner Vertrag von 1564.
dein König von Spanien durch den Nuntius den Wunsch aus-
drücken, er möchte durch Alba Genf zerstören lassen.1)
Wenn Philipp aber je solche Pläne bei sich erwogen hatte,
so brachten ihn die Rüstungen der Berner und das huge-
nottische Kriegsvolk, das massenweise nach Genf strömte,
rasch davon ab, und er war entschlossen, alles zu unter-
lassen, was den Marsch seiner Armee nach Norden gefährden
könnte. Er sandte daher den Grafen von Anguisola in die
Schweiz, um die Berner über seine Absichten zu beruhigen:
der Gesandte anerbot sich sogar in Bern als Geisel zu bleiben,
bis die Armee vorüber sei.2) Auch Emanuel Philibert Hess
die Berner wiederholt auf Ehrenwort versichern, dass er
nichts Feindliches gegen sie im Schilde führe, dass sein
Kriegsvolk keinen andern Zweck habe, als sein Land während
des Durchpasses der Spanier zu schützen. In der That hatte
er gar kein Interesse daran, die Spanier in solcher Macht
in Genf zu sehen, da es sehr fraglich gewesen wäre, ob sie
ihm die der Freigrafschaft so nahe gelegene Stadt herausgegeben
hätten.8;
Wohl aber stand der kluge Fürst nicht an, die Furcht,
welche die Ansammlung der Spanier in der Lombardei
und in Piemont in Bern erregte, in seinem Interesse zu
verwerthen. Am 3. Mai 1567, wenige Wochen vor dem
Aufbruch Albas, sandte er den Grafen von Montmaycur
und den Herrn von Beaufort mit den beiden Ratifikations-
>) Rogct, hist. de Ueneve VII 225.
*) Abschiede VI 2 359, 361, Roget VII, 216.
3) Abschiede IV 2 361, Schreiben von Dubochet und Montfort
an Bern, 4. und 5. Mai 1567 (Staatsarch. Bern, Savoyen 1566— 1779
N. 12 u. 13). Bellte vre an Charles IX., 5. Mai 1567. Vgl. Ro*et VII
227. Emanuel Philibert an Bern, 26. Mai 1567 (St. Bern. Savoy-
buch C, S. 445).
Der Lausanncr Vertrag von 1564. 247
Urkunden, der verbesserten französischen und der unverändert
gebliebenen spanischen, nach Bern mit einem in sehr ent-
schiedenem Tone abgefassten Begleitschreiben. Wenn er die
Ratifikationen nicht in solcher Form beibringen könne,
wie zw wünschen wäre, so habe er doch alles ange-
wendet, um dem Begehren der Bern er entgegenzukommen,
wie wohl er durch den Lausanner Vertrag nicht dazu ver-
pflichtet gewesen wäre, da sich in demselben kein bezügliches
Versprechen von seiner Seite finde. «Wir nehmen an, dass
ihr der gänzlichen Vollziehung des Vertrages kein Hinderniss
mehr entgegensetzen werdet, um die zwischen uns bestehende
^nte Freundschaft zu erhalten*.1) Die Besorgniss vor dem
spanischen Angriff zusammen mit den misslichen Erfahrungen,
welche die bernischen Staatsmänner mit den Eidgenossen,
selbst mit den zunächst interessirten, gemacht, hatten ihre
Widerstandskraft erschöpft.. Man sah jetzt über die Mängel
der spanischen Ratifikation hinweg. Mit allen gegen 30
Stimmen beschloss der Grosse Rath am 29. Mai 1567, die
Vollziehung des Lausanner Traktates vor sich gehen zu
lassen, schob aber immerhin vorsichtig den Termin der
Ucbergabe der drei Vogteien bis zum Bartholomäus tage
i24. August) hinaus, um während des bevorstehenden Durch-
marsches der Spanier durch Savoyen und die Freigrafschaft
iie Landschaften um Genf herum, namentlich den Pas de
TEcluse, noch in der Hand zu behalten. Emanuel Philibert
fand zwar den Termin sehr lang, gab sich indess damit zu-
frieden und versprach aufs Neue, den Vertrag von Xyon ge-
treulich beobachten, sowie auch die seit dem Lausanner Ver-
trag ergangenen, auf die drei Vogteien bezüglichen Urtheile
!) Kredenzbrief Emanuel Philiberts für die Gesandten 3. Mai
1567 (St. Bern, Savoyen 1566—1779 N. 11).
248 Der Lausanncr Vertrag von 1564.
und Kontrakte in Kraft bestehen lassen zu wollen.1) Am
20. Juni wurden die auf die beidseitigen Gebiete bezüglichen
Urkunden ausgewechselt. Sechs Tage später überschritt
Alba den Mont Cenis, und im Lauf des Juli marscliirten die
Spanier in geringer Entfernung an Genf vorbei, ohne eine
Demonstration gegen die Stadt oder die bernischen Vogteien
zu unternehmen. Unterdessen einigten sich Bern und der
Herzog über die Formen der Uebergabe; auf Berns Wunscb
wurden von beiden Parteien vier von den eidgenössischen
Vermittlern, Schultheiss Jost Pfyffer vonLuzern, Land-
aminann Reding von Schwyz, Landammann Schaler von
Glarus und Bürgermeister Krug von Basel, eingeladen, der
Vollziehung des Lausanner Vertrages beizuwohnen. Am
19. August trafen die eidgenössischen Kommissäre in Bern
ein, wo sie mit grossen Ehren empfangen wurden. Dann
ritten sie mit der bernischen Uebergabskommission, die aus
dem Schultheissen Hans Steiger, dem Statthalter Beat Lud-
wig von Mülinen, den Seckelmeistern Nikiaus von Graffen-
ried und Hieronymus Manuel nebst zwei Mitgliedern des
Grossen Käthes, Bendicht von Diesbach und Hans Jakob
Delsberger bestand, ins Welschland. Sonntags am 24. Aug.
wurde Gex, am 25. Ternier, am 27. Thonon den herzoglichen
Behörden übergeben, nachdem am 26. Eidgenossen, Berner,
Genfer und Savoyarden einträchtig an einem grossen Bankett
von neun Tischen, das die Stadt Genf den Kommissären zu
Ehren gab, getafelt hatten.2)
1) Tillicr III 425. Emanuel Philibert an Bern, 5. Juni 1567
(St. Bern, Savoybuch C 447). Bellievre an Catharina 30. Mai,
an Karl IX 1. Juni 1567 (Gopien im Bundesarchiv).
2) Duboehet an Bern, 26. Juli 1567, Basel, Glarus, Luzern und
Schwyz au Born 9./10. August 1567 (St. Bern, Savoybuch C 511
bis 523). Tillicr III 426, Roget VII 231.
Der Lausauner Vertrag von 1564. 249
Damit hatte die schweizerische Herrschaft am Südufer
des Leinan dank der kläglichen Zerrüttung, welcher der eid-
genössische Gedanke durch die konfessionellen Händel an-
heimgefallen war, ein Ende. Es war klar, dass nun auch
das Wallis seinen Theil am Chablais nicht oder wenigstens
nicht ganz behaupten konnte, nachdem es in kurzsichtigem
Egoismus verschmäht hatte, sich zur gemeinsamen Verteidi-
gung des Eroberten an Bern anzulehnen.1) Am 4. März 1569
schloss es mit Emanuel Philibert zu Thonon Frieden und
Bündniss, kraft dessen ihm das untere Rhonethal, die Vogtei
Monthey, verblieb, dagegen Evian, St. Jean d'Aulph und
Abondance an Savoyen zurückkehrten. Das Flüsslein Morge,
das St. Gingolph mitten durchmesst, bildete nun statt der
Dranse die Wallisergrenze.2) Freiburg musste seine
schnöde Haltung gegen Bern insofern büssen, als es noch ein
Jahrzehnt hindurch im Besitz der «Grafschaft Romont», wie
man seinen An theil an der Waadt kurzweg betitelte, beun-
ruhigt wurde und sich lange vergeblich um eine «Quittung» von
Seiten des Herzogs bewarb. Erst im September 1578 wurde
ihm diese durch Vermittlung der V Orte zu theil als Lohn
für seinen Beitritt zu dem damals noch enger geknüpften
Sonderbund der katholischen Orte mit Savoyen und der da-
mit verbundenen ausdrücklichen Preisgebung Genfs.8)
Dafür wachte Bern unermüdlich über die Sicherheit der
l) Sofort nach erfolgter Restitution in den drei hernischen Vok-
t'i^n sandte der Herzog Botschaften nach Freiburg und Wallis, um
ernstlich die Rückgabe der eroberten Gebiete zu betreiben. Bel-
lievre an Catharina, 8. Okt. 1567 (Bundesarchiv).
2J Vertrag von Thonon, 4. März 1569 (Copie aus dem Archiv
Sitten, mir gütigst mitgelheilt von Hrn. Bundesarchivar Dr. Kaiser).
3) Abschiede IV 2, 504, 570, 600, 605, 616, 620, 650, 652, 654,
€58, 666.
250 Der Lausanner Vertrag von 1564.
Stadt Calvins. Im Mai 1570 brachte es, indem es die Er-
neuerung seines alten Bundes mit Savoyen davon abhängig
machte, einen «modus vivendi» auf 23 Jahre zu stände, worin
der Herzog, ohne seine Ansprüche endgültig aufzugeben»
Genf für die Dauer des Vertrages sichern Frieden und freien
nachbarlichen Verkehr zugestand.')
Man hätte meinen sollen, dass die Eidgenossen, wenn
nicht Genf, so doch wenigstens die Waadt, die sie selber
Bern als rechtmässiges Eigenthum zugesprochen , auf die
Savoyen ewigen und vollständigen Verzicht geleistet hatte,
nunmehr in den eidgenössischen Bund und Schirm aufge-
nommen hätten. Nach der Stiftung des neuen «hülflichen*
Sonderbundes der VI katholischen Orte mit Savoyen mit seiner
gegen Genf gerichteten Spitze hielt es Bern für nöthig, im
Juni 1578 eine bestimmte Erklärung zu verlangen, ob dio
Eidgenossen die ihm durch ihren Spruch zuerkannte Waadt
wie sein altes Gebiet in die Bünde, in Schutz und Schirm
aufzunehmen gesinnt seien. Da krönten die V Orte ihr bis-
heriges Verhalten, indem sie beschlossen, dem «neugewonnenen
Land» den eidgenössischen Schirm zu versagen und damit, so-
weit es auf sie ankam, die Waadt an Savoyen preiszugeben.
Zürich dagegen stellte am 21. Januar 1583 Bern dfc
gewünschte Erklärung aus, wie es 1584 auch dem Bunde mit.
Genf beitrat. Schaff hausen, Basel und G 1 a r u s
folgten in betreff der Waadt im gleichen und im nächsten
Jahre. 2)
So war endlich wenigstens für die evangelischen Orte
die Schweizergrenze von Murten bis an den Genfersee vor-
gerückt Von den katholischen Orten gaben nur Fri'iburg
l) Oechsli, Orte und Zugewandte 460.
*) Absch. IV 2, 653, 658, 662, 681, 683, 769, 795. Aren, für
Schweiz. Reformalionsgesdiichtc III 237.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 251
and Solothurn Zusagen, die sie aber nachher wieder zurück-
nahmen. Erst ein Jahrhundert Bpäter, im Dezember 1690
und Januar 1691, stellten auch Luzern, Fr ei bürg und
Solothurn nebst dem Abt yon St. Gallen trotz der
Proteste des Nuntius und Savoyens die Erklärung ans, dass
sie Berns welsche Lande in den «allgemeinen eidgenössischen
Band und Schirm» aufnähmen.*) Für die katholischen Länder
aber lag die Waadt noch 1798 ausserhalb der Grenze der
Eidgenossenschaft.
VII.
Die angebliche Garantie der Freiheiten der Waadt durch
Frankreich.
Der Lausannervertrag von 1564 hat nach langem Ver-
schollensein in neuerer Zeit wieder ein aktuelles Interesse ge-
wonnen, indem er wiederholt für politische Zwecke angerufen
worden ist. So vom schweizerischen BundesratJi in seiner
Protestnote an die Mächte vom 19. März 1860 gegen die
Abtretung Savoyens an Frankreich8), so insbesondere von
den Franzosen zur Rechtfertigung ihrer Invasion in die
Schweiz im Jahre 1798, indem sie sich die Argumentation
Laharpe's zu eigen machten, wonach der Herzog von Savoyen
im Lausanner Vertrag die Freiheiten der Waadt vorbehalten
habe und Frankreich durch die Ratifikationsurkunde vom
26. April 1565 zum Garanten des Vertrages und damit auch
der Freiheiten des Waadtlandes geworden sei.
Es ist hier nicht der Ort, die Behauptungen Laharpe's
und das Verfahren des französischen Direktoriums im Jahre i
1798 einer ausreichenden historischen Würdigung zu unter-
lj Oechsli, Orte und Zugewandte 139, 464 ff., 480 f., 483, wo j
die Belegstellen angegeben sind. ,
vi Bundesblatt 1860 I 503. !
252 Der Lausanner Vertrag von 1564.
ziehen1); dagegen gehört es zur Vervollständigung dieser
Untersuchung, zu prüfen, ob wirklich der Vertrag Ton Lau-
sanne eine Gewährleistung der politischen Freiheiten der
Waadt enthält und ob die Ratifikationsurkunde Karls IX*
den Charakter einer Garantie des Vertrages an sich trägt
Der von Laharpe und seinen Nachtretern angerufene
Artikel des Lausanner Vertrages ist der achte. Er lautet:
«Zum achten haben wir die Schidmener bedacht, das
mit der nechsten vorgenden Lütrung allen sonder-
baren Personen, Edlen und Unedlen, ouch allen Stetten,
Dörffern und Comunen an iren sonderbaren gütern, Eigen-
thuinben, Lechnen, Weidtgengen, Veldferten, Hölltzern, Vel-
dern, guten gewonheitten , prüchen und gerechtigkheyten,
wie die jetziger Zytt in gang und Uebung sindt, nützit
benomen noch verthediget sin, sondern das mengk-
licher, der Oberkeyt halb unverhindert, by siner hargeprachten
gerechtigkheyt, gewerd und besitzung, ouch by sinein Brief!
und Siglen beliben solle».2)
Durch die Worte «das mit der nechsten vorgenden Lüt-
rung . . . nützit benomen noch verthediget sin solle» gibt sich
der achte Artikel deutlich als eine Restriktion, als Vorbe-
halt zum vorangehenden siebenten zu erkennen, der be-
stimmt, dass die Landesgrenze zwischen Bern und Savoyen
den Besitz der kirchlichen Güter und Einkünfte scheiden
solle. Der achte Artikel sagt also nicht mehr und nicht
weniger, als dass diese Scheidung nach der Landmarch für
die von ihm aufgeführten Dinge nicht gelte. Vorbehalten,
d. h. nicht von der Ausscheidung nach der Landmarch be-
J) Vgl. dazu die lehrreichen Artikel von Vau eher im Anzeiger
für Schvveizergeschichte V 300 ff., VI 347 ff. und von Dunant eben-
daselbst VII 257 und in der Revue Vaudoise 1897.
2) Abschiede IV 2 1501. Vgl. Beilage.
Der Lau san ner Vertrag vou 1564. 253
troffen werden Privat- und Communalgüter : Eigenthnni,
Lehen, Weidgänge, Feldfahrten (d. h. Fahrwege über Geinein-
weiden, bezw. das Recht ihrer Benutzung), Hölzer, Felder,
?ute Gewohnheiten, Bräuche und Gerechtig-
keiten Ton Edeln und Unedeln, Städten, Dörfern und Ge-
meinden. Dass es sich bei diesen guten Gewohnheiten, Bräuchen
und Gerechtigkeiten einfach um ökonomische Gerechtsame,
nicht um politische Freiheiten handelt, ergibt sich sowohl aus
der Zusammenstellung mit den Hölzern und Feldern, wie
auch aus der Beziehung auf den siebenten Artikel, vermöga
deren es sich nur um Dinge handeln kann, die den «Zinsen,
Zechenten, Renten und Gülten der Eilchen, Clöstern und
Stuften <rütern> gleichartig sind. Auch der Schlusssatz des
achten Artikels, die eigentliche Bestätigungsklausel, sagt
nichts anderes als : jedermann solle bei seiner hergebrachten
-Gerechtigkeit, Gewerd (d. h. Besitz an Immobilien) und
Besitzung», bezw. bei seinem «Brief und Siegel*, d.h. seinem
Rechtstitel auf die Güter und Gerechtsame bleiben, «der
Oberkeit halb unverhindert», d. h. gleichviel ob die Besitz-
objekte in savoyischem oder bernischem Staatsgebiet liegen.
Nirgends ist in diesem Artikel die Rede von Freiheiten,
Privilegien und Immunitäten, von «.franchises, Ubertts, im-
munitis, priciUges-»^ wie der technische Ausdruck für die
politischen Rechte im Waadtland lautete, oder von den Frei-
heitsbriefen, Statuten, Ordonnanzen, Largitionen, geschrie-
benen und ungeschriebenen Gewohnheiten und Freiheiten des
Landes, der Stände und der Städte, welche die savoyischen
Forsten so oft bestätigt und die Waadtländer so oft ange-
rufen hatten.1)
') Vgl. Grenus, Documenta relatifs ä l'bistoirc du pays de
Vaud: «ies lettres des Ubertes et franchises de la vilie de Moudon
«'$); les bonnes coutumes, franchises et libertis dudit pays (S. 35);
254 Der Lausauner Vertrag von 1564«
Wer die zahllosen Urkunden vom 13. bis 16. Jahrhundert
durchgeht, die auf die politischen Rechte und Freiheiten der
Waadt Bezug haben, für den ist kein Zweifel möglich, dass
der Artikel 8 des Lausauner Vertrages mit den letztem
nichts zu thun hat.
Zu dem gleichen Ergebniss gelangen wir, wenn wir der
Entstehung des Artikels nachgehen. Es ist eine unrichtige
-Behauptung Laharpe's, dass der Herzog von Savoyen diesen
Vorbehalt den Bernern auferlegt habe. Die Urheber
•des Artikels sind vielmehr umgekehrt, wie über-
haupt von beinahe sämmtlichen Artikeln des
Lausanner Vertrages, die Bern er selber; er gehört
zu denjenigen, die im ursprünglichen Entwürfe, den sie in
Basel aufstellten, gestanden hatten, die unverändert in den
Spruch der Vermittler übergegangen und mit ihm in den
Lausanner Vertrag aufgenommen worden sind. Also müssten
•contre les libertis et franchises du pays et dudit Yverdon (90); contre
les franchises et libertes de la meine patrie (103) ; contre les UbtrUs
et franchises de la dite ville de Moudon et de tout le pays de Yaud
(108); pour maiiitenir les libertes et franchises du pays (153); d'ob-
server les libertis et franchises icrites et non icrites de la ville de
Moudon, ainsi que les us, coutumes et Statuts desdits de Moudons
(196); touchant leurs franchises, libertis, emoluuiens etc. (210):
quelque privüege, liberie et franchise au dit pays de Vaud concldees
nonobstant (164); nous ne pretendons pas de deroger en aueun
point aux Privileges, libertis et franchises ; nous louons, homologuons,
ratifions et confirmons . . . toules et chaeune les franchises, liberies.
Privileges, immunitix et coutumes concedees aux dits nobles, bour-
geois et habitante (p. 36); nous reconfirmons, ratiiions et approu-
vons cn faveur desdits syndics, des hommes et des couiniunautea
des villes, des plaees, des bourgs et des mandements du dit pays de
Vaud et de leur postente" les franchises, les liberies, les immunites,
Privileges, les octrois particuliers, les Statuts et reglemenis, les us
et coutumes tant icrites que non icrites» (p. 109), u. s. w.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 255
die Berner sich selber diesen Vorbehalt zu Gunsten der Frei-
heiten der Waadt auferlegt haben. Dass sie aber den von
ihnen verfassten Artikel nicht so verstanden, geht aus der
Art, wie sie ihn im Mai 1563 zu Basel gegen eine savoyische
YiTschliminbesserung vertheidigten, in authentischer Weise
hervor: «Der Anhang, den F. Dt. Gesanthen zu
dem VIII. artickel mit duncklen wortten als
«nach gebär und billichheit» zugethan, ist
begrifflich2) und verfinstert den handel, der
sonst heyter gnug und nämlich den Verstand
hat, das mencklich by sinen gittern, eygenthum-
ben und der hochen Oberkeit halb unersucht
belyben, hieinit aber nyemand Recht und an-
sprach ze üben versagt noch abgeschlagen sin
solle, sonders war rechtens nit enbären (will),
das der sollichs gegen siner Widerpart suchen
möge.>s)
Der von den Bernern aufgestellte Artikel VIII enthält
also nacli der authentischen Interpretation der Urheber selbst
weiter nichts als eine Gewährleistung von Eigentumsrechten
privatrechtlicher Natur. Von einer Gewährleistung
der politischen Rechte der Waadt findet sich
im ganzen Lausanner Vertrag keine Spur, ver-
iuathlich desshalb, weil niemand daran dachte, am wenigsten
die Savoyarden, die nicht das mindeste Interesse daran
hatten, irgend etwas zu Gunsten der zu Ketzern und Feinden
gewordenen Waadtländer zu stipuliren. Im Gegentheil be-
stimmt der Vertrag, dass die Waadt sammt dem Stück Chab-
') d. i. angreifbar, tadelhaft.
*) Kurtzer bescheyd über F. Dt. zu Savoy gesanthen Inrod uff
der Statt Bern gestelte Artickel (Staatsarch. Bern, Savoyen 1545—66,
X. 152).
256 Der Lausanner Vertrag von 1564.
lais diesseits des Sees den «herren der Stadt Bern als ihr
recht Eigenthum bleiben solle, also dass sie und ihre ewigen
Nachkommen dieselbige Landschaft Waadt sammt den andern
hievorbenannten und ihnen jetzt verordneten und zugetheilten
Herrschaften und Flecken hiefür innehaben, besitzen, be-
setzen, entsetzen, nutzen und niessen und damit thun, han-
deln, schalten und walten sollen und mögen, als mit andern
ihren eigenen Landen und Herrschaften, alles ohne dass oft-
genannte Fürstliche Durchlaucht zu Sayoyen noch ihre Erben
und Nachkommen noch jemand anders von ihretwegen be-
meldte Herren von Bern hernach zu ewigen Zeiten und Tagen
ferner darum anfechten, bekümmern, molestiren noch be-
mühen solle noch möge, in was Weise, Gestalt und Weg das
immer sein und geschehen könnte oder möchte.»1)
Da der Lausanner Vertrag weder im achten Artikel
noch sonst irgendwo eine Gewährleistung der Freiheiten der
Waadt enthält, so könnten die Franzosen keine Ga-
rantie dafür übernommen haben, selbst dann, wenn
die Ratifikationsurkunde Karls IX. wirklich eine
Garantie des Vertrages ausspräche. Aber auch
dies ist nicht der Fall. In der Regel fliesst die Ga-
rantie eines Dritten bei internationalen Verträgen aus
dem Amte des Vermittlers, wie z. B. bei der Mediations-
akte von 1803 oder bei dein Genfer Mediationsregieraent von
1738. In dem Streit zwischen Bern und Savoyen waren
aber die einzigen ofticiell anerkannten Vermittler die elf Orte.
Wir haben gesehen, wie sich Bern ausdrücklich die von Sa-
voyen vorgeschlagene Vermittlung Frankreichs und Spaniens
verbat.2) Selbst Spanien, dessen Einwirkung eine viel stär-
i) Absch. IV 2, 1499.
2) Wie sorgsam die Berner darüber wachten, dass die Anwesen-
heit der fremden Gesandten an den Vcrmittlerkonferenzen nicht un-
Der Lausanner Yertrag von 1564. 257
kere war, als diejenige Frankreichs, nahm nicht sowohl die
Stelle eines Vermittlers als diejenige eines Advokaten Sa-
Yoyens ein. Frankreich vollends spielte eine durchaus sekun-
däre Rolle, da das Wohlwollen, welches Catharina von Medici
wirklich für ihren Schwager empfunden zu haben scheint,
durch die Rücksichten, die sie auf Bern nehmen musste, und durch
die Eifersucht auf Spanien gehemmt war. Während Spanien
energisch für Savoyen ins Zeug ging, führte der französische
Botschafter einen Eiertanz auf, indem er Savoyen zu gefallen
sachte, ohne doch bei den Bernern Anstoss zu erregen1),
so dass jenes in ihm sogar einen verkappten Gegner witterte.
Es ist bezeichnend für den geringen Einfluss, den Frank-
reich infolgedessen auf das ganze Friedenswerk ausübte, dass
der Artikel 17 der Basler «Mittel», wie er unverändert in
den Lausannervertrag übergegangen ist, Spanien und die
Eidgenossen als diejenigen nannte, denen zu Gefallen die
Parteien den Vergleich geschlossen hätten, Frankreich
dagegen zum grossen Aerger seines Botschaf-
ters mit völligem Stillschweigen überging.2)
merklich in eine Mitwirkung beim Vermittlergeschäft abergehe, zeigt
der Bericht der Berner Gesandten vom 30. August 1561. Die Ver-
mittler theilten ihnen mit, dass zwei kaiserliche Gesandte und der
spanische Botschafter sich vor ihnen anerboten hätten, «nit als by-
otzerond sprueblicb, sondern als früntlich zusprecher und anhalter»
ihren Fleiss anzuwenden. Die Berner erwiderten kurz, die Ver-
mittler wdssten wohl, «dass der fremden Fürsten Botschaften halb
verabschiedet sei, dass sie in der Schydherrcn zal nit begriffen sin
sollen», dabei Hessen sie es bleiben (Savoybuch B 672).
') «et la dessus je vous diray qu'en faisant plaisir al'ung je
n'ay en rien oflense l'autre et j'ai tousiours tenu ce nies nie chemin.«
D'Orbais an Aubespine 25. August 1563 (Copie im Bundesarchiv).
*) Siebe Beilage. D'Orbais an Aubespine 14. Juli 1563 :
«Je toqs veux bien faire entendre usant de vostro saige et prüden t
17
258 Der Lausanner Vertrag von 1564.
im ganzen Lausanner Vertrag wird Frankreich, abgesehen
!; historischeu Reminiszenzen an seinen Angriff auf Savoyen
in den Plaidoyers der Parteien, nur einmal in der Einleitung
neben dem Kaiser und Spanien kurz erwähnt; alle drei
1 rächte hatten die Parteien mündlich und schriftlich zur güt-
lichen Erledigung des Handels aufgefordert.')
Ist es bei der durchaus seknndären Bolle, die Frankreich
bchn Zustandekommen des Lausanner Vertrages gespielt hat,
schon an sich wenig wahrscheinlich, dass es die Stellung
t'ines Garanten dafür übernommen habe, so rechtfertigt auch
de* Wortlautder Ratifikationsurkunde selbst diese Voraussetz-
ung In keiner Weise. Heffter-Gctfken sagt in seinem Völker-
recht: «Dergleichen Garantien können nicht aufgedrungen
WBjvden, sondern nur mit freiwilliger Annahme der Haupt-
cressenten vorkommen. Die Annahme muss eine bestimmte
s> in und von allen, unter denen die Gewahrschaft gelten soll,
zugestanden werden; sie fliesst nicht von selbst
ans einem blossen Accessi on s Ter t rage, so wenig
wie aus dem Amte des Vermittlers.» *) Nun ist aber nirgends,
u^der im Schriften Wechsel der Interessenten noch in der
Ratifikation su rknnde selbst von Uebernahine einer = Garantie.,
sondern stets nur von « Approbation» d. i. Gcnehmhaltung,
IHlligung, die Rede.*) Die entscheidende Stelle in der Rati-
ninseil que au XVII. article de l'abschcdt donn6 a la Journee de
Ifiittle ■ . . il est dit que les deux parlies oul consenty cn ee present
IDtiable aecord a la requestc et instance du Hey Philippe et de
Mi'ssieurs des Lignca tanl sculement tans faire mention du Roy.-
i) Absch. IV 2 1496.
*) Heffter-Geffken, das Europäische Völkerrecht S. 806.
') Wie schon r. Gonzenbach (Archiv hist. Verein Bern XI
480) und Paul Schweizer, Geschichte der Schweiz. Neutralität
SH.P, richtig gesehen haben.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 259
likationsurkunde vom 26. April 1565 lautet: «Nous, requerans
Icelies parties approuver et auctoriser le clit accord,
Xous apr£s Tavoir faict veoir en nostre conseil, desirans le
repos et tranquilite des dites deux partyes, Avons par Padvis
«flcelluy nostre conseil declaire et declairons par ces pre-
sentes avoir Icelluy traictepour agreable. En tesmoingde
ce avons a Icelies faict mectre, et apposer noste scel», oder
nach einer gleichzeitigen vermuthlich der Berner Kanzlei ent-
stammenden Uebersetzung : «Unnd nun wir von ermellten par-
thygen nmb approbation und bestädtigung angeregts
abgeredten Vertrags unnsers Teils angesucht sinnd, da so
haben wir, als die der ruw und wolstanndt genannter beider
p&rthygen begirig, nacbdem wir dise vertragshandlnng durch
unnsern Rath besichtigen lassen, Uns hierüber mltt rath und
wüssen derselben unnserer Betben erklert und erltithert, er-
klerend and erlntherend unns hiemit inn krafft diss briefs,
Xamlich das uns voran ged titer bericht und ver-
trag angenem und gfellig syge. Dess zu gezügk-
nuss haben wir nnnser Insigel an disen brief hencken lassen.»1)
Wie wenig aber ans blosser Approbation und Ratifikation eines
Vertrages die Uebernahrae einer Garantie gefolgert werden
darf, erhellt z. B. aus den Worten, mit denen der länderlose
Herzog Karl III. von Savoyen dem von Kaiser und König
zu Nizza abgeschlossenen Waffenstillstand von 1538 beitritt:
:et qne nous y avons dereebef ete* tres-instamment requis et
interpelle', avons de nouveau la dite Treve en la maniere et
forme sous-dite ratifite et approuvfa, ratifions et approuvons
quant ä nous est, a savoir sans prejudice ou derogation d'au-
eun nötre droit», oder daraus, dass die einzelnen französischen
J) Absch. IV 2 1508, die Uebersetzung im Staatsarchiv Zürich,
Berner Akten.
260 Der Lausanner Vertrag von 1564.
Baillages den von Franz I. und Karl V. geschlossenen Frieden
von Cambray auf Befehl ihres Königs ebenfalls «ratifiziren>
und «approbiren».1) Niemand wird in diesen Fällen aacb
nur an die Möglichkeit einer Garantieübernahme denken ; das
einzige, was der Herzog und die französischen Baillages mit
ihrer Ratifikation und Approbation versprechen, ist, dass sfr
dem Vertrag ihrerseits nicht zuwiderhandeln wollen.
Es handelte sich also, wie auch die Bern so anstössigen
Vorbehalte zeigen, in den Ratifikationsurkunden der beiden
Könige nicht um Uebernahme einer Garantie, d. h. der Ver-
bindlichkeit, «für die Aufrechterhaltung des Vertrags sowohl
unter den Kontrahenten selbst, wie gegen Eingriffe anderer
mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln thätig sein zu
wollen»2), sondern um blosse Zustimmung ohne eine andere
Verpflichtung, als diejenige, keine Einwendungen gegen den
Vertrag machen zu wollen. Die Urkunde vorn 26. April
1565 ist kein Garantie vertrag, sondern eine blosse Acces-
sions- oder noch genauer Adhäsionserklärung, durch
welche ein dritter, ohne Kontrahent zu werden, seine Zu-
stimmung zu einem Vertrag ausspricht, entweder zur Genehm-
haltung derjenigen Bestimmungen, welche ihm nacbtheilig
sein könnten, wodurch er auf die etwaigen Einwendungen
dagegen verzichtet, oder um als «höhere dritte Persona
rein zeremoniell dem Vertrag eine gewisse Feierlichkeit, ein
Zeugniss seines Bestandes zu verleihen, ohne dass irgend eine
Verbindlichkeit dadurch für ihn entstünde.3) Beides trifft
für unsern Fall zu: Bern wollte die Sicherheit haben, dass
*) Dumonl, Corps universel diplomatique IV 2 26 ff., 172 f.
*j Die spanische Ratifikation schliesst ausdrücklich jede Ver-
bindlichkeit derart aus: «citraque nostri ac regnorum bonorumque
nostrorum obügationem».
3) Heffter-Geffken S. 195 f.
Der Lausanner Vertrag von 1564. 261
die mächtigen Verwandten des Herzogs nicht nachträglich
Einwendungen gegen den Vertrag erhöben, und zugleich
diesem durch die Bestätigung von Seiten der beiden Könige
eine erhöhte Feierlichkeit verleihen.
Es bedurfte der Leidenschaft eines Laharpe und der Ig-
noranz und Böswilligkeit der damaligen Machthaber in
Paris, um aus solchen Dokumenten nach 233 Jahren einen
Rechtstitel zur Einmischung in die innern Verhältnisse der
Schweiz abzuleiten. Wohl aber ist die Geschichte des Lau-
sanner Vertrages ein Beweis dafür, wie gefährlich selbst die
scheinbar harmloseste Beiziehung fremder Mächte zu den
Angelegenheiten eines Volkes werden kann*
*
Von Gonzenbach hat in einem interessanten, aber nicht
irrthumsfreien Aufsatz über die Be chtsbes tändigkeit
des Lausanner Vertrags1) den Nachweis zu leisten versucht,
dass derselbe überhaupt nur bis 1589 bestanden und seitdem
keine Rechtskraft mehr besessen habe. In der That brach
im Jahre 1589 zwischen Bern und Savoyen wieder Krieg aus.
Der Nyoner Friede vom 1. Oktober 1589 bestätigte zwar
den Lausanner Vertrag, aber er trat selber nicht in Kraft, weil
die Bernerräthe infolge einer negativen Volksabstimmung ihn
am 3. März 1590 kassiren mussten. Von da an dauerte
längere Zeit zwischen Bern und Savoyen ein vertragloser
Zustand, während dessen unter anderem Frankreich sich 1601
im Widerspruch zu Art. 14 des Lausanner Vertrags von
Savoyen Gex abtreten lassen konnte, ohne dass Bern dagegen
Einsprache erhoben hätte. Auch versuchte Herzog Carl Ema-
nuel während dieser Zeit nicht bloss in der Escalade Genf
zu überrumpeln, sondern erhob auch wieder lebhafte An-
sprüche auf die Waadt, weil Bern durch den Krieg von
*) Archiv des histor. Vereins XI, 475 ff*
262 Der Lausanncr Vertrag von 1564.
1589 den Spruch von 1564 gebrochen und den Nyoner Frieden
nicht ratifizirt habe. Erst am 23. Juni 1617 kam durch Ver-
mittlung des englischen Gesandten Isaak Wake ein neuer
Friede zustande, in welchem Carl Eraanuel sammt dem Erb-
prinzen für sich und ihre Nachkommen feierlich auf die Waadt
verzichtete. Wenn aber nun Gonzenbach behauptet, dass
der Spruch von 1564 im Jahre 1589 endgiltig dahingefallen
und 1617 durch die Verzichtleistung Carl E manu eis ersetzt
worden sei, übersieht er, dass in der letztem ausdrücklich
wieder auf den Lausanner Vertrag Bezug genommen wird,
dass der Fürst für sich und seine Nachfolger verspricht,
diesen in allen Punkten und Artikeln treu und fest zu halten1),
dass also im Gegentheil durch die Urkunde vom 23. Juni
1617 der Vertrag von 1564 wieder nach längerem Unterbruch
in volle Rechtskraft eingesetzt worden ist. Die Verzicht-
leistung von 1617 schliesst also die Rechtsbeständigkeit des
Lausanner Traktates nicht aus, sondern ein, und wenn der
Turiner Vertrag vom 16. März 1816 in Art. 23 bestimmt
hat: «Die Verfügungen der alten Traktate und insbe-
l) Abschiede VIS. 1966: «car d'icelles en leur nom et part
nous deportons et desistons entierement et perpetuellement au plns
ample contenu du traicte, faict et moYenne a Lausanne parle« seig-
neurs ambassadeurs des unze cantons des ligues entre fcu Emanael
Philibert duc de Savoye de tresheureuse memoire, pere de son
altesse serenissime d'apresent, et les dictz seigneurs de Berne en
I'annee mil cinq centz soixante quatre, promettans et juraris au nom
de leurs dictcs altesses serenissimes pour elles et leurs dictz sucees-
seurs en bonne foy de vouloir avoir et tenir pour agreable, ferme
et stable le dict traicte en tous et chacuns ses poüictz et articles,
et en vertu d'icelluy laisser les dictz seigneurs de Berne et toute
leur postcrite en la pleine et pacifique jouissance et possessoire des
villcs, places et pais et de toutes leurs dependances, ainsy qu'ilz
leur ont est6 adiugö parle dict traicte etc.»
Der Lausanner Vertrag von 1564. 263
sondere desjenigen vom 3. Juni 1754, insoferne sie nicht aus-
drücklich durch den gegenwartigen Vertrag aufgehoben
werden, sind bestätigt», so liegt juristisch genommen kein
Grand vor, diese Klausel nicht auch auf den 1617 in allen
Punkten und Artikeln bestätigten Lausanner Vertrag zu be-
ziehen, soweit er nicht durch neuere Verträge aufgehoben
ist. Insofern wenigstens war der Bundesrath 1860 nicht im
Unrecht, wenn er sich auf den alten Spruch der elf Stände
berufen zu dürfen glaubte. Doch wäre es bei den so gänzlich
veränderten Verhältnissen der Neuzeit ein vergebliches Be-
mühen, herausschälen zu wollen, welche von den Bestim-
mungen desselben heute noch gültig sind und welche nicht.
Mit Recht sagt Gisi, «dass es alles Gesetz der geschichtlichen
Entwicklung der Völker verkennen hiesse, wenn man heute,
nach mehr als dreihundert Jahren, auf ein solches Dokument
sich stützen und daraus einen Rechtstitel ableiten wollte.»
Der Lausanner Vertrag gehört trotz den Bestätigungen von
1617 und 1816 der Geschichte und nicht dem Staatsrecht
der Gegenwart an. Wilhelm Oechsli.
l) Ueber die Entstehung der Neutralität von Savoyen (Archiv
für schweizerische Geschichte XVUl, 13).
Zum Schlüsse habe ich noch gegenüber den Herren Bundesar-
chivar Dr. Kaiser und Staatsarchivar Dr. Tür ler in Bern, Staats-
archivar Lab hart und Dr. Hoppeler in Zürich für die liebens-
würdige Bereitwilligkeit, mit der sie mir die Benützung des in den
betreffenden Archiven liegenden Materials ermöglichten, eine an ge-
nehme Dankespflicht zu erfüllen.
264 Der Lausanner Vertrag von 1564. — Beilage.
Beilage.
Der Spruch der Vermittler aus den elf Orten, gefällt zu
Basel am 11. Mai 1563.
(Staatsarchiv Zürich, Akten, Savoyen 1465—1590.)
Bemerkung. Aus dem Aktenstück *Kurtzer besehend über
F. Dt. zu Savoy gesanthen Inred uff der Statt Bern gestellte
Artickel der Restitution* (Staatsarchiv Bern, Savoyen 1545 bis
1565 Kr. 152) geht hervor, dass die Basis des spätem Lausanner
Vertrages 20 Artikel bilden, die von Bern auf der Conferem von
Basel Anfangs Mai 1563 aufgestellt worden sind. Auf Grund dieser
Bcruer Vorschläge verfassten die Vermittler ein erstes noch im Wort-
laut erhaltenes Projekt (Staatsarchiv Bern, Savoyen 156—65
N. 153), betitelt *Der Erwölten Schydherren gestellte Conditiones und
gedingen, in welchen der F. Dt. eu Savoy die Landt und flecken, so
die Herren der Statt Berrn bis ariher ingehept, wider zugestellt und
wie es sonst zu beden Süen gehallten werden soll». Dieser erste
Entwurf (s. oben S. 220), den wir unten mit A bezeichnen, diente
wieder als Vorlage für den endgültigen Spruch der Ver-
mittler vorn 11. Mai 1563, der hier zum Abdruck gebracht wird. Der
Spruch vom 11. Mai 1563 ging endlich, abgesehen von den Modi-
fikationen in der Gebietstheilung, unverändert, aberdurch
Zusätze erweitert, in den Lausanner Vertrag über.
Wir geben in den Noten sowohl die Varianten des Entwurfes A, als
die Zusätze des Lausanner Vertrages (L), beschränken uns aber bei
letzterem auf die eigentlichen Vertragsartike), indem wir für Ein-
leitung (S. 1477—98) und Schluss (S. 1507—8) auf den Abdruck in
der «Amtlichen Sammlung der Eidgenössischen
Abschiede», Bd. JV, Abth. 2 S. 1477—1509 verweisen.
Der erwöllten Schidherren gestellte Con-
ditiones unnd mittel, inn wellichen nach irem
gehepten bedenkhen der F. Dt. zu Savoye die
Herschafften, Lannd und Flecken, So die
Herren der Statt Bern bitzanher ingehept,
wider zugestellt, unnd wie es sonst von der-
selben wegen zu beiden Sytten gehalten werden
solle unnd möchte.
Der Lausanner Vertrag von 1564. — Beilage. 265
' X a in 1 i c h : Das die Herren der statt Bern diso hienach
bestimpten Herschafften, Lanndt und Flekhen, Mit namen
die gantze Herschaft. Gex, Darzu den tlieil unnd alles, das
sy ennet dem Sew1) inn der Landschaft Chablaix erobert,
Dessglichen alles das, So Si in der Herschafft Genevoys
ingenommen, [Glicher gstallten die gantze Herschaft und
Vogty N i e w s , ouch den theil inn der Herrschaft M o r g e x ,
der von der Herschaft Nyews bitz zu dem wasser genant
A n 1 b o n a reicht unnd langet, So Si] *) glich, als andere Landt
and Flecken zu iren Hannden gepracht unnd bitzanher in-
gehept unnd beherschet haben. Aber zevor jetziger F. Dt. zu
Savoy vorfarn Loblicher gedechtnus gwessen sindt, mit aller
Gerechtigkeit und zugehördt, So Si bitzanher an derselben
jetz ernenten Herschafften unnd Lannden gehept unnd wie
gy dieselben jetziger Zytte noch innen haben, wider von
Händen geben, sich dero und aller irer vorderung, Rechtsame
und ansprach, Die sy oder ire nachkommen von vorbemellter
irer innemung und bitzanher gehepten besitzung und beher-
schung wegen an denselben vorernempten Herschaften unnd
Landen yetzunder unnd in hernach volgender Zytt einichs
wegs haben sollten oder mochten, gentzlichen unnd aller dingen
rerzuchen, ouch dero und derselben enden unnd orten ge-
hepten Regierung abtretten unnd alle derselben Herschaften
und Landen Inwonnere und underthonen der Hulldigungen
und Eydtspflichten, Die Si inen gethon haben möchten, ledigen
unnd entschlachen unnd dieselben Herschafften jetz gehörter
gstallten der Hochgenannten F. Dt. zu Sayoy in rnwen3) über-
geben und zustellen sollen, Alles Erberlich unnd by guten
thrüwen.
Hingegen Solle der übrig theil der gantzen Landschafft
Waat4), dessglychen die flekhen und Herschaften Vi vis,
M «und Rotten» (Zusatz von L).
2j Das Eingeklammerte fehlt in L, welcher statt dessen bloss das
Wörtlein «und» hat.
9) «inrumen» (L).
*) «sampt der gantzen Herschaft und Vogtig Kiews» (Zusatz
in Lj.
266 Der Lausanner Vertrag von 1564. — Beilage.
Thurn1), Chiliion uund nftwenstatt 2); die hie disent
Sews gelegen unnd zuvor zu der Herschafft Chabloix ge-
hört haben, sampt aller herligkeit, gerechtigkeit und zuge-
hördt unnd wie der selb übrig theil der Landschaft Waat
sampt der jetz ernenten flekhen3) Vivis, Thurr, Chillion und
nüwenstatt inn irem bezirk und begrif, ouch inn iren an-
stössen, Limiten und Märchen gelegen sindt unnd Hochge-
nanter F. Dt. zu Savoy Herr und vatter und andere dero
vorelltern Loblicher gedechtnus die selbige zevor gehept unnd
vorgeuant Herren von Bern die erobert und ingenommen
und4) bitzanher ingehept, beherschet und genutzt haben, Den-
selben Herren der statt Bern als ir recht eigenthumb plyben.
Also das sy und ire ewige nachkommen dieselbige Landschaft
Waat sampt den andern hieuach*) benerapten und inen jetz
verordtneten und zngetheilten Herligkheiten und Fleken hino-
für inhaben, besitzen, besetzen, entsetzen, nutzen und niessen
unnd damit thun, handien, schallten unnd wallten sollen und
mögen als mit andern iren eignen Landen und Herschafften,
alles one das offt genante F. Dt. zu Savoy noch Ire Erben
und nachkommen nach jemandts anderer von irotwegen be-
mellt Hern von Bern hernach zu ewigen Zytten und tagen
verner darntub anfechten, bekümern, molestiern noch bemügea
solle noch möge, inn was wyss, gstallten und weg das jemer
sin und geschechen könnde oder möchte, Alles Erberlichen.
Doch solle dise abtheilung und schidigung inn und mit allen
unnd yeden hienach volgenden heittern, usstrukenlichen unnd
lutern gedingen und Conditionen zugon und geschechen. 6)
D e s s Ersten: Als die Statt Bern der F. Dt. zu Sa-
voye ettliche Herschafften, Landt und Flecken vermög jetz
abgeredter gut ti gen Schidigung und betragshandlung wider-
*) La Tour de Peilz.
2) Villeneuvc.
3) « und Herschaften Niews» (Zusatz in L).
*) ouch (L).
5) bievor (L).
6) Diese beiden ersten Abschnitte fehlen bei A, der erst mit
dem Folgeoden beginnt.
Der Lausanner Vertrag von 1564. — Beilage. 267
amb zu stellen unnd abergeben boII, unnd derselben Inwon-
nere inn Relligions and glaabens sacken der selben statt Bern
bitzhär (als billich) gehorsamet, Hierumb ouch vorgemelter
statt Bern gsanndte Rathsanwellt innamen irer Herren and
Obern ir stattlich bedenken dahin gesetzt haben, Diewyl die
Inwonner and Landtsessen der Herschafften und Flecken, so
Ire Herren und Obern ein gute Zal Jaren ingehept and ge-
regiert, Aber jetzander der F. Dt. zu Savoye widerumb in«
gerumpt and zu gesteh werden sollen, inn der Religion, so
von irn Hern and Obern glych by inen inn ir statt als inn
iren Landen und gepietten zu halten verordnet, erporn and
erzogen worden sigen, unnd als baldt one höchsten Jamer
von derselben nit zewysen noch zepringen sin möchten,
Hierunder ouch irs bedunkhens schwer zerichten sin möchte,
wann dise annderthonen glich angents so unversechenlichen
davon stan sollten oder müssten, Das man dann uss söllichen
unnd andern Ursachen dieselben underthonen by derselben
Religion bitz uff ein allgemein frig Christenlich Concilium
verpliben lassen sollte. Hingegen aber der F. Dt. gsandten
demselben irem gnedigen Fürsten nnd Herren nützit haben
hingeben noch verthedingen wollen, mit anzougung, wie sy
dessen von Hochernerapten irem gnedigen Fürsten und Herren
keinen gwalt hetten. Da so hatt die Herren1) Schidpotten
uss allerlei gutmütigem bedacht und bewegenden Ursachen
zethand syn angesechen: Wiewol es thunlich, sich ouch ge-
zimpte, das es in F. Dt. zu Savoy als Oberherren söllicher
jetz iro zugetheilten Landen gwallt stan sollte, mass und
Ordnung anzesechen und zegeben, wie es inn Relligions und
gloubens sachen inn disen Herschaften und Landen ergon und
gehalten werden sölte, Das doch nüt desterweniger unnd one
Verhinderung desselben die F. Dt. zu Savoy und die Herren
von Bern sich hierumb, wann und wie es inen gfeliig, ze~
sammen thun und sich wie es in söllichen gehalten werden
solle, anderreden, vereinen und betragen mögen.2)
l) «ans die Schydbotten» (L).
*) Art. 1 lautet bei A: «Des Ersten: Alls die Stat Beim der
F. Dt. zu Savoy etliche Herschaften, Landt und Flecken vermög jetz
abgeredter gütigen Schidigung und Yertragshandlung widerumb zu-
268 Der Lausau ner Vertrag von 1564. — Beilage.
Zum andern: So vil das Gen fisch Burgrecht be-
langet, hatt die Herren1) mitlere und thedingsmenner für gut
angesechen, das daselbig burgrecht inn Craft und bestandt ver-
plyben solle. Wann aber die F. Dt. zu Savoy vermeinen
wölte, das ein statt Genf nit befügt were, by und mit Je-
mandem einich Burgrecht zu bewerben noch anzunemen, unnd
dieselb F. Dt. söllichs mit Recht abzetriben widerstünde. Das
dann ein statt Bern sich söllicher der Hochgemelten F. Dl
zu Saroy Vorhaben rechtlicher Verhandlung nit widersetzen,
Sonnder die selb, wie sich gezimpt unnd gepürt, ussfüren
lassen solle.
Zum dritten: Die gerech tigkeit, so Hochgeuielter F.
Dt. zu Savoy vordem Loblicher gedechtnuss zu Genf ge-
hept, Seche die Herren8) Schidpotten für gut an, das ein söl-
licher Articul und Handel uf diss mal ingestellt werden und
beruwen sollte, Der vertruwten Zuversicht, Es möchte die
F. Dt. zu Savoy sich hernach umb diss mit einer statt Genf
mit guter bescheidenheit vereinen, verglychen und betragen.
Wann aber dasselbig kein statt befinden unnd nit geschechen
mochte, das als dann diss mit ordenlichem Rechten zeerörtern
und zu entscheiden fürgenommen werden sollte.
stellen und übergeben soll und derselben lnwouere inn Religion*
und gloubens Sachen derselben Statt Bern (aus pillich) gehorsamet,
hierumb ouch wolgemelter Statt Bern gsanndte Ratsanweit innamen
irer Herren und Obern ir stattlich bedcncken dahin gesezt habenn,
das man dieselben underthonen by derselben Religion bz uff ein all-
gemein frig christenlich Concilium verpltben lassen sollte; Hingegen
aber der F. Dt. zu Savoy gsandlen dem selben irem gnedigen Fürsten
und Hern hierin nüzit haben hingeben noch verthädingen wollen,
do so hatt die Herren Scbidtpotten uss alierleygutmüetigem bedacht und
bewegenden Ursachen ze thund sin angesechen, das es in der F. DL
zu Savoy gwalt stan solle, mass und Ordnung anzesechen und ze-
geben, wie es in disen Herschafften und Landen inn Religion* und
gloubens Sachen ergon und gehalten werden solle, doch das sin F. Dt
in solchem sich aller bescheidenheit und gnaden erzeige, halte und
gepruche.»
1) hatt uns die Mittlere (L).
*) uns die Schidpotten (L).
Der Lausanner Vertrag von 1564. — Beilage. 269
Zum vierten ist der Herren1) Schidpotten bedenken,
das ein statt Bern Hochgemeiter F. Dt. zu Savoy die vorge-
melten Herschaften und Fleken inn söllichein wert unnd
wessen, ouch inn der wiss und mass übergeben solle, wie sy
diser Zytt inn und mit aller vereuderung an ligenden and
rarenden gutem, stukhenn, Zinsen, gälten, zechenden unnd
andern dingen inn gang, gstallt und Übung sindt, unnd wie
ein statt Bern sittliche inn iren gemeinen handen, gwalt, be-
Sitzung, nutzung unnd Verwaltung gehept hatt. Doch Sonder-
barer personen, Stetten, Edellüthen, Comunen unnd Dörfern
eigen unnd Lehengütern, ouch andere gerechtigkeiten, die ein
satt Bern nit inhette, hierin onbegriifen, [welliche denen
zustan, werden unnd gevolgen sollen, denen si zustendig
unnd gehörig. Doch das Si der F. Dt. von der selben wegen
die gezimmende und gepürende ptiieht unnd was sy söllicher
Lechnen und güttern oder gerechtigkeit halb zethund schul«
dig, leisten unnd erstatten]. *)
Zum fünften: Nachdem sich gar nach allenthalben zu-
tragt, das sich uss der Oberkheidten erkantnus und verordnen,
oQch mit derselben Zulassen, willen und vergünstigen von
Zytt zu Zytt mancherlei verenderungen zutragen unnd dann
merentheils unmöglich, das dieselben zu erstem wesen wider-
nmb gericht und gepracht werden mögen, Diss ouch inn dero
von Bern gehepten Regierung ouch geschechen sin möchte,
So haben die Herren3) mitlerc Schidigungswiss angesechen,
Das alle unnd jede kouff, verkoüff, Tusch, Wechsel und con-
tracten unnd,, was ein statt Bern von söllicher sachen wegen
verhandlet, Dessglichen alle brief unnd Sigell, die Si darumb
regeben hetten, wie sölliche alle unnd jedes dero insonnderheit
jetz in sinem wert und wessen ist,4) in Crefften bestan und
piiben sollen, es berüre6) joch was Bachen und güttere es
1) unser der Schidpotten (L).
2) Die eingeklammerten Worte fehlen A.
8j «wir die Mitlere» (L).
4) «sind» (L).
b) Der folgende Satz lautet hei A kürzer: «Es berüre yoch die
weltlichen oder die Küchengütern oder ander sachen, ligender und
vareoder hab, Stück, gutem, gepuwen, Zinsen, zechen ten, eigentum-
l*n. Lechneu, Thellen, anlagen, Confiscationen, nützit ussgenominen.»
270 Der Lausanner Vertrag von 1564. — 'Beilage.
welle, was art, eigentschaft und herkommens onch die selben
sin, unnd wie joch sölliche nammen haben sollten oder mochten,
gentzlichen one Sünderung und underscheidt, es were von
ligcnder oder varender hab unnd güttern, gepüwen, zinssen,
zechenden, Eygenthumben, Lechnen, Tb eilen, anlagen, Con-
iiscationen oder anderer stücken und Sachen wegen, nützit
ussgenommen , alles one wytter ersuchen noch bindersich
gryffen. Doch was inn söllichem in verbriefften oder andern
schulden oder inn Zinssyerschrybungen unnd der glichen noch
unbezalt verhanden weren, das dann dieselben Hochgemeiter
F. Dt. oder andern1), denen die gehören sollten oder möchten,
zugestelt und fibergeben werden sollen.
Zum Sechsten haben onch die Herren Schidtpotten*)
ze thund sin bedacht, Das alle entliche Urteiln, nmb was
sachen die by Zytt einer statt Bern regierung und vor irer
Übergebung vorgenanter Herschaften unnd Flecken ausge-
sprochen, Dessglichen alle güttliche Spruch unnd vertrag.
Die von den parthygen angenommen, zu glycher wyss alle
Rathserkanntnussen*), die inn Spänniger parthygen Sachen
ussgangen, bestendigklich unnd one alles wytterziechen, be-
rechtigen unnd arguieren by iren Creften plyben sollen.
Zum S i b e n d e n haben die vermelten Schidherren 4) an-
gesehen, das die Landtmarchen z wüschen dem Huss Savoy
unnd einer Statt Bern das Innemmen der Zinssen, Zechenden.
Rennten unnd gülten der Küchen, Clöstern und Stuften güttern,
wie die jetz inn wessen und gang und inn der Statt Bern
gemeinen Händen gestanden sindt, ouch theilen sollen; Also
das jede Herschaft, was inn iren Zillen und Märchen gelegen,
zu Händen nemmen solle und möge, ungeacht und ungehin-
dert, Das sölliche Inkhommen uss einer Herschaft an Küchen,
Clöster oder stifftungen, die inn der andern Herligkeit ge-
legen, gedienet betten, und glider derselben gwessen weren;
Also das jedertheil von dem andern, Nämlich die F. Dt. za
1) statt «oder andern» hat A: «oder den Küchen.»
*) «wir dieSchidpotten» (L).
8) «Subastacionen und Vergantungen» (Zusatz von L).
4) «wir die vermellten Schidmener» (L).
Der Lausanner Vertrag von 1564. — Beilage. 271
Savoy von einer statt Berrn, Hingegen ouch ein statt Bern
Ton F. Dt. zn Savoy nnd mengklichem der Iren söllicher
Kilchen güttern halb unersucht pliben sollen.1)
Znm Achten haben die Schidherren 2) bedacht, das mit
der nechsten yorgenden Lüthrung allen sonderbaren personen,
Edlen und unedlen, ouch allen stetten, Dörffern und Comunen
an iren sonderbaren gütern, eigenthumben [der]') Lecken,
weidtgengen, veldferten, Hültzern, Veldern, guten gewonheiten,
prachen und gerechtigkeiten, wie die jetziger Zytt inn gang
und Übung sindt, nützit benommen noch vertkediget sin,
Sonnder das mengklicher. der Oberkeit halb unverhindert, by
siner hargeprachten gerechtigkeit, gewerdt nnd besitzung,
ouch bi Sinem Brieff und Siglen belliben solle.
Zum nündten ist durch die Herren Schidpotten*) an-
gesechen, das die Zoll und geleit von jeder Oberkeit inn irer
verwalltung, wie die jetzunder inn gang, Übung und wessen
sindt, one Intrag, Enderung und widerredt bezogen und ge-
hallten werden sollen.
Zum Zechenden ist der Herren Schidpotten5) meinung
und bedenkhen, das die F. Dt. zu Savoy sich gegen einer
') «Und solle aber diss also verslanden werden, Das solliches
aHein die Zinss, Renten, güllton und Stiftung guter belangen solle,
Die in dem Krieg des Sechs und Drissigisten Jares durch ein Statt Bern
ingenomnien worden sindt, Und gar nit die erkoufften Zinss und güli-
ten, die vor und nach dem Krieg, Es sye durch ein Statt Bern oder
sonderbare Personen und Comunen irer angekörigen erkoufft und har-
geprac ht, daran das Huss Savoy keyn ansprach noch gerechtigkheit
gebept. Alls da sindt: Fünffzig Gronen Zinss, so das Ainpt Bürren
uff dem Schloss Visancie von der Stifft Bürren inhandts hatt, Und
dann Drig und zwentzig Gronen järlicbs Zinss, so ein Statt Bern uf
Vyonesy seligen Erben hatt und irem getrüwen Mittrhat Ambrosin Im
Hoff jerli eben erlegenn muss, und andere derglichen mer. Was aber
«ollicner gslaliten vor und nach nitt erkoufft. Das solle inmossen vor-
gender Lütrung ergan und gehallten werden» (Zusatz von L).
*) « wir diu Schidmener» (L).
3) «der» fehlt hei L.
*) «uns die Schidpotten» (L).
5) «unser der Schidpotten» (L).
272 Der Lausanner Vertrag von 1564. — Beilage.
statt Bern von wegen der Herschafften Gryers ob der
Bock he n, Orung1) noch andern Flekhen Lehenschafft,
Huldigung oder erkhantnuss an das Huss Savoy keiner an-
sprach anmassen noch undernemmen solle noch möge. Sovil
aber Sonderbarer personen Edel- oder pürische Lehen betreffe,
Das dieselben von der Herschafft, hinder dero sy gelegen,
empfangen werden sollen.
Zum Einliften haben die Herren Schidpotten2) ange-
sechen, das die sonderbaren vertreg so zwüschen Berrn
unnd Fryburg irer zesammenstossenden Savoyschen Landen
Zylen, Märchen, Zechenden und anderer Sachen halb, dieselben
Landtschafften betreffende, ufgericht, gemacht und beschlossen
unnd bisshar inn Übung und bruch gwessen sindt, inn Erefften
bestan und pliben sollen. Darzu das ouch die thussend unnd
anderthalben Cronen Zinss, so ein statt Fryburg ab irem theil
der Savoyschen Landen abzetragen über sich genommen,
einer statt Berrn weder jetz noch Künfftigklichen uffgelegt
werden noch sy inn einichen weg berüren sollen.
Zum Zwölften: Diewyl inn diser sach und Handlung
Fründtschaft, Frid und einigkeit gesucht, So haben die Herren
Schidpotten8) angesechen und bedacht billich sin, das zu
beiden Sydten alle Veecht unnd Fyendschafft uffgehept, hin,
thod und ab sin solle; Also das die F. Dt zu Savoy nie-
mands, so sich inn oder nach dem Krieg gegen einer statt
Berrn günstig, hilflich, bystendig und geneigt erzöugt und
bewyssen, Echten, straffen noch verfolgen, unnd hinwider,
das ein statt Berrn mit und gegen denen, die der F. Dt. zu
Savoy Hilf, Gunst oder Bystandt bewissen und erzöugt hätten,
ouch also one Veecht und straff halten sollen.4)
*) Oron.
■) «wir die Schidpotten» (L).
3) «wir die Schidpotten» (L).
4) «Alls aber in sollichem der Herren von Berrn fröndtlichs he-
geren und der F. Dt. gesandten günstiges zulassen gesin ist, das sol-
liches nitt allein von sonderbarer Personen wegen, die vergangner
zytt obbemellter sachenhalb in gonst und ungonst der Einen oder der
andern Oberkheit gestanden wären, Sonder ouch gemeinlich und son-
• Der Lausanner Vertrag von 1564. — Beilage. 273
Zum Drytzechenden haben die1) Schidpotten be-
dacht, wann jemants, wer joch der were, Edell oder unedel,
der sinen Hussheblichen sitze ass einer inn die ander diser
beider parthigen Oberkeit zeverrucken willens uimd gesynet
wurde, Das dasselbig einem jeden jetzt und hernach zuge-
lassen sin und Keinenwegs versperrt werden solle. [Doch
das beider theilen Landtsessen sich inn sollichem keiner ge-
verde, betrügen noch argenlisten gepruchen unnd söllich ir
Hinziechen mit ires Oberherren wüssen thügen.]2) Darzu
das ouch keinem von sittlichen sines Hinziechens wegen sine
guter, die er hinder der Herschaft, von dero er gezogen were,
vertiesse, Kh einen wegs behafft, ingezogen oder genützt,
Sonnders dem hingezognen mit söllichenn nach sinem nutz,
willen unnd gefal lenze handien, one allen In trag zu stan,
verpliben, ouch gentzlich werden und gevolgen sollen. Es
solle aber die person, so also hinzuge, die pflicht der Lehen,
Zingsen unnd Diensten, darumb si der andern Herschaft, von
dero Si gezogen, pflichtig g wessen und sin möchte, nüt d ester-
minder leysten; Doch dheiner andern gstalten, dann das si
der Herschafft, hinder dero si Husshablichen gsessen, mit
persönlicher pflicht ires Lybs und der andern, von dero si
gezogen, keiner andern gstallten dann durch mittel personen
gehorsamen solle.3)
Zum vierzechenden ist angesechen, das kein theil
sine jetz zugesprochne Stett, Vestinen, Landt unnd Lüth keinen
derbarlich von aller derowegen, die sydtanher ein Statt Berrn alls ire
gehepte ordenliche Oberkey t ankhert und gepetten haben mochten,
Si nit uss irer in andere Beherschung ze verschalten, Sonder in irer
Regierung und in irem schirme ze behauten, verstanden werden solle,
Do 60 lassen wir die erwellten Schidmener dasselbig pliben Und wollen
gesetzt haben, das demselben gelept und stattgethan werde» (Zusatz
Ton L).
') «wir die» (L).
») Der eingeklammerte Satz fehlt bei A.
*) «Darzu das ouch die hinziechenden von irer gutern wegen,
die Si hinder der Herschafft, von dero Sie zugendt oder gezogen
«rerenrit, mit keynen sonderbaren Theilen noch Anlagen, dan allein
mit den allgemeynen Landtstuwren und Theilen, wie andere ires
«iandts und wesens anheimsche Underthanen, beschwertt und keiner
wylhern beladungen underworffen sin sollenn» (Zusatz von L).
18
274 Der Lausauiier Vertrag von 1564. — Beilage. •
andern Fürsten, Herren, Stetten, Landen und Communen, wer
joch die sin möchten, weder koufs, Tusch noch einicher an-
derer wyss und gstallt übergeben solle ; Alles damit ein theil
den andern frömbder, ungelegner und beschwerlicher nach-
purschafft überbebe unnd ein jeder derselben entladen sin
unnd pliben möge.
Zum Fun ff zechenden ist bedacht, das beid theil inn
disen iren anstossenden Landen Keine nüwen bevestigungen
gegen einandern puwen noch machen, Darzu by einer myl
wegs gegen den grentzen unnd anstössen keine kriegsrüst-
ungen besamlen noch hallten sollen.
Zum Sechszechenden ist Schidigungswyss gsetzt,
das jeder theil diser beider parthygen dem andern theile alle
Brieff. Sigel unnd andere gwarsamen, die ime zu sinen Her-
schafften und Landen dienstlich unnd der gepüre nach ge-
hörig, by guten thrüwen one bezallung uff ein Invcntarium
zu Händen stellen solle.
Zum Sibenzechenden: unnd diewyl beide vor er-
nempte parthigen der Kö. Mt. zuHispanien unnd gmeiner
Loblicher Eydtgnoschaftzn Sondern Eeren zu disem vertrag
bewilliget, unnd Si zu beiden theilen begert, Das inen nmb
alles, so diss Schidigung und Vertragshandlung inn sieb haltet,
von den Herren Schidbotten ') der Orten, so darin gehandlet,
notwendige und gepürende briefliche Sicherheit zu erstattung
und bekrefftigung ires inhaltens gevertiget und gegeben werde,
Haben die Herren Schidpotten *) zu demselbigen willen geben.
Zum achtzechenden ist hierinn bedacht unnd ange-
sehen, das alle die, so ein statt Bern uss den Savoyschen
Landen biss anher zu burgern angenommen, Als der Herr
von C a u 1 d r e a und andere, bi söllichen erlangten unnd be-
standtnen burgrechten möge beliben, unnd das aber von diss-
hin in das künftig kein theil des andern underthonen und
Landsessen one des andern theils witssen und willen söllicher
gstallten annemmen solle.
*) «von uns den Schidpotten» (L).
*; «wir die Schidpotten» (L).
Der Lausanner Vertrag von 1564. — Beilage. 275
Zum Nüntzechenden Haben die Herren Schidpotten l)
gesetzt und angesechen, Das ein theil glich als dem andern
diser beider parthyen in allen und jeden iren vorermelten
und jetz geschidigoten unnd abgetbeilten Herschaften, Landen,
Oberkheiten und gepietten zu allen Zytten frigen, sichern,
nnversperten, unverhinderten unnd unabgeschlagnen, offnen
pass und wandel haben solle. Doch das sölliche uff erbare
sacken unnd dheinen wegs uff thedliche oder vyendtliche an-
scbleg und handlungen gerichtet und angesechen sigen.
Zum zwenzigisten Haben ouch die Schidherren ■) unnd
nritlere bedacht, Das einem jeden diser beiden parthigen, Näm-
lichen F. Dt. zu Savoy, dessglychen den Herren von Bern
an der gerechtigkeit des Sews, wie ein jeder theil dieselbige,
so Terr und wyt unnd wie sine Herschafften, Landt und
Flecken daran gelegen sind, an demselben Sew haben soll
und mag, nützit benommen noch entzogen sin solle.1)
l) «wir die Schidpotten» (L).
*) «ouch wir die Schidmcner» (L).
*) Der Artikel 20 fehlt bei A.
8ei L folgt als Zusatz zu Art. 20: «Und solle aber die mitte
des Sews gegen yedcntheils daranstossender und gelegner Landen und
Heerschafften, so wyt die in ireru zirkh und begriff reichen, zu einer
beendigen rechten und heytern Maren gesetzt und benarabsset sin.
Damit dan ouch die offt hoch und wolgenempten beide Parthigen
?in lutter und sattes wüssen haben, wie die March und Limitacion
wüschen iren jetz geschidigoten und abgeteyllteun Heerschaften Gex
des Einen und der Waat sampt N yews des andern theills zesammen
Rossenden Oberkheyten und Landen gestalltet sin, ouch wohiu sich
die selbige streckhen und wie solliche gchallten werden solle, Und wir
über das, so vilgemelt beyder theylen Anwellt und Gsandten uns
hierum b zu erkhenen geben haben, unsern bedacht gehept und er-
wpjjen haben ze thund sin, Das dieselbe zu einer Lütrung gepracht
werde, So hatt uns die Schydmener und Mittlere zu Verhütung Künff-
liger Spennen und Irthumben, die uss unwüssenheyt soilicher Dingen
inrysen und fürfallen raoehtten, für gutt angesechen, Das solliche
Laadtmarch. wie hernach stat, sin solle [Folgt eine detaillirte Beschrei-
bung der Grenze zwischen Gex und Waadt, Absch. IV 2 1504 — b\
Und sind diss die tnarchen gegen wynd und Berg, vom Sew hinuff
biss an das gemellt Ortt und Rickh Mijoux, Da die march der Waat,
Gex und des Burgundts daselbs zusammen s tossend t und dieselben
H verschafften von einandern marchendt. Und ist das die march der
Waat, wyndtshalb anfachende am See biss an das wasser Versoex
und von danen ^et;en dem Hochgepirg; Und was Bysenhalb hiezwüschen
ist, gebort zu der Waat, Und was wyudtshalb ligt, gehört zu der
fripen Herschafft Gex.»
276 Der Lausanncr Vertrag von 1564. — Beilage.
Zu L e t s t Das die vilgenanten Herren der statt Bern
die beladnuss aller der Houptsuinnien geltes nnd Zinses, da-
mit hochgedachter Hertzog Carol Loblicher gedechtnuss dise
der Herren der statt Bern bissanher ingehepten unnd beher-
ßchotten theil der Landschafft waat und andere sine hievor
genempte zevor gehepte Land und Herschafften beladen, otich
haft und zinssbar gemacht hat, allein by pfanndt and bandt
diser irer Landschaft waat (und ob es von notten sin
wurde) allen andern iren Herschafften, Landen und gutem
ze tragen unnd zebezallen für si unnd ire nachkommen über
sich nemen unnd die Hochgesagte F. Dt. zu Savoy unnd dero
Erben unnd nachkommen derselben Houptgüttern unnd Zinssen,
ouch alles des costens nnd Schadens, wöllicher der Hochge-
dachten F. Dt. zu Savoy oder dero erben und nachkommen
inn Craft siner F. Dt. derhalb hinuss gegebnen Houptver-
schrybungen oder inn einich anderweg begegnen mochten,
gentzlichen entheben und mit söllichen die F. Dt. und dero
erben unnd nachkommen, ouch alle unnd jede Herschafften,
Landt und Flecken, die iro jetzt von offtgenanten Hernn der
statt Bern wider zugestelt, übergeben und ingerumpt werden,
schadloss halten sollen. Doch die Summ, so die Hern von
Fryburg, als vorstadt, über sich genommen haben, hierum
vorbehalten unnd ussgeschlossen. J)
Unnd zu beschluss diser fründtlichen Verhandlung
haben die Herren Schidpotten 2) angesechen, Das dise güttige
Schidigung keinem theil an andern iren habenden Rechten
und gerechtigkeiten, von dero wegen hierinn nützit gehandlet
worden ist, einichen nachteil geperen noch bringen solle.3)
Darzu wann dieser Vertrag zu beider theilen annem-
lichen und gevelligen benügen ussgefürt und geendet wurdet.
Das dann die F. Dt. zu Savoy die Biderben und erbern Lüth
unnd Landsessen, die iro in kraft diss fründtlichen Vertrags
zugestellt und übergeben werden, inn gnaden bedencken unnd
si allweg so gnedig halten und beherschen wolle, das si ur-
Bach haben, sich alle Zytt diser endrung zebefrbwen, unnd
l) Art. 21 fehlt A.
*) «wir die Schidpotten» (L).
aj Der Absatz fehlt bei A.
Der Lausanner Vertrag von 1564. — Beilage. 277
sieb als gehorsame nnderthonen zu erzoiigen, oach gott den
Allmechtigen umb ir F. Dt. wolstandt ze pitten. l)
Unnd Hiemit solle ouch alles das, so sich zwüschen Hoch-
genants Fürsten unnd Hertzogen zu Savoy ab erstorbnen
Herren unnd Vatter Loblicher gedechtnuss unnd siner F. Dt.
selbs, Desglich iren verwanndten, ouch allen unnd jeden dero
Aroptlüthen unnd angehörigen an einem, Sodann den wolge-
melten Herren Schultheisen, Käthen, Burgern unnd gantzer
gmeinde der statt Bern nnnd allen den Iren am andern theil
inn der Zytt unnd so lang diser spann, dessglichen die veecht
unnd Fyentliche absagung, die derhalben erwachsen unnd uss-
gangen ist, gewert hatt, Fyentlicher Wyss oder anderer ge-
stalten. Es [were] mit Worten, werkhen oder gethaten, er-
gangen und verhandlet worden ist, gentzlichen und aller
dingen ufgehept, hin, Tod und ab, unnd inn Craft diss friindt-
lichen Vertrags also hingelegt sin, Das dero niemenner zu
ungutem noch unfründtlicher wyss weder von einein noch
von dem andern theile gedacht werden solle. Unnd das si
zu beiden Sydten sampt den Iren, glich als ob sich diser
Zank und Spann nie erhept unnd gar nit vorhanden gsin
were, wol geeint, gefridiget, versünt unnd betragen heissen
und sin. Sich ouch hernach, glich wie vor disem ingerissnen
Spanne geschechen, als gute Liebe Fröndt und nachburen
gegen einandern hallten unnd einandern mögliche dienst und
gnthaten erzöugen und bewyssen sollen, Alles Erberlichen.*)
[Unnd als die Herren Schidpotten diss alles, wie vorstat,
inn eines Fründtlichen Spruchswyss, doch unverpindtlich unnd
oft beider parthigen gefallen angesechen, unnd ouch Si inn
diser Hanndlnng von Hochgemeiter F. Dt. gsanndten ange-
hört und verstanden, wie iren vermeinens inn abtheilung
vorbedachter Lannden unnd Herschafften irem gnedigen
Fürsten and Heern noch etwas mer von der Landtschafft
Waat hinzugethan werden sollte, Unnd hingegen das der
Herren von Bernn Rathsanwelt zu erkhennen geben, wie iren
erachtens bv denselben iren Herren und Obern beschwerlich
') A hat diesen Satz als 20. und letzten Artikel: «Zum zw an*
z i g st « n : wann diser Vertrag » etc.
*) Dieser Absatz fehlt bei A.
278 Der Lausanner Vertrag von 15C4. — Beilage.
fallen, ja khümmerlich unnd alsbaldt gar nlt zeerheben sin
wurde, Das Si über die Lanndt unnd Herschafften Chablaix
enet Sews, Genevoys unnd G e x noch von der
Landschafft Waat die gantze Herschaft und Vogtig Nyews,
dartzu etwas theils von der Herschafft und Vogty M o r g e
von Händen geben sollten, Da so haben die Herren Schid-
pottcn beiden theilen diss ir gestelltes mittel zugestellt und
geben, sich darinn ze ersechen unnd einer schliesslichen ant-
wurt darüber zeendtheken oder söllichs an ir jedes Herren
unnd Obern ze pringen. Was dann die Herren Schidpotten
liierunder ferers, das der sach und Handlung zu guter ver-
endung fürdersam und dienstlich sin niöcht, handlen Khönden,
Dessen wellen sy sich bereit und geneigt erpotteu haben].1)
!) Dieser Schlussabsalz fehlt A und L. Statt dessen hat L:
«Alls nun beid Parthigen dise unsere ussfürliohe und Endtliche
Verhandlung alles Inhal ltes angehört und verstanden, Haben Si uss
ir beidersyts hierum b von ir yedes Herren und Obern gehepten
g wallt und bevelch zu dem ersten innamen vilgemellter irer gnedi-
gen Herren und Obern, ouch für ire Personen, uns uneers bysäan-
ber in diser sach angewandten und gepruchten vlisses, darzu un-
serer gehepten roüg und arbeyt zum höchsten gedanckhet, Und dar-
nach gantz fründtlich fürgetragen und zuerkhenen geben. Wie Si
umbwillen, das Fryd, Ruh und Einigkheyt erhallten und ir beider-
sydls allte gute Fründtschafft wider gepflantzt wurde, diss unser
mitt wüssenthaffler Theding und fründtlichen Spruchs wyss ange-
sechen und gesteltes mittel in dem namen Gottes gütigklichen an-
nemen und angenomen haben wollten, Wolliches wir, die erwollten
Schidleut und Thedingsmener mit hertzlichen Frouden und gantz
gern ouch zu höchstem gefallen gehört, verstanden und angenomen.
Und haben daruff zu bestand t und bekrefftigung alles Handel 1s nach
irem hierum b gegebnen willen und gethanen endtschluss verner
gesetzt, erkhandt und gesprochen, Nämlichen, das Si zu beiden sidten
nun mer zu Ewigen Zyten und tagen diser unserer gestellten und
durch Si angeuomnen Schydigung und Betragshandlung, wie die
hievor geschriben stat, nachkomen und statt thun, Und dieselbe
sampt allem irem begriff und Inhallt war, vest, stedt und unver-
prochenlich hallten, Darwyder ouch nyemer Komen, thuo, schaffen,
verhengen noch gestatten sollen gethau werden, weder mitt noch
one Recht, ouch sonst in kein wyss noch weg, wie yoch das yemer
sin und geschechen kondte oder mochte, Alles Erbarlich und ge-
trüwlich.»
Wilhelm Oechslu
Volkswirthschaftliche Grundfragen/)
Von
Dr. Gustav H. Schmidt, eidg. Abth.-Secretär.
*) Akademische Antrittsrede, gehalten an der Universität Bern
am 29. April 1899.
Volkswirthschaftliche Grundfragen. 281
Wenn wir nach der Stellung der politischen Oeko-
nomie in dem Kreise der Wissenschaften fragen, so finden wir
sie zu den Naturwissenschaften in Gegensatz gestellt und unter
die Geisteswissenschaften eingereiht.1) Diese Scheidung hat
man damit begründen wollen2), dass in den Naturwissen-
schaften die Causalitttt, dagegen in den Geisteswissenschaften
der Zweck das zunächst massgebende Forschungsprinzip sei.
Der Unterschied ist aber schon darum nicht zutreffend, weil
es sich auch hier in theoretischer Untersuchung zuvorderst
um die Causalität handelt, und der Begriff eines Zweckes
nur ein ethisches Postulat darstellt. Wenngleich der Causal-
begriff den Zweckbegriff als seine Ergänzung fordert, dürfen
doch beide nicht vermengt, dürfen in die zu erklärenden
Dinge oder Ereignisse keine ZweckvorstelJungen hineininter-
pretirt werden.
Zu einer sicheren Erkenntniss können wir auf keinem
anderen Wege denn durch Beobachtung und Erfahr-
ung gelangen, und darum, weil diese oft versagen, besitzen
zahlreiche sogenannte wissenschaftliche Gesetze nur den
Charakter relativer Gewissheit, einer mehr oder minder
grossen Wahrscheinlichkeit. Und wenn wir uns vergegen-
wärtigen, wie viel Theorieen und Systeme im Laufe der
Jahrtausende und schon vor unseren Augen vorübergegangen
sind, dann werden wir uns um so mehr genöthigt sehen, uns
*) Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften,
Versach einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und
4>r Geschichte, Bd. 1, Leipzig, 1883.
*) Wilhelm Wundt, Logik, eine Untersuchung der Principien
«to Erkenntniss und der Methode wissenschaftlicher Forschung,
Bd. 1. Erkenntnisslehre, Stuttgart 1880, Band 2, Methoden lehre,
Stuttgart 1883.
282 Volkswirtschaftliche Grandfragen.
vor vagen Allgemeinheiten zu bewahren und das exacte De-
tail der Einzelwissenschaften zu schätzen. Aber gewiss*
treibende Ideen sehen wir zu allen Zeiten und bei allen
Völkern, allerdings nicht in derselben Form, sondern in all*
mählicher Entwickelung.
Es ist die Erfahrung, welche uns auf den Gedanken der
Entwickelung bringt. Allerdings ist dieser Gedanke nicht
Gewissheit, sondern nur Hypothese und das Feld der Hypo-
thesen ein unbegrenztes. Da kann es nicht fehlen, dass sich
auf demselben die verschiedensten Meinungen geltend machen,
dass Speculationen in allen Richtungen erfolgen. Es ist klar,
wie verschieden die Meinungen darüber sein können, ob die-
Näherungswerthe, zu denen wir auf Grund unserer Erfahr-
ungen und Beobachtungen gelangen, genügen oder nicht. Und
überall und immer wieder erscheint auch der Alchemist.
Unsere Wissenschaft der politischen 0 Ökonomie ist difr
Lehre von der auf ihre Bedürfnissbefriedigung gerichteten,
in gesellschaftlichem Verbände sich vollziehenden mensch-
lichen Thätigkeit; sie lehrt erkennen, wie der Mensch
sich die Naturkräfte dienstbar macht. Im Vordergrunde un-
serer Betrachtung steht der Mensch mit allen seinen indivi-
duellen und socialen Bedürfnissen und Bestrebungen. Einer
oberflächlichen Betrachtung erscheinen die menschlichen Be-
strebungen nur auf das nächstliegende gerichtet: panein et
circenses, essen und trinken, Kleider und Schuhe, Haus und
Hof, Weib und Kind, vielfach auf das wenn auch recht wert-
lose, zufällig in dem Horizont des Einzelnen als etwas beson-
deres Erscheinende. Des Negers Sinn steht nach Schirm und
Cravatte, wie des Kindes Weihnachtssehnsncht nach einem
v« niedergeklappten Cylinderhut». So haftet der Wilde, das
Kind und die kindlichen Bevölkerungsschichten in einfältigem
Volkswirtschaftliche Grundfragen. 283-
Sinn an werthlosem Tand, und es braucht Erziehung und Er-N
fahrung, um das bessere zu schätzen und zu erstreben ; aber
es wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken ; auch die-
ärmeren Klassen, über deren Putz- und Genusssucht so viel
grezetert wird, lernen unterscheiden, lernen massh alten, und
ihre Bedürfnisse wachsen nicht nur quantitativ, sondern ver-
edeln sich auch qualitativ.
Bekanntlich statuiren wir, da uns eine psychische Ent-
wickelang nur auf der Grundlage physischen Lebens erscheint,
in aller organischen Entwickelung einen psychophysischen
Vorgang, wobei die physische Entwicklung wohl nicht als.
Ursache, sondern vielmehr als Wirkung des psychischen
Lebens anzusehen ist. Durch sorgfältige Analyse der ver-
schlungenen Thatsachen des Bewusstseins hat die Psycho-
logie1) die Grundphänomene gesucht, welche als nicht weiter
aufzulösende Elemente des inneren Entstehens vorauszusetzen
sind, und betrachtet als solche primitiven Elemente die Em-
pfindung von Last- und Unlustgefühlen und den Willen, beide
stets mit einander verbunden, und ihre Verbindung das psy-
chische Elementarphänomen der Triebe, die in immer ver-
wickeitere Formen* äusserer Willenshandlungen sich umsetzen.
Der Willensentschluss ist hiebei meist das Ergebniss eines.
Streites zwischen verschiedenen Motiven.
Wie bei den niedersten Wesen sich das psychische Sein,
nur in einfachen Triebbewegungen verräth, so beginnt auch
das menschliche Bewußtsein mit ähnlichen einfachen Trieben,.
x) Wilhelm Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie,
2 Binde, 3. Aufl. Leipzig 1887.
Gustav Schmoller, über einige Grundfragen der Socialpolitik
und der Volkswirtschaftslehre. Leipzig 1898. (Darin namentlich
Abhandlung 1, die bereits 1874/75 in den Jahrb. f. Natök. u. Statist.,
n. sep. erschien.)
"284 Volkswirtschaftliche Grundfragen.
deren Aeusserungen freilich bald in Folge der vererbten Or-
ganisation eine complicirtere Beschaffenheit offenbaren. Die
Triebe lassen sich classificiren nach den Gefühlen, von
welchen sie ausgehen, und nach den Zwecken, auf welche sie
gerichtet sind. Als Grundformen der Zwecke erscheinen :
der Selbsterhaltungs- und der Gattungstrieb mit zahlreichen
Unterformen, nach den wechselnden Färbungen des Begehrens
und Widerstrebens. Der erstere kann in Nahrungs- und
Schutztrieb, der letztere in sexuelle, Familien- und sociale
Triebe zerfallt werden. Hierbei findet ein wechselseitiges
Ineinandergreifen der einzelnen Triebe statt.
An Gefühlen unterscheiden wir: das logische Gefühl
der Uebereinstimmung und des Widerspruchs, der Wahrheit
und Unwahrheit, das sich auf die Objekte unseres Denkens
und ihr gegenseitiges Verhältniss bezieht, und die ethischen
Gefühle, die aus dem subjectiven Bewusstsein unseres Denkens
und Handelns entspringen. Letztere äussern sich als Selbst-
gefühl, indem das Ich durch eine Handlung gefördert oder
verletzt erscheint, als Mitgefühl, durch Theilnahme an den
Vorstellungen und Gefühlender Gemeinschaft, sowie in Billigung
oder Missbilligung der das Gefühl erregenden Handlungen ;
ferner dem Bedürfniss nach Harmonie zwischen den sittlichen
Gefühlen und den äussern Erscheinungen entsprechend als
religiöses Gefühl und als höhere ästhetische Gefühle.
Aus übereinstimmenden Anlagen des menschlichen Be-
wusstseins haben sich schliesslich übereinstimmende
sittliche Anschauungen entwickelt. So gewaltig auch
die in den religiösen Anschauungen und in den durch Sitte
und rechtliche Normen geregelten socialen Erscheinungen uns
entgegentretende Ent Wickelung des sittlichen Bewusstseins
ist, verwandt sind dennoch die Eigenschaften, die der Natur-
mensch rühmlich findet einerseits, und anderseits die sitt-
lichen, die der Kulturmensch bevorzugt.
Volkswirtschaftliche Grundfragen. 285-
So gibt uus die Psychologie, and für das menschliche
Gemeinschaftsleben namentlich die Völkerpsychologie, Auf-
schlags aber das menschliche Denken und Handeln. Wie uns
in künstlerischer Weise Massen- und Menschheitspsychologie
aas den Schilderungen Homer's und Sophokles9, Dante's und
Shakespeare^, und in der Gegenwart Emil Zola's und Gerhard
Hauptmannes oder aus den bildhaften Gestaltungen Max Klinger's
anspricht.
Die wissenschaftliche Thätigkeit ist nnn
einestheils, soweit sie nur auf die firkenntniss von Thatsachen
gerichtet ist, lediglich eine explicative, andererseits aber
raisst sie nach bestimmten Kegeln, bringt sie eine Wert-
schätzung zur Anwendung, gemäss den Normen, die durch
Verallgemeinerung aus Thatsachen in dem menschlichen Be-
wußtsein und Willen gewonnen sind. Gewisse Normen
stehen dabei so fest, dass ein normwidriges Verhalten zu der
Unterscheidung des Ist von dem Soll fuhrt. Um diesen
Widerspruch zu beseitigen, verwandelt sich das Sollen in ein
Müssen. Jede Norm ist zunächst eine Vorschrift für das
Handeln und sodann für die Beurtheilung bereits geschehener
Thaten. Diese Normen sind ihrem Charakter nach auf Logik
und Ethik zurückzuführen, indem die Logik die normative
Basis der theoretischen und die Ethik diejenige der
praktischen Wissenszweige bildet. Und zwar ist die
wissenschaftliche Untersuchung überall da eine theoretische,
wo es sich um das Sein, um die Erforschung des thatsäch-
lichen Zusammenhangs des Gegebenen handelt, und praktisch,
sobald sie sich mit dem Sollen, mit menschlichen Willens-
handlungen beschäftigt1)
*) Wilhelm Wundt, Ethik, eine Untersuchung der Thatsachen
and Gesetze des sittlichen Lebens. Stuttgart 1886.
Friedrich Paulsen, System der Ethik mit einem Umriss der
Staats- und Gesellschaftslehre 2 Th. Berlin 1889 (3. Aufl. 1894).
286 Volkswirtschaftliche Grundfragen.
Gewisse ethische Principien, wie die des Guten
lind Gerechten, hat es zu allen Zeiten und an allen Orten
gegeben, und ohne sie erscheint eine menschliche Gemeinschaft
unmöglich, wenngleich auch hier eine Entwickclung und Läu-
terung sich nachweisen lässt. Der Grieche und der Barbar, der
Freie und der Sklave, galten nicht als gleichartige und darum
nicht als gleichberechtigte Wesen. Und bei den griechischen
Gottheiten herrschten Betrug. Hinterlist, Ehebruch wie auf Erden.
Doch vernehmen wir einige Worte aus der classischen
Litteratur, die geeignet sind, uns die antike Ethik zu
tiharakterisiren in ihrem Wesen als: aus den sittlichen An-
schauungen des allgemeinen Bewusstseins hervorgegangen
und zugleich religiösen und praktisch-politischen Charakters.
So heisst es bei Homer in der Odyssee:
Dass Du erkennest im Herzen und anderen auch es verkündest,
Wie viel besser es sei, gerecht als böse zu handeln,
und in der Ilias:
Wer dem Gebot der Götter gehorcht, den hören sie wieder.
Ferner von Sokrates in Plato's Gastmahl:
Nichts ist so gewiss und klar für mich als das, dass ich so
gut und edel sein muss, wie es irgend in meinen Kräften
steht.
Sophokles lässt einen Chor in seinem König Oedipus
singen. Gönnte stets mir doch das Schicksal
Frömmigkeit in Wort und Werken,
Scheu vor jenen Urgesetzen,
Jeneu hoben, die des Aethers
Hcil'ger Götterschoos gebar!
Des Olympos hehre Kinder,
Nicht gezeugt von ird'schen Wesen,
Senket sie nimmer die Zeit in Vergessenheit,
Jugendlich blühend erhält sie ein Gott.
und Euripides in seiner Helena:
Volkswirtschaftliche Grundfragen. 287
Noch nie war einer glücklich, welcher Unrecht that,
Des Heiles Hoffnung blühet den Gerechten nur.
Cicero, pro Ligario sagt:
Die Menschen kommen durch nichts den Göttern näher, als
wenn sie Menschen glücklich machen.
Plato's sittliche Ideen sind nicht empirischen, sondern
metaphysischen Ursprungs.
Das höchste Gut ist ihm nicht die Lust, auch nicht die
Einsicht allein, sondern die möglichste Verähnlichung mit
Gott als dem absolut Guten. Nicht um des Lohnes und der
«Strafe willen, sondern an sich selbst als Gesundheit und
Schönheit der Seele ist die Tugend erstrebenswerth. Unrecht
thun ist schlimmer als Unrecht leiden. Der Besitz des Guten
ist Glückseligkeit. An das xuXov xal ayu&bv elvtu knüpft sich
die tvdtuuovUt. Der Staat ist der Mensch im Grossen. Der
Staat ist gegründet, damit nicht eine Klasse, sondern die
Gesamintheit möglichst glückselig sei. Die höchste Aufgabe des
Staates ist die Bildung der Bürger zur Tugend. Bei den
Herrschern und Kriegern soll neben der Richtung auf das
Wahre und Gute kein individuelles Interesse aufkommen;
sie alle sollen im strengsten Sinne eine einzige Familienge-
ineinschaft bilden, ohne Ehe und ohne Privateigentum. Als
spätestes Lehrobjekt ist den Gereiftesten die Erkenntniss der
Idee des Guten vorbehalten.
Bei Aristoteles besteht die sittliche Tugend nicht
mehr im richtigen Wissen, sondern im guten Wollen, das
zwar vom Wissen abhängig, aber nicht mit ihm identisch ist.
Das Ziel der menschlichen Thätigkeit oder das höchste
Gut ist ihm die Glückseligkeit. Diese beruht auf der ver-
nünftigen oder tugendgemässen Thätigkeit in der vollen
Dauer des Lebens. An die Thätigkeit knüpft sich als deren
Blütbe und naturgemässe Vollendung die Lust. Die Tugend
288 Volkswirtschaftliche Grundfragen.
ist die aus der natürlichen Anlage hervorgebildete Fertigkeit,
sich yernunftgemäss zu verhalten. Die höchste unter den
ethischen Tugenden ist die Gerechtigkeit, d. i. die gesammte
ethische Tugend, sofern sie auf den Nebenmenschen Bezug:
hat. Der Mensch bedarf zur Erreichung der praktischen Lebens-
ziele des Menschen und zur vollen Glückseligkeit einer hinläng-
lichen Ausrüstung mit äusseren Gütern. Nur im Staate ist
die sittliche Aufgabe lösbar. Der Mensch ist von Natur ein
für die staatliche Gemeinschaft bestimmtes Wesen (av&ponog
floH noXirixov £<yor). Der Staat ist entstanden um des
Lebens willen, soll aber bestehen um des sittlich guten
Lebens willen; seine Hauptaufgabe ist die Bildung der Jugend
und der Bürger zu sittlicher Tüchtigkeit
Der Gegensatz der christlichen und der neueren
philosophischen Ethik liegt darin, dass erster e reli-
giöser Art die sittlichen Ideen für göttlichen Ursprung»
erachtet, — so sagt Thomas von Aquino : Gott ist causa ef-
ficiens und causa finalis der Welt. Es muss einen ersten Be-
weger oder eine erste Ursache geben, weil die Kette der Ur-
sachen und Wirkungen keine unendliche Zahl von Gliedern
haben kann. Die Ordnung der Welt hat einen Ordner zur
Voraussetzung — während die Philosophie die Ethik aus der
Psychologie ableitet. In ihren Ausführungen aber sagen
beide, «nur mit ein bischen anderen Worten», ungefähr das-
selbe; wenn es auch den Forschern vielfach nicht zum Be-
wusstsein kommt, wie stark die Wechselwirkung ist.
Es sagen's aller Orten
Alle Herzen unter dem himmlischen Tage,
Jedes in seiner Sprache. (Göthe.)
Die sittliche Weltanschauung des Christenthums entfernt
sich von derjenigen des Alterthums hauptsächlich in 3 Be-
Volkswirtschaftliche Grundfragen. 289
Ziehungen : in der Auffassung des Verhältnisses des Menschen
zu Gott, der Menschen unter einander und der sinnlichen zu
den sittlichen Eigenschaften und damit in den Vorstellungen
von der Bestimmung des Menschen. An die Stelle des heid-
nisch-religiösen Motivs der Furcht vor den Göttern trat das
Motiv der Liebe, und mit dem Gedanken der gemeinsamen
Gotteskindschaft verschwanden die Schranken der Nationalität
and der Stände.
Hatte die Idee einer sittlichen Weitordnung von dem
egoistischen Standpunkt aus zu Wiedervergeltungsvorstellungen
nach dem Tode geführt, so läuterte sich das sittliche Ideal
zu der sittlichen Handlung um ihrer selbst
willen. Und auch das Christenthum verlangt mit aller Be-
stimmtheit, dass jeder für sich persönlich und für die mensch-
liche Gemeinschaft das Ziel steter Vervollkommnung anzu-
streben habe. Von Belohnung und Strafe unabhängige Motive
einer ethischen Lebensführung entsprechen dem Ideal eines
Gottesreiches in diesem und einem anderen Leben.
Dagegen steht die nicht auf psychologischer noch ethischer
Basis ruhende mechanistische Weltanschauung vor der Frage
des Wozu? und des Nihilismus.1) So findet Eleutheropulos2)
einerseits « die Sittlichkeit nothwendig, im Wesen des Men-
schen begründet und von ewiger Gültigkeit», nennt sie an-
dererseits aber doch «eine optische Täuschung.»
Einer egoistischen Ethik entspricht eine atomistisch ge-
dachte Gesellschaft, während die christliche und ebenso die
utilitaristische Ethik (Hume, Locke) und auch der Kant'sche
Imperativ, sein durch keine Nu tzlichkeitser wftgung bedingtes
l) Friedr. v. Hellwald, Kulturgeschichte in ihrer natürlichen
Entwicklung bis zur Gegenwart. 2 Bde., 2. Aufl. Augsburg 1876.
*) Abr. Eleutheropulos, Die Sittlichkeit oder der philosophische
Sittlidikeitswahu. Berlin 1899.
19
290 Volkswirtschaftliche Grundfragen.
Pflichtgebot: «Handle so, dass die Maxime Deines Willens
jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung
gelten kann, > auf das Gesauimtwohl den entscheidenden
Werth legen und die Zwecke in gewissem Grade als Ideale
betrachten, auf die hin die Entwicklung zielt. Und von den
neueren Philosophen bezeichnet Wundt zwei sociale Zwecke
als die eigentlichen Objekte des sittlichen Woliens, nämlich:
die öffentliche Wohlfahrt und den allgemeinen
Fortschritt, entsprechend der Selbstbeglückung und Selbst-
vervollkommnung auf individuellem Gebiete und in enger
Wechselwirkung mit einander. Bei der Nichtigkeit und Ver-
gänglichkeit unseres Einzeldaseins richten wir naturgemäss
unsern Blick auf die gesammte Entwickelung der Menschheit
und ihre fortschreitende Vervollkommnung, mit dem Endzweck
«der Herstellung einer allgemeinen Willensge-
meinschaft der Menschheit, als der Grund-
lage für die möglichst grosse Entfaltung menschlicher Geistes-
kräfte zur Hervorbringung geistiger Güter*.1)
Jede unsittliche That aber negirt den selb-
ständigen Werth des eigenen oder eines fremden Lebens oder
eines dem Individuum übergeordneten Gesammtlebens und
hebt in ihren Folgen das Humanitätsideal auf. Sie ist in
diesem Sinne Auflehnung eines Einzelwillens oder eines be-
schränkten Gemeinschaftswillens gegen den Gesammtwillen
der Menschheit. Das Unsittliche oder Zweckwidrige im sitt-
lichen Leben erklärt sich aus sittlicher Schwäche und mangel-
hafter Erkenn tniss oder aus sittlicher Bosheit, die auf Willens-
schwäche oder verkehrter Wrillensrichtung beruhen und Unter-
lassung des Guten oder Erzeugung des Schlechten bewirken. 2 )
i) Wilh. Wundt, System der Philosophie, Leipzig 1889.
s) Rud. v. Jhering, der Zweck im Recht. Bd. 1, 2. Aufl. Leipzi;
1884. Bd. 2, 1883.
Volkswirtschaftliche Grundfragen. 291
Als sittliche Normen bezeichnet Wundt die
individuellen Normen der Selbstachtung und Pflicht-
treue, die socialen der Nächstenliebe und des Gemein-
siiuis, die humanen der Demuth, im Gefühl der unend-
lichen Aufgabe, und der Selbstlosigkeit und die Normen des
R e c h t s und der Gerechtigkeit. Aus der Sitte entsteht
Bechtsgewohnheit, Gewohnheitsrecht und Gesetzesrecht, zum
.Schutze des Rechts das Strafrecht; immer mehr wird privates
Hecht zu öffentlichem Recht, und entwickelt sich das Rechts-
bewusstsein zur Durchführung grösserer Staatszwecke.
Als sittliche Lebensgebiete erscheinen :
Beruf, Besitz, geistige, religiöse uud künstlerische Gebiete.
Als Gemeiuschaftsorganisationen (und
2 war als Besitz-, Wirthschafts-, Rechts-, Gesellschafts- und
Bildangsgemeinschaften) sind zu nennen : Stamm und Familie,
Gesellschaftsklassen, Gemeinde, Staat, die Kulturstaaten und
zuletzt die Menschheit. «Hiermit hat die Idee der Humanität
«inen nie zu erschöpfenden Inhalt gefunden, ans dem sich
ein Pfiichtbewusstsein der Völker entwickelt, das den sitt-
lichen Lebensaufgaben des Einzelnen Richtung und Ziel gibt.»
Wie die Negation allein nicht befriedigt, das zeigt das
öffentliche Leben der Gegenwart deutlich. Der naturwissen-
schaftliche Materialismus mit seinem Dogma des Individualis-
mus und dem Rechte des Stärkern auf Unterdrückung und
Vernichtung des Schwächern1), der schon Charles Darwin2)
so weit führte, die Trade Unions als Vereinigung Schwächerer
1) Leopold Jacoby, Die Idee der Entwicklung, eine social-philo-
sophische Darstellung. 2 Th. 2. Aufl. Zürich, 1887.
Ludwig Büchner, Friedrich Nietzsche, Ernst Häckel.
*) Brief Darwin's an Prof. Dr. Heinr. Fick in Zürich) dalirt
Down Beckenham, Kent, July 26. 1872 :
292 Volkswirtschaftliche Grundfragen.
zu verdammen, diese Lehre hat uns nicht an das Ende der
Dinge geführt, sie schärfte nur, nachdem die erste Begeiste-
rung" über ihre Entdeckungen vorbei war, das Verlangen
und die Sehnsucht nach Erkenntniss; das Dunkel des nur
Geahnten erschien um so tiefer, je heller das Licht der
Wissenschaft leuchtete. Und auch dem alten Darwin1) hat
es noch gedämmert: «dass auf Grand der Beobachtung in
unserer modernen Civilisation eine natürliche Auslese nicht
zu Stande komme und die Tüchtigsten nicht überleben. Die
Sieger im Kampf um das Geld sind keineswegs die Besten
oder die Klügsten.» Wenn auch Darwin (1809 — 1882) zu
einer für die Zukunft der Menschheit hoffnungsvollen An-
schauung sich nicht mehr aufzuschwingen vermochte.
Es ist zu beachten : Eine Gesellschaftsordnung, die ledig-
lich kraft Naturgesetz bestünde, gibt es nicht8) und ist
ein Widerspruch in sich selbst, denn es umgeben uns
nicht blosse Natur Verhältnisse, sondern eine Welt der
«1 much wish that you would sometimes take occasion \o
discuss an allied point, if it holds good on the continent. namely
the rule insitted on by all our Trades- Unions, thal all workmeu,
— the good and bad, the strong and week, — should all work for
the same number of hours and receire the same wages. These
unions are also opposed to piecework, — in that to all competüion
I fear that cooperative Societies, which inany look at as tbe. main
hope for the future, likewise exelude competüion. This stems to we
a great evü for the future progress of mankind.»
*) Alfred Russell Wnllace, Menschliche Auslese, in der «Zukunft*.
Bd. 8, Berlin, 1894.
2) Werner Sombarl, Ideale der Social politik, im Archiv für
sociale Gesetzgebung und Statistik, Berlin 1897.
Frz. Walter, Sozialpolitik und Moral (vom Erzbisch of von
Freiburg approbirt), Freiburg i. ß. 1899.
Volkswirtschaftliche Grundfragen. 293
Kultur, die der menschliche Wille erschaffen hat. Börse
und Armenhans, Rentiers, Industriebarone, Börsenjobber,
Privatmonopolisten neben nichtsbesitzenden Lohnarbeitern und
arbeitslosen Proletariern sind gewiss keine blossen Natur-
produkte, sondern Prodnkte unserer socialen und rechtlichen
Ordnung, die in fortwährender Umbildung und Entwickelnng
begriffen ist und neben herrlichen Lichtseiten solche Schatten-
bilder aufweist. Als Glied einer Gesammtheit unterliegt der
Mensch ihrem Milieu, ihren zwingenden socialen Verhältnissen ;
aber darum statuiren wir keine vom Einzelwillen unbeein-
flussbare Naturnotwendigkeit. Zum Beweise, wie individuelle
Willen6acte Ursachen von grosser Wichtigkeit sein können,
weist J. Stuart Mill in seiner Logik auf die Thätigkeit des
Steuermanns in einem Sturm hin. Und innerhalb der von der
Xatur uns gesteckten Grenzen liegt dem freien Willen ein
weites Feld wirthschaftlicher Bethätigung offen.
Insofern die Volkswirtschaftslehre die Wissenschaft von
der im Verbände der menschlichen Gesellschaft sich vollzie-
henden, auf die Erlangung von Gutern gerichteten Thätigkeit
darstellt, ist noch, nachdem wir die menschliche Natur und
die Motive menschlichen Handelns charakterisirt haben, auf
die äussern Objecto der Natur als die Basis
'ier menschlichen Anstrengungen hinzuweisen. Bier stossen
vir auf den Boden in seiner natürlichen Dotation, auf die
Terticale Configuration der Erdoberfläche und die horizontale
der Meeresküsten, Temperatur und Klima etc., knrz anf die
Productionsgrundlagen und -Bedingungen, von denen die Mög-
lichkeit und Ergiebigkeit der Bethätigung im Landbau und
Bergbau, in der Industrie, im Handel und Verkehr und die
ganze wirtschaftliche Lage abhängt. Und die wirth schaff-
294 Volkswirtschaftliche Grundfragen.
liehe Lage ist die Voraussetzung aller höhern Kultur, aller
künstlerischen und wissenschaftlichen Entwickelung. ])
Da ja jede Volksgemeinschaft nach Erwerbs- und
Berufsgruppen gegliedert ist, so ist die sociale Lage
der einen verknüpft mit landwirtschaftlichen, der andern
mit industriellen und commerciellen Verhältnissen. Die Unter-
scheidung Steinbach's*), dass die Organisation des Berufs
wesentlich auf ethischen, dagegen die Organisation des ge-
wöhnlichen Erwerbes auf wirthschaftlichen Momenten beruhe,
ist indessen insofern belanglos, als Erwerb im allgemeinen
nur in einem Berufe zu finden ist. Und wenn die wirth-
schaftlichen Motive auch meist die nächstliegenden sind, so
finden sich ethische Momente doch an beiden Orten, und der
Begriff des banausischen ist für eine geläuterte Anschauung
ebensowenig der r^n immanent wie den liberalen Berufs-
arten: «Des Arbeiters Hand ist immer rein, und sollte sie
russig und schweissig sein.»8)
Weil sich nun das volkswirtschaftliche Leben aus land wirt-
schaftlich, commerciell und industriell etc. thfttigen Berufs-
gruppen zusammensetzt, und jede kleine Störung und Aende-
rung in diesen Grundlagen von gewichtigen Folgen für das
Wohl und Wehe Einzelner oder ganzer Gemeinschaften sich
erweist, so kann keine volkswirtschaftliche Kenntniss exi-
stiren, ohne Kenntniss oder wenigstens Verständniss auch
') Karl Knies, die politische Oekonomie vom geschichtlichen
Standpunkt, 2. Aufl. Braunschweig 1883.
Alb. Schaffte, Bau und Leben des sozialen Körpers, 4 Bde.
Tübingen, 1875 — 78 und: Der Staat und sein Boden, in der Zett-
schrift iür die ges. Staatswissenschaft. Bd. 55. Tübingen 1899.
Friedr. Katzel u. a. über Anthropogeographic und politische
Geographie.
*) Emil Steinbach, Erwerb und Beruf, Wien 1896.
8) Leopold Jacoby, Quinta, 2. Aufl. Zürich 1895.
Volkswirtschaftliche Grundfragen. 295
der social wichtigen technischen Prozesse der
Einzelwirtschaften. Die alteren Nationalöko-
nomen der Caineralisten d. i. Kammer- oder Domänen-Beamten,
hatten hier einen grossen Vorrang, sie waren vertraut mit land-
wirtschaftlichen und auch mit den damals noch einfachen
gewerblichen Verhältnissen. Die fortschreitende industrielle
Entwickelung und Arbeitstheilung erschwert und verunmög-
licht nun zum Theil den Erwerb dieser Kenntnisse, aber ent-
behrlich sind dieselben damit nicht; ihr Nichtvorhandensein
bleibt ein Mangel, der in der Litteratur und Politik nur allzu
deutlich zu Tage tritt.
Wie wollen wir über Arbeitslöhne, Arbeitsverträge, Lehr-
lingswesen, Wanderarbeiter, Naturallöhne, landwirtschaftliche
Verschuldung, Fabrikgesetzgebung, Arbeitslosigkeit, etc. ur-
theilen, ohne specielle volkswirtschaftliche und technische
Kenntnisse ? Oder wollen wir etwa, wie der Philosoph in
Klingcr's Darstellungen vom Tode, im Hängen von eisiger
Bergesspitze nach der entglittenen Brille angeln? Nur wer
selber Meister ist, kann ein Meisterstück beurtheilen. Und
«eine Unze Thatsachen, sagt ein englisches Sprichwort, wiegt
mehr als eine Tonne Theorieen.»
Die Nationalökonomie hat demnach in ihrem
allgemeinen Theil dio Erkenntniss der complicirten
wirtschaftlichen Verhältnisse zu liefern, sowohl nach ihrer
technisch-ökonomischen Seite, d. i. vom Standpunkt
der Production, der Gütererzeugung mit den geringst mög-
lichen Kosten, als auch nach ihrer socialpolitischen
Seite hin, d. i. vom Standpunkt der Distribution, der Ver-
keilung des Productes und der Lage der betheiligten Klassen.
Zu solch allseitiger Klarlegung der wirthschaftlichen
Verhältnisse bieten sich uns die Wege der Beobachtung und
296 Volkswirtschaftliche Grundfragen.
Erfahrung und die historische wie die statistische Methode, die
historische Methode, insofern wir etwas erst recht er-
kennen, wenn wir es in seinem Entstehen und seiner Ent-
wickeln g verfolgt haben, und diestatistischeMethod e1),
insofern dieselbe uns durch Auszählen der charakteristischen
Einheiten über die Beschaffenheit von Massenerscheinungen Auf-
schluss gibt. Die Auszahlung lehrt uns die Quantitätsverhältnisse
kennen und führt zur Vergleichung der Summen in homogenen
Massen unter Beduction auf gleiche Nenner. Dadurch gelangen
wir zu einem Urtheil über die Grösse der eingetretenen wie der
erfahrungsgemäs8 als wahrscheinlich zu erwartenden Er-
scheinungen (z. B. der Sterblichkeit und Todesursachen in den
einzelnen Bevölkerungsklassen). Und in den Reihen der gleich-
massig oder entgegengesetzt oscillirenden Summen haben wir
Hinweise auf die nach den Ursachen und Wirkungen der
Phaenomene zu vermnthenden Kausalzusammenhänge (z. B.
Kindersterblichkeit und Ernährung). Während das Experiment
von den bestimmten Ursachen auf deren Wirkungen Schlüsse
gestattet, schliesst die Statistik umgekehrt von den bekannten
Wirkungen auf deren Ursachen zurück und zwar in Fällen,
in denen uns ein anderes Mittel meist überhaupt nicht zur
Verfügung steht.
Die praktische Nationalökonomie oder Volks-
wir th schaftspoli tik legt die sittlichen Normen
an die volkswirtschaftlichen Zustände, und auf Grund der
Beurtheilung sucht sie einen entsprechend hebenden Einfluss
i) Chr. Sigwart, Logik, 2 Bde., 1873 u. 1878. Bd. 2, § 101
u. 102, Hülfsmethoden der Induction.
G. iL Schmidt, die Statistik als Lehrfach (Referat auf der
Zürcher Statistikcr-Conferenz), in der Zoitschr. für Schweiz. Statistik-
Bern 1894, auch sep. Zürich 1894.
Volkswirtschaftliche Grundfragen. 297
■auszuüben. Als oberstes Ziel bietet sich uns, sub aeternitatis
specie, die Fortbildung des Cfjv zum *i £?>, zur Humanität.
Als wichtige Factoren einer socialen Harmouisirung er-
scheinen die gern ein wir thschaf Hieben Organisationen, namentlich
der Staat und die Kirche, die sich keineswegs *) täglich an
Autorität einbüssend erwiesen haben, vielmehr bereit und
fähig sind, neue Ideen in sich aufzunehmen und zur Geltung
zu bringen.
Die Vorfrage in practisch-politischer Betrachtung lautet
dahin: was absolute, ökonomische, also unabänder-
liche und was der Fortbildung unterliegende, historische
Kategorie2) ist. Die Dogmen von der überall segens-
reichen freien Concurrenz 3) und der höheren Form des Privat-
eigenthunis, lassen sich nicht aufrecht erhalten, indem die
geschichtliche Betrachtung uns die vielen bezüglichen
Wandlungen, und die Kritik nicht nur den Segen, sondern
auch die fluchwürdigen Seiten offenbart. Unter Berück-
sichtigung der jeweiligen Verhältnisse wird das ürtheil
verschieden lauten, nicht mehr absolut, sondern relativ; und
entsprechend den Ansichten und Verhältnissen werden indivi-
dualistische Freiheit und sociale Gebundenheit ihre Grenz-
steine hin und her versetzen müssen. Oft treten verschiedene
Motive mit einander in Conflict, und erst die Wucht der Ar-
omen te entscheidet. Und wie alle Detailfragen nur auf
lirnnd einer genauen Kenn tniss der wirthschaft-
l) Ludwig: Stein, Die sociale Frage im Lichte der Philosophie,
Mutigart 1897.
»j G. Rodbertus-Jagetzow, sociale Briefe an v. Kirchmann,
2. Aufl. Berlin 1875.
3j In dem Bericht des eidgenössischen Versicherun gsamtes pro
1897 (Direktor Dr. J. Kummer) müssen wir pag. XIII noch den
Satz lesen: «Die wünschbarc Grenze (sc. des Gewinnes von Actien-
unternebruungen) ist gezogen durch die Konkurrenz.»
298 Volkswirtschaftliche Grundfragen.
liehen Zustände behandelt werden können, so kann
socialwissenschaftliche Theorien, wenn solche mehr als Be-
kenntnisse oder vage Behauptungen sein sollen, nur auf-
stellen, wer auf dem volkswirtschaftlichen Gebiete
gründlich orientirt ist. Subjective Erfahrungen und Studien,
wie die ganze Lebens- und Weltauflassung, werden dabei
die menschlichen Vorstellungen und Urtheile stets beeinflussen,
so dass sich socialpoli tische Bestrebungen verschiedener
Klassen unterscheiden lassen, die alle nach der Herrschaft
streben und gemäss ihren Anschauungen und Interessen
handeln. Diese verschiedenen Bestrebungen können das
Tempo der Entwickelung verlangsamen oder einander in zeit-
licher Folge ablösen und im Zickzackeurs als Kompromisse bald
nach dieser bald nach jener Seite wirksam sein.
Nebenbei muss erwähnt werden, dass es keine be-
sondere Socialpolitik gibt, sondern der sociale Ge-
danke mehr oder weniger hervortritt in den einzelnen Zwei-
gen der praktischen Nationalökonomie, als der Agrar-, Ge-
werbe- und Handelspolitik. Und eine staatliche Organisation
ist kein Gefängniss, sondern eine den Bedürfnissen der Ge-
sellschaft adaequate Form.
Da Gau und Stamm sich als zu klein erwiesen, er-
weiterte sich das Gebilde zu territorialer, nationaler und
cultureller Zusammenfassung. Die heutigen Nationalstaaten
entsprechen gewiss nicht mehr in allen Punkten der
stetig an Bedeutung gewinnenden und einen Kulturfort-
schritt darstellenden Weltwirtschaft und dem die ganze
Kulturwelt umspannenden gleichartigen Denken und Fühlen.
Daher die Zoll-, Handels- und Niederlassungsverträge und die
Bestrebungen zur Einbürgerung ansässiger Ausländer, wie
zur Schaffung grosser Zollbündnisse für Europa und ebenso
Amerika, oder gar der Vereinigten Staaten von Europa wie
Volkswirtschaftliche Grundfragen. 299
von Amerika1), daher die internationalen Biireaux und Con-
ferenzen aller Art.
Hiemit sind die besonderen wirtschaftlichen Bestreb-
ungen und socialen Klassenkämpfe aber noch
nicht aus der Welt geschafft, wenngleich die Kampfformen
dadurch gewinnen, dass die Kämpfenden die Stellungnahme
ihrer Gegner verstehen und als relativ berechtigt würdigen
lernen. Und gewiss ist auch, der ideellen und politisch-for-
malen Gleichheit folgend, eine grössere ökonomische Gleich-
heit im Vormarsch begriffen und das Renteneinkommen zu
Gunsten des Arbeitseinkommens in die Defensive geworfen :
gemäss dem «wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen» und
«Jeder Arbeiter ist seines Lohnes werth.» Wissen wir doch,,
dass nicht das nächstliegende Interesse des Einzelnen Trieb-
kraft allein ist, sondern dass mitwirkt : die auf weiterem Blick
und reifer Erfahrung ruhende Ueberzeugung von dem dauern-
den Interesse der Familie, der Nachkommen, der Mitbürger
«ad der Menschheit. Weiss doch heute jeder König oder
kann er es wissen, dass wie in seinen Adern Bettlerblut rollt,,
jeder Bettler einst einen adligen oder fürstlichen Ahnherrn
hatte.2) So weist auch die herrschenden Klassen ihr Rechts-
gefuhl und ihre Interessensolidarität hin auf das Wohl des.
Volkes und der Menschheit.
Gegenüber einein in der Gegenwart, auch in wissen-
schaftlichem Gewände, sich wieder breit machenden Nationa-
lismus sei es gestattet zu erinnern an unseres Gottfried
1) Paul Leroy-Beaulieu: De la necessite de pre*parer une.
federalion europeenne, dans l'Economiste Francais (No. du 3 sepU
1898, 8 avr. et 27 mai 1899).
2) Freiherr M. du Prel, die Bedeutung von Stammbäumen für
die Erkenntnis des Bevölkerungsganges, in Allgem. Statist. Archiv
Band 4, Tübingen 1896.
■300 Volks wirtschaftliche Grandfragen.
K e 1 1 e r' s inhaltschwere Worte in seinem Fähnlein der sieben
Aufrechten: «dass es dem Manne gezieme, in beschaulichen
Stunden, in schlafloser Nacht oder auf stillen Wegen, das
sichere Ende seines Vaterlandes in's Auge zu fassen, damit
er die Gegenwart desselben um so inbrünstiger liebe; denn
Alles ist vergänglich und dem Wechsel unterworfen auf dieser
Erde. Oder sind nicht viel grössere Nationen untergegangen
als wir sind? Nein! ein Volk, welches weiss, dass es einst
oiicht mehr sein wird, nützt seine Tage um so lebendiger,
lebt um so länger und hinterlässt ein rühmliches Gedächtniss;
denn es wird sich keine Ruhe gönnen, bis es die Fähigkeiten,
<lie in ihm liegen, ans Licht und zur Geltung gebracht hat.
Dies ist nach meiner Meinung die Hauptsache. Ist die Auf-
gabe eines Volkes gelöst, so kommt es auf einige Tage län-
gerer oder kürzerer Dauer nicht mehr an, neue Erscheinungen
harren schon an der Pforte ihrer Zeit!»
Aber gewiss ist die hohe und beglückende Aufgabe unseres
Volkes: der Welt ein Vorbild freiheitlicher und gerechter,
die verschiedenen Volksstärame und -Klassen brüderlich um-
fassender, staatlicher Organisation zu sein, noch nicht erfüllt !
Noch darf ich hinweisen auf die Stellung der Na-
tionalökonomie zur Jurisprudenz, darauf, dass
die volkswirtschaftlichen Studien nicht zufällig und nicht
ohne Grund in die juristische Fakultät eingegliedert sind.
Auf den Zusammenhang zwischen Recht und Wirt-
schaft haben u. a. : H. Danckwardt1). Lorenz Stein2), Ad.
1) Nationalökonomie und Jurisprudenz, 4 Hefte, Rostock 1858
u. 1859 und Nationalökonomisch-civilistische Studien, 2. Th. Leip-
zig 1862 u. 1869.
2) Verwaltungslebre, 7 Th. Stuttgart 1865—68, und Gegenwart
und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands. Stutt-
gart 1876.
Volkswirtschaftliche Grundfragen. 301
Wagner *), H. Dietzel 2) und besonders treffend in folgenden
Sätzen Wilh. Arnold 3) hingewiesen : Wie jeder wirthsebaftliche
Act Rechtsformen voraussetzt, so haben auch alle Rechtssätze,,
zumal die des Privatrechts, direct oder indirect, einen wirt-
schaftlichen Inhalt oder Bezug. Es liegt klar am Tage, dass jedes
Volk, auf welcher Kulturstufe es stehen mag, für seine wirth-
schaftliche Thätigkeit einer rechtlichen Ordnuug bedarf. Jedes
wirtschaftliche Institut kann daher von einer andern Seite
als Rechtsinstitut betrachtet werden. Im wirklichen Leben
<ribt es kein Kechtsverhältniss ohne materiellen Inhalt, und.
alle Sätze des Privatrechts haben eine wirtschaftliche Be-
deutung. Die Volkswirthschaft ist so wenig etwas isolirtes
und selbständiges, als das Recht. Das wirtschaftliche Leben
ist in mehr als einer Hinsicht die Grundlage des rechtlichen
und politischen Lebens. Somit erscheint das Recht als die
formelle Ordnung für die wirthschaftlich, d. h. zur Befriedi-
gung ihrer Lebens- und Kulturbedürfnisse thätige Volksge-
meinschaft.
Schon Savigny erklärte, dass das Recht überhaupt kein
Dasein für sich hat, dass sein Wesen vielmehr «das Leben
der Menschen selbst von einer besonderen Seite angesehen»
ist natürlich in erster Linie das wirtschaftliche Leben.
Daher genügt weder für den Verwaltungs- noch auch für
den Justizbeamten die Kenntniss des Gesetzes allein, hin-
zukommen mus8 die Kenntniss der zu Grunde liegenden
wirthschaf tlichen Verhältnisse; diese ist für den
Juristen ebenso nothwendig als die juristische Construction.
*) Grundlegung der Volkswirtschaftslehre, Volkswirthschaft
und Recht, besonders Vermögensrecht, 2. Aufl. Leipzig u. Heidel-
berg 1879 (3. Aufl. 1892 ffg.).
*) Srud. jur. et cara., in Jahrb. f. Nationalökonomie und Statt-
>Uk, III F. Bd. 14. Jena 1897.
*) Kultur und Rechtsleben, Berlin 1865.
•302 Volkswirtschaftliche Grundfragen.
Dass der Jurist von dieser Kenntniss des wirthschaft-
licben Lebens nur so am Wege gelegentlich dies oder jenes
erhascht, kann nicht als genügend erachtet werden. Unter
den alten bäuerlichen Verhaltnissen, wie sie in manchen
Gegenden unseres Landes noch tief bis in dies Jahrhundert
hinein bestanden, mochte die tägliche Beobachtung und die Ver-
trautheit mit dem einfachen, meist naturalwirthschaftlichen
Landleben nationalökonomische und juristische Kenntnisse
entbehrlich machen ; aber mit der grösseren socialen und tech-
nischen Differenciirung durch den internationalen Handel und
die Mannfactur und Grossindustrie für den Weltmarkt, — die
4
in keinem andern Lande verhältnissmässig so gross ist wie bei
uns, — haben wir eine Specialisirung des gewerblichen Lebens
und eine Complicirtheit an wirth schaftlichen Formen gewonnen,
die nur zu verstehen, geschweige denn zu beherrschen eifriges
Studium erfordert. Sehen wir doch in dieser Entwicke-
lung eine Abdankung der Juristen lediglich formaler
Observanz vor den nicht juristischen aber dafür saeh-
ikundigen und mit dem wirklichen, realen, praktischen Leben
vertrauten Handels- und Gewerberichtern. «So drängen Recht
oind Leben gleichermassen zu einer Ergänzung des Rechts-
studiums durch ein bewusstes, systematisches Stu-
dium des Lebens»,1) zu einem Studium des in Landban,
Handwerk, Industrie, Geld- und Waarenhandel, Transport-
und Versicherungswesen mannigfach gestalteten wirtschaft-
lichen Lebens.
Schon zu Anfang des vorigen Jahrhunderts hat ein preussi-
scher König einem neu ernannten Professor für «Oekonoinie-.
Polizei- und Kammersachen» eine «erste Stunde in dieser wich-
tigen Materie» docirt, und wiederholt, namentlich in den letzten
l) Eug. Schiffer, Amtsrichter, die Ausbildung der Richter, in
•der «Deutschen Juristenzeitung», Berlin, No. 7 vom 1. April 1899.
Volkswirtschaftliche Grundfragen. 303
Jahren, hat sich die preussische Regierung dahin ausge-
sprochen; die überwiegend juristische Ausbildung reiche für
die materiell richtige Erledigung der volkswirtschaftlichen
and socialen Aufgaben unserer Zeit nicht ans. Die blosse
formalistische Behandlung der Rechtsfragen finde eine Ver-
besserung, sobald man den materiellen wirthschaftlichen In-
halt mit hineinbringe. Dadurch werde die formalistische
Neigung der Juristen abgeschwächt, und andererseits sollten
die Nationalökonomen die volkswirtschaftlichen Fragen mit
juristischer Schärfe prüfen.
Und mit blosser Studirstubenweisheit ist es noch nicht
getlian. Wiederholt ist, auch von Juristen und Justizbeamten,
und zwar mit immer grösserem Nachdrucke, auf die Wichtig-
keit einer practischen Bethätigung im wirth-
schaftlichen Leben hingewiesen worden. So ver-
langt der Berliner Oberstaatsanwalt L. Wachler von dem
Jünger der Themis, der später das Recht finden und sprechen
soll, eine intensive Thätigkeit in einem Handelshause, in ge-
werblichen Unternehmungen der Stadt oder des Landes; diese
werde die Rechtsprechung ihrem Zwecke näher bringen. Und
ein anderer Jurist1) weist die jungen Collegen auf die Be-
thätigung in einem grossen Bankhaus oder in einer Gutsver-
waltung hin. um die Bedürfnisse des practischen Lebens
kennen zu lernen.
Nachdem die österreichische Regierung vor einigen
Monaten die staatlichen Verwaltungsbeamten in einem beson-
x) P. Schellhas, Amtsrichter, Ideale und Idealismus im Recht,
1*96 and Spezialisinus im Recht, in der « Deutschen Juristenzeitung»
No. 11 vom 1. Juni 1899: «Wir meinen, dass unsere heutigen Ver-
hältnisse geradezu gebieterisch den Handelsrechtspezialisten fordern,
der über eine eingehende Kenntniss des kaufmännischen Wissens,
-der Buch- und Geschäftsführung, des Kreditwesens und des Börsenver-
kehrs verfügt.»
304 Volkswirtschaftliche Grundfragen.
deren Erlasse angewiesen hat, dessen eingedenk zu sein, dass
die Beamten der Industrie wegen da wären und nicht umge-
kehrt, und dass demnach die amtlichen Erledigungen stets
die Bedürfnisse der Industrie im Auge behalten müssten,')
ist kürzlich die Prager Handels- und Gewerbekammer in
einer umfangreichen Eingabe8) an den Handelsminister in
schärfster Weise dafür eingetreten, dass die künftigen Ver-
waltungsbeamten für den wirtschaftlichen Dienst besser vor-
bereitet und an der Universität weniger einseitig für den
Justizdienst vorgebildet werden, auch wird auf die Nothwen-
digkeit technischer Fachkenntnisse hingewiesen.
Einer practischen Thätigkeit müssen naturgemäss ent-
sprechende volkswirthschaftliche Studien vorhergehen, weil
nur damit ein rechter Nutzen aus der Praxis gewonnen
werden kann, und nicht weniger auch desshalb, um nicht
kritiklos von den Nichts-als-Practikern auf deren einseiti-
gen und beschränkten Interessen- und Partei-
Standpunkt3) hinabgezogen zu werden.
Und nicht bloss das Wie? des Rechtes, sondern auch
das W esshalb? ist zu studiren, und es ist zu prüfen, ob
das Recht, was ist, dem Rechte entspricht, das sein sollte.
1) «Volkswirthschaftliche Wochenschrift», herausgegeben von Dr.
Alexander Dorn, Wien, Nr. vom 2. März 1899.
2) Der « Oesterreichische Oekonomist », herausgegeben von E.
Blau, Wien, No. vom 5. März 1899.
8) Man beachte die Angriffe in Deutschland gegen den Minister
Freiberrn von Berlepscb, den Untorstaatssecretär Dr. von Roten-
burg, den Oberregierungsrath Dr. Wörishoffer etc. und vergleiche die
Reichstagsrede vom 26. April 1899 des Grossfabrikanten Abgeordneten
Freiherrn von Heyl aus Worms. Heyl charakterisirte die Berufs-
vereine, als «in ganz einseitiger Weise nur ihre Interessen
vertretend. Die Generalsekretäre, die bezahlten Angestellten dieser
Industrieberufsvereine, sind für mich auch nicht unschädlicher und
Volkswirthschaflliche Grundfragen. 305
Unser heutiges Wirthschaf tsrecht basirt auf dem In d i-
vidualprinzip, das Ende vorigen Jahrhunderts zur Herr-
schaft kam und in Privateigentum und Vertragsfreiheit
seinen rechtlichen Ausdruck fand. Lange galt für alleinige
Aufgabe des Rechts: die folgerichtige Verwirklichung dieser
Principien. Heute aber ist der Glaube an die Berechtigung und
ewige Dauer dieser Ordnung theilweise erschüttert, gefordert
wird wenigstens eine Umbildung un ser es Wirth-
schafsrechts durch Beschränkung des Privat eigen thums
und der Vertragsfreiheit. Aus Dogmen sind wieder Fragen
und Probleme geworden. Zur Mitarbeit an der Lösung
dieser Probleme sind die Juristen, soweit sie volks-
wirtschaftlich entsprechend gebildet sind,
in erster Reihe berufen. «Ein grosser Theil der Lebensar-
beit unserer Richter und Anwälte, sagt Dietzel, vollzieht sich
auf dem Felde des Wirthschaftsrechts. Indem sie durch
Jahre hindurch, oft nahezu unausgesetzt sich mit ihm zu
beschäftigen haben, kommen sie in die Lage, seine Wirkungen
zn Wohl und Wehe des Volkes genau und allseitig kennen
zu lernen, werden sie zu Sachverständigen, die an erster
Stelle berufen wären, das Wirthschaftsrecht, da wo es
Mängel und Lücken aufweist, weiterzubilden, bezüglich uni-
anbedenklicher als die Berufs Vertreter der Ge werk vereine. Die
Generalsecretäre massen sich an, eine Kritik über unsere Tbätigkeit
als Abgeordnete zu üben und uns in einer Art und Weise unter
ihre Gensur zu stellen, die weit schlimmer ist, als diejenige auf der
andern Seite, weil sie natürlich über ganz andere Geldmittel und
über eine mächtige, weit verbreitete Presse verfügen. Ganz abge-
sehen davon muss ich aber sagen, dass, wenn man diese Zeitungs-
artikel liest, eine Unreife des Ausdrucks, ein Dilettantismus der
Auffassung zum Vorschein kommen, welche auf das ärgste zu be-
klagen sind.»
20
306 Volkswirtschaftliche Grundfragen.
zubildcn. Aber die Gewähr dafür, dass sie solche Mängel
und Lücken suchen und linden, ist nur gegeben, wenn ihnen
durch das Studium der politischen Oekonomie der Sinn ge-
öffnet, das Auge erschlossen ist. Nur wenn systematisch
in ihr geschult, werden sie die Ergebnisse der Einzelfälle,
die der Beruf ihnen unterbreitet, fruchtbringend zu nutzen
vermögen ; sonst bleibt das kostbare induetive Material taubes
Gestein.»
Demnach muss die politische Oekonomie in ihrer Theorie
für die Rechtsanalyse und in ihrem praktischen Theil für
die Rechtsethik und -Politik als unentbehrlich bezeichnet
werden.
Zum Schlüsse ist es mir besonders erfreulich, constatiren
zu können, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht den
Nationalökonomen zur alleinigen Bearbeitung überlassen sind,
sondern dass sie auch von den Juristen in theoretischer
praktisch-politischer und gesetzgeberischer Bethätigung för-
dersamste Berücksichtigung erfahren, und dass damit die
juristische Fakultät Bern voranschreitet, zur Erreichung
des Zieles, das der staatsmännischesten Fakultät
schweizerischer Eidgenossenschaft gesetzt ist.
Und der wirthschafts-rechtlichen Aufgaben harret im
20. Jahrhundert die Fülle!
Jahresbericht 1899.
Jahresbericht 1899. 309
Das letzte Jahr des 19ten Jahrhunderts verlief bis anhin*)
relativ friedlich; die Haager-Konferenz gab ihm sogar ein
formell ganz besonders friedliches Gepräge, von dem man sich
jedoch nicht zu sehr täuschen lassen darf. Denn dicht da-
neben her bereits gieng die Vergewaltigung zweier braver,
kleiner Völker durch die beiden mächtigsten Reiche der
heutigen Welt, in deren «Machtsphäre» sie unglücklicherweise
liegen, mit den Redensarten der Staatsraison und Macht-
politik, wie sie schon Gessler im «Wilhelm Teil» braucht,
nnd die rücksichtslose Auftheilung zweier ehemaliger Gross-
staaten, deren Uhr wirklich abgelaufen zu sein scheint. Die
blosse «Humanität» hat immer ihre Grenzen, wenn nicht ein
starkes Rechtsgefühl, oder eine wirkliche Religion ihr etwas
mehr Rückgrat verleiht, als sie von Haus aus besitzt, und
weiss sich leicht mit dem schon von den Römern oft ver-
wendeten Raisonnement zu beruhigen, dass die Theilnahme
an den Gütern der allgemeinen Kultur die Völker für den
Verlust der Freiheit entschädige.
Dass wir unsern Gedanken ganz aussprechen: wir haben
gar kein Mitleid mit dem zerfallenden China und womöglich noch
weniger mit der in Trümmer gehenden spanischen, oder tür-
kischen Weltmacht. Alle haben für die Menschheit wenig
gethan, als sie die Macht dazu besassen, und ihr Schicksal ist
ein schon längst verdientes in unsern Augen. Dass aber die
Rossifizirung eines Volkes wie das finnische, oder die Ein-
•) Anfang August 1899.
310 Jahresbericht 1899.
verleibung der südafrikanischen Republik und des Oranje-
freistaates in das englisch-afrikanische Reich unentschuldbar
ist, und der letztere Fall namentlich für England eine
Schmach bildet, das wir als den Hort und Anwalt der Frei-
heit und Selbstbestimmung der zivilisirten Völker unter den
Grossstaaten zu betrachten gewohnt sind, das scheint uns ge-
wiss, geht aber allerdings über die Fassungsgabe eines
Popen, wie Pobedonoszeff, und eines ehemaligen Leder-
händlers, wie Chamberlain, hinaus, der ein grosses Reich nach
«Geschäftsprinzipien» regieren will.
Die kleinen Staaten müssen jetzt auf ihrer Hut sein,
die Zeit ist ihnen nicht günstig; ihre Tendenz geht dahin,
grosse staatliche Komplexe unter Voranstellung der materiellen
Interessen vor die politischen zu bilden, und selbst bei uns
giebt es Leute, von denen man die Redensart hören kann, die
«Verkehrsinteressen», oder die internationalen Beziehungen
und Verbindungen seien jetzt in erste Linie zu stellen. Sie
würden die Freiheit, an die wir gewöhnt sind, und die wir
daher allzusehr als etwas ganz Selbstverständliches be-
trachten, was sie in der jetzigen Welt noch gar nicht ist,
sehr vermissen, wenn sie einmal, in einen Grossstaat auf-
gegangen, zwar alle Vortheile eines solchen gemessen könnten,
aber die schweizerische Eidgenossenschaft entbehren müssten.
So denken die Finnen und Boeren ebenfalls, und daher gehört
ihnen unsere Sympathie, und wir hoffen, die Macht, welche
noch über alle Grossm&chte geht und den gerechten Sachen
auf Erden beisteht, wenn sie sich selber nicht auf-
geben, werde beiden zum Siege helfen. Einstweilen aber ist
die Beseitigung der finnischen Autonomie, wie sie seit 1809
bestand, bereits eine Thatsache geworden und auch der
Krieg gegen die südafrikanische. Republik wird mutmasslich
geführt sein, bevor diese Zeilen ihre Leser erreichen.
Situation . 311
Wir sind in allen andern Fallen für England, wo immer
es sich um einen Streit zwischen Grossmächten handelt ; denn
England ist der Grossstaat, bei dem man am sichersten auf
eine freiheitliche und menschenwürdige Regierung, unter
welcher auch noch andere Leute leben können, in seinen Neu-
erwerbungen rechnen kann. Wir können auch eine gewisse
Sympathie mit dem russischen Reiche haben, wenn es sich da-
rum handelt, den gesammten asiatischen Norden einer grösse-
ren Kultur zu erschliessen, oder die armenische Christenheit aus
der Hand ihrer grausamen Henker zu befreien. Aber in
diesen beiden Sachen, Finnland und Transvaal, wünschen wir
diesen Grossstaaten eine Niederlage in ihrer dermaligen Politik,
welche alle Kleinstaaten der Welt beunruhigen kann, denen
nicht mit blossen «Friedenskonferenzen» gedient ist, sondern
nur mit einer aufrichtigen Respektirung des Rechts und
Besitzstandes zivilisirter Staaten, insofern dieselben diesen
Besitz menschenwürdig zu verwalten noch im Stande sind.
Dass die andern beseitigt, oder in moderner Weise mittelst
Einbeziehung in «Machtsphären», oder Unterordnung unter
«Protektorate» bevogtet werden, um sie zur gebührenden
Civilisation ihrer eigenen vernachlässigten Völker zu zwingen,
dagegen haben wir nichts einzuwenden, und wir müssten
dieses Schicksal für die Schweiz selbst aeeeptiren, wenn sie
einmal aufhören würde, ein für Europa nützliches und ehren-
haftes Dasein zu führen.
Der Besitz allein ist noch kein genügender Rechtstitel
für Staaten, das haben wir selbst vor hundert Jahren erfah-
ren, wie es jetzt Spanier, Chinesen, Perser und Türken
erfahren müssen, sondern man muss auch seinen ererbten,
oder erworbenen Besitz rechtmässig und menschenwürdig zu
verwalten und zu gebrauchen im Stande sein, sonst wird er
iranz mit Recht einer bessern Hand anvertraut. Darin
312 Jahresbericht 1899.
ist das heutige Völkerrecht schon sehr bedeutend «sozialisti-
scher» gestimmt, als dermalen noch das Privatrecht Wir
zweifeln aber unsererseits nicht, dass auch dieses letztere
sich im nächsten Jahrhundert stark nach dieser Richtung
entwickeln und keine gute Zeit für bloss inüssiggehende und
übermüthige Milliardäre werden wird. Nur glauben wir das
nicht, dass dies auf dem Wege des jetzigen Sozialismus
geschehen wird , dessen Regierungsfähigkeit wir vielmehr
gänzlich bezweifeln. Dazu gehört eine Umgestaltung der
Gedanken der Menschen nach der idealistischen, nicht bloss
nach der materialistischen und atheistischen Gedankenrichtung
hin, in der kein Segen und kein Gedeihen liegt
Ob die schweizerische Eidgenossenschaft als besonderes
Staatswesen in Europa ihr siebentes Jahrhundert ungehindert
durchleben werde, das wird der Gedanke sein, der uns am
meisten in der Mitternachtsstunde des 31. Dezember 1899 be-
wogen wird, denn dem setzen wir keinen andern Gedanken
voran; der blosse Internationalismus, oder Humanismus hat für
uns keinen rechten Sinn, und wir glauben auch unsererseits
nicht, dass er jemals Gottes Wille und Ordnung gewesen sei,
noch sein werde.
Das nächste Jahr bringt uns zuerst die Erinnerung
an den ersten helvetischen Staatsstreich vom 7. Januar
1800, mit welchem eine sehr wohlgemeinte, aber mit
falschen Beimischungen aller Art und fremder Intervention
von v ornherein verdorbene Revolution wieder ihrem Ende und
einer nothwendig gewordenen Restauration entgegen gieng.
Wir hoffen, dass das muthmassliche Schicksal der «Doppel-
initiative» uns einen zweiten Versuch dieser Art ersparen
werde. Später im April folgt der Gedenktag des «Verraths
von Novara», eines der unschönsten Bilder aus den Tagen
der grossartigen Schweizergeschichte, dann am 7. August 1800
der zweite helvetische Staatsstreich, und von dort ab beginnen,
Situation. 313
mit den Vorbereitungen zu den Verfassungsentwürfen von
Malmaison, diejenigen staatsrechtlichen Ideen über einen richtig
konstruirten, der Geschichte und der Natur des schweizerischen
Gesammtvolke8 entsprechenden «Bundesstaat», an denen das
ganze 19* Jahrhundert gearbeitet hat, und die hoffentlich
auch das 20te keinem andern Staatsideale opfern wird.
314 Jahresbericht 1899.
L Aeusseres.
Die Th ei hing von China nimmt ihren nicht mehr auf-
zuhaltenden Fortgang, welcher auch auf die übrigen Bezie-
hungen der nächstbetheiligten Machte von grossem Einflüsse ist.
Im April dieses Jahres erfolgte vorderhand ein Machtab-
grenzungsvertrag zwischen den beiden Hauptansprechern Russ-
land und England, wie es scheint hinter dem Rücken der
andern. Ein Hauptmittel zur Annexion von Ländern, das man
zur Zeit der drei successiven Theilungen von Polen 1772,
1793 und 1795 noch nicht kannte — welche Theilungen im
Uebrigen das genaue Vorbild dessen sind, was in China vor-
geht — ist jetzt der Bau von Eisenbahnen durch dritte
Staaten, und die damit verbundene militärische Besetzung:
derselben, die zu ihrem Schutze wirklich nöthig ist.
Wer die Eisenbahnen hat, hat das Land. Es bedurfte
nicht dieses grossen chinesischen Beispiels, um uns zu einem
Anhänger des Rückkaufes der schweizerischen Eisenbahnen
zu machen, die überhaupt nie anders als durch den Staat
hätten gebaut werden sollen ; aber dieses Beispiel wird wohl
noch die letzten Gegner von Staatsbahnen überzeugen, falls
sie überhaupt staatliche Interessen über private zu stellen
vermögen.
Nächst China kommt nun Persien an die Reihe dieser
Annexion mittelst Eisenbahnlinien. Russland verlangt die
Conzession einer Bahn von Tiflis und Kars längs der tür-
kischen Grenze nach dem persischen Meerbusen und die «Pacht >
eines dortigen Hafens, imit hm asslich Bender -Abbas. Hier
wird die schwer zu erhaltende Freundschaft mit England ihr
Ende erreichen, denn ein russischer Eriegshafen am persi-
schen Meerbusen ist nichts anderes als die Bedrohung Indiens
auf noch einer andern Front. Ueber dieser «persischen Frage>
Allgemeine äussere Verhältnisse. Orient. 315
kann der Weltfriede noch wirksamer ins Schwanken gera-
then, als an der chinesischen und türkischen, die stets daneben
fortbestehen. Ueberhaupt wird ja dieser Gegensatz zwischen
diesen beiden erobernden Mächten und ihren Alliirten, die sie sich
verschaffen werden, einmal sicher zum Austrag kommen müssen.
Wir stehen dabei, wie schon gesagt, naturgemäss auf der
Seite von England, das — man möge im Uebrigen über seine
Ländergier und Rücksichtslosigkeit urtheilen wie man wolle —
sie ist in Wirklichkeit nicht grösser und nicht kleiner, als die
der andern Machte — ein Staat ist, der das Kolonisiren ver-
steht, und in dessen Kolonien noch andere Leute leben können,
was bei allen andern Staaten sehr viel zweifelhafter ist.
Dass die wahrscheinlichen Allianzen der Zukunft. England,
Amerika und Japan, gegen Russland, Frankreich und Deutsch-
land sind, ist schon im letzten Jahrbuche gesagt.
Die Nachspiele des spanisch-amerikanischen Kriegs
sind bisher weit besser vorübergegangen, als es von vielen ver-
kappten Anhängern Spaniens, oder stillen Gegnern Amerikas
geweissagt wurde. Die amerikanische Republik hat sich als
ein grosses, lebensvolles und thatkräftiges Gemeinwesen er-
wiesen, in dem ein ganz anderes Blut pulsirt, als in der spani-
schen unheilbaren Misswirthschaft. Von Caba und Portorico
hört man bereits sehr wenig mehr, und auch in den Philippinen
wird die amerikanische Thatkraft mit den Tagalen fertig
werden. Was aber bei Weitein die Hauptsache ist, Amerika
selbst wird durch beständige grosse Aufgaben der Welt-
politik ein ganz anderes und besseres Land werden , als
es seit seiner letzten Kraftprobe, dem grossen Sezessions-
kriege war. Dagegen kommen alle anderen Gedanken ebenso
wenig in Betrachtung, als die Klagen und bösen Prophe-
zeiungen der ehemaligen Sklavenhalter des Südens, welche
s. Z. auch glaubten, an der Aufhebung der Sklaverei, die als
316 Jahresbericht 1899.
ein Rechtsbruch zu betrachten Bei, gehe Amerika unter. Die
Geschichte seit 1865 hat ganz anders geurtheilt. Es giebt
Zustände, welche durch vielhundertjährigen Besitz niemals
legitim werden. Dazu gehört die Herrschaft im Sinne der
Sklaverei und in der Art der spanischen Kolonialregierung.
Dergleichen muss fort aus der civilisirten Welt, wo immer
es noch besteht, und dazu ist der K r i e g ein sehr notwen-
diges Mittel und einstweilen noch ganz unentbehrlich in der
Weltgeschichte. f
Es mag dahin gestellt bleiben, ob die Vereinigten Staaten
die Philippinen dauernd zu behalten beabsichtigen, oder sie
seiner Zeit gegen die englischen Antillen austauschen werden.
Dieselben würden nicht bloss näher liegen, sondern auch,
nach Ausführung des Nicaragua-Kanals,1) viel noth wendiger
l) Der Nicaragua-Kanal, der neu gebaut werden soll,
ist länger, als der früher geplante Panama-Kanal, nämlich 274 statt
blos 74 Kilometer, von denen jedoch 91 auf den Nicaraguasee, der
sich auf der Landenge befindet, und 106 auf dessen Abflugs in den
atlantischen Ocean, den Rio San Juan, entfallen, der auch noch
schiffbar gemacht werden muss.
Er wird ein Schleusen-Kanal, nicht ein Niveau-Kanal, wie der
Suez-Kanal und der unausführbare Plan des Panama-Kanals, werden.
Der erste Plan dazu datirt schon in die Zeit Carls V. und
der spanischen Weltherrschaft zurück. 1848 nach Entdeckung des
Goldes in Californien trat er wieder auf und die Vereinigten Staaten
schlössen schon damals einen darauf bezüglichen Staatsvertrag mit dem
Staate Nicaragua ab; England erhob aber dagegen Einspruch, indem
es behauptete, die Moskito-Indianer am Westufer Nicaragua'* befinden
sich unter seinem Protektorat.
Die Streitsache wurde dann 1850 durch den nach den beid-
seitigen Bevollmächtigten genannten Clayton-Bulwer-Vertrag
erledigt, durch den sich beide Staaten verpflichteten, keine ausschliess-
liche Herrschaft Aber den Kanal weder auszuüben, noch anzustreben
und denselben und seine Umgebungen nicht zu befestigen.
Inzwischen wurde dann das Projekt zeitweise zu Gunsten
des Panama-Kanals wieder aufgegeben und ob nun — nachdem es
Auswärtiges. Amerika. 31?
sein, denselben eigentlich erst völlig für Amerika sicherstellen.
Das Interesse bei diesen amerikanischen Dingen ist für die
andern freiheitlich organisirten Staaten das, dass Amerika
nun ein wirklich grossartiges, auch militärisch sehr be-
deutendes Gemeinwesen werden muss, ob es wolle oder nicht,
und damit ein Hort und Anhaltspunkt für alle freien Staaten
der Welt. Diese Bolle hätte es unseres Erachtens schon der-
malen auf der Haager Konferenz noch etwas bewusster und be-
stimmter sich aneignen dürfen.
Die Kraftprobe für den amerikanischen Staat als Welt-
macht, wozu er sich jetzt unaufhaltbar entwickelt, kommt,
übrigens erst noch; dazu war das veraltete Spanien mit
seinen völlig unfähigen Generalen ein viel zu geringer Geg-
ner. Der künftige Kampf, welcher durch die deutsche Er-
Amerika wieder aufnimmt — dieser obige Vertrag noch gelten kann,,
wird die Zukunft erweisen. Einstweilen hat England noch ein sehr
grosses Interesse an dieser interozeanischen Verbindung, dasselbe
könnte sich aber durch eine Abtretung seiner ohnehin gefährdeten
westindischen Inseln gegen die Philippinen erledigen und es ist ein
solcher Austausch nach unserer Ansiebt das Hauptmotiv der ameri-
kanischen Annexion der Philippinen gewesen.
Die Kosten des Kanals werden auf höchstens 115 Millionen
Dollars berechnet und die Gesellschaft, die ihn bauen wird, steht gänz-
lich unter der Aufsicht des amerikanischen Staats, der der weitaus,
grösste Aktionär ist und 9 von den 11 Mitgliedern der Direktion er-
nennt. Auch wird der Bau stets von dem Ingenieur-Departement der
Vereinigten Staaten überwacht werden und alles Eigenthum der
Gesellschaft wird denselben für ihre Betheiligung verpfändet
In Bezug auf die Rechtsverhältnisse ist einstweilen blos gesagt,,
dass die Vereinigten Staaten die Neutralität des Kanals garantiren und
Schüfe aller Nationen in Bezug auf Zölle gleichhalten werden. In
Wirklichkeit wird er eine amerikanische Wasserstrasse werden, so gnt
wie der Nordostsee-Kanal eine deutsche ist ; aber die andern grossen
Seestaaten hätten in der That ein Interesse hier, wie am Suez-Kanal.
such einen internationalen Vertrag zu proponiren.
318 Jahresbericht 1899.
Werbung der Karolinen-Inseln und die Protektoratsideen der
Vereinigten Staaten über Südamerika, vorab Brasilien, jetzt
noch erheblich näher gerückt ist, ist mutmasslich, leider, am
ehesten gegen Deutschland gerichtet.
Für die nordamerikanische Politik ist noch be-
merkenswerth ein Schutz- und Trutzbündniss, welches mit
dem Staate Bolivia gegen Brasilien abgeschlossen sein soll
mit folgendem Inhalt:
1. Die Vereinigten Staaten werden Brasilien auf diplo-
matischem Wege bewegen, die laut Vertrag vom Jahre 1867
Bolivien zuerkannten Rechte auf das zwischen dem Acre-,
Purüs- und Jacü-Flusse liegende Gebiet unangefochten zu
lassen.
2. Im Kriegsfall werden die Vereinigten Staaten Bolivien
die Beschaffung von Geldmitteln und Rüstzeug erleichtern.
3. Die Vereinigten Staaten werden sich im Laufe dieses
Jahres von der brasilianischen Regierung die Vollmacht er-
zwingen, die Bestimmung des bolivianisch-brasilianischen Ver-
trages auszuführen, betreffend die definitive Grenzlegung
zwischen dem Jurtie- und dem Jacary-Flnsse.
4. Brasilien wird auf Veranlassung der Vereinigten
Staaten den bolivianischen Fahrzeugen freie Schiffahrt auf
den Nebenflüssen des Amazonenstroms gewähren und boli-
vianische Waaren in Belem und Manäos zollfrei passiren
lassen.
5. Als Gegenleistung für die von den Vereinigten Staaten
erwiesenen Dienste wird Bolivien die Einfuhrzölle auf ameri-
kanische Produkte um 50 Prozent herabsetzen und die Aus-
fuhrzölle auf Kautschuk während einer zehnjährigen Frist
um 15 Prozent reduziren.
6. Im Falle eines Krieges zwischen Bolivien und Bra-
silien wird Bolivien den Vertrag von 1867 kündigen, die
Mündung des Purüs und den Acre-Strom als Grenzlinie be-
trachten und das zwischen dem Purüs-, Acre- und Crato-
strom liegende Gebiet den Nordamerikanern einräumen.
Auswärtiges. Amerika, 319
7. Im Kriegsfall würden die Vereinigten Staaten die
Kosten bestreiten unter Verpfändung der bolivianischen Zoli-
eionahmen.
Damit in Zusammenhang steht eine etwas auffallende
Forschungsreise eines amerikanischen Kriegsschiffes in den
oberen Amazonenstrom hinein, gegen welche die brasilianische
Regierung Einsprache zu erheben fdr gut fand. Der Bericht
des Xew-York-Herald darüber ist folgender:
«Das Kanonenboot tWilmington» der amerikanischen
Marine ist in Manaos angekommen, welche Stadt ungefähr
1000 Meilen von der Mündung des Amazonenstroms entfernt
liegt. An diesem Punkt vereinigt der wasserreiche Rio Negro
sich mit den gelblichen Wassern des einem Meere gleichenden
Amazonenstroms und verbindet diesen mit dem Orinoco. Bis
zu diesem Punkte lief der «Wilmington» mehr als 20 Häfen
an. Ueberall erwarben unsre Offiziere sich die wärmsten
Sympathien und wurden herzlich bewirthet; soweit ihre ma-
gere Löhnung es ihnen gestattete, haben sie die ihnen er-
wiesene Gastfreundschaft vergolten. Manaos ist der entfern-
teste Punkt, welchen jemals ein amerikanisches Kriegsschiff
oder vielleicht das irgend einer anderen Nation erreicht hat.
Der «Wilmington» wird den Solimoes, den Oberlauf des Ama-
zonas, bis hinauf nach Iquitos (Peru) in einer Ausdehnung
Ton 1500 Meilen befahren; diese Stadt liegt 2500 Meilen im
Innern von Südamerika, dicht am Fasse der Anden, wenige
hundert Meilen vom Stillen Ozean entfernt. Das Hochplateau
von Amazonas hat bis jetzt zu der Zahl der unbekannten
Regionen gehört, und es wird jetzt Aufgabe des «Wilming-
ton> sein, genaue Nachrichten einzuziehen über das dortige
Volk, den Reichthum des Landes und die Vortheile, welche
unserm Handel durch eine grössere Ausdehnung daselbst er-
wachsen können. Der «Wilmington» wird auch den Rio Ma-
deira bis zu seinem ersten Wasserfall in einer Entfernung
Ton 600 Meilen befahren, d. h. bis dicht an die Grenze von
Bolivien Derart wird das grosse Becken des Amazonenstromes,
dessen Aasdehnung enorm und dessen Reichthümer unbere-
chenbar sind, endlich der Welt bekannt werden. Der hohe
Preis des Kautschuk hat bisher einen Stillstand bei allen
320 Jahresbericht 1899.
Industrien eintreten lassen, welche nicht auch direkt bei dem
Sammeln des wertbvollen Naturproduktes betheiligt waren.
Die Indier und dort naturalisirten Portugiesen, welche in den
dortigen Gummiwäldern arbeiten, beziehen Lohn und ertragen
nur schwer die tödtlichen Fieber und Ausdünstungen jener
Gegenden. Das Becken des Amazonenstromes exportirt trotz
seiner schwachen Bevölkerung alljährlich Kautschuk im an-
nähernden Werthe von 50 Millionen Dollars. Bis 300 Meilen
vom Delta entfernt sind die Gummiwälder reichlich vorhan-
den. Von dort an, viele hundert Meilen weit, ist der Wald
trotz seines tropischen Charakters arm an Gummibäumen;
erst weitere 300 Meilen stromaufwärts, am neuen Hafen
— Obitas — sind dieselben wieder reich vorhanden. Ober-
halb von Manäos und in seiner Umgegend findet man den
besten Kautschuck; derselbe kommt von Juraä, Javary, Rio
Negro, Bio Branco, Solimoes, Purüs, Madeira und Hunderten
von anderen Zuflüssen des Amazonenstromes. Parä ist durch
seine geographische Lage der Schlüssel zum Amazonengebiete ;
als Rival steht ihm Manäos, ein jugendlicher Riese, entgegen,
welches nur 30,000 Einwohner hat, dabei aber ein schönes
Opernhaus, elektrische Bahnen, moderne Wasserleitung, Ab-
zugskanäle und asphaltirte Strassen besitzt.»
In Bezug auf die neu erworbenen Gebiete von Hawai,
Cuba, Portorico, Philippinen ist es bisher noch zweifelhaft
geblieben, ob dieselben nach Vorübergang der nothwendigen
militärischen Occupationsperiode «Territorien» der Vereinig-
ten Staaten werden sollen und können, mit den Rechten, die
denselben nach der bestehenden amerikanischen Bundesver-
fassung zustehen, oder ob ein neues Colonialsystem entstehen
soll, das in der Verfassung keinen Anhaltspunkt hätte und
eigentlich eine Revision derselben bedeutete, womit jedoch
die Amerikaner sparsamer umgehen als wir.
Spanien ist mit dem Verkauf seiner letzten weitab-
liegenden Kolonien aus der Reihe der «Grossmächte» definitiv
ausgeschieden, unter welchen es einst einen grossen Raum, aber
niemals zum Vortheile seiner jeweiligen Untergebenen ein-
Auswärtiges. Afrika. 321
nahm. Es {riebt keinen europäischen Staat, welcher, trotz
mancher tüchtiger Eigenschaften seiner Bevölkerung so viel
Böses und so sehr wenig Gutes in seinem ganzen grossen
Machtbereich gethan hat. Für solche Staaten kommt —
nur manchmal langsamer und später, als man es wünschen
möchte — mit Sicherheit eine Stunde der Abrechnung. Möge
ein Theil der heutigen Philosophie, wie sie s. Z. von dem geistig
beschränkten Caspar Schmidt (Max Stirner mit seinem Schrift-
stellernamen) in Deutschland inaugurirt und seither von dem
ganz verrückten Friedrich Nietzsche bis zum Gipfel aller Un-
moral und Verkehrtheit fortgesetzt wurde, noch so laut die
alleinige Berechtigung des rücksichtslosen Egoismus und der
blossen Macht proklamiren; es kommt der Tag, an welchem
auch der Mächtigste es fühlen muss, dass er noch immer nicht
der Höchstgebietende auf Erden ist, und dass es für Staaten und
Fürsten genau so, wie für einzelne Menschen, eine ganz sichere
nnd unfehlbare Vergeltung alles Guten und Bösen giebt.
Das ist die Allianz, welche noch immer die zuverlässigste
ist, und in der sich auch, selbst in der jetzigen für sie gefähr-
lichen Zeit, die kleinen Staaten sicher und getrost fühlen
dürfen, wenn sie sich nur immerfort in ihr zu erhalten bestrebt
sind.
Die Theilung der Welt in Afrika macht ebenfalls rasche
Fortschritte. Als ungetheilte Gebiete bezeichnet ein englisches
Blatt dermalen nur noch folgende:
cAbgesehen von der lybischen Wüste, die infolge ihrer
gänzlichen Unbewohnbarkeit wohl kaum von einer europäischen
Macht in Besitz genommen wird, stehen in Afrika nur Abessy-
aien und Marokko allein noch nicht unter dem Einfluss einer
europäischen Macht. Sollten diese Staaten ihre Unabhängig-
keit behalten, so müssten Grenzfragen zwischen ihnen und
den benachbarten Mächten verhandelt werden. Auch die
inneren Grenzen vom französischen Somali-Land sind noch
21
322 Jahresbericht 1899.
nicht bestimmt, die genaue Grenze zwischen Erytbräa und
Abessynien ist noch nicht gezogen, ebensowenig wie die
zwischen Abessynien und dem englisch-ägyptischen Territorium.
Von anderen noch nicht geordneten Grenzen sind die haupt-
sächlichsten: die englisch-portugiesische Grenze am oberen
Sambesi; die englisch-deutsche Grenze hinter der Goldkaste
(Salaga); die Grenze zwischen kongostaatlichem und deut-
schem Gebiet nördlich vom Tanganyika; die genauen Grenzen
zwischen französischem und italienischem Gebiet am Rolhen
Meer und endlich die inneren Grenzgebiete der spanischen
Sahara.»
Ueber die zwischen Frankreich und England schwe-
benden Streitfragen enthielt die «Revue de Paris» einen in-
teressanten Artikel von Professor Lavisse, der zugibt, dass
von beiden Seiten, namentlich von Frankreich bezüglich
Tunis und des Hafens von Biserta, von England bezüglich
der Occupation Aegyptcns, Zusicherungen ertheilt worden
seien, die nicht gehalten wurden. Er unterscheidet daher
geradezu zwischen «Versprechungen von auf immer binden-
dem Charakter» und anderen. Eigentlich wussten wir das
schon langst, dass die von der Diplomatie ausgehenden Er-
klärungen selten bindend sind, sondern nur unter der «clau-
sula rebus sie stantibus» abgegeben werden, aber so ungo-
scheut wie heute, unter dem Einfluss einer «Umwerthung
aller Werthe» in der Philosophie und Moral, ist es früher
doch nicht gesagt worden. Im nächsten Jahrhundert werden
sich daher in der Politik der Staaten die beiden Sätze:
«Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt» (Nietzsche) nnd «Die
Politik ist die königliche Kunst, den Willen Gottes zu er-
kennen und zu verwirklichen» (Rodbertus), offener als je
gegenübertreten, und es wird sich wieder einmal zeigen
müssen, welcher die Wahrheit enthält. Denn anders als
durch schwere Erfahrungen lernen nun einmal die Völker
nichts, und selbst bei den Einzelnen ist dies so die Regel.
Auswärtiges. Nachbarstaaten. Frankreich. 323
Wir wagen es für unseren Staat nicht zu hoffen, dass
er eine grosse Ausnahme hievon bilden werde ; die materi-
alistische Lebensanschauung und Geschichtsauffassung hat
sich auch bei uns in den letzten Jahrzehnten zu sehr ein*
gebürgert, und es giebt auch bei uns Leute recht genug,
welche, wenn sie selbst zu jeder ordentlichen Arbeit und
Lebensführung durch Charakterschwäche untauglich geworden
sind, mit Jubel eine sogenannte «Philosophie» begrüssen, die
aus dieser Schwäche einen Fortschritt macht, wodurch sie
dem ersten besten etwas energischen Gewaltmenschen willen-
los zum Opfer fallen. Doch ist bei uns noch eine gute Dosis
Ton gesundein Menschenverstand und natürlicher Volkskrait
vorhanden, und es liegt nur an den oberen Klassen, wenn
dieselbe nicht richtig geleitet wird.
In unsern Nachbarstaaten war Frankreich das
ganze Jahr hindurch, und vielleicht noch auf eine unbe-
stimmte Zeit hinaus, stets mit der Dreyfus-Sache beschäftigt.
Wir sind noch immer, wie von Anfang an, überzeugt, dass
die ganze Wahrheit in dieser Sache niemals an das
Licht kommen wird. Kläglich an den Tag gekommen ist
blos die beständige Kriegsfurcht und Kriegsvorbereitung, und
die Falschheit und Oberflächlichkeit der ganzen zeitgenös-
sischen Diplomatie, besonders in ihren untergeordneten Or-
ganen. Niemals aber ist auch die Grausamkeit und Eitelkeit,
welche in dem französischen Charakter liegt und oft ganz ai
die «bandar-log» in Kiplings wundervollen Jungle-Geschichte*
erinnert, neben dem Edelmuth und der Grossherzigkeit,
welcher die gleiche Nation dennoch vollkommen fähig ist, so
deutlich hervorgetreten als in diesem Prozesse, in welchem
schon seit langer Zeit nicht mehr der Hauptmann Dreyfus,
sondern die französische Bepublik der Angeklagte ist. Was
dieselbe jetzt dringend bedürfte, wäre eine Anzahl von füh-
324 Jahresbericht 1899.
renden Menschen des besten französischen Typus, die wir
bisher weder bei der einen, noch bei der andern der streitenden
Parteien angetroffen haben. Der Prozess einiger Falscher
und Intriguanten des Generalstabs mit dem unsaubersten
Schriftsteller des Jahrhunderts und etlichen ehrgeizigen Poli-
tikern und Journalisten, welche die Vertretung der formellen
Gerechtigkeit an sich rissen, hatte von Anfang an etwas an
sich, das ein rechtes Interesse, ausser an der Beendigung dieser
Sache auf einer richtigen juristischen Basis, nicht aufkommen
Hess. Das war auch offenbar das Gefühl des grössten Theils der
besten französischen Bevölkerung selbst. Seitdem das regel-
rechte Verfahren festgestellt und durch eine hinreichende
Machtentfaltung der Regierung gegen Willkür von jeder
Seite her gesichert war, verlor die Sache den grösseren Theil
ihres Interesses, und .jedermann wird sich dem (zur Zeit noch
ausstehenden) Spruche des zweiten Kriegsgerichtes fugen,
durch den der (wie wir nicht zweifeln) Freigesprochene zwar
nicht allen Verdachtes enthoben wird, immerhin aber die nicht
vor Gericht gestellten grausamen Peiniger desselben die wirk-
lichen Verurtheilten sind. Das Schöne und Gute, was daraus
übrig bleibt, ist die Demonstration, dass die öffentliche Meinung
heute eine nicht mehr zu verachtende Macht ist und dass eine
regelrechte Gerechtigkeitspflege unter keinen Umständen, oder
politischen Vorwänden beseitigt werden darf; im Uebrigen
tritt der ironische Zug in der Weltgeschichte hier ungemein
stark zu Tage, welche sehr oft den Sieg des Guten nicht durch
die Guten, sondern durch die «Mindern» herbeifuhrt.
Wir hoffen, die Republik, die uns die liebste französische
Staatsform ist, werde diese schwere Prüfung ihres Gehaltes
überstehen, sind aber dieses Ausgangs der gegenwärtigen Krise
nicht sicher. Unserer eigenen Presse hätten wir etwas
mehr Zurückhaltung in ihrer Beurtheilnng der
Dreyfus-Sache gewünscht.
Ausw. Verhältnisse. Nachbarstaaten. Frankreich. Oesterreich. 325
Die Hauptfrage für die französische Politik und die
ganze Zukunft dieses Staatswesens ist stets: Krieg oder
Friede mit Deutschland, mit andern Worten: Anerkennung
des Frankfurter-Friedens im letztern Falle, nicht beständige
Kriegsvorbereitung und gespanntes Erwarten des günstigen
Moments zu einer Wiedereroberung, der jetzt zwar wahr-
scheinlich weiter entfernt ist, als vor zwanzig Jahren.
Ob eine wirkliche, dauernde Verständigung beider Nationen
überhaupt möglich sein würde, darüber können die Ansichten
verschieden sein. Wir halten sie nicht für möglich, selbst
nicht, wenn Deutschland seine Eroberungen ohne Krieg zu-
rückstellen würde, was ebenfalls nicht möglich ist. Denn es
handelt sich, weit mehr noch als um Land und Leute, um
die erste Violine in dem (oft sehr misstönenden) europäischen
«Konzert», die Frankreich stets ansprechen wird, so lange es
besteht, und die es, nach menschlicher Voraussicht, durch
den Krieg von 1870 verloren hat. Die besten Eigen-
schaften des französischen Charakters hängen aber so sehr
mit dieser Prätension zusammen, dass sie eben so wenig
aufgegeben, als behauptet werden kann. Es gibt auch in der
Politik, wie in der Medizin, verzweifelte Fälle, in denen das
Heilmittel ebenso schlimm ist wie das Uebel; ein solcher
Fall ist der des heutigen republikanischen Frankreich, daher
stammt gross erntheils das permanente Unbehagen, welches das
französische Staatswesen empfindet. Ein anderer Theil ist
der mangelhaften Befähigung der oft wechselnden Regier-
ungen, der übermässig entwickelten Bureaukratie und der
zügellosen Presse zuzuschreiben.
Viel schlimmer ist die politische Lage von zwei andern
Nachbarstaaten. Oestreich geht mit dem 20ten Jahrhundert
dem Zerfall in eine Art von lockergefugtem Bundesstaat
mit Sicherheit und mit raschen Schritten entgegen, in welchem
326 Jahresbericht 1899.
das ursprünglich herrschende deutsche Element die unterge-
ordnete Rolle spielen wird. In den Jahren 1908—1907 wird
sich diess muthmasslich vollziehen. Auch hier sind es, wie
in Frankreich, weit mehr moralische, als rein politische Grande»
die diesen Verfall herbeifuhren. Der bekannte Roman «Unsühn-
bar» der Frau von Ebner-Eschenbach giebt einen deutlichen
Begriff von der trostlosen Beschränktheit und Genusssucht
der obersten Gesellschaftsschichten von Deutsch - Oestreich,
aus denen die leitenden Staatsmänner genommen werden
müssen, die in Folge dessen den noch kräftigeren, obwohl
im Grunde weit weniger zur Herrschaft im Gesammt-
staate berufenen Slaven und Magyaren stets rettungslos
unterliegen. Der Verfassungskampf wegen Suspension der
parlamentarischen Rechte, der neuestens wieder — zum wie-
vielten Male seit in Oestreich im engern Sinne eine Verfas-
sung besteht? — eingetreten ist, will nichts bedeuten; eine
sehr gute und kräftige deutsche Regierung wäre sogar ohne
jede Verfassung weit besser, als der jetzige Zustand. Man
kann auch mit Verfassungen allein aus sinkenden Völkern
keine aufsteigenden machen. Oestreich theilt das Schicksal
der ganzen ehemaligen Ostreich -spanischen Weltmonarchie»
und aus den gleichen Ursachen.
«Trauernd senk ich das Haupt, o Du mein Oesterreich,
Seh' ich, wie Du gemach jetzt- zu verfallen drohst,
Vom unendlichen Reiche
Karls des Fünften der letzte Rest.»
Das bezüglich der Verfassung Gesagte zeigt sich eben-
falls deutlich in Italien, in welchem der äussere Vortheü
einer lange ersehnten nationalen Einigung und einer wenigstens
relativen Grossmachtstellung daneben ein bisher stets wach-
sendes materielles Elend, ungeheure Staatsschulden and eine
allgemeine Unzufriedenheit aller Schichten der Bevölkerung
Auswärtiges. Nachbarstaaten. Oesterreich. Italien. Deutschland. 327
mit sich geführt hat. Der Staat Italien begann im Jahre 1862
schon mit einer Staatsschuld von 3084,5 Millionen, welche
bis 1897 anf nahezu 15 Milliarden anwuchs, worunter Mos
1200 Millionen für Eisenbahnbauten, dagegen 2 Milliarden
-Emissions Verluste» figuriren. Der weitaus grösste Theil dieser
ungeheuren Staatsschuld ist unproduktiv ausgegeben worden.
Auch hier würde vorläufig eine sehr kräftige Regierung,
welche Willens und im Stande wäre, die innern Zustände
wirksam zu heben, viel wohlthätiger sein, als alle liberalen
Terfassungsmässigen Garantien, ohne die dazu gehörigen Or-
gane, um sie auszuführen, und mit einem zurückgebliebenen
Volk, dem zuerst die allerersten Bedingungen für ein men-
schenwürdiges Dasein gewährt werden müssten, die es in
einigen Theilen des schönen Landes noch gar nicht besitzt.
Und vollends von einer Grossmachtstellung Italiens und dem
dazu gehörigen, der Finanzlage des Landes nicht entspre-
chenden Aufwand sollte nicht mehr die Rede sein, so lange
das Innere nicht bei weitem besser bestellt ist.
Am gesundesten von uusern Nachbarstaaten ist offenbar
das deutsche Reich, und daran liegt uns auch am meisten,
denn alles Ungesunde dort würde uns bei weitem am meisten
beeinflussen. Hier allein besteht auch noch eine Regierung, die
eine ist und regieren will, statt, wie es jetzt in Europa
die Regel geworden ist, eine blosse Dekoration, oder ein oft
wechselnder parlamentarischer Ausschuss zu sein. Da fehlt
auch nicht der Fond in einem Volke von durchschnittlich
nicht bloss gutem Charakter, sondern auch erheblicher sitt-
licher und intellektueller Bildung, ohne den heutzutage kein
Staat einen kräftigen Bestand hat. Der Hauptfeind des deut-
schen Reiches ist eine gewisse Genusssucht, die alle Stände
ziemlich stark durchdringt, und eine in den letzten Jahr-
zehnten beständig zunehmende materialistische Denkungsart,
328 Jahresbericht 1899.
die vielfach dort (wie anderwärts) «mit moderner Bildung*
verwechselt worden ist. Die Deutschen müssen zuerst durch
Sinnlichkeit entnervt werden, bevor sie besiegbar sind; das
wussten schon ihre alten Feinde, die Römer, und ebenso ihre
neueren, die Franzosen des 17ten und 18ten Jahrhunderts. Das
wird auch in künftigen Zeiten so bleiben, und darauf beständig
und vor allen Dingen zu achten, wäre die Aufgabe ihrer Staats-
männer und Lehrer, und auch die ihrer Nachbarn und Stamm-
verwandten, die es gut mit Deutschland meinen. In diesem
Sinne amcndirt ist das Bismarck'sche Wort richtig, dass die
Deutschen nur noch Gott zu fürchten brauchen. Ob dies
aber auch thatsächlich der Fall ist, dass sie ihn in allen
leitenden Gesellschaftskreisen fürchten, und ob namentlich
alle, die dieses Wort gerne zu zitiren pflegen, dies mit Recht
thun können, das wollen wir hier nicht beurtheilen.
Die übrigen Staaten kommen für unsere Politik weniger
in Betracht. Unser Interesse ist es, dass in den genannten
vier Ländern geordnete und friedliche, soweit möglich auch
freiheitliche, den unsrigen homogene Zustände herrschen. Doch,
sagen wir offen, es kommt uns mehr auf die Ordnung, als
auf die politische Freiheit daselbst an ; Sympathien und Politik
können sich nicht unter allen Umständen decken.
Mit Sympathie betrachten wir die Bestrebungen der süd-
afrikanischen Republik, sich frei zu erhalten und die
von England geforderte massenhafte Einbürgerung der fremden
Spekulanten, die die «auri sacra fames> dahin gezogen hat,
und welche gar kein anderes Interesse als ihren Erwerbstrieb
kennen, abzulehnen; denn sie würden sofort ihre Stimmen-
mehrheit im Interesse des Anschlusses an England gebrau-
chen. Es ist auffallend, dass selbst schweizerische Zeitungen mit-
unter noch über das vollständige Recht der Republik gegenüber
der hinterlistigen Politik Chamberlains sich nicht ganz klar
Auswärtiges. Beßren. Finnland. 829
sind. Es wäre ungefähr so, nur noch viel gefährlicher, wie wenn
Frankreich die Einbürgerung aller in Genf lebenden Fran-
zosen, oder Deutschland die aller in Zürich lebenden Deutschen
von uns kategorisch verlangen wollte. Die moderne Gleich-
berechtigung aller Staatseinwohner, welche schon jetzt
ziemlich weit geht und nicht immer nur gute Früchte trägt,
darf wenigstens nicht so weit gehen, dass das Wesen des
Staates dadurch verändert werden, oder seine Existenz ge-
fährdet werden kann. Wahrscheinlich ist die Sache durch
das Schwert entschieden, bevor dieser Bericht erscheint, und
wir wünschen von Herzen, dass die Beeren noch einmal ihre
Freiheit, wie schon mehrmals, zu erhalten im Stande seien.
Wir wünschen England überall Sieg, wo seine Fahnen wehen,
nur hier ganz entschiedene Niederlage. Ebenso steht unsere
Sympathie auf Seiten der Finn lande r, welche sich mit ebenso
grosser Klugheit als Zähigkeit für die ihnen von Alexander I.
formlich zugesagte und seither noch oft bestätigte Verfassung
wehren. Dass die russische Regierung auf die Vorstellungen
einer internationalen Adresse von Staatsleuten, Künstlern und
Gelehrten nicht achten und nicht, was sie ihrem eigenen Volke
versagte, fremden, formell weit weniger berechtigten Petitio-
nären gewähren werde, war zu erwarten ; der Werth dieser
Kundgebung bestand auch bloss in der öffentlichen Meinungs-
äusserung, und für dieselbe ist es gleichgültig, ob die Adresse
angenommen wurde, oder nicht. Diese Erklärung lautete in
der deutschen, am besten gefassten Form, wie folgt:
«Die Unterzeichneten fühlen sich gedrungen, ihren
warmen Sympathien für die finnländische Nation Ausdruck
zn geben. Ein nicht grosses, aber tüchtiges und charakter-
volles Volk, ein Volk, das sich im harten Kampfe mit einer
rauhen Natur gerade in unserin Jahrhundert zu wachsendem
Wohlstande, zu bedeutenden wissenschaftlichen und künst-
lerischen Leistungen, zu einem vortrefflichen Erziehungswesen,
330 Jahresbericht 1899.
zu einer reichen und eigenartigen Kultur emporgehoben hat
— ein solches Volk ist jetzt in hoher Gefahr, seiner Indivi-
dualität und damit der stärksten Antriebe zu wirtschaftlichem
und geistigem Schaffen beraubt zu werden.
Es scheint uns eine unabweisiiche Pflicht, unabhängig
von aller Verschiedenheit der Nationalität und der politischen
Stellung, hiergegen laut unsere Stimme zu erheben und dem
Wunsche Ausdruck zu geben, es möge einer derartigen Ver-
nichtung eines werthvollen Gliedes der europäischen Völker-
familie Einhalt geboten werden. Wir können nicht glauben,
dass ein Herrscher, der die internationale Friedenskonferenz
zusammenruft, ein blühendes, tüchtiges, loyales Volk dem
Untergang anheimgeben werde.»
Der im Ausland bekannteste Russe der Gegenwart,
Graf Tolstoi, fand über diese Sache folgendes in seiner Kürze
völlig erschöpfendes Urtheil:
«Alle gebildeten Russen sympathisiren mit Finnland
ganz wie ich. Meiner Meinung nach sollte man die russischen
Verhältnisse mit den finnlandischen in Einklang bringen, an-
statt zu versuchen, Finnland zu russifiziren.»
Ebenso schloss eine Russland befreundete französische
Zeitung einen Leitartikel mit folgendem richtigen Satze:
«Entweder ist der Zar wirklich von den edlen Ge-
fühlen beseelt, die er in seinem Friedensmanifeste ausgedrückt
hat. Dann muss man bei dem Schauspiel, das sich in Finn-
land abspielt, fragen, ob der russische Herrscher wirklich der
Autokrat ist, als den wir ihn uns vorstellen, ob er nicht in
seiner Umgebung Fraktionen hat, die mächtiger sind, als er
selbst, und weniger gute Absichten hegen. Oder der Zar hat
vollbewusst den Staatsstreich durchgeführt, welcher Finnland
der Verfassung beraubt, die er und seine Vorgänger beschwo-
ren haben, und er hat es gethan, um sein gewaltiges Heer
um etliche tausend Mann zu verstärken. Dann verliert sein
Vorschlag der Abrüstung oder Verminderung der Heeresrus-
tungen jenen Schein der Aufrichtigkeit, der so viele Hoff-
nungen geweckt hat.»
Auswärtiges. Schweizerische Beziehungen zu Italien. 331
Was zuletzt in beiden Fällen entscheiden muss, ist die
ewige Gerechtigkeit, die immer denjenigen, aber anch nur
denjenigen hilft, die fest an sie glauben und selbst sieh rieh*
tig dabei verhalten. Beides gehört dazu, dann aber findet
sie die Mittel, am auch die Machtigsten zu demüthigen und
den Kleinsten zu helfen. Der tapfere alte Präsident Krüger hat
ganz das richtige Wort dafür gebraucht, wenn er am Schlüsse
einer Bede im Volksrath das Bibelwort anführte: «Verflucht
ist, wer seines Nächsten Grenze engert». Dieses Vertrauen
auf die heilige Schrift hindert ihn aber nicht, auch Pulver
und Blei bereit zu halten, und die Zeiten sind noch immer
darnach angethan, trotz aller «Friedenskonferenzen* und
der schönen Worte, die dabei, zum Theil von den nämlichen
rücksichtslosen Politikern gebraucht werden. Klar muss jetzt
Jedermann werden, dass die Republiken in der Welt nur durch
die Sittlichkeit and Tüchtigkeit ihrer Bürger and durch ihre
sorgfältig erhaltene und gepflegte Wehrhaftigkeit bestehen
können. Es ist sogar sehr fraglich, ob nicht eine gewisse
beständige Gefahr , welche sie zur Wachsamkeit und zur Sitt-
lichheit nöthigt und ihnen die richtigen Führer zeigt, zu den
Grundbedingungen ihrer Existenz gehört
Wir legen daher auch auf die herkömmliche Redensart
aller Jahresberichte, oder «Blau- und Gelbbücher» von den «un-
getrübten Beziehungen» zu den auswärtigen Staaten
keinen ganz unbedingten Werth. Die Hauptsache im indi-
Tiduellen, wie im kollektiven Dasein ist es, dass man sich
richtig verhält, nicht dass man mit Jedermann in voller
Uebereinsümniung steht. Die meisten Schwierigkeiten ver-
ursachen uns die vielen Italiener, welche periodisch zu aller-
lei Bauzwecken nach der Schweiz kommen, und unter denen
sieh, neben sehr tüchtigen, arbeitsamen und sparsamen, aucli
332 Jahresbericht 1899.
zweifelhafte Elemente befinden. Namentlich ist dies der Fall
mit Bezng auf einzelne sozialistische Agitatoren, sowie mit
Bezug auf einen ganzen Schwärm von Schenkwirthen, die
diesen italienischen Kolonien nachziehen, und deren Beseiti-
gung allerdings nur von Vortheil sein würde. Dessen unge-
achtet ist es nicht möglich, unter den Verhältnissen, wie sie
jetzt völkerrechtlich bestehen, den Angehörigen eines Staates,
mit welchem man in freundschaftlichen Beziehungen leben will,
den Aufenthalt zu verbieten, und wenn dies auch seitens der
Vereinigten Staaten durch ihre Chinesenbill geschehen ist, so
ist dies keineswegs ein völkerrechtlich anerkanntes Präzedens,
und ein kraftigerer Staat, als China, würde sich ein solches
Gesetz auch nicht gefallen lassen. Es wird sich daher nur
darum handeln können, mit Italien selber eine bessere Kon-
trolle über diese Einwanderer zu verabreden, um die schiech-
ten Elemente derselben fern zu halten. Die bessern dagegen
können unserm eigenen Volke als Muster für Arbeitsamkeit
und Nüchternheit dienen.
Mit Frankreich ist die Grenzbereinigung am Mont
Dolent noch immer ausstehend. Es wird schliesslich nichts
übrig bleiben, als in Geduld abzuwarten, wie lange der fran-
zösische Senat mit der Ratification des Vertrages noch zögern
will, einen andern wird die Schweiz nicht schliessen.
Eine wichtigere Frage-könnte dadurch entstehen, dass be-
absichtigt wird, Thonon dauernd mit Truppen zu besetzen.
Wir haben im Jahre 1883 bei Anlass der Frage, ob der
Mont Vuache im neutralisirten Savoyen befestigt werden
dürfe, von der französischen Regierung die Zusicherung er-
halten, dass dieser Theil von Frankreich nicht in dem Mo-
bilisationsplan inbegriffen sei. Es musste daher jedenfalls
etwas sonderbar erscheinen, dass in einer Sitzung vom 13. M&rz
Auswärtiges. Schweizerische Beziehungen zu Frankreich. 333
dieses Jahres ein hochsavoyischer Deputirter einen ganzen
Vertheidigungspian dieses Gebietes entwickelte. Die «Ga-
zette de Lausanne» berichtete darüber wie folgt :
«Dans la säance du 13 mars de la Chambre francaise,
comme on discutait le budget de la gnerre au chapitre
«Casernements», M. Fernand David, däpute* de la Haute-
Savoie, a demandä an nom de ses collegues et de lui-meme
et avec le concours de MM. Chautemps et Jules Mercier
qu'on portat le credit de 1,3 million ä 1,4 million afin que
la Republique plac.at des garnisons dans les quatre villes de
Thonon, Bonneville, Saint-Julien et Annemasse.
Dans un discours Studie, M. Fernand David a montre
que ritalie pourrait, des les premieres heures de la mobili-
sation, masser 15,000 hommes et 12 pieces de canon dans la
vall6e d'Aoste et passer de la dans la valläe de l'Arve, d'oft
il n'y a qu'un saut jusqu'au Saleve. Or, du Saleve on com-
mande les trois routes: Geneve-Saint-Julien-Annecy, Geneve-
Annemasse-Annecy et Geneve-Culoz-Nyon. Les Italiens dis-
posent pour cette invasion des cols de la Seigne et du Bon«
homme, qui les conduisent ä Bonneville, et de la route Grand
Saint-Bernard-Martigny-Tete Noire, qui les amene a Chamonix.
«IIa trouveraient dans le monastere du Grand Saint-
Bernard des locaux confortables, spacieux et qui ont encore
ete agrandis. IIa violent, il est vrai, la neutralite" suissef
mais d'une facon purement platonique, car les Suisses, qui
ont cr£e des retranchements särieux ä Saint-Maurice, n'ont
pas barre* la route qui conduit par la Tete-Noire a Chamonix
par Vallorcines. . . Une fois a Chamonix, la troupe qui y a
penetre et qui n'a pas trouve* jusque-la d'obstacle devant eile
voit s'ouvrir la vallee de l'Arve, qui conduit d'une part vers
Geneve, de l'autre vers le massif du Saleve. ...»
Quelles forces la France aurait-ello ä opposer ä cette
334 Jahresbericht 1899.
Invasion subite? Elle possöde ä Annecy un regiment d'infan-
terie et un bataillon de chasseurs alpins, mais Annecy est a
cent kilometres du col du Bonhoinme et de Vallorcines ! C'est
donc tout ä fait insuffisant.
On voit que dans la stratögie de M. Fernand David la
neutralite de la Suisse et les forces dont ce pays dispose
pour la faire respecter ne pesent pas lonrd. Nous n'entrerons
pas en discussion avec llionorable depute de Savoie.
Di8on8 seulement que son ainendement n'a pas et6 min
aux voix. M. de Freycinet, ministre de la guerre, a döclare
que la frontiere de Savoie lui tenait fort a cceur, qu'apres
le bataillon de Thonon on en installerait un autre aiUeurs
mais que, pour le surplus, il reservait l'avis de la commisaion
de l'arm6e. La question pourrait etre reprise plus utilement
devant la Chambre, cette commission entendue.
Les däputäs de la Savoie, devant ces declarations mini-
sterielles, ont retire leur proposition.»
Wir haben das Verhältnis« der savoyischen Neutralität im
Jahrbuch schon wiederholt auseinandergesetzt ; es findet sich
auch in dem ersten, gedruckten Abschnitt des eidgenössichen
Granzurbars. Die historische Entstehung dieser immer etwas
difticilen G ranz Verhältnisse ist nun in diesem Jahrbuch unter
dem Titel «der Lausannervertrag von 1564» von zuverlässig-
ster Seite einmal historisch genau festgestellt, woran es. bis-
her noch gefehlt hatte.
Hier ist stets Ursache zur Wachsamkeit vorhanden. Eine
andere Schwierigkeit, die wir ebenfalls s. Z. signalisirt
hatten, und worüber ein ebenfalls gedrucktes Gutachten «Ueber
die Rechtsverhältnisse des Genfersees» existirt, scheint sich
dermalen von selber zu lösen. Ein bezüglicher Bericht sagt
darüber :
«Le L6man n'ira pas ä Paris. — On lit soas ce
titre dans la Eevue:
Auswärtiges. Schweizerische Beziehungen zu Oesterreich. 835
«La commission technique chargee d'etudier les moyens
d'alimenter Paris en eaux potables a 6mis l'avis qu'il n'y
avait pas lieu de donner snite au projet d'adductiou des eaux
du Leman & Paris. Le coüt et l'imprevu de l'entreprise
justifient cette resolntion, qui sera bien accueillie sur les
bords da Leman, & Geneve surtout. La commission pari-
sienne a decide qu'il convenait de poursuivre les etudes sur
les sources et les nappes souterraines des bassins de la Seine
et de la Loire.»
Es ist natürlich nicht allein Sache einer Pariser-Kom-
mission, zu entscheiden, ob, beziehungsweise in welchem Mass-
stabe dem Genfersee Wasser zur Ableitung nach dort ent-
nommen werden könne, oder nicht.
Oesterreich. Rheinregulirung. Ueber die
Rheinregulierung von der Illmündung bis zum Bodensee ent-
hält der Geschäftsbericht des eidgenössischen Oberbauinspek-
torates einige nähere Mittheilungen : Die internationale Rhein-
regulirungskommission hat die beiden Regierungen (Schweiz
und Oesterreich) auf die Aenderongen aufmerksam gemacht,
welche im Jahre 1900 nach der Eröffnung des Fussacher
Durchstiches im alten Rheinbett von Monstein bis zum Boden-
see eintreten werden, und welche die Regierungen voraus-
sichtlich veranlassen dürfen, bezüglich der Festsetzung der
Landesgrenze und mit Rücksicht auf die Zollverwaltung, ge-
wisse Massnahmen zu treffen. Die Kommission übermittelte
deshalb den beiden Regierangen je ein Exemplar der jetzigen,
der Mitte des Stromes entsprechenden Landesgrenze zur wei-
tern Prüfung. Unserseits wird Prüfung durch beidseitige
Kommissionen in Vorschlag gebracht. Das ursprüngliche Pro-
jekt hat bei jedem Durchstich zwei hölzerne, gedeckte Brü-
cken vorgesehen. Mit Rücksicht auf die vielen mit langen,
336 Jahresbericht 1899.
hölzernen Brücken verbundenen Nachtheile hat die Kommission
die Ausführung eiserner Brücken beantragt, welchem Vor-
schlag, nebst den daherigen Mehrkosten, von beiden Regie-
rungen die Genehmigung ertheilt worden ist. Am untern
Durchstich ist die Abtheilung der Dornbierer Aach im September
vollzogen worden; diejenige des Lustenauer Kanals fällt in
den Anfang des Jahres 1899. Die Dämme und Traversen,
sowie der Aushub des Leitkanals im untern Durchstich sind
nahezu fertig, während von der Faschinenanlage, dem Vor-
grund und dem Kiesmantel der Dämme noch etwa ein Drittel
fehlt. Die zwei Brücken über den untern Durchstich wurden
in Angriff genommen, und es ist deren Vollendung auf Ende
1899 vergeben. Am obern Durchstich musste im allgemeinen
mit den Arbeiten etwas zurückgehalten werden, weil die
fälligen Jahresraten der beiden Staaten zur Zeit in erster
Linie für rechtzeitige Vollendung des untern Durchstiches
verwendet werden müssen. Indessen ist die Grunderwerbung
zu 67 Prozent vollzogen, der linksseitige Parallelgraben fast
und der rechtsseitige zur Hälfte fertig erstellt. Die Damm*
arbeit konnte in Angriff genommen werden.
Die wichtigste Frage ist hier die, welche Zollverhältnisse
in dem Gebiete zwischen dem alten und neuen Rhein ent-
stehen sollen; die Landesgrenze ist schon in dem Rhein-
korrektions- Vertrage festgestellt, doch sind nähere Bestim-
mungen über Zollaufsicht und drgl. noch vorbehalten worden.
Im deutschen Reichstage fand am 1. Februar eine Ver-
handlung statt über eine Aeusserung des Centrumsabgeord-
neten Dr. Lieber, welcher die Schweiz in einer frühera
Sitzung als ein Land bezeichnet hatte, in welchem «Königs-
und Kaisermörder frei herumlaufen.» Seine Berichtigung dieser
etwas dreisten Behauptung war eine nicht genügende. Das
Auswärtiges. Schweizer. Beziehungen zu Deutschland. 337
Richtige wäre es gewesen, wenn der Präsident des Reichstages
eine solche Anschuldigung von sich aus gehörig gerügt hätte,
noch bevor sie in die Presse gelangte. Es bleibt sonst leicht aus
solchen Vorgängen eine Missstimmung zurück, wozu die
deutsche Staatsregierung selbst keinen Anlass zu geben sich
stets sorgfältig bemüht. Um so weniger darf es einzelnen Partei*
hänptern gestattet sein, solche Ungehörigkeiten in einer offi-
ziellen Verhandlung vorzubringen.
Weniger Wichtigkeit war den Lästerungen einiger
deutschen Börsenkreise beizumessen, die über den Rückkauf
der Eisenbahnen erbost waren. Einzelne Blätter, u. a. auch
die in der Schweiz viel gelesene «Frankfurter Zeitung», brachten
in Fettschrift folgendes Inserat:
«Das ausländische Kapital ist in der Schweiz vogelfrei
erklärt worden ! Wir warnen das Kapitalisten-Publikum vor
dem Ankauf schweizerischer Staatsanleihen! Die Schweiz ist
kein Rechtsstaat mehr, die Schweiz ist ein Raubstaat !»
Ein «Verein für die Interessen der Fonds-Börse* hatte
sojrar den Ausschluss schweizerischer Werthe von der Berliner
Börse beantragt, worüber die Zulassungsstelle sich wie folgt
erklärte :
«Der Verein für die Interessen der Fondsbörse hat, ver-
anlasst durch die Behandlung, welche die geplante Verstaat-
lichung der schweizerischen Eisenbahnen seitens der Schweizer-
Behörden erfährt, bei der unterzeichneten Zulassungsstelle
den Antrag gestellt, die Zulassungsstelle wolle neue schwei-
zerische Werthe zum Handel und zur Notiz an der Berliner
Börse nicht zulassen. Der Verein hat weiterhin zugleich
gegen jede solche Zulassung auch so lange Verwahrung ein-
gelegt, als nicht seitens des schweizerischen Bundesrathes mit
den grossen schweizerischen Eisenbahngesellschaften ein die
berechtigten Ansprüche der Aktionäre befriedigendes Arran-
gement getroffen ist. In der Diskussion, welche innerhalb
unseres Kollegiums über den vorgedachten Antrag stattge-
22
338 Jahresbericht 1899.
funden hat, sind die Gründe, welche den Verein zu seinem
Vorgehen veranlasst haben, allseitig gebilligt worden. Mit
Rücksicht jedoch auf die gesetzlichen Bestimmungen, nach
welchen die Zulassungsstellen an den deutschen Börsen sich
nur mit konkret vorliegenden Anträgen auf Zulassung be-
stimmter Papiere zum Börsenhandel zu befassen haben, sind
wir nicht in der Lage, den beantragten prinzipiellen Beschluss
zu fassen. Dagegen stehen wir nicht an, schon heute zu er-
klären, dass wir die Zulassungsstellen an den deutschen Bör-
sen für berechtigt erachten, auf Grund des § 36 Abs. 3 c
des Eeichsbörsengesetzes vom 22. Juni 1896 den Wert-
papieren solcher Länder die Zulassung zum Börsenhandel zu
versagen, in welchen etwa — wenn auch unter dem Schutze
von Gesetzen — die Grundsätze von Treu und Glauben ver-
letzt sein sollten.»
Die «Vossische Zeitung» bemerkte dazu: «Die grösste
Frage bleibt danach offen : Hat die Schweiz wirklich Treu
und Glauben in der Verstaatlichungsangelegenheit verletzt ?
Diese Frage ist längst beantwortet. Die Schweiz hat ganz
unzweifelhaft das Recht, nach den Konzessionen zurückzu-
kaufen. Das haben auch deutsche massgebende Blätter, so
die «Kölnische Zeitung» ausdrücklich anerkannt, schon da-
mals, als die Rückkaufsbotschaft des Bundesrathes bekannt
wurde. Von einem solchen Recht Gebrauch zu machen,
wurde jeder Staat sich vorbehalten; warum Bollte gerade die
Schweiz das nicht thun? Die deutschen Börsen stellen aber
die Sache mit beispielloser Hartnäckigkeit so dar, als ob die
Schweiz auf Grund der Dividenden oder Börsenkurse zurück-
kaufen müsse. Das ist durchaus falsch. In Deutschland
wurde auf dieser Grundlage zurückgekauft, die schweizerischen
Konzessionen lauten aber anders, und sie lauten so klar, dass
das Bundesgericht in den meisten Hauptfragen einstimmig
entschieden hat und gar nicht anders entscheiden konnte.
Darüber war sich auch die rückkaufsfeindliche Presse in der
Schweiz, die sonst in ihrem Eifer den deutschen Blättern
nichts schuldig bleibt, sofort klar, und sie musste einmüthig
den Entscheid des Bundesgerichtes als wohlbegründet und
unparteiisch anerkennen. Nun kommt die ausländische Bor-
Auswärtiges. Schweizer. Beziehungen zu Deutschland. 339
senpresse mit der Anmassung, die schweizerische Gesetz-
gebung" sowohl als die schweizerische Rechtsprechung umzu-
stossen. Oder sie meint, mit wüstem Geschrei einen Druck
auf die kommenden Entscheidungen des Gerichtshofes ausüben
zu können, weil die wilde Spekulation unter unrichtigen An-
gaben, allen Abmahnungen zum Trotz, die Papiere in skan-
dalöser Weise in die Höhe getrieben hatte ! Alte treue
Aktionäre kommen dabei natürlich nicht in Betracht. Die
jüngste Auslassung der Berliner Zahlungsstelle weckt neuer-
dings falsche Vorstellungen, wenn sie sagt, der Bundesrath
mösse mit den schweizerischen Bahngesellschaften ein Arran-
gement treffen, das die Aktionäre befriedige. Freilich kann
der Bundesrath mit den Bahnen ein Abkommen treffen, aber
für die Bestimmung des Rückkaufspreises ist er durch das
Gesetz gebunden, das vorschreibt, dass der Preis auf Grund
des konzessionsgemässen Rückkaufs festzustellen sei. Die
Schweiz hat das gute Recht auf ihrer Seite und ist dabei
vollständig beruhigt.»
Wir denken, es würde Deutschland auch sehr wenig con-
veniren, die Schweiz für ihren Geldmarkt noch mehr auf
Frankreich hinzuweisen, als es schon ohnehin in dieser Be-
ziehung der Fall ist.
In den in diesem Jahre auch bei uns viel gelesenen «Ge-
danken und Erinnerungen» Bismarcks kommt ein Passus über
eine «Theilung der Schweiz» vor, die ihm ein franzö-
sischer Staatsmann vorgeschlagen haben soll, und die er zwar
als nicht angehend bezeichnet, aber nicht ohne einige un-
freundliche Worte über unsern Staat beizusetzen. Wir halten
dafür, die letzteren seien der Grund, aus welchem diese Sache
von jedenfalls geringer Bedeutung in einem Werke Erwähn-
ung findet, das viel wichtigere Dinge aus der neueren Ge-
schichte, deren Zeuge und Mitarbeiter der Verfasser war, ruhig
bei Seite lässt. Er wollte uns, wie noch manchen andern Leuten,
sHd Hissfallen über das Grab hinaus bezeugen. Wir quittiren
340 Jahresbericht 1899.
hiefür, finden es aber in Folge dessen nicht sehr passend, wenn
etwa in Zürich, wenn auch aus Privatmitteln, eine Bismarck-
statue errichtet werden sollte.
Um so freundlicher, als dieses Gegners, dürfen wir des
nunmehr auch verstorbenen zweiten Reichskanzlers Grafen
Caprivi gedenken, der eine andere Politik befolgte, mit uns
die bestehenden Handelsverträge abschloss und auch in einer
Rede im deutschen Reichstag die von seinem Vorgänger
angezweifelte schweizerische Neutralität ausdrücklich wieder
anerkannte. Von ihm wurden statt «Gedanken und Er-
innerungen», mit der Tendenz wohlausgedachter Selbst Ver-
herrlichung, nur einzelne Briefe bekannt, die er an den Re-
daktor des «Berliner Tagblattes», als Antwort auf einen
solchen Vorschlag schrieb, und die den vornehmen Charakter
dieses Mannes recht deutlich kennzeichnen. Wir sind es dem-
selben schuldig, sie auch in einer schweizerischen Publikation
festzuhalten :
«Skyren, 9. Oktober 1895. Sehr geehrter Herr! Die
mir gefälligst übersandten Zeitungsausschnitte sende ich dan-
kend zurück. Ich bin nicht in der Lage, mich über die wirk*
liehen Ursachen meines Rücktritts zu äussern. Achtungsvoll
und ergebenst G. v. Caprivi.»
«Skyren, 26. Februar 1896. Sehr geehrter Herr! Auf-
richtig danke ich Ihnen für Ihre freundlichen Worte. Es ist
schwer, im Handeln auf Zustimmung derer, für die man han-
delt, verzichten zu müssen, schwerer noch im Alter von den
Kreisen, mit denen man durch ein langes Leben zusammen-
gegangen ist, getrennt zu werden, am schwersten aber mit
gebundenen Händen der öffentlichen Missachtung ausgesetzt
zu werden und zusehen zu müssen, wie das, was man zum
Besten des Staates geschaffen zu haben glaubt, wieder ein-
gerissen wird. Nochmals aufrichtigen Dank für Ihre Theil-
nahme. Voll Achtung bleibe ich Ihr ergebener G. v. Caprivi.>
(Aus Montreux, 25. Februar 1895) : «Ein nicht unerheb-
Auswärtige?. Schweizer. Beziehungen zu Deutschland. 341
lieber Theil meiner Motive hatte Bezug auf den Fürsten
Bismarck, and ich darf soviel wohl Ihnen gegenüber aus-
sprechen, dass ich bei aller Anerkennung des Glanzes seiner
Pereon und unserer Heldenzeit, schon ehe ich Kanzler wurde,
erkannt zu haben glaubte, wie schwere Schaden die Kehrseite
jener glänzenden Medaille zeigte. Der Nation behilflich zu
sein, dass sie, ohne an den neugewonnenen nationalen Gütern
Schaden zn leiden, in ein Alltagsdasein zurückkehrte, in dem
sie ihre alten Tugenden wiederfände, schien mir das nächste,
voraussichtlich nur im Laufe der Jahre zn erreichende Ziel.
Forst Bismarck hatte, wie ja schon oft ausgesprochen ist,
die innere Politik mit den Mitteln der äusseren geführt, und
die Nation war in Gefahr, ihren sittlichen Standard sinken
zu sehen. Indess auch nur hierauf jetzt näher einzugehen,
würde mir nicht recht scheinen. Weiter werden Sie sich
selbst sagen, wie vorsichtige Behandlung das persönliche Ver-
hältniss zwischen Kaiser und Kanzler fordert, wie tief es in
die Amtshandlungen des Letzteren eingreift, und wie wenig
davon an die Oeffentlichkeit kommen darf. Was Ihren zweiten
Wunsch angeht, so kann ich sagen, dass alle Nachrichten,
die dahin gehen, ich wollte nach dem Süden reisen, ich wäre
piquirt über Ungnade u. dergl., gänzlich erfunden sind.
Ich habe von Anfang an den Wunsch gehabt, das Frühjahr
noch hier in Montreux zu verleben und halte daran noch
fest. Ich bin zufrieden, dass ich keine Verantwortung mehr
trage und freue mich eines stillen und zufriedenen Daseins,
leb habe ein Alter erreicht, in dem ich auch als Soldat
meine Laufbahn für abgeschlossen gehalten haben würde.»
(Aus Skyren, 4. März 1897): *So freundliche Glück-
wünsche von einem politischen Gegner zn erhalten, ist für
mich um so wohlthuender, als ich durch diejenigen, denen ich
meiner ganzen Lebensanschanung nach früher nahe stand,
nicht verwöhnt werde. Ich habe manche sehr liebe Bezieh-
ungen aufgeben müssen, um den Ueberzeugungen, die ich mir
erst als Reichskanzler mühsam erwarb, treu bleiben zu
können. Dass dies gerade mein Schicksal sein würde, habe
ich nicht vorhersehen können, aber ich habe es am letzten
Abend, den ich in Hannover unter meinen Kameraden verlebte,
342 Jahresbericht 1899.
ausgesprochen, ich wäre mir darüber klar, dass ich schliess-
lich von dem Glanz und dem Schimmer nichts behalten würde
«als die Müh' und die Schmerzen und wofür wir uns halten
in unserem Herzen.» Ich bin mit diesem Trost des Wallen-
steinschen Kürassiers einverstanden, das ist Soldatenschicksal.
Ich glaube, ich bin meinem Könige und mir selbst treu ge-
blieben, diesen Glauben kann mir niemand nehmen, im übri-
gen mag die Welt denken und sagen, was sie will. Ich lebe
hier in stillem Frieden sehr zurückgezogen. Ich altere schnell
aber es sind mehr Gebrechen, die mir lästig werden, als
Krankheiten. Venen-Entzündungen sind mir alte Bekannte,
ich hatte eine ziemlich ernste, als ich im Reichstag bei der
Vertheidigung der letzten Militär- Vorlage nicht selten unter
Schmerzen lange stehen musste. Indess nun sehe ich das
ruhiger an, ich habe ja Zeit, stille zu liegen und mich zu
schonen. Sie erwähnen die Haltung der Freisinnigen bei
jener Vorlage. Ich habe nicht so weit gesehen, um den Zer-
fall der freisinnigen Partei vorherzusehen. Ich war zu sehr
davon überzeugt, dass die Verkürzung der Dienstzeit und
namentlich die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht
von allen Liberalen vertreten werden müssten. Ich meinte,
der ideelle Gewinn, der in diesen Ideen für die Liberalen
lag, wöge die erhöhte Steuerlast reichlich auf. Dass damals
die allgemeine Wehrpflicht nicht voll zu erreichen war, be-
dauere ich noch heute und nicht bloss aus militari sehen
Gründen. Unverständlicher noch wie der Freisinn sind mir
in dieser Frage die Nationalliberalen geblieben. Dass ihr
Führer ein Landsmann Scharnhorsts war, Hess er in seinem
Verhalten zur allgemeinen Wehrpflicht nicht erkennen. Diese
Frage wird wieder kommen und ich wünschte, dass die Li-
beralen, sofern sie dann überhaupt noch existiren, einen ob-
jektiveren Blick in die Zukunft hätten. Da kommt die
senectus loquax und es fehlt nicht viel, so begänne ich, aus
der Rolle fallend, über Znkunfts-Politik zu orakeln.»
(Aus Skyren, 6. März 98.) «Sie legen mir noch einmal
die Idee nahe, litterarisch -etwas für mich zu thun. Und so
verführerisch sie für mich ist, so gern ich eine solche Arbeit
gerade in Ihren Händen wissen würde, bestärkt sich in mir
Auswärtiges. Schweizer. Beziehungen xu Deutschland. 343
doch die Ucberzcugung immer mehr, dass es für mich das
Richtige ist, mich direkt oder indirekt der Politik ganz fern
za halten. Es ist and bleibt falsch, und anch das abweichende
Beispiel eines grossen Mannes ändert daran nichts, wenn
frohere Offiziere und Beamte gegen eine Regierung, unter
der sie gedient haben, öffentlich auftreten. Denn dass mein
Auftreten, ob ich wollte oder nicht, als gegen die jetzige
Regierung gerichtet angesehen werden würde, ist mir zwei-
fellos; meine politischen Gegner würden gewiss unschwer
die Mittel linden, es dahin zu bringen. Daran würde es
wenig ändern, wenn ich meine persönliche Einwirkung auf
die Schrift so wenig wie möglich hervortreten Hesse. Und
was liegt daran, ob ich verkleinert, ja beschimpft werde, ob
mein Bild verdunkelt auf die Nachwelt übergeht, wenn man
mir nur den Ruf eines anständigen Mannes, eines selbstlosen
Patrioten nicht nehmen kann? Und auch wenn ich selbst
gar nicht die Feder eintauchte, würde ich nicht sicher sein,
in die garstigen Kämpfe, die voraussichtlich mit den näch-
sten Wahlen verbunden sein werden, persönlich hineingezogen
zu werden? Ich würde die Ansichten, die ich als aktiver
Staatsmann vertreten habe, nicht aufgeben wollen und können,
ob ich aber jetzt, wo ich noch als General ä la suite geführt
werde, die Berechtigung hätte, für die Handelsverträge zu
schreiben, kann zweifelhaft sein. Und was würde ich denn
leisten können? Ich bin schnell gealtert, ich habe die Ge-
wohnheit an feste, konsequente Arbeit verloren. Mir fehlt,
bis auf die Schreibkräfte, das vorzügliche Personal, durch
das ich unterstützt wurde. Wenn Sie von mir verlangen
worden, ich solle meine Motive für irgend einen Schritt re-
konstruiren und niederschreiben, ich würde es wahrschein-
lich auch mit grosser Mühe nicht können. Ich habe sogar
meine persönlich geschriebenen Notizen, Auszüge aus Büchern,
Gedachtnisshilfen bei meinem Ausscheiden zerstören lassen,
am nicht etwa einem Arnim-Prozesse oder dergleichen in die
Hände zu fallen.»
Es ist ein edler Charakter, der sich ausspricht und gleich-
zeitig, wenn man damit die «Erinnerungen» Bismarck's ver-
deicht, ein typisches Bild der Veränderung, die in dem deutschen
344 Jahresbericht 1899.
Wesen, selbst in den besseren Kreisen vorgegangen ist. Ein
jetzt lebender österreichischer Dichter sagt darüber in einer
«Ode an Germania» am Schlüsse :
«Deine grimmigsten Feinde
Niederhält sie die bleiche Furcht.
Ja, man fürchtet und preist weithin des Reiches Macht,
Doch man beugt sich nicht mehr willig dem deutschen G e i s t.> —
Das ist das, was wir am «Reiche» anders wünschten
und wess wegen wir niemals zu den unbedingten Bewunderern
Bismarck's gehört haben, so nothwendig eine solche Persön-
lichkeit für Deutschland vorübergehend war. Wir hoffen auf
eine bessere Zeit , die nun wieder folgen kann und muss.
Mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika be-
stehen noch immer Schwierigkeiten über Verzollung, welche
der Bundesrath auf Antrag des kaufmännischen Direktoriums
in St. Gallen dort anhängig gemacht hat. Die mit Deutsch-
land obwaltenden Differenzen dieser Art sind hiegegen be-
seitigt worden. Auch Nordamerika hat die Auslegung
welche die Schweiz der Bezeichnung «meistbegünstigte
Nation» in dem bestehenden Handelsvertrag gegeben hat,
zwar angenommen (was logisch nicht wohl anders möglich
war), sich aber vorbehalteu, den Vertrag zu kündigen, wenn
man nicht zu einer Abänderung dieser Klausel gelange. Wir
hoffen, die grosse Republik im Westen werde es der Schweiz
möglich machen, in ihr einen festen Anhaltspunkt in aüVn
schwierigen Fragen zu sehen, welche die jetzige Weltlage,
namentlich für die kleinen Staaten, mit sich bringt.
Mit dem folgenden Jahre beginnen nun schon die Vor-
bereitungen für den Abschluss neuer Handelsverträge
Auswärtiges. Nordamerika. Handelsverträge. 845
deren alierwichtigste sämmtlich mit dein Jahre 1903 ablaufen
und daher vorher erneuert werden müssen.'
Es würde dabei sehr wünschenswerten sein, statistisch
genauer erörtert zu sehen, wie die jährliche Differenz
zwischen der schweizerischen Einfuhr und Ausfuhr ge-
deckt wird, welche regelmässig mehr als 300 Millionen zu
Ungunsten der Schweiz beträgt, die also in Baar an das
Ausland vergütet werden müssen. Diese Frage kam beiläufig
in der Sitzung des Nationalrathes vom Juni zur Sprache,
und es wurden von mehreren sachverständigen Personen Er-
klärungen versucht, die aber keineswegs erschöpfend waren.
Gewöhnlich bezieht man sich einfach darauf, es ergebe sich
ans dem allgemeinen «Gefühl», oder dann etwa auch aus dem
Stande der Sparkassen-Einlagen, dass die Schweiz, trotz dieses
jährlichen Ausfalles, nicht ärmer werde ; mitunter wird auch
behauptet, es lassen sich die Gründe desselben gar nicht
näher konstatiren, man stehe da gewissermassen vor einer
anerklärbaren Thatsache, die mit «Vertrauen in die Zukunft»
behandelt werden müsse. Wir sind unsererseits in Sachen
der Nationalökonomie, und in Geldsachen überhaupt, nicht
für den «Glauben» eingenommen und hegen auch von der
Statistik eine zu gute Meinung, um anzunehmen, dieselbe sei
gar nicht im Falle, ein so wichtiges Verhältniss näher auf-
zuklären. Jedenfalls müsste der Versuch gemacht werden,
sonst gleicht die Schweiz einem Privatmann, der eben darauf
los lebt, in dem blinden Wahn eines leichtsinnigen Jünglings,
es sei bisher immer gegangen und werde daher auch fernerhin
gehen. Das aber wäre im jetzigen Zeitpunkte namentlich,
in welchem wir unsere Handelsverträge neu ordnen und gleich-
zeitig eine sehr grosse Summe Geldes für den Rückkauf
der Bahnen aufnehmen wollen, ein geradezu unverantwort-
licher Leichtsinn. Wir sind unsererseits überzeugt, dass sich
346 Jahresbericht 1899.
der Wohlstand eines Staates nicht bloss nach dein Verhält-
niss seiner Einfuhr and Ausfuhr bemisst, das ist eine aufge-
gebene Position einer früheren Nationalökonomie; immerhin
aber ist und und bleibt es ein wi chtiges Verhältniss, und es
muss dafür eine Deckung vorhanden sein, wenn die
Ausfuhr dauernd und in hohen ßeträgen geringer ist; be-
ziehungsweise man muss sich über diese Deckung mit an-
nähernden Zahlen, nicht bloss mit allgemeinen Redensarten,
oder Vermuthnngen, aussprechen können. Das erfordert ein
ordentlicher Staatshaushalt, der überhaupt nicht auf Vermu-
thnngen beruhen darf.
Ohne dieser Untersuchung; die wir dringend wünschen,
irgendwie vorzugreifen, sind wir einstweilen der Meinung,
dass diese Deckung der circa 300 jährlich fehlenden Millionen
wesentlich aus den Einkünften des Fremdenverkehrs, die sehr
wohl annähernd berechnet werden könnten, ferner aus dem
Ertrag der im Ausland betriebenen Geschäfte nnd angelegten
Kapitalien, der in die Schweiz fliesst, die allerdings weniger
leicht kontrollirbar sind, und endlich vielleicht auch aus
den nicht ganz kontrollirten Mehrwerthen unserer Ausfuhr-
artikel über die «deklarirten» Angaben hinaus, besteht. Das
letztere würde, falls es sich so verhält, wohl der Haupt-
grund sein, weshalb es nicht möglich ist, darüber einen statis-
tischen Nachweis zu erstellen. Immerhin wird es gut sein,
sich darüber wenigstens einigermassen im Klaren zu befinden.
Wir sind unsererseits von dem soliden Wohlstand der
Schweiz überzeugt, auch davon ferner überzeugt, dass jeder
private Haushalt bei uns über eine Differenz zwischen Er-
werb und Ausgaben sich nicht so leicht hinwegsetzt. Aber
wir können dessen ungeachtet den Wunsch nicht unterdrücken,
dass sich die Ausfuhr der Schweiz noch bedeutend vermehren
und die Einfuhr wenigstens in einigen Artikeln, die leicht
Auswärtiges. Dio Handelsbilanz. Diplomatischer Dienst. 847
im Lande selbst zu erzeugen wären, herabsetzen lasse und wir
erblicken darin einen wichtigeren Gegenstand «sozialer Poli-
tik» als in manchen andern Dingen, die einen sehr grossen
Tbeil unserer gewöhnlichen Diskussionen, Berichterstattungen
und Pressartikel ausmachen, während dieser Punkt mit
merkwürdigem Stillschweigen übergangen wird.
In Belgien ist, nach einem verfehlten Versuche des
klerikalen Ministerpräsidenten Vandenpeereboom ein partielles
Proportional- Wahlsystem nach dem Muster der Disraelischen
(nicht mehr bestellenden) Wahlreform und des jetzt vor-
liegenden Schwyzer -Verfassungsentwurfs einzuführen, eine
völlige Wahlreform auf Grund des Proporzes, gleichzeitig
wie bei uns, auf der Tagesordnung. Belgien ist für uns über-
dies das Beispiel eines Staates, dessen Bevölkerung, indu-
strielle Bedeutung und im Allgemeinen gesprochen Wohl-
habenheit von Jahr zu Jahr wächst, während der öffentliche
Geist abnimmt und die Unzufriedenheit in einem grossen
Theil der Bevölkerung bereits einen bedrohlichen Grad er-
reicht hat. Es ist sehr gefährlich, anzunehmen, dass bloss
in der steigenden Wohlhabenheit eines Theiles der Bevölker-
ung eine Garantie für einen gedeihlichen Fortschritt eines
Staates liege, und die belgischen Verhältnisse können uns
in dieser Hinsicht zur Warnung dienen.
In dem diplomatischen Dienst der Eidgenossen-
schaft wurde Herr Dr. Choffat von Pruntrut zum Minister-
residenten in Buenos-Aires gewählt. Von den hier accredi-
tirten Diplomaten starb der französische Ambassadeur, Graf
Montholon. Die einzige schweizerische Consular- Justiz , die
bestand, hat mit dem 1. Juli dieses Jahres in Japan auf-
gehört, und es wird wohl mit dem System eigener schweizer-
ischer Berufskonsuln nicht fortgefahren, sondern vorgezogen
348 Jahresbericht 1899.
werden, die Schweizer in Staaten, die nicht hinreichende
Gewähr für eine genügende Justiz bieten, unter fremden
Schutz grösserer Staaten zu stellen, lieber die deutschen Beruf s-
Consulate enthielt der letzte Jahresbericht der Handelskammer
von Elberfeld folgenden bemerkenswerthen Passus:
«Wir unsrerseits möchten angelegentlichst befürworten,
den juristisch oder diplomatisch geschulten Berufskonsuln an
allen denjenigen Plätzen, welche besonders dazu geeignet
erscheinen, Mittelpunkte für den deutschen Handel abzugeben,
einen kaufmännischen Beirath, bezw. in verschiedenen
Zweigen sachverständige Persönlichkeiten zur Seite zu stellen,
welche jede sich dem deutschen Wettbewerb bietende gün-
stige Gelegenheit mit aufmerksamem Blick zu verfolgen und
den mit grösst möglicher Schnelligkeit arbeitenden informa-
torischen Dienst in allen Handelsangelegenheiten zu über-
nehmen hätten. Durch eine solche Einrichtung würde dem
unternehmungswilligen Kaufmann und in erster Linie auch
den deutschen Handelskammern selbst die Möglichkeit ge-
boten, sich bezüglich aller derjenigen Angelegenheiten, in
welchen dieselben des Raths und der sachkundigen Unter-
stützung in jenen vom Mutterlande so weit entfernten Ge-
bieten bedürfen sollten, mit den Consulaten in direkte Ver-
bindung setzen zu können.»
Es ergibt sich daraus, dass doch eigentlich gut gebildete
Handelskonsuln diesen sogenannten Berufskonsuln bei weitem
vorzuziehen sind.
Leider ist es vorgekommen, dass ein schweizerischer
Handelskonsul in Johannesburg wegen betrügerischer Spe-
kulationen in seinen Funktionen eingestellt werden musste.
Die Schweizer in der südafrikanischen Republik wurden
in Folge dessen unter deutschen Schutz gestellt.
Auswärtiges. • Staatsverträge. 349
In unserer eigenen Diplomatie stehen zwei wesentliche
Veränderungen bevor, indem mutmasslich ein Mitglied des
Rundesrathes an die Stelle des verstorbenen Weltpostdirek-
tors Höhn treten wird, und andererseits das Amt des eid-
genössischen Generalanwalts, das zwar im Wesentlichen nicht
das ist, was sein Titel besagt, sondern eine Aufsichtsbehörde
über die politische Freradenpolizei, durch die Resignation des
bisherigen ersten Inhabers neu besetzt werden muss. Es
wird sich daran ohne Zweifel eine neue Diskussion über das
Wesen und den Werth dieser politischen Polizei knüpfen, ein-
geleitet durch die Verhandlung über die Ausweisung einiger
italienischer Agitatoren, die in der nächsten Bundesversamm-
lung vom September zu erfolgen hat. Wir halten unsererseits,
unter den gegenwärtigen Verhältnissen unserer Nachbar-
staaten, besonders Frankreich und Italien, eine gute Frem-
denpolizei für notwendiger, als seit geraumer Zeit, und be-
zweifeln auch nicht, dass der weitaus grösste Theil des
schweizerischen Volkes der Ansicht ist, dass eine solche un-
entbehrlich sei. Es wird sich lediglich darum handeln, eine
geeignete Persönlichkeit zu finden , die mit der nöthigen
Energie, und gleichzeitigen Unabhängigkeit gegenüber allen
ungehörigen Zumuthungen, ihres nicht leichten Amtes walte.
Eine Revision des dermaligen Gesetzes von 1889, gegen wel-
ches die sozialistische Partei damals ein Referendum ver-
suchte, aber bloss 24,000 Unterschriften dafür fand, halten
wir nicht für opportun.
Staatsverträge.
I. Internationale. Der neue (Washingtoner) Welt -
postvertrag vom 15. Juni 1897, wie er dermalen besteht,
findet sich nun abgedruckt in der E. G. S. XVI, 897. Ueber
350 Jahresbericht 1899.
die Auswechslung von Colis postaux fand mit Frankreich
ein Spezialvertrag vom 15. November 1898 statt. E. G.
S. XVII, 55.
Die Uebereinkunft über internationales Privatrecht
und Civilprozessrecht vom 21. Juni 1898 steht in E. G.
S. XVII, 179. Sie besteht zwischen der Schweiz, Deutsch-
land, Oester reich -Ungarn, Belgien, Dänemark, Spanien,
Frankreich, Italien, Luxemburg, Holland, Portugal, Rumänien,
Russland, Schweden und Norwegen.
Der Zusatzvertrag zum Miinzvertrag vom 15. Mai
1898 in E. G. S. XVII, 44.
Montenegro ist von dem Vertrag über das Urheber-
recht zurückgetreten. E.G. S. XVII, 209. Der Vertrag
tritt mit dem 1. April 1900 ausser Kraft. Japan tritt dem
litterarischen und gewerblichen Eigen thumsschutz bei. E. G.
S. XVII, 206.
Die Eidgenossenschaft hat die Separatverträge über Ur-
heberrecht mit Italien (22. Juli 1868) und Deutschland
(13. Mai 1865) gekündigt, wonach auch mit diesen Staaten
vom 17. November 1899 ab nur noch die internationale Kon-
vention vom 9. September 1886 besteht.
Die Anarchisten -Konferenz in Rom wurde ge-
heim abgehalten und hat, wie vorauszusehen war, zu keinem
Vertrage geführt. Dagegen verlautete etwas von Beschlüssen
über eine internationale Ueberwachung bekannter Anarchisten
und einem diesfälligen Reglement, welches die italienische
Regierung ausarbeiten sollte, und das dann am 15. Mai 1899
hätte in Kraft treten sollen. Bekannt ist ein solches eben-
falls nicht geworden. Die Gegenstände der Konferenzberath-
ung waren folgende: Strafrechtliche Definition des Anarchis-
mus, Massrcgeln gegen die anarchistische Presse, Auslieferung
der Anarchisten, Qualifikation der anarchistischen Verbrechen
Auswärtiges. Staats vortrage. 351
als gemeine Verbrechen, Organisation des Polizeidienstes be-
hufs Erleichterung des gegenseitigen Austausches von Mit-
theilungen betreffend Anarchisten,
In Brüssel fand eine Konferenz von betheiligten Staaten
aber die Einfuhr alkoholischer Getränke in Afrika
statt. Die in der Brüsseler- Afrika- Akte von 1890 festge-
stellten Einfuhrzölle wurden erhöht.
II. SpezialVerträge. 1. Vertrag mit Russland
aber Schutz der Fabrik- and Handelsmarken. E. G.
S. XVII, 227, Bbl. 1899. Nr. 24.
Wir haben mit Rassland bloss einen bereits alten Nieder-
lassungsvertrag von 1872. Nun soll auf Wunsch unserer Ex-
port-Industrie noch ein Zusatzvertrag gemacht werden, der
folgende etwas komplizirte Vorgeschichte hat.
Wir erliessen unser Markenschutzgesetz 1879, das 1890
durch ein erweitertes ersetzt warde.
Am 20. März 1883 kam hinzu die Union zum Schutz des
gewerblichen Eigenthums, die auch Patente, Modelle, Muster
und Geschäftsfirmen umfasst. Derselben gehören dermalen
18 Staaten an, zuletzt Japan, Russland hingegen nicht. Die
internationale Uebereinkunft von Madrid von 1891 kam
spater noch dazu, es ist eine spezielle Uebereinkunft zum
Zweck der internationalen Eintragung der Handelsmarken in
Bern. Dieser Uebereinkunft sind nicht alle Länder der all-
gemeinen Union, sondern nur 10 der obigen 18 beigetreten.
Ebenso wurden in Madrid unter noch wenigeren Staaten
die falschen Herkunftsbezeichnungen verboten.
Russland ist bei diesen Verträgen nirgends dabei, son-
dern es besteht nur ein russisches Gesetz von 1896, das für
Russland gilt und das vorbehält, Fremden gleichen Schutz
für Handels- und Fabrikmarken zu gewähren, wie den Russen
«es vertu de Conventions diplomatiques».
352 Jahresbericht 1899.
Solche Konventionen mit Russland schlössen alle Indu-
strieländer Europas, zuerst England, zuletzt Dänemark. Die
Schweiz hatte bisher keine, die jetzt abgeschlossen wird,
wozu Russiand sich auf Wunsch der Schweiz bereit erklärte.
Der Vertrag wurde in Bern mit der russischen Gesandtschaft
abgeschlossen.
Es ist also eine Gleichberechtigung mit den einheimischen
Industrien in Russland, beziehungsweise mit allen anderen
Staaten, die solche Vertrüge bereits haben.
Die Marken der Schweizer und Russen können gegen-
seitig im Ursprungslande eingetragen werden.
2. Abänderung des schweizerisch- spanischen Ver-
tragstarifs.
Am 11. April 1899 berichtete das Generalkonsulat in
Spanien, die spanische Regierung wünschte die Position Cko-
colade aus dem Zollvertrag zu entfernen, weil Spanien den
Zoll auf die Rohmaterialien der Chocoladefabrikation erhöhen
möchte. Es stellte eventuell Kündung des Zollvertrags in
Aussicht.
Es ist allerdings ein etwas sonderbares und prinzipiell
verwerfliches Verfahren, einzelne Artikel eines Vertrags
während einer Vertragsdauer ausser Kraft zu setzen; die
Schweiz hat aber kein grosses Interesse daran, da ihr Cho-
colade-Import nach Spanien fast auf Null gesunken ist und
sie ohnehin in Spanien begünstigt ist. Die Spanier haben
nämlich dermalen 3 Tarife, einen Maximaltarif (dem lange
Zeit Deutschland und zeitweise auch Frankreich unterlag),
einen Minimaltarif, der jetzt ziemlich allgemein angewendet
wird, und dann noch Vertragstarife, die nur Russland, Hol-
land, Schweden-Norwegen und die Schweiz haben, ausgenom-
men Portugal, das noch einen ganz besonders günstigen Vor-
Auswärtige«. Staatsverträge. 353
trag mit Spanien besitzt. Abgesehen davon ist die Schweiz
meistbegünstigt, so dass man Spaniens Wünschen etwas ent-
gegenzukommen geneigt sein musste. Demgemäss wurde be-
schlossen, die Bindung von Chocolade aufzuheben.
Ueber die Fischerei in den italienischen Gränzge-
wässern wurde ein Zusatzvertrag mit Italien vom 8. Juli
1898 abgeschlossen. £. G. S. XVII, 29 ; der Hauptvertrag
ist vom 8. November 1882.
Mit den Bodenseeuferstaaten wurde in Konstanz eine
neue Schifffahrts- und Hafenordnung für den Bo-
densee vom 8. April 1898 abgeschlossen, welche den früheren
Vertrage vom 22. Sept. 1867 und die Revisionsvereinbarungen
vom 6. Mai 1892 und 30. Juni 1894 abändert BbL 1899,
Nr. 22« Betreffend die Tieferlegung der Hochwasserstande
des Bodensees macht das eidgenössische Oberbauinspektorat
in seinem Geschäftsberichte für 1898 folgende Mitteilungen:
cDa die Antworten der grossherzoglich badischen Regie-
rung und derjenigen von Schaffhausen auf das ihnen übermittelte
Gesuch des Kantons Thurgan, die Abgrabung bei Eschenz
vertiefen zu dürfen, ablehnend lauteten, so wurde beschlossen,
es sei zur Zeit von einer weitern Abgrabung abzusehen und
damit zuzuwarten, bis infolge der stattfindenden Besprech-
ungen eine Abklärung in dieser Angelegenheit erfolgt sein
werde. Baden und Thurgau wurde auf bezügliche Anfragen
mitgetheilt, dass die nötkigen Schritte zur Beschickung einer
technischen Vorkonferenz erfolgen werden, sobald die Be-
nennungen über die Tieferlegung der Wasserstände des
Bodensees zu Ende geführt sein werden. Die vom Bundes-
rath angeregte internationale Konferenz zur Besprechung
der Frage wegen Verbesserung der Zustände des Hemishofer-
baches hat stattgefunden, und es wurde die Regierung des
Kantons Schaffhausen eingeladen, für den auf ihrem Gebiete
liegenden Theil dieses Baches ein Korrektionsprojekt auf-
zustellen.»
23
354 Jahresbericht 1809.
Betreffond Auslieferung ist. der neue holländische
Vertrag in £. G. S. XVII, 1 abgedruckt Mit Deutschland
-besteht dermalen die Schwierigkeit, dass dieser Staat den
bei uns geltenden Grundsatz «ne bis in idem» nicht anerkennt,
somit in Deutschland Jemand, der in der Schweiz bestraft
worden ist, für das gleiche Verbrechen noch einmal prozedirt
werden kann. Solche Leute werden daher von uns mitunter
nicht mehr ausgeliefert, was wieder zur Folge hatte, dass
Deutschland die Strafverfolgung von Deutschen, die im Kanton
Zürich Verbrechen begangen hatten, ablehnte. Es wird daher
zweckmässig sein, den obigen Grundsatz in dem neuen
Strafgesetzbuch überhaupt fallen zu lassen«
In der Junisitzung der Bundesversammlung wurde bean-
tragt, mit Italien ein Zusatzabkommen über den Nieder-
lassungsvertrag vom 22. Juli 1868 über Ausweisschriften
für Italiener, welche in die Schweiz kommen, abzuschliessen.
Der ßundesrath nahm die Motion nur in dem Sinne an, dass
er bessere Ordnung in den Heimathschriften dieser Einwan-
derer verlangen will, dagegen nicht Leumundszeugnisse, wie
sie bloss in den Verträgen mit Deutschland und Liechtenstein
bestehen. Auch will er den Niederlassungsvertrag nicht
künden. Eine allgemeine «Italienerfrage» in der Art der
Chinesenbill in Amerika würde der Schweiz auch in der That
nicht zur Ehre gereichen«
III, Handelsverträge. Da auf das Jahr 1903 unsere
wichtigsten Handelsverträge erneuert werden müssen, wurde
mit der Untersuchung der betreffenden Grundlagen begonnen.
Unter dem Vorsitz von Bundesrath Deucher traten im August
die Präsidenten der drei grossen wirtschaftlichen Interessen-
verbände der Schweiz, nämlich des schweizerischen Sandels-
und Industrievereins, des schweizerischen Handwerker- und
Auswärtiges. Staalsvfcrträge. 855
Gewerbevereins und des schweizerischen Bauernverbandes,
sowie die ständigen Sekretäre derselben, nebst einigen Vertre-
tern spezieller Produktionszweige zu einer Konferenz zusammen.
Diese Konferenz hat das Programm für die innerhalb der
Verbände zu veranstaltenden Erhebungen zu den Vorarbeiten
für Revision der Handelsverträge zu berathen. Auf Grund
dieses Programms soll dann die Angelegenheit in den Sek*
tionen und Zweigvereinen der Verbände einlasslich behandelt
werden, wobei zwei Hauptfragen zu beantworten sein dürften :
einerseits die wirthschaftlichen Folgen der Handelsverträge,
andererseits die Wünsche und Begehren für die Gestaltung
unseres eigenen Zolltarifs. Die ständigen Sekretariate werden
die nöthige Anleitung für eine einheitliche und zuverlässige
Behandlung der gestellten Fragen zu geben und das gewon-
nene Material zu sammeln und zu verarbeiten haben. Bis
zum L Juli 1900 müssen die Verbände ihre Eingaben fertig
stellen und einreichen. Der Prüsidialkonferenz dürfte sodann
die weitere Aufgabe zufallen, die Forderungen der drei
axosscn Interessengruppen thunlichst in Uebereinstimninng
zu bringen und einen gutachtlichen Bericht an den Bundes-
rath zu erstatten. Es ist also vorauszusehen, dass bis zum
Herbste 1900 dem Bandesrath die Ergebnisse der Erbebungen
und Berathungen in den Verbänden zur weiteren Behandlung
vorgelegt werden können.
Die Regierung der Vereinigten Staaten von Nordamerika
bat die Artikel. 8 und 12 des Niederlassungs« und Handels-
vertrages vom 25. November 1850, wonach beide Staaten
steh in unbedingter Weise die Rechte der. Meistbegünstigung
in Handels- und Zollsachen zusichern, gekündigt. Der BundeB-
»ath hat beschlossen, diese theil weise Kündigung anzunehmen.
Die genannten Artikel bleiben noch bis und mit depi 23. März
1900 in Kraft.
356 Jahresbericht 1899.
Inzwischen fand eine allerdings in diesem Sinne nur
provisorische Verständigung über den Sinn der sogenannten
Meistbegünstigungsklausel im jetzigen Vertrag von 1850 statt.
Die Regierung der Vereinigten Staaten hatte durch ein Ab-
kommen mit Frankreich die Zollansätze für einige Erzeug-
nisse (Wein, Spirituosen, Wermuth, Weinstein, Weinhefe,
Gemälde, Zeichnungen und Bildhauerarbeiten) ermässigt,
wogegen Frankreich seinen Minimaltarif auf eine Reihe von
Erzengnissen der Vereinigten Staaten ausdehnte. Der Mit-
genuss der genannten amerikanischen Zollermässigungen, wo-
von diejenigen für Spirituosen einiges Interesse für uns
hatten, wurde uns mit dem Bemerken verweigert, dass die
Wirkung der Meistbegünstigungsklausel . sich auf diejenigen
Konzessionen beschränke, die einem dritten Lande unentgelt-
lich gemacht werden, wogegen die an Kompensationen ge-
knüpften durch ebensolche erkauft werden müssten. Der
Bundesrath war jedoch im Fall, die Regierung der Vereinig-
ten Staaten zu überzeugen, dass uns die Artikel 8, 9, 10
und 12 unseres Vertrages, gemäss ihrer besondern, von der-
jenigen der andern Verträge abweichenden Redaktion und
nach der dokumentierten Absicht der Unterhändler, den un-
entgeltlichen Mitgenuss aller Konzessionen an Drittstaaten,
ohne Ausnahme, garantiren. Indem die genannte Regierung
dies schliesslich anerkannte, behielt sie sich immerhin vor
den Vertrag zu kündigen, wenn es nicht gelinge, sich über
eine Aenderung der Klausel zu verständigen. Diese Kündig*
ung ist nnn also erfolgt.
Der mit Chile abgeschlossene Handelsvertrag vom
31. Oktober 1897 ist in der E. G. S. XVII, 70 abgedruckt
Eine Erklärung über die Geleitscheine im Getränkever-
kehr mit Frankreich vom 15. März 1899 findet sich in
E. G. S. XVII, 85.
Auswärtiges. Konkordate. Kongresse. 857
Die Verträge, die mit Argentinien and Paraguay
abgeschlossen sind, sind von den dortigen Parlamenten noch
nicht ratifizirt worden. Dagegen ist der Handelsvertrag mit
Japan vom 10. November 1896 am 17, Juli 1889 vollstän-
dig in Kraft getreten und damit auch die bisherige schwei-
zerische Konsular-Jurisdiktion in Japan dahingefallen. Neue
Unterhandlungen über Handelsverträge sind angebahnt wor-
den mitC an ad a und demOra nje -Frei Staat, welcher
letztere sich bereits dazu herbeigelassen hat; die Verhand-
lungen mit Portugal und Bulgarien dauern fort.
Konkordate. Glarus und St. Gallen haben ein sol-
ches über die Schifffahrt auf dem Walensee abgeschlossen,
das nach der in diesem Punkte herrschenden Regellosigkeit
schwerlich in die Eidgenössische Gesetzessammlung gelangen
wird.
Kongresse. Ueber einen vorbereitenden Arbeiter-
schutz-Kongress wird von der Gazette de Lausanne
Folgendes berichtet :
cLe 3 mai, & Berlin, une Conference de partisans de la
protection onvriere s'est reunie ä l'Hötel des architectes pour
diacuter la creation d'une nouvelle union internationale, de-
btinee ä unifier et & deveiopper la legislation protectrice du
travaiL Des propositions precises, emanant du comitg beige,
irat servi de base ä la discussion, laquelle a abouti au vote
d'une resolution et ä l'election d'un comite provisoire. En
outre, le voöu a ete" exprime* par l'assemblee que le siege du
futar ofrice international du travail füt etabli en Suisse.
Trois orateurs ont parle* en faveur de ce choix : MM. de
Berlepsch, ancien ministre d'Etat ; Dr. Sombart, professeur ä
Breslau; et Max Hirsch. Personne n'a combattu leur pro-
Position- Ainsi s'ouvre pour la Suisse la perspective de de-
Tenir le siege d'un cinquieme bureau international si jamais
quelques Etats parviennent ä s'entendre sur ce point. II
358 Jahresbericht 1899.
sera au reste plus facile de creer un office international du
travail que d'assurer l'efficacite* de son action.
II a 6te declare en effet & Berlin qae le futur bureae
ne devait point se borner ä centraliser et ä distribuer les
reuseign einen ts concernant la protection ouvrierc: bn exigc
qu'il se livre ä une active propagande. Ce serait lä une
mission äpineuse, & cause de la Jalousie avec laquelle chaque
Etat se ferme & l'ingerence de l'Gtranger.
La Conference de Berlin ne s'est d'ailleurs pas occnpee
des difticultes pratiques auxquelles se heurtera vraisembla-
blement Je bureau international, et il est probable qu'elle ne
s'y serait point arretee si on les lui avait objectees. Le
propre des adeptes de la protection ouvriöre est d'avoir ane
grande confiance dans la reglementation. Au surplus, la pre-
sence de professeurs öininents, tout en donnant un grand
eclat & la räunion du 3 mai, lui conferait en ineme temps un
certain caractere de Manifestation acadämique. Le comite
qui y a ete 6lu couipte parmi ses vingt membres les profes-
seurs de science sociale les plus en vue en Alleniagne, MM.
Schmoller (Berlin), Sombart (Breslau), Hitze, Wagner, Bren-
tano (Munich).
En fait de personnages politiques, ce meine comite pos-
söde M. de Berlepsch, M. Lieber, chef du centre, et les de-
putes Schmidt (Elberield) et Bassermann (Mannheim). Les
pasteurs Stöcker et Naumann y flgurent aussi, et il n<-
man que ä la collection de couleurs et de nuances represen-
tees dans le comite que les socialistes. Invites k la confe-
rence, ils n'y ont point paru. Apparemmeat ils estiment que
MM. de Berlepsch et consorts chassent sur leurs terres et
ils ne veulent pas se comrneitre avec ces braconniers.
Die gleiche Zeitung berichtete über die internatio-
nalen Temper enz-Kongresse, welche bisher statt-
fanden, Folgendes:
Inauguree ä Anvers en 1885, Institution des congres
internationaux contre Tabus des boissons alcooliques s'est des
lors consolidee. En 1895, le cinquieme congres ätait tenu ä
Bal<;; deux ans plus tard, le sixieme avait Heu ä Bruxelles;
Auswärtiges. Kongresse. 359
enfin, le septieme sera ouvert ä Paris le 4 avril prochain,
sous la presidence d'honnenr de M. le sönateur Roussel,
menibre de l'Academie de mädecine.
Au 15 mars, le chiffre des adhesions atteignait 700. Le
docteur Legrain, raeMecin en Ghef des asiles d'aiienäs de la
Seine, preside le comite d'organisation, tres nombreux, dans
lequel on remarque en particulier les noms snivants : B6dorez,
directeur de Penseignement primaire & Paris; Brouardel,
doyen de la Facuite* de mädecine; Dr. Brousse, conseiller
mnnicipal de Paris; Claretie, membre de l'Academie francaise;
labbe Lemire, d6put6; Herle d'Aubignä, pasteur; Miilerand,
deputö; Monod, conseiller d'Etat, directeur de PAsaistance et
de Pbygiene publiques en France; Thuillier, präsident du
Conseil g6n6ral de la Seine ; Dr. Tissiä, Präsident de la Ligue
jrirondine de l'äducation physique; Mgr. Turinaz, e>eque de
Nancy.
Voici le programme des questions soumises aux assem«
blees gtaerales du congres:
Mardi 4 avril. — Le rdle de la jeunesse universitäre
dans la lutte contre Palcoolisme. Le röle des etablissements
dVnseignement secondaire (lycees, Colleges, gymnases, etc.)
dans la lutte antialcöolique.
Mercredi 5 avril. — De Penseignement antialcöolique
apres Päcoie primaire. Des soctätes scolaires et post-scolaires
de temperancc. Preparation du personnel enseignant ä la
lutte antialcöolique dans l'ecole et hors de Pecole.
Jeudi 6 avril. L'alcoolismo et les conditions du travail
chez Pouvrier.
Vendredi 7 avril. D'une entente entre les Etats pour
la protection des races indigenes contre l'alcool. De la lutte
antialcöolique dans Parmöe et par Parmee.
La discussion ne porte plus sur la qucstion, aujourd'bui
elucidäe et trancbee, de rinflucnce pernicieuse de Palcool pris
& doses mode>6es. Cela ne veut pas dire que le congres ne
renscignera pas & cet 6gard ceux de ses membres qui nc
•>ont point au courant de l'ätat actuel de la question. Large-
ment ouvert & toutes les opinions, le congres pratique le däbat
contradictolre d'autant plus volontiers qu'il a reponse & tout.
360 Jahresbericht 1899.
II n'y a pas un congr&s oü l'abstinence complete des
boissons distillees ou formendes subit quelque assaut, qui
ne lui fournissc l'occasion bienvenue de produire ses argu-
menta. Ainsi, k Bruxelles, M. Clement-Lyon ß'est livr£ 4
l'apostrophe suivante, qui traduit probablement le sentiment
d'une grande partie du public:
Avez-vous, Messieurs, la conyiction que votre abstinence
complete eloignera toujours de vous les maux physiques et
moraux inhärente k l'humanitä ? Avez-vous la conviction que,
voua et vos adeptes, prolongerez d'un jour seulement, par
cet interminable caräme, votro existence, que vous en arri-
verez enfin k vivre mieux et plus longtemps que nous autres?
Sie vous avez cette conviction et si vous me fournissez
quelque preuve tangible de ces incommensurables avantages.
alorö j'aurai moins d'hesitation k m'infliger le m&me renale.
Mais si vous n'avez pas cette conviction — et, k mon sens,
vous ne pouvez l'avoir — vous vous serez privfo, vous et
vos disciples enrägimentäs, d'une bonne part des jouissances
que Dieu a mises liberalement k la disposition des hommes;
vous vous en serez prives sans profit pour vous et les vötres;
et ce seront ceux qui en auront joui avec sagesse et mode-
ration qui auront 6te les mieux lotis en ce bas monde.
S£ance tenante, il a 6t6 räpondu k M. Clement-Lyon
par les expäriences des sociätes d'assurance anglaises. Fa-
miliers aux abstinents, les resultats constatäs en Angleterre
sont moins connus du grand public. L' Abstinence, l'excellent
Journal qu'ädite k Lansanne M. le professeur Hercod, publiait
precisäment dans son dernier numero les chiffres guivants,
communiquäs par la Sceptre Life Association de Londres:
Section abstinente. Section generale.
Ann^es Decäs Dec&s o/0 Däcös Däces %
prövus effectifs prävus effectifs
1884-1888 195 HO 56,41 466 368 79
1889-1893 312 184 58,97 564 466 82,62
1894-1898 419 228 54,42 628 498 79,30
Total pour 15 ans "926 522 56,37 1658 1332 80,34
II est k remarquer que les assures des deux sections
appartiennent presque exclusivement aux äglises non con-
Auswärtiges. Kongresse. 361
formistes et ont tous une vie regime et sobre. C'est donc
l'abstinence totale qui vaut ä la section abstinente, relative-
ment ä l'autre, une diminution de deces de 34 pour cent.
La compagnie Sceptre Life Association en est an reste telle-
ment persnadee qu'elle accorde aux assures abstinents une
reduction de 20 pour cent sur les primes ä payer. Ce fait
n'est d'ailleurs nullement isolö. L'abstinence augraentant les
chances de longävite* et diminuant les chances de maladie et
d'accident8, les abstinents s'assurent facilement en Angleterre
am conditions favorables que justifie leur juste attente d'une
vie plus longue et moins snjette aux dßsordres organiques.
D'apres une communication äcrite faite au congres de Paria
par H. Drysdale, roödecin Consultant de l'höpital m&ropoli-
tain de Londres, la g£neralitö des societäs d'assurance sur
la vie admettent que les chances de longevitä des abstinents
sont de 30 pour cent supeneures a Celles indiqu6es dans les
tables de tuortalite. Quant aux sociötßs d'assurance contre
les accidents, elles consentent une räduction de 10 pour cent
ä leur» meaibres abstinents.
Le tarif de faveur accorde* en Angleterre aux assuräs
abstinents constitue une preuve «tangible» des avantages
physiques de l'abstinence. Aussi les abstinents suisses re-
grrettent-ils vivement qu'un fait aussi bien ätabli n'ait pas
dätermine1 les Chambres föderales ä prävoir dans le projet de
loi sur les assurances sociales les concessions a faire aux
pereonnes qui renoncent aux boissons alcooliques. II est en-
core tempß, il est vrai, d'introduire cet amendement dans la
loi si Ton tient ä ne pas lui aliener les suffrages des citoyens
acquis & l'abstinence.
Le congres de Paris n'a pas ete renvoye" ä l'annäe 1900,
comrae l'avaient dem and 6 quelques membres du congres de
Brnxeiles, parce que sa coi'ncidence avec l'exposition et avec
d'autres congres aurait risqu6 de le faire passer inapercn.
D'ailleurs, la British Temperance League se propose de con-
Toquer ä Londres pour juin 1900 un congrös universel de
temperance.
Ein seh weizerischer Temperenz-Kongress fand
im Juli in Bern statt, und eine weitere Konferenz dieser Art,
362 Jahresbericht 1899.
die auch positive Schritte zur Revision des Alkohol-Gesetzes zu
thun beabsichtigt,, wird im September in Lnzern stattfinden.
Ueber die Vogel mörderei in Italien, die nach-
gerade eine dringende internationale Angelegenheit werden
wird, wenn nicht diese Thiere ausgerottet werden sollen, be-
richtete die N. Z. Zeitung zn Ende des vorigen Jahres Fol-
gendes :
r
«Unser Mailänder Korrespondent schreibt uns hierüber:
Das Einfangen der Vögel mit den grossen fahrenden Netzen
wäre in der Lombardei nur in der Zeit vom 20. September
bis zum 20. Oktober gestattet. Wie so manche andere, wird
aber auch diese Vorschrift ungeniert umgangen. Die Bauern
gehen des Nachts mit Ihren Netzen über Feld und überrum-
peln die armen Vögel im Schlaf, so Tausende von Thierchen
einfangend und hinmordend. Einer besonders reichen Beute
rühmten sich neulich in einer Wirthschaft fünf von dieser
Arbeit zurückgekehrte bergamaskische Bauern. Sie massen
geradezu mit Doppelzentnern! Nach ihrer Aussage haben
sie in den letzten zwei Wochen neuu Doppelzentner Vögel
nach Hause gebracht. Rund 3600 Dutzend *= 43.200 dieser
niedlichen Thierchen wurden durch diese fünf Bauern in so
kurzer Zeit getödtet und auf den Markt gebracht! Schreck-
lich! Das Dutzend wird durchschnittlich mit 60 Centimes
bezahlt, denn es ist immer genügend Nachfrage da. Der
Vogelraord ist also auch ein sehr lohnendes Handwerk, nnd
darum wird es um so eifriger betrieben. Der «Corriere della
sera» fragt, wann wohl Italien einmal dazu gelange, gleich
andern Staaten Schutzgesetze für Vögel aufzustellen und —
durchzuführen ?
Solche Nachrichten werden unter den Völkern nördlich
der Alpen eine förmliche Erbitterung gegen die Italiener
hervorrufen; denn der Vogelmord ist ein Gegenstand inter-
nationalen Interesses, weil andere Völker darunter zu leiden
und deshalb ein Recht haben, gegen das Verbrechen der
Italicner vorzugehen. Internationale Schutzgesetze nützen
nichts, weil sie in Italien einfach nicht gehandhabt werden.
Auswärtiges. Projekte. 363
ßo wenig wie unser schweizerisches Vogelschutzgesetz im
Kanton Tessin. Da kann nur die Erziehung und die Schule
helfen. Indessen, bis von dieser Seite Hilfe kommt, sind
wohl alle Wandervögel ausgerottet. Wir spüren ja jetzt
schon, wie deren von Jahr zu Jahr weniger zu uns kommen
und wie unsere Wälder nach und nach veröden. Ein Kreuz-
zug der mittel- und nordeuropäischen Völker gegen die
Vogelinörder könnte allein der gänzlichen Ausrottung unserer
Sing- und Wandervögel Einhält thun.»
Einen solchen Kongress sollte die Eidgenossenschaft ein-
berufen.
Endlich hat der zürcherische «Irrenrechts-Re-
formverein» an die kantonalen Regierungen, folgende
Eingabe gerichtet, die gegen ein beabsichtigtes Konkordat
über diesen Gegenstand sich ausspricht.
«Der unterzeichnete Irrenrechts-Reformverein hat sich
zum Ziele gesetzt, die jetzt herrschenden, ganz unhaltbaren/
Zustände im Irrenwesen aufzudecken und nach Möglichkeit
zu beseitigen. Zu diesem Zwecke verlangt er insbesondere
die Schaffung eines die Rechte der als Geisteskranke zu er-
klärenden Personen in gebührender Weise schützenden Irren -
rechts-Gesetzes. Nun hat der Irrenrechts-Reform verein in
Erfahrung gebracht, dass den verschiedenen Kantonsregier-
ungen der Entwurf zu einem interkantonalen Konkordate
betr. den Schutz und die Beaufsichtigung der Geisteskranken
mit der Einladung zum Beitritte zu diesem Konkordate über-
mittelt worden ist. So sehr der unterzeichnete Verein eine
wahre und durchgreifende Reform auf dem Gebiete des
Irrenrechtswesens zwar begrüssen würde, ebensosehr muss
er sich aber verwahren gegen einen Versuch, durch ein un-
zulängliches Palliativ-Mittelchen die Irrenrechts-Reform auf
Jahre hinaus lahm zu legen und die Schaffung eines umfas-
senden Irren-Gesetzes, das hauptsächlich den Schutz der
Irren, beziehungsweise derjenigen, die für geisteskrank er-
klärt werden wollen, im Auge hat, zu verhindern. Als einen
solchen Versuch, die wahre Irrenrechts-Reform hintanzuhal-
364 Jahresbericht 1899.
ten, erblickt nun der unterzeichnete Verein den vom Vereine
der Schweizerischen Irrenärzte hervorgebrachten Entwarf
eines interkantonalen Irren-Konkordates. Es ist nämlich ganz
klar, daBS die Schaffang eines blossen Inspektorates im Sinne
des Konkordates die hauptsächlichsten und schlimmsten Uebel-
stände im Irrenwesen ganz und gar nicht zu beseitigen im
Stande wäre. Insbesondere hat das Konkordat die oberste
Forderung, welche auf den Schutz der Gesunden vor
widerrechtlicher Einsperrung in Irrenanstalten
abzielt, gänzlich ausser Betracht gelassen.
Wie sehr aber gerade dieser Schutz in allererster Linie
einer gesetzlichen Normirung bedarf, das zeigt Ihnen die
beiliegende Broschüre unseres Vereinspräsidenten, betitelt:
«Dunkle Punkte im Irrenwesen». Der Irrenrechts-Reform-
verein wäre Ihnen zu grösstem Danke verbunden, wenn Sie
diese Broschüre, in welcher die Urtheile von einer Beine
der bedeutendsten wissenschaftlichen Autoritäten auf dem
Gebiete der Psychiatrie aufgenommen und verarbeitet sind,
studiren wollten. Der unterzeichnete Verein ist überzeugt,
dass Sie alsdann den Beitritt zu dem fraglichen Konkordate
verweigern und mit den Bestrebungen zu einer möglichst
umfassenden Irrenrech ts-Gesetzgebung im Sinne der von uns
geschilderten und befürworteten Tendenzen sympathisiren
werden.»
Laut «Times» wird eine Abordnung von Mitgliedern des
englischen Parlaments demnächst Lord Salisbury beantragen,
es möchte Belgien benachrichtigt werden, dass England mit
den Zucker produzirenden Ländern einen Vertrag abschliessen
werde, durch den die Zuckerprämien abgeschafft werden.
Als Gegenwert würde den betreffenden Staaten volle Handels-
freiheit in England, Irland und Indien gewährt.
Der wichtigste Kongress des Jahres war die Haager-
Conferenz über völkerrechtliche Fragen, welche am
18. Mai unter dem in solchen Angelegenheiten bereits üblich
gewordenen Vorsitze von Russland eröffnet wurde und bis
in die Mitte des Juli andauerte.
Auswärtiges. Die fiaager-Konterenz. 365
Dieselbe hat zwar ihren etwas zu pompösen Titel «.Con-
ference du desarmement», unter dem sie durch das im letzt-
jahrigen Jahrbuche veröffentlichte Circular, die sogenannte
«Eacyclica de pace aeterna», ins Leben gerufen und von
allen Friedensvereinen und derartigen Schwärmern mit allzu
Torzeitigem Jubel begrüsst worden war, wie leicht voraus-
zusehen war, keineswegs gerechtfertigt. Sie ist sogar nicht
einmal so weit gelangt, wie der ehemalige verunglückte Ar-
beiterschutzcongress in Berlin, nämlich die allgemeine Ent-
waffnung als «desirable» zu erklären und auch in einigen
speziellen Fragen noch hinter den allergrössten Erwartungen
zurückgeblieben. Es wäre jedoch dessenungeachtet nicht ganz
gerechtfertigt, von einem Misserfolg zu sprechen, sondern es
ist immerhin ein guter Anfang; nicht gerade zu einer heute
noch untunlichen Beseitigung des Kriegs, sondern zu einer
sehr möglichen Verbesserung des geltenden Kriegsrechts ge-
macht worden, welche, wenigstens theil weise, die gleiche
Wirkung haben wird. Wir verweisen im Allgemeinen auf unsern
vor der Conferenz geschriebenen Aufsatz «Völkerrechtliche
Fragen der Gegenwart», dessen Voraussetzung en sich erfüllt
haben^ sowie auf den Aufsatz «Krieg und Frieden» im Jahr-
buch VIII, welcher bereits die Möglichkeiten einer schieds-
gerichtlichen Erledigung von staatsrechtlichen Streitigkeiten
so definirte, wie sie nun aeeeptirt worden sind. Die parla-
mentarische Conferenz von 1892, welcher diese Vorschläge vor-
gelegt wurden, hätte sie schon damals eher annehmen sollen,
statt ihre eigenen Utopien weiter zu verfolgen, die bisher zu
gar nichts geführt haben.
Ueber den äusseren Bestand der Konferenz wurde
zunächst bekannt, dass eine Vertretung des päpstlichen
Stuhles in Folge von Widerspruch Italiens nicht zugelassen
wurde. Ebenso war die südafrikanische Republik zu unserem
366 Jahresbericht 1899.
Bedauern, wahrscheinlich unter gleichem Widerspruch Eng-
lands, nicht vertreten ; ebenso der Oranje-Freistaat, dessen
Souveränität doch nicht angezweifelt werden konnte. Es
wäre unseres Erachtens eine Ehrensache Hollands gewesen,
auf dessen Boden sich die Konferenz versammelte, für diese
seine Stammesgenossen energisch einzutreten. Die kleinen
halbsouveränen Staaten Europas, wie San Marino, Monaco
und Liechtenstein fehlten natürlich auch; dagegen war Bul-
garien vertreten, was eine kräftigere Regierung, als die
türkische, nicht zugestanden haben würde. Von den außer-
europäischen Staaten war nur die Vertretung der nord-
amerikanischen Union von Bedeutung. Die Schweiz hatte,
nach dem Muster der meisten anderen Staaten, eine aus
militärischen und diplomatischen Vertretern zusammengesetzte
Kommission von drei Mitgliedern mit einem Sekretär nach
dem Haag abgeordnet und ihr eine schriftliche Instruktion
mitgegeben, welche sich grösstenteils auf eine Verbesserung
des geltenden Kriegsrechts bezog.
i. Die wesentliche Arbeit wurde, wie immer bei solchen
-Kongressen, von den Kommissionen und den dabei beschäf-
tigten Rechtsgelehrten geleistet, während die Diplomaten
von Beruf mehr die dekorative Seite der Sache vertraten
•und bei den. Militärs die natürliche Neigung vorwaltete, sich
in der Ausübung ihres Berufes nicht allzusehr beschränken
zu lassen.
Die Coulissen des Kongresses füllten eine Schaar von
diensteifrigen Journalisten, die so viel als möglich aufzu-
fangen . und an ihre Blätter zu berichten versuchten,
wobei, in Folge des Ausschlusses <ier Oeffentlichkeit, be-
sonders anfänglich, oft Vermuthungen und von den Sekiuv-
tären und Attaches abgelauschte Notizen an die Stelle von
Auswärtiges.. Die. Haager-Konferenz. 367
wirklichen Nachrichten traten. Ausser ihnen hatte sich auch
• • • . .
eine Art von Nebenkongress aus besonders eifrigen «Friedens-
freunden» Im Haag eingefunden, der in Tischgesellschaften
und mittelst Vorträgen eine Vertretung der «öffentlichen
Meinung» zu organisiren versuchte, was ihm jedoch nur in
beschranktem Masse gelang.
*
> . •
Ueber die Resultate der Verhandlungen, die bis zupri
Erscheinen des Jahrbuches in offiziellen Aktenstücken vorliegen
werden, ist in aller Kürze Folgendes jeu sagen:
Die drei von der Konferenz beschlossenen Konven-
tionen betreffen die Schiedsgerichte, die Kriegsgebräuche
im Landkrieg und die Anwendung der Genfer Konvention
auf den Seekrieg. Sie wurden nicht unterzeichnet von Deutsch-
land, Oesterreich -Ungarn, China, Grossbritannien, Italien,
■ • **
Japan, Luxemburg, Serbien, Schweiz und der Türkei. Die
Vereinigten Staaten von Amerika unterzeichneten nur die
Konvention über Schiedsgerichte , jedoch unter Vorbehalt.
Rumänien unterzeichnete die Konvention über die Schieds-
gerichte unter Vorbehalt. Die drei Erklärungen, betreffend
das Verbot, Explosivkörper aus Ballons zu schleudern, Stick-
gase verbreitende Geschosse, sowie Kugeln in der Art der
Dam-Dum-Kugeln zu verwenden, wurden nicht unterzeichnet
von Deutschland, Oesterreich-Ungarn, China, Grossbritannien,
Italien, Japan, Luxemburg, Serbien und der Schweiz, wäh-
rend Amerika nur die Erklärung, die Ballons betreffend,
unterzeichnete.
Es kam auch keinerlei Verständigung über eine gäuz-
liche oder zeitweise Abrüstung zu Stande, und in ^dieser Hin-
sicht konnte man,' insofern man nämlich der russischen Pro-
klamation vom vorigen Jahre einen grösseren Wertb, als den
&6ä Jahresbericht 1899.
einer Einleitung zu einem Kongress betreffend Kriegsrecht
beilegte (was von irgend einer Staatsregierung schwerlich
geschehen ist), von einem Fehlschlagen des Kongresses,
von getäuschten Hoffnungen und einem Schlag in's Wasser
sprechen. In Bezug auf das Kriegsrecht ist dies aber keines-
wegs der Fall, sondern es liegt wenigstens ein Anfang zu
den Verbesserungen vor, die wir vor dem Kongresse in dem
Artikel «Völkerrechtliche Fragen» und schon im Jahre 1892
in dem Artikel über «Krieg und Frieden und die Entschei-
dung völkerrechtlicher Streitigkeiten» als möglich bezeichnet
hatten. Es muss nun natürlich ein Fortgang in einer
weiteren, mehr technischen Konferenz erfolgen, welche zu-
nächst die erste Genfer-Konvention von 1864 wesentlich ver-
bessert, unter eine wirksamere Sanktion und Direktion stellt
und in geeigneter Weise dem Seekrieg anpasst. Das wird bei
einigermassen gutem Willen der Regierungen durchführbar
sein. Ebenso wird es möglich sein, aus dem Brüsseler-Projekt
von 1874 durch eine wiederholte eingehende Berathung einen
brauchbaren Vertrag über das Kriegsrecht civilisirter Völker
zu gestalten, und endlich ist es möglich, eine schiedsgericht-
liche Entscheidung völkerrechtlicher Streitigkeiten insoweit
zu erleichtern, dass eine Instanz hiefür zu fakultativer Be-
nutzung geschaffen wird. Ja, man kann sogar soweit gehen
(in Anpassung der Kongo-Konvention auf allgemeinere Verhält-
nisse), dass ein Vermittlungsversuch obligatorisch vor einem
jeden Kriege zwischen civilisirten Völkern stattfinden soll,
wobei es allerdings bleiben muss, wenn eine Ablehnung seitens
des einen oder anderen Theiles erfolgt.
Eine künftige Zeit wird in allem dem einen sehr grossen
Fortschritt der Civilisation erblicken, während die jetzige
Periode unter dem Einflüsse allzngrosser Hoffnungen und
einer beinahe phantastischen Auffassung der russischen Ini-
tiative diese Dinge zu abschätzig behandelt.
Auswärtiges. Die Haager-Konferenz. 369
Für die Eidgenossenschaft hätte besondere Be-
deutung die Verbesserung des Brüsseler-Projektes und zwar
in den drei Richtungen einer bestimmten Anerkennung des
sogenannten «Volkskriegs», sofern derselbe regelmässig
gefuhrt wird, des Schutzes der Eisenbahnen und anderer
Verkehrtfeinrichtungen vor jeder definitiven Erbeutuüg und
endlich des gleichen Schutzes für die Staats- und
Kantonalbanken.
Der wichtigste, aber am schwersten erreichbare ist natür-
lich der erste Punkt, und es zeigte sich leider bei dem Haager-
Kongress sogar eine grössere Abneigung der grossen Militär-
staaten und was noch bedauerlicher ist, eine grössere Isoli-
rung der Schweiz, als bei dem Kongresse von 1874. Welche
Ursachen namentlich die kleinen Staaten bewogen, die Schweiz
nicht besser zu unterstützen in einer Sache, die von gemein-
samem Interesse ist, und ob eine diesfällige Verständigung
noch nachzuholen sein wird, müssen wir hier unerörtert lassen.
Vielfach beruht übrigens die Sache auf Missverstand.
Wir meinen nicht unter vertragsmässigem Volkskrieg einen
regellosen Landsturm, der sich an keine Kriegsgesetze und
civilisirten Gebräuche bindet und unter keinem Oberbefehl
steht; eine solche Landesverteidigung ist in allerletzter
Linie wohl denkbar, aber nicht von sehr grosser Wirkung
gegen moderne Truppen, und jedenfalls ein solcher Akt
äusserster Nothwehr und Verzweiflung, dass in einem dor-
tigen Falle auch das Risiko harter Gegenwehr und Repression
von Seite des Angreifers mit in den Kauf genommen werden
mnss. Dessenungeachtet aber bedürfen die jetzt bestehenden
Artikel 9 und 10 der sogenannten Brüsseler-Konvention einer
Verbesserung, und muss schliesslich — da die Unterschiede
zwischen Armeen, Milizen und Freiwilligen immer mehr ver-
schwinden werden — je der Krieg als ein «Krieg», mit Gel-
24
370 Jahresbericht 1899.
tung der allgemeinen Kriegsregeln, anerkannt werden, der
überhaupt nach denselben geführt wird. Das ist das unter-
scheidende Merkmal; nimmt man das nicht an, so würde man
auch dem jüngsten amerikanischen Krieg mit zu diesem Zweck
geworbenen Freiwilligen leicht die Anerkennung versagen
können. Ebenso wird es nicht erlaubt sein, selbst Auf-
ständische, oder Halbbarbaren, wie die Tagalen auf den Phi-
lippinen, ganz willkürlich zu behandeln, wenn sie ihrerseits
einen ordentlichen Oberbefehl haben und die Kriegsgebräuche
respektiren. Auch die sonst sehr difficile Frage, inwieweit
ein Bürgerkrieg als ein Krieg im völkerrechtlichen Sinne zu
betrachten sei, würde damit einer Lösung wenigstens naher
gebracht werden, und es könnten Justifizirungen, wie die der
13 ungarischen Generale in Arad, über die man nachher er-
röthen muss, nicht mehr vorkommen. Es bleibt eine schöne
Aufgabe der Schweiz, diese Gesichtspunkte auch in der Zu-
kunft festzuhalten; die ihrer Natur und Geschichte ent-
sprechen und keineswegs etwas Excessives, sondern ein F o rt -
schritt des geltenden Kriegsrechts sind. Sie miiss dafür
aber in der öffentlichen Meinung mehr Stimmung zu machen
suchen, als es bisher geschehen ist, und auch bei den ande-
ren Staaten mehr Anknüpfung suchen. Denn eine Abweisung
in einer solchen Frage ist immer ein schlimmeres Präzedens
für einen allfälligen Krieg, als ein völliges Schweigen darüber.
Wir hätten die ewige Neutralität auch nicht erlangt, wenn
sich nicht Pictet de Rochemont, ein Mustervertreter wie
er allerdings nur selten vorkommt, die Fürsprache eines
mächtigen Staates am Pariser-Friedenskongress von 1815 zu
verschaffen gewusst hätte, und es wäre unseres Erachtens
jetzt die Aufgabe der Vereinigten Staaten von Amerika, uns
darin wirksam zu unterstützen, soweit es nicht von unseren
Nachbaren geschieht, mit denen darüber in erster Linie zu
verhandeln sein wird.
Auswärtiges. Die Haager-Konferenz. 371
Einstweilen und bis darin ein besserer Erfolg erzielt
wird, wird es Sache der Schweiz sein, ihr bestehendes Land«
sturmgesetz so umzuarbeiten, dass es alle eventuell Krieg»
fährenden einschliesst und unter das Kriegsrecht stellt,
was wohl möglich sein wird, und daneben die Etappen-
Kommandos so einzurichten, dass jeder Volkskrieg sofort als
ein gänzlich organisirter und regelmässig geführter erscheint.
Wir müssen uns jetzt so gut helfen, als wir können, bis in
dieser Richtung ein besserer Moment erscheint.
Das Schlassprotokoll des Kongresses enthält fünf
Wünsche: 1. Die Konferenz ist der Ansicht, dass eine Be-
schränkung der militärischen Lasten, welche gegenwärtig die
Welt bedrücken, in hervorragender Weise wünschenswert ist
für die Förderung des materiellen und moralischen Wohlbefindens
der Menschheit. 2. Die Konferenz spricht den Wunsch aus,
dass die Frage der Hechte und Pflichten der Neutralen auf
daa Programm der nächsten Konferenz gesetzt werde. 3. Die
Konferenz spricht den Wunsch aus, dass die auf die Art und
das Kaliber der Gewehre und der Marinegeschütze bezüg-
lichen Fragen, soweit sie durch die Konferenz bereits ge-
prüft sind, Gegenstand des Studiums der Regierung bilden
würden mit dem Ziele, eventuell zu einer einheitlichen Lösung
mittelst einer späteren Konferenz zu gelangen. 4. Indem
die Konferenz in Erwägung zieht, dass seitens der Bundes-
regierung der Schweiz bereits vorbereitende Schritte zur Re-
vision der Genfer Konvention gethan sind, spricht sie den
Wunsch aus, dass in einem kurzen Zeitraum zur Zusammen-
bemfnng einer Specialkonferenz geschritten werde, welche
zum Zwecke die Revision dieser Konvention hat. 5. Ausser-
dem hat die Konferenz, abgesehen von einigen Delegirten,
die sich der Stimmabgabe enthielten, einstimmig den Wunsch
372 Jahresbericht 1899.
ausgedrückt, den Vorschlag, welcher bezweckt, das Privat-
eigentum im Seekrieg für unverletzlich zu erklären, und
ferner den Vorschlag, die Frage des Bombardements von
Hafenplätzen, Städten nnd Dörfern durch feindliche Flotten
zu regeln, einer Prüfung dnrch weitere Konferenzen zu über-
weisen. Das SchlusBprotokoll ward durch die sämmtlichen be-
vollmächtigten Delegirten unterzeichnet. Es hebt hervor, dass
die Delegirten beständig von dem Wunsche geleitet waren,
in möglichst erschöpfender Weise die hochherzigen Ideen des
Urhebers der Konferenz zu verwirklichen.
Ueber den ursprünglichen angeblichen Hauptzweck der
Konferenz liess sich der berühmteste Schriftsteller der Gegen-
wart, Graf Tolstoi, wie folgt vernehmen:
«Diese Konferenz kann nichts anderes sein nnd ist nichts
anderes als eine der heuchlerischen Institutionen, deren Ziel
nicht die. Erreichung des Friedens nnd die Milderung der
Uebel des Militarismus sei, sondern die im Gegentheil be-
zwecke, die Anfmerksamkeit von dem wahren Heilmittel ab-
zulenken. Was bat es für einen Zweck, die Rüstungen um
ein Geringes zu vermindern? Wenn dergleichen möglich ist,
warum nicht gründlich reduziren? «Oder warum nicht an
Stelle von Armeen Ringkämpfer setzen?» Mögen David und
Goliath internationale Affairen entscheiden! Während der
Belagernng von Sewastopol machte ein Fürst S. S. Urossow,
ein tapferer Offizier nnd vortrefflicher Schachspieler, dem
Chef der Garnison, General Sacken, den Vorschlag, die Frage,
wem die 5. Bastion, welche wiederholt unter grossen Ver-
lusten bald der einen, bald der andern Seite zugefallen war.
gehören solle, nicht durch Kämpfen, sondern durch Schach-
spiel zu entscheiden. General Sacken ging auf den Vorschlag
nicht ein, weil er wusste, dass die Engländer, wenn auch die
Russen im Schachspiel gewännen, doch die Bastion besetzen
würden. So steht es mit unseren Mächten. Sie können ihre
Armeen nicht verringern, weil sie nicht sicher sind, dass
nicht eines Tages ein neuer Napoleon oder ein nener Bismarck
Auswärtiges. Die Haager-Konferenz. 373
ohne Rücksiebt auf die Verträge mit Gewalt nehmen will,
was er zu haben wünscht. Was mit Gewalt genommen wor-
den ist, kann nur mit Gewalt gehalten werden, und stets
sind die grossen Bataillone siegreich. Eine Regierung kann
riel im Innern ihres Reiches thnn, aber sie kann nicht die
militärische Stärke des Staates verringern, nnd zn diesem
Zwecke wird doch die internationale Friedenskonferenz be-
rufen. Eine Beschränkung der Rüstungen ist jetzt um so
weniger möglich, als alle Mächte sich neue Besitzungen zu
verschaffen suchen. Aus diesen Gründen kann die Friedens-
konferenz nicht die Fragen wegen der Nichtableistung der
Militärpflicht entscheiden.»
Das wird so ziemlich die Meinung der Grossstaaten ins-
gesammt sein.
Bei dem Eongress waren auch noch andere Ein-
gaben zahlreich eingelaufen, als bloss die offiziellen.
Die interessantesten waren die folgenden zweier t n r k i -
sehen Reformvereine:
«Le parti de la JeuneTurquie, quilutte depuis longtemps
poar l'oßuvre de paciücation qui vous preoecupe en ce rno-
ment, a pense qu'il 6tait de son devoir de faire enteadre sa
voix dans cette solenneile Conference de la paix.
Ce parti ne demande que des reformes g£ne>ales con-
formemeut aux vceux de tous ceux qui respectent l'indepen-
dance et l'integritä de l'empire ottoman.
Tous les sujets du sultan, musulmans et non-musulmans,
souffrent des memes iniquitäs et aspirent & une meine con-
dition morale comportant l'egalitä, la säcuritä de la vie et
Ie3 garanties anxquelles toute agglora6ration d'etres humaius
a droit en ce siecle.
Le parti de la Jeune Turquie qui ne fait aueune di-
stinetion de race, ni de religion, vous prie donc dans l'intäret
de la paix et pour le bien-etre de l'hnmanitö de vouloir bien
encourager la Conference ä obliger le sultan de revenir au
regime liberal qu'il avait inaugure lui-m§ine au commence-
ment de son regne, et au Systeme du gonvernement par la
Sublime-Porte avec un ministre responsable devant le pays
374 Jahresbericht 1899.
et Charge* d'assurer l'application des lois y compris la Consti-
tution.
Une oeuvre de rentable pacification est incompatible en
Turquie avec l'anarchie actuelle.
Venillez agräer, Messieurs, l'assurance de notre baute
consideration.
Comitö ottoman d'union et de progres.
Le Congres qui se tient en ce moment ä La Haye a an
but emlnemment humanitaire; il Statt donc naturel qne les
patriotes ottomans, sans distlnction de race et de religion,
aient pens6 & y organiser une se>ie de Conferences et une
propagande loyale en vue d'attirer l'attention dn monde ci-
vilis6 et de le renseigner sur l'ötat de plus en plus deplorable
de Tempire ottoman. Celles-ci seront conformes ä l'esprit da
Congres, c'est-ä-dire a l'esprit qui nous anime nons-m6mes,
et qui est la legalitä, le respect de tout ce qni contribue
au maintien de la paix en affranchissant les peuples malhen-
reux comme ceux d'Orient des volontes tyranniqnes qui les
äcrasent. Notre voix sera l'6cho tres attönuä des clatneurs
d'angoisse et d'6pouvante qui s'Slevent de tous les points de
la Turquie. A la conscience des nations, nous deinanderons
justice pour nous qui souffrons si cruellement, justice contre
celui qui nous traite au gr& d'une fantaisie aussi folle que
barbare. Nous demanderons justice pour les opprimes nos
freres, dont le plus auguste, S. M. Monrad V — le plus graod
martyr de ce siecle — git depuis vingt-deux ans dans l'igno-
minie et l'horreur d'une prison qui est sa tombe, justice
contre celui qui a pu commettre ce crime sans nom.
Nous entendra-t-on ? La pitiö des forts et des puissants
repondra-t-elle a nos cris de d6tresse? Certes, nons avons le
droit de l'esperer — car les deleguäs choisis par Abdul-Hamid,
au grand scandale du pays, ne pourront entraver notre ceuvre
patriotique. Et c'est pourquoi nous fcrons tout notre devoir,
puisant les energies voulues dans la lägitimite" de notre cause.
C'est pourquoi aussi nons avons la conviction que le
vaillant et noble peuple näerlandais, d'esprit si liberal, si
gene>enx, nous fera bon accueil. Et nous estimerons qne
Auswärtiges. Die Haager-Konferenz. 375
notre but ne sera pas loin d'&tre atteint si de ses sympathies
pour nous nait son Indignation pour qui nous persecute.»
Le comite* liberal ottoman.
Ueber die wichtige Frage derSchiedsgerichte
enthielt der ursprüngliche Entwurf der dritten Kommission
folgenden Wortlaut:
Conference Internationale de la paix.
Troisieme Commission. Projet de Convention pour le regle-
inent pacifique des Conflits internationaux, präsente ä la Com-
mission par le comite d'examen.
§ 1. Du maintien de la paix gänärale.
Ariicle 1. A l'effet de prßvenir autant que possible le recours
ä la force dans les rapports internationaux, les Puissances
signataires conviennent d'emploier tous leurs efforts pour
amener par des moyens pacifiques la Solution des differends
qui pourraient surgir entrc Etats.
§2. Des bong Offices et de la mödiation.
Article 2. Les Puissances signataires decident qu'en cas de
dissentiment grave ou de conflit, avant d'en appeller aux
armes, elles auront recours, en tant que les circoustances le
permettent, aux bons Offices ou ä la mädiation d'une ou de
plusieurs Puissances amies.
Article 3. Independamment de ce recours, les Puissances
signataires jugent utile qu'une ou plusieurs Puissances e*tran-
£T$res au conflit, offrent de leur propre initiative, en tant que
les circoustances s'y pr&tent, leurs bons Offices ou leur m£di-
ation aux fctats en litige.
Le droit d'offrir les bons Offices ou la mädiation appar-
tient aux Puissances etrangeres au conflit, meme pendant le
cours des hostillites. L'exercice de ce droit ne peut Jamals
etre considärä par l'une ou Fautre des parties en litige coinme
an acte peu amical.
Article 4. Le röle du Mediateur consiste dans la con-
ciliation des prätentions oppos&s et dans l'apaisement des
ressentiments qui peuvent s'etre produits entres le« Etats
en litige.
376 Jahresbericht 1899.
Artlcle 5. Les fonctions du Mediateur cessent da mo-
ment ou il est constate, soit par Pune des parties en litige,
soit par le Mediateur lui-m&me, que la transaction ou les
bases d'une entente amicale proposäes par lui ne sont pas
acceptäes.
Article 6. Les bons offices et la Mediation, soit sur le
recours des Parties en litige, soit sur Pinitiative des Puis-
sances etrangeres au conflit ont exclusivement le caractere
de conseil et n'ont point force obligatoire.
Article 7. L'acceptation de la Mediation ne peut avoir
pour effet, sauf Convention contraire, d'interrompre, de re-
tarder ou d'entraver la mobilisation et autres mesures pre-
paratoires ä la guerre.
Si eile intervient apres l'ouverture des hostilites, eile
n'interroropt pas, sauf Convention contraire, les Operations
militaire8 en cours.
Article 8. Les Puissances signataires sont d'accprd pour
recommander l'application, dans les circonstances qui le. per-
mettent, d'une Mediation speciale sous la forme suivante.
En cas de differend grave menacant la Paix, les Etats
en litige choisissent respectivement une Puissance ä laquelle
ils confient la mission d'entrer en rapport direct avec la
Puissance choisie d'autre part, & reffet de prävenir la rup-
ture des relations pacifiques.
Pendant la duree de leur mandat dont le terine, sauf
stipulation contraire, ne peut excäder trente jours, la question
en litige est conside>e> comme deföree exclasivement & ces
Puissances. Elles doivent appliquer tous leurs efforts & regier
le differend.
En cas de rupture effective des relations pacifiques, ces
Puissances demeurent chargees de la mission commune de
proiiter de toute occasion pour rötabür la paix.
§ 3. Des Commissions internationales
d'enquäte.
Article 9. Pour les cas oü se produiraient entre les Puis-
sances signataires des divergences d'appröciation concernant
les circonstances locales ayant donn6 lieu ä un litige d'ordre
international qui ne pourrait etre r6solu par les voies diplo-
Auswärtiges. Die Haager-Konferenz. 377
matiques ordinaires et dans lequel ni l'honnear ni les inte>$ts
yitanx de ces Puissances ne seraient engagäs, les Parties in-
teressöes conviennent de recourir, en tant que les circon-
stances le permettent, a l'institution de Commissions inter-
nationales d'enqu£te, afin de constater les circonstances qui
ont donne* mattere au dissentiment et d'äclaircir sur les lieux,
par nn examen impartial et consciencieux, tontes les questions
de fait.
Article 10. Les commissions internationales d'enquöte sont
constituäes, sauf stipulation contraire, de la maniere de"ter-
min6e par l'article 31 dö la präsente Convention.
Article 11. Les Pnissances interess^es s'engagent & four-
nir ä la Commission internationale d'enqu&te, dans la plus
large raesure qu'EUes jugeront possible, tous les moyens et
toutes les facilitäs nöcessaires ponr la connaissance complete
et l'appräciation exacte des faits en question.
Article 12. La Commission internationale d'enquöte prä-
sente aux Pnissances intäressäes son rapport signä par tous
les membres de la Commission.
Article 13. Le rapport de la Commission internationale
<Tenquete n'a nullement le caractere d'une sentence arbitrale.
II laisse aux Pnissances en litlge entiere facultä soit de con-
clure un arrangement amiable snr la base de ce rapport, soit
de recourir ultärieurement ä la mödiation ou a l'arbitrage.
2. De l'arbitrage international.
L De la Justice arbitrale.
Article 14. L'arbitrage international a pour objet le
reglement de litiges entre les Etats par des juges de leur
choix et conformement ä leurs droits röciproques.
Article 15. Dans les questions de droit et en premier
lieu dans les questions d'interprätation ou d'application des
Conventions internationales, l'arbitrage est reconnu par les
Pnissances signataires comme le moyen le plus efficace et en
meme temps le plus äquitable de regier les litiges non räso-
lus par les voies diplomatiques.
Article 16. La Convention d'arbitrage peut &tre conclue
pour des contestations dejä n6es ou pour des contestations
eventuelles.
378 Jahresbericht 1899.
Elle peilt concerner tout litige ou seulement les litiges
d'une catägorie däterminäe.
Article 17. La Convention d'arbitrage renferme l'engage-
ment de se soumettre de bonne foi a la sentence arbitrale.
Article 18. Indöpendamment des traitäs genäraux et par-
ticullers qui stipulent actuellement l'obligation da recours a
l'arbitrage ponr les Puissances signataires, ces Puissances se
räservent de conclure, soit avant la ratification du präsent
Acte, soit postärieurement, de? Accords nouveaux, gänäraux
on particuliers, en vue d'ätendre l'arbitrage obligatoire ä
tous les cas qu'Elles jngeront possible de lui soumettre.
Article 19. En vue de favoriser le developpement de
l'arbitrage les Puissances signataires jagen t utile de däter-
miner certaines röglos concernant la jaridiction et la proce-
dura arbitrales.
Ces dispositions ne sont applicables qu'en tant qae les
Parties elles-memes n'adoptent pas d'autres rägles ä cet egard.
II. De la Cour permanente d'arbitrage.
Article 20. Dans le but de faciliter le recours imm&liat
a l'arbitrage pour les diffärends internationaux non r6gles
par la voie diplomatique, les Puissances signataires s'engagent
ä organiser de la mantere suivante une Cour permanente
d'arbitrage, accessible en tont temps et fonctionnant, sauf
stipulation contraire des parties en litige, conformämcnt aux
Rögles de procädure insärees dans la präsente Convention.
Article 21. Cette cour sera compätente pour tous les cas
d'arbitrage, ä moins que les Parties en litige ne s'entendent
pour l'6tablissement d'une juridiction speciale d'arbitrage.
Article 22. Un bureau international ätabli ä la Haye
et placä sous la direction d'un secrätaire gänäral permanent,
sert de greife k la Cour.
II est l'intermidiaire des Communications relatives aux
räunions de celle-ci.
II a garde des archives et la gestion de toutes les
affaires administratives.
Article 23. Chaque Pnissance signataire d&ignera, dans
les trois mois qui suivront la ratification du präsent acte,
quatre personnes au plus, d'une competence reconnue dans
Auswärtiges. Die Haager-Konferenz. 379
les qnestions de droit international, jouissant de la plus haute
consideVation morale et disposäes ä accepter leg fonctions
darbitres.
Les personnes ainsi däsignäes seront inscrites, an titre
de membres de la Cour, sur une liste qui sera notifiee &
toutes les Puissances signataires par les soins du Bureau.
Tonte modification a la liste des arbitres est portee, par
les soins du Bureau, a la oonnaissance des Puissances sig-
nataires.
Delix on plusieurs Puissances peuvent s'entendre pour
Ja däsignation en commun d'un ou de plusieurs membres.
La m£me personne peut 6tre d6sign6e par des Puissances
diffi&rentes.
Les membres de la Conr sont nommäs pour un terme de
six ans. Leur mandat peut 6tre renouvele.
En cas de deces ou de retraite d'un membre du Tribu-
nal, il est ponrvu ä son remplacement selon le mode fixe
pour sa noraination.
Article 24. Les Puissances signataires qui däsirent
s'adresser a la Cour pour le regienient des differends sur-
venus entre elles, choisissent dans la liste generale le nombre
d'arbitrcs d£termin6 de comwuo accord.
Elles notifient au Bureau leur Intention de s'adresser ä
la Cour et les noms des arbitres qu'elles ont d6sign6s.
Sauf Convention contraire, le Tribunal arbitral est consti-
tu6 conformäment aux regles fixäes par l'article 31 de la prä-
sente Convention.
Le« arbitres ainsi noinmes forment le Tribunal d' Arbitrage
pour le cas en qnestion.
Hb se r&inissent ä la date fixöe par les Partie en litige.
Article 25. Le Tribunal siege d'ordinaire ä la Haye.
II a la facultö de steger aillenrs. avec l'assentiment des
Parties en litige.
Article 26. Toute Puissance, m&me non signataire de cet
Acte, peut s'adresser & la Cour dans les conditions prescrites
par la präsente Convention.
Article 27. Les Puissances signataires considerent comme
an devoir, dans le cas oü un conflit aigu menacerait d'äclater
380 Jahresbericht 1899.
•entre deux ou plasieurs d'entre Elles de rappeler k celles-ci
que la Cour permanente leur est ouverte.
En consöquence, Elles däclarent que le fait par une on
plu8ieurs d'entre Elles de rappeler aux Parties litigeantes les
dispositions de la präsente Convention, et le conseil donnä, dans
l'intär&t supärleur de la paix, de s'adresser k la Cour perma-
nente ne peut etre considäre* que comme an acte de Bons Offices.
Article 28. Un Conseil permanent compose* des represen-
tants diplomatiques des Puissances signataires rösidant k la
Haye et du Ministre des Affaires Etrangöres des Pays-Bas
qui remplira les fonetions de Präsident, sera constitue* dans cette
ville le plus tot possible aprös la ratification du präsent acte.
Ce Conseil sera Charge* d'6tablir et d'organiser le Burean
international, lequel demeurera sous sa direction et sous son
contröle.
II notifiera aux puissances la Constitution de la Cour et
pourvoira k l'installation de celle-ci.
II arretera son röglement d'ordre ainsi que tous autres
reglements näcessaires.
II däcidera toutes les questions qui pourraient surgir
touchant le fonetionnement du Tribunal.
II aura des pouvoirs absolus quant k la nomination, la
«nspension ou la rävocation des fonetionnaires et employäs
du Bureau.
II fixera les traitements et salaires et contrdlera la de-
pense gänörale.
La pr6sence de cinq membres dans les reunions düment
convoquäes suffit pour permettre au Conseil de deliberer va-
lablemcnt. Les decisions sont prises k la majorite* des voix.
Le Conseil adresse chaque annöe aux Puissances Signa-
taires un rapport sur les travaux de la Cour, sur le fone-
tionnement des seryiees administratifs et sur les döpenses.
Article 29. Les frais da Bureau seront Supporte« par
les Puissances signataires dans la proportion. ötablie pour le
Bureau international de l'Union postale universelle.
III. De la proeädure arbitrale.
Article 30. Les Puissances qui aeeeptent l'arbitrage
signent un acte special (compromis) dans lequel sont nettement
Auswärtiges. Die Haager-Konferenz. 381
\
detertirineV l'objet da litige ainsi que l'ötendue des pouvoirs-
des arbitres. Dans cet acte se trouve conürmö l'engagement
des Parties de se souinettre de bonne foi a la sentence ar-
bitrale.
Article 31. Les fonctions arbitrales peuvent $tre con-
ferees a an arbitre nnique ou ä plnsieurs arbitres designäs
par les Parties a leur gr6, ou choisis par Elles parmi lea
membres de la Cour permanente d'arbitrage Stabile par le
präsent Acte.
Sauf Convention contraire, il est procäde* de la maniere
suivante a la formation da Tribunal arbitral.
Chaque Partie nomme deux arbitres et ceux-ci choisissent
ensemble an surarbitre.
En cas de partage des voix, le choix du surarbitre est
confiö ä une Puissance tierce, designöe de common accord
par les par lies.
Si l'accord ne s'ätablit pas a ce sojet, chaque partie d6~
signe une Puissance dififörente et le choix du surarbitre est
fait de concert par les puissances ainsi designäes.
Article 32. Lorsque l'arbitre est un Soaverain ou un
Chef d'Etat, la procödure arbitrale releve exlusivement de sa
haute d&ermination.
Article 33. Le surarbitre est Präsident de jure du
Tribunal.
Lorsque le tribunal ne comprend pas de surarbitre, il
nomme lui-m6me son president.
Article 34. Sauf stipulation contraire, en cas de däces,
de dlmission ou d'empechement pour quelque cause que ce
soit, de l'un des arbitres, il est pourvu ä son remplaceraent
selon le mode fixö pour sa nomination.
Article 35. Le siege du tribunal est dfoignä par lea
Partie« en litige ou, a däfaut de cette dtoignation, par le
Tribunal d'arbitrage.
Le siege ainsi fixe* ne peut Stre change* qu'en vertu d'un
nouvel accord entre les Etats inte>ess6s, ou, en cas de rai-
son majeure, par decision du Tribunal lui-m&rae.
Article 36. Les Parties en litige ont le droit de nom-
raer aupres da Tribunal des däleguäs ou agents speciaux,
382 Jahresbericht 1899.
avec la mission de servir d'interinödiaires entre le tribunal
et les parties litigeantcs.
Elles snnt en oatre autorisöes & charger de la defense
de leurs droits et interets devant le tribunal, les conseils ou
avocats nommes par elles ä cet effet.
Article 87. Le tribunal decide du choix des langues dont
l'emploi sera autorise* devant )ui.
Article 38. La procödure arbitrale comprend en ragte
generale deux phases, la phase präliminaire et la phase de-
finitive.
La premiere consiste daus la communication faite par les
agents des Parties en litige, aux membres du Tribunal et ä
la partie adverse, de tous actes iinprimäs ou äcrits et de
tous docuinents contenant les moyens des parties.
La seconde est orale et consiste dans les däbats devant
le Tribunal.
Article 39. Toute piece produite par Fune des parties
doit etre communiquäe a l'autre.
Article 40. Les däbats devant le Tribunal sont diriges
par le President.
Ils sont consignes dans des proces-verbaux r6dig6s par
des secretaires que nomme le präsident. Ces proces-verbaux
ont seuls caractere authentique.
Article 41. La procedure p reliminaire etant close et les
debats 6tant ouverts, le tribunal a le droit de refuser tous
actes ou docutnents nouveaux que les repräsentants de l'une
des parties voudraient lui soumettre sans le consentement de
l'autre.
Article 42. Le tribunal demeure libre de prendre en
consideration les actes ou documents nouveaux dont les agents
ou les conseils des parties en litige ont profitä dans leurs
explications devant lui.
II a le droit de requerir la production de ces actes ou
documents, sauf l'obligation d'en donner connaissance & la
partie adverse.
Article 43. Le tribunal peut, en outre, requärir des
agents des parties la production de tous les actes et toutes
les explications dont il a besoin. En cas de refus le tribunal
en prend acte.
Auswärtiges. Die Haager-Konferenz. 383
Article 44. Les agents et les conseils des Parties liti-
geantes sont autorisäs & präsenter oralement au tribunal
tous les moyens qu'ils jugent utiles & la defense de leur
cause.
Article 45. IIb ont le droit de soulever des exceptions
et incidents. Les decisions da tribunal sur ces points ter-
minent la controverse et ne peuvent donner lieu k aacune
discussion ulterieure.
Article 46. Les membres du tribunal ont le droit de
poser des questions anx agents et aux conseils des parties en
litige et de leur demander des äclaircissements sur des points
douteux.
Ni les questions posees, ni les observations faites par les
membres du tribunal pendant le cours des döbats ne peuvent
etre regardäes coinine enonciations des opinions du tribunal en
gene>al, on de ses membres en particulier.
Article 47. Le tribunal est seul autorisö & determiner sa
competence par l'interprätation du compromis ainsi que des
autres traitös qui peuvent etre invoquös dans la mattere, et
par l'appiication des principes du droit international.
Article 48. Le tribunal a le droit de rendre des or-
donnances de proc&lure sur la direction du proces, de däter-
miner les forines et dölais dans lesqnels chaque partie devra
prendre ses conclusions et de proceder ä toutes les forma-
liter que comporte l'administration des preuves.
Article 49. Les agents et les conseils des Parties en
litige ayant presentä tous les eclaircissements et preuves
pour la defense de leur cause, le pr&ident du tribunal pro-
nonce la cloture des dei>ats.
Article 50. Les delibärations du tribunal ont lieu &
huis clos.
Toute decision est prise & la niajoritä des membres du
tribunal.
Le refus d'un membre de prendre part au vote doit etre
constatä dans le proces-verbal.
Article 51. La sentence arbitrato, votäe & la majoritö
des voix est motivee. Elle est rödigäe par ecrit et signöc
par chacun des membres du tribunal.
384 Jahresbericht 1899.
Ceux des membres qui sont restes en minoritä, peuvent
constater, en signant, leur dissentiment.
Articlo 52. La sentence arbitrale est lue en säance pu-
blique du tribunal, en presence des agents et des conseils des
Parties en litige ou eux düment appeläs.
Article 53. La sentence arbitrale, düment prononcäe et
notifiöe aux agents des Parties en litige, dScide döfinitive-
ment la contestation et clöt l'instance arbitrale instituöe par
le compromis.
Article 54. A nioins de disposition contraire contenue
dans le compromis, la rävision de la sentence arbitrale peut
etre demandäe au tribunal qui l'a rendue, mais seulement &
raison de la d6couvcrte d'un fait nouveau qui eüt ete* de na-
ture ä exercer une influence däcisive sur la sentence et qui
au moment de cette sentence a 6t6 inconnu au tribunal lui-
m&rne et des Parties.
La proeödure de reVision ne peut 6tre ouverte que par
une decision du tribunal constatant expressäment l'existence
du fait nouveau lui reconnaissant les caracteres pre>us par
le paragraphe pröeädent et däclarant ä ce titre la demaude
recevable.
Aucune demande en r&vision ne peut £tre accueillie trois
mois apres la notification de la sentence.
Article 55. La sentence arbitrale n'est obligatoire que
pour les parties qui ont conclu le compromis.
Lorsqn'il s'agit de l'interpretation d'une Convention inter-
venue entre un plus grand nombre de Puissances que Celles
entre lesquelles le diiferend a surgi, les Parties en litige
notinent aux autres Puissances signataires de la Convention
le compromis qu'elles ont conclu. Chacune de ces Puissances
a le droit d'intervenir au proces. Si une ou plusieurs d' entre
elles ont profite de cette faculte*, l'interprätation contenue
dans la sentence est egalement obligatoire ä leur egard.
Article 56. Chaque partie supporte ses propres frais et
une part egale des frais du tribunal, sans prejudice des con-
damnations qui peuvent 6tre prononcäespar le tribunal contre
l'une ou l'autre des parties.
Auswärtiges. Die Haager-Konferenz. 385
Dagegen wurden zahlreiche Bedenken an der Konferenz
selbst und in der Presse erhoben, worunter eine Zuschrift
eines in Südamerika lebenden Schweizers an eine schweizer-
ische Zeitung besonders beachtenswert!] ist, die sich sogar
gegen die Uebernahme von schiedsgerichtlichen Aufträgen
durch die Schweiz, wie folgt, ausspricht :
<Le danger des arbi träges. On n'a pas songe*
jusqu'ici, que les arbitrages international, dont se Chargen t
le Conseil föderal, Je Tribunal föderal ou tel tribunal arbitral
suisse, constitue ad hoc, puissent porter preVjudice aux citoyens
suisses habitant l'etranger, ainsi qu'ä notre commerce national,
lorsque le litige inte>esse certains pays.
Dans le plus grand norubre des cas, les sentences arbi-
trales, encore que juridiquement justes et impeccablement
correctes, n'ont pas le don de contenter les deux parties
interessäes. Alors le mäcontentement de celle qui s'estime mal
jogee se manifeste, non seulement envers la partie qui est
tenue pour favorisäe, mais aussi envers l'arbitre. Si cet ar-
bitre est un des pouvoirs publics de notre Coufödäration ou
simplement un Suisse, ce sont les Suisses habitant le pays
condamne* qui en pätissent.
On dira peut-etre que cela a peu d'importancc. C'est une
graade erreur. Si la Situation de nos coiicitoyens ä l'etranger
est rendue plus difficile encore qu'elle ne Test deja, notre com-
merce en souftrira 6galement. On fait deja si peu pour les Suisses
ä l'etranger. Ceux qui selivrent au commerce ont deja tant ä
Jatter contre les AUemands, les Anglais, les Americains et
d'autres, soutenus et favorises par leurs agents diplomatiques
et consulaires. Et nous, faibles citoyens suisses dans les pays
d'outremer, nous en sommes ä peu pr&s reduits ä ne compter
que sur nos propres forces. Dans nonibre de pays, nous n'a-
vons aueune repräsentation officielle. C'est dans ces pays, oü
Ton confond encore notre banniere föderale avec celle du
Saint-Pöre, qu'il faut craindre de porter atteinte a la bonne
harmonie qui existe entre le peuple, le gouvernement et les
Suisses qui s'y sont ätablis. Ces Suisses, en gäneral, se fönt
rapecter en observant les lois et les coutumes des natio-
25
386 Jahresbericht 1899.
naux et en gardant nne scrupuleuse neutralite dans les dis-
sensions ou les commotions intärieures. Gräce aux sympathies
qu'ils ont su conquerir, ils peuvent assez facileraent obtenir
justice, lorsqu'ils ont eu ä souffrir quelque dommage du fait
d'une revolution, par exernple, et sans meme recourir a l'en-
tremise des ministres ätrangers sous le protectorat desquels
ils doivent se placer. Un jugement arbitral peut compromettre
leur Situation.
Nous avons vu, tont rßcemment, le tort considerable
qu'un jugement arbitral, par les suites qui en decoulent, peut
avoir pour le commerce et rindustrie d'un pays. L'affaire
Cerrutti a profondäment troublß les rapports commerciaux
entre l'Italie et la Colombie. La Colombie, ä tort ou ä raison
— cela Importe peu — se tient pour victime dans cett«
affaire. Les Colombiens qui, tout naturellement, ont pris fait
et cause pour leur pays, se vengent en mettant a l'index
toutes les maisons italiennes Stabiles dans le pays. Plusieurs
de celles-ci ont du liquider ou s'apprGtcnt a plier bagage.
C'est un marche" important perdu pour l'Italie pendant un
temps plus ou moins long. Car, il ne faut pas oublier que
le couimer^ant ä l'6tranger se sert toujours de präfexence
aupres des maisons de son pays et de cette facon est un
utile agent pour l'exportation nationale.
La Suisse vient d'accepter un arbitrage dans l'affaire
Punchard-Colombie. Je ne veux pas examiner le fond de ce
litige et vous en dire ma pensee. Ce serait d6place\ C'est
l'affaire des juges, qui prononceront suivant le droit et rien
que suivant le droit. C'est leur devoir et je connais assez
nos magistrat8 pour savoir qu'ils n'y failliront pas. Mais 6cou-
tez ceci:
Punchard, disons les Anglais, reclame ä la Colombie —
il s'agit d'une concession de chemins de fer — une certaine
somme d'argent. Les parties ne pouvant tomber d'accord sur
le montant de l'indemnite, le litige fut porte premierement
devant un tribunai arbitral preside" par le rainistre d'AHe-
magne ä Bogota. Mais la colonie allemande, toujours intelli-
gente et pratique, ne se souciant pas du sort des Italiens,
s'adressa, par cäble s'il vous plait, ä S. M. Pempereur, ä
Auswärtiges. Die Haager-Konferenz. 387
Berlin, lni demandant de permettre au ministre allem and ä
Bogota de se retirer da tribunal arbitral. Ce qui eut lieu sur
Tordrc tälegraphique du gouvernement imperial. Le tribunal
arbitral fut dissout par cc fait et Paffaire est actuellement pen-
dante devant un tribunal arbitral suisse.
II est assuräment fort honorable pour un pays et pour
un gouvernement d'ötre Charge* d'un jugement arbitral en ma-
uere internationale. Dans certains cas, cela ne peut präsenter
aucun inconvänient ; dans d'autres, c'est le contraire. II appar-
tient au gouvernement auquel on s'adresse de distinguer et
d'etre prudent.
Les Suisses d'outre-mer demandent pourquoi la Suisse se
charge de tant de responsabiiite's, si ses enfants ä l'etranger
doivent en souffrir et le commerce national en supporter les
consequences.»
Das Schiedsgerichts-Projekt erhielt schliesslich folgende
wesentliche Fassung :
Plan einer Konvention für die Schlich-
tung internationaler Streitigkeiten:
cl. Für die Erhaltung des allgemeinen Friedens.
Dm in den internationalen Beziehungen die Anwendung
von Gewalt soweit als möglich zu vermeiden} verpflichten
sich die Signatarmächte, alle Bemühungen anzuwenden, um
die Schlichtung von Streitigkeiten, welche sich zwischen ein-
zelnen Staaten erheben, durch friedliche Mittel herbeizu-
führen.
2. Ueber gute Dienste und Vermittlung.
Die Signatarmächte erklären, dass sie im Falle einer
ernsten Meinungsverschiedenheit oder eines Streites, ehe sie
an die Waffen appellieren, so weit es die Umstände erlauben,
zu den guten Diensten oder zur Vermittlung einer oder
mehrerer befreundeter Mächte greifen wollen.
3. Unabhängig hiervon erklären die Signatarinächte es
für nützlich, dass eine oder mehrero der nicht am Streite
betheiligten Mächte aus eigenem Antriebe, sobald es die Um-
stände ermöglichen, den streitenden Parteien ihre guten
388 Jahresbericht 1899.
Dienste oder ihre Vermittlung anbieten. Den neutralen
Staaten bleibt das Recht, gute Dienste und Vermittlung an-
zubieten, auch während des Verlaufes der Feindseligkeiten
gewahrt. Die Ausübung dieses Rechtes soll von keiner der
streitenden Machte als ein unfreundlicher Akt angesehen
werden.
4. Die Rolle des Vermittlers besteht in der Versöhnung
widerstreitender Ansprüche und in der Besänftigung von
feindlichen Empfindungen, welche zwischen den streitenden
Staaten entstanden sind.
5. Die Rolle des Vermittlers hört in dem Augenblicke
auf, in welchem von einer der streitenden Parteien oder vom
Vermittler selbst erklärt wird, dass die von ihm vorge-
chlagene Vermittelung des Streites oder die von ihm p re-
ponierten Grundlagen zu einer Verständigung nicht ange-
nommen sind.
6. Gute Dienste und Vermittlung, sei es auf Wunsch
der streitenden Parteien, sei es auf die Initiative neutraler
Mächte, haben ausschliesslich berathenden Charakter und
keinerlei obligatorische Kraft.
7. Die Annahme einer Vermittlung soll, so lange nicht
das Gegentheil abgemacht ist, eine Mobilisirung oder andere
kriegerische Vorbereitungen nicht unterbrechen oder ver-
zögern. Ebenso soll, wenn nach dem Ausbruche von Feind-
seligkeiten eine Vermittlung stattfindet, diese — so lange
nicht das Gegentheil abgemacht ist — den Verlauf der mili-
tärischen Operationen nicht hemmen.
8. Die Signatarmächte verpflichten sich, wenn in Folge
einer ernsten Differenz der Frieden bedroht ist und die Um-
stände es erlauben, die Anwendung einer besonderen Ver-
mittlung in der folgenden Form zu empfehlen : Die streiten-
den Mächte wählen jede eine Macht, welcher sie die Mission
anvertrauen, mit derjenigen Macht in direkte Verbindung zu
treten, welche von der anderen Partei zu dem Zweck ge-
wählt worden ist, um den Bruch der friedlichen Beziehungen
zu verhindern. Während der Zeit ihrer Mandatswahl, welche
wenn nicht eine andere Abmachung vorliegt, 30 Tage nicht
überschreiten kann, gilt die Streitfrage als eine diesen Mäch-
Auswärtiges. Die Haager-Konferenz. 339
ten ausschliesslich übertragene. Es ist deren Pflicht, alle ihre
Bemühungen zur Schlichtung des Streites anzuwenden. Im
Falle die friedlichen Beziehungen definitiv abgebrochen wer-
den, bleiben die beiden Mächte mit der Mission betraut, jede
sich bietende Gelegenheit zur Wiederherstellung des Friedens
zu benutzend
Zuletzt wurden noch folgende Bestimmungen dazu aufge-
nommen :
«Die Mitglieder des ständigen Schiedsgerichtshofs haben
bei Ansäbung ihres Amtes diplomatische Privilegien und Im-
munität. Das Centralbureau wird ermächtigt, seine Lokali-
täten und Organisation den Signatarmächten für die Arbeiten
eines jeden besonderen Schiedsgerichts zur Verfügung zu
stellen. Die Signatarmächte verpflichten sieh, dem Bureau
eine Kopie der Abmachungen, die zwischen ihnen bezüglich
des Schiedsgerichts getroffen werden, mitzuth eilen, ferner
auch alle Urtheilssprüche, die von anderen Schiedsgerichten
als dem ständigen Schiedsgerichtshof gefällt worden sind.
Die Signatarmächte verpflichten sich, auch dem Bureau die
Gesetze, Verordnungen, sowie alle Dokumente mitzutheilen,
durch welche die Ausfuhrung der von dem ständigen Schieds-
gerichtshof gefällten Urtheilssprüche festgesetzt wird.>
Als Sitz des ständigen Schiedsgerichtshofs ist der Kon-
ferenzort Haag intendirt, womit wir nicht so ganz einver-
standen sein werden.
Für eine weitere Kongresssitzung wurde von dem Ab-
geordneten von Luxemburg bereits die Frage der Rechte und
Pflichten der Neutralen im Kriegsfalle anderer Mächte
vorgesehlagen, eine Frage, die an Schwierigkeit, und auch
an Gefährlichkeit für diese neutralen Staaten selbst, alle der-
malen auf diesem ersten Kongresse besprochenen bei weitem
übertrifft und vorher sehr wohl zu überlegt sein wird. Wir
verweisen hiefür auf den Artikel «Völkerrechtliche Fragen der
Gegenwart» und die Broschüre von 1889 «Die Neutralität
der Schweiz in ihrer heutigen Auffassung».
390 Jahresbericht 1899.
Sicher ist, dass der ewige Friede noch lange nicht vor-
handen sein wird, sondern dass man sich demselben nur in
Etappen nahern kann. Nicht bloss der materiellen
Schwierigkeiten wegen, die in den ungelösten und vielleicht
in anderer Weise unlösbaren Streitfragen und in dem
dilapidirten Zustand einzelner Staaten liegen, sondern weil
überhaupt der ewige Friede ein viel besseres Geschlecht
voraussetzt, als es gegenwärtig, in der Aera des materialist-
ischen «Kampfes um's Dasein» besteht. Wie soll der Krieg
aufhören, wenn so zahlreiche Stimmen, oft die gleichen, pre-
digen, dass nicht bloss das Dasein der Staaten, sondern sogar
das ganze Leben jedes Einzelnen ein verzweifelter Krieg
gegen alle Anderen sei, in welchem alles behnfs der Selbst-
erhaltung erlaubt und Kraft eigentlich das einzige Recht sei.
Von solchen Zeiten und Leuten spricht schon der Pro-
phet Jeremias VI, 13, 14, und seither sind sie immer noch
vorhanden.
Der deutsche Kaiser, der sehr oft das richtige Wort in
einer schwierigen Situation findet, äusserte darüber in einer
Ansprache an den Brandenburger-Provinziallandtag, noch vor
der Haager Konferenz:
«Es ist ja ein herrliches Beginnen, für alle Völker den
Frieden herbeiführen zu wollen. Aber es wird ein Fehler bei
den ganzen Berechnungen angestellt. So lange in der Mensch-
heit die unerlöste Sünde herrscht, so lange wird es Krieg und
Hass, Neid und Zwietracht geben, und so lange wird ein
Mensch versuchen, den andern zu übervortheilen. Was aber
unter den Menschen, das ist auch unter den Völkern Gesetz.
Deswegen wollen wir trachten, dass wir Germanen wenigstens
(für das Rechte) zusammenhalten wie ein fester Block.»
Möge er es im weitesten Sinne stets wahr machen.
Jedenfalls thun diejenigen am meisten für die Herbeiführung
des ewigen Friedens, welche trachten, den Völkern eine
Mititünvcsen. 391
bessere Philosophie uud Religion genehm zu machen, als sie
gegenwärtig im Allgemeinen besteht.
Dann kommt der Friede von selbst, sonst aber ist er,
wie in dem ganzen jetzt zu Ende eilenden Jahrhundert, ein
sehr prekäres Gewächs, anf dessen Bestand man trotz aller
sehr anerkennenswerthen Bemühungen und Fortschritte nicht
einmal von einem Jahre zum anderen rechnen kann.
Mili tftrwesen. «Aber der Krieg lässt die Kraft erscheinen,
Alles erhebt er zum Ungemeinen,
Selbst den Schwachen stählt er den Math.»
Das ist einstweilen noch das «Leitmotiv» für das Militär-
wesen aller Staaten, bei uns speziell der Grundton. der
durch die Geschichte der Schweiz geht und dieselbe auf so
lange beherrschen wird, als sie ein eigenthümliches Leben
unter anderartigen Völkergemeinschaften behaupten will.
Wir können das nicht ändern, selbst wenn wir es wollten,
und wir brauchen unsere militärische Kraftentfaltung als
Demonstration nach Aussen sowohl, wie als noth wendiges Gegen-
gewicht gegen die lähmenden Wirkungen, die der Friede und
seine Thätigkeiten mit sich bringen kann.
Die Gesammtzahl der im Jahre 1898 ausgehobenen
Rekruten betrug: 17,851 Mann, die Eekrutenzahl des Vor-
jahres betrug 18,339 Mann ; es ergibt sich somit für 1898
eine Verminderung der Rekruten um 488 Mann. Mehr rekru-
tirt als im Vorjahre wurden bei der Kavallerie 7 Mann,
Kanoniere 113, Trainsoldaten 94, Festungsartillerie 40, bei
den Trains 8, Sappeure 92, bei den Sanitätstruppen 45, bei
den Verwaltnngstruppen 3 Mann, zusammen 402 Mann,
weniger rekrutirt wurden : bei der Infanterie 799 Mann, Ge-
birgsartillerie 44, Positionsartillerie 8, Pontoniere 3, Pioniere
3 Mann, zusammen 890 Mann. Von den 17,851 Rekruten ent-
fallen auf den jüngsten Jahrgang 14,568 Mann, auf den
392 Jahresbericht 1899.
zweitjüngsten 1782, auf den drittjüngsten 940, den viert-
jüngsten 308, den fünftjüngsten 117, auf ältere Jahrgänge
136 Mann. Die Zahl der 1898 aasexerzierten Rekruten be-
trägt bei der Infanterie 13,732 Mann (1897: 14,243 Mann);
Kavallerie 525 (634); Artillerie 1818 (1848); Genie 491
(423); Sanität 442 (485); Verwaltung 166 (121); total
17,174 Mann (1897: 17,754 Mann). Im Durchschnitt sind
daher 93,64 Prozent der Rekruten ausexerziert worden. In
den Vorjahren schwankt der Prozentsatz zwischen 94,1 Pro-
zent (1896) und 95 Prozent (1897).
Die Kontrollstärke des Auszuges des schweizeri-
schen Bundesheeres auf 1. Januar 1899 beträgt laut Geschäfts-
bericht des Militärdepartements total 148,435 Mann. Davon
entfallen auf die Truppen der Stabsquartiere: 425 Mann:
Armeecorps 1: 35,316 Mann und zwar: Division I: 15,268,
Division 2: 16,381, Corpstruppen 3667 Mann. Armeecorps 2:
35,731 Mann und zwar: Division 3: 16,075, Division 5:
16,028, Corpstruppen 3628 Mann ; Armeecorps 3 : 35,887 Mann
und zwar Division 6: 16,406, Division 7: 15,887. Corps-
truppen : 3594 Mann ; Armeecorps 4 : 32,325 Mann und zwar
Division 4: 15,236, Division 8: 13,401, Corpstruppen: 3668
Mann. Besatzungstruppen : 5833 Maun und zwar Gotthard
3917; St. Maurice 1916 Mann. Dazu disponible Truppen:
2916 Mann.
Unter den Keglern enten, welche das Eidg. Militärdepar-
tement in letzter Zeit erliess, haben allgemeines Interesse
besonders die folgenden :
Dienstbefreiung des Eisenbahn- und Dampf-
schiffpersonals. (Kreisschreiben an die Militärbehörden
der Kantone und an die Waffen- und Abteilungschefs, vom
5. Juni 1899.)
Mittelst Schlussnahme des Bundesrates vom 11. Januar
1898 wurde das hierseitige Kreisschreiben an die schweize-
Militärwesen. 393
Tischen Eisenbahn- und Dampfschiffgesellschaften vom 17
August 1875 (Militttrverordnungsblatt 1875, Nr. 66), soweit
es sich auf die Dienstbefreiung des Eisenbahn- und Dampf-
schiffpersonals bezieht, durch den Bnndesratsbeschluss yom
27. August 1878 (Militärverordnungsblatt 1878, Nr. 40) aus-
drücklich als aufgehoben und dieser Beschluss für die Frage
der Dienstbefreiung des Eisen bahnpersonals ausschliesslich als
massgebend erklärt. Nach diesem Bundesrathsbeshluss umfasst
die Dienstbefreiung nach Art. 2, litt. f. der Militärorgani-
sation nnter Vorbehalt der Bestimmungen der Art. 3, 29 und
207 der Militärorganisation folgendes Personal der Eisenbahn-
verwaltungen :
1. Die Angestellten, denen der Unterhalt und die Bewach-
ung der Bahn obliegt: Bahningenieure, Bahnmeister, Bahn-
aufseher, Bahnwärter, Barrierenwärter, Vorarbeiter, Bahn-
arbeiter.
2. Die Angestellten des Bahnbetriebes : Betriebschefs,
Betriebsinspektoren, Telegrapheninspektoren, Maschinenm eister,
Lokomotivführer, Heizer, Wagenwärter, Zugführer, Conduc-
tenre, Bremser, Weichenwärter, Werkführer, Depotchefs,
Werkstättenarbeiter.
3. Das Bahnhof- und Stationspersonal: Bahnhof- und
Stationsvorstände und deren Stellvertreter, Bahnhofaufseher,
Einnehmer, Gepäck-, Eilgut- und Güterexpedienten, Portiers,
Wagencontrolleurs, Wagenvisiteurs, Wagenwärter, Bahnhof-
arbeiter, Nachtwärter, Telegraphisten.
Veranlasst durch eine Eingabe des schweizerischen Eisen-
bahnverbandes um Wiedererwägung, dieses Beschlusses im
Sinne der Wiederherstellung des Status quo, beschloss der Bun-
desrath unterm 23. August vorigen Jahres, an seiner Schluss.
nähme vom 11. Januar 1898 festzuhalten, erweiterte jedoch
den erwähnten Bundesrathsbeschluss vom 27. August 1878
394 Jahresbericht 1899.
dahin, dass unter Vorbehalt der Bestimmungen von Art 3,
29 und 207 der Militärorganisation für die Dauer ihrer An-
stellung ebenfalls als dienstfrei erklärt wurden : die Stell-
vertreter und das Bureaupersonal der Bahningenienre, Be-
triebschefs, Betriebsinspectoren und Maschinenmeister.
An der Hand der auf Grund dieser Beschlüsse von den
Eisenbahnverwaltungen seither aufgestellten und uns über-
mittelten Verzeichnisse ihres dienstfreien Personals, haben
wir festgestellt, dass die Dienstbefreiung des Eisenbahper-
sonals von den Bahngesellschaften in einem solchen Umfang
in Anspruch genommen werden wollte, dass sie eine schwere
Schädigung der Wehrkraft bedeuten würde und in dieser
Ausdehnung weder beabsichtigt war, noch zugestanden werden
kann. Die Bahnverwaltungen setzten nämlich, entgegen der
bisherigen Praxis, nicht nur das mit Vertrag auf einen be-
stimmten Termin angestellte Personal auf ihre Listen, son-
dern führten auch alle Bediensteten auf, die ohne Vertrag
nur auf unbestimmte Zeit angestellt waren und für deren
Dienstbefreiung in Friedenszeit durchaus kein Bedürfniss
besteht.
Der Bundesrath beschloss daher unterm 31. Mai abhin,
auf seinen Beschluss vom 23. August 1898 in dem Sinne zu-
rückzukommen, dass ausdrücklich erklärt wird, dass die Dienst-
befreiung des in den Bundesrathsbeschlüssen vom 27. August
1878 und 23. August 1898 aufgeführten Personals sich nur
auf das mit Vertrag auf einen bestimmten Termin angestellte
Personal erstrecke.
Anschliessend hieran wollen wir nicht unterlassen, Sie
derauf aufmerksam zu machen, dass nach dem mehrfach ci-
tirten und als massgebend erklärten Bundesrathsbeschluss
vom 27. August 1878 die Beamten und Angestellten der Cen-
tralverwaltung und der centralen Bureaux des Betriebsdienstes
Militärwesen. 395
von der persönlichen Militärdienstleistung nicht befreit, bezw.
wieder dienstpflichtig geworden sind.
Tragen militärischer Gradabzeichen durch
Musik- und Kadetten corps. (Kreisschreiben des Mili-
tärdepartements an die Militärbehörden der Kantone, vom
28. Juni 1899.)
Es wird uns zur Kenntniss gebracht, dass sich Kadetten-
corps für die Auszeichnung ihrer Cadres der Ordonnanzgrad-
abzeichen bedienen und dass auch private Musikcorps solche
Gradabzeichen tragen. Dies veranlasst uns, Sie unter Hin-
weis auf Art. 151 der Militär Organisation und auf das Kreis-
schreiben vom 9. October 1889 (Militärverordnungsblatt 1889,
Nr. 44) zu ersuchen, mit alier Bestimmtheit und Energie der
Verwendung von der Ordonnanz entsprechenden Uniformen
und Gradabzeichen bei Cadetten und privaten Musikcorps
entgegenzutreten und für Abhülfe zu sorgen, eventuell im
Sinne des Schlussatzes des vorcitirten Kreisschreibens unter
Strafandrohung. Das Tragen von Phantasie-Uniformen und
-Gradabzeichen, welche den Ordonnanz-Uniformen und -Ab-
zeichen nicht entsprechen und mit denselben nicht leicht ver-
wechselt werden können, ist den fraglichen Corps selbstver-
ständlich ohne weiteres gestattet.
Ausserdem wurden die alten, ziemlich unpraktischen
-Kriegsartikel> für den Friedensdienst durch neue «Militär-
strafartikel für den Friedensdienst» laut Bundes -
rathsbeschlu88 vom 30. Dezember 1898 ersetzt.
Von gesetzgeberischen Vorlagen ist zunächst von
Bedeutung ein neues Militärpflichtersatzgesetz.
Die Ersatzpflichtigen , die ihre Militärsteuer nicht
zahlten, wurden früher zu Ersatzarbeiten angehalten oder
396 Jahresbericht 1899.
eingesperrt, das fand aber das Bundesgericht unzulässig, als
eine Art Scbuldhaft, besonders in einem Falle Messerli.
Die prinzipielle Frage ist also die, ob der Artikel 59
über die Abschaffung der Schuldbaft dem im Wege stehe
oder nicht. Ohne Zweifel wäre das der Fall, wenn der
Arrest bloss ein Eintreibungsmittel und nicht eine Strafe wäre.
Dass die böswillige Nichterfüllung einer Verbindlichkeit
strafbar gemacht werden könne, hat jedoch das Bundesgericht
in einer Sache gegen den Artikel 73 des Solothuraer-Straf-
gesetzes im Jahre 1888 anerkannt, ohne sogar öffentliche und
private Verbindlichkeiten zu unterscheiden. In den spä-
teren Entscheiden des Bundesgerichts handelte es sich
stets um Nichtbezahlung öffentlich-rechtlicher Leistungen
Eine weitere Frage ist die, ob die Strafen von Ad-
ministrativbehörden ausgesprochen werden dürfen, sogar Frei-
heitsstrafen, oder ob dies eine gerichtliche Behörde thun
müsse, wie es bei dem Solothurner-Strafgesetz z. B. der Fall
war. Hier kommt nicht Artikel 59, sondern Artikel 58 der
B, V. in Frage. Um allen diesen Schwierigkeiten auszuweichen,
wäre es weit besser gewesen, bei dem gewöhnlichen Schuld-
betreibungsverfahren zu bleiben und nicht ein Ausnahmsgesetz
ohne absolute Notiiwendigkeit zu erlassen, das leicht im Wege
des Referendums verworfen werden kann.
Der Entwurf des Bundesratheu lautet:
«Bundesgesetz betreffend die Ergänzung desBundesgesetzes
über den Militärpflichtersatz vom 28. Juni 1878.
Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossen"
schaft, gestützt auf Art. 18 der Bundesverfassung; nach Ein-
sicht einer Botschaft des Bundesrathes vom 1. Juni 1898,
beschließet:
Art. 1. Ersatzpflichtige, denen die Bezahlung des Mili-
tftrpflichtersatzes nach ihren Vermögens- oder Erwerbsver-
hältnissen unmöglich ist, können die Geldleistung durch Ar*
beit abverdienen. Sie haben sich hierzu spätestens innerhalb
Militärwesen. 39?
Monatsfrist vom Empfang einer schriftlichen Aufforderung
zur Bezahlung der Steuer an gerechnet, beim Sektionschef
ihres Wohnortes anzumelden und eine von der Gemeindebe-
hörde ausgestellte Bescheinigung, dass ihnen die Bezahlung
der schuldigeu Ersatzsteuer unmöglich sei, beizubringen.
Ein Arbeitetag ist zu drei Franken anzurechnen. Die
Kosten für Verpflegung übernimmt der Staat.
Art. 2. Ersatzpflichtige, welche den Militärpflichtersatz
weder in Geld leisten, noch durch Arbeitsleistung abverdienen,
obgleich sie nach ihren ökonomischen oder persönlichen Ver-
haltnissen nachweisbar wohl im Stande waren, das eine oder
das andere zu thun, sind wegen schuldhafter Nichterfüllung
einer öffentlichen Pflicht strafbar und werden auf Anzeige-
des Kreiskommandanten durch die kantonale Militärbehörde^
mit Haft von 3 bis 20 Tagen bestraft.
Der Strafantrag ist vom Kreiskommandanten einzureichen,,
gestützt auf eine Bescheinigung des Sektionschefs des Wohn-
orts dass der betreffende Ersatzpflichtige, obschon er dazu
nach seinen ökonomischen oder persönlichen Verhältnissen
nachweisbar wohl im Stande wäre, die Ersatzsteuer nach
wiederholter fruchtloser Aufforderung nicht bezahlt und sich
auch zu keiner Arbeitsleistung angemeldet hat.
Wegen Nichtbezahlung des nämlichen Steuerbetrages
darf nur eine Strafe verhängt werden.
Art. 3. Der Bundesrath wird beauftragt, auf Grundlage
der Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 17. Juni 1874,
betreffend die Volksabstimmungen über Bundesgesetze und
Bundeßbeschlüsse, die Bekanntmachung dieses Gesetzes zu
veranstalten und den Beginn der Wirksamkeit desselben fest-
zusetzen.»
Ueber den militärischen Vorun t er rieht wurde
im November vorigen Jahres erlassen ein Programm für
den freiwilligen militärischen Vorunterricht der IIL Stufe,
vom November 1898, welches, wie folgt, lautet :
398 Jahresbericht 1899.
I. Aufgabe und Ziel.
Art. 1.
Der militärische Vorunterricht III. Stufe soll eine Vor-
schule für den Wehrdienst sein. Diese Bestimmung erfüllt
der Unterricht, indem er die Förderung der physischen Ent-
wicklung mit spezieller Richtung anf den Wehrzweck and
die Heranbildung für das Schiessen und Marschiren ins
Auge fasst.
II. Organisation.
Art. 2.
Zur Theilnahme an diesem Unterricht sind die im 17. bis
19. Altersjahre stehenden Schweizerjünglinge, sowie Zurück-
gestellte berechtigt. Körperlich genügend entwickelten Lenten
kann die Theilnahme vom zurückgelegten 15. Lebensjahre an
gestattet werden.
Art. 3.
Die Bildung von Vorunterrichtssektionen geschieht in der
Kegel gemeindeweise. Der kleinste Mannschaftsbestand einer
Vorunterrichtssektion wird zu 8 Mann angenommen. Wo
dieser Bestand in einer Gemeinde nicht erreicht werden kann,
können sich auch mehrere Gemeinden zur Bildung einer Sek-
tion vereinigen. Die einzelnen Sektionen vereinigen sich zum
Zwecke einheitlicher Leitung und Ueberwachung des Unter-
richts zu Kreisen und diese hinwiederum zu kantonalen Ver-
bänden.
Art. 4.
Für Theilnehmer, welche bereits einen Jahreskurs mit
Erfolg bestanden haben, wird bei genügender Theilnehmer-
zahl eine besondere Klasse mit erweitertem Unterrichtspro-
gramm errichtet.
Art. 5.
Die Theilnehmer werden vom Bunde mit Gewehren und
Patrontaschen nebst Leibgurt ausgerüstet und soweit möglich
mit Exerzier-Blousen versehen. Für die gefassten Gegen-
stände haften dem Bunde die Vorstände der Verbände, Kreise
und Sektionen.
Militärwesen. 399
III. Unterricht.
Art. 6.
Der Unterrirht umfasst :
1) Uebungen im Marschiren, Laufen, Springen, im Hin-
dernissnehmen und Turnspiele.
2) Soldatenschnle ohne und mit Gewehr mit dem Lehr-
ziel einer möglichst korrekten Haltung und bestmöglicher
Vorbereitung zum Schiessen.
3) 6e wehrkenn tni 88 unter Beschränkung auf das Noth-
wendigste, als Gewehrzerlegen und Zusammensetzen, Gewehr-
reinigen und -Instandhalten und Abhülfe bei Störungen.
4) Schiesslehre: Erklärung der Visireinrichtung und Art
des Korn- und Zielfassens (Uebungen am Zielbock).
5) Schiessen:
a. Der Unterricht im Schiessen ist möglichst individuell
zu betreiben, mit besonderer Bezugnahme auf eine
richtige, rasche und doch ruhige Schussabgabe, An-
sagen des Abkommens und allfällige Korrekturen des
Haltepunktes.
b. Die Vorübungen erfolgen zunächst mit blinden Patro-
nen (Laden, Entladen, Schussabgabe), alsdann eventuell
mit Zielmunition. Für diese Uebungen werden ent-
weder 20 blinde Patronen oder 10 blinde Patronen
und 10 Stück Zielmunition im Maximum bewilligt.
c. Das Schiessprogramm enthält folgende Uebungen:
I. Klasse.
1. Uebung 200 m Scheibe I, liegend aufgelegt,
2.
>
200 m
>
I, knieend freihändig,
3.
>
300 m
»
I, liegend >
4.
>
300 m
>
I, knieend »
5.
>
200 m
»
I, stehend >
6.
»
200 m
>
V, knieend >
II. Klasse.
1.
Uebung
300 m
Scheibe I, liegend freihändig,
2.
>
300 m
>
I, knieend >
3.
>
300 m
>
I, stehend >
4.
»
200 m
»
V, knieend >
5.
>
200 m
»
V, stehend >
6.
>
300 m
>
V, liegend »
400 Jahresbericht 1899.
Specielle Bestimmungen zu 5c:
a. In jeder Klasse werden bis 3 Probeschüsse pro Mann
gestattet, die als Kontrollschüsse zn notiren sind.
6. Es wird mit Bedingung geschossen — in fünf auf-
einanderfolgenden Schüssen 10 Punkte auf Scheibe 1,
2 Treffer auf Scheibe 5. Maximum 10 Schüsse pro
Uebung. — Vom Bedingungsschiessen kann indessen
unter besondern Umständen mit Zustimmung des
schweizerischen Militärdepartements Umgang genom-
men werden. Es ist Schuss für Schuss auzuzeigen.
c. Munition: bis auf 40 Patronen für das Schiessen
mit, bis auf 30 Patronen für das Schiessen ohne
Bedingung ; in der II. Klasse wird zudem für zwei
weitere fakultative Uebungen die nöthige Munition
vergütet.
6) Entfernungsschätzen mit geeigneten Vorübungen
(Messen, Abschreiten) und mit feldmässigem Schätzen bei
wechselnden Zielen und Strecken.
7) Zugschule mit Beschränkung auf folgende Punkte:
Bildung der Marschkolonne, Herstellen der Linie ; Aenderung
der Marschrichtung, Entwicklung zur zerstreuten Ordnung.
— Zusammenstellen der Gewehre.
Art. 7.
Für den Unterrichtskurs sind mindestens 50 Uebungs-
stunden einzustellen ; in dieser Stundenzahl sind grossere
Ausmärsche und die Inspektionszeit nicht eingerechnet.
Von diesen Stunden entfallen:
28 auf Leibesübungen und Soldatenschule ohne
und mit Gewehr;
16 auf Gewehrkenntnis«, Schiesslehre u. Schiessen ;
3 auf Entfernungsschätzen;
3 auf Zugschule.
Zusammen 50 Stunden im Minimum ohne Inspektion.
Obige Stundenzutheilung dient indessen lediglich als
Wegleitung.
Art. 8.
Die Verbandsvorstände sorgen soweit möglich für die
Anordnung von Cadres-Instruktionskursen vor dem Beginn
Mititärwesen. 401
der Mannschaftskurse und für eine geordnete Ueberwachung
des Unterrichts im Verlaufe desselben.
IV. Inspektion und Kurs- Ausweis.
Art. 9.
Die Verbände haben sich am Schlüsse der Unterrichts-
kurse einer Inspektion zu unterziehen, für welche das Mili-
tärdepartement den Inspektor bezeichnet.
Art. 10.
Als Ausweis für die Theilnahme an einem Vorunterrichts-
kursc soll das Schiessheft des Mannes gelten. Dasselbe ist
bei der Stellung zur Rekrutirung, sowie beim Einrücken in
die Rekrutenschule mitzubringen.
Art. 11.
Jünglinge, welche mindestens zwei Kurse erfolgreich be-
standen haben, sind, im Falle von Untauglicbkeit für die
Feldarmee, dem bewaffneten Landsturm zuzutheilen, sofern
sie für diesen als tauglich erscheinen.
V. Kosten.
Art. 12.
Das Militärdepartement genehmigt die Budgets der ein-
zelnen Vor unterrichtskurse. Es leistet an die Kosten dieser
Knrse Beiträge aus dem ihm hiefür von der Bundesversamm-
lung jeweilen zur Verfügung gestellten Kredite.
Beiträge von Kantonen, Gemeinden und Privaten finden
in erster Linie Verwendung für die Anlegung von Hinder-
nissbahnen, die Entschädigung des Lehrpersonals und für
Extraauslagen bei Ausmärschen und Inspektionen.
Art. 13.
Die Verbände haben dem Militärdepartement vor Beginn
des Kurses ihr Budget und 30 Tage nach der Schlussinspek-
tion die Kursrechnung nebst Jahresbericht einzureichen.
Art. 14.
Der Band wahrt sich hinsichtlich der aus seinen Bei-
trägen angeschafften oder hergestellten Gegenstände das
Eigentumsrecht, und es sind darüber Inventarverzeichnisse
anzulegen und nachzuführen.
26
402 Jahresbericht 1899.
Unter den Problemen der nächsten Zukunft für die Aus-
bildung des schweizerischen Militärwesens ist das bedeutendste
die Einführung neuer Schnellfeuergeschütze, nach
dem Muster von Deutschland und Frankreich, die damit vor-
angegangen sind, worüber wir diesfillligen Berichten Fol-
gendes entnehmen. Die Untersuchungen sind jedoch noch nicht
abgeschlossen.
«Im Geschützkaliber ist Deutschland auf 7,7 Centimeter
herabgegangen (früher 8,8), Frankreich noch etwas weiter
auf 7,5 Centimeter. Im Zusammenhange damit hat Frankreich
ein geringeres Geschossgewicht.
Beim französischen Feldgeschütz kommt neben der hydro-
pneumatischen Bremse ausserdem ein Sporn am Lafetten-
schwanz zur Verwendung.
Die Franzosen behaupten, dass ihre Lafette beim Schiessen
die Stellung auf dem Erdboden unverändert beibehält. Regle-
men tarisch kommt dies derart zum Ausdruck, dass die beiden
am Rohr beschäftigten Kanoniere auf seitlich an der Aussen-
wand der Lafette angebrachten Sitzbrettern ihre Verrichtung
ausüben und hier auch beim Schiessen verharren. Wenn dies
regelmässig geschieht, so ist es jedenfalls nicht zur Bequem-
lichkeit der Leute, sondern ihr Gewicht soll den Lafettendruck
auf den Erdboden vermehren, der bei Rohrrücklauf sonst zu
geringe ist, um die Lafette festzuhalten. Nebenbei sind diese
Leute in der sitzenden Stellung besser gedeckt, die Franzosen
wenden nämlich bei ihrer neuen Feldlafette stählerne Schatz-
schilde zur Sicherung dieser Kanoniere gegen Gewehrfeuer
und Shrapnellkugeln an, diese Schilde sind zu beiden Seiten
der Lafette vorwärts der Achse angebracht»
Für die Erstellung von Unterkunftsräumen in den Be-
festigungen von S t. M a u r i c e wurden Fr. 800,000 bewilligt.
Dort wurde in diesem Jahre auch der Versuch einer Allar-
mirung und Mobilisation des gesammten Auszugs, Landwehr
ersten und zweiten Aufgebots und Landsturms von 14 wal-
lisischen und waadtländischen Gemeinden, welche der Festung
zunächst liegen, unter der Supposition einer von französischer
Milit&rwesen.
403
Seite ausgehenden Verletzung der schweizerischen Neutrali-
tät gemacht. Die Ordre wurde telephonisch um 4 Uhr Mor-
gens gegeben, die ersten Truppen, ausser der Festungswach-
mannschaft, langten um 7 lfe Uhr in Savatan an, die letzten,
aus den entferntesten Gemeinden, um 11 Uhr.
Die Entlastung des Militärbudgets ist ein bestän-
diges Postulat auch bei uns. Nach einem Berichte, welchen der
Bundesrath in Folge eines Auftrages der Bundesver-
sammlung abgab, ist jedoch für eine nächstfolgende Periode
daran kaum zu denken, sondern die jährlichen ordent-
lichen Budgets der Militärverwaltung werden sich bis 1903
auf der nämlichen Höhe, wie jetzt, d. h. 27 */a Millionen
Franken, erhalten. Erhebliche Ersparnisse könnten nur durch
eine Verminderung der Instruktionszeit gemacht werden,
wovon vernünftigerweise nicht die Rede sein kann, oder all-
fällig durch die Beseitigung des Landsturms. Wir sind un-
sererseits im Zweifel über die grosse Nützlichkeit desselben,
es wird sich aber schwerlich gleichzeitig auf europäischen
Congressen die Legalität des «Volkskriegs» behaupten und
die gesammte vorhandene Organisation desselben beseitigen
lassen. Im Gegentheil ist die erstere These nur haltbar,
wenn man den Landsturm noch mehr sogar als bisher der
ordentlichen Heeresein theilung einzuverleiben versteht.
Die «Gazette de Lausanne» enthielt über diese Sache
die folgende richtige Schlussbetrachtung, welche auch ohne
Zweifel bei der Berathung des bundesräthlichen Finanz-Be-
richtes in den Kammern die durchschlagende sein wird. Denn
auf Kosten der Wehrfähigkeit des Landes zu sparen, das ist
wohl nicht die ernstliche Meinung von irgend Jemand im
Lande, und wie sich ein kleines Volk seine Selbständigkeit mit
Aufbietung aller Kräfte wahren muss, dafür wird uns nun
404 Jahresbericht 1899.
noch in Südafrika ein schlagendes Beispiel gegeben werden.
Der betreffende Artikel sagte:
«II reste maintenant ä voir ce que fera l'Assemblee fö-
derale de cet exposä du gouvernement, lorsqu'elle se räunira
cn septembre. Etant donnäes la proximite1 des elections ge-
närales et les deceptions que cansera Pöchec de la Conference
de La Haye sur la question du däsarmement, on peut s'atten-
dre, de la part d'un certain nombre de döputäs, ä de violen-
tes diatribes, sinceres on affectöes, contre le fameux moloch
du militarisme et sa gloutonnerie intolärable.
Nous avons vu ce qu'il en fant penser: tandis qne de-
pnis 1885 les depenses de la Confede>ation ont monte de 46
& 96^2 millions, le budget militaire n'a participä ä cette
ascension que pour trois millions et pour des cause« absoln-
nient normales dont la principale est l'accroissement de la
popnlation. Aussi bien, l'espoir que nourrissent. certalnes
personnes de pouvoir trouver dans une räduction du badget
militaire tout ou partie des huit millions necessaires anx
assnrances devra-t-il 6tre abandonnä. La majoritä de PAb-
sembläe föderale se rappellera que la defense nationale est,
de par la Constitution, le but premier de la Conf6de>ation et
que l'alliance des confäd&res a 6t6 fondee pour «assurer Tin-
däpendance de la patrie contre l'ätranger». Elle se rappel-
lera qne les droits de douane dont la Confäderation tirt
aojourd'hui de si abondantes recettes ont 6t6 institnes a
l'origine precisäment pour snbvenir aux depenses de l'armäe.
L'Assemblee föderale sait d'ailleurs que, de toutes les ad-
ministrations föderales, celle de l'armäe est probablement la
plus 6conome. Elle sait que notre 6tat militaire est fonde,
avant tout, sur le patriotistne et les sacrifices de temps et
d'argent que lui fönt les citoyens incorporäs dans l'armee.
Qu'on nous dise an autre pays qui puisse se procurer des
göneraux de corps d'armee et de division pour dixhuit cents
francs par an et des commandants de brigade et de rögiment
pour quelques centaines de francs de solde. Et ainsi de suite,
du haut en bas de l'ächelle!
Ces jours derniers, la presse suisse a fort approuve le
Conseil föderal d'avoir donn6 pour Instructions & ses dälegues
Inneres. Revisionen der Bundesverfassung. 405
ä La Haye de ne laisser contester en aucune facon, dans le
code international de la gaerre, Je droit des peuples & la
levöe en inasse. Elle a applaudi aux eloquentes paroles de
M. le Colonel Künzli lorsqa'il a dit aux diplomat.es reunis ä
la Maison dn Bois que jamais le peuple suisse ne consentirait
ä abandonner ce droit qui, chez hu, est de tradition.
C'est tres bien. Nous aussi nous approuvons et applau-
dissons des denx mains. On peut varier d'opinion sur la valeur
miHtaire de la leväe en masse et en redouter les consequen-
ces horribles, mais ceci demeure que, pacifique et neutre, ne
songeant pas ä declarer la gaerre & qui que ce soit, la Suisse
ne peut coflsentir ä aueunc Convention quelconque qui affai-
blisse llmpulsion de son peuple au jour du peril ou qui l'en-
trave dans sa räsistance ä un envahisseur.
Mais n'oublions jamais que pour 6carter le danger d'une
invasion toujours possible dans la Situation strategique qui
nous est faite au centre de l'Enrope, le plus sür nioycn est
de maintenir notre etat militaire sur un pied, qui inspire ä
tous le respect et qui manifeste clairement notre särieuse
Intention de defendre notre sol. Tonte defaillance äcet
egard serait un crime envers la patrie.»
II. Inneres.
Bundesverfassung. Am 19. April (beziehungsweise
29. Mai) ging ohne viel Redens darüber, trotz der festsüch-
tigen Zeit, die 25. Wiederkehr des Tages vorüber, an welchem
unsere jetzige Bundesverfassung von Volk und Kantonen an-
genommen, beziehungsweise proklamirt wurde, während sonst
bei jedem nur möglichen Anlasse « Jubiläen » gefeiert zu
werden pflegen nnd ein solches hier nicht ganz unangebracht
gewesen wäre. Denn die Schweiz hat doch unter dieser Ver-
fassung nicht allein ein im Ganzen glückliches und geachtetes
Dasein geführt, sondern es ist auch im Laufe dieser Zeit ge-
406 Jahresbericht 1899.
lungen die meisten Fehler, welche in dem Kompromiss-Cha-
rakter derselben begründet lagen, dnrch nachträgliche partiale
Revisionen auszugleichen. Ja es sind sogar heftige Gregner,
z. B. der Rechtseinheit, die damals ganz besonders zur Ver-
werfung des vorangegangenen Entwurfes (am 12. Mai 1872)
Veranlassung gegeben hatten, wie der verstorbene nachmalige
Bundesrath und Chef des Justizdepartements Ruchonnet, ihre
Freunde und Beförderer geworden , während wir dama-
lige «Centralisten» jetzt ungefähr das besitzen, was wir
unter grosser Opposition und zuletzt vergeblich vertheidigt
hatten. War das nun «weise Mässigung», im Jahre 1874 die
Rechtseinheit und die Militäreinheit einstweilen fallen zu
lassen, um des augenblicklichen Friedens willen und weil eben
die Zeitrechnung der Völker eine andere und auf eine andere
Lebensdauerhaftigkeit berechnet ist, als die eines kurzen
Menschenlebens ? Oder war es allzu rasche Ermüdung, wie sie
in unserer politischen Geschichte auf zahllosen Blättern vor-
kommt und die schönsten Früchte unserer Tapferkeit im Felde
oft ungeerntet Hess, und nicht gerechtfertigt, dass eine ganze
Generation, wenn nicht gar eine zweite, ohne die Wohl-
thaten eines einheitlichen Rechtes geblieben ist ?
Die Antwort darauf mag verschieden ausfallen, ohne dass
man die eine, oder die andere tadeln kann ; immerhin aber ist das
grosse Schweigen am 19. April auch eine Antwort. Eine Liebe, wie
sie der in mancher Beziehung mangelhaften Konstitution von
1848 zu Theil geworden ist, wird eben einem vielleicht sehr
vernünftigen Vergleich nicht leicht erblühen, besonders nicht,
wenn daran beinahe von Jahr zu Jahr geändert wird, so dass
die Grundsätze, welche in einem Staate den Halt für die Po-
litik bilden sollten, stets selber mehr oder weniger in Frage
stehen. Es ist mit den Verfassungen wie mit den Mensche-n;
Inneres. Doppel-Initiative. 407
die sehr Torsichtigen nnd klagen erreichen mitunter mehr,
aber geliebt werden die entschiedenen.
Für das nächste Jahr und den Beginn des neuen Jahr-
hunderts zugleich steht nun eine Volks- und Kantonalabstim-
mung über die Doppel-Initiative betreffend die Einführung
der Proportional- Wahlen für den Nationalrath und die Volks-
wahl des Bundesraths bevor, wofür während des ganzen ersten
halben Jahres eifrig Stimmen gesammelt wurden. Die Ver-
handlung der Käthe darüber wird mutmasslich im Juni
1900 stattfinden und höchst wahrscheinlich ein ablehnendes
Resultat für beide Initiativen haben. Von der Abtimmung
im Volke und der Kantone wird jetzt das Nämliche erwartet,
seitdem sich die Stimmung, namentlich für die Volkswahl des
Bundesrats, die ein sehr gefährliches Experiment wäre , be-
reits bedeutend abgekühlt hat. Hingegen ist die Proporz-Frage
durch eine Diskussion in Belgien, wo sie durch das Ministerium
Smet prinzipiell wieder aufgenommen wurde, nachdem das
Ministerium Vandenpeereboom bloss die opportunistische An-
wendung des Proporzes für einzelne Wahlkreise befürwortet
hatte, wieder ein wenig belebter geworden. Für die Pro-
portionalwahl wurden 64,478, für die Volkswahl des Bundes-
ratiis 56,031 gültige Unterschriften gesammelt.
Die Ansicht der weitaus grösseren Zahl der schweizer-
ischen Parlamentsmitglieder über beide Fragen wurde schon
im vorigen t>ezember in einer Partei Versammlung in München-
buchsee (nach zwei einleitenden Referaten von Nationalrath
Comtesse und dem Herausgeber des Jahrbuches) festgestellt
und wird wohl noch vor der Verhandlung publizirt werden.
Daneben veröffentlichen wir in den Beilagen ein interessantes
und bisher ganz unbekannt gebliebenes Aktenstück der neueren
schweizerischen Geschichte, welches eigentlich zu dem Brief-
408 Jahresbericht 1899.
Wechsel Blösch's in die Beilagen zu dem Aufsatz «Vor fünfzig
Jahren» (Band XI des Jahrbuchs) gehört hätte. Wir erhielten
es aber erst in diesem Jahre durch die Freundlichkeit des Herrn
Prof. Dr. Vogt in Zürich. Es ist ein autographirtes, also offenbar
zu grösserer Verbreitung bestimmtes und philosophisch begrün-
detes Verfassungsprogramm von Bluntschli aus
dem August 1847, unmittelbar vor dem Sonderbundskrieg.
Dasselbe gehört als wesentliches Dokument in die schwei-
zerische Geschichte jener bewegten Zeit und enthält offen-
bar die Ansicht Derjenigen, welche glaubten den damaligen hef-
tigen Streit noch auf dem Vermittlimgswege schlichten zu können.
Die Ereignisse haben diesen höchst begabten und ohne
Zweifel patriotisch-wohlmeinenden Männern des damaligen
«Centrums», wenn wir einen seitherigen Parteibegriff in jene
Periode verlegen dürfen, nicht Becht gegeben. Es wird jetzt
kaum Jemand es ernstlich bedauern, dass ein Vergleich auf
diesen Grundlagen nicht zu Stande kam, sondern die Bundes-
verfassung von 1848 an die Stelle aller solchen Versuche trat
Offenbar ist das bekannte Gutachten des Grafen Rossi
von 1832 das Vorbild dieses Entwurfes gewesen, aber die
Zeiten sind nicht immer die gleichen und auch dieser Rossi'sche
Entwurf ist nicht zur Ausfuhrung gelangt. Die eigentliche
Grundlage von allem dem ist übrigens der Entwurf von Mal-
maison, worüber das Jahrbuch Band X die abschliessende
Darstellung von Dr. Strickler nach den hierüber neu aufge-
fundenen Papieren enthält. Zwischen dieser Verfassung von
Malmaison und der sogenannten zweiten helvetischen Verfassung
von 1802 schwanken seither alle unsere Verfassungen ; die
jetzt bestehende, nach den letzten Revisionsbeschlüssen über
die Rechtseinheit und den Rückkauf der Eisenbahnen, geht
sogar in einzelnen Punkten über die zweite Helvetik in centrali-
sirendem Sinne hinaus.
Inneres. Revisionen der Bundesverfassung. Interpretationen. 409
Die Annahme der Proportionalwahl und der Volkswahl
des Bundesrates würde eine Totalrevision der Verfassung" he*
deuten, denn die in diesem Falle unterliegende, wahrschein-
lich sehr grosse, Minorität würde ein solches Resultat mit
einem Antrag auf Totalrevision erwiedern. Dann würde
das neue Jahrhundert mit Verfassungskämpfen heginnen, ähnlich
wie sie vom 7. Januar 1800 bis zum 19. Februar 1803 statt-
fanden, was wir einstweilen weder hoffen, noch voraussehen.
Eine weitere eidgenössische Verfassungsinitiative wurde in
dem Basler Sozialistenorgan «Vorwärts» angekündigt, um den
Artikel 70 über die Frera denpolizei zu beseitigen.
Es ist aber einstweilen nicht wahrscheinlich, dass sich die
nöthige Stimmung des schweizerischen Volkes auch nur zu
dem Versuche einer solchen Abstimmung findet.
Eine fernere Initiative wird von dem Alkoholgegner-Bund
zum Zwecke einer Revision des Art. 31 der Bundesver-
fassung über die Gewerbe freiheit beabsichtigt.
Interpretationen der Bundesverfassung.
Einige besonders bemerkenswerthe Vorkommnisse sind die
folgenden: Der Bundesrath hat eine Beschwerde gegen die
Regierungsrathswahlen von Zug gutge*
heissen, wonach eine Verletzung des Artikels 4 der Bundes-
verfassung betreffend den Schutz der Rechtsgleichheit dann
besteht, wenn entweder ein «Willkürakt», d. h. eine «ob-
jektiv in keiner Weise gerechtfertigte Massnahme» vorliegt,
oder eine «rechtsungleiche Behandlung», d. h. «wenn unter
völlig gleichen, oder doch wesentlich gleichen Verhältnissen
verschiedene Verfügungen getroffen werden und zwar so,
dass einer der Gleichberechtigten dadurch in seiner Rechts*
Stellung gegenüber dem andern ohne rechtlichen Grund
hintangesetzt wird». Dieser Entscheid; der sich auch auf
410 Jahresbericht 1899.
Anwendung kantonaler Gesetze durch kantonale Behörden
beziehen kann und hier thatsächlich bezieht, ist offenbar die
Nachwirkung des Rekurses Merinond und geeignet, in dieser oft
bestrittenen Frage endlich einmal festes Recht zu schaffen
(BBlatt 1899, Nr. 30).
Anlässlich eines in der Sitzung des Nationalraths Tom
29. Juni dieses Jahres gerügten Vorfalles wurde als Regel
vom Bundesrathe beschlossen und allen Departementen mit-
getheilt :
1) Es sei in allen denjenigen Rechtsstreitigkeiten, in denen
der eidgenössische Fiscus von Schweizerbiirgern,
die in der Schweiz wohnen, vor kantonalen Gerichten
belangt wird, der mit der Vertretung des ersteren be-
vollmächtigte Anwalt anlässlich der Prozessinstruktion
anzuweisen, von dem Rechte auf Stellung eines
Kaution sbegehrens keinen Gebrauch zu machen.
2) Es sei dieses Verfahren, ausgenommen in Fällen, in
denen ein insolventer Klager einen offensichtlich trole-
rischen Anspruch gegen die Eidgenossenschaft erhebt,
von sämmtlichen Departementen zu beobachten.
In Auslegung des öfter bestrittenen Artikels 1,
Ziffer 5, derMilitärstrafgerichtsordnung wurde
in einem Falle erklärt, dass unter «dienstlichen Obliegen*
heiten», deren Verletzung militärische Kompetenz auch gegen-
über nicht im Dienst Befindlichen nach sich zieht, der dienst-
liche Verkehr mit militärischen Vorgesetzten m Einbegriffen sei.
In Abweichung von der früheren Praxis hat der Bundes-
rath erkannt, dass, wenn einem Familienvater die Bewilli-
gung zur Erwerbung des Schweizerbürgerrechts ertheilt
wird, diese für dessen minderjährige Kinder nur dann gilt, wenn
der Vater selbst sich einbürgern lässt. Wenn Minderjährige
unabhängig von ihren Eltern das Schweizerbürgerrecht er-
Inneres. Interpretationen aus dem Bundesrecht. 411
werben wollen, so Ist eine besondere Bewilligung beim Bun-
desrathe einzuholen.
Die Appellationskammer des Obergerichts Zürich hat die
Reproduktion der Stückelberg'schen Fresken in der Teils-
kapelle in graphischer Vervielfältigung als zulassig erklärt,
da die Teilskapelle ein «öffentlicher Platz» sei. Damit wurde
die Schadenersatzforderung der Firma Benziger in Einsiedeln
gegen die Lithographie Schlumpf in Winterthnr wegen Er-
stellung von Ansichtspostkarten nach Aquarellen der Kläger
abgewiesen.
In Bezug auf die stets etwas schwierige H a u s i r -
Gesetzgebung wurde von dem Bundesrath auf eine
Anfrage des Kantons Graubünden folgende Ansicht geäussert:
«Da die Gesetzgebung über das Hausirwesen Sache der
Kantone ist, so steht ihnen nach jener Antwort das Eecht
zu, Ton Gesetzes wegen die Ertheilung von Hausirpatenten an
deutsche Reichsangehörige von der Bedingung ihrer Nieder-
lassung in der Schweiz abhängig zu machen. Die gegen-
wärtige Strömung gegen das Hausirwesen in der Schweiz
wird natürlich die Kantone zur Revision der Hausirgesetz-
gebnng im Sinne jener Erschwerung veranlassen. — Die
neueste deutsche Gesetzgebung enthält über den «Gewerbe-
betrieb der Ausländer im Umherziehen» (Hausirhandel) u. a.
folgende Bestimmungen: 1. Ausländer, welche ein Gewerbe
im Umherziehen betreiben wollen, bedürfen eines Wander-
gewerbescheines ... 4. Die Ertheilung eines Wandergewerbe-
scheines ist zu versagen, wenn ein Bedürfniss zur Ausstellung
von Wandergewerbescheinen für Ausübung des betreffenden
Gewerbes im Bezirke der Behörde nicht besteht, oder sobald
für das Gewerbe, für welches der Schein nachgesucht, wird,
die den Verhältnissen des Verwaltungsbezirkes der Behörde
entsprechende Anzahl von Wandergewerbescheinen ertheilt
oder ausgedehnt worden ist . . . 7. Der Mangel eines festen
Wohnsitzes im Inlande ist Ausländern gegenüber als ein
Grand zur Versagung des Wandergewejbescheines oder zur
Versagung der Ausdehnung desselben nicht anzusehen.»
412 Jahresbericht 1899.
Iu einem Basler-Rekurs betreffend Tragweite und Ver-
bindlichkeit eines Initiativ-Begehrens wurden
von dem Bandesgerichte folgende Ansichten als richtig gut-
geheissen :
«Im Juni 1895 haben 2111 Stimmberechtigte beim Grossen
Rath des Kantons Baselstadt das Begehren um Ersetzung des
bisherigen Wahlgesetzes mit Einführung des Proportional-
gesetzes eingereicht. Nach Ablehnung des Begehrens durch
den Grossen Rath wurde dasselbe in der Volksabstimmung
angenommen. Darauf wurde vom Grossen Rath ein neues
Gesetz ausgearbeitet. Gegen dieses Gesetz ergriffen Kündig
und Genossen den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundes-
gericht, mit der Begründung, das Initiativbegehren verlange
einen Ersatz des Wahlgesetzes von 1893. Statt dessen habe
der Grosse Rath ein Gesetz über Wahlen und Abstimmungen
erlassen; endlich bringe er den Grundsatz des Stimmzwanges
in dasselbe hinein. Das sei verfassungswidrig. Der in der
Initiative kundgegebene Wille müsse respektirt und es dürfe
nicht über denselben hinausgegangen werden. Der Grosse
Rath müsse angehalten werden, ein dem Willen der Initianten
entsprechendes Gesetz auszuarbeiten und könne bezüglich
des Stimmzwanges oder der Ausdehnung des Proportional-
wahlsystems auf andere als auf die Grossrathswahlen eine
besondere Vorlage ausarbeiten.»
In Erledigung einer Anfrage wird erwidert, dass der
Bundcsrath zu wiederholten Malen den Art. 8 Abs. 1 des Al-
koholgesetzes dahin interpretirt hat: die in diesem Artikel
als Minimalgrenze des Grosshandels in gebrannten Wassern
zugestandenen 40 Liter dürfen nicht aus verschiedenen Sorten
zusammengesetzt werden, sondern nur aus einer und derselben
Sorte bestehen. Die Lieferung von 30 Liter Absinth und
30 Liter Kirsch gilt also nicht als Gross-, sondern als Klein-
handel, auch wenn diese Lieferung unter einer Faktur und
unter einem Frachtbriefe zur Ausführung gelangt.
In einer Beschwerdesache der Firma E. Dreyfus in
Inneres. Interpretationen aus dem Bundesrecht. 413
St. Gallen erklärte der Bundesrat!! «unter Hinweis auf die
Erwägungen der bundesräthlichen Entscheidung vom 1 9. Au-
gust 1898 in Sachen F. Jelmoli kann ohne weiteres fest-
gestellt werden, dass die Kantone im Hinblick auf Art. 31
litt, e der Bundesverfassung befugt sind, freiwillige Aus-
verkäufe jeglicher Art, also auch «sogenannte Reklamc-
Gelegenheits- und andere vorübergehende Massenverkäufe zu
reduzirten Preisen» an eine Patenttaxe zu knüpfen».
In Bezug auf das Schächtverbot (Art. 25 B.-V.)
wurde vom Bundesrath die Einfuhr geschächteten Fleisches
als durchaus zulässig erklärt (Bbl. 1899, Nr. 8).
Ueber die Civilstandsregister-Auszüge bei E h c v e r -
kündungen wurde in Bbl. 1899, Nr. 19, ein Kreis-
schreiben an die Kantone erlassen.
Ueber die ausnahmsweise Samstags-Abstimm-
u n g der Angestellten von TranBportanstalten etc., welche
die Rflthe in dem Rekurse Lurati-Moroni, entgegen der An-
sicht des Bundesrathes, erlaubt hatten, wurde in neuerer Zeit
durch ein Kreisschreiben die Meinung der Kantone eingeholt.
Dieselben scheinen in ihrer Mehrheit diese Ansicht zu theilen.
In der Junisitzung der Bundesversammlung wurde der
Bundesrath ersucht, für eine bessere Ordnung in den Heimat-
schriften der zahlreich in der Schweiz aufhältlichcn
Italiener besorgt zu sein. Der Bundesrath nahm die Motion in
dem Sinne an, dass er durch einen Zusatzvertrag mit Italien
möglichst für die Herstellung der Identität der Träger dieser
Schriften sorgen will, dagegen lehnte er die Einführung von
Leumundszeugnissen (wie sie bloss gegenüber Deutschland
und Liechtenstein bestehen) als ziemlich unnütz ab und sprach
sich auch gegen die Beregung einer allgemeinen «Italiener-
frage » aus.
In einer der nächsten Sitzungen der Bnndesversamin-
414 Jahresbericht 1899.
lang wird die Verfassungsmässigkeit des sogenannten « pe tits-
che vaux« -Spieles, das in verschiedenen sogenannten
«Kursäälen* der Schweiz unter verschiedenen Formen vor-
kommt, in Frage gestellt werden. Ein sonst tüchtiger Offi-
zier der schweizerischen Armee wurde vor Kurzem straf-
rechtlich verurthcilt, und es zeigte sich dabei, dass er ihm
anvertrautes Geld seiner Untergebenen in erheblichen Be-
trägen in dem Luzerner-Kursaal verspielt hatte. Es wird
hoffentlich nicht nöthig sein, dass solche Vorkommnisse sich
noch mehren, um hier Wandel zu schaffen. Andernfalls
würde es noch besser sein, wenigstens, wie früher in Saxon,
nur Eine offene Spielanstalt in der Schweiz zu toleriren, die
leichter überwacht und reglementirt werden kann. Ohne
Zweifel aber wird sich der Spielteufel noch für seine Insti-
tutionen wehren.
Die von uns wiederholt berührte Angelegenheit Civry
wurde in diesem Jahre definitiv zu Gunsten der Stadt Genf,
als Testamentserbin des Herzogs Carl von Braunschweig, er-
ledigt und die Ansprccher abgewiesen, da sie nicht im Stande
gewesen waren, die Eigenschaft ihrer Erblasserin Elisabeth
Wilhelmine de Civry als einer anerkannten natürlichen
Tochter des verstorbenen Diamantenherzogs nachzuweisen.
Kantonsverfassungen. Der grössere Theil
der hierin vorgekommenen Aenderungen ist wie gewöhnlich
unbedeutender Natur und enthalt keine bemerkenswerthen
Grundsatze.
Es sind dies Partialrevisionen von Genf vom
29. Oktober 1898 betreffend die öffentliche Armenunterstütz-
ung; Zürich vom 5. Dezember 1898 betreffend die Organi-
sation des Regiernngsrathes ; A a r g a u vom 19. Mai
1899 betreffend die Mindestbesoldung der Volksschullehrer ;
Inneres. Kantons Verfassungen. Statistisches. 415
G 1 a r u s vom 7. Mai 1899 betreffend die Organisation
des Kriminal- nnd Polizeigerichts und vom 1. November 1898
betreffend Verwandte, die nicht in der gleichen Behörde
nebeneinander sitzen sollen. ""
Eine bedeutendere Tragweite hat bloss die neue
Sckwyzer- Verfassung vom 23. Oktober 1898, welche
die Proportionalwahl für 12 Wahlkreise des Grossen Raths
einfuhrt, wogegen 18 das Mehrheitssystem beibehalten. Dass
diese 12 mit der Proportionalwahl beglückten Gemeinden
lauter grössere sind, in welchen bei der bisherigen Mehrheits-
wahl vorzugsweise nicht gouvernementale Kantonsräthe ge-
wählt wurden, scheint nicht ganz zufällig zu sein und er-
innert diese Massregel damit an die sogenannte Disraelische
Wahlreform in England, die nun aber längst durch die Glad-
stone'sche Reform wieder aufgehoben ist. Der Bundesrath
findet die Anwendung verschiedener Wahlsysteme in dem
gleichen Kanton nicht unzulässig ; es wird sich bei dem Re-
kurse an die Bundesversammlung, welcher gegen seinen Ent-
scheid (Bbl. 1899, Nr. 34) ergriffen worden ist, wesentlich,
wie im Rekurs gegen die Regierungsrathswahlen von Zug,
fragen, ob in dieser Bestimmung des Artikels 26 der neuen
Verfassung eine Willkürlichkeit liegt, die zu politischen
Zwecken von der Mehrheit gegen die Minderheit eingeführt
werden will, um bloss in den der letzteren wesentlich an-
gehörenden Wahlkreisen die Stimmen zu spalten, in den an-
deren hingegen nicht. Insofern ist diese Sache auch ein et*
welches Vorpostengefecht für die grosse Frage einer Einführung
der Proportional wähl bei den Nationalrathswahlen, deren Be-
sprechung in den Eidgenössischen Räthen wohl kaum noch
in diesem Jahre erfolgen wird.
Die Statistik wird im nächsten Jahre durch die
dann vorzunehmende Volkszählung (die letzte fand ausser-
416 Jahresbericht 1899.
ordentlicher Weise schon 1888, statt 1890 statt) eine neue
Grandlage für viele ihrer Resultate gewinnen; doch werden
dieselben bis zum Erscheinen des nächsten Jahrbuches nur
theilweise bekannt seilt.'
Im Anschluss an die eidgenössische Volkszählung vom
Dezember 1900 wird eine Gewerbezählung und zu ihrer Er-
gänzung eine Gewerbeenqnete durchzuführen sein. Diese Er-
hebungen haben sich auch auf die Hausindustrien, das Han-
delsgewerbe und die Landwirthschaft zu erstrecken, jedoch
nicht auf die Forstwirtschaft ; ebenso bleiben die Verkehrs-
gewerbe der Eisenbahnen und Dampfschiffe, der Post und des
Telegraphen von denselben ausgeschlossen.
Ueber die gegenwärtigen Verhältnisse vor dieser neuen
Volkszählung enthält der stets sehr sorgfältig ausgearbeitete
Bericht des schweizerischen Handels- und Industrievereins
folgende besonders bemerkenswerthe Zahlen:
Die Schweiz hat einen Flächeninhalt von 41419
Quadratkilometern. Davon waren im Jahr 1877 :
Produktives Land
Aecker, Wiesen, Weiden, Gärten 21 291 km2.
Wald 8 065 >
Rebland 329 >
Total: 71, 7 °/0 des Gesain rat-Areals 29 685 knr-.
Unproduktives Land
Felsen, Schutthalden u. s. w., Wege ... 8 044 km2.
Gletscher 1 839 »
Seen und fliessende Gewässer 1 678 >
Städte, Dörfer, Gebäude 173 »
Total: 28,8 °i0 des Gesammt -Areals 11 734 km.
Die Schweiz zählte Einwohner am 1. Dezember (1860
am 10.):
1860 1870 1880 1888
Wohnbevölkerung 2 510 494 2 655 001 2 831 787 2 917 754
Innen». Statistisches,
417
Ausländer wohnten in der Schweiz:
1860 1870
1880
1888
114 983 150 907
211,035
229 650
(4,6°/o) (5,7°/o)
(VW
(V/o
)
Davon waren:
1860
1870
1880
1888
Deutsche .... 47 792
57 245
95 262
112 342
Franzosen .... 46 534
62 228
53 653
53 627
Italiener .... 13 828
18 073
41 645
41 881
Oesterreicher u. Ung. 3 654
5 872
12 735
13 737
Ueber seeische Auswanderung Es wanderten aus
Personen :
1880 1885 1890 1895 1896 1897 1898
7 255 7 583 7 712 4 268 3 330 2 508 2 288
Die Schweiz zahlte im Jahre 1888 3185 Gemeinden,
davon folgende mit mehr als 10 000 Einwohnern (Wohnbe-
völkerung) :
Zürich (im jetz
Basel
igen U
mfang)
90 088
, 69 809
Genf
52 043
Bern
46 009
Lausanne
, 33 340
St. Gallen
27 390
Chaux-de-fonds .
25 603
Luzern .
. 20 314
Neuenburg
Winterthur
16 261
, 15 805
Biel
. 15 289
Herlsau .
. 12 937
Schaffhausen
. 12 315
Freiburg
Plainpalais
Locle
. 12 195
. 11911
. 11 226
27
418
Jahresbericht 1899.
Die Gesammtbevölkerung vertheilte sich folgendermassen
auf die Beruf sklassen:
Berufsklassen
1870
absolut
in
%
1880
absolut
in
°/o
1888
absolut
in
0/
10
963,578
175,912
62612
A. Gewinnung der Natur- 1;
erzeugnisse . . . .1,145,719
B. Veredlung der Natur
und der Arbeitserzeug-
nisse
C. Handel .....
D. Herstellung von Ver-
kehrswegen, Verkehr
E. Allgemeine öffentliche
Verwaltung, Rechts-
pflege , Wissenschaft,
Kunst
F. Nicht genau bestimm-
bare Berufstätigkeit
G. Personen ohne erkenn-
bares Verhältniss zu
einem Beruf . . .
Gesammtbevölkerung
113,580
18,248
189,498
2,689,147
43
36
7
4j
1
1,154,163
1,075,330
205,605
114,715
121,914
17,463
156,912
100 2,846,102
40
7
4
4
1
38 1,074,589
213,607
1001
1,133,865
127,996
127,426
28,539
211,832
39
37
12,917,754
4
1
_7
100
Münzen und Banknoten. Bis Ende 189 8 waren an
Münzen eidgenössischen Gepräge dem Verkehr übergeben:
Fr.
Gold:
2 550 000 Zwanzigfrankenstücke im Nennw. v. 51 000 000
Silber :
2 126 000 Fünffrankenstücke im Nennwerth v. 10 630 000
5 700 000 Zweifrankenstücke > > > 11 400 000
10 600 000 Einfrankenstücke > » > 10 600 000
8 400 000 Halbfrankenstücke > » » 4 200 000
Nickel:
16 000 000 Zwanzigrappenstücke im Nennw. v. 3 200 000
21 500 000 Zehnrappenstücke > > » 2 150 000
30 500 000 Fünfrappenstücke > > » 1 525 000
Innerei. ; Statistisches.
419
Kupfer :
20 986 700 Zweirappenstücke im Nennwerth v.
38 050 000 Einrappenstücke » > »
419 734
380 500
156 412 700 Stücke im Nennwerthe von 95 505 234
Die effektive ßanknoten-EinisBion der schweizerischen
Emissionsbanken hat betragen im Durchschnitt der Jahre
1894 1895 1896 1897 1898
Fr. 180585000 185&34000 197310000 207353000 219693000
Entwicklung des Sparkassenwesens.
' 1835 1862 1882 1895
Sparkassen 100 235 487 557
Einleger 60 028 355 291 746 984 1196 540
> auf
100 Einw. 3 14 26 40
Guthaben der
Einleger Fr. 17 000 000 132 000 000 514 000 000 894 000 000
Guthaben auf
1 Einw. Fr. 8 53 181 296
Versicherungswesen.
Gesämmtbeträge für die schweizerischen Versicherten
in Millionen Franken.
Veraichenmgs-
zweige
Versieh. Kapitalien
auf Ende
1895
1896 i 1897
Bezahlte Prämien
1895 1896 1897
Leben
Unfall
Feuer
a) kantonal . .
b) privat . . .
Glas
Schaden durch Was-
serleitungen . .
Vieh (Privat-Gesell-
schaften). . . .
Hagel
Transport ....
554,0
4615,6
5723,2
4,8
54,1
3,9
29,8
580,6
4800,8
5842,8
5,5
57,9
5,0
34,3
606,4
19,77
5,87
20,79
7,22
4993,5
6009,7
6,0
5,98
7,94
0,13
5,77
7.59
0,14
60,0
0,02
0,02
6,0
33,6
0,16
0,58
1.48
0,21
0,72
1,56
Leben: Versicherte Renten auf Ende 1895: 2,06;
2,17; 1897: 2,09 Millionen Franken.
, Eingezahlte Rentenkapitalien 1895: 2,25;
2,68; 1897: 2,24 Millionen Franken.
22,10
7,90
6,07
7,51
0,16
0,02
0,24
0,70
1,47
1896:
1896:
Jahresbericht 1899.
G BBC
2 Ö Fi
gis-iii-gsiiiiiiii
SS-Ss 1 Igi-lll"lEl
ij : I85L-
SS Je. =
S SSCS $68
s £ 8SSE S8S S.i
iä i liii IM jSj
5 moB— £*.«
3 £ *-wSi to *. B SS cb cjs
—i oj ucai« eisoi es w ife.
35 8 l^SS 838 Sfcg
* 5) as *- 1— eis foSS &05 05
es tji ös Ln -J o 1 ös et 3s ->i
t-£ijl*- •— =5 55 ÖlCBtO
ssSk SeSs ISS
ilsf ill s«
B 3'
Inneres. Statistisches.
421
b. Drahtseilbahnen und Tramways.
Betriebs-
länge, i 11 km
1893
i
i
1894
1895
1896
1897
6lj
82
89
110
149
Beförderte
Personen
auf 1 km
1
I
212 930,
i
1 198 055
234471
228059
210233
Beförderte
Personen
im Ganzen
12 988 736
16240500
20 867 934
25 086 510 31 324 695
Dwm: Stadt
Z&rieh . . .
4452017
6077 895
7027877
7 604146
8301019
Telegraph.
Linienlänge,in km
Drahtlänge, in km
Bnreaux . . .
Personal . . .
Telegramme :
Interner Ver-
kehr : Versandt
Verkehr mit dem
Ausland: Ver-
sandt u. Empfg.
Transitverkehr .
Einnahmen . .
Ausgaben inklus
Amortisation .
1894
7 203
20092
1579
2253
1 818 827
l 301 376
526 537
12 905 378
3 619 88
i
1895
7153
20132
1668
2 328
1810 338
1442117
554 957
2 797
080i2
1896
714^
20 303
1866
2 605
1897
7102
20 650
1997
2 785
174101811665 333
1 441 556!
527 1841
813 9441
B 667 927 12 597 679i
1 487 793
576 068
2 832 607
2 671 845
1898
7144
21083
2 039
2 871
1684 719
1569 071
566 530
2 921 1 13
2 906 149
422
Jahresbericht 1899.
Telephon.
Linicnlänge,
in km .
Draht länge,
in km .
Netze . .
Stationen .
Abonnenten .
Lokalgesprä-
che . .
Interurbane
Gespräche .
Phono-
gramme
Vermittelte
Telegramme
Einnahmen
Erstellungs-
m kosten .
Übrige Aus-
gaben inkl.
Amortisat..
1894
7844
41153
189
19 814
17192
9 981 031
1 684 922
5 251
183 884
3113 974
1 176 289
2 705 769
1895
8 911
53076
225
23 446
20 535
12 402 040
2 212 707
4 879
208 792
3 296 367
1 261 350
2 938 894
1896
10 500
73 98Q
252
28198
25 090
13 436 918
2 729 070
4 608
212 184
4 333 540
2448478
4348 481
1897
1898
11865
76 593
276
32 252
28 846
i
15 619 172
3 377 763
4343
226 670
5,054 582
2 625 720
4 840 896
12065
87 483
288
35536
31918
16 091 971
3 634244
4 018
239 343
5364 049
2286 745
5 364 049
Staatsrechnung und Vermögen des Bundes.
Ein-
Ausgaben
! Brutto-
Staats-
iNrttO-
nahmen
j Vermögen
schuld
Vennögen
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
Fr.
1850
10 166 870
10 080 535
, 12 484 754
4 868 354
7 616 400
1860
21 685 566 ;
21913 766 13 241063
4 925 370
8315 693
1870
21906 816
30 905 446 19 816 885
21 396 647
1 579 762
1880
42 511848
41 038 227
44 275 608
37 442 029
6 833579
1890
67 621 251
66 688 381
108 451117
71112031
37 339085
1891
69 041 928
73 012 038 , 97 521894
60 964 575
36 557 319
1892
74 454 062
84 739 868 ' 99 302014
64 579 678
34 722 336
1893
78 226 526
86 301 439 95 855 803
64 546 831
31 308 972
1894
84 047 312
83 675 812
136 835 813
85 203 586
51 632 227
1895
81 005 586 !
76 402 63t 144800184
83 889 439
60 910 745
1896
87 262 389 ,
79 559 657 ; 155 041 545
80 870 764
74 170 782
1897
91 556 543 ' 87 317 364
1 161 854 827
83 891688
77 963140
1898
95 277 454
94 109 943
i i
169 700564
84 392 065
85 308 498
Inneres. Statistisches.
423
Verkehr mit
den 4 Grenz-
lindern . .
Verkehr mit
dem übrigen
Europa . .
Europa . .
Afrika . .
Asien . . .
Amerika . .
Australien
Unbestimm-
bar . .
Ausserdem :
gemünzte
Edelmetalle .
Einfuhr
Ausfuhr
1887
1888
1887
1898
715476 321
182 342 994
740 657 419
170 701 652
339 464 754
221094684
357 974 854
228 768 585
897 819 315
12 895 438
38480101
77 001 063
5023 638
911359051
13465 210
36 652300
98 005 579
5905 520
560 559 438
6 020 733
29 915 769
90 400383
2 930 422
3 346 308
586 743 439
5 776 826
32 170 752
92 525 877
3323404
3 245 442
1031 219 555
1065 387 660
693 173 053
723 785 740
83222542
88934 831
54 263 433
57 596 958
Der Zuwachs bei den Versicherungs-Gesell-
schaften der Schweiz beträgt :
i. J. 1890 Fr. 13 359 772 oder 51,2 °/0 des Brutto-Zugangs
„ „ 1891
„11 800 772
»
56/0 „
„ „ 1892
„ 13 692 085
»>
46,4 „
V „ loUu
„ 12 989 738
»J
43,7 „
„ „ 1894
„ 17 229 984
»
53,4 „
„ „ 1895
„ 17 511 463
M
51,j „
., „ 1896
„ 18 218 305
J»
52* „
„ „ 1897
„ 18 212 098
J)
52l4 „
i) „ 1898
* 20 707 558
»J
Ks „
91
V
?J
J>
J1
J)
»J
»
J)
»>
??
?»
?»
)1
>»
Die Steigerung des Bein-Zuwachses rührt zum Theil
toü der Betriebsamkeit der Anstalten her, zum Theil von
der zunehmenden Einsicht des Publikums in die Vertrauens-
würdigkeit der schweizerischen Lebensversicherungsgesell-
sc haften.
424 Jahresbericht 1899.
Der Werth des Vi eh Standes unseres Landes betrug im
Jahre 1896: 592,4 Millionen Franken, im Jahre 1886: 448,6
Millionen Franken, im Jahre 1876: 331,5 Millionen Franken,
wobei jeweilen die Bienenvölker nicht berücksichtigt sind.
Das Durchschnittsvermögen an Vieh betrng auf 1 Einwohner
für die Gesammtschweiz 1896: Fr. 194, 1886: Fr. 155, 1876:
Fr. 121. Es hat sich somit von 1877 auf 1896 ein Mehrwerth
von 260 Millionen oder 73 Franken per Einwohner ergeben.
Viehstand. Die Zählungen in den Jahren 1866, 1876,
1886 und 1896 ergaben i
Tbiergattung Zahl der Thiere
1866 1876 1886 1896
Pferde 100 324 100 933 98 622 108 529
Maulthiere ? 3 145 2 742 3 116
Esel ? 2 113 2 046 1 735
Rindvieh 993 291 1 035 856 1 212 538 1 304 788
Schweine 304 428 334 507 394 917 565 781
Schafe 447 001 367 549 341 804 271 432
Ziegen 375 485 396 001 416 323 414 968
Bienenstöcke ? 177 120 207 384 253 108
Laut Geschäftsbericht des schweizerischen Industriede-
partements beläuft sich die Zahl der am 31. Dezember 1898
dem eidg. Fabrikgesetz unterstellten Etablisseinente auf 5726
mit 212,618 Arbeitern. Gegen die Unterstellung unter das
Gesetz sind im Berichtsjahr 1898 siebzehn Rekurse eingereicht
worden , wovon vier gutgeh ei es en und dreizehn abgewiesen
wurden.
Inneres. Statistisches.
,1]
■i II I SS8:
I I
«■0 10(00
I 1 1
1 *
I 1
COD CO OiNÖO
2 13 "? =- ■; = 3 -2 s
> Jü Pm
426 Jahresbericht 1899.
Von den 200 199 Arbeitern beiderlei Geschlechts waren
Schweizer 174 697
Deutsche 14 872
Italiener 5 124
Franzosen 3 354
Österreicher und Ungarn 1 896
Andere 256
Von den 152 718 Betriebs-Pferdekräften wurden erzeugt
durch
Wasser 87 865
Dampf 53 410
Elektrizität 7 357
Gas und Petrol .... 4 086
Der Effektiv-Bestand der Armee war auf l. Januar 1889
Auszug 149 560
Landwehr 85 676
Landsturm 271 780
Total 507 016
Ueber den augenblicklichen Stand der Hauptindu-
strien der Schweiz ist dem Handelsberichte zu entnehmen,
dass in der Seidenindustrie sich die Webstühle und die Preise
(letztere um 10— 20°/o) im Berichtsjahr vermehrt haben. Dagegen
leidet die Baumwollindustrie an Ucberproduktion und an Un-
sicherheit der Einkäufe. Die Stickerei hat sich im Ganzen ge-
hoben, besonders die Ausfuhr nach Deutschland und Oesterreich,
während mit Amerika eine Zeitlang grosse Schwierigkeiten
in Folge der plötzlichen Einführung eines ganz neuen Deklara-
tionssystems bestanden, die jetzt augenblicklich beseitigt sind.
Die Wollenindustrie hatte in den feineren Waaren eine bedeu-
tende Preissteigerung bis zu 30°/0 zu verzeichnen, die schwei-
zerischen Tuchfabriken litten unter der massenhaften Ver-
sendung von Mustern und Katalogen aus dem Ausland, na-
mentlich Deutschland, der nun durch die Gebühr von 20 Cts.
Inneres. Statistisches. 427
auf jeder Postsendung' ein Riegel geschoben worden ist. Die
Lage der Leinenweberei wird als befriedigend bezeichnet, die
Handweberei kann sogar der vorhandenen Nachfrage nicht
genügen, auch die aargauische Strohindustrie steht befriedi-
gend; weniger dagegen die Leder- und Papierindustrie. Die
Maschinenindustrie hat ein gutes Jahr mit reichlichen Be-
stellungen hinter sich. In der Uhrenindustrie ist noch immer
Deutschland (sodann England, Russland und Oesterreich-Un-
garn) der beste Abnehmer mit mehr als IV2 Millionen Uhren
im Werthe von über 26 Millionen Franken. Die Importation
der Uhrenschalen aus Amerika nimmt beständig zu. Im
Ganzen aber ist die Uhren- und Musikdosenindustrie, wie die Bi-
jouterie nicht im Vorschreiten begriffen. Ebensowenig die
Holz- und Glasindustrie. Der Kflsehandel hat sein Hauptab-
satzgebiet in Frankreich und die Verhältnisse waren nicht
ganz befriedigende. Der Export von Chocolade hat sich, um
30% gesteigert. Die Hotelindustrie ist jedenfalls in diesem
Jahre von sehr gutem Erfolg gewesen. Doch lässt hier son->
derbarer Weise die Statistik immer sehr viel zu wünschen übrig.
Wir wissen nicht einmal sicher, wie viele Fromdenbetten und
Logir-Nächte angenommen werden können. In Bezug auf die
Gäste bilden immer die Deutschen die Grosszahl, beinahe ein
Drittheil. Indessen sind es nicht die am meisten verzehrenden.
Es wäre sehr wünschenswerth, dass über diese wichtige In-
dustrie sehr viel genauere Daten aufgenommen würden.
Nach der Handelsstatistik für 1898, die jüngst vom
handelsstatistischen Bureau des Zolldepartements herausgegeben
wurde, betrug die Einfuhr im letzten Jahre Fr. 1,065,305,000,
die Ausfuhr Fr. 723,826,000, die Unterbilanz somit Fr.
341,000,000 oder 32,05 Prozent der Einfuhr, gegen 32,78%
im Vorjahre. Wir haben schon darauf aufmerksam gemacht,
dass diese Unterbilanz ohne eine hinreichende statistische Erklär-
428 Jahresbericht 1899.
ung, wie die Decknnger folgt, eine nicht ganz beruhigende
Erscheinung ist. Noch weniger beruhigend ist die Thatsache,
dass das Leben im Laufe des letzten Menschenalters viel
theurer und auch viel luxuriöser geworden ist, ohne dass sich
desshalb die Menschen eigentlich viel besser dabei befinden.
Man darf zugeben, dass der sogenannte «Standard of life»,
der Stand der allgemeinen Lebenshaltung, in den unteren Klassen
sich im Ganzen gehoben hat, und dass darin ein Zeichen des
Fortschrittes eines Staates zu erblicken ist. Das bezieht sich
aber vernünftigerweise docli nur auf die Lebensbedürfnisse,
die zu einem anständigen und befriedigenden Dasein in Bezug
auf Gesundheit, Reinlichkeit, Nettigkeit gehören, nicht auf
die Zunahme der blossen Luxusausgaben und der Genuas- nnd
Vergnügungssucht überhaupt, die sehr im Steigen begriffen ist
In dieser Richtung wäre eine Vereinfachung sehr zu
wünschen und dieselbe kann unseres Erachtens nicht anders
kommen als dadurch, dass die oberen, gebildeteren Klassen mit
einem guten Beispiel vorangehen.
Parteiwesen. In der sozialistischen Parteigeschichte
wird das Jahr 1899 einen bedeutsamen Abschnitt bilden. Der reine
Marxische Sozialismus geht, weit entfernt das 20. Jahrhundert
für sich zu gewinnen, nicht einmal mehr von seinen Partei-
genossen unbekämpft in dasselbe hinüber. Offenbar geht die
revolutionäre und zugleich die rein theoretische Periode des
Sozialismus ihrem Ende ent gegen. Es stehen immer häufiger
aus den Reihen der Sozialisten selbst, ja sogar aus ihrem
Generalstab, Leute auf, die den «Marxismus» für ebenso un-
haltbar erklären, wie etwa das «eherne Lohngesetz» Lassalle's,
das schon längst zu den todten Theorien gehört, nachdem es
der Welt eine Zeitlang als die wirksamste aller Waffen gegen
die Bourgeoisie gepredigt worden war. Jetzt kommt die Reihe
Inneres. Partei weten. 429
an die ebenso phantasiereiche Nationalökonomie von Carl
Marx, die «Bibel des Sozialismus». Dann erst, wenn auch
diese durch die eigene Ueberzeugung der Sozialisten
von ihrer wissenschaftlichen, wie praktischen Unbrauchbarkeit
beseitigt sein wird, werden dieselben ganz von selber auf den
Gedanken kommen, den wir ihnen immer nahegelegt haben,
dass aller menschliche Fortschritt eine geschichtliche Ent-
wicklung ist, die keine gewaltsamen Sprünge verträgt, und
dass sie eigentlich nichts anderes sind und sein können, als
eine politische und nationalökonomische Fortschrittspartei im
jetzigen Staats- und Gesellschaftswesen. Damit treten sie in
den Rahmen der historisch gegebenen Gesellschafts- und
Staatsordnung zurück, ausserhalb welchem sie sich eine ganz
besondere und grossartigere Stellung in ihren früheren Kon-
gressbeschlüssen zuerkannten, die mitunter ein wenig an die
Ideen der tBandar Log», des berühmtesten Buches von Kipling,
erinnerte. Hätte nicht unsere Bourgeoisie-Presse selbst, die
für alles «Neue» (selbst wenn es in der Geschichte, die sie
oft nicht hinreichend kennt, schon oft da war) eine bei-
nahe kindliche Empfänglichkeit und Neugier an den Tag legt,
Lassalle, Marx, Engels und eine Menge kleinerer Nachbeter
dieses Evangeliums vom vierten Stande ebenso interessant
gefunden, wie sie auch ihre theologischen, oder naturwissen-
schaftlichen Vorkämpfer, die denselben den Weg öffneten,
Strauss, Renan, Darwin, Büchner interessant fand, so hätte
diese Erkenntniss schon lange vorher stattgehabt und wir
wären mit den wirklich möglichen Verbesserungen des
Looses aller Gedrückten bedeutend weiter, als es jetzt der
Fall ist.
Das entscheidende Buch in der oben gedachten Richtung
einer Zerstörung der bisherigen Götzen erschien in diesem
Jahre: «Eduard Bernstein, die Voraussetzungen des
480 J*hr«storicht . 1699.
Sozialiemas und die Aufgaben der Sozialdemokratie» * Stutt-
gart 1899.
Der Verfasser dieses Buches, der zu den bedeutendsten
Vertretern des Sozialismus in wissenschaftlicher Richtung
gehört, schliesst soin Werk mit den Sätzen, die auch wir
unterschreiben könnten :
«Woran mir liegt, was den Hauptzweck dieser Schrift
bildet, ist, durch die Bekämpfung der Reste utopistischer
Denkweise iu der sozialistischen Theorie, das realistische, wie
das idealistische Element in der sozialistischen Bewegung
glcichmässig zu stärken. > (Schluss der Einleitung.)
«Heute braucht sie (die Epoche) neben den streitbaren,
die ordnenden und zusammenfassenden Geister, die hoch genug
stehen, um die Spreu vom Weizen sondern zu können, und
gross genug denken, auch das Pflanzchen anzuerkennen, das
auf anderem Beete, als dem eigenen, gewachsen ist, die viel-
leicht nicht Könige, aber warmherzige Republikaner auf dem
Gebiet des sozialistischen Gedankens sind.» (Schluss des
Ganzen.)
«Hat,> so fragt er weiter, «die Sozialdemokratie als Partei
der Arbeiterklasse und des Friedens ein Interesse an der Er-
haltung der nationalen Wehrhaftigkeit ? Unter verschiedenen
Gesichtspunkten liegt die Versuchung nahe, die Frage zu
verneinen, zumal wenn man von dem Satz des kommunistischen
Manifestes ausgeht : ,der Proletarier hat kein Vaterland'.
Indess dieser Satz konnte allenfalls für den rechtlosen, aus
dem öffentlichen Leben ausgeschlossenen Arbeiter der 40er
Jahre zutreffen, hat aber heute, trotz des enorm gestiegenen
Verkehrs der Nationen .miteinander, seine Wahrheit zum
grossen Theil schon eingebüsst und wird sie immer mehr ein-
büssen, je mehr durch den fiinfluss der Sozialdemokratie der
Arbeiter aus einem Proletarier ein — Bürger wird. Der
Arbeiter, der in Staat, Gemeinde etc. gleichberechtigter Wähler
und dadurch Mitinhaber am Geraeingut der Nation ist, dessen
Inneres. Parteiwesen. 431
Kinder die Gemeinschaft ausbildet, dessen Gesundheit sie
schützt, den sie gegen Unbilden versichert, wird ein Vater-
land haben» ohne darum aufzuhören, Weltbürger zu sein, wie
die Nationen sich näher rücken, ohne darum aufzuhören, ein
eigenes Leben zu führen. Es mag sehr bequem erscheinen,
wenn alle Menschen eines Tages nur eine Sprache sprechen.
Aber welch ein Reiz, welche eine Quelle geistigen Genusses
gienge damit den Menschen der Zukunft verloren. Die völlige
Auflöung der Nationen ist kein schöner Traum und jedenfalls
in menschlicher Zukunft nicht zu erwarten. So wenig es aber
wnn6chen8werth ist, dass irgend eine andere der grossen
Kulturnationen ihre Selbständigkeit verliert, so wenig kann
es der Sozialdemokratie gleichgültig sein, ob die deutsche
Nation, die ja ihren redlichen Antheil an der Kulturarbeit
der Nationen geleistet hat und leistet, im Rath der Völker
zurückgedrängt wird.>
Den ganzen Gedankengang fasst die Aufforderung zu-
sammen, die Sozialdemokratie möge den Muth finden, sich
von einer Phraseologie zu emanzipiren, die thatsächlich
überlebt sei, und das scheinen zu wollen, was sie heute in
Wirklichkeit sei: eine demokratisch-sozialistische
Reformpartei.
Ihm werden nun noch manche andere folgen, denn nichts
thun die Menschen lieber, als, was sie bisher verehrten, auf
ihr eigenes Niveau, oder womöglich noch tiefer herunterziehen
und jeder einseitigen, oder falschen Theorie, die zu einer un-
gehörigen Bedeutung aufgeblasen worden ist, entstehen zu-
letzt nach kurzem Scheindasein die gefährlichsten Gegner
aus den eigenen früheren Anbetern.
Die Marx-Engels'sche Kritik der bisherigen National-
ökonomie und mit ihr die ganze Begründung eines wissen-
schaftlichen Sozialismus, als besondere Lehre zur Herstellung
einer ganz neuen Staats- und Gesellschaftsordnung, darf
man also mit diesem Jahre als durch ihre eigenen wissen-
432 Jahresbericht 1899.
schaftlichen Vertreter aufgegeben ansehen. Womit gar
nicht gesagt ist, dass damit alle von dieser Schule herrüh-
renden Anregungen fruchtlos gewesen, oder überhaupt
aufzugeben seien. Aber eine besondere sozialistische National-
ökonomie nnd einen besonderen sozialistischen Zukunftsstaat
wird es in kürzerer Zeit schon nicht mehr in den Gedanken
der Völker geben, so wenig als ein «ehernes Lohngesetz»,
und damit wird unseres Erachtens auch der gänzlich unge-
sunde Gedanke einer besonderen «Sozialpolitik» in Wegfall
kommen. Die sozialen Fragen sind ein Theil und zwar ein
ganz berechtigter Theil der gewöhnlichen Politik und
müssen durch dieselbe und auf der Grundlage der jetzigen
historischen Staatsordnung gelöst werden, wofür wir unserer-
seits stets, entgegen dieser Modekrankheit der «Sozialpolitik»,
eingetreten sind. Je bslder sich die gesammten Sozialisten
wieder der historischen und nationalen Staatsordnung an-
schliessen und ihre Vorstellungen von einem bald bevorstehenden
radikalen Umsturz derselben aufgeben, desto mehr werden sie für
ihre Vorschläge auch bei den andern Parteien auf Gehör und
billige Anerkennung rechnen können.
Eine radikalste Richtung in Politik, Staatshanshalt und
Administration, ja selbst Kirche und Religion, wird es stets
in einem Gemeinwesen mit freier Meinungsäusserung geben
müssen und davor haben wir speziell in der Schweiz uns gar
nicht zu fürchten. Dagegen ist eine Partei unfruchtbar für
sich selbst und nachtheilig für das Gedeihen des Ganzen, die
sich ganz ausserhalb der gegenwärtigen Staatsordnung be-
findet und eine völlig andere, nicht durch Entwicklung, son-
dern durch Umsturz, herbeiführen will. Wenigstens in einem
Staate, wo dem Willen der Mehrheit und der Entwicklung
der staatlichen Ideen keinerlei Hinderniss entgegensteht, darf
dies mit Unbcdingtheit gesagt werden; Revolutionen können
Inneres. Partei wesen. 433
nur da gerechtfertigt sein, wo sie geschichtliche Notwendig-
keiten geworden sind. Da aber rechtfertigen sie sich ganz
von seihst durch die ausdrückliche, oder stillschweigende
Theilnahme des grösseren Theils der Mitlebenden und die
völlige Ratifikation seitens der Nachwelt.
Wir hoffen, unsere verständigeren schweizerischen Sozia-
listen werden den Spuren ihres Genossen Bernstein nun folgen
und die rothe Fahne wieder unumwunden mit der rothweissen
vertauschen, womit der Satz des kommunistischen Manifestes
von Marx-Engels, dass «der Proletarier kein Vaterland habe»
dahinfällt. Sie würden damit sich selbst den grössten Dienst
leisten und weit mehr, als bisher, zur Verbesserung aller un-
gesunden staatlichen, oder ökonomischen Verhaltnisse beitragen
können. Damit würden sich auch die Parteiverhältnisse wieder
vereinfachen und von dem ganzen sozialistischen Welttraume
schliesslich nichts mehr übrig bleiben, als eine Erfrischung
der liberalen Partei und der Bourgeoisie überhaupt, und das
ist sehr wünschenswert^.
Was diese Entwicklung noch aufhält, ist einerseits die
Vorliebe für «internationale» Organisationen, welche der So-
zialismus mit noch anderen Bestrebungen theilt, andererseits,
wenigstens in manchen Ländern, die unnatürliche Allianz mit
der katholischen Partei. In der letzteren Richtung ist im
Verlauf dieses Jahres ebenfalls eine Besserung eingetreten,
indem der deutsche Centrumsführer Dr. Lieber auf einem
hessischen Katholikentage in Mainz u. a. folgende auch für
unsere Verhältnisse bemerkenswerthen Aeusserungen that:
«Es ist ja unmöglich für eine politische Partei, vornehm-
lich für eine führende, massgebende Partei, in jedem Augen-
blick den Freunden die Karten offen auf den Tisch zu legen.
Das Spiel wäre ja verloren, weil auch der Gegner dann die
28
434 Jahresbericht 1899.
Karten kennt. Die Lage im Allgemeinen wird — so scheint
es — bedrohlicher für uns.»
«Der Kampf des Centrums gegen die übrigen Parteien
ist vollständig in den Hintergrund getreten durch den immer
scharfer werdenden Kampf gegen unserenTodfeind,dieSo-
zialdemokratie. Geben wir uns darüber doch keiner Tauschung
hin, dass der letzte Entscheidungskampf geschlagen werden
muss zwischen uns und ihnen. >
Wir könnten auch hier nur wünschen, dass diese Ein-
sicht etwas früher eingetreten wäre. Das Gute, was beide
Parteien an sich haben könnten, wird durch diese Verbindung,
die nicht aufrichtig ist und sein kann, am allermeisten ver-
dorben.
Die internationale Sozialdemokratie hielt im
Mai in 'Brüssel eine Konferenz ihrer Führer ab.
Die Besprechung hatte u. a, den Zweck, das Programm
aufzustellen für den «Internationalen Sozialisten- Kongresse
der im Jahre 1900 während der Weltausstellung in Paris
gehalten werden soll. Die Tagesordnung für diesen Kongress
ist demgemäs8 wie folgt festgesetzt worden: 1. Ausführung
der Beschlüsse des Kongresses; Aufsuchung und Ausführung
praktischer Mittel für die internationale Verständigung, Or-
ganisation und Handlung der Sozialisten und Arbeiter ; 2. in-
ternationale Arbeitsgesetzgebung zur Beschränkung der Ar-
beitszeit, Besprechung über die Möglichkeit des Mindestlohnes
in den verschiedenen Ländern; 3. Besprechung der nöthigen
Bedingungen für die Befreiung der Arbeit: a) durch Ver-
einigung und Vorgehen des Proletariats als Klasse ; b) durch
politische und ökonomische Enteignung der
Bourgeosie; c) durch Sozialisation der Produktionsmittel;
4. Internationaler Friede, Militarismus, Unterdrückung ste-
hender üeere; 5. Kolonialpolitik ; 6. Organisation der für und
in der Marine thätigen Arbeiter; 7. der Kampf für das all-
gemeine Wahlrecht und unmittelbare Volksgesetzgebung; 8.
Kommunaler Sozialismus ; 9. Eroberung der öffentlichen Macht ;
Bündnisse der Bourgeoisieparteien; 10. 1. Mai;
Trustbewegungen. Der Kongress wurde mit den üblichen
i
Inneres. Parteiwesen. 435
Verbrüderungsreden, Hochrufen auf die Internationale und
die Kommune und mit der Marseillaise geschlossen.
Die «Bündnisse mit Bourgeoisie-Parteien» werden unter
diesen Umstanden bei denselben wenig Anklang finden. Ueber-
haupt scheint nun die Aera dieser grosssprecherischqn inter-
nationalen Sozialdemokratie ziemlich vorüber zu sein und die
nationale starker in den Vordergrund zu treten.
Ueber die Bestrebungen derselben enthält eine interessante
Darstellung eine Broschüre von Prof. Zürcher «Die Sozial-
politik der schweizerischen Parteien», welche sich darüber
wie folgt äussert:
«Endlich die Stellung der Partei zu den Angelegenheiten
des Bundes. Sie ist sich im Grundsätze stets dieselbe ge-
blieben, Stärkung der Bundesgewalt und Durchführung der
allgemeinen Zielpunkte der Partei auf dem Gebiete des Bun-
desstaates ist ihr Bestreben. An der Revisionsarbeit der Jahre
1872 und 1874 haben die Führer der demokratischen Partei
hervorragenden Antheil genommen ; bei jeder seitherigen Er-
weiterung der staatlichen und sozialen Beth&iägung des Bundes
wurde von der demokratischen Partei die Agitation für An-
nahme der Verfassungs- und Gesetzesvorlagen ins Werk ge-
setzt In diesen Bestrebungen giengen übrigens die drei nicht-
konservativen Parteien meist Hand in Hand, in der Mehrzahl
der Fälle wurde geradezu ein gemeinsames Vorgehen organisirt
und der im Jahre 1894 gegründeten schweizerischen demo-
kratisch-freisinnigen Partei *) traten die demokratische und
die freisinnige Partei des Kantons Zürich bei. Für die liberale,
jetzt freisinnige Partei ist die Zerstörung der kantonalen
Schranken durch eine gemeinsame Rechts- und Wirthschafts-
gesetzgebung ein Postulat der Handels- und Gewerbefreiheit ;
ebenso streben die Ideen der demokratischen Partei nach
Verwirklichung auf einem etwas grössern Gebiete, als dem
des eigenen Kantons. Auch hier wollen wir das Parteipro-
gramm von 1892 wiedergeben. Es lautet:
') Hilty, Politisches Jahrbuch 1894/95, Seite 408.
436 Jahresbericht 1899.
Eidgenössische Angelegenheiten.
1. Eidgenössische Verwaltungsreform und Wahl des Bnn-
desrathes durch das Volk.
2. Organisation des eidgenössischen Referendums.
3. Gesetzgebungsinitiative.
4. Verstaatlichung des Eisenbahnwesens; Aufstellung
eines Amortisationsplans für die Eisenbahnschulden.
5. Staatliche Unfall-, Kranken-, Alters-, Invaliden- und
Lebensversicherung.
6. Bundesbank mit Notenmonopol. Verbesserung der länd-
lichen Kreditverhältnisse in Verbindung mit den Kantonal-
banken.
7. Zündholzmonopol.
8. Tabakmonopol.
9. Monopol des Getreidehandels.
10. Weitere Zentralisation auf dem Gebiete des Zivil-
und Straf rechtes.
11. Eidgenössisches Stimmrechtsgesetz mit obligatorischer
Stimmgabe.
12. Ausbau des Art. 27 im Sinne der Förderung des
Volksschulwesens durch den Bund. Unentgeltlichkeit der Lehr-
mittel, obligatorische Civilschule.
13. Schweizerisches Gewerbegesetz mit obligatorischen
Lehrlingsprüfungen.
14. Ausbau des Fabrikgesetzes, Schutz der Arbeiterinnen,
zehnstündiger Arbeitstag, weitere Einschränkung der Frauen -
und Kinderarbeit.
15. Grössere Bundessubventionen für Güterzusammcn-
legung und Bodenverbesserung.
16. Ablehnung aller Uebergriffe der Fremdenpolizei.
17. Wahrung des Vereinsrechtes auch für diejenigen,
welche in wirthschaftlich abhängiger Stellung sich befinden.
Die letzten sieben Jahre haben dieses Programm unbe-
streitbar schon in mehreren Richtungen verwirklicht. An-
derseits hat sich gerade mit Bezug auf das Postulat der
Wahl des Bundesrathes durch das Volk ein Umschwung der
Anschauungen in der Partei vollzogen ; was aber die übrigen
Punkte, insbesondere auch diejenigen von eigentlich sozial-
Inneres. Parleiwesen. 437
politischem Inhalte anbetrifft, so dürften dieselben auch in
ein neues Programm wieder aufgenommen werden.»
Es braucht, ausser der Wahl des Bundesraths durch das
Volk, die wir stets als unpraktisch bekämpft haben, nur sehr
wenige Abstriche oder Milderungen an diesem Programm, um
es für die gesammte liberale Partei, ja sogar für eine er-
hebliche Eichtung der Konservativen annehmbar zu machen.
Die natürlichen Parteien bei uns sind nicht die jetzt
bestehenden, sondern einfach die (im Wesentlichen protestan-
tische) liberale und die (im Wesentlichen katholische) kon-
servative Partei. Diese Gegensätze sind historisch und
werden immer bestehen bleiben. Sie sind aber auch nicht un-
versöhnliche Gegensätze bei uns, sondern es wird sich
über dieselben stets, wenn das nicht durch unnatürliche Par-
teiorganisation in den Hintergrund gedrängt wird, das na-
tionalschweizerische patriotische Gefühl und bei den meisten
Schweizern auch das Bewusstsein der gemeinsamen Eeligion
erheben, die doch (trotz der etwas verschiedenen Formuliruug
in mehr äusserlichen, als innerlichen Dingen) besteht.
Dieses Bewusstsein, dass es doch noch Eine christliche
Religion gibt, die sich gegen den blossen Atheismus als eine
Einheit fühlt, wird sich im nächsten Jahrhundert wahrschein-
lich bedeutend stärken und mit ihm wird dann auch mit Be-
zug auf die sozialen Fragen, die gegenwärtig Unordnung
in alle natürlichen Parteiverhältnisse gebracht haben, das
Wort eines berühmten Mannes zur Geltung gelangen: «Bringt
den Mann in Ordnung, dann wird er seine Verhältnisse selber
ordnen. >
Es ist schon zuzugeben, dass der Staat und die Gesell-
schaft dazu durch ihre Einrichtungen auch Vorschub leisten
sollen und müssen, aber niemals wird eine soziale Verbesserung
438 Jahresbericht 1899.
und Umgestaltung zum Besseren irgend einen dauernden Er-
folg gewinnen, die nicht mit einer Besserung der einzelnen
Menschen beginnt und darin ihren wesentlichen Halt findet.
Die Bewegung, welche in die Frauenwelt gekommen
ist, um derselben ihre gebührende Rechtsstellung in der Welt zu
verschaffen, ist offenbar in einer Zunahme begriffen. Uebrigens
wird dieselbe, wie wir bereits in dem Artikel «Franenstim in-
recht, in Band XI des Jahrbuches auseinandersetzten,1) sich
bei uns in ganz naturgemässen Etappen vollziehen.
Grössere Freiheit der Berufswahl, besserer Rechtsschutz für die
ökonomische Stellung der Frauen in und ausser der Ehe, Stimm-
recht und Wählbarkeit in Schulsachen, später Stimmrecht in
KirchenBachen und zuletzt erst allgemeine Rechtsgleichheit,
das werden die Stufen sein, auf denen diese grössere Hälfte
des Menschengeschlechts allmählig zu der gesicherten Stell-
ung gelangt, in welcher sie dann auch besser an den all-
gemeinen Kulturaufgaben theilnehmen kann.
Vorher aber muss das Bewusstsein in den Frauen selbst
noch erstarken, dass sie zu etwas Besserem da seien, als
bloss ein Schmuck des Hauses und ein notwendiges Mittel
zur Erhaltung des Menschengeschlechtes zu sein, denn «bene-
ficia non obtruduntur». Gegen seinen eigenen Willen wird
Niemand von Rechtlosigkeit befreit, und wo dies jemals ge-
schehen ist, bedarf es einer nachträglichen, oft sehr müh-
samen Lehrzeit, um diesen willkürlichen Entwicklungsgang in
einen naturgemässen umzugestalten.
Uebrigens hat diese ganze Frage noch einen tieferen
Fond, als den einer blossen politischen, oder Rechtsfrage.
Das Bedürfniss nach Arbeit, das, in den höheren
) Dasselbe erscheint in diesem Jahre in einer Separatausgabe.
Inneres. Frauenfrage. 439
Klassen der Gesellschaft wenigstens, durch die jetzige Stel-
lung der Frauen (ganz besonders der unverheirateten, welche
die Hälfte der Gesammtzahl ausmachen) nicht befriedigt wird,
und daneben das Liebebedürfniss der menschlichen, ganz
besonders der weiblichen Natnr, verlangt eine Bethätig-
ungsmöglichkeit, die es jetzt nicht hat. Eb würde durch eine
grossere Antheiinahme an den Geschicken des gesammten
VolkeB, welche jetzt den Frauen eigentlich ziemlich fernbleiben,
nnd durch eine freundschaftliche gemeinsame Thätigkeit mit
gleichgesinnten Männern, die jetzt sozusagen unmöglich ist,
vielleicht sogar besser befriedigt, als dies in den meisten
Ehen der Fall ist. Die edelgesinnten Frauen würden unseres
Erachtens gerne dafür die vielen dilettantischen Kunst-
bestrebungen und die sogenannten geselligen Vergnügungen
opfern, oder wenigstens beschränken, welche das Herz doch nicht
befriedigen, sondern im Gegentheil veröden. Denn ein Mensch
ohne grössere Lebensziele verkommt unfehlbar und ein Ge-
bildeter noch eher als ein Ungebildeter, dem die Noth
der täglichen Existenz wenigstens einen reellen Lebens-
zweck verschafft. Sobald diese wirkliche Sachlage bei
der grösseren Zahl der gebildeten Frauen, die jetzt noch
zweifelnd und müssig am Markte stehen, oder sich durch das
Wort «Un Weiblichkeit» terrorisiren lassen, zum Bewusstsein
durchgedrungen ist, so wird sich auch der Gedanke nicht
mehr abweisen lassen, dass hier eine innert den Grenzen
vernünftiger Möglichkeit liegende Abhülfe geschaffen werden
müsse, nnd zwar in den Republiken zuerst, die ohne die kräf-
tige Mitwirkung der Frauen nicht bestehen bleiben können.
In diesem Sommer fand ein grosser internationaler Frauen-
kongress in London statt, bei welchem alle Fragen der weib-
lichen Bernfsthätigkeit in zahlreichen Konferenzen besprochen
440 Jahresbericht 1899.
wurden1), bei welchen wir jedoch zwar nicht den praktischen, wohl
aber den philosophisch-ethischen Theil der Sache gerne etwas
eingehender und besser behandelt gesehen hätten. Daran
fehlt es noch ein wenig, dagegen ergingen sich die eng-
lischen Damen weitläufig über den ewigen Frieden und die
Gerechtigkeit im Verkehr zwischen den Völkern, um ein paar
Monate später diese Prinzipien gerade von England mit Füssen
getreten zu sehen, ohne dass sie sich erheblich dagegen er-
eifern werden. Glauben sie wirklich, dass man die Frauen
emanzipiren werde, solange man unter so nichtigen Vor-
wänden Nachbarstaaten mit Krieg überzieht? Der Egois-
mus, welcher dies rechtfertigt, wird die gleichen Männer
auch abhalten, ihren bisherigen weiblichen Unterthanen die
erforderliche Freiheit zu gewähren.
Der nächste internationale Frauenkongress soll in 5
Jahren in Berlin stattfinden. Wir sind auch in dieser Sache
für das «internationale» Kongresswesen nur sehr mittel-
mässig eingenommen. Die reellen Fragen des Lebens
müssen alle auf nationalem Boden und in den einzelnen
Staaten gelöst werden.
Hierin haben, soweit uns bekannt, folgende bemerkens-
werthe Fortschritte stattgefunden.
In England nahm das Unterhaus die London-Munici-
pal-Bill an, welche den Frauen die municipale Wählbarkeit
verleiht. Ein Bericht darüber sagt:
«Der vielumstrittene Punkt der municipalen Wählbarkeit
der Frauen entfesselte eine interessante Debatte über die
Frauenrechtsfrage, an deren Felsen die alten Parteiformen
x) Vertreten waren dabei 9 nationale Frauenorganisationen?
8 andere Länder, in denen die Organisation noch nicht zu einem
völligeu Abschlüsse gediehen ist, worunter die Schweiz, und ausser-
dem waren noch nicht offizielle Vertreter von 7 anderen Länden»,
worunter China, Persien, Indien, Russland und Palästina vorhanden.
Inneres. Frauenfrage. 441
wie Glas zersplitterten, indem sich dafür eine neue Majorität
von 196 Frauenvorkämpfern aus Liberalen, Konservativen,
Unionisten und Kadikaien bildete. Diese Mehrheit verlieh
nämlich gegen eine Minorität von 161 Stimmen den Frauen
Grossbritanniens das Recht, zu Stadt- und Geuieinderäthen
gewählt zu werden. Ein Amendement Courtney6 verlangte,
dass keine Person durch ihr Geschlecht, ihre Heirat oder
ihr Alter von der Wählbarkeit zum Aldermann oder zum Ge-
meinderath ausgeschlossen bleiben dürfe. Boulnois und La-
bouchere bekämpften das Amendement in scharfen Reden,
während Sir Henry Fowler sich die Frau zwar nicht als
Bürgermeister, Polizeipräsident , Parlamentsmitglied, Erz-
bischof, oder gar Armeekommandant, wohl aber als Stadt-
oder Gemeinderath gefallen lassen zu wollen erklärte. Bei
der Abstimmung, die den Courtney'schen Antrag zur Annahme
brachte, ergab sich die obige Majorität, in der Lord Balfour
neben dem liberalen Führer Cainpbell-Bann ermann, Morley,
Asquith, John Burns u. a. für die Frauenrechte einstanden.»
Es ist dies die nächste Etappe zum aktiven Parlaments-
wahlrecht und sehr bemerkenswerth besonders die Theilnahme
einflussreicher Mitglieder desselben.
In Irland besitzen die Frauen jetzt bereits das aktive
Wahlrecht in den Grafschaftsrath und das aktive und passive
in den Gemeinde-, Armen- und Schulrath und in die Kirchen-
verwaltung.
In Frankreich wurde in der Deputirtenkammer
mit 319 gegen 174 Stimmen die Zulassung der Frauen, die
den Grad eines «licenciö aux droits» (ungofähr unserem
juristischen Doktorgrade entsprechend) erlangt haben, zur
Advokatur beschlossen. Soweit uns bekannt, steht jedoch die
Genehmigung durch den Senat noch aus.
In Deutschland ist zunächst die Zulassung der
Frauen zu den Universitätsvorlesungen und den medizinischen
Prüfungen in Frage, worüber wir Zeitungsberichten Folgendes
entnehmen :
442 Jahresbericht 1899.
«Unmittelbar nach der Gründang der Strassburger Uni-
versität hatte der akademische Senat die Zulassung von
Frauen zu den Vorlesungen und Uebungen für unzulässig er-
klärt. An diesem Beschlüsse hatte die Universität seither
streng festgehalten und stand schliesslich mit diesem Verfahren
allein unter den deutschen Universitäten. Vor kurzem rich-
tete nun der Vorstand des Vereins elsaBS- lothringischer
Lehrerinnen an die Universität die Bitte, Lehrerinnen, welche
an höheren Mädchenschulen die Prüfung abgelegt haben, als
Hospitantinnen zu den Vorlesungen und Uebungen der Uni-
versität zulassen zu wollen. Der Vorstand wurde dazu ver-
anlasst durch den Gang der wissenschaftlichen Vorbildung
für Lehrerinnen, der im November vorigen Jahres für Elsass-
Lothringen neu geregelt worden ist. Danach wird die Be-
fähigung zu der Anstellung als Oberlehrerin an einer höheren
Mädchenschule durch die Ablegung einer ferneren wissen-
schaftlichen Prüfung bedingt. Diese Prüfung nun setzt ein
wissenschaftliches Studium in verschiedenen Fächern voraus,
das seiner Natur nach nur im Anschiuss an die Universität
erfolgen kann. Der akademische Senat hat nun im Anschlags
an jene Bitte den früheren Beschluss von neuem geprüft und
beschlossen, nicht nur die elsass-lothringischen Lehrerinnen,
sondern studirendc Frauen überhaupt zuzulassen. Der frühere
Beschluss ist ganz aufgehoben worden. Von jetzt an können
also Dozenten der Universität Frauen, die den entsprechenden
Grad von wissenschaftlicher Vorbildung haben, zu ihren Vor-
lesungen und Uebungen nach Belieben zulassen. Es ist also
nunmehr an allen deutschen Universitäten den Frauen der Zu-
gang zum akademischen Studium eröffnet.
Wie aus Aeusserungen eines Regierungsvertreters in der
Petitionskommis8ion des preussischen Abgeordnetenhauses zu
entnehmen ist, sind die beim Reiche schwebenden Verhand-
lungen wegen Zulassung der Frauen zu den medizinischen
Prüfungen, sowie zu den Prüfungen der Zahnärzte und Apo-
theker dem Abschlüsse nahe gerückt. Die überwiegend«?
Mehrzahl der Bundesstaaten hat sich dafür ausgesprochen,
dass den Bewerberinnen, welche auf Grund des Gymnasial-
reifezeugnisses zwar nicht als immatrikulirte Studentinnen,
Inneres. Frauenfrage. 443
aber als Hospitantinnen einen ordnungsmäBsigen Studiengang
zurückgelegt haben, vorbehaltlich der Erfüllung aller sonstigen
für Männer bestehenden Erfordernisse, die Zulassung nicht zu
nntersagen sei. Eine entsprechende Vorlage an den Bundes-
rat!) ist in Vorbereitung. Die Stellung der prenssischen
Staatsregierung zu der Frage ist die gleiche wie früher.
Die Zahl der zum Hören von Vorlesungen zugelassenen
Frauen betrug im letzten Wintersemester an den prenssischen
Universitäten 414, welche sich auf die einzelnen Universi-
täten wie foJgt vertheilten : Berlin 238, Bonn 26, Breslau 32,
Gottingen 26, Greifswald 17, Halle 15, Kiel 17, Königsberg
33, Marburg 10, Münster 0. Der Regierungskommissär theilte
hierüber noch Einzelheiten mit. Nur 22 der Zugelassenen
gehörten dem Alter unter 20 Jahren an, 250 waren zwischen
20 und 30, 142 über 30 Jahre alt. 276 besassen die Reichs-
angebörigkeit. Von den Ausländerinnen entfielen 59 auf
Rassland, 50 auf Amerika. Dem Bekenntniss nach waren,
soweit darüber Mittheilungen gemacht sind, 300 evangelisch,
24 katholisch, 88 isreali tisch, dem Familienstande nach 374
ledig, 36 verheiratet, 3 verwittwet. Ais Studienfächer waren
genannt (von den einzelnen Kombinationen abgesehen) bei
159 Geschichte und Philosophie, bei 92 Kunst und Litteratur,
bei 72 neuere Sprachen, bei 48 Naturwissenschaften und
Mathematik, bei 14 Medizin, bei 3 Zahnheilkunde, bei 13
Rechts- und Staatswissenschaften, bei 9 Theologie, bei 4 alte
Sprachen. Als Stand des Vaters waren in 133 Fällen aka-
demische Berufsarten, in 17 Offiziersstand, in 13 Lehrer-
stand, in 23 mittlerer und unterer Beamtenstand, in 3
Künstlerberuf, in 144 Kaufmannsstand, in 24 landwirtschaft-
licher Beruf, in 33 sonstige gewerbliche Berufsarten ange-
geben. Missstände, die sich aus dem gleichzeitigen Besuch
der Vorlesungen durch männliche und weibliche Studirende
ergeben hätten, sind nicht bekannt geworden. Gleichwohl
besteht in Universitätskreisen vielfach noch Abneigung gegen
die Zulassung der Frauen, wie dies erneut bei Besprechung
der Angelegenheit in der im Oktober v. Js. abgehaltenen
Rektorenkonferenz hervorgetreten ist. Den Frauen die Zu-
lassung zur Immatrikulation und damit ein Recht auf Besuch
444 Jahresbericht 1899.
sämmtlicher Vorlesungen zu gewähren, hält die preussische
Regierung unter diesen Uniständen nicht für angezeigt.
In Rassland können seit dem 23. Februar dieses Jahres
weibliche Aerzte in den Staatsdienst treten.
In Norwegen fand am 17. Mai in Christiania eine
grosse Demonstration zu Gunsten des Frauenstimmrechts in
Staats- und Gemeindeangelegenheiten statt, worüber der
Zeitungsbericht der Lausanner-Zeitung wie folgt lautet :
«Le 17 mai, «Jour de la Libertö» en Norvöge, les feinmes
norvegiennes ont fait a Christiania une grande d&nonstration
«n faveur du droit de vote politique et communal.
Un cortöge de deux mille cinq cents d'entre elles, jeunes
et vieilles, des plus riches et des plus pauvres, 6tudiantes
et ouvriöres, est parti ä deux heures et demie de la place
du Nouveau-March6 pour se rendre au bätimenl du Biksdag.
Le cortöge comptait dix-sept soc!6t6s avec leurs banniöres;
il 6tait pr6c6d6 d'un corps de musique et escortö de gendarmes
ä chevaL
Le pr^sident du Riksdag, M. Ulimann, a recu d'une de-
putation la Petition suivante revetue des signatures de 10,570
femmes :
«D6put6es d'un grand hombre de femmes de toutes les
classes de la population, nous nous permettons aujourd'hui,
jour de la libertä, de präsenter au Storthing notre requete
en faveur de l'admission des femmes ä voter en mattere poli-
tique et communaie.
«Dcpuis 1885, la demande en a etö faite au Storthing
toujours plus pressante, appuyäe par un nombre croissant de
femmes du pays entier, habitant palais et cabanes.
«Chaque fois nous avons r£clam6 notre droit de discuter
les lois du pays et de la commune, de concert avec les hom-
mes de qui nous partageons les soucis domestiques et que
nous secondons de notre travail daus tous les domaines de
l'activite humaine.
«Nous räclamons notre droit au nom de la collectivit£ ;
de meine qu'homines et femmes se soutiennent dans le travail
journalier, il faut qu'il en soit de m&me dans la vie publique.
Inneres. Frauenfrage. 445
pour la prospäritä du pays et de la population. Nous röcla-
mons notre droit en tant qu'indiyidus : il est blessant et avi-
lissant d'etre mises de cöte.
«Mais bien qu'on nous concäde la lägitimite' de nos re-
vendicatious et qu'on reconnaisse les inconvenients sociaux
resultant de ce qu'une moitte sculement de la nation jouit des
droits politiques, rien n'a 6te fait encore de la part des au-
torites pour faire droit ä nos demandes.
«Aucune mere, aucunc fenune norvegienne n'a jusqu'ici
obtenu ce que tout houime libre a conquis par les dernieres
extensions du droit electoral : le droit de proteger son travail
et ses inter&ts, le droit de contribuer au bonheur et ä la
prosperitä de notre grand chez nous, notre patrie aussi bien
que celle des frommes.
«Aujourd'hui, jour de la libertä, nous apportons au Stör-
thing notre Petition en faveur du droit de vote en mattere
politique et communale. II n'est aucun jour oü les ombres
de l'injustice soient plus profondes que ce jour-lä. Mais nous
avons l'espoir que le Storthing de Norvege äcoutera notre de«
inando et nous donnera notre droit.»
Le cortege s'est ensuite rendu dans le jardin du chäteau
royal oü la pr&idente a prononcä un discours. La mani~
festation s'est ensuite dispersa paisiblement.
On a 6te tres frappä a Christiania de la dignitä et de
l'esprit de solidarit6 entre toutes les classes de la sociätä
dont cette dämonstration a 6te empreinte.>
In Amerika ist folgendes vorgegangen :
In South-Dakota ist das Frauenstimmrecht abgelehnt
worden, doch mit so geringer Majorität, dass man hofft, es
beim nächsten Versuche durchzubringen. In Nebraska wurde
den Frauen das Recht zuerkannt, über die Verwendung von
Schulgeldern mitzubestimmen. —In Colorado haben die Frauen
bereits verschiedene gute Gesetze durchgebracht, beispielsweise
die Erhöhung der Schulzeit für die Mädchen bis auf das 18. Jahr,
die .Gründung eines staatlichen Heims für uneheliche Kinder
446 Jahresbericht 1899.
ferner ein Gesetz, das den. Müttern gleiche Rechte über die
Kinder zuertheilt wie den Vätern.
Dass sich das Franenstiromrecht in diesem Staate be-
währt hat, dafür spricht ferner folgende Resolution, die das
Parlament von Colorado mit 45 gegen 3 Stimmen zur Erinnerung
an die vor fünf Jahren eingeführte Neuerung angenommen hat:
«In Erwägung, dass gleiches Wahlrecht für beide Ge-
schlechter seit fünf Jahren in Colorado besteht, während
welcher Zeit die Frauen es ebenso allgemein ausgeübt haben,
als die Manner, und zwar mit dem Erfolg, dass für öffent-
liche Aemter geeignetere Kandidaten gewählt wurden, die
Wahlmethode verbessert, die Gesetzgebung vervollkommnet,
die allgemeine Bildung gehoben, das politische Yerantwort-
Hchkeitsgefühl infolge des weiblichen Einflusses stärker ent-
wickelt worden ist, beschliesst das Unterhaus, dass im Hin-
blick auf diese Resultate die politische Gleichstellung der
Frauen jedem Staate und jedem Territorium der nordameri-
kanischen Union als eine gesetzgeberische Massnahme em-
pfohlen werde, die geeignet ist, eine höhere und bessere so-
ziale Ordnung herbeizuführen.»
Eine beglaubigte Kopie dieser Resolution ist dnreh den
Gouverneur von Colorado allen Staaten der Union und der
gesammten Presse zugestellt worden. Die Franen in Colorado
besitzen nicht bloss das aktive, sondern auch das passive
Wahlrecht. Das Parlament zählt mehrere weibliche Mitglieder.
Im Staate New-York ist ein Gesetzesentwurf in Vorbe-
reitung, wonach die Vergehen von Kindern unter 12 Jahren
von einem Gerichtshöfe, der ausschliesslich aus verheirateten
Frauen besteht, abgeurtheilt werden sollen. Der Grundsatz,
dass Mütter die einzigen massgebenden Beurtheiler kindlicher
Fehltritte sind, würde hier zum ersten Male gewissermaßen
staatliche Beglaubigung erhalten.
Ferner hat der New- Yorker Stadtrath beschlossen, mehr
als 200 Knaben, die in den verschiedenen Verwaltungen als
Inneres. Frauenfrage. 447
Aufwärter, Laufbarschen, Schreiber verwendet werden, zu
entlassen, und dafür Mädchen in den Dienst der Stadt zu
übernehmen. Die Herren Jungen haben sich nicht als zuver-
lässig erwiesen. Sie waren fanl, frech, unwillig, rauchten Ci-
garetten und lasen, wo sie nur konnten, unmoralische Pten-
nigblätter. Die bisher angestellten Mädchen sind ihnen an
Sauberkeit, Fleiss und Aufmerksamkeit überlegen. Es haben
bereits über 150 Mädchen die Prüfung für die leichten Dienste
bestanden, die ihnen obliegen. Sie erhalten 120 bis 150 Fran-
ken per Monat.
Wir verweisen im Uebrigen für die amerikanischen Ver-
hältnisse auf den Origiuaibericht von Frau Belva Lockvood
in den Beilagen zum «Frauenstimmrecht» Jahrbuch XI.
Um mit einer mehr komischen Episode aus diesem Lande
des Fortschrittes zu schliesseu:
«Jones, deColombes, Ohio est un celibataire membre da
conseil communal de sa ville. A ce titre, il a vot6 contre
la nomination d'une jeune fille au poste de stänographe du
tribunal: «Tant qu'une femme gagnera deux cent cinquanto
francs par mois dans an office public, s'est-il-ecrie, il sera
impossible ä un celibataire de songer au mariage. Le inal-
heureux I Sa correspondance a doubl6 depuis qu'il a prononce
cette parole imprudente. De toutes les parties du pays ii
rec,oit des centaines de lettres de femmes. Les unes lui offrent
le mariage, les autres dänoncent son egoi'sme. Pour avoir le
temps de repondre galamment aux unes et aux autres, Jones
a 6te obligä de louer une machine ä öcrire et de prendre ä
son Service, comme stenographe, la jeune fille contre laquelle
il avait vote quelques jours auparavant. Ce sera peut-etre
eile qu'il finira par epouser.» (Gazette de Lausanne.)
Die Sache hat übrigens ihre ernste Seite, der Brodneid
448 Jahresbericht 1899.
spielt auch eine erhebliche Rolle in dieser Emanzipations-
frage.
In der Schweiz ging folgendes vor:
In der NationalrathBsitzung vom 27. Mai 1899 wurde die
Frage angeregt, ob Frauen zur Lehrlingsprüfung im
Handelsfache zugelassen werden sollen, was die männlichen
Handelskreiße perhorresziren ; das Handels- und Industriede-
partement erklärte jedoch, dass es die Frauen gleich be-
handeln werde, wie die Männer, trotz allfälligen Widerstandes.
Wenn die Sektionen des Handelsvereins das nicht acceptiren,
müssen sie auf die eidg. Subvention verzichten.
In der gleichen Sitzung wurde der Wunsch ausgesprochen,
dass auch weibliche Fabrikinspektoren angestellt werden,
wie es jetzt schon in England geschieht, mit sehr gutem Erfolg be-
sondersfür die Frauen- und Kinderarbeit. Die männlichen Fabrik-
inspektoren sind natürlich auch hier, wie in England, dagegen,
das thut aber auch gar nichts zur Sache. Der Dep.-Chef
meinte, es könne dies erst mit der Revision des Fabrikge-
setzes kommen, das jetzige Gesetz stehe dem entgegen. Das
letztere ist zwar kaum ganz richtig, immerhin spricht ein
Opporrunitätsgrund dafür, daraus keine separate Frage zu
machen.
Die eidg. Postverwaltung hatte dagegen in den letzten
zwei Jahren nur männliche Postaspiranten angenommen. Es wird
hiefür vom Departement der Grund angegeben, dass die weiblichen
Postbeamten für manche Verwendungen nicht passen, z. B. für
Nachtdienst, Bahndienst etc. ; alle Kreispostdirektionen ziehen
daher die männlichen Aspiranten vor. Im nächsten Jahre soll
das jedoch dennoch wieder in grösserem Masse anders werden.
Wir unsererseits fanden die weiblichen Postangestellten stets
mindestens ebenbürtig, soweit wir mit solchen jemals in
Berührung gekommen sind.
Inneres. Frauenfrage. 449
In den Kantonen gehen merkwürdigerweise die romani-
schen in dieser Frage voran. Am 12. März übten in einer
Versammlung der freikirchlichen Gemeinde von Lausanne die
Frauen zum ersten Male das Stimmrecht aus. Sie waren zahl-
reicher erschienen als die Männer, und die cGaz. de Lausanne»
glaubt annehmen zu dürfen, dass ihre Stimmen den Ausschlag
gaben für eine Wahl des Pfarrers Gagnebin, zur Zeit in
Biel, im ersten VVahlgange. Nachdem die Eglise libre voran-
gegangen, beschäftigt man sich nun auch in der Eglise
nationale der Waadt mit der Einführung des Frauen-
stimmrechts. In der Gemeinde Chexbres machte man den
Versuch einer Abstimmung der Frauen selbst über die Frage
und dieselbe ergab eine grosse Mehrheit dafür, was
manchen Leuten, die stets behaupten, die Frauen wollten selbst
nicht mehr Rechte, als sie haben, etwas unerwartet kam. Es
gibt freilich noch viele Frauen, die aus Wohldienerei, oder Gleich-
gültigkeit, da sie selbst nicht gerade leiden, von der « an-
deren Aufgabe* der Frauen reden , oder es «un weiblich >
finden zu stimmen. Dagegen ihre Töchter um jeden Preis an
den Mann zu bringen, das finden sie gewöhnlich sehr weiblich.
Betreffend die «condition civile de la femme marine»
wurde im waadtländischen Grossen Kath eine Gesetzesvorlage
berathen, deren Artikel, wie folgt, lauten:
Article premier. — La femme mariee qui exerce, inde-
pendamment de son man, une profession, une Industrie ou un
travail retribue, a sur le produit de son travail et sur les
acquisitions provenant de ses gains les memes droits que la
femme separee de Mens«
Art. 2. — La femme qui, par son travail, a acquis des
biens personnels, doit contribuer proportionnellement ä ses
facultas et ä celles de son mari aux frais du manage et ä
ceux de l'education des enfants communs.
29
450 . Jahresbericht 1899.
Elle doit supporter entiörement ces frais s'il ne reste rien
au mari.
Art. 3. — En derogation ä Part. 1064 da code civil, la
reconnaissance ou l'assignat passe par le mari n'emporte en
sa favear transfert de la propriäte* des creanccs et autres
tiires appartenant ä la femme que si celle-ci en fait la de-
mande devant le jage de paix.
Art. 4. — En cas de contestation, la femme doit etablir
l'origine et la propriöte* des biens lui appartenant. Elle peut
le faire par tout mode de preuve et m6me par temoins, qu'elle
que soit l'importance de la de man de.
Art. 5. — En dehors des cas prerus au deuxiöme alinea
de l'art. 214 du code civil, la justice de paix peut designer
la märe survivant a son conjoint comme tutrice de ses en-
fants mineurs.
Art. 6. — Le juge de paix est competent pour recevoir
les assignats et les reconnaissances ; il est ä cet effet assiste
du greftier.
Art. 7. — Sont abrogäs les art. 1049 ä 1056 du code
civil, ainsi quo tonte disposition contraire a la presente loi.
Die Kommission beantragte folgende Amendements:
Art. 7. — La femme ne peut ester en jugement sans
l'autorisation de son mari.
Si l'autorisation du mari est refusee, eile pourra etre
aecord^e par la justice de paix apres que celle-ci aura en-
tendu les parties.
Cette autorisation n'est pas nßcessaire pour intenter Fac-
tum en divorce, demander la Separation de biens, agir en re-
vendication, intervenir dans une saisie ou intenter l'action en
changement de reponse coutre son mari (L. P. 107, 111 et
250).
Art. 8. — La femme ne peut passer aueun contrat, ni
autrement s'obliger, ni aeeepter de donation ou de succession
sans l'autorisation de son mari.
Si l'autorisation du mari est refusee, la justice de paix
pourra l'accorder apres avoir entendu les parties.
Art. 9. — Si la femme s'oblige au profit de son mari,
l'autorisation de la justice de paix sera toujours necessaire.
Inneres. Frauenfrage. 451
Art. 10. — L'autorisation generale est valable.
Art. 11. — Lorsque la ferame n'a pas 6te* au torisäe aux
termes des art. 7, 8 et 9 de la präsente loi, l'action en nul-
lit^ ne pent Gtre exercöe et l'exception ne peut Gtre oppose>
que par la femme, par le mari ou leurs häritiers.
L'art. 7 du projet prendra le n° 12 et serait modifie*
comme suit:
Sont abroge* les art. 117, 118, 119, 120, 121, 125,
1049 et 1056 du code civil ainsi que toute disposition con-
traire ä la präsente loi.
In kurzer Zeit wird das Gesetz ohne Zweifel zur An-
nahme gelangen und ein Beispiel für andere Kantone bilden.
Im T es sin wurde die Frage des Frauenstimmrechts in
der Presse erörtert. Eine solche Stimme machte dabei die
interessante Entdeckung, dass in einigen Gemeinden im Tessin
das Frauenstimmrecht gewissermassen thatsächlich bestehe,
da im Sommer, wenn die Männer auswärts sind, sonst keine
Beschlüsse möglich wären.1) Die Notwendigkeit einer
solchen Massregel hat wenigstens die Gemeinde Melano
(Bezirk Lugano) anerkannt, indem sie förmlich beschloss,
in Ermangelung volljähriger Mitglieder männlichen Ge-
schlechts dürfe jede zur Bürgergemeinde gehörende Familie
in Bürgerangelegenheiten sich durch volljährige Frauensper-
sonen vertreten lassen. Dem Beschluss steht freilich ein
Gesetz von 1843 über die Ordnung der Bürgerangelegenheiten
entgegen, die Presse ist aber der Ansicht, dass dieses Gesetz
zur Aufhebung reif sei. Nur die spezifisch katholischen
Blätter sprachen sich gegen dieses Frauenstimmrecht aus.
In den deutschen Kantonen geht Bern mit der Wähl-
barkeit der Frauen in die Schulkommissionen voran. Eine an-
gesehene Zeitung sagt darüber:
«Es ist in jüngster Zeit in unserem Kanton die Anregung
gemacht worden, dass Frauen zu Mitgliedern der den Er-
*) Einstweilen scheint uns dies etwas zweifelhaft.
452 Jahresbericht 1899.
Ziehungsanstalten jeder Art vorgesetzten Kommissionen ge-
wählt werden sollten. Der Direktor des Unterrichts Wesens,
Herr Gobat, spricht sich in einem Vortrag an die Regierung
nnd den Grossen Rath zu Gunsten der Frauenbestrebungen
aus : Für die Einfuhrung der Frau in die Schulkommissionen
spricht alles. Die Frau, als geborne Erzieherin, gehört in die
Schule und in die Schulleitung, das ist ein unbestreitbarer
Satz. Dass die Frau gegenwärtig bei uns von den Schulkom-
missionen ausgeschlossen ist, lässt sich nur dadurch erklären,,
dass der Mann, der das Privileg der Gesetzmacherei in An-
spruch genommen, nur an sich gedacht und die bessere Hälfte
der Menschheit einfach ignorirt hat Die Direktion des Un-
terrichtswesens hat schon einmal den Versuch gemacht, die
Frau in die Schulkommission einzuführen. In ihrem defini-
tiven Entwurf des im Jahre 1894 promulgirten Gesetzes
über den Primarun terricht stand folgende Bestimmung:
«Wählbar in die Schulkommission ist jede Person, beiderlei
Geschlechts, welche das 20. Altersjahr zurückgelegt hat, in
bürgerlichen Ehren steht und unbescholtenen Leumunds ist.*
Der Regierungsrath nahm jedoch diese Bestimmung nicht ant
und es blieb bei der herkömmlichen Wählbarkeit der Männer.
Seither hat aber die Frage viel Terrain gewonnen. Die
Frauen haben sich in den meisten Kulturländern mit aller
Energie an die Eroberung von Rechten im öffentlichen Leben
gewagt und es ist ihnen gelungen, bedeutende Erfolge zu er-
reichen, selbst in unserem Kanton. Bestimmt doch das Armen-
gesetz (§ 84), dass «zur Beaufsichtigung von weiblichen Un-
terstützten, insbesondere zur Obhut armer Mädchen in und
ausser Anstalten, sowie zur Ueberwachung der Kinderpflege
Staat und Gemeinde Frauen zur Mitwirkung beiziehen können.»
Gestützt darauf hat der Staat Frauen zu Mitgliedern ver-
schiedener Anstaltskommissionen gewählt. Da diese Bestim-
mung in keiner Weise beanstandet worden ist, so 6teht zu
erwarten, dass die Erklärung der Wählbarkeit der Frau als
Mitglied der Primär- und Sekundarschulkommissionen auch
keinen Schwierigkeiten begegnen wird. Dem Vortrage ist ein
entsprechender Gesetzesentwurf beigegeben.»
Die Gesellschaft «Berna», die ausschliesslich aus Frauen
Inneres. Frauenfrage. Kirchliches. 453
besteht, gibt seit diesem Jahre eine Zeitschrift heraus, die
sich mit Frauenfragen beschäftigt. An der Spitze des lei-
tenden Komitos steht eine ganz dazu berufene Frau, die Gattin
des gegenwärtigen Bundespräsidenten der Eidgenossenschaft.
Dagegen wurde, während dies in «Sparta» geschieht,
in dem schweizerischen «Athen» (allerdings ganz entsprechend
den athenischen, in dieser Hinsicht sehr mediokren Anschau-
ungen) yon der Synode die Ertheilung des kirchlichen Stimm-
rechts an die Frauen nnd Ausländer, ja sogar der Ausdruck
eines Wunsches dieser Art zu Protokoll, abgelehnt.
Ohne Zweifel ist auch in der Schweiz diese Sache in
Fluss gerathen, gehörig geregelt kann sie aber ohne das Frauen-
stimmrecht nicht werden. Hierüber sagt ein Schriftsteller mit
vollem Recht : Wenn man den oft schändlich gequälten Thieren
Stimmrecht geben könnte, so wurde das Mitleid mit denselben
plötzlich viel grösser werden. So ist es leider auch im
Menschenhaushalt. Recht bekommt in der Regel nur der,
welcher es sich allfällig selbst verschaffen kann.
Dass diese Einsicht manchmal lange auf sich warten
lässt, weil die unterdrückten Parteien die Mittel nicht haben,
11m sich auf legale Weise Geltung zu verschaffen, die Revo-
lutionen aber stets etwas Odioses an sich tragen und nicht
immer von den angenehmsten Leuten in Scene gesetzt
werden, liegt in der Natur der Sache. Ebenso, dass die beati
possidentes niemals gern ihren bisherigen Unterthanen Gleich-
berechtigung einräumen. Doch könnte man ja denjenigen
Männern, welche am eifrigsten gegen die Ausübung des
Franenstimmrechts im Staat und in der Gemeinde sind, als
etwelche Gegenleistung das häusliche Stimmrecht garan-
tiren, das gerade sie mitunter nicht besitzen.
Das kirchliche Leben zu Ende des 19. Jahrhun-
derts zeigt bei uns, wie anderwärts, nicht, wie noch vor einem
454 Jahresbericht 1899.
halben Jahrhundert zu vermuthen war, das Greisenantlitz
eines unheilbaren Marasmus, sondern die deutlichen Spuren
einer bevorstehenden Verjüngung. Zwar die ältere Generation
namentlich der gebildeten Kreise lebt noch ganz in den An-
schauungen des naturwissenschaftlichen Materialismus, in denen
sie erzogen worden ist, und erhebt sich höchstens etwa zu
einem Goethe'schen Agnostizismus, welcher das, was man
nicht wissen kann, «schweigend verehrt» (d. h. ruhig igno-
rirt), praktisch jedoch atheistisch denkt und handelt. Und
ebenso ist der Niederschlag dieser Art von «Bildung» in den
unteren Klassen in der Form einer rohen Genusssucht in
hohem Grade vorhanden. Daneben aber fangen die Gebil-
detsten doch an, sich zu besinnen, ob das wirklich das Ende
der vieltausendjährigen Versuche der Menschheit, zu einer
höheren und allgemeineren Kultur zu gelangen, sein soll, und
in weiten Kreisen macht sich das Verlangen nach einem
festen und befriedigenden Glauben, neben dem erreichbaren
Wissen, bereits unverkennbar geltend. Ohne Zweifel wird
diese «religiöse Frage» die soziale ablösen, von der Erfah-
rung ausgehend, dass dem gewaltigen Elend, welches, neben
der ebenso stark fortschreitenden Ansammlung unnützer
Reichthümer, immerfort zunimmt, durch keine staatlichen
Massnahmen, oder gesellschaftlichen Revolutionen gründlich
zu steuern sei, sondern nur durch eine Veränderung der
Gesinnung in allen Klassen, welche ebenfalls erfahrungs-
gemäS8 nicht auf philosophischem, sondern nur auf religiösem
Wege erzielt werden kann. Die Nothwendigkeit der Religion*
die sich von selbst beweist, wird das Ansehen der Religion
besser wiederherstellen, als alles Lehren und Predigen es
vermochte, und wir zweifeln dabei nicht, dass auch in Bezug
auf die kirchliche Form derselben eine gewisse Erneuerung
vor der Thüre steht, die übrigens unseres Erachtens gar
Inneres. Kirchliches. 455
nicht die Hauptsache ist. Für die christliche Religion, die
wir dabei natürlich wesentlich im Auge haben, wird die sehr
intensive Berührung: mit zwei anderen ebenso verbreiteten
Religionen, dem Islam und dem Buddhismus, in die sie nun
durch die Theilung Asiens unter christliche Mächte gelangt,
die unmittelbare Ursache eines kräftigen Aufraffens und Zu-
sammenschlusses werden, ohne den sie diesem Einflnss nicht
«rehörigen Widerstand zu leisten vermöchte. Schon jetzt
fangen einzelne, namentlich deutsche Gelehrte an, den Budd-
hismus, oder den Brahmanismus als dem Christentum eben-
bürtig, ja mitunter sogar als die eigentliche Quelle desselben
zu erklären *), und was den Islam betrifft, so lässt sich nicht
läugnen, dass derselbe im Grossen und Ganzen treuere Be-
kenner besitzt als das Christcnthum, welche namentlich
nach den, allerdings leichteren, Geboten ihrer Religion leben,
was bei den Christen in sehr bescheidenem Massstabe der
Fall ist. Viele derselben würden auch nach ihren Sitten und
Lebensanschauungen ganz gut Islamiten sein können, und die
«moderne» Litteratur und Kunst zeigt nichts weniger als
einen ausgeprägt «nazarenischen» Typus. Es werden daher
offenbar im kommenden Jahrhundert die inneren Dissensionen
innerhalb der christlichen Kirche an Bedeutung verlieren und
theilweise aufhören müssen gegenüber einer evidenten Not-
wendigkeit, die bei weitem überwiegende gemeinsame
Wahrheit gegen einen Ansturm aufrecht zu erhalten, der
— wenn auch zunächst nur auf geistigem Gebiete — an die
bereits einmal drohende Ueberschwemmung der ganzen abend-
i) Vgl. z. B. Deussen, Prof. in Kiel, «Sechzig Upanischad's des
Veda» und «Die Philosophie der Upaiüschad's». Die meisten dieser
Schwärmer sind Buddhisten, doch ist ein starker Gegensatz zwischen
dem Buddhismus und der Religion der Veda's vorhanden. Praklisch
ist aber beides gleich unfruchtbar.
456 Jahresbericht 1899.
ländischen Kultur durch die Araber und die Mongolen er-
innern wird. Das scheint uns die nächste Aussicht der reli-
giösen Frage für das kommende Jahrhundert zu sein, ein
«Kulturkampf» in einem ganz anderen und ausgedehnteren
Sinne als derjenige, welcher das letzte Viertel des gegen-
wärtigen erfüllte, ohne viel reelle Resultate zu hinterlassen.
Einstweilen ist das Bewusstsein von einer solchen Gemein-
samkeit als Aufgabe aller einigermassen idealistisch denken-
den Menschen noch nicht gerade in weiteren Kreisen vor-
handen, aber der Idealismus hat überhaupt die Geschichte
in der Welt, dass er durch harte Notwendigkeiten und
schlechte Erfahrungen mit dem Gegentheil am meisten, viel
mehr als durch die blosse Einsicht, oder philosophische Ueber-
legung Einzelner befördert wird.
In der römisch-katholischen Kirche machen
sich, neben der starken Centralisation, welche durch das
vatikanische Konzil und den ihm folgenden fruchtlosen Kul-
turkampf befördert wurde, einige leise Spuren einer Ab-
bröckelung geltend, namentlich in 0 esterreich, wo eine
«Los von Rom-Bewegung» eine Zeitlang eine gewisse Rolle,
wenigstens in der Presse, spielte, und in Frankreich, wo
der Dreyfus-Prozess dazu Veranlassung gab. Wir lesen
darüber seit der Entscheidung dieses Prozesses Folgendes:
«Eine höchst merkwürdige Bewegung leitet das Pariser
Blatt «Le Siecle» ein : das französische Seitenstück zum
österreichischen «Los von Roml» In den letzten drei Num-
mern zeigte der ehemalige Dominikaner Hyacinthe Loyson,
dass einzig ihr Katholizismus den Verfall der romanischen
Völker verschulde, und nun entwickelte Yves Guyot den Ge-
danken, Frankreich müsse protestantisch werden, um zu leben.
«Frankreich», so heisst es in dem Anfsatz, «hat alles zu ver-
lieren, wenn es katholisch bleibt, alles zu gewinnen, wenn
es protestantisch wird. Der Protestantismus hat keinen engen
Syllabus, durch den jedermann sich zwängen muss, er nimmt
Inneres. Kirchliches. 457
alle Formen an und passt sich allen Geistesstufen an. Wenn
wir die gegenwartige Gliederung des Katholizismus zerstören
und gegen ihn die Möglichkeit des religiösen Wettbewerbes
herstellen, müssen wir laut und unzweideutig verkünden, dass
es zum Vortheil des Protestantismus geschieht und dass wir
auf den Protestantismus rechnen, um Frankreich dem Katho-
licismus zu entreissen. Wenn die Trennung von Kirche und
Staat bisher so viele Leute in Frankreich erschreckt hat, so
war es, weil die Frage so gestellt wurde : «Katholizismus
oder Unglaube?» Warum sollen wir Freidenker nicht die
ersten sein, die Frage anders zu stellen und Mirabeaus For-
mel : «Frankreich muss entchristlicht werden» durch die For-
mel zu ersetzen: «Frankreich muss entkatholisirt werden?»
Unsererseits legen wir diesen beiden Bewegungen keine
sehr grosse Bedeutung bei und würden auch auf einen sol-
chen Zuwachs zum Protestantismus, der ihn nur deswegen
schätzt, weil er keine rechte Glaubenskonsistenz mehr hat,
keinen Werth legen. Solche Leute würden sich allerdings in
der Zürcher-Kirchc sehr wohl befinden, in der nicht ein-
mal mehr die Taufe nöthig ist, um zu ihr zu zählen. Zu
einer «Kirche» gehört aber auf die Dauer doch ein Glaube ;
sie auf Unglauben zu basiren, ist ein ebenso grosser nonsens,
wie einen Staat von Anarchisten konstruiren zu wollen.
Im Laufe des Frühjahrs wurde in Folge ernster Krank-
heit des gegenwärtigen Papstes ein baldiges Konklave er-
wartet und daraufhin bereits alle möglichen Konjunkturen über
die künftige Politik seines Nachfolgers aufgebaut. Wir
unsererseits glauben, dass eine andere Politik der Curie,
als die bisherige, gar nicht möglich ist ; von ihr gilt in hohem
Grade der Satz des Jesuitengenerals Eicci: «sit ut est, aut
non sit». Einzig der ausgesprochene Wille der katholischen
Völker kann jeweilen für einen mehr oder weniger friedlichen
«modus vivendi» gegenüber den anderen Konfessionen und
dem Staate den Ausschlag geben, nicht der Charakter des
458 Jahresbericht 1899.
jeweiligen Inhabers der Tiara, so dass von dieser muth-
masslich in nicht sehr langer Zeit bevorstehenden Wahl
keinenfalls viel abhängen wird.
Grössere Bedeutung hatten von den Erlas senderCurie
seit dem letzten Jahre die Vernrtheilung des Würzbarger
Professors Schell und die beiden Kundgebungen gegen den
«Amerikanismus» und über die französische Politik. Schell
hatte sich über die Bedeutung der wissenschaftlichen Wahrheit
auch für die katholische Theologie in seiner Rektoratsrede
vom Herbst 1896 u. a. wie folgt ausgesprochen:
«Auch die Theologie kennt nur eine Gebundenheit —
die Gebundenheit an die Thatsachen, auch der Theologe kennt
nur ein Kriterium des Thatsächlichen : dass sich die Sache
eben mit der Vernunft in den Grundgesetzen aller Erfahrung
sowie alles Denkens in Uebereinstimmung befinde. Auch die
Theologie kennt nur eine Schranke für die wissenschaftliche
Freiheit, nämlich die Wahrheit, die man als solche erkannt
hat, und sie erkennt fernerhin als Wahrheit nur das an, was
sich in der Thatsächlichkeit nachweisen lässt und was sich
im tiefsten Sinne zum Erklärungsgrund der Wirklichkeit und
zur Ueberwindung aller Unvollkommenheiten und klaffenden
Widersprüche eignet.»
Er war dafür von der «Germania», einem der leitenden
Organe des deutschen Katholizismus, wie folgt anerkannt
worden :
«Am 28. Oktober ergriff, als sich kaum die Thore des
neuen Kollegien hauses der Alma Julia in Würzburg zum
ersten Male erschlossen hatten, der neugewählte Rektor,
Professor Dr. Schell, sein Szepter. Es ist für die deutschen
Katholiken ein erhebender Gedanke, dass der erste Herr des
neuen Hauses einer der ihren und ein katholischer Theologe
ist. Der Glaube . . . hat sogleich auch von dem neuen Ge-
bäude durch den Mund eines seiner geistesgewaltigsten Ver-
treter Besitz ergriffen. Durch die Antrittsrede geht ein froher,
6elbstbewusster grossartiger Zug . . . Und in dem Augenblick,
da wir Katholiken nach Parität im Staate rufen, fuhrt diese
Inneres. Kirchliches. 459
Rede den genialen Beweis dafür, dass auch wir sie dem
Staate zu gewähren vermögen . . .>
Später aber wurden seine sämmtlichen Werke auf den
«index Hbrorura prohibitorum» gesetzt, und er unterwarf sich
dieser Verurtheilung seiner Ansichten. Der «Amerikanismus»1)
ist nominell die Erfindung des Pater Hecker, eines nach
Amerika ausgewanderten Deutschen, der mit päpstlicher Ge-
nehmigung eine neue Ordenskongregation zu dem Zwecke
der Bekehr u ug des amerikanischen Volkes gegründet hatte.
Zu diesem Ende sollte sich dieselbe möglichst dem Genius
dieses Volkes anpassen. Um dieses Ziel zu erreichen,
schreibt u. a. Hecker, «bin ich für die Annahme der
amerikanischen Civilisation mit allen ihren Gepflogen-
heiten und Gebräuchen. Der Geist und Charakter unseres
Volkes und dessen Institutionen müssen sich in unserer
Kirche zu Hause fühlen . . . Die Regierungsform der
Vereinigten Staaten ist für die Katholiken jeder andern
vorzuziehen . . . Die katholische Kirche wird daher auch in
diesem republikanischen Lande genau in dem Verhältnisse
mehr aufblühen, als ihre Repräsentanten im bürgerlichen
Leben an die Grundsätze ihres Republikanismus sich halten.»
Diesen Grundsätzen gemäss wurde das Ordensleben der «Pau-
listen> nicht auf den klösterlichen Gehorsam der alten Welt,
sondern auf die Ueberzeugung der Mitglieder, dass die Ver-
einigung zur Erreichung des gemeinsamen Zieles nothwendig
sei, gegründet. Darum sollte nicht auf eine grosse Zahl von
Ordensmitgliedern, sondern auf gute Auswahl geeigneter In-
dividualitäten gesehen werden. Im Kollisionsfall soll das
Recht der Persönlichkeit vor den Interessen der Gemeinschaft
den Vorzug haben. Der Ordensobere soll im Kleinen die
*) Wir werden Aber denselben im nächsten Jahrbuch einen Ar-
tikel aus sehr berufener diplomatischer Feder bringen.
460 Jahresbericht 1899.
Stellung einnehmen, die dem Präsidenten der Vereinigten
•Staaten gegenüber den Gliedern der Konföderation zukommt»
Die Uebelstände, die P. Hecker unter dem katholischen
Volke in vorwiegend katholischen Landern wahrnahm,
haben seiner Ansicht nach ihre Hauptursache darin, dass die
Kirche die «passiven Tugenden» den «aktiven» vorzieht. Soll
«s besser werden, so muss man freie Persönlichkeiten erziehen,
zumal auch der Geist Gottes auf die Seelen der Einzelnen
{also nicht blos auf die Kirche) einwirkt. Der Jesuitenorden,
der den «Gehorsam» allen andern Tugenden voranstellt,
wirkt schädlich und hat keine Existenzberechtigung mehr,
da er im vatikanischen Konzil sein Ziel erreicht hat.
Diese dem allgemeinen System der Kirche nicht ganz
entsprechenden Grundsatze fanden nach dem Tode des Ordens-
etifters (1888) in Amerika starke Verbreitung (namentlich
durch eine Biographie desselben, welche der Erzbischof von
Sankt Paul, Minnesota, Mgre. Ireland, herausgab) und schienen
sich nach und nach auch nach Frankreich und Deutschland
verbreiten zu wollen. Der Papst hat nun dieselben in einem
Schreiben an den Kardinal Gibbons, Erzbischof von Balti-
more, als unkatholisch erklärt. Namentlich wird die
Lehre missbilligt, dass der h. Geist sich den einzelnen
christlichen Personen mittheile (etwas, was wir Pro-
testanten unbedingt und auf Grund der h. Schrift
glauben) und dass die geistlichen Orden den modernen Lebens-
bedingungen nicht hinreichend angepasst seien (worüber die
Meinungen verschieden sein können). Trotz dieser augenblick-
lichen Beschwichtigung auch dieser divergirendea Richtung
im Scitosse der katholischen Kirche ist es unwahrscheinlich,
dass ein so selbstbewusstes Volk, wie das der Vereinigten
Staaten, sich auf alle Zeiten hinaus einem sehr absolu-
tistischen Kirchenregiment unbedingt fügen werde, an dessen
Inneres. Kirchliches. 461
Wahl es einen verhältnissm&ssig sehr geringen Antheil hat.
Der Amerikanismu8 wird daher in der Kirchengeschichte eine-
gewisse Bedeutung behalten.
In der Encyclica an die Franzosen vom 16. September
dieses Jahres verweist der Papst diese «inclita gens», die
von der Vorsehung zum Werkzeug aller grossen Werke und
zum Retter der Menschheit aiiserwählt sei, auf eine bessere
Bildung, namentlich ihrer Geistlichen.
ein den grossen (Priester-) Setninarien soll nicht dem ans
dem Auslande (d. i. dem protestantischen Deutschland) iinpor-
tirten radikalen Subjektivismus gehuldigt, sondern eine die*
Lehrsatze der traditionellen Metaphysik festhaltende Philo-
sophie gelehrt werden. Daneben sollen auch die Naturwissen-
schaften nicht vernachlässigt werden. In der Theologie soll
der Unterricht auf der Summa des hl. Thomas fussen, auch
der Katechismus des Konzils von Trient fieissig gelesen und
in der Exegese zwar die jetzt die Welt beunruhigenden Inter-
pretationen der hl. Schrift vermieden, aber die Schüler doch
mit den Fortschritten der Bibelkritik bekannt gemacht wer-
den. Beim Studium der Kirchengeschichte sei nicht zu ver-
gessen, dass dieselbe eine Vereinigung dogmatischer ThaN
sachen in sich schliesse, welche sich dem Glauben auferlegen.
Das menschliche Element in derselben solle aber mit grosser
Ehrlichkeit vorgetragen werden, denn Gott bedürfe unserer
Lügen nicht. So aufgefasst, stelle allerdings die Kirchen-
geschichte eine Demonstration der Göttlichkeit der Kirche
dar. Diese Studien müssen die Kenntniss des Kirchenrechts
vervollständigen, damit den Priestern die Rechte des Papstes
und der Bischöfe nicht unbekannt bleiben.
Der heilige Vater lobt dann weiter die Thätigkeit der
Priester, welche, der Encyclica Herum novarum gehorsam,
zum Volke gehen, Patronage, Cercles, Buralkassen, Assistenz*
462 Jahresbericht 1899.
und Ans teil ungsbureaux gründen und durch ihre Schriften
oder Zeitungsartikel den Beweis dafür liefern, dass 6ie Ver-
ständniss für die Bedürfnisse der Zeit besitzen. Indessen soll
ihr Eifer mit Klugheit, Vorsicht und Reinheit der Absichten
gepaart sein und die den Bischöfen zu zollende Ehrfurcht in
keiner Weise verletzt werden« Nichts soll ohne die Bischöfe
geschehen. Die Priester sollen auf diejenigen nicht hören,
welche den Zwist in die Kirche hineintragen, indem sie die
Bischöfe angreifen und verleumden.»
Im deutschen Reichstage fand am 25. Januar wieder eine
der bereits üblich gewordenen Jesuitendebatten statt. Der
Reichstag nahm nochmals einen Antrag auf Aufhebung, resp.
Beschränkung des Jesuitenverbotes an, obwohl der Bundes-
rath auf den letzten diesfälligen Beschluss von 1897 noch
nicht einmal eingetreten war. Hiebei wurde von einem natio-
nalliberalen Redner auch auf die Schweiz verwiesen. Der
«Bund» bemerkt hiezu:
«Sehr richtig bemerkte Hieber, dass die Katholiken in der
Schweiz für die Aufhebung des Jesuitenartikels keine Agi-
tation entfalten, weil sie wissen, dass sie dann auf eine ge-
radezu elementare Volksbewegung stossen würden. In der
That wagen unsere ultramontanen Blätter nur von Zeit zu
Zeit ganz schüchtern die Aufhebung des Jesuitenartikels an-
zutönen, hüten sich aber sehr davor, etwa von dem Rechte
der Volksinitiative Gebrauch zu machen und eine Verfassungs-
revision im Sinne der Wiederzulassung der Jesuiten zu be-
antragen. Nicht zutreffend aber ist die weitere Bemerkung
Hiebers, dass eine solche Bewegung in der Schweiz nor
Wasser auf die Mühle der Sozialdemokraten treiben würde.
Wie sich unsere schweizerischen Sozialdemokraten zu einem
Antrage auf Aufhebung des Jesuitenverbotes stellen würden,
kann heute nicht bestimmt werden. An Doktrinarismus geben
ihre Führer den deutschen Sozialdemokraten nichts nach, und
es ist daher wohl möglich, dass einzelne von ihnen, dem Bei-
spiele ihrer deutschen Gesinnungsgenossen folgend, die Parole
Inneres. Kirchliches. 463
auf Zustimmung zu einem Antrage auf Wiederzulassung der
Jesuiten ausgeben würden. Aber die Partei als solche würde
sich doch zweimal besinnen, dieser Parole zu folgen, weil sie
wissen muss, dass ihr eine solche Stellungnahme parteitaktisch
zum grössten Nachtheil gereichen würde. Sicher ist, dass die
schweizerische Sozialdemokratie in einem solchen Kampfe
überhaupt keine bedeutende Rolle spielen würde. Der Kampf
würde zwischen Protestantismus und Liberalismus einerseits
und Ultramontanismus andererseits, zwischen den Prinzipien
der Geistesfreiheit und der geistigen Knechtschaft angefoch-
ten werden, und der Gewinn — das ist sicher — käme dem
Liberalismus zu Gute, nicht der Sozialdemokratie, die dabei
ganz in den Hintergrund treten würde, welches auch ihre
Stellungnahme sein sollte. Im Falle einer offenen Parteinahme
für die Jesuiten würde zweifellos die schweizerische Sozial-
demokratie eine gewaltige Einbusse an Ansehen und Einfluss
erleiden.»
Nach unserem Dafürhalten würde ein solcher Antrag
höchstens bei Anlass einer Totalrevision der eidgenössischen
Bundesverfassung möglich und auch dann noch nicht erfolg-
reich sein.
Gegen die «katholische Sozialdemokratie» erheben
sich im Schosse der katholischen Kirche immer mehr Stimmen.
Eine derselben sagt bei Anlass der Suspension des belgischen
Abbe Daens durch seinen Oberen, den Bischof von Gent:
• Soviel ist an der Hand dieser neuesten belgischen Händel
ersichtlich, dass
1. die Beschäftigung der Seelsorgegeistlichkeit mit der
praktischen Politik gefahrvoll für den, der sie treibt, und für
das kirchliche Gemeinwesen ist;
2. dass die «christliche Demokratie» eine Bewegung ist,
welche, früher oder später, ihre Träger durchweg in Kon-
flikt mit der kirchlichen Disciplin bringt und welche, ihrer
ganzen Natur nach, dem Wesen und der Idee der Kirche
entgegengesetzt ist. Vor vierzig Jahren noch waren das
selbstverständliche Dinge : heute läuft der wirklich konser-
464 Jahresbericht 1899.
vative Katholik, welcher an diesen Sätzen festhält, Gefahr,
von einer approbirten Presse zerrissen und als Gegner der
«Kirche» ausgeschrieen zu werden. So nahe sind wir dem
Abgrund gekommen*
Ehre jeder Stimme, welche sich gegen die neueste Mode-
krankheit erhebt. Schon mehr als einmal haben wir Gelegen-
heit gehabt, die Aeusserungen des Erzbischofs von Lyon,
Kardinal Coullie, anzuführen, eines der wenigen Prälaten,
welche angesichts des herrschenden Windes Muth und Cha-
rakter genug haben, der demokratischen Verseuchung und der
Fälschung der kirchlichen Idee entgegenzutreten. Zu Neujahr
hat der Kardinal seinen Klerus abermals mit einem Anschreiben
erfreut, aus dem wir mit Vergnügen den folgenden Passus
ausziehen: Er wendet sich gegen die von der <D6mocratie
chrätienne» eingeschmuggelte Vorstellung, als sei das Heil
der Seelen und die Zukunft der Kirche nicht von den in ihr
geordneten Heilswegen und Heilsmitteln, sondern ganz oder
hauptsächlich nur mehr von der Betheiligung an den sozialen
Aufgaben und dem Mitmachen an den Experimenten der mo-
dernen Sozialpolitik zu erwarten. «Nous pouvons courir,»
sagt der Kirchenfürst, «un autre danger : oublier la puissance
divin e des moyens de sanctification mis ä notre disposition
par le souverain Pretre, et croire que nous devons les rem-
placer, remarquez le mot, par des industries nou volles. Le
zele le plus ardent peut tomber dans cette illusion. Plnsienrs
fois dejä nous avons touche* cette question delicate. II nons
semble utile d'y revenir, pour vous indiquer le chemin de la
sagesHe et de la veritä.»
«L'arsenal inepuisable et näcessaire du pretre ä l'heure
actuelle comme dans tous les temps, c'est la vie, ce sont les
exemples, c'est la doctrine de Notre-Seigneur Jesus-Christ,
c'est la saintete* personnelle, c'est le respect et l'ob&ss&nce, &
qui sont dus respect et obeissance, c'est la vie surnaturelle
inspirant tous nos actes et toutes nos pensäes : sine me nihil
potestis facerc.»
«Nous pouvons faire du bruit par 1'eUoquence, par une
activite naturelle: ce bruit ne fait aucun bien et le vrai bien
ne fait pas de bruit.»
Inneres. Kirchliches. Römisch -Katholische Kirche. 465
Seit langer Zeit haben wir kein Pastorale gelesen, wel-
ches uns also aus der Seele herausgeschrieben wäre : aus
diesen Worten steigt das Ideal des Seelsorgers empor, wie
er in Sammlung des Geistes, entfernt von dem Lärme der
Welt, dem Gebet und dem Studium ergeben, selbstlos, nur
das Heil seiner eigenen Seele und das der ihm anvertrauten
Gemeinde sucht ! Welch ein Gegensatz gegen jene geistlichen
Hetzer und Politicanti, welche statt der Seelsorge Wahl-
geschäfte treiben, die Kanzel vernachlässigen, um die Tribüne
der Volksversammlungen zu besteigen, ihre Theologie an den
Nagel hängen, um Zeitungen zu redigiren, und die Sterbenden
ohne den Trost der Religion lassen, weil sie eine Zeitungs-
nummer fertig zu stellen oder für den Landtag zu wählen
haben! Wir Alten haben noch einen Klerus gekannt, dessen
Erscheinung Ruhe und Würde ausprägte und in dessen Ant-
litz man die Sammlung und den heiteren Frieden eines in
Gott lebenden Gemüthes las und bewunderte. Jetzt gehe man
auf die Bahnhöfe und sehe an gewissen Tagen eine junge
Klerisei zusammenströmen, deren herrisches, unbescheidenes
und fanatisches Wesen alle Welt abstösst und unter denen
man Köpfen begegnet, in denen mit tiefen Zügen die Leiden-
schaften des politischen Hasses und der Hochmuth der Frak-
tionsherrlichkeit eingegraben sind. Von dem, was man im
kanonischen Recht ehedem die Residenzpflicht nannte, haben
diese jungen Herren keine Ahnung mehr.
Das religiöse Prinzip gleicht Herkules im Kampf mit
An t aus : solange es sich in idealer Reinheit erhält, ist es un-
besiegbar; sowie es mit dem Gegenstand seines Ringens die
Erde berührt, nimmt es an der Schwäche, Verweslichkeit und
Korruption aller irdischen Dinge theil.>
Damit stimmt offenbar auch die päpstliche Encyclica an
die Franzosen gänzlich überein; so dass diese Modekrankheit
vielleicht allmählig wieder im Schosse der katholischen, ihrer
Natur nach durchaus konservativen Kirche verschwinden
wird.
Der «46. Katholiken tag» in Deutschland, welcher dies-
mal anfangs September in Neisse (Schlesien) statt hatte, fand
30
466 Jahresbericht 1899.
grosse Theilnahme und einen so animirten Verlauf, dass
die nächste Vereinigung in der Reichshauptstadt Berlin
stattfinden soll. Selbst die nationalliberalen protestantischen
Blätter Deutschlands fangen an, von «imponirenden» Ver-
sammlungen zu sprechen und darüber weitläufig zu berichten.
Es ist das Unschöne an dem Liberalismus — hängt aber mit
der bloss naturwissenschaftlichen Weltanschauung vieler seiner
Führer zusammen — dass er gegen alles Kleine und Schwache
recht hochmüthig ist, gegen das Starke aber sofort sehr
unterwürfig wird und überhaupt nicht das Recht, sondern die
Macht in erster Linie respektirt. Daher wurde er s. Z. in Deutsch-
laud von Bismarck «an die Wand gedrückt» und kann sich
jetzt dafür nicht genug thnn an Huldigungen gegen diesen einst
verspotteten «Junker», der ihm allerdings mehr als gewachsen
war. Ohne sehr feste sittliche Grundsätze — nicht natur-
wissenschaftliche — hat kein politisches System Ausdauer
gegen Junkerthum und Kirch enge walt. Das wird der Libera-
lismus überall, in Deutschland, Frankreich, England, Belgien,
Italien noch lernen müssen, vielleicht auch bis auf einen ge-
wissen Grad sogar bei uns.
Am 24. Dezember dieses Jahres findet die Inauguration
eines «Jubeljahres» statt, die seit 1825 nicht mehr vorge-
kommen ist. Es wird dabei unter Assistenz des Papstes die
grosse Bronzethüre von Sankt Peter, die in gewöhnlichen
Zeiten vermauert ist, geöffnet werden.
Der Alt-Katholizismus in der Schweiz erlitt einen
grossen persönlichen Verlust durch den Hinschied eines seiner
wesentlichsten Urheber, Dr. Weibel in Luzern, dagegen starke
Förderung durch ein Urtheil des Bundesgerichts, wonach der
christkatholischen Genossenschaft St. Gallen der Charakter einer
öffentlich-rechtlichen Korporation zugesprochen wurde, den
Inneres. Kirchliches. Ghristkatholiken. 467
ihr die dortige Gesetzgebung hatte verweigern wollen. Es
ist damit eine bedeutende staatsrechtliche Frage ein für alle
Haie, and unseres Erachtens richtig, gelöst.
Von der Döllinger-Biographie Professor Friedrich's ist
der 2. Band herausgekommen, in dem sich u. a. die
Notiz findet, dass Döllinger in seinen späteren Lebens-
jahren noch beabsichtigt habe, den Protestanten eine
Art von verspäteter Satisfaktion für sein berühmtes, oder
vielleicht besser gesagt berüchtigtes Werk über «Die Refor-
mation» zu geben, dessen erster Band 1845/46 erschien und
worin er alles zusammentrug, was etwa Böses oder Schlechtes
aber die Reformation gesagt werden kann, ohne der Wahrheit
anders, als durch Verschweigen, Abbruch zu thun. Es ist das
die perfide Art Geschichte zu schreiben, die Jansen zu seiner
Berühmtheit verholfen hat und die schärfere Missbilligung
finden sollte, als es bisher geschieht. Das Gute und Schlechte
ist in der Geschichte der Völker, wie übrigens auch im ein-
zelnen Menschenleben, so sehr gemischt, dass man aus jedem
bedeutenderen Menschen beinahe einen Bösewicht machen
kann, wenn man nur seine Mängel und Schwächen aufzählt
und klag gruppirt, oder einen Heiligen, sobald das Gegentheil
geschieht. In dieser Weise wird jetzt vielfach geschrieben,
das sind die Darstellungen Goethe's in der Art Düntzer's,
oder Bismarck's in der Art Kohl's, oder die Beurtheilung
der Engländer und Boeren, wie wir sie leider jetzt gerade
von der Feder Ed. Naville's in unserem eigenen Lande er-
leben müssen. Die Perfidie besteht darin, dass man, wie es
Jansen stets siegreich gegen seine Gegner gethan hat, für
jede Behauptung etwelche an und für sich gute Beweistitel vor-
legen kann und damit alle weniger Gelehrten verblüfft und
augenblicklich zum Schweigen bringt, bis sie sich mit ähn-
lichem Material wieder zur Gegenwehr gesammelt haben. Der
468 Jahresbericht 1899.
2. und 3. Band der Döllinger'schen angeblichen Reforuiations-
geschichte fiel dann übrigens Verdientermassen in die Jahre
1847 und 1848 und fand daher keinen buchhändlerischen Er-
folg. Wie es scheint, beabsichtigte er später, ein ähnliches
Werk über die Zustände der römisch-katholischen Kirche
«auf Grund eines gleich reichen Materials» (das unzweifelhaft
existirt) zu schreiben, welches «die Protestanten versöhnen
und beide Theile zur Selbsterkenntniss auffordern > sollte.
Wir bedauern unsererseits nicht, dass es nicht geschrieben
worden ist, und gestehen offen, dass wir diese gelehrten Cha-
raktere, die mit unendlichem Sammelfleiss den «Unmündigen»
Waffen zur gegenseitigen Bekämpfung liefern», nicht für
richtige Gelehrte und auch nicht für gute Menschen ansehen.
In der protestantischen Kirche ist zu Ende des 19.
Jahrhunderts das, was ausserhalb der «Kirche» geschieht, einst-
weilen noch bedeutend erfreulicher, als das, was ihrer of-
fiziellen Funktion angehört. Doch regt sich auch wieder et-
was mehr Leben in ihr, da sie wenigstens dasselbe nicht mehr
unterdrücken kann und will, wo es vorhanden ist, sondern
wenn auch nicht einen starken gemeinsamen Glauben und
Glaubenszusammenhang besitzt, so doch die nöthige Freiheit
für die Entwicklung der individuellen Ueberzeugungen ge-
währt, was vielleicht doch das Aller wichtigste auf diesem Ge-
biete des Denkens uud Fühlens ist. Das bildet ihre Stärke
und ihre unvergängliche Berechtigung.
Offiziell beschloss die Zürcher Kantonssynode unter
Namensaufruf mit 63 gegen 53 Stimmen, dass die Taufe keine
Voraussetzung der Zugehörigkeit zu der zürcherischen
Landeskirche bilden solle. Als Mitglied derselben wird jeder
evangelische Einwohner des Kantons betrachtet, der nicht
den Austritt, oder die Nichtzugehörigkeit erklärt. Eine
herrliche Definition einer Kirche.
Inneres. Kirchliches. Protestantische Kirche. 469
Das ist vorläufig der offizielle AbschlusB des Werkes
Zwingli's, schlimmer als Kappel, aber nicht das Ende.
Das Bundesgericht hat seinerseits den biblischen Unter-
richt in den Lehrplttnen der aargauischen Schulen als Fa-
kultativfach erklärt, so dass nun nach Artikel 49 der Bun-
desverfassung jeder Inhaber der väterlichen Gewalt seine
Kinder und Mündel davon fernhalten darf. Auch die Ehe-
scheidungspraxis dieses obersten Gerichtshofes ist stets schlimm
genug und wird mit Sicherheit zu einer Revision der bezüg-
lichen Artikel des eidg. Ehegesetzes führen müssen, die dies
zunächst verschulden. Weit schlimmer allerdings steht es da-
mit noch in dem protestantischen Amerika, wo auch die Ehc-
schliessung eine verwahrloste ist. Ein Zeitungsbericht dar-
über sagt:
«Le premier pasteur venu, sans autre caractere officiel
que celui d'avoir 6t6 choisi par les membres d'une 6glise
quelconque, eclose d'hier peut-etre, no comptät-elle qu'une
douzaine d'adhärents, le premier pasteur venu, par cela seul
qu'il se pre*tend pasteur, cr6e le lien le plus solennel de la
vie entre deux individus qui recourent ä son ministere, sans
le moindre avertissement prealable. D'aucuns, räveilläs ab-
ruptement, fonetionnent ainsi au saut du lit. De la, d'in-
nombrables cas de bigamie, de trigamie, de tetragamie, etc.,
et dans les Etats qui admettent le divorce, des separations
plus innombrables et plus scandaleuses encore. Gertains Etats
du nord-ouest sont connus comme usines ä divorce, et Ton y
court de loin solliciter leurs bons offices. Inutile de dire que
mariages et divorces se paient en raison merae de la lögerete*
avec laquelle ils sont prononeta.
Or, voiei que le 21 juin, l'association des Pasteurs con-
gregationalistcs du Connecticut, se preoecupant de cet 6tat
de choses, a däcide* de provoquer un mouvement de räforme
dans rünion entiere, et de demander le concours de la So-
ciety g£ne>ale du barreau amöricain, aux fins d'obtenir uue
legislation plus prudente et plus digne d'un peuple civilis^.»
470 Jahresbericht 1899.
Die letzte Ursache aller dieser Uebelstände liegt allerdings
darin, dass die Reformation selbst zu weit ging, indem sie die Ehe
des sakramentalen Charakters gänzlich entkleidete, während sie
in Wirklichkeit das heiligste und unverletzlichste von allen
menschlichen Banden ist und bleiben sollte.
In einem starken Gegensatz hiezu steht in Amerika eine
ausserordentliche Empfänglichkeit des Protestantismus für
«Erweckungen» oder «religiöse Schriften». Eine kleine
Broschüre «in His Steps» erreichte in diesem Jahre eine
Verbreitung von, wie behauptet wird, 6 Millionen Exemplaren,
den grössten buchhändlerischen Erfolg seit «Uncle Tom's
cabin». Und doch wird mit uns jeder europäische Leser ßagen
müssen, dass sie das Christenthum in ziemlich rosenrother
Färbung darstellt, so wie es in Wirklichkeit gegenüber den
gewaltigen Mächten, die in und ausser dem Menschen ihm
entgegenstehen, gar nicht ist, und die Erfolge mit etwas kind-
lichen und höchst unwahrscheinlichen Mitteln erzielt.
In England wurde am 25. April der 300jährige Geburts-
tag seines grössten Helden, Oliver Oromwell, ohne besondere
Theilnahme des Volkes gefeiert, und doch ist die ganze welt-
geschichtliche Grösse dieser Nation, die trotz ihrer jetzigen
Imperialpolitik stets bestehen bleibt, das Werk dieses Mannes
und seiner kurzen Regierungszeit, die unvergängliche Spuren
hinterlassen hat. Vielleicht wird man ihn nach weiteren
100 Jahren besser feiern, wenn die Ghamberlain'sche Politik
ihre Früchte gezeitigt und England wieder auf den Staats-
bestand reduzirt haben wird, den es damals hatte, während
die weiter abliegenden Reichstheile sich von ihm emanzipirt
haben. So sieht es wenigstens dermalen aus; denn ein sol-
ches Weltreich kann man nur mit überwältigender Macht
Inneres. Kirchliches. Anglikanes. Mission. 471
in der Art der römischen Militärherrschaft, oder dann mit
dem Respekt vor Recht und Freiheit zusammenhalten, der
Liebe erzeugt. Der Boerenkrieg zeigt die Schwäche des
jetzigen Englands nach beiden Seiten hin und ist daher eine
unbegreifliche Thorheit, bei jedem Ausgang. In der englischen
Staatskirche mehren sich die Anzeichen eines Sturmes gegen
ihre immer mehr ritualistische (katholisirende) Richtung, die
ganz zu der Imperialpolitik passt. Gegen dieselbe erhebt sich
beharrlich ein gewisser John Kensit, der gegenüber dem
Bischof von London jetzt ungefähr die gleiche Rolle spielt»
wie im Jahre 1637, bei den Anfängen der grossen Revolution,
Jenny Geddes gegenüber dem Dean of Edinburgh.1) Nachdem
alle seine öffentlichen Briefe an verschiedene anglikanische
Bischöfe keine Wirkung auf dieselben hatte, veranstaltete er
mit seinem Bruder in verschiedenen Städten Englands
grosse Protest-Meetings, welche das Parlament bewogen, am
30. Mai einen drohenden Beschluss zur Aufrechthaltung der
englischen Nationalkirche zu erlassen, und sogar die Erz-
bischöfe, in einer Konferenz inLambeth Palace, ihren Unter-
gebenen wenigstens zu rathen (immer noch nicht zu befehlen),
von ihrer illegalen Praxis abzustehen. Dagegen werden die-
selben von der «church association» ermuntert, diesen Rath
als einen nicht ernstgemeinten zu betrachten und fortzufahren
— bis zu dem Abgrund, der im nächsten Jahrhundert mit
Sicherheit diese unnütze und kostspielige Staatskirche, viel-
leicht mit dem Eönigthum selber verschlingt*
Protestantische Mission. Die Berichte aus
Kamerun sind diesmal erheblich tiefer gestimmt, als wir es
in früheren Jahren gewohnt waren. Auf beiden Seiten, bei
der Mission wie bei den Eingeborenen, ist etwas wie eine
1) Garlyle, Oliver GromweU's letters and Speeches I, 137.
472 Jahresbericht 1899.
Enttäuschung eingetreten. Die Mission, die anfänglich mit
Freuden aufgenommen wurde nnd sich zur Hoffnung auf
baldigen grossen Erfolg berechtigt glaubte, findet jetzt die
Leute im Grunde ihres Herzon6 unempfänglicher und gleich-
gültiger, als sie zuerst schienen.
«Die Missionare sehen immer tiefer in die entsetzliche
Versunkenheit dieser Negerstämme hinein und erfahren es
immer mehr, dass auch auf diesem zuerst ungewöhnlich hoff-
nungsvollen Arbeitsfeld eine mühsame Geduldsarbeit not-
wendig ist, wenn nicht nur eine äusserliche Christianisirungs-
arbeit gethan werden, sondern das Wort Gottes in seiner
Herz und Leben erneuernden Macht zur Geltung kommen soll.
Die Neger hinwiederum scheinen an vielen Orten in demsel-
ben Mass gleichgültiger zu werden, als sie erkennen, dass
ihnen die evangelische Mission in erster Linie geistliche Güter
und nicht die irdischen Vortheile einer höheren Kultur, für
welche sie nicht nur auf die Mission angewiesen sind, bringen
will. Demgemäss zeigt sich auch in den Gemeinden vielfach
ein Rückschlag, der freilich nicht allein auf jene Enttäuschung
zurückzuführen sein wird, sondern sich auch erklärt aus dem
natürlichen Nachlassen einer anfänglichen Begeisterung, dem
Wiederaufleben des alten heidnischen Sinnes und dem Ueber-
handnehmen schädlicher Einflüsse von Europa her. Was der
Branntwein thut, ist bekannt, aber auch an sich harmlose euro-
päische Produkte, die nützlich und nothwendig sind, den Fleiss
der Eingeborenen zu reizen, können wieder schädlich wirken,
indem sie eine Habsucht erzeugen, die gern zu unlautern Mitteln
greift. Die Bakwiri im Gebirg, unter denen von Buea aus ge-
arbeitet wird, sind fast hoffnungslos gleichgültig und un-
empfindlich, obwohl sie den Missionar nicht ungern haben;
für seine Botschaft haben sie keine Ohren, und nur mit grösster
Mühe bringt er in einem Dorfe wenige Zuhörer zusammen.
Besonders trüb werden die Aussichten in Buea durch die,
von der ungeheuren Ausdehnung der Plantagenwirtschaft an
den Abhängen des Gebirges, dem Bakwirivolk drohende Ge-
fahr. Es handelt sich für die Bakwiri um den Verlust ihres
Landes und ihrer wirthschaftlichen Selbständigkeit. Soweit
sie sich überhaupt in ihren bisherigen Wohnsitzen halten
Inneres. Kirchliches. Heilsarmee. 473
können oder wollen, droht ihnen die Gefahr, in eine auch für
ihr religiöses und sittliches Gedeihen unheilvolle Abhängig-
keit von den Weissen zu gerathen.»
Auf dem ganzen Gebiet der Basler-Mission befinden sich
jetzt 38,637 eingeborene Christen, eine doch noch nicht sehr
grosse Zahl. Die jährlichen Ausgaben betragen dermalen etwas
über Vk Millionen Franken, mit einem beträchtlichen Defizit,
das wesentlich von den grossen Kosten für die verheirateten
Missionäre herrührt. Es ist für die Miss ionsver waltung sehr
schwer, daran etwas zu ändern; das müsste der Geist thun,
der in den jungen Leuten lebt, die diesen entsagungsreichen
Beruf ergreifen wollen.
Aeusserlich viel sichtbarere Fortschritte macht die
Heilsarmee, welche in diesem Jahre in London eine grosse
Aasstellung veranstaltete. Ein Zeitungsbericht darüber lautete
wie folgt:
«Zunächst fallen beim Eingang durch die riesige Arkade
die vielen dem Betriebswesen gewidmeten Geschäftsstellen
auf. Da sind : die Bau-Abtheilungen, welche in allen Ländern
der Erde die Errichtung von «Kasernen», Versammlungs-
häusern und Asylen der verschiedensten Art für die Zwecke
dieser Körperschaft zu leiten haben; dann ein Bankgeschäft,
eine Apotheke, eine Fabrik von Musikinstrumenten, eine
Sammelstelle für verloren gegangene Kinder, ein Aufnahme-
raum für nen hinzutretende Mitglieder, in dem jedoch auch
jedem Bekümmerten Rath oder wenigstens Trost gespendet
wird. Der Eingangsweg erweitert sich zu einem grossen
freien Platz, wo in sauberen Gehegen wahre Musterexemplare
von Kühen, Kälbern, Pferden, Fohlen, Schweinen, Schafen
und Eseln, die auf eigenen Kolonien gezüchtet werden, aus-
gestellt sind. Der Hühnerhof, die Gemüse- und Obstausstel-
lung schliessen sich an und zeigen, dass auch die niedrigst
stehenden Menschen zu nützlicher Arbeit veranlasst werden
können. Es ist nicht zu leugnen, dass bei der Verkommen-
heit von Hunderttausenden der englischen Bevölkerung, um
die sich nie ein Mensch, sei's Geistlicher oder Laie, beküm-
474 Jahresbericht 1899.
inert, das Eingreifen der Heilsarmee sich geradezu als eine
Segensthat erweist. Das Wirken der Heilsarmee unter den
versumpften, halb thierischen Geschöpfen der Londoner «Slnms>
wird in einer Reihe von Szenen veranschaulicht, die in einem
geräumigen Theater aufgeführt werden. Sieht man diese Ab-
art von Menschen, so begreift man bis zu einem gewissen
Grade die lächerlichen und grotesken Aeusserlichkeiten der
Heilsarmee — , sie sind eben ein Mittel, erst die Aufmerk-
samkeit dieser Verlorenen zu erregen und dann ein Verständ-
niss bei ihnen anzubahnen. Nicht weniger als 44,960 Besuche
haben die Frauen dieser Organisation im letzten Jahre bei
Kranken und Hungernden der «Slums» gemacht. Das spricht
für sich selbst. Besonderes Interesse erregen dann weiter die
verschiedenen fremdländischen Abtheilungen der Ausstellung.
Schmucke Holländerinnen in ihrer kleidsamen Tracht — die
alle Schwestern der Heilsarmee sind — , verkaufen allerlei
holländisches Steingut und Käse. Eine Windmühle dreht
lustig ihre Flügel, und ein nettes Fischerboot ist eben vom
Fang heimgekehrt. Dänemark ist durch ein Farmhaus und
eine Meierei vertreten, Deutschland durch die getreue Nach-
bildung des Luther-Zimmers auf der Wartburg, Australien
durch Modelle der verschiedenen Rettungshäuser, Kinderheime
u. 8. w. Am interessantesten ist vielleicht die Vertretung
von Afrika durch einen Zulu-Kraal mit den dort beliebten
Hausthieren — bissigen Affen und sanften Lamas. Die Zulus
wurden uns als eifrige Anhänger der Heilsarmee vorgestellt
So sind viele Länder diesseits und jenseits des Meeres durch
irgend etwas Typisches oder durch Modelle der Versamm-
lungshäuser u. s. w. der Heilsarmee vertreten. Breite Treppen
hinaufsteigend, gelangt man in die riesigen Räume, in denen
der Stoff für die Uniformen der Heilsarmee gewoben und ver-
arbeitet wird. Man wandert durch die Arbeitsräume, wo
Hüte und Mützen hergestellt werden, durch die Wäsche-
abtheilung, die Kinderspielplätze und Lehrräume, die Drucke-
reien und Buchbindereien, wo sowohl Arbeiter wie Leiter
Mitglieder der Heilsarmee sind, die so den Verlorenen Ver-
ständniss, Kleidung, Nahrung, Arbeit und Vergnügen gibt
durch deren eigene Kraft. Die Heilsarmee besitzt sieben
Zeitungen und zeigt an allerliebsten Gegenständen, wie z. B.
Inneres. Kirchliches. Heilsarmee. 475
an dauerhaften, ans gepresstem Papier gemachten Spazier-
stöcken, dass sie selbst ihre Makulatur praktisch wieder zu
verwerteten weiss. Die Abtheilung für Frauenthätigkeit ist
besonders reich ausgestattet, von jeder Art von Handarbeit
anfangend bis zu den Modellen der Krankenhäuser und Ge-
fängnisse, in denen hauptsächlich Frauen walten. Eine an-
schliessende Galerie birgt noch eine angenehme Ueberrasch-
ung — riesige Wandbilder, Landschaften aus Palästina, Beth-
lehem, Gethsemane, der Blick über Jerusalem, der Oelberg,
die Grabeskirche u. s. w., die alle sehr lebensvoll gemalt sind.
Am wenigsten befriedigen die musikalischen Leistungen, die
in der Ausstellung zu hören sind. Um sie würdigen zu können,
muss man das robuste GhriBtenthum und das derbe Trommel-
fell eines englischen Soldaten der Salvation Army besitzen.
Die sozialen Gesammtleistungen der Heilsarmee, wie sie sich
aus dieser Ausstellung ergeben, sind indess, wie gesagt, er-
freulicher Art. Aber bei alledem kann man sich doch nicht
eines Gedankens erwehren, der für die Würde der Mensch-
heit etwas beschämendes hat — nämlich, dass es in dem sich
mit seinem Reichthum und seiner Bildung brüstenden Eng-
land — und England ist ja das Hauptarbeitsfeld der Heils-
armee — eine so unsäglich niedrige Kultur gibt, die es mög-
lich, vielleicht auch nothwendig macht, die tief Verkommenen
durch so groteske und mit dem wahren Geiste des Christen-
thums in so schreiendem Widerspruch stehende Mittel «dem
Teufel zu entreissen», wie die bizarre Organisation der Sal-
vation Army es thut.»
Wir sind unsererseits der Meinung, dass ob hier heisst:
Hülfe unter allen Umständen, so, wie es überhaupt möglich ist.
Dass aber für die gänzlich verkommenden und von Jeder-
mann sonst beinahe aufgegebenen Klassen der Bevölkerung
in dieser thatkräftigen Gesellschaft eine Hülfe, wie keine
sonst bestehende, erschienen ist, das kann Niemand mehr leug-
nen, der nicht die Augen absichtlich vor der Wahrheit ver-
schliessen will, oder überhaupt nichts von der Sache kennt.
Wir glauben ferner, dass auch das ursprünglichste Christenthum
unter der Sklavenbevölkerung der verdorbenen grossen Städte
476 Jahresbericht 1899.
nicht einen viel besseren Eindruck hinterlassen haben wird.
Und dennoch ist es der erste Anstoss zu dem grössten Fort-
schritt gewesen, den bisher die Welt gemacht hat.
Aus der sonst ziemlich stagnirenden g r i e c h i s ch-o r t h o-
doxenKirche (die uns im Uebrigen auch wenig berührt)
brachte derTemps folgenden Bericht über ein drohendes Schisma
zwischen dem ökumenischen Patriarchat von Kons tan tinopel, das
die eigentlich legale Centralautorität ist, und dem heiligen Synod
von Russland, der in dem wesentlichen Territorium derselben
die thatsächliche kirchliche Gewalt ausübt. Derselbe lajitet :
«II y a quelques semaines, une de'putation de la grande
secte religieuse des Raskolniks, qui compte vingt-cinq millions
de membres en Russie, vint ä Constantinople pour soumettre
au patriarcat oecumenique, qui est l'autorite supreme de toute
l'orthodoxie, un long memoire par lequel les Raskolniks solli-
citaient du saint synode du Phanar de reconnaitre le sacer-
doce des membres de leur clerge*, c'est-a-dire de proclamer
la 16galit6 et le caractöre sacre* de l'ordination de leurs pre-
tres, legalitä que le saint-synode de Russie refuse toujours
de reconnaitre, en considerant les Raskolniks comme schis-
matiques. Le patriarcat ne pouvait pas ne pas prendre en
conside>ation la demande de vingt-cinq millions de chrätiens
qui se disent plus orthodoxes que le reste des Russes, qui
s'intitulent vieux-croyants, et qui repoussent les innovations
apporttas par Nicon, inötropolite de Moscou, et autres pr£lats
russes en 1567 et depuis, innovations qui, d'apres les Ras-
kolniks, ont change* le type originel de rEglise russe. C'est
ainsi que pensaient les membres de la de'putation et leurs
commettants, et, en effet, leur pensee 6tait assez juste, car
le patriarcat a pris en särieuse considßration cettc demande
et chargea une commission nommäe ad hoc et composäe de
plusieurs prelats, sous la presidence du mätropolite de Rhodes,
d'examiner la question et d'adresser un rapport au saint-
synode, qui statuera en dernier ressort. Les Raskolniks se
disent bons orthodoxes et ne reconnaissent pas le saint-synode
Inneres. Kirchliches. Griechen. Islam. 477
de Russie comme un Corps ecclesiastique legalement constitue.
IIb ävitent d'avoir des relations avec le clerge' russe, mais
ils recherchent, an contraire, la bßnediction donnee par des
pretres ou eveques grecs, roumains, serbes et autres ortho-
doxes. Ils esperent d'autant plus que l'Eglise du Phanar
rcconnaitra le sacerdoce de leur clerge, que ce sacerdoce lui
yiont d'un pr&at appartenant au tröne cecumönique, le mßtro-
polite de Bosnie, Ambroise, qui avalt ordonne* les premiers
pretres et sacr6 les premiers eväques des Raskolniks.»
Der Kaiser hatte inzwischen dem Oberprokurator des
russischen Synod Pobjedonoszew, der nicht nur diese Sekte,
sondern auch Millionen von Protestanten und Juden in dem
weiten Reiche zur Verzweiflung getrieben hat, seine Anerken-
nung für eine Auseinanderlegung seiner Grundsatze in einem
Bache cQuestions religieuses, sociales et politiques» aus-
gesprochen.
Selbst der sonst bisher so passive und indolente Islam
fängt unter der engeren Berührung mit den christlichen
Nationen an, agressiv zu werden und benutzt dazu u. a. be-
reits Berliner Zeitungen. Eine solche brachte in diesem Jahre
einen Artikel eines Egypters, Mustafa Kamel, der den «Panis-
lamismus» und das Aufhören der türkischen Toleranz predigt,
die bisher den Christen im Orient ihre Religion und ihre Sitten
gelassen haben, mit Ausnahme des notwendigen «im Zaum-
haltens» der insurgirten Armenier! Unter dieser «muselmän-
nischen Langmuth» und unter der irrigen Tendenz die west-
liche Kultur in den Osten einzuführen, habe bisher die orien-
talische Welt geseufzt, nun sei es Zeit, umzukehren und sich
um den türkischen Sultan, als den Chef des Panislamismus
zu schaaren.
Direkt hat der Artikel natürlich eine politische, speziell
gegen England gerichtete Tendenz ; es wäre aber unbegründet,
darin nicht auch ein charakteristisches Symptom der Jahr-
478 Jahresbericht 1899.
hundertwende zu erblicken, die auf dem Gebiet aller Reli-
gionen eine gewisse stärkere Betonung des Glaubens mit sich
zu führen scheint.
Betreffend die Juden werden wir uns bei dem soge-
nannten «Zionismus» nicht weiter aufhalten, den einige «Re-
formjuden» in Scene gesetzt hatten, und der bereits nach zwei
Jahren kläglich im Sande zu verlaufen droht. Nicht bloss
aus Mangel an Geld- und Machtmitteln, sondern vor allem,
weil derselbe ganz gegen den Geist der Geschichte dieses
Volkes geht. Jetzt ist es genau so geworden, wie es in ihren
eigenen Geschichtsquellen I. Kön. IX, 6, 7, oder III. Mos.
XXVI, 14—39 zu lesen ist, und wenn sie es besser haben
wollen, so müssen sie zuerst — statt aller anderen frucht-
und segenslosen Versuche, ihrem Propheten Jeremias L, 4, 7,
20 folgen; dann wird auch III. Mos. XXVI, 40—45 kommen;
anders kommt ihre Erlösung aus dem «Galuth» nicht.
Für uns aber ist kein Grund vorhanden, dieses Volk,
dem wir so unendlich viel Gutes, ja das Beste, was wir an
geistigen Gütern haben, verdanken (Besseres sogar noch als
den Griechen und Römern), zu quälen, oder ihm sein ohnehin
schweres Schicksal noch schwerer zu machen, bloss weil
einige seiner Mitglieder, und sichtlich nicht die frömmsten,
nicht gerade die liebenswürdigsten Eigenschaften aufweisen.
Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, den wir stets ver-
treten haben und ferner vertreten werden, auch wenn wir
zu dem sonderbaren Dreyfuss-Kultus einiger unserer Mitbürger
uns nicht verstehen konnten, war es im letztvergangenen
Jahre sehr zu begrüssen, dass sowohl in Baden, als im deut-
schen Reichstag die Versuche der Thierschutzvereine, als ge-
wöhnlicher Vorhut der Antisemiten, das Schächten verbieten
zu lassen, ein entschiedenes Fiasco erlebten. Der Bericht aas
Baden lautet:
Inneres. Kirchliches. Juden. Heidnische Kulte. 479
c Unsere beiden Standekammern gingen am 21. d. M. hin-
sichtlich einer Petition des badischen Thierschutzvereins. das
Verbot des Schächtens von Schlachtthieren betreffend, zur
Tagesordnung über. Die über diese Angelegenheit geführte
lebhafte Debatte spitzte sich auf die beiden Fragen zu, ob
das Schächten eine Thierquälerei sei, und ob das Verbot des
Schächtens einen Eingriff in religiöse Gebräuche, somit eine
Gewissensbedrückung bedeute. Die erste Frage wurde auf
Grund von 253 wissenschaftlichen Gutachten, denen sich die
Versicherungen von Praktikern anschlössen , verneint, die
zweite bejaht.»
Es waren dies die gleichen Gutachten, welche auch un-
sere eidg. Räthe überzeugten, nur nicht das irregeleitete, oder
für die Sache gleichgültige schweizerische Volk, das mit sei-
nem Verbot, neben dem sächsischen, noch immer ganz allein
in dem weiten Erdenrunde steht. Ein Versuch einiger Metzger,
den Juden auch die Einfuhr von geschächtetem Fleisch aus
angeblichen Gesundheitsrücksichten verbieten zu lassen, führte,
wie schon berichtet ist, zu einer entschiedenen Ablehnung
seitens des Bundesrates.
Im deutschen Reichstag waren bei der ersten Lesung des
Antrags der Antisemiten das Schächten als Thierquälerei zu
verbieten, alle Parteien als solche dagegen, mit ausdrück-
licher Anerkennung, dass keine Thierquälerei vorliege und
dass das Schächtverbot in die Kultusvorschriften der jüdischen
Mitbürger in unzulässiger Weise eingreife.
In seinem 62. Jahre starb in Südrussland der Rabbiner
Joseph Rabbinowitsch, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht,
hatte, sein Volk zu dem Glauben an die Messiaseigenschaft
Christi zu führen, im Uebrigen unter Beibehaltung der jü-
dischen Religionsgebräuche. Also, rein historisch gesprochen,
ungefähr zu dem, was Christus s. Z. selbst gewollt hätte.
Dass dieser «Anfang des Endes» ein sehr viel stillerer und
480 Jahresbericht 1899.
bescheidenerer Vorgang war, als der Zionismus, beweist für uns
zum wievielten Male schon die Regel, dass alles wirklich
Wahre und Grosse klein anfängt und gross endet, während
das halb oder ganz Falsche stets am Anfang am bedeutend-
sten aussieht, weil es mit viel Reklame, Zeitungs- nnd Ver-
einswesen in Scene tritt und damit einigen einfältigen Leuten,
die nichts als die Zeitungen lesen, zu imponiren versteht
Bezeichnend war, dass bei dem Tode dieses Anfängers selbst
eine sehr fromme Zeitung ihren Bericht damit schloss: «Es
wird sich nun zeigen, ob sein Werk auch nach seinem Tode
weiterbesteht und fortschreitet». So wenig glauben in Wirk-
lichkeit manche fromme Kreise selbst daran, dass «Gottes Ver-
heissungen Ja und Amen sind».
Kein Wunder, dass unter solchen Umständen jeder solche
Bericht und mit jedem kommenden Jahre mehr auch der
heidnischen Kulte gedenken muss, mit denen wir nun
ebenfalls in Berührung kommen. Wir meinen damit nicht
bloss den Mormonismus, der auch bei uns immer noch unter
leichtgläubigen Mädchen seine Opfer sucht, oder den ziemlich
verbreiteten Spiritismus, dessen Hauptvertreter in Deutsch-
land, Du Prel, nun die Richtigkeit seiner Anschauungen in
einem anderen Leben (statt, wie er meinte, an der Pariser
Weltausstellung) erproben kann, auch nicht die Buddhisten,
oder Vedisten, die meistens nur der Gelehrtenkaste der so-
genannten «Indologen» angehören, sondern wirklich bestehende
heidnische Kulte mitten in unserer christlichen Kulturwelt.
Ueber die Mormonen wird Folgendes berichtet :
«Die Kirche der Heiligen der letzten Tage zählte nach
einer in welschen Blättern erschienenen Statistik auf Beginn
dieses Jahres in der Schweiz 1001 Zugehörige, die 27 Mis-
sionäre, worunter zwei « Grosspriester >, nicht inbegriffen.
Unter den 1001 befinden sich aber 309 Kinder unter acht
Jahren. Zuwachs 1898: 132 Taufen und 34 Admissionen.
Inneres. Kirchliches. Heidnische Gülte. 481
Verminderung: 57 Abgereiste, wovon 31 Ausgewanderte (nach
Utah). Der * Lokalklerus» besteht aus 11 Aeltesten, 21 Prie-
stern, 13 Lehrern und 7 «dienenden Brüdern». Es gibt 14
Gemeinden; die grösste ist Biel mit 125 Mitgliedern, dann
folgt Zürich mit 124, Thun mit 116, Bern mit 82, Langnau
mit 80, Herisau mit 79. In der französischen Schweiz gibt
es 119 Mormonen, die sich auf die Gemeinden Genf, Lausanne
und Chauxdefonds vertheiien. Die Mormonen-Missionäre hielten
1898 in der Schweiz 1103 Versammlungen, 183 Sonntags-
schalstunden und 28 Bibel-Lektionen ab, machten 12,944
Hausbesuche und vertheilten 26,075 Schriften. «Präsident
der schweizer. Mission» ist ein Herr Bowman.
Hier wäre zur Abwechslung etwas mehr Intoleranz am
Platze.
Ueber eine Gemeinde von «Gnostikern» berichtet ein
Berichterstatter des Pariser «Matin» Folgendes:
«In einem weissau sgeschlagenen Saal fand Basset etwa
30 Personen vor. Auf der einen Seite die Männer in schwarzem
Gesellschaftsanzug mit breiter weisser Schärpe, auf der an-
dern die Damen in schwarzer Robe, ebenfalls mit weisser
Schärpe. Ein schwarzer Vorhang trennt die Vorhalle vom
Chor, in dem der Altar steht. Auf dem Vorhang leuchten in
blauer Seide dem Zuschauer die Worte entgegen: «Kommet
hierher, alle die ihr dürstet nach wahrer Liebe, Gott ist die
Liebe». Mit einem freundlichen Lächeln führte die Sakristanin
— «eile est träs bien, cette petite sacristine» — den Er-
zähler an seinen Platz und übergab ihm das Bitual, damit
er dem Gottesdienst folgen könne. Derselbe beginnt mit
einem feierlichen Chorgesang in antiker Melodie und Tonfall
hinter dem Vorhang:
Lucerna Pleromatis,
Lucet mei semitis ;
Inclinavi cor meum,
Ad tuum eloquium.
Plötzlich theilt sich der Vorhang, der Altar wird sicht-
bar, in glänzendem Weiss, goldgeschmückt, in einem Lichter-
meer. Der Patriarch celebrirt die Messe. Er ist ein Mann
31
482 Jahresbericht 1899.
von mittlerer Grösse, mit grauem Haar und majestätischem
liebevollen Blick. Es trägt den schwarzen Rock der Katharer,
an der Taille zusammengefasst mit dem grünen «Knosti», ge-
schmückt mit 83 Schleifen, und die sattviolette orientalische
Mitra. Ihm zur Seite administriren zwei Bischöfe mit Stola
und Antoniuskreuz. Hinter ihnen eine Frau von strahlender
Schönheit, — es ist die «Grossdiakonissa» — sie erhebt ihre
Hände über einen Chor von Jungfrauen, die alle mit der
Tunika und dem «Peplon> der Alten bekleidet sind. Das
volle Licht fällt auf ihre weissen Gewänder, ihre blossen
Arme, ihr ruhiges Angesicht, Statuen von lebendem Marmor.
Der Patriarch segnet die Menge, die sich ehrfurchtsvoll ver-
neigt, dann tritt er zur Diakonissa und spricht: «Accipe os-
culum pacis», worauf sie sich umarmen und küssen, dann
treten die Bischöfe zu den Jungfrauen und umarmen und
küssen sich, wie Vollkommene, Gläubige, Brüder und Schwestern.
Auf diese Kommunion der Seelen folgt das «Credo», wel-
ches mit enthusiastischen Bewegungen die Diakonissa vor-
trägt : «Ich glaube an einen Gott des Universums, einen ein-
zigen Vater, dessen Gedanke, die heilige Ennoia, eins von aller
Ewigkeit her mit ihm selbst, die Hierarchie der heiligen Aeo-
nen hervorgebracht hat . . .
Ich glaube, dass der letzte der heiligen Aeonen, Sophia,
von Liebe zum Vater erfüllt, mit Macht versuchte, emporzu-
dringen zu ihm, aber durch das Gewicht ihres Begehrens in
die untern Regionen geschleudert wurde . . .
Ich glaube, dass aus diesem Begehren geboren wurde
Sophia Achamoth, die den unvollkommenen Deminrgen zur
Welt brachte, den Ordner des Stoffes, den Schöpfer des
Himmels und des Alls . . .
Ich glaube, dass der Aeon Christus, die Frucht des hei-
ligen Pleroma, nachdem er die durch die Begierde der Sophia
zerstörte Harmonie des Pleroma wiederhergestellt, in Jesus
zur Erde herabgestiegen ist, dass beide ihm durch Inspiration
die ewige Lehre des Evangeliums eingegeben, und dass sie
ihn erst im Moment seines Leidens verlassen haben.
Ich glaube an die Erlösung des Weltalls in der Liebe
und durch die Liebe.»
Inneres. Kirchliches. Heidnische Gülte. 483
Nach diesem Credo trat die Diakonissa zurück und der
Patriarch ertheilte den Segen: Perfecti und Perfectae und
ihr, Hyliker1), die heiligen Aeonen seien mit euch!
Nun erst begann das heilige Officium, einer römisch-ka-
tholischen Messe nicht unähnlich, immerhin doch mit wesent-
lichen Differenzen. Feierlich wurde eine Stelle aus dem Jo-
hannes-Evangelium in griechischer Sprache recitirt, und —
entzückende Vision aus einer andern Zeit — während des
Officium und der Konsekration führte der Chor der Jung-
frauen unter der Leitung der Diakonissa zwischen Altar und
Vorhang heilige Tänze auf, deren Figuren und Bewegungen
das ausdrücken, was Worte nicht mehr aussprechen können,
die höchsten Symbole der Religion Valentins.»
Das Weitere dieses Kultus zu beschreiben unterlassen
wir füglich und sind der Ansicht eines anderen Berichter-
statters, dass das heutige Frankreich überhaupt dem alten
Griechenland in der Zeit des Niederganges gleiche, als man
über den Zeus spottete und gleichzeitig Wunderthätern, wie
Apollonios von Tyana zuströmte.
Der Buddhismus, welcher von Schopenhauer, der eine
Art Buddhist war, in die deutsche Welt eingeführt und später
namentlich von Oberpräsidialrath Theodor Schnitze in Potsdam
vertreten wurde«), nimmt ebenfalls in diesem Lande der Denker
zu, begünstigt durch eine weitgehende Abneigung gegen das
dortige offizielle Christenthum und durch die vorläufige
Richtung der Zeit auf das Zerstören, statt des Auf bauens. Es
ist dafür bezeichnend, dass in einer grossen Berliner Zeit-
schrift folgendes zu lesen war:
«In Summa könnte man also mit dem oben erwähnten In-
dologen C. von Schröder den Buddhismus bezeichnen «als den
*) Hyliker ist der noch nicht in die Vollkommenheit der Gnosis
erhobene, irdisch gesinnte Mensch.
2) Vgl. dessen Biographie von Arthur Pfeugst.
484 Jahresbericht 1899.
grossartigsten (religiösen) Versuch der Menschheit, durch ei-
gene Kraft sich selbst zu erlösen>. Damit hängt es aufs
Eugste zusammen, — und das ist der zweite Punkt, auf den
hier hingewiesen sein möge, — dass der Buddhismus ein re-
ligiöses System des Atheismus ist, das einen Gott nicht kennt.
In der That, wenn der Mensch immer wieder nur auf sich
selbst, auf seine eigene und vor allem sittliche Kraft zurück-
geführt wird, — wie sollte da wohl der Gottesbegriff mög-
lich sein ? Gerade in diesem Punkte scheint mir aber das für
die europaische Kultur wichtigste und förderlichste Moment
zu liegen. Der Pessimismus, als die metaphysische Grundlage
des buddhistischen Systems, auch wenn er so weit umgebogen
und umgedeutet wird, dass er nicht mehr ein Narkotikon für
den Geist und ein Hemmniss für den Fortschritt zu sein
braucht, wird sicher niemals allgemeinen Eingang finden
können, er wird jedenfalls immer Gegenstand des Streites
sein, wie jede ins Transcendente übergreifende metaphysische
Lebensansicht. Dagegen kann vielleicht die Thatsache, dass
gerade der Buddhismus, die grösste aller Kulturreligionen,
ein atheistisches System ist, auch für die europäische Kultur-
welt noch von grosser Bedeutung werden, insofern die nähere
Kenntniss dieser Thatsache, das wachsende Verständnis« der-
selben und ihre Ausbreitung, gewaltige Vorurtheile von Jahr-
tausende langer Dauer mit niederreissen helfen kann. Noch
bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts fiel es Niemandem
ein, an der Meinung zu rütteln, dass die Religion und sei
sie auch auf die kahle Thatsache eines Glaubens an das Da-
sein Gottes reduzirt, die unumgängliche Voraussetzung aller
Sittlichkeit sei, bis dann Kant die Unabhängigkeit der Moral
von aller Religion, auch vom Gottesbegriff, begründete. Aber
noch immer hielt alles an der Meinung fest, dass Religion in
dem üblichen Sinne, d. h. vor allem die Gottesvorstellung
selbst, wenigstens eine absolute psychologische und ethnolo-
gische Notwendigkeit sei, dass es keinen Menschen und kein
Volk ohne Gottesvorstellung geben könne. Da hat man aber
in unseren Tagen (namentlich die Forschungsreisen von den
Steinend in Brasilien haben hier bahnbrechend gewirkt) pri-
mitive Völker entdeckt, die absolut keine Grottesvorstellung
Inneres. Gesetzgebung und Verwaltung. 485
•
oder dem Aehnliches besitzen. Und nun enthüllt eben das
Studium des Buddhismus immer mehr, dass die Gottesvor-
stellung nicht einmal eine religionspsychologische Notwen-
digkeit ist, dass nicht nur eine unter vielen Religionen, son-
dern gerade die ausgebr ei totste Kulturreligion, die ca. 500
Millionen Bekenner, d. h. etwa 40 Prozent der ganzen Men-
schenwelt umfasst, nichts von einem Gotte weiss, wenn auch
dem Stifter der Religion selbst innerhalb verschiedener ent-
arteter Nebenbekenntnisse göttliche Ehren erwiesen werden.
Wenn aber diese Thatsachen, dass Gottesvorstellung und
Gottesbegriff weder eine nothwendige Vorbedingung der Sitt-
lichkeit noch eine nothwendige Thatsache des menschlichen
Bewasstseins, noch selbst eine nothwendige Vorbedingung für
eine Religion sind, erst einmal allgemeinere Ausbreitung ge-
wonnen haben werden, so ergeben sich daraus Ausblicke auf
mögliche Umwälzungen in der ganzen inneren Struktur der
modernen Kulturwelt, im Vergleich mit welchen selbst die
grössten Veränderungen etwa in unserem oder dem vorigen
Jahrhundert noch geringfügig erscheinen.»
Wir werden es gewärtigen, ob diese Bäume in den
Himmel wachsen, oder ob der «Herr ihrer lacht» wie schon
der zweite Psalm es sagt, der noch immer besteht, und unter
dessen Stimmung, was die religiösen Angelegenheiten der
Menschheit betrifft, wir in das neue Jahrhundert übergehen,
welches muthmasslich diese grossen Fragen wieder für einige
Zeit zn lösen haben wird.
HE. Gesetzgebung und Verwaltung.
Kehren wir zn unseren Penaten zurück, nachdem die
kirchlichen Angelegenheiten nothwendig stets ein wenig über
die Grenzen unseres Landes hinausführen, da wir eben keiue
Nationalkirche haben, noch haben können, seitdem das t Man-
dat vom Glauben», der letzte Versuch hiezu, wir wissen nicht
sollen wir sagen unglücklicher oder glücklicherweise, geschei-
tert ist. Denn in Religionssachen ist die Wahrheit wichtiger,
als die Einheit.
486 Jahresbericht 1899.
Das Haaptresultat der eidgenössischen Gesetzgebung^
arbeit war in diesem Jahre das dreitheilige Gesetz über die
Unfall- nnd Krankenversicherung nnd Militärversicher-
nng, wie es schliesslich in einer ausserordentlichen Sitzung der
eidgenössischen Räthe, vom Nationalratb am 2. Oktober mit
allen gegen Eine Stimme und 12 Enthaltungen (lauter Mit-
glieder der sozialistischen Partei), vom Ständerath am 5. Ok-
tober einstimmig, angenommen wurde und im Bundesblatt
Nr. 41 unter dem 11. Oktober publizirt ist. Es lauft nun zu-
nächst die Referendumsfrist, welche am 9. Januar 1900 zu
Ende geht. In dieser Zeit muss es sich entscheiden, ob das
Gesetz ohne weiteres mit dem 1. Januar 1903 in Kraft tritt,
oder noch die Barre einer Volksabstimmung passiren muss,
um aus dem Meer in den Hafen zu gelangen. Ob dies der
Fall sein wird, darüber sind die Ansichten getheilt. Gegner,
um 30,000 Stimmen auszumachen, sind jedenfalls genug vor-
handen, aber es wird jede organisirte Partei etwelche Be-
denken haben, diese Kastanien aus dem Feuer zu holen und
lieber eine andere voranschicken wollen. Das zeigten die Ent-
haltungen und eine etwas langathmige Erklärung, die den-
selben im Nationalrath beigefügt wurde, während ein einziges
Mitglied den Muth besass, direkt Nein zu sagen. Sehr viele
Schweizer aller politischen Parteien aber würden mit Nein
stimmen, wenn es überhaupt dazu kommen sollte. Gründe dafür
sind leicht zu finden. Unsererseits sind wir für Annahme, obwohl
wir glauben, dass der ohnehin sehr komplizirte Staate- und
Gemeindeorganismus noch viel komplizirter dadurch wird und
Schwierigkeiten mit der bisherigen Genossenschafts- und Ge-
meinde-Armenpflege (nebst den dazu gehörigen Bürgergutever-
hältnissen) nicht ausbleiben können, dass ferner eine weitere
Vermehrung der ohnehin überwuchernden Bureaukratie ent-
stehen wird und dass die finanzielle Basis immerhin etwas zu
Inneres. Gesetzgebung. 487
wünschen übrig lässt. Auch zweifeln wir nicht, dass die wach-
gerufenen Wünsche nicht befriedigt werden, vielmehr noch neue
entstehen, und dass das Gesetz nur der Anfang einer allge-
meinen Alters- und Invalidenversicherung ist. Aber dem allem
und was noch sonst etwa angebracht werden könnte gegenüber
steht das Bild einer abgearbeiteten und kummervollen Frau
mit völlig erschöpften Mitteln am Krankenlager des Ernährers
der Familie, die beständige Sorge der von ihrer Arbeit leben-
den Bevölkerung selbst in guten Tagen vor einem solchen
Schicksal, das sie der Armenunterstützung überliefert, ebenso
auch die Ungerechtigkeit und Willkür der jetzigen Haftpflicht-
gesetzgebung, die so nicht bleiben und auch nicht fortschrei-
ten kann. Das muss entscheiden, trotz allen Bedenken, in
einer Bepublik, die sich eine demokratische nennt und in
solchen Dingen nicht hinter monarchischen Staaten zurück-
bleiben darf, wenn sie bestehen bleiben will, in der es
überhaupt kein Elend geben darf, dem mit möglichen und er-
schwinglichen Mitteln abgeholfen werden kann. Etwas Muth
braucht es zu grossen Dingen immer; ohne Muth kann die
schweizerische Eidgenossenschaft überhaupt nicht existiren,
auch in vielen anderen Richtungen. Wenn also das schwei-
zerische Volk die angebotene Hülfe von sich stossen will,
so mag es dies thun, aber auf eigene Verantwortung und
Gefahr hin; wir thun es nicht und wenn die Schwierig-
keiten noch doppelt so gross wären.
Wir waren daher auch für einen dermaligen und un-
bedingten Beschluss mit möglichst kurzer Ausführungsfrist,
dagegen nicht für das Tabakmonopol, aber nur deshalb, weil
wir in einem solchen Anhängsel eine Gefährdung des Gesetzes
.erbückten, nicht aus Antipathie gegen dieses sehr zweck-
mässige und zweifellos in der Zukunft liegende Staats-
monopol.
488 Jahresbericht 1899.
Dass der Annahme und Durchführung dieses Gesetzes,
das seit zehn vollen Jahren schon ein Haupttraktandum der
Bundesversammlung bildete, einige andere ebenfalls in ihrer
Art wichtige Gesetzgebungsvorlagen, namentlich das Lebens-
mittelgesetz, das Forstgesetz, die neue Organisation des Mili-
tärdepartements einstweilen den Vorrang einräumen mu&sten,
war nicht zu vermeiden. Eines nach dem anderen, qui trop
embrasse mal ätreint. Dieser Satz dürfte überhaupt in dem
ganzen Gang der eidgenössischen Gesetzgebung etwas mehr
zur Geltung kommen.
Gleichzeitig mit dem Versicherungsgesetz kam in der
ausserordentlichen Septembersitzung, im Nationalrathe vor-
läufig, zur Annahme das Nebenbahnengesetz. In dieses
Gesetz werden die Bedingungen aufgenommen, welche die
Voraussetzungen zu ihrer Unterstützung durch den Band
bilden werden, welche den Gegenstand eines besondern
Postulats bilden soll. Es ist also ein Gesetz, das die grösseren
allgemeinen Grundsätze über Nebenbahnen enthält, nach denen
sie zu konzessioniren sind und das zugleich die Basis einer
künftigen Betheiligung des Bundes bei denselben bildet. Was
Haupt- oder Nebenbahnen seien, was ja zweifelhaft sein kann,
soll der Bundesrath entscheiden, aber mit Rekurs an die
Bundesversammlung, innert Frist von 3 Monaten jedoch.
Das Gesetz ist im Uebrigen als eine Ergänzung des all-
gemeinen Eisenbahngesetzes von 1872 aufzufassen, so dass
alle Bestimmungen desselben selbstverständlich auch für die
Nebenbahnen gelten, falls das Nebenbahnengesetz nicht aus-
drücklich eine Ausnahme enthält. Natürlich gelten auch da-
neben noch für die sehr verschiedenen Arten dieser Neben-
bahnen die speziellen Bestimmungen ihrer Konzessionen»
Die speziellen Vorschriften über die Nebenbahnen, die
ihrer Natur und Individualität entsprechen, aber doch die
Inneres. Gesetzgebung. 489
Sicherheit in keiner Weise gefährden sollen, sind vom Bundes-
rate zu erlassen.
Dagegen gelangte nicht zur völligen Durchberathung das
Gesetz über die Arbeitszeit bei demBetrieb der
Transportanstalten.
Die Anregung hiezu entstand durch eine Petition von bei
dieser Sache Betheiligten an den Bundesratb vom Oktober
1395. Die Arbeitszeit von 12 Stunden und die Ruhetage
sollten regulirt, ein jährlicher Urlaub eingeführt und die Aus-
nahmen, welche der Bundesrath vom bisherigen Gesetz ge-
statten durfte, beschränkt werden. Der Bundesrath veran-
staltete zunächst eine Enquete bei den betroffenen Verwalt-
ungen und erliess, darauf gestützt, dann eine Botschaft . im
März 1898, welche sodann an die Kommissionen der Räthe
gelangte. Seither kam nun durch den Rückkauf der Eisenbahnen
auch noch der Bund in die Reihe der hauptbetheiligten Ver-
waltungen, und die Kommission des Nationalraths verlangte
in Folge dessen von dem Bundesrath noch einen weiteren
Bericht, namentlich über die Frage, ob man ein einheitliches
Gesetz erlassen solle, oder eine Reihe von Reglementcn für
die einzelnen Verwaltungen. Der Bundesrath sprach sich
für ein allgemeines Gesetz aus.
Der Kommission schwebte im Allgemeinen vor das all-
gemeine Dienstzeitreglement der Eisenbahnen, das im Oktober
d. J. im deutschen Reiche in Kraft getreten ist.
Die Remeduren, die von allen Seiten verlangt wurden,
besonders in Bezug auf die regelmässige Arbeitszeit, würden
eine Belastung von 4 — 5 Millionen Franken jährlich bedeuten
und bei der Eidgenossenschaft dasjenige verschlingen, was
man als muthmasslichen Ueberschuss in der künftigen Eisen-
bahnverwaltung berechnet hatte.
490 Jahresbericht 1899.
Die Hauptvorschläge der Kommission betreffen eine Re-
duktion der Arbeitszeit und besondere Bestimmungen Aber
Dienstbereitschaft oder Präsenzzeit (die etwas Anderes ist
als die Arbeitszeit) wie sie bis anbin nicht bestanden.
Ebenso ist der sogenannte «Urlanb> im Eisenbahn*
dienst, d. h. die Einführung einer zusammenhangenden ein-
maligen Ruhezeit im Jahre, neben der gewöhnlichen täglichen
Ruhezeit projektirt.
Eine schlimme Sache ist die, dass die Schweiz, als ein
vernehmlichstes Dnrchgangsland für den internationalen Ver-
kehr, den Nachtdienst der Bahnen nicht nur nicht beschränken
kann, sondern noch ausdehnen muss.
Im Uebrigen soll das Gesetz so gestaltet werden, dass
nicht die Ausnahmen, welche der Bundesrath immer wird ge-
währen müssen, die Regeln überwuchern.
Ein Hauptpunkt war die 11- oder 10 stündige Arbeitszeit,
statt der jetzt 12 stündigen, bei den Eisenbahnen. Es ist dies
übrigens nicht ein «Normal-Arbeitstag», wie im Fabrikgesetz,
sondern ein «Maximal-Arbeitstag». Ein 10 stündiger Normal-
Arbeitstag wurde schliesslich auch von den Vertretern der
Eisenbahnen nicht mehr verlangt, sondern es handelte sich
eigentlich nnr noch um einige bevorzugte Kategorien, wie Loko-
motivführer und Fahrpersonal. Doch beschloss auch dies der
Nationalrath (6.0ktober) nicht. Dagegen soll die Nacht-
ruhe genauer normirt werden. Die Kontrolle über
die effektive Dienstleistung nnd die sogenannte cüeber-
zeit» soll nach der Ansicht der Kommission von dem Per-
sonal selbst ausgeübt werden. Ein individueller Antrag
ausserhalb der Kommission wollte dafür ein besonderes In-
spektorat aufstellen.
Im Ganzen wird dieses Gesetz, das nun natürlich erst
von einer folgenden Legislative angenommen werden wird,
Inneres. Gesetzgebung. 40t
ohne Zweifel eine erhebliche Verbesserung der jetzigen Zu-
stande herbeiführen. Auch dass der Sonntag etwas
besseres, körperlich und geistig wirksameres sei, als jeder
andere Freitag, somit auch diesen Leuten wieder voll und
ganz zurückgegeben werden müsse, wurde endlich einmal
in einem schweizerischen Rathssaal mit einer bisher unge-
wohnten Wftrme betont. Das weitschichtige Gesetz wurde
erst am zweitletzten Tage einer Legislativ-Periode im
Nationalrath zur Berathung gestellt, was eigentlich eine
starke Anomalie war. Von einer gründlichen Berathung konnte
daher nicht mehr die Bede sein. Wir verweisen im Allge-
meinen auf den Artikel «Arbeit und Ruhe» im Jahrbuch
Band XII.
Im Ganzen machte die bisherige Verhandlung den be-
ruhigenden Eindruck, dass unsere «Sozialpolitik» eine
etwas andere sei und die Anschauungen darüber lange nicht
so hoffnungslos auseinandergehen, wie etwa in Deutsch-
land, Frankreich und Belgien. Die Aera der «kommunisti-
schen Manifeste» und die Erwartung des «grossen Kladdera-
datsches» ist bei uns jedenfalls mit dem 19. Jahrhundert nach
einer kaum 50jahrigen Laufbahn zu Ende, und wir stehen
jetzt da, wo wir immer standen, in der Aera der ver-
nünftigen Verständigung und des wirklichen, gemeinsamen
Fortschritts auf dem Boden eines «Vaterlands.»
Zunächst stehen nun noch zur Verhandlung in der im
Dezember beginnenden neuen Legislaturperiode bevor ein
Bandesgesetz über den Versicherungsvertrag nach
einem Entwurf von Prof.Rölli, worüber der diesjährige Juristen-
tag in Freiburg Verhandlung pflog, sodann die Revision des
veralteten Gesetzes über den Geschäftsverkehr zwischen
beiden Käthen.
492 Jahresbericht 1899.
Ueber dieRechtsgesetzgebung gab der Vertreter des
-eidgenössischen Justizdepartements im Ständerath eine Er-
klärung ab, wonach er sich die Frage des Vorangehens des
«Strafrechts oder Civilrechts» noch zu weiterer Prüfung der
Zweckmässigkeit vorbehält, womit sich auch eine Anzahl
von nationalräthlichen Interpellanten einstweilen beruhigte,
immerhin mit der bestimmten Erklärung, dass sie das Voran*
gehen des Civilrechts, als des reiferen nnd besseren Ent-
wurfes, der auch für das nationale Leben von grösserer Be-
deutung und Tragweite sei, fortwährend wünschen und im
Auge behalten.
Das aligemeine Interesse an der Frage ist begreiflich bei
der Tragweite und Wichtigkeit des Gegenstandes. Immer-
hin muss der Bundesrath betonen, dass ein Bericht von seiner
•Seite nicht, präjudiziell sein kann. Die Vorarbeiten haben be-
kanntlich vor der Vorlage der Verfassungsnovelle begonnen
durch die bekannten Arbeiten der Professoren Huber und
Stooss. An Hand dieser Arbeiten konnte man sich über-
zeugen, dass trotz mannigfacher Divergenzen einheitliche Ge-
setzbücher nicht ausgeschlossen seien; dann folgte die Ver-
fassungsnovelle. Für das Civilrecht wurde ein Arbeitspro-
gramm aufgestellt, zu dessen Beurtheilung die Kantons-
regierungen begrüsst wurden.
Diesen ersten eingeholten Ansichtsäusserungen folgten
die ersten Vorentwürfe, zunächst das Personen- und Familien-
recht, über die weitere Gutachten eingeholt wurden. Im
Grossen und Ganzen fand dieser Theilentwnrf eine gute Auf-
nahme. Auch der Vorentwurf des Grundpfandes wurde den
Experten in den verschiedenen Landestheilen zugestellt, es
folgte die Erweiterung des Entwurfes auf das gesammte
Sachenrecht, der zunächst einer kleinern Expertenkommission
unterbreitet wurde. Bis Ende dieses Jahres soll dieser Theil-
untwurf wie der erste publizirt werden können.
Inneres. Gesetzgebung. 49ä
In Sachen des Erbrechts besteht erst, ein erster Vorent-
wurf. Der Strafrechtsentwurf wurde einer grossen Experten-
kommission unterbreitet. Das gesammte kritische Material
wurde gruppirt, um an Hand desselben eine weitere Lesung
zu ermöglichen. Ein Motivenbericht des Eedaktors ist für
Ende dieses Jahres in Aussicht gestellt. Ferner wurde der
Verfasser des Entwurfes mit verschiedenen Abänderungen be~
auftragt.
Gegenwartig ist im Weiteren eine Erhebung über den
Strafvollzug im Gange. Der Bundesrath gedenkt so weiter
vorzugehen, dass das Sachenrecht in diesem Jahre zum Ab«
schluss kommt. Dann soll das Erbrecht daran kommen. Ea
sollte möglich sein, bis Ende 1900 alle drei Entwürfe auf
die gleiche Höhe zu bringen und auf 1901 auf breitester
Grundlage zu veröffentlichen. In die grösseren Experten-
kommissionen, die sich nach der Publikation weiter mit der
Sache zu befassen haben werden, sollen Vertreter der weitesten
Kreise beigezogen werden. Die Frage, ob der Bundesver-
sammlung seinerzeit ein Gesammtentwnrf oder Theilentwürfe
vorgelegt werden sollen, kann heute noch nicht entschieden
werden. Es hängt dieser Entscheid von verschiedenen Fak-
toren ab, die erst später bestimmt sein werden. Die Arbeiten
im Strafrecht können gleichzeitig gefördert werden. Für den
Vorzug der einen oder anderen Materie sprechen weder die
Abstimmungsziffern, noch sonst etwas. Der Strafgesetzent-
wurf soll 1901, wann die drei Civilgesetzentwürfe vorliegen,
einer Expertenkommission unterbreitet werden.
Es liegt in der Meinung des Bundesrates, dass in der
Förderung der vorhandenen Vorarbeiten fortgefahren werden
soll und je nachdem die eine oder andere Materie zum Ab-
schluß kommt, dieselbe den Käthen unterbreitet wird.
494 Jahresbericht 1899.
Auf Ende des Jahres steht die Publikation des Sachen-
rechtes in sicherer Aussicht, nnd da auch das Erbrecht be-
reits in einem Entwürfe ausgearbeitet vorliegt und im Früh-
jähr der vorläufig abschliessenden Berathung unterzogen
werden soll, so kann auf den Herbst 1900 die Veröffent-
lichung eines vollständigen departementalen Entwurfes über
das Civilrecht (mit Ausschluss des Obligationenrechtes) er-
wartet werden. Man hofft, dass sich die in Aussicht ge-
nommenen Berathungen einer grösseren Kommission von
Fachmännern und Vertretern aller hervorragenden Zweige
unseres wirtschaftlichen Lebens unmittelbar daran an-
schliessen werden. Im Interesse der Sache liegt unzweifel-
haft eine ununterbrochene Fortführung der Arbeit an den
Entwürfen.
Jedenfalls worden wir aber bei der Behandlung des Straf-
rechts schwerlich den modernen Theorien folgen, wie sie jetzt
auch in dem neuen Entwurf zu einem norwegischen Strafrecht
enthalten sind, bei dem Civilrecht hingegen vielleicht umge-
kehrt noch etwas mehr Modernität befürworten.
Durch das Unfall- und Krankenversicherungsgesetz ist
eine gewisse Retardirung in anderen vorliegenden Gesetzge-
bungsarbeiten eingetreten. Namentlich wurden z. Th. nach
schon begonnener Berathung zurückgelegt: das neue Forstgesetz,
das Lebensmittelgesetz, die neue Organisation des Militärde-
partements und das Gesetz über die Arbeitszeit bei den
Transportanstalten, Gesetze, die sämmtlich eine gewisse Dring-
lichkeit besitzen. Ausserdem liegen der nächsten Legislatur-
periode, welche mit den Nationalrathswahlen vom 29. Oktober
d. J. beginnt, namentlich vor: Ein Gesetz Aber den Ge-
schäftsverkehr zwischen den beiden Ruthen, das Bankgesetz,
die Reorganisation der Telegraphenverwaltung, ein Bundes-
gesetz über die elektrischen Schwach- und Starkstromanlagen,
Inneres. Gesetzgebung. 495
die Revision des Bandesgesetzes über die Kontrolle der Gold-
und Silberwaaren, ein Gesetz über den Verkauf der Bijouterie-
und Goldwaaren, ein Gesetz über den Schutz gewerblicher
Muster und Modelle, ein Bundesgesetz über die Währschaft
bei dem Viehhandel. Eine Revision des Fabrikgesetzes und
des Alkoholgesetzes steht ebenfalls unmittelbar vor der Thüre.
In weiterer, aber nicht unmittelbarer Aussicht stehen: die
beiden Rechtsgesetze über Civilrecht und Strafrecht, von
denen, wie gesagt, zur Zeit noch ungewiss ist, welches zuerst in
Berathung gezogen werden soll.
Mit dem 1. Januar 1900 tritt nun das deutsche bürger-
liche Gesetzbuch in Kraft, dessen Erfahrungen auch für uns
sehr massgebend sein werden. Darüber sagt die Berliner Zeit-
schrift Nation:
«Wir haben jetzt ein gemeinsames bürgerliches Gesetz-
buch für Deutschland ; gewiss, aber wir haben es nur bis auf
die strittigen Punkte. Das Einführungsgesetz spricht in seinem
dritten Abschnitt über das Verhältniss des bürgerlichen Ge-
setzbuchs zu den Landesgesetzen. Dieser dritte Abschnitt um-
fasst 98 Paragraphen. Von diesen 98 Paragraphen beginnen
bei Weitem die meisten mit den Worten : «Unberührt bleiben».
Deutlich gesprochen, es gibt 98 Materien, in denen der einer
Rechtebelehrung Bedürftige aus dem bürgerlichen Gesetzbuche
keine Auskunft schöpfen kann, sondern sich an die Sonder-
rechte der 26 Bundesstaaten halten muss.
Dieser Umstand wird es hindern, dass das bürgerliche
Gesetzbuch schnell populär werden wird. Jedes neue Gesetz
drückt wie ein neuer Schuh. Ueber die Justizgesetzc des
Jahres 1879 ergossen sich die bittersten Klagen; gewisse
Einrichtungen, die sich in grossen Theilen Deutschlands langst
bewährt haben, wurden in den Theilen, in denen sie neu
waren, als wahnwitzige Erfindungen gebrandmarkt (die kon-
sequente Mündlichkeit, das Gerichtsvollzieheramt u. s. w.).
Die Geschichte des Code Napoleon lehrt, dass man über alle
Schwächen und Unbequemlichkeiten eines neuen Gesetzbuchs
496 Jahresbericht 1899.
hinwegkommt, wenn dieses neue Gesetzbach nur das kostbare
Gut der Rechtseinheit bringt. Dieses Gut brachte der Code
Napoleon. Er kennt keinen Unterschied der Stände und keinen
Unterschied der Stämme. Und darum halten ihn die Fran-
zosen trotz seiner Fehler für das Ideal eines Gesetzbachs;
darum halten sie an ihm fest und scheuen sich, auch nur in
Kleinigkeiten daran zu ändern. Uns wird das kostbare Gut
der Rechtseinheit vorenthalten trotz des bürgerlichen Gesetz-
buchs.»
Diese Vorbehalte des Landesrechtes im deutschen Reiche
betreffen namentlich sachenrechtliche Materien. Namentlich
scheint man in Deutschland mit dem Erbrecht an liegenden
Gütern nicht recht zufrieden zu sein, welches eben nicht
nach Jedermanns Wunsch geordnet werden kann. Man wird
anch bei uns in ähnlichem Umfang Vorbehalte verlangen.
Wir konstatiren jedoch gerne, dass der nun durchberathene
Entwurf des Sachenrechts in der Vereinheitlichung viel
weiter zu gehen beabsichtigt, als dies beim Reichscivilgesetz-
buch der Fall ist.
Andererseits hat in neuerer Zeit ein rechtsgelehrter
Jesuit, Pater Lehmkuhl, ein bekannter Schriftsteller auch der
Moraltheologie, den Satz aufgestellt und eingehend zu be-
gründen versacht, dass das Gesetz nicht den sittlichen For-
derungen des unumstössiiehen «Naturrechts» entspreche, so-
mit keine absoluten Verpflichtungen enthalten könne. Das
wird die wirkliche Rechtseinheit noch wirksamer gefährden.
Ebenso ist in Deutschland ein uns näher interessirender
Entwurf eines neuen Gesetzes über das Urheberrecht an
Werken der Litteratur and Tonkunst erschienen.
Neue, zum Theil in der Gesetzessammlung bereits auf-
genommene Erlasse sind besonders: das Zündhölzchengesetz,
E. G. S. XVII, 76 ; ein Bundesrathsbeschlass betreffend allge-
meine Vorschriften über elektrische Anlagen. E.G.S. XVII, 284.
Inneres. Gesetzgebung. 497
Für das Zündhölzchen gesetz, das die Fabrikation, Ein-
fuhr, Ausfuhr und Verkauf der Zündwaaren mit gelbem Phos-
phor verbietet und am 28. Februar d. J. durch unbenutzten
Ablauf der Referendumsfrist in Kraft getreten ist, müssen
noch ausführliche Uebergangsbestimmungen durch den Bundes-
rath erlassen werden, bevor es wirklich in Wirksamkeit ge-
langen kann. Einstweilen wurde beschlossen: Dasselbe ist in
die eidgenössische Gesetzessammlung aufzunehmen und tritt
in Kraft wie folgt: 1. Für die Fabrikation von Zündhölzchen
und Streichkerzchen mit gelbem Phosphor am 1. April 1900;
2. für die Einfuhr von Zündhölzchen und Streichkerzchen mit
gelbem Phosphor (Art. 4) und von gelbem Phosphor (Art. 5)
am 1. Juni 1899 ; 3. für die Ausfuhr und den Verkauf von Zünd-
hölzchen und Streichkerzchen mit gelbem Phosphor am I.Januar
1901 ; 4. für die Bestimmungen des Art.2, Abs. 2, Art. 8u. 10 sofort.
Von den bereits ganz, oder thcilweise von dem einen Rathe
der Bundesversammlung behandelten Gesetzen sind noch mit
einem Worte zu berühren: Das eidg. Gesetz über die fortan
allgemeine, für die ganze Schweiz geltende Forst aufsieht.
Die Hauptfrage dabei bilden immer die Schutzwaldungen, deren
Erstellung, resp. Erhaltung natürlich für die Besitzer dieser
Wälder oneros ist, da sie nicht allein den Nutzen ihres Landes
einbüssen, welches sie vielleicht als Weide besser verwerthen
könnten, sondern dafür noch Kosten tragen müssen. Es wird ohn e
Zweifel schliesslich dazu kommen müssen, dass alle Schutz-
wälder öffentliches Eigenthum des Staates, oder der Gemeinden
werden. Besonders wichtige Fragen daneben sind die Unter-
stützung auch der unteren Forstbeamten durch den Bund und
eine tbeilweise Decentralisation in der Oberaufsicht, die dnreh
ein neues Organisationsgesetz des eidg. Oberforstinspektorates
zu lösen sein wird. Das Gesetz wurde im Nationalrath am
30. Juni 1899 mit 65 gegen 31 Stimmen angenommen.
32
498 Jahresbericht 1899.
Das Lebensmittelgesetz ist nur in den Konimis-
sionen beratheu worden und wird noch eine sehr weitläufige
Berathung in den Eäthen erfordern. Eine Uebersicht des
Inhalts ist folgende:
«Der Entwurf eines Bandesgesetzes betreffend den Ver-
kehr mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen betrifft
den Verkehr mit Nahrungs- und Genussmitteln und den Ver-
kehr mit Gebrauchs- und Verbrauchsgegenständen, soweit
solche das Leben oder die Gesundheit gefährden können. Die
Beaufsichtigung liegt ob, in den Kantonen unter Leitung der
Eegierung und soweit nothwendig, unter Mithülfe der Po-
lizei : der kantonalen Sanitätsbehörde, dem Kantonschemiker,
den kantonalen Lebensmittelinspektoren, den örtlichen Ge-
sundheitsbehörden, den Fleischbeschauern; an der Landes-
grenze : den Zollämtern und den Grenzthierärzten. Dem Bun-
desrathe steht die Oberaufsicht zu.
Jeder Kanton hat als Centralstelle für die chemische,
physikalische oder bakteriologische Untersuchung von Nah-
rungs- und Genussmitteln, Trink- und Brauchwasser, Ge-
brauchs- und Verbrauchsgegenständen eine Untersuchungsan-
stalt (kantonales Laboratorium) einzurichten und zu unter-
halten. Die Leitung dieser Anstalt ist einem diplomirten Le-
bensmittelchemiker (Kantonschemiker) zu übertragen. Die
kantonalen Untersuchungsanstalten können auch andere Un-
tersuchungen zur Förderung der öffentlichen Gesundheitspflege
und zu gerichtlichen Zwecken ausführen. Ausnahmsweise
können einzelne Kantone mit Genehmigung des Bundesratheg
sich zur Einrichtung und Unterhaltung einer gemeinschaft-
lichen Untersuchungsanstalt vereinigen oder sich die Benutzung:
der Untersuchungsanstalt eines Nachbarkantons durch Vertrag
sichern. Grössere Ortschaften können mit Genehmigung der
kantonalen Regierung eine eigene, der Örtlichen Gesundheits-
behörde unterstellte Untersuchungsanstalt (städtisches Labora-
torium) einrichten und unterhalten. Die Leitung dieser An-
stalt ist einem diplomirten Lebensmittelchemiker (Stadtche-
miker) zu übertragen.
Die Untersuchung der von den Aufsichteorganen ant
Grund dieses Gesetzes amtlich übermittelten Proben wird
Inneres. Gesetzgebung. 499
durch die Untersuchungsanstalten unentgeltlich besorgt, unter
Vorbehalt besonderer Bestimmungen. Andere Untersuchungen
werden von diesen Anstalten gegen eine tarifgemässe Ver-
gütung1 ausgeführt. Die Kantone haben einen, oder mehrere
Lebensmittelinspektoren einzusetzen. Diese sind dem Kantons-
chemiker unterstellt. Ausnahmsweise können mit Genehmigung
des Bandesrathes einzelne oder sämmtliche Funktionen der
Lebensmittelinspektoren dem Kantonschemiker oder andern
Beamten der kantonalen Untersuchungsanstalt übertragen
werden Die Kantone haben örtliche Gesundheitsbehörden ein-
zusetzen. Als solche können ausnahmsweise die Gemeinde-
räthe bezeichnet werden. Die Kantone sind befugt, verschie-
dene Gemeinden zu einem Sanitätsbezirk zu vereinigen, für
den eine gemeinsame Gesundheitsbehörde bestellt wird. Die
örtlichen Gesundheitsbehörden können einzelne Mitglieder oder
besondere Beamte mit der Vornahme von Nachschauen oder
von Lebensmittelprüfuugen betrauen (Ortsexperten). Die Kan-
tonschenüker haben die nöthigen Instruktions- oder Wieder-
holungskurse für die kantonalen Lebensmittelinspektoren und
die Ortsexperten abzuhalten. Jede Gemeinde ist zur Anstellung
wenigstens eines Fleischbeschauers verpflichtet, welcher, wenn
möglich, patentirter Thierarzt sein soll. Ausnahmsweise darf
die Fleischbeschau einem Nichtthierarzt, der sich über den
Besitz der notwendigen Kenntnisse (Art. 20, Absatz 2) aus-
weist, übertragen werden. Für benachbarte Gemeinden kann
«in gemeinschaftlicher Fleischbeschauer bestellt werden. Jedem
Fleischbeschauer ist ein Stellvertreter beizugeben, der im Be-
sitz der nothwendigen Kenntnisse sein muss und ihn im Falle
der Verhinderung vertritt. Der Fleischbeschau sind unter-
worfen die Schlachtthiere, sowie Fleisch und Fleisch waaren,
welche zum Genuss bestimmt sind. Durch bundesräthliche
Verordnung wird bestimmt, in welchen Fällen die Fleischbe-
schau durch eine chemisch-physikalische oder bakteriologische
Untersuchung zu ergänzen ist. Die Kantone veranstalten die
nöthigen Instruktions- und Wiederholungskurse für Fleisch-
beschauer. Die kantonalen Aufsichtsorgane haben bei Aus-
übung der ihnen durch dieses Gesetz übertragenen Aufsicht
die Eigenschaft von Beamten der gerichtlichen Polizei. Die
zu untersuchenden Proben werden sammt einem schriftlichen
600 Jahresbericht 1899.
Bericht in der Regel der kantonalen oder städtischen Unter*
suchungsanstalt übermittelt, welche der anftraggebenden Amts-
stelle so bald als möglich von dem Untersuchungsresultate
Kenutniss gibt. Eine bnndesräthliche Verordnung wird die
technischen Befugnisse der Lebensmittelinspektoren und der
Ortsexperten festsetzen und bestimmen, welche Untersuchungs-
fälle direkt von diesen Organen unter Vorbehalt des Rekurses,
erledigt werden können. Im Zweifelsfalle sind Oberexpertisen
anzuordnen. >
Ein besonderes Kreuz für die Gesetzgebung ist das eidg.
Bankgesetz, das die Berathungen des Nationalraths bereits
dassirt hat. Es ist darin bis an die äusserste Gränze dessen
gegangen worden, was geschehen konnte, ohne neuerdings eine
Staatsbank, entgegen dem ausgesprochenen Willen der Hehr-
heit des Schweizervolkes einzuführen und es ist nun zu ge-
wärtigen, ob der Ständerath dieses Minimum nicht erhöht,
oder ob sogar schliesslich noch einmal ein Volksentscheid
über das Gesetz provozirt wird. Einstweilen drängen die
GeldverhältniBse sehr nach einer Regelung dieser Frage. Eine
ausländische Stimme sprach sich über die wesentlichen Punkte,
die dabei in Betracht kommen, wie folgt aus:
«Schon im Jahre 1891 sprach sich eine Volksabstimmung-
für die Errichtung einer Central-Notenbank aus. Der Bundes-
rate hatte für die Ausfuhrung die Alternative der Staats-
oder der Aktienbank; er entschied sich für die erstere und
schlug im Juni 1896 eine mit dem Notenmonopol ausgerüstete
staatliche Bundesbank vor; in der Volkabstim mung vom
Februar 1897 aber wurde dieses Projekt verworfen. Die
Handelskreise nämlich wollen die Bank allen politischen und
Parteieinflüssen entrückt wissen und die Kantone ver-
langen von der Schaffung einer centralen Kasse und Ab-
rechnungsstelle und der einheitlichen Banknote, dass ihren
Kantonalbanken daraus nicht etwa eine schwächende Kon-
kurrenz, sondern im Gegentheil eine neue Kräftigung er-
wachse. Letzterer Punkt hängt mit der allgemeinen Politik
zusammen, welche die Kantone dem eidgenössischen Bund
Inneres. Verwaltung. 501
gegenüber beobachten. An sich sollten sie die Kosten für den
Bund aufbringen. Sie haben jedoch — ähnlich wie im Deut-
schen Reich die einzelnen Bundesstaaten die Matrikularbei-
träge durch die Zollruckvergütung wieder ersetzt erhalten
— umgekehrt vom Bunde Vergütungen zu beanspruchen und
z. B. von vornherein den ganzen Ertrag des Alkoholmonopols
für sich confiszirt. Zu einer gleichen Einnahmequelle soll nun
auch die Schweizerische Landesbank erhoben werden. In
ihrer Mehrzahl nämlich sind die Kantonalbanken Staatsbanken
mit einem Dotationskapital, das ihnen der Staat geleistet hat,
mit unbeschränkter Haftbarkeit des Kantons für alle Ver-
pflichtungen der Bank. Die eigentlichen Betriebskapitalien
beschaffen sie sich mittelst Ansgabe von Obligationen. Der
Gewinn fällt dem Staat zu und soll nun durch die Central-
bank gesichert und erhöht werden.»
Der direkte Antrag, trotz der Volksabstimmung dennoch
eine Staatsbank zu errichten, fand im Nationalrath am 15.
Juni 1899 bloss noch 9 Stimmen gegen 116, eine erhebliche
Satisfaktion für diejenigen Mitglieder des üaths, welche von
Anfang an gegen eine reine Staatsbank gewesen waren.
Wir bezweifeln übrigens unsererseits keineswegs, dass
dieselbe stets einigermassen angestrebt werden wird und dass
Viele die jetzt in's Auge gefasste cgemischte Bank» nur als
ein Provisorium betrachten. Aber es ist im Krieg und in der
Politik schon viel gewonnen, wenn nur ein Angriff abge-
schlagen ist ; vielleicht wiederholt er sich nicht, oder erst in
einer anderen Zeit, oder unter sonst günstigeren Umständen.
Namentlich unser Volk ist sehr leicht Stimmungen des Augen-
blicks unterworfen.
Verwaltung. Das schwierigste in derselben ist, die
endlos wachsende Bureaukratie ein wenig in Schranken zu
halten. Die Gesammtzahl des im Bundesdienste stehenden
Personals beläuft sich schon jetzt auf etwa 17,000 Beamte,
Angestellte und Arbeiter. Dazu kommen nach Verstaatlichung
502 Jahresbericht 1899.
der Eisenbahnen etwa 23,000 Eisenbahner, so dass die
Eidgenossenschaft In wenigen Jahren 40,000 Köpfe in
ihrem Dienste haben wird. Ungerechnet die Beamten, die
dnrch die Unfall- und Krankenversicherung entstehen werden.
Theilweise hängt das natürlich auch mit der fortwährenden
Vermehrung der Geschäfte zusammen, über welche sowohl
der Bundesrath, als das Bundesgericht klagt; mitunter aber
doch auch mit einer etwas weitläufigen Behandlung der-
selben, die sowohl an den bundesräthlichen Berichten,
oder Rekursentscheiden, wie namentlich an den übermässig
langathmigen Urtheilen des Bundesgerichts auszusetzen ist«
welche oft beinahe wie Dissertationen aussehen, in denen der
betreffende Referent alle seine juristischen Kenntnisse zeigen
will. Das ist nicht die Aufgabe eines Urtheils, und wenn
dann noch gar etwa später, wie nicht selten, eine andere
Auffassung Platz greift, so tragen solche Abhandlungen nur
dazu bei/ das Recht ungewisser zu machen. Ueber einen selt-
samen Versuch, der in Deutschland gemacht wird, um die
Verwaltung durch lebenslängliche Anstellung von Beamten
zu verbessern und vielleicht zu vereinfachen, lautet ein Zei-
tungsbericht wie folgt:
«La ville de Ludwigshafen, dans le Palatinat bavarois,
en face de Mannheim, vient d'innover en mattere, d'antorite
municipale. Elle s'est donnä un bourgmestre ä vie. Le con-
seil communal a pris cette däcision ä l'unanimite moins une
voix, celle d'un dämoerate socialiste lequel avait en vain
Supplik ses collggues de ne pas jeter präeipitamment par dessos
bord un droit politique de la plus haute importance. Un con-
seiller lui a räpondu assez naivement qu'il fallait assurer la
Situation du bourgmestre pour le cas oü un conseil communal»
moins enebantä que lc leur de la personnalitä qu'ils 61isaient>
voudrait lui faire la vie dure. On convient d'autre part qu'il
est de plus <en plus difficile de trouver des citoyens & la fois
indSpendants, de fortune et de caraetöre intelligente et actifs*
Inneres. Verwaltung. 503
qui consentent & abandonner leurs affaires durant cinq ans
pour se consacrer & görer lea interets de leurs concitoyens:
ou bien, en quittant leurs fonctions, ils ont ä recommencer
nne carriere; ou bien, s'ils retrouvent leurs affaires en etat
de pro8pe>it£, c'est qu'ils les ont tout particulierement soignäes
pendant leur paösage au pouvoir; si, enfin, en vue d'une r6-
election, ils ont courbe* l'echine devant les chefs de partis,
c'est qu'ils sont bons tout au plus ä etre les marionnettes de
la bureaucratie qu'ils sont cense* diriger. Le conseil commu-
nal de Ludwigshafen, ville de 40,000 habitants, n'a pas fait
les choses ä moitiö. II a fix6 les honoraires annuels de son
bourgmestre ä dix-sept mille marks (vingt-un mille francs),
l'autorise ä prendre de copieuses vacances et paye tous les
deplacements auxquels ce fonctionnaire inamovible jugera bon
de proceder dans l'inter^t de ses administratres. Au moins
faut-il esperer que les Ludwigshafenois ont & leur tete
l'oiseau rare.» (Gazette de Lausanne.)
Wir bezweifeln, dass das die richtige Lösimg ist, na-
mentlich wenn man nicht die Wahl «unfehlbar» machen kann,
woran im Grund alle Wahleinrichtungen kranken. Sieyes,
der Verfassnngskünstler der französischen Revolution, er-
fand einen «Gross Wähler», welcher mit 2 Millionen Gehalt,
um ihn völlig unabhängig zu machen, und lebenslänglicher
Anstellung nur die hohen Staatsämter richtig zu besetzen gehabt
hätte. Andere, auch unsere Sozialisten und Linksdemokraten
meinen in der Volkswahl die beste Garantie zu finden, was
sehr schwerlich der Fall ist, wie die Wahl Napoleons III.
und mancher amerikanischen Präsideuten1) es beweist; auch
die künstlich organisirte Wahl der helvetischen Direktoren
hatte keine besseren Resultate aufzuweisen. Selbst die Con-
*) Dieselben wurden nach derraaliger Praxis einstlich auch vom
Volke gewählt, indem die Wahlmänner in den Einzclstaaten unter
der Verpflichtung gewählt werden, dann einem bestimmten Präsi-
dentschaftskandidaten ihre Stimme zu geben, was auch stets geschieht.
Der ursprüngliche Sinn der Verfassung war dies allerdings nicht.
504 Jahresbericht 1899.
claven, die möglichst von der Aussenwelt abgeschlossen and
nur dem Einflasse des heiligen Geistes geöffnet werden,
haben in der bisherigen Geschichte nicht immer die Besten
anf den päpstlichen Stuhl befördert, und was die monarchische
Einrichtung anbetrifft, so haben schon Plato und Cicero das
Königthum zwar als die theoretisch beste, praktisch aber
nur sehr selten auf die Dauer entsprechende Staatsein-
richtung erklärt.
Ueber das neue Geschäftsreglement in Bezug auf den
Verkehr zwischen beiden Käthen sind vorläufig von der
Kommission des Nationairaths folgende, von der bisherigen
Praxis abweichende Vorschläge gemacht worden:
< Wenn beide Käthe auf ihren Beschlüssen verharren und
eine Uebereinstimmung nicht erwirkt ist, sollen die beiden
Kommissionen, welche den Gegenstand vorbereitet haben, zu-
sammentreten und eine Verständigung versuchen. Darauf
wird, wenn letztere erzielt würde, an den Kath, bei welchem
die Angelegenheit zur Behandlung liegt, von seiner Kom-
mission ein neuer Antrag gestellt. Können sich die Kommis-
sionen nicht einigen, so ist der Verhandlungsgegenstand von
der Tagesordnung abzusetzen. Jeder Kath hat das Recht,
gegen Gesetzesvorschläge des Bundesrates förmliche Gegen-
vorschläge zu machen. Motionen und Postulate brauchen nur
von einem Käthe beschlossen zu werden, sofern sie den Bun-
desrath nur zu einer Berichterstattung einladen, aber von
beiden Käthen, wenn sie verlangen, dass ein Gesetz oder ein
Bundesbeschlnss vorgelegt werde. Die stenographische Auf-
nahme der Verhandlungen erfolgt, so oft sie vom Präsidenten
oder von einem Drittel der Mitglieder verlangt wird. Sie
muss bei Gegenständen, die beide Käthe beschäftigen, in beiden
Käthen erfolgen. Bei Interpellationen spricht nur das inter-
pellirende Mitglied und das antwortende Mitglied des Bundes-
rathes; es kann jedoch, wenn die Mehrheit der Versammlung
dies beschtiesst, eine Diskussion stattfinden.»
Der Bundesrath schlägt in seinein Entwurf über die Ee-
vision des Gesetzes betreffend den Geschäftsverkehr zwischen
Inneres. Verwaltung. 505
den eidgenössischen Rftthen eine wesentliche Ausdehnung der
stenographischen Aufnahmen vor: «Die Verhandlungen über
Bundesgesetze und allgemein verbindliche Bundesbeschlüsse,
sowie über wichtigere Interpellationen sind in beiden Räthen
stenographisch aufzunehmen. Jedem Rathe steht es frei, auch
weitere Verhandlungen stenographiren zu lassen. Die Mit-
glieder der Bundesversammlung und des ßundesrathes haben
das Recht, im stenographischen Bulletin die Aufnahme ein-
facher schriftlicher Berichtigungen oder Ergänzungen be-
treffend die Wiedergabe der von ihnen gehaltenen Reden zu
verlangen. Bei Anständen über die Richtigkeit der stenogra-
phischen Redaktion entscheidet das Bureau des betreffenden
Rathes.»
Für diese Ausdehnung der Stenographie auf alle Gesetze
und allgemein verbindlichen Beschlüsse und auf die wichtigern
Interpellationen wird angeführt, dass es Pflicht der Behörden sei,
dem Bürger, welchem das Recht zusteht, gegen jene Gesetze und
Beschlüsse das Referendum zu ergreifen, das Material, aus wel-
chem einzig er sich objektive und umfassende Belehrung über
die Motive der Gesetzgeber verschaffen kann, thunlichst voll-
ständig an die Hand zu stellen. Die gleichen Gesichtspunkte
treffen für diejenigen Interpellationsverhandlungen zu , in
denen über wichtigere, die weitesten Kreise interessirende
Fragen der Politik und Verwaltung Auskunft verlangt und
ertheilt wird. Mit der Annahme dieses Antrages dürfte den
in neuester Zeit wieder aufgetauchten Wünschen um weiter-
gehende Veröffentlichung der Verhandlungen der eidgenössi-
schen Rathe in ausreichender Weise Rechnung getragen sein.
Desshalb erachtete der Bundesrath das Postulat betreffend
die Drucklegung der Protokolle als erledigt. Dafdr sei kein
Bedürfniss vorhanden und Arbeit und Kosten würden sich
nicht lohnen.
Ueber die Gesetzesredaktionen, über die viel und
zum Theil mit Grund geklagt worden ist, schlagt der Bundes-
rath folgendes vor:
«Gesetze und allgemein verbindliche Beschlüsse nicht
dringlicher Natur, sind, sofern sie in der Berathung durch
506 Jahresbericht 1899.
die Räthe materielle Abänderungen erlitten haben, vor der
Schiassabstimmung einer Redaktionskommission zur Durch-
sicht zu unterbreiten. Diese Kommission hat insbesondere
darüber zu wachen, dass der deutsche und französische Text
übereinstimmen. Die Redaktionskommission besteht aus den
Berichterstattern der Kommissionen beider Räthe, dem zweiten
Vicekanzler und den Uebersetzern beider Räthe; sie wird
einberufen und geleitet durch den Berichterstatter der Kom-
mission desjenigen Rathes, weichem in dem Geschäfte die
Erstbehandlung zukam. Die Protokollführer der beiden Räthe
sind den Kommissionssitzungen beizuwohnen berechtigt; auch
können sie ihre bezüglichen Bemerkungen und Anträge
schriftlich einreichen. — Der italienische Text der Gesetze
und allgemein verbindlichen Beschlüsse nicht dringlicher Na-
tur, welche in der Berathung Aenderuugen erlitten haben,
ist der Revision einer Kommission zu unterstellen, welche
aus zwei Mitgliedern des National- und einem Mitgliede des
Ständerathes italienischer Zunge, dem zweiten Vizekanzler oder
einem andern des Italienischen mächtigen höhern Kanzleibeamten
und dem Uebersetzer des Entwurfes besteht. Die dem Na-
tional- und Ständerathe angehörenden Kommissionsraitglieder
sind von den Präsidenten dieser Räthe jeweilen für die Dauer
der laufenden Amtsperiode zu bezeichnen.
In den Erläuterungen zu diesen Vorschlägen wird na-
mentlich auf die Stelle des zweiten Vizekanzlers, welcher
gerade zu dem Zwecke geschaffen wurde, hingewiesen, und
auf den italienischen Uebersetzer. Selbstverständlich ist der
zweite Vizekanzler, welcher schon die vom Bundesrath in
seinen Entwürfen vorgelegte Texte zu bereinigen hat, vorab
berufen, an der Textesbereinigung der aus den Berathungen
der Bundesversammlung hervorgegangenen Erlasse theilzn-
nehmen. Die ihm vom Bundesrate ertheilte Instruktion stellt
ihn, in dieser Richtung, schon während der Berathungen im
Schosse der eidgenössischen Räthe zur Disposition der beiden
Protokollführer, damit er gegebenen Falles den Uebersetzern
in ihrer übersetzerischen Thätigkeit beistehen könne. Er vor
allen wird daher zu den Sitzungen der Redaktionskommission
einzuladen sein. Dagegen könnte man die Protokollfahrer
Inneres. Verwaltung. 507
selber von der Verpflichtung, diesen Sitzungen regelmässig
beizuwohnen, entbinden. Denn abgesehen davon, dass sie
während der Sessionen der Bundesversammlung ausserordent-
lich belastet sind, scheint es überhaupt nicht praktisch, die
Redaktionskommission allzu zahlreich zu machen. Grosse
Kollegien redigiren in der Regel schlechter als kleine. Ea
liegt das in der Natur der Sache.
In ähnlicher Weise sollte aber auch für Uebereinsüm-
mung des deutschen resp. französischen Textes mit dem
italienischen Texte gesorgt werden. Wir sind zwar noch
nicht bei dem an und für sich erstrebenswerthen Ziele an«
gelangt, wenigstens die wichtigsten bundesräthlichen Bot-
schaften auch in italienischer Sprache erscheinen zu lassen;
immerhin ist die Sorge fdr einen mit dem Originaltext genau
übereinstimmenden italienischen Gesetzes text ein Fortschritt,
freilich auch das allerwenigste, was wir in dieser Beziehung
für unsere Mitbürger italienischer Zunge thun können. Vor
wenigen Jahren noch wäre eine Einrichtung, wie sie heute
beantragt wird, nicht möglich gewesen. Jetzt, wo wir einen
ständigen Uebersetzer in Bern haben, lässt sich die Ueber-
setzung der wichtigsten gesetzgeberischen Erlasse ins Ita-
lienische in der Weise vorbereiten, dass der redaktionellen
Durchsicht auch des italienischen Textes während der Daner
der Bundesversammlung nichts im Wege steht. Der Bundes«
rata verspricht sich von einer solchen Einrichtung nicht nur
die Erreichung des nächsten Zweckes, d. h. die Herstellung
eines sachlich unanfechtbaren authentischen Gesetzestextes,
sondern auch noch einen indirekten Nutzen mehr idealer Na-
tur, der darin bestünde, unsere italienisch sprechenden Mit-
eidgenossen mehr, als bisher der Fall, an der gesetzgeberischen
Thätigkeit des Bundes zu interessiren.»
Die Kommissionen der eidgenössischen Räthe für die
Vorlage über den Geschäftsverkehr hatten die Anregung ge-
macht, es sei ein eidgenössischer Rechnungshof einzu-
setzen. Diese Frage ist nicht neu. Sie hat Bundesratb und
Bundesversammlung schon verschiedene Male beschäftigt. Das,
Schlussergebniss der Prüfungen war jeweilen ein negatives
508 Jahresbericht 1899.
in dem Sinne, dass man fand, ein Rechnungshof, wie er in
•den Nachbarländern bestehe, würde für unsere Verhältnisse
nicht passen. Es wurde darauf hingewiesen, dass in denjenigen
Ländern, welche einen Rechnungshof als konstitutionelle oder
^gesetzliche Institution besitzen, die Parlamente die Prüfung
•des öffentlichen Rechnungswesens im eigentlichen Sinne nicht
besorgen, dass bei uns, umgekehrt, diese Prüfung verfassungs-
mässig dem Parlamente Überbunden sei, und dass wir, bei
einer Verschärfung der bestehenden Kontrollvorschriften, wohl
darauf verzichten können, eine die Kompetenzen des Bundes-
rates und der Bundesversammlung stark beschneidende, ein-
greifende Revision der Bundesverfassung anzustreben. Das
Finanzdepartement hat. schreibt die Botschaft des Bundes-
ratlies, trotz jenen Vorgängen, die Frage nie aus dem Auge
verloren. Wenn es nicht heute schon einen dieselbe allseitig
beleuchtenden Bericht vorzulegen im Falle ist, so liegt das
•einzig daran, dass ein Theil des von ihm benöthigten, im
Auslande requirirten Materiales noch nicht eingieng. Immer-
hin spricht es die Ansicht aus, dass die Errichtung eines
Rechnungshofes sich nicht empfehle. Anstatt eines Rechnungs-
hofes sollen ständige Kommissionen eingesetzt werden nach
folgenden Vorschlägen :
cBudget, Nachtragskreditbegehren und Staatsrechnnngen
einer Amtsperiode sind der Geschäftsprüfungskommission zur
Prüfung und Berichterstattung zuzuweisen. Im Laufe einer
Amtsperiode austretende Mitglieder sind sofort zu ersetzen ;
entstehen derartige Lücken zwischen zwei Sessionen, so kann
die Ersatzwahl durch den Präsidenten des betreffeuden Rathes
vorgenommen werden. Die zur Prüfung des Budgets, Nach-
tragskreditbegehren und Staatsrechnungen bestellten Kom-
missionen bezeichnen ans ihrer Mitte eine Delegation von
fünf Mitgliedern, wovon drei aus der nationalräthlichen und
zwei aus der ständeräthlichen Kommission. Dieser Delegation
liegt die nähere Prüfung und Ueberwachung des gesammten
Inneres. Verwaltung. 509
Staatshaushaltes ob. Sie versammelt sich mindestens einmal
vierteljährlich, im übrigen nach Bedürfniss. Sie hat das un-
bedingte und jederzeitige Recht der Einsichtnahme in das
Rechnungswesen der verschiedenen Departemente und Ver-
waltungszweige. Insbesondere ist derselben auch seitens der
Finanzkontrolle jeder mögliche Aufschluss zu ertheilen, und
es sind der Delegation zu diesem Zwecke alle Protokolle und
Gensuren, alle Korrespondenzen zwischen dem Finanzdeparte-
ment und den übrigen Departementen, beziehungsweise der
Bundeskanzlei und dem Bundesgericht, und alle Bundesratiis-
beschlüsse, welcbe sich auf die Ueberwachung der Budget-
kredite und den Staatshaushalt im allgemeinen beziehen, zur
Disposition zu stellen. In ähnlicher Weise ist eine Delegation
seitens der beiden Kommissionen für Prüfung von Budget
und Rechnung der Alkoholverwaltung zu bestellen, welcher
die Alkoholverwaltung gedruckte Vierteljahrsberichte über
den ganzen Geschäftsgang vorzulegen hat. Es steht den bei-
den Räthen die Befugniss zu, auch noch andere Kommissionen
für die ganze Dauer einer Legislaturperiode zu bestellen. —
So lauten die Vorschläge des neuen Entwurfs. Es sollen also
die ständigen Kommissionen, welche sich gegenüber der Al-
kohol Verwaltung bewährt haben, für die Ueberwachung des
gesammten Staatshaushaltes eingeführt werden.»
Oeber die Erhöhung der Gehalte für die Mitglieder dea
Bnndesraths und den eidg. Kanzler wird sich muthmasslich
eine der nächsten Bundesversammlungen aussprechen.
Die zahlreichen Reklamationen über die neuen Besoldungen
der Post- und Telegraphenverwaltung, welche
mit dem 1. Januar 1898 eintraten, wurden abgelehnt. Einen
prinzipiellen Beschluss darüber fasste der Bundesrath am 15.
Dezember wie folgt :
cNach Einsicht eines Berichtes des Post- und Eisenbahn-
departements wird antragsgemäss beschlossen:
Es sei auf die Behandlung von Eingaben der Verbände
des Personals der Bundesverwaltung oder der Organe solcher
Verbände von den Bundesbehörden nur insoweit einzutreten,
als es sich um Anregungen allgemeiner Natur handelt.
610 Jahresbericht 1899.
Dagegen sei bei Eingaben von Verbänden des Personals
der Bundesverwaltung oder von Organen solcher Verbände,
welche die persönlichen Verhältnisse und Beziehungen zwischen
den Verwaltungen und ihrem Personal beschlagen, z. B. das
Anstellungsverhältniss des Einzelnen und dessen dienstliche
Verwendung, die Besoldung des Einzelnen, die Strafver-
fügungen etc., auf den gewöhnlichen Dienstweg zu verweisen,
wobei dem einzelnen Petenten das Rekursrecht bis an die
oberste Instanz gewährleistet isr.>
Dessenungeachtet ist die Ansicht verbreitet, dass sich
in der Zukunft die Postanstalt nur gerade selbst erhalten
werde, ohne eine Einnahmsquelle für die Bundesverwaltung
zu bilden.
Ueber die im Werke liegende Reorganisation der
Telegraphenverwaltung enthält ein sachverständiger
Artikel des «Bund» folgendes:
«Die gegenwärtige Organisation der Telegraphen Verwaltung
beruht auf dem Bunaesgesetze vom 20. Dezember 1854,
welches, abgesehen von dem durch Specialgesetze ersetzten
Abschnitt betreffend die Besoldungen, nur zweimal in langem
Zeitabschnitten durch die Entwicklung gebotene Abänderungen
oder, richtiger gesagt, Erweiterungen und Ergänzungen er-
litten hat. Die Organisation würde voraussichtlich ohne we-
sentliche Aenderungen noch auf viele Jahre hinaus genügt
haben, wenn nicht im Jahre 1881 die Einführung des Tele-
phonwesens der Verwaltung eine neue Aufgabe und damit
eine ungeahnte Ausdehnung gebracht hätte. Es entstanden
neue, in der bisherigen Organisation nicht vorgesehene Be-
amtenstellen, nämlich die Telephonnetzvorstände, und zwar
solche von Netzen erster Klasse, die vom Telegraphendienst
ganz unabhängig sind, und solche zweiter Klasse, welche Te-
legraphenbeamten übertragen wurden, die beide Dienstzweige
nebeneinander besorgen. Sie erhielten, je nach der Bedeutung
ihres Netzes oder ihrer Netzgruppe, einen oder mehrere wei-
tere Beamte als Gehülfen, nebst der nöthigen Zahl von Li-
nienarbeitern und Monteuren, die aber für den eigenartigen,
Inneres. Verwaltung. 511
schwierigen und gefährlichen Telephonbau erst nach und
nach eingeschult werden mussten. Das den Vermittlungs-
dienst in den grössern Centralstationen besorgende Personal
wurde von Anfang an aus dein weiblichen Geschlechte re-
krutiert, welches sich hierfür aus mehrfachen Gründen besser
eignet als das männliche. Bei den Netzen zweiter Klasse
und, wo die Umstände es gestatteten, auch bei denjenigen
dritter Klasse wurde die Centralstation mit dem Telegraphen-
bureau vereinigt und ganz oder theilweise durch das gleiche
Personal bedient. Trotz der gewaltigen Arbeitslast, welche
die Einführung des Telephons mit sich brachte, wurden die
Geschäfte der Central Verwaltung in den ersten Jahren durch
das gewöhnliche Personal besorgt und dieses erst im Jahre
1884 um einen technischen Sekretär, einen technischen Ge-
hülfen und einen Kanzleisekretär vermehrt. Seither hat das
Personal der Direktion infolge fortwährender Zunahme des
Telephonwesens einen beträchtlichen Zuwachs erhalten, näm-
lich einen zweiten technischen Sekretär, zwei Inspektoren,
einen Materialverwalter, einen Vorstand der Reparaturwerk-
stätte, einen Kanzleisekretär, sechs Sekretäre (frühere Ge-
hülfen) des Materialbureaus, einen Sekretär für das Inspek-
torat, sowie eine Anzahl Revisoren und Gehülfen, letztere
verschiedenen Abtheilungen angehörend.
Gestützt auf die Erfahrungen, die unterdessen in der
Verwaltung gemacht worden sind, hat der Bnndesrath nun
den Entwurf einer neuen endgültigen Organisation der Tele-
graphenverwaltung ausgearbeitet und mit einer Botschaft an
die Bundesversammlung geleitet. Nach demselben soll die
Verwaltung für die beiden Dienstzweige, Telegraph und Te-
lephon, auf der bewährten Grundlage des Organisationsge-
setzes von 1854 neu aufgebaut oder vielmehr in der Weise
erweitert werden, dass der Telephonbetrieb, mit Einschluss
des Baues und Unterhaltes der Netze und Linien, unter die
Leitung der gleichen Kreisorgane gestellt wird, wie der Te-
legraphenbetrieb. Eine Reorganisation in dieser Richtung ist
um so mehr gegeben, als eine Vermehrung, beziehungsweise
Verkleinerung der Telegraphenkreise, wie auch eine Vermeh-
rung des Personals der Kreisinspektionen, ohnehin zu einem
512 Jahresbericht 1899.
dringenden Bedürfniss geworden ist Es soll nach wie vor in
jedem wichtigern Verkehrscentrum der Telephonchef der für
den technischen und administrativen Dienst des Netzes oder
Netzgruppe zunächst verantwortliche Beamte bleiben, der
nnter der Oberaufsicht und Leitung der Kreisinspektion mit
dem ordentlichen Unterhalt des Netzes, der Linien und Sta-
tionen, wie auch mit dem Verkehr mit Behörden und Publi-
kum betraut und mit dem nöthigen Hilfspersonal versehen
wird. Um den bisherigen Dualismus im Linienbauwesen zu
beseitigen, ist vorgesehen, den Telephonchefs auch die Auf-
sicht und den Unterhalt der in ihren Netzbereich fallenden
Telegraphenlinien zu übertragen, sodass die Telephonnetie
und Netzgruppen als Sektionen der Kreise zu betrachten
wflren. Damit ist bei der Mehrzahl der wichtigern Netze jeder
Friktion zwischen Inspektion und Telephonchef vorgebeugt
und bei der nöthigen freiem Bewegung in der Leitung grosser
Netze zugleich die nöthige Einheitlichkeit und die wünschbare
Wechselwirkung zwischen den beiden Dienstzweigen auf die |
natürlichste Weise erreicht. Was sodann die Central Verwal-
tung anbetrifft, so hat dieselbe seit Einführung des Telepbon-
wesens auf dem Budgetwege zwei in dem Bundesgesetze vom
31. Juli 1873 nicht vorgesehene Dienstabtheilungen erhalten r
nämlich ein technisches Bureau und ein Inspektorat, wie auch
die Zahl der Beamten aller Abtheilungen successive nach den
Bedürfnissen vermehrt wurde. Ferner sieht das Budget für
1899 eine weitere Dienstabtheilung für die Starkstromkon-
trolle vor ; doch glaubte der Bundesrath einstweilen noch von
der definitiven Besetzung der betreffenden Stellen absehen
und sich mit einem Provisorium behelfen zu sollen. Die fort-
währende, auch noch in der Zukunft zu erwartende Zunahme
des Telephonwesens und die der Verwaltung durch die Stark-
stromanlagen erwachsenen Schwierigkeiten werden auch in
der Folge eine weitere Personalvermehrung nothwendig machen,
besonders bei der technischen Abtheilung, die zur Zeit noch
nicht über die nöthige Zahl technisch gebildeter Beamter ver-
fügt, um den vielfachen an sie gestellten Anforderungen nach
allen Richtungen entsprechen zu können. Es ist übrigens
keine so leichte Sache, für diesen Dienstzweig geeignete
Inneres. Verwaltung. 513
Techniker zu finden, und wenn dies einmal der Fall, so
werden öfter Besoldungsansprüche gestellt, die weit über das
hinausgehen, was die Verwaltung auf Grundlage des Besol-
dungsgesetzes bieten kann.>
Ueber die eidgenössische Baupraxis entstand in den
Eidg. Räthen eine etwas lebhafte Missstimmung bei Anlass
der Vorlage eines Planes für das neue Postgebäude in Bern ;
es wurde darüber u. a. folgendes gesagt:
«Wie allgemein bekannt, hat die auf 3,420,000 Fr. angesetzte
Bausumme, zu der noch ein über 700,000 Fr. ansteigender
Betrag für den Bauplatz kommt, gerechtes Aufsehen erregt,
und bereits hat die Kommission des Ständerathes, dem die
Priorität zusteht, beschlossen , auf Reduktion dieser For-
derung zu dringen. Ihr Präsident Zweifel bietet Gewähr,
dass die Reduktion mit Nachdruck verlangt wird. Es ist in
der That an der Zeit, dass mit «Zweifel» an diese und ähn-
liche, Bauten betreffende Botschaften des Bundesrathes herange-
treten werde. Einige Einzelheiten mögen das beleuchten und er-
härten. Im Erdgeschoss wird bei einer lichten Höhe von 7 (sage
sieben) Meter, dem Materialverwalter, Sekretär und Werth-
zeichonkontroleur je ein eigenes Zimmer, mit zusammen 87
Quadratmeter, im Durchschnitt also 29 Quadratmeter zuge-
dacht. Die drei Einzelherren okkupiren also einen Kubik-
raum von 609 Kubikmeter. Eine bürgerliche Wohnung ist
mit 200 Quadratmeter Fläche bei 3 Meter Höhe für eine Fa-
milie von 5 Köpfen zureichend. Davon gehen etwa 80 Pro-
zent für Corridore und Dienstraum (Küche etc.) ab ; 140 3
gleich 420 Kubikmeter genügen also in ganz konvenabler
Weise für sie. Vergleiche dazu 609 Kubikmeter jener drei
einzelnen Beamten I
Ein Saal von 47 Quadratmeter für den einen, von 49
Quadratmeter für den andern ist vorgesehen, und ähnlich
geht es durch das ganze Hans. Die Bureaus, in denen je-
weilen ein einziger Mann seines Amtes waltet, sind zum guten
Theil so gross, dass man den Betreffenden förmlich suchen
muss in seinem Saal. Ferner scheint durchgehends das System
einreissen zu wollen, dass jeder Angestellte durchaus nur
33
514 Jahresbericht 1899.
allein in seinem Räume wirken dürfe. Es scheint ganz und
gar verpönt zu sein, dass in grösseren Räumen, welche dann
und wann unvermeidlicherweise aus der Grundrisseintheilung
sich ergeben, zwei oder mehr Beamte untergebracht werden.
Diesem Ansprüche, der natürlich in erster Linie von den An-
gestellten ausgeht, wird von oben offenbar in keiner Weise
entgegen getreten ; vielmehr wird durch Aufstellen eines darauf
speciell berechneten Bauprogramms eine überschwänglich ge-
räumige Anlage als Erforderniss hingestellt.
Für leitende Beamte sind ja eigene Einzelbureaus unent-
behrlich; Säle von 40—60 Quadratmeter aber brauchen es
nicht zu sein. Vorzimmer sind gewiss auch nicht so nöthig.
Was geschieht denn in diesen ? Haben diese Beamten so
reichliche Audienzen zu geben, dass stets eine Anzahl War-
tender unterzubringen ist? Kaum!
Vergleiche man doch die Räume im alten Bundesgebäude,
welche dem Bundesrathe und den wichtigsten Bureaus zur
Verfügung stehen — vergleiche man die praktische Raum-
ausnützung in Bankgebäuden und ähnlichen Instituten mit
der Raumverschwendung, welche in diesen Verwaltungsge-
bäuden neuer Observanz von den Bundesorganen getrieben
wird ! Eine andere Erklärung, als eine viel zu weitgehende
Rücksichtnahme auf den Wunsch jedes Beamten, alleiniger
souveräner Inhaber eines eigenen, möglichst saalartigen Ge-
maches zu sein, lässt sich nicht finden. Dann möge man
weiter bedenken, dass die Ausstattung dieser Räume ganz im
Verhältniss zu ihrer Grösse kostspielig ist. Die Möbel müssen
grösser, wuchtiger und zahlreicher werden, sonst sieht es zu
leer aus. Teppiche, Fenstergarnituren und andere Ausstat-
tungsobjekte nehmen Dimensionen an und werden in Quanti-
täten gebraucht, die ausserordentlich sind, obwohl zuzugeben
ist, dass man zur einigermassen angemessenen Ausstattung
der Räume so weit gehen musste. So zieht ein Uebermass
das andere nach sich.
Die Räthe werden hier einmal Einhalt thun müssen. Al-
lein ohne technische sachverständige Prüfung wird es nicht
zu machen sein. Ohne eine solche ist gegen die zum voraus
von den Vätern der Vorlage geschlossene Phalanx nicht auf-
zukommen.»
Inneres. Verwaltung. 515
Eine mehr formale neue Verfügung des Bundesrates ist
die folgende:
«Vom Bundesrate wird beschlossen: Es seien bei Ent-
lassung von Beamten und von Offizieren, soweit eine Ver-
dankung überhaupt beschlossen wird, vom Bundesrath ledig-
lich die geleisteten Dienste (ohne besondere Qualifikation) zu
verdanken. Den einzelnen Departementen soll es anheimge-
stellt sein, in besondern Fallen noch ihre specielle Aner-
kennung auszusprechen.»
Eine neue Verordnung über die Inkompatibilitäten bei
Anstellungen von eidg. Beamten, die sich auch auf Gemeinde-
und Kantonsanstellungen beziehen, findet ßich in der E. G.
S. XVII, 64.
Eine gewisse Tendenz, welche mit der Verlegung des
Bundesgerichtssitzes nach Lausanne begann, macht sich fort-
während dahin geltend, eidgenössische Verwal tu ngscentren
in andere Orte zu verlegen. So verlangt Zürich dringend die
Bank; den Sitz des Centralamtes für das Unfall- und Ver-
sicherungswesen verlangt Luzern ; auch betreffend St. Gallen
brachte eine Zeitung die folgende Notiz :
«Unter dem Stichwort «Eidg. Sitzfragen» bringt die
«Ostschweiz» einen Artikel, worin sie Klage darüber erhebt,
wie vernachlässigt St. Gallen in dieser Beziehung trotz seines
Ranges als vierter Kanton der Schweiz sei. Dass St. Gallen
um den Sitz für eine Bundesbank in Mitbewerb trete, sei
freilich seiner Lage wegen ausgeschlossen. Stünden die Aus-
sichten für das Gelingen des Kranken- und Unfallversiche-
rungsprojektes nicht so sehr unter dem Gefrierpunkt, so würde
die «Ostschweiz» diese Verwaltung für 3t. Gallen fordern.
Als ganz bestimmte Forderung und zwar aller st. gallischen
Parteien stellt dagegen das Blatt das Verlangen, dass
St, Gallen den Sitz des eidg. Verwaltungsgerichtshofes und
damit den Rang als zweiten Bundesgerichtssitz der Schweiz
erhalte, da mit der Schaffung eines solchen Hofes voraus-
sichtlich noch gewisse Arbeitsteilungen im Bundesgerichte
516 Jahresbericht 1899.
selber erfolgen werden. Damit wird die Haut des Bären ver-
kauft, bevor er erlegt ist.»
Wir sind von der Nützlichkeit eines solchen Gerichts-
hofes unsererseits überhaupt noch nicht absolut überzeugt.
Die Finanzverhältnisse der Eidgenossenschaft
boten in dem laufenden Jahre eine ungewöhnlich grosse Ver-
anlassung zur Besprechung, welche durch die kommende
Belastung mit der Kranken- und Unfallversicherung hervor-
gerufen wurde. Das Resultat der ausführlichen Verhand-
lungen darüber in der ausserordentlichen Septenibersitzung
der eidg. Räthe war zwar schliesslich ein positiv sehr ge-
ringes. Der Bundesbeschluss lautet wie folgt:
Art. 1. Der Bundesrathsbeschluss betreffend die Hebung
und Förderung der schweizerischen Kunst vom 22. Dezember
1887 wird dahin abgeändert, dass die in Art. 2, Alinea 1,
festgesetzte Summe von Fr. 100,000 auf Fr. 50,000 reduzirt
wird.
Art. 2. Vom Jahre 1904 an wird für neue Hochbauten
ein jährlicher Kredit ausgesetzt, der die Summe von Franken
1,000.000 nicht übersteigen darf.
Ueber die Verwendung dieses Kredites hat der Bundes-
rath den Räthen jährlich eine Specialvorlage zu unterbreiten.
Nicht inbegriffen in dieser Liuiitirung sind Uebertragungen
von nicht verwendeten Kr editres tanzen auf ein folgendes Jahr.
Art. 3. Die Bestimmungen des Bundesgesetzes betreffend
Inspektion und Unterricht des Landsturmes vom 29. Juni 1894
werden dahin abgeändert, dass :
a. die vorgesehenen Uebungen des bewaffneten Landsturms
durch blosse Waffen- und Kleiderinspektionen ohne
Soldaiiszahlung ersetzt werden;
b. die Verpflichtung der Infanterie des Landsturms zur
Theilnahme an den Schiessübungen der freiwilligen
Schiessvereine aufgehoben wird.
Art. 4. Die Bestimmungen der Art. 1 und 3 treten mit
dem 1. Januar 1900 in Kraft.
Inneres. Finanzverhältnisse. 517
Art. 5. Der Bundesrath wird beauftragt, auf Grundlage
der Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 17. Juni 1874,
betreffend die Volksabstimmung über Bundesgesetze und
Bandesbeschlüsse , die Bekanntmachung dieses Bundes-
be8chlus8es zu veranlassen.
Gleichzeitig mit diesem Bundesbeschluss betreffend Her-
stellung des Gleichgewichts in den Bundesfinanzen und Be-
schaffung der Mittel zur Durchführung der Versicherungs-
gesetze, vom 6. Oktober 1899, wurden von der Bundesver-
sammlung folgende Beschlüsse gefasst:
I. Die Berathung der Entwürfe betreffend das Lebens-
mittelpolizeigesetz, Forstgesetz und Gesetz über die Organi-
sation des Militärdepartements wird bis auf weiteres sistiert.
II. 1) Der Bundesrath wird eingeladen, durch strengere
Handhabung der bezüglichen Vorschriften oder wenn erfor-
derlich durch Aenderung derselben dafür zu sorgen, dass nur
solche Leute als militärtauglich erklärt werden, welche die
hierfür nöthigen körperlichen und geistigen Eigenschaften
wirklich besitzen.
2) In den Wiederholungskursen im Corpsverbande sind
für die Infanterie nur 100 Patronen per Gewehrtragenden
abzugeben.
In den Wiederholungskursen der Artillerie im Corps-
verbande hat eine Reduktion der Munitionsdotation um 20
Patronen per Geschütz einzutreten.
3) Der Bundesrath wird eingeladen, für die Mitwirkung
der Post bei der Verzollung von Poststücken aus dem Aus-
lande vom 1. Januar 1900 an eine Gebühr von 20 Centimes
per Stück zu beziehen.
4) Der Bundesrath wird eingeladen; über Revision der
bestehenden Vorschriften betreffend die Reiseentschädigungen
der Mitglieder und der Kommissionen der Bundesversammlung
im Sinne der Ersetzung des Kilometergeldes durch Bezahlung
der Fahrtaxen und des Taggeldes Bericht und Antrag ein-
zubringen.
Der Bundesrath gibt seiner Botschaft über die Finanz-
lage der Eidgenossenschaft ein Zukunftsbudget bei, das
518 Jahresbericht 1899.
über die fünf Jahre 1899 bis 1903 inkl. sich erstreckt. Darin
gelangt er zu folgenden Schlussergebnissen der eidg. Staats-
rechnnngen : 1899 (nach definitivem Budget) Ausgabenüber-
schuss von Fr. 2,095,000, 1900 Ausgabenüberschnss von Fr.
3,550,000, 1901 Ausgabenüberschnss von Fr. 2,795,000, 1902
Ausgabenüberschnss von Fr. 258,000, 1903 Einnahmenüber-
schuss von Fr. 154,000. Dabei sind die Zolleinnahmen mit
folgenden Zahlen eingestellt: für 1899 (definitives Budget)
mit 47,7 Millionen, für 1900 mit 50,2 Millionen, für 1901 mit
51 und für 1903 mit 52 Millionen. Die Totalaasgaben sind
veranschlagt: für 1899 auf 98,6 Millionen, für 1900 auf 104,
für 1901 auf 106,4, für 1902 auf 106,6 und für 1903 auf
109,4 Millionen.
Der Bundesrath berechnet ferner die Kosten der bevor-
stehenden Neubewaffnung der Artillerie sammt Munition auf 17
bis 18 Millionen Franken. Er nimmt an, dieselbe soll, wenn
einmal beschlossen, innert vier Jahren durchgeführt werden.
Allein die Finanzlage gestatte nicht, diese Summe in dem
gleichen kurzen Zeitraum zu decken, sondern es müsste, von
der bisherigen bewährten Uebung abweichend, der Militär-
verwaltung dafür ein Kapitalvorschuss gemacht werden, den
sie zu amortisiren und zu verzinsen hätte. In das Zukunfts-
budget setzt der Bundesrath vorläufig eine jährliche Annuität
von Fr. 1,500,000 ein (erstmals für 1901). Diese Annuität
entspricht einer Tilgungsdauer von cirka 16 Jahren. Bei
einer Annuität von 2 Millionen, die der Bundesrath vorzöge,
wenn die Staatsrechnungsergebnisse dies gestatten würden,
könnten 18 Millionen in cirka 11 Jahren amortisirt werden.
In der vom Bundesrathe festgestellten Budgetvorlage
für das Jahr 1900 werden die Einnahmen veranschlagt auf
Total Fr. 102,270,000 ; die Ausgaben auf Total Fr. 102,990,000,
was einen muthm asslichen Ausgabenüberschuss von Fr. 720,000
ergibt. Das vorstehende Budget pro 1900 stellt sich somit
um Fr. 2,830,000 günstiger als das Zukunftsbudget, und
zwar resultirt diese Besserstellung in der Hauptsache aus fol-
genden Positionen: Fr. 1,000,000 Mehrertrag der Zölle. 600,000
Fr. grösserer Reinertrag der Postverwaltung. Fr. 5,000,000
Rückstellung von Bauten. Fr. 300,000 übrige Ausgaben des
Inneres. Finanzverhältnisse. 519
Departements des Innern (Wegfall der Gewerbezählnng, Be-
schränkung der Kunstkredite etc., Sistirung des Forst-
gesetzes). Fr. 400,000 Nettominderausgaben beim Militär-
departement. Auf den übrigen Verwaltungszweigen koni-
pensiren sich verschiedene Mehr- und Minderausgaben gegen-
seitig.
Der Bundesrath proponirte ursprünglich, man solle Ge-
setze, namentlich das Versicherungsgesetz, zwar beschliessen,
aber ihre Vollziehung in suspenso lassen, bis man Geld habe.
Dieses System hat bereits der sehr kluge bernische
Finanzdirektor inaugurirt, und man nennt dasselbe hier die
«Nürnberger - Klausel» nach dem bekannten Diktum «die
Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn zuvor.»
Wir könnten darin unsererseits keine Verbesserung unseres
Staatsrechts erblicken ; die parlamentarische Freiheit von Be-
denken, um es mild zu bezeichnen, würde dadurch nur zu-
nehmen, und wir würden bald eine Eeihe solcher Gesetze be-
kommen, die man dann bei einer guten Gelegenheit viel
leichter in Funktion setzen kann, als wenn man sie definitiv
und unter dem Damoklesschwert des Eeferondums beschliessen
muss.
Die Hauptsache in unserm Staatshaushalt würde unseres
Erachtens die sein, dass der Bundesrath selbst, nicht die
Käthe, die dazu gar nicht die richtige Stelle sind, den Ent-
schluss fasste, überall, auch in sogenannten kleinen admini-
strativen Dingen, die sich zuletzt doch sehr summiren, zu
sparen, während jetzt die ganze eidgenössische Verwaltung
auf einen sehr grossen Fuss zugeschnitten ist. Dabei müsste
die oberste Verwaltungsbehörde sich ganz klar machen,
welche Ausgaben nothwendige sind und gar nicht beschnitten
werden sollen, selbst auf die Gefahr von Defiziten hin nicht,
welche andere hingegen nur bei vorhandener Prosperität
ausgeführt werden können, und was völlige Luxusausgaben
520 Jahresbericht 1899
sind. Zu den letzteren zählen wir auch die übergrossen
Bauten^ wie das Parlanientsgebäude, das entweder in sehr
viel bescheideneren Formen hätte gehalten .werden, oder
noch Raum für Anderes hätte bieten können, manche Post-
gebäude, einzelne Anschaffungen für Kunstzwecke; zu der
ersten Kategorie dagegen die Militärausgaben« Dieses letztere,
im Ganzen genommen, wird nun der Boerenkrieg etwas
klarer als bisher gemacht haben. Die Freiheit kleiner Völker
ist heute ohne ein sehr kräftiges und vollkommen auf der
Höhe der jeweiligen Erfordernisse stehendes Militärwesen
fortwährend bedroht. Da helfen keine Friedensvereine oder
Kongresse, und keine anderen Mittel, sondern nur ein sehr
scharf geschliffenes Schwert, das Jedermann Respekt einflösst
«Wir könnend All vil sagen
Bim Win und hinderm Spil,
Wie unser Vordem ^schlagen
Der Fürsten und Herren vil.
Sagend vil von den Alten,
Wie mannlich si sich ghalten,
Dass wir uns auch so stalten
Und lugtend bas in's Spil;
Die Zit s'erfordern will.»
Die Staatsrechnung für das Jahr 1898 weist bei
Fr. 95,277,453. 88 Einnahmen und Fr. 94,109,942. 51 Ausgaben
einen Einnahm enüberschuss von Fr. 1,167,511. 37 auf. Im
Budget für das Jahr 1898 war ein Einnahm enüberschuss von
Fr. 45,000 vorgesehen, der sich aber infolge der im Laufe
des Jahres bewilligten Nachtragskredite in ein muthmass-
liches Defizit von Fr. 7,651,834 verwandelte. Es betragen
somit die Mehreinnahmen und Minderausgaben zusammen
Fr. 8,819,345.37, oder in runder Summe 8,820,000. Die
Mehreinnahmen belaufen sich auf Fr. 3,976,000 , die
Minderausgaben auf Fr. 4,917,000, zusammen Fr. 8,893,000,
Inneres. Finanz Verhältnisse. 521
wovon Fr. 73,000 Mindereinnahmen abgehen, so dass die
erwähnte Summe von Fr. 8,820,000 übrig bleibt. Diese
Mehreinnahmen und Minderausgaben und Mindereinnahmen
vertheiien sich auf die einzelnen Rubriken der Staats-
rechnung wie folgt: 1. Mehreinnahmen: Liegenschaften
Fr. 11,000, Kapitalien Fr. 153,000, Allgemeine Verwal-
tung Fr. 2000, Politisches Departement Fr. 8000, Depar-
tement des Innern Fr. 51,000, Justiz- und Polizeidepartement
Fr. 54,000, Militärdepartement Fr. 540,000, Finanz- und
Zolldepartement Fr. 2,817,000, Post- und Eisenbahndeparte-
ment Fr. 340,000, zusammen Fr. 3,976,000. 2. Minderaus-
gaben: Amortisation und Verzinsung Fr. 2000, Allgemeine
Verwaltung Fr. 52,000, Politisches Departement Fr. 16,000,
Departement des Innern Fr. 2,336,000, Justiz- und Polizei-
dopartement Fr. 44,000, Militärdepartoment Fr. 967,000,
Finanz- und Zolldepartement Fr. 208,000, Handels-, Industrie-
und Landwirthschaftsdepartement Fr. 314,000, Post- und
Eisenbahndepartement Fr. 965,000, Unvorhergesehenes Franken
13,000, zusammen Fr. 4,917,000. 3. Mindereinnahmen : Han-
dels-, Industrie- und Landwirthschaftsdepartement Fr. 46,000,
Unvorhergesehenes Fr. 27,000, zusammen Fr. 73,000.
Zu den Zahlen der Staatsrechnung gibt der Bericht des
Bundesrathes wie gewöhnlich einige Erläuterungen. Das Ge-
sammttotal der im verflossenen Jahre bewilligten Nachtrags-
kredite beläuft sich auf ziemlich genau den nämlichen Betrag
wie im Vorjahre, nämlich auf Fr. 7,696,834 (1897: Franken
7,690,923) und setzt sich zusammen aus Nachtragskrediten
erster Serie mit Fr. 2,423,858, zweiter Serie mit Franken
722,265 und dritter Serie mit Fr. 3,519,343, wozu noch die
auf besondern Bundesbeschlüssen beruhenden Nachtragskredite
mit Fr. 1,031,368 hinzukommen. Von den Nachtragskrediten
sind Kreditübertragungen aus dem Jahre 1897 im Betrage
522 Jahresbericht 1899.
von Fr. 1,106,000, das Departement des Innern, das Militär-
departement and das Handelsdepartement betreffend. Auf
Kredite, welche durch besondere Bandesbeschlüsse gewährt
wurden und von denen der grössere Theil bereits in den
Nachtragskrediten figurirt, fallen Fr. 3,249,000, wovon die
erste Rate der Subvention an den Simplondurchstich allein
Fr. 900,000 beanspruchte. Nach Abzug dieser zwei Posten
von dem Qesammtbetrag der Nachtragskredite von Franken
7,696,000 verbleiben noch Fr. 3,341,000. Aber auch in dieser
Summe sind verschiedene Kredite im Betrage von über Fr.
600,000 inbegriffen, die, weil Liegenschaftserwerbungen und
Bauten beschlagend and somit eine direkte Vermehrung des
Staatsvermögens bedeutend, nicht als eigentliche Nachtrags-
kredite betrachtet werden können; diese letztern betragen
so mit bloss 3 Prozent der Gesammtausgaben.
Eidgenössische Spezialfonds. Das Vor-
mögen der im Eigen th um des Bundes liegenden Spezialfonds
ist im Jahre 1898 von Fr. 24,653,279. 53 auf Fr. 28,278,402. 66
gestiegen und hat sich somit um Fr. 3,625,123. 13 vermehrt;
davon fallen Fr. 2,214,500 auf den Fonds für Versicherungs-
zwecke, der nunmehr auf Fr. 7,364,500 angewachsen ist.
In dieser Vermehrung ist ebenfalls inbegriffen die neue
Berset-Müiler-Stiftung mit einem Vermögen auf Ende 1898
von Fr. 893,941. 55. Die Depots haben sich von Franken
1,555,019.20 auf Fr. 1,452,128.53 vermindert, hauptsächlich
in Folge der im Laufe des Rechnungsjahres vollzogenen
Liquidation der Sold- und Pensionsrückstände der alten
Schweizerregimenter im spanischen Dienste. Die zu Milit&r-
pensionszwecken bestimmten Fonds (Invalidenfonds, Grenus-
Invalidenfonds und eidg. Winkelriedstiftung) sind von Fr.
14,983,999. 51 angewachsen auf Fr. 15,541,919. 05 und haben
sich somit vermehrt um Fr. 557,919. 54.
Inneres. Finanzverhältnisse. 52ä
Eisenbahnfonds. In der Staatsrechnung, resp. in
der Rechnung über den Eisenbahnfonds pro 1898 verrechnet
der Bundesrath eine muthmassliche Dividende für seine 77,090
Prioritätsaktien von Fr. 22. 50 gleich 4,5 Prozent für das
Jahr 1898. Der Eisenbahnrückkaufsfonds, der aus den Ueber-
schüssen der Eisenbahnpapiere in Händen des Bundes über
die Eisenbahnrente angesammelt wird, beträgt dermalen
Fr. 823,000.
Staatsrechnung 1899. Das Budget schloss mit einem
Defizit von über 2 Millionen Franken nach Vorschlag des
Bundesraths, während seit einer Reihe von Jahren immer
Ueberschüsse vorhanden waren. Man glaubte schliesslich,
wie in der Fabel vom Wolf, gar nicht mehr an dieses Defizit
des Finanzdepartements, sondern sah das bloss als eine fac,on de
parier an, die man nicht ernsthaft nehmen müsse. Die Bud-
get-Kommissionen prüften dieses Jahr das Budget genauer
als gewöhnlich, und es reduzirte sich das Defizit ein wenig,,
auf Fr. 2,391,225 (Ständerath), faktisch jedoch wird auch die
Staatsrechnung von 1899 mit einem Ueberschuss schliessen*
Engagements sind vorhanden: Für Gewässerkorrek-
tionen 17 Millionen, Bauten: das neue Bundesrat hsh aus noch 3
Millionen, Simplon-Subvention 3,600,000 Franken, 8 Millionen
für Gebäude, wovon 2 Millionen in Reserve gestellt sind»
Etwa 30 Millionen sind bis 1905 fällig und unabwendbar.
Die Kommission des Nationalraths regte von Neuem die
Schaffung eines vom Bundesrath unabhängigen, von der Bun-
desversammlung gewählten Rechnungshofes an, welchem
jedoch der Bundesrath eher abgeneigt ist. Ferner erklärte
sie mit absoluter Sicherheit, man könne keinerlei neue Aus«
gaben dekretiren, ohne neue Mittel dafür gleichzeitig zu
schaffen. Vor 1904 könne man aus dem normalen Budget
dafür keine Mittel finden.
624 Jahresbericht 1899.
Die Postulate der Kommission des Nationalraths, die
damit nicht ganz übereinstimmen, gehen dahin, es seien :
1. die Protokolle der Räthe (abgesehen von den steno-
graphischen Bulletins) zu veröffentlichen und den Mitgliedern
der Käthe mitzutheilen ;
2. die Gehalte der Bundesräthe and des Kanzlers zu
erhöhen.
Unsere Anlehen sind: 1. 1889, jetzt über 20 Mil-
lionen, es wird amortisirt.
2. 1892, 5 Millionen kündbar Ende 1903, es wird nicht
Amortisirt.
3. 1897 (ursprünglich 1887), war kündbar 1897, es wurde
bis dahin amortisirt regelmässig, 1897 wurde es konvertirt
aus 3^2 °/o in 3°/0. Dieses Anlehen kann vor 1905 nicht ge-
kündet, oder ausgeloost werden. Diese Bestimmung unter-
brach die Amortisation, wie sie bisher war, man beschloss
aber die Quote der Amortisation in einen Fonds zu legen,
der Amortisationsfonds heisst und Ende 1899 3 Millionen be-
trägt. Es wird jährlich eine Million bei Seite gelegt. 1905
wird er sieben Millionen betragen.
4. 1894, 20 Millionen. Dasselbe ist zum ersten Mal 1905
rückzahlbar, resp. amortisirbar in längstens 15 Jahren.
Eine Unifikation der eidg. Anlehen zu 3 °/0, wie man
damals hoffte, ist nicht mehr möglich. Die jährliche Annuität,
die von 1894 ab zu amortisiren ist, beträgt Fr. 1,036,000.
Zur Speisung der Unfall- und Krankenversicherung sollten
ursprünglich pro 1893 und 1894 2 Millionen aus diesem
Amortisationsfonds genommen werden, so dass derselbe im
Jahr 1905 statt 7 bloss noch 5 Millionen betragen würde;
schliesslich wurde jedoch darüber nichts beschlossen, sondern
das der Zukunft überlassen.
Ohne allen Zweifel wird die Einführung der Kranken-
Inneres. Finanz Verhältnisse. 525
und Unfallversicherung, sowie überhaupt die beständige und
bis auf einen gewissen Grad unausweichliche Zunahme der
Staatsaufgaben trotz aller Sparsamkeit eine Erhöhung der
Ausgaben des Bundes herbeiführen, die die Eröffnung neuer
Finanzquellen nöthig macht.
Zunächst steht als solche das Tabakmonopol. Ein
Expertengutachten des eidg. Alkohol-Direktors Milliet aus dem
Jahre 1895 stellte die Einnahmen fest auf 28,700,000 Fr.,
die Ausgaben auf 20,700,000 Fr., so dass ein Reinertrag von
8 Millionen verbliebe. Auf den Inland verbrauch fallen 26 lk
Millionen, auf den Export 2,168,000 Fr. Dabei ist vorgesehen,
dass die Konsumpreise für das Landesfabrikat die bisherigen
blieben, während für die Importwaare eine Erhöhung von
20°/0 eintreten würde. Die auf 20,700,000 Fr. berechneten
Ausgaben setzen sich zusammen aus :
7,580,000 Fr. Ankauf von in- und ausländischen Rohtabaken,
1,725,000 > Ankauf von Fabrikaten.
5,500,000 > Arbeitslöhne.
1,832,000 » Frachten und Zölle.
1,000,000 > Hülfsmaterialien.
250,000 > Unterhalt der Gebäude.
487,500 > Verzinsung und Amortisation des Anlagekapitals,
1,500,000 » Verwaltung.
660,000 » Verzinsung des Betriebskapitals.
665,500 » Verschiedenes und Unvorhergesehenes.
Ein- und Ausfuhr wäre Sache der Regie. Immerhin
wäre auch an Private die Einfuhr zum Eigengebrauch zu ge-
statten, gegen Entrichtung einer entsprechenden Monopolge-
bühr, ebenso wäre dem Händler die Einfuhr gewisser Spe-
cialitäten in kleineren Mengen zu erlauben. Unter gewissen
Bedingungen könnte auch die Ausfuhr dem Händler gestattet
werden.
Jedermann könnte bei der Regie gegen baar Bezüge in
Posten von 125 Fr. und mehr machen; jeder Bezüger, der
in einem Jahre mehr als für 1500 Fr. Konsumwaare ab-
nimmt, erhält 20 °/0 Rabatt und es soll der Rabatt fällig
sein, sobald die Fakturen 1500 Fr. übersteigen. Die Regie
526 Jahresbericht 1899.
liefert franko und nimmt unverkäufliche Waare innerhalb
zwei Monaten zurück.
Die Regie würde also den Tabak- und Cigarrenverkäufern,
denen sie die Verkaufspreise vorschreibt, einen Bruttogewinn
von 20% gewähren.
Die Gesetzgeber des Staates Arkansas haben, in der
Annahme, dass das Rauchen von Cigaretten gesundheits-
schädlich sei, den Verkauf oder das Verschenken von Ci-
garetten bei Geldstrafen von 100 bis 1000 Dollars verboten.
Im Weiteren würde eine Biersteuer nur von Gutem
sein, auch um diese übermässige Produktion, die dann mit allen
Mitteln der Verführung an den Mann gebracht werden muss,
einigermassen einzuschränken und sollte man sich bald ent-
schli essen in dieser Richtung der mächtigen Liga der Bier-
brauer, Bierwirthe und ihrem ganzen Anhang fest ent-
gegenzutreten. Die Lausanner-Zeitung enthielt darüber die
folgende Berechnung:
«Un Journal agricole bernois, le Schweizer Bauer a cal-
cul6 que si la Suisse cräait une taxe sur la biere, cet impöt
donnerait les produits bruts suivants, selon qu'il serait fixe
au taux des pays ci-apres:
Allemagne
Belgique . .
France . . .
Bavtere . .
Bade . . .
Royaume-Uni
Les frais de perception sont peu considerables. IIb se-
raient minimes si, comme en Baviere, l'impot frappait le malt
Mais, si meme on suppose ces frais assez öleves, fr. 500 par
brasserie par exemple, ils n'atteindraient que fr. 137,500 pour
les 275 brasseries qui existent en Suisse d'aprös la derniere
statistique, celle de 1896. Pour subvenir aux depenses des
assurances ouvrieres, un impöt de fr. 3 ä fr. 4 par hecto-
litre serait süffisant.
r.
1.02)
fr.
2,142,000
>
1,42)
*
2,982,000
»
2,69)
>
5,649,000
>
3,25)
»
6,825,000
»
4.-)
>
8,400,000
»
4,80)
>
9,600,000
Inneres. Finanz Verhältnisse. 527
La feuille bernoise recherche ensuite qui aurait vraisem-
blablement ä supporter chez nons l'impöt snr la biere. Les
prix ne seraient, dit-elle, certainement pas hausses daus la
vente au detail. Vers 1880, les aubergistes payaient l'hecto-
litre de biere 27 ä 28 francs. Aujourd'hui, ils ne paient plus
qne 23 francs et möme moins. Cependant, autrefois comme
maintenant, la grande chope, d'un demi-litre, s'est toujours
Tendue 20 Centimes et la petite, de trois däcilitres, 15 Cen-
times. En consäquence, si meine les detaillants devaient payer
aax brasseurs l'hectolitre un ou deux francs de plus qu'ac-
tuellement, ils ne seraient pas amenäs, pour cela, ä rencberir
le verre de biere qu'ils servent au client.
Frequemment, l'aubergiste pourrait, en obtenant une r6-
duction de loyer, faire supporter une partie de l'impöt ä son
propriötaire. Cet impot aurait probablement pour consequence
de faire baisser la valeur des immeubles oü se trouvent des
debits de biere. II n'y aurait pas lieu de s'en plaindre trop.
Les loyers que produisent les dits immeubles ont quelque chose
d'excessif et d'anormal. Ils sont matiere ä Spekulation, Cette
speculation serait entravee au profit du bien-etre g6n6ral.
Aucun esprit dösinteresse et equitable n'y verrait d'incon-
venient.
Une partie de l'impöt serait, en outre, supportöe par les
actionnaires des brasseries.
Ce fardeau ne serait pas trop lourd pour leurs epaules.
II est peu d'entreprises industrielles qui röalisent d'aussi beaux
ben&ices que les grandes fabriques de biere et Celles de mo-
jenne importance.
Certaines grandes brasseries doivent user . dans leur
comptabilitä, des artifices les plus subtiles pour ne pas payer
a leurs actionnaires des dividendes trop eleves et pour ne
pas laisser entrevoir aux aubergistes les benöfices conside>ables
realises par leurs fournisseurs. Dans le domaine de la fabri-
eation de la biere, la grande Industrie est, plus que partout
ailleurs, fatale ä la petite. L^crasement des petites brasseries
par les grandes ressort clairement du tableau suivant:
528 Jahresbericht 1899.
Brasseries produisant annuellement 1896 1891
moins de 1000 hl. 56 105
1000 a 3999 > 100 140
4000 ä 10000 » 74 68
10000 et plus » 45 27
En soumettant la petite Industrie ä un impot relative-
ment moins fort que la grande, on poarrait latter contre la
disparition des petits brasseurs.
On pourrait craindre que l'lmpöt, s'il n'ainene pas une
hausse du prix de la chope, n'ait pour consequence un avi-
lissement de la biere. Mais, poursuit le Schweizer Bauer, les
expe>iences faites dans d'autres pays prouvent que ce r6sul-
tat ne sc produit pas si l'impöt est modere1. Une taxe de
trois ä quatre francs ne diminuerait pas la qualitä dn prodait.
La Baviere, l'eldorado de Tamateur de biere, preleve an im-
pot de fr. 3,25 par hectolitre. La concurronce forcera bien
les brasseurs ä fournir au public le breuvage qui lui con-
vient.»
Eine Erhöhung der Zölle hingegen, soweit sie nicht
als Kampfzölle bei dem Abschlnss der neuen Handelsverträge
auf das Jahr 1903 nöthig sind, sollte nicht in Rechnung ge-
zogen werden und ebensowenig kann man auf erheblich
grössere Einnahmen aus den übrigen Regalien des Bundes
zählen. Wir rechnen unsererseits auch nicht auf einen sehr
erheblichen Ueberschuss ans den Einnahmen der künftigen
Bundesbahnen, welche vielmehr durch die grösseren Schwie-
rigkeiten der Geldbeschaffung, die vielleicht eintreten und je-
denfalls durch die grösseren Prätentionen sowohl des Publi-
kums, als der Eisenbahnangestellten an den Bund, stark re-
duzirt werden dürften. Ueberdies aber sollen ja die Eisen-
bahnüberschüsse niemals für die laufenden Ausgaben des
Bundes verwendet werden, sondern einen Amortisationsfonds
bilden, ohne den der ganze Eisenbahnrückkauf eiue Massregel
von zweifelhafter Güte sein würde.
Inneres. Finanz Verhältnisse. 529
Auf alle Fälle also, damit schliessen wir, ist Sparsamkeit
am Platze, aber sparen muss der Staat wie ein guter Haus-
vater, zuerst am Luxus (das ist sogar nicht nur eine öko-
nomische, sondern auch eine moralische Pflicht), dann an dem
bloss Nützlichen, und zuletzt am Notwendigen; an diesem
sogar in einzelnen Fallen selbst bei andauernden Defiziten
gar nicht. Denn die Ausgaben, die zu der Erhaltung des
Staates gehören, muss nicht bloss die gegenwärtige Generation
tragen, sondern dazu darf sie auch die künftigen Geschlechter
herbeiziehen und dafür sind Staatsschulden gerechtfertigt.
Aber darin eine reinliche Unterscheidung zu treffen, ist nicht
Sache — wir wiederholen es — eines Parlamentes, das da-
für nicht einmal die nöthige gründliche Sachkenntniss besitzt
und stet8zu sehr nach augenblicklicher Stimmung handeln wird
sondern das muss sich der Bundesrath jeweilen durch
gründliche Prüfung klar machen, dann seine Anträge positiv
stellen und mit Festigkeit behaupten. Daran Bcheint es uns
bisher hie und da zu fehlen und das würde auch kein Rech-
nungshof, oder irgend ein sonstiges Kontrollmittel ganz er-
setzen können.
Im Uebrigen sind wir in diesen Finanzfragen nicht zu
ängstlich. Schlechte Finanzwirthschaft kann bei einem mo-
dernen kleinen Staate nicht lange dauern, dafür ist die öf-
fentliche Kontrolle der gesammten Presse des In- und Aus-
landes viel zu gross und die Aufrechthaltung des Kredits zu
wichtig; so etwas können sich höchstens Grossstaaten er-
lauben, deren Erhaltung davon nicht so abhängig ist. Ueber-
dies ist das schweizerische Volk in seinen Privatangelegen-
heiten sehr nüchtern und ökonomisch, ferner ist der Haushalt
der Kantone nothgedrungen stets auf Sparsamkeit und guten
Finanzhaushalt angewiesen, und endlich wird sowohl die Re-
gierung der Eidgenossenschaft, wie das Parlament niemals
34
530 Jahresbericht 1899.
in Mehrheit aus schlechten Haushaltern zusammengesetzt 6ein,
sondern aus guten «bourgeois», die sehr wohl wissen, was für
eine Rolle im menschlichen Leben der «nervus rernin geren-
darum» spielt.
Eine massgebende höhere Klasse von tiefverschuldeten,
aber dennoch flott darauf los lebenden adligen Gutsbesitzern
und spielenden Offizieren haben wir glücklicherweise selbst
unter unserer goldensten Jugend nicht, und auch dem Börsen-
spiel und dem Spiel in den Kursäälen und anderen Etablisse-
ments hoffen wir mit der Zeit Meister zu werden. Im Ganzen
lebt die gesammte schweizerische Bevölkerung noch unter,
nicht über ihren Mitteln, wie dies in Norddeutschland z. B.
in sehr grossen Kreisen der Fall ist, und selbst unsere
Sozialisten würden, wenn sie an die Regierung gelangten,
keinen verschwenderischen Haushalt in der Ausfuhrung ihrer
Projekte einrichten. Wo die gesammte Lebensauffassung in
einem Volke eine nüchterne und zur Sparsamkeit und Ordent-
lichkeit geneigte ist, da kann niemals der Staat auf die
Dauer ein verschwenderischer sein, und wenn es der eid-
genössische zeitweise gewesen ist, so war eben daran wesent-
lich das zu viele Geld in seinen Kassen schuld, das Nieman-
dem gut thut, auch einem Staatswesen nicht. Dass das durch
die Kranken- und Unfallversicherung und noch andere
dringende Ausgaben ohne Zweifel aufhört, das halten wir
unsererseits für kein Unglück, sondern für einen weiteren
Vorzug dieser in der Zukunft liegenden Einrichtungen. Auch
ein Staat, wie ein Privatmann, befindet sich bei einer nicht
übermässigen Prosperität, die weder den Nachbar reizt (wie
in Transvaal), noch ihn selbst zu einem üppigen Leben ver-
führt, am allerbesten.
Ueber die Regalien der Eidgenossenschaft ist noch
Folgendes zu sagen : Das wesentlichste Regal, von dessen
Verwaltung. Regalien. Zölle. 531
Eingängen überhaupt die eidgenössische Finanzwirthsöh&ft
ganz und gar abhängt, sind immer die Zölle, deren Ein-
nahmen in diesem Jahr die öOste Million übersteigen werden.
Ob diese stete Progression einem Stillstand, oder Bückgang
Platz machen wird und wann , das entzieht sich , wie
die letzten 10 Jahre gezeigt haben, allen Vorhersagungen
auch der gewiegtesten Sachkenner. Einen sehr entscheiden-
den Einfluss darauf könnten nur einerseits Krieg und Frieden,
andererseits aber die jeweilen bestehenden Handels- und Zoll-
verträge ausüben. Die wichtigsten dieser Verträge müssen
alle im Jahre 1903 spätestens neu abgeschlossen werden, und
dabei werden mutmasslich, selbst gegen unsere Absicht,
nicht geringere Zölle an die Stelle der bisherigen treten, son-
dern in einzelnen Positionen eher erhöhte. Die Einnahmen
der Zollverwaltung betrugen im Jahre 1898 beinahe 49 Mil-
lionen Franken, für dieses Jahr sind über 50 Millionen zu
erwarten.
Die Zollbündnisse scheinen auch wieder in einigen
Köpfen zu spucken. Ein Artikel der «N. Z. Zeitung» sagte
darüber Folgendes.
«Jüngsthin ist der Gedanke einer zollpolitischen Annähe-
rung der Niederlande an Deutschland aufgetaucht, und in der
Folge sind Stimmen laut geworden, auch die Schweiz sollte
ein Zollbündniss mit Deutschland eingehen. Ueber diese Frage
sind wenig fachmännische Aeusserungen gethan worden. Es
ist jedoch von Interesse, dass der Verbandstag deutscher
€hokolade-Fabrikanten, der kürzlich in Cassel stattfand, und
der beschloss, für den neuen autonomen Zolltarif die Fest-
setzung des Roh-Kakao-Zolles auf 20 Mark (jetzt 35 Mark)
zu beantragen, sich auch mit dieser zollpolitischen Annähe-
rung befasste, und zwar sprach er sich gegen ein Zollbünd-
niss mit Holland und der Schweiz aus, da ein solches die ge-
sammte deutsche Kakaowaaren-Industrie ernstlich gefährden
532 . Jahresbericht 1899.
würde. Wie man vernimmt, herrscht in den Kreisen der
deutschen Textil-Industriellen eine ahnliche Ansicht vor.
Vom schweizerischen Standpunkt ans ist die Frage bis
jetzt nicht naher untersucht worden. Würde man aber ernst-
lich daran gehen, sich über die Bedeutung eines solchen Zoll-
bündnisses klar zu werden, so dürfte man zu dem gleichen
Resultate kommen, zu dem man in den Niederlanden gelangte.
Es zeigte sich nämlich, dass die Mehrzahl der Grosskauflente
und Industriellen schon aus rein wirtschaftlichen Gründen
einem engern Anschlüsse an Deutschland grundsatzlich ab-
geneigt sei. Die politische Seite der Frage würde, ebenso
wie in den Niederlanden, auch bei uns in der Schweiz Tor.
einem solchen Schritt entschieden abrathen.»
In Bezog auf die Post erfolgte eine wichtige Abände-
rung der Post - Transportordnung vom 3. Dezember 1894
mittelst Bundesrathsbeschluss vom 19. Dezember 1898. £. G.
S. XVI, 871.
Die Zahl der Unfälle des Postpersonals im Dienst belief
sich im Jahre 1898 auf 142 gegenüber 174 im Jahre 1897
und der Betrag der bezahlten Unfallentschädigungen stellt
sich auf Fr. 5,462. 55, gegenüber Fr. 38,913. 55 im Jahre
1897. Durch dieses günstige Ergebniss ist in der Unfallkasse,
die auf Ende 1897 ein Defizit von Fr. 1,914. 20 aufwies,
wiederum ein Vermögen vorhanden von Fr, 16,290.20.
Eine Hauptfrage in Bezug auf die Post bildet stets die
Aufhebung oder wenigstens Beschränkung der Portofrei-
heit. Einer Erhebung der Postverwaltung gemäss entfallen
von dem portofreien Verkehr rund 9°/o auf die Sendungen
des Bundes, 53 °/0 auf solche der Kantone, 20 °/0 auf Sen-
dungen der Gemeinden, 5 °/0 auf Armensachen und 13«/© auf
die Sendungen von Militärs im Dienste. Demgemäss vertheilt
sich der Ausfall (von Fr. 700,000) in der Weise, dass auf
den portofreien Verkehr des Bundes Fr. 63,000, der Kantone
Verwaltung. Regalien. Postwesen. 533
Fr. 371,000, der Gemeinden Fr. 140,000, in Armensachen
Fr. 35,000 und der Militärs Fr. 91,000 entfallen.
Die Geschäftsberichts-Komniission des Ständeraths wollte
die Franko-Couverts wieder herstellen. Im Nationalrath wurde
«
hingegen der Frankaturzwang befürwortet. Ueber die Zeitungs-
posttaxen und die Arbeitszeit der Transportanstalten Bind be-
sondere Vorlagen vor der Bundesversammlung anhängig.
Weltpostverein. Die britische Gesandtschaft hat
mit Noten vom l. und 26. April den Beitritt der britischen
Kolonie Ceylon zum Washingtoner Uebereinkommen vom
15. Juni 1897 betreffend den Austausch von Werthbriefen
und Werthschachteln auf 1. April erklärt. Den diesem Ueber-
einkommen beigetretenen Staaten wird von diesem Beitritte
Kenntniss gegeben.
In Deutschland wird jetzt der Chekverkehr bei
der Post eingeführt, eine bedeutende Verbesserung der
älteren Idee der Postsparkassen. Eine deutsche Zeitung
schreibt darüber:
«Die Einführung des Checkverkehrs bei der Jedermann
leicht zugänglichen Postverwaltung wird zweifellos dieser
Art des Ausgleichsverfahrens noch eine bedeutende Förderung
bringen. Unser Nachbarland Oesterreich hat ebenfalls mit
seinem seit 16 Jahren bestehenden Postcheck- und Clearing-
verfahren vorzügliche Erfolge erzielt; das Postsparkassenamt
in Wien besitzt heute mehr als 37,500 Inhaber eines Check-
kontos, unter denen neben den Staatsbehörden die Kaufleute,
Fabrikanten, Vereine und Korporationen, Gewerbsleute und
Advokaten den ersten Platz einnehmen. Die bei dem ge-
nannten Amt im Clearingverkehr abgerechneten Summen be-
tragen mehr als die im inneren Postanweisungsverkehr ge-
zahlten Beträge. Es Bind nun im deutschen Reichspostgebiet
neun Postcheckämter in Aussicht genommen, und zwar in
Berlin, Breslau, Köln, Danzig, Frankfurt a. M., Hamburg,
Hannover, Karlsruhe und Leipzig. Abgesehen von der Stamm-
534 Jahresbericht 1899.
einlage von 100 M., gegen welche die Checkkontos der Post-
verwaltung eröffnet werden sollen, wird für die Guthaben
der Kontoinhaber eine massige Verzinsung gewährt werden.?
Zum Weltpostdirektor an Stelle des verstorbenen Höhn
wurde durch den Bundesrath, im Einverständniss mit den
übrigen Regierungen, Herr Bundesrath Ruffy gewählt.
Alkoholregal. Die wichtigsten Gesetze über dieses
Regal sind zusammengestellt und den Kantonen zugestellt
worden. Die Revision des Alkoholgesetzes selber ist bereits
im Fluss, und eine Vorlage soll im nächsten Frühjahr er-
folgen. Einzelne Notizen sind folgende: Die Alkoholverwaltung
hat jetzt im Ganzen 76 Angestellte. Die Verwaltungskosten
betragen Fr. 415,000. An die Kantone wurde 1897 der höchste
Betrag mit Franken 6,300,000 bezahlt. Es werden 241 Sorten
Schnäpse in die Schweiz eingeführt. Der Alkohol aus dem Aus-
land ist weit billiger, als der von uns fabrizirte, da die fremden
Staaten Ausfuhrprämien geben. Der Preis ist gegenwärtig sogar
ein sehr niedriger, in Deutschland z. B. 9 Mark per Hektoliter.
Wir geben jährlich eine Million Subvention an die Brannt-
weinbrenner, indem wir ihnen den Alkohol theurer abkaufen,
als wir ihn aus anderen Quellen haben könnten. Der Bundes-
rath gab ihnen im letzten Jahre sogar ausnahmsweise das
Recht, ausländischen Mais zu brennen für '/s ihrer Lieferungen.
Der denaturalisirte Alkohol nimmt beständig an Verbrauch
zu, für Heizungs- und Beleuchtungszwecke namentlich, auch
für Krafterzeugung.
Ueber die sogenannten Z weiliterwirthschaf ten,
welche in ausgedehntem Massstabe bestehen, wurde im Schosse
der diesjährigen gemeinnützigen Gesellschaft referirt.
«Der Referent führte aus , das Alkoholmonopol habe aller-
dings die Schnapspest in der alten hässlichen Form beseitigt,
andererseits aber sei ein neues Uebel entstanden, die Zwei-
liter wir thschaften, die den Alkoholismus in anderer Form, der
Verwaltung. Regalien. Alkoholregal. 539
Bierpest, im Volke ausbreiten. Es sei heute ein überwundener
Standpunkt, den Alkoholismus mit billigem Wein bekämpfen
zu wollen. Der Referent schloss mit Anträgen, die eine
tbatkräftige Unterstützung der Bestrebungen für eine Ver-
schärfung der Alkoholgesetzgebung, Revision der Bundesver-
fassung und der Gesetze bezwecken und eine Sympathiekund-
gebung zu Gunsten der AbBtinenzbewegung enthalten und die
Gesellschaft einladen, ihren Einfluss im Sinne einer Sanirung
der Volksfeste dnrch Eindämmung des Alkoholismus geltend
zu machen. In der Junisitznng der Bundesversammlung wurde
an die diesfällige Motion Steiger gemahnt.»
Ueber den Alkoholmissbr auch auf Bauplätzen
fand in Bern eine Besprechung statt. Auf Einladung des Central-
aasschusses der fünf städtischen Abstinenzgesellschaften hatten
sich eine Anzahl Bauunternehmer und Bauhandwerker ein-
gefunden, die einhellig der Ansicht beitraten, es sollte etwas
geschehen, um den riesigen Bierverbrauch auf den Bau«
platzen zu bekämpfen. Es wurde mit Freude begrüsst, dass
der städtische Gemeinderath schon 1895 jegliche Zufuhr und
Verkauf alkoholhaltiger Getränke auf den Arbeitsplätzen
städtischer Unternehmungen, ebenso den Genuss solcher Ge-
tränke während der Arbeit verbot. Andererseits haben sich
einige Zimmermeister, Spenglermeister und andere Bauhand-
werker geeinigt, die Zwischenmahlzeiten abzuschaffen, dafür
die Tagesarbeit eine halbe Stunde später zu beginnen und
ebensoviel früher zu schliessen. Sie befinden sich dabei voll-
kommen gut. Die Kaffeehallen Gesellschaft ihrerseits hat vor
etwa drei Jahren begonnen, billige alkoholfreie Getränke auf
die Bauplätze zu führen, um denjenigen Arbeitern, die es
wünschten, Ersatz für die alkoholischen Getränke zu bieten.
Auch wurden Gutscheine für billige Verköstigung im «Bären-
höfli» ausgegeben. Alle diese Anstrengungen vermochten das
Uebel nicht auszurotten. Nach den Berechnungen eines
Kenners der Verhältnisse ist der jährliche Bierverbrauch auf
den Bauplätzen der Stadt Bern auf 12,000 Hektoliter zu
schätzen ; im Sommer werden 20 Prozent des Lohnes während
der Arbeit vertrunken. Nach allseitiger Besprechung ge-
langte die Versammlung zu dem Schlüsse, es sollte, ähnlich
536 Jahresbericht 1899.
wie in Luzern, auch in Bern möglich sein, dass für alle
Bauarbeiter die Zwischenmahlzeiten, diese Hauptangelegen-
hoiten für den Alkokolgenuss, abgeschafft würden. Dann
könnte die Znfuhr von Bier nach den Bauplätzen verhindert
werden. Wäre es dabei noch zu erreichen, dass billigere
alkoholfreie, erfrischende Getränke überall angeboten würden,
wie dies in Italien, Frankreich und anderswo der Fall ist,
so dürfte der Alkokolmissbrauch im allgemeinen und ganz
besonders auch im Baugewerbe bedeutend eingeschränkt wer-
den können. Der Baumeisterverband der Stadt Bern soll
angegangen werden, der Frage der Abschaffung der Zwischen-
mahlzeiten neuerdings näher zu treten.
Bei dem Centralfest des «blauen Kreuzes» in Bern wur-
den folgende Resolutionen angenommen:
I.
4 Antialkoholischer Unterricht in den Schulen.
Die am 12. Juli 1899 in Bern versammelten Mitglieder
des Vereins des Blauen Kreuzes, in Erwägung,
1. dass durch das schweizerische statistische Bureau in
der Sterblichkeitsziffer der 15 wichtigsten Städte nachgewiesen
ist, wie bei 10—11 °/0 der Todesfälle bei Männern über
20 Jahren der Alkoholismus entweder als auschliessliche oder
doch mitwirkende Todesursache angesehen werden niuss, dass
alle Kriminalstatistiker über die Erwachsenen wie über die
Jugend, alle Erhebungen der Spitäler, der Irrenhäuser, der
Anstalten für verwahrloste Kinder etc. übereinstimmend be-
stätigen, dass der Alkoholismus in unserm Lande zahlreiche
Opfer fordert und den Charakter einer nationalen Gefahr an-
genommen hat;
2. dass die Erfahrung aller derer, die mit Heilung und
Hebung der Trinker sich beschäftigen, übereinstimmend die
tyrannische Macht des Alkoholismus über seine Opfer kon-
statirt, so dass nur eine geringe Bruchzahl derselben den
Muth gewinnt, den Kampf zu ihrer Befreiung aufzunehmen,
und dass auch unter den Letztern die Zahl derer, welche
endgültig zum Siege gelangen, noch sehr Bchwach ist;
3. dass, wenn es nothwendig war, Gesellschaften wie das
Verwaltung. Alkoholregal. 537
blaue Kreuz zur Bettung der Trinker zu gründen, es folge-
richtig nicht weniger dringlich ist, alle gesetzlichen Mittel
zur Bewahrung der zukünftigen Generationen vor der Ge-
wohnheit der Unmä8sigkeit anzuwenden nach der bekannten
Maxime: Es ist besser, dem Uebel zuvorzukommen, als das-
selbe zu heilen;
4. dass eines der besten prophylaktischen Mittel darin
besteht, die Kinder über die t tatsächlichen Wirkungen der
alkoholischen Getränke, über die Gefahren ihres Gebrauchs
und insbesondere ihres Missbrauchs vom physiologischen,
ökonomischen, moralischen und gesellschaftlichen Gesichts-
punkte aus zu unterrichten;
5. dass in der Uebernahme des Jugendunterrichts durch
die kantonalen Regierungen diesen auch die Verpflichtung
zufällt, diesen antialkoholischen Unterricht ertheilen zu lassen ;
6. dass ein Unterricht dieser Art, wenn auch in ver-
schiedenem Umfang, theils auf dem Wege der Spezialgesetz-
gebung, theils durch Entscheide der öffentlichen Schulbehörden
in einzelnen Ländern, beispielsweise in den Vereinigten
Staaten, in Canada, in den Australischen Kolonien, in Skan-
dinavien, Belgien und Frankreich und in einigen Kantonen
der Schweiz bereits eingeführt ist;
7. dass der Art. 32biB der Bundesverfassung den Kan-
tonen die Verpflichtung auferlegt !), den Alkoholismus in
seinen Ursachen und in seinen Wirkungen zu bekämpfen und
ihnen zu diesem Zweck den Alkoholzehntel zur Verfügung stellt,
beschliessen :
Das Centralcomite wird ersucht, sich mit den andern
schweizerischen antialkoholischen Gesellschaften über eine
gemeinschaftliche Aktion zu verständigen, vermittelst welcher
in allen öffentlichen Schulen der Schweiz ein antialkoholischer,
den Gefahren der alkoholischen Ansteckung vorbeugender und
dem dermaligen Stand der Wissenschaft über diese ernste
Frage entsprechender Unterricht eingeführt werden könnte.
!) Art. 32*»8, § 4. Die Kantone sind verpflichtet, wenigstens
10 % der Einnahmen des Alkoholmonopols zur Bekämpfung des
Alkoholismus in seinen Ursachen und Folgen zu verwenden.
538 Jahresbericht 1899.
II.
Einschränkungen des Absynth-Konsums.
Die am 12. Juli 1899 in Bern versammelten Mitglieder
des Vereins des Blauen Kreuzes, in Erwägung,
1. dass alle wissenschaftlichen Arbeiten in neuester Zeit
übereinstimmend den Absynth, sowie alle sogenannten Essen-
zen, deren Typus er ist, als das schädlichste und giftigste
aller alkoholischen Getränke bezeichnen, nicht nur wegen
seines Alkoholgehaltes, sondern besonders wegen den Sub-
stanzen, die ihm seinen Geschmack geben;
2. dass er durch Schwächung des Verstandes, des Ge-
dächtnisses und der Willenskraft und durch impulsive Hallu-
cinationen mehr als jedes andere alkoholische Getränk zum
Verbrechen reizt;
3. dass er besonders Nervenstörungen verursacht, deren
Haupttypus die Epilepsie ist und dass diese unheilvolle Wir-
kung nicht nur den Trinker selbst, sondern auch dessen
Nachkommen trifft;
4. dass diese verderbliche Wirkung des Absynth auf die
Nachkommenschaft für die Zukunft unseres Volkes um so
furchtbarer ist, als die nervösen, den Verfall der Race her-
vorrufenden Störungen, die man diesem Getränk verdankt,
bereits bei jugendlichen, im kräftigsten Alter stehenden Eltern
eintreten, während die verderblichen Wirkungen der andern
alkoholischen Getränke erst in einem Alter sich geltend
machen, wo an Familienzuwachs nicht mehr zu denken ist;
5. dass der Absynth-Konsum , der früher mehr oder
weniger auf die Städte und insbesondere auf die industriellen
Centren der französischen Schweiz beschränkt war, sich mehr
und mehr auf das Land ausdehnt und zu verallgemeinern
droht ;
6. dass der Absynth-Konsum seine unheilvolle Wirkung
auf die Trinker um so nachhaltiger und verderblicher gel-
tend macht, als er das eigentliche Centrum der Nerven an-
greift und lähmt;
7. dass unser Schweizervolk aus Mitleid mit den Opfern
der Nekrose nicht vor Unterdrückung der Zündhölzchenindu-
Verwaltung. Alkoholregal. 589
strie durch scharfe gesetzgeberische Massregeln1) zurück-
schreckte und folgerichtig auch keine grundsatzlichen Ein-
wendungen erheben kann gegenüber einer Produktion, die un-
gleich zahlreichere Opfer fordert als der gelbe Phosphor;
8. dass der Art. 31 c. der Bundesverfassung den Kantonen
das Recht einräumt, das Wirthschaftswesen und den Klein-
handel mit geistigen Getranken der durch das öffentliche
Wohl geforderten Beschrankung zu unterwerfen, und dass
das öffentliche Wohl durch den fortwährend in Zunahme be-
griffenen Absynth-Konsum im höchsten Grade gefährdet ist
und wirkungsvolle Massregeln zu dessen Einschränkung sich
gebieterisch aufdrängen,
be8chliessen :
Das Centralcomite wird ersucht, über die geeigneten
Mittel und Wege zu berathen, durch welche das schweizerische
Volk und ßeine Behörden, die eidgenössischen wie die kan-
tonalen, dazu gebracht werden könnten, durch energische
Massregeln im Wege der Gesetzgebung und der Verwaltung
den Absynth-Konsum einzuschränken in den Kantonen, wo
er bereits Verbreitung gewonnen hat, und in den andern
Kantonen dem Uebel in seinen Anfängen zu wehren.
Sie ladet das schweizerische Central-Comite ein, sich zu
diesem Behuf mit allen antialkoholischen und mit andern Ge-
sellschaften, die etwa zur Mitwirkung bereit wären, in Ver-
bindung zu setzen, um einer mächtigen Kundgebung des
Volkswillens zur Ergreifung notwendiger Massnahmen zu
rufen.»
Aus Canada kommt diesfalls folgende Nachricht:
cOn a, maintenant, au complet le vote du peuple canadien
sur la prohibition de l'alcool.
II s'agit d'une prohibition absolue, s'il vous plait, de
toutes boissons alcooliques quelconques. Elle comprend aussi
bien la fabrication, que l'importation et la vente.
De tous les votes de ce genre, c'est le plus radical. Les
Etats prohibitionnistes de l'Union americaine ont pu interdire
') Bundesgesetz rom 2. November 1898 über Fabrikation und
Verkauf von Zündhölzchen.
540 Jahresbericht 1899.
ia fabrication et la vente, mais non pas l'importatfon, le re-
gime douanier relevant de la tegislation föderale. Au Canada,
le peuple s'est interdit m6me l'importation.
Des huit provinces du Dominion, les sopt provinces anglo-
eaxonnes, avec 3,5 millions d'habitants, ont vote* l'interdiction
ä 60,000 voix de inajoritä.
La province fran^aise de Quebec, avec 1,5 million d'ha-
bitants l'a reponssäe a une mojorite* de 51,000 voix.
En sorte que la majoritä pour l'ensemble du pays est de
11,600 voix.
Ge n'est pas un chiffre tres fort et on se demande si,
cela 6tant, il sera possible d'imposer la prohibition a la pro-
vince de Quebec qui s'y est monträe si nettement hostile.
Näanmoins, il est remarquable de voir un peuple de
5 millions d'habitants dätenant un territoire de dix millions
tle kilometres carräs s'imposer volontairement une pareille
privation.
Cela dönote assuröment chez les Canadiens une Energie
peu commune.» (Gazette de Lausanne.)
Dagegen enthält ein Berliner-Feuilleton ein Lob des
Bieres und Münchens, das wir, als Zeichen unserer an Ver-
kehrtheiten aller Art reichen Zeit auch abdrucken wollen.
«Wo ist der Grund dieser merkwürdigen Harmonie und
Ausgeglichenheit in der Bevölkerung und in dem Leben
Münchens, die wie eine grüne Oase aus der Däcadence des
sie umgebenden Europa hervorleuchtet? So paradox es
klingen mag, ich wage es zu wiederholen : nichts anderes ist
der Grund als das Münchener Bier! Der deutsche National-
trank hat das deutsche Volk in Gesundheit, Jagend und
Kraft erhalten. Das Bier ist der grosse Ausgleicher: der
physische Ausgleicher durch Vermittlung des Magens, der
geistige Ausgleicher durch Vermittlung der Nerven und der
soziale Ausgleicher durch seine Nahrhaftigkeit und Billigkeit.
So erhält es den Körper kraftvoll und gesund, den Geist im
Gleichgewicht unbewusster Instinkte und bewusster Gedanken,
den ganzen Menschen also im Gleichgewicht der Nerven und
des Blutes, und den Staatskörper gewissermassen im Gleich-
gewicht der sozialen Gegensätze. Als die Griechen aus einem
Verwaltung. Alkoholregal. 541.
thätigen Volk zu einem denkenden geworden waren, unter-
lagen sie den Römern. Als diese ein denkendes, d. h. über-
reifes nnd dekadentes Volk geworden waren, unterlagen sie
den jugendkräftigen Deutseben. Und da sich das deutsche
Volk Jugend und Gesundheit erhielt, unterlag ihm jetzt der
Erbfeind, das dekadenteste Volk des heutigen Europa.
Des Deutschen Nationaltrank, das Bier, ist gewiss ein
Grund, dass sich das deutsche Volk so lange in Jugend und
Gesundheit erhielt. Darum sehen wir diese Vorzüge am
deutlichsten bei dem Münchener Volk, in dessen Stadt das
herrlichste aller Biere gebraut wird. Das Bier erhält die
physische und darum auch die geistige Natur des Menschen
im steten Gleichgewicht. Den allzu unbewnssten, instinktiven,
beschränkten Menschen stachelt es zur Thatkraft auf, und
den allzu bewussten, nervösen Gehirnmenschen des fin de
siecle entlastet es von dem Uebergewicht des Denkens und
macht ihn wieder zur That fähig. Das Bier befreit von un-
gesunden Extremen und schafft Sinn und Kraft für das reale
und thätige Leben. Nirgends fand ich so viele Tugenden der
Gesundheit, als da sind: Einheitlichkeit, Muth, Einsicht und
Lebenslust, Vcrständniss und Liebe auch für das Anders-
geartete, und Höflichkeit, wie beim Münchener. Dort, wo
das beste deutsche Bier fliesst, blüht auch einer der besten
deutschen Volksstämme: der Bayer. Kraft und dabei doch
ein heiterer, fast buddhistischer Gleichmuth sind die Grund-
züge des Münchener Volkscharakters. «Weil's gleich ist»
und < Schön muss 's geh'n» sind ihre bezeichnenden Lokal*
Sprichwörter. Frei vom wienerischen Leichtsinn und von
wienerischer Sentimentalität — frei von norddeutscher Härte
und Aufgeblasenheit, repräsentirt der Münchener und über-
haupt der Bayer in seiner Gelassenheit, heiteren Weisheit,.
Lebensfreudigkeit und urgesunden Festigkeit eine der schön-
sten und tüchtigsten deutschen Menschentypen. Er ist im
Innern wie seine Stadt: geräumig, hell, heiter und fest!
Man möchte der ganzen deutschen Nation zurufen: In bia
signis vinces !»
Das deutsche Volk wird diesen «Sieg», der ihm jetzt
schon jährlich 21'* Milliarden Mark, abgesehen von der Ge~
£42 Jahresbericht 1899.
sundbeit und Idealität von Millionen seiner Bewohner kostet,
noch schwer bezahlen müssen.
Es wird auch bei uns erst besser werden, wenn es ein-
mal schlecht genug geworden ist, um auch die bisher Gleich-
gültigen zu überzeugen. Das Ziel, das vorläufig anzustreben
ist, ist eine Verbesserung des Alkoholgesetzes und sodann
die Freiheit, für jede Gemeinde die Wirthschaften und den
Alkoholgenuss überhaupt nach ihrem Gutfinden zu beschrän-
ken oder zu verbieten, ohne dass sie durch allgemeine Ge-
setze oder Verfassungsartikel betreffend Gewerbefreiheit darin
gehindert werden kann. Man sollte diese Schädlichkeiten
wenigstens lokal und gemeindeweise verbieten können, so wie
sie in einer Familie ausgeschlossen werden können. Zunächst
aber sollten einmal die Aerzte, die Irrenärzte, die Geist-
lichen und die Frauen viel entschiedener, als bisher, gegen
dieses Uebel auftreten.
Statistisches über den gegenwärtigen Zustand ist
folgendes: Das vom Bundesrath festgestellte Betriebsbudget
dieser Verwaltung für das Jahr 1900 sieht vor: Einnahmen
Fr. 13,595,000, Ausgaben Fr. 7,085,000, somit Einnahmenüber-
schuss Fr. 6,510,000. Der Bundesrath schlägt vor, diese
Summe wie folgt zu verwenden: Saldovortrag für 1901
Fr. 56,665, Vertheilung unter die Kantone Fr. 6,453,335 oder
Fr. 2.20 per Kopf der Bevölkerung. Der Beinertrag wird
in nachstehender Weise an die Kantone vertheilt: Zürich
Fr. 745,923. 20, Bern Fr. 1,186,691, Luzern Fr. 298,588. 40,
Uri Fr. 38,027, Schwyz Fr. 110,831. 60, Obwalden Franken
33,066, Nidwaiden Fn 27,544, Glarus Fr. 74,346. 80, Zug
Fr. 50,870. 60, Freiburg Fr. 262,963. 80, Solothurn Franken
188,559. 80, Baselstadt Fr. 163,339, Baselland Fr. 136,738. 80,
Schaffhausen Fr. 83,327.20, Appenzell A. Rh. Fr. 119,222. 40,
Appenzell I. Rh. Fr. 28,388. 80, St. Gallen Fr. 504,607. 40,
Graubünden Fr. 211,717, Aargau Fr. 426,434. 80, Thurgau
Fr. 231,266. 20, Tessin Fr. 279,281. 20, Waadt Fr. 552,853.40,
Wallis Fr. 224,041. 40, Neuenburg Fr. 239,881. 40, Genf
Verwaltung. Alkoholregal. Telegraph. Telephon. 543
Franken 234,823. 60. Total Franken 6,453.334. 80. Seit Ein-
fahrung dieses Monopols haben die Kantone nnd Octroi-
gemeinden bis Ende 1898 im Ganzen Franken 61,522,769. 70
bezogen. Rechnen wir hiezu den Saldo der Betriebsrechnung
für 1898 (Fr. 65,380. 03), so erhalten wir mit Fr. 61,588,149. 73
die Summe, welche das Alkoholmonopol bis jetzt über die
Amortisationen und Abschreibungen hinaus abgeworfen hat.
Diese Alkoholeinnahmen sind jetzt das grösste Hinder-
niss einer gründlichen Verbesserung der Sache.
Ueber die Rückvergütungen bei Ausfuhr flüssiger Alkohol-
fabrikate enthält das Bandesblatt 1899 Nr. 8 eine neue Ver-
ordnung.
Auch der Missbrauch des Tabaks, namentlich durch die
Jugend, scheint allmahlig die Aufmerksamkeit auf sich zu
ziehen. Der «Corriere della Sera> von Mailand enthielt unter
dem 1. Oktober folgenden kleinen Artikel:
«II tabacco al Congresso d'igiene di Como
Ci mandano da Como, 28 settembre:
Oggi, al Congresso d'igiene, su proposta del dottor R.
Massalongo, direttore deirOspedale Maggiore di Verona, trat-
tandosi del tabacco dal punto di vista igienico e sociale,
venne approvato un ordine del giorno concludente cosi:
«II Congresso esprime l'opinione essere addirittura ur-
gente iniziare, e con ardore, una Lotta contro l'abuso del
tabacco, per rimediare ai danni attuali e per preservarci per
l'awenire da conseguenze peggiori.
«Fa voti che dalle autoritä competenti venga emanata
una legge, e relativo regolamento, per combattere l'abuso dol
tabacco ed attenuarne le conseguenze sulla salute pubblica,
sia col rendere obligatoria l'istruzione nelle scuole pubbliche
e private di nozioni elementari d'igiene, illuminando i giovani
sui pericoli dell'uso del tabacco o con qualunque altro me-
todo di Propaganda, sia col proibire la vendita di tabacchi
che non sieno stati accuratamente depurati, o col favorire
quella di tabacchi esotici che contengano minime quantita di
nicotina.»
Telegraph und Telephon. Während der interne
544 Jahresbericht 1899.
Telegraphenverkehr der Schweiz seit einer Reihe von Jahren
einen beständigen Rückgang zeigte, konstatirt der Jahresbe-
richt der Telegraphen Verwaltung für das Jahr 1898 eine
Vermehrung der internen Telegramme um 19,386, oder 1,16
Prozent, welche Vermehrung grossentheils durch längere
Störungen des Telephon Verkehrs (Schneefälle, Brand der Zürcher
Telephoncentrale) hervorgerufen wurde. Die rapid zuneh-
mende Vermehrung der Telephonabonnemente der letzten Jahre
ist dagegen im Jahre 1898 ausgeblieben. Statt 4000, wie das
Budget voraussah, betrug die Vermehrung der Abonnenten-
zahl bloss 3072. Die Gesammtzahl der auf das Jahresende
bestehenden Telephonabonnemdnte beträgt 31,918. Die Ein-
nahmen der Telephonverwaltung reichten nicht aus, um die
vorgeschriebene ordentliche Amortisation des Baukontos mit
15°/o zu decken, während der Telegraphenbetrieb über die
auf ihn fallende gleich hohe Amortisationsquote hinaus noch
einen Aktivsaldo abwarf. Die Gesammtzahl der beförderten
und empfangenen internen, internationalen und Transittele-
gramme betrug 3,820,320 gegen 3,729,194 im Jahre 1897,
das Total aller telephonischen Vermittlungen 19,969,576,
gegen 19,227,948 im Vorjahre. Die weitaujs höchste Zahl
von Gesprächen weist das Telephonnetz Zürich auf, nämlich
3,5 Mill.; es folgen Basel mit 2,7 Mill., Genf mit 2,2, Bern
mit 1,4 und Lausanne mit 1,1 Mill.
Ueber die elektrischen Leitungen liegt ein Gesetzesent-
wurf den Eidg. Räthen vor; eine Verordnung über Einrich-
tung von Telegraphenbureaux und Gemeinde-Telephonstationen
vom 8. Nov. 1898 findet sich in der E. G. S, XVI, 862 ab-
gedruckt.
Die nationalräthliche Kommission regte für Post, Tele-
graph und Eisenbahnen die italienische 24 Stunden-Zählung
an, die auch in Belgien besteht. Das ist schon bei der Be-
Verwaltung. Mass und Gewicht. 545
Stimmung der mitteleuropäischen Zeit abgelehnt worden. Eine
Vereinfachung wäre es nur für den Eisenbahndienst, aber
das bürgerliche Leben widersteht dem auch selbst in Italien
noch; es würde auch bei uns Widerstand leisten. Esmüssten
jedenfalls noch andere Staaten vorläufig beitreten.
Mass und Gewicht. Die nationalräthliche Geschäfts-
prüfungskommission schlug im Juni 1899 vor, es solle die
Mass- und Gewichtsbestimmung ausgedehnt werden auf die
Masse für Gas-, Wasser- und elektrische Kraft.
Münze. Im Geschäftsbericht des eidgenössischen Finanz-
departeinents über die Staatskasse für das Jahr 1898 liest
man :
«Im Dezember trafen wir mit der Bank von Frankreich
eine Vereinbarung, wonach dieselbe uns während des ersten
Semesters des laufenden Jahres monatlich je Fr. 100,000, so-
viel als möglich in schweizerischen Silberscheidemünzen, liefern
wird. Die Leichtigkeit, mit welcher Frankreich im Stande
war, uns die oben erwähnten Beträge zur Verfügung zu
stellen, sind ein Beweis, dass eine lebhafte Ausfuhr von Sil-
berscheidemünzen^ aus der Schweiz nach diesem Laude statt-
findet ; aber es ist ebenso schwierig zu ermitteln, auf welche
Weise sie sich vollzieht, als ihr wirksam entgegenzutreten.
Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als unsere Münzen
jeweilen wieder zurückkommen zu lassen, was leider nicht
ohne erhebliche Kosten möglich ist.»
Das Verbot der Einfuhr italienischer Silberscheidemünzen
vom 21. Februar 1899 findet sich in E. G. S. XVII, 67. Die
Strafe für Uebertretung des Verbots ist die Konfiskation der
Münzen.
Ueber die beständig vorhandene grosse Frage der Silber-
entwerthung und Goldwährung enthielt ein Artikel der
35
546 Jahresbericht 1899.
N. Z. Z. folgende Notiz, die mit der Voraussicht der Ein-
führung der Goldwährung für Indien schliesst.
«Als am 26. Juni 1893 die Eegierung von Britisch-Indien
die Prägung der Silber-Rupie einstellte, wurde dieser Be-
schluss als eine währungspolitische Begebenheit ersten Banges
allgemein gebührend berücksichtigt. Der Abfall Indiens, des
Silberlandes par excellence, vom weissen Metall brachte einen
mächtigen Preisfall. Innerhalb acht Tagen sank der Preis
in London von Sh. 38 auf 32. Diejenigen aber, die eine Er-
holung nach vorübergehendem Sinken voraussahen, haben
sich getäuscht. Denn heute ist die Londoner Notirung des
Silbers 27 Sh., was einem Verhältniss des Goldes zum Silber
von 1 : 34,9 entspricht, während bekanntlich das sogenannte
klassische und der lateinischen Münzunion zu Grunde gelegte
Werthverhältniss 1 : 1572 beträgt. In Goldwerth ausge-
drückt beträgt, darnach heute der Werth eines Silberfrankens
nur mehr 41,2 Centimes.»
Ueber die Einführung der Goldwährung in Amerika wird
folgendes berichtet (N. Z. Zeitung):
«Die amerikanische Währung leidet an zwei Grundübeln.
Das eine ist, dass die Hälfte des geprägten Geldes aus Silber-
münzen besteht, die auf weniger als die Hälfte ihres Nenn-
werthes gesunken sind und doch ebenso in Zahlung genommen
werden müssen wie Gold. Das andere Uebel ist der Umlauf
einer grossen Menge ungedeckten Staatspapiergeldes mit
Zwangskurs, das jedoch an der Kasse des Schatzamts jeder-
zeit einlösbar ist. Man wird zugeben, dass eine solche Zettel-
wirthschaft, wie sie in Europa nur noch einige halbbankerotte
Staaten betreiben, für ein wirthschaftlich so hochstehendes
Land etwas unrühmliches, geradezu gefährliches hat. In
seinem Finanz-Expose* vom Dezember 1897 ist Schatzsekretär
Gage von dem Grundgedanken ausgegangen, dass die tra-
ditionelle Goldreserve der Vereinigten Staaten von 100 Mill.
Dollars, die während der letzten Geldkrisis in der Union
Verwaltung. Münze. 547
theilweise bis unter 70 Mill. Dollars gesunken war, nicht
ausreicht, um den Verbindlichkeiten der Regierung von rund 930
Mill. Dollars zu entsprechen. Der springende Punkt in den
Vorschlagen des Schatzsekretars war die Bestimmung, dass
die Noten der Vereinigten Staaten, nachdem sie in Gold ein-
gelöst seien, nur gegen Gold wieder ausgegeben werden sollen.
Seine Vorschlage zur Reform der Nationalbankgesetzgebung
gingen hauptsachlich dahin, die Banken sollen Noten zum
Pariwerth der Rückzahlungsfonds ausgeben dürfen, wenn sie
diese im Schatzamt hinterlegen. Ferner sollen die Banken als
Sicherheit beim Schatzamte Greenbacks, Schatzamtnoten oder
Silbercertificate bis zum Gesammtbetrage von 200 Mill. Dollars
hinterlegen dürfen, wogegen ihnen sogleich Nationalbanknoten
im gleichen Betrage ausgefolgt werden.
Nun hat jüngst das Komite der republikanischen Partei
«ine Resolution beschlossen, welche die hauptsächlichsten For-
derungen folgendermassen zusammenfasst : Alle von der Re-
gierung ausgegebenen Obligationen müssen auf Verlangen in
Gold zurückbezahlt werden. Greenbacks können, wenn die-
selben gegen Gold eingelöst wurden, ausschliesslich gegen
Einlieferung von Gold wieder ausgegeben werden. Die Na-
tionalbanken, welche bisher für 90 Procent der von den-
selben beim Staatsschatze deponirten Regierungsbonds Noten
ausgeben durften, sollen nunmehr eine Erweiterung dieser
Emissionsbefugniss bis zum vollen Betrage erhalten. Das
gesetzlich fixirte Minimalkapital der Nationalbank soll auf
die Hälfte reduzirt werden.
Diese Beschlüsse decken sich in den Hauptpunkten mit
-denjenigen des Schatzsekretärs Gage. In der amerikanischen
Presse finden die Vorschläge getheilte Aufnahme; sogar
Freunde der Goldwährung bezeichnen sie vielfach als lahm
und unzureichend. Dieser Plan wurde überhaupt nur ange-
nommen, weil sich als unmöglich erwies, über radikalere Mass-
nahmen eine Verständigung herbeizuführen.
Das Wahrungsproblem — so hat es den Anschein —
wird vor der im nächsten Jahre stattfindenden Präsidenten-
wahl wohl kaum eine merkliche Förderung erfahren ; es werden
sich dann voraussichtlich dieselben Kandidaten wie bei der
548 Jahresbericht 1899.
letzten Wahl messen, Mc Einley als Kandidat der Goldwäh-
rungspartei und Bryan als Kandidat der Silbermänner.*
Ueber die Banknotenemission enthält der offizielle
Bericht folgende Angabe :
«Wahrend die Notencirculation im Jahresdurchschnitt
1871—1880 66,973,000 Franken, oder Fr. 24. 30 pro Kopf
der Bevölkerung* und im Jahresdurchschnitt der Jahre 1881
bis 1890 123,754,000 Franken, oder Fr. 42. 65 pro Kopf der
Bevölkerung betrug, ist sie bis zum Jahre 1898 auf 207,665,000
Franken, oder Fr. 68. 40 pro Kopf der Bevölkerung gestiegen.
Gegenüber dem Jahre 1897 weist das Jahr 1898 eine Ver-
mehrung der Notencirkulation um Fr. 8,250,000, oder Fr. 2. 50
per Kopf der Bevölkerung auf. Im zehnjährigen Durchschnitt
1881—1890 betrug das Verhältniss zwischen Baarvorrath
und ausgewiesener Cirkulation 53,3 °/0, im fünfjährigen Durch-
schnitt 1891—1895 53,2%, im Jahre 1896 50,3 o/0) im Jahre
1897 50,l°/0 und endlich im letzten Jahre 50,2 °/0.
Die grosse Frage der Bundesbank wird durch die in
den letzten Monaten des Jahres 1899 eingetretene Geld-
knappheit, verbunden mit starker Erhöhung des Zinsfusses
und allerlei Krachgerüchten, besonders in Zürich, nun zu
einer brennenden werden. Sie hängt dermalen bei dem
Ständerath. Bei der Berathung des Geschäftsberichts in dieser
Behörde im Juni d. J. fand eine lebhafte «Valuta-Debatte»
statt, in welcher sich der treffliche Vorsteher des eidg. De-
partements (dem wir nur nicht in seiner ausgesprochenen Vor-
liebe für eine reine Staatsbank beistimmen können) u. a., wie
folgt, vernehmen Hess :
«Eine schweizerische Landesbank werde die Ausgabe der
circulirenden Noten nach den wirklichen Bedürfnissen regliren
und damit am besten dafür sorgen, dass das baare Geld nicht
durch das Papiergeld zum Lande hinausgedrängt werde, und
Verwaltung. Banknoten. Bundesbank. 549
die unnütze und spesenreiche Herumsendung von Baarschaft
im Lande herum von einer Bank zur andern gegen Einlösung
der verschiedenen Notenbanken unter sich würde dadurch
aufhören — das wird genauer bei Berathung des Bankge-
setzes dargethan werden. Künstliche Abhülfe für die gegen-
wärtigen Uebelstände wäre auch in der Weise möglich, wie
Italien sie schuf, das ein Ausfuhrverbot für seine Silber-
scheidemünze erliess, dabei aber gezwungen war, sie nach
dem Einzug erst recht in die Kassen zu verscbli essen. Ein
zweites Mittel wäre der Rücktritt von der lateinischen Münz-
union und Einführung der Goldwährung; dann könnten wir
schweizerische Thaler prägen und im Lande behalten, so viel
uns gut schiene; wir stünden dann aber so isolirt da, wie
Rumänien, und die Frage braucht kaum erörtert zu werden,
ob dadurch unser «Kurs» besser würde oder ob wir nicht
viel mehr einbüssen müssten, als gegenwärtig. Deshalb hat
ausser Herrn Dr. Nationalrath Joos noch niemand diesen
Ausweg beschreiten wollen.
Uebrigens sind neben den zu vielen Banknoten, welche
gegenwärtig beständig in Circulation erhalten werden und
den Abschab des Baargeldes befördern, und neben den Ur-
sachen, die man der Handelsbilanz entnimmt, auch noch die
Bezüge auf unsere schweizerischen Handelsbanken vom Aus-
lande her mit schuld daran, dass fremde Devisen (zur Deckung)
gesucht sind und deren Kurse daher seit geraumer Zeit so
hoch stehen.»
Die reine Staatsbank hat dermalen jedenfalls keine Aus-
sicht auf Erfolg, auch bei dem Ständerathe nicht. Es wird sich
zwar immer um ein mehr oder weniger annäherndes Gebilde han-
deln, das aber dennoch dem juristischen Charakter eines Staats-
instituts möglichst ausweicht und dafür den Anforderungen
der Geschäftswelt an ein solides, gut geleitetes und von po-
litischen Einflüssen möglichst freies Geschäftsinstitut um so
besser entspricht. In dieser Richtung erklärte die konserva-
tive Genfer «Suisse», sie halte das neue Bundesbankprojekt
nur unter zwei Bedingungen für annehmbar: dass die Be-
560 Jahresbericht 1899.
Stimmung wegfalle, wonach die Eidgenossenschaft von vorn-
herein die allfällig nicht gezeichneten Kapitalbetrage der
Kantone oder Privaten übernehmen kann, und dass die Wahl
der Direktoren, statt dem Bundesrath dem Bankrath, and die
Wahl der Kreisdirektoren den Kreiskomites übertragen werde.
Eisenbahnen. Das schweizerische Eisenbahnnetz
hatte bei Beginn des vorigen Jahres 3997 lfe Kilometer Länge,
wovon 2530 den 5 grossen Gesellschaften angehören, die zu-
rückgekauft werden ; bloss 491 Kilometer davon haben
doppelte Spur.
Der Beschluss vom 19. August 1892 über Verstärkung
der schweizerischen Eisenbahnbrücken, welcher nach dem Un-
glück von Mönchenstein gefasst wurde, ist noch immer nicht
ganz durchgeführt; die Bahngesellschaften sollten viel rück-
sichtsloser dazu angehalten werden.
Ebenso steht es mit den Niveau-Uebergängen in den
grösseren Städten, die die Bahnverwaltungen auch möglichst
hinausschieben. Das Rollmaterial steht ebenfalls noch um
10°/0 hinter dem zurück, was der Bundesrath für nöthig
hält. Ebenso ist für das Arbeitsgesetz nach Ansicht der na-
tional räthlichen Kommission über den Geschäftsbericht des
Eisenbahn -Departements eine rücksichtslosere Ausführung
wünschenswerth. Auf dem Netze der schweizerischen Normal-
bahnen, d. h. der 5 Hauptbahnen und 18 normalspnrigen Ne-
benbahnen, befand sich auf Ende 1898 folgendes Rollma-
terial: 876 Lokomotiven (1897: 858), 2215 Personenwagen
(2154), 680 Gepäck- und Postwagen (634) und 11,817 Güter-
wagen (11,090). 221 Postwagen gehören der eidgenössischen
Postverwaltung.
Auf den 1. November 1899 trat für die schweizerischen
Eisenbahnen ein neues Signalreglement und Signalbach in
Verwaltung. Eisenbahnen. 551
Kraft. Dieselben bringen im Gegensatze zu den bisherigen
eine grosse Reihe von Abänderungen und Neuerungen. Bei
der Wichtigkeit, welche der Signaldienst für den ganzen
Eisenbahnbetrieb hat, ist das neue Signalreglement für die
Bisenbahner eine vielbesprochene Erscheinung. Znr Verwen-
dung kommen, wie bisher, optische und akustische Signale.
Die verschiedenen Signalmittel bestehen in grünen, weissen,
rothen und blauen Signalscheiben, Signalflaggen, Tafeln etc.
Diesen Signalen entsprechen Nachts weisse, rothe, grüne, vio-
lette Laternen. Die Signale werden in wechselnder Weise
kombinirt, ausserdem variirt ihre Bedeutung je nach der
bahnlichen Einrichtung, mit der sie im Zusammenhang stehen
(Semaphor, Weichen, Abschlusssignale etc.). Ausserdem wer-
den Signale durch Hornrufe, Armbewegrungen und mit Knall-
erbsen abgegeben. Dazu kommen andere akustische Signale,
die vermittelst Schrillpfeifen, Mundpfeifen, Lokomotivpfeifen,
Laut- und Rasselwerken abgegeben werden. Auch diese Sig-
nale kommen in allen möglichen Kombinationen vor. Das
neue Signalreglement schreibt vor, dass zwar die nöthigen
Signale abgegeben, dabei aber jedes unnütze Signaiiren und
jeder überflüssige Lärm vermieden werden müsse. Diese Vor-
schrift wird von den Anwohnern der Güterbahnhöfe begrüsst
werden. Das Signalbuch enthält 70 Illustrationen, welche
die Vorschriften des Signalreglements in anschaulicher Weise
illnstriren.
Im Sommer wurde zum ersten Male eine 40 Kilometer
lange elektrische Normalbahn, Burgdorf-Thun, er-
öffnet. Eine Menge neuer Bahnprojekte, die Konzession ver-
langen, finden sich im Bundesblatt 1899, Nr. 24, verzeichnet.
Das bedeutendste Ereigniss des Jahres war der Ent-
scheid des Bundesgerichts über die Grundsätze, welche
bei dem Rückkauf der Nordostbahn stattfinden sollen, der
552 Jahresbericht 1899.
natürlich auch auf die anderen zurückzukaufenden Bahnen
influirt. Ein kurzer Bericht darüber in einer ausländischen
Zeitung lautete wie folgt:
«Die Nordostbahn verlangt, dass ihr als Erwerberin der
ehemaligen Nationalbahnlinie dasjenige Anlagekapital ver-
gütet werde, welches die Herstellung dieser Linie selbst ge-
kostet, und nicht bloss der Botrag, welchen sie für den Er-
werb bezahlt hat. Die Rückkaufsbestimmungen der National-
bahn konzession sind ihrem Inhalt nach von den anderen nicht
verschieden. Im Jahre 1878 wurde die zwangsweise Liqui-
dation der Nationalbahn angeordnet. Bei der Versteigerung
wurde die Ostsektion von der Nordostbahn um 3 Millionen
Franken, die Westsektion um 700,000 Fr. erworben. Die
Herstellungskosten für jene hatten sich auf 14 Hill. Fr. und
für diese auf 20 Hill. Fr. belaufen. Nach dem Steigerungs-
geding übernahm der Erwerber die beiden Sektionen auf
Grund der ursprünglichen Konzessionsakte. Die Uebertragung
der Konzessionen wurde, ohne irgendwelchen Vorbehalt zu
machen, genehmigt. Vom Bunde sind nur die Konzessionen
für die Ostsektionslinie Winterthur-Singen und Erz weil er-
Konstanz gekündigt worden. Streitig ist nur der Anspruch
auf Vergütung der ursprünglichen Herstellungskosten von
14 Millionen Franken an Stelle der Versteigerungssurame von
3 Millionen, welch letztere der Bundesrath als Anlagekapital
der Nordostbahn gelten lassen will. Der Referent ist der
Meinung, dass dieser Streitpunkt auf dem Wege der Inter-
pretation der Verwaltungen zu lösen sei. Ein Vorbehalt be-
züglich der Berechnung des Anlagekapitals im Fall des Ver-
kaufs hätte die Streitfrage vermeiden können. Volles Unter-
lassen des Vorbehalts aber bedeutet keinen Verzicht zu
Gunsten der Auslassung der Rekurrent in, wie auch ein Still-
schweigen nur unter besonderen Umständen als Verzicht auf-
gefasst werden kann. Die Situation war beim Uebergang
der Konzession nicht eine derartige, dass ein ausdrücklicher
Vorbehalt hätte gemacht werden können. Betreffs der Bilanz-
aufstellung bestehe kein Zweifel darüber, dass die Linien der
Nationalbahn nur zum Ankaufswerth unter die Aktiva auf-
genommen werden dürfen. Die Nordostbahn habe niemals
Verwaltung. Eisenbahnen. Rückkauf. 553
anders gehandelt, sonst würde sie bei der Erhöhung ihres
Vermögens um 30 Millionen gezwungen gewesen sein, den
Vermögensüberschuss in Form von Dividenden an die Aktio-
näre zu vertheilen, und da ihr keine Gelder znr Verfügung
standen, würde sie selbst in Konkurs gekommen sein. Es
gilt stets nur das, was die Nordostbahn für die Erwerbung
der Anlagen ausgegeben hat. Die Bundesbehörde würde nie,
wenn sie bei Ertheilung einer Konzession oder bei Erlass
eines Gesetzes diese Frage zu lösen gehabt hätte, dieselbe im
Sinne der Ansprüche der Nordostbahn entschieden haben, und
Niemand würde es begreifen, wenn der Bund in demselben
Augenblick, wo er den Garantiestädten der Nationalbahn noch
finanzielle Hilfe angedeihen lässt, der Nordostbahn das volle
Kapital auszahlt, welches für die Gläubiger der Nationalbahn
verloren gegangen ist. Die Znsicheruug der Vergütung des
ursprünglichen Anlagekapitals ist stets als eine Veruiögens-
steigerung aufgefasst worden, und es wird nun und in Ge-
mässheit der Anträge des Bundesraths der Nordostbahn alles
vergütet, was sie selbst ausgelegt hat. Die Mehrheit des
Bundesgerichts schliesst . sich dem Antrag des Referenten an.
Die Minderheit macht geltend, die für die Aufstellung der
Bilanz mnssgebenden Grundsätze und Normen hätten mit den
Rückkanfsbostiuimungen nichts zu thun; die ursprünglichen
Na tionalbahnkon Zessionen seien unverändert auf die Nordost-
bahn übergegangen; die- Rückkaufsbestimmungen bildeten
«•inen notwendigen Bestandteil der Konzessionen. Die Be-
deutung der Konzessionsklausel habe sich dadurch nicht ge-
ändert, dass von der Nordostbahn als Kaufpreis eine ge-
ringere Summe als die Herstellung der fraglichen Linien ge-
kostet hatte, bezahlt worden sei. Es wäre, wenn in Folge
des Erwerbes der Nationalbahnlinie durch die Rekurrentin
bezüglich der Verkaufsbestimmungen eine Aenderung hätte
eintreten sollen, Sache der Bundesbehörden gewesen, bei An-
lass der Ertheilung der Konzessionen einen diesbezüglichen
Vorbehalt zu machen. Da dies nicht geschehen sei, hätten
sie sich die Konsequenzen selbst zuzuschreiben. In der Ab-
stimmung wurde der Antrag des Referenten angenommen und
das Begehren der Nordostbahn abgewiesen. Das weitere Be-
554 Jahresbericht 1899.
gehren der Rekurrenten bezüglich der Berechnung des durch-
schnittlichen Beinertrags im Sinne der Rücksichtnahme auf
die Grösse des Anlagekapitals wird, wie dies bereits gegen-
über der Centralbahn geschehen ist, als unbegründet ab-
gewiesen. Das Gleiche geschieht mit dem Begehren um Ein-
stellung der Zinsen für die konsolidirten Anleihen unter die
Ertragsausgaben der Reinertragsrechnung. Die Anleihen der
Nordostbahn sind durch Verpfändung der Linien gesichert.
Allein für den Bund als Rückkäufer ist dies nach Ansicht
des Bundesgerichts gleich nothwendig und besteht nach dieser
Richtung hin keine Unterscheidung in der Behandlung der
Anleihezinsen der Centralbahn und der Nordostbahn. Auch
der weitere Begehr der Rekurrentin um Abänderung des
Bundesrathsbeschlusses bezw. der Aufstellung der Reinertrags-
rechnung, soweit er mit der Entscheidung des Bundesgerichts
in dem Prozess der Centralbahn im Widerspruch steht, wird
abgelehnt und die Verhandlung einiger Rechtsbegehren unter-
geordneter Natur in das gewöhnliche Civilprozessverfahren
verwiesen. Schliesslich lehnte der Bundesrath noch das Be-
gehren der Nordostbahn ab, dass die von ihr bezahlten Kon-
zessionsgebühren nicht in die Ausgaben der Reinertrags-
berechnung aufzunehmen seien.»
Von der inländischen Presse wurde der Entscheid im
Allgemeinen günstig aufgenommen, besonders auch weil er
gegen die Nordostbahn ging, die schon durch ihren ersten
Präsidenten, Herrn Alfred Escher, eine grosse Summe voa
Missstimmung im schweizerischen Volke gegen sich angehäuft
hatte. Der «Bund» sagte darüber:
«Im Rekurs der Nordostbahn hat die Feststellung der
allgemeinen Grundsätze für den Rückkauf der Eisenbahnen
in der Hauptsache abgeschlossen. Man weiss jetzt, wie Rein-
ertrag und Anlagekapital berechnet werden sollen. Der Ge-
richtshof hat die Anwendbarkeit des Rechnungsgesetzes ver-
neint, im Gegensatz zum Bundesrath, um sich einzig auf die
Konzessionen zu stützen. Wir haben von jeher hervorgehoben,
dass es so oder anders auf das gleiche Ergebniss heraus-
Verwaltung. Eisenbahnen. Rückkauf. 555
kommen müsse, denn das Rechnungsgesetz war ja nur eine
nähere Umschreibung der Konzession. Es war für den Haus-
halt der Bahnen erlassen worden, hatte aber auch den Zweck,
den Rückkauf vorzubereiten und namentlich dessen finanzielle
Tragweite klar zu stellen. Heute darf man sagen, dass die
Berechnungen des Bundesrathes im Grossen und Ganzen
richtig waren und dass sich die Voraussetzungen bewähren
werden, auf Grund welcher das Scbweizervolk die Rückkaufs-
vorlage angenommen hat Der Preis wird den Angaben, die
damals gemacht wurden, ungefähr entsprechen. Das Bundes-
gericht war auch in den meisten Punkten einstimmig oder
nahezu einstimmig; nur in letzter Stunde that sich eine
Streitfrage auf, bei deren Entscheidung das Zünglein der
Wage schwankte. Faktisch handelte es sich um neun oder
zehn Millionen ; denn es ist nur die Ostsektion der ehemali-
gen Nationalbahn zum Rückkauf gekündigt worden, für die
etwa rund 15 Millionen aufgewendet worden waren, während
die ganze Bahn Fr. 33,800,000 gekostet hatte und von der
Nordostbahn um 4,5 Millionen erworben wurde. Die Minder-
heit des Gerichts erklärte nach der eleganten Jurisprudenz,
dass durch die Uebertragung der Konzession, die ohne Vor-
behalt erfolgte, die Nordostbahn den Anspruch auf die Ver-
gütung der Anlagekosten im Rückkaufsfalle erworben habe.
Sie stehe an Stelle der Nationalbahn, die ja unzweifelhaft
heute die Anlagekosten erhalten würde. Immerhin gab auch
Herr Monnier zu, dass im Ergebniss einer solchen Entschei-
dung etwas Stossendes, Peinliches liegen würde. Die schwei-
zerische Presse stellt sich denn auch überwiegend an die
Seite der Mehrheit des Bundesgerichts.»
Das «Vaterland» schreibt : «Wir können mit der Ansicht uns
nicht befreunden, dass ein Entscheid zu Gunsten der Gesellschaft
in diesem Punkte der Billigkeit entsprochen haben würde« Es
mag richtig sein, dass gegenüber dem Bunde eine Unbilligkeit
schliesslich nicht vorgelegen wäre, wenn er die ganzen An-
lagekosten hätte ersetzen müssen ; er hat ja vollständig freie
Hand, die betreffenden Linien anzukaufen oder sie nicht an-
zukaufen. Das Stossende würde aber darin gelegen sein,,
dass die vielen Millionen, welche einstens für Gemeinden und
556 Jahresbericht 1899.
Private in dem unglücklichen Unternehmen der Nationalbahn
verloren gegangen sind, nun heute bei Heller und Pfennig
den Aktionären der Nordostbahn, welche dabei nichts ein-
gebüsst hahen, ersetzt werden miissten, und dass so das Un-
glück jener ehemaligen Interessenten der Nationalbahn heute
zur Quelle übermässiger Bereicherung für unbetheiligte Dritte
würde. Ihr Geld werden nun freilich die Aktionäre und Sub-
venienten der Nationalbahn nicht zurückerhalten; aber sie
werden doch mindestens nicht in die Lage kommen, als
Bürger des Landes und eventuell als Steuerzahler das, was
sie selbst verloren haben, nochmals an andere mitersetzen zu
helfen. Der öffentlichen Meinung wird es zur Beruhigung
gereichen, wenn dieses heute nicht zur Thatsacbe wird.>
Die «Neue Zürcher Zeitung» sagt: «Dass aber Gründe
-der Billigkeit den gefallenen Entscheid wohl begreiflich er-
scheinen lassen, wird man gewiss zugestehen müssen. Es
wäre keine angenehme Perspektive gewesen, wenn der Bund,
der ja den infolge Liquidation der Nationalbahn finanziell
schwer bedrängten Gemeinwesen beisprang und sich dadurch
Opfer aufgeladen hat, nun verpflichtet worden wäre, der
Nordostbahn das von jenen Gemeinden verlorne Geld zu er-
setzen. Man mag in guten Treuen die unterlegene Ansicht
juristisch für mindestens ebenso richtig erklären, wie die-
jenige, die für den gefällten Entscheid ausschlaggebend war.
Dass das gesprochene Urtheil der Billigkeit in diesem Punkte
zuwiderlaufe, wird man gleichwohl nicht behaupten können
mit Rücksicht darauf, dass die Nordostbahn zwar durch den
Nationalbahn ankauf kein lukratives Geschäft erzielte, aber
doch ihre Selbstkosten — soweit die betreffende Linie über-
haupt zum Rückkaufe gelangt — vergütet erhält. >
Im Ausland waren die Stimmen verschieden, je nachdem
die Zeitungen die Stimmung der Börsenspekulanten wieder-
gaben, die mit uns gerne ungefähr so verfahren würden, wie
die Goldminenspekulanten mit der Transvaalrepublik, oder
ein billiges unparteiisches Urtheil hatten. Einige der schlim-
meren Börsenzeitungen in Deutschland äusserten sich wie
folgt :
Verwaltung. Eisenbahnen. Rück kauf. 55?
cFrankfurter Zeitung»: «Der neueste Rückgang der
schweizerischen Eisenbahnaktien hat hier wieder hochgradig
verstimmt, um so mehr, als sich dieser Besitzstand in Deutsch-
land wieder erweitert hatte. Seit dem Beginn der berüch-
tigten Verstaatlichungs-Aera in der Schweiz hätte das Aus-
land doch eigentlich an unerfreuliche Ueberraschungen seitens
der schweizerischen Spekulanten gewohnt sein sollen, aber
man gab sich hier der Hoffnung hin, dass den Aktionären
wenigstens ein Beruhigungspflaster aufgedruckt werden würde.
Wenn die Schweiz statt dessen auf ihrem Schein besteht,
d. h. auf den Rechten, die sie erst durch ad hoc geschaffene
Gesetze sich selbst gewährt hat, so werden wahrscheinlich
dem hiesigen Markte die dadurch erlittenen Kapitalverluste-
lange genug in der Erinnerung bleiben, dass man im Falle
eines künftigen Geldbedarfs der Schweiz diese Behandlungs-
weise des fremden Kapitals hier nicht vergessen haben wird.»
«Die Entscheidungen des Lausanner Gerichtshofes sausen
wie Keulenschläge auf die Aktionäre der schweizerischen
Bahnen hernieder. Das allgemeine Rechtsgefühi wird sich
gegen die Entscheidung des schweizerischen Bundesgericht a
empören, die man allgemein als eine Beugung des Rechts zu
Gunsten der schweizerischen Staatsinteressen beurtheilcn und
die das frühere so hochstehende Ansehen der schweizerischen
Rechtsprechung auf das äusserste herabsetzen wird.»
Der «Berliner Actionair»: «Der weitere Kurssturz der
schweizerischen Bahnaktien lenkte das Hauptinteresse der
Spekulation auf sich, denn die in kapitalfeindlichem Sinne
gefassten Beschlüsse des schweizer. Bundesgerichtes in Sachen
der Rekursfrage der Centralbahn verstimmten dermassen, dass
ein ungewöhnlich starkes Angebot in den Aktien aller
schweizerischen Bahnen zu Tage trat, eine Geschäftsbewegung,
die Anfangs eine schwierige Preisfeststellung im Gefolge
hatte. Der geradezu ungeheuerliche Beschluss des Gerichts,
den Bestimmungen für den Erneuerungsfonds und den Rein-
ertrag rückwirkende Kraft zu verleihen, rief lebhafte Ent-
rüstung hervor, da es sich hierbei offenbar um eine ziel-
bewusste Vergewaltigung der Aktionäre handelt, die in letz-
ter Zeit oft unliebsame Erfahrungen mit der Betheiligung au
•558 Jahresbericht 1899.
schweizerischen Unternehmungen gemacht haben. Die Miss-
stimmung resultirte auch daraus, dass vor kurzem, nament-
lich von Bern und Frankfurt aus, kräftige Anstrengungen
gemacht worden sind, auf Grund der seitens deutscher Ge-
lehrten über die Rückkaufsfrage erstatteten Rechtsgutachten
die Aufwärtsbewegung der Kurse mit willkürlichen Ertrags-
berechnungen in Fluss zu bringen, wobei man angeblich zu-
verlässige Informationen über die Absichten des Bundesrates
verbreitete und erzählte, dass schweizerische Gross-Speku-
lanten mit umfassenden Meinungskäufen vorgegangen seien,
die anscheinend rechtzeitig realisirt worden sind. Dieses
Börsenspiel hat sich im Laufe der letzten Jahre mehrfach
wiederholte
Diese Urtheile bezogen sich übrigens im Wesentlichen
schon auf die früheren Gerichtsbeschlüsse gegen die Central-
bahn. Die Herren Spekulanten werden sich wohl allmählig
in ihr beklagenswertes Schicksal zu ergeben haben.
Die Finanzirung desEisenbahnrückkaufs begann
nach vorheriger Berathung durch eine technische Kommission
mit der Genehmigung eines ersten Eisenbahnanleihens bis auf
den Betrag von 200 Millionen. E. G. S. XVII, 200.
Uebrigens hofft man die jetzigen Eisenbahnobligationen
grossentheils gegen eidgenössische $l\z0lo Obligationen, die
15 — 20 Jahre lang unkündbar sein würden, eintauschen zu
können. Die ganze Rückkaufsumme beträgt 1021 Millionen
Franken, den Simplonbau nicht inbegriffen.
Ueber die Verhandlungen betreffend den freihändigen An-
kauf der Centralbahn wird folgendes bekannt :
«Nous avons dit que dans les nägociations pour le rachat
ä l'ainiable du Central le prix offert par le Departement des
chemins de fer ätait de 680 fr. par action, payables au 1er
janvier 1901. L'actionnaire percevrait encore les dividendes
de 1899 et 1900, 6valu6s chacun ä 50 fr., ce qui releve le
prix de l'action ä environ 740 fr., Chiffre voisin des cours
actuels.
Verwaltung. Eisenbahnen. Simplem. Internationales. 559
D'aatre part, le message da Conseil föderal ävaluait ä
543 fr. 10 la valear de rachat de l'action du Central, valeur
qui serait portöe ä 576 fr. par les döcisions dejä intervenues
du Tribunal föderal. L'offre d'un prix notablement superieur
ä 068 6valnations est subordonnee ä la condition que la com-
pagnie rachetöe aeeeptera en paiement des obligations föde-
rales W*.
Jusqn'ä präsent les conseils du Central n'ont rien eon-
clu. Les pourparlers ont etä interrompus parce que les ne-
gociateurs de la compagnie n'ont pas admis les chiffres du
Departement pour les travaux de parachevement et l'ävalua-
tion de la rooins-value.» (Lausanner Zeitung.)
In Bezug auf die Simplon-Bahn fand im September in
Bern eine Verständigung mit Italien über die interna-
tionale Station in Domo d'Ossola statt, mit vorläufig
folgenden Vereinbarungen :
«Der internationale Bahnhof wird, gemäss der Natur
der Dinge, in Domo d'Ossola sein, wo die Uebergabe der
Bahnzüge erfolgt, und wo der Post- und Telegraphendienst,
sowie der Dienst der G-esundheitspolizei bei der Station ein-
gerichtet wird« Was den Zolldienst betrifft, so wird derselbe
getheilt: Das italienische Zollamt wird in Domo d'Ossola,
das schweizerische Zollamt für Frachtgut und Eilgut in Brig
sein. Nur die schweizerische Verzollung der aus Italien
kommenden Poststücke und Fahrpostgegenstände und des
Reisendengepäcks hat, im Interesse der Raschheit des Ver-
kehrs, in Domo d'Ossola zu geschehen. Durch besondere,
zwischen den beiden Staaten vor der Betriebseröffnung der
Linie abzuschliessende Vereinbarungen sollen diese verschie-
denen Dienstzweige, und durch Verträge zwischen den schwei-
zerischen und italienischen Eisenbahnverwaltungen die Ver-
bindung der Netze und der Betrieb der Linie Brig-Domo
d'Ossola näher geordnet werden. Die Konferenz hat endlich
auch die Bestimmungen eines Staatsvertrages festgestellt,
560 Jahresbericht 1899.
et
o
welcher den Regierungen beider Staaten zur Genehmigun
unterbreitet werden soll.»
Die «Eisenbahner» hielten einen Verbandtag in
Ölten behufs Feststellung der Bedingungen und Forderungen»
welche die Eisenbahner bei Uebergang der Bahnen an den Staat
zu stellen für nöthig finden. Es sollen alle volljährigen Personen
bis zum 40. Altersjahr, welche wenigstens ein Jahr im Dienste
der Bahnen und Werkstätten stehen, vertraglich angestellt
werden. Die Lohnverliältnisse sind einheitlich zu regeln und
zu verbessern. Eine Beschwerdeinstanz soll geschaffen werden.
Von internationalen Eisenbahn Verhältnissen
ist besonders bemerkenswerth einerseits die Zunahme in der
Verwendung der Elektrizität für die Bewegung, andererseits
diejenige des flüssigen Heizmaterials. Ein Artikel
der A. Z. sagt darüber u. a.
«In neuerer Zeit schenkt die Feuerungstechnik einem
flüssigen Heizmaterial, den bei der Leuchtöldestillation aus
dem Eohpetroleum als Abfallstoffe gewonnenen Schwerölen,
wachsende Beachtung.
Die Vortheile der Petroleumfeuerung liegen im hohen
Heizwerth des Brennmaterials, in seiner bequemen Lagerung
und in der Form der Heizung. Der Heizeffekt des Petroleums
übertrifft den der Steinkohle nicht unwesentlich. Der lästige
Aschenfall verschwindet. Wichtiger ist das Fehlen des Bau-
ches bei der Petroleumfeuerung, die sich dadurch für viele
Industrien, zumal für die Porzellanfabrikation, für Tunnel-
und Untergrundbahnen, für Stadtbahnen und für Torpedo-
boote empfiehlt. Das Nachfüllen des Brennmaterials geschiebt
automatisch ; dadurch wird an Arbeitskräften gespart und die
auf Schiffen so schwere Heizerarbeit überflüssig. Zugleich
fällt das bei der Planrostfeuerung zum Zweck der Kohlen-
aufschüttung nothwendige Aufmachen der Feuerthür, mit dem
stets ein Einströmen kalter Luft, also ein Wärmeverlnst
verbunden ist, fort, was auch dazu beiträgt, den Heizeffekt
zu erhöhen. Ferner zeichnet sich die Petroleumfeuerung durch
Verwaltung. Subventionen. 561
leichte Regali rbarkeit und grosse Sauberkeit aus. Da der
Heizwerth des Petroleums grösser als der der Kohle ist, so
kann der Raum zum Lagern des Brennmaterials kleiner sein,
was für Lokomotiven und Dampfer von Werth ist. Bei den
Schiffen kommt noch das Angenehme hinzu, dass man das
flussige Petroleum iu eckigen Räumen im Schiffsbauche, die
sonst schlecht zu verwerthen sind, bequem unterbringen kann,
also an Raum für Menschen und Frachtgüter gewinnt.»
Wie der russische Minister des Verkehrswesens, Fürst
Chilkow, in der Versammlung der internationalen Eisenbahn-
verwaltungen erklärte, wird man nach Vollendung der si-
birischen Bahn die Reise um dieWelt in 33 Tagen machen
können. Fürst Chilkow legt seiner Behauptung die folgende
Berechnung zu Grunde. Von Bremen nach St. Petersburg
per Bahn in l1/« Tagen, von St. Petersburg nach Wladiwo-
stok per Bahn mit einer Geschwindigkeit von 48 km in der
Stunde 10 Tage, von Wladiwostok nach San Francisco über
den Stillen Ozean 10 Tage, von San Francisco nach New-
York 4'/2 Tage, von New- York nach Bremen 7 Tage, zu-
sammen also 33 Tage. Gegenwärtig schätzt man die kürzeste
Zeitdauer zu einer Reise um die Erde wie folgt : Von New-
York nach Southampton 6 Tage, von Southampton nach Brin-
disi über Paris 3i/2 Tage, von Brindisi nach Yokohama durch
den Suezkanal 42 Tage, von Yokohama nach San Francisco
10 Tage, von San Francisco nach New- York 4^2 Tage, zu-
sammen 66 Tage, also genau die doppelte Zeit.
Ueber die Subventionen ist zunächst folgendes Sta-
tistische zu berichten :
In der Periode 1899 bis 1908 gelangen für Flusskorrek-
tionen und Wildbachverbauungen 44 bewilligte Subventionen,
die sich auf 17 Kantone vertheilen , zur Ausgabe. Die Ge-
sammtkostensumme für alle diese Arbeiten, inbegriffen die
36
562 Jahresbericht 1899.
Kosten für die Schutzbauten an Wild wassern im Hochgebirge,
die sich bis 1908 auf Fr. 4,345,751. 33 belaufen werden, wird
bis zum nämlichen Zeitpunkte Fr. 14,184,136. 12 betragen.
Hiezu kommen noch Fr. 1,831,933 für Strassenbauten, so
dass die Totairestanz auf 1. Januar 1899 die Höhe von Fr.
20,361,720. 45 aufweist.
Der Jahresbericht der Konstanzer Handelskammer hält
es an der Zeit, das Projekt einer Korrektion des Rheins von
Basel bis Konstanz, dessen Verwirklichung nach der voraus-
sichtlich in absehbarer Zeit stattfindenden Reguli rung des
Rheinbettes von Mannheim bis Strassburg und weiter bis
Basel einen Durchgangsverkehr von Rotterdam bis Konstanz
und Bregenz ermöglichen würde, ernstlich in's Auge zu
fassen und mit den dafür notwendigen Vorarbeiten zu be-
ginnen. Die wirthschaftlichen Vortheile einer solchen Anlage,
heisst es in diesem Berichte, seien so einleuchtend, nament-
lich für die Handels- und Industrieverhaltnisse des Konstanzer
Bezirks, dass es eines erschöpfenden Hinweises darauf kaum
bedürfe. Es genüge, die Verbilligung der Frachten, die Stei-
gerung des Werthes der an dem regulirten Rhein gelegenen
Grundstücke und die günstige Gelegenheit zur Errichtung in-
dustrieller Anlagen hervorzuheben.
Eine Motion Bossy, welche im Nationalrath am 12.
Dezember 1898 behandelt wurde, verlangt :
Es sollen Untersuchungen über die in der Schweiz vor-
handenen Mineralien vorgenommen werden, um schliesslich
eine Art Karte, oder ein Grundbuch darüber zu erstellen.
Der Bund gibt vorderhand eine Subvention von Fr. 5000
an diese Arbeiten und zwar von 1899 ab, um die ersten Ar-
beiten zu ermöglichen.
Für solche Karten werden übrigens schon seit Jahren
jährlich 10,000 und jetzt 15,000 Franken ausgegeben, es ist
Verwaltung. Subventionen. 563
aber bloss eine rein wissenschaftliche Arbeit. Die jetzige
Unterstützung soll mehr praktischer Natur sein, um der In-
dustrie zu dienen.
Für die Verbauungen des Sasso Bosso bei Airolo und
ebenso für die Simmi und den Grabserbach wurden mit Recht
trotz der Finanzrücksichten, die augenblicklich Sparsamkeit
empfehlen, 50<>/0 Subvention bewilligt.
Eine grosse technische Frage, die gerade gegenwärtig
obwaltet, ist die der Verbauung mit Holz, mittelst Pfahl-
bauten, die von Ingenieur Schindler in Basel befürwortet
wird und thatsächlich zum Theil bei der Lammbach-Rüfe an-
gewendet wurde. Das Blatt «Oberland» berichtete darüber:
«Das Regenwetter vom 3. und 4. Februar (1897) hat die
hiesige Bevölkerung zu grosser Besorgniss erregt. Man be-
fürchtete, der Lammbach könnte neue Stösse herunterbringen,
und wären solche heruntergegangen, so hätten sie an der in
Arbeit befindlichen Thaisperre grossen Schaden angerichtet,
wenn nicht Grossmann obenher das * Pfahlbausystem» ange-
wendet hätte , welches er letzten Herbst bei Hrn. Schindler
gelernt hat. Durch dieses Pfahlwerk sind sämmtliche Stösse
Aufgehalten worden.»
Herr Schindler fugt in einem Artikel der A. Seh. Z. bei:
«Was die Fäulniss des Holzes und die Verwüstung des
Waldes durch Pfahlbau betrifft, so können diese Schreck-
männchen vielleicht dem grossen Publikum, aber nicht dem
Sachkenner bange machen-
Es sind mir Fälle bekannt, in denen schlechte Tannen-
holzpfahlbauten seit 30 Jahren noch nicht den geringsten
Defekt zeigen, sondern theilweise auch an der Oberfläche noch
gesunden Stand des Holzes vorweisen. Wer aber so prä-
tentiös sein will, nur mit Jahrtausenden sich zufrieden zu
geben, der kann bei mir Pfahlspitzen sehen, welche 2000
Jahre in der Erde gestanden haben und noch so hart sind,
<lass die kleinsten Gegenstände daraus gedreht und polirt
werden können. Mehr dürfte auch der unbescheidenste Pfahl-
baugegner kaum fordern.»
564 Jahresbericht 1899.
Die Hauptsubventionsfrage ist immer die der Unter-
stützung der Volksschule durch den Bund. Der vom
Bundesrath in seiner Sitzung v. 21. März festgestellte Entwurf
eines Bundesbeschlusses betreffend die Unterstützung der öffent-
lichen Primarschule durch den Bund lautet : «Art. 1. Zur Un-
terstützung der Kantone in der Aufgabe, für genügenden
Primär Unterricht zu sorgen, werden denselben aus Bundes-
mitteln Beiträge geleistet. — Art. 2. Die Bundesbeiträge
dürfen nur für die öffentliche staatliche Primarschule (mit
Einschluss der obligatorischen Ergänzungs- und Fortbildungs-
schule) verwendet werden, und zwar ausschliesslich zu fol-
genden Zwecken : 1. Errichtung neuer Lehrstellen zum Zwecke
der Trennung zu grosser Klassen und der Erleichterung des
Schulbesuches; 2. Bau neuer und wesentlicher Umbau be-
stehender Schulhäuser ; 3. Einrichtung von Turnplätzen und
Anschaffung von Turngeräthen ; 4. Aus- und Fortbildung von
Lehrkräften; 5. Aufbesserung von Lehrerbesoidungen und
Ruhegehalte; 6. Anschaffung von Lehrmitteln; 7. unentgelt-
liche Abgabe von Schulmaterialien an die Schulkinder; 8.
Nachhülfe in Ernährung und Kleidung armer Schulkinder
während der Schulzeit ; 9. Erziehung schwachsinniger Kinder
in den Jahren der Schulpflicht. — Art. 3. Die Beiträge des
Bundes dürfen keine Verminderung der durchschnittlichen
ordentlichen Leistungen der Kantone (Staats- und Gemeinde-
ausgaben zusammengerechnet) in den letzten fünf Jahren
zur Folge haben. — Art. 4. Für die Periode der nächsten
fünf Jahre, beginnend mit — , wird zu genanntem Zwecke
eine jährliche Summe von 2,000,000 in das Budget einge-
stellt. Diese Summe kann, wenn die Finanzlage des Bundes
es gestattet, je für eine Periode von fünf Jahren auf dem
Budgetwege erhöht werden. — Art. 5. Als Grundlage zur
Bestimmung der Jahreskredite für die Kantone wird die
Wohnbevölkerung derselben nach der letzten eidgenössischen
Volkszählung angenommen. Der Einheitssatz zur Berechnung
des Jahreskredites beträgt für jeden Kanton sechzig Rappen
auf den Kopf der Wohnbevölkerung. In Berücksichtigung der
besondern Schwierigkeiten ihrer Lage wird den Kantonen
Uri, Schwyz, ObwaJden, Nidwaiden, Appenzell I.-Rh., Grau-
Verwaltung. Subventionen. 565
banden, Tessin und Wallis eine Zulage von zwanzig Rappen
auf den Kopf der Wohnbevölkerung gewahrt. — Art. 6. Die
Organisation und Leitung des Schulwesens bleibt Sache der
Kantone. Es steht jedem Kanton frei, die Subventionssumme
in Anspruch zu nehmen oder auf dieselbe zu verzichten. —
Art. 7. Die Kantone, welche die Subvention in Anspruch
nehmen, haben dem Bundes rat he eine Darlegung der beab-
sichtigten Verwendung des Bundesbeitrages im nächsten Rech-
nungsjahre zur Prüfung und Genehmigung einzureichen. Es
ist dem Ermessen der Kantone anheimgestellt, für welchen
oder welche der in Art. 2 genannten Zwecke sie den Bundes-
beitrag bestimmen wollen. Die Verwendung des Bundesbei-
trages zur Ansammlung von Fonds ist nicht zulässig. Eben-
sowenig ist Uebertragung eines Subventionskredites auf ein
folgendes Jahr zulässig. — Art. 8. Der Bund wacht darüber,
dass die Subventionen den genehmigten Vorschlägen gemäss
verwendet werden. Die Ausrichtung der Subventionen erfolgt
auf Grund eines von den Kantonen einzureichenden Berichtes
und nach Genehmigung der Rechnungsausweise durch den
Bundesrath. — Art. 9. Der Bundesrath erlässt die. erforder-
lichen Ausfuhrungsbestimmungen. — Art. 10. Die Bundes-
versammlung ist befugt, Aenderungen in der Bestimmung des
Einheitssatzes und der Zulage (Art. 5) nach Ablauf der er-
sten fünfjährigen Subventionsperiode von sich aus zu be-
schliessen. — Art. 11. (Referendumsvorbehalt.)>
Die Frage der Verfassungsmässigkeit eines solchen Be-
schlusses ist von dem Herausgeber des Jahrbuchs in einem
Gutachten an das eidgenössische Departement des] Innern be-
jaht worden, welches wir mit dessen Genehmigung in den
Beilagen dieses, oder des nächsten Jahrbuches abdrucken
werden.
Im verwichenen Sommer haben die Vorsteher der Er-
ziehungsdepartemente der Kantone Bern, Freiburg, Waadt,
Wallis, Neuenburg und Genf dem Bundesrathe das Gesuch
um finanzielle Mithilfe des Bundes für die Herausgabe eines
Wörterbuches der Mundarten der romanischen
666 Jahresbericht 1899.
Schweiz eingereicht and demselben sowohl ein Programm
über das Unternehmen als einen Voranschlag über die jähr-
lichen Koston desselben angeschlossen. Aus ersterm geht hervor,
dass den Gesuchstellern, welche das interkantonale Verwal-
tungscomite bilden werden, sowohl ein tüchtiger wissenschaft-
licher Leiter des Werkes als die nöthigen fachmännischen Mit-
arbeiter aus den Kreisen der Sprachgelehrten der romanischen
Schweiz zur Verfügung stehen. Die jährlichen Kosten sind für
den Anfang auf Fr. 11,000 veranschlagt, wovon man einen be-
trächtlichen Theil durch Beiträge der romanischen Kantone
zu decken hofft. Da das Unternehmen, abgesehen von dem
Vorgange in der deutsch sprechenden Schweiz, von verschie-
denen wissenschaftlichen Gesichtspunkten aus sehr zu be-
grüssen ist, hat der Bundesrate nicht Anstand genommen,
ihm die Unterstützung des Bundes in Aussicht zu stellen und
zu diesem Zwecke für 1899 einen Kredit von Fr. 5,000 aus-
zusetzen. Derselbe ist für den Anfang des Unternehmens
berechnet; für später wird es einer Erhöhung des Beitrages
bedürfen*
Schulwesen. Gewerbliches Bildungswesen. Für die
industrielle und gewerbliche Berufsbildung der Schweiz hat
der Bund im vergangenen Jahre eine Summe von Franken
712,535 in Form von Beiträgen an 226 Bildungsanstalten
aufgewendet. Ferner wurden Fr. 15,135 anderweitige Sub-
ventionen an Fachkurse u.dgl. verabfolgt, sowie Fr. 108,766
au 124 Anstallen für weibliche Berufsbildung.
Während die Zahl dieser Anstalten im Jahre 1884, in
dem zum ersten Mal Bundesbeiträge an die ständigen An-
stalten für gewerbliche und industrielle Berufsbildung aus-
gerichtet wurden, noch 43 betrug, so ist die Zahl derselben
schon im nächsten Jahre auf 86 gestiegen und hat von da
Verwaltung. Schulwesen. 567
an Jahr für Jahr zugenommen, von 1894 auf 1895 sogar um
18 Schulen. Die Bundesbeiträge betragen für die Perlode
von 1884—1898 Fr. 5,833,433. 03, während alle anderweitigen
Unterstützungen Fr. 12,521,408. 84 ausmachen, bei Franken
2 1 ,764,854 Gesammtkosten.
Zu den einzelnen Anstalten übergehend, bemerken wir,
dass der Kanton Baselstadt drei solche besitzt, nämlich die
< Allgemeine Gewerbeschule», das «Gewerbemuseum» und das
«Historische Museum». Sie erhielten zusammen Fr. 49,578
aus der Bundeskasse, an weicher Summe die Gewerbeschule
allein mit Fr. 35,090 partieipirt. Von den 32 Anstalten des
Kantons Bern erhielten u. A. das «Westschweizerische Tech-
nikum» in Biel Fr. 37,783 und die «Lehrwerkstätten der
Stadt Bern» Fr. 21,371. Der Kanton Zürich weist 33 Be-
rafsbildungsinstitute auf. Die «Gewerbeschule der Stadt
Zürich» hat pro 1898 Fr. 58,000 Bundesbeitrag erhalten,
gegenüber Fr. 65,000 pro 1897, und das «Kantonale Tech-
nikum» in Winterthur Fr. 54,100. Der Kanton St. Gallen
besitzt 30 Institute, meistens gewerbliche Fortbildungsschulen,
wahrend im Kanton Tessin 18 Zeichenschulen mit zusammen
Fr. 25,000 unterstützt wurden. Die Kantone Uri und Appen-
zell I.-Rh. weisen je nur eine solche Bildungsanstalt auf, die
Kantone Luzern und Schaffhausen deren je zwei. Der Kan-
ton Appenzell A.-Rh. hat deren 11 und die Kantone Neuen-
bürg und Genf endlich jeder drei Institute.
Was die weibliche Berufsbildung anbelangt, so wurden
pro 1898 eine Reihe von Schulen und Kurse für die haus-
wirthschaftliche und berufliche Bildung des weiblichen Ge-
schlechts vom Bunde finanziell unterstützt. In Frage kommen
hiebei 17 Kantone mit im Ganzen 124 Anstalten, für die vom
Bunde Fr. 108,766 ausgelegt wurden, gegenüber Fr. 84,837
in den Jahren 1896/97. Die grösste Zahl von weiblichen
568 Jahresbericht 1899.
Fortbildungsschulen weist der Kanton Thurgau auf mit 28.
Ihm folgt der Kanton Zürich mit 17 Schulen. Der Kanton
Baselstadt hat zur Zeit deren drei, die vom Bande Beitrage
erhalten, und die alle von wichtiger Bedeutung sind. Es
sind dies die «Kochkurse der Mädchensekundarschule», die
«Kochschulen der Kommission für Fabrikarbeiterverhältnisse»
und die «Frauenarbeitsschule», welch letztere einen Bundes-
beitrag von Fr. 25,802, gegenüber Fr. 19,205 pro 1897, er-
halten hat. Es ist dies die grösste Subvention, die ausbezahlt
wurde, — ein Beweis, dass die Behörde die hohe wirtschaft-
liche Bedeutung dieses Institutes anerkennt. Der «Kochkurs
der Mädchensekunderschule» erhielt Fr. 1740. Im Kanton
Baselland bestehen in Liestal, Gelterkinden und Sissach der-
artige Anstalten, und zwar je eine in den genannten Ort-
schaften. Von den übrigen Haushaltungsschulen erhielt die
«Töchter-Fortbildungsschule» in Winterthur Fr. 6838, die
«Schweiz. Fachschule für Damenschneidern und Lingerie»
Fr. 10,000 und die «Frauenarbeitsschule» in St. Gallen Fr.
6890 Unterstützung.
Zu ihrer weiteren Ausbildung erhielten 20 Lehrerinnen
und Lehramts-Kandidatinnen für weibliche Berufsbildung Sti-
pendien im Betrage von Fr. 2300.
Nach dem Voranschlag von 1899 hat der Bund für dieses
Jahr zu Bildungszwecken folgende Ausgaben : Gewerbliche
und industrielle Berufsbildung Fr. 859,000 (1898 : Fr. 778,000),
Hauswirthschaftliche und berufliche Bildung des weiblichen
Geschlechts Fr. 169,000 (Fr. 120,000), kommerzielles Bil-
dungswesen Fr. 248,000 (212,000). — Departement des Innern:
Historische Arbeiten Fr. 68,300.(59,300), Geschieh tsforschende
Gesellschaft Fr. 40,000, Geodätische Kommission Fr. 15,800,
Geologische Kommission Fr. 15,000, Naturforschende Gesell-
schaft Fr. 4,700 (3200), deutsch-schweiz. Idiotikon Franken
Verwaltung. Schulwesen. 569
10,000, Schweiz, statistische Gesellschaft Fr. 6000, Zeit-
schrift Ripertorio di Giurisprudenza Fr. 1000, Erhaltung histo-
rischer Kunstdenkmäler Fr. 58,990, Bibliographie der Landes-
kunde Fr. 4000, Kurs für Mädchen turniehrer Fr. 1500, Wör-
terbuch der romanischen Mundarten Fr. 5000 (zusammen
125,900), Landesbibliothek Fr. 88,600 (58,500), Hebung der
Kunst Fr. 100,000, Jahrbuch des Unterrichtswesens Fr. 3000
(4000), Decurtins' räto-romanische Chrestomathie Fr. 2000.
Im Mai wurde die Handelsakademie in St. Gallen
eröffnet. Die Anstalt ist bekanntlich ein Unternehmen des
Kantons, unter Mitwirkung der Stadt StGallen, des kaufmänni-
schen Direktoriums und der Eidgenossenschaft. Oberste Auf-
sichtsbehörde ist der Regierungsrath. Das Institut zerfällt
in eine Handelsakademie mit den beiden Abtheilungen «höhere
Schule für Handel und Verwaltung» und «Freifächer und
Vorlesungen» und in eine Verkehrsschule, deren erste Ab-
theilung dem Post-, Telegraph-, Telephon- und Zollwesen und
deren zweite Abtheilung dem Eisenbahndienst gewidmet ist.
Die Handelsakademie bezweckt die höhere Ausbildung von
angehenden Kaufleuten und Verwaltungsbeamten in allge-
meiner und speciell beruflicher Beziehung. Sie enthält zu
diesem Behufe für die Kauflente zwei festgeordnete obliga-
torische Jahreskurse mit bestimmtem Unterrichtsplan; dieser
wird durch die ebenfalls planmässig vorgesehene Benutzung
der Freifächerabtheilung ergänzt. Die Verkehrsschule be-
zweckt die Ausbildung von Post-, Telegraphen-, Telephon-,
Zoll- und Eisenbahnbeamten sowohl in allgemeiner als in
speciell fachlicher Beziehung. Die Unterrichtsprogramme für
diese Abtheilungen sind in Verbindung mit Praktikern auf-
gestellt worden. Als Minimalalter für den Eintritt in die
Eisenbahnschule ist das Alter von 14 V2 Jahren festgesetzt.
Gegenwärtig sind überhaupt die Handelsschulen an
570 Jahresbericht 1899.
der Tagesordnung. Solche wurden (nach dem stenographischen
Bericht des zweiten Congresses für das kaufmännische Unter-
richtswesen in Deutschland) in Bussland schon 1773 und 1804
und seither noch mehrere gegründet. In Finnland allein gibt
es dermalen 8 solche. In Italien sollen über 60,000 Schüler
solche technische und industrielle Schulen besuchen, wozu
wir ein kleines Fragezeichen machen. Deutschland zählt 63
Handelslehranstalten mit 5681 Zöglingen, Österreich-Ungarn
fast 12,000. Offenbar Bind aber in diesen statistischen An-
gaben verschiedene Schulen und Schulstufen zusammenge-
stellt. Eigentliche Handelsakademien bestehen unseres Wissens
bisher nur in Leipzig für Deutschland, in Antwerpen für
Belgien und vielleicht fortan in St. Gallen für die Schweiz.
In London besteht eine Privatanstalt «the London school of
economics and political science», die mit Unterstützung der
Londoner Handelskammer errichtet worden ist. Dazu kommt
noch die «österreichische Export- und Kolonial-Akademie in
Wien», die 1897 aus Anlass des Regierungsjubiläums des
Kaisers gegründet worden ist. Alle diese eigentlichen Aka-
demien sind mehr oder weniger hochschulmässig organisirt.
Die Konferenz der schweizerischen Erziehungs-
direktoren, welche am 19. Februar in Zürich stattfand, reprft-
sentirte alle Kantone, mit Ausnahme von Uri, Schwyz, Luzern,
Tessin und Freiburg. Das Traktandum der Herausgabe eines
Schalatlasses fürLehrerseminarien, Kantonsschulen und sonstige
höhere Lehranstalten wurde an eine Kommission gewiesen,
welcher zu den nöthigen Vorarbeiten ein Kredit von 2500
Franken bewilligt wurde. Im Ferneren nahm die Konferenz
ein provisorisches organisatorisches Regulativ für die Kon-
ferenzen an. In der Maturitätsfrage wurden die Anträge der
Kommission angenommen, die in der Hauptsache dabin gehen,
dass das Griechische als fakultatives Fach bei den Maturi-
Verwaltung. Schulwesen. 571
täten zu betrachten sei und an dessen Stelle neben dem La-
teinischen eine neuere Sprache treten könne. Ferner soll ein
Eingreifen der eidgenössischen Prüfungskommission in die-
kantonalen Maturitätsexamen nicht gestattet sein. Ein Po-
stulat des Referenten Dr. Gobat, die Geographie bei den
Maturitätsprüfungen als selbstständiges Fach aufzunehmen,
wurde gutgcheissen und eine Anregung aufgenommen, dass
die Thierärzte die volle Maturität zu bestehen haben. Diese
Punkte sollen jedoch nur als Vernehmlassung der Konferenz
an die Erziehungsbehörden der Kantone betrachtet werden.
Als Ort der nächsten Konferenz wurde St. Gallen bestimmt.
Sie soll im Herbste unter dem Vorsitze von Erziehungsdi-
rektor Kaiser, dem als Beisitzer die Nationalräthe Gobat und
Favon beigegeben Bind, stattfinden. Ferner wurde die Schaffung
eines ständigen Sekretariates beschlossen und als Sekretär
Erziehungssekretär Dr. Huber in Zürich gewählt.
Schweizerische Universitäten und Akademien.
Nach der eben erschienenen Statistik über die Frequenz der
schweizerischen Universitäten und Akademien im Winter 1898/99
haben im ganzen an diesen Anstalten 4438 Studenten und
Zuhörer, davon 937 weibliche, studirt. Darunter waren 2029
schweizerischer Herkunft (82 weibliche). Die Zahl der im-
matrikulirten Studenten betrug 3589 (555 weibliche), die der
Zuhörer 849 (382 weibliche). Von den Immatrikulirten wid-
meten sich der Theologie 323, der Rechtswissenschaft 597
(7 weibliche), der Medizin 1176 (355), der Philosophie 1493
(193). Auf die einzelnen Anstalten vertheilen sich die Stu-
denten wie folgt: Basel 441 (2 weibliche), Zürich 702 (166),
Bern 776 (117), Genf 744 (184), Lausanne 487 (67), Freiburg
322, Neuenburg 17 (19). Diese letztere Akademie bat di&
Absicht sich ebenfalls Universität zu nennen.
Revision der eidg. Maturitätsprüfung. Das eidg.
£72 Jahresbericht 1899.
Departement des Innern hat sich an sämmtüche Erziehungsdirek-
tionen der Schweiz gewandt mit der Anfrage, wie sie sich
zu der vorgehabten Revision der eidgen. Maturitätsordnung
für Medizinalpersonen verhielten. In der Sitzung vom 12.
Juli gab nun der Erziehungsrath des Kantons St. Gallen mit
Bezug auf die ihm vorgelegten Fragen folgende Meinung ab :
1. Die technische Maturität mit einer Nachprüfung im Latein
soll genügen für Apotheker und Zahnärzte, nicht aber für
Aerzte ; 2. für Aerzte wird die Gymnasial-Maturität verlangt
mit dem Griechischen, als obligatorisches Fach, immerhin in
der Meinung, dass davon aus zureichendem Grnnde dispensirt
werden könne; 3. die Geographie soll nicht unter die Ma-
turitätsfächer aufgenommen werden. Auf dieselbe bezügliche
Fragen mögen beim Examen in verwandten Lehrfächern ge-
stellt werden.
Unter dem Vorsitz des Herrn Dr. Schmid, Direktor des
eidgenössischen Gesundheitsamtes, wurde eine Versammlung
von Schulmännern, Aerzten, Technikern und Vertretern von
Behörden behufs Gründung einer schweizerischen Gesellschaft
für Schulgesnndheitspf lege in Ölten abgehalten. Anwesend
waren 35 Mann, als Vertreter von 13 Kantonen. Ausserdem
waren zahlreiche Zustimmungen ans den nicht vertretenen
Kantonen eingelangt. Das vorgelegte Organisationsstatnt
wurde durchberathen und das Tagesbureau mit den weiteren
Anordnungen betraut, um im Laufe dieses Jahres die kon-
«tituirende Versammlung der Gesellschaft abhalten zu können.
Ein schweizerischer Lehrertag, welcher Anfangs Ok-
tober in Bern abgehalten wurde, beschäftigte sich wesentlich
mit Fragen des Sprachunterrichts und verlangte daneben
«energisch die Anhandnahme der Schulsubvention durch den
Bund, ungeachtet der vorhandenen Finanzschwierigkeiten.
Im Uebrigen beschloss die Versammlung:
Verwaltung. Schulwesen. 57$
1. Für den höheren Schulunterricht kann die Natur-
wissenschaft ebenso geeignete Grundlagen bieten, wie die*
sprachlich historischen Fächer. Für die Gegenwart ist an-
zustreben die Vollberechtignng aller neunklassigen höheren
Schulen. 2. Durch Beseitigung der immer noch in weitem
Umfang und zum Theil sogar in hohem Grade bestehenden
Ueberbürdung, sowie zur Vermeidung gesundheitlicher Schä-
digungen der Schüler sind folgende Massnahmen zu treffen :
a. Beschränkung und Vereinfachung des Unterrichtsstoffes,
soweit es den Unterrichtszielen enspricht, b. Beschränkung
der häuslichen schriftlichen Arbeiten und des Memorirstoffes,
sowie Eindämmung der vielfach noch herrschenden Neigung^
zum Verbalismus, c. Fortfall des wissenschaftlichen Nach-
mittagsunterrichts, d. Festsetzung der Zahl der wissenschaft-
lichen Unterrichtsstunden auf 24 wöchentlich im Maximum,
e. Einführung von zehn- und fünfzehnminutigen Pausen nach
jeder Unterrichtsstunde in freien Räumen, f. Abschaffung aller
Uebergangs- und Versetzungsprüfungen, g. Erleichterung der
Abitnrientenprüfung durch Fortfall der mündlichen Prüfungen
für den Fall, dass die Jahresleistungen und der Ausfall der
schriftlichen Prüfung zufriedenstellend waren, h. die gymna-
stischen Uebungen sollen niemals zwischen wissenschaftlichen:
Lehrstunden liegen.
Wir sind lange nicht mit allem dem einverstanden.
Im Kanton Bern waltete längere Zeit ein heftiger Streit
eines Theils der Lehrerschaft mit dem Erziehungsdirektor,,
welcher (prinzipiell ganz mit Recht) ein sogenanntes «Züch-
tigungsrecht» als einen Ueberbleibsel barbarischer Zeitea
in den Schulen des Landes beseitigt wissen wollte. Es ist
das übrigens eine Frage ähnlich der Krieg- und Friedens-
frage. Praktisch genommen sind einige wohlangebrachte und
nicht zu häufige Schläge oft das einzige Mittel, um einem
bösen Buben Respekt einzuflösen, wie lie vielleicht auch so-
gar bei einzelnen Gattungen von Verbrechen, die völlig an
das Bübische streifen, am wirksamsten wären und das Ge-
$74 Jahresbericht 1899.
fühl für Menschenwürde nicht verletzen würden. Aber es
ist doch sehr gefährlich, daraus ein allgemeines Recht zu
machen und dasselbe einer Person in die Hand zu geben, die
«ab irato» urtheilt, Verletzter und Richter in Einer Person
ist und oft sogar die Excesse durch Mangel an taktvollem
Benehmen verschuldet hat. Wir haben auch aus unserer
Jugendzeit, wo solche mit Liebhaberei «schlagende Lehrer>
(ähnlich wie « schlagende Verbindungen >) noch häufiger
waren, als sie es jetzt glücklicherweise sind, nicht die
Erinnerung, dass dieselben dadurch an Achtung bei den
Schülern gewannen und dass die Schläge überhaupt viel
nützten. Es dürften also diese Dinge zu den nicht sehr sel-
tenen Vorkommnissen gezählt werden, die «ausnahmsweise)
am Platze sind und eine Toleranz geniessen, aber niemals
eine feste Regel und ein förmlich anerkanntes Recht bilden
sollten. Mit diesem Verlangen hat sich die bernische Lehrer-
schaft in ihrer Mehrzahl auf einen offenbaren «Holzweg>
verirrt.
In der Jahresversammlung des schweizerischen Press-
Vereins, welche diesmal zu Chur abgebalten wurde und
80 Theilnehmer, worunter auch mehrere Damen, zählte, wurde
nach dem Berichte der Lausannerzeitung im Wesentlichen
Folgendes verhandelt:
«Apres la lecture du rapport et des comptes annuels,
M. Börlin a präsente* un rapport sur les congree internatio-
nal! x de la presse de Lisbonne et de Rome.
Quelques orateurs ont recommande* au comit6 unc cer-
taine räserve, en ce qui concerne la repräsentation de la
societe* aux congres internationaux, tout en continuant a faire
partie de l'Union de la presse.
Apres un rapport de M. le Dr. Bühler, le conrite* a 6te
Charge" de continuer ä s'occuper de la question de Institution
de cours destinäs specialement aux journalistes dans les Uni-
Verwaltung. Schulwesen. 575
versitös snisses, ainsi quo de la publication d'un Annuaire
de la presse suisse.
Les vgbux relatifs a la reduction de la taxe de transport
des jouraaux et des taxes telögraphiques ont 6t6 presentäs
a nouveau et le comite a et6 charge" de prendre les mesures
neeessaires dans le cas oü radministration des postes per-
sisterait dans son refus.»
Die deutschen Journalisten versammelten sich im Sep-
tember sehr zahlreich in Zürich.
Aus ausländischen, uns interessirenden Verhältnissen ist
etwa noch Folgendes zn berichten:
«Das sächsische Unterrichtsministerium hat eine Ver-
fügung erlassen, nach welcher allen die öffentlichen Schulen
besuchenden Mädchen das Tragen eines Corsets verboten ist,
und die Verfügung damit begründet, dass das Corset un-
zweifelhaft schädlich sei, da es die körperliche Entwicklung
hemme. Die Mädchen haben weite, blousenartige Jacken zu
tragen.»
Dieses Wagniss, in die weiblichen Moden einzugreifen,
würden wir unsererseits solange unterwegen lassen, bis die
Frauen selbst in den Schulbehörden vertreten sind.
Ueber das heutige Bildungsideal sprach sich der
Professor der Philosophie an der Berliner-Universität, Paulsen,
an einem evangelisch-sozialen Kongress in Kiel wie folgt aus :
«Die Bildung lässt sich in drei Perioden theilen. Die
erste Periode ist die klerikale, die zweite die höfisch-franzö-
sische, die dritte Bildungsperiode die humanistisch-hellenische.
Die klerikale Wissenschaft herrschte bis in den Anfang des
17. Jahrhunderts. Die Kirche prägt der gesammten Bildung,
Kunst und Wissenschaft ihren Charakter auf. Die Kirche
hat auch vollständig die Erziehung in der Hand. Auch das
Sittlichkeitsideal, das Kloster, bestimmt die Kirche, obwohl
dieses Entsagungsideal, wie stets, immer nur Ideal blieb.
Die Sprache der Gebildeten ist die lateinische. Aber bereits
am Ende des 12. Jahrhunderts ist eine Reaktion gegen die
576 Jahresbericht 1899.
klerikale Bildung des Mittelalters zu beobachten. Es ist die
Ritterbildung, die sogenannte Herrenbildung und die Bildung
der Universitäten, die sich Bahn zu brechen sucht. Der
zweite Anfang in der Bildungswendung ist die Renaissance,
der dritte Anfang die Reformation. Am Anfang des 17. Jahr-
hunderts tritt der Staat an die erste Stelle, die Kirche wird
an die zweite Stelle gedrangt. Es erstehen die Ritteraka-
demien, an Stelle der Heiligenbilder die Bilder der Fürsten
und Herren, an Stelle der Passionsbilder Schlachten- und
Jagdbilder. Die Ritterakademien werden von der adeligen
Jugend besucht. Auf den Ritterakademien wurden Cavaliere
ausgebildet. Die Universitäten Halle und Göttingen wurden
Cavalier-Universitttten. Am Ende des 18. und am Anfang
des 19. Jahrhunderts tritt an Stelle der höfisch-adeligen Bil-
dung die bürgerliche oder die humanistisch-hellenische Bil-
dung. Es wird die Möglichkeit geschaffen, die höhere Bil-
dung auch den bürgerlichen Klassen zugänglich zu machen.
Es bildet sich gewissermassen eine geistige Aristokratie. Es
werden die Prüfungen, das Abiturientenexamen und die staat-
lichen Examina eingeführt, von deren Ergebniss die Er-
langung einer Anstellung abhängt. Bis dahin war die Er-
langung einer Anstellung im Staate oder der Gemeinde ledig-
lich von Beziehungen, bezw. Protektionen, abhängig.
Es entsteht nun die Frage: welche Richtung hat das
Bildungsideal in der Zukunft zu nehmen? Es ist kein Zweifel,
das Bildungsideal der Gegenwart ist ein wesentlich anderes
als vor einem Menschenalter oder gar am Anfang dieses Jahr-
hunderts. Das Bildungsideal hat seinen internationalen Cha-
rakter abgestreift, es ist zu einem nationalen geworden. Der
Staat bestimmt die Unterrichtssprache, es ist die Staats-
sprache. Dies ist jedoch nicht ganz zu billigen. Der Volks-
schüler muss notwendigerweise in seiner Muttersprache unter-
richtet werden, wenn der Unterricht ihm zum vollen Ver-
ständniss kommen soll. Etwas anderes ist es bei dem ent-
wickelten Menschen. Desshalb kann ich es nicht billigen,
dass die Regierung in den schleswig-holsteinischen Schulen
die dänische Sprache als Unterrichtssprache verboten hat.
(Theilweises Bravo.) Bereits in den Revolutionsjahren 1848
Verwaltung. Schulwesen. 677
und 1849 wurde die Zurückdrängung der altklassischen Spra-
che, insbesondere des Lateinischen, zu Gunsten der modernen
Sprachen und der Realwissenschaften gefordert. Damals
wurde diesem Verlangen nicht stattgegeben. Inzwischen sind
aber die alten Sprachen derartig zurückgedrängt, dass es
fraglich erscheint, ob sie noch einen Werth für die geistige
Ausbildung haben. Es wäre besser gewesen, die klassischen
Gymnasien oder die Realgymnasien bestehen zu lassen und
letzteren volle Gleichberechtigung zu gewähren. Das Bil-
dungsideal ist seit dem Anfange dieses Jahrhunderts ein an-
deres geworden. Während am Anfang dieses Jahrhunderts
die Philosophie und Philologie die ersten Studienfächer waren,
sind es jetzt die Medizin und die Naturwissenschaften. Ein
weiterer Beweis für die Wandlung des Bildungsideales sind
die Fachschulen. Während früher die Religion den Unter-
richt beherrschte, hat der Religionsunterricht keine Bevor-
zugung in den Lehrplänen mehr. Aber auch unsere Jugend
ist eine ganz andere geworden. Die jetzige Jugend interessirt
sich bedeutend mehr für Afrikareisen und Nordpolforschungen
als für die Irrfahrten des alten Odysseus. Es geht ein all-
gemeiner Bildungsdrang durch alle Schichten des Volkes.
Wenn der Staat seinen Bestand erhalten und stärken
will, dann ist es seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass kein
Talent seiner Glieder verloren geht, dass Jeder die Möglich-
keit erhält, die höchste Bildungsstufe zu erreichen. Dieses
Interesse wird am besten sichtbar an der allgemeinen Wehr-
pflicht. Die allgemeine Wehrpflicht ist ohne allgemeine
Schulpflicht undenkbar. Aber auch die Entwicklung des gc-
sammten Wirtschaftslebens, insbesondere des Genossenschafts-
wesens, das für den Bestand und die Kraft des Staates und
der Gesellschaft von grösster Bedeutung ist, hängt von der
Entwicklung der allgemeinen Volksbildung ab. Der stumpf-
sinnige Mensch schliesst sich keiner Genossenschaft an. Die
Ausbildung der Genossenschaften hat die grösstmöglichste
Ausbildung der Verstandeskräfte zur Voraussetzung. Ein
grosser Missstand ist, dass die grosse Masse des Volkes mit
dem 14. Lebensjahr aus der Schule entlassen wird und sich
alsdann zumeist selbst überlassen ist. Dringend erforderlich
37
578 Jahresbericht 1899.
ist es, für diese Jugend Fortbildungsschulen, die von den
aus der Schule Entlassenen bis zum 20. Lebensjahre besacht
werden müssten, zu errichten. Es ist nicht zu verkennen,
dass in den niederen Ständen ein ungemein starker Bildungs-
drang vorhanden ist, der meiner Ueberzeugung nach nicht
mehr zurückzudrängen ist. Es ist eine Ehrenpflicht des
dritten Standes, in dieser Beziehung dem vierten Stand die
Hand zu reichen. Unsere Pflicht als evangelisch-sozialer
Eongress ist es, dem Volk die Hand zu reichen und alles zu
thun, was wir können.»
In Bezug auf die alten Sprachen und die Naturwissen-
schaften sind wir durchaus entgegengesetzter Meinung und
halten vielmehr nur die ersteren und keineswegs die letz-
teren für die Grundlage einer wirklich diesen Namen ver-
dienenden Bildung. Wollte man sie ersetzen, so müssten sie
durch die Geschichte, welche allerdings auch eine Ge-
schichte der Entwicklung der Naturkenn tniss sein niuss. er-
setzt werden, niemals aber durch das, was man jetzt Natur-
wissenschaften nennt, die einen sehr grossen technischen, aber
einen geringen Bildungswerth haben, indem sie den Charakter
des Menschen wenig beeinflussen und entwickeln.
In Deutschland ist auch ein neuer Kampf über die Aus-
sprache des Altgriechischen entbrannt, der seit den Tagen
des Erasmus und Reuchlin schon datirt.
«Die Frage, ob man reuchlinisch, d. h. nach neugrie-
chischer Art, oder erasmisch, d. i. auf eine aus alten Zeug-
nissen erschlossene und dem Buchstaben gemässe Weise
sprechen solle, war schon fast völlig zu Gunsten des Eras-
mus entschieden, als mit dem Wiedererwachen des griechi-
schen Nationalbe wusstseins die Gegenpartei wieder eine be-
trächtliche Stärkung erhielt. Es begannen lange Erörterungen,
selbst auf Philologenversammlungen, und es wurden von grie-
chischer Seite gewaltige Anstrengungen gemacht, der von
Erasmus über den Haufen geworfenen Aussprache wieder zur
Aufnahme zu verhelfen. Dazu brauchte man vor Allem
Verwaltung. Seh ulwesen. 579
wissenschaftliche Waffen, und um diese Waffen zu suchen
und zu finden, geschulte grammatische Kräfte; doch war es
hiemit auf der reuchlinischen Seite schlecht bestellt. Hatte
man ein Beispiel eines Lautwandels gefunden, so sollte dies
für einen ganzen Zeitraum beweisend sein, dann vergass man,
dass doch Zeugnisse aus hellenistischer oder gar römischer
Zeit für das Attische nichts darthun. So war es denn Fried-
rich Bloss ein Leichtes, in seinem grundlegenden Werk über
die Aussprache des Griechischen alle Scheingründe zu besei-
tigen. Indessen gab man auf der anderen Seite die Sache
nicht auf. Man versuchte nun durch immerwährendes Vor-
predigen der abgethanen Dinge sich Gebor zu verschaffen
und schien nur darauf zu warten, bis die Gegenpartei da-
durch ermüdet die Hand zum Frieden darböte. Gewonnen
wird dabei nichts: Russland nahm die deutsche Aussprache
des Griechischen an, und ein Versuch, die renchlinische Rich-
tung in Ungarn zur Geltung zu bringen, ist unlängst niiss-
lungen. Der neueste Vorstoss der Reuchlinianer geht nun von
der griechischen Regierung aus. Sie hat durch ein Rund-
schreiben die Unterrichtsbehörden der vornehmsten Staaten
davon in Kenntniss gesetzt, dass nach dem heutigen Stande
der Wissenschaft es nicht mehr zweifelhaft sein könne, dass
die neugriechische Aussprache im allgemeinen auch schon im
Alterthum angewendet worden sei, und sie bittet, die Sache
auf Grund des von dem Griechen Papadimitrokopulos zu diesem
Zweck ausgearbeiteten wissenschaftlichen Werkes zu prüfen
und weiter zu verfolgen. In ganz besonderer Weise hat
man sich dabei an das preussische Unterrichtsministerium ge-
wandt, denn wird erst der zur Zeit auf dem Gebiete der
griechischen Sprachwissenschaft herrschende Einfluss deutscher
Gelehrsamkeit gebrochen, dann ist der Hauptgegner besiegt.»
Im Herbst 1898 tagte auf Anregung der päpstlichen
Kurie in St. Gallen ein internationaler Kongress, um die
Frage zu erörtern, in welcher Weise die einem sicheren Ver-
derben entgegengehenden wer thvollen alten Handschriften
weiterhin zu erhalten und auszubessern sein würden. Auf
dieser Konferenz wurde von dem von der kgl. sächs. Staats-
regierung entsandten Delegirten eine Imprägnirung geschä-
580 Jahresbericht 1899.
digter Handschriften (Zapon-Verfahren) empfohlen, wie diese
von dem kgl. sächsisch. Kriegsministerium für die Zwecke
der Benutzung von Generalstabskarten im Freien erfunden,
angewendet und zu gleichem Zweck auch von Prenssen und
Oesterreich-Ungarn übernommen wurde. Die St. Gallener Kon-
ferenz hat neben anderen ihr vorgeführten Conservirungs-
methoden die Empfehlung dieser Imprägnirnng von deren
weiterer Prüfung abhängig gemacht. Da nun die im hygie-
nisch-chemischen Laboratorium des Kriegsministeriums fort-
gesetzten Untersuchungen den Vorzug der Imprägnirung vor
den in St. Gallen empfohlenen Methoden ergeben haben dürften
und die Imprägniruug sich namentlich als ein bisher uner-
reichtes Schutzmittel für dem Verfall entgegengehende Archi-
valien erwiesen hat, so sind von dem kgl. sächs. Kriegsmi-
nisterium die deutschen Bundesstaaten, Standesherren und
eine grössere Zahl von Städten ersucht worden, Vertreter
ihrer Archive zu einem vom 17. bis 19. September d. J. in
Dresden tagenden Congress entsenden zu wollen. Die kgl.
sächs. Staatsregierung erhofft von der regen Betheiligung der
Eingeladenen die seit langer Zeit schwebende Frage der Er-
haltung und Ausbesserung schadhaft gewordener Schriftstücke
zu Nutz und Frommen der Archive und der Wissenschaft
zur Lösung zu bringen. Näheres über den weiteren Fort-
gang der Sache ist uns nicht bekannt geworden.
Soziales. Das Interessante in diesem Kapitel, das wir
zum Theil schon unter «Partei Verhältnisse» berührt haben,
ist kurz gesagt das, dass der international-revolutionäre So-
zialismus, wie er s. Z. durch das «kommunistische Manifest»
von Marx und Engels als der Sieger der nächsten Zukunft
proklamirt wurde, nun, nach 50 Jahren vergeblichen Wartens
und beständigen Venröstens der «Enterbten» auf einen bal-
digen Zusammenbruch der bisherigen Gesellschaft, bei der Ab-
rüstung angekommen ist, während sich die bürgerliche Ge-
sellschaft immer mehr aufrafft, um die wirklich gesunden
Ideen, die im Sozialismus liegen, durch ihre Gesetzgebung
Soziales. 581
und Rechtsprechung zur That und Wahrheit zu machen und
dem wirklichen Ueberwuchern eines ebenso internationalen
Kapitalismus Schranken zu setzen. In dieser letzten Richtung
sind besonders zwei neue «Ringe» zu verzeichnen, worüber
die Zeitungsberichte wie folgt lauten :
«Vierzehn Schweiz. Kalkfabriken , mit einer Gesammt-
produktion von jährlich über 10,000 Waggons hydraulischem
Kalk, haben sich zu einer Genossenschaft vereinigt und er-
richten in Zürich eine gemeinschaftliche Verkaufsstelle. Die
Leitung dieser Verkaufsstelle ist Herrn Abraham Egger in
Luzern als Direktor übertragen worden.»
«Les importantes fabriques de la Belgique, de la France,
de la Hollande, de la Suisse, de l'Autriche-Hongrie et de
l'Allemagne se sont räunies ä Cologne pour constituer une
association internationale des fabriques de fer-blanc et d'6mail.
L'assembläe a r6digä les Statuts de l'association, lesquels en-
treront immädiatetnent en vigueur. Les prix des fabriques
allemandes ont 6t6 acceptös et ont 6t6 eleväs de 5% pour
une särie des principanx articles. Parmi les membres de
l'association internationale figure M. Karl Wickardt, de la
fabrique d'objets de mätal de Zoug.»
Gegen diese Ringe wird in kürzerer Zeit die schweize-
rische Gesetzgebung nothwendig Stellung nehmen müssen.
Einstweilen hat das Bezirksgericht St. Gallen jüngsthin
in Anwendung der Strafbestimmungen des kantonalen Ar-
beiterinnenschutzgesetzes eine K leider mach erin mit
Fr. 200 Busse bestraft, weil diese wiederholt ihre Lehrtöchter
bis Nachts 11 Uhr, einmal sogar bis 2 Uhr Morgens mit an-
strengenden Näharbeiten beschäftigte, ohne je Ueberarbeits-
zeit-Bewilligung eingeholt zu haben. Die Ueberanstrengung
war ziemlich gross und daher den Töchtern schädlich, besonders
für die Angen. Die Beklagte kannte das Gesetz gut genug,
582 Jahresbericht 1899.
da sie schon einmal wegen dieser Uebertretung bezirksamtlich
mit Fr. 5 gebüsst wurde. Das Gericht fand, dass diese milde
bezirksamtliche Busse nicht als Warnung aufgefasst worden
sei, sondern eher zu der Berechnung Anlass gegeben habe,
dass die Yortheile der Zuwiderhandlung die Strafen über-
steigen.
Der Kanton Aargau hat, um die Bevölkerung vor Tän-
schung und Ausbeutung zu schützen, eine Verordnung betreffend
den Verkauf und das Ausbieten von Lotterieloosen erlassen
Darnach ist der Verkauf und das Ausbieten von Lotterieloosen
jeder Art, mit Ausnahme der Prämienloose, untersagt. Für
den Verkauf und das Ausbieten von Prämienloosen ist ein
Patent des Regierungsrathes erforderlich. Ein solches Patent
erhalten nur solche Bewerber, die gut beleumdet und eigenen
Rechtes sind. Sie haben bei der Staatskasse eine Realkaution
zu deponiren : auswärtige Firmen haben überdiess im Kanton
ein Domizil zu verzeigen. Der Inhaber eines Patenten darf
nur solche Wertpapiere ausbieten und in Verkehr setzen,
für die er von der Regierung die besondere Erlaubniss er-
halten hat. Mit dem Gesuche um die Bewilligung sind die
bezüglichen Geschäftspapiere und Publikationen der Behörde
vorzulegen. Ratenloose dürfen ohne Uebertragung des Original-
titeis nicht verkauft werden. Alle Zuwiderhandlungen gegen
diese Verordnung sind den Bezirksgerichten zu verzeigen und
von denselben an der Hand des bezüglichen Gesetzes vom
Jahre 1838 abzuwandeln. Die Namen der patentirten Händler
für Prämienloose sollen den im Kanton erscheinenden Zei-
tungen bekannt gegeben werden. Den Verlegern ist unter-
sagt, Publikationen über Lotterielose und Prämienloose von
anderen Personen als den patentirten Händlern aufzunehmen.
Zuwiderhandlungen sind ebenfalls von den Gerichten zu be-
strafen.
Soziales. 683
Mehrere Kantone haben bereits die gemeingefährlichen
Hydra- oder Schneeballen -Verkaufssysteme ver-
boten. Diese ursprünglich von Damen zu Kollekten-Zwecken
gebrauchte Erfindung wird in einem Blatte, wie folgt, ge-
schildert :
«Vor uns liegt der Gutschein Nr. 1426 einer luzernischen
Uhren- und Bijouteriehandlung, versehen mit 5 Coupons. Für
den Gutschein hat der Kaufer A 6 Fr. bezahlt. Die Coupons
kann er zu je 1 Fr. an seine Bekannten B, C, D, £ und F
verkaufen. Thut er's nicht, so sind seine 6 Fr. verloren. Dem
betr. Geschäft hat er dann die Adressen seiner Couponskäufer
mitzutheilen, worauf jedem derselben wieder ein Gutschein
mit Coupon gegen Nachnahme von Fr. 5 zugesandt wird.
Lösen B, C, D, E und F die Nachnahmen ein, so hat dann
A das Recht, für 30 Fr. Waaren zu beziehen. Die Rechnung
ist folgende: A hat 6 Fr. für den Gutschein bezahlt, dagegen
aber 5 Fr. für die Coupons eingenommen. Er erhält .also
Waaren im Werthe von 30 Fr. und hat dafür effectiv nur
1 Fr. ausgegeben. Darin liegt die treibende Kraft des Sy-
stems. Die Uhrenhandlung florirt dabei und ihr Inhaber kann
sich in kürzester Zeit als reicher Mann vom Geschäft zurück-
ziehen. Von A hat er nämlich 6 Fr. erhalten, von B, C, D,
E und F je 5 Fr., zusammen also Fr. 31. wofür er an Waaren
Fr. 30 abgibt. Der skrupellose Geschäftsmann verdient also
vorab 1 Fr. an jedem Gutschein und sichert sich ausserdem
durch einen erhöhten Umsatz einen vermehrten ordentlichen
Geschäftsgewinn. Der Umstand, dass derjenige, der für seinen
einen Franken Waaren «im Werth von 30 Fr.> erhält, selten
controlliren wird, ob die gesandten Waaren auch wirklich 30
Fr. werth sind, öffnet grossartigen Betrügereien Thür und
Thor. Das System spekulirt auf die Gewinnsucht und Ein-
sichtslosigkeit der Massen und zwingt diejenigen, die sich
durch den Schein haben blenden lassen, im Interesse des Un-
ternehmers thätig zu sein.
Das Verfahren, das wir hier beschrieben haben, ist nur
eine der vielen möglichen Formen des Systems. Die Zahl der
Coupons kann vermehrt, die Preise dafür und der Werth der
584 Jahresbericht 1899.
zu beziehenden Waaren kann verändert werden. Es ist auch
nur ein bescheidener Anfang in der Uhrenbranche damit ge-
macht worden und es steht zu erwarten, dass solche moderne
Ausbeuterei sich auch in andere Branchen einmischt, wenn
nicht von Staates wegen energische Massnahmen dagegen er-
griffen werden. Der Schaden aber, der dadurch gestiftet
werden könnte, ist nicht abzusehen. Auf Kosten einzelner
könnten mittlere und kleinere Geschäftsleute ganzer Branchen
einfach ruinirt werden, denn wer würde noch bei seinem bis-
herigen Lieferanten seinen Bedarf decken wollen, wenn er
z. B. 30 Mal billiger dieselben Artikel bei einem Hydrawaaren-
hause beziehen könnten
Endlich hat der Kanton Aargau ein Gesetz über den
V i eh h an del erlassen, das folgende wesentliche Bestimmungen
enthält :
«Zum gewerbsmässigen Betrieb des Handels mit Gross-
und Kleinvieh auf dem Gebiete des Kantons Aargau ist der
Besitz eines staatlichen Patentes erforderlich. Nicht als ge-
werbsmässiger Viehhandel wird betrachtet der mit dem Be-
trieb eines landwirtschaftlichen Gewerbes ordentlicher Weise
verbundene An- und Verkauf von Vieh und ebenso der An-
kauf von Vieh durch Metzger zum Zwecke des Schlachtens,
sofern der Ankauf durch diese selbst erfolgt. Bewerber um
Viehhandelspatente, welche von der Staats wirthschaftsdirektion
auf die Dauer eines Jahres ertheilt werden, müssen im Be-
sitze des Aktivbürgerrechts sein und einen guten Leumund
besitzen ; zudem haben sie eine Realkaution von Fr. 2 — 5000
zu leisten. Ausserhalb der Schweiz wohnende Viehhändler
haben im Kanton Aargau ein Rechtsdomizil zu verzeigen.
Bei wiederholten Uebertretungen seuchenpolizeilicher Vor-
schriften kann das Patent verweigert oder entzogen werden.
Für jedes Patent ist eine jährliche Gebühr von 40 bis 400
Fr. zu bezahlen. Beim Handel mit ausländischem Vieh, welches
in den Kanton eingeführt wird, kann diese Gebühr bis anf
Fr. 1000 erhöht werden. Die patentirten Viehhändler haben
über ihre Vertragsabschlüsse ein Verzeichniss nach vorge-
schriebenem Formular zu führen, welches den zuständigen
Soziales. 585
Behörden auf Verlangen zur Einsicht vorzulegen ist. Mit
Geldbussen von 20—500 Fr., in schweren Fällen mit Ge-
fangenschaft, ev. mit Entzug des Patentes, wird bei Viehhandel
im Sinne dieses Gesetzes zuchtpolizeilich bestraft : das Bieten
dnrch fingirte Kaufsliebhaber, d. h. Steigern der Viehpreise
durch eigens vom Verkäufer hiezu angestellte Drittpersonen,
sowie das Anstellen solcher Personen ; ferner die absichtliche
Ausstellung unvollständiger und rechtlich unverbindlicher
Währschaftsversprechen und endlich Zuwiderhandlung gegen
das hier skizzirte Gesetz.»
Ueber den internationalen Sozialismus nach der
Marx'schen Theorie sprechen jetzt bereits die Sozialisten selbst
nicht viel anders mehr, als wir.
Ueber sozialdemokratische Prophezeiungen äusserte sich
der Abgeordnete A u e r in der sozialdemokratischen Versamm-
lung des dritten Reichtagswahlkreises, zu Ende des vorigen
Jahres schon, nach dem «Vorwärts» wie folgt: «Die Ansicht
über die Katastrophentheorie beruht zum grossen Theil auf
Prophezeiungen. Wie schlechte Erfahrungen wir aber gerade
in der Politik mit Prophezeiungen gemacht haben, davon kann
sich jeder überzeugen. Wer erinnert sich nicht an die Pro-
phezeiung, dass in diesem Jahre der grosse Kladderadatsch
eintreten sollte, der aber noch nicht eingetreten ist ! Lieb-
knecht hat auch einmal prophezeit, dass das von Beust ge-
leitete Oesterreich die deutsche Einheitsfrage in demokratisch-
liberalem Sinne lösen werde. Wer den Verlauf sieht, den die
Dinge wirklich genommen haben, der wird sagen : Prächtiger
Kerl, aber schlechter Prophet! (Heiterkeit). Also vor Pro-
phezeiungen soll man sich in der Politik hüten. Die Elends-
Theorie wird schon lange scharf kritisirt. Nun ist es aller-
dings richtig, dass, wenn wir die Elends-Theorie, wie sie bis-
her von uns vertreten wurde, aufgeben, auch die Einleitungs-
sätze des Erfurter Programms nicht bestehen bleiben können,
denn die sind auf dieser Theorie aufgebaut.» In dem Erfurter
Programm von 1891 hiess es bekanntlich, dass die ökonomische
Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft dahin dränge, die
Produktionsmittel zum Monopol einer kleinen Zahl von Ka-
586 Jahresbericht 1899.
pitalisten und Grossgrundbesitzern zu machen. Daraus folge
für das Proletariat und die versinkenden Mittelschichten
wachsende Zunahme ihres Elends und ihrer Ausbeutung, Zu-
nahme der Proletarier und der überschüssigen Arbeiter, Er-
weiterung des Abgrundes zwischen den Besitzenden und Be-
sitzlosen. Desshalb sei das Privateigentum an Produktions-
mitteln unvereinbar geworden mit der weiteren Entwicklung.»
Ueber andere frühere Lieblingstheorien des Sozialismus
äusserte sich der Genosse Be r n s t ei n , früherer Redaktor des
«Sozialdemokrat» in seiner unter «Partei Verhältnisse» bereits
besprochenen Schrift noch entschiedener:
«Was zunächst den Untergang der Kleinbetriebe betrifft,
so erklärt Bernstein : im Gegentheil, nur die Zwergbetriebe
gehen zurück, die Klein- und Mittelbetriebe im Gewerbe
nehmen zu. Ebenso ist es im Handel; es ist «utopistisch»,
von den kapitalistischen Waarenhäusern eine nennenswerthe
Aufsaugung der kleineren und mittleren Geschäfte zu erwarten;
sie schädigen wohl einzelne kleinere Geschäfte, aber neue
Spezialitäten und neue Combinirung von Geschäften bilden sich
aus. «Vielfach zeigt der kleine Mittelbetrieb die stärkste Zu-
nahme; die Landwirtschaft zeigt entweder Stillstand oder
direkt Bückgang des Grössenumfangs der Betriebe. Und die
Verminderung der Besitzenden ?» Bernstein antwortet :
«Dass die Zahl der Besitzenden zu- und nicht abnimmt,
ist nicht die Erfindung bürgerlicher Harmonie-Oekonomen,
sondern eine von den Steuerbehörden oft sehr zum Verlust
der Betreffenden ausgekundschaftete Thatsache, an der sich
heute gar nicht mehr rütteln lässt.»
Dann wirft er die «Krisentheorie» mit Zahlen um und
die Zusammenbruchstheorie, die «Diktatur des Proletariats»,
beschreibt er wie folgt :
«sie heisst, wo die Arbeiterklasse nicht schon sehr starke
eigene Organisationen wirtschaftlichen Charakters besitzt und
durch Schulung in Selbstverwaltungskörpern einen hohen Grad
von geistiger Selbständigkeit erreicht hat, die Diktatur von
Klubrednern und Literaten.»
Die «Konzentration des Kapitals» wirft er mit dem Nach-
Soziales. 587
weis um, dass gerade die Form der Aktiengesellschaft die
Aneignung von Kapitalien durch einzelne Magnaten zum Zweck
der Konzentrirung gewerblicher Unternehmen überflüssig
mache. Aehnlich behandelt er die Lobpreisung des Milizsy-
steins, die üblichen Angriffe auf die auswärtige und Kolonial-
politik, und stürzt damit alle die Götzen, die die jetzige
Führung der Sozialdemokratie errichtet hat, um zum blinden
Kultus davor die ihnen glaubenden Massen zu führen. Die
«Nat-lib. Korr.» bemerkt hiezu:
«Natürlich haben die Theoretiker der orthodox-marxisti-
schen Schule gegen diese Kritik mobil gemacht, und an kräf-
tigen Worten wird nicht gespart, wo die Thatsachen dafür
sprechen : dass die bestehende Gesellschaftsordnung denn doch
zu fest gefügt ist, um den Angriffen zu erliegen, die bisher
von den leitenden Geistern der Sozialdemokratie gegen sie
geführt worden, und dass die verlästerte Gesellschaft an der
Hebung der Arbeiter arbeitet, nicht aus Furcht vor sozial-
demokratischem Ueberdruck, sondern aus dem eigenen Gewissen
heraus. Für die praktische Politik ist diese Auseinandersetzung
weder zu unter- noch zu überschätzen. Nicht mit program-
matischen Gesichtspunkten kämpft im Deutschen Reich die
Führung der Sozialdemokratie, sondern mit Mitteln des An-
griffs, die an sich weder mit Demokratie noch mit Sozialis-
mus etwas zu thun haben, sondern Mittel reiner Zerstörung
sind. Und diesen muss der Staat entgegenwirken, indem er
die ihm gesetzlich geschaffene Wehr alle Zeit bereit hält.
Wohl aber ist dieser Zwischenfall nützlich, um die Papier-
wände herunterzureissen, hinter denen die Gewaltpolitiker,
die jetzt die Bureaukratie der sozialdemokratischen Partei
beherrschen, ihr persönliches Machtinteresse verbergen, um
die irregeführte Arbeiterschaft hinter sich zu behalten.
Der «Vorwärts», der seine Gegensätzlichkeit zur bür-
gerlichen Presse unter anderem damit markirt, dass er keinen
Kurszettel enthält, bringt in seiner jüngsten Nummer unter
der Ueberschrift «Vom Weltmarkt» eine Auslassung, die sich
in nichts von derartigen Darstellungen unterscheidet, wie sie
auch die bürgerliche Presse zu bieten pflegt und die zur Il-
lustration der Sachlage es auch nicht verabsäumt, die Kurs-
Ö88 Jahresbericht 1899.
Veränderungen mit der Angabe der Dividenden zusammen zu-
stellen. Man wird diese Thatsache und auch die verhältniss-
mässig unbefangene Behandlung der Dinge — es wird in dein
Artikel der Rückgang der Papiere weniger auf das unmittel-
bare Bevorstehen einer industriellen Krisis, als auf die zum
Theil durch Ueberspekulation in Effekten, zum Theil durch
den Transvaal-Krieg hervorgerufene Spannung zurückgeführt
— man wird all das von manchen Seiten aus als einen Beleg
für die sich innerhalb der Sozialdemokratie vollziehende
Mauserung ansehen.»
Diese Wendung der Dinge, die eine thatsächliche Wider-
legung der wesentlichen Theorien des Sozialismus bedeutet,
wird hoffentlich ihre Wirkungen auch auf die Schweiz er-
strecken. Schon der diesjährige M a i t a g verlief sehr ruhig ;
in manchen ganz grossen Betrieben , wie z. B. Gebrüder
Sulzer in Winterthur, wurde Vormittags mit wenigen Aus-
nahmen gearbeitet ; viele Arbeiter machten mit Weib und
Kind andere Ausflüge, als den der Partei. Von «Imponiren»
durch diese Demonstrationszüge ist dermalen kaum ernstlich
die Rede mehr.
Ueber den Selbstmord der Frau Eleonore Marx, Tochter
des Sozialistenpapstes Carl Marx, wurden erst nachträglich
nähere Umstände bekannt, die auch zur Aufklärung dienen
können. Demnach war sie mit Dr. Aveling, als dessen Frau
sie galt, niemals gesetzlich verheirathet und als derselbe sich
demgemäss ohne viele Umstände mit einer Anderen zu ver-
heirathen gedachte, wurde ihr das Leben zur Last, obwohl
sie bloss das erfuhr, was sie wohl Hunderte von Malen als
das Zukunftsideal des Verhältnisses von Mann und Frau pro-
phezeit hatte. Sie erlebte ein Stück dieser Zukunft und es
schien ihr unerträglich. «Was der Mensch säet, das wird er
ernten.» Oft sieht man es zwar nicht so deutlich, der Fall
ist es aber immer.
Soziales. 689
Ein Strike der Tunnelarbeiter am Simplon wurde in
Folge energischer Massnahmen der Walliser-Regierung rasch
beendigt, brach dann im November neuerdings aus, wurde
indessen auch wieder beschwichtigt, auf wie lange, steht da-
hin.
Das Bnndesgericht hat seine Jurisprudenz über den so-
genannten Boykott geändert.
«Im Jahr 1896 hatten die Mitglieder der Sektion Brugg
des Schweizer. Bäcker- und Conditorenverbandes in ihrem
Fachorgan, der «Bäckerzeitung», die Ankündigung erlassen,
dass sie mit einem Kollegen ihres Ortes im Streite stehen
and die Blokade über ihn verhängt haben , weshalb sie um
die Unterstützung der Verbandsgenossen im Kampfe, ganz
besonders aber um strikte Beobachtung und Befolgung der
statutarischen Vorschriften ersuchen. Das hatte zur Folge,
dass der Verfehmte nur noch mit grösster Mühe und bloss
gegen Bezahlung erhöhter Preise Mehl bekommen konnte,
weshalb er gegen die Bäcker von Brugg klagbar wurde und
deren Verurtheiiung zu einer angemessenen Entschädigung
durchsetzte, weil durch die Publikation der Beklagten ein
widerrechtlicher Zwang auf die übrigen Verbandsgenossen,
die bei Fortsetzung des Verkehrs mit dem Verfehmten selber
eine Boykottirung riskiren mussten, ausgeübt worden sei.
Die blosse Publikation der Verhängung der Blokade hat also
damals bereits zu einer Verurtheiiung geführt. Von diesem
Standpunkt ist nun das Bundesgericht in seiner neuesten Ent-
scheidung abgekommen.
Im Frühling 1897 hatte der Giessereibesitzer Stucker-
Boock in Carouge einige Arbeiter entlassen und es waren des-
wegen zwischen ihm und dem Comite des Syndikats der Genfer
Eisenarbeiter Differenzen entstanden, die dazu führten, dass
über sein Geschäft die Sperre verhängt und vor Zuzug im
«Grntlianer» und in der «Arbeiterstimme» gewarnt wurde.
Ferner warf das Comite im «Peupie de Geneve» dem Fabrik-
inhaber vor, dass die von ihm gezahlten Löhne und andere
Arbeitsbedingungen den Vergleich mit den Verhältnissen, wie
sie in Unternehmungen der gleichen Branche bestanden, nicht
590 Jahresbericht 1899
auszuhalten vermöchten. Acht Tage später wurden diese An-
gaben im gleichen Journal durch andere Arbeiterdelegirte
richtig gestellt, die Verrufserklärung jedoch aufrecht erhalten
und in der Genfer «Tribüne > einem weiteren Publikum zur
Kenntniss gebracht.
Der angegriffene Industrielle belangte hierauf die sieben
Mitglieder des Comites der Arbeitskammer auf Bezahlung
einer Entschädigung von 2500 Fr. und erhielt von den Ge-
richten erster und zweiter Instanz 800 Fr. zugesprochen,
ausserdem wurden die Beklagten zur Veröffentlichung des
Urtheils auf ihre Kosten im «Peuple de Geneve» verurtheilt.
Als sie an das Bundesgericht appellirten, reduzirte dieses
zwar die Entschädigung um 300 Fr., bestätigte im Uebrigen
aber das ergangene Erkenntniss, indem es sich folgender-
massen aussprach:
«Die Arbeiter, insoweit sie dem Unternehmer vereinzelt
gegenüberstehen, sind unzweifelhaft der schwächere Theil,
und wenn sie im Kampfe um die Erlangung besserer Arbeits-
bedingungen sich koalisiren, um auf diese Weise das Gleich-
gewicht einigermassen herzustellen, so ist das erlaubt. So
wenig im Ferneren es dem Einzelnen verboten ist, die Arbeit
niederzulegen, wenn ihm die Arbeitsbedingungen nicht mehr
konveniren, so wenig kann eine unerlaubte Handlungsweise
darin gefunden werden, dass eine Vereinigung von Arbeitern
den Ausstand erklärt. Auch in der Publikation dieser Mass-
nahme und in der öffentlich erlassenen Mahnung, keine Arbeit
mehr bei dem in Frage stehenden Arbeitgeber zu suchen,
kann etwas Widerrechtliches nicht erblickt werden, so lange
die Verrufserklärung nicht lediglich als ein Akt der Bosheit
aufzufassen, oder zur Befriedigung persönlicher Rachegelaste
zu dienen bestimmt ist. Die Widerrechtlichkeit beginnt aber
dann, wenn die Mittel, welche zur Durchführung der Sperre
verwendet werden, als rechtswidrige bezeichnet werden müssen.
Diese Voraussetzung trifft nun zu auf die im «Peuple de
Geneve» erschienene Publikation, durch deren wahrheitswidrigen
Inhalt der klägerische Fabrikbesitzer ganz besonders getroffen
und diskreditirt werden sollte. Ob Angesichts der kurz dar-
nach erfolgten Richtigstellung ihm durch jenen Artikel ein
Soziales. 591
materieller Schaden zugefügt worden sei, lässt sich wohl
nicht feststellen; für den widerrechtlichen Angriff auf seinen
Ruf als Arbeitgeber gebührt ihm indessen eine angemessene
Entschädigung und ist auch die Veröffentlichung des Urtheils
in demjenigen Journal, in welchem der inkriminirte Artikel
Aufnahme gefunden hat, anzuordnen.»
Daraus geht nun hervor, dass die Ankündigung der Ver-
hängung der Arbeitssperre über das Etablissement des Klägers
für sich allein, obschon die Arbeiter auch ohne Androhung
von Rechtsnachtheilen im Falle der Nichtbeachtung der
Mahnung genau wussten, was ihnen von seiten der organisirten
Genossen bevorstand, zu einer Verurtheilung nicht genügt
hätte, während dies im Jahr 1896 der Fall gewesen war.
Der damals von der Minderheit des Gerichts vertretene
Standpunkt ist nun auch von der Mehrheit acceptirt worden,
was einer Annäherung an die sozialistischen Ansichten gleich-
kommt^
Ueber das Versicherungswesen in der Schweiz
gibt der 12. Jahresbericht des Eidg. Versicherungsamtes fol-
gende Notizen:
«Wir haben gegenwärtig in der Schweiz 33 unter Staats-
aufsicht stehende Lebensversicherungsgesellschaften, wovon
jedoch nur 27 neue Versicherungen in der Schweiz abschliessen.
Der schweizerische Versicherungsbestand in diesem Zweige
der Versicherung ist im Jahre 1897 in der Kapital Versicherung
auf 112,067 Policen mit einer Versicherungssumme von
606,367,257 Franken, in der Rentenversicherung auf 3988
Policen mit 2,088,629 Franken Rente, d. h. um 6079 Policen
mit 25,743,706 Franken Versicherungssumme in der Kapital-
versicherung und 150 Policen mit 107,714 Franken versicher-
ten Renten in der Rentenversicherung gestiegen. In der
Schweiz sind 96,56 Procent sämmtlicher Policen auf Kapital-
versicherungen geschlossen und nur 3,44 Procent auf Renten-
policen. Die sogenannte Volksversicherung weist im Jahre
1897 ein Anwachsen des schweizerischen Bestandes von 11,106
auf 12,655 Policen auf. Das Amt begrüsst dieses Anwachsen
einmal desshalb, weil die Volksversicherung die flottante Be-
592 Jahresbericht 1899.
völkerung zara Sparen erzieht, und dann namentlich auch
desshalb, weil sie mehr und mehr das Bedürfniss derjenigen
Kreise befriedigt, in denen sich bisher die irrationeilen Sterbe-
kassen rekrutirt haben.
Von Unfallversicherungs-Gesellschaften haben im Jahre
1897 dreizehn mit bundesräthlicher Konzession in der Schweiz
ihr Geschäft betrieben. Ihre gesaramte Prämien-Einnahme be-
trug 36,061,041 Franken gegenüber 36,219,342 Franken im
Vorjahre. Das Amt hebt hervor, dass das kollektive Arbeiter-
unfallversicherungs-Geschäft die schönen Gewinne, von denen
man spricht, nicht abwirft; wenn die «Zürich» und die Win-
terthurer Gesellschaft nicht etwa zwei Drittel ihrer Prämien-
einnahme aus dem ausländischen Geschäfte beziehen würden,
so wären die schönen Dividenden dieser Gesellschaften nicht
vorhanden. Wenn die schweizerischen Unfallversicherungs-
Gesellschaften gegenwärtig in erheblich besserer finanzieller
Lage sich befinden, als im Jahre 1886, so verdanken sie dies
nach Ansicht des Amtes wesentlich dem Umstände, dass ihr
Hauptgeschäft nicht die Unfallversicherung der schweizerischen
Arbeiter ist. Das rentabelste Geschäft der Unfall versieh er ang
ist die Einzelversicherung und hier namentlich die Reisever-
sicherung, sowie die Versicherung der Hausbesitzer und in-
dustriellen Betriebe gegen die Folgen der Schädigungen
dritter Personen.
Innerhalb der zwölf ersten Jahre seit dem Bestände des
Aufsichtsgesetzes ist die Ausgabe an Prämien für die private
Versicherung aller Art in der Schweiz von 22 auf 42,3 Mil-
lionen Franken gestiegen. Im dreizehnten Jahre wird die
Verdoppelung eingetreten sein. Das widerlegt die bei Erlass
des Gesetzes geäusserten Befürchtungen, dass eine langsamere
Entwickelung als Folge der angeblichen Erschwerung des
Versicherungsbetriebes eintreten werde. Diese gewaltige
Steigerung legt erfreuliches Zeugniss ab, einmal von der
Steigerung der materiellen Wohlfahrt des Schweizervolkes
und zum andern von dem in allen Kreisen der Bevölkerung
wachsenden Verständniss für die Wohithat der Versicherung.
Die Prämieneinnahme der einheimischen Versicherungs-
gesellschaften im Schweizer Geschäfte, welche im Jahre 1886
Soziales. 593
47,4 Procent aller in der Schweiz bezahlten Prämien betrag,
ist bis 1897 auf 59,9 Procent gestiegen. Durch den Hinweis
auf das viele von fremden Versicherungsgesellschaften ins
Ausland geschleppte Geld wird gelegentlich eine andere Be-
handlung der fremden Gesellschaften zu begründen versucht.
Das Versicherungsamt macht dem gegenüber aufmerksam,
dass die schweizerischen Versicherungsgesellschaften im Jahre
1897 im Ganzen an Nettoprämien 54,120,606 Franken einge-
nommen haben, wovon 25,384,684 Franken in der Schweiz
und 28,735,922 Franken, d. h. die grössere Hälfte ihrer Prä-
mien-Einnahmen im Auslände, während die ausländischen Ver-
sicherungsgesellschaften in demselben Jahre nur 16,962,408
Franken an Prämien in der Schweiz eingenommen haben.
Ueber die Geldverhältnisse, welche im Verlauf
der Herbstmonate, trotz der ausserordentlich guten Fremden-
saison erheblich knapper wurden und in Zürich sogar zu
einer Art von «Krach» führten, sagte ein dortiger Bank-
bericht :
cDieser Monat dürfte gewiss allen hiesigen Börseninteres-
sen ten als ganz besonders sorgenreich und verlustbringend
auf lange hinaus in schmerzlicher Erinnerung bleiben. Am
letzten Tag des Vormonats vernahm man mit Bestürzung
die Zahlungseinstellung der Firma Grob & Cie.; da dieselbe
mitten in die Liquidationsarbeiten der Centralstelle fiel, wirkte
sie geradezu verkehrshemmend und veranlasste die drastische
Massregel, dass an jenem Samstag den 30. September in Aktien
hier überhaupt nicht gehandelt werden durfte. Zwei Banken
schössen alsdann den Betrag der schuldig gebliebenen Dif-
ferenzen von rund einer Million Franken vor, gegen frei-
willige Verpfändung der Kautionen sämmtlicher 21 Börsen-
agenten; wäre dies nicht erfolgt so würde die ganze Liqui-
dationsmaschinerie versagt haben. Es stellte sich alsdann
heraus, dass die nothleidende Firma für ca. 12 Millionen
Franken Titres bei sämmtlichen Report- und Lombardgebern
nicht nur Zürich's, sondern der ganzen Schweiz versorgt
hatte, welche Titres jetzt grösstenteils auf den Markt ge-
langten, und stark auf die Kurse drückten.
38
594 Jahresbericht 1899.
Die Verluste ans diesem Zusammenbruch waren für
manche unserer Börsenfirmen höchst empfindlich. Im Lauf
des Monats kam dann als zweite Kalamität die Flucht und
der Selbstmord des Inhabers der Commanditfirma Blarer &
Cie. und deren Zahlungseinstellung; Resultat: neue Kursver-
flauung, jedoch keine direkten Verluste, da die jene Firma
kommanditirende Bank die Gesammtposition, rund 3 Millionen
Franken Titres, auf eigene Rechnung übernahm. Ausser
diesen zwei Firmen treten noch mehrere unserer Börsen-
agenten freiwillig vom Schauplatze ihrer Thätigkeit zuiück-
und die Börse im Allgemeinen ist natürlich recht geschwächt.
Mit Recht ist gesagt worden, es brauche nunmehr hun-
derte von Kapitalisten, um die Positionen eines einzigen
solchen waghalsigen Spielers so zu übernehmen, dass sie, an-
statt als flottante Waare stets auf dem Markt zu lasten, de-
finitiv klassirt seien. Es hat sich eben bei diesen Anlassen
gezeigt, dass ein grosser Theil aller in den letzten Jahren
Torgenommenen Kapitalerhöhungen von Banken und Industrie-
gesellschaften nicht vom wirklichen anlagesuchenden Publi-
kum gezeichnet worden sind, sondern nur dazu dienten, der
bereits entfesselten Spekulation neue Nahrung zu geben, einer
Spekulation, weiche während Monaten und Jahren willig ihre
Reportpositionen mit grossen Geldopfern durchgehalten hat.»
Also auch hier ist es wieder das Spiel, das solche Ka-
lamitäten verschuldet, und hinter dem Spiel steckt die über-
mässig luxuriöse Lebensart, zu der schon die dermalige Ju-
gend durch Lehre und Beispiel angeleitet wird und wofür
die Mittel auf redliche Art nicht mehr gefunden werden
können.
Aus ausländischen Verhältnissen berichten wir
noch folgendes:
«Strikes sind keine vis major.» Durch eine Verfügung des
preussischen Ministers des Innern, Frhrn. v. d. Recke, wird
künftig bei Vergebung fiskalischer Arbeiten in die Verträge
mit den Unternehmern folgende Klausel aufgenommen.
Soziales. 595
«Arbeitsausstände gelten nicht als höhere Gewalt und
begründen kein Anrecht auf Fristverlängerung, oder Preis-
erhöhung. Anträge auf Fristverlängerung können nur in ganz
besonderen Fällen in Berücksichtigung gezogen werden und
unterliegen der Genehmigung der obern Behörde, haben aber
von vornherein keine Aussicht auf Erfolg, wenn nicht vom
Unternehmer glaubwürdig nachgewiesen wird, dass der ge-
werkschaftliche Verein der Maurer Berlins ausser Stande
war, dem Unternehmer Hülfe zu leisten. Mehrvergütungen
werden indess auch bei Inanspruchnahme des genannten Ver-
eins nicht gewährt.»
Der Innungsverband deutscher Baugewerkmeister hat
beschlossen, gegen diese Klausel eine Eingabe an die Re-
gierung zu richten.
Der deutsche Gesetzesentwurf zum Schutz des gewerb-
lichen Arbeitsverhältnisses, weichen die demokratische Presse
als «Zuchthausvorlage» bezeichnet, ist dem Reichs-
tag zugegangen. Er hat folgenden Wortlaut:
«§ 1. Wer es unternimmt, durch körperlichen Zwang,
Drohung, Ehrverletzung oder Verrufserklärung Arbeitgeber
oder Arbeitnehmer zur Thcilnahme an Vereinigungen oder
Verabredungen, die eine Einwirkung auf Arbeits- oder Lohn-
verhältnisse bezwecken, zu bestimmen oder von der Theil-
nahme an solchen Vereinigungen oder Verabredungen abzu-
halten, wird mit Gefängniss bis zu einem Jahre bestraft.
Sind mildernde Umstände vorhanden, so ist auf Geldstrafe
big zu 1000 M. zu erkennen.
§ 2. Die Strafvorschriften des § 1 finden auch auf den-
jenigen Anwendung, welcher es unternimmt, durch körper-
lichen Zwang, Drohung, Ehrverletzung oder Verrufserklärung
1. zur Herbeiführung oder Förderung einer Arbeiter-
Aussperrung Arbeitgeber zur Entlassung von Arbeit-
nehmern zu bestimmen oder an der Annahme oder
Heranziehung solcher zu hindern,
596 Jahresbericht 1899.
2. zur Herbeiführung" oder Förderang eines Arbeiter-
Ausstandes Arbeitnehmer zur Niederlegung der Arbeit
zu bestimmen oder an der Annahme oder Aufsuchung
von Arbeit zu hindern,
3. bei einer Arbeiterausspermng oder einem Arbeiter-
ausstande die Arbeitgeber oder Arbeitnehmer zur
Nachgiebigkeit gegen die dabei vertretenen Forder-
ungen zu bestimmen.
§ 3. Wer es sich zum Geschäfte macht, Handlungen der
in §§ 1, 2 bezeichneten Art zu begehen, wird mit Gefängnis?
nicht unter drei Monaten bestraft
§ 4. Dem körperlichen Zwang im Sinne der §§ 1 bis 3-
wird die Beschädigung oder Vorenthaltung von Arbeitsgeräth,
Arbeitsmaterial. Arbeitserzeugnissen oder Kleidungsstücken
gleichgeachtet.
Der Drohung im Sinne der §§ 1 bis 3 wird die plan-
massige Ueberwachung von Arbeitgebern, Arbeitnehmern,
Arbeitsstätten, Wegen, Strassen, Plätzen, Bahnhöfen, Wasser-
strassen, Hafen- oder sonstigen Verkehrsanlagen gleichge-
achtet.
Eine Verrufserklärung oder Drohung im Sinne der §§ 1
bis 3 liegt nicht vor, wenn der Thäter eine Handlung vor-
nimmt, zu der er berechtigt ist, insbesondere wenn er be-
fugterweise ein Arbeits- oder Dienstverhältniss ablehnt, be-
endigt oder kündigt, die Arbeit einstellt, eine Arbeitsein-
stellung oder Aussperrung fortsetzt, oder wenn er die Vor-
nahme einer solchen Handlung in Aussicht stellt.
§ 5. Wird gegen Personen, die an einem Arbeiteraus-
stande oder einer Arbeiteraussperrung nicht oder nicht dauernd
theilnebmen oder nicht theilgenommen haben, aus Anlas»
dieser Nichtbetheiligung eine Beleidigung mittelst Thätlich-
keit, eine vorsätzliche Körperverletzung oder eine vorsätzliche
Sachbeschädigung begangen, so bedarf es zur Verfolgung
keines Antrags.
§ 6. Wer Personen, die an einem Arbeiterausstand oder
einer Arbeiteraussperrung nicht oder nicht dauernd theilnebmen
oder theilgenommen haben, aus Anlass dieser Nichtbetheiligung
Soziales. 597
bedroht oder in Verruf erklärt, wird mit Gefängtoiss bis zu
einem Jahre bestraft.
Sind mildernde Umstände vorhanden, so ist auf Geldstrafe
bis zu 1000 Mark zu erkennen.
§ 7. Wer an einer öffentlichen Zusammenrottung, bei
der eine Handlung der in den §§ 1 bis 6 bezeichneten Art
mit vereinten Kräften begangen wird, theilnimmt, wird mit
Gefängniss bestraft.
Die Rädelsführer sind mit Gefängniss nicht unter drei
Monaten zu bestrafen.
§ 8. Soll in den Fällen der §§ 1, 2, 4 ein Arbeiteraus-
stand oder eine Arbeiteraussperrung herbeigeführt oder ge-
fördert werden und ist der Ausstand oder die Aussperrung
mit Bücksicht auf die Natur oder Bestimmung des Betriebes
geeignet, die Sicherheit des Reichs oder eines Bundesstaats
zu gefährden oder eine gemeine Gefahr für Menschenleben
oder für das Eigenthum herbeizuführen, so tritt Gefängniss-
strafe nicht unter einem Monat, gegen die Rädelsführer Ge-
fängnissstrafe nicht unter sechs Monaten ein.
Ist infolge des Arbeiterausstandes oder der Arbeiteraus-
sperrung eine Gefährdung der Sicherheit des Reichs oder eines
Bundesstaats eingetreten oder eine gemeine Gefahr für Men-
schenleben oder das Eigenthum herbeigeführt worden, so ist
auf Zuchthaus bis zu drei Jahren, gegen die Rädelsführer auf
Zuchthaus bis zu fünf Jahren zu erkennen.
Sind in den Fällen des Abs. 2 mildernde Umstände vor-
handen, so tritt Gefängnissstrafe nicht unter sechs Monaten,
für die Rädelsführer Gefängnissstrafe nicht unter einem Jahre
ein.
§ 9. Soweit nach diesem Gesetz eine gegen einen Arbeit-
geber gerichtete Handlung mit Strafe bedroht ist, findet die
Strafvorschrift auch dann Anwendung, wenn die Handlung
gegen einen Vertreter des Arbeitgebers gerichtet ist.
§ 10. Die Vorschriften dieses Gesetzes finden Anwen-
dung:
1. auf Arbeits- oder Dienstverhältnisse, die unter den
§ 152 der Gewerbeordnung fallen,
598 Jahresbericht 1899.
2. auf alle Arbeits- oder Dienstverhältnisse in solchen
Reichs-, Staats- oder Kommunalbetrieben, die der
Landesverteidigung, der öffentlichen Sicherheit, dein
öffentlichen Verkehr oder der öffentlichen Gesundheits-
pflege dienen,
3. auf alle Arbeits- oder Dienstverhältnisse in Eisen-
bahnunternehmnngen.
§ 11. Der § 153 der Gewerbeordnung wird aufgehobene
Unser nächster und stets sehr wohlwollender Nachbar,
der Grossherzog von Baden, sprach sich nach einem
vor Kurzem erschienenen « Skizzenbuch > des Schriftstellers
v. Gerhardt über den Sozialismus, wie folgt, aus:
«Sie haben auch des öfteren die soziale Frage berührt.
Die Art und Weise, wie Sie dies thaten, hat mich durchaus
angesprochen; man muss bei Besprechung dieser Frage auch
den Reichen und Vornehmen derb die Wahrheit sagen. Nichts
ist verkehrter, als den Sozialdemokraten bei Bekämpfung der
Doktrinen nur als ihr hochmüthiger und leidenschaftlicher
Feind gegenüberzutreten. Man muss als ihr wohlwollender
Helfer auftreten und kann dann um so wirksamer das Ver-
kehrte ihrer Forderungen bekämpfen. Es sind Menschen wie
wir, und sie wollen, wie wir, als Menschen leben, nur die
Mittel, die sie zur Erreichung auch ihrer diskutirbaren For-
derungen anwenden wollen, sind thöricht und verwerflich.
Am verkehrtesten ist es aber, ihnen darin nachzuahmen, dass
man im Kampf gegen sie auch jene Art von Agitation be-
treibt, die nur Hass und Feindschaft säet und in der ihre
Wortführer geradezu Meister sind; ich begreife die Leute
hier in Berlin nicht, die von solchem Vorgehen das Heil
erwarten. Die soziale Frage wird nur durch die freiesten
Köpfe und die reinsten Herzen aus dem Volk selbst zu lösen
sein. Und da werden sich freilich auch unsre oberen Stände
gewaltig ändern müssen. Hier in Berlin herrscht ein Luxus,
ein Uebermuth des Geldes, der uns mit schwerer Sorge wegen
der Zukunft erfüllen kann. Ich bitte Sie, fahren Sie fort,
Ihre wohlmeinenden Rathschläge immer wieder an jene höheren
Gesellschaftsschichten zu ertheilen, die in kurzsichtigster Ge-
Soziales. 959
nusssucht für die Sturmzeichen unsrer Tage gar kein Auge
zu haben scheinen.»
Hoffentlich dringen diese trefflichen Worte in recht
weite Kreise und finden die verdiente Beherzigung. Von
diesen Anschauungen sollte die Bekämpfung der Sozialdemo-
kratie überall geleitet sein, dann aber eine «Bekämpfung»
bleiben. Mit einem Uebergang zu ihr, wie ihn, statt dessen,
einzelne deutsche Geistliche vollziehen, wird unseres Erach-
tens gar nichts ausgerichtet werden.
Wie die «ElbingerZtg.» meldete, sprach sich der deutsche
Kaiser missbilligend über die Arbeiterwohnungen auf
seinem Gute Cadinen aus. Er äusserte sich wörtlich: «In
Cadinen muss noch manches anders werden ; ich meine beson-
ders in Bezug auf Arbeiterwohnungen. Das scheint über-
haupt noch ein Uebel hier im Osten zu sein. Der schöne
Viehstall in Cadinen ist ja ein wahrer Palast den Arbeiter-
wohnungen gegenüber. Es muss dafür gesorgt werden, dass
nicht etwa die Schweineställe besser sind, wie die Arbeiter-
wohnungen.» Den «Agrariern» war dieses Urtheil begreiflicher
Weise sehr unbequem, denn sie halten immer noch an der
Behauptung fest, dass die Arbeiterwohnungen im Osten nichts
zu wünschen übrig lassen. Das agrarische Hauptorgan be-
merkte denn auch zu der Aeusserung des Kaisers, dass die
Arbeiter gerade auf Cadinen sehr gut behandelt worden seien,
und dass die Arbeiterwohnungen im Osten im allgemeinen
nicht schlecht seien. Wo sie etwa doch zu wünschen übrig
Hessen, da trage die durch die Handelsverträge gesteigerte
Noth der Landwirte die Schuld, und besser könne das nur
werden, wenn man der Landwirtschaft energisch zu Hilfe
komme.
*
Die englischen Kooperativ-, d. h. Produktions- und
Konsumvereine, haben in Peterborough während der Pfingst-
tage ihre Jahresversammlung abgehalten. Die Eröftnungsrede
hielt kein Anderer als der anglikanische Bischof von London,
Dr. Creighton. Er behandelte das Thema «Wissenschaft ist
600 Jahresbericht 1899.
Macht und Unwissenheit Ohnmacht» und betonte dabei, wie
sehr sich die Arbeitsverhältnisse in diesem Jahrhundert in-
folge des Auftretens der Grossindustrie und derTheilung der
Arbeit geändert hätten. Der heutige Fabrikarbeiter fertige
keine Produkte von Anfang zu Ende an; er möge ja besser
unterrichtet sein als früher, aber er sei einseitiger geworden
als früher, und die Eontrole seines Schaffens sei ihm zum
grossen Theil entwunden. Darin zumeist wurzle die Unzu-
friedenheit der Arbeiter; sie beschwerten sich mit Recht,
d a 8 s sie nur Zuthaten der Maschinen seien. Die Kooperation
sei der Gedanke, den sich die arbeitenden Klassen aneignen
sollten; durch sie werde der Geist der Assoziation, welcher
stets in England mächtig gewirkt habe, neu belebt. Die
kooperative Produktion habe bisher schon grossartiges ge-
leistet, schon allein ihre erzieherische Wirkung sei nicht ge-
ring anzuschlagen. Der verstorbene Gladstone habe sich für
die Kooperativvereine namentlich desshalb erwärmt, weil sie
Sparsamkeit lehrten und das unheilvolle Kreditsystem auf-
heben. Dem Kongress in Peterborough wohnten auch Ab-
geordnete der holländischen Produktiv-Genossenschaften bei.
Es gibt gegenwärtig in England 1845 Kooperativvereine,
gegen 1741 im Vorjahre, mit 1,591,455 Mitgliedern. Der
Umsatz belief sich auf 62,287,058 Pfd. St., gegen 57,318,426
Pfund Sterl. im Jahre 1896; der Geschäftsnutzen beziffert«
sich im vergangenen Jahre auf 6,717,875 Pfd. Sterl. Es ist
erklärlich, dass die Kooperativvereine den privaten Geschäfts-
leuten, denen sie starke Konkurrenz machen, ein Dorn im
Auge sind ; unbestreitbar ist jedoch, dass sie vielfach eine
gute erzieherische Wirkung auf die Arbeiterklassen ausge-
übt haben.
Die englische parlamentarische Kommission für das AI ters-
Pensionsgesetz veröffentlicht ihren Bericht und empfiehlt
Soziales. 601
darin, jedem Mittellosen von 65 Jahren an, der noch nie der öffent-
lichen Arinenverwaltung znr Last fiel, ausser in ausserordent-
lichen Umständen, und der seit dem 45. Lebensjahre keine
gerichtliche Verurtheilung erlitten hatte, eine Pension von
im Minimum 5 Schilling und im Maximum von 7 Schilling
per Woche auszurichten, wenn sein Einkommen nicht mehr
^ls 10 Schilling per Woche beträgt. Eine Armensteuer soll
einen Theil des Fonds zu diesem Zwecke liefern.
Eine vortreffliche Schrift über die «Wohnungsfrage
und die Betheiligung der Gemeinden an der Lösung derselben»
gab der Oberbürgermeister Beck von Mannheim für die 8.
Konferenz der Centralstelle für Arbeiter- Wohlfahrtseinrich-
tungen heraus.
Der niederländische Professor van Eees und zwei pro-
testantische Pastoren gründen in der Umgebung von Appel-
<ioorn eine Kolonie nach dem vom Grafen Tolstoi aufge-
stellen Muster. Dort werden die drei Herren als gemeine
Handwerker gegen eine Bezahlung von 700 fl. jährlich arbeiten.
In Amerika scheint dagegen manches Sonderbare vor-
zugehen. Die Bettler von Philadelphia haben ihrerseits
•eine Vereinigung gebildet, welche bezweckt, der Konkurrenz
Einhalt zu thun. Die Stadt wird in Bezirke eingetheilt und
«dem Bettler wird ein gewisser Eadius angewiesen. Jedes
Mitglied muss einen kleinen Jahresbeitrag entrichten und
wird er wegen Bettelei verhaftet, so zahlt die Vereinskasse
seine ihn treffende Geldstrafe. Wenn ein Bettler sich
weigert, der Vereinigung beizutreten, wird sein Bezirk sofort
mit Konkurrenten überhäuft. Hilft das nicht, so werden gut-
gekleidete Bettler, als tugendsame Bürger figurirend, durch
Beschwerden bei der Polizei seine Verhaftung herbeiführen.
Im Staate Michigan hat das Obergericht der Stadt Detroit
verboten, die Tramways zu munipalisiren, also das zu thun,
602 Jahresbericht 1899.
was die eidg. Bundesstadt mit Beginn des nächsten Jahres
vornimmt.
Also en resumä, das 19. Jahrhundert schliesst ohne eine
«Lösung der sozialen Frage» und ebenso ohne jede Aussicht
auf eine baldige Zerstörung der jetzigen Staaten, oder der
jetzigen bürgerlichen Gesellschaft. Vielleicht, dass das 20.
die Sache an einem anderen Ende anfasst. Der Heilsarmee-
general Booth sagt einmal: «Bring den Mann in Ordnung,
dann wird er seine Verhältnisse selbst ordnen»; das ist das
allein Richtige, nur das ist beizufügen, man kann in der
Politik nicht so lange warten, bis alle Leute, oder doch die
Mehrzahl unter ihnen, persönlich in Ordnung gebracht sind,
und es gehört dazu allerdings auch eine sehr kräftige ökono-
mische Fürsorge des Staates; doch ist dieser Gesichtspunkt
nicht der Hauptpunkt, sondern die moralische Ver-
besserung, die allein gründlich hilft. Darin liegt der Irr-
thum der sogenannten «Sozialpolitik».
Landwirthschaft. Ueber den Werth des Vieh-
staudes in der Schweiz sagt ein Artikel des statistischen
Bureau's in der Zeitschrift für schweizerische Statistik folgendes:
Er betrug 1896 : Fr. 592,398,880,
1886: » 448,578,990,
1876: » 331,541,600,
wobei jeweilen die Bienenvölker nicht mitberechnet sind.
Das Durchschnittsvermögen an Vieh betrug auf 1 Ein-
wohner für die Gesaramtschweiz, 1896: Fr. 194, 1886: Fr. 155,
1876: Fr. J21.
Es ist mithin von 1876 auf 1896 per Kopf eine Vermeh-
rung von Fr. 73 oder von 62<>/0 eingetreten.
Der Werth der Pferde beträgt jetzt durchschnittlich
740, der Maulthiere 479, der Esel 195, des Bindviehes 345,
Landwirthschaft. 603
der Schweine 76, der Schafe 22, der Ziegen 25, der Bienen-
stöcke Fr. 18 per Stück.
Ueber das beständig im Vordergrund der Diskussion
stehende Kapitel der Viehseuchen und ihrer Verhütung wurde
der Bundesversammlung von dem Vorsteher des Landwirth-
schaftsdepartements in der Junisitzung dieses Jahres ungefähr
folgendes berichtet: Der Vorstand des schweizerischen Bauern-
verbandes hat einen Entwurf eines schweizerischen
Viehseuchengesetzes eingegeben. Im Ganzen scheint
die Stimmung vorzuherrschen, dass die Sperre eher zu oft
komme, andere hingegen treiben immer an diesen Sperren.
Der Viehhandel mit Oesterreich-Ungarn hat sich vermin-
dert, mit Italien kolossal vermehrt. Es wird jetzt viel mehr
Vieh aus Italien eingeführt, als aus Oesterreich-Ungarn. Der
Viebverkehr mit Frankreich ist seit li/f Jahren gänzlich
gesperrt. Frankreich beharrt darauf, gar kein schweize-
risches Vieh einführen zu lassen ; das Verbot betrifft auch den
Transit nach Spanien, der für das Braunvieh bedeutend
ist. Die Eidgenossenschaft hat alle nur möglichen Mittel
dagegen angewendet, aber ohne Erfolg bisher.
Die Delegierten Versammlung des schweizer. Bauern-
verbandes fasste am 6. Februar folgende Beschlüsse :
«Unter dem Vorbehalt allfälliger redaktioneller Milderungen
wurden die allgemeinen Begründungen angenommen, nach
welchen eine Revision des Bundesgesetzes über polizeiliche
Massregeln gegen Viehseuchen vom 8. Februar 1872 und der
zudienenden Verordnungen anzustreben sei, weil die beutigen
veterinärpolizeilichen Vorschriften dem Stande der Wissen-
schaft, insbesondere der bakteriologischen Forschung nicht
mehr entsprechen, dieselben auch der Aenderung und Ver-
mehrung des Viehverkehrs, die sich seit der Eröffnung der
Arlberg- und Gotthardbahnen vollzogen haben, nicht genügend
Rechnung tragen, die gegenwärtige Organisation der Viehseu-
«04 Jahresbericht 1899.
chenpolizei sich als ungenügend erwiesen hat und die Ent-
schädigungsfrage der durch Maul- und Klauenseuche in
Nachtheil gebrachten Viehbesitzer dringend der Lösung bedarf.
Für die Organisation der Seuchenverwaltung werden fol-
gende Grundsätze aufgestellt: Es soll vom Bunde ein beson-
deres Viehseuchenpolizeiamt errichtet werden, das dem
LandwirtliBchaftsdepartement angegliedert wird. Die Vieh-
seuchenpolizei in den Kantonen soll der Aufsicht von Vieh-
seucheninspektoren unterstehen ; denselben fällt die Aufgabe
zu, den Ursprung der Seuchenfälle zu ermitteln, die not-
wendigen Massnahmen anzuordnen, eventuell schon angeordnete
zu kontrolliren und die Desinfektion der Ställe, Eisenbahn-
wagen etc. zu überwachen.»
Der Schaden, den die Maul- und Klauenseuche
jährlich verursacht, wird auf ca. 6 Millionen angeschlagen. Ohne
allen Zweifel wäre eine Revision der gesetzlichen Bestim-
mungen über den Viehverkehr, aus denen dermalen kaum
mehr klug zu werden ist, so sehr hat eine die andere geändert,
sehr am Platze, wenn man sich selbst völlig klar wäre, was,
ganz besonders in Bezug auf die Einfuhr aus dem Auslande,
zu thun sei und wenn man ferner mit allen Nachbarstaaten
darüber Verträge hätte. So lange aber dieselben gegen ans
je nach Umständen und oft sehr willkürlich verfahren, wird
es schwer sein, sich allein durch dauernde Gesetze zu binden.
Einstweilen hat das Landwirthschaftsdepartement beschlossen,
auf Zusehen hin die Einfuhrbewilligung für Schlachtvieh aus
Italien zu ertheilen und zwar für die Städte Bern, St. Gallen,
Zürich, Basel, Lausanne und Genf. Es bleibt nun den Kan-
tonsregierungen überlassen, von dieser Bewilligung Gebrauch
zu machen, oder nicht.
Zur Verhütung der Einschleppung der für den Obstbau
in hohom Grade gefährlichen San-Jos6-Schildlaus (As-
pidiotus perniciosus Comstock) wird ferner die Einfahr
frischen amerikanischen Obstes verboten.
Landwirtbschaft 605*
Ueber dieses Insekt sagt der sachverständige Vorstand
des deutschen Poinologen-Vereins in einem Artikel der Ber-
liner «Nation» Folgendes zum Theil beruhigende :
«Zunächst unterscheidet sich die San-Josä-Schildlaus
von ihren Geschlechtsgenossen dadurch, dass sie nicht wie
jene Eier legt, soudern junge Thiere zur Welt bringt. Aber
diese jungen Thiere bleiben gleichfalls, wie es bei den Eier
legenden Schildlänsen der Fall ist, unter dem Schutze dea
mütterlichen Schildes, bis sie einen gewissen Entwicklungsgrad
erreicht haben. Das Umherwandern, welches sie alsdann
beginnen, soll nach den übereinstimmenden Berichten der
amerikanischen Forscher Howald und Marlatt, auf welche
vorzugsweise die deutschen Lebensbeschreibungen sich stützen,
nur einige Stunden dauern, in welcher Zeit diese winzigen,,
flügellosen Thierchen je nur kurze Entfernungen zurückzu-
legen vermögen. Bei den in Washington auf Topfpflanzen, die
eigens für diese Versuche hergerichtet waren, gehaltenen Schild-
länsen beobachtete man, dass die herumwandernden Jungen
sich nie weiter als zwei Zoll von ihrer Geburtsstätte entfernten.
Mehr in das Gewicht fallend dürfte der Unterschied
sein, dass die San-Jos6-Schildlaus ihre lebendigen Jungen in
mehreren auf einander folgenden Perioden unausgesetzt zur
Welt bringt, während die europäischen Geschlechtsgenossen
es bei dem einmaligen Eierlegen bewenden lassen.
In den ausgedehnten amerikanischen Obstpflanzungen,
zu deren Kultur des hohen Tagelohns wegen nur sehr
wenige Arbeitskräfte vorhanden sind, fehlt es offenbar
an Augen und Händen, welche diese Beobachtung und
Vertilgung genügend durchzuführen im Stande sind. In
deutschen Baumschulen und Obstpflanzungen würde es ver-
bal tnissmässig ein Leichtes sein, diesen Vernichtungskampf
vorzunehmen. Ein Vergleich mit der Reblausgefahr, wie
solcher auch in den Auslassungen des «Reichsanzeigers» an-
gestellt wird, ist hier gänzlich verfehlt. Die Reblaus arbeitet
im Boden, also für den Weinbauer unsichtbar. Sie kann
Jahrzehnte lang bereits vorhanden sein und ihr Verwüstungs-
werk geübt haben, ohne dass der Rebbergbesitzer von ihrer
Existenz auch nur eine Ahnung hat. Sie ist in beiden
606 Jahresbericht 1899.
Geschlechtern beflügelt und kann durch den Wind meilenweit
fortgeführt werden. Und ihre sichere Vertilgung kann nur
erfolgen, indem die Rebstöcke selber vernichtet werden und
der Boden, in welchem sie gestanden, fusstief mit Chemikalien
durcharbeitet wird.»
Ueber die Beseitigung der Hagelgefahr durch Schiessen
sagt ein ähnlicher Artikel folgendes:
«Hier handelt es sich weder um willkürliche Hervor-
rufung atmosphärischer Niederschläge, noch um gewaltsame
Verhinderung derselben — jeder Versuch in dieser letzteren
Richtung wäre auch vergeblich, weil die Verdichtung des
Wasserdampfes, wo derselbe in genügender Menge vorhanden
ist, unter allen Umständen in Kürze erfolgen inuss — son-
dern nur um die Beeinflussung der Form, in welcher diese
Verdichtung stattfindet. Der Landwirth ist schon zufrieden,
wenn anstatt des Hagels, der ihm aus der gewitterschweren
Wolke drohte, ein kräftiger Regen oder auch selbst ein
feiner Graupelfall eintritt; ihm genagt es, wenn nur die
Bildung der schweren Hagelgeschosse verhindert wird. Und
so wenig auch die Gelehrten bezüglich der Entstehungsweise
des Hagels unter einander übereinstimmen, so halten doch
die meisten unter ihnen eine Störung der Hagelbildung durch
das vorgeschlagene Verfahren nicht für ausgeschlossen.
In der «Meteorologischen Zeitschrift» ist wiederholt über
Versuche berichtet worden, welche in Windisch-Feistritz im
südlichen Steiermark von dem dortigen Bürgermeister und
Weingartenbesitzer A. Stiger angestellt worden sind, um
durch systematisches Beschiessen der nahenden Gewitter-
wolken die Hagelgefahr zu beschwören. Windisch-Feistritz
liegt am Südabhange des Bachergebirges, auf welchem die
Hochwälder vielfach abgetrieben wurden, so dass sich jetzt
schon daselbst Hochmoore bilden. Seit dieser Zeit (Anfang
der siebziger Jahre) datiert nach dem Berichte eine jähr-
liche Zunahme der Hagelwetter. Die Gewitter bilden sich
meist über dem Bacher und ziehen von hier südöstlich. Die
Schiessstationen waren nun in drei grossen Linien aufge-
stellt, die zusammen 17 Stationen mit je zehn Böllern um-
fassten; sobald eine Gewitterwolke auf 6 bis 10 Kilometer
Landwirtschaft. 607
herankam, wurde gegen dieselbe in raschestem Tempo ein
unaufhörliches Feuer eröffnet. Seit einigen Jahren wurde
nun im Bereiche dieser Stationen kein Hagel mehr beob-
achtet, während einige Kilometer entfernt davon Hagel
niederging. Gewiss kann dabei noch der Zufall mitspielen,
aber die bisherigen Erfahrungen dürfen jedenfalls zur Fort-
setzung der Versuche ermuthigen. Auch in Italien, wo der
Hagel alljährlich ungeheuren Schaden anrichtet, beginnt man
Versuche in grossem Massstabe anzustellen; hoffen wir, dass
es gelingen werde, mit den Waffen des Krieges einen Feind
der Landwirthschaft erfolgreich zu bekämpfen.»
Für den Bau eines Hengstendepots in Avencbes
wurden von der Bundesversammlung 620,000 Franken be-
willigt. E. G. S. XVII, 232.
Ein Postulat der eidgenössischen Käthe wünscht auch
die landwirtschaftliche Berufsbildung in
den Kreis der Bundesfürsorge eingeschlossen zu sehen.
Ueber die Stellung der landwirtschaftlichen Kreise zu
der Unfallversicherung äusserte sich der «Bauern-
sekretär» Dr. Laur, wie folgt :
«Es gibt für uns nur zwei Wege, auf denen die Kranken-
und Unfallversicherung dem Lande Segen bringen kann:
Entweder werden dem Bunde für die Versicherungs-
zwecke neue Einnahmen geöffnet, sei es nun das Tabak-
monopol, die Bierfabrikationssteuer oder eine andere indirekte
oder direkte Steuer, oder aber man wartet mit der Ver-
sicherung bis zum Abschluss der Handelsverträge und sichert
dem Lande durch höhere Zölle, z. B. durch einen ordent-
lichen Zucker- oder Weinzoll höhere Einnahmen. Ich würde
dem zweiten Vorschlage den Vorzug geben.
1. Ich anerkenne die hohe soziale und humanitäre Be-
deutung des Entwurfes für eine schweizerische Kranken- und
Unfallversicherung, der gegenüber die der Landwirthschaft
zugemutheten Opfer nicht als zu hoch bezeichnet werden
können.
606 Jahresbericht 1899.
2. Die Finanzirung der Versicherung darf sich aber nicht
auf Ersparnisse im Bundeshaushalte, insbesondere nicht auf
die Beschrankung landwirtschaftlicher Subventionen stützen.
3. Es gibt wenige Ausgaben der Eidgenossenschaft, die
volkswirtschaftlich so begründet und so produktiv sind, wie
die Subventionen zur Förderung der Landwirtschaft.
4. Die Landwirthschaft muss desshalh die Durchführung
der Kranken- und Unfallversicherung so lange bekämpfen*
bis dass entweder dem Bunde die nöthigen Finanzquellen
neu eröffnet werden, oder aber die Einnahmen des Bundes
sich auf der heutigen Finanzgrundlage so verbessert haben,
dass die Durchführung des Versicherungswerkes ohne Schä-
digung der übrigen Aufgaben des Bundes möglich ist. >
Jagd und Fischerei. An Raubwild wurde letztes
Jahr durch die Wildhüter in den Bannbezirken erlegt: 454
Stück Haar- und 298 Stück Federwild, zusammen 752 Stück.
Infolge dieses für die meisten Bezirke starken Abschusses
hat das Raubwild in erfreulicher Weise und insbesondere
auch der Fuchs ab- und das Nutzwild fast in allen Bezirken,
in einigen ganz bedeutend, zugenommen. Es betrifft dies
insbesondere die Gemsen, Murmelthiere und Hasen. Im Be-
zirk Churfirsten (St. Gallen) wurden Gemsrudel bis zu 100
Stück beobachtet. Die Murmelthierkolonien am Glärnisch, in
den Churfirsten und Schratten erfreuen sich starker Ver-
mehrung. Rehe stehen in verschiedenen Bezirken; allein
jagende Laufhunde setzen ihnen aber stark zu. Krankheiten
haben sich unter dem Wilde keine gezeigt, und Jagdfrevel
kommen nicht mehr so häufig vor wie früher; die sehr em-
pfindlichen Strafen, die einige Polizeigerichte erkannt, waren
von guter Wirkung. Ueber Wildschaden sind nur von zwei
Bezirken Beschwerden erhoben worden. — Die Zahl der
Fischbrutanstalten belief sich Ende des Jahres 1897/98 auf
150 (1896197: 139) mit einer Fläche der Eierunterlagen von
480 m* und 182 Brutgläsern. Hiebei sind alle Kantone be-
theiligt mit Ausnahme von Uri und Appenzell I. Rh. Es
wurden 32,651,800 Eier eingesetzt und daraus 27,636,400
Fischchen gewonnen. Von letzteren kamen 27,353,300 Stück
zur Aussetzung (1896/97: 23,512,300). Der Bundesbeitrag
Jagd und Fischerei. 609
an die in öffentliche Gewässer ausgesetzten Fischchen betrug
22,870 Fr., gegenüber 21,610 im Jahre 1896/97. Die Eier
von Salvelinus Namaycush und Salvelinus fontinalis hat das
eidgenössische Departement durch Vermittlung der schwei-
zerischen Gesandtschaft in Washington von der Fischkommis-
sion der Vereinigten Staaten erbalten.
Wald und Gletscher. Nach dem Bericht des eid-
genössischen Departements des Innern hat die Schweiz :
Staatswaldungen 37,504 ha, Gemeinde- und Korporations-
Waldnngen 565,086 ha, Privatwaldungen 245,215 ha. Die
Gesammtk osten der mit Beiträgen aus der Bundeskasse aus-
geführten Aufforstungen und damit zusammenhängenden Ver-
haue von Wildbächen, Lawinen etc. beliefen sich 1898 auf
338,241 Fr. 32 Rp. (1897: 318,958 Fr. 98 Rp.) uud die
diesfölligen Beiträge auf 181,716 Fr. Von 16 Kantonen sind
79 neue Anmeldungen von Aufforstungen und Verbauen zur
Aussetzung von Beiträgen eingegangen. Die daherigen Kosten -
Voranschläge erreichen den Betrag von 436,812 Fr. 68 Rp.
An der Vervollständigung der Lawinen karte der Schweiz
wurde weiter gearbeitet und man hofft, dieselbe sammt einer
Lawinenstatistik im laufenden Jahre vollenden zu können.
Die Gletscherbeobachtungen wurden durch das Forstpersonal
der betreffenden Kantone fortgesetzt und werden ihre Ver-
öffentlichung im 34. Jahrbuch des Schweizerischen Alpen-
klubs finden, unter dem Titel: «Les variations des glaciers
des Alpes.»
Aus Schaffhausen ergeht die Klage, dass der Lachsfang
im Rhein, der wesentlich im November seinen Anfang nimmt,
durch die Elektrizitätswerke in Rheinfelden, wo ein Damm
den Rhein zum grossen Theil sperrt, sehr beeinträchtigt
werde.
Ein sehr grosses Aufsehen verursachte im Oktober d. J.
die Ermordung zweier Wildhüter in Obwalden durch Wild-
schützen. Diese Wildschützenromantik ist sonst in unserem
Lande nicht gebräuchlich und wird vielleicht manchen auf den
Gedanken bringen, ob nicht das ganze Jagdwesen eine Er-
39
610 Jahresbericht 1899.
ziehnng der Menschen zur Rohheit und Grausamkeit, abge-
sehen von dem damit verbundenen Müssiggang sei. Es ist
der Erinnerung werth, dass Friedrich der Grosse darüber
in seinen Werken, wenigstens für seine gekrönten Kollegen,
die damals und jetzt noch zum Theil eifrige Jäger sind,
während sie ihre Zeit nützlicher anwenden könnten, folgende
Betrachtung macht: ((Euvres XI. pag. 74):
«Uebrigens ist die Jagd diejenige Vergnügung, welche
von allen am wenigsten für Fürsten passt; sie könnten ihre
hohe Thätigkeit auf hundert andere und für ihre Unter-
thanen weit nützlichere Arten zeigen und fände sich's, dass
die Menge des Wildes die Landleute ruinirte, so könnte man
die Sorge, diese Thiere auszurotten, sehr wohl den Jägern,
die dafür bezahlt werden, überlassen. Die Fürsten sollten
nur mit der Sorge, sich zu unterrichten und zu regieren,
beschäftigt sein, um mehr Kenntnisse zu erlangen, sich eine
bessere Idee von ihrem Berufe zu machen und demgemfiss
gut zu handeln.»
Damit sind wir eigentlich schon bei dem Kapitel:
Sport und Spiel angelangt, das für einen Theil der
Menschheit ein förmliches Lebensgeschäft bildet und dem
auch wir, theils aus Nachahmungstrieb, theils des Fremden-
verkehrs wegen, der unser Land allmählig zu einem Welt-
erholungs- und Spielplatz macht, mehr und mehr verfallen.
So gross wie in diesem Jahre war der Fremdenzufluss wohl
noch nie gewesen ; in den Monaten August und September
fand auf den grossen Bahnhöfen bei dem Einsteigen ein
förmliches Gedränge statt, in welchem die völlige Rohheit
des vornehmen Pöbels, ganz besonders der jungen Männer,
selbst gegen die Frauen, oft in einer Weise zum Ausdruck
kam, dass ein kräftiges Einschreiten der Bahnverwaltnng
gegen dieses Gedränge und namentlich das Unwesen der Be-
legung aller vorräthigen Plätze mit Gepäckstücken am Platze
Sport und Spiel. 611
sein würde. Für das nächste Jahr prophezeit uns ein englischer
Journalist noch mehr von diesem Vergnügen, wie folgt:
«Die kleine Schweiz hat einen guten Sommer (a «bigv
summer) hinter sich. Wohl selten, wenn überhaupt je, hatte
sie einen solchen. Jedermann, einige unverbesserliche Brumm-
köpfe ausgenommen, ist zufrieden. Das «Jahr der Neuner»
(1+8—99) war ein Glücksjahr. Obwohl die heurige Saison
— zu unserra und noch vieler Bedauern nunmehr definitiv
beendet — eine erfolgreiche war, so darf noch eine bedeu-
tend erfolgreichere für das nächste Jahr vorausgesehen
werden. Die Weltausstellung von 1900 wird die Besucher-
zahl für die Schweiz bedeutend vergrössern. Viele müde
Touristen, nachdem sie den «Pariser Weltmarkt gesehen
haben, werden froh sein, Ruhe und Erholung an den Ufern
des Vierwaldstätter-Sees und anderswo in den Bergen zu
finden. Etwas Besseres könnten sie nicht thun, als hierher
zu kommen : denn es ist kein entzückenderes Land zu finden
als die Schweiz, um einige angenehme Sommerwochen zuzu-
bringen^
Wir gestehen es ein, zu diesen «Brummköpfen> zu ge-
hören, denn es könnte uns nach und nach so gehen wie der
Transvaal-Republik, wo die Fremden schliesslich zu regieren
und ihre Sitten und Lebeusanschauungen den «rückständigen»
Boeren sogar durch Krieg aufzunöthigen versuchten.
Bezüglich der Sitten ist bereits eine sehr bedenkliche
Laxheit in Bezug auf Vergnügungen sehr wenig empfehlens-
werther Art vorhanden. In Luzern fand Anfang September
«unter dem Protektorat des Grafen von Flandern» ein grosses
«internationales» Pferderennen statt und selbst in den «christ-
lichen» Blättern dieses Kantons konnte man lobende Bemer-
kungen nicht bloss über diese Thierquälerei selber, sondern
sogar über die zahlreichen Wetten lesen, die «nach dem von
Baden-Baden her introducirten Totalisator» stattgefunden
hätten. Luzern als «Fremdenstadt» zu heben, das ist natür-
lich das erste Interesse, alles andere kommt in zweiter Linie.
612 Jahresbericht 1899.
Es wurde aber im Spätherbst noch von Genf darin über-
boten, das sogar «Stiergef echte» auf seinem Boden erlebt«*
Damit wird die Rohheit förmlich gepflanzt, die sich mit-
unter schon in der Kinderwelt äussert. Zu den beliebten
Spielen der heutigen Jugend gehört charakteristischer Weise
eine geistlose Plakerei eines kleinen Holzkreisels, der durch
unaufhörliche Peitschenschläge zu immer neuen Anstrengungen
getrieben wird. Es ist dies eine gute Vorschule zu der Be-
handlung der Thiere, die zunächst, und endlich zu der Trei-
berei der Menschen führt, welche zuletzt folgt. Daran denken
unsere Schulgelehrten, die sonst alles systematisiren wollen,
schwerlich, dass sich durch solche Spiele eine Neigung zur
Grausamkeit, die zu den unschönen Naturanlagen des Men-
schen gehört, mehr als nöthig manifestirt und ausbildet.
In dieser Richtung ist uns auch das englische Football-
spiel, das mit seinen «goals» und «matches» auch bei uns.
aufkommt und eigentlich ein ziemlich rohes Gestosse ist,
unsympathisch. Ein Sportbericht gibt dies selbst in folgenden
Worten zu:
«Samedi a eu lieu, comme nous l'avons annonce, le
match demi-final pour le championnat suisse (2me serie) entre
le Berne F. C. et le Cantonal F. C. de Lausanne. Jona sur
le terrain des casernes ä Berne , ce match a et6 tr£s inte-
ressant, trös dispulä, un peu brutal meme de la part de
l'equipe bernoiee et s'est terminä par une victoire des Lau-
sannois, qui ont triomph.6 par 2 goals ä 0. Le Cantonal F. 0.
est donc qualiite pour le match final qui devra se jouer
contre le St. Gall F. C.»
Das Schlimmste in diesem Kapitel ist die Zunahme der
kleinen Spielhöllen in der Schweiz und zwar nicht bloss der
Privat-Cercles, in denen gespielt wird, sondern der öffent-
lichen Spielanstalten, die unter dem Namen «petits
chevaux» das Publikum zum Spielen förmlich auffordern und
Sport und Spiel. 613
daran gewöhnen. Welches Unheil dadurch gestiftet werden
kann, zeigte in diesem Jahre die Verurtheüung eines sonst
geachteten jungen Offiziers, der ihm anvertraute Gelder seiner
Untergebenen im Kursaal von Luzern verspielt hatte und
nun nebst seiner Familie sein Leben lang dafür zu btissen
hat. Man kann auch mit den scheinbar kleinen Einsätzen
leicht an einem Tage Hunderte von Franken verlieren, und
was noch schlimmer beinahe ist, man gewöhnt sich dadurch
an das Spiel und trägt nachher sein Geld nach Monte-Carlo,
über dessen europäische Centralspielhölle ein Blatt folgende
Angaben macht:
«Die Jahresbilanz der Spielhölle von Monte Carlo, auf
31. März abgeschlossen, ergab einen (Jeberschuss von Fr.
1,000,000 über das vorjährige Ergebniss. Die Spieltische
machten Einnahmen von Fr. 24,500,000, das der Gesellschaft
gehörende Hotel de Paris mit dem Cafe" de Paris brachte
Fr. 600,000 ein, so dass das Gesammteinkommen der Gesell-
schaft die ungeheure Summe von Fr. 25,100.000 erreicht hat,
was um so überraschender ist, als die Saison an der Riviera,
wegen Kriegsgerüchten und infolge von Typhusfällen, die in
Nizza vorgekommen sind, keineswegs eine glänzende war.
Bis Ende Januar ging das Geschäft flau, als mit den Mo-
naten Februar und März der Andrang ein ganz gewaltiger
wurde. Ein Engländer, Besitzer von Kohlenminen in York-
shire, gewann in drei Wochen Fr. 375,000. Ein russischer
Graf steckte in einer einzigen Nacht einen Gewinn von Fr.
350,000 ein und zwar in den neuen reservirten Spielräumen,
welche bis 2 — 3 Uhr Morgens offen gehalten werden. Sonst
sind die alten habituäs — richtige plongeurs für grosse
Summen — jetzt viel rarer als in früheren Zeiten. Es
spielen mehr kleinere Leute, welche sich auf ein Maximum
von Fr. 2500 oder Fr. 12,500 bis Fr. 25,000 Verlust limi-
tiren und nie darüber hinausgehen. Einige Ausnahmen kommen
stellenweise noch vor. Da ist z. B. ein Londoner Wucherer,
der Jahr für Jahr spielt, bis er Fr. 250,000 verloren hat,
und dann aufhört.»
614 Jahresbericht 1899.
In den eidgenössischen Käthen wird demnächst die Frage
aufgeworfen werden, ob diese «petita chevaux» überhaupt
nicht zu den von der Bundesverfassung verbotenen «Spiel-
anstalten» gehören, was für Jedermann, dem nicht der
«Fremdenverkehr* in erster Linie am Herzen liegt, unzwei-
felhaft ist. Die Lausanner-Zeitung berichtet darüber, wie
folgt:
«A propos des petits chevaux. Nous recevons de Geneve
une brochure intitulee : Les huit maisons de jeu de la Suisse
et les nouveaux kursaals projetes. Elle parait etre de la
meine main qui Fan dernier a publie une vigoureuse pro-
testation contre l'interpretation donnee par le Conseil föderal
ä l'article de la Constitution interdisant les maisons de jeu.
Meme dialectique serree, meme clarte dans l'exposition des
causes qui ont amene les pouvoirs publics a la tolerance
actuelle et meme impitoyable logique dans la deduction des
consequences demoraiisantes d'un pareil laisser-aller.
Nous la signalons ä tous ceux qui s'interessent a cette
questton trop actuelle, malheureusement meme chez nous.
En voici les conclusions:
Mais, sans discuter ici l'6tendue des pouvoirs de l'Au-
torite föderale, nous nous permettrons de dire qn'il est un
droit qu'elle n'a pas, c'est celui de changer le sens des mots.
Elle n'a pas le droit de dire qu'un cbat n'est pas un chat
on qu'un epervier en bas äge, parce qu'il est encore inoffen-
sif, n'est pas un oiseau de proie, mais un de ces interessant»
oiseaux qui ont et6 mis sous la protection de la Confädera-
tion et contre lesquels on ne per m et pas de lächer un coup
de fusil.
L'Autorite föderale n'a pas le droit de dire qn'un eta-
blissement avec jeu de petits chevaux ou autres jeux quel-
conques oü un entrepreneur offre au public, c'est-ä-dire au
premier venu, de ponter, n'est pas une maison de jeu, parce
que la mise n'excede pas une certaine somme et qu'un homme
riche et imprudent n'a pas chance de s'y ruiner.
Impossible, quelles que soient les pontes (fussent-elles
Sport und Spiel. 615
meme de 10 Centimes), impossible de dire qu'il n'y a pas lä
maison de jeu.
Or l'art. 35 ne fait pas d'exception. Tont ce qui est
constate etre une maison de jeu doit etre interdit et sup-
prime* en Suisse.
Eh! bien, les maisons de jeu y pullulent et, en presence
de ce fait, l'article 35 est un mensonge, nne hypocrisie ins-
crite dans notre Constitution.
Comme le propose M. Hilty, il faut snpprimer cet ar-
tiele. Rappeions ce qu'il disait dejä en 1897 :
«Au lieu de ces demi-mesures et de l'bypocrisie, comme
«on la pratiqne aujourd'hui, nous prefererions qu'on fit
«l'aveu formel que nous tenons avant toute chose ä attirer
«les ätrangers dans notre pays et a les y garder anssi long-
«teinps que possible. Pour cela tous les moyens nous sont
«bona. Voila le fond de la question qui s'agite.»
Oni, dirons-nous aussi, jetons bas le masqne ! Ne nous
laissons plus taxer d'hypocr i sie ! Que le Conseil föderal,
an lieu des petites rubriques qu'il invente pour n'avoir pas
Fair de laisser violer Tart. 35 de la Constitution, propose
carremem a TAssemblee federale l'abolition de cet article.
Si les Chambres y consentent et si le peuple suisse les ap-
prouve, cela donnera ä l'etranger nne triste idee de notre
etat moral, mais an moins on ne nous taxera plus de men-
songe.
M. Hilty ajoute :
«Une autre generation pourra arriver qui, mieux et plus
«serieusement inspiree, n'estimera plus que le developpemen-
«du Fremdenverkehr doit primer tout autre in-
«teret et toute autre consideration. Cette g6n6ration-lä
«pourra retablir l'article 35. >
Nous ne partageons malheureusement pas, sur ce dernier
point, l'espoir de M. Hilty. Si notre generation prend le
goüt des maisons de jeu, la generation plus serieuse et
mieux inspiree qui remettrait en honnenr l'art. 35 ne naitra
pas. Le supposer serait aussi impossible que de croire qu'il
viendra un temps oü on renoncera ä Manille aux combats
616 Jahresbericht 1899.
de coqs et en Espagne aux combats de tanreaux qui sont
cependant l'une des causes de la ruine de ces pays.
Uoe partie de la Suisse a 6te insensiblem ent attaqnee
d'une gangröne. Elle ne veut pas y croire et eile le nie.
Elle prätend que c'est un b o b o qui devait näcessairement
l'atteindre, mais avec lequel on peut vivre, et qui n'offre pas
de danger, pourvu qu'on mette un bandage sur l'ulcere et
qu'on ingurgite de temps en temps des potions döpuratives.
Elle s 'apercevra un jour que, malgre tous les palliatifs pos-
sibles, la gangr&ne gagnera toujours du terrain et deviendra
fatale pour le malade. Si Von veut la guärison, il faut am-
puter de snite les membres gangrenös.
Aujourd'hui encore l'operation est fort simple. II n'y a
qu'a ordonner l'application, sans reserves sophistiques, de
l'art. 35 et ä döfendre la räouverture des maisons de jeu
d&s Fete* prochain. Plus tard ce sera difficile. Mais le reniede
est, parait-il, trop höro'ique pour qu'il reste a nos autorites
assez d'energie pour l'appliquer.»
Autorites föderales et cantonales tremblent devant la
tonte puissance du Fremdenverkehr. Un seul gouverne-
ment, celni de Vaud, a montr6 qu'il avait encore de la
poigne, en reponssant l'oifre tentante faite ä la ville de
Lausanne, parce qne cctte offre coroportait unemaison dejea.
La presse se tait et se tire de cöte dös qu'elle rencontre
en chemin le Fremdenverkehr. Un seul Journal, croyons-
nous, la «Gazette de Lausanne», a donne* un vigoureux coap
de clairon pour engager la bataiJle contre le pernicieux
ennemi qui est venu s'implanter chez nous.
Mais personne n'a räpondu ä Pappel.
Ce qu'il faudrait maintenant et sans retard, c'est une
serieuse Interpellation dans 1' Assembler föderale. Nous avons
rencontre* plusieurs membres de cette assemblee qui recon-
naissent parfaitement que la Constitution föderale est outra-
geuseraent foulöe aux pieds. Mais pas un jusqu'ici n'a pris
la peine de se baisser seulement pour la relever et la re-
mettre debour.
Se sortir d'une vie paisible pour s'attaqner ä des in-
tärets materiels, respectables ou non, est, ü est vrai, peu
Sport und Spiel. 617
agröable. On est bientöt en but aux inv^ctjves violentes de
la presse et de la parole et on ne-s'y soumet pas volontiere,
surtout quand on n'a pas foi dans la röussite. Majs il y au-
rait moyen d'aborder la question sans srattaquer . ä, personne
et sans beaucpup se compromettre. II n'y aurait qu'ä suivre
a l'idäe de M. Hilty. Un d6put6! devrait une boune fois
prendre son courage ä deux mains et faire la motiori ,sui-
vante dans le conseil dont il fait partje :
«Attendu qne Part. 35 n'est plus observä, que son main-
<tien dans la Constitution fädeYale est une hypocrisie, je
«propose qu'il soit abroge\»
Desormais la qnestion sera nettenient pos6e de van t l'As-
«erablee föderale et devant le peuple. Si Tun et l'autre votent
l'abrogation de l'article, la position sera franche. II sera
Stabil que la Suisse enttere ne craint pas d'assumer la honte
de devenir un tripot ä Pexemple de Monaco. Mais ön ne
pourra du moins plus l'accuser d'hypocrisie et de mensonge.
Si au contraire l'Assembläe föderale passe ä Vordre du
jour sur la proposition, cela voudra dire qu'elle veut que
Tarticle 35 de la Constitution föderale devienne une verite;
cela signiliera qu'elle veut qu'il soit appliqu6 comme l'ont
voulu ceux qui Tont vote* sans aucune hesitation en 1874.
Alors les magistrats fede>aux et cantonaux secoueront leur
indulgente faiblesse et comprendront que tout ce qui res-
semble ä une maison de jeu, petits-clievaux et autres entre-
prises de jeu, cercle des 6trangers, entrepreneurs et Croupiers
Avec leurs engins, doivent Gtre balayes bors du territofre
helvetique.
Et nons osons espärer que la grande majoritä du peuple
suisse approuvera et fera comprendre qu'elle ne se soucie
nuilement de voir son pays devenir le Tripot central
de l'E u r o p e. »
Leider haben diese Fragen eine Art von politischem
Beigeschmack dadurch erhalten, dass die der Eegierungs-
partei oppositionellen Kreise sich vorzugsweise derselben
annehmen, womit dann das Spielen und noch viel schlimmere
Dinge als «fortschrittlich» erscheinen.
618 Jahresbericht 1899.
Aus Belgien, das mit ans so ziemlich auf der gleichen
Linie «vorwärts» geht, wird folgendes berichtet:
«Der Senat hat den Gesetzentwurf betreffend die Glücks-
spiele im Ganzen angenommen.» Durch dieses Gesetz werden
Glücks- und Bankspiele an öffentlichen, oder dem Publikum
zugänglichen Orten verboten. Eine A us nähme wird für die
Städte Spaa und Ostende gemacht, wo die Einrichtung eines
Spielklubs erlaubt wird(!)»
So werden wir vielleicht auch noch dazu kommen, an
einigen privilegirten Orten das Spiel zu gestatten, wie es
früher in Saxon war, damit wenigstens dieses Laster und die
ganze korrupte Gesellschaft von Herren und Damen, die es
anzieht, sich, nach dem System der Quarantaine-Einrichtuug,
nur auf einzelne Orte eingegränzt werden und nicht das
ganze Volk vergiften.
Gegen die Lotterien, die auch «eigentlich» verboten
sein sollten, anzukämpfen, hat sich einstweilen ebenfalls als
nicht sehr wirksam erwiesen, seit überall für Gewerbeaus-
stellungen, Kirchenbauten und dgl. solche Erlaubnisse ertheilt
werden. Für die kantonale Gewerbeausstellung in Baselstadt
von 1901 soll dies, nach dem Muster der eidgenössischen
Ausstellung in Genf, nun ebenfalls wieder geschehen.
Ebensowenig scheint es vor der Hand möglich zu sein,
das Velorennen in den Strassen der Städte zu beseitigen.
Eine Zeitung berichtete darüber, wie folgt:
«Darf ein Radfahrer Bürgersteige benutzen, auch wenn
er sein Rad an der Hand führt ? Mit dieser Frage hatte sich
jüngst der Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamburg zu
beschäftigen, der in verneinendem Sinne die Entscheidung
traf, so dass nicht nur Bürgersteige, sondern auch Fusswege,
Promenaden- und Reitwege, die als solche bezeichnet sind,,
von Radfahrern auch nicht einmal zum Führen ihres Rades
an der Hand gebraucht werden dürfen. — In Bern sieht man
einzelne Schläulinge mit dem Rad an der Hand sogar durch
Sport und Spiel. 619
die «Laubon» marschiren. Das ist entschieden unstatthaft.
Es gibt da Verkehrshindernisse sonst genug, namentlich am
Dienstag und Samstag.»
Dagegen meint der «Touring-Club Suisse», es sollte die
Eidgenossenschaft zu seiner grösseren Bequemlichkeit die
Landstrassen übernehmen und erhalten. Ein derartiges Flug-
blatt, das wirklich die naive Dreistigkeit der Sportleute
köstlich charakterisirt, lautet:
«Der T.-C. S. eröffnet in den Spalten seiner Revue eine
öffentliche Besprechung der folgenden Frage:
Es ist, bei dem schlechten und ungenügenden Zustande
einer grossen Anzahl schweizerischer Strassen, im allgemeinen
Interesse, diese Verkehrsmittel so vollkommen wie möglich zu
gestalten.
Es ist kein Grund vorhanden, weswegen die Eidgenossen-
schaft, die den Rückkauf der Eisenbahnen beschlossen hat>
nicht in gleicher Weise die Landstrassen übernehmen sollte.
Wäre es nun nicht möglich durch eine Eingabe an die
eidgenössischen Kammern, oder dnrch Volksinitiative, die eid-
genössischen Autoritäten zur Annahme einer konstitutionellen
Verfügung zu veranlassen, durch welche sich die Eidgenossen-
schaft zur Anlage, Korrektion und Instandhaltung aller kanto-
nalen Strassen der Schweiz verpflichtet?»
Also ein < Velo- Artikel» der Bundesverfassung zu dem
«Schächtartikel». Einstweilen befürchten wir denselben noch
nicht stark.
In München fand in diesem Sommer eine grosse «Sport-
ausstellnng» statt, worüber eine Berichterstattung der A. Z.
folgende Philosophie der Erholung zum Besten gibt:
«In der langgestreckten Halle, in der vor Jahresfrist unter
der Wirkung des vom Menschengeist gebändigten und dienstbar
gemachten Blitzes die Räder surrten, hat sich heuer die
«Kunst der Erholung» von harter Arbeit sesshaft gemacht,
die wir unter dem Sammelbegriff «Sport» zusammenfassen.
Wir Modernen, die wir nicht selten die Dekadenten des Fin
de siöcle genannt werden, haben es längst aufgegeben, das.
dolee far niente nach Art der Lazzaroni zu pflegen und zu
620 Jahresbericht 1899.
gemessen; das Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität
hat uns untrüglich die Wahrheit des Spruches demonstrirt :
«Rast' ich, so rost' ich!» und dadurch sind wir hin übergeleitet
worden zu der Ansicht, dass auch das scheinbare Spiel den
Zweck verfolgen müsse, unsere intellektuellen oder physischen
Kräfte für die ernste Arbeit zu stählen, zu kräftigen.»
Wir haben alsbald nichts dagegen, wenn wirklich ein
Sport zur Arbeit stählt und Lust macht. Bei den weitaus meisten
Sportleuten ist dies aber gar nicht der Fall, sondern das ist
■
ihre Arbeit, von der sie sich erst wieder erholen müssen.
Diese Leute. geben unserem Volke ein beständiges schlechtes
Beispiel, das nicht durch das Geld ausgeglichen wird, welches
sie in das Land bringen, so dass wir mitunter den Ideengang
des italienischen Dichters Carducci ein wenig verstehen, der
in seiner berühmten Ode «Von den Thermen des Caracalla»
sogar das Fiebor anruft: «Fieber, höre mich, halte die Fremden
ferne von hier und ihre ganze Alltäglichkeit.»
Leider gleicht auch die moderne Kunst immer mehr
diesem Sportwesen, indem sie nicht mehr die höchste Dar-
stellung des Schönen in der Welt sein will, sondern blosse
Manierirtheit zeigt, die etwas als schön und kunstvoll erklärt,
was es gar nicht ist, oder geradezu einen «Kultus dcsHässlichen*
an die Stelle des Kultus des Schönen setzen möchte. In dieser
Hinsicht waltete in diesem Jahre ein grosser Streit über die
Fresken, welche der Maler Ferdinand Hodler von Genf an die
Wand des Waffensaales im Landesmuseum von Zürich zu
malen beauftragt wurde, ein Auftrag, der leider von der
Mehrheit der eidgenössischen Kunstkommission, und demzufolge
auch von dem Bundesrathe bestätigt wurde. Es bleibt für
uns unbegreiflich, wie Jemand überhaupt an den Hodler'schen
Gemälden Geschmack finden kann ; jedenfalls aber war es
gegenüber einer so starken Oppositon, sogar von Seite der
Landesmuseumsdirektion und der Stadt Zürich selber, nicht
Kunst. 62 1
am Platze das eidgenössische Geld für Bilder anzuwenden,
die eine künftige mit besserem Geschmack begabte Zeit
wahrscheinlich wieder herabschlagen wird. Dass einem Maler
vor der Richtung Hodlers überdies jeder historische Sinn,
wir fürchten sogar die historische Kenntniss von Kostümen,
Waffen etc. fehlt, was alles zu einem historischen Gemälde
nothwendig gehört, das ist selbstverständlich und durch diese
Probe neuerdings erwiesen.
Dessenungeachtet glaubte ein Theil der schweizerischen
Künstlerschaft sich ihres Kameraden annehmen zu müssen und
richtete an den Bundesrath ein ziemlich unpassendes
Schreiben, das wir zur Charakterisirung dieser Richtung
abdrucken. Demnach soll also das ganze gebildete Publi-
kum kein Urtheil mehr darüber haben, was schön sei ;
nur bezahlen darf es noch, was die «Künstler» als schön je«
weilen erklären. Und sie machen es sich wirklich damit
zuweilen bequem, einige Figuren mit einer schwarzen Linie
umzogen, wie es die Kinder machen, darin einige möglichst
bunte Farbenklekse, und wenn es dann recht hässlich ist, so wird
es «kraftvoll» genannt. Das Schreiben lautete, wie folgt:
«An den hohen Bundesratli ! Die unterzeichneten Künstler
protestiren aus allen Kräften gegen die Handlungsweise der
Landesmuseumskommission und den von dieser Kommission
gegenwärtig geführten Feldzug, der den Zweck hat, die Aus-
führung des Gemäldes von Ferinand Hodler, das den Rückzug
von Marignano darstellt, zu hintertreiben.
Von dem Grundsatze ausgehend, dass ein Künstler wahr-
haft und nach seinem vollen Werthe nur durch seinesgleichen
(que par ses pairs) kann beurtheilt werden, bitten die Unter-
zeichneten den hohen Bundesrath, in dem vorliegenden Falle
seine ganze Autorität zu gebrauchen, um dem Beschluss seiner
Kunstkommission und seiner Jury Nachachtung zu verschaffen
und so dem Künstler die Ausführung seiner Arbeiten, auf
die er ein Recht hat, zu sichern.»
622 Jahresbericht 1899.
Ein sachverständiger Artikel der Lausanner- Zeitung
Äusserte darüber:
«Dans l'adresse, qa'ils se disposent & reinettre au Conseil
f£d6ral, les camarades de M. Hodler revendiquent pour celui-ci
le droit d'etre juge" par ses pairs, et c'est ä ce titre qu'ils
recommandent avec instance au Conseil federal l'exäcution de
la composition contestee. Un personnage bien renseigne et qui
«onnait en particulier le sentiment des Zurichois dans cette
affaire, m'assure que la cause de M. Hodler n'a rien & ga^ner
& etre prise en mains par les artistes, et il m'en a donne* les
raisons snivantes:
«L'impression produite sur le public zurichois par les
deux projets successifs de M. Hodler est däplorable. II n'y
a eu qu'ane voix pour declarer que ces compositions etaient
laides, inintelligibles et qu'elles ne repräsentaient pas la re-
traite de Marignan, tuöme assigne" au peintre. Le jury a 6te
en somme de cet avis, car il a refuse" le premier carton et
il ä fait du second une critique qui n'en laissait rien debout.
Mais, par une inconsequenco injustifiable, le jury a conclu
li l'exäcutiou de la composition dont il avait si bien releve
les defauts capitaux. A Zürich, on a attribue cette conclusion
4 la camaraderie, et on n'a pas etö trop etonne de voir la
commis8ion des beaux-arts se ranger au meme avis, puisqur
certains de ses raembres avaient dejä si6ge dans le jury de
concours. Sans s'emouvoir beaucoup de la contradiction flag-
rante oü 6tait tombe* le jury, on en a conclu & Zürich qu'on
avait eu tort de le composer d'artistes et de s'ecarter ainsi
de l'exemple donne" par d'autres pays. Mais si, maintenant,
toute la confrerie juge & propos de se proclamer solidaire
avec M. Hodler et si eile prätend avoir raison de l'indignation
de la population zurichoise, il faut s'attendre ä ce que ceile-ci,
loin de däsarmer, acquiere une conscience plus nette de son
instinctive räpulsion pour l'6cole qui entreprend de forcer son
admiration. Cela ne sera pas un mal, car, vraiment. certains
peintres, Ferdinand Hodler en täte, se moquent depuis trop
longtemps du public, et il est bon que celui-ci s'en apergoive.
Les Zurichois, dans tous les cas, sont d'avis que des peintures
k exäcuter aux frais des contribuables ne doivent pas froisser
Kunst. 623
le sens esthetique de tonte une popnlation; ils se refusent
^nergiquement ä reconnaitre Marignan dans la coniposition
repugnante et confuse de M. Hodler, et ils ont bon espoir
que le Conseil föderal sera de leur cöt6 dans la resistance
que le bon sens public oppose enfin aux extravagances et
aux mystifications d'artistes fourvoy6s, qui cherchent & imposer
leurs ceuvres ä force de reclame et de toupet.»
Les appräciations qui pröcedent ne sont pas le fait d'un
horame isole et j'ai 6t6 £tonne da progres que le point de
vue zarichois a fait dans les regions officielles. 11 y a la une
indication qui ne doit pas etre perdue pour les artistes de
la Suisse romande.»
Das klassische Gutachten, welches Herr Prof. Dr.
Kahn auf den Wunsch des Stadtrathes von Zürich über die
.zweite, sogenannte «Verbesserung» des Hodlerschen Cartons
abgegeben hatte, lantete u. a.:
« Vorzüge des neuen Cartons sind dem früheren gegenüber
nicht zu verkennen: Die Grnppirung der Massen ist eine
gesammeltere, die Auffassung ruhiger und mass voller ge-
worden, an Kraft und Bestimmtheit hat die farbige Gesammt-
wirkung gewonnen. Aber befriedigend und wahrhaft erfreu-
lich vermag ich auch diese Lösung nicht zu linden ; sie ist
von diesem Erfolge fast so weit wie die vorige entfernt.
Die Scene stellt den Rückzug eines Nachtruppes, oder
eines Häufleins Versprengter vor, die auf müdem Marsche
mit Bannern und mit ihren verwundeten Kameraden dem
schon entschwundenen Heerhaufen folgen. Nur zwei sind
zurückgeblieben, scheinbar im Begriffe stehend, die Abzie-
henden gegen einen unsichtbaren Angriff zu decken. Halb
vergraben, mit aufgesperrtem Maule schaut zuvorderst ein
Gefallener aus dem Boden heraus. Hinter dem Zuge dehnt
sich mit parallelen Falten eine leblose Wüste aus. Gefallene
tauchen hin und wieder aus den Furchen auf, aus der Mitte
ein Gewimmel von Fahnen zwischen fernen Gruppen, deren
Verhältniss zu den vorderen ein unverständliches ist.
Schwefelgelb, Orange und Hellblau sind die dominirenden
Farben, die sich schreiend und trocken von dem lichten Rosa
der Tiefe sondern. Gleiche Müde in der Haltung und auf
624 Jahresbericht 1899.
den Gesichtern, Monotonie in Gruppen, Bewegungen und
Gliederlagen und eine grelle Härte sind die Eindrucke, die
wir zuerst empfinden.
Kann ausserdem von einer Komposition, von treffender
Schilderung eines historischen Momentes, oder auch nur von
Wahrheit im einzelnen gesprochen werden ? Ich wage nicht
Ja zu sagen. In Bezug auf die Komposition hat sich dieser
Entwurf so wenig wie der frühere Carton über die Schwäche
erhoben, die in der blossen Reihe und dem absoluten Mangel
an natürlicher Tiefe liegt.
Aus zwei gleichen Hälften setzt sich das Häuflein zu-
sammen, die beide die nämliche Gruppirung wiederholen. In
gereckter Haltung geht jeder ein gedrungener Geselle zur
Seite, der eine schwefelgelb, der andere in Orange gekleidet;
dahinter zwei Männer, die einen Verwundeten hier und die
letzten einen Sterbenden tragen; im dritten Gliede, alle ge-
beugt, die Mannschaften, welche die Banner bewachen.
Das sollen die Streiter sein, die besiegt, aber unge-
brochen die Schweizerehre aus einer Heldenschlacht gerettet
haben? Es ist schlechterdings unmöglich, an den Ernst
dieser Vorstellung zu glauben, wenn wir einen Zug gewahren,
der sich in nichts von der Haltung eines Maleticanten Schubes
nach dem Eichtplatz unterscheidet. Gewiss, Erschöpfung,
Ingrimm und Trauer sind unzertrennliche Gefährten der ge-
schlagenen Streiter gewesen, aber sicher auch andere Ge-
fühle; Stolz und Trotz und der Wagemuth, auch den Rück-
zug als Helden zu machen. Hat der Künstler diese Seite in
Anschlag gebracht ? Scheinbar in den Zweien , die zur
Rechten stehen, einem untersetzten, barhäuptigen Bravo, der
aber vorerst das Eisen der Mordaxt noch auf den Boden
senkt und sich ausnimmt, wie ein Holzknecht, der von un-
gefähr des Weges gekommen ist. Der zweite, den eine häss-
liche Lücke von dem Zuge trennt, wiederholt eine piece de
resistance, für welche der Meister eine so unwandelbare Zu-
neigung besitzt, dass er sie in der gleichen unmöglichen
Parirstellung nun allbereits zum vierten Male wiederholt.
Und nun die Situation, in der sich die übrigen befinden.
Sie ist eine solche geworden, dass nur noch jene Parade sie
Kunst. 625
von den auf den Fersen nacheilenden Feinden trennt ; doppelt
kritisch im Geleite der Fahnen, unter denen das Lilienpanner
als Trophäe die höchste Heransforderung an den Gegner be-
deutet. Aber unbeirrt schiebt das Trüpplein weiter; keine
Miene verräth die Aussicht auf ein neues Gewühl, kein
freudiges Auge hebt sich zu den geretteten und erbeuteten
Ehrenzeichen empor, kein Haupt ist zurück in der Eichtung
gewendet, ans welcher abermals die Macht des Todes droht.
Ist die Spur von Wahrheit in dieser Auffassung zu finden
und wie stellt sich nun auch noch ihr Verhältniss zum Ein-
zelnen dar?
Ueber Geschmackssachen zu rechten ist erfahrungsgemäss
ein fruchtloses Beginnen und so möge der Künstler seinen
Gefallen an einer abgelebten, brutalen und stumpfen Mensch-
heit bewahren. Aber wenn diese Kreaturen am Ende nur
gehen, handeln und einer normalen Leiblichkeit sich erfreuen
könnten. Wie ägyptische Figuren, so schieben und schleifen
sie auf platten Sohlen einher; nicht eine Ferse, keine Fuss-
ßohle hebt sich vom Boden ab. Unmögliche Handgriffe haben
schon auf den früheren Cartons befremdet; die neue Arbeit
weist deren die Menge auf. Hat je ein Krieger wie der
letzte zur Hechten in kampfbereiter Stellung gestanden und
je einer sich des Zweihänders als Spazierstock bedient? Wie
mochte die Qual der Verwundeten sich gesteigert haben,
indem sie, sowie der Künstler es schildert, auf langem
Marsche transportirt worden sind : Zwei Beine auf einer
Achsel und dazu noch über dem glatten und harten Panzer,
auf dem sie, um nicht herabzugleiten, mit doppelter Wucht
umklammert werden inussten.
Ich unterfange mich nicht, einem Künstler gegenüber
mit zeichnerischen Belehrungen aufzutreten ; aber, was jeder
Laie sieht, vermag auch ich zu sehen: Verzeichnungen an
Rücken, Bäuchen und Gliedmassen, Köpfe ohne Augen, einen
Unterschenkel, der dreimal ausgerenkt erscheint. Wer hält
die Fahnen? Wo ist das rechte Bein des violetten Trägers
in der hintern Gruppe zu suchen und wo auf dem Erden-
rund ein Mensch, dem ein grasgrüner Bart gewachsen ist ?
Gleiches Befremden erwecken die rothen Flecken, die sich
40
626 Jahresbericht 1899.
durch die vorderste Fahne ziehen. Sie sind keine Blutspuren,
in denen der Künstler so gerne macht, sondern sie werden
als Risse gedeutet, durch die ein zweites, sonst nicht sicht-
bares Panner schimmert. Das hindert aber nicht, an Flecken
zu glauben und das Auge so zu verwirren, dass es immer
wieder zu diesen Blutegeln emporschauen muss. Die Hand
aufs Herz; hätte ein armer Unbekannter so gezeichnet und
gefarbelt, er würde als Stümper verschrien und sein Werk
ohne weiteres aus dem Gesichtsfeld geräumt worden sein.
Für die Wiedergabe von Einzelheiten hat der Künstler
den Rath von Sachverständigen vernommen and demgemäss
das eine und andere der ihm zur Verfügung gestellten Ob-
jekte kopirt. Damit aber begonnen, hätte ein Weiteres nicht
unterbleiben sollen, das Studium der Trachten, die so unend-
lich schöner und malerischer als die hier vorgeführten sind,
und die Art, wie die Waffen in That und Wahrheit geführt
worden sind. Zeugniss krasser Unkenntniss oder geflissent-
licher Missachtung des Historischen sind die Fahnen. Ein
weisses Kreuz auf blauem Feld, was soll dieses Zeichen be-
deuten und welcher Historiker oder Antiquar ist imstande,
ein violettes Kriegsbanner nachzuweisen V
Wie viel solchen Schlages die Zukunft noch bringe, es
berührt mich nicht, weil ich mir ein weiteres Schauen er-
sparen kann. Das Vorliegende mnsste ich sehen und ich
musste Meinung bekennen, weil den Anlass dazu ein Appell
an meine amtliche Stellung gab.
Unverständliche Schilderung des gegebenen Momentes,
Unwahrheit im einzelnen und Mangel jeglichen Feingefühls
für Empfindungen, Formen und Farben, ein anderes Urtheil
vermag ich nicht zu fällen. Ich gehe aber noch weiter, in-
dem ich der Ueberzeugung Ausdruck gebe, dass das Werk
auf solcher Stelle der Massstab eines Urtheils werde, das
der sc hw ei ze rischen Kunst vor dem Forum
des Auslandes weder zum Frommen noch zur
Ehre gereicht.»
Einstweilen hat die Bundesversammlung darauf mit der
Herabsetzung des Kunstkredits auf die Hälfte geantwortet,
und wenn man das Publikum fragen würde, was es darüber
Kunst. 627
and aber die Auswahl der Gemälde denkt, welche bisher bei
den Ausstellungen für Rechnung des Bundes um hohe
Summen angekauft worden sind, so würde vielleicht auch noch
die andere Hälfte gestrichen werden. Auch der illustrirte
Katalog der letzten Ausstellung prangte mit der Titelfigur
eines hässlichen nackten Jünglings, der seltsam genug nur* am
Kopf und an den Füssen bekleidet und dessen ausgestreckter
Arm verzeichnet war. Es wäre unseres Erachtens hohe
Zeit, die eidgenössische Kunstkommission von Grund aus zu
ändern, wenn sie in ihrer Mehrheit dieser Richtung angehören
will. Unseres Erachtens ist überhaupt der ganze «Symbolismus»
ein Irrthum. Darauf, dass er jetzt gerade Modesache ist,
kommt es nicht an und wenn einige schweizerische Zeitungen
sich sogar dahin verstiegen, zu sagen, das Ausland beneide
uns bereits um unseren Hodler, so beneiden wir dieses Aus-
land nicht um seinen Kunstgeschmack, der übrigens meistens
nur das Urtheil einer kleinen Clique ist, wenn man die Sache
näher besieht. Die Kunst ist dazu da, um das menschliche
Herz durch die richtige Darstellung des Besten und Schönsten
zu e r fr e n e n und über das Alltägliche zu erheben. Wenn sie
das nicht leistet, ist sie nicht viel werth und es ist leider
wahr, was ein englischer Kritiker von einer von Zeit zu
Zeit auftauchenden Richtung unter den Künstlern, namentlich
den geringeren, sagt :
«Mere art perverts taste ; just as mere theology depraves
religion.»
Auch eine Anzahl schweizerischer Künstler wünschen
eine Reform der Kunstkommission, aber in einem ganz an-
deren Sinne als wir. Der «Bund» berichtete darüber, wie
folgt :
«Eine Anzahl schweizerischer Künstler haben an das
eidg. Departement des Innern ein Gesuch gerichtet , es
möchten Reformen eingeführt werden in der Ernennung und
628 Jahresbericht 1899.
der Organisation der schweizerischen Kunstkommission. Die
Unterzeichner des Gesuches glauben, dass die Autorität der
schweizerischen Kunstkommission wirksamer wäre, wenn die
Künstler die Mitglieder derselben ernennen könnten. —
Dieses Begehren wird, so viel wir bis jetzt bemerken konn-
ten, von der Presse der verschiedensten Richtungen als un-
zulässig und unzeitgemäss abgelehnt. Die «Züricher Post>
meint, im Volke werde das Gesuch den Eindruck machen,
den die Herren ja zweifellos nicht beabsichtigen, dass ge-
wissen Künstlerkreisen sehr wenig daran liegt, was aus
Bundesmitteln für die Kunst, aber sehr viel daran, was für
einzelne Künstler aufgewendet wird. Man werde sich auch
fragen, wie die Herren, wenn sie selbst über die Verwen-
dung der Bundesbeiträge «zur Förderung der Kunst» ent-
scheiden; sich die Verbindung der Kunst mit dem Volk, den
Laien denken. Das Verlangen, sich ohne Kontrolle über die
Bundesunterstützungen hermachen zu können, habe doch gar
zu viel Aehnlichkeit mit dem ordinären Hunger nach der
Staatskrippe, der heute in allen wirtschaftlichen Vereini-
gungen grassirt. Wir halten dafür, dass es im Interesse der
Künstler wie der Kunst sei, dass die Wahl der Kunstkoni-
mission nicht in die Hände der Künstler gelegt werde. Un-
befriedigte würde es auch bei dem neuen Wahlmodus geben,
und dann würde des Streites und Haders unter den Künstlern
kein Ende sein.»
Es ist wenig Gefahr vorhanden, dass die Bundesver-
sammlung das noch beschliesse, ganz im Gegentheil.
Auch in Deutschland waltete ein ähnlicher Streit, wie
der Hodler'sche, um ein Deckengemälde eines Malers Stuck,
welches das Reichstagsgebäude zieren (?) sollte, das aber
dort (vernünftiger als wir gehandelt haben) von der Aus-
schmückungs-Kommission verworfen wurde, unter Abfindung
dieses sogenannten Künstlers, der vorsichtiger Weise
übrigens bereits 22,000 Mark vorausbezogen hatte.
Der bekannte bayerische Cent rums- Abgeordnete Lieber
erklärte in seiner derben Ausdrucks weise geradezu : cMalerei
verdient dieses Bildwerk kaum genannt zu werden; ein
Kunst. 629
Kunstwerk ist es nnr, wenn jede Schmiererei ein solches
sein sollte. (Zustimmung rechts.) Es ist das schlechteste*
Werk des vielgenannten Künstlers. Auf die Umgebung wirkt
dieses Bildwerk wie ein Tintenklecks, wie ein Hohn auf
jeden geläuterten Geschmack. (Zustimmung rechts.) Wenn
wir ko unser Gebäude ausschmücken wollen, dann kommen
wir besser weg, wenn wir die Titelbilder der «Jugend»
sammeln und ankleben, statt solche Spottgeburt von Dreck
und Feuer als dekorative Malerei zu verwenden.»
Aach in der Musik beginnt sich eine gewisse Reaktion
gegen die Uebertreibung der angeblichen «Kunstleistungen»
geltend zu machen. In einem Vortrag in St. Gallen, welchen
Pfarrer Rohrer (jetzt in Bern) hielt; konstatirte er zunächst,
«dass der Volksgesang vor Zeiten eine ungleich bedeutsamere,
«einer Natur besser entsprechende Stelle im Volksleben ein-
genommen habe. Sang vordem das Volk und war die Familie
der traute Hort dieses Gesanges, so ist das heute leider
anders geworden — das Volk singt nicht mehr, nur noch
die Vereine — und diese singen keinen Volksgesang mehr,
sondern Kunstgesang oder höchstens verkünstelten Volksge-
sang. Der vierstimmige Tonsatz hat den Unisono-Gesang ver-
drängt; jener aber ist ein künstliches Produkt, das nie und
nimmer den einstimmigen Volksgesang ersetzen kann. Die
Sänger der nur der Accordfüllung dienenden Stimmen fassen
die Melodie meist nicht auf und können darum das Lied auch
nicht mitempfinden — sie erleben das Lied inwendig nicht
und können es darum auch nicht auswendig. So können
ausserhalb des Vereins auch die einfachsten Volkslieder nicht
mehr gesungen werden, die Bücher sind nicht zur Hand, es
fehlt am I. Tenor oder am I. Bass oder sonstwo. Nur noch
vereinzelt tritt heutzutage der wahre Volksgesang als Aus-
druck des innern Gemüthslebens auf, so bei den Kindern,
deren Singen oft der Sonnenschein des ganzen Hauses ist,
dann bei den Studenten, die ihre einstimmigen Lieder noch
auswendig singen und wenn sie zehn Strophen enthalten —
und doch wird ihr Singen so oft «Brüllen» genannt, weil
die dynamischen Nuancirnngen vielleicht nicht so peinlich
630 Jahresbericht 1899.
beachtet werden. Dafür können diese dann dnrch die Strassen
ziehen unter den Klängen eines flotten Marschliedes, wahrend
unsere Vereinssänger ihre Stimmen schonen müssen auf das
bevorstehende Konzert, ebenso wie ihre Lieder dem Publikum
nicht zu früh geboten werden dürfen, da sie ja ein Zugstück
des nächsten Konzertes bilden müssen. Ja, für Sängertage,
Konzerte, Abendunterhaltungen und andere Festlichkeiten
wird gesungen, dass alles über die vielen Proben jammert«
und nachher ist unter allen Wipfeln Ruh! Das ist sicher-
lich kein gesunder Zustand. Zum Kunstgesange fehlt auf
dem Lande jener Grad von Bildung, der zu dessen Uebung
wie zu dessen Genüsse erforderlich ist, daher er denn auch
den Volksgesang nicht ersetzen kann. Die Hauptstelle im
Gebiete des Gesanges soll das einfache Volkslied einnehmen
und nicht der künstlich gepflegte Vereinsgesang, der zwar
auch seine Berechtigung hat, aber erst in zweiter Linie,
hinter dem Volksgesange.
So wies der Vortragende, der ein feinsinniger Kenner
der Musik und des Volkslebens ist, jedem Gebiete die ihm
gebührende Stellung an. Erschalle denn nicht ungehort sein
Ruf: Mehr Volksgesang in allen Kreisen der Bevölkerung
— mehr als je Pflege des einfachen, ungekünstelten aber
lebensvollen Volksliedes in Familie, Schule und Verein!»
Zur Schule rechnen wir auch mit die Schule des Wehr-
manns, den nationalen Wehrdienst.
So lange aber die Schiedsgerichte an eidgenössischen
und kantonalen Sängerfesten den widersinnigen Unterschied
machen zwischen «Volksgesang I. Ranges» oder «schwieri-
gerem Volksgesang» und «Volksgesang II. Ranges» oder
«einfachem Volksgesang», eine Unterscheidung, die beweist,
dass die Fachkundigen gar nicht mehr wissen, was Volks-
gesang ist, — so lange wird der Herzenswunsch des Vor-
tragenden noch ferne ßein von seiner Verwirklichung. So
wie das einfache Volkslied ein einstimmiges Lied ist, so
sind es auch die richtigen Marschlieder. Fügen wir bei:
Kunst. 631
so sind es auch die fanfarenartigen Unisonomärsche, die dem
Soldatenohr am verstandlichsten sind, die den Soldaten am
meisten packen und die von nnseren der Holzinstrumente
entbehrenden Militärmusiken hauptsächlich geblasen werden
sollten. Aber, was entgegnen uns unsere Fachmänner, wenn
man ihnen das vorhält? «Solche Märsche sind ohne musika-
lischen Gehalt» Den Musikdirigenten von heutzutage ist eben
das Verständniss für volksthüm liehe Musik ganz und gar
abhanden gekommen. Und sie werden Herren bleiben der
Situation, bis dereinst aus dem Laienthum eine
reaktionäreBewegung mitNaturgewalt her-
vorbricht, die der vertrakten Künstelei ein Ende macht.»
Von monumentalen Bauten war besonders der
Basler Rathhausneubau der Gegenstand eines lebhaften Ge-
schmackstreites. Schliesslich entschied dort das Volk durch
Abstimmung, was schön sei und was nicht, nicht etwa die
Run stierschaft, und dieses Recht wird es sich auf die Dauer
nirgends nehmen lassen, selbst wenn es Ein Mal, wie im Falle
Hodler, durch eine Clique vergewaltigt worden ist.
Ueber die Restauration der Kathedrale von Lau-
sanne sagt ein Artikel der Lausanner-Zeitung :
«Une notice trös complele et illustre'e avec goüt vient
d'fctre mise en vente au profit de Toßuvre de restauration de
la cathädrale. Elle est intitul6e : «La cathädrale de Lausanne
et ses travaux de restauration, 1869 ä 1898», et a 6te re-
digäe, sous les auspices du comitä de restauration, par M. L.
Gauthier, chef de service au departement cantonal de In-
struction publique et des eultes.
On lira avec inte>et, ä Lausanne et an dehors, le re-
8um6 des longs et patients travaux de restauration de la
noble cathädrale oü, des le XIIIe siecle, les pelerins adoraient
Notn?-Dame de Lausanne et oü, le 14 avril 1476, ä la veille
de la bataille de Morat, Charles-le-T6meraire vint, en graude
pompe, entendre la messe.
632 Jahresbericht 1899.
Le memoire montre que si la restauration a dejä coüte
beaucoup de teraps et beaucoup d'argent, eile est loin d'etre
achevöe. «II reste, dit-il, encore enormem eot ä faire et les
depenses en perspective sont considerables. Mais le peuple
vaudois saura se montrer ä la hauteur de la täche et tien-
dra ä transmettre en bon etat ä la posteritä an monument
qai de tout temps a fait l'admiration des connaisseurs et des
artistes. La fin da siecle approche et ce doit etre pour
chacuu l'occasion d'un redoublement d'activitö. II faat qu'en-
fin la vieille cathädrale de Lausanne apparaise dans toute sa
splendear. C'est sous les voutes d'un temple dignement re-
staurä qu'en 1903 nous voulons c£16brer le centieme anni-
versaire de notre eher canton de Vaud.*
Bemerkenswerthe Denkmäler wurden folgende in-
aagurirt :
Vor Allem das Davel's auf der Ebene von Vidy, auf dem
ehemaligen Hinrichtungsplatz. Es trägt die einfach schone
Inschrift: «Ici Davel donna sa vie pour son pays.» Heute
beklagen sich die Verschwörer selbst über blosse Ausweisungen.
In Zürich wurde ein Pestalozzidenkmal, in Basel ein Hebel-
denkmal aufgestellt, in Lausanne soll nun vor dem Bundes-
gerichtsgebäude der von einem Pariser-Juden geschenkte
Wilhelm Teil aufgestellt werden. Während im Uebrigen
überall Denkmäler wie Pilze aus der Erde wachsen, dachte
merkwürdigerweise Niemand im Erinnerungsjahr des Schwa-
benkrieges daran, dem Heinrich Wohlleb von Uri ein solches
auch nur im bescheidensten Masse zu errichten, dessen Hel-
dentod bei Frastenz doch nahezu an den Winkelrieds erinnert.
Von Festen und Festspielen reden wir lieber
nicht mehr, sie sind Legion. Wir müssen förmlich darauf
denken, wieder Helden zu produziren, damit die zahllosen
Dichter und Komponisten der letzteren wieder Stoff bekommen >
die alten sind sämmtlich aufgebraucht, und das 19. Jahrhun-
dert hat zwar Eisenbahnen, Telegraphen und Internationales
Literatur. 633
in Masse geschaffen, aber das ist eben nicht poetisch genug.
Im nächsten Jahre kommt zunächst das Monate lang dauernde
Weltfest der Pariser-Ausstellung, wobei man kaum umhin
kann, an die Worte des Propheten Jeremias LI, 1—9 zu
denken, und am 2. Juli in Bern das 25jährige Jubiläum des
Weltpostvereins. Andere werden ohne Zweifel folgen. Im
Ganzen wäre für unser Volk etwas Ernst des Lebens, wie
ihn jetzt die afrikanischen Republiken brauchen müssen, besser,
als diese beständige, künstlich hervorgerufene Festseligkeit.
Litteratur. In der Schweiz erscheinen nach einer
französischen Statistik verhältnissmässig jährlich mehr
Bücher, als in jedem anderen Lande. Es wird darin be-
hauptet, dass die Schweiz jährlich in runden Ziffern 1000 Werke
publizirt, was auf 3000 Einwohner ein Buch, oder 333 Bücher
auf eine Million Seelen ausmacht. In den andern Ländern ist
das Verhältniss folgendes : Deutschland 20,000 Werke, das
ist 1 auf 3100 Einwohner oder 323 auf eine Million. — Ita-
lien 9000 Werke oder 1 auf 3300 Einwohner oder 300 auf
eine Million. — Frankreich 11,000 Werke, gleich 1 auf 3450
Einwohner oder 290 auf eine Million. — England 6000 Werke,
1 auf 6500 Einwohner oder 154 auf eine Million. — Ver-
einigte Staaten 5000 Werke oder 1 auf 12,400 Einwohner
oder 81 auf eine Million Einwohner. Die Schweiz steht hier
also an der Spitze ; das nämliche ist der Fall mit Bezug auf
die Zeitungen und Zeitschriften ; auf 3000 Einwohner kommt
ein Tagesblatt : in den übrigen Ländern ist der Durchschnitt
der Einwohner, die auf eine Zeitung kommen, nachstehender:
Vereinigte Staaten 3100, Deutschland 4727, Holland 5,000,
Frankreich 6333, England 7800, Italien 12,000, Russland
100,000. Die Schweiz begnügt sich aber nicht mit der eigenen
Produktion, sondern importirt jährlich Buchhändlerwaaren für
634 Jahresbericht 1899.
bedeutende Summen, so beispielsweise für Fr. 8,894,966 im
Jahre 1897, in welchem Deutschland mit Fr. 4,077,000 und
Frankreich mit Fr. 2,561,871 figurirten. Andererseits expor-
tirt unser Land ebenfalls geistige Produkte für eine Summe,
die keineswegs zu unterschätzen ist, nämlich für Franken
3,166,283 im genannten Jahre. Wie viele ganz gute Bücher
darunter sind, welche das 19. Jahrhundert überdauern werden,
wollen wir nicht untersuchen.
Das beste in der Schweiz geschriebene Buch, das wir
in diesem Jahre gelesen haben, ist: «Goethe's Charakter, eine
Seelenschilderung» von Robert Saitschik, Professor in
Zürich. Daneben Professor Conrad von Orelli in Basel «All-
gemeine Religionsgeschichte».
Von historischen Werken, die uns betreffen,
sind zu erwähnen, zunächst ein neuer (der VII.) Band der
Aktensammlung der Helvetik von Dr. Strickler. Er geht
bis zum Mai 1802. Ebenfalls von Dr. Strickler eine kurze
Uebersicht des «Uebergangs» unter dem Titel «Die alte
Schweiz und die helvetische Revolution». Von Zeller-
Werdmüller eine Anzahl sehr interessanter Briefe über die
Kriegsereignisse von 1799 in Zürich und Umgebung; von
Dr. Dunant in Genf «La reunion des Grisons ä la
Suisse, correspondance de F. Guiot, resident de France pres
les ligues grises 1798/1799» ; von Dr. Pieth «Die Mission
Justus von Gruner's in der Schweiz 1816—1819», wesentlich
aus dem Berliner- Archiv; von Dr. Rott in Paris «Histoire
de la repräsentation diplomatique de la France auprös des
cantous suisses, deieurs alltäs et conf6de>6s» (im Erscheinen
begriffen) ; von der antiquarischen Gesellschaft in Zürich der
erste Band der interessanten «Zürcherischen Stadtbücher
aus dem 14. und 15. Jahrhundert.» Von Herrn Rudolf
Thommen in Basel ist eine Urkundensammlung, welche die
Litteratur. 635
schweizerische Geschichte bis zum Jahre 1500 betrifft, aus.
österreichischen Archiven geschöpft, in einem stattlichen
Quartband erschienen. Sie dient als Ergänzung der Eidg»
Absehiede und der Kopp'schen Urkundensammlung.
Zur Geschichte des Schwabenkrieges hat Pro-
fessor Constantin Jecklin an der Kantonsschule Chur die in der
dortigen Bibliothek befindlichen «Akten des Tyrolerkrieges»,
unmittelbare, tagebuchartige Notizen von einem Zeitgenossen,
wahrscheinlich einem österreichischen Geistlichen, der in Chur
lebte, herausgegeben, die ein ungemein deutliches Bild der
Aktion auf dem östlichen Kriegsschauplätze gewähren. Sehr
bezeichnend ist darin namentlich die Schilderung der öster-
reichischen adeligen Herren, die «vil Krieg br neben und wenn
es an ain treffen (geht), sich uff ain Ort wyt binden stellen . . .
graatz wol, flicken si sich hinzu und hands alles allain thon,
grads übel, so hat man in nit wollen volgen.» Von den
Siegern hingegen sagt er: nach der entscheidenden Schlacht
an der Malserheide, «wäre man wol willig gewesen wyter ze
ziehen, da wass der halbtail Knächt mit Robgut verloffen»,
eine nicht ungewöhnliche Nachschrift fast aller eidgenössischen
Siegesberichte der grossen Zeit. Von der letzten Schlacht,
bei Dornach, wird berichtet, dass zuerst nach etlichen Tagen
die Nachricht nach Chur gelangte, die Eidgenossen hätten
1100 Mann eingebüsst und die Schlacht verloren. «Stat zu
erfarn, ainss glob ich und dass ander nit.» Aehnlich sind
wohl heute die englischen Siegesdepeschen aus Afrika zu
beurtheilen.
Von der tapfern Haltung Benedikt Fontana's erzählt er
nichts, wohl aber von derjenigen Heinrich WohlleVs in der
Schlacht von Frastenz. die damals also den grössern Ein-
druck machte. Heute vergessen ihn selbst seine Landsleute.
Das war, neben einem Festspiel von Dr. Bühler und
Luck, Musik von Barblan, das Beste, was bei Anlass der
636 Jahresbericht 1899.
Feier der Schlacht an der Malserheide in diesem Jahre er-
schien.
Im Allgemeinen waren die «Gedanken und Erinnerungen»
des Fürsten Bismarck das gelegenste Buch der euro-
paischen Litteratur. Sie erlebten, neben vieler gedanken-
losen Bewunderung, auch eine sachlich sehr ruhige, aber
um so vernichtendere Kritik durch Ludwig Bamberger, ')
einen guten Kenner der zu Grunde liegenden tat-
sächlichen Verhältnisse. Es ist übrigens merkwürdig und
sollte abschreckend sein, dass alle Selbstbiographien, Er-
innerungen, Memoiren, oder wie dies mehr oder weniger ge-
schickte Selbstlob jeweilen genannt wird, auf den nicht von
vorneherein zum Beifall entschlossenen Leser abkühlend wir-
ken. Das Wort Goethe's, «man merkt die Absicht und wird
verstimmt» trifft hier in hohem Grade zu. Ganz objektiv ge-
nommen und abgesehen von der Persönlichkeit des Verfassers,
enthält aber das Buch Bismarcks, neben vielen treffenden Be-
merkungen manche Richtigstellungen, welche die Geschichte
der Zelt von 1848 bis 1890 bleibend beherrschen werden.
So ist der Titel Wilhelm «der Grosse» fortan unmöglich ge-
worden, ohne dem gerechten Andenken des ersten deutschen
Kaisers Eintrag zu thun, und ebenso wird die Nachwelt
sowohl die Schwierigkeiten, welche Bismarck zu überwinden
hatte, um sein Lebenswerk zu leisten, als die schliessliche
Entlassung eines solchen «Dieners» richtiger beurtheilen lernen.
Nekrologie. Der bei weitem grösste Verlust, den
die Eidgenossenschaft in diesem Jahre erlitt, war der aller-
dings seit geraumer Zeit zu erwartende Hinschied ihres be-
deutendsten Staatsmannes aus der Zeit nach 1848, Emil
*) Unter dem Titel: «Bismarck Posthumus» in der Berliner-
« Nation» zuerst erschienen, jetzt als Broschüre zu haben.
Nekrologie. 637
W e 1 1 i von Zarzach, im Kanton Aargau. Er war ein ge-
bietender Mann ; das ist das schöne Wort, dessen
hässlichere Nuance das Wort «autoritär» ausdrückt. Es.
braucht aber eben gerade in den demokratischen Republiken
stets auch solche Leute, die eine natürliche Autorität besitzen
und das Amt zieren, in den Augen des Volkes erhöhen, nicht
umgekehrt dies vom Amte für sich erwarten müssen. Diese
natürliche Autorität wird durch keine Stimmzettel verliehen,
sie ist eine Legitimation von Oben her, ein Stück « Gottes-
gnaden thum» auch in der Republik, und die, einzige wirk-
liche Berufung zu einem Amte, die niemals fehlgeht.
Das Schwere, ohne das kein bedeutendes Menschenleben
möglich ist, blieb Welti namentlich in seinen späteren und
letzten Lebensjahren nicht erspart, und er vermehrte es noch
selbst durch eine zu frühe und nach unserer Meinung nicht
hinreichend motivirte Abdankung. Die Beschäftigung mit dem
Beiwohnen an Schulstunden im Gymnasium, die an ihm oft
über das rechte Maass hinaus gerühmt wurde, war unseres.
Er achtens mehr eine schöne Liebhaberei, als eine genügende
Arbeit für solch einen Mann, der hätte «in den Sielen sterben»
müssen.
Er war der einzige Stoiker, den wir in unserem Lande
kannten, der ganz nach den Prinzipien dieser Schule, aus
reinem Pflichtgefühl heraus dachte und handelte. Von der
Religion hatte er keinen vollständigen Begriff, respektierte
aber, ganz im Sinne des bekannten Schiller'schen Diktums,
aufrichtig das, was viele Menschen verbindet, — tolerant,
aber nicht überzeugt. Auch die Politik war in ihm mit
starken Zweifeln an allen ihren dogmatischen Sätzen
verbunden und ein überzeugter Demokrat war er nicht,
sondern ein Aristokrat der Bildung. Aber wo es sich um
Pflichterfüllung, Selbstzucht, ja Selbstüberwindung, und Wohl
638 Jahresbericht 1899.
des Vaterlandes handelte, da war er niemals unschlüssig zu
finden. Besser noch, als in die moderne Schweiz, hätte er in die
erste Zeit des römischen Staates, oder an die Spitze einer der
altgriechischen, oder der heutigen südafrikanischen Republiken
gepasst. «Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem,
wir werden nicht mehr Seinesgleichen seh'n.>
Von politisch bedeutenden Persönlichkeiten starben ausser-
dem im Laufe des Jahres Bundesrichter Broye von Frei-
burg, ein sehr redlicher und zuverlässiger Richter des obersten
Gerichtshofes, unparteiischer Ehrenmann durch und durch, was
die werthvollste Eigenschaft in einer solchen Stellung ist.
Ferner in Genf Moi'se Vautier, langjähriger Ad-
jutant des Diktators Fazy und Chef seiner Leibgarde, der
«fruitiers d' Appenzell^ ein ächter «libertin» im alten Sinne
des Wortes, typisch für die eine Seite des Genfer-Lebens, wo
es, so lange diese Stadt besteht und noch bestehen wird, stets
Libertins und Calvinisten geben wird, wie in Florenz s. Z.
Pallesken und Piagnonen.
In Tessin Gioachino Respini, «ein Theil von jener
Kraft, die stets das Böse will und nur das Gute schafft'.
Ihm verdankt die jetzige, im Ganzen sehr gute liberale Partei-
regierung im Tessin ihre Existenz; ohne seine hartnäckige
Opposition gegen jede Amnestirung der Urheber der Septem-
berrevolution wäre 6ie nicht so dauernd ans Ruder gelangt.
Persönlich war er ein ehrenwerther Mann, aber ein Typus
des schroffen Parteimannes, der stets der Partei am meisten
schadet, welcher er augehört. Die Ursache davon war ein zn
leidenschaftliches Temperament, das nicht rechtzeitig durch
eine genügende Bildung gemässigt worden war. Requiescat
in pace.
Ihm nicht ganz unähnlich war der in Zürich ver-
storbene Adolf Guyer-Zeller, der letzte jener gewalt-
Nekrologie. 639
thätigen Präsidenten der Nordostbahn, deren erster der der
Eidgenossenschaft in jeder Hinsicht wenig nützliche Alfred
Escher war. Er hatte die Neigung und den Entschluss eine
Art Eisenbahnkönig im amerikanischen Sinne zu werden ; da-
zu ist aber in der Eidgenossenschaft kein ganz geeigneter
Boden vorhanden. Persönlich war er, wie wir aus eigener
langjähriger Erfahrung bezeugen, ein durchaus gemüthvoller,
liebenswürdiger und seinen Freunden treuergebener Mensch.
Ein vollkommen anderer Typus von Schweizern war der
zuletzt im November verstorbene Ständerath Rasch ein von
Malix, ein Graubündner von der allerbesten Sorte, einfach, bieder,
pflichtgetreu, frei von Ehrgeiz und Streberthum, kurz von dem
edlen «Bauern Charakter», der den besten Typus dieses merk-
würdigen Volkes neben einem viel geringeren bildet, der
dort auch vorkommt.
Aus den Kreisen der Wissenschaft starb in Basel ein
«ehr bekannter Chirurg, Professor So ein, aus den Kunst-
kreisen der Bildhauer Max Leu; zu früh, denn er hatte un-
seres Erachtens noch manches zu lernen, was aber sicher
geschehen wäre.
Im Juli starb in Ölten ein im industriellen Gebiet sehr
bekannter Mann, Nicolaus Riggenbach, der Erfinder der
Bergbahnen in der Schweiz nach dem System der von ihm
konstruirten Rigibahn. Ein «selfmade-man», mit allen
Eigenschaften dieser Art von Menschen. Es gab eine Zeit
in unserer Jagend, in der uns dieselben unbedingt als Muster
angepriesen wurden. Dermalen fängt der Gedanke an wieder
mehr in den Vordergrund zu treten, dass die vorzüglichsten
Eigenschaften des Menschen nicht in Einem Lebenslaufe ent-
wickelt werden können, sondern, zum Theil wenigstens, einer
bereits geleisteten Vorarbeit durch Vorangegangene bedürfen,
dass daher auch die politische Demokratie eines aristokratischen
640 Jahresbericht 1899.
Gegengewichts bedürfe. Nor muss die Aristokratie stets voll*
kommen acht in Gesinnung und Bildung sein, wirklich das höchste
Bild der Nation in ihrer besten Auffassung darstellen, und
stets für Alle offen sein, ohne Voraussetzung weder des Reicta-
thums, noch von irgend etwas anderem, als Charakter und Bil-
dung. Natürlich ist dies ganz das Gegen theil der jetzigen
höheren Aristokratie, die vielmehr eine ganz internationale
Kaste ohne allen nationalen Unterschied geworden ist, in die sich
auch jede Tochter eines rohsten amerikanischen Spekulanten,
oder Schwindlers ohne weiteres einkaufen kann und die keinen
andern Typus mehr hat, als eine oft geradezu unglaubliche
geistige Beschranktheit, zufolge deren auch die Arbeit nicht
mehr regenerirend wirken kann. Dass ein Theil der Regenten-
familien und der Diplomatie diesem Typus angehört, bildet
das Unglück der Völker, die von ihnen regiert werden, ohne
dass sich dafür ein eigentlich wirksames Abhülfmittel finden
lässt.
Ebenfalls im Juli starb bei Paris ein sehr bekannter
Schriftsteller und Mitarbeiter der Revue des deux raondes,
Victor Cherbuliez, bei dem es jedoch zweifelhaft ist, ob
wir ihn als Schweizer zu betrachten haben. In seiner Jugend
galt er als Genfer, spater wurde er Franzose und seine Fa-
milie wurde als «hugenottische Refugi6s> bezeichnet, was aber
nicht ganz richtig zu sein scheint. Jedenfalls gehörte er
zu den litterarischen Schweizern, deren eigentliche Heimat
immer Paris ist. In der Politik wurde er vor dem Kriege
von 1870 zu einer Art «confidentieller Mission > (um kein
schlimmeres Wort zu wählen) bei den verschiedenen süd-
deutschen Höfen gebraucht und trug durch seine Berichte
zur Täuschung der Franzosen über deren Dispositionen bei.
Auch die Königin Augusta empfieng ihn natürlich, Bismarck
hingegen lehnte diese Bekanntschaft ab und das Denkmal, welche
Nekrologie. 641
er in Beinen «Erinnerungen* seiner «ungnädigen» Herrin sagt,
mag sich zumTheil gerade auch auf solche Unterstützungen der
antideutschen Politik von Seiten der kapriziösen Dame beziehen.
Die Bedeutung von Cherbuliez lag ganzlich in einigen guten
Romanen, während seine unter dem Pseudonym «Valbert» in der
Revue des deux mondes regelmässig erscheinenden politischen
Berichte ebenfalls stets den unverkennbaren Stempel der
Amateur-Politik trugen. Das Schlimmste, was er schrieb, kurz
nach dem deutschen Kriege, war «Meta Holdenis»; ein geradezu
bösartiger Deutschenhass zeigte sich darin. Ueberhaupt war
in allen Werken von Cherbuliez ein Etwas, was dem Leser
nicht gefiel, nämlich eine Art von Egoismus. Der Schrift-
steller dachte offenbar bei dem Schreiben stets an sich selbst
(das Gegentheil, was Dante empfiehlt) und hatte zwar sehr viel
Geist, oder vielmehr «esprit», aber zu wenig Herz für dieses,
beides verlangende Geschäft.
Wir würden ein wahres Unrecht begehen, wenn wir
unter «unseren» Verlusten des Jahres nicht auch noch den
Parlamentarier und Schriftsteller Ludwig Bamberger aus
Mainz anführen wollten, der zwar stets ein Deutscher blieb
aber jeden Sommer längere Zeit in seinem Garten inlnterlaken
lebte und stets ein verständnissvoller, treuer Freund des
Schweiz gewesen ist. Seine letzte grössere Schrift «Bismarck
Posthumus» ist eine Kritik der «Gedanken und Erinnerungen»
des ihm im Grunde tief antipathischen und aus der lang-
jährigen parlamentarischen Laufbahn in allen seinen schlimmen
Eigenschaften und Launen nur zu wohlbekannten Staatsmannes,
eine Schrift, die ihren wahren Werth erst erlangen wird, wenn
die Deutschen ihre berechtigten äusseren Ziele erreicht haben
werden und sich dann wieder von selbst die Sehnsucht nach der
«Jugend Hütten» einstellt. Dann wird Bismarck als Staats-
mann von einer besseren Geschichtsschreibung, als der jetzigen,
41
642 Jahresbericht 1899.
wohl an die Seite Richeliea's, oder Cäsar's und Napoleonsgestellt
werden können, aber niemals etwa an die Seite Washington^.
Von Bamberger erscheinen jetzt auch eigene posthume Er-
innerungen, herausgegeben von Dr. Nathan.
Wenn wir, in diesem Gedankengange fortfahrend, das
Jahrhundert mit einer ganz kurzen Betrachtung schliessen
sollten, wie sie in solchen Fällen üblich ist, so würden wir,
im Hinblick auf das Grosse, was es geschaffen und nicht
geschaffen hat, sagen: Das Gute kommt in dieser Weit,
wie sie einmal ist und auch nicht wesentlich anders
werden wird, niemals und nirgends separat, gewisBermassen
in gediegener Form vor, sondern eng verbunden mit geringeren
Bestandteilen, das Gold mit taubem Gestein stark vermischt
Die Aufgabe einzelner Zelten ist es dann, das wieder einmal
deutlicher zu gewahren und den Ausscheidungsprozess für
eine geraume Periode neu zu vollziehen. Das wird, wenn
wir nicht sehr irren, das Werk des kommenden Jahrhunderts
in seiner ersten Hälfte sein, auch bei uns.
Was das 19. Jahrhundert in Befreiung der Völker aus
geistiger und materieller Knechtschaft und an Kulturfort-
schritten, namentlich auf dem Gebiete der Technik, geleistet
hat, wird ihm in der Geschichte der Menschheit unvergessen
bleiben. Dass aber dadurch eine allgemeine Befriedigung,
oder auch nur eine viel grössere Gesammtsumme von indi-
viduellem Glücksgefühl eingetreten sei, als sie vor hundert
Jahren bestand, wird niemand ernstlich behaupten wollen
und es mag daher der Zweifel gestattet sein, ob das über-
haupt mit materiellen Fortschritten erreicht werden könne.
Mehr wirkliche Liebe muss in diese kalte Welt
hinein. Alles Andere, ohne das, hilft ihr so, gut
wie nichts.
Neurologie. 643
Das wird entweder die civilis] rte Menschheit mit ihrer
Staats- und Kircheneinrichtung freiwillig zu Stande
bringen; das ist das, was wir wünschen und hoffen. Geschieht
es aber nicht, so wird genau wieder geschehen, was zu Ende
des vorigen Jahrhunderts eingetreten ist, nnd was schon der
Prophet Hesekiel in seinem berühmten 34. Kapitel von einer
ähnlichen Zeit voraussagt:
«Das Verlorene will Ich wieder suchen, das
Verirrte zurückbringen, das Verwundete ver-
binden und des Schwachen warten; was aber
fett und stark ist, will Ich vertilgen und will
es weiden mit Gericht.»
644 Jahresbericht 1899.
Nachträge.
I. Aeusseres. Der Bo er en krieg ist seit dem
Beginn unseres Jahresberichtes wirklich aasgebrochen and
hat sofort einen blutigen Ernst für England angenommen,
den der Leiter der kolonialen Politik wahrscheinlich nicht ganz
voraussah. Wir können übrigens trotz der geringen Meinung,
welche wir von seinem Charakter und seinen politischen Fähig-
keiten besitzen, nicht glauben, dass Alles, was in dieser
Sache voranging, bekannt gegeben ist und dass nicht eine
mehr oder weniger begründete Befürchtung vorlag, bei
längerem Zuwarten die allmählige Ablösung der holländischen
Bevölkerung der Capkolonie, oder gar die deutsche Schutz-
herrschaft über die beiden Republiken gewärtigen za müssen.
Ohne diesen Gesichtspunkt, nur Herrn Rhodos und seiner
bankerotten Ohartered Company von Rhodesia zu lieb einen
solchen Krieg zu beginnen, der auf keinen Fall ein günstiges
Endresultat haben kann, selbst wenn die Uebermacht den
augenblicklichen Sieg erringen sollte, das wäre doch eine zu
grosse Beschränktheit gewesen. Im englischen Parlamente
selbst herrschte Missstimmung ; der Krieg wurde, nachdem er
thatsächlich bereits begonnen hatte, nur mit 362 gegen 135
gebilligt, und Englands Prestige hat durch die bisherigen, fast
beständigen Niederlagen eine ungeheure Einbusse erlitten,
die schwerlich wieder gutzumachen ist. In der Eidgenossen-
schaft ist, wie überall in der Welt, die öffentliche Meinung
für die beiden tapferen Republiken, welche jetzt eine Feuer-
probe durchmachen, ähnlich wie wir in dem Schwabenkrieg.
Sie werden aber auch Gott für sich haben, der die Gerech-
tigkeit immer schützt, wenn die Menschen selber fest da-
Nachträge. Aeusseres. 645
für eintreten. Eine sehr bedauerliche Ausnahme bildete nur
eine bereits im Anfang des Krieges erschienene Broschüre
von Edouard Naville in Genf, die ganz die englischen
Sophismen entwickelte. Es war eine Unehre für die
ganze Schweiz, dass so etwas in ihr geschrieben werden
konnte ; wir hoffen aber, eine solche Stimme sei auch in
Genf vereinzelt geblieben, das wahrlich alle Ursache hätte,
ein Beispiel von rücksichtsloser Gewalt gegen ein kleines
Nachbarvolk, das seine Selbständigkeit liebt, zu fürchten.
Ausser diesem Krieg, der noch grosse Folgen haben
wird, ist bemerkenswerth , dass die S a m o a - Gemein-
schaft zwischen England, Deutschland und Amerika, die
lauter Streit herbeiführte, durch einen neuen Samoa- Vertrag,
welcher eine Theilung enthält, aufgelöst worden ist.
Die Türkei will uns mit einem Gesandten beehren,
etwas, was wir schwerlich erwidern werden. Die Lausanner-
Zeitung schreibt darüber, was folgt:
«H est naturellement ä präsumer que le Conseil föderal
a donnä son assentiment ä la däcision que vient de prendre
la Sublime Porte, car l'6tablissement d'une mission diploma-
tique est subordonnä ä l'agräment du gouvernement qui doit
la recevoir.
En pla$ant le public suisse devant un fait accompli, le
Conseil föderal a sans doute voulu eviter toute discussion sur
nne mesure qui 6tait de nature ä soulever un vif d£bat.
D'autre part, le choix du ministre destine ä repräsenter le
Grand Türe ä Berne a 6t6 aussi habile que possible. La
Sublime Porte se borne pour le rooment ä aceröditer ä Berne
son ministre de Bruxelles, M. Etienne Carathäodory, diplo-
mate instruit et correct, tout ä fait incapable de jamais abu-
ser des immunitäs de son poste. M. Caratheodory r6side de-
puis longtemps ä Bruxelles, oü il est fort avantageusement
connu. II a pour gendre M. Streit, professeur de droit inter-
national ä l'acadämie d' Äthanes. En däpit de son nom alle-
646 Jahresbericht 1899.
mand, qui rappeile l'origine bavaroise de ses anc&tres,
M. Streit est Hellene.
Le nom de M. Carathäodory däsarme donc toutes les
objections en taot qn'il s'agit du chef de la future mission*
Mais cet agent pourra 6tre flanque* d'un secrätaire musulman
räsidant en Suisse et s'y livrant ä la surveillance des Jeunes
Turcs ä l'abri de Fimmunit6 diplomatique. La röside le danger.
Est-ce qne la Sublime Porte n'a pas rappele*, moins d'un
an aprös sa nomination, son premier consul ä Genöve pour
le remplacer par un agent plus actif? Dans tous les cas, il
Importe qne le gouvernement ottoman sache que l'opinion
n'est nullement disposöe ä toterer cbez ses agents des intri-
gues semblables ä celles provoqu6es räcemment & Genöve par
des policiers de bas 6tage.
II est ä rem ar quer qne la Snisse se trouve heureusement
vis-ä-vis de la Turquie dans une Situation assez independante.
Les ressortissants snisses domicilies dans l'empire turc sont
placös sous la protection — la seule efficace — des grandes
puissances et nous demandent seulement de ne pas nous occu-
per d'eux. II y a quelques ann6es, ils ont proteste 6nergi-
quement contre le projet d'6riger une legation suisse ä Con-
stantinople, projet qui a ainsi recu le coup de ruort et ne
sera vraisemblablement pas ressuscitö par l'ätablissement de
relations diplomatiques directes entre la Suisse et la Turquie. >
Unser eigener Ministerresident in London ist zum
Gesandten befördert und sein Gehalt auf 40,000 Franken er-
höht worden, was vielleicht gerade jetzt, zur Zeit des Boeren-
krieges, besser unterblieben sein würde.
In einigen schweizerischen Zeitungen war von eng-
lischen Werbern die Rede, welche junge Schweizer
unter sehr lockenden Versprechungen für den Boerenkrieg
anzuwerben versuchen, wogegen jedenfalls ernstliche Repres-
sion am Platz wäre, falls es sich wirklich so verhält
Der englische Konsul in Lausanne richtete darüber an einen
dortigen Journalisten folgenden Brief:
Nachträge. Aeusseres. 647
«Monsieur,
Votre nuraero de ce jour reproduit sous le titre: En-
rons pour le Transvaal, an räcit fantaisiste publik par un
autre Journal et qui, je l'espere, n'a 6t6 pris au serieux par
personne. Toutefois, pour dissiper tout malen tendu ä i'egard
de certains enrölements soi-disant effectues par des agents
anglais pennettez-moi d'informer vos lecteurs que le consulat
recoit et refuse journellement des offres de citoyens suisses
desireux de faire la campagne d'Afrique. Veuillez agreer etc.
Alfred Galland, Consul de S. M. britannique.»
Wir hoffen, dass der Herr Konsul ein wenig übertreibt
und wollten sehr gern die Namen der Schweizer kennen ler-
nen, die für Geld mit uns befreundete Republiken zerstören
wollen. Das wäre das schlimmste Söldnerthum, das jemals
seit dem 16. Jahrhundert vorgekommen ist, und für England,
wenn es zu solchen Mitteln greifen müsste, ein sicheres Zei-
chen des Niedergangs. Mit fremden Söldnern hat schon das
alte meerbeherrschende Karthago schliesslich das Spiel ver-
loren, und ebenso ist England selbst in seinen ehemaligen
Kolonien von Nordamerika unterlegen, als es versuchte, die-
selben mit angeworbenen Hessen zu bekriegen. Ein grosses
Land muss heutzutage mit seinen eigenen Söhnen seine In-
teressen vertreten, und es wäre für uns eine Frage, ob Söldner-
heere überhaupt noch als «berechtigte Kriegführende» anerkannt
werden sollten, was eine kommende völkerrechtliche Kon-
ferenz entscheiden mag.
Im Uebrigen ist offenbar jetzt eine englisch-amerikanisch-
japanische Allianz gegen eine russisch-französisch-deutsche im
langsamen Werden begriffen, von welcher wir bereits in dem
letzten Jahrbuche, in dem Artikel «Die Theilung der Welt»,
Jahrbuch XII, und Jahresbericht pag. 338, gesprochen haben.
Die angeblich bereits bestehende Tripel-Allianz mit Deutschland
und Amerika, von welcher Chamberlain in einer Rede sprach,
648 Jahresbericht 1899.
beruht dagegen auf der lebhaften Phantasie dieses Staats-
mannes, die Wünsche mit Thatsachen verwechselt.
II. Inneres. Zu den in der eidgenössischen Gesetzes-
sammlung publizirten Gesetzen und Vertragen sind folgende
nachzutragen :
Staatsvertrag mit Russland über Theilung der Fabrik-
und Handelsmarken 1. Mai/19. April 1899, XVII, 285.
Schifffahrts- und Hafenordnung für den Bodensee 30. Juni
1899, XVII, 295.
Neue Erklärung mit Baden über den Militärtransport
auf den Eisenbahnen 29. August/4. September 1899 XVII, 368.
Erklärung zwischen Schweiz und Italien über Formalitäten
der Eheschliessung beidseitiger Staatsangehöriger 23. Sep-
tember 1899, XVII, 370.
Reglement für die polytechnische Schule 3. Juli 1899,
XVII, 333.
Vollz.- Verordnung zum Bundesgesetz betreffend Organi-
sation der Bundesbahnen (Rückkaufsgesetz) vom 15. Oktober
1897, 7. November 1899 ; E. G. S. XVII 393.
Vollz.-Verordnung über Mass und Gewicht vom 24. Nov.
1899, E. G. S. XVn, 465.
Neue Extrapostordnung 14. November 1899, XVII, 412.
Die Uebcreinkunft mit Italien und mit Deutschland
(Norddeutschland) über den Schutz des litterarischen und
künstlerischen Eigenthums vom 22. Juli 1868 (E. G. S. IX.
880, 932) ist von uns gekündigt worden, ebenso schon früher
die üebereinkünfte mit Frankreich vom 23. Febr. 1882 (E.
G. S. VI. 418) und mit Belgien vom 25. April 1867 (E. G.
S. IX. 114 und Bundesblatt 1886 I. 256). Mit Frankreich
ist also der Schutz der Fabrik-Handelsmarken, Handels-
firmen und gewerblichen Zeichnungen und Modelle aufge-
hoben. Vgl. übrigens Otter B.-Blatt 1899, Nr. 48.
Nachträge. Inneres. 649
Dem Weltpost vertrag sind beigetreten die Republiken
Honduras and Salvador. Einzelnen Theilen desselben Jamaica,
Neufundland, Straits Settlements (Singapore) und England
selbst. E. G. S. XVII, 455 und folg.
Den Eidg. Käthen werden vorgelegt :
Eine Botschaft des Bundesrathes über das Tarifwesen der
Bundesbahnen B. Bl. 1899 Nro. 47, ferner eine solche eines
revidirten Gesetzes über gewerbliche Muster und Modelle,
und über die Taggelder und Reiseentschädigungen für die
Verwaltungsräthe der Bundesbahnen und die Ereiseisenbahn-
rätbe.
An einer vom Schweiz. Lan d wir th Schaftsdepartement
nach Bern einberufenen Konferenz waren 17 Kantone und
Halbkantone durch Delegierte, zusammen cirka 40, vertreten;
nämlich die Kantone Zürich, Bern, Luzern, Glarus, Freiburg,
Solothurn, Baselstadt, Baselland, Schaffhausen, Appenzell a. Rh.,
St. Gallen, Graubünden, Aargau, Thurgau, Tessin, Waadt
und Neuenburg. Die Ansichten der Delegierten gingen hin-
sichtlich einzelner Punkte ziemlich einig, iu Bezug auf andere
Fragen bestanden dagegen wesentliche Meinungsverschieden-
heiten. — Bezüglich der Grundlage, auf welcher die Zu-
theilnng der Bundesbeiträge erfolgen soll, einigte sich die
Versammlung dahin, dass die kantonalen Leistungen als mass-
gebend zu betrachten seien. Ferner hat sie sich dahin ge-
äussert, es werde die obligatorische Viehversicherung am
zweckmässigsten in mittelgrossen Kreisen orgauisirt, die so
viel als möglich mit den Viehinspektionskreisen zusammen-
fallen sollen. Im weitern ist die Versammlung der Meinung,
der Werth der versicherten Thiere werde am zweckmässigsten
mittelst Selbstschatzungen durch die Eigenthümer in Ver-
bindung mit Inspektionsschatzungen festgestellt. Im Schaden-
falle hat eine neue Schätzung stattzufinden. Der erlaufene
Schaden soll höchstens bis zu 80 Proz. vergütet werden. Die
Geschäftsführung der Viehversicherung ist wo möglich dem
Viehinspektor zu übertragen. — Wie wir vernehmen, ist die
obligatorische Viehversicherung zur Zeit bereits in acht
650 Jahresbericht 1899.
Kantonen und Halbkantonen eingeführt nnd in neun Kantonen
und Halbkantonen vorbereitet. Die andern Kantone haben
bis jetzt in Sachen nichts gethan. Doch ist zu erwarten,
dass wenigstens einzelne derselben dem Beispiele der andern
bald nachfolgen werden.
Der Bundesrath hat in Vollziehung des neuen Eisen-
bahnrückkaufgesetzes, die fünf Eisenbahnkreise, mit
Sitz in Lausanne, Basel, Zürich, Bern, St. Gallen, festgestellt. Der
6. Kreis, Luzern, wird erst mit der Uebernahme der Gotthard-
bahn (1908) errichtet. Für die übrigen Gebiete tritt die
Generaldirektion mit dem 1. Juli 1901 und der Verwaltungs-
rath am 1. Oktober 1900 in Funktion, die Kreisdirektionen
und Kreiseisenbahnräthe konstituiren sich im August 1900
und beginnen ihre Wirksamkeit am 1. Mai 1903.
III. Soziales. Aufsehen erregte in der jüngsten Zeit,
auch in der Schweiz, der offene Uebertritt des bekannten
Pfarrers Blurahardt in Boll zn der Sozialdemokratie, der er
noch bis vor Kurzem ziemlich stark abgeneigt gewesen war.
Die Motivirung dieses Schrittes in einer sozialistischen Ver-
sammlung war eine nicht genügende, denn die, überhaupt
leicht ersichtlichen, Mängel der Bourgeoisie, welche dazu die
Veranlassung geboten haben sollen, mussten einem solchen
Manne schon läng st bekannt sein, ebenso aber auch die völlige
Unvereinbarkeit des Christenthums mit dem Atheismus, der
die philosophische Grundlage der Sozialdemokratie bildet. Daran
sind schon Stärkere gescheitert. Allerdings mag es in Deutsch-
land mitunter schwer sein, mit einer evangelisch-lutherischen
Richtung auszukommen, welche selbst unseren Herrn nicht an-
erkennen würde, falls er nicht genau nach ihren Glaubensformeln
lehrte, und die für das, was das Volk in der Kirche sucht, oft
einen zu unvollständigen Begriff besitzt. Aber das muss auf
einem anderen Wege verbessert werden, wozu auch der Vater
Blumhardt's bereits einen sehr guten Anfang gemacht hatte,
Nachträge. Soziales. Wahlen. 651
nicht durch den förmlichen Anschiuss an eine ihrer Natur
gemäss glaubenslose Partei, wofür ein zwingender Grund
nicht vorlag.
Die Wahlen in den Nationairatb, welche in der
letzten Woche Oktober stattfanden, lassen keine irgendwie
erhebliche Aenderung in der schweizerischen Politik voraus-
sehen, indem sich die Parteiverhältnisse ziemlich gleich ge-
blieben sind. Die sozialistischen Stimmen hatten einen Zu-
wachs in Basel, Genf und Bern zu verzeichnen. Die, theil-
weise durch eigene Entschliessung, austretenden Mitglieder
des Nationalraths, deren Verlust von einem allgemeinen Stand-
punkte aus zu beklagen ist, gehörten grösserentheils der kon-
servativen Partei an. Besonders sind es die Herren C6r6sole,
Odier, Boiceau, Tobler, Tissot, welche wir gerne wieder ge-
sehen hätten. Der Erstgenannte, den Gesundheit» Verhältnisse
zum Rücktritte nöthigten, schliesst damit eine ruhmreiche
politische Laufbahn, in deren langjährigem Verlauf er stets
— und zwar zu Zeiten, in denen das mitunter in seinem
Heimathkanton nicht so leicht war, wie jetzt — treu zur
Eidgenossenschaft und ihren Interessen, gegenüber einem jeden
engherzigen Föderalismus stand. Die Eidgenossenschaft ist
ihm dafür ebenfalls ein treues Andenken schuldig.
Druckfehler. In dem IL Aufsatze dieses Jahrbuches
ist da, wo der frühere Jahrbuchaufsatz über diese Materie
citirt wird, Band VIII (nicht VII) pag. 226 zu lesen.
Beilagen.
Beilage I.
Bluntschli's Vermittlungsprojekt vor dem
Sonderbundskrieg.
(Bisher unbekannt.)
„Gedanken zur Vermittlung der Schweiz."
(August 1847).
I. Die po litis che Natur undBedeutuug der schweize-
rischen Eidgenossenschaft.
§ 1. Die schweizerische Eidgenossenschaft ist aus Bünden
einzelner Republiken entstanden. In der Vereinigung such-
ten und erlangten die Städte und Länder, die sich ver-
bündeten. Sicherheit für ihr eigentümliches Dasein, für
ihre Selbständigkeit, für ihre Freiheit Da kein Staat das
Urprincip seiner Entstehung aufgeben kann, ohne unterzu-
gehen, so mu8s die Schweiz, wenn sie sich erhalten will, dem
Princip des Bundes, dem föderalen Princip treu bleiben. Gibt
sie dasselbe auf gegen das der Einheit, so legt sie Hand an
ihr Lebensprincip.
§ 2. Die äussere Natur der Schweiz zeichnet sich durch
höchste Mannigfaltigkeit der Formen, Gestaltungen und Ver-
hältnisse aus. Auf ihr beruht die in ihrer Art einzige na-
türliche Bedeutung der Schweiz in Europa und ihre Schönheit.
Auch sie weist auf eine entsprechende politische Mannig-
faltigkeit der Bildungen und Zustände hin, und eben darum
auf den Föderalismus.
§ 3. Die Geschichte der Schweiz bewegt sich zunächst
in den einzelnen Republiken, aus denen sie besteht. Das
politische Leben des Volkes ist, so lange die Eidgenossenschaft
existirt, Torherrschend kantonales Leben.
Nur in gemeinsamen grossen Krisen und Gefahren han-
delt die Schweiz zusammen. Auch in ihren grossen Kriegen
beruhte die Kraft der Eidgenossen in ihrer innigen Verbrü-
derung, in der Gemeinschaft der Gesinnung, nicht in der Ein-
656 Jahresbericht 1899. Beilagen.
heit des Organismus. War die Krisis und Gefahr überstanden,
so lebte jeder Ort wieder für sich, nach eigenem Ermessen,
und nach eigener Freiheit.
Auch die gemeinsamen Feste und freien Vereinigungen
der Schweizer tragen diesen Charakter. In der gehobenen
Feststimmung freut sich der Schweizer der gemeinsamen Ver-
brüderung; sowie er aber wieder zu seinem täglichen Wir-
kungskreis übergeht, so herrscht wieder das kantonale Be-
wusstsein vor.
§ 4. Der politische Charakter der einzelnen Gemein-
wesen, aus denen die Schweiz besteht, ist republikanisch und
zwar vorherrschend demokratisch.
Diesem Charakter widerspricht das Einheitsprincip. Eine
einheitliche Bundesregierung würde eine Halbheit sein, in
ihrer Fortbildung und Spitze müsste sie zur Monarchie werden.
Ein einheitlicher Grosser Rath des Bundes würde die Selbst-
bestimmung und Selbstregierung der einzelnen Demokratien
hemmen und zerstören. Die Tagsatzung der Stände würde
neben ihm zum Schatten werden. Er würde aus sich heraus
auch eine Einheitsregierung gebären, und damit den republi-
kanischen Charakter der Schweiz und ihre Mannigfaltigkeit
bedrohen.
Die Zusammenstellung der Schweiz mit Nordamerika ist unpas-
send. Nordamerika ist ein ganz junger, die Schweiz in ihrer Verbin-
dnung wie in ihren einzelnen Gliedern ein alter Staat. Die einzelne
nordamerikanischen Staaten haben eine grosse Ausdehnung und ein
weites neues Gebiet für ihre geistige und physische Arbeit vor sich.
Die schweizerische Kantone haben einen geringen Umfang und eine
dicht gedrängte Bevölkerung, welche mit Mühe die alte Kultur des
Landes erhält und vervollkommnet. Nordamerika hat das Bedürfniss
und die Mission einer auswärtigen Politik und handelt als amerika-
nische Grossmacht. Die Schweiz ist in Europa wesentlich auf sieb
selber augewiesen.
§ 5. Die politische Stärke der Schweiz den Mächten ge-
genüber würde durch eine Einheitsregierung nicht erhöht,
sondern geschwächt. Sie wäre der Einwirkung der grossen
Mächte weit mehr ausgesetzt und zugänglich, als eine Ver-
bündung von zweyundzwanzig selbstständigen Ständen es ist
Napoleon hat der Oonsulta zu Paris in dieser Beziehung die
BliiDtschli's Gedanken zur Vermittlung der Schweiz 1847. 657
Wahrheit gesagt. Die politische Stärke der Schweiz mitten
unter grossen Staaten beruht wesentlich auf der Mannigfal-
tigkeit und Selbstständigkeit der schweizerischen Republiken,
auf der föderalen Natur der Schweiz. Zweyundzwanzig kleine
verbundene Republiken sind schwerer zu leiten oder zu
missbrauchen, als eine immerhin noch kleine Republik von
2 Millionen Menschen.
§ 6. Die Entstehung der Schweiz, die äussere Natur
hres Landes, ihre Geschichte, ihr republikanischer Charakter,
hre Sicherheit nach Aussen, Alles weist darauf hin, dass der
Föderalismus, d. h. die Verbündung selbstständiger Republiken
der Grundcharakter der Schweiz ist.
In engstem Zusammenhang damit steht auoh die Mission
der Schweiz in Europa.
§ 7. Die europäische Mission der Schweiz ist in dem
Worte bezeichnet : Die Schweiz ist das republikanische Wider-
bild des monarchischen Europa.
Wird dieses Wort begriffen, so ist damit auch die rich-
tige Politik der Schweiz dem Auslande gegenüber, und des
Auslandes gegenüber der Schweiz erkannt.
§ 8. Die Schweiz ist berufen, die moralischen und gei-
stigen Fragen, welche die Zeit an Europa stellt in ihrer re-
publikanischen Weise selbstständig zu behandeln und für sich
zu erledigen. — Eben darum nimmt sie an der grossen eu-
ropäischen Politik keinen unmittelbaren, sondern nur einen
mittelbaren Antheil. Je geringer jener, desto wichtiger aber
ist dieser.
§ 9. Die Neutralität der Schweiz beruht im letzten
Grunde auf dieser ihrer europäischen Mission. Diese Neu-
tralität ist nicht das Werk der Verträge von 1815. Die
ganze Geschichte der Schweiz im Verhältniss zu Europa seit
Jahrhunderten weist auf die Neutralität der Schweiz hin, als
eine Grundbedingung ihrer Mission. — In den Burgunder-
kriegen und den Mailänderkriegen des XV. und zu Anfang
des XVI. Jahrhunderts hat sich die Schweiz noch in direkter
Theilnahme an der europäischen Politik versucht, zu ihrem
Schaden und zur Gefährdung Europas. Seitdem nicht mehr.
Sogar während des XXX-jährigen Krieges blieb die Schweiz,
42
8&8 Jahresbericht 1899. Beilagen.
obwohl innerlich von denselben Streitigkeiten wie Deutsch-
land lief bewegt, neutral. Sie erledigte die konfessionelle
Frage für sich.
§ 10. Die innern Kampfe der Schweiz haben für Europa
die Bedeutung entweder eines Vorspiels oder eines Zwischen-
spiels oder eines Nachspiels in dem grossen politischen Drama,
das Europaische Geschichte heisst.
§ 11. Auch die Bedeutung der Schweiz als eines Asyls
für fremde Flüchtlinge der verschiedenen politischen Partheyen
hangt damit zusammen. Die Schweiz soll ein Friedensland
seyn, mitten in Europa gelegen, welches von den Stürmen
der europaischen Kampfe geschützt bleibt, und den müden
und verfolgten Kampfern einen Ruheplatz bietet.
Die Schweiz hat ihre kleinen Stürme für sich. Würde
sie den grossen geöffnet, oder würde sie sich selber in die-
selben hinaus wagen in thörichter Verblendung, so wäre sie
durch ihre Lage zwischen den grossen Nationen Europas und
durch ihre Gebirge der heftigsten Brandung ausgesetzt.
Wahrend ihrer ganzen Geschichte ist die Schweiz nur
Ein Mal wahrend weniger Jahre ihrer Natur völlig untreu
geworden. Als sie ihre föderale Natur verkannte und das
System der helvetischen Einheit annahm, da wurde sie auch
in die europaischen Kampfe unmittelbar verwickelt. Sie war
nie schwacher und nie unglücklicher als damals. Ihr Land
wurde von fremden Herren zertreten ; ihre Freyheit war zer-
rissen und gebunden ; sie war ein ohnmachtiger Spielball Eu-
ropas. Napoleon rettete die Schweiz von ihrem Untergang,
indem er den Föderalismus und die Neutralitat dem Wesen
nach herstellte.
§ 12. Die Schweiz verkennt und missachtet ihre wahre
Stellung zu Europa, wenn sie irgend eine angriffsweise Politik
gegen Europa oder gegen einzelne Europäische Staaten ver-
folgt. Die Anfechtung des monarchischen Prinzips in Europa
von der Schweiz aus, ist ein politischer Fehler, die revolutio-
näre Propaganda ist ein politisches Verbrechen an der Schweiz.
Die Schweiz ist zum Angriffe nicht tauglich. Sie hat
keine stehende Armee und kann keine haben.
Die Schweiz ist zur Vertheidigung entstanden. Dafür ist
Bluntschli's Gedanken zur Vermittlung der Schweiz. 659
sie stark. Für den Schutz seines Herdes, seiner Freyheit
steht das ganze Volk ein.
§ 13. So gross das Interesse ist, welohes Europa an der
Entwickelung der schweizerischen Kämpfe hat , so darf Eu-
ropa, so lange die schweizerische Eidgenossenschaft besteht,
auch seinerseits nicht unmittelbar in den Gang derselben ein-
greifen, noch der Schweiz vorschreiben, wie sie die Fragen,
welche sie bewegen, zu lösen habe. — Auch die europäische
Theilnahrae an der schweizerischen Politik darf nie eine un-
mittelbare werden, sie muss eine mittelbare bleiben, d. h. der
Entscheid muss bey den Schweizern und zwar als ein freyer
Entscheid verbleiben. Nur wenn Europa die Politik beachtet,
hat die Existenz der Schweiz auch für Europa Werth, und
und ist die Europäische Mission der Schweiz erfüllbar. Der
Charakter der Europäischen Politik der Schweiz gegenüber
darf nie Dominatian noch Vormundschaft seyn.
§ 14. Die Fragen, welche gegenwärtig die Schweiz auf^
regen, lassen sich in zwey Hauptfragen zusammenfassen:
1. nach dem Verhältniss des Staates zu der Kirche,
beziehungsweise zu den Konfessionen. Dahin ge-
hören grossen Theils die Kloster- und Jesuitenfrage.
2. nach dem Verhältniss der politischen Partheyen.
Dahin gehören zum Theil auch jene Fragen, so-
dann alles Uebrige; als Freyschaaren, Sonderbund,
XII Stimmenmehrheit der Tagsatzung, Bundesreform
und Bundesrevolution.
Beyde Fragen haben eine offenbare Europäische Be-
deutung.
IL Die Eidgenossenschaft und die Konfessionen
§ 15. Die konfessionellen Fragen haben das Gemüth des
Volkes in seiner Tiefe aufgeregt. Bevor der konfessionelle
Friede in den Gemüthern hergestellt ist, ist jede politische
Befriedigung der Schweiz unmöglich.
Das Fallenlassen der konfessionellen Frage ist zwar einer
falschen und gewaltsamen Erledigung vorzuziehen, aber es
lfisst auf beyden Seiten Stacheln zurück, welche bey der
kleinsten Reibung die Wunden wieder aufreissen. Das Fallen-
lassen kann höchstens als Waffenstillstand, nicht als Friede
660 Jahresbericht 1899. Beilagen.
gelten. Die Schweiz aber bedarf nm ihret nnd am Europas
Willen des Friedens.
§ 16. Eine auf richtigen politischen Principien beruhende
nnd gerechte Erledigung der Kloster- und Jesuitenfrage ent-
hält in sich die Wiederherstellung des konfessionellen Friedens
und damit zugleich die Grundlage der politischen Befriedigung
der Schweiz.
§ 17. Das Grundprinzip der eidgenössischen Politik ge-
genüber den Confessionen ist die Parität Die aufrichtige und
entschiedene Durchführung dieses Prinzips allein kann den
konfessionellen Frieden in der Schweiz neu begründen.
§ 18. Das Prinzip der Paritat ist nach allen frühern
konfessionellen Kriegen jeder Zeit in den Friedensschlüssen
des XVI., XVII. und XVIII. Jahrhunderts anerkannt worden
als eine Grundbedingung des Eidgenössischen Friedens. Die
Missachtung dieses Prinzips im XIX. Jahrhundert ist um so
weniger zu entschuldigen und um so zeitwidriger, als dieses
Jahrhundert die Freyheit der Gewissen und des Glaubens
proklamirt, und es Aufgabe gerade dieses Jahrhunderts ist,
das Prinzip der Parität in seinen Consequenzen durchzuführen.
§ 19. Der Radikalismus hat das Prinzip der Parität in
neuerer Zeit wiederholt durch seine Angriffe auf die Rechte
der katholischen Bevölkerungen und auf katholische Anstalten
verletzt. Die Aufhebung der Aargauischen Klöster und die
beantragte zwangsweise Verweisung der Jesuiten aus den ka-
tholischen Kantonen sind die auf dem Gebiete des Eidgenös-
sischen Staatsrechtes augenfälligsten Verletzungen jenes
Prinzips.
§ 20. Aus dem Prinzip der Parität folgt:
Dass in konfessionellen Dingen nicht die Mehrheit einer
Konfession der Minderheit, welche der andern Konfession
angehört, das Gesetz mache oder Zwang gegen sie übe. —
Für dieses Prinzip hatte in den frühern Jahrhunderten die
reformirte Minderheit der eidgenössischen Orte wiederholt die
Waffen ergriffen gegenüber der katholischen Mehrheit der-
selben. — Und nun hat der Radikalismus wiederholt mit
Hülfe einer protestantischen Mehrheit der katholischen Min-
derheit das Gesetz gemacht nnd Zwang gedroht Die Ge-
Bluntschli's Gedanken zur Vermittlung der Schweiz. 661
schichte hat gegen die Unterdrückung des Protestantismus
durch Mehrheitsbeschlüsse der Katholiken entschieden. Die
Unterdrückung der Katholiken in Sachen ihrer Konfession
durch radikale Mehrheit wird ebenso wenig gelingen. Beydes
ist uneidgenössisch und ungerecht.
§ 21. Der Radikalismus geht bey seinen Angriffen auf
das Recht der Katholiken nicht von einem konfessionellen
Motive aus. Er greift nicht an, weil er von einem übereif-
rigen protestantisch religiösen Gefühl geleitet wird.
Seine Motive und sein Streben sind nicht religiös sondern
politisch.
§ 22. Der Radikalismus ist geneigt, in der Kirche eine
Anstalt zu sehen, welche seiner absoluten Herrschaft im Wege
stehe.
Es ist unläugbar, dass in unsern Tagen
a) die meisten Manner, welche mit dem Christenthum
gebrochen haben und nihilistische und pantheistische
Ansichten und Tendenzen haben, — und
b) die welche zwar vor der Moral des Christenthums
noch Ehrfurcht bewahrt, und einzelne Fragmente
des christlichen Glauben gerettet haben, aber der
Kirche feindselig gesinnt sind,
regelmässig zum Radikalismus halten.
Es wäre ein zu starker Ausdruck, wenn dem Radikalis-
mus geradezu Feindseligkeit gegen die Religion, aber es ist
nicht ungerecht, wenn ihm Misstrauen und Abneigung gegen
die Kirche zugeschrieben wird.
Der schweizerische Radikalismus hat diese Abneigung
nicht bloss in den Angriffen auf katholische Institute, sondern
nicht weniger gegenüber der evangelisch-reformirten Kirche
an den Tag gelegt. Die Berufung eines NichtChristen Dr.
Strauss zum Professor der christlichen Dogmatik in Zürich,
die Anfeindung und Verfolgung zuerst der Methodisten, dann
der gesamten Wadtländischen Geistlichkeit, die Berufung des
mit mehrern Grunddogmen des Christenthums in Widerspruch
gerathenen Hegelianers Dr. Zeller an einen theologischen
Lehrstuhl zu Bern, sind unzweifelhafte Belege für diese
Wahrheit.
662 Jahresbericht 1899« Beilagen.
§ 23. Der Radikalismus achtet die Kirche nicht in ihrer
Selbstständigkeit ; er duldet sie höchstens und fordert von ihr
absoluten Gehorsam. Die Staatsallmacht ist sein Götze.
Da er die Kirche nicht achtet in ihrer Selbstständigkeit,
so achtet er auch die Konfessionen nicht in ihrer Freyheit.
Auch sie will er seiner Staatsallmacht unbedingt und unbe-
schränkt unterwerfen.
In diesem Geiste sind seine Angriffe auch gegen die ka-
tholische Kirche aufzufassen.
§ 24. Das Prinzip der Parität verwirft die Staatsall-
macht und erkennt die Selbstständigkeit und Freyheit der
Konfessionen.
Das Prinzip der Parität setzt nicht die Allmacht, son-
dern die Hoheit des Staates auch über die Kirche voraus,
es macht dem Staate zur Pflicht, sein weltliches Schwert zum
Schirme der Freyheit der Kirche und der Konfessionen zu
führen, aber es hindert den Staat, seine Gewalt im Dienste
einer Confession zur Unterdrückung des Glaubens oder der
Rechte der andern zu missbrauchen, es hindert den Staat die
Kirche zu unterdrücken.
Das Prinzip der Parität ist kein radikales; es ist, inso-
fern es die bestehenden Gonfessionen achtet und schirmt, eine
konservative, insofern es sich der in ihm liegenden geistigen
Freyheit und Hoheit des Staates bewusst ist und die Konse-
quenzen dieser weiter verfolgt, eine liberale Idee.
§ 25. Wenn aber der Radikalismus in seinen Angriffen
auf die katholische Konfession nicht von konfessionell-prote-
stantischen Motiven ausgieng, wie denn auch die Führer des-
selben vorerst katholische Radikale waren, so stützte er sich
doch in seinen Operationen vornehmlich auf die protestan-
tischen Volkgefühle und die in dem Blute des protestantischen
Volkes seit den frühern konfessionellen Kämpfen überlieferten
Antipathien, die er wieder aufzuregen suchte.
§ 26. Das Eigenthümliche und Gefährliche dieser Er-
scheinung liegt darin, dass der Angriff auf die (katholische)
Konfession nicht von der (protestantischen) Konfession, son-
dern von dem politischen Radikalismus ausging, aber dass
dieser sich mit konfessionellen Stimmungen des protestantischen
Volkes zu alliren und dieses zu eiuem guten Theile zu
Bluntschli's Gedanken zar Vermittlung der Schweiz. 668
täuschen and zu missleiten wnsste. — Und die Aufgabe der
Politik ist es, diese innerlich unwahre Allianz zu trennen,
and die Maske des Radikalismus, dass er Vertreter des Pro-
testantismus sey, demselben vom Gesicht zu ziehen. Das aber
kann nicht durch blosse Erörterung und Erklärung, sondern
auf eine für das Volk verstandliche Weise und nur durch
überzeugende Thatsachen geschehen.
§ 27. Als der Angriff des Radikalismus sich auf katho-
lische Institute zunächst bezog, so bildete sich ihm gegen-
über eine katholische Parthey. Und ganz in demselben Ver-
hältniss, in welchem die äussere und innere Schweiz immer
mehr wieder dem Radikalismus verfiel, gerieth die innere
and katholische Schweiz immer mehr unter die Leitung einer
extremen ultramontanen Politik.
Bern wurde das Haupt der radikalen, Luzern der Sitz
der ultramontanen Richtung. In Bern triumphirte die Revo-
lution in der Gestalt des Freischarenthums, in Luzern setzte
sich die Reaktion fest, mit der Fahne des Jesuitenordens.
§ 28. Auch die ultramontane Parthey verbannte das
Prinzip der Parität.
Auch sie störte den konfessionellen Frieden.
§ 29. Zwar ist es wahr, dass die katholische Parthey
kein bestehendes äusseres Recht der Protestanten verletzt
hat Als Luzern die Jesuiten berief, machte es von einem ihm
zustehenden Rechte Gebrauch, und der Radikaiismus war im
Unrecht, als er dieses Recht bestritt und mit Zwang drohte.
Aber es ist auch wahr, dass Luzern durch die Art, wie
die Jesuitenberufung in einer fieberhaft erregbaren Zeit be-
trieben und durchgesetzt wurde, und durch die ganze seither
verfolgte Politik sich moralisch gegen die Parität versündigte,
die konfessionellen Gegensätze in der Schweiz verbitterte
und erweiterte und dem Frieden der Geinüther tiefe Wun-
den schlug.
§ 30. Wie man immer über den Werth oder Unwerth
der Jesuiten denken mag, so ist nicht zu übersehen, dass die
Gesinnung, welche sich in der Berufung der Jesuiten kund
gab, weder von dem Geiste der Parität erleuchtet noch eine
eidgenössische war. Es lag darin unter den damaligen Um-
ständen
664 Jahresbericht 1899. Beilagen.
a) eine feindselige Reizung der Protestanten, die um
so schmerzlicher empfunden werden musste, als sich
eben damals die protestantischen Konservativen und
nicht ohne beginnenden Erfolg und mit Aufopferung
bestrebten, die frühem Verletzungen der Katholiken
durch den Radikalismus wieder gut zu machen, und
neuen zu wehren, und als es ihnen damals, trotz der
grossen innern Schwierigkeiten gelungen war, durch
einen Tagsatz im gsbeschluss den Antrag des Aar-
gauischen RadikaÜHmus auf Ausweisung der Jesuiten
abzuschlagen,
b) eine Missachtung von vielen wohldenkenden Katholi-
ken unterstützten Bitten der protestantischen Schweiz,
nicht in einem solchen Moment den konfessionellen
Hader neuerdings zur Wuth zu reizen,
c) eine Verkennung der besondern vorörtlichen Stellung
Luzenis, welche, da die Eidgenossenschaft ein pari-
tätisches Gemeinwesen ist, eine erhöhte Sorgfalt des
Vorortes in Wahrung des konfessionellen Friedens
erheischte,
d) der Grund und die Veranlassung zu einer allgemeinen
und gefährlichen Gährung in der Schweiz, die sich
in heftigen Feindseligkeiten des Radikalismus gegen
Luzern Luft machte und demselben überall in der
äussern Schweiz neue Macht und Stärke verlieh,
e) indem die Berufung der Jesuiten als der Triumph
der Luzernischen Politik proklamirt, der ganze Pro-
testantismus als Radikalismus verdächtigt und dem
Charakter jener Politik eine ausschliesslich konfes-
sionelle Färbung und zwar mit den grellsten Farben
aufgeprägt wurde, die Erneuerung einer konfessio-
nellen Spaltung der Schweiz,
§ 31. Eine Herstellung des konfessionellen Friedens
in der Schweiz setzt mit Nothwendigkeit voraus:
1. Sühne und Abwehr des radikalen gegenüber der
katholischen Konfession verübten und angedrohten
Unrechts.
2. Abwehr der ultramontanen Politik, als einer uneid-
genössischen.
BlunUchli's Gedanken zur Vermittlung der Schweiz. 605
Die erstere läge in der definitiven Lösung der Aargaui-
schen Klosterfrage im Einverständnisse mit der katholischen
Bevölkerung des Aargaues und der Schweiz.
Die zweite lflge in der friedlichen Abberufung der Jesuiten
von Luzern durch den päpstlichen Stuhl oder der freywilligen
Verzichtleistung auf die Jesuiten von Seite Luzerns.
Die eine ohne die andere ist nicht geeignet, den kon-
fessionellen Frieden neu zu befestigen. Denn bliebe das radi-
kale Unrecht ungesühnt, so würden weder die Katholiken
beruhigt, noch die Radikalen von Erneuerung solchen Unrechts
abgehalten. Und wurde die ultramontane Richtung ihre Herr-
schaft in der katholischen Schweiz fortsetzen, so würde die
Spaltung und die Feindseligkeit der Konfessionen stets erneuert
werden.
Der konfessionelle Friede setzt die gegenseitige Beruhi-
gung der Gemüther und den Triumph des paritätischen Prin-
zips über beyde extreme Richtungen voraus.
§ 32. Gegen eine neue und letzte Behandlung der
Klosterfrage kann hauptsächlich angeführt werden:
a) die formelle durch eine Tagsatzungsmehrheit gutge-
heissene Erledigung derselben,
b) die Schwierigkeit der Herstellung der aufgehobenen
Abteyen Muri und Wettingen,
c) die Verjährung.
Allein wenn erwogen wird:
a) dass jene Erledigung durch die Tagsatzung teils eine
innerlich ungenügende Sühne für die geschehene Ver-
letzung des Bundes und des konfessionellen Friedens
enthält, indem die reichen Abteyen aufgehoben blieben,
und nur die ärmern Frauenklöster hergestellt wurden,
somit das Unrecht in der Hauptsache fortdauerte, teils
äusserlich wieder von einer radikalen und protestan-
tischen Mehrheit entgegen einer starken fortdauernd
protestirenden Minderheit gefasst wurde, also in sich
selber dem Geiste einer paritätischen Politik zu-
widerlief,
b) dass die Verletzungen der Parität und die Angriffe
auf die katholische Konfession vornämlich von dem
666 Jahresbericht 1899. Beilagen.
in sich selber paritätischen Stande Aargau ausgiengen,
somit eine Herstellung des konfessionellen Friedens
in der Schweiz voraus die Herstellung desselben im
Aargau erheischt,
c) dass die Bücksicht auf das inzwischen Geschehene
zwar für Art und Mass der Erledigung der Kloster-
frage (z. B. blosse Herstellung von Muri verbunden
mit einer fruchtbaren Anstalt) von Bedeutung ist,
aber um so weniger das neue Eintreten auf die
Aargauische Klosterfrage verhindern kann, als von
einer richtigen Lösung auch das Schicksal der übri-
gen in paritätischen oder protestantischen Kantonen
liegenden Klöster abhängt, mithin die Aargauische
Klosterfrage anch hier beständig nachwirkt,
d) dass nur dadurch in der katholischen Bevölkerung das
Gefühl der Rechtssicherheit in konfessionellen Dingen
wieder erweckt werden kann,
so kann man sich dieser Frage nicht entziehen, sondern
muss dieselbe mit zur Erledigung gebracht werden. Es kann
das so geschehen, dass die Hoheit des Staates vollkommen
geachtet wird und die Klosterverhältnisse in der Schweiz
überhaupt im Etnverständniss mit dem päpstlichen Stuhl so
regulirt und fruchtbar gemacht werden, dass dieselben der
Kirche zum Segen und dem Vaterlando zu höherem Nutzen
gereichen.
§ 33. Eben, so nöthig'aber ist es, dass auch die Jesuiten-
frage im Geiste einer paritätischen Politik ihre Erledigung
finde.
Das setzt voraus:
a) dass das Rechtler katholischen Stände, katholische
Orden aufzunehmen, aber zugleich das eidgenössische
Kreuz und nicht die Fahne der Jesuiten als das Pa-
nier auch des* katholischen Vororts in seinen Bezieh-
ungen zur gesainmten Eidgenossenschaft von Neuem
anerkannt^werde,
b) nicht auf dem Wege des Zwangs, sondern auf dem
moralischer^Einwirkung, im Interesse der Beruhigung
der Gemüther^und zur Herstellung des Friedens die
Jesuiten wieder von Luzern entfernt werden.
Bluntechli's Gedanken zur Vermittlang: der Schweiz. 667
Wie in der Klosterfrage die Angriffe des Radikalismus
zurückgewiesen werden sollen, so müssen in der Jesuitenfrage
die Gegenreizungen des Absolutismus beseitigt werden. Dort
muss die Revolution, hier die Reaktion getroffen werden.
Damit ist der Friede da, in der ganzen Schweiz und
unter beiden Konfessionen, ohne das nicht.
§ 34. Wird der konfessionelle Friede in diesem Sinne
hergestellt, so ist die Frage der Freyschaaren und des Sonder-
bandes Ton Belbst erledigt. Jene haben keine Unterstützung,
dieser keinen Sinn mehr. Das Verbot jener ist eine Wahrheit,
die Auflösung dieses leicht zu erlangen.
Zugleich ist auch der Boden gewonnen für die politische
Vertnittlung und Befriedigung der Schweiz.
III. Die europaischen Machte und der confessionelle
Friede der Schweiz.
§ 35. Auch in Europa ist der Gegensatz der Konfessio-
nen vorhanden. Auch in Europa bedroht auf der einen Seite
der Radikalismus und das Idol der Staatsall macht, die Selb-
ständigkeit und Freyheit der Kirche, und erhebt sich auf der
andern Seite die Parthey der Jesuiten und Ultramontanen
mit ihren einer untergegangenen Periode entlehnten staats-
feindlichen und reaktionären Tendenzen.
Würde in der Schweiz das Prinzip der Parität siegen,
und der konfessionelle Frieden neu befestigt, so hätte die
Schweiz ihre Aufgabe ehrenvoll und fruchtbar gelöst.
Käme es in der Schweiz zu einem Bürgerkriege mit
konfessioneller Färbung, so wäre das nicht bloss für die Schweiz
ein Unglück und eine Schmach, sondern auch ein böses Vor-
spiel für die Leidenschaften, die in Europa gären.
§ 36. So wichtig und höchst wünschenswerth es ist, dass
die Schweiz ihre Aufgabe selbständig löse, ohne irgend eine
Dazwischen kunft der Europäischen Mächte, so natürlich ist
es, dass auch Europa, aus Gründen seines eigenen Interesses,
den Gang der schweizerischen Entwicklung mit Aufmerksam-
keit und mit moralischer und geistiger Th eil nähme betrachte.
§ 37. Deutschland voraus ist in konfessioneller Bezie-
hung ähnlichen Gefahren Preis gegeben wie die Schweiz.
668 Jahresbericht 1899. Beilagen.
Wie diese besteht auch Deutschland aus katholischen, pro-
testantischen uud gemischten Staaten. Aach Deutshland darf,
ohne seine Gesammtexistenz Preis zu geben, in sich weder
eine radikale Bedrückung der Kirche, noch eine ultramontane
Politik aufkommen lassen. Der dreissigjährige Krieg enthält
fdr Deutschland eine fruchtbare Mahnung, den konfessionellen
Frieden zu erhalten.
Oesterreich als katholische Macht hat ein unermessliches
Interesse, zwar die Rechte der katholischen Konfession in
Deutschland zu schirmen, aber den politischen Ultramontanis-
mus, der in seiner Konsequenz zur konfessionellen Spaltung
und zum konfessionellen Kriege führt, und mit dem Dasein
einer politischen Grossmacht unverträglich ist, niederzuhalten.
Preussen als eine vorherrschend protestantische Macht,
welche indessen schon um ihrer katholischen Prinzipien willen
eine paritätische Politik zu befolgen genöthigt ist, ist durch
seine Geschichte und seine politischen Prinzipien darauf an-
gewiesen die unwahre Verwechslung von Radikalismus und
Protestantismus zu verhindern, den Ultramontanismus zu be-
kämpfen und die Rechte auch der Katholiken zu achten.
Bayern hat die Gefahren des Ultramontanismns an sich
selber erfahren und ist durch seine Lage und seine Bedürf-
nisse auf entschiedene Geltendmachung der Parität hinge-
drängt.
§ 38. Frankreich bekennt sich zu dem Prinzip der
Staatshoheit. Würde es in der Schweiz die ultramontane
Politik unterstützen, so würde es mit sich selbst in einen
gefährlichen Widerspruch gerathen. Frankreich hat in neue-
ster Zeit seine Jesuitenfrage in friedlicher Weise gelöst und die
religiöse Freiheit auch einer extremen Parthey zu respektiren,
zugleich aber die Triumphe des Jesuitenordens bei sich zu nichte
zu machen gewusst. Es kann, wenn es moralisch verfahren will,
nicht in der Schweiz den Triumph eines Prinzipes wünschen,
das es auf seinem eigenen Gebiete in Schranken gewiesen hat.
Eben so wenig kann Frankreich unter derselben Voraus-
setzung, nachdem es selber der Revolution entwachsen ist,
und die radikale Parthey in seinem Innern besiegt hat, diese
in der Schweiz beleben und kräftigen wollen.
Bluntschli's Gedanken zur Vermittlung der Schweiz. 669
Das Prinzip der Parität entspricht allein den Wünschen
und den Interessen auch von Frankreich, der Parität im
Gegensatz zu den Bedrohungen and den Leidenschaften bei-
der Extreme.
§ 39. England hat in neuerer Zeit sich energisch los-
gemacht von den Ueberlieferungen einer ungerechten, im Na-
men des Protestantismus gegen die katholische Bevölkerung
des Reiches verübten Politik des Zwangs, der Gewalt und
der Unterdrückung und ist übergetreten zu dem Prinzip der
religiösen Freyheit. Es hat verzichtet auf jeden Staatszwang
in konfessionellen Dingen. Es verwirft das illiberale Prinzip
des Radikalismus und seiner politischen Freiheiten bewusst,
verschmäht es den Ultramontanismus.
§ 40. Es ist somit klar. Wenn die Schweiz das Prinzip
der Parität festhält und durchführt, so ist jeder Konflikt in
diesen Dingen mit einer europäischen Macht unmöglich. Die
Schweiz würde sich nur zu demselben Prinzip bekennen, auf
welchem auch der konfessionelle Friede Europas und der
einzelnen europäischen Länder ruht.
Wenn es dagegen in der Schweiz zu einem Bürgerkrieg
mit konfessioneller Färbung käme, so ist der Konflikt mit
einzelnen Mächten wenigstens je nach nach Umständen nicht
unwahrscheinlich, weil mit Recht oder Unrecht leicht einzelne
Mächte daran einen Rückschlag auf ihre eigenen konfessio-
nellen Zustände zu besorgen scheinen.
§ 41. Können und dürfen aber die Mächte — und zwar,
da die deutschen Mächte und Frankreich am nächsten daran
betheiligt sind, zunächst diese auf die Herstellung des kon-
fessionellen Friedens in der Schweiz einwirken? Und Wie?
1. Absolute Indifferenz der Mächte, wäre Unnatur und
vertrüge sich nicht mit den eigenen Interessen der-
selben an der Frage.
2. Jede Ausübung eines Zwangs gegenüber der Schweiz,
in der Absicht, ihr diese oder eine andere Erledi-
gung der Frage aufzudringen, wäre ein Unrecht
gegen die Schweiz und eine Verkennung ihrer auch
im europäischen Interesse liegenden Mission, ihre
Fragen selbstständig zu entscheiden.
670 Jahresbericht 1899. Beilagen.
8. Sogar der Schein des Zwanges und die Drohung
wäre ein um so grösserer Fehler, als die Schweiz
mit Recht als eine republikanische Bundesgenossen-
schaft auf ihre Freiheit eifersüchtig ist und als in
konfessionellen Dingen jede Zwangspolitik doppelt
verderblich ist.
§ 42. Zwischen der Indifferenz und dem Zwang liegt
aber noch ein weites Gebiet moralischer und geistiger Theil«
nähme, und selbst der Aeusserung dieser Theilnahme.
Dahin gehören, wenn wir uns einfach an der Erfahrung
der letzten Jahre halten,
a. Direkte Aeusserungen der Mächte an die
Schweiz.
Die Schweiz ist geneigt, auch in dem Rathe eine Aus-
übung vormundschaftlicher Anmassung zu wittern, und dem-
selben schon desshalb Misstrauen und Abneigung entgegen
zu setzen. Sie weiss überdem, dass keine europäische Macht,
wenn man an die Geschichte der letzten fünfzig Jahre zu-
rückdenkt, frei ist von eigener Verletzung konfessioneller
Rechte und von eigener Verschuldung an dem Prinzipe der
Parität, und hat desshalb ein Recht auf schonende Beurthei-
lung auch ihrer Fehlgriffe.
Daher wirken direkte Aeusserungen, welche diesen Stim-
mungen und Ansichten der Schweiz nicht Rechnung tragen,
eher schädlich als förderlich auf die innere konfessionelle
Befriedigung der Schweiz ein. Nur wenn die Mächte, mit
voller Freimüthigkeit und Offenheit ihre eigenen Interessen
voranstellen, ihre eigenen Erfahrungen kundgeben, sich nur
auf die Macht der Moral stützen, sich nur auf die Kraft
menschlich wahrer Prinzipien berufen, nur dann wenn sie
nicht als physische Grossmächte, sondern als Repräsentanten
einer weisen und gerechten europäischen Politik aufrichtig
und klar zur Nation reden, nur dann können ihre Aeusse-
rungen allerdings in dem Masse heilsam wirken, in welchem
sie wahrhaft diesen Charakter in sich haben und gemein-
verständlich offenbaren.
Bluntschli'ß Gedanken zur Vermittlung der Schweiz. 671
§ 43. b. Die auswärtige Presse.
Die auswärtige Presse, die deutsche unter Censur stehende
Presse zumal, hat seit Jahren im Uebermass die radikalen
Bestrebungen in der Schweiz untertützt, bald offen, bald
geheim, bald durch Verteidigung, bald durch Verschweigung.
Ein Theil der auslandischen Presse umgekehrt hat sich der
ultramontanen Taktik angeschlossen. Grosse Zeitungen wie
die allgemeine Augsburger, haben zwischen diesen beiden
Richtungen. hin- und hergeschwankt.
Nur die prinzipielle Mittelparthei, welche die Herstellung
des konfessionellen Friedens sich zur Aufgabe stellte, fand
in der auswärtigen Presse geringe Anerkennung und sehr
wenig Unterstützung, und vielfältige Befeindung. Und doch
vertrat sie, und sie allein, ein gerechtes und wahres Prinzip
von nicht bloss schweizerischem Werthc.
Dieser Zustand der auswärtigen Presse ist ein ganz
offenbares Zeugniss der grossen innern Schäden, an welchen
in diesem Fall nicht die Schweiz, sondern die öffentlichen
Zustände Deutschlands krank sind.
Der französischen Presse lagen diese Fragen ferner :
aber als sie sich damit beschäftigte, zeigte sie jedenfalls mehr
politisches Verständniss als die deutsche Presse, wenn schon
zugleich auch mehr Neigung; je nach innern speziell-fran-
zösischen Partheiinotiven und Interessen sich der Frage zu
bemächtigen und dieselben auszubeuten.
§ 44. c. Unterhandlungen mit dem Papste zur
Förderung des konfessionellen Friedens in
der S c h w eYz.
Es ist das ein Punkt von grösster Wichtigkeit. Der
Papst ist als das Oberhaupt der katholischen Kirche in der
Lage, und Pius IX. insbesondere ist als ein ächter Jünger
Christi, auch persönlich befähigt für die konfessionelle Be-
friedigung der Schweiz in völlie: rechtmässiger, in einer dem
Geiste auch des neunzehnten Jahrhunderts zusagenden Weise
Grosses zu thun. Es kommt nur darauf an, dass Pius IX.
von den Verhältnissen und den Richtungen, die sich in der
672 Jahresbericht 1899. Beilagen.
Schweiz bekämpfen, wahrhaft unterrichtet, und bei ihm die
Bestrebungen der Männer, welche in der Schweiz im Gegen-
satze zu dem Kriege der Extreme für einen gerechten Frieden
und die Freiheit der Konfessionen arbeiten, unterstüzt werden.
IV. Die Bandesreform und die politischen
P ar theien.
§ 45. Die konfessionelle Beruhigung der Schweiz ist nicht
genügend für die volle Befriedigung der Schweiz, aber sie ist
ein unerlässliches Erforderniss dieser. Sie muss der politischen
Vermittlung vorausgehen und sie einleiten.
§ 46. Die politische Vermittlung ist nur dann wahrhaft
möglich, wenn die politischen Partheien in das richtige Ver-
hältniss eingetreten sein werden. In demselben Maasse, in
welchem die schiefen Verhältnisse der Partheien sich lösen
und in das richtige übergehen, geht die Vermittlung vor sich.
In der Schweiz sind die politischen Partheien schärfer
und prinzipieller geschieden, als in andern europäischen
Staaten. Aber indem es den extremen Partheien gelungen ist,
die Leidenschaften der Massen anzuregen und zu benutzen,
ist die natürliche Ordnung gestört, und dadurch das Miss-
verhältniss der Partheien hervorgerufen worden, an dem die
Schweiz leidet.
§ 47. Der Radikalismus versucht die Schweiz seiner
Herrschaft zu unterwerfen und in seinem Sinn den Bund
umzuändern.
Zu diesem Behuf bereitet er den Angriff auf die innere
Schweiz vor. Um dessen Willen vornämlicb verletzt er den
konfessionellen Frieden. Die Jesuitenfrage ist in seiner Hand
nur ein Mittel; um eine neue radikale Herrschaft aufzurichten.
§ 48. Die Herrschaft des Eadikalismus ist die grösste
Gefahr, womit die Schweiz bedroht ist. Denn sie ruinirt die
Schweiz zugleich im Innern und gefährdet ihre europäische
Stellung.
Sein nächstes Ziel ist die Bundesrevolution.
§ 49. Nur ein kleiner — obwohl durch die Logik des
radikalen Prinzipes starker — Theil der radikalen Parthei
will aus der Schweiz einen einheitlichen Staat machen, mit
Bluntsehli's Gedanken zur Vermittlung der Schweiz 1847. 673
zentraler Gesetzgebung nnd Regierang nach Art der Helveük,
ohne kantonale Selbstständigkeit Die Masse der Parthei
scheut sich davor, die Kantone als besondere Republiken auf-
zulösen und in der einen und untheilbaren helvetischen Re-
publik untergehen zu lassen. Sie sucht nach Qebergängen
aus dem Prinzip des Föderalismus zu dem der Staatseinheit.
Aber die ganze Parthei verletzt jetzt schon unbedenklich
das Prinzip der kantonalen Selbstständigkeit und somit das
Prinzip des Föderalismus im Interesse radikaler Leidenschaft
und radikaler Gewaltherrschaft, und jede von ihr beantragte
und durchgeführte Veränderung des Bundes wird daher die
Tendenz haben, die Verletzung jener beiden Prinzipien für
die radikale Partei noch mehr zu erleichtern, beziehungsweise
die Eigentümlichkeit und Freiheit der Kantone und der
föderalen Natur der Schweiz noch mehr zu verletzen. — Hat
die radikale Parthei jetzt schon kein Bedenken, das formale
Prinzip einer XII Stände-Mehrheit in antiföderalem Sinne
auszubeuten, und wenn diese XII Stände-Mehrheit radikale
Beschlüsse fasst, mit Gewalt die Selbstständigkeit der Kantone
zu zerstören, so wird jeder Schritt, den die Parthei thut,
den Bund zu verändern, diese absolute Gewaltherrschaft er-
weitern, und kann sie die starke und zähe Natur der Schweiz
nicht auf einmal zum Falle bringen, so reisst sie stückweise
die Garantie ihrer Existenz zusammen und verdirbt ihren Geist.
§ 50. Die radikale Parthei kann daher nur die Zer-
störung des Bundes, nicht die Reform des Bundes bringen.
Es fehlt ihr an dem Geist, das schweizerische Leben
in seiner Eigen thümlichkeit, Manigfaltigkeit und lebendigen
Freiheit zu erfassen, und es fehlt ihr an der moralischen
Kraft gerecht zu sein.
Sie spielt mit dem Schicksal und der Wohlfahrt des
Volks, erfreut sich an Nichtigkeiten. Sie jagt abstrakten
Begriffen von Freiheit, Gleichheit, Kultur nach, und zertritt
die Bedingungen des gesunden schweizerischen Volkslebens,
eine lebendige Freiheit und eine tüchtige Gesittung.
Nach Innen wählt sie entweder auflösend oder ein-
schnürend bis zum Ersticken, nach Aussen propagandistisch.
43
674 Jahresbericht 1899. Beilagen.
§ 51. Der Grundsatz, dass der Mehrheit sich die Minder-
heit unterordne, ist ein alter demokratischer. Wenn aber die
Kantonalverfassungen ausschliesslich auf der Vollzahl begründet
sind und das Prinzip der Zahl als ein bloss formelles zur
Herrschaft kommt, so entsteht daraus fürs erste eine un-
wahre und wechselnde Mehrheit und für's zweite der Despo-
tismus der Mehrheit über die Minderheit. Daran leiden alle
die sogenannten regenerirten Kantone. In allen gebricht es
an einer natürlich organisirten, die Rechte aller Klassen und
Theile respektirenden Mehrheit.
Wird das Prinzip der Volkszahl und die blosse Stimmen-
mehrheit übergetragen auf die Bundesverfassung, so wird auch
in der Schweiz der föderale Organismus zerstört und das
Recht der Minderheit unterdrückt.
§ 52. Der radikalen Parthei gegenüber steht nun der
Sonderbund gerüstet zum offenen Kampfe. Soweit der Sonder-
bund die Selbstständigkeit der innern Schweiz vertheidigt
gegen den Angriff des Radikalismus, so weit ist er im Recht.
Er hat das Recht der Nothwehr für sich.
So weit der Sonderbund als dauerndes Prinzip sich geltend
machen wollte, ist er im Unrecht. Und er ist zugleich auch
unfähig, seinen partikularen Geist zum Eidgenossischen zu
verallgemeinern.
In dem Sonderbund sind zwei Elemente verbunden, ein
konservatives (Bewahrung der Freiheit der in ihrer konfessionellen
und politischen Selbstständigkeit bedrohten Kantone) und ein
absolutistisches (Verfolgung einer kurzsichtigen und ausschliess-
lichen Reaktionspolitik).
§ 53. An dem Sonderbunde kann sich im günstigsten
Falle der Radikalismus momentan in seinem gewaltsamen
Anlaufe brechen. In keinem Fall kann die schliessliche Be-
friedigung der Schweiz von ihm ausgehen.
§ 54. Der Radikalismus zerstört die alte Schweiz in
ihrer Berechtigung. Die Reaktion müht sich vergeblich ab,
die Entwicklung der Schweiz zu hintertreiben.
Jener missachtet die Selbstständigkeit der Stände und
die föderale Natur der Schweiz. Diese missachtet das er-
wachte Bewusstsein und die Bedürfnisse der Gemeinschaft,
die eidgenössische Gesinnung.
Bluntschli's Gedanken zur Vermittlung der Schweiz 1847. 675
§ 55. So lange die Extreme herrschen, so lange ist eine
wahre Befriedigung der Schweiz unmöglich. Sie zerreissen
dieselbe, sie entzünden die Leidenschaften, sie reizen zum
Bürgerkrieg. Bedrückung und Unterdrückung des realen
Lebens und seiner Rechte fällt beiden zur Last
§ 56. Der Fall und der Verfall der extremen Herrschaft
in den wichtigsten Kantonen der Schweiz und in der Eid-
genossenschaft sind wesentliche Erfordernisse einer föderalen
und eidgenössischen Politik.
§ 57. Die Aufgabe der eidgenössischen Politik ist ein-
mal, alles Recht, auch der alten Schweiz zu ehren, die Selbst-
ständigkeit und Freiheit der einzelnen Republiken zu achten
und zu erhalten, und zugleich das erwachte Bedürfniss der
Gemeinschaft zu befriedigen, sowohl in materieller Beziehung
als in dem Organismus des Bundes.
Jene Aufgabe ist eine konservative, diese eine liberale.
Beide Richtungen vereint und versöhnt enthalten den Frieden
und die Entwicklung in sich. Von da aus allein wird es ge-
lingen, die verderbliche Einwirkung der Extreme zu hemmen.
§ 58. Eine Bundesreform ist nöthig, denn der jetzige
Bund entspricht weder ganz der wahren Natur der Schweiz
noch ihren Bedürfnissen.
Weder die Ordnung noch die Freiheit der Schweiz finden
gegenwärtig hinreichende Garantie in der Bundesverfassung.
Für beides ist weitere Sorge nöthig.
§ 59. Der Radikalismus mit seinen Eonsequenzen unter-
drückt die Kantone. Die Reaktion und ihre Konsequenzen
löst die Kantono von einander ab. Beide zerstören die Eid-
genossenschaft; jener, indem er sie in ihren Gliedern, diese
Indem sie dieselbe in ihrer Verbindung bricht.
§ 60. Die wahre Bundesreform hält sich ganz konsequent
an das Prinzip des Föderalismus. Es ist ein Hauptfehler der
jetzigen Bundesverfassung, dass die vorörtliche Leitung bloss
kantonal nicht föderal organisirt ist.
Die wahre Bundesreform gewährt dem gemeinsamen Leben
der Eidgenossenschaft Stärke und Befriedigung und schützt
und hebt zugleich die Freiheit und Selbstständigkeit der
einzelnen Stände. Sie sorgt auch für die gemeinsamen
materiellen Interessen.
676 Jahresbericht 1899. Beilagen.
Sie ist ein Werk des liberal-konservativen Prinzips, und
beruht auf der Zusammenwirkung der liberalen und der
konservativen Schweiz.
Dieses Werk wird erst gelingen, wenn die Herrschaft
der extremen Partheien gebrochen oder erloschen ist
Wenn die Schweiz dasselbe zu vollbringen vermag, hat
sie ihren Frieden gewonnen, und ihre Mission für unsere
Zeit erfüllt.
Peilage II.
Lettre encyclique
de
Sa Saintetä le Fape L6on XIII
aux
archeveques, eveques et au clerge de France.
A nos venerables freres les archeveques, 6v6ques et
au clerge* de France.
V6n6rables freres
tres chers Als!
Depuis le jour oü Nous avons 6t6 eleve* ä la Chaire
pontilicale, la France a et6 constamment l'objet de Notre
sollicitude et de Notre affection tonte particuliere. C'est chez
eile, en effet qne, dans le cours des siecles, mu par les in-
sondables desseins de sa misöricorde sur le monde, Dieu a
choisi de präference les hommes apostoliques destinäs ä pre-
cher la vraie foi jusqu'aux confins du globe, et ä porter la
lumiere de l'Evangile aux nations encore plongäes dans les
tänebres dn paganisme. II l'a pr6destin6e ä 6tre le d6fen-
senr de son Eglise et Hnstrument de ses grandes oeuvres:
Oesta Dei per Francos.
A nne si haute mission correspondent evidemment de
nonibrenx et graves devoirs. Desirenx, corame Nos pred6ces-
seurs, de voir la France accomplir fidelement le glorieux
mandat dont eile a 6t6 chargee, Nous lui avons plusieurs
fois deja>, durant Notre long Pontificat, adress6 Nos con-
seils, Nos encouragements, Nos exhortations. Nous l'avons
fait tout specialement dans Notre Lettre Encyelique du 8
fävrier 1884 : Nobilissima Gallorum gens, et dans Notre
Lettre du 16 fävrier 1892, publice dans l'idiome de la
France et qul commence par ces mots : Au milieu des solli-
citudes. Nos paroles ne sont pas demeur6es infructueuses, et
Nous savons par vous, Venerables Freres, qu'une grande
678 Jahresbericht 1899. Beilagen.
partie du peuple francais tient toujours en honneur la foi
de ses anc&tres et remplit avec fidälite* les devoirs qu'elle
impose. D'autre part, Nous ne saurions ignorer que les
ennemis de cette foi sainte ne sont pas demearäs inactifs,
et qu'ils sont parvenus ä bannir tont principe de religion
d'un grand nombre.de familles, qui, par suite, vivent dans
une lamentable ignorance de la v6rit6 r6v616e, et dans une
complete indiffßrence pour tout ce qui touche ä leors intärets
spirituels et au salut de leors ämes.
Si donc, et ä bon droit, Nous f&icitons la France d'&tre
pour les nations infideles un foyer d'apostolat, Nous devons
encourager aussi les efforts de ceux de ses fils qui, enröles
dans le sacerdoce de J6sus-Christ, travaillent ä ävangeliser
leurs compatriotes, a les premunir contre l'envahissement
du naturalisme et de l'incr&lulitS, avec leurs funestes et
inevitables cons6qnences. Appells par la volonte de Dieu a
6tre les sauveurs du monde, les pretres doivent toujours, et
avant tout, se rappeler qu'ils sont, de par l'institution m&me
de J6sus-Christ, «le sei de la terre», *) d'oü S. Paul, 6cri-
vant ä son dissiple Timothäe, conclut avec raison «qu'ils
«doivent ßtre l'exemple des fidöles dans leurs paroles et dans
«leurs rapports avec le prochain, par leur charitä, leur foi
«et leur puret6 2>.
Qu'il en soit ainsi du clerge" de France, pris dans son
ensemble, ce Nous est toujours, V6ne>ables Freres, une
grande consolation de l'apprendre, soit par les relations
quadriennales que vous Nous envoyez sur l'6tat de vos dio-
ceses, conformäment ä la Constitution de Sixte-Quint; soit
par les Communications orales que Nous recevons de vous,
lorsque Nous avons la joie de Nous entretenir avec vous et
de recevoir vos confidences. Oui, la dignite de la vie, Far-
deur de la foi, l'esprit de dövouement et de sacrifice, l'älan
et la genärositä du zele, la charite* inepuisable envers le
prochain, l'energie dans toutes les nobles et fäcondes entre-
prises qui ont pour but la gloire de Dieu, le salut des ämes,
le bonheur de la patrie: telles sont les traditionnelles et
*) Matth. 5, 13.
2);i.'Tim. 6, 12.
Päpstliche Encyclika an den franz. Clerus. 679
pröcieases qualites da clerg6 fran$ais , auxquelles Nons
sommeB heureux de pouvoir rendre ici nn public et paternel
tämoignage.
Toutefois, en raison m&ne de la tendre et profonde affec-
tion que Nous lni portons; tout ä la fois pour satisfaire an
devoir de Notre ministöre apostolique, et pour r6pondre &
Notre vif d6sir de le voir demeurer toujours ä la hauteur
de sa grande mission, Nous avons rösolu, Venörables Freres,
de traiter dans la presente Lettre quelques points que les
circonstances actuelles recommandent de la fagon la plus
instante k la consciencieuse attention des premiers Pasteurs
de l'Eglise de France, et des pr&tres qui travaillent sous
leur autoritä.
C'est d'abord chose evidente que, plus un Office est re-
levä, complexe, difficile, plus longue et plus soignäe doit ötre
la preparation de ceux qui sont appeles ä le remplir. Or,
existe-t-il sur la terre une dignitö plus haute que celle du
sacerdoce, et un ministöre imposant une plus lourde respon*
sabilitä, que celui qui a pour objet la sanctification de tous
les actes libres de l'homme? N'est-ce pas du gouvernement
des ftmes que les Peres ont dit avec raison, que c'est «l'art
des arts>, c'est-ä-dire le plus important et le plus dälicat de
tous les labeurs auxquels un homme puisse 6tre applique au
profit de ses semblables «ars artium regimen animarum» l)?
Rien donc ne devra etre n6glig6 pour pröparer ä remplir
dignement et fructueusement une teile mission, ceux qu'une
vocation divine y appelle.
Avant toute chose, il convient de discerner, parmi les
jeunes enfants, ceux en qui le Tres-Haut a depose* le germe
d'une semblable vocation. Nous savons que, dans un certain
nombre de diocöses de France, gräce ä vos sages recomman-
dations, les pretres des paroisses, surtout dans les campagnes,
s'appliquent avec un zele et une abnägation que Nous ne
saurions trop louer, ä commencer eux-memes les Stades 616-
mentaires des enfants dans lesquels ils ont remarquö des
dispositions s6rieuses ä la piet6 et des aptitudes au travail
intellectueL Les Ccoles presbyt6rales sont ainsi comme le
*) S. Greg. M. Lib. Regula Past. P. I, c. 1.
680 Jahresbericht 1899. Beilagen.
premier degr6 de cette Schelle ascendante qui, d'abord par
les petits, puis par les grands S6minaires, fera monter jus-
qu'au sacerdoce les jeunes gens auxquels le Sauveur a re-
p6t6 l'appel adressö ä Pierre et Andr6, ä Jean et ä Jacques:
Laissez tos filets: *suivez-moi; je veux faire de vous des
«p^cheurs d'homines» 1).
Quant aux petits Säminaires, cette tr6s-salutaire Insti-
tution a 6t6 souvent et justement comparöe ä ces p6pinieres,
oü sont mises ä part les plantes qni räclaraent des soins plus
sp6ciaux et plus assidus, moyennant lesquels seuls elles peu-
vent porter des frnits et d^dom mager de leurs peines cenx
qui s'appliqnent ä les cultiver. Nous renouvelons ä cet egard
la recommandation que, dans son Encyclique du 8 decembre
1849. notre pr6d6cesseur Pie IX adressait aux Ev6ques.
Elle so r&'ärait elle-meme ä une des plus importantes deci-
sions de» Peres du S. Concile de Trente. C'est la gloire de
l'Eglise de France, dans le siecle präsent d'en avoir tenu le
plus grand compte, puisqu'il n'est pas un seul des 94 dio-
ce*es dont eile se compose, qui ne soit dote* d'un ou de
plusieurs petits Säminaires.
Nous savons, V6n6rables Freres, de quelles sollicitudes
yous entourez ces institutions si justement cheres & votre
zöle pastoral, et Nous vous en felicitons. Les pretres qui,
sous votre haute direction, travaillent ä la formation de la
jeunesse appel6e ä s'enröler plus tard dans les rangs de la
milice sacerdotale, ne sauraient trop souvent m6diter devant
Dieu l'importance exceptionnelle de la mission que vous leur
confiez. II ne s'agit pas pour eux, comme pour le commun
des maitres, d'enseigner simplement ä ces enfants les 616-
ments des lettres et des sciences humaines. Ce n'est 1& que
la moindre partie de leur täche. II faut que leur attention,
leur zöle, leur devouement soient sans cesse en eveil et en
action, d'une part pour 6tudier continuellement sous le re-
gard et dans la lumiöre de Dieu, les ämes des enfants et
les indices significatifs de leur vocation au service des au-
tels; de l'autre, pour aider l'inexpärience et la faiblesse de
leurs jeunes disciples, ä. prot6ger la gräce si pr6cieuse de
l) Matth. 4, 19.
Päpstliche Encyclika an den frans. Cleruts. 681
l'appel divin coutre toutes les influences funestes soit da
dehors, soit du dedans. Us ont dono ä remplir un ministöre
humble, laborieux, dälicat, qui exige nne constante abn6ga-
tion. Afin de sontenir leur courage dans l'accomplissement
de leurs devoirs, ils auront soin de le retremper aux sonrces
les plus pures de l'esprit de foi. Ils ne perdront jamais de
vue, qu'ils n'ont point ä pr6parer pour des fonctions terres-
tres, si legitimes et honorables soient -elles, les enfants dont
ils forment rintelligence, le coeur, le caract&re. L'Eglise
les leur confie pour qu'ils deviennent capables un jour d'ätre
des pretres, c'est-ä-dire des missionnaires de l'Evangile, des
continuateurs de l'ceuvre de J&us-Christ, des distributeurs
de sa gräce et de ses sacrements. Que cette consid6ration
toute surnaturelle se möle incessamment ä leur double action
de profesBeurs et d'6ducateurs, et soit comme ce levain qu'il
faut m&anger au meilleur froment, suivant la parabole evan-
g&ique, pour le transformer en un pain savoureux et sub-
stantiel 1).
Si la präoccupation constante d'une premiöre et indis-
pensable formation ä l'esprit et aux vertus du sacerdoce
doit inspirer les maitres de vos petita S6minaires dans leurs
relations avec leurs 61öves, c'est a cette möme id6e principale
et directrice que se rapporteront le plan des ätudes, et toute
l'äconomie de la discipline. Nous n'ignorons pas, V6nerables
Fröres, que, dans une certaine mesure, vous etes Obligos de
compter avec les prograinmes de PEtat et les conditions
mises par lui ä l'obtention des grades universitäres, puisque,
dans un certain nombre de cas, ces grades sont exig6s des
pr&treg employös soit ä la direction des collöges libres, plac6s
sous la tuteile des Eveques ou des Congr6gations religieuses,
soit ä l'enseignement supärieur dans les Facultas catholiques
que yous avez si louablement fondges. II est d'ailleurs d'un
int6r£t souverain, pour maintenir l'influence du clergö sur la
soci6t6, qu'il compte dans ses rangs un assez grand nombre
de prfttres ne le cädant en rien pour la science, dont les
grades sont la constation officielle, aux maitres que l'Etat
forme pour ses lycöes et ses Universitäs.
0 Hatth. 13, 33.
682 Jahresbericht 1899. Beilagen.
Toutefois, et apres avoir fait & cette exigence des Pro-
gramm es la part qu'imposent les circonstances, il faut qne
les 6tudes des aspirants au sacerdoce demeurent fideles aux
m6thodes traditionnelles des siecles passes. Ce sont elles qui
ont forme les hommes eminents dont l'Eglise de France est
fiere ä si juste titre, les Patau, les Thom assin, les Mabillon
et tant d'autres, sans parier de votre Bossuet, appelö l'aigle
de Meaux, parce que, soit par F61e>ation des pensees, soit par
la noblesse du langage, son g6nie plane dans les plns su-
blimes rägions de la science et de l'eloquence chr6tienne.
Or, c'est Petude des belles lettres qui a puissamment aidö
ces bommes ä devenir de tres-vaillants et utiles ouvriers au
service de l'Eglise, et les a rendus capables de composer des
ouvrages vraiment. dignes de passer ä la posterite et qui
contribuent encore de nos jours ä la defense et ä la diffusion
de la verit6 r6v616e. En effet, c'est le propre des belies
lettres, quand elles sont enseignäes par des maitres chre-
tiens et habiles, de dövelopper rapidement dans Farne des
jeunes gens tous les germes de vie intellectuelle et morale,
en meme temps qu'elles contribuent ä donner au jugement
de la rectitude et de l'ampleur, et au langage de l'^legance
et de la distinction.
Cette consid6ration acquiert une importance speciale
quand il s'agit des litteratures grecque et latine, d6positaires
des chefs-d'oeuvre de science sacree que l'Eglise compte ä
bon droit parmi ses plus precieux trfoors. II y a un demi-
siecle, pendant cette periode trop courte de veritable liberte,
durant laquelle les Eveques de France pouvaient se reunir
et concerter les mesures qu'ils estimaient les plus propres ä
favoriser les progres de la religion et, du meme coup, les
plus profitables ä la paix publique, plusieurs de vos Conciles
provinciaux, V6ne>ables Freres, recommanderent de la facon
la plus expresse la culture de la langue et de la littärature
latines. Vos collegues d'alors däploraient deja que, dans
votre pays, la connaissance du latin tendit ä däcroitre 1).
*) Porro liaguam latinam apud nos obsolescere nee quisquam
est qui nesciat, et viri prudentes conqueruntur. Discitur tardisaimc,
celerrirae didiscitur (Litt Synod. Patrum Gons. Paris, ad clericos
et fideles, an 1849, in Collectio Lacensis Tom. 4, col. 86).
Päpstliche Encyclilca an den franz. Clerus. 683
Si, depuis pluBieurs annäes, les mäthodes pädagogiques
en rigueur dans les Etablissements de l'Etat röduisent pro-
gressiveinent l'ötude de la langue latine, et suppriment des
excercices de prose et de po£sie que nos devanciers estimaient
ä bon droit devoir tenir une grande place dans les classes
des Colleges, les petits Säminaires se mettront en garde
contre ces innovations inspiräes par des präoccupations uti-
litaires, et qui tournent au dätriment de la solide formation
de 1'esprit. A ces anciennes mäthodes, tant de fois justiftees
par leurs r&ultats, Nons appliquerions volontiers le mot de
S. Panl ä son disciple Timothäe, et avec l'Apdtre, Nous vous
dirions, Venörables Fröres : «Gardez-en le döpöt» *), avec un
soin jaloux. Si un jour, ce qu'ä Dieu ne plaise, elles de-
vaient disparaitre completement des autres äcoles publiques,
que tos petits Säminaires et Colleges libres les gardent avec
une intelligente et patriotique sollicitude. Vous imiterez ainsi
les prStres de Jerusalem qui, voulant soustraire ä de bar-
bares envahisseurs le feu sacre* du Temple, le cacherent de
inaniere ä pouvoir le retrouver et ä lui rendre toute sa splen-
deur, quand les mauvais jours seraient passes8).
üne fois en possession de la langue latine, qui est comine
la clef de la science sacräe, et les facultas de l'esprit suffi-
samment däveloppäes par l'6tude des belles lettres, les jeunes
gens qui se destinent au sacerdoce passent du pctit au grand
SSminaire. Ils s'y pr6pareront, par la pi6t6 et l'exercice des
vertus cl£ricales, ä la räception des saints Ordres, en m£nie
teraps qu'ils s'y livreront ä l'ätude de la Philosophie et de
la Theologie.
Nous le disions dans Notre Encyclique Aeterni patris, dont
Nous recommandons de nouveau la lecture attentive ä vos s6mi-
naristes et ä leurs maitres, et Nous le disions en Nous appuyant
sur rautoritädeS. Paul : c'est par les vaines subtilit6s de la mau-
vaise philosophie, *per philosophiatn et inanem fallaciam,» 8) que
l'esprit des fideles se laisse le plus souvent tromper, et que
la purete* de la foi se corrompt parmi les hommes. Nous
«) 1 Tim. 6, 20.
a) U Mach. 1, 19—22.
•) Col. 2, 8.
684 Jahresbericht 1899. Boilagen.
ajoutions, et les ävenements accomplis depuis vingt ans out
bien tristement confirme* les röflexions et les apprähensions
que Nouß exprimions alors: «Si l'on falt attention aux con-
«ditions critiques du temps oü noas vivons, si Ton embrasse
«par la pens6e l'6tat des affaires tant publiques que priveea,
«on decouvrira sans peine que la cause des maux qui nous
«oppriment, comme de ceux qui nous menacent, consißte en
«ceci que des opinions erronäes sur toutes choses, divines
«et humaines, des 6coles des philosophes se sont peu ä peu
«glissäes dans tout les raugs de la sodtete* et sont arrivees
«& se faire accepter d'un grand nombre d'esprits.»1)
Nous räprouvons de nouveau ces doctrines qui n'ont de
la vraie Philosophie que le nom, et qui, 6branlant la base
m&me du savoir humain, conduisent logiquement au scepticisrae
universel et ä, l'irreligion. Ce nous est une profonde donleur
d'apprendre que, depuis quelques annäes, des catholiques ont
cru pouvoir se mettre ä la remorque d'une philosophie qui
sous le spöcieux prätexte d'affranchir la raison humaine de
toute id6e preconc,ue et toute illusion, lui d&iie le droit de
rien affirmer au delft de ses propres Operations, sacrifiant ainsi
k un subjectivisme radical toutes le certitudes que la nräta-
physique traditionelle, consacr6e par rautorite" des plus vigou-
reux esprits, donnait comme n6cessaires et inäbranlables
fondements ä la dämonstration de l'existence de Dien, de la
spiritualite* et de immortalite* de l'äme, et de la r6alit6 objec-
tive du monde extärieur. II est profondäment regrettable
que ce scepticisme doctrinal, d'importation Prangere et d'ori-
gine protestante, ait pu Gtre accueilli avec tant de faveur
dans un pays justement c&öbre par son amour pour la clarte*
des idäes et pour celle du langage. Nous savons, V6n6rables
Freres, & quel point vous partagez lä-dessus Nos justes pre^
occupations et Nous comptons que vous rädoublerez de solli-
citude et de rigilance pour äcarter de l'enseignement de vos
Säminaires cette fallacieuse et dangereuse philosophie, mettant
plus que jamais en honneur les mäthodes que Nous recom-
mandions dans Notre Encyclique pr6cit6e du 4 aoüt 1879.
Moins que jamais, & notre äpoque, les elöves de vos pe-
tits et de vos grands Söminaires ne sauraient demeurer
x) Encyclique: Aeterm Patris.
Päpstliche Encyelika an den franz. Clerus. 685
6trangers ä l'etude des sciences pbysiques et naturelles. II
convient donc qu'ils y soient appliquäs, mais avec mesure et
dans de sages proportions. II n'est dono nullement näcessaire
que, dans le cours de sciences, annexäs ä l'6tude de la Philo-
sophie, les professeurs se croient obligto d'exposer en detail
les applications presque innombrables des sciences physiqaes
et naturelles aux diverses branches de l'industrie humaine. U
suffit que leurs elöves en connaissent avec pröcision les grands
principes et les conclusions sommaires, afin d'6tre en 6tat
de resoudre les objections que les incrädules tirent de ces
sciences contre les enseignements de la R6v61ation.
Par dessus tout, il Importe que, durant deux ans au moins
les Kleves de vos grands Sßniinaires ätudient avec un soin
assidu la Philosophie rationnelle, laquelle, disait un savant
b6n6dictin, l'honneur de son ordre et de la France, D. Mabillon,
leur sera d'un si grand secours, non seulement pour leur ap-
prendre ä bien raisonner et ä porter de justes jugements,
mais pour les mettre ä mßme de däfendre la foi orthodoxe
contre les arguments captieux et souvent sophistiques des
adversaires.1)
Yiennent ensuite les sciences sacräes proprement dites,
ä savoir la Theologie dogmatique et la Theologie morale,
rEcriture Sainte, l'Histoire ecctesiastique et le Droit Canon.
Ce sont la les sciences propres au prötre. II en recoit une
premiere initation pendant son sejour au grand S&ninaire;
U devra en poursuivre l'etude tout le reste de sa vie.
La Theologie, c'est la science des choses de la foi. Elle
s'alimente, nous dit le pape Sixte-Quint, a ces sources tou-
jours jaillissantes qui sont les Saintes Ecritures, les däcisions
des Papes, les decrets des Conciles.2)
Appelee positive et spekulative, ou scolastique, suivant
la mäthode qu'on emploie pour l'6tudier, la Theologie ne se
borne pas ä proposer les v6rit6s ä croire; eile en scrute le
fond intime, eile en montre les rapports avec la raison hu-
maine, et ä l'aide des ressources que lui fournit la vraie Phi-
losophie, eile les explique, les developpe, et les adapte exac-
*) De Studiis Monaslicis Part. II. c. 9.
*) Goost. Apost. «Triuojphantis Jerusalem».
686 Jahresbericht 1899. Beilagen.
tement ä tous les besoins de la defense et de la propagation
de la foi. A l'instar de Bel6s6el, ä qni le Seigncur avait
donne* 8on esprit de sagesse, d'intelligence et de science, en
lui confiant la mission de bätir son Temple, le theologien
«taille les pierres precieuses des divins dogmes, les assortit
«avec art, et par l'encadrement dans lequel il les place en
«fait ressortir Peclat, le charrae et la beautß».1)
C'est donc avec raison qne le m&me Sixte-Quint appelle
cette thäologie (et il parle specialement ici de la theologie
scolastique) nn don du ciel et dem and e qu'elle soit main-
tenue dans les ecoles et cultivöe avec une grande ardeur,
comme etant ce qu'il y a de plus fructueux pour l'Eglise.*)
Est-il besoin d'ajouter que le livre par excellence oü les
Kleves pourront Studier avec plus de profit la theologie sco-
lastique, est la somme theologique de S. Thomas d'Aqüin?
Nous vonlons donc qne les professeurs aient soin d'en expli-
quer & tons leurs Kleves la mäthode, ainsi que les principaux
articles relatifs ä la foi catholique.
Nons recommandons 6galement que tous les Säminaristes
aient entre les mains et relisent sonvent le livre d'or, connu
sou8 le nom de Catächisme du S. Concile de Trente ou Cate-
chisme romain, dödie ä tous les pretres investis de la Charge
pastorale (Chatechismus ad parochos). Remarquable ä la fois
par la richesse et l'exactitude et la doctrine et par l'elegance
du style, ce catöchisme est un precieax abrege* de tonte la
theologie dognjatique et morale. Qui le possederait & fond.
aurait toujours & sa disposition les resources & l'aide des-
quelles un pretre peut prßcher avec fruit, s'aequitter digne-
ment de l'important ministere de la confession et de la di-
rection des ämes, et etre en etat de refuter victorieusement
les objeetions des incredules.
Au sujet de l'etude des Saintes Ecritures, Nous appelons
de nouveau votre attention, Venärables Freres, sur les en-
8eignements que Nous avons donnes dans Notre Encyclique
*) Pretiosas divini dogmatis geminas insculpe, fideliter coapta,
adorna sapienter; adiiee splendorem, gratiam, venustatem. (S. Vinc.
Lir. Commonit. c. 2).
ft) M6me Constitution.
Päpstliche Eocyclika an den franz. Giema. 687
Providentissimus Deus1) dont Nous däsirons que les Profes-
sears donnent connaissance ä leurs disciples, en y ajoutant
les explications n6cessaires. Ils les mettront specialement en
garde contre des tendances inquiötantes qui chercbent ä s'in-
troduire dans Interpretation de la Bible, et qui, si elles ve-
naient ä prövaloir, ne tarderaient pas ä en ruiner Inspira-
tion et le caractere snrnaturel. Sons le späcieux prätexte
d'enlever aux adversaires de la parole r§v6l6e l'usage d'ar-
guments que semblaient irröfutables contre Pauthenticite* et la
väracitä des Livres Saints, des ecrivains catboliqaes ont cru
tres-habile de prendre ces argumenta ä leur compte. En vertu
de cette Strange et pärilleuse tactique, ils ont travaill6; de
leurs propres mains, ä faire des brecbes dans les murailles
de la cite* qu'ils avaient mission de döfendre. Dans Notre
Encyclique pr6cit6e, ainsi que dans uo autre documenta),
Nous avons fait justice de ces dangereuses temeritäs. Tout
en encourageant nos ex£getes ä se tenir an courant des
progres de la critique, Nous avons fermement maintenu les
principes sanctionn6s en cette matiere par Pautorit6 tradi-
tio nnelle des Peres et des Conciles, et renouvelös de nos
jours par le Concile du Vatican.
L'histoire de l'Eglise est comme un miroir, oü resplendit
la vie de l'Eglise a travers les siecles. Bien plus encore que
l'histoire civile et profane, eile demontre la souveraine liberte"
de Dieu et son action providentielle sur la marche des
e>enements. Ceux qui l'ötudient ne doivent jamais perdre
de vue qu'elle renferme un ensemble de faits dogrnatiques,
qui s'imposent ä la foi et qu'il n'est permis ä personne de
rävoquer en doute. Cette id6e directrice et surnaturelle qui
präside aux destinees de l'Eglise est en m6me temps le flam-
beau dont la lumiere Gclaire son histoire. Tontefois, et parce
que l'Eglise, qui continue parmi les hommes la vie du Verbe
incarnä, se compose d'un 616ment divin et d'un 616ment
humain, ce dernier doit £tre expose* par les maitres et ätudiä
*) 18 Nov. 1893.
a) «Genus interpretandi audax atque immodice liberum» (Lettre
au Mioistre General des Fr6res Mineurs, 25 Nov. 1898).
688 Jahresbericht 1899. Beilagen.
par les 616 ves avec une grande probite\ Comme il est dit an
livre de Job, «Dieu n'a pas besoin de nos mensonges» x).
L'historien de l'Eglise sera d'aatant plus fort pour faire
ressortir son origine divine, supärieure ä tout concept d'ordre
purement terrestre et naturel, qn'il aura 6t6 plus loyal ä ne
rien dissimuler des öpreuves que les fautes de ses enfants,
et parfois mSme de ses ministres, ont fait sabir a cette
Epouse du Christ dans le cours des siecles. Etudiäe de cette
fagon, l'histoire de l'Eglise, a eile tonte Beule, constitue une
magnifiqne et concluante d6monstration de la vörite* et de la
divinite" du Christianisme.
Enfin, pour achever se cycle des ätudes par lesquelles
les candidats au sacerdoce doivent se präparer a leur futur
ministöre, il faut mentionner le Droit canonique, ou science
des bis et de la jurisprudence de l'Eglise. Cette science se
rattache par des liens tres-intimes et tres-logiques a celle de
la Theologie, dont eile montre les applications pratiques ä
tont ce qni concerne le gouvernement de l'Eglise, la dispen-
sation des choses saintes, les droits et les devoirs de ses
ministres, l'usage des biens temporeis, dont eile a besoin pour
l'accomplissement de sa mission. «Sans la connaissance du
«Droit canonique (disaient fort bien les Peres d'un de tos
«conciles provinciaux) la thäologie est imparfaite, incomplete,
«semblable ä un homme qui serait prive* d'un bras. C'est
«l'ignorance du droit canon qui a favorise" la naissance et
«la diöusion de nombreuses erreurs sur les droits des Pon-
«tifes Romains, sur ceux des e>6ques, et sur la poissance
«que l'Eglise tient de sa propre Constitution, dont eile pro-
«portionne l'exercice aux circonstances» *).
Nous räsumerons tout ce que Nous venons de dire sur
tos petits et vos grands Söminaires par cette parole de
S. Paul, que Nous recommandons ä la fräquente m&litation
des maitres et des Kleves de vos athenäes eccleaiastiques :
«0 Timoth^e, gardez avec soin le d6pot qui vous a 6te*
«confie\ Fuyez les profanes nouveautäs de paroles et les
«objections qui ce couvrent du faux nom de science;
') Ntmquid Beut indiget vestro mendacio? (lob. XIII, 77).
*) Theologicarum doctrinarum solidae acientiae coniungi debct
Sacrorum Ganonum cognitio... sine qua theologia erit imperfecta et
Päpstliche Encyclika an den franz. Clerus. 689
«tone ceux qni en ont fait profession, ont err6 au sujet de
da fol» ').
C'est ä vous maintenant, träs-chers Fils, qui, ordonnes
prfetres, fites devenus les coopärateurs de vos Evfiques, c'est
a vous que Nous voulons adresser la parole. Nous connaissons,
et le monde entier connait comme Nous, les qualitäs qui vous
distinguent. Pas une bonne oeuvre dont vous ne soyez ou les
inspirateurs ou les apötres. Dociles aux conseils que Nous
avons donnäs dans Notre Encyclique Herum Novarum, vous
allez au peuple, aux ouvriers, aux pauvres. Vous cherchez
par tous les moyens ä leur venir en aide, ä les moraliser et
a rendre leur sort moins dur. Dans ce but, vous provoquez
des räunions et des congr&s; vous fondez des patronages,
des cercles, des caisses rurales, des bureaux d'assistance et
de placement ponr les travailleurs. Vous vous ingäniez a
introduire des räformes dans l'ordre äconomique et social, et
pour nn si difficile labeur vous n'häsitez pas ä faire de
notables sacrifices de temps et d'argent. C'est encore pour
cela que vous öcrivez des livres ou des articles dans les
journaux et les revues päriodiques. Toutes ces choses, en elles-
m&nes, sont trös louables et vous y donnez des preuves non
äquivoques de bon vouloir, d'in teiligen t et g6n6reux dävoue-
ment aux besoins les plus pressants de la sociätä contera-
poraine et des ämes.
Toutefois, trös-chers Fils, Nous croyons devoir appeler
paternellement votre attention sur quelques principes fonda-
mentaux, auxquels vous ne manquerez pas de vous conformer,
si vous voulez que votre action soit reellem ent fructueuse
et föconde.
Sonvenez-vous avant tonte chose que, pour 6tre profi-
table au bien et digne d'etre louö, le zele doit &tre «accom-
qaasi manca, nee non multi errores de Romani Pontificis, epis-
coporum iuribus ac praesertim de potestate quam Ecclesia iure
proprio exereuit, pro varietate temporura, forsitan serpeut el paula-
tim invalescent (Gonc. prov. Bitur. a. 1868).
') 0 Timothce, depositum custodi, devitans profanas vocum
novit at es, et oppositiones falsi nominis scientiae, quam quidam
prominentes, circa fidem exciderunt (I Tim. VI, 20—21).
44
690 Jahresbericht 1899. Beilagen.
pagne de discretion, de rectitude et de purete». Ainsi s'ex-
prime le grave et judicieux Thomas a Kempis1). Avant lui,
S. Bernard, la gloire de votre pays au douzieme siecle, cet
apötre infatigable de toutes les grandes causes qui touchaient
ä l'honneur de Dieu, aux droits de l'Eglise, au bien des ämes,
n'avait pas craint de dire que «säpare de la science, et de
«resprit de discernement ou de discretion, le zele est in-
«supportable .... que plus le zele est ardent, plus il est
«necessaire qu'il soit accompagne de cette discretion qui
«met l'ordre dans l'exereice de la charitä et sans laquelle
«la vertu elle-meme peut devenir un defaut et un principe
«de dösordre»2).
Mais la discretion dans les oeuvres et dans le choix des
moyens pour les faire reussir est d'autant plus indispensable
que les temps präsents sont plus troubles et herisses de
difficultäs plus nombreuses. Tel acte, teile mesure, teile
pratique de zele pourront 6tre excellents en eux-meuies, les-
quels, vu les circonstances, ne produiront que des resultats
fächeux. Les prltres e>iteront cet inconvönient et ce malheur
si, avant d'agir et dans l'action, ils ont soin de se conformer
ä l'ordre etabli et aux regles de la diseipline. Or, la dis-
cipline ecclesiastique exige l'union entre les divers membres
de la hiärarchie, le respect et l'ob&ssance des inferieurs ä
l'egard des superieurs. Nous le disions naguäres dans Nos
lettres ä l'Archeveque de Tours: «L'&iifice de l'Eglise, dont
«Dieu lui-meme est l'architecte, repose sur un tres-visible
«fondement, d'abord sur l'autorite de Pierre et de ces
«Successeurs, mais aussi sur les Apötres, et les Successeurs
«des Apötres, qui sont les Eveques ; de teile sorte que,
1) Zelus animarum laudandus est si sit discretus, rectus et purus.
2) Importabilis siquidem absque seien tia est zelus .. . Quo igitur
zelus fervidior ac vehementior Spiritus, profusiorque charitas, eo
vigilantiori opus scientia est quae zeluni supprimat, spiritum tem-
peret, ordinet charitatem . . . Tolle hanc (discretiouem) et virtus Vitium
erit, ipsaque affectio naturalis in perturbationem magis convertetur
exterminiumque naturao (S. Bern. Senn. XLIX in Gant. n. 5).
Päpstliche Encycllka au den franz. Geras. 691
«Scouter lenr voix ou la mepriser, Squivaut ä ecouter ou a
«mepriser J£sus-Christ lui-m6me» *)».
Ecoutez donc les paroles adressäes par le grand martyr
d'Antioche, St. Ignace, au clergö de Peglise primitive: «Que
«tous ob&ssent a leur Eveque comme Jesus-Christ a obei
«a son Pere. Ne faites en dehors de votre Eveque rien de
<ce qui touche au Service de PEglise, et de meine que
«Notre Seigneur n'a rien fait que dans une ätroite union
«avec son Pere, yous, prßtres, ne faites rien sans votre
«Evfcque. Que tous les membres du corps presbyte>al lui
«soient unis, de meme que sont unies ä la harpe toutes les
«cordes de l'instrument.» *)
Si, au contraire, vous agissiez comme pr&tres, en dehors
de cette soumission et de cette union ä vos Eveques Nous
vous r6p6terions ce que disait Notre prödecesseur Gregoire
XVI, ä savoir que, «autant qu'il dopend de votre pouvoir,
«vous dätruisez de fond en comble Tordre 6tabli avec une si
«sage prevoyance par Dien, auteur de PEglise» 8).
Souvenez-vous encore, Nos chers fils, que l'Eglise est
avec raison comparäe ä une armee rangöe en bataille, sieut
tastrorum acies ordinata4), parce qu'elle a pour mission de
combattre les ennemis visibles et invisibles de Dieu et des
ämes. Voila pourquoi S. Paul recommandait ä Timothee de
J) Divinum quippe acdifieium, quod esl Ecclesia, verissime
nititur in fundamento conspicuo, priraum quidem in Petro et Suo
cessoribus ejus, proxima in Apostolis et Successoribus eorum, Epis-
copis, quos, qui audit vel spernit, js perinde facit ac si audiat vel
spernat Christum Dominum (Epist. ad Arch. Turon.).
*) Omnes episcopum sequimini ut Christus lesus Patrem. Sine
episcopo nemo quidqaam faciat eorum quae ad Ecclesiam spectant
(S. Ign. Ant. Ep. ad Smyrn. 8). Quemadmodum itaque Dominus
sine Patre nihil fecit.... sie et vos sine episcopo (idem ad Magn. VII).
Vestrum presbyterium ita coaptatum sit Episcopo ut chordae citharae
(idem ad Ephes. IV).
8) Quantum in vobis est, ordinem ab auetore Ecclesiae Deo pro-
videntissime constitutum, funditus evertitis (Greg. XVI, Epist Encycl.
15 Aug. 1832).
4) Caut. 6. 3.
692 Jahresbericht 1899. Beilagen.
se comporter «comme un bon soldat du Christ Jesus». *) Or„
ce qui fait la force d'une armee et contribue le plus ä la
victoire, c'est la discipline, c'est l'ob&ssance exacte et ri-
goureuse de tous, ä ceux qui ont la Charge de Commander.
C'est bien ici que le zele intempestif et sans discreiion
peut aisement devenir la cause de veritables desastres. Rap-
pelez-vous un des faits les plus memorables de l'histoire
sainte. Assurement, ils ne inanquaient ni de courage, ni de
bon vouloir, ni de devouement a la cause sacree de la re-
ligion, ces pretres qui s'&aient groupes autour de Judas
Machabäe pour combattre avec lui les ennemis du vrai Dien,
les profanateurs du temple, les oppresseurs de leur nation.
Toutefois, ayant voulu s'affranchir des regles de la discipline,.
ils s'engagerent tämerairement dans un combat oü ils furenl
vaincus. L'Esprit-Saint nous dit d'eux «qu'ils n'etaient pas
de la race de ceux qui pouvaient sauver Israel». — Pour-
quoi? parce qu'ils avaient voulu n'obeir qu'ä leura propres
inspirations et s'ätaient jetes en avant sans attendre les
ordres de leurs chefs. In die illa ceciderunt sacerdotes in
hello dum volunt foriiter facere dum sine consllio exeunt in
praelium. Ipsi autem non erant de semine virorum iüorumy
per quos salus facta est in Israel i)
A cet egard nos ennemis peuvent nous servir d'exemple,.
Ils savent tres-bien que l'union fait la force, «vis unita for-
tiori ; aussi ne manquent-ils pas de s'unir etroitement, des
qu'il s'agit de combattre la sainte Eglise de Jäsus-Christ.
Si donc, Nos chers Fils, comme tei est certainement votre
cas, Tous desirez que, dans la lutte formidable engagee
contre l'Eglise par les sectes antichretiennes et par la eile
du demon, la victoire reste a Dieu et a son Eglise, il est
d'une absolue näcessitä que vous combattiez tous ensembler
en grand ordre et en exacte discipline, sous le comman-
dement de vos chefs hiärarchiques. N'ecoutez pas ces hom-
mes neTastes qui, tout en se disant chrätiens et catholiques,
jettent la zizanie dans le champ du Seigneur et sement la
*) IL Tim. 2, 3.
») I. Mach. 5, 67. 62.
Päpstliche Eneyclika an den fanz. Clerus. 698
division dans son Eglise en attaquant, et souvent m6me, en
«alomniant les Ev&ques, «ätablis par l'Esprit saint pour regir
«PEglise de Dien.» l) Ne lisez ni leurs brochures, ni leurs
journaux. Un bon prätre ne doit autoriser en aucune ma-
niere ni leurs id6ea, ni la licence de lenr langage. Pourrait-
il jainais oablier que, le joar de son Ordination, il a solen-
nellement promis ä son Evgque, en face des saints autels,
<obedi enttarn et reverentiatn» ?
Par dessus tout, Nos chers Fils, rappelez-vous qne la
Kondition indispensable da vrai zele sacerdotal et le meilleur
£age de succes dans les oeuvres auxquelles l'obäissance
hierarchiqae vons consaore, c'est la puretä et la saintetö de
la vie. «J6sus a commencö p&r faire, avant d'enseigner> 2).
Comme lui, c'est par la prödication de l'exemple que le pretre
doit preluder ä la prädication de la parole. «Separös du
«siecle et de ses affaires (disent les Peres du S. Concile de
«Trente), les clercs ont 6t6 places ä nne hauteur qui les met
«en evidence, et les fideles regardent dans leur vie comme
«dans an rairoir pour savoir ce qu'ils doivent imiter. C'est
«pourquoi les clercs, et tous ceux que Dieu a specialement
«appeläs ä son service, doivent sibien rögler leurs actions et
«leurs mcenrs que dans leur maniere d'Stre, leurs mouvements,
«leurs demarches, leurs paroles et tous les autres dätails de
«leur vie, il n'y ait rien qui ne soit grave, inodeste, profonde-
«ment empreint de religion. Ils öviteront avec soin les
«fautes qui, legeres chez les autres, seraient tres-graves pour
«eux, afin qu'il n'y ait pas un seul de leurs actes qui n'in-
«spire a tous le respect» *).
i) Act 20, 28.
*) Act. 1. 1.
') Cum eoim a rebus saeculi in altiorem sublati locum con-
spiciantur, in eos tanquam in speculum reliqui oculos coniiciunt ex
iisque sumunt quod imitentur. Quapropter sie decet oinnino cleri-
cos, in sortem Domini vocatos, vi tarn moresque suos omnes com-
ponere, ut habitu, geslu, inecssu, sermone, aliisque omnibus rebus,
nil nisi grave, moderatum, ac religione plenura prae se ferant;
levia etiam delicta, quae in ipsis maxima essent, effugiant, ut
*orum actiones eunetis affer an t venera tionem (S. Conc. Trid. Sess.
XX([ de Reform, c. 1).
694 Jahresbericht 1899. Beilagen.
A ces recoinmandations du saint Concile, que Nous vou-
drions, Nos chers Fils, graver dans tous vos coeurs, man-
queraient assurement les pretres qui adopteraient dans leurs
predications un Jangage peu en harmonie avec la dignite de
leur sacerdoce et la saintete* de la parole de Dien; qui as-
sisteraient ä des r6unions populaires oü leur presence ne
servirait qu'ä exciter les passioos des impies et des ennemis
de l'Eglise, et les exposerait eux-meines aux plus grossieres
inj u res, sans profit pour personne et au grand ätonnement,
ßinon au scandale des pieux fideles ; qui prendraieot les habi-
tudes, les manieres d'etre et d'agir, et l'esprit des säculiers.
Assuröment, le sei a besoin d'etre melange ä la inasse qu'il
doit pröserver de la corruption, en meine temps que lui-
meme se däfend contre eile, sons peine de perdre toute sa-
veur et de n'etre plus bon ä rien, qu'ä etre jet6 dehors et
foule" aux pieds *)•
De m&ine, le pretre, sei de la terre, dans son contact
Obligo avec la sociäte qui l'entoure, doit-il conserver Ja mo-
destie, la gravi te, la saintete* dans son maintien, ses actes,
ses paroles, et ne pas se laisser envahir par la legerete\ la
dissipation, la vanitä des gens du monde. II faut, au con-
träire, qu'au inilieu des horames il couserve son äme si unie
ä Dien, qu'il n'y perde rien de l'esprit de son saint 6tat et
ne soit pas contraint de faire devant Dieu et devant sa
conscience ce triste et humiliant aveu : «tont es les fois que
j'ai 6t6 parini les laiques, j'en suis revenu moins pretre».
Ne serait-ce pas pour avoir, par un zele presomptueux,
mis de cote" ces regles traditionnelles de la discr&ion, de la
modestie, de la prudence sacerdotales, que certains pretres
traitent de surannes, d'incouipatibles avec les besoins du
ministere dans le temps oü nous vivons, les principes de
discipline et de conduite quMls ont recus de leurs maitres du
grand säniinaire? On les voit aller, comme d'instinct, au
devant des innovations les plus perilleuses de langage, d'al-
lures, de relations. Plusieurs helas! engages t6merairement
sur des pentes glissantes, oü par eux-memes ils n'avaient pas
*) Matth. 5, 13.
Päpstliche Encyclika an den franz. Clerus. 695
la force de se retenir, mäprisant les avertisseinents chari-
tables de leurs supärieurs ou de leurs confreres plus anciens
et plus expe>iment£s, ont ab'outi ä des apostasies qui ont
rejoui les adversaires de l'Eglise et fait verser des larmes
bien amöres ä leurs Eveques, ä leurs freres dans le sacer-
doce et aux pieux fideles. S. Augustin nous le dit : «Plus
«on uiarche avec force et rapiditä, quand on est en dehors
«du bon chemin, et plus on s'ägare» 1).
Assurement, il y a des nouveautäs avantageuses, propres
ä faire avancer le royaume de Dieu dans les ämes et dans
la soci6te\ Mais, nous dit le saint Evangile 2), c'est au Pere
de famille, et non aux enfants, ou aux ser vi teurs, qu'il ap-
partient de les examiner et, s'il le jage a propos, de leur
donner droit de cite, ä cote des usages anciens et ve*ne>ables
qui composent l'autre partie de son trösor.
Lorsque nagu&re Nous remplissions le devoir aposto-
lique de mettre les catholiques de l'Araerique du Nord en
garde contre des innovations tendant, entre autres choses, k
substituer aux principes de perfection consacräs par Ten-
seignement des docteurs et par la pratique des saints, des
maximes ou des regles de vie inorale plus ou moins impr6-
gnees de ce naturalisme qui, de nos jours, tend ä p£.n6trer
partout, Nous avons hauteinent proclame que, loin de räpu-
dier et de rejeter en bloc les progres accoinplis dans les
temps präsents, Nous voulions accueillir tres-volontiers tout
ce qui peut augmenter le patrimoine de la science ou g6n6-
raliser davantage les conditions de la prospärite' publique.
Mais Nous avions soin d'ajouter que cos progr&s ne pouvaient
6er vir efficacement la cause du bien, si Ton mettait de cote
la Bage autorite* de l'Eglise. 3)
*) Enarr. in Ps. 31, n. 4.
*) Matth. 13, 52.
3) Abest profecto a Nobis ut quaecuroque horum tcraporum
iogenium parit, omnia repudiemus. Quin potius quidquid indagando
veri aut enitcndo boni attingitur, ad Patrimonium doctrinae augen-
dum publicaeque prosperitatis fines proferendos, libeotibus sane
Nobis accedit. Id tarnen omne, ne solidae utilitatis sit expers, esse
ac vigere nequaqua, debet Ecclesiae auctoritate sapientiaque post-
habita (Epist. ad S. R. E. Prebyt. Card. Gibbons Archiep. Baitimor.,
die 22 Jan. 1899}.
696 Jahresbericht 1899. Beilagen.
En terminant ces lettre«, il Nous plait d'appliquer au
clergö de France ce que Nous 6crivions jadis aax prfctres
de Notre diocese de Pörouse. Nous reproduisons ici une
partie de la Lettre pastorale que Nous leur adressions le
19 juiUet 1866.
«Nous demandons aux eccläsiastiques de notre diocese
«de r6fl6chir särieusement sur leurs sublimes Obligation«,
«sur les circon8tances difficiles que nous traversons, et de
«faire en sorte que leur conduite soit en harmonie avec
«leurs devoirs et toujours conforme aux regles d'un zele
«äclaire et prudent. Ainsi ceux-la m&me qui sont nos
«ennemis chercheront en vain des motifs de reproche et de
«blame : qui ex adverso est, vereatur nihil Habens tnalum
<dicere de ndbis *).>
«Bien que les difftcultäs et les pe>ils se multiplient
«de jour en jour, le prätre pieux et fervent ne doit pas
«pour cela se däconrager; il ne doit pas abandonner ses
«devoirs , ni m&me s'arr&ter dans l'acomplissement de la
«mi8sion spirituelle qu'il a recue pour le bien, pour le salut
«de l'huinanite et pour le maintien de cette auguste religion
«dont il est le häraut et le ministre. Oar c'est surtout dans
«les difficnltäs, dans les epreuves que sa vertu s'affirme et
«se fortifie: c'est dans les plus grands malheurs, au milieu
«des transformations politiques et des bouleversements so-
«ciaux , que l'action bienfaisante et civilisatrice de son
«ministöre se manifeste avec plus d'äclat.»
« , . . . Pour en venir a la pratique, nous trouvons
«un enseignement parfaitement adaptä aux circonstancee
«dans les quatre maximes que le grand apötre S. Paul
«donnait ä son disciple Tite. En toutes choses, donnez le
«bon exemple par vos cßuvres, par votre doctrine, par l'in-
«t6grit6 de votre vie, par la gravitä de votre conduite, en
«ne faisant usage que de paroles saintes et irreprähensibles*).
*) Tit. 11, 8.
*) In omnibus tcipsum praebe exemplum bonorum operum, m
doctrina, in integritate, in gravitate, verbutn Sanum, irreprehensibüe.
(Tit. II, 7—8).
Päpstliche Encyclika an den franz. Clerus. 697
«Nora voudrion8 que chacan des membres de notre clergö
«medit&t ces maximes et y conformat sa conduite.»
«/n amnibus teipsum praebe exemplum bonorum operum.
«En toutes choses donnez l'exemple des bonnes oeuvres,
«c'est-ä-dire d'une vie ezemplaire et active, animäe d'nn
«rentable esprit de charitö et guid6e par les maximes de
«la prudence evangelique; d'une vie de sacrifice et de
«travail, consacräe & faire du bien au procbain, non pas
«dans des vues terrestres et pour une räcompense perissable,
«mais dans un but surnaturel. Donnez l'exemple de ce
«langage & la fois simple, noble et elev6, de cette parole
«saine et irreprähensible, qui confond toute Opposition hu-
«maine, apaise l'antique haine que nous a vou6e le monde,
«et nous concilie le respect, l'estime mfone des ennemis de
«la religion. Quiconque s'est vou6 au service du sanctuaire
«a 6te oblige en tout temps de se montrer un vivant modele,
«un exemplaire parfait de toutes les vertus : roais cette
«Obligation est beaucoup plus grande lorsque , par suite
«d es bouleversements sociaux, on marche sur un terrain
«difficile et incertain, oü l'on peut trouver ä chaque pas
«des embüches et des prätextes d'attaque.>
«in doctrina. En presence des efforts combinäs de
«l'in cr^dulite et de Pheräsie pour consommer la ruine de la
«foi catholique, ce serait un vrai crime pour le clergö de
«rester hösitant et inactif. Au milieu d'un si grand deborde-
«ment d'erreurs, d'un tel contiit d'opinions, il ne peut faillir
<a sa mission qui est de deTendre le dogme attaquä, la
«moraie travestie et la justice si souvent mSconnue. C'est
<a lui qu'il appartient de s'opposer cumme une barriere ä
«•Ferreur envahissante et ä Fhärösie qui se dissiraule; ä lui
«de surveiller les agissements des fauteurs d'impiätö qui
«s'attaquent & la foi et ä l'honneurde cette contröe catholique;
«lui de dömasquer leurs ruses et de signaler leurs embüches ;
«a lui de premunir les simples, de fortifier les timides,
«d'ouvrir les yeux aux aveugles. Une Erudition superficielle,
«une science yulgaire ne suffisent point pour cela: il faut
«des etudes solides, approfondies et continuelles, en un mot,
«4in ensemble de connaissances doctrinales capables de lutter
698 Jahresbericht 1899. Beilagen.
«avec la subtilite et la singuliere astuce de nos modernes
«contradicteurs.»
«In integritate. Rien ne prouve tant l'importance de
<ce conseil, que la triste expe>ience de ce qui se passe
«autour de nous. Ne voyons-nous pas en effet qne la vie
< relach ee de certains ecclesiastiques discrödite et fait me-
« priser leur ministere et oecasionne des scandales ? Si des
«hommes, doues d'un esprit aussi brillant que remarqaable,
«dösertent parfois les rangs de la sainte milice et se mettent
«en revolte contre l'Eglise, cette mere qui, dans son affec-
«tueuse tendresse, les avait prepoBes au gouvernement et
«au salut des ämes, leur defection et leurs egarements n'ont
«le plus souyent pour origine que leur indiscipline, ou leurs
«mauvaises uioenrs.»
«In gravitate. Par gravite, il faut entendre cette
«conduite serieuse, pleine de jugement et de tact qui doit
«etre propre au ministre fidele et prudent que Dieu a choisi
«pour le gouvernement de sa famille. Celui-ci, en effet, tont
«>en remerciant Dieu d'avoir daignö Pelever ä cet honnenr,
«doit se montrer fidele ä toutes ses obligations, en m&me
temps que mesure et prudent dans tous ses actes ; il ne
«doit point se laisser dominer par de viles passions , ni
«empörter eu paroles violentes et excessives ; il doit com-
«patir avec bontä aux malheurs et aux faiblesses d'autrui,
«faire ä chacun tout le bien qu'il peut, d'une maniere de>
«sinte>ess6e, sans ostentation, en maintenant toujours intact
«rhonneur de son caractere et de sa sublime dignitä.»
Nous revenons maintenant ä vous, Nos chers fils du
elergö trancais, et Nous avons la ferme confiance que Nos
prescriptions et Nos conseils, uniquement inspires par Notre
affection paternelle, seront compris et rec,us par vous, selon
le sens et la portee que Nous avons voulu leur donner en
vous adressant ces Lettres.
Nous attendons beaucoup de vous, parce que Dien vous
a richement pourvus de tous les dons et de toutes les qua-
lit^s nöeessaires pour operer de grandes et saintes choses
ä l'avantage de TEglise et de la societe. Nous voudrions que
pas un seul d'entre vous ne se laissät entamer par ces im-
Päpstliche Encyclika an den franz. Glerus. 699
perfections qui diminuent la splendeur du caractere sacer-
dotal et nuisent & son efficacitö.
Les temps actuels sont tristes; Pavenir est encore plus
sombre et plus menagant ; il serable annoncer Tapproche d'une
crise redoutable de bouleversements sociaux. II faut donc,
comme Nous l'avons dit en diverses circonstances, que nous
mettions en honneur les principes salutaires de la religion,
ainsi que ceux de la justice, de la charite, du respect et du
devoir. C'est ä nous dVn penetrer profond6ment les ämes,
particulierement celles qui sont captives de I'incr6dulit6 ou
agitees par de funestes passions, de faire regner la gräce et
la paix de notre divin Redempteur, qui est la Lumiere, la
Eesurrection, la Vie, et de r6unir en lui tous les hommes,
malgrä les inevitablos distinctions sociales qui les separent.
Oui, plus que jamais, les jours oü nous somnies, recla-
ment le concours et le devouement de pretres exemplaires,
pleins de foi, de discrätion, de zele, qui, s'inspirant de la
douceur et de l'energie de Jesus-Christ dont ils sont les
veritables ambassadeurs, pro Christo legatione fungimur *),
annoncent avec une courageuse et indefectible patience les
vörites äternelles, lesquelles sont pour les ämes les semences
fecondes des vertus.
Leur min ister e sera laborienx; souvent merae penible,
späcialement dans les pays oü les populations, absorbees par
les int^rets terrestres, vivent dans l'oubli de Dieu et de sa
sainte religion. Mais Taction 6clair6e, charitable, infatigable
da pretre, fortifiee par la gräce divine, operera, comme eile
l'a fait en tous les temps, d'incroyables prodiges de resur-
rection.
Nous saluons de tous Nos voeux et avec une joie inef-
fable cette consolante perspective, tandis que, dans toute
raffection de Notre ccßur, Nous accordons ä vous, Ven6rables
Freres, au Clerg6 et a tous les catholiques de France, la
bönediction Apostolique.
Donna a Rome, pres Saint-Pierre, le 8 Septernbre de
l'annee 1899, de Notre Pontificat la vingt-deuxieme.
LEO PP. XIII.
l) IL Corinth. V. 20.
Alphabetisches Generalregister der XIII Jahrgänge
des politischen Jahrbuches.
1886— 1899.
I. Aufsätze.
Bd. Seite
Achäische Bund, Der, vom Herausgeber VII. 334
Arbeit und Ruhe, Ueber, mit Rücksicht auf eine künf-
tige Sonntagsgesetzgebung . . XII. 47
Assurances ouvrieres, Les, par G. Bodenheimer, ancien
deput6 au conseil des Etats suisse, reclacteur en chef
du «Journal d'Alsace», ä Strasbourg
Auslieferung, Die, gegenüber dem Auslande, vom
Herausgeber ......
Berner Denkschrift über die Unruhen in der Waadt
von 1790 und 1791, von Dr. P. Hirzel und Prot W.
Oechsli, aus dem Archiv der Familie Hirzel in Zürich
Beziehungen, Die, der Schweiz. Eidgenossenschaft zum
Reiche bis zum Schwabenkrieg, von Dr. W. Oechsli,
Professor der Schweizergeschichte am eidg. Polytech-
nikum in Zürich .....
Bisthum Basel-Lugano, Das, vom Herausgeber
Bundesgericht, Das schweizerische, vom Herausgeber
Determinisme, R&lexions sur le, en droit pönal T par le
Dr. F.-H. Mentha, professeur de droit pönal ä l'Aca-
demie de Neuchätel .....
Eidgenossenschaft, Einige Gedanken über die Aufgabe
und die nächste Zukunft der Schweiz., vom Herausgeber
Eidgenossenschaft, Die innere Natur der schweizerischen,
vom Herausgeber .....
Eidgenossenschaft, Die Entstehung und die Gründer
der, vom Herausgeber ....
in.
199
VII.
95
XII.
107
V.
302
HI.
775
VIIL
274
IV.
172
VH.
1
I.
521
V.
746
VI.
230
III.
1
XI.
24a
V.
1
IX.
1
IX.
202
Alphabetisches Generalregister. 701
Bd. Seit»
Erziehung, Ueber die Grundgedanken der schweizerischen,
Tom Herausgeber ..... VIII. 1
Eschenthaies, Der Verlast des, Tora Herausgeber
Pin de siede, vom Herausgeber
Frauenstimmrecht, vom Herausgeber .
Freiheit, vom Herausgeber ....
Gemülhsruhe, Ueber die, in der Politik, vom Herausgeber
Genfer Zonen, Die, vom Herausgeber .
Geschichten, Eidgenössische. Erste: «Unter dem Pro-
tektorat», vom Herausgeber . I. 26
Geschichten, Eidgenössische. Zweite: «Die lange Tag-
satzung», vom Herausgeber ....
Geschichten, Eidgenössische. Dritte: «Die Restauration»,
erste Abtheilung, vom Herausgeber
Geschichten, Eidgenössische. Vierte : « Die Restauration » ,
zweite Abtheilung, vom Herausgeber
Geschichten, Eidgenössische, Aus der Regeneration.
Die Feldzöge des Oberstlieutenants Albrecht von
Muralt, von ihm selbst erzählt
Grenz- und Neutralitätsverhältnisse, Die schweizerischen,
yom Herausgeber .....
Haller'sche Konstitution, Die, für Bern vom 19. März
1798, vom Herausgeber ....
Handelsvertrag, Der französisch -schweizerische, vom
30. Mai 1799, von Dr. J. Strickler in Bern, Redak-
tor der helvetischen Aktensammlung, ehemaligem
Staatsarchivar in Zürich ....
Hirzei, Tagebuch, Das des schweizerischen Abgesandten
bei seiner Sendung in das Hauptquartier der Alli-
irten, November 1813 ....
Inkamaration, Die österreichische, von 1803, mit be-
sonderer Berücksichtigung des Kantons Graubünden,
yon Dr. P. G. v Planta, Alt-Ständerath in Ghur .
Intervention, Die eidgenössische, vom Herausgeber
Israels, Die sozialen Grundgedanken im Gesetze, von
Dr. theol. S. Oettli, Professor der alttest. Theologie
an der Universität Bern .... V. 257
IL
42
HI.
306
IV.
197
vm.
45
IL
669
X.
187
VII.
202
XI.
181
IL
545
VI.
1
702 Alphabetisches Generalregisler.
Bd. Seite
Jahren, Vor fünfzig, vom Herausgeber, mit einem An-
hang von bisher ungedruckten Briefen schweizerischer
Staatsmänner, in it Einleitung Y.Prof. Dr. Blösch in Bern XI. 27
Jahren, Vor hundert (Französische Revolution), vom
Herausgeber . . . . III. 1
Krieg, Ueber, und Frieden, und die Voraussetzungen
schiedsgerichtlicher Entscheidung von völkerrecht-
lichen Streitigkeiten, vom Herausgeber . . VIII. 197
lASsaHe, Ferdinand, und Thomas von Aquino, vom
Herausgeber . . . . . IV. 1
Lausanner Vertrag, Der, von 1564, vou Professor
Dr. "W. Oechsli in Zürich ....
Litteratur, Soziale, vom Herausgeber .
Militärorganisationen, Die, der schweizerischen Eid-
genossenschaft (nebst Anhang: Bieocca und Cöri-
solles), vom Herausgeber ....
Militärstrafrecht, Das eidgenössische, vom Herausgeber
Minoritätenvertretung, Die, vom Herausgeber
Neurasthenie. Ueber, vom Herausgeber
Orientalische Frage, Die, vom Herausgeber
Politik, Moderne Grundlinien für die, vom Herausgeber
Redekunst, Offene Geheimnisse der, vom Herausgeber
Revision, Bundesgesetz über das Verfahren bei Volks-
begehren und Abstimmungen betreifend, der Bundes-
verfassung, vom Herausgeber . . . VII. 189
Röscher, System der Armenpflege und Armeupolitik,
Ueber, vom Herausgeber ....
Schächtfrage, Die, vom Herausgeber .
Senectute, De, vom Herausgeber
Staatsbank u. Landesbank im Kriegsfalle, v. Herausgeber
Staatsverträge, Die, der Eidgenossenschaft, v.Herausgeber
Theilung der Welt, Die, vom Herausgeber
Ticino, Cooie riinanesse svizzero, il — nel 1788, da
E. Motta, redattore del «Bolletino Storico», a Milano III. 97
Valais, La Reaction de 1843 en, par L. Ribordy, ancien
secrätaire du Grand Conseil, ä Sion . . II. 607
XIII.
139
II.
744
IX.
29
IV.
746
VII.
139
X.
1
X.
355
I.
1
II.
1
IX.
163
VII.
161
XI.
1
VII.
76
HI.
810
XII.
151
X.
51
XII.
1
XIII.
63
Alphabetisches Generalregister. 703
Bd. Seite
Valais, Le Sonderbund en, 1844 — 47, par L. Ribordy,
ancien secretaire du Grand Conseil, ä Sion II. 607
Verfassung, Die, der schweizerischen Eidgenossenschaft,
vom Herausgeber ..... I. 535
Verfassung, Die aristokratische, im alten Bern, von
Prof. Dr. E. Blösch, Oberbibliothekar in Bern . IV. 122
Verfassung, Die, v. Malniaison (als Aohang: Die beiden
Verfassungsprojekie v. Malmaison), v. Dr. J. Strickler
Vergeltung, Die, vom Herausgeber
Völkerrechtliche Fragen der Gegenwart, v. Herausgeber
Volkswirtschaftliche Grundfragen, v. Dr. G. H. Schmidt
in Bern ...... XIII. 279
Ifasserrechts, Ueber die rechtliche Natur und Zukunft
des, von Dr. jur. Edgar Hilty, Rechtsanwalt in Ghur VIII. 157
Wehrwesen, schweizerisches, der Gegenwart, von Major
Affolter. Professor an der eidg. Kriegsschule in Zürich I. 613
Zeitschriften, Die gemeinnützigen und politischen, der
Schweiz, von Dr. J. Strickler in Bern, Redaktor der
helvetischen Aktensammlung, ehemaligem Staats-
archivar io Zürich VI. 72
IL Aktenstücke.1)
Aargauer-Klosteraufhcbungs-Beschlüsse von 1841, Die
Abdankungsdekret, Das, vom 4. März 1798
Aepli, Miuister, Brief über die schweizerische Politik
Aktenstücke betreffend die Arbeiter unruhen in Bern
vom 19. Juni 1893 ..... VIII. 586
Apostolischer Brief Papst Leo's Xni. an alle Fürsten
und Völker der Erde, vom 20. Juni 1894 . IX. 717
Apostolischer Brief Papst Leo's XIII. an die Engländer,
vom 14. April 1895 IX. 703
Apostolischer Brief Papst Leo's XIII. an den französi-
schen Clerus, vom 8. September 1899 . . XIII. 677
Arbeiterschutz-Congress, Der, in Berlin V. 633
Armenische Reformen. Auszug aus dem Memorandum
der drei Mächte vom 11. Mai 1895 ... X. 414
XI.
95
X.
229
XII.
667
1) Die in den «Eidgenössischen Geschichten» ein geflochtenen Aktenstack6
sind hier nicht aufgezählt.
XI.
81
XII.
27a
XIL
7»
XIII.
121
X.
457
X.
346
XII.
70S
X.
424
xiir.
65fr
X
228
xra.
127
x%
422
704 Alphabetisches Generalregister.
Bd. Seite
Armenunterstützung, obligatorische der Gemeinden. IX. 476
Badener-Artikel, Die, vom 27. Januar 1834 .
Balkan-Vertrag zwischen Oesterreich und Bussland
Basler-Frü»de, Der, vom 22. September 1499 .
Basler-Bundesbrief, Der, vom 9. Mai 1501
Benedel tischen Vorschläge, Die, betr. Luxemburg und
Belgien .... .
B<td. Urkundliche Erklärung des GrossenRathes von. 1815
Bern, Beschiuss betr. die Betheiligung des Staates am
Bau neuer Eisenbahnlinien ....
Bismarck, Ein Bericht des Fürsten, vom 13. August 1875
Bluntchli, Projekt zu einer Bundesverfassung; von 1847
Brune's Ultimatum und Dekret vom 1. März 1798
Brüsseler-Projekt, ober das Kriegsrecht von 1874
Bulgariens, Russische Erklärung über die Stellung .
Bund, Der erste ewige zwischen Uri, Schwyz und
UnWwalden (Archiv Schwyz) . . .V. 1091
Buudesfeier, Die offiziellen Festreden bei der, vom 1.
und 2. August 1891 VI. 665
Bundesvertrag zwischen den XXII Kantonen der Schweiz
vom 7. August 1815 ..... IIL 7»
Bündniss, Das erste, zwischen Uri, Schwyz und Zürich
(Archiv Zürich) V. 1093
Capo d'Istria, Denkschrift von, über die Bundesein-
richtungen der Schweiz, 1814, aus dem eidg. Archiv II. 465
China, Verträge über Pacht . XU. 230. 231. 275
Ghur, Erinnerungen an das Schützenfest in, von 1842 VIL 810
Colorado, Verfussungsartikel betr. die Frauen . XI. 355
Congoslaat, Vertrag desselben mit Frankreich über
Vorkaufsrecht .
Congo-VertraK, 1885, Art. X— XII
Confiscationsdecret, Das, vom 24. Februar 1798
Cypern, Vertrug Englands mit der Türkei
Dappes, Traite" du 8 decembre 1862 entre la Suisse
et la France coucernant la vallee des
Dardanellen vertrag, Der ....
xn.
185
XHL
m
X.
220
XU.
232
IV.
377
X.
405
Alphabetisches Geoeralregister 705
Defensiv- Allianz vertrag zwischen der französischen Re-
publik und der schweizerischen Eidgenossenschaft
vom 27. September 1803 ....
Directoire, ArreHe* du, du 8 Nivose Tan 6
Dreibund, Der, Vertrag zwischen' Deutschland und
Oesterreich-Ungarn .....
Dreiländerbund, Der, zu Brunnen (Archiv in Schwyz)
Edikt vom 3. Februar 1798 über die Verfassungsrevision
Eisenbahnruckkaufsgesetz, Das, vom 15. Oktober 1897
Elisabeth, Schreiben der Königin, an die XIII Kantone
Encyclica, Die päpstliche, «de conditione opificum»
(Reruru novarum) vom 15. Mai 1891
Encyclica, Die russische, «de pace aeterna», vom
12./24. August 1898 .....
Engel, Frau Oberst, Auszüge aus deu Memoiren über
ihre Kriegsdienste unter dem Konsulate und dem
Kaiserreich ......
Eidesleistung, Rede bei Anlass der, am 10. Januar 1798
Eid, Erklärung über den, vom 8. Januar 1798
Erfurter Sozialisten -Programm (1891), Das
Erlach, von, Schultheiss in Burgdorf, Bericht über die
Vorgänge des 5. März 1798
Fetzer, Regierungsrath, Rückblicke auf die Jahre 1813,
1814, 1815. Memoire aus dem eidgen. Archiv . II. 436
Finsler, Bericht des eidgenössischen Obersten, über
die wünschenswerthen Militärgrenzen der Schweiz,
1814, aus dem eidg. Archiv . .II. 529
Finsler, Gutachten des eidg. General-Quartiermeisters,
vom 3. und 10. August 1815 betreffend Militärgrenze,
Ergänzungen zu dem Vorhergehenden
Frauenstimmrecht, Bericht über den gegenwärtigen
Stand desselben in Amerika ....
Franche-Couitä, Der Protektorats vertrag
Garantien gesetz, Das italienische, vom 15. Mai 1871
Gentz, Friedrich von, Auszüge aus Briefen und Tage-
büchern ......
Bd.
Seite
I.
402
X.
209
XI.
412
V.
1094
x.
224
XII.
687
XI.
778
VI.
665
XIL
671
IL
380
X.
211
X.
212
VI.
696
X.
234
IV.
358
XL
367
234
VII.
864
XL
37
45
706 Alphabetisches Generalregister.
Bd. Seite
Gesandtscbaftsberieht, Ein österreichischer, aus der
Schweiz, von 1827. mitgetheilt von Prof. Dr. Alfred
Stern in Zürich IX. 685
Geneve, Declaration du Plänipotentiaire de la Conf&le*-
ration suisse et du Ganton de, sur la dotation du
Cure* de l'Eglise catholique de Geneve, du 16 mars 1816 IV. 447
Genf, Auszüge aus den Verträgen über den Schutz
von, und die Neutralisirung von Savoyen IV. 468
Genf, Nole des eidgenössischen Vororts an den Kanton,
betreffend die Zurückgabe des Littorals, vom 12. De-
zember 1815 ...... IV. 406
Girard, Gutachten des Pater, von Freiburg an die hel-
vetische Regierung über den Unterricht in der Schweiz VIII. 537
Glarus, Die Rede des Bundespräsidenten Hauser am
eidg. Schützenfest in, von 1892 VII. 803
Graubünden, Bundesbeschluss betr. Bewilligung einer
Bundessubvention für ein Schmalspurbahnnetz . XII. 725
Graubündnerische Landleute, Unterredung dreier,
über die öffentlichen Angelegenheiten ihres Vater-
landes, 1814 (Verfasser unbekannt) . II. 405
Griechenland, Friedenspräliminarien . . .XI. 393
Haller'sches Projekt einer Constitution für die Schwei-
zerische Republik Bern, vom 19. März 1798 . X. 270
Handelsvertrag. Aktenstücke zum französisch-schwei-
zerischen, vom 30. Mai 1799 .... VII. 294
Handelsverträge, Die, mit:
Deutschland und Oesterreich-Ungarn nebst Liechten-
stein vom 10. Dezember 1891 VII. 870
Italien, vom 19. April 1892 VII. 918
Spanien, vom 13. Juni 1892 VII. 940
Frankreich, vom 23. Juli 1892 VII. 944
Handelsverträge, Die, der Schweiz, wie sie seit 1896
bestehen ....*. X. 483
Helvetische Verfassung, Beschluss über Annahme vom
9. Februar 1798 . X. 218
Hirtenbrief, Der, des Hülfsbischofs von Sitten, vom
24. Januar 1898 ..... XII. 676
f
Bd.
Seite
X.
398
III.
718
XI.
765
XII.
306
XII.
232
XIL
674
VI.
701
I.
423
XII.
229
IX.
695
Alphabetisches Generalregister. 707
Hunkiar Iskelessi, Der Vertrag von, von 1833
Hüaingen, Tagebuch der Belagerungs-Operationen gegen
die Festung, von Ingenieur-Hauptmann Hegner
Index, Apostolische Constitution über den
Insurrektionen, Vorschlag eines Reglements darüber .
Intervention ......
Italien, Gorrespondenz wegen Schiedsgerichts in Zoll-
sach eü, mit ...... XIII. 116
Jerusalem, Die kaiserliche Ansprache in der Erlöser-
kirche, in, vom 31. Oktober 1898
Kantonal Verfassungen, Die 1891 bestehenden, der Schweiz
Kontinentalsperrtarif, Der, für die Schweiz vom 9. No-
vember 1810, aus dem eidg. Archiv
Korea, Vertrag zwischen Russland und Japan
Kossuth's, Ein Brief, an die Eidgenossenschaft von 1853
Kreisschreiben des eidgenössischen Vororts an sämmt-
liche eidgenössischen Stande, vom 16. April 1816 . IV. 448
Kriegs- und Friedensfrage, Völkerrechtliche Akten-
stücke zur VIII. 230
Ijausanner- Vertrag, Der vorangehende Vermittlungs-
spruch vom 11. Mai 1563 ....
Liechtenstein, Staatsverfassung
Lörrach, Der offizielle Rapport über die Konferenz
von, vom 9. Dezember 1813, aus dem eidg. Archiv
Madagaskar, Protektoratsvertrag
Manifest, das kommunistische, von Karl Marx und
Friedrich Engels .....
Manual derProvisorischen Regierung in Bern, 7. März 1798
Manual der Provisorischen Regierung in Bern, 8. März 1798
Malmaison, L, Französischer Vorschlag
Malmaison, IL, Verbesserter Vorschlag
Markenschutz. Die Vereinbarung mit Deutschland über
den, vom 13. April 1892 ....
Maueranschlag vom 5. Januar 1798
Mediation, Acte de, du 30 Pluviöse XI
Meerengenkonvention, Die, von 1841
XIII.
264
XII.
220
I.
429
XII.
211
VII.
828
X.
243
X.
243
X.
175
X.
179
VII.
966
X.
209
I.
390
X.
405
I
Bd.
Seite 1
1.
408 1
1.
415 ]
XII.
234 1
IV.
381
xm.
117 1
XIII.
119
XIII.
663
ii.
543
XL
429
I.
425
IV.
340
708 Alphabetisches Generalregister.
Militärkapitulation, Die erste französische, vom
27. September 1803 .....
Militärkapitulation, Die zweite, vom 28. März 1812 .
Monroe-Doktrin, Die .....
Neutralität, Aktenstücke zur Geschichte der savoy-
ischen, aus dem eidg. Archiv und der Korrespondenz
Pictet's, mit Einleitung des Herausgebers
Neutralitäts-Akte der Schweiz, vom 12. November 1815
Neutralität von Belgien, Luxemburg, den jonischen Inseln
Neuch&tel, Programmrede des Bundespräsidenten Ruffy
am eidg. Schützenfest, in, von 1898
Oberländer-Freiheitslied, Das, 1814, v. Pfarrhelfer Roschi
Oesterreichische Inkainerationsangelegenheit .
Offiziers-Etat, Der, der kapitulirten Dienste von 1803
Pictet-de Rochemont, Instruktionen und Vollmachten
für Oberst, als eidg. Abgeordneten an den Pariser
Kongress, aus dem eidg. Archiv . .
Pictet's Schlussbericht über seine Pariser Mission, aus
dem eidg. Archiv ..... IV. 363
Pictet-de Rochemont, Staatsrath, Schreiben des eidg.
Vorortes an denselben vom 10. März 1816
Pictet-de Rochemont, Instruktion des Vorortes an, vom
12. Dezember 1815
Pictet-de Rochemont, Nachträgliche Instruktion des
eidg. Vororts für Herrn, vom 27. Dezember 1815 .
Proklamation vom 22. Dezember 1797
Proklamation der Tagsatzung vom 2. Januar 1798
Proklamation vom 5. Januar 1798
Proklamation Menard .....
Proklamation der provisorischen Regierung von Waadt,
2Ö./27. Januar 1798 .
Proklamation, Letzte bernische, vom 3. Februar 1798
Proklamation Brune .....
Proklamation an die ehemaligen Unterthanen von
Aargau und Waadt, vom 24. Dezember 1813
Protektorats vertrag, Der (angebliche), zwischen Russ-
land und China von 1896 ....
IV.
420
IV.
411
IV.
413
X.
205
X.
207
X.
210
X.
213
X.
214
X.
216
X.
221
X.
255
X.
451
Alphabetisches Generalregister. 709
Bd. Seite
Rechtsgang, Einleitung zu dem Gutachten der Kom-
mission des (helvetischen) Grossen Rathes über den
bürgerlichen, aus dem helvetischen Archiv . IV. 738
Rheinregulirung, Bundesbeschluss betreffend Zusiche-
rung eines Bundesbeitrages an den Kanton St. Gallen
für die VIII. 582
Rheinvertrag, Der, mit Oeslerreich VIII- 573
Rosti, Graf Pellegrino, Auszug aus seinem Bericht
über die Bundesverfassung, von 1832 . . XI. 45
Schächtfrage, Bundesrathsbeschluss vom 17. März 1890
betreffend die ...... V. 1097
Schiedsgerichtsantrag (Projekt) zwischen England und
Amerika ..... XI 427,
Schwabenkrieg, kaiserliches Manifest vom 22. April 1499
Schwaben krieg, Beschreibungen des Chronisten Ansheliu
Schwaben krieg, Die Tagsatzungsabschiede, des
Schwaben krieg, Das Lied «Der alte Greis» von Peter
Müller ........
Simplon-Verträge. Die .....
Simplondurchstich, Aktenstücke betreffend die Subven-
tion des Bundes ...... XII. 712
Sonderbund, Der, nebst dem vorangehenden Verhand-
lungsprotokoll vom 13./14. September 1845 . XL 102. 111
Sonderbund, Briefe hervorragender Männer aus der
Zeit des ....... XL 136
Steigentesch, von, Generalmajor, Militärbevollmäch-
tigter der Alliirten in der Schweiz, seine Berichte
1815, April bis August, aus dem k. k. Österreich.
Staatsarchiv (bisher unbekannt)
Suezkanal-Konvention, Die, von 1888
Südafrikanische Republik, Bund mit dem Oranje-
Freistaat ......
Testaferrata Nuntius, Schreiben vom 31. Dez. 1814
Testaferrata Nuntius, Schreiben vom 7. Mai 1814
Trüklibund, Der .....
Turin, Bericht des Staatsraths Pictet-de Rochemont
über seine Sendung nach, vom 17. März 1816 . IV. 422
XIII.
121
XIII.
22
XIII.
29
XIII.
37
Xlll.
52
X.
731
III.
596
X.
407
XL
402
. XL
72
XL
76
XII.
270
710 Alphabetisches Generalregister.
Bd. Seite
Turin, Uehereinkunft, abgeschlossen am 13. April 1816,
zu, zwischen den Bevollmächtigten des Kantons
Wallis und denen seiner Majestät des Königs von
Sardinien, betreffend die Art und Weise, wie die im
ncutralisirlen Savoyen stehenden sardinischen Trup-
pen durch den Kt. Wallis sich zurückziehen können IV. 453
Turin, Uebereinkunft, abgeschlossen am 13* April 1816,
zu, zwischen den Abgeordneten des Kantons Wallis
und den Bevollmächtigten S. Maj. des Königs von Sar-
dinien über Transitverhältnisse auf der Strasse über
den Simplon, sowie über die Unterhaltung derselben IV. 457
Turiner Vertrag, Aktenstücke zum . .IV. 402
Turiner Vertrages, Bericht der eidgenössischen Bevoll-
mächtigten, Herren Staatsräthc Pictet-de Rochemont
und d'Ivernois an den eidgenössischen Vorort vom
25. Oktober 1816 betreffend die gegenseitige Ueber-
gabe des Gebietes in Folge des, vom 16. März 1816
Turiner, Vertrags-Entwurf, Erster, von Pictet
Türkisches Reformprojekt vom Oktober 1895 .
Uccialli, Vertrag zwischen Italien und Abyssinien
Utah, Verfassungsartikel betr. die Frauen
Veltliner-Deputation, Die, am Wiener-Kongress, aus
den Papieren Guicciardi's, von Romegialli, mit Ein-
leitung vom Herausgeber ....
Verfassung, Die französische, vom 24. Juni 1793
Verfassungen, Die, der südafrikanischen Republik und
des Oranje-Freistaates .....
Verfassung, Rede des ersten Konsuls über die schwei-
zerische, vom 12. Dezember 1802
Volksabstimmungen, Uebersicht der sämmtlichen seit
1848 bis zum 20. Februar 1898
Winterthur, Programm rede des Bundespräsidenten
Zemp am eidg. Schützenfest in, von 1895
Wohlgemuth-Handel, Der ... . IV. 4:
Wyoming, Verfassung des Staates
Zolltarif, Der erste eidgenössische, vom 26. November
1813, aus dem eidg. Archiv .... I. 424
IV.
462
IV.
402
X.
415
XI.
415
XI.
357
IL
473
III.
86
X.
801
I.
384
CIL
727
IX.
681
, v
628
XI.
296
H*?'*
Verlag von & J. WYSS in Bern.
Neues
Berner Taschenbuch
auf das Jahr 1896, 1897, 1898. 1899 u. 1900
In Verbindung mit Freunden vaterländischer Geschichte
herausgegeben von
Dr. Heinrich Tür ler, Staatsarchivar.
Preis je Fr. 5. —
Nenjahrsblatt des Historischen Vereins des Kts. Bern
(Neue Folge).
1894. Prof. Dr. W. F. von Xftlinen. Ritter Kaspar von Mülinen.
Mit einer Lichtdrucktafel. Fr. 2. 50
1896. E. Blösch, Professor. Bernhard Friedrich Kuhn, ein ber-
nischer Staatsmann zur Zeit der Helvetik. Mit einer
Lichtdrncktafel. Fr. 2. 50
1896. Alb. Zeerleder, Professor. Mitteilungen über die Thuner
Handveste. Mit Reproduktion der Thuner Handveste Fr.2.—
1897. Prof. Dr. W. F. v. Xftlinen. Christoph von Graffenried,
Landgrat von Carolina, Grunder von Neu- Bern. Fr. 2. 50
1898. J. SterchL Die Sendung Samuel Friedrich Lüthards nach
Paris im Frühjahr 1798. Fr. 1. 50
1899. Dr. Zimmerlin. Die Berichte des Stadtschreibers Ringier
aus Zofingen, aus der Abgeordneten Versammlung in Bern
1708. Fr. 2. 50
1900. Dr. G. Tobler. Nikiaus Emanuel Tscharner. Fr. 2. 50
IqjilRlktt Her Litterarisctaen Gesellschaft Bern
1891. Dr. Sari Geiser. Beiträge zur bern:schen Kulturge-
schichte des XVIII. Jahrhunderts. Fr. 1.20
1892. Dr. Georg Finaler. Das Berner Festspiel und die attische
Tragödie. Fr. 1. 20
1893. Staatsarchivar Tttrler. Meister Bali und die Reliquien-
erwerbung der Stadt Bern. 1463 und 1464. Kr. 1. 20
1894. Dr. H. Dftbi. Zwei vergessene Berner Gelehrte aus dem
18. Jahrhundert. Fr. 1 20
1896. Dr. Otto von Greyerz. Beat Ludwig Muralt. Mit Aus-
zügen aus seinen Schritten. Mit Lichtdrucktatel. Fr. 2 50.
1896. Prof. Dr. Gustav Tobler. Vincenz Bernhard Tscharner.
1728 bis 1778 Mit einer Lichtdrucktatel. Fr 2. 50
1897. Dr. Johann Strickler. Franz Rudolf von Weiss. 1751 bis
1818. Fr. 2. 50
1898. Dr. Earl Geiser. Land und Leute bei Jeremias Gott-
helf Fr. 1. 20
1899. Dr. Budolf Willy. Karl Viktor von Bonstetten. 1745 - 1832.
Fr. 2. 50
1900. Dr. H. Herzog. Balthasar Anton Dunker. 1746 - 1807. Ein
schweizer. Künstler des 18. Jahrhunderts. Fr. 2. 50
Durch jede Buchhandlung zu beziehen.
Verlag von K. J. WYSS in Bern.
Skizze einer Wehrverfassoög
der
Schweizerischen Eidgenossenschaft
Von
Oberst Ulrich Wille.
246 Seiten 8*. — Preis Fr. 4. — .
Unser ßundesrecht
in
Doppelbesteuerungs - Sachen.
Beitrag zur Lösung einer Tagesfrage
Von
Dr. K. A. Brodtbecb.
224 Seiten 8\ — Preis Fr. 4. 50.
Der Vorantwurf
zum
ersten und zweiten Teil
lies
schweizer. Civilgesetzbuches
(Personen- nnd Familienrecht)
Besprochen von
Professor X>r. Cäsar Barazetti.
302 Seiten 8<> Preis Fr. 5. — .
Geschichte
des
bernischen Gefängniswesens.
Nach den Quellen bearbeitet von
J. U. Scliaffroth.
(trfiiiiRiiis- und Anstaltiiiü]H'Utor dos Kantons Bern.
Ml Seiten S°. Preis Fr. 6. — .
Durch jede Buchhandlung zn beziehen.
I
THE NEW YORK PUBLIC LIBRARY
RBFBRBNGB DEPARTMENT
Th|^lra»k is under no oiroumstanoes to be
* AT 3 9 ttfyg f rom thc Building
^r7-- -
furh« 4t<»
B'Da.ph 261915.